Entstehung und Fortbildung des Enquête- und Untersuchungsrechts in Deutschland: Rechtsentwicklungen aus 200 Jahren [1 ed.] 9783428546091, 9783428146093

Das Enquête- und Untersuchungsrecht gehört zu den wichtigsten parlamentarischen Rechten. Obwohl seine Anfänge häufig bis

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German Pages 1381 Year 2015

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Entstehung und Fortbildung des Enquête- und Untersuchungsrechts in Deutschland: Rechtsentwicklungen aus 200 Jahren [1 ed.]
 9783428546091, 9783428146093

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Das Öffentliche Recht Habilitationen Band 2

Entstehung und Fortbildung des Enquête- und Untersuchungsrechts in Deutschland Rechtsentwicklungen aus 200 Jahren

Von Tobias Linke

Duncker & Humblot · Berlin

TOBIAS LINKE

Entstehung und Fortbildung des Enquête- und Untersuchungsrechts in Deutschland

Das Öffentliche Recht Habilitationen Band 2

Entstehung und Fortbildung des Enquête- und Untersuchungsrechts in Deutschland Rechtsentwicklungen aus 200 Jahren

Von Tobias Linke

Duncker & Humblot · Berlin

Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahr 2014 als Habilitationsschrift angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: BGZ Druckzentrum GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 2195-707X ISBN 978-3-428-14609-3 (Print) ISBN 978-3-428-54609-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84609-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für Bruno, Marliese und Dorothée

Vorwort Das Enquête- und Untersuchungsrecht gilt als eines der ältesten parlamentarischen Rechte. Aber obwohl zahlreiche Einleitungskapitel rechtswissenschaftlicher Arbeiten bis 1816 zurückgehen und das BVerfG immer wieder auf das Vorbild des Art.  34 RVerf  1919 verweist, fehlte bisher eine geschlossene Darstellung der Entstehung und Fortentwicklung dieses wichtigen Rechts und seiner interpellationsartigen Vorläufer. Diese Lücke soll die vorliegende Schrift schließen, die von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Sommersemester 2014 als Habilitationsschrift angenommen wurde. Ihr liegt ein weites Verfassungsgeschichtsverständnis zugrunde, das nicht auf die manches Mal irreführende Textentwicklung fixiert ist, sondern die zwischen den Buchdeckeln der landständischen und parlamenta­ rischen Protokollbände konservierte Staatspraxis in den Blick nimmt und Zeitzeugen mit ihren Erinnerungen ebenso wie das zeitgenössische staatsrechtliche und staatswissenschaftliche Schrifttum zu Wort kommen lässt. Soweit das Verständnis der Geschehnisse durch Grundkenntnisse über die Protagonisten erleichtert wird, habe ich diese gemeinkundigen biographischen Angaben den einschlägigen Standardwerken ohne Einzelnachweise entnommen, damit die ohnehin unvermeidliche „Bleiwüste“ nicht noch endloser wird.1 Die mit dem ersten Teil dieser Schrift vorgelegte „Verfassungsgeschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts“ ist freilich kein Selbstzweck; sie dient der Vergewisserung über die Grundlagen der heutigen Befugnisse des Deutschen Bundestages und wird so gewissermaßen zum Ausgangspunkt einer Kritik gegenwärtiger Fehlentwicklungen. Sollten also vor dem Hintergrund einer (vermeintlich!) 200-jährigen Geschichte des Selbstinformationsrechts nicht nur eine „Rehabilitation“ bisher geringgeachteter Kapitel der Parlaments- und Verfassungsgeschichte gelingen, sondern möglicherweise verschie­dene Facetten des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts in neuem Licht erstrahlen, waren die vergangenen Jahre nicht vergebens. Zu besonderem Dank bin ich meinem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Löwer, verpflichtet, der meinen wissenschaftlichen Werdegang wie kein Zweiter gefördert und begleitet hat. Die stets gepflegte Atmosphäre intellektueller

1 Vgl. H.-P. Becht, Bad. Parlamentarismus, 2009; H.  Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996; H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987; M. F. Feldkamp, ParlRat, 2008; G. Grünthal, Par­ lamentarismus, 1982; D. Götschmann, Bay. Parlamentarismus, 2002; B. Haunfelder, BioHdb­ PrAbgH, 1994; E. R. Huber, DtVerfGesch I2 bis IV2 1982 bis 1990; P. Losch, KhStV, 1909; B. Mann, BioHdbPrAbgH, 1988; F. Raberg, BioHdbWürttLT, 2001; M. Stolleis, GeschÖR II, III, 1992 und 1999; ParlRat II bis XIV, 1981 bis 2009 etc.

8

Vorwort

Offenheit und nicht zuletzt die mir großzügig gewährte akademische Freiheit haben das vorliegende Projekt erst ermöglicht. Herzlichen Dank schulde ich meinen Eltern, Bruno und Marliese Linke, die mich in den vergangenen Jahrzehnten in vielfältigster Weise unterstützt haben. Meiner Frau Dorothée, die mein Habilitationsprojekt von Anfang an miterlebt, häufig aber eher „durchlitten“ hat, gebührt das unschätzbare Verdienst, mich während dieser Lebensphase „ertragen“ und nicht bloß moralisch unterstützt zu haben. Ihnen ist dieses Buch in Liebe zugeeignet. Bad Honnef, am 5. April 2015

T. H. B. L.

Inhaltsübersicht 1. Teil Prolog

51

A. Die Bedeutung des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . 51 B. Forschungsstand und Untersuchungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 C. Eine provisorische „Idee“ als Wegweiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 D. Untersuchungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

2. Teil

Frühkonstitutionalismus und Vormärz

70

1. Kapitel: Grundzüge der landständischen Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 A. Die Rheinbundverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 B. Vorgaben des Deutschen Bundesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 C. Das „deutsche Modell“ der konstitutionellen Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 D. Bedeutung für die Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . 101 2. Kapitel: Die landständische Information in den Einzelstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . 103 A. Drei vermeintliche „Musterknaben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 B. Die drei süddeutschen Verfassungsvorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 C. Weitere Beispiele der regierungsvermittelten Information der Landstände . . . . . . 200 3. Kapitel: Die Bedeutung der Zeit von 1815 bis 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 A. Keine Frühformen eines Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 B. Hindernisse für ein Enquête- und Untersuchungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 C. Der Beitrag für die weitere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

10

Inhaltsübersicht 3. Teil



Entwicklungen in der Revolution von 1848/49

214

1. Kapitel: Die Frankfurter Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 A. Entstehung und Bedeutung des § 99 RVerf 1849 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 B. Die Enquête- und Untersuchungspraxis der Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . 230 C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 2. Kapitel: Die preußische Vereinbarungsversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 A. Prolog: Die Entwicklung von 1815 bis 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 B. Die Entstehung der preußischen Vereinbarungsversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . 336 C. Das Enquête- und Untersuchungsrecht der „Charte Waldeck“ . . . . . . . . . . . . . . . . 339 D. Die Praxis der Vereinbarungsversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 3. Kapitel: Revolutionäre Verfassungsentwicklungen in den Einzelstaaten . . . . . . . . 433 A. Reichsverfassung und „Charte Waldeck“ als Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 B. Schleswig-Holstein (1848) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 C. Herzogtum Lauenburg (1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 D. Waldeck und Pyrmont (1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 E. Gotha (1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 F. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438 4. Kapitel: Die Bedeutung der Märzrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 A. Die Enquête- und Untersuchungstätigkeit in Frankfurt und Berlin . . . . . . . . . . . . . 439 B. Normative Vorbilder aus der Revolutionszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 C. Politische Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446

4. Teil

Süddeutsche Folgeentwicklungen

447

1. Kapitel: Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 A. Die verfassungsrevidierende Landesversammlung (1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 B. Der Streit um das Enquête- und Untersuchungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

Inhaltsübersicht

11

C. Der Gesetzentwurf über die ständische Gesetzesberatung (1854) . . . . . . . . . . . . . 460 D. Thronwechsel und Verfassungsreformforderungen (1864/65) . . . . . . . . . . . . . . . . 462 E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 2. Kapitel: Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 A. Die Behandlung neuer Gesetzbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 B. Das Gesetz über den Geschäftsgang vom 25. Juli 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 C. Das Staatsgerichtshofsgesetz vom 30. März 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 D. Bewertung der bayerischen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 3. Kapitel: Einordnung der süddeutschen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494

5. Teil

Das Enquête- und Untersuchungsrecht im konstitutionellen Preußen (1849–1873)

496

1. Kapitel: Die Geringschätzung der preußischen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . 496 2. Kapitel: Rechtsgrundlagen parlamentarischer Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 A. Die Entstehung des Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 B. Art. 82 PrVerf 1850 im Spiegel des zeitgenössischen Schrifttums . . . . . . . . . . . . . 515 C. Andere Informations- und Kontrollinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 3. Kapitel: Schlaglichter der preußischen Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte 529 A. Die Zeit der Verfassungsrevision (1849–50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 B. Ära Manteuffel (1850–58) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 C. Verfassungskonflikt und Wahlbeeinflussung (1863–64) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 D. Schutzmaßnahmen gegen die Lohnpfändung (1865) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 E. Gründerskandal und Eisenbahnwesen (1872–73) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 4. Kapitel: Die Bedeutung der preußischen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 774 A. Normative Entwicklungen von Art. 73 „Charte Waldeck“ zu Art. 82 PrVerf 1850 . 775 B. Das preußische Beispiel als quantité négligeable? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776 C. Ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778 D. Gründe für die „untersuchungsrechtliche Abstinenz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780

12

Inhaltsübersicht

E. Reichweite der Enquête- und Untersuchungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 F. Bedeutung für die Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . 783

6. Teil

Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918)

785

1. Kapitel: Die Jahre von 1867–1918 als verlorene Periode? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785 2. Kapitel: Schlaglichter der Verfassungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787 A. Norddeutscher Bund (1867–71) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787 B. Kaiserreich (1871–1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 3. Kapitel: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824 A. Die Phase der Regierungsenquêten (1873 bis 1890) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824 B. Eine „atavistische Evolution“: Gemeinsame und gemischte Enquêten . . . . . . . . . . 864 C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929 4. Kapitel: Die Bedeutung der Zeit von 1867–1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930 A. Instruktive Verfassungsänderungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930 B. Rudimentäre parlamentarisch induzierte Enquête- und Untersuchungspraxis . . . . 933 C. Negative Vorbildwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935 D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 936

7. Teil

Der Schritt in die Moderne (1917–1932)

937

1. Kapitel: Parlamentarisierungsversuche im Weltkrieg (1917) . . . . . . . . . . . . . . . . . 937 A. Einleitung: Kriegspech und Verfassungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937 B. Hugo Preuß’ Reformvorschläge für die Oberste Heeresleitung . . . . . . . . . . . . . . . 937 C. Max Webers Enquête- und Untersuchungsrechtskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . 939 2. Kapitel: Parlamentarische Informationsrechte in der Republik . . . . . . . . . . . . . . . 965 A. Das Enquête- und Untersuchungsrecht des Art. 34 RVerf 1919 . . . . . . . . . . . . . . . 965 B. Sonstige Regelungen mit informationsrechtlichen Bezügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985 C. Bewertung der parlamentarischen Informationsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . 991

Inhaltsübersicht

13

3. Kapitel: Die Vermessung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts in Wissenschaft und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 992 A. Die sachliche Reichweite des Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . 992 B. Das Verhältnis zu den anderen Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001 C. Fazit: Durchbruch des Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1061 4. Kapitel: Das Enquête- und Untersuchungsrecht als Minderheitenrecht . . . . . . . . 1062 A. Die sachlich-inhaltliche Prägung durch das Minderheitenrecht . . . . . . . . . . . . . . . 1062 B. Einsetzungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1065 C. Die Verteilung der Ausschusssitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079 D. Die Minderheit im Untersuchungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079 E. Rechtsschutzdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1084 F. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1086 5. Kapitel: Die „modernen“ Untersuchungsbefugnisse des Art. 34 RVerf 1919 . . . . . 1087 A. Aktenvorlage und Amtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1087 B. Die Verweisung auf die Strafprozeßordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1089 C. Bewertung der Untersuchungsbefugnisse des Art. 34 RVerf 1919 . . . . . . . . . . . . . 1097 6. Kapitel: Die Weimar Republik in der Geschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1098

8. Teil

Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015)

1102

1. Kapitel: Ein historischer Charakterisierungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1102 A. Selbstinformationsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1103 B. Genuin politischer Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1104 C. Tendenziell oppositioneller Charakter des Selbstinformationsrechts . . . . . . . . . . . 1105 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1106 2. Kapitel: Die Entstehung von Art. 44 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107 A. Die Grundentscheidung von Herrenchiemsee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107 B. Parlamentarischer Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114 C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1124

14

Inhaltsübersicht

3. Kapitel: Andere Informationsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1126 A. Ausschussanhörungen und Hinzuziehung von Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . 1126 B. Enquêtekommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131 C. Zutritts-, Rede- und Zitierrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1137 D. Interpellations- und Fragerechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141 E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1143 4. Kapitel: Entwicklungslinien von 1949–2015 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1144 A. Die Reichweite des formellen Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . 1144 B. Organkompetenzielle Grenzziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1169 C. Untersuchungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181 D. Das Selbstinformationsrecht als Minderheitenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1210 E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1242 5. Kapitel: Analyse und Kritik der synergetischen Fehlentwicklungen . . . . . . . . . . . 1244 A. Vier maßgebliche „Entwicklungsachsen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1245 B. Kritik: Wesensänderung und Machtverschiebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1254 6. Kapitel: Vorschläge und Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1264 A. Wiederbetonung der Enquêtefunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1264 B. Repolitisierung und Dejuridifizierung des Untersuchungsverfahrens . . . . . . . . . . . 1265 C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283

9. Teil Untersuchungsergebnisse

1285

A. Entwicklungslinien seit 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1285 B. Forderungen und Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1317 C. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1319

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1320 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1362 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1373

Inhaltsverzeichnis 1. Teil Prolog 51 A. Die Bedeutung des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 51 B. Forschungsstand und Untersuchungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 C. Eine provisorische „Idee“ als Wegweiser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 D. Untersuchungsablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

2. Teil

Frühkonstitutionalismus und Vormärz

70

1. Kapitel

Grundzüge der landständischen Verfassung

70

A. Die Rheinbundverfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 B. Vorgaben des Deutschen Bundesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I.

Das Gebot einer „landständischen Verfassung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 1. Erste Forderungen und Entwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 2. Vorberatungen im Fünfer-Komitee, Kleinstaatennote und Kongressverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3. Landständische Verfassungsforderung ohne Kontur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

II. Schlussakte und „monarchisches Prinzip“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 III. Bedeutung für die weitere Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung . . . . 86 C. Das „deutsche Modell“ der konstitutionellen Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 I.

Die Stellung des Monarchen und des Ministeriums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 1. „Monarchisches Prinzip“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. „Oberaufsichtsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. Zutritts- und Rederecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

II. Zusammensetzung und Befugnisse der Ständeversammlungen . . . . . . . . . . . . . 92 1. Ein- oder Zweikammersystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Freies Mandat und Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3. Landständische Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

16

Inhaltsverzeichnis a) Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 b) Staatsfinanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 c) Verfassungs- und Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4. Interpellations- und Fragerechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

D. Bedeutung für die Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Kapitel

Die landständische Information in den Einzelstaaten

103

A. Drei vermeintliche „Musterknaben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 I.

Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1. Bildung und Kompetenzen der Ständeversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. § 91 StGG SWE 1816 als frühes Enquête- und Untersuchungsrecht? . . . . . . 108 a) Gegenbeispiele aus den Anfängen der Staatspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 b) Verfassungsrechtliche Argumente gegen ein Enquête- und Untersuchungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 c) Bestehen anderer Informationsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 d) Zeitmoment und Arbeitskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 e) Zwischenergebnis: § 91 StGG SWE 1816 als Ermächtigung zum Kommissionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116

II. Kurfürstentum Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Vorgeschichte (1813–31) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 2. Die Kurhessische Verfassungsurkunde von 1831 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) Bildung und Kompetenzen der Ständeversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . 119 b) Instrumente landständischer Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 aa) Erläuterungen und Auskünfte durch die Staatsregierung . . . . . . . . . . 123 bb) Finanzverfassungsrechtliche Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 cc) Die §§ 92, 93 KhVerf­ Urk  1831 als Selbstinformationsrechte der ­ Kammer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3. Recht und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 a) Drei Präliminargefechte zum Verfassungskonflikt (1831–32) . . . . . . . . . 128 aa) Der Ernennungsstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 (1) Einleitung: Militärische Personalentscheidungen und absolutistische Reminiszenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 (2) Landständische Auskunftsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 (3) Kompromissantrag und weitere Eskalation . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (4) Ein landständisches Aktenvorlagerecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 (5) Die Beilegung des Ernennungsstreits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Inhaltsverzeichnis

17

(6) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 bb) Die erste „Garde-du-Corps-Nacht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 (1) Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 (2) Der erste Streit um Auskunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 (3) Kasseler Strafverfolgungspetition, Auskunftsersuchen und Anklagedrohungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 (4) Der Ausschussbericht vom 13. März 1832 . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 (5) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 cc) Der Streit um die Bundespolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (1) Historischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (2) Antrag Jordan und Auskunftsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (3) Das Ringen um Auskunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (4) Scheinbares Einlenken der Regierung (April 1832) . . . . . . . . . . 163 (5) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 b) Der Auftakt des Verfassungskonflikts (1832–36) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 aa) Vorgeschichte: Anklagedrohung und Kammerauflösung . . . . . . . . . . 166 bb) Der Kampf um Auskunft und Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 cc) Erneute Kammerauflösung und Ministeranklagen . . . . . . . . . . . . . . 171 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 4. Der Beitrag Kurhessens zur Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte . . 174 a) Kein landständisches Selbstinformationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 b) Politische Ausgangslage und Herauskristallisierung informationsrechtlicher Phänotypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 c) Antizipation einzelner Untersuchungsrechtsaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . 177 d) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 III. Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 1. Zusammensetzung und Kompetenzen der Landstände . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2. Vorbereitungskommissionen und Informationsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 3. Zutritts- und Rederecht der Landtagskommissare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 4. Öffentlichkeit der Landtagsverhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 B. Die drei süddeutschen Verfassungsvorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 I.

Großherzogtum Baden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Zusammensetzung und Kompetenzen der Landstände . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Ausschließliche Vermittlung durch die Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3. Abteilungen und Kommissionen der Zweiten Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

II. Königreich Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

18

Inhaltsverzeichnis 1. Zusammensetzung und Kompetenzen der Landstände . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 2. Zutritts- und Rederecht, Verbot unmittelbarer Kontakte . . . . . . . . . . . . . . . . 194 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 III. Königreich Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. Bildung und Befugnisse der Kammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 2. Zutritts- und Rederecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 3. Kommissionsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 4. Verfahren bei landständischen Anklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

C. Weitere Beispiele der regierungsvermittelten Information der Landstände . . . . . . . . 200 3. Kapitel

Die Bedeutung der Zeit von 1815 bis 1848

203

A. Keine Frühformen eines Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 I.

Zutritts- und Rederecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

II. Interpellationsartige Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 III. Petitions- und Beschwerderecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 IV. Weitergehende Befugnisse und Staatsfinanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 V. Keine Selbstinformationsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 B. Hindernisse für ein Enquête- und Untersuchungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 C. Der Beitrag für die weitere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3. Teil

Entwicklungen in der Revolution von 1848/49

214

1. Kapitel

Die Frankfurter Nationalversammlung

214

A. Entstehung und Bedeutung des § 99 RVerf 1849 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 I.

Prolog: Grundzüge der Frankfurter Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

II. Zusammensetzung und Vorarbeiten des Verfassungsausschusses . . . . . . . . . . . . 217 III. Erste Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 IV. Vorbereitung der zweiten Lesung im Verfassungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. „Untersuchung“ vs. „Erhebung von Thatsachen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 2. Der Bericht für die zweite Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222

Inhaltsverzeichnis

19

V. Zweite Lesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 VI. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 1. Ausländische Vorbilder und nationale Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 2. § 99 RVerf 1849 als „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht? . . . . . . . . . 227 B. Die Enquête- und Untersuchungspraxis der Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . 230 I.

Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 1. Die Bedeutung der Frankfurter Parlamentspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 2. Die Geschäftsordnung der Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 a) Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 b) Abteilungs- und Ausschussverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 c) Hinzuziehung sachverständiger Abgeordneter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 d) Vernehmungen und Behördenkontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 e) Ausschussöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 f) Der Rösler’sche Antrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

II. Die Praxis der Frankfurter Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 1. Sachstands- und Gesetzgebungsenquêten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 a) Verfassungsausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 aa) Der Entwurf der Reichswehrverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 bb) Eisenbahnen und Wasserstraßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 b) Wehr- und Marineausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 aa) Die Flottenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 bb) Die „Wehrhaftigkeit im Vaterlande“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 c) Volkswirtschaftlicher Ausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 aa) Die Ermächtigung des Volkswirtschaftsausschusses . . . . . . . . . . . . . 257 bb) Der Zolltarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 (1) Allgemeines Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 (2) Schriftliche Enquête . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 (3) Die Vorbereitung von Sachverständigenanhörungen . . . . . . . . . . 261 (4) Ein vermeintlicher Kompetenzkonflikt mit der Regierung . . . . . 262 (5) Beteiligung von Vertretern der Regierungen . . . . . . . . . . . . . . . . 264 (6) Keine Beteiligung parlamentsfremder Dritter . . . . . . . . . . . . . . . 264 (7) Bewertung der Enquêtetätigkeit zu einem Zolltarif . . . . . . . . . . . 265 cc) Die Flusszölle und andere Schifffahrtsübel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 dd) Die deutsche Gewerbeordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

20

Inhaltsverzeichnis ee) Die soziale Frage: Petitionen als Informationsquelle . . . . . . . . . . . . . 270 ff) Eine Beteiligung der Reichsminister? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 gg) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 d) Die Deutsche Wechselordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 e) Der Antrag Grävell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 f) Exkurs: „Privatkonferenzen“ von Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 g) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 2. Politische Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 a) Die Mainzer Untersuchung im Mai 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 aa) Vorgeschichte: Zusammenstöße im Mai 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 bb) Einsetzung des Ausschusses und Absendung einer Untersuchungsdelegation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 cc) Das parlamentarische „Urteil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 dd) Bewertung der Mainzer Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 (1) Politische Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 (2) Einordnung in die Untersuchungsrechtsgeschichte . . . . . . . . . . . 287 b) Die Mannheimer Einquartierungslasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 c) Die Besetzung Sachsen-Altenburgs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 d) Untersuchungsforderungen nach den Wiener Ereignissen . . . . . . . . . . . . 294 aa) Der Fall Blum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 bb) Militärische Ausschreitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 e) Bundeswidriges Verhalten im dänischen Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 f) Bewertung der politischen Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 aa) Ein modernes Untersuchungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 bb) Rückfall in alte Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 3. Die Behandlung von Kollegialsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 a) Legitimationsprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 b) Vizepräsident Soiron vor dem Geschäftsordnungsausschuss . . . . . . . . . . 306 aa) Vorspiel: Amnestiedebatte, Ordnungsruf und Missbilligungsantrag . . 306 bb) Die Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 cc) Bewertung der Causa v. Soiron . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 c) Die Abgeordnetenimmunität im „Untersuchungs-Ausschuß“ . . . . . . . . . 313 aa) Parlamentarische vs. gerichtliche Untersuchungen: Das Ersuchen des Frankfurter Appellationsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 bb) Weitere Untersuchungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 cc) Abgelehnte Verfolgungsersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 dd) Unerledigte Ersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 ee) Zwischenergebnis: Parlamentarische Untersuchungskompetenz und Strafverfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

Inhaltsverzeichnis

21

d) Der Antrag Jahn gegen die Linke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 4. Das Großherzogtum Posen im Völkerrechtlichen Ausschuss . . . . . . . . . . . . . 326 III. Bewertung der Tätigkeit der Paulskirchenversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 1. Enquête- und Untersuchungstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 2. Methoden und Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 3. Revolutionäre Grundlagen des Selbstinformationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 330 C. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 2. Kapitel

Die preußische Vereinbarungsversammlung

333

A. Prolog: Die Entwicklung von 1815 bis 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 B. Die Entstehung der preußischen Vereinbarungsversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 C. Das Enquête- und Untersuchungsrecht der „Charte Waldeck“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 I.

Der Regierungsentwurf vom 20. Mai 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340

II. Der Gegenentwurf des Verfassungsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 1. Art. 73 „Charte Waldeck“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 2. Präludium und Paradigma: Die Posener „Untersuchung“ . . . . . . . . . . . . . . . 344 a) Vorgeschichte: Die Entwicklung im „Großherzogtum Posen“ . . . . . . . . . 345 b) Der Antrag Reuter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 c) Untersuchungs- vs. Vorberatungskommission? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 d) Einsetzungsdebatte und Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 aa) Bericht und Antrag der Zentralabteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 bb) Plenarberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 cc) Scheinsieg und Ernüchterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 e) Würdigung der „Posener“ Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 3. Beratungen des Verfassungsausschusses vom 19. Juli 1848 . . . . . . . . . . . . . 362 4. Eine Einordnung des Art. 73 „Charte Waldeck“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 III. Scheitern und Leistung der „Charte Waldeck“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 D. Die Praxis der Vereinbarungsversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 I.

Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

II. Wahlprüfungen und Immunitätssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 1. Wahlprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 2. Immunitätssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 a) Der Fall Valdenaire und das Gesetz zum Schutz der Nationalversammlung 377 b) Der Fall Kuhr: Zeughaussturm und Zündnadelgewehr . . . . . . . . . . . . . . . 382 c) Der Fall Piegsa: Unterstützung der polnischen Bewegung . . . . . . . . . . . . 383

22

Inhaltsverzeichnis d) Der Fall Szumann: Beleidigung des Generals v. Pfuel . . . . . . . . . . . . . . . 384 e) Zwischenergebnis: Das Verhältnis zur Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 III. Der Antrag Reichensperger zur Misshandlung von Abgeordneten . . . . . . . . . . . 386 1. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 2. Die Sitzung vom 14. Juni 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 a) Vorschläge zum Schutz der Versammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 b) Die „Interpellation“ zur Rolle der Bürgerwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 c) Der Antrag Reichensperger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 IV. Die Untersuchung des Schweidnitzer Vorfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 1. Vorgeschichte: Das Blutbad vom 31. Juli 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 398 2. Erste Unterrichtung durch den Ministerpräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 3. Die Untersuchungsdebatte vom 9. August 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 a) Kommissionsbericht und Verbesserungsvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 b) Die Schweidnitzer Untersuchungsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 c) Schluss der Debatte und Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 d) Die politische Bedeutung der Schweidnitzer Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . 410 4. Arbeit und Bericht der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 a) Zusammensetzung und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 b) Die Untersuchung der Deputation vor Ort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 c) Der Kommissionsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 5. Bewertung der Schweidnitzer Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 V. Die Sozialenquête zur Lage der Spinner und Weber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424

E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 I.

Bedeutung der „Charte Waldeck“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427

II. Die Praxis der Vereinbarungsversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 428 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 3. Kapitel

Revolutionäre Verfassungsentwicklungen in den Einzelstaaten

433

A. Reichsverfassung und „Charte Waldeck“ als Vorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 B. Schleswig-Holstein (1848) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 434 C. Herzogtum Lauenburg (1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 D. Waldeck und Pyrmont (1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 436 E. Gotha (1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 F. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438

Inhaltsverzeichnis

23

4. Kapitel

Die Bedeutung der Märzrevolution

439

A. Die Enquête- und Untersuchungstätigkeit in Frankfurt und Berlin . . . . . . . . . . . . . . . 439 B. Normative Vorbilder aus der Revolutionszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 C. Politische Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446

4. Teil

Süddeutsche Folgeentwicklungen

447

1. Kapitel Württemberg 447 A. Die verfassungsrevidierende Landesversammlung (1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 I.

Vorgeschichte (1819–49) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447

II. Die Geschäftsordnung 7./22. Dezember 1849 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 448 III. Bewertung des § 24 GO-Württ­LV 1849 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 B. Der Streit um das Enquête- und Untersuchungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 I.

Prolog: Die Spaltung der Opposition in der Zweiten Kammer . . . . . . . . . . . . . . 453

II. Die Debatte über die Kommissionsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454 III. Verwahrung der Regierung (1854) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 IV. Aufschub und Lösung des Konflikts (1854–74) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 V. Bedeutung für die weitere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 C. Der Gesetzentwurf über die ständische Gesetzesberatung (1854) . . . . . . . . . . . . . . . 460 D. Thronwechsel und Verfassungsreformforderungen (1864/65) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462 E. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 2. Kapitel Bayern 466 A. Die Behandlung neuer Gesetzbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 I.

Sachverständigenvernehmungen (Art. 8 Bay­Neu­GBG 1848) . . . . . . . . . . . . . . . 467

II. Entstehungsgeschichte des Art. 8 Bay­Neu­GBG 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 III. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469 B. Das Gesetz über den Geschäftsgang vom 25. Juli 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470

24

Inhaltsverzeichnis I.

Vorgeschichte: Antrag Kolb und Kommissionsentwurf (1849) . . . . . . . . . . . . . . 470

II. Die Instrumente des Geschäftsgangsgesetzes (1849/50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474 1. Zutritts- und Rederecht sowie interpellationsartige Instrumente . . . . . . . . . . 474 2. Das Recht zur Einholung von Sachverständigengutachten . . . . . . . . . . . . . . 476 a) Art der Sachverständigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476 b) Keine Vermittlung durch Regierungsstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 c) Einschränkungen des Rechts zur Sachverständigenanhörung . . . . . . . . . 479 3. Rückschritte gegenüber den Vorjahresvorschlägen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 C. Das Staatsgerichtshofsgesetz vom 30. März 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 I.

Die Ermittlungsbefugnisse des Art. 2 Abs. 1 Bay­StGHG 1850 . . . . . . . . . . . . . 486

II. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 III. Die Reichweite des Untersuchungs- und Anklagerechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 D. Bewertung der bayerischen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492 3. Kapitel

Einordnung der süddeutschen Entwicklung

494

5. Teil Das Enquête- und Untersuchungsrecht im konstitutionellen Preußen (1849–1873)



496

1. Kapitel

Die Geringschätzung der preußischen Entwicklung

496

2. Kapitel

Rechtsgrundlagen parlamentarischer Information

499

A. Die Entstehung des Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 I.

Die Oktroyierte Verfassungsurkunde (1848) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 1. Die Verfassungsurkunde vom 5. Dezember 1848 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 500 2. Art. 81 PrVerf 1848 als Rückschritt gegenüber Art. 73 „Charte Waldeck“? . . . 500

II. Die Verfassungsrevision (1849–50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 502 1. Das Scheitern des ersten Revisionsversuchs (1849) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 2. Die Revisionsarbeit der Kammern (1849–50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 a) Zweite Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508

Inhaltsverzeichnis

25

b) Erste Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509 c) Die Verfassungsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 B. Art. 82 PrVerf 1850 im Spiegel des zeitgenössischen Schrifttums . . . . . . . . . . . . . . . 515 I.

Reichweite und Funktion des Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . 515

II. Die Befugnisse der Enquête- und Untersuchungskommissionen . . . . . . . . . . . . 518 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522 C. Andere Informations- und Kontrollinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 I.

Verfassungsrechtliche Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523

II. Autonome Regelungen des Geschäftsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 1. Entstehung und Grundzüge der Geschäftsordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 2. Das Interpellationsrecht als Minderheitenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527 D. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 528 3. Kapitel Schlaglichter der preußischen Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte

529

A. Die Zeit der Verfassungsrevision (1849–50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 I.

Kollegiale Angelegenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 1. Legitimationsprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 530 2. Immunitätssachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536

II. Sozialenquêten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 1. Erste Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 a) Die Enquête zur Lage der Weber und Spinner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 aa) Behandlung des Einsetzungsantrags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537 bb) Kommissionsbericht und Plenarberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 b) Exkurs: Regierungsberichte über den Stand der Armenpflege . . . . . . . . . 547 2. Die „Zweimonatskammer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 a) Das Schicksal der Weber und Spinner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 b) Eine „Untersuchung der Arbeiter-Verhältnisse“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 c) Wirtschaftsverhältnisse und Gewerbeordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 3. Die Sozialenquête nach den Neuwahlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 552 a) Die Einsetzung der Enquêtekommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553

26

Inhaltsverzeichnis b) Die Durchführung der Enquête . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 c) Der Kommissionsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 III. Bewertung der Praxis der Revisionskammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 1. „Kollegialenquêten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 2. Sozial- und Sachstandsenquêten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559 3. Die politische Dimension des Enquêterechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 4. Gründe für die geringe Präsenz von Art. 81 PrVerf 1848 . . . . . . . . . . . . . . . 561 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 562

B. Ära Manteuffel (1850–58) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 I.

Sachstandsermittlungen und Gesetzgebungsvorarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 1. Banksystem und Geldverkehr (1850–52) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 a) Der Enquêteantrag vom Frühjahr 1851 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 aa) Vorberatung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 bb) Plenarberatung und Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 cc) Der Kommissionsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 b) Wiederaufnahme in der Folgesession (1851/52) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 aa) Kommissionsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 573 bb) Plenarberatung des Berichts und Gesetzentwurfs . . . . . . . . . . . . . . . 574 c) Bewertung der „Enquête“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 2. Die Entstehung des Pressgesetzes (1851) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 577 a) Vorgeschichte: Revolution, Pressefreiheit und Reaktion . . . . . . . . . . . . . 577 b) Die Beratungen des Pressgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 aa) Erste Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 bb) Zweite Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 3. Bewertung der Enquêtetätigkeit der Kammern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588

II. Politische Kontrollversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 1. Der Antrag Vincke als erster Regierungskontrollversuch (1851) . . . . . . . . . . 590 a) Politische Ausgangslage und Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 b) Der Antrag Vincke zur Lage des Landes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 c) Abteilungsvorberatungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 d) Plenarberatung und Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 e) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602 2. Die Verfolgung der religiösen Dissidenten (1852) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 a) Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606 b) Erste Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607

Inhaltsverzeichnis

27

aa) Der Antrag Lette-Forstner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 bb) Der Kommissionsbericht vom 21. Februar 1852 . . . . . . . . . . . . . . . . 608 cc) Plenarberatung und Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613 dd) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620 c) Zweite Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 aa) Antrag Dyhrn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 (1) Abteilungsberatungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 (2) Beratungen im Zentralausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 (3) Kammerschließung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 bb) Antrag Brämer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 629 3. Wahlmanipulationen (1855) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 a) Vorspiel: Wahlprüfungen in der Zweiten Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 b) Der Antrag Schwerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 c) Kommissions- und Plenarberatungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 636 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 4. Bewertung der Untersuchungs- und Kontrollversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 III. Die Reaktionszeit und die weitere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 C. Verfassungskonflikt und Wahlbeeinflussung (1863–64) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 648 I.

Vorgeschichte: Der Heeres-, Budget- und Verfassungskonflikt . . . . . . . . . . . . . 648 1. Armeereform und Verfassungskonflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 2. Die Beeinflussung der Oktoberwahlen 1863 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651

II. Die Untersuchung der Wahlmanipulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 1. Einsetzung der Untersuchungskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 652 a) Der Untersuchungsantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 b) Der Referentenbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 653 c) Plenarberatungen und Einsetzungsbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657 aa) Zweckmäßigkeit einer parlamentarischen Untersuchung . . . . . . . . . 658 bb) Verfassungsrechtliche Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663 cc) Beschlussfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 667 d) Die Kommissionszusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668 2. Die Arbeit der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668 a) Vorüberlegungen zu den Untersuchungsbefugnissen . . . . . . . . . . . . . . . . 669 b) Öffentliche Aufrufe und Ersuchen an Minister und Behörden . . . . . . . . . 674 c) Allgemeine Quellen, Mitteilungen und Urkunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677 d) Zeugenvernehmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 aa) Selbständige Vernehmungen durch die Kommission . . . . . . . . . . . . . 683

28

Inhaltsverzeichnis bb) Gerichtliche Vernehmungen auf Ersuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 686 e) Missbilligung der Regierungsobstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 3. Plenardebatte und Missbilligungsbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 III. Einordnung in die Geschichte des Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 696 1. Die bisherige Würdigung der Wahlmanipulationsuntersuchung . . . . . . . . . . 696 2. Politische Brisanz und Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 3. Bedeutung für die Untersuchungsrechtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704

D. Schutzmaßnahmen gegen die Lohnpfändung (1865) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 709 E. Gründerskandal und Eisenbahnwesen (1872–73) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 I.

Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712

II. Erste Anklagen im Abgeordnetenhaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 III. Die „Gründerrede“ vom 7. Februar 1873 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 1. Vorspiel: Albrecht v. Roons „Schutzschrift“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 716 2. Anklagen und Untersuchungsforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 718 3. Rückschlüsse auf Eduard Laskers Absichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721 IV. Das Ringen um die Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724 1. Eduard Laskers Untersuchungsantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724 2. Die Königliche Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 724 3. Die Untersuchungsdebatte Mitte Februar 1873 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 726 a) Inhaltliche Erwartungen gegenüber einer Untersuchung . . . . . . . . . . . . . 726 b) Parlamentarische vs. Regierungsuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 c) Bürgschaften für den Erfolg der gemischten Untersuchung . . . . . . . . . . . 735 d) Die Macht der öffentlichen Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738 4. Antragsrücknahme und Wahl der Kommissionsmitglieder . . . . . . . . . . . . . . 740 5. Bewertung der Debatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740 V. Tätigkeit und Ergebnisse der Spezialkommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742 1. Die Zusammensetzung der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742 2. Methoden und Befugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 a) Urkunden, Akten und Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743 b) Die Anhörung von Beamten des Handelsministeriums . . . . . . . . . . . . . . 746 c) Sachverständigenanhörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 3. Regierungskritik und Reformvorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 755 VI. Epilog: Das Ringen um die Beratung des Berichts (1876) . . . . . . . . . . . . . . . . . 756 VII. Einordnung in die Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte . . . . . . . . . . . 762

Inhaltsverzeichnis

29

1. Bewertung im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762 2. Der „Ertrag“ der Eisenbahn- und Gründerangelegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . 763 a) Ein „Sieg“ der Regierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 b) Eduard Laskers Erfolgsbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767 c) Die Schwäche der Kommissionsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 d) Ausblicke auf moderne Selbstinformationsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 772 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 773 4. Kapitel

Die Bedeutung der preußischen Entwicklung

774

A. Normative Entwicklungen von Art. 73 „Charte Waldeck“ zu Art. 82 PrVerf 1850 . . . 775 B. Das preußische Beispiel als quantité négligeable? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776 C. Ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 778 D. Gründe für die „untersuchungsrechtliche Abstinenz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 780 E. Reichweite der Enquête- und Untersuchungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 F. Bedeutung für die Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . 783

6. Teil

Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918)

785

1. Kapitel

Die Jahre von 1867–1918 als verlorene Periode?

785

2. Kapitel

Schlaglichter der Verfassungsentwicklung

787

A. Norddeutscher Bund (1867–71) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787 I.

Verfassungsberatungen (1867) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787

II. Der Verfassungsänderungsantrag Peter Adolph Reinckes (1868) . . . . . . . . . . . . 791 III. Einordnung in die Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte . . . . . . . . . . . 796 B. Kaiserreich (1871–1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800 I.

Entstehung der Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800

II. Verfassungsrechtliche Informations- und Kritikinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . 800 III. Sozialdemokratische Forderungen (1890 bis 1912) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805 1. Der Vorstoß von 1890/91 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805 a) Die innenpolitische Lage im Frühjahr 1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 805

30

Inhaltsverzeichnis b) Der Antrag Auer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 c) Plenarberatungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 d) Scheitern durch Diskontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 812 2. Die Anträge von 1907 und 1912 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814 IV. Das Geschäftsordnungsrecht des Reichstags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816 1. Interpellation und Anfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816 a) Die Funktionen des Interpellationsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 817 b) Das ursprüngliche Interpellationsrecht des Reichstags . . . . . . . . . . . . . . . 817 c) Die Geschäftsordnungsnovelle von 1912 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 818 2. Das Adressrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822 3. Die Reichstagskommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 822 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824 3. Kapitel



Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

824

A. Die Phase der Regierungsenquêten (1873 bis 1890) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824 I.

Sozialenquêten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825 1. Lage der Arbeiterschaft (1873 bis 1877) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825 a) Sonn- und Feiertagsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825 b) Frauen- und Kinderarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827 c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 829 2. Sonn- und Festtagsarbeit (1885 bis 1887) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 830 3. Einordnung der Sozialenquêten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 833

II. Wirtschaftsenquêten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835 1. Eisenbahntarife (1875) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 835 a) Vorgeschichte: Entwicklung des Eisenbahntarifwesens . . . . . . . . . . . . . . 835 b) Parlamentarische Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 836 c) Enquête und Reformtarif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 841 d) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 842 2. Die Patentenquête (1876) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 843 3. Die Tabakenquête (1878) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 844 a) Vorgeschichte: Bismarcks Reichsfinanzreformpläne . . . . . . . . . . . . . . . . 844 b) Die Entstehung des Enquêtegesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845 aa) Regierungsentwurf vom 8. April 1878 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 845 bb) Die parlamentarische Beratung des Tabakenquêtegesetzes . . . . . . . . 846 (1) Amendements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846

Inhaltsverzeichnis

31

(2) Das Ringen um die Enquête und ihren Zuschnitt . . . . . . . . . . . . 847 (3) Die Sachverständigenfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 850 (4) Mitwirkungspflichten, Zwang und Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 851 (5) Schutz von Geschäftsgeheimnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 854 cc) Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 855 c) Durchführung der Enquête und weitere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 855 4. Einordnung der Tabakenquête . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 857 III. Bewertung der Phase reiner Regierungsenquêten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 858 1. Sachstandsermittlungen ohne Kontrollcharakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 2. Keine unmittelbare Parlamentsbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 859 3. Enquêteersuchen und Fremdinformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 860 4. „Enquêtemüdigkeit“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861 5. Sensibilisierung für Eingriffs- und Geheimnisschutzfragen . . . . . . . . . . . . . 862 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 863 B. Eine „atavistische Evolution“: Gemeinsame und gemischte Enquêten . . . . . . . . . . . . 864 I.

Die Börsen-Enquete-Kommission (1892–93) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864 1. Vorgeschichte: Neue Finanzkrisen nach 1873 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 864 2. Die Einsetzung der Börsenenquêtekommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 866 3. Kommissionszusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 866 4. Vorgehen der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867 a) Geschäftsordnung und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 867 b) Sachverständigenauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 868 c) Durchführung der Anhörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 869 d) Schriftliches Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 869 e) Kommissionsbericht und weitere Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 870 5. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 870

II. Deutsch-südwestafrikanische Landgesellschaften (1905–1906) . . . . . . . . . . . . . 872 1. Einleitung: Kolonialskandale und „Hottentottenwahlen“ . . . . . . . . . . . . . . . 872 2. Die Reichstagsforderung einer Untersuchungskommission . . . . . . . . . . . . . 873 a) Beratungen in der Budgetkommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 b) Plenarberatung und Resolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 874 3. Einsetzung und Tätigkeit der Land- und Bergwerkskommission . . . . . . . . . . 877 a) Konstituierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 877 b) Vorsitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 879 c) Ein „Arbeitsplan“ und vorbereitende juristische Gutachten . . . . . . . . . . . 879 4. Beratungen, Ergebnisse und Abschlussbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 882 5. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 884

32

Inhaltsverzeichnis III. Untersuchung zur Lage der Polen (1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 886 1. Vorgeschichte: Antipolenpolitik in Reich und Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . 886 2. Der Antrag Brandys, Plenardebatte und Resolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 887 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 888 IV. Die Rüstungsenquête (1913) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 890 1. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 890 2. Das Ringen um die Rüstungsenquête . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 891 a) Der Kommissionsantrag und das sozialdemokratische Amendement . . . 891 b) Parlamentarische vs. Regierungsuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892 c) Verfassungsrechtliche Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 894 aa) Unzulässigkeit parlamentarischer Mitwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . 894 bb) Bedeutung des Präzedenzfalls von 1905 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 897 cc) Ein „konkludenter“ Verfassungsänderungsantrag . . . . . . . . . . . . . . . 899 dd) Eine ungeschriebene Einsetzungsbefugnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 900 ee) Untersuchungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 902 d) Gefährdung von Betriebsgeheimnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903 e) Die Reichstagsresolution vom 23. April 1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 903 3. Der Streit um die Kommissionszusammensetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 904 a) Auswahl der parlamentarischen Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 904 b) Die sozialdemokratische Interpellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905 c) Eine Wahl der parlamentarischen Mitglieder? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 906 d) Die Totalverweigerung der Sozialdemokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908 4. Aufgabe und Zielsetzung der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 908 5. Die Tätigkeit der Rüstungskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 910 6. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911 a) Der Untersuchungsstreit als staatstheoretischer Grundsatzkonflikt . . . . . 911 b) Parlamentarische Wahl vs. exekutive Ernennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914 c) Die Vereitelung einer Aufklärung durch die Regierung . . . . . . . . . . . . . . 915 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 916 V. Die Vertragskommission (1916–1918) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 917 1. Vorgeschichte: Kriegsgewinnlerei und Kontrollforderungen . . . . . . . . . . . . . 917 2. Kommissionsantrag und Reichstagsbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 919 3. Einsetzung und Tätigkeit der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921 4. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 924 VI. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925 1. Regierungsgeführte Missstands- und Kontrollenquêten . . . . . . . . . . . . . . . . 925 2. Parlamentsbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 926 3. Gründe für das gouvernementale Entgegenkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 928

C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929

Inhaltsverzeichnis

33

4. Kapitel

Die Bedeutung der Zeit von 1867–1918

930

A. Instruktive Verfassungsänderungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930 B. Rudimentäre parlamentarisch induzierte Enquête- und Untersuchungspraxis . . . . . . 933 C. Negative Vorbildwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935 D. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 936 7. Teil

Der Schritt in die Moderne (1917–1932)

937

1. Kapitel

Parlamentarisierungsversuche im Weltkrieg (1917)

937

A. Einleitung: Kriegspech und Verfassungsreform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937 B. Hugo Preuß’ Reformvorschläge für die Oberste Heeresleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . 937 C. Max Webers Enquête- und Untersuchungsrechtskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 939 I.

Allgemeine Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 940

II. Gesetzentwürfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941 1. Verankerung in Art. 23 RVerf 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 941 2. Der Gesetzentwurf über die Erhebungskommissionen des Reichstags . . . . . 942 III. Ein historischer Einordnungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 945 1. „Vorläufer“ der Bürokratiekritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 945 a) Karl vom und zum Stein und Theodor v. Schön . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 946 b) Radikale Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 946 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 950 2. Praktisches Anschauungsmaterial und frühere Desiderate . . . . . . . . . . . . . . . 951 a) Die Enquête- und Untersuchungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 951 b) Zwangsbewehrte Untersuchungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 954 c) Die Ausgestaltung als Minderheitenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 955 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 959 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 962 IV. Epilog: Das Scheitern von Max Webers Vorschlägen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963 2. Kapitel

Parlamentarische Informationsrechte in der Republik

965

A. Das Enquête- und Untersuchungsrecht des Art. 34 RVerf 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . 965 I.

Art. 34 RVerf 1919 im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 965

34

Inhaltsverzeichnis II. Die Entstehung von Art. 34 RVerf 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 966 1. Regierungsvorarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 966 a) Vorberatungen im Reichsamt des Innern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 966 b) Die Entstehung des Regierungsentwurfs vom 21. Februar 1919 . . . . . . . 968 2. Beratungen im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung . . . . . . . . . 972 a) Der Antrag Cohn auf ein parlamentarisches Oberaufsichts- und Weisungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973 b) Keine Beschränkung auf Kontrolluntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 974 c) Analoge Anwendung der Strafprozeßordnung sowie Schutz des Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 976 d) Herabsetzung des Quorums auf 50 Mitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 977 e) Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 978 f) Ermächtigung des Geschäftsordnungsgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981 3. Plenarberatungen der Nationalversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981 III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 981

B. Sonstige Regelungen mit informationsrechtlichen Bezügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985 I.

Ausschüsse mit untersuchungsähnlichen Befugnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985

II. Das autonome Recht des Reichstags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 985 1. Vorschriften mit Enquête- und Untersuchungsrechtsbezug . . . . . . . . . . . . . . 986 a) Die Geschäftsordnung des Reichstags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 986 b) Der „Arbeitsplan“ vom 16. Oktober 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 988 2. Sonstige Informationsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 990 C. Bewertung der parlamentarischen Informationsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 991 3. Kapitel Die Vermessung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts in Wissenschaft und Praxis



992

A. Die sachliche Reichweite des Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 992 I.

Prolog: Die Korollartheorie als vorkonstitutioneller Ausgangspunkt . . . . . . . . . 993

II. Weimarer Spielarten der Korollartheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 994 III. Walter Lewalds „parlamentarisches „Oberaufsichtsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 997 IV. Rudolf Smend: Untersuchungsausschuss und Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1000 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1000 B. Das Verhältnis zu den anderen Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001 I.

Untersuchungsausschüsse und Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1002 1. Grundsätzliche Anerkennung des Selbstinformationsrechts . . . . . . . . . . . . . 1002

Inhaltsverzeichnis

35

2. Parlamentarische Untersuchungsbefugnisse und Exekutive . . . . . . . . . . . . . 1004 a) Aktenvorlage und Amtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1004 b) Beamte als Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1007 c) Regierungsmitglieder als Zeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1008 aa) Abgrenzung gegenüber dem Zitierrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1008 bb) Beispiele aus der Reichstagspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1010 (1) Ministervernehmungen vor 1932 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1010 (2) Der Streit mit dem Überwachungsausschuss (1932) . . . . . . . . . . 1013 (a) Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1013 (b) Erstes Ringen um die Teilnahme der Regierung . . . . . . . . . . 1014 (c) Die Untersuchung des Überwachungsausschusses . . . . . . . . 1016 (d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1019 cc) Verfassungsrechtliche Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1020 (1) Walter Jellineks zitierrechtliches Gegenmodell . . . . . . . . . . . . . . 1020 (2) Historische Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1021 (3) Der abschließende Charakter des Zitierrechts . . . . . . . . . . . . . . . 1022 (4) Ein Vergleich mit dem Aktenvorlagerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1024 (5) Das Interorganverhältnis von Regierung und Volksvertretung . . 1024 (6) Fazit: Die Zeugenstellung amtierender Regierungsmitglieder als Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1026 d) Untersuchungsausschüsse als Behörden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1026 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027 3. Der Schutz von Regierung und Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1028 4. Bewertung des Verhältnisses zur Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1030 II. Untersuchungsausschüsse und Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1031 1. Prolog: Die Reichstagspraxis seit 1919 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1031 a) Paradigma „Kriegsschulduntersuchung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1031 aa) Vorgeschichte: Der Regierungsentwurf eines StGHG . . . . . . . . . . . . 1031 bb) Einsetzungsdebatte und -beschluss (20. August 1919) . . . . . . . . . . . 1032 cc) Kritik an der Kriegsschulduntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1033 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1035 b) Weitere Beispiele aus der Reichstagspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1036 2. Richterschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1037 a) Preußischer Richterverein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1037 b) Deutscher Richtertag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1038 c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1040 3. Deutscher Juristentag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1041 a) Gutachten Rosenberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1041

36

Inhaltsverzeichnis b) Gutachten Alsberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1044 aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1044 bb) Reformforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1047 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1050 c) Die Vorschläge des Berichterstatters Jacobi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1051 d) Abteilungsbeschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1053 4. Reichstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1054 5. Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1056 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1058 III. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1060

C. Fazit: Durchbruch des Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1061 4. Kapitel

Das Enquête- und Untersuchungsrecht als Minderheitenrecht

1062

A. Die sachlich-inhaltliche Prägung durch das Minderheitenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 1062 B. Einsetzungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1065 I. Einsetzung durch die Minderheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1065 II. Aufnahme des Antrags auf die Tagesordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1068 III. Vertagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1068 IV. Vorberatung in einem Ausschuss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1072 V. Änderungen des Untersuchungsgegenstands durch die Mehrheit . . . . . . . . . . . . 1072 1. Der Streit um die Untersuchung der Ruhrentschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . 1072 2. Rechtsprechung und Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1077 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1078 C. Die Verteilung der Ausschusssitze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079 D. Die Minderheit im Untersuchungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1079 I.

„Beweisaufträge“ der Minderheit bei der Einsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1080

II. Beweisanträge während des Untersuchungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1082 III. Rechte der Ausschussmitglieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1083 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1084 E. Rechtsschutzdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1084 F. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1086

Inhaltsverzeichnis

37

5. Kapitel Die „modernen“ Untersuchungsbefugnisse des Art. 34 RVerf 1919



1087

A. Aktenvorlage und Amtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1087 B. Die Verweisung auf die Strafprozeßordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1089 I.

Einordnung in die Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1089

II. Die sinngemäße Anwendung der Strafprozeßordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1090 1. Die „Sinngemäßheit“ der Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1091 2. Anwendbare Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1093 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1096 C. Bewertung der Untersuchungsbefugnisse des Art. 34 RVerf 1919 . . . . . . . . . . . . . . . 1097 6. Kapitel Die Weimar Republik in der Geschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts



1098

8. Teil

Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015)

1102

1. Kapitel

Ein historischer Charakterisierungsversuch

1102

A. Selbstinformationsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1103 B. Genuin politischer Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1104 C. Tendenziell oppositioneller Charakter des Selbstinformationsrechts . . . . . . . . . . . . . 1105 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1106 2. Kapitel

Die Entstehung von Art. 44 GG

1107

A. Die Grundentscheidung von Herrenchiemsee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1107 I.

Vorspiel: Der bayerische Grundgesetzentwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1108

II. Herrenchiemseer Verhandlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1109 B. Parlamentarischer Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114 I.

Einsetzungsquorum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1114

II. Untersuchungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1115 III. Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1116

38

Inhaltsverzeichnis IV. Untersuchungsausschüsse und Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1118 1. Vorrang des gerichtlichen Verfahrens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1118 2. Rechtsschutz der Untersuchungsbetroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1120 3. Verbot richterlicher Nachprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1121 V. Zeitliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1124

C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1124 3. Kapitel

Andere Informationsinstrumente

1126

A. Ausschussanhörungen und Hinzuziehung von Abgeordneten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1126 I.

Öffentliche Anhörungssitzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1126

II. Hinzuziehung ausschussfremder Abgeordneter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1130 B. Enquêtekommissionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131 I.

Historische Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1131

II. Das Recht der Enquêtekommissionen nach § 56 GO-BT . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1133 C. Zutritts-, Rede- und Zitierrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1137 I.

Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1137

II. Überblick über Art. 43 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1139 III. Bestehen einer Antwortpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1139 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141 D. Interpellations- und Fragerechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1141 E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1143 4. Kapitel

Entwicklungslinien von 1949–2015

1144

A. Die Reichweite des formellen Enquête- und Untersuchungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 1144 I.

Die Korollartheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1144 1. Die herrschende weite Korollartheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1144 2. Eine Wiederbelebung engerer Spielarten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1146 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1146

II. Kontrollrechtliche Gegenmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1148 1. „Gesetzesverstöße und Pflichtverletzungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1148 2. Johannes Masings staatsgerichtetes Untersuchungsrechtsmodell . . . . . . . . . 1149 a) Kritik an der herrschenden Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1149 b) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1150 aa) Ein „unheimliches Generalaufklärungsinstrument“? . . . . . . . . . . . . . 1150

Inhaltsverzeichnis

39

bb) Kompetenzverfassungsrechtliche Argumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1151 cc) Vermeintliche Kontrollspezifizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1154 dd) Entstehungsgeschichtliche Verifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1158 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1159 3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1160 III. Das öffentliche Interesse als Einsetzungsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1161 1. Das öffentliche Untersuchungsinteresse als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1162 2. Die Bestimmung des Untersuchungsinteresses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1163 3. Ein (faktischer) Verzicht auf das Untersuchungsinteresse? . . . . . . . . . . . . . . 1165 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1167 IV. „Weiche“ Steuerungsmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1167 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1168 B. Organkompetenzielle Grenzziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1169 I.

Das Verhältnis zu Regierung und Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1170 1. Kernbereichsschutz und retrospektive Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1170 2. Bedeutung für das Einsetzungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1173 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1174

II. Untersuchungsausschüsse und Justiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1174 1. Historische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1175 2. Grundsätzliche Zulässigkeit paralleler Untersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . 1175 3. Grenzen parlamentarischer und gerichtlicher Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . 1178 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1180 C. Untersuchungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181 I.

Die sinngemäße Anwendung des Strafprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1181

II. Bedeutung des Untersuchungsausschussgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1183 III. Untersuchungsbefugnisse gegenüber der Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185 1. Das Aktenvorlagerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1186 a) Historische Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1186 b) Rückanknüpfung und Neubeginn („Flick“-Urteil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1187 c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1192 aa) Mehrdeutigkeit der Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1192 bb) Hypertrophie der Kontrollfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1193 cc) Eine unterschwellige Wesensänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1196 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1200 2. Zitierrecht vs. Zeugenvernehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1201 a) Praxis und Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1201 b) Subordinationsverhältnis, Zeugenpflicht und Zeugniszwang . . . . . . . . . . 1202

40

Inhaltsverzeichnis c) Zitier-, Zutritts- und Rederecht als abschließende Regelungen . . . . . . . . 1203 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1206 IV. Geltung des Zutritts- und Rederechts im Untersuchungsverfahren . . . . . . . . . . . 1207 V. Bewertung der Entwicklung der Untersuchungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 1210

D. Das Selbstinformationsrecht als Minderheitenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1210 I.

Erste Entwicklungen und Reformforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1210

II. Die „IPA-Regeln“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1214 1. Der IPA-Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1214 2. Die Anwendung der „IPA-Regeln“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1215 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1216 III. Die Entwicklung der Minderheitenrechte in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . 1217 1. Die Abänderungsbefugnis der Mehrheit bei der Einsetzung . . . . . . . . . . . . . 1217 2. Mehrheitspflicht zur „Heilung“ eines Untersuchungsauftrags . . . . . . . . . . . 1221 3. Minderheitenrechte im Untersuchungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1221 a) Das „Parteispenden“-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1222 b) Bewertung, Kritik und Alternative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1225 aa) Demokratisches Mehrheitsprinzip und Minderheitenrechte . . . . . . . 1225 bb) Rechte der Antragsteller in Minderheitenenquêten . . . . . . . . . . . . . . 1228 cc) Rechte „potentiell einsetzungsberechtigter“ Minoritäten . . . . . . . . . 1230 (1) Fehlen einer tragfähigen verfassungsrechtlichen Grundlage . . . . 1231 (2) Folgen eines generalisierten Minderheitenrechts . . . . . . . . . . . . 1233 (3) Konsens und Doppeluntersuchung als Ausweg aus der Misere . . 1236 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1238 IV. Regelungen des Untersuchungsausschussgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1239 V. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1241 E. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1242 5. Kapitel

Analyse und Kritik der synergetischen Fehlentwicklungen

1244

A. Vier maßgebliche „Entwicklungsachsen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1245 1.

Das Enquête- und Untersuchungsrecht als Kontrollinstrument . . . . . . . . . . . . . . 1245

II. Verobjektivierungstendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1247 III. Hypertrophie der Minderheitenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1249 IV. Verrechtlichung und Juridifizierung eines politischen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . 1251 B. Kritik: Wesensänderung und Machtverschiebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1254 I.

Verleugnung der Enquêtefunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1255

Inhaltsverzeichnis

41

II. Vernachlässigung des genuin politischen Wesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1256 III. Die Gefahr einer Verzerrung der politischen Kräfteverhältnisse . . . . . . . . . . . . . 1261 6. Kapitel

Vorschläge und Forderungen

1264

A. Wiederbetonung der Enquêtefunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1264 B. Repolitisierung und Dejuridifizierung des Untersuchungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . 1265 I.

Stärkung der Minderheit in der Einsetzungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1265

II. Die demokratische Herrschaft der Ausschussmehrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1268 III. Politische Spielräume der Bundesregierung im Untersuchungsverfahren . . . . . 1270 1. Die Ausgangslage nach dem „Parteispenden“-Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1271 2. Grundlagen einer Repolitisierung zugunsten der Regierung . . . . . . . . . . . . . 1273 3. Denkbare Beurteilungsspielräume zugunsten der Regierung . . . . . . . . . . . . 1274 4. Renaissance des Selbstinformationscharakters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1277 5. Gerichtliche Überprüfbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1279 IV. Politisch-öffentliche Kontrolle als Kompensation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1281 C. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1283 9. Teil Untersuchungsergebnisse 1285 A. Entwicklungslinien seit 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1285 I.

Parlamentarische Information im Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1285 1. Anfänge parlamentarischer Entwicklung nach 1815 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1285 2. Durchbruch in der Märzrevolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1288 3. Süddeutsche Folgeentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1292 4. Das preußische Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1294 5. Norddeutscher Bund und Kaiserreich als „Negativbeispiele“ . . . . . . . . . . . . 1304

II. Der Schritt in die Moderne (1917, 1919–1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1311 III. Bewahrung, Weiter- und Fehlentwicklungen nach 1949 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1314 B. Forderungen und Vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1317 C. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1319 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1320 Personenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1362 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1373

Abkürzungsverzeichnis Herausgeberschaften abgekürzt zitierter Werke Acta Borussica AK GG AktWeiRK BdRT BK GG DepDJT KStatA ParlRat RAI S-B/u. a. SBS U/C vMaKS, GG vMüK, GGK

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.). Denninger, Erhard/Hoffmann-Riem, Wolfgang/Schneider, HansPeter/Stein, Ekkehart (Hrsg.). Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.). Bureau des Reichstags (Hrsg.). Dolzer, Rudolf/Graßhof, Karin/Kahl, Wolfgang/Waldhoff, Christian (Hrsg.). Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.). Kaiserliches Statistisches Amt (Hrsg.). Deutscher Bundestag/Bundesarchiv (Hrsg.). Reichsamt des Innern (Hrsg.). Schmidt-Bleibtreu u. a. (Hrsg.). Stelkens, Paul/Bonk, Heinz Joachim/Sachs, Michael (Hrsg.). Umbach, Dieter C./Clemens, Thomas (Hrsg.). Mangoldt, Hermann v./Klein, Friedrich/Starck, Christian (Begr./ Hrsg.). Münch, Ingo/Kunig, Philip (Begr./Hrsg.).

Parlamentaria1 und Amtsdruckschriften2 VerhBad1K VerhBad2K BeilBay2K VerhBayAbgK BeilBayAbgK

Verhandlungen der Ständeversammlung des Großherzogthums Baden. Erste Kammer. Verhandlungen der Ständeversammlung des Großherzogthums Baden. Zweite Kammer. Verhandlungen der zweyten Kammer der Ständeversammlung des Königreichs Bayern. Beilagen. Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Bayern. Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des Königreichs Bayern. Beilagen-Band.

1 Angegeben werden in arabischen bzw. römischen Ziffern je nach Quelle Jahr, Band und Heft und/oder Legislaturperiode sowie die Session. 2 Aufgenommen sind nur nicht allg. und sich selbst erschließende Abkürzungen. Die Quellen sind nach Ländern geordnet: Baden, Bayern, Deutscher und Norddeutscher Bund und Deutsches Reich, Kurhessen, Preußen, Sachsen-Weimar-Eisenach, Schleswig-Holstein und Württemberg

Abkürzungsverzeichnis BeilBayRRK VerhBayRRK ProtBV BerBörsEK 1893 Drs­RüstK 1913 Haßler, VerhFNV ProtBörsEK 1893 StenBerKSUA 1920

Sten­Ber­RüstK 1913 VerhNdtRT VerhRT VerhWeimNV Wigard, VerhFNV

Beil. VerKhLt VerKhLt AblRegDüsseldorf PrMinBl SlgDrsPr1K SlgDrsPr2K VerhPr1K

VerhPr2K

VerhPrAbgH

VerhPrHH

VerhPrNV

43

Verhandlungen der Kammer der Reichsräthe des Königreichs Bayern. Beilagen-Band. Verhandlungen der Kammer der Reichsräthe des Königreichs Bayern. Protokolle der Deutschen Bundes-Versammlung (Frankfurt am Main). Bericht der Börsen-Enquete-Kommission, Berlin 1893. Kommission zur Prüfung der Rüstungslieferungen. Drucksachen, Berlin 1913. Haßler, Konrad Dietrich (Hrsg.): Verhandlungen der deutschen verfassunggebenden Reichsversammlung zu Frankfurt am Main. Börsen-Enquete-Kommission. Sitzungs-Protokolle. 1. bis 93. Sitzung, Berlin 1893. Beilagen zu den Stenographischen Berichten über die öffentlichen Verhandlungen des Untersuchungsausschusses. Bericht des zweiten Unterausschusses des Untersuchungsausschusses über die Friedensaktion Wilsons 1916/17 (Berlin 1920). Kommission zur Prüfung der Rüstungslieferungen. Stenographische Berichte. 1. Sitzung am 14. und 15. November 1913, Berlin 1913. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages. Verhandlungen der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung. Wigard, Franz (Hrsg.): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main. Nicht als Anlage zu den Sitzungsprotokollen publizierte Beilagen zu den Kurhessischen Landtags-Verhandlungen. Verhandlungen des Kurhessischen Landtages. Amtsblatt der Regierung zu Düsseldorf. Ministerial-Blatt für die gesammte innere Verwaltung in den ­König­ lich Preußischen Staaten. Sammlung sämmtlicher Drucksachen der Ersten Kammer. Sammlung sämmtlicher Drucksachen der Zweiten Kammer. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom [Datum] einberufenen Kammern. Erste Kammer. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom [Datum] einberufenen Kammern. Zweite Kammer. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom [Datum] einberufenen beiden Häuser des Landtags. Haus der Abgeordneten. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom [Datum] einberufenen beiden Häuser des Landtags. Herrenhaus. Verhandlungen der Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staats-Verfassung.

44 RegBl SWE [Jahr] VerhLT SWE Prot.

VerhLT SWE Schr.

VerhLT SWE

ProtSHLV BeilWürttAbgK VerhWürttAbgK VerhVerfRevLV BeilVerfRevLV

Abkürzungsverzeichnis Großherzogl. S. Weimar-Eisenachisches Regierungs-Blatt [Jahr]. Verhandlungen des zu Weimar am [Datum] eröffneten und am [Datum] geendigten Landtages im Großherzogthume SachsenWeimar-Eisenach. Landtags-Protokolle. Verhandlungen des zu Weimar am [Datum] eröffneten und am [Datum] geendigten neunten Landtages im Großherzogthume Sachsen-Weimar-Eisenach. Zweite Abtheilung. Schriftenwechsel. Verhandlungen des zu Schloß Dornburg am [Datum] fortgesetzten und am [Datum] geendigten ersten Landtags im Großherzog­thum Sachsen Weimar-Eisenach. Protocolle der constituirenden Schleswig-Holsteinischen Landesversammlung 1848–1849. Verhandlungen der Württembergischen Kammer der Abgeordne­ ten. Beilagen-Band. Verhandlungen der Württembergischen Kammer der Abgeordne­ ten. Verhandlungen der verfassungrevidirenden Landesversammlung für das Königreich Württemberg. Verhandlungen der verfassungrevidirenden Landesversammlung des Königreichs Württemberg. Beilagen-Band

Historische Rechtsquellen Bad­Verf­Urk 1818

Bay­Ed­SV 1818 Bay­GeschG 1850 Bay­GeschG 1872 Bay­Min­VerantwG 1848 Bay­Neu­GBG 1848 Bay­StGHG 1850

Bay­Verf­Urk 1818

BelgVerf 1831 BS Verf 1922

Verfassungsurkunde für das Großherzogthum Baden vom 22. August 1818, Vollständige Sammlung der Großherzoglich Badischen Regierungsblätter, Band 1, 1826, Jahrgang 1818, Nr. 18, S. 1425. Edict über die Stände-Versammlung vom 26. Mai 1818, Gesetzblatt für das Königreich Baiern 1818, Sp. 349. Gesetz, den Geschäftsgang des Landtags betreffend, vom 25. Juli 1850, Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1849/50, Sp. 297. Gesetz, den Geschäftsgang des Landtags betreffend, vom 19. Januar 1872, Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1872, Sp. 173. Gesetz, die Verantwortlichkeit der Minister betreffend, vom 10. Juni 1848, Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Sp. 69. Gesetz, die Behandlung neuer Gesetzbücher betreffend, vom 12. Mai 1848, Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1848, Sp. 17. Gesetz, den Staatsgerichtshof und das Verfahren bei Anklagen gegen Minister betreffend, vom 30. März 1850, Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1850, Sp. 133. Verfassungs-Urkunde des Königreichs Baiern vom 26. Mai 1818, Verfassungs-Urkunde des Königreichs Baiern, Gesetzblatt für das Königreich Baiern 1818, Sp. 101. Constitution de la Belgique. Bulletin officiel des décrets du Congrès National de la Belgique, S. 174. Verfassung des Freistaates Braunschweig vom 6.  Januar 1922, GVS. S. 55. Abdruck auch bei F. Wittreck (Hg.), Weimarer Landes­ verfassungen, 2004, S. 153.

Abkürzungsverzeichnis

45

Deutsche Bundes-Akte vom 8. Juni 1815. ProtBV I (1817), S. 30. DBA 1815 GG Lds­Verf­Sa­Co­Mei 1824 Grundgesetz über die Landschaftliche Verfassung des Herzog­thums Sachsen-Coburg-Meiningen vom 4. September 1824, Sammlung der in dem Herzogthum Sachsen-Meiningen ergangenen LandesGesetze, 1824, Nr. 39, S. 35. GG Sa­Alt 1831 Grundgesetz für das Herzogthum Sachsen-Altenburg vom 29. April 1831, Gesetz-Sammlung für das Herzogthum Altenburg, 1831, Nr. 10, S. 71. GO-Bay­AbgK 1831 Geschäfts-Ordnung für die Kammer der Abgeordneten. Abdruck bei Georg Döllinger, Sammlung der im Gebiete der inneren StaatsVerwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen. Siebenter Band, 1836, S. 347. GO-Bay­AbgK 1851 Geschäfts-Ordnung für die Kammer der Abgeordneten vom Jahre 1851, München [ohne Jahr]. Geschäfts-Ordnung für die zweyte Kammer vom 5. Mai 1819, VerGO-Bd2K 1819 handlungen der zweiten Kammer der Ständeversammlung des Großherzogthums Baden 1819. Erstes Heft 1819, Beilage Nr. 30, S. 61. GO-BT 1951 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 6. Dezember 1951, BGBl. II 1952, S. 389. GO-FNV 1848 Entwurf der Geschäftsordnung [der Paulskirchenversammlung] vom 29. Mai 1848. Abdruck bei Wigard, VerhFNV, S. 163. GO-KhSV 1831 Geschäfts-Ordnung der Ständeversammlung vom 16.  Februar 1831, Sammlung von Gesetzen etc. für Kurhessen 1831, S. 45. GO-LT Co­Go 1852 Geschäftsordnung für die Landtage der Herzogthümer Coburg und Gotha vom 3. Mai 1852, Gesetzsammlung für das Herzog­ thum Gotha 1852, No. 410, S. 61. Geschäftsordnung für den Landtag im Großherzogthume SachGO-LT SWE 1851 sen-Weimar-Eisenach, Regierungs-Blatt für das Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach auf das Jahr 1851, S. 257. Geschäftsordnung des Parlamentarischen Rates in der Fassung GO-ParlR vom 22. September 1948. Abdruck in ParlRat X, 1997, S. 185. Geschäfts-Ordnung für die erste Kammer vom 30.  März 1849, GO-Pr1K 1849 Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch das Allerhöchste Patent vom 5. Dezember 1848 einberufenen Kammern. Erste Kammer. Erster Band 1849, S. XXVIII. GO-Pr2K 1849 Geschäftsordnung für die zweite Kammer vom 28.  März 1849, Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch das Allerhöchste Patent vom 5. Dezember 1848 einberufenen Kammern. Zweite Kammer. Erster Band 1849, S. XXV. GO-Pr1K 1854 Geschäfts-Ordnung für die Erste Kammer vom 12. Dezember 1854, Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch die Allerhöchste Verordnung vom 14. November 1854 einberufenen Kammern. Erste Kammer. Zweiter Band, 1855, S. 14. GO-PrAbgH 1862 Geschäftsordnung für das Preußische Haus der Abgeordneten vom 6. Juni 1862. SlgDrsPrAbgH VII/1 (1862), Nr. 5, 20, 21, 22; VerhPrAbgH VII/1 (1862), S. 57 ff., 89 ff., 182. GO-PrHH 1892 Geschäfts-Ordnung für das Preußische Herrenhaus vom 15. Juni 1892. Abdruck bei A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 266.

46 GO-PrNV 1848

GO-RT 1867 GO-RT 1871 GO-RT 1922 GO-Württ­KAbg 1821

GO-Württ­KAbg 1851

GO-Württ­LV 1849

Kh­StDG 1831 KhVerf­Urk 1831

Kh­Vw­Umb­VO 1821

LGG Schwa­So 1841

Ls­Verf­Urk­Lip 1819

Ls­Verf­Urk­SchwaSo 1830

Ls­Verf­Württ 1815 LVerfG Ha 1840

MinAnklG SWE 1850

Abkürzungsverzeichnis Geschäfts-Ordnung für die zur Vereinbarung der preußischen Staats-Verfassung berufene Versammlung vom 26. Juni 1848. Abdruck in VerhPrNV I, S. 266. Geschäfts-Ordnung für den Reichstag des Norddeutschen Bundes. Abdruck bei G. Hirth, Parlaments-Almanach3 1867, S. 136. Geschäftsordnung des Deutschen Reichstages vom 21. März 1871. Abdruck bei G. Hirth, Parlaments-Almanach9 1871, S. 303. Geschäftsordnung für den Reichstag vom 12.  Dezember 1922, RGBl. II 1923, S. 101. Geschäfts-Ordnung der Kammer der Abgeordneten vom 23. Juni 1821, Königlich Württembergisches Staats- und Regierungs-Blatt vom Jahr 1821, S. 331. Geschäftsordnung für die Kammer der Abgeordneten vom 26. Mai 1851, Verhandlungen der Württembergischen Kammer der Ab­ geordneten in den Jahren 1851–52. Erster Beilagen-Band. Erste Abtheilung, 1852, Beilage 16, S. 35. Geschäftsordnung für die Versammlung von Volksvertretern zur Berathung einer Revision der Verfassung vom 7./22.  Dezember 1849, Verhandlungen der verfassungrevidirenden Landesversammlung des Königreichs Württemberg im Jahre 1849. Beilagen-Band, S. 149. Staatsdienstgesetz vom 8. März 1831, Sammlung von Gesetzen etc. für Kurhessen, 1831, S. 69. Verfassungsurkunde für das Churfürstentum Hessen vom 5.  Januar 1831, Sammlung von Gesetzen, Verordnungen, Ausschreiben und anderen allgemeinen Verfügungen für Kurhessen, 6.  Band, Jahrgang 1831, Nr. 1, S. 1. Verordnung, die Umbildung der bisherigen Staatsverwaltung betreffend, vom 29.  Juni 1821, Sammlung von Gesetzen etc. für Kurhessen 1821, S. 29. Landesgrundgesetz für das Fürstenthum Schwarzburg-Sondershausen vom 24. September 1841, Gesetzsammlung für das Fürstentum Schwarzburg- Sondershausen, 1841, S. 202. Landständische Verfassungs-Urkunde des Fürstenthums Lippe vom 8. Juni 1819, Lemgo 1819. Abdruck auch bei K. H. L. Pölitz/ F. Bülau, DtVerf I, 1847, S. 1097. Landständische Verfassungs-Urkunde für das Fürstenthum Schwarzburg-Sondershausen vom 28. Dezember 1830, Sondershausen 1831. Abdruck auch bei K. H. L. Pölitz/F. Bülau, DtVerf I, 1847, S. 1097. Landständische Verfassung vom 15. März 1815, Königlich-Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1815, Nr. 15, S. 117. Landesverfassungs-Gesetz für das Königreich Hannover Verfassungsurkunde von 1840, Gesetz-Sammlung für das Königreich Hannover 1840, S. 141. Gesetz über Erhebung von Anklagen gegen Minister und das dabei einzuhaltende Verfahren vom 22. Oktober 1850, RegierungsBlatt für das Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach auf das Jahr 1850, S. 635.

Abkürzungsverzeichnis

47

Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 26. Juli 1867, BGBl. S. 1. Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten vom Pr­Allg­GO 1815 4.  Februar 1815. Abdruck etwa im Verlag von Georg Reimer, Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten. Erster Theil. Prozeßordnung. Unveränderter Abdruck der Ausgabe von 1816, Berlin 1855. Gesetz, betreffend den Schutz der zur Vereinbarung der PreußiPr­ImmuG 1848 schen Verfassung berufenen Versammlung, vom 23.  Juni 1848, PrGS.S. 157. Kriminal-Ordnung vom 11. Dezember 1805. Pr­KrimO 1805 Prov­Cen­tralgG 1848 Gesetz über die Einführung der provisorischen Centralgewalt für Deutschland vom 27. September 1848, RGBl. S. 3. GO-Pr2K 1849 Provisorische Geschäftsordnung für die zweite Kammer vom Prov­ 28. Februar 1849. Abdruck in: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch das Allerhöchste Patent vom 5. Dezember 1848 einberufenen Kammern. Zweite Kammer. Erster Band 1849, S. XXV. Provisorische Geschäfts-Ordnung für die zur Vereinbarung der Prov­GO-PrNV 1848 preußischen Staats-Verfassung berufene Versammlung vom 27. Mai 1848, Abdruck in: Verhandlungen der Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staats-Verfassung, Bd.  1, 1848, S. 4 ff. und 28 ff. Pr­Vereinb­Vers­WahlG 1848 Wahlgesetz für die Versammlung zur Vereinbarung der Preu­ ßischen Staatsverfassung vom 8. April 1848, PrGS. S. 89. PrVerf 1848 Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat vom 5. Dezember 1848, PrGS. S. 375. PrVerf 1850 Verfassungs-Urkunde für den Preußischen Staat vom 31. Januar 1850, PrGS. S. 17. PrVerf 1920 Verfassung des Freistaates Preußen vom 30. November 1920, Gesetzsammlung 1920, S. 543. Abdruck auch bei F. Wittreck (Hg.), Weimarer Landesverfassungen, 2004, S. 466. Verordnung über die Aufhebung der Privatgerichtsbarkeit und des Pr­VO­Aufh­Priv­Ger 1849 eximirten Gerichtsstandes, sowie über die anderweitige Organisation der Gerichte vom 2. Januar 1849, PrGS S. 1. Revidirtes Grundgesetz über die Verfassung des Großherzog­ RevGG SWE 1850 thumes Sachsen-Weimar-Eisenach vom 15. Oktober 1850, Regierungs-Blatt für das Großherzogthum Sachsen-Weimar-Eisenach 1850, S. 615. Reichsgesetz, betreffend das Verfahren im Falle gerichtlicher RImmuG 1848 Anklagen gegen Mitglieder der verfassunggebenden Reichs­ versammlung, vom 30. September 1848, RGBl. 1848 S. 5. RPresseG 1874 Gesetz über die Presse vom 7. Mai 1874, RGBl. 1874, S. 65. Verfassung des deutschen Reiches vom 28. März 1849, RGBl. S. 101. RVerf 1849 RVerf 1871 Verfassungs-Urkunde für das Deutsche Reich vom 16. April 1871, BGBl. S. 63. RVerf 1919 Verfassung des deutschen Reiches vom 11. August 1919, RGBl. S. 1383. NdtBVerf 1867

48 RVer­kündG 1848

RWahlG 1849 Sächs­Verf­Urk 1831

StGG Go 1849 St­GG Go­Co 1852

StGG SH 1848

StGG SWE 1816

StGG WaPy 1849

StGHG 1921 Tabak­EnqG 1878

ThürVerf 1921

VerfCoSa 1821

Verf­Rev­LVG 1849

Verf­Urk ­Ho­Si 1833

VerfUrk WaPy 1852

Abkürzungsverzeichnis Gesetz, betreffend die Verkündigung der Reichsgesetze und der Verfügungen der provisorischen Centralgewalt, vom 27. September 1848, RGBl. S. 1. Gesetz, betreffend die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshause, vom 12. April 1849, RGBl. S. 79. Verfassungsurkunde des Königreichs Sachsen vom 4. September 1831, Gesetzsammlung für das Königreich Sachsen, 1831, S. 241. Abdruck auch bei K. H. L. Pölitz/F. Bülau, DtVerf I, 1847, S. 220 ff. Staatsgrundgesetz für das Herzogthum Gotha vom 25. März 1849, Gesetzsammlung für das Herzogthum Gotha, Bd. VI, S. 143. Staatsgrundgesetz für die Herzogtümer Gotha und Coburg vom 3. Mai 1852, Gesetzsammlung für das Herzogthum Gotha 1852, No. 410. Staatsgrundgesetz für die Herzogthümer Schleswig-Holstein vom 15.  September 1848, Chronologische Sammlung der Verordnungen und Verfügungen für die Herzogthuemer Schleswig und Holstein, die Herrschaft Pinneberg, Grafschaft Ranzau und Stadt Altona, Jahrgang 1849, Nr. 172, S. 281. Abdruck auch bei­ Joachim Krech, Das schleswig-holsteinische Staatsgrundgesetz vom 15. September 1848, 1985, S. 303. Grundgesetz über die Landständische Verfassung des Großherzog­ tums Sachsen-Weimar-Eisenach vom 5. Mai 1816. Abdruck auch in den Protokollen der Deutschen Bundes-Versammlung, Erster Band, 1817, S. 130. Staatsgrundgesetz für die Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont vom 23.  Mai 1849, Fürstlich Waldeckisches Regierungs-Blatt 1849, Nr. 13, S. 27. Gesetz über den Staatsgerichtshof vom 9. Juli 1921, RGBl. S. 905. Gesetz, betreffend Erhebungen über den Tabackbau, die Tabackfabrikation und den Tabackhandel, und die Feststellung eines Nachtrags zum Reichshaushalts-Etat für das Jahr 1878/79, vom 26. Juni 1878, RGBl. S. 129. Verfassung des Landes Thüringen vom 11. März 1921, Gesetzsammlung für Thüringen 1921, S.  57. Abdruck bei F. Wittreck (Hg.), Weimarer Landesverfassungen, 2004, S. 641. Verfassung des Herzogthums Coburg-Saalfeld vom 8. August 1821, Sammlung der Landesgesetze und Verordnungen für das Herzog­ thum Coburg, 1821, Nr. IX, S. 28. Gesetz, betreffend die Einberufung einer Versammlung von Volksvertretern zur Berathung einer Revision der Verfassung, vom 1.  Juli 1849, Regierungs-Blatt für das Königreich Württemberg vom Jahr 1849, No. 34, S. 237. Verfassungs-Urkunde für das Fürstenthum Hohenzollern-Sigmaringen vom 11. Juli 1833, Sammlung der Gesetze und Verordnungen für das Fürstenthum Hohenzollern-Sigmaringen 1833, S. 1. Verfassungs-Urkunde für die Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont vom 17. August 1852, Fürstlich Waldeckisches Regierungs-Blatt 1852, Nr. 21, S. 141.

Abkürzungsverzeichnis VLT­Bild­VO 1847 Vorl­GO-Pr1K 1849

Vorl­Reichs­GewG 1919 WSA 1820

WürttVerf 1919

Württ­Verf­Urk 1819

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Verordnung über die Bildung des Vereinigten Landtages vom 3. Februar 1847, PrGS. S. 34. Vorläufige Geschäftsordnung für die erste Kammer vom 27. Februar 1849, Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch das Allerhöchste Patent vom 5.  Dezember 1848 einberufenen Kammern. Erste Kammer. Erster Band 1849, S. XXV. Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10. Februar 1919, RGBl. S. 169. Schluss-Acte der über Ausbildung und Befestigung des deutschen Bundes zu Wien gehaltenen Ministerial-Conferenzen vom 15. Mai 1820. ProtBV IX (1820), S. 17. Die Verfassung Württembergs, Regierungsblatt für Württemberg 1919, Nr. 30, S. 281. Abdruck auch bei F. Wittreck (Hg.), Weimarer Landesverfassungen, 2004, S. 710. Verfassungs-Urkunde des Königreichs Württemberg vom 25. September 1819, Königlich-Württembergisches Staats- und Regierungsblatt 1819, Nr. 65, S. 633.

1. Teil

Prolog „Das demokratische System, zu dem unser Staat sich bekennt, beruht auf der Überzeugung, daß man den Menschen die Wahrheit sagen kann.“ Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker1

A. Die Bedeutung des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts Unter den Verfassungsorganen, deren Fürsorge sich das Grundgesetz anvertraut, nimmt der Bundestag die Spitzenposition ein: Ihm steht, dem Prinzip der Volkssouveränität aus Art. 20 Abs. 2 GG gehorchend, mit der Wahl des Bundeskanzlers das Initial zur Regierungsbildung zu. Gleichsam durch die Person des Regierungschefs hindurch führt eine ununterbrochene Legitimationskette von den Ministern hin zu sämtlichen Bediensteten in der Bundesverwaltung und so letztendlich auf den Bundestag zurück, der  – als Treuhänder des souveränen Volkes  – die Kontrolle über die exekutiven Submandatare führt. In diesem Dreieck aus Kreation, Legitimation und Verantwortlichkeit ist das konstruktive Misstrauensvotum das schlagkräftigste Instrument, das unter den Sachgesetzen der parlamentarischen Demokratie, in der die Gubernative notwendigerweise das Vertrauen der parlamentarischen Majorität besitzt, besonderen Ausnahmesituationen vorbehalten bleibt. Gegenüber dem Kanzlersturz durch Kanzlerwahl ist das Untersuchungsrecht aufgrund seines oppositionell-minoritären Bauplans das probatere Kontrollmittel. Während allenfalls in Ausnahmesituationen Gefahr aus dem „eigenen“ parlamentarischen Lager droht, treibt die Opposition das parteipolitische Interesse um, jedes noch so mikroskopisch kleine Fehlverhalten aus dem Verantwortungsbereich der Regierung und der sie tragenden Mehrheit in die Öffentlichkeit zu zerren, genussvoll auszubreiten und – ungeachtet des tatsächlichen Gewichts – zum veritablen Skandalon aufzuplustern, um durch eine möglichst publikumswirksame Diskreditierung der Gegenseite für kommende Wahlkämpfe Vorteile zu sichern.2 Alle diese Möglichkeiten bietet Art. 44 GG. 1 Zitat aus „Die Illusion der Sicherheit. Die Bundesregierung muß dem Volk zum Thema­ Zivilschutz die Wahrheit sagen“, in: Die Zeit Nr. 52 vom 25. Dezember 1964. 2 Vgl. S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 38 oder allg. zur Kontrolle durch Opposition und Parlamentsmehrheit H. Schöne, Alltag, 2010, S. 267 ff. S. M. Riede/H. Scheller, ZParl 2013, 93 (98 ff.) zur Skandalisierungswirkung von Untersuchungsverfahren einschließlich einer Medienauswertung.

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1. Teil: Prolog

Obwohl das Untersuchungsrecht vor diesem Passepartout zu Recht als „schärfste Waffe […] der parlamentarischen Opposition“ (Hans-Peter Schneider) gehandelt wird, dient es trotzdem keineswegs ausschließlich dem Minderheitenschutz. Vielmehr nimmt das Grundgesetz das antragsberechtigte Abgeordnetenviertel, das eine Untersuchung ohne und selbst gegen den Willen der gouvernementalen ­Mehrheit durchsetzen kann, für das demokratische Anliegen der Regierungskontrolle in den Dienst.3 Für die Bedeutung, die dem Untersuchungsrecht als demokratischem Kontrollwie als politischem Kampfmittel offensichtlich zukommt, spricht die Parlamentsstatistik Bände: Bis Ende Juli 2014 wurden 41 Untersuchungsausschüsse eingesetzt. Der Verteidigungsausschuss konstituierte sich 15 Mal als Untersuchungsausschuss. Beispiele politisch brisanter Untersuchungen sind Legion:4 In der ersten Wahl­ periode wurde ein Dokumentendiebstahl im Bundeskanzleramt untersucht, der erste Untersuchungsausschuss der folgenden Legislatur prüfte den spektakulären Fall des Präsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz Otto John, der – nach eigener Aussage durch Entführung und Zwang – längere Zeit in der DDR verschwunden war. Aus späteren Tagen ist an den FIBAG-Untersuchungsausschuss, den Wohnungsbau für US-Streitkräfte betreffend, die Skandale um den Starfighter oder den maroden HS-30-Schützenpanzer oder die Spiegelaffäre zu erinnern, der sich der Verteidigungsausschuss als Untersuchungsausschuss annahm. Die siebente Wahlperiode war in besonderer Weise durch den Kalten Krieg geprägt: Der Bundestag untersuchte eine Beeinflussung der Abstimmungen über die Ostverträge oder ­Rainer Barzels Misserfolg, dessen Misstrauensvotum gegen Willy Brandt scheiterte. Gegenstand einer weiteren Untersuchung war die bemerkenswerte Karriere Günter Guillaumes, eines DDR-Spions, der es bis zum persönlichen Referenten des Bundeskanzlers brachte  – und so Brandts politischen Niedergang besiegelte. In den 1980er Jahren kam die „Flickaffäre“ zu besonderer Berühmtheit. 1984 konstituierte sich der Verteidigungsausschuss wegen der unseligen Falschbeschuldigungen gegen den nachträglich rehabilitierten General Günter Kießling als Untersuchungsausschuss. Ebenfalls in diese Jahre gehört der Skandal um die gewerkschaftseigene „Neue Heimat“, ihre Misswirtschaft und dubiosen Praktiken. Der Untersuchungsausschuss zu Verkauf und Lieferung von U-Boot-Plänen an das südafrikanische Apartheidregime konnte seine Arbeit nicht beenden; die Untersuchung wurde unter erheblichen Schwierigkeiten in der folgenden Wahlperiode weitergeführt. Die hohe Zahl von Untersuchungsausschüssen in der zehnten Legislaturperiode bereicherte die deutsche Sprache um die spöttische Neuschöpfung der „Ausschussdemokratie“.5 3

So H.-P. Schneider, DER SPIEGEL 43/1985, S. 37. s. zum Ganzen die Übersichten und Nachweise bei P. Schindler, Datenhandbuch II, 1999, S.  2184 ff. und M. F. Feldkamp, Datenhandbuch I, 2005, S.  509 ff. sowie in der Fortführung im Internet auf der Homepage des Bundestages. s. ferner zu den Untersuchungen bis zu den 1980er Jahren R. Kipke, Untersuchungsausschüsse, 1985, S. 162 ff. 5 Vgl. P. Schindler, Datenhandbuch II, 1999, S.  2185. Zur „Ausschussdemokratie“ vgl. M. Hilf, NVwZ 1987, 537. 4

1. Teil: Prolog

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Ende der 1980er Jahre interpretierte Hans-Peter Schneider die „auffällige Häufung“ parlamentarischer Untersuchungen als Indiz für die desperate Bemühung der Politik, ihrem zunehmenden Ansehens- und Vertrauensverlust durch „eigene Skandal­recherchen“ Einhalt zu gebieten.6  – In der elften Wahlperiode folgte der Transnuklear-Untersuchungsausschuss zu Unregelmäßigkeiten bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Nach der Wiedervereinigung wurden der DDR-Arbeitsbereich „Kommerzielle Koordinierung“ und die Abwicklung der volkseigenen Betriebe durchleuchtet. Der durch den BND eingefädelte Plutoniumschmuggel, der mit dubiosen Methoden offene Flanken in der Proliferationsbekämpfung offenbarte, beschäftigte das Parlament in der 13. Wahlperiode. Der 14. Bundestag widmete sich wieder den Parteispenden. Zum Beginn des zweiten Millenniums sollte ein von den christdemokratischen Wahlverlierern angestrengter „Lügenausschuss“ klären, „ob und in welchem Umfange Mitglieder der [rot-grünen] Bundesregierung […] Bundestag und Öffentlichkeit hinsichtlich der Situation des Bundeshaushaltes, der Finanzlage der gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung sowie der Einhaltung der Stabilitätskriterien des EG-Vertrages und des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts […] vor der Bundestagswahl […] falsch oder unvollständig informiert“ hatten.7 2004 sorgte die leichtfertige Visa-Vergabepraxis – verschiedene deutsche Auslandsvertretungen gerierten sich beinahe als „Reisebüros“ für illegale Immigranten – in dem durch Arbeitslosigkeit und „Negativwachstum“ aufgeheizten innenpolitischen Klima für Zündstoff. Spätere Untersuchungsausschüsse sollten die Rolle des BND im Irak erhellen, der möglicherweise amerikanische Militärmaßnahmen unterstützt hatte, während die rot-grüne Bundesregierung mit ihrem kategorischen „Nein!“ zu dem US-geführten Anti-Terror-Krieg Wahlkampf machte. Ebenfalls untersucht wurde die deutsche Rolle bei den CIA-Gefangenen-Transporten; die älteste moderne Demokratie verschleppte Verdächtige in Drittweltländer, um sie mittlerweile gottlob desavouierten „intensivierten Befragungsmethoden“ zu unterwerfen. Von Mai 2010 bis in den Sommer 2013 tagte der „NSU“-Untersuchungsausschuss, der einer von rechtem Terror traumatisierten Republik das Teilversagen der Nachrichtendienste und Polizei erklären sollte. Alle diese Skandale und Missstände wurden nicht hinter verschlossenen Türen aufgearbeitet; das ein­ leitende Zitat Carl Friedrich v. Weizsäckers ist dem Umstand geschuldet, dass die Beweiserhebungsöffentlichkeit ein Charakteristikum des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts ist. Neben der stark parteipolitisch „belasteten“ Untersuchungsfunktion kommt einem parlamentarischen Selbstinformationsrecht traditionell noch eine weitere Aufgabe zu, die heute zunehmend in Vergessenheit gerät.8 Gemeint ist die Erhe 6

H.-P. Schneider, 57. DJT, 1988, S. M54 (M61). s. den Bericht BT-Drs. 15/2100 und S. 25 (Zitat). 8 H. Meyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 4 Rn. 83 spricht der Gesetzgebungsenquête sogar jede Daseinsberechtigung ab, weil es das Parlament in der „Demokratie […] als unter seiner Würde empfinden [müsse], sich die Grundlagen für die Gesetzgebung durch Zwangsmaßnahmen gegenüber der Regierung oder gar Dritten zu verschaffen“. 7

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1. Teil: Prolog

bung der für die parlamentarische Arbeit erforderlichen Tatsachen und sonstigen Informationen. Auch dieses primär sachbezogene Enquêterecht im engeren Sinne ist keineswegs politisch unbedeutend. 1989 schrieb der damalige Direktor beim Deutschen Bundestag Joseph Bücker – in anderem Zusammenhang – der Information „[i]m Verhältnis von Parlament und Regierung“ eine „grundlegende Bedeutung zu: Information [sei…] Herrschaftswissen, sie [habe…] die Auswirkung von Machtzuweisung und Machterhaltung“, ja der „politische Stellenwert des Parlaments gegenüber der Regierung – aber auch gegenüber Öffentlichkeit und Wählern – [hänge…] entscheidend […] davon ab, ob das Parlament […] über die zur Erfüllung [seiner…] Aufgaben notwendigen Informationen“ verfüge.9 Gut ein Dreivierteljahrhundert zuvor hatte Egon Zweig gewissermaßen in dasselbe Horn gestoßen und das Enquête- und Untersuchungsrecht als „Gradmesser“ für den „Entwicklungsgang der parlamentarischen Macht“ qualifiziert.10 Tatsächlich ermöglicht bestenfalls Art. 44 GG es dem Bundestag, seine Rolle als das zentrale Staatsorgan gegenüber der im informationstechnischen Vorteil befindlichen Regierung zu behaupten. Die Verfassungsgeschichte wird erweisen, dass eine Volks­ vertretung erst dann, wenn sie zur Not imstande ist, über einen kontroversen Sachverhalt selbständig, d. h. ohne gouvernementale oder behördliche Mitwirkung, eigene Erhebungen zu veranstalten, der Regierung Paroli bieten und die Aufgabe als „Forum der Nation“ ausfüllen kann.

B. Forschungsstand und Untersuchungsinteresse Über das moderne Enquête- und Untersuchungsrecht wurden wahre Biblio­ theken geschrieben. Für seine historische Entstehung gilt dies nicht, obwohl bis tief in das 19. Jahrhundert hineinreichende Einleitungskapitel zum Standard der enquête- und untersuchungsrechtlichen Literatur gehören und auch das BVerfG, nach dessen Überzeugung das „Untersuchungsrecht […] zu den ältesten und wichtigsten Rechten des Parlaments“ gehört, immer wieder auf die Weimarer Reichsverfassung zurückgreift und bereits die revidierte preußische Verfassungsurkunde von 1850 oder frühkonstitutionelle Thesen für seine Überlegungen herangezogen hat.11 Während von der Rechtsprechung keine detaillierte Aufarbeitung der Verfassungsgeschichte zu erwarten ist, enttäuscht das Schrifttum unter diesem Blick­ winkel doch: Von einigen wenigen Ausnahmen12 abgesehen hat es in aller Re 9

J. Bücker, ZG 1989, 97. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (269). 11 s. BVerfGE 49, 70 (79 f.); BVerfGE 67, 100 (128, 130 ff., 138); BVerfGE 76, 363 (384 f.); BVerfGE 77, 1 (44 ff.); BVerfGE 105, 197 (223) sowie BVerfGE 124, 78 (114) (Zitat) und zu Art. 82 PrVerf 1850 BVerfGE 67, 100 (129, 131 f.). 12 Neuere Beispiele sind J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 7 ff. und W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S.  42 ff. Aus dem älteren Schrifttum s. neben Egon Zweig vor allem F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 11 ff. 10

1. Teil: Prolog

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gel mit einer Auflistung der einzelstaatlichen Verfassungsvorschriften, die ihrem Wortlaut nach vermeintlich ein Enquête- und Untersuchungsrecht oder wenigstens eine Früh- oder Vorform vorgesehen haben sollen, zumeist ein Bewenden. Das verbreitete historische „Desinteresse“ dürfte mit dem Urteil des Heidelberger Staatsrechtlers Karl Salomo Zachariä aus den endenden 1830er Jahren zusammenhängen, dass ein nach englischem Vorbild verstandenes parlamentarisches Hilfsrecht, „durch eine aus Mitgliedern des Hauses bestehende Kommission Zeugen abhören zu lassen und überhaupt die Nachrichten einzuziehen, welche zur gehörigen Erledigung einer zur Kompetenz des Hauses gehörenden Angelegenheit erforderlich“ sind, allen Vorteilen zum Trotz „in den Deutschen konstitutionellen Monarchien schwerlich das Bürgerrecht erhalten“ werde.13 1913 transportierte Egon Zweig diese These mit seinem vielzitierten Aufsatz zur „Enquete nach deutschem und österreichischem Recht“ ins 20.  Jahrhundert.14 Der Wiener Jurist urteilte weiter, „daß das Informationsbedürfnis der Parlamente immer mehr [schwinde…] und die Vorbereitung gesetzgeberischer Aktionen durch Tatsachenermittlung allmählich in die Sphäre der Vollzugsgewalt“ hinüberrücke. Trotzdem qualifizierte er das Enquête- und Untersuchungsrecht im selben Atemzug – die politische Absicht ist erkennbar – als „Gradmesser für Stärke und Lagerung der in einem Staat wirksamen politischen Spannungsverhältnisse“, in denen „sich gleichsam mikroskopisch der Entwicklungsgang der parlamentarischen Macht“ widerspiegele.15 Konjunktur habe das Enquête- und Untersuchungsrecht deswegen bloß in der Märzrevolution gehabt, in der überhaupt parlamentarische Befugnisse reüssiert hätten, „welche bestimmt und geeignet [gewesen seien…], die Vollzugsgewalt formell in Abhängigkeit von der Volksvertretung zu bringen, dieser aber­ zugleich materiell eine Ingerenz auf Inhalt und Richtung der Verwaltungstätigkeit zu sichern“.16 So erscheint ein wirkungsvolles parlamentarisches Selbstinforma­ tionsrecht bei Egon Zweig als Ausdruck von Volkssouveränität und parlamentarischem Regierungssystem.17 Die geringe Bedeutung im konstitutionellen Deutschland, ja das Fehlen in der Norddeutschen Bundes- und Reichsverfassung, wertete 13

K. S. Zachariä, Vierzig Bücher III2 1839, S. 263. K. v. Rotteck, VernunftR II 1830, S. 244 sprach den Landständen schon neun Jahre früher jede eigene „Untersuchungsgewalt“ ab und beschränkte sie auf eine Information durch die Regierung. Ähnl. äußerte sich 33 Jahre später C. v. Kaltenborn, ConstVerfR, 1863, S. 89 zum „Recht einer Controle über die gesammte politische Thätigkeit des Volkes und Staats“, das zwar ein „Correlat der staatlichen Oberaufsicht“ sei, aber den Kammern keineswegs das Recht gebe, „daß zu dem Behufe jeder Beamte, jede Behörde des Staats unmittelbar von der Volksvertretung zur Rechenschaft gezogen werden dürfe“ (Hervorhebung nur hier). 14 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (293). s.  auch A. Köchling, EnqueteR, 1926, S.  11, 26 oder J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 68. 15 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (269). 16 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (277). 17 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (274, 277 f., 284, 293 ff.) und passim. Dieses Motiv wird auch von Rechtskonservativen wie dem Reichstagsabgeordneten F. Warmuth, StGH, 1920, S.  20 aufgenommen und zur Kritik des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts gebraucht.

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1. Teil: Prolog

er dagegen konsequent als Menetekel eines stetigen Niedergangs der „realen Bedeutung des parlamentarischen Apparats“.18 Anknüpfend an diese Überlegungen, die das Enquête- und Untersuchungsrecht für die Zeit des Konstitutionalismus zwangsläufig als Quantité négligeable erscheinen lassen,19 hat sich im juristischen Schrifttum seit den ersten Dezennien des letzten Jahrhunderts die Ansicht durchgesetzt, dass es in den frühkonstitutionellen und Vormärzverfassungen allenfalls vereinzelte Frühformen eines Selbstinformationsrechts gegeben habe, die mangels robuster Ausführungsbestimmungen, aufgrund des politischen Übergewichts der monarchischen Regierungen oder bundesrechtlicher Hemmnisse bzw. schlicht der „Größe“ des jeweiligen Einzelstaates wegen weitgehend bedeutungs- und wirkungslos geblieben wären.20 Vor diesem Hintergrund wird § 91 StGG SWE 1816, der den Landständen in SachsenWeimar-Eisenach u. a. das nebulöse Recht einräumte, „Ausschüsse […] zur Anstellung von Untersuchungen“ niederzusetzen, zur liberalen Ikone stilisiert. Nachahmer habe diese erste Verbürgung des Enquête- und Untersuchungsrechts auf deutschem ­Boden nicht mehr finden können, nachdem mit der Wiener Schlussakte das konservative „monarchische Prinzip“ festzementiert worden sei.21 Obwohl die Märzrevolution als deutliche Zäsur in der Entwicklungsgeschichte des parlamentarischen Selbstinformationsrechts gilt, steht die Praxis der Frankfurter Nationalversammlung paradoxerweise nicht allzu hoch im Kurs. Während noch bekannt ist, dass sich die Abgeordneten mit der Geschäftsordnung selbst ein Enquêterecht beigelegt und in § 99 RVerf 1849 auch dem künftigen Reichstag zugedacht haben, wird aus ihrer täglichen Arbeit bloß eine (vermeintliche!) Kol­ 18

E. Zweig, ZfP 1913, 265 (343). Nach dem Krieg wurde Egon Zweigs Urteil, dass Enquête- und Untersuchungsrecht habe im deutschen Konstitutionalismus keine nennenswerte Rolle gespielt, etwa von W. Steffani,­ Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 42 ff. oder H.-J. Rinck, DVBl 1964, 706 übernommen. 20 Mit unterschiedlichem Akzent A. Köchling, EnqueteR, 1926, S.  13; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  12 ff.; J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S.  3; M. Alsberg, 34.  DJT I, 1926, S.  332 (336) in Fn.  4; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S.  44; J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S.  62; S.  Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 45; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 2; H. Bockmann, UntersuchungsR, 2010, S. 25 f. 21 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (272 f.). s.  mit erheblichen Unterschieden im Detail StGH, AöR n. F. 4 (1922), 210 (213); A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 13; W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 3 (4 in Fn. 3); F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 12; J. Hatschek/ P. Kurtzig, DtPrStaatsR II2 1930, S.  685; J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S.  3; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S.  455 in Fn.  7. Aus bundesrepublikanischer Zeit s. etwa W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S.  45; J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S.  62; F. Giese/E. Schunck, GG8 1970, S.  120; K. Stern, StaatsR II, 1980, S.  59; N. Achter­berg, ParlR, 1984, S.  151 und Fn.  136; A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S.  9; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 8 f.; U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (598 f.) in Fn. 9; L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 2 Rn. 13; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 2; S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 45; J. Platter, Untersuchungsverfahren, 2004, S. 21 f. und in Fn. 3; H. Bockmann, UntersuchungsR, 2010, S. 24 und ferner bei W. Simons, Untersuchungsrecht, 1991, S. 29, 88 in Fn. 38. 19

1. Teil: Prolog

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legialenquête hervorgehoben.22 Im Übrigen kann das Resümee Johannes ­Masings, dass „[f]örmliche Untersuchungen, die über die gewöhnliche aufarbeitend-vorbereitende Tätigkeit von Parlamentsausschüssen hinausgegangen [seien] und als Paradigma einer Parlamentsenquête zu gelten hätten, […] aus dieser Zeit nicht in die Geschichtsbücher des Parlamentsrechts eingegangen“ wären, stellvertretend für die heutige Bewertung stehen. Das abschließende Urteil lautet bündig, dass es zwar einige ungeordnete Enquêten, aber weder eine konstante Praxis noch politisch relevante Untersuchungen gegeben habe.23 Kaum besser steht die Versammlung zur Vereinbarung der preußischen Staatsverfassung im Schrifttum da: Zwar wird den Berliner Abgeordneten attestiert, dass sie sich ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage und allein aufgrund ihres Selbstverständnisses anlässlich der blutigen Unruhen in Posen eines Untersuchungsrechts berühmt, diese revolutionäre Befugnis dann aber im selben Atemzug auf belanglose Auskunftsrechte gegenüber der Regierung zurückgestutzt hätten. Im Übrigen wird der preußischen Nationalversammlung bloß eine Enquête zu der verzweifelten Not der Spinner und Weber zugeschrieben.24 Während Art. 82 PrVerf 1850 bzw. sein oktroyiertes Pendant von 1848 bisweilen als besonders liberale Ausprägungen eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts gelten, wobei üblicherweise das Fehlen robuster Ausführungsbestimmungen moniert wird, hält sich über die Landtagspraxis zwischen 1849 und 1873 hartnäckig das auf Egon Zweig zurückgehende Vorurteil, dass es den verschiedenen Regierungen stets gelungen wäre, missliebige Untersuchungen im Keim zu ersticken. Als Musterbeispiel soll das Ministerium Bismarck die Untersuchung des gouvernementalen Wahlterrors auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts 1863/64 durch Obstruktion und Verweigerung vereitelt haben.25 1873 habe die Regierung anlässlich des Eisenbahngründerskandals den letzten Anlauf des Ab­ geordnetenhauses zu einer eigenständigen Untersuchung durch die Einsetzung 22 Mit Unterschieden bei vergleichbarer Tendenz A. Köchling, EnqueteR, 1926, S.  23 ff.; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  20 ff.; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 46 ff.; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 9 f.; H. Bockmann, UntersuchungsR, 2010, S. 28 f., 30. s. dazu 3. Teil 1. Kap. B. II. 3. c) aa). 23 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 9, 13 f. 24 Vgl. W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 51 ff. und S. 53 Anm. 1 mit dem Urteil, „[d]ie Untersuchungskommission [sei…] in ihrer Arbeit jedoch hinfort auf bloße Akteneinsicht beschränkt“ gewesen. s.  auch J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 11 f.; H. Bockmann, UntersuchungsR, 2010, S. 31. 25 Differenzierter J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  34 f., der von einem „eindrucksvollen – wenngleich […] nicht erschöpfenden – Bericht über die Wahlmanipulationen“ spricht. Obwohl die Kommissionsarbeit „in concreto nicht unfruchtbar [gewesen sei, wären…] dem Parlament in dieser Untersuchung doch nachwirkend seine Grenzen an­ gezeigt [worden]. Mit der Verweigerung selbst durchsetzbarer Befugnisse [habe man…] der Kontrollenquête […] das Wasser abgegraben“. Weil so nur das Risiko bestanden habe, „ergebnislos politische Energie zu binden und gar das Parlament zu desavouieren“, habe selbst E. Lasker in den Norddeutschen Verfassungsberatungen ein parlamentarisches Untersuchungsrecht ohne robuste Befugnisse abgelehnt.

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1. Teil: Prolog

einer königlichen Kommission unter homöopathischer Parlamentsbeteiligung vereitelt. Angesichts dieser Erfahrungen habe die Volksvertretung jedes Interesse an eigenen Erhebungen verloren und fortan selbst Sachstandsenquêten der Regierung überlassen.26 Andere Autoren sprechen dem Untersuchungsrecht in Preußen gleich jede praktische Bedeutung ab.27 Wenig besser urteilt das Schrifttum über Ansätze außerhalb der Hohenzollernmonarchie, die mangels belastbarer Befugnisse und klarer Ausführungsnormen keine besondere Rolle gespielt haben sollen.28 Z. B. sei das rudimentäre Enquête­ recht der bayerischen Volksvertretung, „mündliche und schriftliche Gutachten von Sachverständigen zu erholen“, dadurch entwertet worden, dass „[z]ur Abgabe solcher Gutachten […] Niemand angehalten werden“ konnte und der Staatskasse „keine eigenen Ausgaben“ entstehen durften.29 Im Norddeutschen Bund und Kaiserreich habe der Reichstag dann aus föderalen Gründen und zur Vermeidung eines Disputs mit den Regierungen gleich ganz auf das nutzlose Enquête- und Untersuchungsrecht verzichtet. Vorstöße von links, entsprechende Befugnisse doch noch in der Verfassung zu verankern, seien an der Indolenz der Mehrheit gescheitert. Insgesamt gebe es aus der Zeit von 1867 bis 1918 so gut wie nichts zu berichten.30 Nur die Regierung habe von Fall zu Fall und nach dem „Vorbild“ der erfolglosen preußischen Eisenbahnenquête teils mit unbedeutender Parlamentsbeteiligung besondere Enquêtekommissionen nie 26

Trotz teils erheblicher Unterschiede doch mit vergleichbarem Tenor E. Zweig, ZfP 1913, 265 (284 ff.); A. Köchling, EnqueteR, 1926, S.  16 ff.; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 29 ff.; J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S. 4; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 48, 50 f., 53 ff.; S. 59: in der Eisenbahnangelegenheit „zu keinem ernsthaften Widerstand mehr fähig“ habe sich das Abgeordnetenhaus ohne Gegenwehr der königlichen Untersuchung angeschlossen; S.  69 f.: zwar Kontrollmöglichkeit des Plenums von „sehr geringe[r] politische[r] Bedeutung“ durch Interpellationen, aber Angewiesenheit auf Regierungskooperation; J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 66; C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 28; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 11 ff.; M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 2; S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 45 f.; H. Bockmann, UntersuchungsR, 2010, S. 32 f. Ferner L. Bekermann, Kontrolle, 1910, S. 45 mit dem Urteil, die „Enquête in Preußen“ sei ein „gänzlich embryonales Gebilde“ geblieben. 27 So H.-J. Rinck, DVBl 1964, 706. 28 J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 64; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 13 f.; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 2; S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 45; L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 2 Rn. 14. 29 Vgl. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 10: „Ansatz eines Enquêterechts“ und ferner J. Platter, Untersuchungsverfahren, 2004, S. 22 mit Fn. 7. 30 So oder ähnl. etwa E. Zweig, ZfP 1913, 265 (293 ff.); F. Warmuth, StGH, 1920, S. 20 f.; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S.  26 ff.; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 33 ff.; J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S. 4; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 68 f.; J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 67; J. Platter, Untersuchungsverfahren, 2004, S. 23; S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 45 f.; L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 2 Rn. 14. C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 28 sieht den Einfluss Bismarcks am Werk, der schon in Preußen für die Marginalisierung des Enquête- und Untersuchungsrechts gesorgt habe.

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dergesetzt.31 Der Reichstag habe sein Informationsbedürfnis dagegen nur noch im Einzelfall zur Geltung gebracht, „indem er jeweilig durch Gesetz eine Untersuchungskommission [habe] aufstellen“ lassen.32 Indem das 19. Jahrhundert nahezu bloß schwächliche Sachstandsenquêten hervorgebracht haben soll,33 erstrahlt Max Webers Konzeption eines Enquête- und Untersuchungsrechts als Minderheitenrecht mit robusten Befugnissen auf der Brache dieser vermeintlich belanglosen Vorgeschichte als kongeniale Schöpfung, deren Errungenschaften in Art.  34 RVerf  1919 eingegangen seien.34 Ute Mager spricht sogar davon, dass mit Art. 34 RVerf 1919 „eigentlich erst die Geschichte des parlamentarischen Untersuchungsrechts in Deutschland“ begonnen habe.35 Art.  44 GG wird überwiegend nahezu exklusiv in diese Tradition gestellt, dem Grundgesetz aber zugutegehalten, mit verschiedenen Modifikationen auf den parteipolitischen Missbrauch, die Agitation und die extremistische Republik-Hetze der Weimarer Zeit reagiert zu haben.36 31 J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 67 f.; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 13; M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 3; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 2. 32 F. Warmuth, StGH, 1920, S. 21 (Zitat); H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 1. Ähnl. C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 28, der in Fn. 68 – zu Unrecht – noch die Börsen- und die Rüstungsenquête als Beispiele nennt. 33 Etwa J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S.  68. s.  auch J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  8: „Eindeutige Formen dieses Rechts lassen sich nicht erkennen, und politisch entscheidende Bedeutung blieb ihm versagt.“ S. 13 heißt es, der „deutsche Konstitutionalismus [habe…] das Untersuchungsrecht in der Praxis über ein Aufkeimen der Idee hinaus kaum Gestalt gewinnen“ lassen. Deutlicher L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 2 Rn. 15: „Die Geschichte der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse in Deutschland beginnt […] erst mit dem Zusammenbruch des Kaiserreichs […] und der Gründung der Weimarer Republik“, oder J. Platter, Untersuchungsverfahren, 2004, S. 23: „Unmittelbares Vorbild konnte somit das Enqueterecht der Parlamente im neunzehnten Jahrhundert unter den Verhältnissen der konstitutionellen Monarchien nicht sein.“ 34 Mit erheblichen Unterschieden im Detail heben die Bedeutung Max Webers und der Weimarer Verfassung hervor: K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  12 ff.; W. Steffani, Unter­ suchungsausschüsse, 1960, S.  71 ff.; J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S.  61, 68 ff.; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art.  44 Rn.  3; L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 2 Rn.  15 f.; deutlich J. Platter, Untersuchungsverfahren, 2004, S.  23 f.; S.  Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S.  45, 46 f.: M. Weber habe neben dem englischen die deutschen Beispiele von 1816 und 1848/49 berücksichtigt, die freilich „mangels Ausführungsbestimmungen keinerlei praktische Bedeutung“ erlangt hätten. S. – ohne Erwäh­ nung Webers (!) – F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 41 f. mit vergleichbarem Bericht über die Weimarer enquête- und untersuchungsrechtliche „Zeitenwende“. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  44 ff. erkennt das „alte Enquêterecht“ immerhin als eine „nicht hinwegdenkbare Grundlage“ des modernen Untersuchungsrechts an, ohne dass es aber ein „unbesehen in die Dogmatik zu übernehmender Maßstab“ sei. s. zu M. Webers 6. Teil 1. Kap. C. 35 U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (598). 36 Vgl. J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 72 ff., der freilich „als Beispiel“ die von Steffani untersuchte, preußische Praxis heranzieht. s. auch L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 2 Rn. 17, 19; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 4 und

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Diese gängige Sichtweise, die den 11. August 1919 gleichsam zu der enquêteund untersuchungsrechtlichen „Stunde Null“ verklärt, fordert bei genauerer Betrachtung kritische Nachfragen heraus. An erster Stelle fehlt jede plausible Erklärung, warum die vermeintlich erwähnenswerten Frühformen in den Einzelstaaten de facto doch politisch bedeutungslos geblieben sein sollen.37 Kaum überzeugender ist die These, dass sich beide wichtigen Nationalversammlungen in der aufgewühlten Revolutionszeit nahezu ausschließlich auf Sachstandsenquêten beschränkt haben sollen. Es liegt bedeutend näher, dass sie das Aufbruchsklima von Revolution, Volkssouveränität und parlamentarischer Macht genutzt haben, um die liberalen Errungenschaften auch mit Hilfe des neu gewonnenen Selbstinforma­ tionsrechts gegen die Reaktion zu verteidigen. Das verbreitete Bedeutungslosigkeitsverdikt über die preußische Enquête- und Untersuchungspraxis nach 1849/50, das anscheinend – mit klar politischem Ziel – erstmals in den Norddeutschen Verfassungsberatungen aufkam,38 steht im grellen Widerspruch zu der kurze Zeit später folgenden Charakterisierung des Art. 82 PrVerf 1850 als „Kampfparagraph gegen die Regierung“.39 In derselben Reichstagsdebatte aus dem Jahr 1891, in der der Deutsch-Freisinnige Karl Schrader die vermeintliche Kompromissvorschrift mit diesem militanten Attribut schmückte, schrieb ihr August Bebel ausgerechnet in der preußischen Eisenbahnangelegen-

ferner S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 47 f. sowie besonders differenziert J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 49 ff., der die „Kontrollenquêten als prägendes Erscheinungsbild“ charakterisiert, S. 58 ff. konstatiert, dass der Zweck der „allgemeinen Informationsbeschaffung“ in der Weimarer Praxis aus dem Anwendungsbereich des Art. 34 RVerf 1919 ausgegrenzt worden sei und „viele Untersuchungen von [einer…] Frontstellung [der Parteipolitik] beseelt und grob mißbräuchlich geführt“ worden wären. 37 s. etwa J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 63: „Die Bestimmungen sowohl der Weimarischen wie der Kurhessischen Verfassung standen indes nur auf dem Papier.“ F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 17 konstatiert schlicht, dass es „[ü]berall […] dem Autoritätsstaat durch geringe konstitutionelle Zugeständnisse gelungen [sei], die demokratische Bewegung aufzuhalten. Darum [biete…] diese Zeit keine Fundgrube für das Recht einer Volksvertretung, von sich aus Tatsachenuntersuchungen vorzunehmen.“ Analog kommt W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 45 zu dem Urteil, Sachsen-Weimar-­ Eisenach und Kurhessen seien bloß bedeutungslose Ausnahmen von den landesherrlichen Bemühungen, die landständische „Mitwirkung im Staatsleben auf eine Wirkungslosigkeit im Regierungsprozeß zu reduzieren“. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  9 berichtet knapp, dass die „gänzlich unbestimmt[en]“ Befugnisse in der Verfassungsurkunde von Sachsen-Weimar-Eisenach ebenso wie die kurhessischen Regelungen „politisch ungenutzt und bedeutungslos“ geblieben wären. Ähnl. urteilt J. Platter, Untersuchungsverfahren, 2004, S.  21 f., dass „[k]eine dieser verfassungsrechtlichen Bestimmungen […] so ausgestaltet [gewesen sei], daß der Untersuchungsausschuß über Sanktionsmöglichkeiten verfügt hätte, mit welchen er auf eine Beeinträchtigung des Untersuchungsverfahrens seitens der Exekutive hätte reagieren können“. C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S.  26 berichtet, dass § 91 StGG SWE 1816 und § 93 KhVerfUrk 1831 „ohne praktische Bedeutung“ geblieben wären. 38 s. 6. Teil 2. Kap. A. I. 39 VerhRT VIII/1 (1890/92) S. 3290.

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heit heilsame Wirkungen zu.40 Sieben Jahre zuvor hatte Hermann Wagener, das prominenteste politische Opfer dieser Affäre, in seinen Lebenserinnerungen geurteilt, dass die Regierungskommission de facto eine „parlamentarische[!] Untersu­ chungs-Commission“ gewesen sei, ihr „eigentlicher Präsident und Geschäftsführer der [Abgeordnete] Dr. Lasker“.41 Angesichts dieser zeitgenössischen Einschät­ zungen verliert die heute vorherrschende Sichtweise an Überzeugungskraft. Als nicht stimmig erscheint auch die These, der Reichstag habe Enquêten bei Bedarf gesetzlich veranlasst. Schließlich bedurfte jedes Gesetz der Zustimmung der verbündeten Regierungen im Bundesrat. Auch die Auffassung, dass die Regierungsenquêten in der Zeit des Norddeutschen Bundes und Kaiserreichs für die weitere Entwicklung vollkommen bedeutungslos gewesen wären, dürfte brüchig sein: Es ist kaum anzunehmen, dass die Staatspraxis der untergegangenen Monarchie für die Mütter und Väter der Weimarer Reichsverfassung keine Rolle gespielt hat. Genau besehen indizieren Max Webers Vorüberlegungen zur Übermacht der Bürokratie bzw. zur informationellen Entmachtung des Parlaments wenigstens eine negative Vorbildrolle der wilhelminischen Ära. Angesichts dessen drängt sich die Frage auf, ob die tradierten Urteile in Wahrheit bloße Vorurteile sind. Um das Ergebnis etwas vorwegzunehmen: Die historische Parlamentspraxis wird zeigen, dass mit der Konstitutionalisierung vor gut 200 Jahren ein Prozess angestoßen wurde, der aus heutiger Sicht in relativ klar erkennbaren Bahnen analog zu Ernst-Wolfgang Böckenfördes Einschätzung des Konstitutionalismus überhaupt42 mit einer gewissen Zwangsläufigkeit in das moderne Enquête- und Untersuchungsrecht einmündete. Ist es aber in diesem Sinne bereits im 19. Jahrhundert gelungen, ein landständisches Selbstinformations- und Kontrollrecht zu etablieren, verliert das vorherrschende Bild eines gleichsam traditionslosen Geniestreichs Max Webers an Boden. Zwar trifft es unbestreitbar zu, dass – wie Wolfgang Löwer 1984 formulierte – die „Textkontinuität zur Weimarer Verfassung […] dem entwicklungsgeschichtlichen Argument“ bei der Interpreta 40

A. Bebel qualifizierte die „Feststellung gewisser Vorgänge bei den [Eisenbahn-]Gründungen […] auf Grund des bekannten Antrags Lasker“ als bedeutenden und einzigen Fall, in dem „von dem § 82 Gebrauch gemacht worden“ wäre (VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3288 f.). K. Schrader stellte richtig, dass es sich um eine Regierungsenquête gehandelt hatte. Ihre Erfolge führte er darauf zurück, dass „dem preußischen Abgeordnetenhause das Recht zu[ge]stand[en habe], eine solche Enquete anzustellen“. Die Regierung sei so „genöthigt [gewesen…], in die Kommission Mitglieder des Landtags zu berufen […] und auch bei der Auswahl der zu vernehmenden Personen nach anderen Prinzipien zu verfahren als bisher“ (S. 3290). Bemerkenswert ist in diesem Kontext noch die Aussage von A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 93, dass „[i]n Anlehnung an [Art. 82 PrVerf 1850…] auf Anregung aus dem Hause durch Allerhöchste Botschaft v. 14. Febr. 73 eine Komm. zur Untersuchung des Eisenbahnkonzessionswesens angeordnet“ worden wäre (Hervorhebung nur hier). 41 H. Wagener, Erlebtes, 1884, S. 57. 42 Vgl. E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 2006, S. 273 ff. mit einer Darstellung der Gegenposition E. R. Hubers, der deutsche Konstitutionalismus sei ein eigenständiges Verfassungssystem und keine bloße Übergangserscheinung.

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tion von Art. 44 GG „zusätzliches Gewicht“ verleiht.43 Sind die Weimarer Errungenschaften aber in eine kontinuierliche Entwicklungslinie von den Anfängen des deutschen Parlamentarismus bis hin zu der Praxis des Deutschen Bundestages eingebettet, ist diese Perspektive zu eng und es erschließt sich über das Vorbild des Art. 34 RVerf 1919 hinaus ein beachtliches Reservoir an historischem Anschauungsmaterial für das Verständnis und die Auslegung von Art.  44 GG. Die Analyse etwaiger Kontinuitätslinien lässt also auf weiteren Nutzen hoffen, hilft doch die Vor- und Entstehungsgeschichte des gegenwärtigen Rechts seinem Verständnis in aller Regel auf die Sprünge.44 Das gilt insbesondere für die staatsorganisa­ tions- und parlamentsrechtlichen Passagen des Grundgesetzes, die so tief in ihrem Entstehungskontext und in der „Verfassungsvorgeschichte“ verwurzelt sind, dass sich der Status quo erst vor historischem Passepartout voll erschließt.45 Die Entwicklung seit 1815 verspricht dem Verfassungsinterpreten deswegen auch näheren­ Aufschluss über Sinn und Zweck des parlamentarischen Selbstinformationsrechts, die ihm der apodiktische Wortlaut des Art. 44 GG schuldig bleibt. Das Enquête- und Untersuchungsrecht ist ein durch und durch politisches Recht und nicht etwa, wie das BVerfG verschiedentlich anzudeuten scheint, ein Instrument irgendeiner Form von Wahrheitsfindung.46 Eine der jeweiligen Zeit angemessene Darstellung muss deswegen den größeren historisch-politischen Kontext der Debatten berücksichtigen; es reicht nicht aus, wenn man sich isoliert mit den teils kleinlich wirkenden Auseinandersetzungen um bestimmte technische Details des Enquête- und Untersuchungsrechts, ja nicht einmal um die Existenz eines Selbstinformationsrechts befasst, wenn man darüber den größeren Zusammenhang und so letzten Endes die Motive und Ziele der Kontrahenten aus dem Blick verliert. Die Untersuchung liefert deswegen gewissermaßen zugleich eine in ihrem Blickwinkel beschränkte Miniatur des monarchischen Konstitutionalismus und der tatsächlichen Machtverhältnisse in den betrachteten Jahren. Das Enquête- und Untersuchungsrecht wird – wie von Egon Zweig beschrieben47 – in diesem Zusam 43 W. Löwer, DVBl 1984, 757 (759). P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (255) spricht bildlich davon, „Rechtsprechung und Literatur zum Untersuchungsrecht [seien…] geschichtsbewusst“, indem „sie […] sich immer wieder und ausdrücklich auf die Weimarer Regelung und Entscheidungen des Staatsgerichtshofs“ bezögen. 44 Vgl. nur M. Kotulla, VerfGesch, 2007, S. VII. 45 Als einer der ersten „Kronzeugen“ für diese These hob der spätere Bundesverfassungsrichter K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  8 in seiner Dissertationsschrift hervor, dass eine „fruchtbare Arbeit“ über das „parlamentarische Untersuchungsrecht“ des Art. 34 RVerf 1919 die „Kenntnis der dem Rechtsleben zugrundeliegenden Lebensverhältnisse, der sozialen und politischen Bedeutung des zu behandelnden Rechtsgebildes voraus[setze], wie sie nur unter Berücksichtigung der Geschichte zu gewinnen“ sei. Demgegenüber könne eine „rein vom­ Formalen ausgehende juristische Untersuchung nicht zu brauchbaren Ergebnissen führen“ (Hervorhebung nur hier). Ähnl. urteilt W. Löwer, DVBl 1984, 757 (759) zu Art. 44 GG, „daß das Parlamentsrecht im besonderen auf die entwicklungsgeschichtliche Exegese nicht ver­ zichten“ könne. 46 Zur Entfaltung des Art. 44 GG seit 1949 s. 8. Teil 4. Kap. 47 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (269).

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menhang zum Gradmesser der parlamentarischen (Ohn-)Macht. Möglicherweise ist die so verstandene Entwicklungsgeschichte des parlamentarischen Informa­ tionsrechtsinstruments noch von allgemeinerem Interesse: Nicht nur den Linken des 19. Jahrhunderts, sondern ebenso modernen Historikern galt und gilt die deutsche Monarchie als scheinkonstitutionelle oder kryptoabsolutistische Phase.48 Erst seit wenigen Jahrzehnten bricht sich ein neues Interesse an der parlamentarischen Geschichte des 19. Jahrhunderts Bahn.49 Die Entwicklungsgeschichte des Selbstinformationsrechts der Volksvertretungen kann u. U. einen bescheidenen Beitrag zu einem vollständigeren Bild leisten, versteht man dieses Recht in dem angedeuteten Sinn als „Messinstrument“ für die faktische Machtbalance zwischen monarchischer Exekutive und Volksvertretung. Wie eng das Verständnis dieser Facette der Parlamentsgeschichte üblicherweise mit der allgemeinen Historiographie verknüpft ist, beweist das Pauschalurteil, dass es den übermächtigen preußischen Regierungen stets gelungen wäre, jede parlamentarische Enquête oder Untersuchung – man möchte ergänzen: so wie jeden parlamentarischen Einfluss überhaupt – abzuwürgen. Diese Sicht auf das Enquête- und Untersuchungsrecht und teils auch funktional verwandte Instrumente als kleinen Teilausschnitt aus dem früheren Staatsleben ist mit der vorherrschenden Bewertung des preußisch-­ deutschen Konstitutionalismus bestens kompatibel. Beginnt die Geschichte eigenständiger parlamentarischen Informationsmöglichkeiten und Kontrollrechte dagegen tatsächlich ausgerechnet in diesen vermeintlich grauen Tagen, wird simultan mit der sublimen Grundannahme, dass – wie es nicht nur in dem einflussreichen Aufsatz Egon Zweigs den Anschein hat50 – eine parlamentarische Regierungsform Conditio sine qua non entsprechender Befugnisse sei, auch diese Deutung der­ konstitutionellen Verfassungsgeschichte ein Stück weit erschüttert.

C. Eine provisorische „Idee“ als Wegweiser Obwohl mit der neunten Stufe von Friedrich Rückerts Lehrgedicht über die „Weisheit des Brahmanen“ feststeht, dass „nur auf’s Ziel zu sehn“, „die Lust am Reisen“ verdirbt (Nr. 79), ist vor dem Antritt der „Zeitreise“ durch die Verfassungs­ geschichte eine vorläufige Begriffsbestimmung erforderlich. Zwar resignierte der 48 Zum preußischen (Schein-)Konstitutionalismus s. F. Lassalles „Was nun? Zweiter Vortrag über das Verfassungswesen“, in: Bernstein (Hg.), Reden und Schriften II, 1919, S. 75 ff. Zur Stimmung der Liberalen im Vormärz allg. T. Nipperdey, DtGesch 1800–1866, 1998, S. 353 f. Für das Kaiserreich kommt H.-U. Wehler, Kaiserreich7 1994, S. 60 ff. zu dem Urteil, es habe sich um einen „autokratischen, halbabsolutistischen Scheinkonstitutionalismus“ gehandelt. s. auch die umstrittene These eines „bonapartistischen Diktatorialregimes“ Bismarcks, S. 63 ff. Krit. zu Wehlers Analyse E. Nolte, HZ 228 (1979), 529 ff. Überblick zur Diskussion um den (Schein-)Konstitutionalismus bei E. Fehrenbach, Verfassungsstaat2 2007, S. 71 ff. 49 Überblick bei E. Fehrenbach, Verfassungsstaat2 2007, S. 80 ff. 50 s. etwa M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 2; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 33 oder J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 68 f.

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Kölner Doktorand Anton Köchling 1926 nicht zu Unrecht, dass eine „zutreffende und allumfassende Definition des parlamentarischen Enqueterechts […] unmöglich aufgestellt werden“ könne, weil es „eben ein spezifischer Bestandteil der untereinander doch sehr verschiedenen Verfassungen der einzelnen Staaten“ sei.51 Nimmt man zu der einzelstaatlichen Diversität noch den Untersuchungszeitraum von gut 100 Jahren hinzu, scheint sich dieses frustrierende Menetekel um ein Vielfaches zu potenzieren. Ohne jede Vorstellung, wonach es Ausschau zu halten gilt, müsste man sich in der historischen Informationsflut zwangsläufig verlieren. Eine ungefähre „Idee“ des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts, nicht mehr und nicht weniger, ist deswegen als „Wegweiser“ unentbehrlich. Eine solche­ phänotypische Arbeitsdefinition kann keinen Anspruch auf Akkuratesse erheben, sondern hat einen begrenzten Daseinszweck, der sich in den Notwendigkeiten der vorliegenden Untersuchung erschöpft. Da es um die Vorgeschichte des heutigen Enquête- und Untersuchungsrechts geht, liegt es nahe, sich an diesem zu orientieren. Unter dieser Prämisse ist im Folgenden von einem „Untersuchungsrecht“ die Rede, wenn es um die mittlerweile proto­ typische „politische Funktion“ des Art.  44 GG geht.52 Der im Schrifttum häufig synonyme Terminus „Enquêterecht“ wird dagegen teils weiter, teils spezifischer verwendet. Etymologisch entstammt er der Sprache der Höfe und Diplomatie früherer Jahrhunderte. Das französische Verb „enquérir“ geht seinerseits auf das lateinische „inquirere“ zurück, was soviel bedeutet wie „nachforschen“ oder „untersuchen“.53 In dieser Arbeit dient die Vokabel „Enquêterecht“ einerseits als Oberbegriff für sämtliche Formen selbständiger parlamentarischer Informationsbeschaffung, die nicht vom „good will“ der Regierung abhängt. Im engeren Sinne steht der Begriff für die eher unpolitische, informatorische Gesetzgebungsvorarbeit, parlamentarische Sozial- oder Sachstandserhebungen unterschiedlicher Zielsetzungen, statistische­ Arbeiten etc. Gemeinsam ist diesen Fallgruppen, dass die parlamentarische Tätigkeit nicht oder doch wenigstens nicht primär der Auseinandersetzung mit der Regierung oder dem politischen Gegner dient, sondern der Volksvertretung die für ihre Tätigkeit erforderlichen Informationen verschaffen soll.54 Materiell wird das moderne Enquête- und Untersuchungsrecht des Art. 44 GG einmal durch den Themenkanon charakterisiert, den die Volksvertretung ihrem Interesse unterwerfen kann. Prima facie korrespondiert dieses formelle Recht – der 51

A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 2. Vgl. schon L. Bekermann, Kontrolle, 1910, S. 43 f.: „politische Enquête […] als Ausfluß und Mittel der Kontrollbefugnisse der Parlamentshäuser […], als das Verfahren, in dem eine Kammer durch das Medium eines von ihr eingesetzten Ausschusses die Handlungen der Re­ gierung einer eingehenden Prüfung und Beurteilung unterwirft“. 53 Zum Enquêtebegriff vgl. W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (270 f.); A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 1 und S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 31. 54 Differenzierung zwischen „Enquête“ und „Untersuchung“ auch bei N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 445 oder G. Kretschmer, DVBl 1986, 923 (924) sowie zu beiden Dimensionen ­J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 25 f. 52

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„Korollartheorie“ konform – den materiellen Parlamentsbefugnissen. Die Grundlage dieser Lehre formulierte Egon Zweig 1913 dahin, dass, eigentlich eine Trivialität, das „parlamentarische Enqueterecht […] die der Volksvertretung […] zukommende Befugnis [sei], Tatsachen und Vorgänge festzustellen und zu untersuchen, deren Kenntnis zur Ausübung der parlamentarischen Funktion erforderlich“ ist. So erscheint dieses Recht „als logisch oder juristisch notwendiges Korollar der der Volksvertretung zugewiesenen Tätigkeit, als sachliche Vorbereitung und Ergänzung jener Formalakte, in welchen ein Parlament seine verfassungsmäßige Zu­ ständigkeit verwirklicht“.55 Das zweite Charakteristikum des Art. 44 GG sind die Mittel, die dem Bundestag zur Verfügung stehen. Es handelt sich um umfangreiche Instrumente von der Vorlage von Regierungs- und Behördenakten über die Rechts- und Amtshilfe der Gerichte und Behörden bis hin zur Einvernahme von Zeugen und Sachverständigen oder dem Zugriff auf privates Material. Der herausgehobenen Stellung der Volksvertretung in der parlamentarischen Demokratie entsprechend kann der Bundestag Enquêten und Untersuchungen mit Pflicht und Zwang durchführen. – Eine derartige Befugnisfülle, wie sie das Grundgesetz den Untersuchungsausschüssen zuspricht, von den konstitutionellen Verfassungsurkunden zu erwarten, hieße, die Anforderungen zu überspannen. Unter den Auspizien des Konstitutionalismus, dem „monarchischen Prinzip“ einerseits und der prinzipiellen Limitierung der landständischen Kompetenzen auf eine bloße Mitwirkung an einzelnen Staatsfunktionen andererseits, waren selbständige parlamentarische Beweiserhebungen mit Pflicht und Zwang undenkbar.56 Für die Vorläufer des modernen Selbstinformationsrechts muss deswegen ein Wesenskern der so charakterisierten Befugnisse genügen. Dabei kommt zum Tragen, dass die Beweiserhebungsinstrumente und Zwangsbefugnisse des Art. 44 GG kein Selbstzweck sind, sondern letzten Endes die von Regierung und Verwaltung unabhängigen Informationsmöglichkeiten des Parlaments stärken sollen. Unter diesem Blickwinkel ist für einen Früh­typus notwendig und hinreichend, dass eine Ständeversammlung oder Volksvertretung selbständige Erhebungen anordnen und – als sicheres Abgrenzungskriterium gegenüber interpellationsartigen Befugnissen  – ohne Vermittlung staatlicher Stellen ins Werk setzen kann. Bloße Nachfragerechte gegenüber der Regierung, wie sie das Parlamentsrecht in Bund und Ländern bis heute kennt, reichen nicht aus. Die historischen Volksvertretungen hätten bei einer solchen Fremdinformation vollkommen vom Willen und dem Entgegenkommen der Regierungen abgehangen, die – ohne parlamentarische oder Sanktionen durch eine Verfassungsgerichts­ barkeit fürchten zu müssen – ebenso gut hätten schweigen können. Eine „echte“ Frühform eines Enquête- und Untersuchungsrechts ist  – so verschlankt – ein im Sinne der Korollartheorie sachlich-inhaltlich auf den parlamen 55

E. Zweig, ZfP 1913, 265 (265, 267). Ähnl. H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 455: „Das monarchische Prinzip war parlamentarischen Untersuchungen abhold.“

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1. Teil: Prolog

tarischen Kompetenzkreis radiziertes, unabhängig von der Regierung bestehendes Instrument. Phänotypisch geht es um ein Selbstinformationsrecht aus parlamentsfremden Quellen, das sowohl zur Vorbereitung parlamentarischer Entscheidungen als auch zur Regierungskontrolle instrumentalisiert werden kann. Neben der Tatsachenerhebung ist ihm eine (politische) Bewertung des Sachverhalts immanent.57 Von einem derartigen Recht lässt sich insbesondere dann nicht sprechen, wenn die Information der Volksvertretung letztendlich von einem „Entgegenkommen der Regierung und Behörden“ abhängt.58 Solche Fremdinformationsmechanismen ähneln – wie angedeutet – eher dem Interpellationsrecht, das – erst spät in Deutschland etabliert – zunächst nicht einmal Antwortpflichten kannte.59

D. Untersuchungsablauf Um die historischen Grundlagen des so charakterisierten Enquête- und Untersuchungsrechts zu entwickeln, gilt es im ersten Schritt, seiner einzelstaatlichen Evolution nachzuspüren. Als Vorarbeit ist ein Überblick über das allgemeine konstitutionelle Staatsrechtsmodell seit 1815 und seine bundesrechtlichen Grundlagen erforderlich. Auf dieser Grundlage reicht es nicht aus, die einzelstaatlichen Verfassungsurkunden nach Bestimmungen zu durchforsten, die dem Wortlaut nach ein Enquête- und Untersuchungsrecht enthalten könnten. Auf diese Weise liefe man Gefahr, aus heutiger Sicht missverständlichen Begriffsgleichheiten und Formulierungen aufzusitzen. Das zeitgenössische Schrifttum ist insoweit keine Hilfe, weil es diese Fragen in der Regel nicht behandelt. So bleibt als einzig gangbarer Weg, dem „blassen Buchstaben“ der Verfassungsurkunden mit Hilfe der landständischen Praxis Leben einzuhauchen. Ein solches Maß an Aufmerksamkeit verdienen aber nicht sämtliche Bundesstaaten. Stattdessen kommt es – wegen des ihnen üblicherweise zugeschriebenen Stellenwerts60 – in der ersten Phase vor 1848/49 nur Sachsen-Weimar-Eisenach und Kurhessen zu. Die Geschichte dieser Kleinstaaten birgt verschiedene „Überraschungen“, die bislang „gültige“ Bewertungen desavouiren. 57

S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 31 f. Ähnl. H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 460, der aus der Weimarer Perspektive die Möglichkeit für erforderlich hält, die Information „nötigenfalls zwangsweise durchzusetzen“. Ähnl. S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 32 f. 59 Zum Interpellationsrecht s. 2. Teil 1. Kap. C. II. 4. 60 Zur vermeintlichen Bedeutung der frühen, aus ungenannten Gründen aber politisch bzw. praktisch unbedeutenden Enquête- und Untersuchungsrechtsausprägungen s. zu Sachsen-Weimar-­ Eisenach StGH, AöR n. F. 4 (1922), 210 (213); E. Zweig, ZfP 1913, 265 (273); W. Rosenberg, 34.  DJT I, 1926, S.  3 (4 in Fn.  3); F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 12; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 455 in Fn. 7; H. H. Klein, in: Maunz/­Dürig, GG (2005), Art.  44 Rn.  9; L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 2 Rn.  13; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art.  44 Rn.  2; S.  Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 45; N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 151 und Fn. 136; K. Stern, StaatsR II, 1980, S. 59; H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 1; B. Peters, UntersuchungsausschussR, 58

1. Teil: Prolog

67

Die Märzrevolution ist eine wichtige Zäsur. Aufschluss über die Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung liefern wieder die Parlamentsmaterialien, teils ergänzt durch schriftliche Berichte von Zeitzeugen, weniger dagegen das zeit­ genössische oder moderne Schrifttum. Aus den halboffiziellen Wortprotokollen von Franz Wigard ergibt sich, dass dem Frankfurter Reichsgründungsversuch nicht „nur“ die erste gesamtstaatliche Kodifikation eines „echten“ Enquête- und Untersuchungsrechts zu danken ist. Auch die häufig etwas stiefmütterlich behandelte Praxis in der Paulskirche verdient einen genaueren Blick. Statt sich auf Sachstandsenquêten zu beschränken, führte das vermeintliche Professorenparlament dem Publikum in brisanten politischen Untersuchungen auch die andere Seite eines Selbstinformationsrechts vor. Unter diesem Blickwinkel unbekanntes Material liefern ebenfalls die Protokolle der preußischen Vereinbarungsversammlung. Im August 1848 fand von der Berliner Singakademie aus das wohl erste Beispiel einer (auch) analog strafprozessualen Regeln durchgeführten parlamentarischen Untersuchung statt. Abgerundet wird der Streifzug durch die Revolu­ tionszeit von einer kurzen Skizze einzelstaatlicher Entwicklungslinien bis zum Einsetzen der Reaktion. Als Einstimmung auf Nachmärz und Spätkonstitutionalismus geht es mit den Königreichen Bayern und Württemberg weiter, deren Volksvertretungen sich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten eingeschränkte Selbstinformationsrechte erkämpften. Die nächste große Station, deren Bedeutung keinesfalls unterschätzt werden darf, markiert das preußische Verfassungswerk von 1848/50. Das Staatsleben der Hohenzollernmonarchie liefert bedeutendes Anschauungsmaterial für die Praxis und den verfassungsrechtlichen Standort eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts im konstitutionellen Machtgefüge. Wieder sind Protokolle und Drucksachen Quellen erster Güte; das Schrifttum fällt dagegen ab. Aus den Jahren von 1849 bis 1873 ist so viel Neues über das vermeintlich harmlose Informa­ tionsrecht zu berichten, dass das bisherige Urteil über diese Zeit einer grundlegenden Revision bedarf. Mit Vorbehalten gilt dasselbe für die bundesstaatliche Phase von 1867 bis 1918. Obwohl das Enquête- und Untersuchungsrecht weder in die Verfassung des Norddeutschen Bundes noch des Kaiserreiches Eingang gefunden hat, sind diese knapp vier Jahrzehnte keineswegs verloren. Vielmehr liefern die norddeutschen Verfassungsdebatten ebenso wie verschiedene erfolglose Versuche, doch noch ein 2012, Rn.  21.  – Zu Kurhessen s. R. Bovensiepen, AöR 34 (1915), 95 (128); H.  Rechenberg, ebenda, oder zurückhaltender F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  15: „Wenn dieser § 93 auch nicht weit davon entfernt ist, allen Bedürfnissen eines Parlaments auf Anstellung eigener Untersuchungen gerecht zu werden, so bringt er doch, und das ist für unsere geschichtliche Betrachtung vorerst das Wichtigste, die Idee des parlamentarischen Enquête­rechts auf deutschem Boden neuerdings zum Ausdruck.“ Allg. ferner J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 8 f.; N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 151 mit Fn. 136; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 45: Kurhessen habe sich 1831 entschlossen, „den parlamentarischen Ausschüssen eine gewisse Untersuchungsbefugnis zuzubilligen“.

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1. Teil: Prolog

Selbstinformationsrecht in der Bismarck’schen Reichsverfassung zu verankern, interessante Aufschlüsse über das Bild, das die Zeitgenossen von solchen parlamentarischen Rechten hatten. Beachtung verdienen die Beteiligung von Abgeordneten an regierungsgeführten Enqueten und entsprechende Forderungen des Reichstags. Sie illustrieren den parlamentarischen Wunsch nach Mitherrschaft über die Aufklärung skandalöser Sachverhalte ebenso wie nach einem Instrument zur unmittelbaren Sachinformation – kurz gesagt also: nach einem Abglanz des Enquête- und Untersuchungsrechts. Zu guter Letzt bieten die unter Regierungsregie veranstalteten Enquêten reiches Anschauungsmaterial für die Stärken und Schwächen eines derartigen Informationswerkzeugs, sei es in gouvernementaler oder parlamentarischer Hand. Obwohl die Zwecke dieser Arbeit keinen erschöpfenden Überblick über die Praxis der Regierungsenquêten zwischen 1867 und 1918 verlangen, wird sich an einigen markanten Stationen zeigen, dass die Erfahrungen dieser Jahre zu dem ideellen Fundament, auf das Art. 34 RVerf 1919 nach dem Zusammenbruch gestellt wurde, beigetragen haben. Die Architekten des Weimarer Verfassungswerks agierten keineswegs blind für historische Erfahrungen; Art.  34 RVerf  1919 ist nicht bloß ein Schritt in die Moderne, sondern gleicher­ maßen ein Schritt aus der Vergangenheit. Nach der „Zeitenwende“ 1918/19 findet ein zweifacher Methodenwechsel statt: In der Weimarer Republik erlebte das parlamentarische Selbstinformationsrecht, das während des Konstitutionalismus immer umstritten geblieben ist, seinen endgültigen Durchbruch. Angesichts eindeutiger verfassungsrechtlicher Grundlagen bedarf es keiner detektivischen Arbeit in Protokollen und Drucksachen mehr, um seine Existenz oder Nichtexistenz zu belegen. Das Augenmerk muss sich vielmehr auf die staatsrechtliche Literatur der 1920er und beginnenden 1930er Jahre verschieben, die das parlamentarische Selbstinformationsrecht als ergiebiges Thema für sich „entdeckt“ und der Staatspraxis so für eine verfassungsgeschichtliche Untersuchung wenigstens teilweise den Rang abgelaufen hat. Der offenkundige Vorbildcharakter des Art. 34 RVerf 1919 für Art. 44 GG macht den ohnehin zum Scheitern verurteilten Versuch entbehrlich, die Entwicklung in allen deutschen Gliedstaaten nachzuzeichnen. Ein derartiger Ansatz müsste jeden Rahmen sprengen. Für die Zeit von 1919 bis 1932 treten deswegen die dogmatische Verarbeitung des Art. 34 RVerf 1919, die größeren verfassungspolitischen Entwicklungslinien und die Frage in den Vordergrund, wie Exekutive und Judikative auf die neuen Befugnisse der Volksvertretung reagiert haben. Auf die Vorgeschichte im letzten Kriegsjahr 1917, als sowohl Hugo Preuß als auch Max Weber Verfassungsreformpläne einschließlich eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts erarbeitet haben, folgt eine dogmatisch-theoretische Untersuchung, die das in Art.  34 RVerf 1919 erstmals auf gesamtstaatlicher Ebene anerkannte Recht in den Kontext der Weimarer Verfassungsordnung stellt und den „Schritt in die Moderne“ auf diese Weise in die weitere Entwicklungsgeschichte einordnet. Ist mit dem Ende der Weimarer Republik der Überblick über die verfassungsgeschichtliche „Evolution“ abgeschlossen, sind die Grundlagen für das Ziel dieser

1. Teil: Prolog

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Arbeit geschaffen, einen geschichtskundigeren Blick auf das moderne Enquêteund Untersuchungsrecht des Deutschen Bundestages und die großen Stationen seiner Entstehung und Weiterentwicklung zu werfen. Dabei gibt es manche Kontinuitätslinie bis tief in das 19. Jahrhundert hinein zu entdecken. Schlussfolgerungen und Anregungen, die auf eine Repolitisierung des mittlerweile allzu stark von der Rechtsprechung vereinnahmten, so über Gebühr verrechtlichten und zu guter Letzt den Minderheiten überantworteten Selbstinformationsrechts abzielen, runden die Untersuchung gemeinsam mit einem Plädoyer für die Wiederentdeckung der Enquêtefunktion ab.61

61 Zu der Kritik an der gegenwärtigen Entwicklung sowie Abhilfevorschlägen s. 8. Teil 5. und 6. Kap.

2. Teil

Frühkonstitutionalismus und Vormärz „Dieweil nun ohne erkündigung der geschicht nichts gewisses kan berathschlagt werden: So ist zum ersten nötig auff den handel mit fleisse zu mercken/das du den mit aller gelegeheit recht einnemest/gleich wie man/wan die Artzney/soll eigentlich gebrauchet werden/fürerst die gestalt der kranckheit wol wissen und erfahren muß.“ Johann Oldendorp (1486–1567)1

1. Kapitel

Grundzüge der landständischen Verfassung Die Entwicklung des deutschen Parlamentarismus kommt nach dem Wiener Kongress in Gang. Nach verbreiteter Auffassung nimmt die Geschichte des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts ebenfalls in diesen Tagen ihren Anfang.2 Tatsächlich wurden in den gut 30 Jahren zwischen Restauration und Revolution mit der Ausbildung eines neuständischen bzw. Repräsentativ­ systems wichtige Weichen für die Entstehung eines Enquête- und Untersuchungsrechts gestellt. Die Konstitutionalisierung Deutschlands vollzog sich aber nicht frei von äußeren Einflüssen, so dass es vor dem Blick auf die einzelstaatlichen Verfassungen gilt, den Rahmen auszuloten, innerhalb dessen sich das Staatsleben entfalten konnte.

A. Die Rheinbundverfassungen Als Auftakt einer neuen Ära bietet sich der Rheinbund an, zu dem sich im Juli 1806 zunächst 16 Reichsstände unter dem Protektorat Napoleons vereinigten und dem sich bis auf Preußen, Österreich, Dänisch-Holstein und Schwedisch-­ Pommern auch die übrigen Einzelstaaten anschließen sollten.3 Obgleich sich 1

J. Oldendorp, Rathschläge, 1597, S. 19. s. die Nachw. 1. Teil Fn.  60 sowie zu Sachsen-Weimar-Eisenach und Kurhessen unten 2. Teil 2. Kap. A. I. und II. 3 Ausführlich zum Rheinbund E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 68 ff. s. ferner H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 142 ff. 2

1. Kap.: Grundzüge der landständischen Verfassung

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der französische Potentat nach zeitgenössischem Urteil bald einem Staatsoberhaupt gleich gerierte,4 war der Rheinbund keineswegs ein Bundesstaat oder gar der Rechts­nachfolger des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation,5 sondern ein relativ loser Staatenbund.6 Anders als die „Modellstaaten“, französisch dirigierte, verfassungspolitische Epigonen wie das Königreich Westfalen, verfügte der Bund selbst nicht über repräsentative Organe. Der niemals versammelte Bundestag war kein Parlament, sondern ein Gesandtenkongress.7 Trotzdem nahmen verschiedene Bundesglieder mehr oder minder repräsentative Verfassungen an. Den Auftakt machte das bereits erwähnte Königreich Westphalen, ein aus französischer Kriegsbeute kompilierter Satellit der „Grande Nation“, der unter der Herrschaft von Napoleons jüngstem Bruder Jérôme als Vorbild für die Wohltaten moderner Verwaltung und Staatlichkeit fungieren sollte.8 Die von französischen Juristen entworfene Konstitution, mit königlichem Dekret vom 7.  Dezember 1807 in Kraft gesetzt, brach erstmals auf deutschem Boden mit altständischen Traditionen, indem sich die nicht direkt gewählten, kaum mit Befugnissen ausgestatteten „Stände des Reichs“ nicht länger aus Ritterschaft, Klerus und Städten, sondern aus den bürgerlichen Klassen der Grundeigentümer, Kaufleute und Fabrikanten, Gelehrten und Honoratioren rekrutierten.9

4

s. K. H. L. Pölitz, Staatswissenschaften IV, 1824, S. 324 oder E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 82 f. zum Interventionsrecht des Protektors. 5 Dazu O. Mejer, StaatsR2 1884, S. 135; H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 158 ff. 6 R. Maurenbrecher, StaatsR, 1837, S. 129; G. Reichlen, StaatsR II, 1863, S. 6; K. H. L. Pölitz, Staatswissenschaften IV, 1824, S. 324. s. ferner E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 79, der den Rheinbund S. 80 nur „nach seiner formellen Struktur“ als Staatenbund, „in Wahrheit [aber als…] Protektoratsgebiet mit nur scheinbar staatenbündischer Struktur“ charakterisiert. 7 Vgl. F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 168 f.; E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 80 sowie J. L. Klüber, StaatsR Rheinbund, 1808, S. 120 und passim zur „Collegialverfassung“ des Rheinbundes. 8 s. W. Siemann, Staatenbund, 1995, S.  24 ff. sowie H.  Boldt, VerfGesch II2 1993, S.  68, 60 ff. zu Modellstaaten und Reformen der Rheinbundstaaten. 9 „29ster Art. Die Stände des Reichs sollen aus hundert Mitgliedern bestehen, welche durch die Departements-Collegien ernannt worden, nämlich: siebenzig werden gewählt aus der Classe der Grundeigenthümer, funfzehn unter den Kaufleuten und Fabrikanten, und funfzehn unter den Gelehrten und andern Bürgern, welche sich um den Staat verdient gemacht haben. Die Mitglieder der Stände bekommen keinen Gehalt.“ (Gesetz-Bülletin Nro. I., S. 3). Die ständischen Deputierten wurden von Departements-Collegien gewählt, die der König ernannte. Für die Auswahl bestimmten Art. 40, 41, dass je 1.000 Einwohner eines Departements je ein Vertreter der Höchstbesteuerten, der reichsten Kaufleute und Fabrikanten, der „ausgezeichnetesten Gelehrten und Künstler[n], und unter den Bürgern, welche sich am meisten um den Staat verdient gemacht“ hatten, bestimmt werden sollte. s. dazu H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (21 ff.); E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 89; H. Boldt, VerfGesch II2 1993, S. 77 und H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 184 ff. Zur Bildung der neuen Landstände mussten die altständischen Einrichtungen in den annektierten Gebieten aufgelöst werden. Vgl. J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 403.

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

Obwohl andere Staaten diesem Beispiel folgten,10 sofern der Landesherr die „Werbewirksamkeit“ geschriebener Verfassungen erkannte (Michael Stolleis),11 kristallisierte sich bis zum Ende des Rheinbunds kein einheitlicher Standard heraus: Während die Fürsten teils Verfassungen gewährten, beseitigten andere – „falscher Begriffe von der neuerlangten Souveränetät“ wegen (Heinrich Albert Zachariä) – die fortexistierenden altständischen Einrichtungen. Wieder andere ließen die überkommenen Strukturen unangetastet.12 1808 klagte Johann Ludwig Klüber, dass, obgleich eine „Landschaft […] in verschiedenen teutschen Staaten“ bestehe, sie doch „nirgend das [sei], was das Parlament für England“ wäre.13 Über die bayerischen Stände urteilte der Heidelberger Gelehrte, sie seien bloß „verordnet, aber nachher nicht angeordnet“ worden.14 Die westfälischen Versammlungen von 1808 und 1810 verhöhnte er als „StaatsComödien, Reichstage genannt“.15 Gleichwohl antizipierten diese frühen Verfassungen mit dem Gedanken der Volksrepräsentation statt einer Landschaft älteren Typs einen zentralen Aspekt des kommenden Konstitutionalismus.16 Außerdem verdient die kurze Rheinbund­ epoche wegen der Abdikation Franz II. und dem Zerfall des Alten Reichs mehr Aufmerksamkeit als eine knappe Fußnote:17 Indem die Reichsstände mit dem Untergang des staatsrechtlichen Monstrums aus ihren Pflichten gegenüber Kaiser und Reich entlassen wurden, öffnete sich ihnen der Weg in die Souveränität.18 Die 10

Dazu H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 186 f. Vgl. M. Stolleis, in: Müßig (Hg.), Konstitutionalismus, 2006, S. 101 (105 f.). s. etwa die Konstitution für das Königreich Baiern von 1808. Zu ihrem Entstehen und Scheitern s. J. Leeb, Wahlrecht I, 1996, S. 29 ff. 12 Dazu H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 154 f., 161 f. und S. 552 ff. (Zitat); J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 401 ff.; A. Brunnquell, StaatsR I, 1824, S. 217 f. sowie W. Mager, HZ 217 (1973), 296 (339 f.) und zur Verfassungsentwicklung der Rheinbundstaaten E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 87 ff.; F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 192 ff. und D. Willoweit, VerfGesch7 2013, § 29 Rn. 1 f. 13 J. L. Klüber, StaatsR Rheinbund, 1808, S. 222 charakterisierte diese Landstände als physische oder moralische Personen, „die als Grundeigenthümer in solchem Verhältniß zu ihrem Staatsoberherrn [standen…], daß dieser, in bestimmten Staatsangelegenheiten, zu Einholung ihres Rathes, oder ihrer Einwilligung verpflichtet“ war. s. auch A. W. Rehberg, Staatsverwaltung, 1807, der S.  8 f. die „Disharmonie ihrer Bestandtheile“ beklagt und dass in „keinem deutschen Lande […] eine solche Verbindung aller Stände zu einem wohlgeordneten Ganzen [existierte], an welchem alle mit gleicher Liebe hängen könnten, als in England“. 14 J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 403. Vgl. J. Schmelzing, BayStaatsR I, 1820, S. 3 und J. v. Pözl, BayVerfR3 1860, S. 24, 456. 15 J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 403. s. zu den beschnittenen Befugnissen der westphälischen Reichsstände H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (23 f.). 16 Dazu W. Siemann, Staatenbund, 1995, S. 26 f. mit weiteren Details zu den Verfassungen. 17 Abdruck der Erklärung der Rheinbundfürsten sowie der Abdikationsurkunde bei M. Kotulla, DtVerfR I, 2006, S. 492 f., 490 ff. Zweifel an der Wirksamkeit der Abdikation bei E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 71 ff. oder H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 145. 18 s. etwa J. L. Klüber, StaatsR Rheinbund, 1808, S. 95 f. und 107 bzw. ders., ÖffR4 1840, S. 55; H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 152: „In Betreff des Einflusses dieses Ereignisses auf das politische Verhältniß der bisherigen Reichsstände und reichsunmittelbaren Landesherrn, steht fest, daß sie, entbunden von ihrer Abhängigkeit zu Kaiser und Reich, sämmtlich 11

1. Kap.: Grundzüge der landständischen Verfassung

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so angestoßene Staatswerdung der vormaligen Territorien mündete in eine verfassungsstaatliche Entwicklung.19 Dieser Prozess wurde noch dadurch begünstigt, dass einzelstaatliche Reformen fortan nicht mehr durch Reichsinstanzen behindert werden konnten.20

B. Vorgaben des Deutschen Bundesrechts Knapp zwei Jahre nach dem Koalitionssieg über den französischen Kaiser ging aus zähen Kongressverhandlungen der Deutsche Bund als neuer Garant der inneren und äußeren Sicherheit hervor. Die auf den staatsrechtlichen Trümmern der Napoleonischen Kriege in Wien errichtete „neue Ordnung der Dinge“ stand „in gar keiner rechtlichen Verbindung […], weder als Fortsetzer […] noch als Nachfolger“, mit dem Alten Reich oder dem Rheinbund (Romeo Maurenbrecher).21 Ebenso wenig handelte es sich um den von weiten Kreisen herbeigesehnten Nationalstaat.22 Vielmehr waren die „gerechten Ansprüche der deutschen Nation auf Vereinigung in einen festen Staatskörper“ mit den Worten Heinrich Albert Zachariäs einem „verknöcherten Particularismus“ und der „Souveränetäts-­Manie der Regierungen der großen und mittleren Staaten“ zum Opfer gefallen.23 Die Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815, ein kurz vor der Schicksalsschlacht bei Waterloo eiligst zusammengeschusterter Rumpfvertrag von gerade einmal 20 Artikeln, war von einer würdigen Verfassung Deutschlands weit entfernt, StückSouveraine wurden“; L. v. Stein, Verwaltungslehre I/22 1869, S. 207; O. Mejer, StaatsR2 1884, S.  131 ff. bzw. S.  134 ff. zu der „Wirkung des Reichsunterganges“ sowie ferner L. F. Ilse, GeschBV II, 1861, S.  191 f. mit einer fürstlichen Äußerung in der Lippeschen Verfassungsangelegenheit. Krit. dagegen C. Fricker, ZGStW 1862, 139 ff., der zu Recht den Austritt der Rheinbundfürsten als nach altem Recht verfassungswidrig und die Abdikation als Thronerledi­ gung qualifiziert. 19 Vgl. E.-W. Böckenförde, in: ders. (Hg.), VerfGesch2 1981, S.  13 f. zur Bedeutung der Rheinbundepoche. 20 In früherer Zeit hatten die Reichsgerichte manchem Reformversuch auf Betreiben der Stände einen Riegel vorgeschoben. s. dazu H. Boldt, VerfGesch II2 1993, S. 57. 21 R. Maurenbrecher, StaatsR, 1837, S.  156 f. Ebenso K. H. L. Pölitz, Staatswissenschaften IV, 1824, S. 325 im Hinblick auf das Römische Reich Deutscher Nation. s. andererseits O. Mejer, StaatsR2 1884, S. 131, demzufolge „in die Deutsche Bundesacte nicht Weniges aus der Rheinbundsacte übertragen [wurde]; sodaß sie ohne Zurückgehen auf dieselbe nicht zu verstehen“ sei, sowie S. 154 ff. zur Rechtsnatur des Bundes. Vgl. auch H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 175 ff.; J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 52 ff.; S. Jordan, StaatsR I, 1831, S. 271 ff. 22 Teils wurde eine Wiederherstellung des Kaisertums befürwortet, teils eine Aufteilung Deutschlands in verschiedene Gebilde, teils die Bildung eines Staatenbundes mit starker Zentralgewalt. Dazu etwa F. W. Ghillany, DiplHdb II, 1855, S. 48 ff. oder zu zeitgenössischen Einigungshoffnungen K. A. Varnhagen v. Ense, Denkwürdigkeiten VII, 1846, S. 288 ff. 23 H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 169 und 180. Demgegenüber hielt C. Fricker, ZGStW 1862, 139 (146 ff.) den Deutschen Bund „für einen […] Staatenstaat, d. h. aus Einzelstaaten zusammengesetzten Staat“. Maßgebliches Gewicht legte der Tübinger Staatsrechtler „der in den Grundvertrag ausdrücklich aufgenommenen Unauflöslichkeit“ bei.

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

werk, das erst durch die Wiener Schlussakte vom 15. Mai 182024 und verschiedene „orga­nische Bundesgesetze“ komplettiert werden musste.25 Die neue Föderation verfügte sowenig wie der Rheinbund über repräsentative Organe; die Frankfurter Bundesversammlung war ein Gesandtenkongress der Fürsten und freien Städte.26 Die durch den Freiherrn vom und zum Stein im März 1814 erhobene Forderung, dem Bundestag „Abgeordnete der Landstände bei[zu]fügen […], um eine gleichmäßigere Repräsentation zu erhalten“, verhallte ebenso ungehört wie Ernst Moritz Arndts Wunsch nach einer Vertretung der deutschen Nation.27

I. Das Gebot einer „landständischen Verfassung“ Blieb der Deutsche Bund repräsentativen Prinzipien gegenüber auch abstinent, formulierte er doch, möglicherweise als Gegengewicht zu der teils despotischen Entwicklung in den Rheinbundstaaten, entsprechende verfassungspolitische Forderungen für seine Glieder. So wurde das nebulöse Versprechen des Art.  13 DBA 1815, dass in „allen Bundesstaaten […] eine landständische Verfassung stattfinden“ werde, zum Auslöser und Fundament der weiteren Entwicklung.28 Was unter einer solchen Staatsordnung zu verstehen war oder wie weit der Fürst bei der Anerkennung landständischer Rechte gehen durfte – beides Fragen von zentraler Bedeutung für die Zulässigkeit eines Enquête- und Untersuchungsrechts –, blieb unbeantwortet. Die Entstehung des knappen Vertragstextes legt es immerhin nahe, dass eine moderne, konstitutionell-repräsentative Entwicklung keineswegs von Anfang an ausgeschlossen werden sollte.

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ProtBV IX (1820), S. 17 mit Beschluss der Bundesversammlung. Abdruck der Schlussakte auch bei F. W. Ghillany, DiplHdb II, 1855, S. 64 ff.; H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 911 ff.; H. Boldt (Hg.), Reich, 1987, S. 210; M. Kotulla, DtVerfR I, 2006, S. 689. 25 s. dazu H. Boldt, VerfGesch II2 1993, S. 130 ff. oder H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 229 ff. 26 Mit den Worten R. Maurenbrechers, StaatsR, 1837, S. 160 waren die instruierten Teilnehmer „von ihren Committenten unbedingt abhängig und diesen […] wegen getreuer Befolgung der ihnen erteilten Instructionen, so wie wegen ihrer Geschäftsführung überhaupt verantwortlich“. s. ferner H. Boldt, VerfGesch II2 1993, S. 133: „Gesandtenkongreß, ähnlich dem Regensburger Reichstag“; O. Mejer, StaatsR2 1884, S. 170: „Die Gesandten votirten als bloße B ­ oten ihrer Regierungen, nach Instructionen, zu deren Einholung ihnen die nöthige Zeit gegeben wurde.“ 27 Zu Stein s. den Abdruck bei K. Müller, Quellen, 1986, S. 303. Weiter heißt es: „Diese Abgeordneten würden keinen diplomatischen Charakter haben, keine Bevollmächtigte sein und alle fünf Jahre erneuert werden, in jedem Jahre zu einem Fünftel.“ s. auch (nicht wörtlich) bei G. H. Pertz, Denkschriften, 1848, S. 16 sowie S. 14 ff. zur Entstehung dieser Denkschrift und ferner F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 180 zu E. M. Arndt oder K. A. Varnhagen v. Ense, Denkwürdigkeiten VII, 1846, S. 288 ff. zu entsprechenden Forderungen in einem weite Kreise ziehenden Zeitungsaufsatz vom April 1816. 28 Die freien Städte traf diese Verpflichtung, soweit ihre besonderen Verhältnisse es zuließen, ebenso wie die monarchisch regierten Gliedstaaten. Dazu J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 330 u­ nter Hinweis auf Art. 62 WSA 1820.

1. Kap.: Grundzüge der landständischen Verfassung

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1. Erste Forderungen und Entwürfe Zu Beginn der Wiener Verhandlungen wurden selbst von österreichischer und preußischer Seite Forderungen nach substantieller landständischer Herrschaftsteilhabe laut. Etwa propagierte ein auf den Dezember 1814 datierter österreichischer „Entwurf einer Grundlage der teutschen Bundes-Verfassung“, der allerdings kaum als offiziell bezeichnet werden kann,29 Landstände einzuführen, „welchen in Hinsicht der Steuern und der allgemeinen Landes-Anstalten besondere Rechte eingeräumt“ werden sollten. Freilich sollte die „der Landesart, dem Charakter der Einwohner und dem Herkommen gemäße Einrichtung“ den Einzelstaaten überlassen bleiben.30 Im Februar 1815 bewerteten die preußischen Bevollmächtigten „landständische, durch den Bundesvertrag gesicherte Verfassungen“ als essentiell für die Neuordnung.31 Die „41 Artikel“ Carl August Fürst v. Hardenbergs vom Juli 1814 sahen vor, dass in „jedem zum Bunde gehörenden Staat […] eine ständische Verfassung eingeführt oder aufrechterhalten werden“ müsse. Zu den Befugnissen der Landstände sollte „vorzüglich […] ein näher zu bestimmender Anteil an der Gesetzgebung, Verwilligung der Landesabgaben, Vertretung der Verfassung bei dem Landesherrn und bei dem Bunde“ gehören. Stein, dem Hardenberg diesen Entwurf zur Stellungnahme übermittelte,32 ergänzte den beachtlichen Katalog noch dahin, dass wichtige, „das Eigentum, die persönliche Freiheit und die

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s. K. Müller, Quellen, 1986, S. 391 in Fn. 1. Die maßgebliche Nr. 13 lautete: „In allen teutschen Staaten werden Landstände binnen Jahr und Tag eingeführt, welchen in Hinsicht der Steuern und der allgemeinen Landes-Anstalten besondere Rechte eingeräumt werden. Jedoch bleibt jedem einzelnen Staat überlassen, den Ständen eine der Landesart, dem Charakter der Einwohner und dem Herkommen gemäße Einrichtung zu geben.“ Zitiert nach J. L. Klüber, Acten II2 1817, S. 3 f. s. zu J. v. Wessenbergs Urheberschaft O. Mejer, StaatsR2 1884, S. 146; W. Mager, HZ 217 (1973), 296 (341). Abdruck auch bei K. Müller, Quellen, 1986, S. 391. 31 „Es giebt bei der teutschen Verfassung nur drei Punkte, von denen man, nach der innersten Ueberzeugung der Unterzeichneten, nicht abgehen kann, ohne der Erreichung des gemeinschaftlichen Endzwecks den wesentlichsten Nachteil zuzufügen: eine kraftvolle Kriegsgewalt, ein Bundesgericht, und landständische, durch den Bundesvertrag gesicherte Verfassungen.“ Zitiert nach J. L. Klüber, Acten II2 1817, S. 16. Zur preußischen Rolle s. H. Schulze, PrStaatsR I2 1888, S. 97 f. Auch die badische Kongressgesandtschaft qualifizierte ständische Verfassungen „als dem Geist des Zeitalters“ angemessen. s.  die Note der großherzoglich-badischen Bevollmächtigten an den k.  k. östreichischen Staats- und Conferenzminister etc., Herrn Fürsten von Metternich, und eben so an den königl. Preussischen Staatskanzler, Herrn Fürsten von Hardenberg wegen Einführung einer landständischen Verfassung, datirt Wien den 1.  Dec. 1814 (J. L. Klüber, Acten II1 1815, S.  100 f.). An zeitgenössischen Stimmen s. nur L. ­Wieland, AllgStaatsVerfArch I (1816), 385 f.: „Wenn aber, was kein Verständiger läugnen kann, die kleineren sowohl, als die größeren Teutschen Staaten, nur durch einen eng und fest unter einander geschlossenen Bund, ihre Unabhängigkeit gegen die furchtbare Uebermacht der von allen Seiten uns umgebenden Staaten schirmen und sichern können, so ist nothwendig: […] in jedem Teutschen Staate eine dem Wesen nach übereinstimmende Ständische Verfassung ­einzuführen“. 32 W. Mager, HZ 217 (1973), 296 (301 f.). 30

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

­ erfassung betreffende neue Landesgesetze […] ohne den Rat und die ZustimV mung der Landstände nicht eingeführt werden“ sollten.33 Die Absichten hinter diesen Forderungen, deren Erfüllung einem Bedürfnis nach eigenen landständischen Informationsrechten zweifellos Vorschub geleistet hätten, hat der Historiker Wolfgang Mager kritisch hinterfragt; zu seiner Überzeugung setzten sich die Vertreter Preußens und Österreichs keineswegs aus Überzeugung für die Repräsentativverfassung ein, sondern versuchten aus machtpolitischem Kalkül, die mediatisierten Reichsstände auf Kosten der vormaligen Rheinbundfürsten zu stärken.34 Solcher Zweifel ungeachtet stützt jedenfalls der Wortlaut des Hardenberg’schen Entwurfs keine Deutung im altständischen Sinn: Johann Ludwig Klüber, nach Heinrich Albert Zachariä „‚der publicistische Taufzeuge‘ des gegenwärtigen öffentlichen Rechtszustandes“,35 hat die „41  Punkte“ teils sinnentstellend überliefert: Die künftigen Landschaften sollten nicht „aus den Familienhäuptern der mediatisierten vormaligen Reichsstände [und…] des sonst unmittelbaren und übrigen Adels, als erblichen und auserwählten Ständen“, sondern  – neben den zuerst Genannten  – „aus erwählten Ständen“ bestehen.36 Solche Elektierte können aber bloß ein repräsentatives Moment bedeuten.37 Ob die ausschlaggebenden Forderungen den genannten machtpolitischen Erwägungen oder einem Versuch geschuldet waren, nach den Befreiungskriegen und im Sinne Stein-Hardenberg’scher Reformideen breitere Kreise an den Staat zu binden, spielt für die Interpretation des Art. 13 DBA 1815 letztendlich keine Rolle.

33 Abdruck der „41 Punkte“ zitiert nach K. Müller, Quellen, 1986, S. 318. Der ungenaueren Fassung Klübers liegt ein anderes Exemplar zu Grunde. s.  dazu K. Müller, S.  314 in Fn.  1. Ganz in diesem Sinne hatte Karl Freiherr vom und zum Stein bereits in einer Denkschrift aus dem März 1814 gefordert, dass in „jedem Staate des Bundes […] Landstände gebildet [würden…], die sich jährlich versammel[te]n, um über die Landesgesetze und über die für die Verwaltung notwendigen Steuern zu stimmen.“ s. auch S. 303 (normalisiert) sowie ferner die nicht wörtliche Wiedergabe bei G. H. Pertz, Denkschriften, 1848, S. 16. 34 W. Mager, HZ 217 (1973), 296 ff., 318 ff., 334 ff. 35 s. M. Stolleis, GeschÖR II, 1992, S. 83 und H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 23 sowie Karl Eduard Morstadts Nekrolog zu J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. VII und passim zum „Abschluß eines 32jährigen energischen Freundschaftsbundes zwischen beiden“ im Jahre 1790 sowie S. XI zum Kongressbesuch. 36 Einerseits J. L. Klüber, Acten I/11 1815, S. 47 sowie andererseits K. Müller, Quellen, 1986, S. 318 rechte Spalte (Hervorhebungen nur hier). 37 Zu dieser Interpretation M. Kotulla, DtVerfR I, 2006, S. 35 f.

1. Kap.: Grundzüge der landständischen Verfassung

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2. Vorberatungen im Fünfer-Komitee, Kleinstaatennote und Kongressverhandlungen Noch vor der offiziellen Eröffnung des Kongresses traten im Oktober 1814 Österreich, Preußen und Hannover mit Bayern und Württemberg zu Geheimverhandlungen über die „Grundsätze der künftigen Verfassung“ zusammen.38 Als Grundlage dienten diesem „Comité für die teutschen Angelegenheiten“ die zwischen Österreich und Preußen verabredeten „12-Deliberations-Puncte“. Dieses Dokument, das aus Hardenbergs Entwurf hervorgegangen war, bestätigte mit den Worten, dass sämtliche Bundesglieder  – vorbehaltlich des Bundeszwecks  – den „vollen und freien Genuß ihrer Regierungsrechte“ behalten sollten, einerseits die Souveränität der künftigen Bundesstaaten, sprach sich aber andererseits für die „Nothwendigkeit einer (land)ständischen Verfassung“ aus. Außerdem sollte ein Minimum landständischer Befugnisse bundesvertraglich fixiert werden, darüber hinaus aber den Einzelstaaten überlassen bleiben, „ihren (Land)Ständen nicht nur ein Mehreres einzuräumen, sondern auch ihnen eine der Landesart, dem Charakter der Einwohner und dem Herkommen angemessene Einrichtung zu geben“. Schon dieser Verfassungsforderung gegenüber kündigten Österreich und Preußen „in Hinsicht ihres größern Umfangs und ihrer Zusammensetzung aus Ländern, die nicht zum Bunde gehör[t]en“, Vorbehalte an.39 Obwohl sich bei der Vorstellung dieses Programms im Fünferkomitee zunächst kein allgemeiner Widerstand regte,40 monierte es der bayerische Bevollmächtigte Karl Philipp Fürst v. Wrede in der folgenden Sitzung als „nicht zweckmäßig, über das Maximum oder Minimum der einem oder dem andern Stande zu ertheilenden Rechte, den künftigen Bundesrath aussprechen zu lassen“. Im Übrigen beabsichtige sein Herr, dem bayerischen Staat eine den „äussern und innern Verhältnissen angemessene und geeignete Verfassung zu geben“.41 Die württembergische Gesandtschaft gab zu bedenken, dass zwar die organisatorischen Pläne „unverkennbar nothwendig“, dagegen die „dem Hauptzweck fremden §§. [scil. über die landständische Verfassung (!)] die Frage zu erregen im Falle [seien, …] worauf dieselben abzweck[t]en? und ob dadurch nicht die Souveränetät mehr beschränkt

38 J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 72 f., 79, 84. Zur Rechtfertigung dienten die Akzessionsverträge, in denen sich die Staaten verpflichtet hatten, im Interesse des Ganzen Einschränkungen ihrer Souveränität hinzunehmen. Allg. H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 166 f. 39 s. dazu J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 79 f. sowie den Abdruck Acten I/11 1815, S. 57 ff. bzw. den gegenüber Klübers Fassung korrigierten Text der Zwölf Artikel bei K. Müller, Quellen, 1986, S. 353 ff. (Hervorhebung nur hier). Zur politischen Stoßrichtung der 12 Punkte vgl. W. Mager, HZ 217 (1973), 296 (304 ff.) und zu ihrer Entstehung O. Mejer, StaatsR2 1884, S. 144 f. und Fn. 13; W. Mager, S. 301 ff. und ferner K. Müller, Quellen, 1986, S. 350 in Fn. 1. 40 Vgl. J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 79 ff. 41 Erklärung des königlich-baierischen Herrn Bevollmächtigten über die zwölf Delibera­ tions-Puncte, abgedruckt bei J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 94.

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

werde, als der Hauptzweck“ dies erfordere.42 Jedenfalls könne die „Bestimmung eines Minimums, als die Rechte eines jeden Landesherrn kränkend, unmöglich zugelassen werden“.43 Beraten wurden diese föderalen Einwände nicht.44 In der achten Sitzung präsentierte Georg Ernst Levin Graf v. Wintzingerode „Königlich-­ wirtembergische Vorschläge“, die den Bundesgliedern lediglich abverlangten, „ihren […] Staaten eine ständische Verfassung zu geben, welche der Landesart, der Localität und den Bedürfnissen derselben angemessen“ wäre.45 Mit den Worten Heinrich Albert Zachariäs begegneten die süddeutschen Komiteemitglieder also „von vornherein jeder über ein Schutz- und Trutzbündniß nach Außen hinausgehenden Verbindung der deutschen Staaten“ mit Misstrauen.46 Tatsächlich erschöpfte sich der endgültige Art. 13 DBA 1815 in einer sowohl den bayerischen Vorbehalten als auch den württembergischen Anregungen Rechnung tragenden kupierten Fassung. Mitte November 1814 verwahrten sich die durch das Fünferkomitee übergan­ genen Fürsten und freien Städte gegen die Geheimverhandlungen, signalisierten jedoch gleichzeitig ihre Bereitschaft, an Erörterungen „auf der Basis gleicher Rechte und einer vollständigen Repräsentation aller Bundesglieder beruhende[r] Vorschläge über die künftige Verfassung“ teilzunehmen. Überdies erklärten sie sich dazu bereit, „zum Besten des Ganzen, denjenigen Einschränkungen Ihrer Souverainetät sowohl im Innern  […], als im Verhältniß gegen Auswärtige, beizupflichten, welche als allgemeinverbindlich für alle […] beschlossen“ würden. Die Tür zu weitergehenden landständischen Garantien schien sich so wieder einen Spalt weit zu öffnen. Tatsächlich willigten die Signatare dieser „Kleinstaatennote“ ein, den Landständen „das Recht der Verwilligung und Regulirung sämmtlicher zur Staatsverwaltung nothwendiger Abgaben; […] der Einwilligung bei neu zu erlassenden allgemeinen Landesgesetzen; […] der Mitaufsicht über die Verwendung der Steuern zu allgemeinen Staatszwecken“ sowie „das Recht der Beschwerdeführung, insbesondere in Fällen der Malversation der Staatsdie 42 s. die Königlich-wirtembergische Erklärung über die zwölf Deliberations-Puncte, als Grundlage der teutschen Bundesverfassung, abgedruckt bei J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 95 f. und S. 88 zur Verlesung derselben. 43 J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 102. 44 Vgl. J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 84 ff. zur Übergabe der bayerischen und württem­ bergischen Erklärungen und der anschließenden Diskussion. Der Ausschuss kam überein, über Erklärungen erst zu beratschlagen, wenn sie allen Mitgliedern schriftlich vorlägen, und vertagte die angesprochenen Punkte deswegen. Gleichwohl wurden das bayerische Bündnisrecht diskutiert und die württembergische Auffassung, dass die Rechte der Untertanen nicht bundesrechtlich fixiert werden sollten, von Metternich kurz angesprochen. 45 s. die Anl. A1. Königlich-wirtembergische Vorschläge zur Redaction der zwölf Delibera­ tions-Puncte, die teutsche Bundesverfassung betreffend, bei J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 148, 156 sowie S. 146 f. zur Übergabe derselben. Zu diesem Entwurf auch die Anl. C. Vorschlag der königlich-wirtembergischen Herrn Bevollmächtigten, zu der Redaction der Gegenstände der zwölf Deliberations-Puncte, bei J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 165 f., die aber keine weiteren Aufschlüsse gibt. 46 Vgl. H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 166 f. und Fn. 4 sowie S. 555 f.

1. Kap.: Grundzüge der landständischen Verfassung

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ner, und bei sich ergebenden Misbräuchen jeder Art“ einzuräumen. Eine „angemessene Einrichtung der ständischen Verfassung, nach dem Charakter der Einwohner[,  …] den Localitäten und dem Herkommen“ sollte den Einzelstaaten überlassen bleiben.47 Ungeachtet dieser Ablehnung einer absoluten verfassungspolitischen Unitarisierung herrschte im dritten Deutschland weitgehende Einigkeit, landständische Verfassungen mit erheblichen Mindestkompetenzen der Kammern zu garantieren.48 Nach diesem Vorspiel verzögerte sich die Eröffnung des Kongresses durch die unerwartete Rückkehr Napoleons bis zum 23. Mai 1815.49 Art. 10 eines danach eilig beratenen Entwurfs deklamierte – dem endgültigen Art. 13 DBA 1815 schon ganz ähnlich  –, dass in „allen teutschen Staaten […] eine landständische Verfassung bestehen“ solle.50 Obwohl von Mindestgarantien keine Rede mehr war, wurde dieser blasse Minimalkonsens von der Mehrheit der Kongressparteien mitgetragen. Ungeachtet des niederländisch-luxemburgischen Einwands, der Entwurf sei „nackt und unbefriedigend“,51 wurde beschlossen, in „Anbetracht der Schwierigkeit, schon jetzt in das Detail der von den Localitäten zum Theil abhan 47 s. die Note der bevollmächtigten Abgeordneten neun und zwanzig teutscher souverainer Fürsten und Städte, an den kaiserlich-östreichischen Staats- und Conferenz-Minister etc., Herrn Fürsten von Metternich, und an den königlich-preussischen Staatskanzler, Herrn Fürsten von Hardenberg, datirt Wien den 16. Nov. 1814. bei J. L. Klüber, Acten I/11 1815, S. 72 ff. sowie S. 74: „Dagegen werden sie es mit Dank erkennen, wenn Ihre Majestäten der Kaiser von Oesterreich und der König von Preussen ihnen, auf der Basis gleicher Rechte und einer vollständigen Repräsentation aller Bundesglieder beruhende Vorschläge über die künftige Verfassung, und die zur Sicherung der Freiheit und Unabhängigkeit Teutschlands und der Teutschen nothwendig scheinenden Maasregeln, zur freien Be­ra­thung und Beschlußnahme mittheilen wollen, und werden ihre Bereitwilligkeit beweisen, zum Besten des Ganzen, denjenigen Einschränkungen ihrer Souverainetät sowohl im Innern ihrer Staaten, als im Verhältniß gegen Auswärtige, beizupflichten, welche als allgemeinverbindlich für alle werden beschlossen werden.“ s. dazu auch H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 167 ff. sowie 556 f. und ferner das Zitat aus dem Rheinischen Merkur vom 9. Februar 1815 bei J. L. Klüber, Acten II/11 1815, S. 71 in der Anm. – Sachlich stützten sich die Forderungen der Neunundzwanzig einerseits auf Art. 6 des Pariser Friedens von 1814, der lediglich ein föderatives Band verbundener deutscher Staaten vorsah, und andererseits auf die alliierten Souveränitätsgarantien für Fürsten und Städte. Außerdem waren die Unterzeichner der Überzeugung, ihr natürliches Recht, an sämtlichen Verhandlungen über die künftige Verfassung gleichberechtigt teilzuhaben, nicht durch die Allianzverträge verloren zu haben, obgleich diese häufig Zusagen enthielten, beschränkenden Maßregeln zum gesamtdeutschen Wohle zuzustimmen. Auf die Versprechungen dieser Note beriefen sich etwa die Kurhessischen Stände in ihrem Streit mit dem Kurfürsten. s. dazu G. H. Pertz, Stein V, 1854, S. 5 f. 48 J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 442. 49 Vgl. Metternichs Hinweis in der ersten Sitzung am 23. Mai 1815, J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 340 sowie S. 324 ff. die Übersicht über die 11 Sitzungen zwischen dem 23. Mai und 10. Juni 1815. Zum Verhandlungsgang vgl. H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 171 ff. 50 Abdruck bei J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 314 ff. s. auch S. 318: „Art. 10. Landständische Verfassungen. In allen teutschen Staaten soll eine landständische Verfassung bestehen“ (Hervorhebung nur hier). Zur Entstehung dieses Entwurfes O. Mejer, StaatsR2 1884, S. 146 f. 51 s. bei J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 432.

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

genden Bestimmungen der einzelnen Vorrechte der Stände hineinzugehen, […] vorerst, und bis man sich über eine zweckmäßigere Redaction vergleichen könne, den Artikel […] ganz kurz und nur mit diesen Worten zu fassen: ‚In allen teutschen Staaten wird eine landständische Verfassung statt finden.‘“52 Später wurde die lästige Angelegenheit auf die letzten Sitzungen vertagt.53 Trotz wiederholter Mahnungen, dass die landständische Garantie eine „weitere und befriedigendere Ausdehnung“ erfahren müsse, weil „dieser Gegenstand sowohl für jeden teutschen Staat […], als für alle teutsche Staaten insgemein, von einer hohen Wichtigkeit“ sein werde,54 blieb es letztendlich – „so unvollkommen sie auch sey“ – bei dieser wenig aussagekräftigen Formulierung.55 3. Landständische Verfassungsforderung ohne Kontur An der enttäuschenden Fassung des Art. 13 DBA 1815, dass in „allen Bundesstaaten […] eine landständische Verfassung Statt finden“ werde, zerschellten alle Hoffnungen auf ein Versprechen substantieller konstitutioneller Rechte. Letztendlich hatte sich die jegliche Einmischung in Inneres ablehnende Staatengruppe durchgesetzt. Groß muss die öffentliche Enttäuschung über diese „Garantie“ gewesen sein, die deutlich hinter den Sicherheiten zugunsten der Mediatisierten in Art.  14 DBA  1815 zurückblieb.  – Sieht man bloß auf die Schwächen des Normtextes, gerät leicht aus dem Blick, dass das Bundesrecht vorerst immerhin keine reaktionär-altständischen oder antirepräsentativen Vorgaben machte.56 Innerhalb des laxen Rahmens von Art. 13 DBA 1815 entstanden in der ersten Folgezeit vor allem in Süddeutschland – durch den blutarmen Artikel angestoßen – relativ moderne konstitutionelle Systeme mit Volksrepräsentation und Grund 52

J. L. Klüber, Acten II1 1815, S.  424 (Hervorhebung nur hier). s.  zum Beitritt Bayerns, Sachsens und Hessen-Darmstadts zu dieser Fassung S.  343, 358 f., 378. H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 558 spekuliert, dass „[s]ogar jenes ‚soll‘ des Entwurfes[, …] Anstoß [erregte] und […] in dem Königl. Baier. Votum in das zweideutigere ‚wird‘ umgewandelt“ worden ist (Hervorhebung im Original). 53 J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 433. 54 Abdruck der Erklärung der mecklenburgischen Gesandtschaft bei J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 529 f. Weiter hieß es, dass von Bundesrechts wegen entweder ein Mindestmaß ständischer Befugnisse garantiert oder ausdrücklich festgeschrieben werden müsse, „daß mindestens [die…] Erhaltung der althergebrachten landständischen Gerechtsame in den teutschen Staaten, wo solche annoch [bestünden…], und [die…] Einführung ähnlicher, auf die ursprüngliche Einrichtung der Landstände begründeter Verfassungen, innerhalb Jahresfrist, da wo zur Zeit keine landständischen Verfassungen vorhanden“ seien, zu bewirken sei. s.  zu entsprechenden Vorstößen Kurhessens und Sachsen-Weimars S.  516. Zum Ganzen ferner L. F. Ilse, GeschBV I, 1861, S. 85 f. 55 J. L. Klüber, Acten II1 1815, S. 533 f. Den Ausschlag dürfte Österreich gegeben haben, das bei Preußen und Hannover Unterstützung fand, so dass jeder Vorstoß der Klein- und Mittel­ staaten letztlich erfolglos bleiben musste. Vgl. L. F. Ilse, GeschBV I, 1861, S. 86. 56 Vgl. H.  Zoepfl, StaatsR II5 1863, S.  246 f. sowie E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 640 f.

1. Kap.: Grundzüge der landständischen Verfassung

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rechtskatalogen. Die Wirklichkeit hinkte oft genug dem idealen Buchstaben der Verfassungsurkunden hinterher. Andernorts wurde Art.  13 DBA  1815 eher altlandständisch interpretiert, man reanimierte überkommene Landschaften oder ließ den antiquierten Zustand, wo er noch bestand, unverändert oder bloß geringfügig modifiziert bestehen.57

II. Schlussakte und „monarchisches Prinzip“ Ein reaktionärer Kurswechsel, der die Bundespolitik für die nächsten Jahrzehnte beherrschen sollte, folgte 1820 mit der Wiener Schlussakte, die das „monarchische Prinzip“ nach dem französischen Vorbild der Charte Constitutionnelle von 181458 als allein verbindliche verfassungspolitische Maxime fixierte. Anlass zu diesem nachhaltigen Eingriff in die einzelstaatliche Verfassungsautonomie, der sich für jegliche landständische Mitsprache oder Autonomie und damit auch für ein Enquête- und Untersuchungsrecht zu einer schweren Hypothek auswachsen sollte, gab neben der liberalen Nationalbewegung, dem Wartburgfest sowie der ­Ermordung des konservativen Publizisten August v. Kotzebue die süddeutsche Verfassungsentwicklung. Im Sommer 1819 versuchte Clemens Fürst v. Metternich auf den Karlsbader Konferenzen, jeden repräsentativen Gedanken als „Grund aller Aufregung“ und „Anfang einer vollständigen Demagogie“ zu dämonisieren. Niemals dürfe der 13. Artikel eine „Interpretation erleiden“, welche die monarchischen „Grundprincipien des Bundes geradezu aufheben“ müsse. Die Philippika gegen das Repräsentativsystem gipfelte in der These, dass, wo „solche Verfassungsformen“ bereits eingeführt seien, sie „rein provisorische Maßregeln“ wären, die ein Federstrich des Bundes makulieren könne. Mit intellektueller Schützenhilfe des konservativen Publizisten Friedrich Gentz, dessen Werk Wolfgang Durner als die „bis dahin bedeutendste und radikalste antirepräsentative Konzeption“ qualifiziert hat,59 propagierte der österreichische Staatskanzler eine reaktionär-altständische, ja geradezu mittelalterliche Interpretation der bundesrechtlichen Verfassungsforderung, der im Sinne römisch-deutscher Traditionen60 einzig die begrenzte politische Par 57 s. dazu E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 640 ff.; B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, S. 68 f. 58 Zum Vorbildcharakter der Charte Constitutionnelle vom 4. Juni 1814 s. etwa G. Jellinek, Allg. Staatslehre2 1905, S. 455 f. 59 W. Durner, Antiparlamentarismus, 1997, S. 25. 60 In früheren Zeiten beruhte der landständische Einfluss auf den immanenten Grenzen der Landeshoheit, die es nicht gestattete, einseitig und ohne Beirat oder Beistimmung der Privilegierten Recht zu setzen oder Steuern zu verfügen. Solche Landstände folgten nicht dem Repräsentationsgedanken, sondern dienten der Vertretung individueller oder partikularer Interessen. Zu Herkommen, Stellung und Wesen der Reichs- und Landstände s. etwa S. v. Pufendorf in der Übersetzung von H. Denzer (Hg.), Pufendorf Verfassung, 1994, 5. Kap., §§ 1 ff., S. 123 ff. oder V. L. v. Seckendorff, Fürstenstaat, 1720, Cap. II., S. 41 ff.; F. C. Dahlmann, Politik I2 1847,

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

tizipation der Ritterschaft, des höheren Klerus, der Städte und ggf. noch der Bauernschaft entsprochen hätte.61 Obwohl ausgerechnet die badische Regierung diesem antiliberalen Vorstoß sekundierte – in Karlsruhe erhoffte man sich von einer Ächtung der Repräsentativverfassung eine Chance zur Verfassungsrevision –,62 kam eine Restauration der überkommenen Verhältnisse nicht mehr in Betracht. Insbesondere der württembergische Minister Graf v. Wintzingerode trat dem Versuch entgegen, die verfassungspolitische Uhr zurückzudrehen.63 Sein Hinweis auf die öffentliche Stimmung traf sicherlich ins Schwarze: Die Hoffnungen des Bürgertums, dessen persönlicher Einsatz den Sieg in den Befreiungskriegen teuer genug erkauft hatte, richteten sich auf konstitutionelle Verfassungen neuen Typs, die statt auf Privilegien Weniger auf breiteren repräsentativen Fundamenten ruhten.64 Schon 1816 hatte der einflussreiche Publizist Johann Ludwig Klüber verlangt, dass künftig „nicht einzelne Classen oder Stände von Staatsbürgern […], sondern […] das ganze Land, das heißt, alle freien stimmfähigen Landeseinwohner“ an einem „Repräsentations-System ohne Standesvorrechte“ teilhaben müssten, das wirkliche „Landstände mit wesentlichen Rechten“ anstelle der „müssigen Versammlungen von Jaherren“ S. 116 f., 188 f.; H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 542 ff.; F. Noellner, ZfDtVerfRuVerfGesch 1867, S. 119 (126 ff.); O. Mejer, StaatsR2 1884, S. 60 ff., 66 ff.; G. Meyer, DtStaatsR5 1899, S.  224 f.; L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S.  228 f.; H.  Zoepfl, StaatsR I5 1863, S.  172 ff., 176 f., 238 ff., 251 ff. sowie L. v. Stein, Verwaltungslehre I/22 1869, S. 206 f.; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 8 f. und G. Anschütz, in: HdbDtStR I, 1930, S. 25 f. sowie aus moderner Sicht B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, S. 66 ff.; M. Mitterauer, in: Möckl/Bosl (Hg.), Parlamentarismus, 1977, S. 11, S. 11 ff. und H. Schilling, Höfe, 1998, S. 97 f., 130 ff., 138. 61 Vgl. L. F. Ilse, GeschBV II, 1861, S. 249 f. Abdruck der Schrift von Gentz bei J. L. Klüber, Urkunden2 1845, S. 213 ff. Zusammenfassung und Kritik etwa bei E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 643 f. 62 H.-P. Ullmann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 25 (65 f.). 63 Dazu M. Kotulla, VerfGesch, 2007, Rn. 1382 f. 64 s. aus dem 19. Jahrhundert J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 102 f.; H. Schulze, PrStaatsR I2 1888, S.  557: „Als mit den siegreich beendeten Freiheitskriegen […] der politische Freiheitssinn des Volkes wieder erwachte, zweifelte damals niemand daran, dass man an die alten landständischen Institutionen anzuknüpfen, dass man dieselben in zeitgemässer Form wieder zu beleben habe.“; L. F. Ilse, GeschBV II, 1861, S. 99 ff., 238 ff. oder G. T. Stichling, E. C. A. v. Gersdorff, 1853, S.  47 mit der Feststellung, „daß zur Verhütung künftiger Revolutionen die alten Feudalstände mit ihrer theils unvollständigen, theils auf Sonderinteressen gerichteten Kontrole nicht genügten, sondern daß zu derartigem Zwecke ein umfassenderes Sicherungsmittel in der Gestalt des s. g. Repräsentativ-Systems anzuwenden sei, welches die monarchische Gewalt, durch die ihr gegenüber gestellte Vertretung des ganzen Volks, in den Bahnen allgemeiner Befriedigung erhalten werde“, sowie ferner G. H.  Pertz, Stein V, 1854, S. 3 ff. und gegen „reine“ Demokratie, Aristokratie oder Monarchie bzw. für die Kombination verschiedener Elemente F. C. Dahlmann, Politik I2 1847, S. 15 ff., der S. 80 ff. die beschränkte Monarchie mit repräsentativem Element dem altständischen System vorzieht. Aus dem modernen Schrifttum s. etwa B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, S. 68; E.  R. ­Huber, DtVerfGesch I2 1990, S.  640 ff., 652 sowie R. Wahl, in: Müßig (Hg.), Konstitutionalismus, 2006, S. 197 (214 f.).

1. Kap.: Grundzüge der landständischen Verfassung

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bringe.65 Aber obwohl Metternichs Versuch, den Konferenzteilnehmern seine reaktionäre Sichtweise aufzuzwingen,66 wenigstens teilweise missglückte, erlitt die liberale Verfassungsbewegung mit dem Kompromiss, bestehende Verfassungen nicht anzutasten, das „monarchische Prinzip“ aber künftig fester abzusichern, einen schweren Schlag.67 Den Ankündigungen vom September 1819, den 13.  Artikel der Bundesakte im Sinne dieses neuen Leitsterns zu erläutern,68 folgte auf den Wiener Ministerialkonferenzen zwischen November 1819 und Mai 1820 die Umsetzung:69 Obwohl es Art. 55 WSA 1820 vordergründig den „souverainen Fürsten der Bundesstaaten“ überließ, die landständische Verfassung als „innere Landesangelegenheit, mit Berücksichtigung sowohl der früherhin gesetzlich bestandenen ständischen Rechte, als der gegenwärtig obwaltenden Verhältnisse zu ordnen“, verlangte Art. 57 WSA 1820 fortan nach dem Vorbild der französischen Charte von 1814,70 dass die „gesammte Staatsgewalt in dem Oberhaupte des Staats vereinigt“ bleibe. Überhaupt durfte der Souverän aufgrund dieses monarchischen Prinzips „nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden wer 65 Zitat nach J. L. Klüber, Uebersicht I, 1816, S.  195 f. In der letzten Auflage hieß es bei J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 392 dann, dass die „Landstandschaft in der Regel nur durch Wahl von wahlberechtigten Mitbürgern erlangt werden“ solle. Ausdrücklich gegen demokratische Gleichheit oder aristokratische „kränkende Ungleichheit“ und für einen Mittelweg „[z]wischen diesen beiden Abwegen […], wo die Rechte zwar dem Grade nach verschieden […], aber kein Recht beeinträchtigend und Niemand ohne Rechte lediglich verpflichtet“ seien, trat L. Wieland, AllgStaatsVerfArch I (1816), 370 (374 ff.) ein, der außerdem forderte, dass „jeder sich selbst ernährende Bürger, er besitze Vermögen oder nicht, […] das Recht habe, durch Antheil an der Wahl der Gemeinde-Deputirten mittelbar zur Gesetzgebung mitzuwirken“, und seinerseits wählbar sein müsse, „damit jede Classe ihren Vertreter habe, durch den ihre Bedürfnisse ausgesprochen“ würden. 66 Zu der österreichischen Drohung, den Bund als Garanten der kleinstaatlichen Eigenstaatlichkeit scheitern zu lassen, wenn Repräsentation und Volkssouveränität nicht Einhalt geboten werde, s. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 23; L. F. Ilse, GeschBV II, 1861, S.  248 ff. nebst Abdruck einer Mahnung gegenüber Sachsen-Weimar-Eisenach. Ebenso wenig glückte der Versuch, die Aufteilung der Legislative zwischen Fürst und Volksrepräsentation als bundesrechtswidrig zu ächten. s.  dazu J. L. Klüber, Urkunden2 1845, S.  124 ff. und A. F. H. Schaumann, HistTB 1850, S. 193 (215 f.). Der vermeintlichen Konsequenz, dass bereits erlassene Repräsentativverfassungen wieder aufzuheben seien, hielt der württembergische Vertreter Graf v. Wintzingerode entgegen, dass sich der Bund nicht in innere Angelegenheiten einzumischen habe, solange der Bundeszweck nicht gefährdet werde. Außerdem könne eine gewaltsame Aufhebung der Revolution Vorschub leisten. S. J. L. Klüber, Urkunden2 1845, S. 242 ff. und E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 645. 67 Vgl. P. Popp, Ministerverantwortlichkeit, 1996, S. 59 ff. 68 Vgl. H.-P. Ullmann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 25 (65 f.); ProtBV VIII (1819), § 220, S. 266 ff., 287. Auszugsweise Wiedergabe bei L. F. Ilse, GeschBV II, 1861, S. 250 ff.; Abdruck der Registratur über die Abstimmungen in der 35. Sitzung am 20. September 1819 zu § 220 S. 256 ff. 69 F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 176 f. 70 Zum Vorbildcharakter der Charte Constitutionnelle vom 4. Juni 1814 s. etwa G. Jellinek, Allg. Staatslehre2 1905, S. 455 f.

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den“. Dagegen verbot es Art. 58 WSA 1820 kategorisch, dass „[d]ie im Bunde vereinten souverainen Fürsten […] durch [die…] landständische Verfassung in der Erfüllung ihrer bundesmäsigen Verpflichtungen gehindert oder beschränkt“ würden. So blieb nicht nur jede selbständige Gesetzgebungsbefugnis des repräsentativen Faktors ausgeschlossen, sondern jede „echte“ parlamentarische bzw. auf der Volkssouveränität beruhende Regierungsform wurde ebenso geächtet wie eine landständische Einflussnahme auf die Bundespolitik. Obwohl der Deutsche Bund fortan mit Argusaugen über die Einhaltung dieser Prinzipien wachte,71 setzte sich im Schrifttum eine liberale Interpretation des Art.  13 DBA  1815 durch: Johann Ludwig Klüber charakterisierte die „Landstände“ als „Staatsbürger, die kraft der StaatsGrundverfassung, zu collegialischer Stellvertretung berufen [seien…]. In ihrer Gesammtheit bild[et]en sie das verfassungsmäsige Organ des Volkes bei der Staatsregierung“. Konsequent hieß es weiter, dass die Landstandschaft diesem „Zweck gemäß […] in der Regel nur durch Wahl […] erlangt werden“ könne. In den Anmerkungen erläuterte der Heidelberger Gelehrte, dass eine „StaatsGrundverfassung mit Landständen, als Volksvertretern, eine parlamentarische, eine repräsentative […], eine landständische“ heiße. Einen Widerspruch sah er in dieser Gleichstellung nicht, „es sey denn, daß man unter dieser bloße Casten-, Standesclassen-, oder CorporationsVertretung, in dem mittelalterigen Feudal-, Casten- und Privilegiengeist  […], unter jenen hingegen nicht Volksvertretung, sondern VolksSouverainetät […] sich denken“ wolle.72 Konzilianter konstatierte der noch in Tübingen lehrende Robert v. Mohl, ein Urenkel des Reichspublizisten Johann Jacob Moser, 1829, dass man die bundesrechtliche Verfassungsforderung sowohl „feudalständisch“ als auch „repräsentativ“ ver-

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Vgl. H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 246 ff. Ein weiterer Bundesbeschluss vom 16. August 1824 bestimmte, dass in den Staaten mit landständischer Verfassung streng darauf zu achten sei, dass die Stände das monarchische Prinzip nicht verletzten. Außerdem sollte in den Geschäftsordnungen sichergestellt werden, dass es durch die Öffentlichkeit der Verhandlungen oder ihren Druck nicht zu Missbräuchen komme. s. dazu J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 404 sowie die entsprechenden Passagen aus Metternichs Vorschlägen vom Februar 1823. Abdruck bei L. F. Ilse, GeschBV II, 1861, S. 593 f. s. zu dem Beschluss von 1824 S. Jordan, StaatsR I, 1831, S. 389 und Fn. 13 sowie H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 562 in Fn. 34. Der erste der „Sechs Artikel“ vom 28. Juni 1832 schrieb zum Schutz des monarchischen Prinzips vor, dass „ein teutscher Souverain, als Mitglied des Bundes, zur Verwerfung einer hiermit in Widerspruch stehenden Petition der Stände nicht nur berechtigt“ wäre, sondern „die Verpflichtung zu dieser Verwerfung […] aus dem Zwecke des Bundes hervor[gehe]“. Das Wiener Schluss­ protokoll vom 12. Juni 1834 enthielt die Pflicht, das monarchische Prinzip „in seinem vollen Umfange unverletzt zu erhalten“ und jeder Erweiterung der ständischen Befugnisse entgegenzutreten. Abdruck der „Sechs Artikel“ bei M. Kotulla, DtVerfR II, 2007, S. 734. Zu anderen Quellen s. J. E. A. v. Rauschenplat, Beschlüsse, 1844, S. 3 ff.; C. Weil, Quellen, 1850, S. 69 ff. und H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 562 f. in Fn. 34. 72 J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 392. s. außerdem „StaatsGrundverfassung. Staatsform. Staatsverwaltung. Legitimität. Monarchisches Princip. Machtvollkommenheit.“ (S. 108 ff.), „Bundes- u. staatsrechtliche Nothwendigkeit, Vertragsmäsigkeit, Garantie, u. richterlicher Schutz der landständischen Verfassung“ (S. 404), sowie Fn. a) S. 405 f. und S. 431.

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stehen könne.73 Während der Würzburger Rechtswissenschaftler Conrad Cucumus in seinem „Lehrbuch des Staatsrechts der konstitutionellen Monarchie Baierns“ 1825 einerseits „Feudalstände“ unter Hinweis auf Art.  55 WSA  182074 für ausgeschlossen hielt, andererseits aber einer Gleichstellung „landständisch-repräsentativer und rein repräsentativer Verfassung“ ebenso widersprach,75 fuhr Robert v. Mohl fort, dass die Existenz gewählter Stände weder zwingend ein „Mitregieren des Volkes“ noch dessen „Theilnahme an der Staatsgewalt, oder gar [eine…] Abtretung eines Theiles derselben“ bedeuten müsse. Dagegen entspreche es – „namentlich bei Gesetzen und Steuern“ – der „Staatsklugheit“, die Ständeversammlung im Voraus „um ihre Einwilligung“ zu bitten.76 Im Laufe der Zeit wendete sich das publizistische Blatt noch weiter: So konzedierte Johann Caspar Bluntschli 1863 zwar, dass „Artikel 57 der Wiener Schlusz­acte […] das monarchische Princip in dem ersten Satze nicht unrichtig aus[drücke]“, ging aber dennoch davon aus, dass das Bundesrecht gleichermaßen „die absolute, die ständische und die constitutionelle Monarchie“ zulasse. Zu guter Letzt kam der Schweizer Staatsrechtler, Nachfolger Robert v. Mohls in Heidelberg und badische Politiker,77 zu dem provokanten Schluss, dass „[d]ie seitherige Ausbreitung der constitutionellen Monarchie […] diesen Artikel antiquirt“ habe.78 Über Metternichs zeitgeistwidrige Bemühungen, Art.  13 DBA  1815 in ein altständisches Veto gegen die Repräsentativverfassung umzudeuten, fällte das Schrifttum kein schmeichelhaftes Urteil. Hermann Schulze prangerte den „künstlich geschraubten, erst später erfundenen Gegensatz“ an, dessen 1815 niemand gedacht habe.79 Friedrich Dahlmann zieh den intellektuellen Wegbereiter dieser Politik, Friedrich Gentz, einer „Carricatur“ gerade „so viel treffende Züge bei[gemischt zu haben,] als ein Zerrbild [bedürfe…], um Eindruck zu machen“.80 Vernichtende Kritik goss Carl Theodor Welcker bei seiner provokanten Publi­ kation der geheimen Karlsbader und Wiener Protokolle über dem Gentz’schen Wirken aus, das er als „historisch und juristisch unwahr und nur kecke und sophistische Verdrehungen der Geschichte und der rechtlichen und praktischen Wahrheit“ enthaltend verteufelte.81 Wie Ludwig v. Rönne, der die „willkürlich ersonnene Theorie“ einschließlich der „völlig ungerechtfertigten Forderung“ in Bausch

73 R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 690. s. aus neuerer Zeit P. Unruh, Verfassungsbegriff, 2002, S. 206. 74 „Artikel LV. Den souverainen Fürsten der Bundesstaaten bleibt überlassen, diese innere Landes-Angelegenheit, mit Berücksichtigung sowohl der früherhin gesetzlich bestandenen ständischen Rechte, als der gegenwärtig obwaltenden Verhältnisse zu ordnen.“ 75 C. Cucumus, StaatsR, 1825, S. 307 in Fn. 1. 76 R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 453 f. 77 H. Mitteis, NDB II, 1955, S. 337 f. 78 J. C. Bluntschli, StaatsR I3 1863, S. 437 in Fn. 6. 79 H. Schulze, PrStaatsR I2 1888, S. 557 f. 80 F. C. Dahlmann, Politik I2 1847, S. 116 ff. 81 C. T. Welcker, Urkunden2 1845, S. 214 in der Fn.

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und Bogen verwarf,82 lehnte es Heinrich Albert Zachariä als „völlig unhistorisches Beginnen [ab…], die ‚landständische Verfassung‘ des Art.  13 […] als einen die ‚Repräsentativ-Verfassung‘ ausschließenden Gegensatz zu behandeln“. In aller Deutlichkeit betonte der Göttinger Staatsrechtler, dass beide Begriffe in den Kongressverhandlungen „gleichbedeutend“ verwendet worden seien.83

III. Bedeutung für die weitere Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung In der landständischen Realität bedeutete das „monarchische Prinzip“ für ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht, bedenkt man, dass entsprechende parlamentarische Befugnisse ein unmittelbares Informationsrecht der Volksvertretung voraussetzen, eine schwere Last.84 Schließlich wird es den konservativen Formeln der Wiener Schlussakte offenkundig besser gerecht, wenn die Informationsbeschaffung und die anschließende Unterrichtung der Stände allein in der Hand und im Ermessen der monarchischen Exekutive liegen. Schon ein unmittelbares Herantreten der Stände an die nachgeordnete Verwaltung erschien den Zeitgenossen ebenso wie eine landständische Vorladung oder Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen als Einbruch in monarchische Reservate. Könnte ein solches parlamentarisches Recht zu allem Überfluss auch noch der Regierungskontrolle dienen, wäre ein harter Zusammenstoß mit dem „monarchischen Prinzip“ unausweichlich.85 Tatsächlich sollte in den folgenden Jahrzehnten ein ganzes Bündel vermeintlicher Gegenargumente aus diesem ehernen Grundsatz abgeleitet werden. Bei aller Liberalität der Entwicklung in verschiedenen Einzelstaaten stand das „monarchische Prinzip“ der Entstehung eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts vor der Märzrevolution offensichtlich eisern entgegen.

C. Das „deutsche Modell“ der konstitutionellen Monarchie Das Bundesrecht schrieb der einzelstaatlichen Verfassungsentwicklung über eine Verfassungsform mit Vertretungskörperschaft hinaus keine positiven Vorgaben ins Pflichtenheft. Durch das „monarchische Prinzip“ entfaltete es eher nega­tive Wirkungen, zog liberalen Zugeständnissen enge Grenzen.86 Auf dem diffusen Rechts 82

L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S. 228. Wörtlich auch H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 560 f. 83 H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 87 f. und Fn. 3 sowie S. 559 f. 84 Vgl. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (273); W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 43 f., 45; J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 62. 85 Vgl. W. Löwer, DVBl 1984, 757 (759). 86 H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 572 ff.

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boden, den Art. 13 DBA 1815 einerseits, andererseits aber Art. 57 WSA 1820 bestellte, trieb die Konstitutionalisierung angesichts der keineswegs ausgeräumten Zweifel, was unter einer „landständischen Verfassung“ zu verstehen war, die unterschiedlichsten Machtverteilungsblüten.87 Neben regionalen Traditionen und Besonderheiten hingen Verfassungstext und Staatspraxis von der je­weiligen politischen Großwetterlage und dem Reformwillen des Landesherrn, ja von seinen Grillen landständischen Mitspracheforderungen gegenüber ab.88 Zu Recht resümierte der Großherzoglich Badische Geheime Hofrat Joseph Beck 1866, dass das Bundesrecht „in seiner großen Unbestimmtheit“ dem „politischen Ermessen, aber auch […] der Befangenheit und Intrigue einen weiten Spielraum“ lasse, wie Art. 13 DBA 1815 auszufüllen sei.89 Allen partikularen Unterschieden zum Trotz setzte sich das repräsentative Verfassungsmodell mit freiem Mandat gegenüber der Alternative einer altständischimperativen Interessenvertretung durch.90 Schon 1824 ging Johann Christoph­ Freiherr v. Aretin von „gegen 100 Millionen constitutionell regierter Menschen“ aus.91 Am Vorabend der Märzrevolution kam Joseph v. Radowitz – enger Berater Friedrich Wilhelms IV. und Architekt der Erfurter Unionspolitik – zu dem Schluss, dass „alle kleineren deutschen Staaten eine Mischung aus der ständischen Monarchie und dem Repräsentativsysteme“ angenommen hätten.92 Demgegenüber widerstanden ausgerechnet die Bundesgranden Österreich und Preußen, die sich doch auf dem Kongress zunächst „mit ganz vorzüglicher Wärme […] über diesen hochwichtigen Gegenstand verbreitet“ hatten (August Brunnquell),93 bis 1848/49 beharrlich jedem Konstitutionalisierungsdruck.94

I. Die Stellung des Monarchen und des Ministeriums Grundprinzip der einzelstaatlichen Verfassungen war die „Beherrschungsform […] der beschränkten Monarchie oder Fürstenherrschaft“ (Heinrich Albert Zachariä).95

87 Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 21 f.; R. Wahl, in: HdbStR I3 2003, § 2 Rn. 21 f. sowie J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 413 ff. 88 Vgl. R. Wahl, in: Müßig (Hg.), Konstitutionalismus, 2006, S. 197 (205 f., 208 ff.); M. Botzen­ hart, Parlamentarismus, 1977, S. 21 f.; H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 234. 89 J. Beck, C. F. Nebenius, 1866, S. 39. 90 M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 23. Zum Repräsentations- gegenüber dem altständischen System s. etwa H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 576 f. 91 J. C. v. Aretin, StaatsR, 1824, S. IV. 92 J. v. Radowitz, Schriften IV, 1853, S. 158. Zum Zustand in den 1840er Jahren s. F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 211 f. 93 A. Brunnquell, StaatsR I, 1824, S. 168. 94 Übersicht bei J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 413 ff. 95 H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 289.

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1. „Monarchisches Prinzip“ Als Konsequenz des bundesrechtlich zementierten „monarchischen Prinzips“ musste – mit Ausnahme der republikanischen freien Städte – alle Staatsgewalt in der Person des Fürsten ruhen. Der Monarch war und blieb der alleinige Inhaber aller staatlichen Befugnisse.96 Weder das Volk noch dessen Vertretung oder der Staat, sondern – wenigstens pro forma97 – Gott selbst hatte ihm diese Macht anvertraut.98 Art.  57 WSA  1820 führte zu einem eigentümlichen monarchischen Kompetenz­ver­teilungs­prinzip:99 Waren Befugnisse nicht ausdrücklich zugunsten der Landstände fixiert, kam für den Landesherrn eine Art ausschließlicher Residualkompetenz zum Tragen. In diesem Sinne ging Johann Ludwig Klüber selbst für diejenigen Bundesstaaten von einer „Rechtsvermuthung“ für die Un­ beschränktheit der landesherrlichen Macht aus, „in welchen Landstände sich [befänden…], denen eine verfassungsmäsige Mitwirkung oder Theilnahme (nicht Mitregentschaft) an bestimmten Gegenständen der Staatsverwaltung“ eingeräumt sei.100 Ebenso urteilte Heinrich Albert Zachariä, dass aufgrund einer „Vermu­thung für die Un­beschränktheit der Landeshoheit“ keine Rede „von einer für die Be­ theiligung der Stände streitenden Präsumtion“ sein könne. Vielmehr bestehe eine Vermutung „für den Monarchen als den Inhaber der staatlichen Machtvollkommenheit“.101 Widerspruch  – z. B. 1824 durch August Brunnquell geübt  – blieb vereinzelt.102 Infolge dieses „monarchischen Prinzips“ ruhte die Exekutive – anders als die l­egislativen und finanzrechtlichen Hoheitsrechte, an deren Ausübung die Landstände beteiligt waren  – vollständig in der Hand des Landesherrn. Der Landesvertretung blieben lediglich Kontrolle und Kritik.103 Insbesondere stand ihr keine Mitsprache bei der Ernennung und Entlassung der Minister zu. Einfluss auf die Regierungspolitik konnte sie allenfalls durch Beschwerden, Petitionen, Anträge, Anfragen oder allgemeine Kritik in ihren öffentlichen Debatten nehmen. Jeder Mitwirkung verschlossen waren die Angelegenheiten der bewaffneten Macht.104

96 Dazu sowie der Unvereinbarkeit des „monarchischen“ mit dem parlamentarischen oder dem Prinzip der Volkssouveränität H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 76 ff., 289 ff.; F. J. Stahl, Staatslehre3 1856, S. 383 ff. 97 Krit. E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 2006, S. 301 f. 98 Vgl. G. Jellinek, Allg. Staatslehre2 1905, S. 458. 99 Vgl. E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 2006, S. 278. 100 J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 116 (Hervorhebung im Original). 101 H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 77 (Zitat) sowie S. 604 krit. zur Landeshoheit. 102 A. Brunnquell, StaatsR I, 1824, S. 237 f. 103 H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 374 f. 104 W. Siemann, Staatenbund, 1995, S.  34. s.  zu Ernennung und Entlassung der Minister H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 78: „Abgesehen von den Folgen gerichtlicher Verurtheilung  hat das Recht des Monarchen seine Minister in ihrem Amte zu halten nur eine moralisch-politische, aber keine rechtliche Schranke“ (Hervorhebung nur hier). s. ferner S. 275, 292 in Fn. 8.

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Angesichts der „Heiligkeit“ und „Unverantwortlichkeit“ des Monarchen,105 der für seine Regierungsmaßregeln nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnte, bedurften seine Anordnungen und Verfügungen in aller Regel der Kontrasignatur eines Ministers, der so die rechtliche Verantwortung gegenüber den Landständen übernahm und für eine Verfassungsverletzung angeklagt werden konnte.106 Das Recht zur Auflösung der Landstände, auf die Neuwahlen folgen mussten, sicherte die politische Präponderanz des Landesherrn über die Volksvertretung. Im Fall einer Entzweiung von Regierung und Ständeversammlung konnte der Monarch auf diesem Weg unmittelbar an das Wahlvolk appellieren.107 Für ein ungeschriebenes Selbstinformationsrecht der Ständeversammlungen, etwa als Annex oder notwendiges Korollar ihrer geschriebenen Kompetenzen, musste das „monarchische Prinzip“ das Aus bedeuten.108 Aber selbst ein ausdrückliches landständisches Enquête- und Untersuchungsrecht, das eine unmittelbare Fühlungnahme mit nachgeordneten Behörden oder privaten Dritten vorgesehen hätte, wäre bestenfalls problematisch und wahrscheinlicher unstatthaft. Ganz auf dieser Linie hielt Friedrich Julius Stahl das Recht des englischen Parlaments, „auch ohne Vermittelung der Krone aus eigener Macht Unterthanen und Beamte vor[zu]laden und [zu] vernehmen“, für unhaltbar. Überhaupt hielt er die englische Verfassung für ein mit dem „monarchischen Prinzip“ inkompatibles Beispiel einer Parlamentsherrschaft.109

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Zu Grundlagen und Entwicklung s. K. Stein, Verantwortlichkeit, 2009, S. 72 ff., 124 ff. und passim. 106 s. dazu F. C. Dahlmann, Politik I2 1847, S. 103 ff.; H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 75 f., 271 ff., 290, 294. Laut J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S.  405 handelte es sich um „eine Bestimmung, die um so nöthiger erachtet ward, da das frühere Rechtsmittel der Beschwerdeführung bei einem Reichsgericht, wider Mißbrauch der landesherrlichen Gewalt und wider Verletzung der Verfassung nicht mehr Statt hat[te], und da durch jene Vorsicht der Erschleichung landesherrlicher Willenserklärungen und der Unterschiebung falscher oder verfälschter Ausfertigungen vorgebeugt“ wurde. Freilich kritisierte E. Lasker, DtJbPolLit I (1861), 177 ff. für Preußen zu Recht, dass die im „Grundsatz“ anerkannte Ministerverantwortlichkeit durch das Fehlen der erforderlichen Ausführungsvorschriften entwertet wurde. Zur Ministerverantwortlichkeit in der konstitutionellen Monarchie s. K. Stein, Verantwortlichkeit, 2009, S. 167 ff. 107 Zum Auflösungsrecht s. H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 644 ff.; R. v. Mohl, Ministerverantwortlichkeit, 1837, S. 9 f.; ders., Encyclopädie, 1859, S. 367 und Encyclopädie2 1872, S. 362 f.; H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 318. 108 Ähnl. W. Löwer, DVBl 1984, 757 (759) unter Hervorhebung der Regierungskontrolle. Vgl. auch H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art.  44 Rn.  9 zur Bedeutung der monarchischen Kompetenzvermutung für das Untersuchungsrecht. Dementsprechend kommt H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 352 zu dem Schluss, dass den Kammern zwar das Recht zustehe, „Commissionen zur Aufklärung von Thatsachen niederzusetzen“, die aber nur befugt sein ­sollten, sich „mit den Ministern oder Regierungscommissären ins Benehmen zu setzen“. Als Beispiele nennt Zoepfl § 93 KhVerfUrk 1831 – und Art. 82 PrVerf 1850. 109 F. J. Stahl, Staatslehre3 1856, S. 375 f., 382 f.

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2. „Oberaufsichtsrecht“ Konsequenterweise ging die Staatsrechtslehre in Anknüpfung an das alte Reich110 noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein statt von einem landständischen Selbstinformationsrecht von einem umfassenden monarchischen „Oberaufsichtsrecht“ aus.111 Heinrich Albert Zachariä charakterisierte dieses „jus supremae inspectionis“ als „Befugniß und resp. Verpflichtung des Regenten, von Allem, was im Bereiche des Staates [vorgehe…] und seine Rechte, Pflichten oder Interessen [berühre…], Kenntniß zu nehmen, um […] alles dem Staate Nützliche zu fördern, das Schädliche dagegen zu entfernen“. Der Göttinger Gelehrte rechnete das „Oberaufsichtsrecht“ zu den „wesentlichen Be­stand­thei­len der Staatsgewalt“, behandelte es also gewissermaßen als Korollar der materiellen Regierungsbefugnisse, das „insbesondere dazu [diene], die Thätigkeit der Gesetzgebung vorzubereiten, sich von der Beobachtung der Gesetze zu vergewissern, die rechtzeitige und dem Zwecke entsprechende Wirksamkeit der vollstreckenden Gewalt zu sichern und die Ausübung besonderer Rechte möglich zu machen“.112 Aber nicht nur funktionell, sondern auch nach den Mitteln seiner Ausübung ähnelte dieses „Oberaufsichtsrecht“ dem Enquête- und Untersuchungsrecht. Heinrich Albert Zachariä zählte hierzu die „Absendung von Bevollmächtigten durch die Regierung, um an Ort und Stelle Besichtigungen (Visi­ tationen) vorzunehmen, Erkundigungen einzuziehen und bei gewissen Verhandlungen und Ereignissen, z. B. bei politischen und kirchlichen Wahlacten, im Interesse der Regierung gegenwärtig zu sein“, die „allen Staatsbehörden und Beamten obliegende Pflicht zur Berichterstattung über ihre regelmäßige Geschäftsführung und alle außerordentliche, das Interesse des Staats berührende Vorfälle“ sowie die „Verbindlichkeit der Unterthanen über die von ihnen gemachten Wahrnehmungen auf 110

s. dazu W. Kahl, Staatsaufsicht, 2000, S. 41 ff., 45 ff. Etwa widmete J. S. Pütter, Litteratur III, 1783, S. 300 den „Schriften vom Recht der höchsten Oberaufsicht, und den damit verbundenen Rechte Verleihungen und Bestätigungen zu ertheilen“, ein – freilich bloß gut zwei Seiten starkes  – Hauptstück. Zur Einleitung hieß es: „Das erste und allgemeinste Recht der höchsten Gewalt ist, über alles, was zum Staate gehöret, und darin vorgehet, so weit es die gemeine Wohlfahrt nöthig oder nützlich macht, die höchste Oberaufsicht zu führen.“ In vergleichbarer Weise war bei H. G. Scheidemantel, StaatsR, 1775, S. 57 zu lesen, dass die „Ober­ aufsicht (potestas inspectoria suprema) […] den jedesmaligen Zustand der Nation [bemerke], teils um zu sehen, ob man die Vorschriften [befolge …], teils auch um neue Maasregeln zu bestimmen“. Weiter führte der Jenenser Rechtswissenschaftler S. 81 f. aus, dass der „Fürst […] seinen Staat kennen“ müsse, weil er andernfalls „nicht mit Gewisheit regieren können, und die Vorteile seiner Untertanen dem blinden Schicksal überlassen“ würde. Deswegen sei die „Oberaufsicht im Staat […] die höchste Befugnis der Majestät, nach welcher sie hinreichende Kenntnis von dem jedesmaligen Zustand der Nation in so weit einziehen kan, als es die Absicht der Regierung erfordert.“ Sinn und Zweck lägen in dem „Wolseyn der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt“ sowie „in einer vollständigen Wissenschaft von der gegenwärtigen Verfassung des vorkommenden Staats und seiner Mitglieder, damit man einsehen kan, ob die zur Glückseligkeit des Ganzen und der Teile erforderlichen Mittel angewendet werden, welche Hindernisse zu entkräften und welche Umstände zum Vorteil zu richten sind“. 111 s. etwa R. v. Mohl, Encyclopädie2 1872, S. 628 ff. 112 H. A. Zachariä, StaatsR II2 1854, S. 192 f.

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Verlangen Zeugniß abzulegen“. Über ein Informationsrecht gingen verschiedene Erlaubnis- und Genehmigungsvorbehalte familien-, gesellschafts- oder gewerberechtlicher Natur noch hinaus, die ebenfalls dem „Oberaufsichtsrecht“ zugeschlagen wurden.113 Ähnlich hatte schon Johann Ludwig Klüber die „oberaufsehende Gewalt“ definiert.114 Selbst Ludwig v. Rönne, einer der eindringlichsten Verfechter des Enquête- und Untersuchungsrechts der preußischen Kammern, erkannte das „Recht der Oberaufsicht über alle Theile der Staatsverwaltung“ als Bestandteil der „vollziehenden und ausführenden Gewalt des Königs“ bzw. als „Recht und […] Pflicht der Staatsregierung zu fortwährender wirksamer Aufmerksamkeit auf Alles, was auf den Zweck des Staates Einfluß haben“ könne, an.115 Solange ein solches „Oberaufsichtsrecht“ nahezu unbestritten116 zu den Majestäts­ rechten gehörte, musste ein konkurrierendes parlamentarisches Enquête- und Untersuchungsrecht als Frevel erscheinen.117 So wird es verständlich, warum Carl v. Kaltenborn das landständische „Recht einer Controle über die gesammte politische Thätigkeit des Volkes und Staates“ der Volksvertretung 1863 zwar als „Correlat der staatlichen Oberaufsicht“ charakterisierte, dann aber urteilte, dass es „gewiß nicht die Bedeutung [haben könne…], daß zu dem Behufe jeder Beamte, jede Behörde des Staats unmittelbar von der Volksvertretung zur Rechenschaft gezogen werden dürfe“; um nicht die „ganze Ordnung der Staatsverwaltung [zu] durchbrechen“, sei es erforderlich, „daß regelmäßig diese Controle durch Vermittelung der staatlichen Centralbehörden zu erfolgen“ habe.118 Anstelle eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts entsteht so das Bild einer interpellationsartigen Befugnis.

113

H. A. Zachariä, StaatsR II2 1854, S. 193 f. J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 552 f. 115 L. v. Rönne, PrStaatsR I/12 1864, S.  197 ff. s.  auch E. v. Moÿ, BayStaatsR I/1, 1840, S.  154, der dem bayerischen König ein Oberaufsichtsrecht zuschrieb, „[v]ermöge [dessen er…] die erforderlichen Maßregeln [ergreife], um rücksichtlich dessen, was dem Staate nützlich oder schädlich sein [könne…], alle Kunde zu erhalten, welche zur zweckmäßigen Anwendung seiner übrigen Staatsgewalten nöthig“ sei. Die „oberaufsehende Gewalt“ gehöre zur vollziehenden Gewalt, „weil sie weder einen selbstständigen Zweck [habe], noch eine besondere selbstständige Function der Regierungsthätigkeit“ bilde (S. 130). 116 Deutliche Kritik an einem selbständigen „Oberaufsichtsrecht“ übte C. T. Welcker, in: Rotteck/­ders. (Hg.), Staatslexikon X1 1841, S. 714 ff., der ihm die Qualität als „vierte formelle Hoheitsgewalt“ absprach. Entweder sei das vermeintliche „Recht des Aufmerkens und Zusehens […] gar kein Staatshoheitsrecht, sondern ein mit keinem Zwange und mit keiner Verletzung der natürlichen Freiheit verbundenes natürliches Recht aller Bürger“ oder „ein wesentlicher Bestandtheil aller anderen formellen Hoheitsrechte, aller gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Thätigkeit für die materiellen Staatszwecke [… o]der es [werde…] endlich mit dieser angeblichen formalen oberaufsehenden Gewalt ein Theil besonderer materialer Hoheitsrechte, z. B. des Polizeirechts, des Kirchenhoheits-, des Justizrechts, verwechselt.“ Für „alle verfassungsmäßige Freiheit und Selbstständigkeit der Bürger und ihrer Corporationen und Vereine“ charakterisierte der badische Liberale das „Oberaufsichtsrecht“ als „im höchsten Grade praktisch gefährlich und verderblich“. 117 In diesem Sinne F. Gössel, GeschKhLT I, 1837, S. 246 f. 118 W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 89. 114

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

3. Zutritts- und Rederecht Nahezu in allen Staaten – Ausnahmen wie Sachsen-Weimar-Eisenach blieben singulär119 – stand den Ministern, ihren Beauftragten oder besonderen Landtagskommissaren, teils als Ausprägung des „Oberaufsichtsrechts“ verstanden,120 ein generelles Zutritts- und Rederecht zu, das einerseits der Information der Kammern, andererseits aber der Verteidigung der landesherrlichen Positionen, einer „Beobachtung der Kammern“ sowie dem möglichst frühzeitigen Ausgleich von Meinungsverschiedenheiten diente.121 Nach 1848 korrespondierte dem vereinzelt – wie etwa in Art. 60 Abs. 2 PrVerf 1850 – ein Zitierrecht der Kammern.122 Mit nachgeordneten staatlichen Stellen oder gar privaten Dritten durften die Kammern dagegen ohne ausdrückliche Ermächtigung keinen unmittelbaren Kontakt aufnehmen.123 Die nur gegenüber landesherrlichen Organen gelockerte „Kontaktsperre“ war eine weitere Hypothek für ein Enquête- und Untersuchungsrecht, das von ­unmittelbaren Auskünften der Behörden oder Dritter bzw. von Zeugen- oder Sachverständigenvernehmungen lebt.

II. Zusammensetzung und Befugnisse der Ständeversammlungen Aufgrund der Ambivalenz des Bundesrechts variierten Zusammensetzung und Struktur der Ständeversammlungen in den Einzelstaaten zwischen den Extrema einer altständischen Landschaft und einer repräsentativen Volksvertretung.124

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Vgl. H. Blesken, ZVThGA 30 (1933), 117 (178 f.), der zu Recht darauf hinweist, dass so jede „mündliche Auseinandersetzung, jedes Messen der Kräfte im Rededuell, jede Möglichkeit der Überzeugung durch Rede und Gegenrede“ ausbleiben mussten. 120 Vgl. D. Götschmann, Bay. Parlamentarismus, 2002, S.  204 f. zu den Aufgaben der Landtagskommissare in Bayern um 1825. s. auch unten 2. Teil 2. Kap A. II. 3. b) cc) zu Kurhessen. 121 Allg. zum Zutritts- und Rederecht J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S.  455; H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 634; H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 349 f. Zu Sinn und Zweck dieses Instituts s. die Entwurfsbegründung zu der Geschäfts-Ordnung für die zweyte Kammer vom 5. Mai 1819, VerhBad2K 1819/1, S. 50 f. 122 Zur Entwicklung vgl. M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 43 Rn. 4. 123 s. etwa für das Königreich Württemberg R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 579 sowie S. 581 ff. 124 Vgl. W. Siemann, Staatenbund, 1995, S. 32 f. und L. v. Stein, Verwaltungslehre I/22 1869, S.  208 ff. sowie zur Vereinbarkeit des monarchischen Prinzips mit verfassungsmäßigen Beschränkungen H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 79 f.

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1. Ein- oder Zweikammersystem Das mit Ausnahme der kleineren Staaten und Kurhessens vorherrschende Zweikammersystem,125 von Zeitgenossen als „Nachahmung englischer und französischer Einrichtungen“ qualifiziert126 bzw. als „ursprünglich nicht […] ausgeklügelte Maassregel“ oder „unwillkürliche[s] Resultat einer specifisch englischen Entwickelung“ kritisiert,127 fußte mit den Worten Johann Christoph v. Aretins darauf, dass „nichts anders übrig [bleibe], als die feste Beobachtung einer Verfassung, die alle drei Elemente, das monarchische, aristokratische und demokratische, mit einan­der [vereinige…], und eins durch das andere in Schranken“ halte.128 Friedrich Noellner attestierte dem Zweikammersystem gut 50 Jahre später, die „richtige Mitte“ zu besetzen, „indem [es…] die alte Landschaft in der ersten Kammer [erhalte…] und ihr das neue Recht der staatsbürgerlichen Repräsentation […] in der zweiten Kammer“ gegenüberstelle. Freilich gab der Darmstädter Oberappellations- und Kassationsgerichtsrat in einer zutreffenden Charakterisierung des konstitutionellen Dualismus zu bedenken, dass damit der Einheit der monarchischen Staatsgewalt eine dividierte Landesvertretung gegenüberstehe, deren „Theilung […] im constitutionellen Leben Deutschlands fortwährend ein Hinderniß für die Ausbildung des constitutionellen Princips, dagegen für die Staatsgewalt, nach der Regel: divide et impera! von hoher Bedeutung“ sei.129 Tatsächlich verkörperte die Erste Kammer, die aus erblichen, gewählten oder auf Lebenszeit ernannten Mitgliedern aus den Reihen der Mediatisierten (vgl. Art. 14 DBA 1815), des grundbesitzenden Adels, teils auch geistlicher oder Universitätsdeputierter gebildet wurde, in aller Regel das aristokratische, gewissermaßen altständische, zumindest aber traditionsverbundene bzw. konservative Element. Häufig hatten die Prinzen des regierenden Hauses Sitz und Stimme. Nicht geborene Deputierte wurden üblicherweise direkt bestimmt.130 Demgegenüber stand die Zweite Kammer für das repräsentative Element nach dem Typus einer Volksvertretung.131 Ihre Mitglieder gingen im Allgemeinen aus mehr oder minder freien, bisweilen mündlichen, zumeist mittelbaren und häufig nach 125

Übersicht zum Ein- und Zweikammersystem zwischen 1815–1848 bei B. Vogel/D. Nohlen/ R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, S. 70 f. sowie M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 22. 126 H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 587 mit Aufzählung von deutschen Staaten mit Zweikammersystem. 127 H. Schulze, PrStaatsR I2 1888, S. 573 f. 128 J. C. v. Aretin, StaatsR, 1824, S. VIII. 129 F. Noellner, ZdtVerfRG 1867, S.  119 (125 f.). Im weiteren Verlauf der Verfassungsgeschichte sei das nicht auf Wahlen „gegründete Wesen der ersten deutschen Kammer […] in steigenden Widerspruch mit jenem Princip und mit der Auffassung des Volks [getreten] und dies um so mehr, als es nur zu häufig von Regierungen dazu benutzt [worden sei…], um volksthümlichen Anforderungen, von dem Abgeordnetenhause vertreten, durch bloße Negative entgegenzutreten und so das ganze Odium der Abweisung zu übernehmen.“ 130 Ausführlich H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 617 ff. 131 K. S. Zachariä, Vierzig Bücher III2 1839, S. 227 f.

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Zensuselementen beschränkten oder ständisch gegliederten Wahlen hervor.132 Das aktive und das passive Wahlrecht hingen oft vom Lebensalter, dem Steuerauf­ kommen, Grundbesitz oder Kapital bzw. von der Ausübung bestimmter Gewerbe etc. ab.133 Anders als Johann Ludwig Klüber, der um des „Geist[es]“ der Volksrepräsentation willen forderte, „Wahlrecht, […] Wahlfähigkeit und Wählbarkeit nicht zu sehr zu beschränken“,134 goutierte das überwiegende Schrifttum diese Ungleichheiten. Etwa urteilte Heinrich Albert Zachariä noch 1853, dass es „überhaupt gar keine politische[n] Urrechte des Einzelnen“ gebe und die „wahre Repräsentation“ keineswegs „blos die Zahl der Köpfe, sondern zugleich die Lebensstellung, den Besitz und die Einsicht der Glieder des Staats […] in wahrhaft gleicher und gerechter Weise“ zu berücksichtigen habe. Das republikanisch-­ demokratische Ideal eines „gleichsam angeborenen Wahlrechts aller einzelnen Staatsglieder als einer zusammenhanglosen Masse von Individuen“ verwarf der Staatsrechtler als „unhaltbare Idee“.135 Ganz in diesem Sinne beugten Beschränkungen des Wahlrechts und mancherorts maßlose gouvernementale Wahlbeeinflussungen der Zusammenballung einer oppositionell-kritischen Masse in den Ständeversammlungen vor. Beide Kammern verhandelten üblicherweise getrennt. Ein Landtagsbeschluss setzte übereinstimmende Vota voraus.136 – Wo bloß eine Kammer existierte, fanden sich die vorgenannten Elemente trotzdem häufig wieder, insbesondere in einer Wahl nach Ständen137 oder als altständische Reminiszenz der Art, dass zwei, drei 132 s. dazu B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, S. 69 sowie die Wahlrechtsübersicht 1815–1848 S. 70 f. Ausführlich H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 617 ff. 133 J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 436 ff. („Classen der Landstände“) und S. 440 ff. m. w. N. zu den Bundesstaaten. Zum passiven Wahlrecht H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 598 ff. 134 J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 431. 135 H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S.  88 f. sowie S.  574, 583, 595 ff. (Hervorhebungen nur hier). Weiter hieß es: „Natürlich [sei stattdessen, …] daß man für die Theilnahme an der Bildung des Organs der Landesrepräsentation eine gewisse Bürgschaft für eine dem Wohle der Gesammtheit entsprechende Ausübung des politischen Rechts […] zu gewinnen [gesucht habe…]; natürlich ferner, daß dasselbe von der selbstständigen Betheilung […] zu den Staatslasten […] abhängig gemacht [worden sei…]; natürlich aber auch, daß man einer Seits, neben der besonderen Berücksichtigung des […] eine dauernde Bürgschaft gewährenden Grundbesitzes, auch andern […] Interessen bei der organischen Zusammensetzung der Volksrepräsentation Rechnung [getragen habe…], und anderer Seits von einer lediglich auf die nicht mehr lebenskräftige ‚Gliederung der Stände‘ basirten Organisation abstrahirte“. Ähnl. Gedanken finden sich bei H.  Schulze, PrStaatsR I2 1888, S.  571 f., der zwar grundsätzlich forderte, dass „[i]n einer richtig zusammengesetzten Volksvertretung […] alle vorhandenen­ berechtigten Lebenskreise, Kräfte und Richtungen des Volkes zum Ausdrucke und zur Geltung“ kämen, sich aber gegen das „allgemeine, gleiche Stimmrecht als ein ewiges Vernunft­ postulat“ wendete. Schließlich sei „[l]ängst […] von der Wissenschaft die Irrlehre widerlegt, dass Wähler zu sein ein allgemeines Menschenrecht“ darstelle. Richtigerweise handele es sich um eine „verantwortliche Pflicht im allgemeinen staatlichen Interesse“. 136 s. dazu F. Noellner, ZdtVerfRG 1867, S.  119 (125); H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 588 ff. sowie S. 635 m. w. N. zu weiteren Ausnahmen. 137 Dazu H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 585 ff.

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oder gar vier verschiedene Klassen, Kurien, Kollegien oder Bänke existierten, die gesondert saßen und abstimmten.138 2. Freies Mandat und Repräsentation Allen altständischen Anklängen zum Trotz galten die Landstände nicht mehr länger als instruierte Deputierte ihrer Klasse oder Wähler, sondern als Vertreter des ganzen Landes. Das Ideal eines repräsentativen, freien Mandats verdrängte die eigennützige und imperative Standschaft.139 Hermann Schulze brachte diese­ Hinwendung zum Repräsentationsprinzip dahin auf den Punkt, dass in den „neueren Verfassungen seit 1815“ die Landstände „in erster Linie das Wohl der Gesammtheit, das wahre Interesse des Staates zu vertreten [hätten…]. Ja, auch alle einzelnen Mitglieder derselben soll[t]en, trotz ihrer […] ständischen Ernennung, als Vertreter des ganzen Volkes betrachtet werden  […]. Die Vertretung soll[te], auch wenn sie nach Ständen gegliedert [war…], eine nationale sein und die Einheit des Volkes und Staates, nicht das Auseinandergehen in ständische Sonder­ interessen darstellen“.140 3. Landständische Kompetenzen Die Befugnisse der Kammern erstreckten sich in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität auf eine Mitwirkung „mittelst Berathung und Einwilligung oder Zustimmung, zuweilen oder in gewissen Fällen auch […] bloßer Berathung (Beirath, Gutachten), […] an der Gesetzgebung, […] an Bestimmung der Staatsauflagen“ und manchmal über diese klassische Aufzählung Johann Ludwig Klübers hinaus auch auf die Ausgabenseite des Budgets.141 Außerdem konnten „Gegenstände der Verfassung, der Rechtspflege, der Verwaltung, der Militäreinrichtungen, der Nationalwirthschaft […] zu landtäglicher Verhandlung kommen“.142

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Vgl. H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 634 f.; J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 433 ff., 436 ff. sowie S. 440 ff. je m. w. N. zum Recht der einzelnen Bundesstaaten. 139 Zur Bildung der beiden Kammern s. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S.22 ff.; W. Siemann, Staatenbund, 1995, S.  33 f. und aus dem 19.  Jahrhundert J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S.  431 f. sowie S.  440 ff. zur „Landstandschaft der Standesherren, und des ehemaligen un­mittelbaren Reichsadels; so auch der Geistlichkeit und Universitäten“ oder G. Meyer, DtStaatsR5 1899, S. 265, 270, 272 ff., 277 f. m. w. N. aus dem einzelstaatlichen Recht. 140 H. Schulze, PrStaatsR I2 1888, S. 558. 141 Vgl. A. Thier, Steuergesetzgebung, 1999, S.  670 ff.; M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 24 f. 142 So J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 445. Gegen die Vereinbarkeit „blos berathender Stände“ mit Art. 13 DBA 1815 H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 574 f. sowie S. 607 ff. zu den ständischen Kompetenzen und zur Gesetzgebung ders., II2 1854, S. 156 ff., 161 ff.

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a) Gesetzgebung Gesetze kamen durch Übereinstimmung beider Kammern und des Monarchen zustande. De facto stand so allen drei Kräften ein unüberwindbares Veto zu. Häufig war die landständische Mitwirkung auf Gesetze limitiert, die Freiheit und Eigentum der Staatsangehörigen tangierten.143 Jenseits dieses Rahmens verfügte die Regierung über ein selbständiges Verordnungsrecht. Eine Gesetzesinitiative blieb den Ständen vor der Märzrevolution üblicherweise vorenthalten. Anregun­gen, Änderungswünsche oder Verbesserungsvorschläge konnten sie lediglich mit unverbindlichen Gesetzespetitionen an den Fürsten bringen.144 Gerechtfertigt wurde diese legislatorische Präponderanz des Landesherrn mit dem „monarchischen Prinzip“.145 Der Konservative Friedrich Julius Stahl stellte noch 1856 in Abrede, dass ein landständisches Initiativrecht überhaupt mit dieser bundesrechtlichen Prämisse vereinbar wäre.146 Dagegen urteilte Heinrich Zoepfl 1841 – dem Vorbild des schlauen Fuchses des Äsop ähnlich –, dass ein Initiativrecht angesichts des absoluten monarchischen Vetorechts für die Landstände ohnehin nicht von Interesse sei.147 Forderungen nach einem Initiativrecht kamen erst in der Revolutionszeit verstärkt auf.148 b) Staatsfinanzen Erweiterte landständische Befugnisse existierten in aller Regel auf dem Feld der Staatsfinanzen.149 Materiell hatten die Kammern ein entscheidendes Wörtchen bei der Ausschreibung und Erhebung der Abgaben mitzureden. Dagegen blieb ihnen die Staatsausgabenseite häufig vorenthalten, so dass von einem vollständigen Budgetrecht keine Rede sein konnte. Mancherorts wendete sich das Blatt in Folge der französischen Julirevolution und sogar in Einzelstaaten, deren Verfassungen kein derartiges Recht verbrieften, entfaltete sich – teils gegen den Widerstand des 143

H. A. Zachariä, StaatsR II2 1854, S. 158 f. m. w. N. aus den einzelstaatlichen Verfassungsurkunden. 144 s. J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 445 f.; H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 323 sowie zu Initiative und Gesuchen H. A. Zachariä, StaatsR II2 1854, S. 163 f. 145 Vgl. H. A. Zachariä, StaatsR II2 1854, S. 161 ff.; H. Zoepfl, StaatsR2 1841, S. 161 f. Insbe­ son­dere hätte diesem Grundsatz widersprochen, das Sanktionsrecht des Monarchen anzutasten. 146 F. J. Stahl, Staatslehre3 1856, S. 374 f. Selbst das königliche Veto werde de facto durch das Initiativrecht geschwächt, weil monatelange öffentliche Aufmerksamkeit es „der Krone schwer [mache, …] Nein zu sagen“. S. 385 heißt es weiter, dass „nach monarchischem Princip dem Fürsten allein die Abfassung der Gesetze (Initiative, Proposition) zu[stehe], den Ständen nur die Petition. Dieß Alles [sei…] aber nicht im Widerspruche mit dem ständischen Rechte der Zustimmung zu den vom Fürsten entworfenen Gesetzen, das ein Ausfluß des konstitutionellen Princips ist.“ Es handelte sich, wie S. 372, Anm. * offengelegt, um eine überarbeitete Fassung der Flugschrift von 1845, die W. Durner, Antiparlamentarismus, 1997, S. 33 als die „vielleicht einflußreichste Stellungnahme gegen den Parlamentarismus“ des 19. Jahrhunderts bezeichnet hat. 147 H. Zoepfl, StaatsR2 1841, S. 162. 148 s. H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 323. 149 Aus dem zeitgenössischen Schrifttum s. etwa H. Zoepfl, StaatsR2 1841, S. 165 ff.

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Deutschen Bundes – eine analoge Praxis.150 Vielerorts unterlagen die Tilgung der Staatsschuld, die Veräußerung von Staatsgut, eine Aufnahme von Anleihen oder die Übernahme von Garantien der Beistimmung und Aufsicht der Stände. Ungeachtet ihrer konkreten Ausprägung gelten diese Befugnisse verbreitet als der „mächtigste Hebel der Kammern“ (Wolfram Siemann), um auf die Regierungspolitik Einfluss zu nehmen. De jure waren Möglichkeiten, diese Befugnisse zur Durchsetzung allgemeinpolitischer Forderungen zu instrumentalisieren, wenigstens partiell durch das Verbot des Art. 58 WSA 1820 ausgeschlossen, die Erfüllung der Bundespflichten durch eine landständische Verfassung zu behindern.151 Ergänzend bestimmte der zweite der „Sechs Artikel“ vom 28. Juni 1832152, dass in „Fälle[n], in welchen ständische Versammlungen die Bewilligung der zur Führung der Regierung erforderlichen Steuern auf eine mittelbare oder unmittelbare Weise durch die Durchsetzung anderweiter Wünsche und Anträge bedingen wollten“, gemäß Art. 25, 26 WSA 1820 eine Bundesintervention in Betracht komme. In verschiedenen einzelstaatlichen Verfassungen fanden sich entsprechende ausdrückliche Verbote, die Zustimmung mit einem allgemeinpolitischen Junktim zu versehen.153 Auf wie tönernen Füßen entsprechende Einflussmöglichkeiten schon rein faktisch standen, bewies der preußische Verfassungskonflikt in den 1860er Jahren, den Bismarck mit „Lückentheorie“ und „budgetlosem Regiment“ für sich entschied. c) Verfassungs- und Grundrechtsschutz Im staatsrechtlichen Kosmos der konstitutionellen Monarchie diente das Staatsgrundgesetz nicht der Begründung, sondern der Beschränkung und Kontrolle der landesherrlichen Macht.154 Den Kammern stand deswegen über ihre legislatorischen oder finanzverfassungsrechtlichen Befugnisse hinaus mit den Worten des bayerischen Rechtswissenschaftlers Joseph Pözl grundsätzlich das Recht zu, „die 150

Dazu A. Thier, Steuergesetzgebung, 1999, S. 670 ff. Zum Ganzen M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 24 f.; W. Siemann, Staatenbund, 1995, S. 34; G. Meyer, DtStaatsR5 1899, S. 266 sowie im Hinblick auf Steuerbewilligungen etc. W. Siemann, S. 33 (Zitat) und P. Unruh, Verfassungsbegriff, 2002, S. 213 f. oder zeitgenössisch J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 447 ff. m. w. N. 152 Abdruck bei M. Kotulla, DtVerfR II, 2007, S. 734. 153 s. etwa § 113 Württ­Verf­Urk 1819 („Die Verwilligung der Steuern darf nicht an Bedingungen geknüpft werden, welche die Verwendung dieser Steuern nicht unmittelbar betreffen.“) oder § 127 St­GG Go­Co 1852 („Die Landtage sind nicht befugt, ihre Verwilligungen an Bedingungen zu knüpfen, welche den Zweck und die Verwendung derselben nicht selbst betreffen.“). Der Konservative F. J. Stahl, Staatslehre3 1856, S. 389 f. qualifizierte eine „unbedingte Steuer­ verweigerung, welche die Regierung selbst in Frage stellt, welche den Fürsten nöthigt, den Ständen überall zu willfahren“, als unvereinbar mit dem „monarchischen Prinzip“, sprach den Ständen aber ebenso das Recht ab, „beliebig das vorgelegte Budget [zu] ändern […] durch Abstreichung auf der einen und Zusätze auf der andern Seite, so daß der Fürst gleichwie bei einem Gesetzentwurf diese Abänderungen […] annehmen oder das ganze Gesetz für den Staatshaushalt, sohin auch alle Steuern, fallen lassen“ müsse. 154 Vgl. R. Wahl, in: HdbStR I3 2003, § 2 Rn. 17. 151

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Verfassung […] ihrem ganzen Inhalte und Umfange nach zu wahren und für deren Aufrechterhaltung zu wachen“.155 Der Kasseler Liberale und Privatgelehrte Friedrich Murhard hielt es 1834 im Anschluss an Karl Salomo Zachariä für den Grund der konstitutionellen Monarchie, „dem Fürsten die Macht zum Bösen, d. h. zu einer mit dem (vernünftigen) Willen der Mehrheit streitenden Handlungsweise zu entziehen, nicht aber  […], die fürstliche Gewalt als eine Macht zur Beförderung des öffentlichen Besten zu beschränken“.156 Fünf Jahre zuvor hatte Robert v. Mohl in vergleichbarer Weise von der Aufgabe der württembergischen Stände gesprochen, den Fürsten an einem „Misbrauch der Staatsgewalt“ zu „hindern“ und überhaupt die verfassungsmäßigen Rechte der Untertanen sowie die Einhaltung der Verfassung abzusichern.157 Den Kammern stand zu diesem Zweck ein mehr oder weniger weites Petitions- oder Beschwerderecht zu, mit dessen Hilfe sie sich­ gegen verfassungswidriges Regierungshandeln wenden konnten. Zusätzlich konnten sie üblicherweise Beschwerden der Untertanen vor den Fürsten bringen oder wenigstens an die Ministerien überweisen.158 Den „Schlußstein eines constitutionellen Staatsgebäudes“ (Hermann SchulzeDelitzsch) stellte das Recht der Ministeranklage dar.159 Besonders deutlich brachte der Kasseler Oberappellationsrat Burchard Wilhelm Pfeiffer den fundamentalen Zusammenhang zwischen monarchischer Unverletzlichkeit und Ministerverantwortlichkeit dahin auf den Punkt, dass der „Regent eines konstitutionellen Staates  […], indem er alle Verantwortung für die Regierungs-Handlungen auf seine Minister [übertrage…], selbst jeder Verantwortung dafür entledigt“ sei. Stattdessen falle den Ministern, die seine „verfassungsmäßigen Rathgeber und Beistände […] in allen Angelegenheiten“ seien, „unmittelbar und ausschließend jede Folge einer solchen Handlung zur Last“. Kein Minister könne sich „auf einen­ allerhöchsten Befehl des Landesherrn […] berufen“; nur er erscheine „als der Angeschuldigte, wenn irgend eine Regierungs-Handlung als verfassungs- oder gesetzwidrig an­gefochten“ werde.160 155

J. v. Pözl, BayVerfR3 1860, S. 457 f. F. Murhard, KhVerUrk I, 1834, S. 121. K. S. Zachariä, Vierzig Bücher III2 1839, S. 1 ging von einer Kategorie von Konstitutionen aus, die die „Grenzen bestimmt[en], in welchen sich der Herrscher bei der Ausübung seiner Machtvollkommenheit zu halten“ habe. H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 261 sah die Verfassung als „Gewähr […] für Recht und gesetzliche Freiheit im Staate“. Zur Verfassungsbindung des Monarchen s. ferner J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 327 f. sowie zur Vereinbarkeit des „monarchischen Prinzips“ mit verfassungsmäßigen Beschränkungen H. A. Zachariä, S. 79 f. und L. v. Stein, Verwaltungslehre I/22 1869, S. 208 ff. 157 R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 453 f. 158 H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 375 ff., 441 ff. 159 In diesem Sinne R. v. Mohl, Ministerverantwortlichkeit, 1837, S. V. Ähnl. fällt die Äuße­ rung von H.  Schulze-Delitzsch, VerhPrAbgH IX/2 (1867), S.  69 im Zusammenhang mit der Reichsgründung aus (Zitat). Aus heutiger Sicht P. Popp, Ministerverantwortlichkeit, 1996, S. 1. Allg. zum „richterlichen Schutz der landständischen Verfassung“ J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 404 f.; H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 263, 271 ff., 278 ff., 611 sowie S. 277 und 609 f. zum Beschwerderecht. 160 VerKhLT 1831, Anl. Ziff. XC, S. 202 f. 156

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In der Verfassungsrealität zogen das Fehlen notwendiger Ausführungsbestimmungen über die Anklageerhebung, das Verfahren oder die Strafen der Minister161 enge Grenzen.162 Ein modernes Misstrauensvotum, das aus genuin politischen Gründen zum Amtsverlust führen kann, war als Ausdruck einer parlamentarischen Regierungsform undenkbar. Trotzdem klang eine gewisse politisch-faktische Ministerverantwortlichkeit in der unvollkommenen „Pflicht“ an, „der Ständeversammlung […] zu jeder Zeit und über alle Regirungshandlungen Rede zu stehen“ (Robert v. Mohl).163 Obgleich den Kammern nach heutigen Maßstäben keine wirkungsvollen Instrumente zur Verfügung standen, um die Regierung für ihre Politik zur Rechenschaft zu ziehen, sprach Georg Meyer den Volksvertretungen ein „umfassendes Recht der Kontrolle“ über das „ganze Gebiet der Verwaltung“ zu. De facto hatte es darin sein Bewenden, „an den Maßregeln der Regierung Kritik [zu] üben“.164 Das Fehlen jeder rechtlichen Konsequenz dieser politischen Ministerverantwortlichkeitsdimendürftig sion sollte offensichtlich durch die öffentliche Auseinandersetzung not­ kompensiert werden. Gewissermaßen ähnelte diese Konstellation der Lage, in der sich heute die Bundestagsopposition befindet, die aus eigener Kraft weder ein Misstrauensvotum noch einen schlichten Missbilligungsbeschluss zustande bringen kann. Auch sie verfügt bloß über Antrags- und Informationsrechte, die sich zu Regierungskontrolle und politischer Auseinandersetzung instrumentalisieren lassen, – allen voran das parlamentarische Untersuchungsrecht. Die für Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG typische politische Grundkonstellation wurde also im Konstitutionalismus gewissermaßen vorgeprägt. 4. Interpellations- und Fragerechte Erst in der Revolutionszeit bildete sich als Vorläufer heutiger Informationsinstrumente das Interpellationsrecht heraus. Dem lateinischen Ursprung „interpellatio“ nach handelt es sich um die Unterbrechung fremder Rede durch Zwischenrede, was sich auf die parlamentarische Tagesordnung und eine selbständige Anfrage beziehen dürfte,165 um einen Einspruch oder das simple „Sich-an-jeman 161

Ohne solche Regelungen hielt H. Zoepfl, StaatsR2 1841, S. 170 die Ministeranklage für ohne „practische Bedeutung“. Ebenso sprach H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 274 f. in Fn. 8 vom Fehlen der „die Ausführung bedingenden Voraussetzungen“. 162 Vgl. H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 274 f. unter Hinweis auf Art. 61 PrVerf 1850 in Fn. 8. Zum preußischen Zustand s. E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 66. Die Ansicht, dass eine Ministeranklage ohne Ausführungsbestimmungen ausscheide, brachte etwa Adolph Lette 1852 in einer Untersuchungsdebatte wegen der Dissidentenangelegenheit zum Ausdruck (VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 791). Berechtigte Schelte dieses Rechtszustands bei E. Lasker, DtJbPolLit I (1861), 177 ff. 163 R. v. Mohl, Ministerverantwortlichkeit, 1837, S. 10. 164 G. Meyer, DtStaatsR5 1899, S. 266 f. 165 S. Morscher, Interpellation, 1973, S. 44 und Fn. 4 sowie S. 45.

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den-Wenden“.166 Ein „echtes“ Interpellationsrecht in dem Sinne, dass einzelne Abgeordnete oder eine Minderheit unabhängig von einem konkreten Verhandlungsgegenstand selbständige Fragen an das Ministerium richten konnten, findet sich in Frühkonstitutionalismus und Vormärz nicht. Selbst in England und Frankreich etablierte sich erst in den 1830er Jahren ein selbständiges Fragerecht.167 In Deutschland beginnt sein Siegeszug, durch Carl v. Kaltenborn 1863 wohl zu Recht unter die Befugnisse der Volksvertretung zur „Controle über die gesammte politische Thätigkeit des Volkes und des Staats“ eingereiht,168 erst 1848/49.169 Vor diesen Jahren fand das Interpellationsrecht auch keinen Eingang in die Hand- und Lehrbücher des gemeinen Staatsrechts.170 166 s. etwa L. v. Doederlein, Lateinische Synonymik, 1849, S. 120 zu der ersten, F. K. Kraft, Dt.-lat. Lexikon I, 1824, S. 726 für die zweite bzw. H. G. Heumann, Handlexicon röm. Recht4 1869, S. 307 für die dritte Bedeutung. Die genuin zivile römisch-rechtliche Bedeutung einer Erinnerung an die Leistungszeit, sei es kraft Gesetzes („interpellatio legis“) oder durch eine Mahnung des Gläubigers („interpellatio hominis“), passt ersichtlich nicht hierher. s.  dazu J. S. Ersch/J. G. Gruber (Hg.), Encyclopädie Wissenschaften II/19, 1841, S. 361. 167 S. Morscher, Interpellation, 1973, S. 45. 168 C. v. Kaltenborn, ConstVerfR, 1863, S. 89. 169 Vgl. allg. H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 205 f. Beispielsweise sahen weder das Edict über die Landständische Verfassung des Großherzogthums Hessen noch die Verfassungs-Urkunde von 1820 das Interpellationsrecht der Abgeordneten gegenüber den Ministern vor. Stattdessen wurde es erst durch Art.  25 des Gesetzes, die landständische Geschäftsordnung betreffend, vom 10. Oktober 1849 eingeführt (GhHessRegBl 63 (1849), S. 519). Auch das Grundgesetz für das Herzogthum Sachsen-Altenburg von 1831 erfuhr erst durch das 32. Gesetz, eine Erläuterung des § 231 des Grundgesetzes in Bezug auf die landschaftliche Interpellationsbefugniß betreffend, vom 7. April 1849 (GSHAltbg 32 (1849), S. 96) eine ausdrückliche Regelung dahingehend, dass „das Ministerium [verpflichtet sei,  …] auf Anfragen und Interpellationen, welche in den Sitzungen der Landschaft von den Landtagsabgeordneten an dasselbe gerichtet werden, die gewünschte Auskunft oder Erklärung nach seinem Ermessen entweder sofort oder in der nächsten landschaftlichen Sitzung zu ertheilen, oder, dafern es auf jene Anfragen überhaupt oder wenigstens zur Zeit nicht zu antworten vermag, ersteren Falls die Gründe der Unthunlichkeit anzugeben, letzteren Falls aber die Zeit der Antwortsertheilung zu bestimmen.“ Zu der früheren Entwicklung in Baden H.-P. Becht, Bad. Parlamentarismus, 2009, S. 234 ff. 170 J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S.  455 zählt unter den Phasen der landständischen Beratungen unter 6) lediglich „die Anhörung der Redner, die Erörterung […] und die Berathschlagung […] und zwar in oder ohne Beiseyn landesherrlicher (zu Einmischung in die Erörterungen berechtigter oder nicht berechtigter) Commissarien“ bzw. unter 9) die „Communication unter den verschiedenen Abtheilungen der Ständeversammlung […] und mit der obersten Staatsbehörde oder dem Staatsoberhaupt“ auf, ohne auf ein irgendwie geartetes Fragerecht einzugehen. Von einem Interpellationsrecht findet sich auch unter den landständischen Rechten keine Spur (S. 442 ff.). H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 274 f. spricht in Fn. 2 davon, dass es „nicht als Pflicht betrachtet werden“ könne, „[a]uf s. g. Interpellationen Einzelner zu antworten“. In der Vorauflage von 1841 fand sich in dem Abschnitt S.  134 ff. nicht einmal dieser Hinweis. s.  außerdem den Abschnitt über die landständischen Rechte bei H.  Zoepfl, StaatsR2 1841, S. 159 ff. bzw. nach der Revolution H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 349, 351 f. In der 3. Aufl. von 1846 findet sich S. 276 in Fn. 4 lediglich der Hinweis, dass die „Minister [selbst in England…] berechtigt [seien,] jede Interpellation wegen abzuschliessender Verträge zurückzuweisen“. In der 2. Aufl., S. 160 ff. fehlt dies.

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Ungeachtet dessen ermöglichte die Anwesenheit der Regierungsmitglieder oder landesherrlichen Kommissare in den Sitzungen es den Kammern, im Zuge der­ Beratungen über einen konkreten Gegenstand formlose Fragen an das Gouvernement zu richten.171 Von einem Interpellationsrecht unterschied sich diese Informationsmöglichkeit dadurch, dass keine selbständigen, von einem konkreten Beratungsgegenstand losgelösten Fragen gestellt werden konnten, um eine allgemeinpolitische Auseinandersetzung mit der Regierung zu suchen. Den Ab­ geordneten stand nur die Möglichkeit zu Nachfragen zu den gerade verhandelten Gegenständen offen.

III. Zwischenergebnis Innerhalb des rudimentären bundesrechtlichen Rahmens vollzog sich die einzelstaatliche Verfassungsentwicklung überwiegend nach einem vergleichbaren Schema, das sich mit Manfred Botzenhart wegen des Fehlens wirkungsvoller Initiativrechte und letztverbindlicher Entscheidungsbefugnisse der Kammern als „System ‚hinkender Gewaltenteilung‘“ charakterisieren lässt.172 Obwohl man nicht verkennen darf, dass das konstitutionelle System, wie Rainer Wahl hervorgehoben hat, nicht statisch war, sondern im Sinne einer „Bewegungsgeschichte“ aufzufassen ist, in der die Faktizität der Machtverteilung je nach politischer Lage innerhalb der durch den Verfassungstext gezogenen Bahnen veränderlich blieb,173 bildete das geschilderte Grundmodell doch bis Ende 1918 das Fundament des politischen Lebens.

D. Bedeutung für die Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung Für die Genese parlamentarischer Selbstinformationsrechte ergibt sich aus den bundesrechtlichen Vorgaben sowie den großen Entwicklungslinien des „allgemeinen Staatsrechts“ in den Einzelstaaten ein zwiespältiger Befund. Einerseits bedeutete das „monarchische Prinzip“ eine schwere Hypothek, indem es jede ­selbständige, nach außen gerichtete Enquête- und Untersuchungstätigkeit als­ Verletzung monarchischer Bastionen erscheinen ließ. Der aus diesen Prämissen folgende Grundsatz, dass die Landstände grundsätzlich nicht mit nachgeordneten staatlichen Stellen oder privaten Dritten in Kontakt treten durften, zog der infor­ mationsrechtlichen Entwicklung enge Grenzen.

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Vgl. H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 610. Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 25 f. 173 Vgl. R. Wahl, in: Müßig (Hg.), Konstitutionalismus, 2006, S. 197 ff. 172

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Andererseits kam die Konstitutionalisierung in den Einzelstaaten als das notwendige Fundament für die Herausbildung moderner Repräsentativkörper mit Mitsprache- und Mitentscheidungsbefugnissen, u. a. auch durch Art. 13 DBA 1815 in Gang. Die für den Konstitutionalismus typische materielle Kompetenzausstattung der Landstände musste zwangsläufig formell-informationsrechtliche Begehrlichkeiten wecken. Das gilt primär, wenn auch keineswegs exklusiv für die legislativen und finanzverfassungsrechtlichen Mitwirkungsbefugnisse der Kammern. Mit der Verfassungsentwicklung nach 1815 ging zwangsläufig das landständische Interesse an sachlicher Information einher. In den Staaten, in denen Konflikte mit der Regierung an der Tagesordnung waren, ließen das Beschwerde- oder das Recht der Ministeranklage die Landstände die Notwendigkeit eigenständiger Informationsrechte besonders bitter spüren. Wie wenig landständische Kontrollkompetenzen ohne flankierende Selbstinformations­ rechte wert waren, weil die Kammern auf allgemeinkundige Tatsachen, offene­ Informationsquellen oder Auskünfte der Regierung (!) angewiesen blieben, zeigte das kurhessische Beispiel in den 1830er Jahren.174 Eine wesentliche Voraussetzung für die Entstehung eines politischen Untersu­ chungsrechts war außerdem das repräsentative Wesen der neuen Landstände: Eine durch das Volk gewählte Vertretung, in der „gewöhnliche“ Bürger die Gesamtheit repräsentieren, ist die Grundlage jeder organisierten parlamentarischen Opposition. Von Weisungen ihrer Komittenten unabhängige Repräsentanten des gesamten Landes, denen die Behütung der Verfassung und der Gesetze, ja des ­öffentlichen Wohls als selbständige Aufgabe anvertraut ist, sind besser für eine Kontrolle der Regierung und Verwaltung geeignet als gebundene Vertreter mit dem Auftrag, partikulare Standesinteressen zu verteidigen. Gewählte Abgeordnete, die ihre Legitimation auf das Wahlvolk zurückführen können, verfügen  – anders als landesherrlich oder durch eine gesellschaftliche Kaste bestimmte Landstände  – über die erforderliche Unabhängigkeit. Obwohl also weder das Bundesrecht noch die gliedstaatliche Verfassungsentwicklung dem parlamentarischen Selbstinformationsrecht unmittelbar günstig waren, schufen sie doch das Klima, in dem die Grundlagen des modernen Parlamentarismus und damit letzten Endes auch des Enquête- und Untersuchungsrechts gedeihen konnten.

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s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3.

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2. Kapitel

Die landständische Information in den Einzelstaaten A. Drei vermeintliche „Musterknaben“ Den Auspizien des Bundesrechts und den Grundzügen des landständischen Konstitutionalismus zum Trotz sollen die Verfassungen Sachsen-Weimar-Eisenachs (1816), Kurhessens (1831) und Hohenzollern-Sigmaringens (1833) wenigstens Frühformen des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts enthalten haben.175

I. Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach Aus dieser Gruppe vermeintlicher „Musterknaben“ sticht das Grundgesetz über die Landständische Verfassung des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach vom 5. Mai 1816 gleich doppelt hervor: Ihm wird nicht nur der Ruhm als „erste ständische Verfassung […] eines deutschen Bundesstaats […] in Folge des Bundesvertrags“ zuteil,176 sondern auch die erste Emanation eines parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts zugeschrieben.177 Bemerkenswert ist schon seine Entstehung, indem das Grundgesetz nicht einseitig oktroyiert, sondern im Wesentlichen mit Vertretern aller Stände ausgehandelt wurde.178 Der weima­rische 175 s. die Nachw. 1.  Teil Fn.  60. Der etwa in vorl  StGH, RGZ 102, 425 (428) ebenfalls als Beispiel genannte § 64 VerfUrk WaPy 1852 kommt dagegen nicht in Betracht, weil dem Landtag zwar vordergründig das Recht zugesprochen wird, „zur Aufklärung von Thatsachen und Vorbereitung seiner Berathungsgegenstände Ausschüsse niederzusetzen, welche zu ihren Sitzungen Sachverständige zuziehen können“, es aber andererseits heißt, dass er „indessen nur zur Staatsregierung“ in „unmittelbarer geschäftlicher Beziehung“ stehe. 176 So die Überschrift vor dem Abdruck des Staatsgrundgesetzes bei C. D. Voß (Hg.), Die­ Zeiten LI (1817), S. 3. 177 Vgl. StGH, AöR n. F. 4 (1922), 210 (213) und aus dem Schrifttum exemplarisch E. Zweig, ZfP 1913, 265 (273); A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 13; W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 3 (4 in Fn.  3); F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  12; J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR II2 1930, S. 685; J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S. 3; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 455 in Fn. 7; J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 62; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art.  44 Rn.  9; L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 2 Rn. 13; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 2; S. ­Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S.  45; N. Achterberg, ParlR, 1984, S.  151 und Fn.  136; K. Stern, StaatsR II, 1980, S. 59; H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 1; ferner W. Simons, Untersuchungsrecht, 1991, S. 29, 88 in Fn. 38 und B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 21. Freilich folgt mit oder ohne Begründung häufig der Hinweis, das vermeintliche Untersuchungsrecht sei niemals praktisch geworden. 178 Zur Entstehung des Staatsgrundgesetzes AllgStaatsVerfArch I (1816), S. 252 ff. mit Quellen; C. Venturini, Chronik XIII (1819), S. 420 ff.; C. W. Schweitzer, ÖffR SWE I, 1825, S. 28 f.; G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 11 ff. und F. Hartung, Großherzogtum Sachsen, 1923,

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Staatsminister Ernst August v. Gersdorff, der an dem Entwurf maßgeblichen Anteil hatte,179 berichtet in einem Brief an den Freiherrn v. Stein, dass sich Carl August in die „Angelegenheit mit einer großen Intensität guten Willens und zugleich mit großer Einsicht“ eingebracht, ja einige der „kräftigsten Stellen des Verfassungsgesetzes“ selbst angeregt habe.180 Im modernen Schrifttum finden sich dagegen durchaus Stimmen, die das liberale Potential des Staatsgrundgesetzes kritisch­ einschätzen.181 1. Bildung und Kompetenzen der Ständeversammlung Die allgemeine verfassungspolitische Grundausrichtung oder die Frage, ob eine Verfassungsurkunde eher progressiv oder konservativ ausgerichtet war, spielt für die Möglichkeit eines Enquête- und Untersuchungsrechts eine nicht zu unterschätzende Rolle. Mit den Worten des Großherzoglichen wirklichen Geheimrats und späteren Staatsministers Christian Wilhelm Schweitzer schuf das Staatsgrundgesetz „keine ganz neue, sondern verjüngte nur die alte Verfassung durch schärferen Ausdruck der landständischen Rechte, durch Aufnahme des Bauernstandes neben dem der Ritterguts-Besitzer und dem der Städter […] u. s. w.“. Einerseits könne „mit Recht gesagt werden, daß die […] Verfassung des Großherzogthums auf Ueberlieferungen ruhe“, andererseits, dass sie „als eine zeitgemäße Fortbildung des Ueberlieferten zu betrachten sey“.182 Die 31 Abgeordneten der Rittergutsbesitzer, Bürger und der Bauernschaft wurden aus ihren Ständen gewählt (§ 6 StGG SWE 1816).183 Besitzer mehrerer Rittergüter führten ebenso viele, Miteigentümer gemeinschaftliche Stimmen (§§ 14, 15 StGG SWE 1816). Die bürger- und die bäuerlichen Abgeordneten wurden nicht S. 288 ff. s. auch H. Blesken, ZVThGA 30 (1933), 117 (122), der unter Berufung auf Hartung davon spricht, dass das Staatsgrundgesetz „als ein landesherrliches Gesetz und nicht der modernen Doktrin gemäß als Vertrag zwischen Fürst und Untertan gelten sollte“. „Im Landtag selbst [sei…] die Verfassung oft ein Geschenk, eine Gabe genannt worden; vom Spender und Stifter des Grundgesetzes, von der ‚großmütig verliehenen Verfassung‘ [sei…] die Rede. Allerdings [werde…] sie auch, ohne daß sich dagegen ausdrücklicher Widerspruch [erhebe…], von liberaleren Abgeordneten als Vertrag bezeichnet“. 179 Vgl. F. Hartung, Großherzogtum Sachsen, 1923, S. 288 ff.; G. T. Stichling, E. C. A. v. Gersdorff, 1853, S. 49 ff. 180 Dem Großherzog wurde neben der Bundesgarantie für die Verfassung das Remonstra­ tionsrecht der Stände an die Bundesversammlung zugeschrieben, „wenn einem Erkenntnisse, welches das Appellationsgericht zu Jena, auf eine von dem Landtage erhobene Anklage, gesprochen hat[te, …] die Vollziehung verweigert würde“ (§ 129). Zu Gersdorffs Brief an Stein s. G. H. Pertz, Stein V, 1854, S. 64 sowie L. F. Ilse, GeschBV II, 1861, S. 101 f. 181 F. Hartung, Großherzogtum Sachsen, 1923, S. 305. 182 s. C. W. Schweitzer, ÖffR SWE I, 1825, S. 29; G. T. Stichling, E. C. A. v. Gersdorff, 1853, S. 48 f., 52. Zu den Ursprüngen G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 6 ff. und AllgStaatsVerfArch I (1816), S. 236 ff. 183 F. Hartung, Großherzogtum Sachsen, 1923, S. 290 ff. zur Zusammensetzung der Kammer.

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unmittelbar, sondern durch Wahlmänner gewählt. Aktiv wahlberechtigt war ohne „Unterschied der Religion […] jeder Einwohner einer Stadt, eines Fleckens oder eines Dorfs, der darinn ein Haus [besaß…], oder daselbst das Bürger- oder Nachbarrecht erworben hat[te]“ (§§ 18, 19 StGG SWE 1816). Das Staatsgrundgesetz stärkte das konservative Element, indem es den Rittergutsbesitzern als der relativ kleinsten Bevölkerungsgruppe mit elf Vertretern mehr als ein Drittel der Stimmen überließ. Die anderen beiden Stände mussten sich zu gleichen Teilen in die übrigen 20 Mandate teilen.184 Der geistliche Stand war nicht vertreten.185 Ungeachtet dieser Landtagsgliederung bekannte sich das Grundgesetz zu freiem Mandat und Repräsentativprinzip:186 Jeder „Abgeordnete, von welchem Stande, von welchem Kreise, von welchem Bezirke er auch sey“, galt als „Vertreter a­ ller Staatsbürger“ und hatte bei der Mandatsausübung „außer den Gesetzen keine andere Richtschnur anzuerkennen, als seine Ueberzeugung und sein Gewissen“ (§ 67 StGG  SWE  1816). Obgleich nach Ständen gewählt, bildete die Versammlung wegen § 78 StGG  SWE  1816 „ein Ganzes, nicht mehrere Kammern“. Beschlüsse wurden mit Mehrheit gefasst. Die Abstimmung erfolgte „einzeln, nie nach Ständen, Kreisen oder Bezirken“ (§§ 82, 83 StGG  SWE  1816). Nach § 66 StGG  SWE  1816 hatten alle Abgeordneten „gleiches Stimmrecht, ohne Unterschied des persönlichen Ranges, der Kreise, oder der Bezirke“. In Gestalt einer „Separatstimme“, zu der sich die Vertreter eines Standes oder Kreises vereinigen konnten, existierte eine gewisse altständische Reminiszenz: Eine solche Kuriatoder Provinzialstimme suspendierte den Mehrheitsbeschluss und der Landesherr behielt das letzte Wort (§§ 83 ff. StGG SWE 1816).187 Nach zeitgenössischem Urteil überwogen die repräsentativen die altständischen Elemente, weil „eine wahre Vertretung des Volkes gegeben“ war, unter der die „Gesammtheit der Staatsbürger und in ihr jeder Einzelne […] durch den Landtag repräsentirt“ wurde (Gustav Wilhelm Burckhard).188 Ganz ähnlich hob ­Johann Caspar Bluntschli 1863 allgemein als „Charakter der Repräsentativverfassung im Gegensatze zu der mittelalterlichen ständischen“ hervor, „dasz in jener die verschiedenen Stände des Volkes nicht berücksichtigt werden dürf[t]en, sondern

184 s. dazu G. Meyer, StaatsR SWE, 1884, S.  1 (6) und zu den Voraussetzungen der Standeszugehörigkeit C. W. Schweitzer, ÖffR SWE I, 1825, S. 78 ff., zum Wahlrecht S. 84 ff. und G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 22 ff. 185 Zu Kritik C. Venturini, Chronik XIII (1819), S. 426 f. 186 Vgl. H. Boldt, VerfGesch II2 1993, S. 78 sowie G. Meyer, StaatsR SWE, 1884, S. 1 (6): „wie alle deutschen Verfassungen der damaligen Zeit, eine Mischung von altständischen und modern repräsentativen Elementen“. s. ferner C. W. Schweitzer, ÖffR SWE I, 1825, S. 101 f., dass „alle Vorschriften, wodurch die Stimmfreyheit eines Abgeordneten auf irgend eine Weise beschränkt werden soll, […] gesetzwidrig und ungültig“ seien. 187 s. dazu G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 71 f. 188 G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 20. Vgl. auch H. Blesken, ZVThGA 30 (1933), 117 (121), der von einem „Doppelcharakter des Grundgesetzes“ spricht: „es hat ein halb ständisches, halb modern-konstitutionelles Gepräge“.

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dasz die Stellvertretung […], auch wenn sie nach Ständen oder Classen gegliedert [werde…], dennoch vornehmlich eine nationale [sei…], und die Einheit des Volkes und des States, nicht die Gespaltenheit derselben in die Sonderinteressen der Stände“ verkörpere.189 Die verfassungsrechtlichen Eckdaten waren also für die Entstehung eines Enquête- und Untersuchungsrechts nicht ungünstig. Ordentliche Landtage fanden im Dreijahresturnus ab der ersten Januarwoche statt (§ 54 StGG  SWE  1816). Außerordentliche Landtage wurden im Fall eines Regentenwechsels oder auf Anordnung des Großherzogs abgehalten (§§ 54 und 127 StGG SWE 1816).190 Zwischen zwei Landtagen wurden die Landstände nicht durch einen permanenten Ausschuss, sondern durch das Landständische Direk­ torium vertreten, das „beständig den Faden aller landständ. Geschäfte zu behalten  und darüber zu wachen [hatte], daß nichts gegen die Verfassung geschehe, wohl aber alle, von dem Landtage und von dem Fürsten gefaßten, Beschlüsse wirklich zur Ausführung“ kamen.191 Gebildet wurde dieses Direktorium aus dem unter den Rittergutsbesitzern gewählten Landmarschall  – dieses Amt versah zwischen 1817 und 1847 der bei seiner Ernennung 31-jährige Georg Riedesel Freiherr zu Eisenbach192 – sowie zwei aus dem Kreis der Abgeordneten gewählten Gehilfen. Mit seinem Katalog landständischer Befugnisse (§ 5 StGG SWE 1816) näherte sich das Staatsgrundgesetz nach Georg Meyers Urteil bereits beachtlich späteren repräsentativen Standards an:193 An erster Stelle rangierte das „Recht, gemeinschaftlich mit dem Landesfürsten, und den von diesem beauftragten Behörden, die Staatsbedürfnisse, so weit dieselben aus Landschaftlichen Cassen und aus dem Vermögen der Staatsbürger zu bestreiten [waren…], zu prüfen und die zu­ ihrer Deckung erforderlichen Einnahmen und Ausgaben festzusetzen (Bestimmungen der Etats)“. Außerdem mussten die Landstände „über jede Besteuerung und andere Belastung der Staatsbürger […] gehört […] werden; dergestalt, daß ohne dieses Gehör, und ohne ihre […] ausdrückliche Verwilligung, weder Steuern oder andere Abgaben und Leistungen im Lande ausgeschrieben und erhoben, noch Anleihen auf die Landschaftlichen Cassen und das Vermögen der Staats­ bürger gemacht, noch sonst Finanz-Maaßregeln ergriffen werden [durften…], welche das Landes-Eigenthum, oder das Eigenthum der Staatsbürger in Anspruch nehmen, oder die Gefährdung des Landständischen Interesses nach sich ziehen“ konnten. Flankiert wurden diese Befugnisse durch das Recht, „die Rechnungen über bestrittene Staatsbedürfnisse […] zu prüfen, und sowohl über darin be 189

J. C. Bluntschli, StaatsR I3 1863, S. 418 sowie S. 478 ff. die Gegenüberstellung des ständischen und repräsentativen Systems. Ähnl. Charakterisierung des Repräsentativsystems bei J. C. v. Aretin/K. v. Rotteck, StaatsR I2 1838, S. 160 bei 4); H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 576 f. und J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 392 f. 190 C. W. Schweitzer, ÖffR SWE I, 1825, S. 96 f.; G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 46 f. 191 s. dazu G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 68 f. 192 Vgl. H. Blesken, ZVThGA 30 (1933), 117 (137 ff.). 193 G. Meyer, StaatsR SWE, 1884, S. 1 (6).

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merkte Anstände Auskunft, als überhaupt über die Verwendung von Einnahmen Landschaftlicher Cassen, und aus dem Vermögen der Staatsbürger, Rechenschaft zu verlangen“.194  – Solche Informationsrechte im Hinblick auf die Staatsfinanzen waren während des Frühkonstitutionalismus nichts Außergewöhnliches. Für die Entwicklung eines allgemeinen und thematisch unbeschränkten Enquête- und Untersuchungsrechts spielen sie aufgrund ihrer sachlichen Beschränktheit keine Rolle; sie sind kein Ausdruck eines allgemeinen Informationsrechts oder einer­ generellen Kontrollaufgabe der Kammern, sondern lediglich dem Umstand geschuldet, dass der Landesherr das von den Ständen repräsentierte Volk um eine Beisteuer zu den Staatslasten anging.195 An der Gesetzgebung waren die Landstände in der Weise beteiligt, „daß neue Gesetze, welche entweder die Landesverfassung [betrafen…], oder die persönliche Freiheit, die Sicherheit und das Eigenthum der Staatsbürger in dem ganzen Lande, oder in einer ganzen Provinz, zum Gegenstand [hatten…], und eben deßhalb das Allgemeine [angingen…], ohne ihren […] vorgängigen Beirath und ihre Einwilligung nicht erlassen werden“ durften. Ein „Vorschlag“ zu neuen Gesetzen konnte gemäß § 117 StGG SWE 1816 – für die damalige Zeit bemerkenswert – „sowohl von dem Fürsten dem Landtage, als von dem Landtage dem Fürsten, vorgelegt werden“.196 Wenigstens waren so die Voraussetzungen für ein Bedürfnis nach Vorbereitungsenquêten dem Grunde nach gegeben. – An der authentischen Auslegung der Gesetze hatte die Landesvertretung keinen Anteil: Nach „doktrineller Interpretation der höchsten Landes-Justizstellen, der Landesregierungen zu Weimar und zu Eisenach, und des Ober-Appellationsgerichts zu Jena“ erteilte der Großherzog „entweder der übereinstimmenden Auslegung dieser Justizstellen, oder, wenn sie von einander abweichen sollten, einer derselben die Sanktion“.197 Als Ausdruck ihrer Kontroll- und Verfassungsschutzfunktion verfügten die Landstände über das Recht, dem Landesherrn über Mängel und Missbräuche in Gesetzgebung und Verwaltung vorzutragen und Gutachten zur Abhilfe anzubringen (§ 5 Nrn. 4 und 5 StGG SWE 1816). Sie konnten „bei dem Fürsten Beschwerde und Klage […] erheben, gegen die Minister und gegen andere Staatsbehörden, über derselben Willkühr, und über deren Eingriffe in die Freiheit, die 194 Stoff für Meinungsverschiedenheiten sollte liefern, dass ausgerechnet die Domänen­ verwaltung, also die klassische Quelle zur Finanzierung der Staatsausgaben, die Steuerbewilligungen vorging, von diesen Rechten ausgenommen war (F. Hartung, Großherzogtum Sachsen, 1923, S. 309). 195 Zur Rolle der Landstände vgl. J. Heckel, in: HdbDtStR II, 1932, S. 361 f. sowie R. Wahl, in: HdbStR I3 2003, § 2 Rn. 23 zur Bedeutung der Stände als Mittler zwischen Volk und Regierung in der Staatsfinanzierung und T. Nipperdey, DtGesch 1800–1866, 1998, S.  273 zur Konsolidierung der Finanzen als landständischem Daseinszweck. 196 s. dazu G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S.  56 ff. Ferner H.  Blesken, ZVThGA 30 (1933), 117 (121 f.). 197 G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 58.

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Ehre und das Eigenthum der Staatsbürger, so wie in die Verfassung des Landes“.198 Ausgeübt wurden diese Kontrollrechte anscheinend niemals.199 Wäre dies der Fall gewesen, hätte das Fehlen eines Selbstinformationsrechts die Durchschlagskraft jedes landständischen Kontrollversuchs empfindlich geschwächt. 2. § 91 StGG SWE 1816 als frühes Enquête- und Untersuchungsrecht? Sowohl die Zusammensetzung der Ständeversammlung als auch ihre Kompetenzausstattung schufen prima facie einen für die Herausbildung parlamentarischer Selbstinformationsrechte günstigen Rahmen. Und tatsächlich scheint das Staatsgrundgesetz eine frühe Ausprägung des Enquête- und Untersuchungsrechts enthalten zu haben,200 indem § 91 StGG SWE 1816 die Ständeversammlung ermächtigte, wo immer sie es dienlich fand, „Ausschüsse zur Bearbeitung einzelner Gegenstände, zur Anstellung von Untersuchungen, zur Abgebung von Gutachten, zur Abfassung von Schriften“ niederzusetzen.201 Diese Ausschüsse wurden aus drei oder fünf Abgeordneten gebildet, die – mit Ausnahme des Vorsitzenden, den der aus den Rittergutsbesitzern gewählte Landmarschall (§ 57 StGG SWE 1816) ernannte –, „ohne besondere Rücksicht auf Stand und Provinz“ gewählt wurden (§ 92 StGG SWE 1816). Nach Möglichkeit besetzte man die Kommissionen mit durch Vorbildung oder Beruf sachlich qualifizierten Abgeordneten. Die Bauernschaft geriet dabei ins Hintertreffen.202 In den Sitzungen führte ein Ausschussmitglied Protokoll (§ 93 StGG  SWE  1816). Die Kommissionsbeschlüsse kamen „zum mündlichen oder schriftlichen Vortrage, bei dem Landtage“. Nähere Regelungen, etwa über besondere Ausschussbefugnisse, enthielten die §§ 91 ff. StGG SWE 1816 nicht. Eine konkretisierende Geschäftsordnung gab es nicht; der Landtag tagte auf der Grundlage der Verfassung.203 198 Gemäß § 113 StGG SWE 1816 kam die Beschwerde und keine förmliche Klage in Betracht, „wenn die Unzweckmäßigkeit einer Verordnung, oder einer anderen Maaßregel, den Landtag zum Gebrauche seines Rechtes auffordert[e]“. Der Fürst hatte den Staatsdiener bzw. die Behörden gemäß § 114 StGG SWE 1816 zur Rechtfertigung aufzufordern. Erschien ihm diese unzureichend, konnte er Abhilfe schaffen oder eine förmliche Untersuchung anordnen. Demgegenüber durfte „Klage […] erhoben werden, wenn Unterschleife bei öffentlichen­ Cassen, Bestechlichkeit, absichtlich verweigerte oder verzögerte Rechtspflege, absichtliche Verzögerung in der Verwaltung, oder andere willkührliche Eingriffe in die Verfassung oder in die gesetzliche Freiheit, die Ehre und das Eigenthum der Staatsbürger, zur Kenntniß des Landtags“ kamen. Nach Klageerhebung war das Oberappellationsgericht erstinstanzlich und für Rechtsmittel zuständig (§§ 113, 115 StGG SWE 1816). s. zum Ganzen G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 53 ff. 199 F. Facius, in: Schwabe (Hg.), Regierungen, 1983, S. 63 (69). 200 Vgl. die Nachw. in Fn. 21 (Prolog). 201 Allg. wurden laut G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S.  70 „[a]lle, im Landtage zur Entscheidung kommenden, Geschäfte […] einzelnen Abgeordneten zum Vortrage zugetheilt“. 202 H. Blesken, ZVThGA 30 (1933), 117 (168 ff.). 203 Vgl. H. Blesken, ZVThGA 30 (1933), 117 (125 ff.).

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a) Gegenbeispiele aus den Anfängen der Staatspraxis Sollte § 91 StGG SWE 1816 tatsächlich das Selbstinformationsrecht enthalten haben, von dem das Schrifttum üblicherweise ausgeht,204 müssten sich in der landständischen Praxis konkrete Anwendungsbeispiele finden lassen. Im Gegensatz dazu wendete sich die Landesvertretung in dem hier untersuchten Zeitraum ausschließlich an die Regierung, wenn sie weitere Informationen benötigte. Eigene Untersuchungen wurden nicht angestellt oder in Betracht gezogen, Zeugen oder Sachverständige nicht geladen oder angehört, ja nicht einmal unmittelbar mit Behörden korrespondiert. Schon die in der Interzessionalschrift vom 3.  Februar 1819205 dokumentierte Behandlung verschiedener Petitionen und Beschwerden liefert keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Abgeordneten § 91 StGG SWE 1816 als selbständiges Enquête- und Untersuchungsrecht interpretiert hätten. Vielmehr wurden die Gesuche „Sr. K. H. zu Verfügung einer Untersuchung und zu huldreichster Berücksichtigung vorgetragen“. Die Landstände sahen sich also offensichtlich nicht zu eigenen Erhebungen befugt oder imstande, sondern ersuchten den Landesherrn um behördliche Ermittlungen. Deutlich wird diese Zurückhaltung z. B. gegenüber einer Beschwerde von Mediatisierten, die sich über Abgaben beklagten, obwohl ihnen Steuerfreiheit zugesichert worden war. Obwohl ein Abgeordneter einen urkundlichen Nachweis anbot, hielt „sich […] der getreue Landtag nicht für befugt […], die übergebenen Documente näher zu prüfen“, sondern ersuchte den Großherzog „um Verfügung einer […] Untersuchung“. Ebenso zog die Ständeversammlung auf die Bitte eines Dorfes, historische Abgabenungleichheiten abzustellen, eigene Erhebungen nicht in Betracht. Wieder wurde der Landesherr ersucht, „der Administrations-Behörde eine genaue Untersuchung der […] Umstände aufzugeben, und beym Ergebniß der Wahrheit die Unter­thanen  […] gleich stellen zu lassen“. Der Landtag verlangte also keine Unterrichtung über das Ergebnis, sondern gab die Sache endgültig an das Ministerium ab. Gegenüber Klagen verschiedener Gemeinden, die 1817 „angeordnete Vermessung der Flur“ verschärfe die durch „Krieg, Theurung, […] das Mißjahr 1816 und andere Unglücksfälle“ prekäre Lage, beschränkte man sich ebenso auf die Bitte, „daß von den Behörden […] nähere Erklärungen eingezogen“ und begründeten Beschwerden abgeholfen werde. In der Sache der Witwe Brunnquell, deren verstorbener Ehemann zu Lebzeiten um den Erlass eines Fehlbetrags in der „Kriegs-­Casse-­ Rechnung“ gebeten hatte, ersuchten die Stände den Großherzog, der „administrirenden Behörde ihr Gutachten“ abzufordern; dieses Mal forderte man – wohl weil fiskalische Interessen betroffen waren – „nach dessen Eingang solches dem getreuen Landtage zu seiner anderweiten Berathung und Erklärung mittheilen zu lassen“. Analog wurde die Petition des Weimarer Legationsrats Falk auf Förderung einer Unterrichts- und Erziehungsanstalt behandelt. Gegenüber einem „Gesuch um Ertheilung der Ritterguts-Rechte“ monierte der Landtag, dass der 204

s. die Nachw. 1. Teil in Fn. 21. VerhLT SWE I (1818/19), S. 479 ff.

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„Bittsteller […] die ihm angeblich zustehenden Rechte eben so wenig nachgewiesen [habe…], als eine Prüfung derselben durch die geeignete Behörde vorgenommen zu seyn“ scheine. Wieder wurde der Landesherr gebeten, „von der Gßhzgl. Regierung in Eisenach nähere Erkundigung ein[zu]ziehen und dann dem getr. Landtage bey seiner nächsten Zusammenkunft die Ergebnisse mittheilen zu lassen“.206 Soweit die Abgeordneten sich also in der Sache für zuständig hielten, verlangten sie Untersuchung und Auskunft; von einem Selbstinformationsanspruch ist demgegenüber keine Spur zu sehen. Obwohl diese kurze Übersicht aus der Session vom Dezember 1818 bis zum Februar 1819 keinen umfassenden Einblick in die Staatspraxis gibt, zeigen die genannten Beispiele doch deutlich, dass der vermeintlich brisante Paragraph in Wahrheit kein Enquête- und Untersuchungsrecht war. Offenkundig interpretierten die Deputierten § 91 StGG SWE 1816 nicht als Informations- oder Kontrollmittel; andernfalls hätten sie auf diese Bestimmung sicherlich zurückgegriffen oder doch wenigstens mit ihrer Anwendung gedroht. Die als Ersatz an den Großherzog gerichteten Ersuchen hatten durchweg interpellationsartigen Charakter. Indem die Landstände die Regierung zu Nachforschungen und Auskünften aufforderten, nahmen sie kein eigenständiges Selbstinformationsrecht in Anspruch. Bestätigt findet sich diese Vermutung in dem Repertorium der Landtagsverhandlungen des Ministerial-Archiv-Registrators Karl Gernhardt von 1862, das keine zu einem­ Enquête- und Untersuchungsrecht passenden Einträge enthält.207 b) Verfassungsrechtliche Argumente gegen ein Enquête- und Untersuchungsrecht Die Vorstellung, die weimarischen Landstände hätten sich unmittelbar bei nachgeordneten staatlichen Stellen oder Dritten informieren können, ist auch mit dem damaligen Staatsverständnis inkompatibel. Plakativ spitzte Karl v. Rotteck die konstitutionelle Doktrin, dass die Landesvertretung weder Behörden noch Private unmittelbar kontaktieren dürfe, dahin zu, dass sie über keine eigene „Untersuchungsgewalt“ verfüge, sondern  – wie es die Stände in Sachsen-Weimar-­ Eisenach getan haben  – Informationen lediglich von der Regierung beziehen dürfe.208 In dem ernestinischen Kleinstaat wurde noch ein weiteres, einem Enquête- und Untersuchungsrecht ungünstiges Prinzip auf die Spitze getrieben: Der „Verkehr zwischen der obersten Staatsbehörde […] und dem Landtage“ fand nicht 206

VerhLT SWE I (1818/19), S. 19 (Hervorhebung nur hier). s. unter „Ausschüsse“, „Sachverständige“, „Untersuchungen“, „Zeugen“ K. Gernhardt, Repertorium, 1862, S. 14 f., 180, 220 und 240. Fundstellen zu parlamentarischen Ausschüssen beziehen sich auf andere Fragen, die übrigen auf gerichtliche „Untersuchungen“ etc. 208 K. v. Rotteck, VernunftR II2 1840, S. 256 und ähnl. C. v. Kaltenborn, ConstVerfR, 1863, S. 89. Insoweit stellte E. Zweig, ZfP 1913, 265 (273 ff.) das vermeintliche Untersuchungsrecht des § 91 StGG SWE 1816 zu Unrecht der zurückhaltenden Position Rottecks gegenüber. 207

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mündlich, sondern „regelmäßig in Schriften Statt“.209 Der Regierung stand nicht einmal das sonst ubiquitäre Zutritts- und Rederecht zu,210 so dass zunächst selbst formlose Nachfragen in den Beratungen als Informationsmittel wenigstens teilweise ausfielen. Erst 1850 fand diese sonst selbstverständliche Befugnis auch allgemein Eingang in das Staatsgrundgesetz.211 Zu guter Letzt ist es unwahrscheinlich, dass Carl August den Landständen ausgerechnet ein mit der damals herrschenden monarchischen Staatsauffassung unvereinbares Recht zu Enquêten oder Untersuchungen zugestehen wollte. Wie stark der Monarch am „monarchischen Prinzip“ festhielt, verdeutlichte Anfang 1819 ein Streit mit den Landständen: Als der Landtag das Recht beanspruchte, im Gesetzgebungsweg über Konzessionen von Wege-, Brücken- und Pflastergeldern an „Gemeinden oder Privatos“ mitzuentscheiden,212 verwahrte sich der Großherzog gegen die „irrige, mit der Verfassung nicht übereinstimmende Behauptung“, dass „die gesetzgebende Gewalt nicht dem Landesfürsten allein, sondern dem Landesfürsten und dem Landtage zustehe“. Die „Regierungsform des Großherzogthums [sei…] nicht Dynarchie, sondern constitutionelle Monarchie“; alle „Staatsgewalten [müsse deswegen] in der Person des Monarchen vereinigt“ bleiben.213 Dieses 209 Vgl. C. W. Schweitzer, ÖffR SWE I, 1825, S. 104 f.; G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 72 f. 210 Vgl. H. Blesken, ZVThGA 30 (1933), 117 (178 f.). 211 Die revidierte Verfassung wich von der Regel des § 88 Abs. 2 StGG SWE 1816, dass der Großherzog bloß unter besonderen Umständen „Commissarien […] zu einzelnen Sitzungen des Landtags abordnen“ konnte, zugunsten des allgemeinen Zutritts- und Rederechts ab: Fortan durften nach § 29 Abs. 2 RevGG SWE 1850 „[a]llen Be­ra­thungen und Schlußfassungen des Landtages […] landesfürstliche Kommissare beiwohnen, welche berechtigt [waren …], an den Be­ ra­thung­en Theil zu nehmen“. Im Gegenzug hatten sie „aber auch auf Anfragen Aufschlüsse zu ertheilen oder den Grund anzugeben […], weshalb dieselben nicht ertheilt werden könn[t]en.“ Zu einem Verlangen der Regierung aus den 1840er Jahren, um Missverständnissen unverzüglich und vor Publikation der Landtagsmaterialien entgegentreten zu können, s. H. Blesken, ZVThGA 30 (1933), 117 (179). 212 Unterthänigste Erklärungsschrift vom 16. Januar 1819. die Einführung von Strafabgaben und die dabey eintretende Landständische Mitwirkung betreffend, VerhLT SWE I (1818/19), S. 213 ff., 215 f. 213 Höchstes Decret vom 28. Januar 1819. auf die unterth. Erklärungsschrift vom 16. Januar, die Straßenabgaben betreffend, VerhLT SWE I (1818/19), S. 216. Als das Staatsministerium „bey Anordnung der Straßenbaue“ – „vielleicht verleitet von zu regem Eifer“ – den Etat überschritten und ohne landständische Billigung „bedeutende Geldsummen“ verwendet und „eine sehr ansehnliche Masse Schulden“ aufgenommen hatte, charakterisierte der Landtag das Zusammenspiel der gesetzgebenden Faktoren so, dass die „Behörden, von den Bedürfnissen der Staatsverwaltung am vollständigsten unterrichtet, […] den Vorschlag [hätten]; der Landtag, die Kräfte des Landes und die Lage der Staatsbürger am besten kennend, [habe darauf…] die Prüfung und Verwilligung; der Fürst, beides vergleichend und abwägend, [erteile…] die Sanction; hieraus [entstehe…] ein Gesetz, das der Regent promulgiren [lasse…], und mit dessen Ausführung wieder die […] Behörden beauftragt“ würden. Gleichwohl konzedierte der Landtag, dass ein „Ueberschreiten der verfassungsmäßigen Gränzen“ sich „dann als entschuldigt denken [lasse], wenn eine unwiderstehliche äußere Gewalt [hereinbreche…], die alles vor sich [niederwerfe…], oder ein furchtbares Natur-Phänomen sich [ereigne…], welches augenblickliche außerordentliche Anstrengung aller Kräfte des Staates nothwendig“ mache (VerhLT SWE I (1818/19), S. 391 f., 394).

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Beispiel entspricht dem zeitgenössischen Urteil Gottfried Theodor Stichlings, dass das ganze Verfassungswerk auf Carl Augusts Ablehnung „der, so oft mißverstandenen und mißbrauchten und selbst logisch unhaltbaren, Theorie der Theilung der Staatsgewalten“ beruhte.214 Ein unmittelbares landständisches Selbstinformationsrecht fügt sich ersichtlich nicht in diesen Rahmen. Um einiges unpassender wäre ein politisches Untersuchungsrecht, das es der Ständeversammlung ermöglicht hätte, gesellschaftlichen Missständen oder Verfehlungen des Staatsapparats ohne Einverständnis oder gegen den Willen des Gouvernements auf den Grund zu gehen. c) Bestehen anderer Informationsmechanismen Gegen eine enquête- und untersuchungsrechtliche Interpretation von § 91 StGG SWE 1816 spricht außerdem, dass das Staatsgrundgesetz offenbar auf andere Mechanismen setzte. Insoweit entsprach es den Staatsvorstellungen auf der Grundlage des „monarchischen Prinzips“ sicherlich am Besten, dass der Landesherr gemäß § 88 Abs. 2 StGG SWE 1816, sofern „bei neuen Gesetzes-Vorschlägen, oder andern wichtigen Anträgen, mündliche Erörterungen den Gang der Geschäfte befördern“ konnten, „Minister und andere Staatsbeamte, als seine Commissarien, zu einzelnen Sitzungen des Landtags abordnen konnte, welche den Gegenstand nach seinen Beweggründen zu entwickeln, jedoch der Landständischen Abstimmung und Beschlußfassung nicht beizuwohnen“ hatten.215 In der Regel versorgte der Großherzog die Landstände bereits in den Propositionen mit den erforderlichen Fakten. Von dem Recht, Landtagskommissare in die Sitzungen zu entsenden, wurde derart selten Gebrauch gemacht, dass im Schrifttum von „Beziehungen […] denkbar unpersönlichster Art“ zwischen Regierung und Ständen die Rede ist.216 Nach § 5 Nr. 7 StGG SWE 1816 hatten die Landstände das „Recht, zur Erleichterung der Ausübung [ihrer…] Befugnisse, […] Landräthe zu wählen und dem Fürsten zur Bestätigung vorzustellen“. Diese Landräte nahmen eine eigentümliche Stellung zwischen den Ober- und Unterbehörden ein und hatten „[a]ls Kommissare der Oberbehörden […] auf die Verwaltung ein wachsames Auge zu führen und, unter Verantwortlichkeit gegen das betroffene Kollegium, an Ort und Stelle einzuwirken, oder dasselbe von ihren Wahrnehmungen, Beschwerden und den darauf gestützten Anträgen in Kenntniß zu setzen. Es [stand…] ihnen in dieser Eigenschaft eine fortwährende Aufsicht über die Verwaltung der Polizei […] sowie der Rentämter und Steuer-Einnahmen […] zu“. Vor allem aber sollten sie mit „ihren Erfahrungen und ihren Gutachten“ den „Landtags-Vorstand bereitwillig […] unterstützen“.217 214 G. T. Stichling, E. C. A. v. Gersdorff, 1853, S.  52. s.  auch F. Hartung, Großherzogtum Sachsen, 1923, S. 288. 215 Vgl. H. Blesken, ZVThGA 30 (1933), 117 (172, 178 f.). Dass von dieser Möglichkeit im Vormärz nur selten Gebrauch gemacht wurde, dürfte das geringe Bedürfnis der Abgeordneten an über die landesherrlichen Propositionen hinausgehenden Informationen illustrieren. 216 H. Blesken, ZVThGA 30 (1933), 117 (179). 217 G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 82 f.

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Das Landständische Direktorium hatte nicht nur zwischen den Landtagen „beständig den Faden aller landständ. Geschäfte zu behalten“, sondern gemäß § 62 Nr. 2 StGG SWE 1816 „Alles so vorzubereiten, daß der Landtag jedesmal sogleich mit seiner Eröffnung in volle Thätigkeit gesetzt werden“ konnte. Zu diesem Zweck sollten ihm für die „sehr wichtigen“ Gegenstände „hinlängliche Zeit vor Eröffnung des Landtags, die nöthigen Mittheilungen gemacht werden“. Dem Vorstand stand es „frei, in Ansehung der ihm erforderlichen Nachrichten und Aufschlüsse sich unmittelbar [!], sowohl vor dem Landtage, als während des Landtags, an die Landesbehörden und an das Staats-Ministerium zu wenden“. Modalitäten und Form der Antwort standen im Ermessen der ersuchten Stelle. In der ­Praxis ­erfolgte in der Regel wohl eine „Vorlegung der Akten selbst“ statt einer „Mit­theilung aus denselben“.218 Wirken diese Instrumente auch prima facie wie Vorboten eines parlamenta­rischen Enquête- und Untersuchungsrechts – Regierungsakten gehören unbestritten zu den wichtigsten Informationsmitteln des Art. 44 GG219 –, verwahrte sich die Regierung doch mit dem Höchsten Abschieds-Dekret vom 28. Januar 1842 ausdrücklich gegen die Annahme, dass aus § 62 Nr. 2 StGG SWE 1816 ein Aktenvorlagerecht des Landtagsvorstands folgen könne. Zugleich signalisierte sie die Bereitschaft, „wie bisher, wo es […] zur Beförderung des Zwecks angemessen und sonst unbedenklich [erscheine…], die Akten selbst an den Landtagsvorstand und durch diesen an den getreuen Landtag gelangen zu lassen; allein ein Recht auf diese Mittheilung [könne man…] nicht anerkennen“.220 Die Regierung charakterisierte die bisherige Aktenvorlage also keineswegs als Ausdruck eines (Selbst-)Informationsrechts, sondern verstand sie als eine von mehreren denkbaren Modalitäten zur Fremdinformation der Stände durch staatliche Stellen. Das Abschieds­dekret verdeutlicht außerdem, dass Großherzog Karl Friedrich ebenso wenig wie sein Vater gewillt war, dem Landtag weitergehende Rechte einzuräumen. Diese Episode spricht dafür, dass § 91 StGG SWE 1816 nicht als Enquête- und Untersuchungsrecht interpretiert wurde. Andernfalls hätte man das Aktenvorlageersuchen kaum auf § 62 Nr. 2 StGG SWE 1816 gestützt. Am Vorabend der Märzrevolution kam die Weigerung der Regierung, einem Aktenvorlageverlangen des liberalen Abgeordneten Oskar v. Wydenbrugk zu entsprechen, am 21. April 1847 im Landtag zur Sprache. Landmarschall Georg ­Riedesel Freiherr zu Eisenbach erklärte, dass „[m]an […] sich wohl dabei beruhigen [müsse, weil…] Geheime-Kanzlei-Akten […] allerdings mehr die Natur von Privat-­Akten [hätten], und das Grundgesetz […] dem Landtage nur das Recht [gebe], jederzeit Nachricht und Aufschlüsse zu fordern“, und nahm in dieser ungeschliffenen Form ein Argument vorweg, das heute dem Schutz des Kernbereichs exekutiver 218

s. dazu G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 68. Zu ihrem Stellenwert gegenüber Zeugenaussagen s. nur BVerfGE 67, 100 (132); BVerfGE 124, 78 (117). 220 VerhLT SWE IX/Schr. (1841/42), S. 171 f. 219

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Eigenverantwortung vor parlamentarischer Ausforschung dient. Der Abgeordnete Bretsch hielt ebenfalls recht modern dagegen, dass die Position der Regierung dazu führe, „daß dem Landtage alle und jede Akten, auch die der oberen und unteren Landesbehörden, vorenthalten werden könn[t]en“. Angesichts der Tatsache, dass es „bei vorenthaltener Einsicht der einschlagenden Akten […] in den meisten Fällen durchaus unmöglich seyn [werde…], gründliche Einsicht in das Wesen der zu behandelnden Fragen zu erlangen“, sah er „dringende Veranlassung“ zu „Verwahrungen von Seiten des hohen Landtages“. Mit „bloßen Auskunftsertheilungen [sei…] in den meisten Fällen nicht auszureichen“, so dass die „Thätigkeit des Landtages […], bei strenger Durchführung des Prinzips der Akten-Verweigerung, eine völlig gelähmte“ sei. Der Abgeordnete Martini wollte ebenfalls das „Prinzip […] nicht gelten [lassen], daß [der Landtag…] überhaupt kein Recht auf Aktenmittheilung habe“. Freilich bestritt er eine Veranlassung zu weiteren Schritten, weil die Übermittlung der Akten „bisher unbedenklich erfolgt [sei…] und dies […] wohl auch künftig geschehen“ werde, betonte aber, dass die „dem Landtage erforderlichen Nachrichten und Aufschlüsse [oft] nur aus den betreffenden Akten in genügender Weise geschöpft werden“ könnten, so dass eine „Mittheilung derselben […] in solchen Fällen nicht zu verweigern seyn [werde], zumal, wenn es um andere, als Ministerial-Akten, sich“ handele. Der Landmarschall beendete diese wegweisende Diskussion, weil man „im Grundgesetz eine Bestimmung, wonach [der Landtag…] eine Mittheilung der Akten fordern [könne…], nicht aufzufinden“ vermöge. Angesichts dessen werde nur „übrig bleiben, […] sich dabei zu beruhigen und dem Abg. v. Wydenbrugk die nähere Bezeichnung der Nachrichten und Aufschlüsse, welche er unmittelbar aus den Ministerial-Akten schöpfen wollte, zu überlassen“.221 – Der Antragsteller, Amtsadvokat Oskar v. Wydenbrugk, der am 26. April 1848 einstimmig in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt wurde und sich dort dem „Württemberger Hof“ anschloss, hatte sich mit den Worten seines Biographen in der Allgemeinen Deutschen Biographie eine „furchtlose Behandlung öffentlicher Mißstände zur Aufgabe“ gemacht. Er setzte sich u. a. für eine Vereinigung des großherzoglichen Kammervermögens mit der notleidenden Landschaftskasse sowie die Einführung einer Civilliste ein. Angesichts dessen kann es kaum überraschen, dass seine Forderungen nicht auf Gegenliebe stießen.222 Der Streit um ein Aktenvorlagerecht der Ständeversammlung zeigt zweierlei: Erstens war die Regierung keineswegs dazu bereit, dem Landtag vollen Einblick in ihre Arbeit zu gewähren. Statt einer Vorlage der Ministerialakten, die u. U. auch heute noch zum Schutz des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung verweigert werden kann,223 erklärte sich die Regierung lediglich zu Auskünften aus den Akten bereit und stutzte § 62 Nr. 2 StGG SWE 1816 so auf ein interpellationsartiges Auskunftsinstrument zurück. In der Konsequenz konnte sie – wie der Abgeordnete Bretsch zu Recht monierte – dem Landtag sämtliche Akten und damit jede Mög 221

VerhLT SWE XI/2–3/Prot. (1848/49), S. 569. Biographisches bei G. Lämmerhirt, ADB XLIV, 1898, S. 383 ff. 223 Vgl. BVerfGE 124, 78 (116 f., 120 ff.). 222

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lichkeit vorenthalten, sich selbst ein Bild zu machen. Zum Zweiten folgt aus der Feststellung des Landmarschalls, dass keine Bestimmung des Grundgesetzes ein Aktenvorlagerecht begründe, dass § 91 StGG SWE 1816 jedenfalls insoweit nicht nach der Art eines modernen Enquête- und Untersuchungsrechts gedeutet wurde. d) Zeitmoment und Arbeitskraft Gegen die Existenz eines Enquête- und Untersuchungsrechts der weimarischen Stände sprechen zu guter Letzt profane praktische Gründe, indem dem Landtag für profunde Enquêten oder Untersuchungen schlicht die erforderlichen zeitlichen und personellen Ressourcen fehlten224. Die Landstände tagten lediglich alle drei Jahre und bloß für wenige Wochen.225 Selbst im Zeitalter moderner Massenkommunikation und Bürotechnik würde eine so kurze Zeitspanne mit derart langen Unterbrechungen nicht für Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen, eine Auswertung umfangreicher Aktenbestände etc. genügen. Das im Konstitutionalismus keineswegs unübliche enge Zeitkorsett, das u. a. möglicherweise gerade dazu diente, den landständischen Einfluss zu limitieren,226 stellt eine extensive Interpretation von § 91 StGG SWE 1816 in Frage.227 Aber auch über die zweite Ressource wirkungsvoller parlamentarischer Arbeit, die in der Zahl ihrer Mitglieder verkörperte Arbeitskraft, verfügten die Landstände nicht in ausreichendem Maße. Noch viel weniger als das Plenum von 31 Landständen waren Kommissionen von drei oder fünf Deputierten zu tiefschürfenden Enquêten oder Untersuchungen in der Lage. Durch das Fehlen der modernen Informations- und Kommunikationsmittel sowie eines Mitarbeiterstabes, wie er heute selbst in kleinen Landtagen zur Ausstattung gehört, erscheint selbst die Fähigkeit der weimarischen Stände, umfangreiche Regierungsmaterialien auszuwerten, fragwürdig.228 224 H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E22) hielt sogar den Bundestag aus „sachlichen, personellen und zeitlichen Gründen“ für unfähig, eine „komplizierte Enquête“ zu veranstalten. 225 s. den dritten (9. März bis 25. Mai 1823), vierten (26. Februar bis 6. Mai 1826), fünften (22. Februar bis 31. März 1829), sechsten (18. November 1832 bis 29. März 1833), siebenten (22. November 1835 bis 1. Februar 1836), achten (25. November bis 21. April 1839), neunten (21. November 1841 bis 28. Januar 1842) und zehnten (18. Februar 1844 bis 5. Mai 1844) Landtag (Daten nach Protokollausgaben). 226 Vgl. G. Jellinek, Minoritäten, 1898, S. 21 zur Sitzungsdauer amerikanischer Parlamente, „damit nicht zu viele Gesetze gemacht werden und damit nicht die Aussicht auf längeren­ Diätenbezug die Volksvertreter zur Ausdehnung der Session veranlasse“. 227 Das Zeitmoment brachte etwa der preußische Handelsminister A. v. der Heydt, VerhPr2K II/1 (1849/50), S.  182 gegen eine bloß „periodisch niedergesetzte[n] Kommission“ des Ab­ eordnetenhauses und für eine Regierungsenquête zur Notlage der Spinner und Weber ins Spiel. „[G]roße Vortheile“ seien von einer parlamentarischen Enquête nicht „zu erwarten“. Sie werde kaum imstande sein, das verworrene Ursachenbündel zu entwirren, realistische und utopische Ziele von einander zu trennen und wirkungsvolle Vorschläge zu entwickeln. Diese Bedenken treffen für Sachsen-Weimar-Eisenach um ein Vielfaches zu. 228 Vgl. zur Besetzung der Untersuchungsausschüsse in den Bundesländern T. Linke, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. F Rn. 37.

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e) Zwischenergebnis: § 91 StGG SWE 1816 als Ermächtigung zum Kommissions­ver­fahren Alles in allem liegt eine rein geschäftsordnungsrechtliche Interpretation des § 91 StGG  SWE  1816 näher: Die Landstände wurden schlicht ermächtigt, einzelne Gegenstände nicht von Anfang an im Plenum zu behandeln, sondern in kleinerem Kreise vorzuberaten. Für dieses heute selbstverständliche Verfahren war damals eine ausdrückliche Ermächtigung erforderlich. Zum einen verfügte die Stände­ versammlung nicht über Geschäftsordnungsautonomie.229 Zum anderen durchbrach die Vorberatung in einer Kommission das Plenarprinzip, nach dem jeder Abgeordnete gleichen Anteil an sämtlichen Beratungen haben musste.230 Deswegen war es Johann Ludwig Klüber eine ausdrückliche Erwähnung in seinem Lehrbuch wert, dass „[i]n manchen Staaten […] für gewisse laufende oder bloß vorbereitende Geschäfte, landständische Commissionen, Ausschüsse oder Deputationen“ eingesetzt werden konnten.231 Die vermeintlich bahnbrechende Ermächtigung der Kammer, „Ausschüsse zur Bearbeitung einzelner Gegenstände, zur­ Anstellung von Untersuchungen, zur Abgebung von Gutachten, zur Abfassung von Schriften“ niederzusetzen, erschöpfte sich in Wahrheit in geschäftsordnungsrechtlichen Regelungen des Kommissionsverfahrens: Die Kammer konnte, wo immer sie es als „dienlich“ ansah, nicht direkt im Plenum zu beraten, vorbereitende „Ausschüsse zur Bearbeitung einzelner Gegenstände“ niedersetzen. Diese Kommis­ sionen „untersuchten“ dann die landesherrlichen Propositionen etc. anhand des der Versammlung von der Regierung überlassenen Materials und der eigenen Sachkunde der Landstände, gaben auf dieser Grundlage ihr „Gutachten“ in der Angelegenheit ab und verfassten eine entsprechende „Schrift“ oder mit anderen Worten: einen schriftlichen Ausschussbericht für das Plenum, das die Sache dann auf dieser Grundlage erledigen konnte. Liegt es aufgrund des Wortlauts auch aus heutiger Perspektive nahe, § 91 StGG SWE 1816 als frühes Enquête- und Untersuchungsrecht zu interpretieren, zeichnet die historische Verifikation dieser These ein ernüchterndes Bild: Die Landstände 229

Vgl. H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 636 in Fn. 23; H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 329 f. In diesem Sinne ordnete etwa § 84 Abs. 1 VerfCoSa 1821 ausdrücklich an, dass „[a]uf den Landtägen […] alle ständischen Angelegenheiten in der Regel von der Gesammtheit der Stände zu behandeln“ waren. Das Recht der Stände, gemäß § 96 VerfCoSa 1821 „zur Bearbeitung einzelner Gegenstände […] einige aus ihrer Mitte durch die Wahl nach relativer Mehrheit der Stimmen [zu] ernennen“, stellte eine Ausnahme von diesem Grundsatz dar. Vgl. auch die Stellungnahme der Bundeskommissare in der kurhessischen Verfassungsfrage Mitte des Jahrhunderts, dass ein ständiger landständischer Ausschuss „nicht nur mit dem monarchischen Princip unvereinbar [sei], sondern […] auch dem ständischen Wesen [widerspreche], da die Stände nur in ihrer Totalität über die ihnen von der Regierung vorgelegten Propositionen zu beschließen und die ihnen zweckdienlichen Petitionen einzubringen [hätten…]; diese Rechte aber nicht auf dritte, wenn auch aus ihrer Mitte, übertragen könn[t]en“. L. F. Ilse, Politik Großmächte, 1861, S. 120 (Hervorhebung nur hier). 231 J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 451 f. (Hervorhebung nur hier). Ein Enquêterecht, das doch eine Sensation gewesen wäre, kommt nicht einmal in den Anmerkungen vor. 230

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des Großherzogtums verschafften sich die erforderlichen Informationen aus den Motiven der großherzoglichen Propositionen, möglicherweise beigefügten Akten, weiteren Erläuterungen oder allgemein zugänglichen Quellen. Benötigten sie weitere Aufschlüsse, ersuchten sie die Regierung um Erhebung und Mitteilung und konnten durch das Direktorium Informationsersuchen an Regierung und Behörden richten. Die Behandlung solcher Forderungen stand im Ermessen der ersuchten Stellen. Der so verstandene § 91 StGG SWE 1816 lässt sich ganz sicher nicht in das Klischee eines modernen Enquête- und Untersuchungsrechts pressen, das eine umfassende Befassungskompetenz gepaart mit weitgehenden unmittelbaren Selbstinformationsrechten voraussetzt.232 Für die Richtigkeit dieser Sichtweise spricht, dass das zeitgenössische Schrifttum dem vermeintlichen Enquête- und Untersuchungsrecht keinerlei Aufmerksamkeit schenkte: Weder das Werk des ehemaligen Universitäts-Abgeordneten der Beratungsversammlung und späteren Ministers Christian Wilhelm Schweitzer von 1825 noch das 19 Jahre jüngere Handbuch der Verwaltung aus der Feder Gustav Wilhelm Burckhards gingen zu § 91 StGG  SWE  1816 über die Wiedergabe des Verfassungswortlauts hinaus. Gedanken zur Reichweite des vermeintlich spektakulären Rechts sucht man vergeblich  – ebenso Beispiele aus der Verfassungspraxis.233 Als weiteres Indiz meldete sich der Jurist Christian Schüler in den Beratungen der Frankfurter Nationalversammlung über das Enquête- und Untersuchungsrecht des künftigen Reichstags nicht mit heimatlichen Erfahrungen zu Wort. In der Verfassungsrevision fiel Mitte des Jahrhunderts ein Teil der überschätzten Vorschrift ersatzlos fort. Landständischer Widerstand gegen den Entwurf von § 31 RevGG SWE 1850, dass „[z]ur Bearbeitung der dem Landtage zur Beschließung vorliegenden Gegenstände […] regelmäßig Ausschüsse zu erwählen“ seien, regte sich nicht.234 Dass die „Bearbeitung der Berathungsgegenstände in den Ausschüssen“ gleichzeitig Eingang in die §§ 51 ff. GO-LT SWE 1851 fand, also im parlamentarischen Reglement geregelt wurde, unterstreicht den rein geschäftsordnungsrechtlichen Charakter des früheren § 91 StGG SWE 1816. Der auf SachsenWeimar-Eisenach bezogene Teil der Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte muss also neu geschrieben werden. 232

Vgl. den provisorischen Arbeitsbegriff 1. Teil C. C. W. Schweitzer, ÖffR SWE I, 1825, S. 105 f. beschränkt sich auf die Wiedergabe der grundgesetzlichen Bestimmungen. Knapper fällt die Beschreibung bei G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 70 aus. Auch der Bericht von H. Blesken, ZVThGA 30 (1933), 117 (133 f. und passim) über den Landtag bis zur Märzrevolution enthält in dem Abschnitt über die Ausschusstätigkeit keinen Hinweis auf „Enquêten“ oder „Untersuchungen“. § 91 StGG SWE 1816 wird in diesem Kontext nicht erwähnt. Erst S. 168 wird der Wortlaut dieser Bestimmung in anderem Zusammenhang zitiert, um die Stellung der vorberatenden Ausschüsse zu charakterisieren. 234 s. den Bericht des Ausschusses für Revision des Staatsgrundgesetzes, den Entwurf eines Grundgesetzes über die Verfassung des Großherzogthums Sachsen betreffend, VerhLT  SWE aOLT/Schr. (1849/50), S. 544 zu § 32. 233

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II. Kurfürstentum Hessen Einen genaueren Blick verdient auch das Kurfürstentum Hessen: Einerseits wird der Januarverfassung bis heute eine Frühform des Enquête- und Untersuchungsrechts nachgesagt.235 Andererseits spielten Informationsersuchen der Kammer in den langwierigen Verfassungskämpfen der 1830er Jahre zumindest eine interessante Nebenrolle.236 1. Vorgeschichte (1813–31) Nachdem Wilhelm I. seine Besitztümer Ende 1813 wiedererlangt hatte, die in der napoleonischen Zeit überwiegend dem Königreich Westphalen zugeschlagen worden waren,237 führte er eine „Restauration härtesten Ausmaßes“ (Wolfram Siemann) durch.238 Sein Versuch, mit dem im Dezember 1814 berufenen Drei-KurienLandtag eine Verfassung zu schaffen, scheiterte. Stattdessen wurde der überkommene Status quo mit wenigen Modifikationen in dem Kurfürstlichen Haus- und Staats-Gesetz vom 4. März 1817239 festgeschrieben, um dem Vorwurf einer Verletzung von Art. 13 DBA 1815 zu entgehen. Unter Wilhelm II. besserte sich die Lage nicht. Zwar führte der neue Regent eine an moderneren Vorbildern orientierte Verwaltungsreform durch. Auf öffentliche Forderungen, den Einfluss seiner Mätresse, einer zur Gräfin Reichenbach erhobenen Bürgerlichen, auf Staats- und Ämterpolitik zu beenden und eine neulandständische Verfassung zu geben, antwortete der Kurfürst mit einem rigorosen Polizeiregime. Erst im Herbst 1830 kamen unter dem Eindruck der Pariser Julirevolution Verfassungsverhandlungen in Gang, in denen die Landstände und ihr Verfassungsausschuss eine zentrale Rolle spielten.240 235

Vgl. aus der Fülle des Schrifttums mit Unterschieden im Detail nur H. H. Klein, in: Maunz/ Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 9; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 8 f.; W. Simons, Untersuchungsrecht, 1991, S. 88 in Fn. 38; A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 9 f.; N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 151 mit Fn. 136; H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 1; J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 62 f.; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 45: „gewisse Untersuchungsbefugnis“; J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S. 3; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 15; R. Bovensiepen, AöR 34 (1915), 95 (128): „weitgehendes parlamentarisches Enquetenrecht“. 236 Insoweit fällt J. Masings, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 9 Urteil zu hart aus, dass die kurhessischen Vorschriften „politisch ungenutzt und bedeutungslos“ geblieben wären. 237 H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (12 ff.). 238 W. Siemann, Staatenbund, 1995, S. 43. Ausführlicher H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (41 ff.). 239 KhGS 1817, S. 29. Nach § 2 blieb die „Regierungsform […], so wie bisher, monarchisch“. Gleichzeitig sollte eine „ständische Verfassung“ bestehen. Nähere Regelungen enthielt das­ Gesetz nicht. Außer der Erbfolge etc. wurden lediglich einige beamtenrechtliche Grundsätze kodifiziert: regelmäßige Gehalts- und Pensionszahlung, Entlassung oder Gehaltsentzug nur durch Urteil, Alters- und Dienstunfähigkeitspensionen. 240 Zum Ganzen H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (41 ff., 43 ff., 48, 52 ff., 61 ff.) und in ders. (Hg.), Akten und Briefe, 1992, S. XXVII ff.; E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 63 f.;

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2. Die Kurhessische Verfassungsurkunde von 1831 Die „in vollem Einverständnisse mit den Ständen“ erteilte Verfassungsurkunde für das Churfürstentum Hessen vom 5. Januar 1831 galt unter Zeitgenossen als vortrefflich.241 Der Staatswissenschaftler und Historiker Karl Heinrich Ludwig Pölitz schwärmte in den höchsten Tönen von dem „mit überwiegenden Lichtseiten und zeitgemäßen Bestimmungen“ gesegneten Werk, das „mit gleichem Ernste und mit gleicher Würde dem monarchischen Princip, wie dem Rechte der einzelnen Staatsbürger und der Stände“ huldige und zu allem Überfluss – man wünscht es von heutigen Gesetzen – „in verständlicher, gediegener teutscher Sprache niedergeschrieben“ sei.242 Selbst Karl Marx stimmte in den Lobgesang über das „libe­ralste Grundgesetz […], das je in Europa verkündet“ worden sei, mit ein.243 Tatsächlich erfüllte die Konstitution, die den süddeutschen Entwicklungsstand wenigstens auf dem Papier noch überholte,244 das apokryphe landständische Verfassungsversprechen des Art. 13 DBA 1815 so hart am Limit des „monarchischen Prinzips“, dass sich der Deutsche Bund in den 1850er Jahren zum Einschreiten veranlasst sah.245 a) Bildung und Kompetenzen der Ständeversammlung Gemäß § 2 KhVerf­Urk 1831 war der kurhessische Staat auf das staatstheoretische Fundament einer monarchischen Regierungsform bei gleichzeitiger landständischer Verfassung gegründet.246 Die Zusammensetzung der Ständeversammlung folgte überkommenen Prinzipien  – so gehörten ihr die Prinzen jeder apanagierten Linie des kurfürstlichen Hauses, die Oberhäupter der mediatisierten Familien, Vertreter der Ritterschaft, der Kirchen sowie der Landesuniversität zu Marburg an – mit kräftiger Beimischung moderner Elemente in Gestalt gewählter Abgeordneter aus Stadt und Land (§ 63 KhVerf­Urk 1831). Während die Mitglieder der ersG. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 20 ff.; F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 206 ff.; O. Müller, Entstehungsgeschichte, 1934, S.  1 ff. sowie S.  9 ff.; R. Bovensiepen, AöR 34 (1915), 95 ff.; K. Wippermann, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon VIII3 1863, S. 39 ff. und N. N., in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch V, 1860, S. 154 f., 168 f. Zu Revolutionszeit, Eröffnung der Stände und Verfassungsarbeit P. Losch, KhGesch, 1922, S. 149 ff. 241 s. etwa K. Wippermann, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon VIII3 1863, S. 35. Weitere Stellungnahmen und Analyse bei H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (66 ff.). 242 Vgl. K. H. L. Pölitz, PölJB 1831/1, 241 (242, 243). 243 Zitiert nach H. Seier (Hg.), Akten und Briefe, 1992, S. XLV. 244 So H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (70). 245 Dazu P. Popp, Ministerverantwortlichkeit, 1996, S. 137 f. und aus zeitgenössischer Sicht L. F. Ilse, Politik Großmächte, 1861, S. 40 ff., 60 ff. Krit. wegen der vermeintlichen Fesselung des Monarchen und Übernahme der Regierungsmacht durch die Stände P. Losch, KhGesch, 1922, S. 159 ff., der die Verfassung als „Bruch mit der hessischen Vergangenheit“ charakterisiert. 246 Vgl. K. Wippermann, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon VIII3 1863, S. 43 sowie E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S.  68 f. Mit dieser Bestimmung hatte nach F. Murhard, KhVerUrk I, 1834, S. 121 „die Verfassungsurkunde dem 13. Artikel der deutschen Bundesakte […] Genüge gethan“.

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ten Kurie, die den Landständen nicht qua Geburt angehörten, unmittelbar gewählt wurden,247 bestimmten Wahlmänner über die städtischen Deputierten. Für die Abgeordneten der Landbezirke fand eine dreistufige Wahl von Gemeindebevollmächtigten, Wahlmännern und der Volksvertreter selbst statt.248 Fernab von altlandständischen Grundsätzen bekannten sich die §§ 73 und 74 KhVerf­Urk 1831 zum freien und repräsentativen Mandat: Die Landstände waren nicht an Aufträge ihres Standes oder ihrer Wähler gebunden, sondern hatten allein das „unzertrennliche Wohl des Landesfürsten und des Vaterlandes, ohne Nebenrücksichten, nach [ihrer…] eigenen Ueberzeugung […] zu beachten“. Eine gewisse Reminiszenz älterer Tage war § 76 KhVerf­Urk 1831,249 der es den Mitgliedern der Kammer – ähnlich wie in Sachsen-Weimar-Eisenach – erlaubte, „sich über eine Separat-Stimme zu vereinigen“, „wenn sie einhellig den Stand, aus welchem sie abgeordnet worden, oder den betreffenden Bezirk nach dessen eigenthümlichen Verhältnissen durch den Beschluß der Mehrheit beschwert erachteten“.250 Diese Standes- oder Bezirksstimme war mit in die Erklärung des Landtags aufzunehmen. Der „Staatsregierung [blieb dann] vorbehalten, die gedachte Erklärung […] nach Maaßgabe der auser Zweifel gesetzten eigenthümlichen Verhältnisse zu berücksichtigen“. Trotz dieser ständischen Anklänge waren mit gewählten Abgeordneten und freiem Mandat Umstände gegeben, die das Entstehen landständischer Kontroll- und Selbstinformationsabsichten wenigstens begünstigen mussten.251 Ordentliche Landtage sollten im Dreijahresturnus jeweils Anfang November, außerordentliche wann immer notwendig einberufen werden (§ 80 KhVerf­Urk 1831). In der Regel durften die Sitzungen nicht länger als drei Monate dauern (§ 85 KhVerf­Urk 1831). Die kurhessischen Landtage waren also ihren zeitlichen Dimensionen nach ebenso wenig für profunde Enquêten oder Untersuchungen geeignet, wie die Sitzungen der weimarischen Stände.252  – Nach einem Regierungswechsel versammelten sich die Landstände ohne Einberufung (§ 82 KhVerf­Urk 1831). Dem Landesherrn standen gemäß § 83 KhVerf­Urk 1831 Vertagung und Auflösung zu. In letzterem Fall sollte „zugleich die Wahl neuer Stände verordnet werden, auch deren Einberufung innerhalb der nächsten sechs Monate erfolgen“. Eine Vertagung durfte nicht länger als drei Monate dauern. Als Ausgleich für die Periodizität sah § 102 KhVerf­Urk 1831 einen permanenten landständischen Ausschuss vor. Schutz und Wahrnehmung der landständischen Rechte waren die Pflichten dieses bei jeder Verabschiedung, Vertagung oder Auf 247 s. das Gesetz vom 16. Februar 1831, über die Wahlen der Abgeordneten zu den Landtagen, KhGS 1831, S. 33. 248 K. Wippermann, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon VIII3 1863, S. 46. 249 Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 68 f. 250 Der Oppositionspolitiker H. Gräfe, KhVerfUrk, 1848, S. 129 kritisierte die „Berechtigung zur Einlegung einer Standesstimme“ als „mit dem Repräsentativ-System in Widerspruch“. 251 Vgl. 2. Teil 1. Kap. D. 252 s. 2. Teil 2. Kap. A. I. 2. d).

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lösung der Stände zu wählenden Gremiums, das nicht allein „über die Vollziehung der Landtags-Abschiede zu wachen“, sondern „auch sonst das landständische Interesse wahrzunehmen, sowie die ihm, nach der jedesmal besonders zu ertheilenden Instruktion, weiter obliegenden Geschäfte im Namen der Landstände zu verrichten“ hatte. Auf dieser Grundlage erteilte der verfassungsberatende Landtag dem ersten ständigen Ausschuss u. a. den Auftrag, „über die Vollziehung der Verfassungsurkunde […] zu wachen“ und „durch Benutzung der verfassungsmäßigen Mittel dafür Sorge [zu] tragen, daß in allen Zweigen und von allen Behörden der Staatsregierung verfassungs- und gesetzmäßig verfahren […] werde“.253 In den Verfassungskämpfen sollte die Notwendigkeit einer „jedesmal besonders zu e­ r­ theilenden Instruktion“ (§ 102 KhVerf­Urk 1831), ohne die der Ausschuss nur über eingeschränkte Kompetenzen verfügte, gemeinsam mit dem Auflösungsrecht des Kurfürsten zu einem wirkungsvollen Hebel werden, um das repräsentative Element zu lähmen.254 Zu den weitgespannten Kompetenzen der Landstände zählte u. a. die Mitwirkung bei Erlass, Änderung und authentischer Interpretation der Gesetze. Anders als in der Mehrheit der Bundesstaaten verfügte die kurhessische Kammer auch über ein Gesetzesinitiativrecht,255 das einen Wunsch nach Sachstandsenquêten geweckt haben könnte. Sonst hatten die Stände bei der Bewilligung der Steuern und Abgaben sowie bei einer Belastung des Staatsgebiets mit Schulden mitzuwirken (§§ 94 ff. KhVerf­Urk  1831). Sie konnten der „höchsten Behörde, oder nach Befinden dem Landesherrn selbst“ Bitten und Beschwerden aus dem Land vorlegen oder „über die in der Landesverwaltung oder der Rechtspflege wahrgenommenen Misbräuche Beschwerde führen“ (§ 99 KhVerf­Urk 1831). Überhaupt finden sich verfassungsschützende Instrumente in der Januarverfassung in einem außergewöhnlichen Maß: Den Landständen stand nicht bloß die Anklage der Minister und ihrer Stellvertreter zu (§ 100 KhVerf­Urk 1831). Vielmehr war die „Verpflichtung zur Beobachtung und Aufrechterhaltung der Landesverfassung“ in den „Diensteid eines jeden Staatsdieners“ aufzunehmen (§ 60 KhVerf­Urk  1831). Mangels Differenzierung war jeder Zivilbeamte oder Offizier für seine „Amtsverrichtungen verantwortlich“ und konnte nach § 61 KhVerf­Urk 1831 für eine „Verletzung der Landesverfassung, namentlich auch durch Vollziehung einer, nicht in der verfassungsmäsigen Form ergangenen, Verfügung einer höchsten Staatsbehörde“, für verschiedene Amtsdelikte und selbst dafür, dass er „seine Berufspflichten gröblich hintan[ge]setzt oder seine Amtsgewalt misbraucht“ hatte, von den Landständen oder dem ständigen Ausschuss „bei der zuständigen Gerichtsbehörde angeklagt werden“ (vgl. §§ 61, 101 KhVerf­Urk 1831). Die Vereidigung des Offizierskorps auf die Verfassung war in Deutschland eine Novität.256 253

Zitiert nach G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 77 f. Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 71 f. 255 Zu den landständischen Befugnissen E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 69. 256 M. Arndt, Militär, 1996, S. 125 ff.; G. Hollenberg, HessJbLGesch 34 (1984), 101 (114) sowie S. 123 zu Vollzugsdefiziten. 254

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In der Januarverfassung ging die Emanation liberal-konstitutioneller Kontrollforderungen so außergewöhnlich weit, dass der Deutsche Bund ihre vermeintliche Unvereinbarkeit mit dem „monarchischen Prinzip“ in den 1850er Jahren neben anderen Aspekten als Anlass zu einem Vorgehen gegen den Kurstaat nahm.257 Noch 1915 wurden Zweifel laut, ob nicht „tatsächlich der Grundgedanke des monarchisch-konstitutionellen Staatsrechts, daß alle Staatsgewalt sich im Monarchen vereinige, durchbrochen“ worden sei, indem man „der Volksvertretung […] ein[en] Einfluß auf die allgemeine Führung der Dienstgeschäfte durch die Staatsbehörden eingeräumt [habe], der mit einer geordneten Verwaltung überhaupt kaum noch vereinbar“ gewesen wäre. Durch das Anklagerecht träten die Landstände „als bewachende Organe“ an die „Stelle der obersten Dienstvorgesetzten der Beamten“. De facto sei ein „weitgehendes Ueberwachungs- und eine Art Dienstaufsichtsrecht über die Beamten“, ja eine „stete Versuchung zur inneren Einmischung in den Geschäftsgang der Behörden“ die Folge.258 Solchen Ressentiments zum Trotz blieb die kurhessische Verfassung weit von einem parlamentarischen Regierungssystem entfernt, kannte keine rechtlich sanktionierte, politische Ministerverantwortlichkeit und gestand den Landständen auch sonst keinen unmittelbaren Einfluss auf die Ernennung oder Entlassung der Minister zu.259 Ungeachtet dessen standen die Zeichen für die Entstehung eines landständischen Selbstinformationsbedürfnisses angesichts der Befugnisse der Kammer eindeutig günstig. b) Instrumente landständischer Information Die beachtlichen landständischen Befugnisse in der Januarverfassung, insbesondere das Beschwerde- und Anklagerecht, werfen die Frage auf, ob und wie die Kammer mit den für eine unabhängige Wahrnehmung ihrer Kompetenzen erforderlichen Informationen versorgt wurde: Einerseits setzen legislative Be­ fugnisse ausreichende tatsächliche Kenntnisse voraus. Andererseits leidet jede 257

P. Popp, Ministerverantwortlichkeit, 1996, S.  137 f. und ausführlich L. F. Ilse, Politik Großmächte, 1861, S. 64 ff., 86, 106 f., 119 f. (Stellungnahme der Bundeskommissare), 184 f., 186 ff. (Ausschussgutachten und Antrag), 189 ff. (Bundesbeschluss) sowie S. 195 ff. zur „vollständige[n] Beseitigung der Verfassung“. 258 R. Bovensiepen, AöR 34 (1915), 95 (119) sowie S. 97 ff., 117 ff. zum Streit um die vermeintlich bundeswidrigen Bestimmungen. 259 Demgegenüber leitete F. J. Stahl, Staatslehre3 1856, S. 378 aus dem englischen Beispiel ab, dass die Minister durch weitgehende parlamentarische Anklagerechte „in eine unbedingte Abhängigkeit vom Parlament [gerieten], während sie vom Könige gar nichts mehr zu fürchten [hätten…] Der König [könne…] aber nicht die geringste Verfügung treffen, ja nicht die geringste Aeußerung kund geben, ohne Kontrasignatur eines solchen vom Parlament völlig abhängigen Ministers. Aus dieser unbedingten Abhängigkeit der Minister vom Parlament [gehe…] dann, nach einer thatsächlichen Nothwendigkeit das hervor, was man die parlamentarische Regierung zu nennen“ pflege.

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Form parlamentarischer Kontrolle zwangsläufig, wenn die Versammlung auf Auskünfte der Regierung angewiesen ist. aa) Erläuterungen und Auskünfte durch die Staatsregierung Den erheblichen landständischen Kompetenzen zum Trotz folgte die kurhessische Verfassung grundsätzlich traditionellen informationsrechtlichen Pfaden: Nach § 23 GO-KhSV 1831 ließ der Landesherr „die Berathungs-Gegenstände […] durch einen Minister oder anderen Kommissar an die Ständeversammlung gelangen“. Vor der Übergabe an die Kammer hielt der Regierungsvertreter einen Vortrag, „welcher neben dem Inhalte der Proposizion auch die Beweggründe dazu entwickeln“ sollte. „Wenn […] die Minister oder landesherrlichen Kommissare [auftraten…], um im Namen des Landesherrn Vorträge zu halten“, blieben gemäß § 24 GO-KhSV  1831 „alle in der Tages-Ordnung stehenden Berathungen ausgesetzt“. Erst danach kehrte die Kammer, „falls […] nicht eine andere Einleitung zweckdienlich“ erschien, zur Tagesordnung zurück. Flankiert wurden diese Modalitäten, die nach dem Grundmuster des ministeriellen Zutritts- und Rederechts sowohl der Information der Kammern als auch der Verteidigung der landesherrlichen Positionen dienten, durch die Verpflichtung der Ausschüsse, „jedenfalls vor dem Schlusse ihrer Arbeit den mit der Vertheidigung des Entwurfs beauf­ tragten Minister oder landesherrlichen Kommissar zu einer gemeinschaftlichen Sitzung ein[zu]laden“, soweit „wesentliche Aenderungen“ an den Propositionen in Rede standen (§ 25 GO-KhSV 1831). bb) Finanzverfassungsrechtliche Besonderheiten Auf dem Sektor der Staatsfinanzen sah die kurhessische Verfassung – wie im Konstitutionalismus üblich  – relativ weite landständische Befugnisse vor. Um der Kammer die „Verwilligung des ordentlichen Staatsbedarfes“ zu ermöglichen, war ihr gemäß § 144 KhVerf­Urk  1831 der „Voranschlag, welcher die Einnahmen und Ausgaben für diese Jahre mit thunlichster Vollständigkeit und Genauigkeit enthalten muß[te], zeitig vorzulegen. Zugleich muß[te] die Nothwendigkeit oder Nützlichkeit der zu machenden Ausgaben nachgewiesen, das Bedürfniß der vorgeschlagenen Abgaben […] gezeigt, auch von den betreffenden Behörden die­jenige Auskunft und Nachweisung aus den Belegen, Akten, Büchern und Literalien gegeben werden, welche die Stände in dieser Beziehung zu begehren, sich veranlasst sehen könnten“.260 Eine Ausnahme bestand für die „Verwendung des dem kurfürstlichen Hofe aus den Domanial-Einkünften zukommenden Betrag[s]“, über die „keinerlei Nachweisung Statt“ fand. Ergänzend ordnete

260

Hervorhebung nur hier.

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§ 93 Hs. 1 KhVerf­Urk 1831 a. E. an, dass jeder Ausschuss, den die Kammer für eine dieser Angelegenheiten niedersetzte, weitere Aufschlüsse von den zustän­ digen Stellen einziehen durfte. Diese thematisch begrenzten Regelungen waren spezifisch finanzverfassungsrechtlicher Natur; sie sind deswegen für die Entstehung eines allgemeinen Selbstinformations- und Kontrollrechts von keinem besonderem Interesse. cc) Die §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831 als Selbstinformationsrechte der Kammer? Als bedeutend gelten dagegen üblicherweise die §§ 92, 93 KhVerf­Urk  1831. Während der erste Paragraph den Landständen offenkundig eine interpellationsartige Befugnis einräumte, „über alle Verhältnisse, welche nach ihrem Ermessen auf das Landeswohl wesentlichen Einfluß [hatten…], die zweckdienliche Aufklärung von den landesherrlichen Kommissaren zu begehren“ – „in geeigneten Fällen“ konnten die „Vorstände der betreffenden Ministerial-Departements persönlich […] die gewünschte Auskunft ertheilen“ –, bestimmte die folgende Vorschrift, dass ein „von den Landständen zu einer vorbereitenden Arbeit oder Geschäfts-Einleitung gewählter […] Ausschuß […] zur Erlangung von Aufschlüssen über die ihm vorliegenden Gegenstände mit der kurfürstlichen Landtags-Kommission sich benehmen, oder schriftliche Mittheilungen von den einschlägigen Behörden, […] einziehen [sowie…] die persönliche Zuziehung von den dazu sich hauptsächlich eignenden Staatsbeamten durch die genannte Kommission veranlassen“ durfte. Prima facie scheinen erhebliche Parallelen mit einem Enquête- und Untersuchungsrecht zu bestehen: Auf der Hand liegt die äußerliche Ähnlichkeit, dass § 93 KhVerfUrk 1831 die Kammer ermächtigte, besondere Ausschüsse niederzusetzen, die „Aufschlüsse über die [ihnen…] vorliegenden Gegenstände“ verlangen konnten. Angesichts des Wortlauts erscheint es denkbar, dass diese Ausschüsse über das Recht verfügten, Vertreter von Regierung und nachgeordneten Behörden vorzufordern und zu vernehmen. Entsprechende Befugnisse schien § 92 KhVerfUrk 1831 auch dem Plenum beizulegen. Der Wortlaut könnte sogar auf eine Aussagepflicht der Minister hindeuten. Träfe dieser mutmaßliche Zuschnitt tatsächlich zu, wären die besagten landständischen Rechte nicht bloß zur Regierungs- und Verwaltungskontrolle, sondern ebenso für die allgemeine entscheidungsvorbereitende Informationsbeschaffung geeignet gewesen. Angesichts dessen könnte die verbreitete Auffassung zutreffen, dass die §§ 92, 93 KhVerfUrk 1831 wenigstens Frühformen eines Enquête- und Untersuchungsrechts waren.261 Tatsächlich sind ebenfalls gewisse funktionelle Gemeinsamkeiten auszumachen: Die §§ 92, 93 KhVerfUrk 1831 dienten der Versorgung der Landstände mit den für

261

s. die Nachweise in Fn. 235.

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ihre Arbeit notwendigen Informationen. Besonders deutlich wird diese Intention in § 93 KhVerfUrk  1831, der abweichend von der allgemeinen Regel, dass der Verkehr der Kammer ausschließlich durch den Präsidenten vermittelt wurde, jedem Ausschuss gestattete, sich „zu einer vorbereitenden Arbeit oder Geschäfts-Einleitung“ „zur Erlangung von Aufschlüssen über die ihm vorliegenden Gegenstände mit der kurfürstlichen Landtags-Kommission [zu…] benehmen, oder schriftliche Mittheilungen von den einschlägigen Behörden, […] ein[zu]ziehen [sowie…] die persönliche Zuziehung von den dazu sich hauptsächlich eignenden Staatsbeamten durch die genannte Kommission [zu] veranlassen“. Die Ausschüsse scheinen also ähnlich wie moderne Untersuchungsausschüsse Aktenvorlage verlangen und Beamte als Zeugen und Sachverständige laden zu können. Die obligatorische Vermittlung durch die Landtagskommission erscheint gegenüber solchen Rechten prima facie lediglich als eher belanglose Förmelei. Bei genauerer Betrachtung ­kommen freilich Zweifel auf, ob es sich wirklich um ein Enquête- und Untersuchungsrecht gehandelt haben kann; schließlich könnte durch diese notwendige Vermittlung die für ein solches Recht charakteristische Unmittelbarkeit fortgefallen sein.262 Ungeachtet dessen klingt in den §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831 die Idee parlamentarischer Kontrolle an, wie sie für das moderne parlamentarische Untersuchungsrecht kennzeichnend ist. In diesem Sinne charakterisierte der oppositionelle Mathematiker und Privatgelehrte Friedrich Murhard den § 92 Kh­Verf­Urk 1831 in seinem Verfassungskommentar von 1835, dem ersten Werk dieser Art auf deutschem Boden überhaupt,263 als „sehr passend[en]“ Ausdruck der landständischen Aufgabe, „eine beständige Kontrolle zu führen über die Verwaltung“. Das landständische Auskunftsrecht hielt er für potentiell „höchst unbequem […] für die Chefs der einzelnen Verwaltungszweige“, ja es könne „ein zweckmäßiges Mittel [sein], eine schlechte und untüchtige Verwaltung zu verhüten“; mit seiner Hilfe lasse sich verhindern, „daß unfähige Männer an der Spitze der öffentlichen Geschäfte“ blieben.264 Diese Hoffnungen dokumentieren ein immenses Vertrauen des liberalen Autors in die faktische Macht öffentlicher Bloßstellung und Anschuldigung durch die Volksvertretung. Schließlich herrschte in Kurhessen allen Kontrollrechten zum Trotz kein parlamentarisches Regiment, das es ermöglicht hätte, missliebige Minister durch ein Misstrauensvotum etc. aus dem Amt zu jagen. Ihr politisches Wohl und Wehe hing vielmehr, von einer erfolgreichen landständischen Anklage abgesehen, allein vom Willen des Kurfürsten ab.265 262

Vgl. 1. Teil C. Vgl. M. Stolleis, GeschÖR II, 1992, S. 166 f. 264 F. Murhard, KhVerUrk II, 1835, S. 416. 265 Zur freien Wahl der Minister s. F. Murhard, KhVerUrk II, 1835, S. 23 f. Freilich konnten politische Sachzwänge den Monarchen durchaus dazu bestimmen, den Landständen genehme Personen zu berufen. s. dazu die von H. Seier, in: Heinemeyer (Hg.), Verfassungsstaat, 1982, S.  47 ff. geschilderten Umstände der Entlassung des konservativen Ministeriums SchminkeMeysenburg. 263

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

Dass der Gedanke einer landständischen Kontrolle den §§ 92, 93 KhVerf­ Urk  1831 tatsächlich zugrunde lag, findet sich in einer 1832 publizierten Rede Sylvester Jordans bestätigt: Der Marburger Staatsrechtler und Universitätsdeputierte, der bis heute  – wohl nicht mit vollem Recht  – als der geistige Vater der kurhessischen Verfassung gilt,266 hatte im Verfassungsausschuss u. a. von einer­ „guten“ Staatsverfassung verlangt, dass „den Volksvertretern außer der Befugniß, die Minister und andere pflichtvergessene Beamte anzuklagen, […] die Befugniß [eingeräumt werde…], die Staatsregierung in ihrem Thun und Lassen zu controliren, die Abstellung der wahrgenommenen Mißbräuche zu bewirken, und den gegründeten Beschwerden einzelner Unterthanen, so wie ganzer Classen derselben und der Corporationen, Abhülfe zu verschaffen“.267 Die Summe dieser Befugnisse wurde später als „weitgehendes Enquêterecht“ apostrophiert.268  – Unerwartete Schützenhilfe erhält die Interpretation als Regierungskontrollinstrument ausge­ rechnet aus dem konservativen Lager: Der „französische Repräsentativinstitute“ strikt ablehnende Ferdinand Gössel urteilte 1837, dass „Herr Jordan nach dem Vorbilde der französischen Verfassungskünstler von 1791, den Landständen, der Staatsregierung gegenüber, das Recht einer allgemeinen Controlle eingeräumt haben“ wollte. Dieses dem „Repräsentativsystem entnommen[e]“ Verlangen gebe dem „souverainen Volke die […] Aufsicht über die von ihm eingeführte [!] Staatsverwaltung“. Obwohl das „Oberaufsichtsrecht […] ein wesentlicher Bestand­ theil der, dem Landesherrn ausschließlich gebührenden Landeshoheit“ sei, erkläre § 92 KhVerf­Urk 1831 die „Ständeversammlung ausdrücklich für befugt, über alle Verhältnisse, welche nach ihrem Ermessen, auf das Landeswohl wesentlichen Einfluß haben [könnten], die zweckdienliche Aufklärung von den landesherrlichen Kommissarien zu begehren“. Wie der Liberale Murhard interpretierte der Konservative Gössel den Paragraphen zusätzlich als Zitierrecht, aufgrund dessen die „Vorstände der Ministerial-Departements“ angehalten gewesen wären, „der Ständeversammlung persönlich die gewünschte Auskunft zu ertheilen“. Kurzum: Die 266 s. etwa R. Bovensiepen, AöR 34 (1915), 95 (99); P. Losch, KhGesch, 1922, S. 159 und S. 158 f. äußerst krit. zu S. Jordan; W. Klötzer, NDB X, 1974, S. 603; W. Siemann, Staatenbund, 1995, S. 43; E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 66, 399; M. Stolleis, in: Müßig (Hg.), Konstitutionalismus, 2006, S.  101 (114). H.  Seier, in: ders. (Hg.), Akten und Briefe, 1992, S. XLI urteilt über Jordans Rolle, dass sein Einfluss „als Sprecher des Verfassungsausschusses, Haupt des linken Flügels in ihm und Urheber wichtiger Teilpassagen (nicht eines Gesamtentwurfs)“ nicht unterschätzt werden dürfe, obgleich seine „alleinige Verfassungs-Vaterschaft […] eine zählebige Legende“ sei. Zwar seien ihm der Grundrechtskatalog und „mancherlei Trif­ tiges zur obersten Machtverteilung“ zu verdanken. Lange Passagen stammten aber auch von anderen. Zudem spielten externe Einflüsse oder Beratungen im Vorfeld ebenfalls eine Rolle. Insbesondere der Prokuratorenentwurf verdiene insoweit Anerkennung. Zurückhaltend auch G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 68. Im Einzelnen s. auch O. Müller, Entstehungsgeschichte, 1934, S. 14, 19, 21 f. 267 S. Jordan, PölJB 1832/1, 193 (195, 199, 207) (Hervorhebung nur hier). s. ähnl. schon ders., Versuche, 1828, S. 478. Vgl. außerdem B. W. Pfeiffer, LsVerfKh, 1834, S. 288 ff.; G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 37 f.; P. Losch, KhGesch, 1922, S. 159. 268 O. Müller, Entstehungsgeschichte, 1934, S. 15 f.

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Landstände erhielten mit diesen Paragraphen „unzweifelhaft das […] Recht der Controlle“ über die Staatsregierung.269 Diesen zeitgenössischen Stellungnahmen und den aufgeführten funktionellen Ähnlichkeiten zuwider spricht der Wortlaut der §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831 dafür, dass es sich nicht um Selbstinformationsrechte, sondern interpellationsartige Fremdinformationsinstrumente handelte.270 In diesem Sinne dürfte dem Auskunftsrecht der Kammer aus § 92 KhVerf­Urk 1831 allgemeinen konstitutionellen Standards gemäß nicht einmal eine Antwortpflicht entsprochen haben.271 Ebenso wenig konnten die Minister durch die Kammer verpflichtet werden, persönlich zu erscheinen, um Rede und Antwort zu stehen.272 Vor allem fehlte den §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831 ein unverzichtbares Attribut eines „echten“ Enquête- und Untersuchungsrechts: Aus dem Passus des § 93 KhVerf­Urk 1831, dass die Ausschüsse schriftliche Mitteilungen „hinsichtlich der im §.  144 erwähnten Angelegenheiten unmittelbar“ einziehen durften, folgt im Umkehrschluss, dass die Landstände im Allgemeinen auf die Vermittlung der kurfürstlichen Landtagskommission angewiesen blieben.273 Ganz in diesem Sinne einer interpellationsartigen Befugnis beschränkte sich der Wortlaut des § 92 KhVerf­Urk 1831 auf Anfragen. Auch von einem selbständigen Aktenvorlagerecht war keine Rede.274 Zeugen und Sachverständige konnte die Kammer nicht vorladen und vernehmen. Zwar war in § 93 Kh­Verf­Urk 1831 anstelle schriftlicher Mitteilungen eine „persönliche Zuziehung von den dazu sich hauptsächlich eignenden Staatsbeamten“ vorgesehen. Erforderlich war aber wiederum die allgemein notwendige Vermittlung durch kurfürstliche Stellen, die ein Ersuchen ebenso gut ablehnen oder schlicht ignorieren konnten. Wurden Beamte in die Kammer entsendet, traten sie dort nicht als Zeugen, sondern als landesherrliche Kommissare auf, die die gewünschten Auskünfte nach ihrem Ermessen erteilen oder verweigern konnten und die Interessen des Kurfürsten wahrnahmen. Angesichts dessen wurden beide Paragraphen zu Recht schon 1915 als interpellationsartige Befugnisse apostrophiert.275 269 F. Gössel, GeschKhLT I, 1837, S. 246 f. Zur politischen Ausrichtung des Autors s. das Vorwort, S. 1 ff. und passim etwa S. 249. Vgl. F. Murhard, KhVerUrk II, 1835, S. 416 f. sowie die – nicht weiter verfolgte – Anregung des Abgeordneten Hermann Müller, VerKhLT 1831, Anl. Ziff. LXIX, S. 150, in dem Streit um die Offiziersernennungen entweder den „Landtagskommissar nochmals dringend um die verlangte Auskunft anzugehen“ oder „von dem Herrn Vorstand des Kriegsministeriums persönlich in der Sitzung die erforderliche Auskunft zu erbitten“. 270 Vgl. R. Bovensiepen, AöR 34 (1915), 95 (128): interpellationsartiges Instrument. 271 Allg. für das Interpellationsrecht G. Meyer, DtStaatsR5 1899, S. 267 f.; C. J. A. Mittermaier, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon VI3 1862, S. 422 oder H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 275 f. in Fn. 2. 272 P. Popp, Ministerverantwortlichkeit, 1996, S.  122. Dagegen spricht die Fassung dieser Vorschrift, die lediglich von den geeigneten Fällen handelt. 273 Ähnl. A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 13 f. 274 Dementsprechend widersprach Landtagskommissar Karl Eggena, VerKhLT 1831, S. 673 f. Sylvester Jordans und Burchard Wilhelm Pfeifers These, dass die Landstände ein Recht auf Vorlage der Regierungsakten hätten. 275 Vgl. R. Bovensiepen, AöR 34 (1915), 95 (128).

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

3. Recht und Wirklichkeit Verifizieren lassen sich diese Annahmen, die der herrschenden Deutung als­ enquête- und untersuchungsrechtliche Frühform diametral zuwiderlaufen,276 mit Hilfe der von Beginn an von scharfen Auseinandersetzungen geprägten Staats­ praxis. In den zähen Auseinandersetzungen des Kurhauses mit der liberal-oppositionellen Kammermehrheit spielten landständische Informationsrechte eine für die weitere Entwicklung interessante Nebenrolle. Obwohl die Ereignisse erste Schlaglichter auf heutige Kontrollinstrumente vorauswerfen, verdeutlichen die Beispiele aus den ersten Jahren nach Inkrafttreten der Januarverfassung, dass die §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831 letztendlich weder der Kammer noch den Ausschüssen ein „echtes“ Selbstinformationsrecht einräumten. Im Gegenteil wird die Arbeitshypothese bestätigt, dass es sich lediglich um interpellationsartige Befugnisse handelte. a) Drei Präliminargefechte zum Verfassungskonflikt (1831–32) Gleichwohl hätten die politischen Rahmenbedingungen zu Beginn der 1830er Jahre für landständische Kontrollversuche kaum günstiger sein können: Mit der Januarverfassung war ein relativ moderner Repräsentationskörper mit beachtlichen materiellen Kompetenzen und Informationsrechten geschaffen worden. Die ersten Wahlen hatten den Liberalen eine robuste Mehrheit von 29 gegenüber 19 gouvernementalen Mandaten beschert.277 Dass sich die Landstände trotzdem weder mit Informationsforderungen gegenüber der Regierung durchsetzen noch ein Selbstinformationsrecht in Anspruch nehmen konnten, lässt sich an drei prominenten Beispielen aus der Zeit vor Ausbruch des eigentlichen Verfassungskonflikts illustrieren. aa) Der Ernennungsstreit (1) Einleitung: Militärische Personalentscheidungen und absolutistische Reminiszenzen Obwohl angesichts der liberalen Kammermehrheit mit landständischem Widerstand zu rechnen war, verfügte Wilhelm II. wie in vorkonstitutionellen Tagen ohne Beteiligung des Kriegsministers und nach eigenem Ermessen Ernennungen, Beförderungen, Versetzungen und Pensionierungen von Militärpersonen.278 Während sich die Regierungsseite auf § 107 KhVerf­Urk 1831 berief, mit Friedrich ­Murhards 276

s. die Nachw. in Fn. 235. E. Grothe, Verfassungsgebung, 1996, S. 420. 278 Vgl. G. Hollenberg, HessJbLGesch 34 (1984), 101 (118 f.) und P. Losch, KhGesch, 1922, S. 168. 277

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Worten ein „Einschiebsel“ in die Verfassung,279 das dem Kurfürsten als Ausnahme von der Regel die Pflichten des „obersten Militärchefs“ ohne Mitwirkung eines verantwortlichen Ministers überließ, rechnete die Kammermehrheit die beanstandeten Personalentscheidungen diesem exemten Aufgabenkreis gerade nicht zu. Infolgedessen wäre nach § 53 KhVerf­Urk  1831 eigentlich für jede „Ernennung oder Beförderung [ein…] Vorschlag der vorgesetzten Behörde“ bzw. nach § 108 KhVerf­Urk  1831 die Kontrasignatur erforderlich gewesen.280 Der Streit drehte sich keineswegs um belanglose Förmlichkeiten oder Petitessen, wie Landtagskommissar Karl Eggena die Öffentlichkeit Glauben machen wollte.281 Zu Recht trat der Obergerichtsdirektor Christian Wiederhold diesem Verharmlosungsversuch entgegen, weil das Offizierskorps in vorkonstitutioneller Zeit von dem „Machtbefehle des Regenten“ abhängig gewesen war und erst die Verfassungsurkunde die Soldaten „denselben Grundsätzen des Rechtes und der Billigkeit“ unterstellt hatte wie die Zivilbeamten.282 Tatsächlich hatten sich erst vor rund 15 Jahren 249 Subalternoffiziere wegen ihrer unzureichenden Bezüge hilfesuchend an die alten Landstände gewendet, die sich das Anliegen zunächst zu eigen machten, dann aber unter dem Druck des Kurfürsten doch einknickten. Seit dem Inkraft­ treten der Januarverfassung hatte die Kammer endlich auch in militärischen Be­ soldungs- und Versorgungsfragen ein Wörtlein mitzureden. In der Ernennungsstreitigkeit ging es für die Kammer also einmal darum, die Soldaten durch ihre den Landständen zu verdankende, neue materielle Sicherheit enger an den konstitutionellen Staat zu binden.283 Demgegenüber bedeuteten die vorkonstitutionellen Anwandlungen des Landesherrn über den konkreten Anlass hinaus ein reales Risiko. Auf die Nachteile jeder persönlichen Abhängigkeit des Militärs gegenüber dem Landesherrn wies wenige Jahre später Friedrich Murhard dramatisch, aber keineswegs unzutreffend hin: Der oppositionelle Schriftsteller sah „Sicherheit und Freiheit der Staatsbürger im höchsten Grade gefährdet“, wenn ein Monarch „in Friedenszeiten unmittelbare Befehle an das stehende Heer […] ertheilen“ könne und so „mit Hülfe der Bajonette jede Maasregel seiner Willkühr durchzusetzen, ja die Verfassung selbst über den Haufen zu stürzen“ imstande sei.284 Drohten schlimmstenfalls Despotie und Staatsstreich, verkürzten die unmittelbaren Er­ nennungen etc. als Ausnahme von der konstitutionellen Regel, dass sämtliche Staatsaufgaben von verantwortlichen Ministern wahrgenommen werden mussten, in jedem Fall die Rechte der Kammer auf Mitsprache und Kontrolle. In die 279

F. Murhard, PölJB 1834/2, 114 (135). Zum Ganzen G. Hollenberg, HessJbLGesch 34 (1984), 101 (118 ff.) sowie M. Arndt, Militär, 1996, S. 118 ff. und aus zeitgenössischer Sicht C. Venturini, Chronik VI (1833), S. 295 f. 281 Er polemisierte, dass die Kammer, „[h]ielte man dafür, daß es nichts Dringenderes im Lande gebe, als Feststellung eines andern Geschäftsganges für die Offiziers-Beförderungen, […] nicht säumen [möge], die deshalbigen Wünsche auszudrücken“ (VerKhLT 1831, S. 356). 282 VerKhLT 1831, S. 360 f. Zur Abhängigkeit des Militärs im Absolutismus vgl. G. Hollenberg, HessJbLGesch 34 (1984), 101 (118 f.). 283 s. dazu G. Hollenberg, HessJbLGesch 34 (1984), 101 (113 ff.). 284 F. Murhard, PölJB 1834/2, 114 (116 f.). 280

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sem Sinne ermahnte der Prokurator Carl Eckhard die Landstände, dass es „sich hier von einer sehr wichtigen Angelegenheit [handele], vielleicht von der wichtigsten, welche jemals in einer deutschen Stände-Versammlung vorgekommen sey“. Wirkt seine Sorge, dass man am „Wendepunkt für die ganze fernere Wirksamkeit der Stände-Versammlung, vielleicht für deren künftige Existenz“ stehe, aus heutiger Perspektive auch übertrieben, war sie aus der damaligen Sicht eines konstitutionellen Liberalen durchaus angebracht.285 Immerhin ging es um den klassischen Konflikt, ob die bewaffnete Macht als exemtes Überbleibsel vorkonstitutioneller monarchischer Macht oder gleichsam unter landständischem Kondominat fortbestehen sollte.286 Neben diesen innenpolitischen Faktoren wurde die Bedeutung des Ernennungsstreits durch außenpolitische Umstände gesteigert: Einerseits waren die Ernennungen etc. u. a. ausgerechnet im Hinblick auf eine letztlich unterbliebene Bundesmilitäraktion erfolgt.287 Zum anderen gestand die Wiener Schlussakte dem Deutschen Bund Exekutions- und Interventionsrechte zu, wenn ein Einzelstaat seine bundesrechtlichen Pflichten verletzte oder „Widersetzlichkeiten der Unterthanen“ nicht entgegentrat. Ausreichenden Anlass konnte schon eine politische Schwäche des Landesherrn gegenüber den Ständen geben. Vor diesem Hintergrund sind die im Dunstkreis des Ernennungsstreits kursierenden Gerüchte nachvollziehbar, „daß sich der deutsche Bund in diese Angelegenheit einmischen werde, und […] bereits eine östreichische Armee […] dazu bestimmt sey, Kurhessen zu besetzen“.288 Angesichts dieser innen- wie außenpolitischen Brisanz war der Ernennungsstreit also geradezu für einen landständischen Kontrollversuch prädestiniert, zumal die in ihrer Reichweite streitige militärische Präponderanz des Landesherrn in der­ Januarverfassung erst auf gouvernementalen Druck hin in der letzten Beratungsphase verankert worden war.289 Es gab also gewissermaßen auch alte Rechnungen zu begleichen. (2) Landständische Auskunftsersuchen Ende April unterrichtete der gemäßigte Liberale Hermann Müller die Stände von Gerüchten und Presseberichten, dass mehrere militärische Personalentscheidungen „wenigstens zum Theil nicht auf verfassungsmäßige Weise erfolgt“ seien, 285

Carl Eckhard, VerKhLT 1831, S. 362. Dazu allg. E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 2006, S. 273 (287 ff.). 287 Vgl. P. Losch, KhGesch, 1922, S. 168. 288 s. Carl Eckhards Bericht, VerKhLT 1831, S. 362. Tatsächlich hatte die Donau­monarchie erst im Vorjahr erfolglos auf ein Einschreiten in den „von politischen Bewegungen heim­ gesuchten Bundesländer[n]“ gedrungen. Außerdem versuchte Metternich mehrfach, gegen die kurhessische Verfassung vorzugehen. Dazu L. F. Ilse, Politik Großmächte, 1861, S. 6 ff., 11 ff., 14 ff., 31 ff. und H. Seier, in: Heinemeyer (Hg.), Verfassungsstaat, 1982, S. 51. 289 Dazu H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (65 f.). 286

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und brachte so den Stein ins Rollen. Weil die Landstände „nicht nur befugt, sondern auch verpflichtet [wären], in allen Fällen sich die erforderlichen Nachweisungen darüber zu verschaffen, daß die Verfassung von den Staatsbehörden nicht verletzt sey“, verlangte der Hanauer Regierungssekretar, „daß der landesherrliche Herr Kommissar ersucht werden möge, eine genügende Auskunft und Erläuterung über den Gegenstand zu veranlassen, namentlich ob der verfassungsmäßige Vorschlag und die Kontrasignatur gehörig Statt gefunden“ hätten.290 Am 6. Mai 1831 stimmte das Plenum diesem interpellationsartigen Begehren zu.291 Die §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831 kamen, obgleich thematisch tangiert, nicht zur Sprache. Statt einer Antwort versuchte sich der vorläufige Vorstand des Kriegsministeriums, Generalmajor Friedrich Wilhelm v. Loßberg, zu verteidigen, dass er keineswegs allgemein, sondern wegen § 107 KhVerf­Urk 1831 nur unter den Voraussetzungen des § 62 Kh­StDG 1831292 zum Vorschlag berechtigt wäre293. Mit dieser Einlassung gab sich die Kammer nicht zufrieden: Weil unzweifelhaft Personalentscheidungen ohne Vorschlag erfolgt seien und eine Äußerung zur Gegenzeichnung noch ausstehe, verlangte Hermann Müller, „den landesherrlichen Hrn. Kommissar um gefällige weitere Auskunft zu ersuchen“, „bei welchen einzelnen Ernennungen, Beförderungen und Versetzungen von Officieren […] ein Vorschlag gar nicht statt gefunden“ habe bzw. „von welcher Behörde er geschehen“ sei. Mit der Ankündigung, dass man nach erfolgter Auskunft ggf. „weitere Schritte danach […] bemessen“ könne, ging der Liberale über die Provokation, die jede Forderung konkreter Einzelheiten für die Regierungsseite bedeuten musste, noch hinaus.294 Die Landstände schlossen sich dem Antrag unter dem 16. Mai 1831 „wegen Unzulänglichkeit des […] Schreibens des provisorischen Vorstandes des Kriegsministeriums“ an.295 Neben dieser verbalen Spitze, die, öffentlich geäußert, schon zur politischen Regierungskontrolle zählte, versuchten sie, mit ihrem detaillierten Informationsersuchen tief in die Militärhoheit vorzudringen, die der Kurfürst als quasi extrakonstitutionelles Reservatrecht für sich beanspruchte. Ein grundsätzlicher Streit war damit zwangsläufig vorprogrammiert.

290

VerKhLT 1831, S. 38. VerKhLT 1831, Sp. 80 sowie S. 45. 292 „§. 62. Ueber die Dienst-Anweisungen und die Dienstverrichtungen, die Beförderung und die Verabschiedung, desgleichen das Subordinazions- und Strafverhältniß des Militär­standes sind die nöthigen Bestimmungen in den Militär-Reglements, den Kriegs-Artikeln und sonstigen Dienstvorschriften enthalten, zu welchen die durch die Verfassungs-Urkunde erfolgten, und künftig mit den verfassungsmäsigen Gesetzen eintretenden Abänderungen alsbald nachzutragen sind, wofern nicht eine gänzliche Umarbeitung derselben zweckdienlicher befunden würde. Ueberhaupt sind diejenigen Vorschriften, deren Inhalt zu gesetzlicher Bestimmung­ unter landständischer Mitwirkung sich eignet, einer Revision auf verfassungsmäsige Weise zu unterwerfen.“ 293 VerKhLT 1831, Sp. 80 f. Abdruck auch als Beil. A., S. 208. 294 VerKhLT 1831, Anl. Ziff. XLVI, Sp. 85. 295 VerKhLT 1831, Anl. Ziff. LXIX, S. 150. 291

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Ende Mai 1831 fiel die Antwort der Regierung296 dementsprechend wieder alles andere als erschöpfend aus; insbesondere fehlten Angaben über die Betroffenen.297 In der Sache versuchte der Kriegsminister, seine Verantwortlichkeit auf budgetrechtliche Fragen zu reduzieren, und betonte, dass er die Ernennungsordres „als eine Legitimation für die Zahlungsbehörden“ gegengezeichnet habe, „da die […] allerhöchst befohlenen Avancements den bisherigen Grundetat nicht“ überschritten.298 Dem lag die unausgesprochene Prämisse zugrunde, dass Personal­ entscheidungen des Kurfürsten auch ohne Vorschlag und Gegenzeichnung wirksam wären. Prompt monierte der Abgeordnete Müller Anfang Juni 1831299 wieder die Unzulänglichkeit der Auskunft, weil die „bestimmt aufgestellte Frage: welche einzelne Ernennungen, Beförderungen und Versetzungen ohne Vorschlag, und welche mit Vorschlag erfolgt seyen, gar nicht berührt“ worden sei. Mit dem Nachsatz, dass den „Ständen die Beantwortung […] nach dem §. 92 der V. U. nicht verweigert werden“ dürfe, kam dieses interpellationsartige Recht erstmalig zu­ Ehren. Dem Plenum legte Hermann Müller nahe, den „Landtagskommissar nochmals dringend um die verlangte Auskunft anzugehen“ oder diese „von dem Herrn Vorstande des Kriegsministeriums persönlich in der Sitzung […] zu erbitten“.300 Dass tatsächlich „Ernennungen, Beförderungen und Versetzungen […] statt gefunden [hätten…], ohne daß der Vorschlag des Kriegsministeriums dazu vorausgegangen [sei…]; und daß der provisorische Vorstand des Kriegsministeriums des­ üller sen ungeachtet seine Kontrasignatur dazu ertheilt“ habe, stützte Hermann M auf offiziöse Berichte in der Kasselschen Allgemeinen Zeitung sowie die bisherigen Ministerialauskünfte.301 Mangels Selbstinformationsrechts mussten allgemeine Quellen bei der Regierungskontrolle herhalten. Indem die Versammlung einstimmig dem Vorschlag folgte, die Sache wegen der „Wichtigkeit der Fragen […] vorerst einem Ausschusse zur weitern Prüfung und Beurtheilung“ zu überweisen,302 gab sie ein erstes regierungskritisches Votum ab.303 Trotzdem war das niedergesetzte Gremium keineswegs ein Untersuchungsausschuss, sondern lediglich ein Vorberatungsgremium „in Gemäsheit des bei der hohen Ständeversammlung eingeführten Geschäftsgangs“.304 In den Ausschuss wurden Burchard Wilhelm Pfeiffer, Sylvester Jordan, Vizepräsident Oberappella 296

VerKhLT 1831, Anl. Ziff. LXIX, S. 150. VerKhLT 1831, S. 149 f. Abdruck auch als Beil. B., S. 208 f. 298 VerKhLT 1831, Anl. Ziff. LXIX, S. 150 (Hervorhebung nur hier). So hatte der Landesherr Beförderungen etc. früher nach freiem Ermessen verfügt und die entsprechenden Ordres lediglich zur Vorbereitung der Bestallungspatente und Erteilung der Zahlungsanweisungen dem Generalkriegsdepartement mitgeteilt. Vgl. G. Hollenberg, HessJbLGesch 34 (1984), 101 (118). 299 VerKhLT 1831, S. 146 f. 300 VerKhLT 1831, Anl. Ziff. LXIX, S. 150. Der zitierrechtliche Ansatz wurde nicht weiterverfolgt. 301 VerKhLT 1831, Anl. Ziff. LXIX, S. 150. 302 VerKhLT 1831, S. 149 ff., 151. 303 VerKhLT 1831, S. 146 f. 304 So Hermann Müllers eigenes Urteil nach VerKhLT 1831, S. 151. 297

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tionsrat Moritz v. Baumbach sowie der Antragsteller Hermann Müller gewählt.305 Zwei Tage später folgte ihnen der gemäßigt liberale pensionierte Generalmajor Karl Landgraf v. Hessen-Philippsthal-Barchfeld,306 so dass der Ausschuss rein liberal besetzt war. Anders als es unter der Herrschaft des Spiegelbildlichkeitsgrundsatzes heute möglich wäre, wurde der gouvernementalen Seite auch nicht ein einziger Sitz zugestanden.307 Mitte Juni 1831 wendete sich der Ausschuss  – wahrscheinlich aufgrund des ungenannten § 93 KhVerf­Urk  1831  – an den Landtagskommissar, um sich „folgende genauere Nachweisungen zu verschaffen: 1.) die namentliche Angabe der einzelnen Personen, deren Ernennung etc. ohne Vorschlag […] erfolgt [sei…]; 2.) die Mittheilung der Ernennungs-Patente oder Ordres in Beziehung auf die betreffenden Militair-Personen […], so wie 3.) der Zahlungs-Anweisungen in Beziehung auf sämmtliche Militair-Personen, welchen […] eine Gehalts-Vermehrung zu Theil geworden“ sei.308 Trotz des in diesem Kontext heute ungebräuchlichen Substantivs machten die Abgeordneten mit der begehrten „Mittheilung“ nichts­ anderes als ein Vorlagerecht hinsichtlich der betreffenden Urkunden und Akten geltend.309 Der Minister erwiderte dennoch, „daß die gewünschte Angabe der einzelnen Personen […] durch [eine frühere…] Erläuterung […] erledigt“ wäre, und erteilte bloß in einem Fall die direkte Auskunft, dass der „mit der oberen Leitung des Kriegs-Departements und den Geschäften eines 2ten Commandanten der Residenz beauftragte Generalmajor von Heßberg“ kein höheres Gehalt beziehe. Ansonsten berief sich der Kriegsminister darauf, dass die streitigen Personalentscheidungen „wegen des Andranges sonstiger Dienstgeschäfte“ überhaupt „noch nicht ausgefertigt und allerhöchst vollzogen“ seien.310 In der Kammer eröffnete Burchard Wilhelm Pfeiffer seine Philippika am folgenden Tag mit einem Zitat aus dem badischen Landtag,311 das nur als Kampfansage gegenüber der Regierung gedeutet werden konnte: „Darum handelt es sich, daß der Glaube an die Heiligkeit und Unverletzlichkeit unsrer Verfassung nimmermehr wankend gemacht werde!“312 In der Sache entscheide ein landständischer Erfolg oder Misserfolg darüber, ob das „Lebensprinzip der Verfassung“ gestärkt 305

VerKhLT 1831, S. 159. VerKhLT 1831, S. 166. 307 Zur Parteistellung der Abgeordneten s. E. Grothe, Verfassungsgebung, 1996, S. 415. 308 Bericht Pfeiffer, VerKhLT 1831, Anl. Ziff. XC, S. 201. 309 Vgl. die Erläuterungen zu dem entsprechenden Verb bei J. H. Campe (Hg.), Wörterbuch, 1809, S. 325: „Theil an etwas nehmen lassen, einem Andern einen Theil von dem Seinigen geben. […] In weiterer Bedeutung sagt man auch, einem eine Nachricht mittheilen“ (Hervorhebung nur hier). 310 VerKhLT 1831, S. 209. 311 Es handelt sich wohl um ein Zitat Karl Egon Fürst v. Fürstenbergs aus der Debatte vom 13. Mai 1831 „über die Adresse der zweiten Kammer auf Wiederherstellung der §§ 29. 38. und 46. der Verfassungsurkunde“; u. a. ging es um die Wahlen sowie die zwei- oder dreijährige Landtagsperiode (VerhBad1K 1831/I, S. 253). 312 Bericht Pfeiffer, VerKhLT 1831, Anl. Ziff. XC, S. 201. 306

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oder „in kraftlosen Schlummer“ versinken werde. Die Antwort des Kriegsministers qualifizierte er als ebenso „ungenügend in Beziehung auf die noch vermißten Nachweisungen, wie unerheblich für das […] Sachverhältniß“. Aus den „vorhandenen Aktenstücken“ berichtete Pfeiffer weiter, dass noch drei Monate nach Inkrafttreten der Verfassungsurkunde 22 Ernennungen, Beförderungen und Versetzungen „offenbar verfassungswidrig“ ohne Vorschlag oder Gegenzeichnung vollzogen worden seien.313 Den Versuch des Ministers, die Kontrasignatur auf eine „Legitimation für die Zahlungs-Behörden“ herabzudrücken, wies der Jurist entschieden zurück. Stattdessen charakterisierte er diesen staatsrechtlichen Akt, heutigen Überlegungen zur Ausfertigung von Regierungsakten nicht unähnlich,314 als „amtliches Zeugniß eines verantwortlichen Ministerial-Vorstandes über die verfassungsmäßige Behandlung der betreffenden Staatsangelegenheit“.315 Im Anschluss an dieses Vorgeplänkel wurden schwerere Geschütze aufgefahren: Angesichts des bekannten Sachverhalts hielt Burchard Wilhelm Pfeiffer die Landstände nicht bloß für befugt, sondern wegen § 100 KhVerf­Urk 1831 für verpflichtet, Anklage gegen den Kriegsminister zu erheben.316 Außerdem sei die Regierung zu­ ersuchen, „die Vollziehung der in […] der hiesigen allgemeinen Zeitung […] bekannt gemachten 22 Ernennungen, Beförderungen und Versetzungen […] als nicht geschehen zu betrachten“.317 Dieser eigentümliche Kassationsantrag war zweifellos dem Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit geschuldet. Die Ausschussanträge, die neben einer Ministeranklage darauf abzielten, militärische Personalentscheidungen des Landesherrn zu desavouieren, markierten eine deutliche Eskalation der Lage. Erschwerend kam hinzu, dass die umstrittenen Ernennungen im Kontext einer geplanten Bundesmilitäraktion in Luxemburg erfolgt waren.318 Neben dem innenpolitischen Prestigeinteresse des Kurfürsten musste deswegen auch das Risiko einer Bundesintervention das Kurhaus zu einer harten Linie zwingen. (3) Kompromissantrag und weitere Eskalation Während Sylvester Jordan für die Anklage eintrat, meldeten die regierungsfreundlichen Landstände Andreas Kaitz und Friedrich Graf v. Degenfeld-Schonburg aufgrund des vermeintlich unklaren Verfassungswortlauts Zweifel an. Weiter ging der Einwand des Schmalkaldener Bürgermeisters Johannes Auffarth, „daß 313

Bericht Pfeiffer, VerKhLT 1831, Anl. Ziff. XC, S. 201 ff. Vgl. BVerfGE 91, 148 (170 f.) zur Ausfertigung von Rechtsverordnungen. 315 Bericht Pfeiffer, VerKhLT 1831, Anl. Ziff. XC, S. 207 f. 316 Bericht Pfeiffer, VerKhLT 1831, Anl. Ziff. XC, S. 204 f. 317 Bericht Pfeiffer, VerKhLT 1831, Anl. Ziff. XC, S. 208. 318 Vgl. G. Hollenberg, HessJbLGesch 34 (1984), 101 (118 f.) und P. Losch, KhGesch, 1922, S. 168 sowie zu Aufstand und Bundesintervention E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 115 ff. 314

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man selbst in der Stände-Versammlung Ansichten oder Anträge einzelner Mitglieder […] mitunter als verfassungswidrig“ bezeichnet habe. Da zudem „ganze Richterkollegien“ das Recht „unrichtig“ interpretieren könnten, heiße es, von einem Minister „Unmögliches“ zu verlangen, „wenn […] nur Er allein infallibel seyn und niemals irren solle“. Unter der Herrschaft solcher Maßstäbe werde sich künftig „Niemand mehr zur Uebernahme einer so gefahrvollen Stellung verstehen“. Obwohl man das Verhalten Friedrich Wilhelm v. Loßbergs möglicherweise kritisieren könne, sei jeder Verbrechensvorwurf einer Verfassungsverletzung deplatziert.319 Die gouvernementale Seite bemühte sich in der Debatte also nicht bloß darum, den vorläufigen Kriegsminister zu entschuldigen, sondern versuchte mit der Allegorie zu dem römisch-rechtlichen Grundsatz, impossibilium nulla est obligatio, das landständische Anklagerecht zu verwässern oder wenigstens auf vorsätzliche Verstöße zu beschränken. Wie angespannt die Atmosphäre war, zeigt eine Protokollnotiz, dass, „[n]achdem der Redner geendigt, […] Hr. Dep. Jordan seine Freude darüber durch ein: Gott sey Dank! zu erkennen“ gegeben habe.320 Zwei Tage nach einer kontroversen321 Vertagung der Sitzung schlug der gouver­ nementale Landstand322 August Karl vor, „die Diskussion und Beschlußnahme über den Antrag des Ausschusses […] auszusetzen, und die Regierung zu ersuchen, den Ständen Vorschläge zur Ausgleichung der Sache baldigst vorlegen zu lassen“.323 Gegen eine „nicht unumstößlich begründet[e]“ Anklage v. Loßbergs wendete der Hanauer Obergerichtsanwalt ein, dass man dem bejahrten Offizier die falsche Interpretation einer unvollständigen und mehrdeutigen „Bestimmung­ […], die nach […] seinem Urtheile gegen die Grundlage des Militärwesens sey“, vergeben müsse, zumal es um einen „besonderen, zweifelhaften Fall“ gehe, der sich nicht wiederholen werde. Auf eine Anklage könne man überdies jedenfalls dann verzichten, „wenn durch einen Vergleich […] dasselbe geboten“ werde. Als Kompromiss schwebte August Karl eine – ohnehin für eine entschuldbare unvorsätzliche Verfehlung „höchstens“ angemessene – „bloße Entfernung vom Amte“ vor.324 Trotz dieses konzilianten Vorschlags insistierte Ausschussberichterstatter ­Pfeiffer, dass vor jedem Vermittlungsversuch über die Vorfrage entschieden werden müsse, „ob in den […] Ernennungen eine Verfassungswidrigkeit vorliege“; erst nach dieser Feststellung liege die Initiative zu einem Kompromiss bei der „Staatsregierung, d. h. dem Landesherrn mit verfassungsmäßigem Beirathe des Gesammt-Staats­ ministeriums“.325 Wie harmlos dieser Vorschlag auch daherkam, ging es in der Sache 319

VerKhLT 1831, S. 344 f., 346, 348 ff. VerKhLT 1831, S. 351. 321 Der Frage des Präsidenten, „ob nicht die Sitzung, nach einer so langen Dauer derselben, für heute zu schließen sey“, widersprachen die Liberalen Burchard Wilhelm Pfeiffer, Georg Heinrich Scheuch und Carl Eckhard, VerKhLT 1831, S. 351 f. 322 E. Grothe, Verfassungsgebung, 1996, S. 415. 323 VerKhLT 1831, S. 351. 324 VerKhLT 1831, S. 353 f. 325 VerKhLT 1831, S. 354 f. 320

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doch um nichts anderes als einen Missbilligungsbeschluss gegen den Kriegsminister. Obwohl der regierungsfreundliche Landstand Philipp Ernst v. Landsberg den Antrag Karl für vorrangig hielt, weil eine „einseitige Auslegung“ der durch Landesherrn und Stände geschaffenen Verfassung ausscheide und deswegen kein in der Sache zweifelnder Landstand „pflichtmäßig […] mit Ja oder Nein abstimmen“ könne,326 schlug der gemäßigt konservative Präsident Friedrich v. Trott zu Solz die Abstimmungsfrage vor, „ob eine Verfassungswidrigkeit in objektiver Hinsicht stattgefunden habe“, um mit dieser offenen Fassung sowohl ein nachfolgendes Votum für die Anklage als auch für den Karl’schen Kompromissweg zu ermöglichen. Ungeachtet des Widerspruchs des Landtagskommissars und der Landstände Carl Waitz v. Eschen und Carl v. Eschwege, dass die Verfassungsurkunde in § 154 mit Einigungsversuch und Kompromissgericht einen anderen Weg weise, blieb der Präsident dabei, dass zuerst der Dissens festgestellt werden müsse.327 Während sich verschiedene Liberale diese Position zu eigen machten,328 stellte Johannes Auffarth in Abrede, dass der Kammer überhaupt eine Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit zustehe.329 Diese Stellungnahme war offensichtlich von einer Abneigung gegen die Vorstellung beherrscht, dass die Landstände über die Minister urteilen könnten. Nach dem Scheitern eines Antrags, die Angelegenheit zur Berichterstattung an einen Ausschuss zu verweisen, fasste der Präsident die Abstimmungsfrage dahin, „ob durch die Vollziehung der in Rede stehenden Ernennungen und Beförderungen die §§ 53 und 108 der Verf. Urk. verletzt worden seyen“. Um mit der Ermöglichung differenzierter Voten von der Regierungsposition noch zu retten, was zu retten war, versuchte Landtagskommissar Eggena durchzusetzen, dass jeder potentiell verletzte Verfassungssatz und jede Maßnahme des Kriegsministers „zum Gegenstande einer besondern Frage gemacht“ würden. Trotz des Einwands, dass von der vorgeschlagenen Fragestellung „die allerhöchsten Armeebefehle“ erfasst würden, Akte des Kurfürsten aber keiner landständischen Kontrolle unter­lägen, änderte der Präsident seinen Formulierungsvorschlag mit Plazet des Plenums bloß dahin ab, ob „durch die Vollziehung der fraglichen Ernennungen und Beförderungen ohne Vorschlag oder Kontrasignatur den Vorschriften der §§ 53 und 108 der Verfassungs-Urkunde zuwider gehandelt worden“ sei.330 Nach weiteren Diskussionen wurde die Verfassungswidrigkeit der Ernennungen etc. „mit 29 gegen 13 Stimmen bejahet“. 12 gouvernementale Landstände gaben ihren Widerspruch zu Protokoll, weil ihnen die einheitliche Fragestellung kein differenziertes Votum 326

VerKhLT 1831, S. 355. VerKhLT 1831, S. 359. 328 VerKhLT 1831, S. 360, 361. 329 VerKhLT 1831, S. 363 f. Es handelte sich um den Kasseler Bürgermeister Karl Schomburg und den gemäßigt liberalen Rintelner Obergerichtsdirektor Christian Wiederhold, der später für kurze Zeit Minister und Vorstand des Gesamtministeriums werden sollte. Zu Wiederhold s. H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (74 bis 76). 330 VerKhLT 1831, S. 364 f. 327

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ermöglicht habe.331 Trotzdem hatte die Kammer ihren Kontrollanspruch mit dieser Resolution erfolgreich gegenüber innerem und dem Widerstand des kurfürstlichen Landtagskommissars verteidigt. Nach diesem vernichtenden landständischen Verdikt  – heute würde man von einem Tadels- oder Missbilligungsbeschluss sprechen332  – wurde die Beratung über die verbleibenden Ausschussanträge, die Ministeranklage und die Annullie­ rung der Ernennungen etc., auf Drängen des Landtagskommissars in vertraulicher Sitzung fortgesetzt.333 Eine Woche später wurde „nach langen Debatten“ in einer weiteren vertraulichen Sitzung beschlossen, „daß es der dringende Wunsch der Stände-Versammlung sey, der weitern Verhandlung dieser Sache durch eine Verständigung […] überhoben zu werden“. Sollte die Regierung nicht binnen vier Wochen einen angemessenen Vorschlag vorlegen, werde man die ausstehenden Anträge weiterverfolgen.334 Mit dieser Wendung nahm, was als Vermittlungsversuch begonnen hatte, letztendlich die Gestalt eines Ultimatums an. Der Ernennungsstreit hatte sich endgültig zur Machtprobe ausgewachsen. (4) Ein landständisches Aktenvorlagerecht? Am 26. September 1831 unterrichtete Sylvester Jordan die Landstände über das Gerücht, dass „wieder mehrere Offiziere […] durch eine blose Ordre […] ernannt worden sey[e]n“. Besonders skandalös war dieses Mal, dass verschiedene Betroffene „vorher durch die Militär-Prüfungskommission […] für untüchtig erklärt“ worden sein sollten. Der liberale Oppositionelle verlangte, „das Kriegsministerium um schleunige Aufklärung und Mittheilung der Aktenstücke der Militär-­ Examinationskommission zu ersuchen“, um diesem so „Gelegenheit zu verschaffen“, auf die Gerüchte zu erwidern.335 Indem Jordan seine Forderungen nicht auf Auskünfte beschränkte, sondern Aktenvorlage verlangte, brachte er ein gewisses Misstrauen gegenüber der Regierung und ihrer Auskunftsfreude zum Ausdruck. Sublim schwang auch der Wunsch nach unmittelbarer Information aus den Akten mit, also wenigstens ansatzweise nach einer Selbstinformationsmöglichkeit, wie sie für das moderne Untersuchungsrecht typisch ist. 331 VerKhLT 1831, S. 365 ff. So erklärte Wilhelm v. Baumbach, dass er im Fall der „Trennung […] die Frage hinsichtlich der Verletzung des §. 53 bejahet, hinsichtlich der des §. 108 verneint haben würde“. Weitere Vorbehalte erklärten Johannes Auffarth, Philipp Ernst v. Landes­berg, Andreas Kaitz, Friedrich Graf v. Degenfeld-Schonburg, Borries v. Hammerstein, Carl v. Eschwege sowie die Landstände v. Isenburg, v. Riedesel, Carl Freiherr Waitz v. Eschen, Bernhard v. Göddäus und Friedrich August Bogislaw v. Heidwolf. 332 Zur historischen Entwicklung s. J.-D. Kühne, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 2 Rn. 34 sowie zur heutigen Praxis N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 485 f. und S. Detterbeck, in: HdbStR III3 2005, § 66 Rn. 43. 333 VerKhLT 1831, S. 367 f. 334 VerKhLT 1831, S. 389. 335 VerKhLT 1831, S. 673 (Hervorhebung nur hier).

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Nachdem Vizepräsident Moritz v. Baumbach mit Zustimmung des Präsidenten die Frage aufgeworfen hatte, „ob man sogleich auch um Mittheilung der Akten der Examinationskommission ersuchen“ oder sich vorerst auf ein Auskunftsersuchen beschränken solle, weil ein ggf. später zu ernennender Ausschuss „erforderlichen Falls die einschlagenden Aktenstücke sich erbitten werde“, bestritt Landtagskommissar Eggena, dass die Kammer überhaupt „befugt [wäre], die Staatsregierung um Mittheilung der Akten zu ersuchen“. Allein für „Gegenstände […], die in dem Rechte der ständischen Verwilligung lägen“ – also für die besonderen Befugnisse der §§ 98, 143 f. KhVerf­Urk 1831336 – komme ihr die „Einsicht aller Akten, a­ ller Belege, kurz alles Sachdienlichen, was die Staatsregierung […] nur besitze“, zu. Der entschiedene Liberale Carl Eckhard konterte, „daß die Stände-­Versammlung nach § 92 der Verfassungs-Urkunde ganz im Allgemeinen befugt sey, Akten­ einsicht zu verlangen“. Sylvester Jordan verwies nicht nur auf diesen Paragraphen, „wobei allerdings die Stände-Versammlung zu bestimmen habe, welche Aufklärung zweckdienlich sey“, sondern auch auf andere Verfassungsbestimmungen. Mit dem Argument, dass die Stände, soweit sie unzweifelhaft verpflichtet seien, „für Aufrechthaltung der Verfassung zu sorgen“, auch die dafür erforderlichen „Mittheilungen […] verlangen“ dürften, antizipierte der Marburger Staatsrechtler ein Stück weit die heute herrschende Korollartheorie. Ein anderer denkbarer Anknüpfungspunkt, mit jenem eng verwandt, war die Grundregel des § 89 EinlALR 1794, dass die Gesetze demjenigen, dem sie „ein Recht geben, […] auch die Mittel­ [bewilligen], ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann“. Bevor diese Streitfragen zum Schwur kamen, wiegelte der Präsident ab, dass es nicht darum gehe, „ob die Stände-Versammlung das Recht habe, die Akten einzufordern, sondern […], ob es schon an der Zeit sey, die Mittheilung der Akten zu begehren“. Obwohl er dem Ausschussberichterstatter Pfeiffer grundsätzlich zustimmte, trat er doch Jordans Auffassung bei, „daß die Mittheilung der Akten verlangt werden könne“. In der Abstimmung wurde der Antrag, „die Staatsregierung um Auskunft zu ersuchen“, angenommen, derjenige auf Aktenvorlage dagegen „mit 19 gegen 18 Stimmen verworfen“.337 Nachdem ein offener Konflikt über das Aktenvorlagerecht so vorerst vermieden werden konnte, leitete der Landtagskommissar der Ständeversammlung am 6. Oktober 1831 im Auftrag des Kriegsminis­ teriums ein „Schreiben als Auskunft über die neulich stattgehabten Offiziers­ ernennungen“ zu. Zugleich überreichte er eine „Ernennungs-Urkunde […] in Urschrift, mit Bitte um demnächstige Rückgabe“, aus der hervorging, dass der 336

In § 143 KhVerf­Urk  1831 ist von einer „Verwilligung von Abgaben“, in § 144 KhVerf­ Urk  1831 von der „Verwilligung des ordentlichen Staatsbedarfes“ die Rede. Demgegenüber hatten die Landstände die „verfassungsmäsigen Rechte des Landes geltend zu machen und […] das […] Wohl des Landesherrn und des Vaterlandes […] zu befördern“ (§ 89 KhVerf­ Urk 1831). Jede Belastung des Staatsgebietes mit Schulden etc. bedurfte ihrer „Einwilligung“ (§ 94 KhVerf­Urk 1831) und der Erlass, die Aufhebung, Abänderung oder authentische Inter­ pretation eines Gesetzes ihrer „Beistimmung“ (§ 95 KhVerf­Urk 1831). 337 VerKhLT 1831, S. 673 f.

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landesherrlichen Entscheidung dieses Mal ein Vorschlag des Ministeriums vorausgegangen war.338 Auch die Regierung ließ den Konflikt also nicht eskalieren. (5) Die Beilegung des Ernennungsstreits Ebenso wenig kam es in der seit dem Frühjahr schwelenden Hauptstreitigkeit zur Nagelprobe. Dabei wurde der vorläufige Vorstand des Kriegsministeriums Friedrich Wilhelm v. Loßberg zur tragischen Figur. Hinter den Kulissen hatte er sich zunächst für eine strengere Beachtung der Verfassung eingesetzt, dann doch dem Willen seines Herrn gebeugt und die ihm aufgezwungene Verfahrensweise letzten Endes in der Kammer verteidigt.339 Nachdem Kurprinz Friedrich Wilhelm die Regierungsgeschäfte Ende September 1831 formal als Mitregent, de facto aber vollständig übernommen hatte, opferte er den Kriegsminister, um durch diese populäre Entscheidung Ansehen und Rückhalt zu gewinnen.340 Mitte Oktober 1831 erklärte Landtagskommissar Eggena just an dem Tag, an dem die Angelegenheit wieder auf der Tagesordnung stand, „daß des Kurprinzen und Mitregenten Hoheit den General Major v. Loßberg von der […] Stelle eines Vorstandes des Kriegsministeriums zu entbinden geruht hätten, […] weil Höchstdieselben von dem Wunsche beseelt seyen, immer ein gutes Vernehmen mit den Ständen zu befördern, und deshalb der Wiederaufnahme einer früher entstandenen Miß­helligkeit vorzubeugen“; auch die „verfassungsmäßige Ausfertigung der in Betracht gezogenen Offiziers-Ernennungen [sei] inzwischen erfolgt“.341 Darauf fasste die Ständeversammlung in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss, die noch offenen Anträge „theils gänzlich, theils in so weit für erledigt zu halten  […], als man nunmehr […] ausnahmsweise, von einer Anklage […] absta­ hiren342 könne“. Weiterhin drückte sie mit der Resolution ihre „dankbare Anerkennung“ dafür aus, „daß von Sr. Hoheit dem Kurprinzen und Mitregenten, in der ruhmwürdigen Absicht, Verhältnisse, welche diese Versammlung für unvereinbar mit den Bestimmungen der Verfassungs-Urkunde erklärt habe, im Einklange mit dieser zu beseitigen, die von dem Hrn. Landtagskommissar eröffneten Schritte geschehen seyen“.343

338

VerKhLT 1831, S. 723. Vgl. G. Hollenberg, HessJbLGesch 34 (1984), 101 (119 f.). 340 Zum Regierungswechsel H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (73 f.); C. W. Wipper­ mann, Kurhessen, 1850, S. 241 ff. und P. Losch, KhGesch, 1922, S. 169 f., 177 sowie M. Arndt, Militär, 1996, S. 118 ff. zum Ernennungsstreit. 341 VerKhLT 1831, S. 766. 342 Im Original heißt es hier sinnentstellend „abstrahiren“. 343 VerKhLT 1831, S. 777 f. 339

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(6) Zwischenergebnis Die Ernennungsstreitigkeit ist auch über ihre unmittelbar informationsrechtlichen Aspekte hinaus als frühes Beispiel eines augenscheinlich erfolgreichen Versuchs der Landstände, die Regierung zu kontrollieren, für die Entstehung des Enquête- und Untersuchungsrechts von Bedeutung. Obwohl sich der Kurprinz­ anscheinend der liberalen Kammermehrheit beugte, geht es doch zu weit, von einem parlamentarischen Ministersturz zu sprechen.344 Schließlich hatte die Ständeversammlung keineswegs einen missliebigen Staatsdiener gegen den Willen des Monarchen aus dem Amt gedrängt. Näher liegt Günter Hollenbergs Annahme eines „parlamentarisch induzierten Ministersturz[es]“:345 Der Kurprinz entließ v. Loßberg nicht aus eigenem Antrieb, sondern um die landständischen Angriffe gegen einen noch durch seinen Vater berufenen Ministerialvorstand abzustellen. Diese politische Entscheidung erfolgte in einer besonderen Situation und war ­keineswegs Ausdruck eines sich anbahnenden parlamentarischen Regiments. Vielmehr schwand jeder Anflug von Kompromissbereitschaft in dem Maße, in dem sich die Fronten verhärteten. Wie weit sich die Verhältnisse zum Schlechteren wenden sollten, zeigt der Vergleich mit dem eisernen Durchhalten des verhassten Ministers Hassenpflug. Mit dieser Wechselhaftigkeit untermauern die kurhes­sischen Verhältnisse eindrucksvoll Rainer Wahls These, dass der Konstitutionalismus nur als dynamische „Bewegungsgeschichte“ verstanden werden kann, in der das Pendel beständig zwischen monarchischem und parlamentarischem Prinzip hin und her schwingen konnte.346 Auch in der Sache hatte die Ständeversammlung keineswegs einen glänzenden Sieg errungen: Dem vordergründigen Einlenken zum Trotz unterlagen militärische Ernennungsordres auch künftig nicht der Gegenzeichnung. Ein Anfang 1832 eingebrachter Gesetzentwurf der Regierung über die militärischen Ernennungen und Beförderungen wurde im Juli wieder zurückgezogen.347 Im Hinblick auf die Geschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts ist der Ertrag des Ernennungsstreits eindeutiger, indem die These bestätigt wird, dass den Landständen und ihren Ausschüssen kein Selbstinformationsrecht zur Verfügung stand. Immerhin zeigte sich in der von Seiten der liberalen Opposition versuchten Verbindung von Auskunfts- und Ministeranklagebefugnis der für Art. 44 GG typische Konnex von Informationsrechten und Regierungskontrolle, wenngleich konstitutionellen Sachgesetzen entsprechend auf die Verfassungsmäßigkeit des Regierungshandelns limitiert und in interpellationsartigen Formen. Zum anderen offenbarten sich selbst in diesem engen Rahmen unterschiedliche Vorstel­ lungen von der Reichweite der §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831: Während die Liberalen 344 So aber E. Grothe, in: Manca/Lacchè (Hg.), Parlamento  e Constituzione, 2003, S.  213 (227) und im Anschluss an diesen H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (75). 345 G. Hollenberg, HessJbLGesch 34 (1984), 101 (118) (Hervorhebung nur hier). 346 Vgl. R. Wahl, in: Müßig (Hg.), Konstitutionalismus, 2006, S. 197 ff. 347 G. Hollenberg, HessJbLGesch 34 (1984), 101 (122).

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neben einem Auskunfts- sogar von einem Aktenvorlagerecht ausgingen, wie es mit Art. 34 Abs. 2 RVerf 1919 geschaffen werden sollte, beschränkte der Landtagskommissar diese weitgehenden Befugnisse auf die in § 144 KhVerf­Urk 1831 speziell geregelten Fälle finanzverfassungsrechtlicher Natur – und gab so keinen Zentimeter weiter nach, als die Verfassungsurkunde ohnehin vorsah. Letztendlich war der Streit um die Vorlage bestimmter Unterlagen nicht aufgelöst, sondern bloß vertagt, um bei späterer Gelegenheit wieder aufzubrechen. Beachtung verdient abschließend die Verteidigungsstrategie der Regierung, dass § 107 KhVerf­Urk 1831 dem Kurfürsten die Aufgaben eines „obersten Militär­ chefs“ unmittelbar und ohne ministerielle Mitwirkung überlasse. Das Gouverne­ ment machte auf diese Weise einen kontrollfreien Raum geltend; ähnlich, wie es heute für den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung anerkannt ist, sollten die Landstände insoweit weder Mitsprache noch Kontrolle haben. Die Grundlagen sind freilich völlig verschieden, indem der Kurfürst in einer für die Zeit durchaus üblichen Manier versuchte, die bewaffnete Macht als quasi vorkonstitutionelles Hausgut zu verteidigen348. Im Übrigen bestätigt der Ernennungsstreit die Arbeitshypothese, dass auch die kurhessischen Landstände nicht über einen Frühtyp oder sonstigen Vorläufer des Enquête- und Untersuchungsrechts verfügten. Vielmehr wurde das interpellationsartige Gepräge der §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831 überdeutlich, indem die Versammlung von der Antwortbereitschaft, Auskunftsfreudigkeit und Kooperationswilligkeit der Staatsbehörden abhing. Ihre vermeintlich weit­ greifenden Informationsrechte ließen sich nicht einmal in dieser Phase eines noch gemäßigten Gouvernements349 behaupten. bb) Die erste „Garde-du-Corps-Nacht“ Auch die Bemühungen, Licht in die „Garde-du-Corps-Nacht“ vom 7. Dezember 1831 zu bringen, blieben erfolglos. Die innenpolitische Bedeutung dieses Vorfalls ergab sich wiederum aus dem Ringen um die Kontrolle über die bewaffnete Macht. Die Auseinandersetzungen zum Jahreswechsel 1831/32 entwickelten sich zur ersten Machtprobe der liberalen Kammermehrheit mit dem Kurprinzen.350 (1) Vorgeschichte Anfang Dezember 1831 kursierten Gerüchte, dass die beliebte Kurfürstin Auguste die Residenzstadt wegen eines Streits mit ihrem Sohn verlassen könnte. Auslöser des Familienzwists war eine standeswidrige Liaison des Kurprinzen Friedrich Wilhelm 348

Vgl. E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 2006, S. 273 (287 ff.). Vgl. H. Seier, in: Heinemeyer (Hg.), Verfassungsstaat, 1982, S. 53. 350 Vgl. K. Wippermann, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon VIII3 1863, S. 51 sowie zur Zusammensetzung der Stände E. Grothe, Verfassungsgebung, 1996, S. 420. 349

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mit der durch ihn in den Grafenstand erhobenen Bürgerlichen Gertrude Lehmann.351 Als die Landesmutter am Abend des 7.  Dezember 1831 eine Aufführung des­ „Wilhelm Tell“ besuchte, brachte man ihr vor dem Schauspielhaus begeisterte Ovationen; zeitgleich wurden der Kurprinz und seine Ehefrau vor ihrem Palais geschmäht. Dabei kam es auch zu kleineren Übergriffen. Als die Menge vor dem Theater unruhig wurde, verlas Polizeichef Carl Friedrich Giesler die Aufruhrakte. Weil sich der Kommandeur der Bürgergarde einzuschreiten weigerte, trieben die Leibkürassiere die unbewaffneten Menschen brutal auseinander. Trotz massiver Militärpräsenz befand sich Kassel am Morgen nach diesem übermäßig harten Vorgehen am Rand des Aufruhrs. Wütende Bürger verwüsteten die Wohnung des Polizeichefs, der sich in einen „Urlaub“ flüchtete. Sowohl der vorläufige Innenminister Franz Rieß, der über die Angelegenheit endgültig stürzen sollte, als auch der kurze Zeit später verstorbene Justizminister Christian Wiederhold gingen wegen Krankheit ab.352 Für die Zeitgenossen stand bald fest, dass das Militär bloß darauf gewartet habe, „bis die Volksmenge, vergnügt und nichts Böses ahnend, aus dem eben geendeten Schauspiel strömte“, um dann aus heiterem Himmel auf sie einzuhauen. Im Kurstaat machte das Gerücht die Runde, der Zwischenfall sei inszeniert, ja Teil eines politischen Plans zum Umsturz der Verfassung gewesen.353 Reibereien zwischen Zivilpersonen und dem Militär hatten die Ständeversammlung erst Ende Juni und im September 1831 beschäftigt, als sich Fritzlarer Bürger über „Störung[en] der gesetzlichen Ordnung und Sicherheit“ durch dort garnisonierende Truppen beklagten. Ein von Sylvester Jordan initiiertes Ersuchen an die Staatsregierung, „Nachricht über die zur Verhütung fernerer Gewaltthätig­ keiten und Störungen […] ergriffenen Maßregeln, so wie über die eingeleitete oder noch einzuleitende Untersuchung des Geschehenen“ zu erteilen,354 blieb erfolglos. 351

Vgl. H. Seier, in: Heinemeyer (Hg.), Verfassungsstaat, 1982, S. 5 (49 f.) in Fn. 173; P. Losch, KhGesch, 1922, S. 172 f., 175 f. 352 E. Grothe, Verfassungsgebung, 1996, S. 175 f. Zum weiteren Schicksal beider s. P. Losch, KhGesch, 1922, S. 181 f. 353 Vgl. W. Zimmermann, Geschichte III, 1850, S. 150 (Zitat) und die ähnl. Schilderung bei C. W. Wippermann, Kurhessen, 1850, S. 251, der – ohne eigene Mutmaßung – davon berichtet, dass die Frage aufgekommen sei, ob so „practisch die Wichtigkeit des stehenden Heeres gezeigt, die Bürgergarde als ein unhaltbares Institut der Verfassungsurkunde dargestellt“ oder gar „ein Zustand herbeigeführt werden [sollte], in welchem eine Suspension der letzteren oder ein Einschreiten der Bundesversammlung gerechtfertigt scheinen mogte“. Weiter geht C. Venturini, Chronik VI (1833), S. 303, es sei öffentliche Meinung gewesen, dass „der so unerwartet vollführte Angriff des Militairs auf die wehrlose Volksmenge […] keinen andren Zweck, als die Provocation zum Aufruhr gehabt“ habe. „Wären dann die Bürgergarden mit dem Militair handgemein geworden, so würden sie unfehlbar den Kürzern gezogen haben, das noch durch kein Gesetz sanktionirte Institut der Bürgergarden wäre aufgehoben und ein System des Terrorismus geltend gemacht worden, wobei Alles was die Aristokraten verlangten, ohne Widerstand hätte durchgesetzt werden können.“ Krit. gegenüber Verschwörungstheorien H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (76) in Fn. 183 und andererseits ders. (Hg.), Akten und Briefe, 1992, S. XLIX in Fn. 121 a. E. 354 VerKhLT 1831, S. 227 f.

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Trotzdem beschränkte sich die Kammer nach einem weiteren Vorfall355 auf die Abgabe einer „Bittschrift der Bürger zu Fritzlar“ an die Regierung und ein weiteres Auskunftsersuchen.356 Nach dieser Vorgeschichte verlangte das harte Vorgehen des Militärs in der­ Residenzstadt unverzügliche Schritte. Nach einer hitzigen Debatte am Vormittag des 8. Dezember 1831357 wurde in vertraulicher Sitzung beschlossen, „[d]ie Staatsregierung um eine schleunige und ausführliche Auskunft über die Vorfälle […] zu ersuchen“ und einen „Ausschuß zu ernennen, um die wegen dieser Vorfälle und zur Verhütung fernerer Störungen […] erforderlichen Maßregeln zu berathen, und darüber mit der Staatsregierung zu kommuniziren“. Dass der Zwischenfall offenbar das alte Misstrauen gegenüber dem Militär wieder zutage förderte, deutete die weitere Forderung an, die „Publikation des Bürgergardengesetzes dringend zu sollizitiren“.358 In den Ausschuss, der nicht zu einer Untersuchung, sondern bloß niedergesetzt wurde, um sich mit der Regierung ins Benehmen zu setzen und ggf. weitere Schritte vorzubereiten, wurden der entschieden liberale Kasseler Bürgermeister Karl Schomburg, Sylvester Jordan, Burchard Wilhelm Pfeiffer und der gemäßigt liberale Hanauer Bürgermeister Bernhard Eberhard gewählt.359 Carl Venturini berichtet in seiner Chronik des 19. Jahrhunderts, dass „[j]auchzender Beifall […] von den Galerien [erscholl], als die Wahl auf geprüfte Freunde der Verfassung und des Bürgerthums […] fiel“.360 Erneut wurden keine regierungsfreundlichen Vertreter in die Kommission berufen. Auf Sylvester Jordans Hinweis, es wäre „vielleicht nöthig […], daß der Ausschuß sich selbst aufs Staats-Ministerium begebe“, erklärte sich der nach der „Garde-duCorps-Nacht“ zum Ministerialrat avancierte und anstelle von Franz Rieß mit der vorläufigen Leitung des Innenministeriums betraute361 Landtagskommissar Karl Eggena bereit, „das deshalb etwa Erforderliche [zu] besorgen“. Mit der Möglichkeit, Regierungsvertreter aufzusuchen, statt darauf zu warten, dass sie sich aus freien Stücken in die Kammer bequemten, und direkt zu befragen, ohne auf die teils Tage 355

Carl Ludwig Ernst v. Eschwege, VerKhLT 1831, S. 662, spricht von „einige[n] WirthshausExzesse[n]“. Freilich müssen seine herabspielenden Äußerungen vor dem Hintergrund gelesen werden, dass sein Verwandter Ferdinand v. Eschwege seit 1821 Major und Kommandeur der­ angeschuldigten „Garde du Corps“ war. Vgl. P. Losch, KhStV, 1909, S. 21. 356 VerKhLT 1831, S. 661 f. 357 Dazu etwa der Bericht des Abgeordneten v. Warnsdorf bei H.  Seier (Hg.), Akten und Briefe, 1992, Nr. 49, S. 160 ff. 358 Zum Streit um dieses liberale Bollwerk s. G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 82 f. 359 VerKhLT 1831, S. 1067. s. auch S. 1163 den Auszug aus dem Protokoll der vertraulichen Sitzung vom 8.  Dezember 1831. Zu den vier Abgeordneten E. Grothe, Verfassungsgebung, 1996, S. 406 ff., 406 in Fn. 322, 407 ff., 409, 415 und 175: „Den mit der Untersuchung der Vorfälle beauftragten Ausschuß besetzte man mit bekannt kritischen Koryphäen“. 360 C. Venturini, Chronik VI (1833), S. 302. 361 N. N., Neuer Nekrolog, 1842, S. 1177; P. Losch, KhGesch, 1922, S. 181.

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dauernde Vermittlung des Landtagskommissars angewiesen zu sein, war ­Sylvester Jordan das Kunststück gelungen, die interpellationsartigen Informationsrechte der Kammer einem Selbstinformationsrecht wenigstens etwas anzunähern. Anders als sonst war die Regierung so faktisch gezwungen, dem Ausschuss nach dessen Willen Rede und Antwort zu stehen. Das Enquête- und Untersuchungsrecht warf bei dieser Gelegenheit erste Schatten voraus. – Die Mahnung des Präsidenten am Ende der Sitzung, Kammer und Öffentlichkeit sollten bloß Ruhe bewahren, spiegelte die politische Brisanz der Sache wider. Sicherlich entsprang diese Aufforderung der verbreiteten Sorge, der Deutsche Bund könne die Angelegenheit zum Anlass für ein Eingreifen im Kurstaat nutzen, das mit der Beseitigung der Verfassung hätte enden können.362 Die Sache war also innen- wie außenpolitisch hoch brisant. Obwohl der Oberappellationsrat Pfeiffer kurz nach der Rückkehr des Ausschusses von seiner „Konferenz mit dem Staatsministerium“ die Pflicht der Versammlung besonders hervorhob, „nachdrücklich dahin zu wirken, daß [die…] Gesetzwidrigkeiten nicht bloß vollständig an den Tag gebracht, sondern auch gehörig bestraft würden“, schwebte ihm offenkundig keine parlamentarische Untersuchung vor. Vielmehr beruhigte er die Kammer, dass das Staatsministerium „schon verfügt [habe…], daß […] im Administrativwege durch sehr genaue und vollständige Berichterstattung von allen Behörden […] die nöthigen Nachrichten eingezogen würden“. – Dieses Vorgehen entsprach lediglich dem Buchstaben des Staatsdienstgesetzes vom 8. März 1831.363 – Weiter berichtete Burchard Wilhelm 362 s. VerKhLT  1831, S.  1067 sowie zu deutlicheren Aufforderungen Sylvester Jordans VerKhLT 1831, S. 1069 f.; G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 104 f. 363 „§.  47. Dienstwidrigkeiten oder andere unwürdige Handlungen […], wegen welcher schon der lezte Grad der Besserungs-Versuche […] vergeblich angewendet worden ist, sind auch als Dienstvergehen zu betrachten, zu deren Bestrafung ein gerichtliches Verfahren ein­ geleitet werden soll. Wenn daher eine Behörde von einer solchen Vergehung, oder einem anderen Dienstvergehen, welches schon an sich eine schwerere, als eine blose Ordnungs- oder Besserungs-Strafe, gesetzlich nach sich ziehet, auf was immer für eine Art, Kunde erlangt; so ist dieselbe verpflichtet, zu dessen Ermittelung sofort eine Voruntersuchung zu beginnen, auch nach Beschaffenheit der Umstände die vorläufige Amts-Suspension […] zu verfügen. Hält die Behörde nach vollendeter Voruntersuchung das Vergehen für hinlänglich begründet, um das Strafverfahren selbst veranlassen zu können; so hat sie ihre Akten zur Einleitung dieses Verfahrens an das zuständige Gericht ohne Verzug abzugeben. […] § 49. Der im disziplinarischen Wege untersuchenden oder sonst einschreitenden Behörde sowie deren Vertreter stehet die Befugniß zu, das betreffende Gericht um die Feststellung einer­ jeden Thatsache zu ersuchen, welche für die Beurtheilung des dem Staatsdiener zur Last fallenden Verschuldens erheblich erachtet wird. […] § 50. Sofern die Untersuchung eines Dienstvergehens nicht von der, dem Anschuldigten vorgesetzten Behörde nach §. 47 veranlasst worden ist, hat das Gericht zur Untersuchung von Amtsvergehungen eines nicht seiner Disziplin untergeordneten, Staatsdieners erst alsdann zu schreiten, wenn in Gemäsheit der §. §. 100 und 101 der Verfassungs-Urkunde eine landständische Anklage erfolgt, oder wenn dem Gerichte eine Privat-Anzeige geschehen ist. […] Würde ein schweres Berufsvergehen auf andere, als die obgedachte, Weise zur Kenntniß des Gerichtes gelangen; so hat dasselbe darüber vor weiterem Einschreiten, außer dem im §. 47 gedachten Falle, von der dem betreffenden Staatsdiener vorgesetzten Behörde Aufklärung zu begehren.“

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Pfeiffer, dass ebenfalls gerichtliche Untersuchungen eingeleitet worden seien, „um den Thatbestand auf das Genaueste festzustellen“.364 Schwang in diesen Mitteilungen noch eine gewisse Leutseligkeit mit, dass sich die Regierung der Angelegenheit tatsächlich annehmen werde, drang ­Sylvester Jordan weit weniger konziliant darauf, dass die ministerielle Untersuchung sich einerseits auf die Gretchenfrage zu erstrecken habe, „ob und in wie fern […] die Aufruhrakte mit Recht [!] verkündet worden sey“, und andererseits „alle Er­ eignisse des gestrigen Abends […] umfassen“ müsse. Dass ihm trotz dieser Forderung einer wirklich umfassenden Aufklärung,, die auf eine rechtliche Überprüfung des Vorfalls bzw. Exekutivkontrolle hinauslief, keine parlamentarischen Ermittlungen vorschwebten, belegt die weitere Äußerung, „daß die Ständeversammlung es sich sehr angelegen seyn lassen [müsse…], die Staatsregierung […] um Förderung der eingeleiteten Untersuchung zu ersuchen“. Mit der Forderung, „sich um die Sache näher zu erkundigen, insoweit es nemlich das Interesse der öffentlichen Ruhe und Ordnung erfordere“, griff der oppositionelle Rechtswissenschaftler und Politiker eine Art Wächterfunktion der Volksvertretung auf, die er „in mancher Hinsicht [als] eine beruhigende Bürgschaft dafür [qualifizierte…], daß alles geschehen werde, was man mit Recht erwarten könne“. Auch der regierungsfreundliche Erbmarschall August Riedesel zu Eisenbach forderte, „daß statt gefundener Untersuchung derjenigen, welche als strafbar überführt seyen, der Strafe auch nicht entzogen würden“.365 (2) Der erste Streit um Auskunft Am 9. Dezember 1831 erklärte Burchard Wilhelm Pfeiffer in der Kammer, dass man im Ausschuss doch „noch weitere Anträge“ für notwendig halte: Zur Beruhigung des Publikums seien eine „Aufhebung der entfernten traurigen Veranlassung des ganzen Vorfalls“, „eine genaue Untersuchung und gerechte Bestrafung der Ungesetzlichkeiten“ und weitere „Maßregeln“ geboten, „wodurch dergleichen für die Zukunft beseitigt“ werde. Während im Hinblick auf den ersten Punkt „ent­ ilitärs scheidende Schritte geschehen seyen“ – gemeint war wohl der Abzug des M und die Übernahme der Polizeigewalt durch die Bürgergarde366  –, sei es erforderlich, das Auskunftsersuchen vom Vortag „zu vervollständigen und auf das genauere Detail auszudehnen“, um „nöthigenfalls weitere geeignete Vorschläge und Anträge zu machen“.367 Nach dieser Einleitung unterbreitete er der Versammlung 364

VerKhLT 1831, S. 1067 f. VerKhLT 1831, S. 1068 f. (Hervorhebung nur hier). Zur politischen Ausrichtung s. E. Grothe, Verfassungsgebung, 1996, S. 415, 535. 366 Für diese Interpretation spricht auch das Schreiben des Abgeordneten v. Warnsdorf bei H.  Seier (Hg.), Akten und Briefe, 1992, Nr.  49, S.  162. Zu Rückzug und Polizeigewalt C. Venturini, Chronik VI (1833), S. 302 f. 367 VerKhLT 1831, S. 1072. 365

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12 Fragen, die von den Umständen der Requisition der Garde du Corps und dem Vorrang eines Einschreitens der Bürgergarde über die korrekte Verlesung der Aufruhrakte und die Beurteilung der Demonstration als Volksaufstand sowie die Auswirkungen und Folgen des Militäreinsatzes bis hin zu der Identität der Verantwortlichen reichten. Dieser Katalog implizierte nicht nur schwere Verdächtigungen gegen die beteiligten Staatsdiener und Soldaten, sondern wagte sich gefährlich weit auf das Terrain des monarchischen Militärregiments vor.368 Der Ausschuss stützte sein detailliertes Auskunftsersuchen nicht ausdrücklich auf die naheliegenden §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831, sondern rückte lediglich die „unzweifelhafte Thatsache“ in den Vordergrund, „daß mehrere Bürger der hiesigen Residenz […] vielleicht sogar lebensgefährlich verwundet seyen“. Die weitere Erläuterung, dass ein rechtswidriges militärisches Einschreiten „eines der wichtigsten verfassungsmäßigen Rechte aller Staatsbürger, nemlich auf Sicherheit und Unverletzlichkeit der Person“, verletze, verdeutlichte, dass es um die landständische Kontroll- und Verfassungsschutzfunktion ging. In dem Nachsatz, dass den Protagonisten ggf. eine „offenbare Verfassungswidrigkeit zur Last“ falle, schwang überdies eine­ Anklagedrohung mit. Deutlicher manifestierte sich der Kontrollanspruch des Ausschusses in dem „Wunsch […], daß die Staatsregierung ersucht werde, die von ihr erbetene Auskunft auf diese einzelnen Umstände zu richten, indem nur, nachdem darüber eine vollständige Erklärung erfolgt sey, sich werde urtheilen lassen, ob durchaus verfassungsmäßig verfahren worden“ wäre.369 Kam auch weder das Auskunftsrecht des Plenums aus § 92 KhVerf­Urk 1831 noch das Ausschusspendant des § 93 KhVerf­Urk 1831 zur Sprache, dienten die 12 Fragen doch ersichtlich im Sinne dieser Vorschriften zur Vorbereitung parlamentarischer Maßnahmen. Auch lässt der Verlauf des erst kürzlich beigelegten Ernennungsstreits vermuten, dass man sich – wenngleich unausgesprochen oder im Protokoll nicht vermerkt – der Sache nach auf diese Informationsrechte stützte. – Das Plenum billigte die weitreichenden Ausschussvorschläge fast ohne Modifikation.370 Den Anlass zu dieser Verhärtung der Fronten hatte u. a. wahrscheinlich eine offi­ zielle Proklamation gegeben, in der u. a. von „Volksbewegungen“ die Rede war; entsprechende Unruhen konnten ein militärisches Einschreiten u. U. rechtfertigen. Während Burchard Wilhelm Pfeiffer zurückhaltend von einem „Versehen beim Abdruck“ sprach, liegt die Sichtweise des Liberalen Heinrich Friedrich S ­ trubberg näher, dass die Regierung den Kasseler Bürgern mit Hilfe dieser Vokabel die Alleinschuld in die Schuhe schieben wollte. In dieses Bild fügen sich auch ver 368

Vgl. H. Seier, in: ders. (Hg.), Akten und Briefe, 1992, S. XLIX f. VerKhLT 1831, S. 1072 f. 370 VerKhLT 1831, S. 1074. Auf Vorschlag des Referenten wurde der Passus „also vermu­ thungs­weise geladen“ gestrichen, der sich auf die mit brennenden Lunten durch die Straßen ­gefahrenen Kanonen bezog. Außerdem wurde die Staatsregierung aufgefordert, „diejenigen Gerichtspersonen, welchen die in Rede stehende Untersuchung übertragen würde, während der Dauer dieser Untersuchung von allen andern Geschäften“ zu dispensieren (VerKhLT 1831, S. 1074 f.). 369

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schiedene, für den Ausnahmezustand typische Maßnahmen, die in der Folgezeit verhängt wurden.371 Parallel dazu mühte sich das Gouvernement, die ganze Angelegenheit als bedauerlichen Unfall „im nächtlichen Dunkel“ abzutun, an dem Militär und Behörden keine Schuld trügen.372 Einer „unkontrollierte[n] öffentliche[n] Diskussion der Vorfälle“ versuchte man durch Zensurschärfungen vorzubeugen.373 Vor dem Hintergrund dieser Bemühungen um die Deutungshoheit, statt der Sache auf den Grund zu gehen, entwickelte sich in den folgenden Wochen und Monaten ein zähes Ringen um die Aufklärung der näheren Umstände der „Garde-du-Corps-Nacht“. Am 12. Dezember 1831 fragte Sylvester Jordan den Landtagskommissar, „welche Schritte schon […] zur Untersuchung der […] Vorfälle geschehen seyen“? Karl Eggena erwiderte, dass „auf disziplinarischem Wege Stoff zur allenthalbigen Untersuchung“ gesammelt werde; etwaige Erkenntnisse würden unverzüglich den Gerichten übergeben; zivil- und militärgerichtliche Verfahren seien ebenfalls „in vollem Gange“. Eine Unterrichtung der Stände hielt der Landtagskommissar erst für möglich, wenn „bestimmte Ergebnisse“ vorlägen und die notwendige „Rücksicht auf den Zweck der Untersuchung“ es gestatte.374 Ungeachtet dieser Beteuerungen ließ die Regierung die Landstände auch weiterhin im Dunkeln, obwohl ihr das Kasseler Landgericht am selben Tag einen für Militär wie Polizei peinlichen Zwischenbericht erstattete.375 Tatsächlich blieb auch eine weitere landständische Nachfrage unbeantwortet.376 Statt einer sachlichen Auskunft beteuerte Landtagskommissar Eggena,377 dass sich die Staatsregierung ihrer Verantwortung für die Rechtmäßigkeit des Behördenhandelns voll bewusst wäre und „im administrativen Wege“ schon von „vielen Thatumständen […] Kenntniß erlangt“ habe. Weil aber eine „vollständige Uebersicht ihrer Zeitfolge und ihres innern Zusammenhanges“ noch ausstehe, könne man die Landstände noch nicht informieren. Vor allem anderen dürfe der gerichtlichen Untersuchung „auf keine Weise vorgegriffen“ oder ihr Erfolg „durch voreiliges Verlautbaren des Untersuchungsstoffes vereitelt werden“. Gleich zwei Spitzen gegen die Versammlung enthielt die folgende Bemerkung, dass es „selbst dem minder Sachkundigen“ einleuchten müsse, 371 Die Wirtshäuser mussten ab 6 Uhr abends schließen und ein Versammlungsverbot wurde verhängt, „als ob der größte Unfug in der Stadt statt gefunden“ habe. Vgl. die Äußerung des liberalen Abgeordneten Heinrich Friedrich Strubberg, VerKhLT  1831, S.  1073 f. (Zitat) und ähnl. C. Venturini, Chronik VI (1833), S. 301 f. 372 s. die Proklamation des Kurprinzen vom 11. Dezember 1831, die u. a. das uneingelöste Versprechen einer „sorgfältige[n] und strenge[n] Untersuchung“ enthielt. Auf dieser Grundlage sollte „gegen die Strafbaren […] ohne Ansehen der Person die Gerechtigkeit ihren freien, ungehinderten Lauf haben“. Abdruck bei H. Seier (Hg.), Akten und Briefe, 1992, Nr. 50, S. 163 f. 373 E. Grothe, Verfassungsgebung, 1996, S. 177 (Zitat), 179 f. 374 VerKhLT 1831, S. 1092. 375 E. Grothe, Verfassungsgebung, 1996, S. 178. Gekürzter Abdruck bei H. Seier (Hg.), Akten und Briefe, 1992, Nr. 51, S. 164 ff.: Es sei mit „ganz unnötiger Strenge und auf eine höchst zweckwidrige Weise eingeschritten“ worden. 376 VerKhLT 1831, S. 1111. 377 VerKhLT 1831, S. 1134.

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„[w]ieviel die Befriedigung einer nicht ganz bedachtsamen Neugierde des Publikums [der Sache…] schaden könne“. Nach diesen Verbalinjurien – zu allem Übel waren die Worte „des Publikums“ erst nachträglich aufgenommen worden378 – lehnte es Karl ­Eggena kategorisch ab, „den Gerichten […] spezielle Instruktorien […] zu ertheilen“, „wozu die, von der Stände-Versammlung gestellten, Fragen eine Grundlage abgeben“ müssten. Diese Vorhaltung war in der Sache grundlos, in der Form aber nicht ohne rhetorische Raffinesse, stilisierte sie doch die Staatsregierung zur Hüterin des liberal-rechtsstaatlichen Desiderats einer unabhängigen Justiz gegenüber den vermeintlich despotischen Landständen.379 Zu guter Letzt warnte der Landtagskommissar die Kammer, „nicht etwa durch irgend ein weiteres Ansinnen, welchem man zu genügen sich außer Stande finden würde, eine vorhandene Spannung der Gemüther“ noch zu steigern oder das „Ansehen der Regierung“ zu beschädigen.380 Zu diesem Vortrag nahm Burchard Wilhelm Pfeiffer drei Tage vor Weihnachten Stellung. Welchen Kälteeinbruch das politische Klima erlitten hatte, belegt Sylvester Jordans harsche Zurechtweisung gegenüber Karl Eggena, „daß der Hr. Landtagskommissar in den innern Geschäftsgang der Stände-Versammlung sich nicht einmischen könne“, als dieser der Kammer nahelegte, die Tagesordnung nicht für diesen Punkt zu unterbrechen. Zum Eklat kam es, als Ausschussreferent Pfeiffer seinen Bericht mit den Worten einleitete, dass „wohl Niemand in dieser Versammlung [wäre], den nicht bei Anhörung des Vortrags [des Landtagskommissars…] Empfindungen durchdrungen, ja […] durchbebt hätten“. Karl Eggena unterbrach den Redner und forderte einen Ordnungsruf, was Vizepräsident Moritz v. Baumbach lakonisch zurückwies. Im Gegenzug verlangten jetzt drei Liberale, Sylvester Jordan, der Oberleutnant Carl Paul Jungk und der Prokurator Carl Eckhard, eine Zurechtweisung des Landtagskommissars, weil er es als „eines Abgeordneten unwürdig“ gescholten hatte, „durch solche Darstellungen das Volk zu Verdacht gegen die Staatsregierung und deren Vertreter aufzuregen“. Trotz des wahrscheinlich berechtigten Widerspruchs des Juristen Eggena missbilligte der Vizepräsident diese Äußerung als „unziemlich“.381 In der Sache monierte der Ausschuss, dass das Staatsministerium aufgrund der administrativen Untersuchung zweifellos in der Lage wäre, der Versammlung „die 378 So hielt der Referent dem Landtagskommissar vor, diese Bemerkung erst nach der Publikation in einer Zeitung entschärft zu haben. Eggena verteidigte sich, „daß Niemand diese Stelle anders [habe…] deuten könne[n]“ (VerKhLT 1831, S. 1148 f.). 379 Auch heute gelten schwebende Gerichtsverfahren als sakrosankt. s. etwa N. Achterberg/ M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 13; M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 39. Dagegen sind parallele Untersuchungen zulässig, solange nicht das gerichtliche Verfahren Gegenstand der Untersuchung ist. So P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 45; N. Achterberg/M. Schulte, Rn. 14 ff. m. w. N. auch zu den Gegenauffassungen. 380 VerKhLT 1831, Anl. CXCII, S. 1145 (Hervorhebungen nur hier). 381 VerKhLT 1831, S. 1147 f.

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zur Ausübung der verfassungsmäßigen Thätigkeit rücksichtlich jener Vorgänge erforderliche Kenntniß des näheren Thatbestandes […] amtlich mitzutheilen“. Der Nebensatz, dass der Versammlung die „Mittel fehl[t]en“, um die benötigten Informationen „auf eine glaubwürdige Weise sich selbst zu verschaffen“, bestätigt die These, dass die §§ 92, 93 KhVerf­Urk  1831 keine Frühform eines Enquêteund Untersuchungsrechts darstellen.  – Den Einwand, jede vorzeitige Unterrichtung der Kammer schade der gerichtlichen Aufarbeitung, quittierte der Ausschuss sarkastisch, dass man „[v]on der hohen Einsicht eines so erleuchteten Ministeriums […] erwarten [dürfe…], daß dasselbe leicht den richtigen Mittelweg finden [werde…], um dem verfassungsmäßigen Begehren der Landesvertreter um Auskunfts-­Ertheilung […] zu willfahren, ohne zugleich durch ‚Befriedigung einer nicht ganz bedachtsamen Neugierde des Publikums‘ der Sache selbst zu schaden“. Die Abgeordneten interpretierten die §§ 92, 93 KhVerf­Urk  1831, die als einzige Grundlage eines „verfassungsmäßigen Begehren[s…] um Auskunfts-­ Erthei­lung“ in Betracht kamen, also offenkundig gerade nicht als Selbstinformationsrecht, sondern als interpellationsartige Befugnis. Zu guter Letzt wies der Ausschuss den abenteuerlichen Vorwurf eines Anschlags auf die Unabhängigkeit der Justiz zurück.382 In der kommenden Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte sollten vergleichbare Einwände bis in die Weimarer Republik immer wiederkehren. In der Plenardebatte versuchte der gouvernementale Finanzkammerrat Wilhelm v. Baumbach durchzusetzen, dass man die Angelegenheit auf sich beruhen lasse. Johannes Auffarth regte ebenfalls an, die Sache aus Sorge, „in irgend einer Beziehung einen Einfluß auf die gerichtliche Untersuchung zu üben“, zurückzustellen und „weitere Anträge“ dem Ausschuss zu überlassen. Statt sich diesen Beschwichtigungsversuchen anzuschließen, die auf eine Kapitulation der Kammer hinausgelaufen wären, votierte die Mehrheit für ein „Schreiben nach dem Inhalte des Berichts an den Hrn. Landtagskommissar“.383 (3) Kasseler Strafverfolgungspetition, Auskunftsersuchen und Anklagedrohungen Nachdem sämtliche Bemühungen, von der Staatsregierung eine „mit öffentlicher Glaubwürdigkeit versehene Mittheilung des […] Hergangs der Sache […] so wie die Angabe der im öffentlichen Interesse getroffenen Maßregeln“ zu erlangen,384 augenscheinlich gescheitert waren, griff man zu schwereren Kalibern: Am 23. Januar 1832 erklärte Berichterstatter Pfeiffer,385 dass die Kasseler Bürger, nachdem „fast volle sieben Wochen“ ins Land gegangen wären, ohne dass – dem 382

VerKhLT 1831, Anl. CXCIV, S. 1158 (Hervorhebung nur hier). VerKhLT 1831, S. 1149. 384 VerKhLT 1831, Anl. CXCVIII, S. 1303. 385 VerKhLT 1831, S. 1290. 383

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Staatsdienstgesetz entsprechend – ein gerichtliches Verfahren eröffnet worden sei, jetzt „ganz auf dem gesetzlichen Wege Abhülfe zu erlangen“ versuchten. Tatsächlich lag eine Petition mit rund 500 Unterschriften auf Suspendierung und Anklage der Verantwortlichen vor.386 Weiter erklärte Pfeiffer, dass es auch der Ausschuss für an der Zeit halte, „zu der – von andern Seiten her, wie es scheint, bisher unterbliebenen – Anklage“ überzugehen. Obwohl „schon die in seinen Händen befindlichen Nachrichten“ für diesen Schritt ausreichten, trat der Ausschuss doch dafür ein, zunächst die „hohe Staatsregierung“ ein weiteres Mal „um schleunigste Mittheilung der durch das Schreiben vom 8. v. M. erbetenen Auskunft dringend“ anzugehen.387 Noch vor der Abstimmung über diesen Vorschlag beteuerte der Landtagskommissar, dass die Regierung alles Erdenkliche zur Aufklärung des Vorfalls unternommen habe.388 Die Kasseler Strafverfolgungspetition verwarf Karl Eggena ebenso wie eine landständische Anklage als unzulässig. Weil die Sache endgültig bei den Gerichten liege, stehe einer Anklage § 101 KhVerf­Urk 1831 entgegen, auch wenn noch keine Untersuchung anhängig sei. Weil die Gerichte die Einleitung eines Verfahrens prüften, habe sich die Landesvertretung jeder „Art von Einwirkung oder Bezeugung besonderer Theilnahme in dem einen oder anderen Sinne“ zu enthalten, „um den Schein irgend eines […] Einflusses zu vermeiden“. Auch das „Begehren einer vorerst zu keinerlei Erfolge führenden Auskunft“ wäre eine solche unzulässige Ingerenz.389 Diesen Mahnungen zum Trotz hielt der Ausschussberichterstatter das Informationsbegehren für keineswegs durch die allgemeinen Auskünfte zum Verfahrensgang „erledigt“. Schließlich habe sich die Staatsregierung zum „faktischen Hergang der Sache“ noch nicht geäußert. Wie nicht anders zu erwarten, wies Karl Eggena alle weiteren Forderungen kategorisch zurück, weil sie „[n]ach der Lage dieser An­ gelegenheit […] unmöglich“ erfüllt werden könnten, „ohne in den Gang der Untersuchung auf eine unverantwortliche Weise einzugreifen“. Überraschenderweise war ausgerechnet Sylvester Jordan zum Einlenken bereit. Er hielt ein Ersuchen an den Landtagskommissar, „in der nächsten Sitzung etwa Nachricht darüber zu geben, ob die spezielle Untersuchung schon eingeleitet sey“, für ausreichend. Je nach Ausgang der Sache wäre eine landständische Anklage dann ggf. unnötig.390 Das Plenum trat diesem Vorschlag mit verschiedenen Amendements bei.391 386 VerKhLT  1831, Anl. CXCVIII, S.  1304 f. Die Petition ging dahin, „daß die hohe Versammlung die bereits früher gethanen, bis jetzt aber ohne Erfolg gebliebenen Schritte weiter verfolgen, und auf den Grund des §. 61 Verf.Urk. nicht nur den Polizeidirektor Giesler, sondern auch die Militärstaatsdiener […] ohne Verzug anklagen, auch bewirken möge, daß der Polizeidirektor Giesler und seine Mitschuldigen von Amtsgeschäften so lange entfernt würden, bis sie durch richterlichen Spruch von jeder Schuld frei geworden seyen“. Vgl. zu der Petition auch B. Bauer, GeschBew II, 1845, S. 156. 387 VerKhLT 1831, Anl. CXCVIII, S. 1305. 388 VerKhLT 1831, S. 1305 f. 389 VerKhLT 1831, S. 1307. 390 VerKhLT 1831, S. 1290 f. 391 VerKhLT 1831, S. 1293.

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Mit dem weiteren Bericht vom März 1832 verhärteten sich die Fronten weiter. Der Ausschuss trat jeder „Besorgniß eines nachtheiligen Einwirkens auf die Selbstständigkeit der Gerichte“ entgegen, weil man niemals auf einer „vollständigen Mittheilung aller Ergebnisse der gerichtlichen Untersuchung“ bestanden habe. Der Landtagskommissar habe das Petitionsrecht und das landständische Anklagerecht falsch aufgefasst. Insbesondere lasse sich aus § 101 KhVerf­Urk 1831 – ohne die „Möglichkeit der gänzlichen Vereitelung oder Verkümmerung jener landständischen Befugniß überhaupt“ – kein „rechtliches Hinderniß“ ableiten.392 In der Folgezeit kam die Regierung nicht einmal mehr moderaten Auskunftsersuchen zu den Fortschritten des Strafverfahrens nach. Am 26. Januar 1832 beschied der Landtagskommissar eine Nachfrage Sylvester Jordans, „ob die spezielle Untersuchung […] eingeleitet worden sey“, dahin, dass man, nachdem das Material nun dem Landgericht vorliege, dessen Entscheidung abzuwarten habe. Als der Marburger Staatsrechtler erwiderte, dass die Stände nicht mehr als eine zeitnahe, „einfache Auskunft über den Stand der Sache“ verlangt hätten, um ggf. eine Anklage vorzubereiten, warnte der Landtagskommissar barsch vor einem Einmischungsversuch in die „Unabhängigkeit der Rechtspflege“. Darauf gab sich vorerst Sylvester Jordan mit dem windigen Versprechen zufrieden, der Kammer den „zur Veröffentlichung geeigneten Inhalt der an das Justizministerium über den Stand der Sache gelangenden Berichte […] ohne Verzug“ mitzuteilen.393 Als sich Burchard Wilhelm Pfeiffer am 6. Februar 1832 namens des Ausschusses erkundigte, ob das 14 Tage alte Auskunftsersuchen „als erledigt betrachtet werden solle durch die Erklärung […] auf die mündliche Erinnerung des Hrn. Dep. Jordan“, erwiderte der Landtagskommissar, „daß, nachdem der Stände-Versammlung versichert worden sey, daß die Gerichte ihre Tätigkeit begonnen hätten, es der Staatsregierung nicht weiter zugemuthet werden könne, nachzuforschen, noch zu entscheiden, gegen wen hier die Gerichte zu verfahren hätten“. Die neuerliche Erinnerung des Landtagskommissars, dass mit Rücksicht auf die Justiz weiter nichts möglich wäre, quittierte der Ausschussreferent damit, dass so der „Zweck seiner Anfrage schon erreicht“ wäre.394

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Bericht des Abgeordneten Pfeiffer, Beil. LXXVIII, VerKhLT 1831, S. 1 f. VerKhLT 1831, S. 1313 (Hervorhebung nur hier). 394 VerKhLT  1831, S.  1356. Dass dies keine Zustimmung war, ergibt sich aus dem späteren Bericht Pfeiffers, Beil. LXXVIII, VerKhLT  1831, S.  1: „Der Ausschuß hatte in dieser Absicht zunächst den Referenten beauftragt, […] an den Herrn Landtagskommissar – welcher auf eine Anfrage des Herrn Deputirten Jordan […] eine durchaus ungenügende Antwort er­ theilt hatte – die ganz einfache Frage zu richten: ob denn die Ständeversammlung keine weitere Auskunft, als diese ganz unbefriedigende Antwort, auf ihr an die Staatsregierung gerichtetes Ersuchen […] zu erwarten habe? – Die Erwiederung hierauf war lediglich ablehnend.“ 393

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(4) Der Ausschussbericht vom 13. März 1832 Vorerst war die Situation also festgefahren. Erst auf eine kaum verhohlene Drohung des Ausschusses vom 18. Februar 1832, dass es „an factischem Stoffe zu einer landständischen Anklage gegen die betheiligten Staatsdiener vom Civil- und Militairstande […] nicht fehle“, leitete Karl Eggena der Kammer je einen Bericht des Obergerichts an das Justizministerium und des Generalauditorats an das Kriegsministerium zu. Diesen zufolge war die strafrechtliche Aufarbeitung alles andere als befriedigend verlaufen: Zwar hatte man gegen den Residenzpolizeidirektor Giesler eine Untersuchung wegen „Dienstvergehungen“ eingeleitet. Dagegen hatte das Generalauditorat aber „nach der jetzigen Sachlage keine hinreichende Veranlassung [gefunden], gegen den Generalmajor Bödicker und Oberstlieutenant von Eschwege […] eine Untersuchung zu verfügen“. Wegen sechs „weitere[r] Anzeigen“ über „angebliche [!] Exzesse einzelner Militair­personen“ sollten vorerst „schriftliche Erläuterungen“ eingezogen werden.395 Angesichts dieser Auskünfte resignierte der Ausschuss unter dem 13.  März 1832, dass die Vorwürfe gegen das Militär, die auf Unklarheiten der Verordnung zur Sicherstellung der öffentlichen Ruhe vom 22.  Oktober 1830396 beruhten, ad acta gelegt worden seien. Dabei sah man im Interesse der beteiligten Soldaten von „namentlicher Bezeichnung der Personen […] in öffentlicher Sitzung“ ab.397 Erst in nichtöffentlicher Sitzung berichtete der Deputierte Pfeiffer über die Anschuldigungen gegen die Militärbefehlshaber. Anschließend wurde die Beratung vertagt.398 Die Kammer setzte ihre vertraulichen Beratungen am 15.  März 1832 fort und votierte dann für den Ausschussantrag, sich unmittelbar an das General­ auditorat zu wenden.399 (5) Zwischenergebnis Die Indolenz, mit der die Staatsregierung den skandalösen Vorfall behandelte, erschöpfte sich keineswegs in dieser „Informationspolitik“; ebenso wenig fand sie sich zu einer Verlegung der Leibkürassiere bereit.400 Überhaupt blieb die ganze Angelegenheit, obwohl der Kurprinz am 11. Dezember 1831 eine „sorgfältige und strenge Untersuchung“ versprochen hatte,401 nahezu folgenlos. Die Militärgerichte wiesen die Vorwürfe überwiegend ab. Ermittelt wurde lediglich gegen den Kas 395

Bericht des Abgeordneten Pfeiffer, VerKhLT 1831, Beil. LXXVIII, S. 1 ff. KhGS 1830, S. 135. 397 Bericht des Abgeordneten Pfeiffer, VerKhLT 1831, Beil. LXXVIII, S. 3 f. 398 VerKhLT 1831, S. 1590. 399 VerKhLT 1831, S. 1606. 400 Zum Verlegungsstreit s. M. Arndt, Militär, 1996, S. 180; H. Seier, in: ders. (Hg.), Akten und Briefe, 1992, S. XLIX; VerKhLT 1831, S. 1111 f., 1134 ff.; Anl. CXCIII, S. 1145 f. 401 Abdruck der Proklamation vom 11. Dezember 1831 bei H. Seier (Hg.), Akten und Briefe, 1992, Nr. 50, S. 163 f. 396

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seler Kommandanten Ludwig Bödicker, den Befehlshaber der Garde du Corps Oberstlieutenant Ferdinand v. Eschwege sowie gegen zwei weitere Offiziere. Während die höheren Chargen freigesprochen wurden, wurde gegen die Leutnants v. Loßberg und v. Vultée Arrest von zwei bzw. acht Tagen verhängt. Beide Strafen beseitigte Friedrich Wilhelm im Gnadenweg. Mit diesem Quasifreispruch des Militärs blieb die gesamte Verantwortung an Carl Friedrich Giesler hängen.402 Beinahe zwei Jahre später wurde der Kasseler Polizeichef, der ohnehin in der öffentlichen Meinung als Hauptschuldiger dastand,403 zu einjähriger Festungshaft und Amtsverlust verurteilt, diese Strafe aber in der Berufung auf sechs Monate gemildert und Giesler später vollständig begnadigt.404 Zu guter Letzt verlieh ihm der Kurprinz einen Orden.405 „Klärung und Sühne“ ließen also nicht nur „zu wünschen übrig“ (Hellmut Seier);406 sie blieben de facto aus. Tatsächlich soll Friedrich Wilhelm das harte Einschreiten seiner Leibkürassiere nicht ungelegen gekommen sein. Selbst sein halbherziges Lavieren in der Angelegenheit einschließlich des durchsichtigen Versuchs, sie als bedauerlichen Unfall hinzustellen, gingen wohl auf eine Intervention des preußischen Gesandten Ludwig v. Hänlein zurück.407 Obwohl sich der Kurprinz in der Ernennungsstreitigkeit mit der Entlassung des Ministers v. Loßberg zunächst konziliant gezeigt hatte, verteidigte er seine Militärhoheit in der „Garde-du-Corps-Nacht“ eisern gegen jeden vermeintlichen Übergriffsversuch der Landstände. Soweit die Verweigerung selbst einfachster Auskünfte über den Sachverhalt oder den Fortgang der Ermittlungen zu dieser Strategie gehörte, hatte die Kammer dem mangels eines kontrollaffinen Selbstinformationsrechts nichts Wirksames entgegenzusetzen. Auf dieser Grundlage konnte der landständische Kontrollversuch auf ganzer Linie abgewehrt werden. Die erste Machtprobe wurde eindeutig zugunsten des neuen Regenten entschieden. Selbst die Auskunft über den Verfahrensausgang verzögerte die Staatsregierung bis Anfang 1833.408 Offensichtlich hatte der Kammer die Drohung mit dem imposanten Anklagerecht, das der Deutsche Bund Jahre später als mit dem „monarchischen Prinzip“ unvereinbar beanstanden sollte,409 keinen Vorteil ein­ gebracht. Vor dem Panorama des heraufziehenden Verfassungskonflikts erscheint die „Garde-du-Corps-Nacht“ damit geradezu als Menetekel.410 402

M. Arndt, Militär, 1996, S. 181 ff. Vgl. C. Venturini, Chronik VII (1834), S. 399. 404 E. Grothe, Verfassungsgebung, 1996, S. 180 und ferner H. v. Treitschke, Geschichte IV, 1889, S. 142. F. Oetker, Hassenpflug, 1850, S. 4 teilt in der Anm. mit, dass Giesler „gar bald […] abermals Residenzpolizei-Direktor“ geworden sei. 405 W. Menzel, GeschDt II4 1843, S. 1215. 406 H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (76). 407 Vgl. H. v. Treitschke, Geschichte IV, 1889, S. 141 f. und E. Grothe, Verfassungsgebung, 1996, S. 181. Abdruck einer entsprechenden Proklamation des Kurprinzen vom 11. Dezember 1831 bei H. Seier (Hg.), Akten und Briefe, 1992, Nr. 50, S. 163 f. Zu Verschwörungstheorien s. 2. Teil Fn. 353. 408 M. Arndt, Militär, 1996, S. 185; G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 104. 409 s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 2. a). 410 Vgl. H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (75 f.), der von einer „Kehrtwende“ spricht. 403

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In informationsrechtlicher Hinsicht verdeutlichte das spektakuläre Scheitern der Landstände die Schwäche des vermeintlichen Untersuchungsrechts. Die eigentliche Ursache für diese zwangsläufige Niederlage war der in Wahrheit interpellationsartige Charakter der §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831, der keine unabhängigen Beweiserhebungen zuließ. Wie auch anderswo lag die Information der kurhessischen Landesvertretung vollständig in den Händen der Regierung. Das Eingeständnis des Ausschussberichterstatters Pfeiffer, der kurz vor Weihnachten 1831 erklärte, dass die Stände überhaupt nicht in der Lage wären, „die zur Ausübung der verfassungsmäßigen Thätigkeit rücksichtlich jener Vorgänge erforderliche Kenntniß des näheren Thatbestandes […] auf eine glaubwürdige Weise sich selbst zu verschaffen“, entsprach der verfassungsrechtlichen Realität.411 Nichtsdestotrotz trugen die erfolglosen Aufklärungsbemühungen in der Dezemberaffäre wenigstens ein Stück weit zur Entstehung eines parlamentarischen Kontrollrechts bei: Die Abgeordneten nahmen eindeutig die Befugnis in Anspruch, die Rechts- und Verfassungsmäßigkeit der militärischen Maßnahmen zu überprüfen, um sich über diesen Zwischenschritt letztendlich einen gewissen Einfluss auf die landesherrliche Machtbasis zu verschaffen. In dieses Bild passen auch die Verwendung der Kammer für eine Zurückverlegung der in der Nähe Kassels liegenden Husarenregimenter sowie ihr vehementer Widerspruch gegen die vermeintliche Formalie, dass dieses Ersuchen durch den Kriegs- anstelle des Innenministers abschlägig beschieden wurde.412 Die Landstände versuchten so schon zu Beginn der 1830er Jahre, ihre Informationsrechte – wie es der heutigen Untersuchungspraxis zu Art. 44 GG entspricht – sowohl zur Kontrolle der Exekutive als auch zur politischen Einflussnahme zu instrumentalisieren. Dagegen bemühte sich die Regierung nach Kräften, sämtlichen informationellen Forderungen auszuweichen, um mit dem Informationsmonopol die monarchische Exekutive zu behaupten und sich mit anderen Worten jeder Kontrolle und Mitsprache der Landstände zu ent­ziehen. Statt sich wie in der Ernennungsstreitigkeit gewissermaßen auf einen „Kernbereich militärischer Eigenverantwortung“ zu berufen, führte die Regierungsseite dieses Mal in nicht nur rhetorisch geschickter Art und Weise die Unabhängigkeit der Justiz ins Feld. Noch in der Weimarer Republik sollten entsprechende Bedenken gegen die simultane parlamentarische und strafverfahrensrechtliche Aufarbeitung eines Sachverhalts wiederkehren. Verfügte die kurhessische Kammer also auch nicht über ein frühes Enquête- und Untersuchungsrecht, so zeichneten sich in ihren Auseinandersetzungen mit dem Kurhaus doch wenigstens die für lange Zeit wirksamen Interessenkonstellationen und Frontverläufe deutlich ab. Dass Untersuchungen militärischer Übergriffe in einer anderen politischen Großwetterlage und  – unmittelbare parlamentarische Ermittlungsbefugnisse voraus­ gesetzt  – selbst im 19.  Jahrhundert gelingen konnten, stellten gut 15 Jahre später die Paulskirchen- und die preußische Nationalversammlung unter Beweis. Die 411

VerKhLT 1831, Anl. CXCIV, S. 1158. s. die Nachw. in Fn. 93.

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unterschiedlichen Erfolgsbilanzen – in Kassel 1831/32 totales Scheitern, in Berlin und Frankfurt beachtliche Erfolge aufgrund eines wenngleich rudimentären, so doch „echten“ Untersuchungsrechts – verdeutlichen, wie sehr interpellationsartige Auskunftsinstrumente hinter echten Selbstinformationsrechten zurückbleiben.413 cc) Der Streit um die Bundespolitik Der dritte Streit aus dem Vorfeld des eigentlichen Verfassungskonflikts hatte einen bundespolitischen Hintergrund. (1) Historischer Hintergrund Noch vor dem Hambacher Fest versuchte der Deutsche Bund, nationale Be­ strebungen mit einer repressiven Presse-, Hochschul- und Innenpolitik zu unterdrücken. Zu dem miserablen Leumund der Bundespolitik trug zusätzlich bei, dass seit 1824 über verschiedene Gegenstände, vor allem „Militär-Angelegenheiten oder Differenzen der Bundesfürsten unter sich oder mit den Ständen“, nur noch Separatprotokolle aufgenommen wurden, die nicht zur Publikation, sondern bloß „loco dictaturae“ gedruckt wurden. Gemeinsam mit der antirepräsentativen und antikonstitutionellen Politik und dem repressiven Presseregiment des Deutschen Bundes wurde diese Geheimniskrämerei zum Gegenstand einer deutschlandweit beachteten politischen Auseinandersetzung.414 (2) Antrag Jordan und Auskunftsersuchen Erneut brachte Sylvester Jordan den Stein ins Rollen: Ende September 1831 schlug er in den Budgetberatungen, wahrscheinlich zu dem durch die Bundespflichten beeinflussten Militäretat des Kurstaats415, hinter verschlossenen ­Türen vor, die Staatsregierung dazu aufzufordern, sich am Bundestag im konstitutionellen Sinne sowie für eine Publikation der Separatprotokolle zu verwenden. Knapp einen Monat später präsentierte Jordan dem Plenum einen entsprechenden Entwurf.416 413 Zu Mainz und Schweidnitz s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 2. a) und D. IV. 3. Beide Male kam es unter Beteiligung der Bürgerwehr zu blutigen Zusammenstößen mit dem Militär. 414 Allg. zur antinationalen Politik des Deutschen Bundes E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 151 ff.; W. Siemann, Staatenbund, 1995, S. 332 ff. und H. v. Treitschke, Geschichte IV, 1889, S. 267 ff. Zitate aus dem Beschluss über die Separatprotokolle in ProtBV XVI (1824), S. 234 f. Zum Konflikt um die Bundespolitik s. G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 83 ff., 92 ff.; P. Losch, KhGesch, 1922, S. 186 f. und zu den Separatprotokollen H. Zoepfl, StaatsR I5 1863, S. 320; E. Huhn, StaatsR V, 1863, S. 216 ff. 415 Vgl. N. N., Berliner Revue 1865, S. 205 (211). 416 VerKhLT 1831, S. 719 sowie Anl. CLXXXI, S. 850 und S. 797.

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Selbst in der durch einen Ausschuss entschärften Fassung,417 die am 31. Oktober 1831 bei nur fünf Gegenstimmen angenommen wurde,418 wurde dem Bund Versagen auf der ganzen Linie vorgeworfen: Sein gesamtes bisheriges Wirken habe der Stellung Deutschlands im europäischen Mächtekonzert ebenso wenig genutzt wie den konstitutionellen bzw. den handels- und verkehrspolitischen Verheißungen der Bundesakte. Um für Besserung zu sorgen, sollten sämtliche Bundesregierungen ihre Gesandten künftig „auf das bestimmteste und nachdrücklichste [anweisen…], die unverkennbaren und laut ausgesprochenen Wünsche und Bedürfnisse der deutschen Völker sowohl in innerer als äußerer Beziehung allenthalben mit Umsicht zu beachten“ sowie „stets nur im konstitutionellen Sinne und Geiste zu handeln“. Ihre Kompetenz zu diesen heiklen Forderungen leitete die Kammer aus der Natur des Bundes als Verein von Staaten mit landständischer Verfassung ab, der sich mit dieser Grundentscheidung die „Verantwortlichkeit der höhern Staatsbeamten“, der Minister und Bundestagsgesandten sowie überhaupt eine „konstitutionelle Verfahrensweise“ ins Stammbuch geschrieben habe. Nach diesem Resümee forderte die Kammer die Staatsregierung dazu auf, sich „auf diplomatischem Wege mit den übrigen konstitutionellen Staaten Deutschlands zu einer dem konstitutionellen Wesen in jeder Hinsicht entsprechenden Wirksamkeit beim hohen Bundestage zu vereinigen“. In informationsrechtlicher Hinsicht kam die Forderung hinzu, „insbesondere auch darauf anzutragen und hinzuwirken, daß wieder sämmtliche Protokolle […] öffentlich bekannt gemacht“ würden. Einstweilen wollten sich die Stände mit einer Übermittlung der „bisherigen Separat-Protokolle […] zur Einsicht“ zufrieden geben, um sich auf diesem Wege „von der bisherigen Wirksamkeit des kurhessischen Bundestagsgesandten [zu] überzeugen“. Als Grundlage für diesen Aktenvorlageanspruch, der letzten Endes nach dem Muster eines politischen Untersuchungsrechts auf die Kontrolle der Tätigkeit des Bundestagsgesandten gerichtet war, sollte einerseits § 89 KhVerf­Urk  1831 dienen, der den Landständen das „unzertrennliche Wohl des Landesherrn und des Vaterlandes mit treuer Anhänglichkeit an die Grundsätze der Verfassung“ anvertraute. Andererseits kam dieses Mal auch das Recht der Landstände aus § 92 KhVerf­Urk 1831 ausdrücklich zur Sprache, „über die Verhältnisse, welche nach ihrem Ermessen auf das Landeswohl wesentlichen Einfluß [hätten…], die zweckdienliche Aufklärung von der Staatsregierung zu begehren“.419 Die Kammer verband also ihre materiellen Kompetenzen mit ihrem formellen Informationsrecht, um auf diese Weise ihren Anspruch auf Regierungskontrolle durchzusetzen. Als der Deutsche Bund im November 1831 auf eine noch strengere Zensur drang, bestand Sylvester Jordan am 5.  Dezember 1831 gegenüber der Staatsregierung auf „schleunige Auskunft darüber, ob und aus welchen Gründen sie dem kurhess. 417 s. dazu VerKhLT  1831, S.  797 f. und G. Kleinknecht, S.  Jordan, 1983, S.  93. Freilich wider­sprach Jordan, S. 843 nicht, „da dieser Entwurf von dem früheren im Wesentlichen nicht abweiche“. 418 VerKhLT 1831, S. 843 f. 419 VerKhLT 1831, Anl. CLXXXI, S. 850 f.

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Bundestags-Gesandten aufgegeben habe, für die Annahme der vom hohen Präsidium der Bundesversammlung gethanen, auf die Beschränkung der Preßfreiheit bezüglichen Vorschläge zu stimmen“; weiter verlangte er eine „alsbaldige Mit­ theilung desjenigen Berichtes des kurhess. Bundestags-Gesandten, mittelst dessen dieser den Bundesbeschluß vom 10. v. M. eingesandt habe“. Zu guter Letzt sollte die Kammer dem Landtagskommissar das Ersuchen vom 31. Oktober 1831 „wenigstens hinsichtlich des zweiten leicht sofort zu erledigenden Theiles […] in Erinnerung […] bringen“.420 Mit diesen Vorstößen vollzog der oppositionelle Universitätsdeputierte ein in Grundzügen gewissermaßen schon 1828 ausgearbeitetes Programm: In seinen „Versuchen über allgemeines Staatsrecht“ hatte Sylvester Jordan der Volksvertretung „in Bezug auf die Ausübung der Staatsgewalt […] nach außen“ das Recht zugesprochen, „genaue Aufklärung […] zu verlangen“ und „geeignete Vorschläge zu thun oder die hierauf bezüglichen Wünsche des Volkes zur Kenntniß des Regenten zu bringen“.421 Auch nach dem Entwurf des Verfassungsausschusses vom November 1830 sollten die Landstände „befugt [sein], sich über die auswärtigen Verhältnisse, insoweit diese auf das Landeswohl Einfluß [hätten…], die nötige Auskunft zu erbitten, wenn […] nicht besondere Umstände“ entgegenstünden. In der Sache sollte die Kammer berechtigt sein, dem „Regenten die etwaigen auf die genannten Verhältnisse bezüglichen Wünsche des Volkes zur geeigneten Berücksichtigung“ mitzuteilen.422 Statt diese möglicherweise bundesrechtswidrigen Vorschriften zu adoptieren und so Exekutionsgefahren heraufzubeschwören, verzichtete die Januarverfassung auf landständische Mitwirkungsbefugnisse in der auswärtigen Gewalt, die von der konstitutionellen Staatsrechtslehre ohnehin überwiegend dem Landesherrn vorbehalten wurde.423 Wenigstens verlangte § 107 KhVerf­Urk 1831 einen konstitutionellen Ministerialvorstand für die „auswärtigen Angelegenheiten“, der gegenüber den Landständen die Verantwortung übernehmen und ihnen Rede und Antwort stehen musste und für Verfassungsverletzungen angeklagt werden konnte. Nach Art.  8 WSA  1820 waren die Bundestagsbevollmächtigten dagegen ausschließlich „von ihren Committenten unbedingt abhängig, und diesen allein wegen getreuer Befolgung der ihnen ertheilten Instructionen, so wie wegen ihrer­ Geschäftsführung überhaupt, verantwortlich“. 420 Die Begründung bat der Marburger Staatsrechtler, in vertraulicher Sitzung erledigen zu dürfen. s. VerKhLT 1831, S. 1047 und dazu G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 84. 421 S. Jordan, Versuche, 1828, S. 477 f. 422 s. bei H. Seier (Hg.), Akten und Briefe, 1992, Nr. 24, S. 85 (Hervorhebung nur hier). 423 Vgl. H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 249, 892 f.; H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 292 in Anm. 8; ders., StaatsR II2 1854, S. 577 ff., der Mitwirkungsrechte bei der legislativen Umsetzung von Verträgen sowie ein Petitionsrecht in auswärtigen Angelegenheiten anerkennt. Noch am Ende des 19. Jahrhundert heißt es bei L. v. Rönne/P. Zorn, PrStaatsR I5 1899, S. 395 f., dass „[n]ach allgemeinem konstitutionellen Gebrauche […] die Beantwortung einer Interpellation bei noch schwebenden Verhandlungen mit auswärtigen Regierungen mit Recht verweigert“ werden könne.

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Vor diesem Hintergrund ließen sich Sylvester Jordans Forderungen, durch die er endgültig zur liberalen Galionsfigur mit deutschlandweiter Anerkennung avancierte,424 ausschließlich als Kampfansage an die kurfürstliche Regierung und den Deutschen Bund deuten  – nicht unähnlich Carl Theodor Welckers Auftreten in der badischen Zweiten Kammer.425 Die kurhessischen Landstände wagten sich auf gefährliches Terrain, als sie diese Petita adoptierten und sich nicht auf das­ ohnehin schon problematische Auskunftsersuchen beschränkten,426 sondern überdies auch noch versuchten, Einfluss auf die Bundespolitik zu nehmen. Tatsächlich hatte der kurhessische Vorstoß ein deutschlandweites Echo. Seine Sprengkraft lässt sich an dem Resümee eines anonymen Beitrags im Hamburger „Politischen Journal“ ablesen, dass „die constitutionnellen Interessen künftig ein besonderes Gewicht in den Berathungen und Beschlüssen des Bundestags erhalten“ müssten, „[w]enn […] Churhessen […] seinen Minister des Auswärtigen für die Abstimmung des Bundestagsgesandten verantwortlich [mache…] und die übrigen constitutionnellen Staaten Deutschlands diesem Beispiele folg[t]en“.427 Indem diese liberalen Hoffnungen für jeden Verfechter des Metternich’schen Bundessystems das Horrorszenario sein mussten, riskierten die Landstände eingedenk des Art. 58 WSA 1820 eine Intervention des Bundes.428 Unter dem Blickwinkel eines parlamentarischen Informations- und Kontrollinstruments sind die Forderungen der kurhessischen Landstände weit weniger spektakulär: Zwar beabsichtigte man eine landständische Kontrolle der Regierung und des Bundestagsgesandten. In informationsrechtlicher Hinsicht blieb die Kammer aber bei interpellationsartigen Ersuchen stehen, so dass von einem Selbstinformationsrecht nach dem Muster des Art. 44 GG keine Rede sein kann. Einen Hauch von Unmittelbarkeit ließ wenigstens ihre Forderung verspüren, ihr die ­Separatprotokolle vorzulegen, um das Verhalten des Bundestagsgesandten auf­ dieser Grundlage zu untersuchen.

424 G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 93 f.; C. W. Wippermann, Kurhessen, 1850, S. 248 f.; K. H. Hermes, Geschichte IV6 1853, S. 42 f.; C. Venturini, Chronik VI (1833), S. 304 f. 425 Zu Welckers Antrag, dem Bundestag eine Volksvertretung beizugeben, s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S.  42 und aus zeitgenössischer Sicht K. H.  Hermes, Geschichte IV6 1853, S. 42 f. sowie S. 47 (Zitat). 426 U. a. missbilligte Metternich die §§ 92, 93 KhVerfUrk  1831 mit Blick auf das „monarchische Prinzip“. s. L. F. Ilse, Politik Großmächte, 1861, S. 32 bis 40. 427 N. N., PolJournal LIII/1 (1832), 296 f. Ferner G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 92. 428 Gewissermaßen urteilte K. H.  Hermes, Geschichte IV6 1853, S.  47, dass die „directe Heraus­forderung […] unmöglich von der Bundesversammlung unbeachtet gelassen werden konnte“, und führt die Beschlüsse vom 28. Juni 1832 u. a. auf die weitreichenden Forderungen verschiedener Ständeversammlungen zurück (S. 49 ff.).

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(3) Das Ringen um Auskunft Natürlich leistete man diesen Ersuchen nicht Folge. Stattdessen erklärte der Landtagskommissar Mitte Dezember 1831 im Auftrag des Außenministers Karl Friedrich v. Kopp in geheimer Sitzung lapidar, dass die Staatsregierung auch ohne landständische Ermahnung „darauf bedacht gewesen [wäre, …] durch ihre diplomatischen Agenten dahin zu wirken, daß die Bundesverfassung […] immer mehr ausgebildet und vervollkommnet werde“. In der Frage der Separatprotokolle bedauerte es der Minister, dass jedes Entgegenkommen dem „einstimmig gefaßten Bundestages-Beschlusse vom 1ten July 1824, von welchem man einseitig nicht abgehen könne, zuwider“ wäre.429 Eine Information der Kammer wurde dieses Mal aus bundespolitischen Gründen abgelehnt, ohne ihren Auskunftsanspruch grundsätzlich in Abrede zu stellen. Gut zwei Wochen später berichtete Sylvester Jordan am 30. Dezember 1831, es war sein 39. Geburtstag, in öffentlicher Sitzung (!) über diese ausweichend taktierende Stellungnahme.430 Er kritisierte, dass die „völlig ungenügend[en]“ Erklärungen die „Wünsche der Ständeversammlung“ geradezu „auf diplomatische Art“ umgingen, weil man „Handlungen und bestimmte Maasregeln  […], nicht aber bloße Versicherungen“ erwartet habe.431 Auf die Forderung, sich für die Publikation sämtlicher Protokolle diplomatisch starkzumachen, sei der Minister nicht einmal eingegangen. Bundesrechtliche Hindernisse, die Separatprotokolle mitzu­ teilen, erkannte der Marburger Staatsrechtler nicht an: Der Bundesbeschluss von 1824 begründe lediglich die Pflicht, die „Separat-Protokolle ohne Zustimmung der Bundesversammlung nicht öffentlich durch den Druck bekannt [zu] machen“. Eine Information der Landstände zähle demgegenüber „zu den inneren Angelegenheiten […], in welche einzuwirken der Bundesversammlung überhaupt kein Recht“ zustehe. Von einer „blos vertraulichen Mittheilung“ seien zudem keine Nachteile für andere Bundesregierungen zu befürchten. Schließlich könne die Staatsregierung „von den Landständen verlangen […], daß diese von den Separat-Protokollen keinen Mißbrauch mach[t]en“. Aus heutiger Sicht ist die Verwahrung, dass ein solches Fehlverhalten von „vereideten Volksvertretern“ „ohnehin nicht zu besorgen“ wäre, einigermaßen blauäugig. Jedenfalls sprach nach Jordans Überzeugung überhaupt nichts dagegen, der Kammer „in beglaubigten Abschriften“ wenigstens die „Anträge, Aeußerungen und Abstimmungen [des kurhessischen…] Bundestagsgesandten“ vorzulegen.432 Dieses Mal stützte er seine Informationsforderungen auf § 92 KhVerf­Urk 1831, der die Kammer überdies „unläugbar“ zu einem derartigen Antrag verpflichte. Ob die Landstände ausreichenden Anlass zu einem solchen Ersuchen sähen, stehe al 429

Beil. XXXIX, VerKhLT 1831, S. 1 f. s. VerKhLT 1831, S. 1150 sowie S. 1163 den Protokollauszug aus der vertraulichen Sitzung vom 15. Dezember 1831. 431 Beil. XXXIX, VerKhLT 1831, S. 2. 432 Beil. XXXIX, VerKhLT 1831, S. 4 ff. (Hervorhebung nur hier). 430

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lein in ihrem „Ermessen“; unbestreitbar seien jedoch „die Wirksamkeit und das Benehmen des Herrn Bundestagsgesandten [in aller Regel…] von wesentlichem Einflusse auf das Wohl des Vaterlandes“. Vorboten der Korollartheorie klangen in der These an, dass die Staatsregierung schon „durch das den Landständen nach §. 61 der Verf. Urk. zustehende Recht, die Staatsbeamten anzuklagen“, zur Auskunft verpflichtet sei, dessen Ausübung durch eine „Verweigerung der […] Dokumente […] geradezu unmöglich“ werde. Vor allem brachte Jordan so aber die Krux jedes interpellationsartigen Informationsinstruments treffend auf den Punkt. – Abschließend legte er der Versammlung nahe, ihre bisherigen Ersuchen in der „Hoffnung“ zu wiederholen, „daß auch die Staatsregierung [auf die…] so hochwichtigen Anträge nach wiederholter Prüfung durch wirkliches Handeln ein­gehen, und sich auf diese Weise das unvergängliche Verdienst erwerben werde, unter den Bundesregierungen die erste gewesen zu seyn, welche zum großen Werke der konstitutionellen Wiedergeburt Deutschlands Hand angelegt“ habe. Lasse die Kammer das Ersuchen fallen, setze sie sich dem Vorwurf aus, entweder die Wichtigkeit der Sache zu verkennen oder es an „Willen, Kraft und Beharrlichkeit“ fehlen zu lassen.433 Am 30. Januar 1832 verlas Landtagskommissar Eggena die im Staatsministerium abgestimmte Replik des Außenministers.434 Jede Befugnis der Landstände, „bei der landesherrlichen Ausübung der äuseren Hoheitsrechte des Staates […] mitzuwirken“ oder die „Geschäftsführung zu beaufsichtigen“, wurde jetzt kategorisch zurückgewiesen. In diesem Sinne folge eine „Rechtsvermuthung gegen die rechtliche Nothwendigkeit einer landständischen Theilnahme an der Ausübung der Staatsgewalt“ aus dem in Art. 57 WSA 1820 und § 10 KhVerf­Urk 1831 niedergelegten „monarchischen Prinzip“. Während die Verfassungsurkunde die „gesetzliche und verfassungsmäsige Verwaltung der auswärtigen Staatsgeschäfte“ durch die Ministerverantwortlichkeit des Außenministers absichere, seien die Bundestagsgesandten nach Art.  8 WSA  1820 „nur dem Landesherrn […] verantwortlich“. Die Landstände dürften „in keinerlei Weise auf [ihre…] Geschäftsführung […] einwirken oder auch nur über deren Wirksamkeit eine aktenmäsige Aufklärung verlangen“. Diese „spezielle, im Wesen monarchischer Verfassungen begründete, Prärogative der Krone [könne] in solchen allgemeinen Ausdrücken“ wie in § 92 KhVerf­Urk 1831 „nicht an Andere veräusert“ werden. Ebenso wenig gestatteten andere Kompetenzen einschließlich des Beschwerde- oder Anklagerechts Rückschlüsse „auf eine weitere Theilnahme an der Ausübung nicht ausdrücklich eingeräumter Rechte“. Andernfalls könne die Kammer „auf dieselbe Weise und mit demselben Recht“ verlangen, „bei der Ausübung aller und jeder Hoheitsrechte mitzuwirken“. Zu guter Letzt spielte der Landtagskommissar die große konstruktive Schwäche jedes interpellationsartigen Rechts aus, indem er die Landstände belehrte, dass § 92 KhVerf­Urk 1831 die Entscheidung, „ob die verlangte Aufklä 433

Beil. XXXIX, VerKhLT 1831, S. 6 f. VerKhLT 1831, S. 1338; Abdruck der Antwort als Beil. LXIX, VerKhLT 1831.

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rung eine zweckdienliche, der Wohlfahrt des Staates förderlich sey, oder nicht“, allein dem „pflichtmäsigen Ermessen der Staatsregierung“ überlasse. Selbst wenn das „Parlament seinerseits das Recht haben [sollte], die Vorlage der diplomatischen Aktenstücke zu verlangen“, stehe den Ministern das „Recht zu, dem Parlament nur so viel mitzutheilen, als ihnen in Rücksicht auf das öffentliche Wohl des Landes gut“ erscheine. Die „diplomatischen Verhandlungen mit auswärtigen Staaten“ wären aber niemals „zur Oeffentlichkeit, oder zur landständischen Theilnahme geeignet“, weil andernfalls die Gefahr bestehe, dass die Großmächte überhaupt nicht mehr mit kleineren „konstitutionellen Staaten“ „in diplomatische Unter­handlungen“ träten, wenn sie befürchten müssten, „daß ihre Mit­theilungen, wohl gar schon vor beendigtem Geschäft, der Publizität übergeben […] würden“.435 Wie es z. B. § 156 Ls­Verf­Urk­SchwaSo 1830 ausdrücklich bestimmte, postulierte der Landtagskommissar also eine außenpolitische Bereichsausnahme gegenüber sämtlichen landständischen Informationsrechten. Daneben berief sich die Regierung ein weiteres Mal auf den Bundesbeschluss von 1824, der keinerlei Ausnahmen zulasse, ja selbst einer auf die Arbeit des kurhessischen Gesandten beschränkten Mitteilung entgegenstehe, weil sämtliche Bundesglieder erwarten könnten, dass aus den geheimen Abstimmungen nichts „zur Publizität“ gelange. Schließlich fehle es keineswegs „an Beispielen […], daß Mitglieder von Stände­ versammlungen die geheimen oder vertraulichen Mittheilungen ihrer Staatsregierungen der Oeffentlichkeit übergeben“ hätten. Abschließend wies es die Regierungsseite brüsk zurück, die „einzelnen Schritte […] zur Verwirklichung ihrer gegebenen Zusicherung […] näher“ zu erläutern. Zudem erklärte sie eine Publikation der Bundesprotokolle für „viel zu delikat“, als dass man sie mit der Kammer beraten könne. Zu guter Letzt wies man die Stände gewissermaßen zurecht, sich aus dieser Antwort „gefällig [zu] überzeugen, daß die Staatsregierung im Falle eines etwa erneuerten Antrages […] es nur zu bedauern haben würde, darauf nicht eingehen zu können“.436 Am 6. März 1832 prangerte Sylvester Jordan öffentlich den Widerspruch an,437 dass das Außenministerium das „Recht der Ständeversammlung, Anträge dieser Art […] zu stellen, durchaus nicht bestritten“, sondern mit dem Bedauern, den „Wünschen“ der Kammer nicht weiter folgen zu können, „unumwunden anerkannt“ habe. Die jüngere Erklärung, die das einmal anerkannte Recht wieder in Abrede stellen solle, schrieb er dagegen dem Staatsministerium zu. Statt sich mit den landständischen Argumenten auseinanderzusetzen, beschränke sich diese Stellung 435

Beil. LXIX, VerKhLT 1831, S. 1 ff. (Hervorhebung nur hier). Beil. LXIX, VerKhLT 1831, S. 4. 437 VerKhLT 1831, S. 1523. Wegen „einige[r] Stellen“ im Bericht Sylvester Jordans, „welche blos Persönlichkeiten beträfen“, verlangte Burchard Wilhelm Pfeiffer eine Überarbeitung im Ausschuss. Auf Jordans Widerspruch blieb es „bei dem beschlossenen Druck“. Tatsächlich wird in dem Bericht deutlich, wie persönlich Jordan die Sache nahm: Selbst (vermeintliche) sprachliche Ungenauigkeiten werden ironisch kommentiert und Fehler in Klammerzusätzen korrigiert. Vgl. Beil. LXXVI, VerKhLT 1831, S. 1 ff. 436

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nahme auf die „zur Sache nicht gehörige[n] Vorfrage“, „ob den […] Landständen verfassungsmäßig das Recht [zustehe…], bei der landesherrlichen Ausübung der äußeren Hoheitsrechte […] mitzuwirken“. Davon sei aber überhaupt keine Rede. Vielmehr könnten die Landstände „Mitsprache […] verlangen“, soweit die materiell verfolgten Anliegen das Staatswohl beträfen. Um eine „Mit­wirkung bei der (formalen) Ausübung selbst“ gehe es selbstverständlich nicht. Auch in der­ Innenpolitik beanspruche die Kammer keine „Theilnahme an der wirklichen Regierung, sondern nur eine Mitsprache in Bezug auf die materiellen Zwecke […] der Regierung“.438 Zur Begründung der Auskunftsforderungen berief sich Sylvester Jordan – wieder der Korollartheorie nicht unähnlich – auf das Recht der Stände, „das unzertrennliche Wohl des Landesherrn und des Vaterlandes nach Kräften zu fördern ([…] §. 89) und darum über alle Verhältnisse, welche nach ihrem Ermessen auf das Landeswohl wesentlich Einfluß [hätten…], die zweckdienliche Aufklärung zu verlangen (Verf. Urk. §. 92)“. Auf ein solches Ersuchen hin müsse nach dem klaren Verfassungswortlaut „die gewünschte, also nicht bloß eine nach dem Ermessen der Staatsregierung zu modifizirende [!], Auskunft ertheilt werden“. So könne die „Ständeversammlung auch die Vorlage aller jener Dokumente verlangen […], deren Einsicht sie [für…] nöthig halte“. Erneut führte Jordan das landständische Anklagerecht ins Feld und widersprach der These, „daß die Gesandten nur dem Landesherrn verantwortlich“ wären. Schließlich könne kein „Staatsbeamter dadurch, daß er Bundestagsgesandter [sei…], von den Bestimmungen der auch von ihm beschworenen Verfassung […] befreit“ werden. Obwohl der Außenminister für die „Verfassungsmäßigkeit der Instructionen“ verantwortlich sei, habe der Gesandte dafür einzustehen, „eine den Bestimmungen der Verf.  Urk. zuwider­ laufende Instruction nicht zu befolgen“. Zur Anklagevorbereitung seien die Landstände darauf angewiesen, „die Einsicht der zur Begründung der Anklage erforderlichen Documente zu begehren“. In auswärtigen Angelegenheiten besäßen sie überdies ein Antragsrecht. Soweit die Regierung ihre Forderungen ablehne, habe eine „mit Gründen belegte Zurückweisung […] nach §.  105 der Verf.  Urkunde stets und thunlichst bald [zu] erfolgen“.439 Das Informationsrecht erschien so gewissermaßen als formelles „Korollar“ des materiellen Antrags- und Anklagerechts der Landstände auf dem Feld der Außenpolitik. Abschließend wies Sylvester Jordan den Vorwurf zurück, dass Mitglieder der Ständeversammlung „geheime oder vertrauliche Mittheilungen der Oeffentlichkeit übergeben“ hätten. Darüber hinaus verteidigte er das Recht der Kammer, über „Mittheilungen der Staatsregierung in geheimer Sitzung“ später öffentlich zu de 438 Beil. LXIX, VerKhLT 1831, S. 1 ff. (Hervorhebungen nur hier). Bekräftigung und Drohung dürfte der Hinweis gewesen sein, „daß [die Landstände…] die für das auswärtige Departement im Grundetate angesetzten Ausgaben streichen müsten, indem […] alle Geldverwilligungen nur aus Rücksichten des Landeswohls [zu] rechtfertigen“ wären. Beil. LXXVI, VerKhLT 1831, S. 3. 439 Beil. LXXVI, VerKhLT 1831, S. 4 f.

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battieren. Andernfalls habe es das Gouvernement in der Hand, „durch die Vorlage der Propositionen in geheimer Sitzung“ die Öffentlichkeit der Landtagsverhandlungen vollständig zu beseitigen.440 Zu guter Letzt forderte Sylvester Jordan, den früheren Antrag vom 22. Dezember des Vorjahres zu wiederholen.441 (4) Scheinbares Einlenken der Regierung (April 1832) Am 3. April 1832 stand die Sache trotz des Drängens des Landtagskommissars, dass „[d]ieser Gegenstand […] wohl dem nächsten Landtage vorbehalten werden“ könne, wieder auf der Tagesordnung. In den Beratungen deduzierte Burchard Wilhelm Pfeiffer den „Zweck der Begründung und Beförderung des konstitutionellen Systems aus der Bundesakte selbst“ und betonte, dass, wenn man „in Gemäsheit der […] fast einstimmigen Ansicht der Bundesfürsten“ an dem landständischen Anklagerecht festhalte, „hieraus von selbst die Befugniß [folge…], insonderheit auch von dem Minister des Auswärtigen genaue und vollständige Auskunft über die Wirksamkeit des Bundestags-Gesandten […] zu verlangen“. Freilich habe sich die Kammer auf die Protokolle zu beschränken, „welche mit dem inneren Landesinteresse in Beziehung“ stünden. Landtagskommissar Karl Eggena meldete darauf selbst für den Fall, dass die Regierung auf ein solches Ersuchen eingehen sollte, die Einschränkung an, dass sich der „Inhalt [der Protokolle] nicht zur Geheimhaltung […] empfehle“.442 Nachdem Sylvester Jordan in dieselbe Kerbe wie Burchard Wilhelm Pfeiffer gehauen hatte, wurden „die früheren Anträge als nicht erledigt“ wiederholt und wohl zwecks Klarstellung auch beschlossen, „in Beziehung auf den ersten Antrag die Mittheilung der die inneren Angelegenheiten des deutschen Bundes und seiner Glieder betreffenden Separat-Protokolle“ bloß hinsichtlich der „Aeußerungen, Abstimmungen und Anträge, des diesseitigen Bundestags-Gesandten in beglaubigter Abschrift nochmals“ zu verlangen. Weiter wurde die „Staatsregierung um specielle Angabe derjenigen Schritte [ersucht…], welche sie zum Zwecke der Ausbildung der deutschen Bundes-Verfassung […] gethan habe und noch zu thun gedenke“; besonderes Augenmerk wurde der Frage zuteil, „ob und in welcher Weise [sie…] auf den Theil des ständischen Antrags, welcher die öffentliche Bekanntmachung der Bundestags-Protokolle betreffe, eingehen werde, oder was sie in dieser Hinsicht etwa schon verfügt habe“.443 So in die Enge getrieben, zog sich der Landtagskommissar auf die Position zurück, dass es „in der Natur der Sache [liege], daß die Stände-Versammlung ihre Anträge nur auf solche Gegenstände gerichtet habe, welche nicht aus irgend einem 440

Beil. LXXVI, VerKhLT 1831, S. 5. Beil. LXXVI, VerKhLT 1831, S. 7. 442 VerKhLT 1831, S. 1743. 443 VerKhLT 1831, S. 1744 (Hervorhebung nur hier). Das Protokoll ist in der Abstimmungsfrage nicht präziser. 441

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Grunde zur Geheimhaltung geeignet seyen“. Außerdem befürwortete er, keinen besonderen Ausschuss zu ernennen, sondern die Mitteilungen „blos zur Bibliothek“ abzugeben. Andernfalls verkenne man „ganz den Zweck von Landständen […], wenn von denselben aus jeder Aeußerung des kurhessischen Bundestags-Gesandten in Frankfurt eine besondere Veranlassung zu weiterer Geschäftsbehandlung gemacht“ werde. Trotz dieser scheinbaren Zugeständnisse gab Karl Eggena zu bedenken, dass er „keine […] bestimmte Versicherung von Seiten der Staatsregierung“ erklären könne; vielmehr gebe er den Deputierten „blos anheim, ob etwa auf die angedeutete Weise die Stände-Versammlung sich der Staatsregierung mehr an­ nähern wolle“.444 Ungeachtet dieser Aufforderung wollte Burchard Wilhelm Pfeiffer der Regierung das letzte Wort keineswegs vollständig überlassen, sondern akzeptierte eine „Beschränkung“ bloß für solche Gegenstände, „welche der Diskretion der einzelnen Bundesstaaten besonders empfohlen seyen“.445 Während der gemäßigte Libe­ rale also auf das Kompromissangebot einschwenkte, bestand Sylvester ­Jordan weiterhin auf einer „Mittheilung zur Einsicht“. Landtagskommissar Karl Eggena schränkte daraufhin noch weiter ein, dass jede Mitteilung ein „genügendes landständisches Interesse“ voraussetze; eine bloß „literarische Wißbegierde wegen Fortbildung des neueren deutschen Staatsrechts“ werde nicht ausreichen. Ebenso wenig könne die „Verantwortlichkeit eines jeden Staatsdieners […] dazu führen, daß […] fortan es kein Staatsgeheimniß mehr geben solle“. Neben diesen gewichtigen verfassungsrechtlichen und innenpolitischen Einwänden war doch der gefährlichere Vorbehalt, dass man unter keinen Umständen „einseitig, ohne Zustimmung der übrigen Bundesglieder, handeln“ könne, bundespolitischer Natur.446 (5) Zwischenergebnis Den Vorschlägen ihres Landtagskommissars zuwider verweigerte die Regierung in der Folgezeit jede Auskunft.447 Damit war der Versuch, dem interpellationsar­ tigen § 92 KhVerf­Urk 1831 eine gegenüber der kurhessischen Bundespolitik mit dem modernen Enquête- und Untersuchungsrecht vergleichbare Funktion abzugewinnen, gescheitert. Ebenso vergebens waren die Bemühungen, Einfluss auf die Tätigkeit des Bundestagsgesandten zu nehmen. In informationsrechtlicher Hinsicht zeigte der Protokollstreit ein weiteres Mal, dass die §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831 keine Frühform eines parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts waren, sondern Fremdinformationsinstrumente mit deutlich interpellationsartigen Zügen. Nicht einmal der Versuch der Stände, 444

VerKhLT 1831, S. 1744. VerKhLT 1831, S. 1744 f. 446 VerKhLT 1831, S. 1745. 447 G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 92 f. 445

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aus diesen Vorschriften einen „echten“ Informationsanspruch abzuleiten, glückte. Die Absicht, ein Aktenvorlagerecht zu etablieren, das wenigstens ein Stück weit eine unmittelbare Information ermöglicht hätte, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Gegenüber solchen Anstrengungen konnte die Staatsregierung die §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831 alleine durch ihre Weigerung, die geforderten Unter­ lagen vorzulegen, bzw. mit der Verwahrung, dass die Beantwortung jeder Anfrage in ihrem Ermessen stehe, auf ein schwächliches Fremdinformationsinstrument zurückführen. Wie wenig selbst entschiedene Liberale auf das vermeintliche Recht bauten, belegt die von Carl Eckhard Ende Oktober 1831 geäußerte Hoffnung, „daß dieses Gesuch nicht in den Archiven der Staatsregierung liegen bleiben möge, um zu Staub zu vermodern, sondern daß die Staatsregierung den Anträgen entsprechen, auch das Resultat demnächst mittheilen wolle“.448 Trotzdem ist der Streit über die Separatprotokolle in mehrfacher Hinsicht für die Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte von Interesse, indem verschiedene Überlegungen und Argumente geradezu bemerkenswert modern erscheinen. Das gilt einmal für den Einwand, dass den Ständen ohne korrespondierende materielle Mitwirkungsrechte keine formellen Informationsbefugnisse zustehen könnten. Mit Abstrichen antizipierte Karl Eggena so die Korollartheorie, die Egon Zweig rund 90 Jahre später mit der prägnanten Formulierung aus der Taufe heben sollte, dass das Enquêterecht „als logisch oder juristisch notwendiges Korollar der der Volksvertretung zugewiesenen Tätigkeit, als sachliche Vorbereitung und Ergänzung jener Formalakte, in welchen ein Parlament seine verfassungsmäßige Zuständigkeit“ verwirkliche, erscheine.449 Wie wenig diese bis heute herrschende „Theorie“ zu einer belastbaren Kompetenzabgrenzung taugt, lässt sich an Sylvester Jordans Versuch ablesen, ein Informationsrecht der Stände aus der Regelung des § 89 KhVerf­Urk 1831 zu gewinnen, dass die „Landstände […] im Allgemeinen berufen [seien], die verfassungsmäsigen Rechte des Landes geltend zu machen und überhaupt das unzertrennliche Wohl des Landesherrn und des Vaterlandes mit treuer Anhänglichkeit an die […] Verfassung möglichst zu befördern“. Wenigstens ähnelte die Konstruierung einer gemeinsamen bzw. einer Doppelzuständigkeit von Landständen und Regierung für das Staatswohl dem Standpunkt des BVerfG, dass Bundestag und Bundesregierung die Verantwortung für das Staatswohl gemeinsam tragen und dem Parlament deswegen grundsätzlich keine Informationen vorenthalten werden dürfen, soweit ein ausreichender Schutz etwaiger Staatsgeheimnisse gesichert ist.450 Karl Eggenas Feststellung, staatsrechtliche Neugier könne ein Auskunftsersuchen nicht tragen; erforderlich sei ein „genügendes landständisches Interesse“, nimmt die moderne Forderung eines­ öffentlichen Untersuchungsinteresses vorweg.451 Einen weiteren Vorgriff bot die Verwahrung der Regierung, dass Kontrollkompetenzen der Landstände nicht dazu 448

VerKhLT 1831, S. 844. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (265, 267). 450 BVerfGE 67, 100 (135 f.). 451 s. nur BVerfGE 77, 1 (43 ff.). 449

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führen dürften, dass es keinerlei Dienstgeheimnis mehr gebe. Bezieht man noch die Sorge mit ein, dass andernfalls die Verwaltung leide, deutet sich – cum grano salis – der Schutz eines gubernativen Arkanbereichs an.452 Überhaupt sind die bei dieser Gelegenheit angesprochenen Geheimhaltungsbedenken geradezu zeitlos, ja eine Vielzahl der Einwände und Entgegnungen der Staatsregierungen bezogen sich gewissermaßen auf Mängel des „Geheimschutzes“, sollten die Protokolle an die Kammer weitergegeben werden. Wirkungsvolle Vorkehrungen hat insoweit auch das BVerfG zum Junktim einer Information des Bundestages gekoren.453 Schon das kurhessische Parlamentsrecht sah als Instrument, von dem in dieser Sache tatsächlich mehrfach Gebrauch gemacht wurde, die Nichtöffentlichkeit der landständischen Verhandlungen vor. b) Der Auftakt des Verfassungskonflikts (1832–36) Vor dem Rückzug des Kurfürsten und der faktischen Übernahme der Regierung durch seinen Sohn Friedrich Wilhelm hatten die Minister auf Ersuchen der Kammer, „auf Abwehr mehr gegen den Fürsten als gegen den Landtag bedacht, […] ausweichend reagiert“; hinter den Kulissen lief „ihr Umgang mit dem Staatschef auf Dauerbelehrung über die Schranken seiner Befugnisse“ hinaus (Hellmut Seier). Ende 1831 kündigte sich mit der „Garde-du-Corps-Nacht“ schon kurz nach dem Regierungswechsel eine radikale Wende an. Die Zeit landständischer Erfolge war endgültig vorbei, als Ludwig Hassenpflug im Staatsministerium die Führung übernahm: Der Schwager der Gebrüder Grimm, der auch mit Joseph v. Radowitz, später den Gerlach-Brüdern oder Friedrich Julius Stahl freundschaftliche Kontakte pflegte,454 spielte virtuos auf der Klaviatur der Januarverfassung, um das repräsentative Moment als Hemmung der monarchischen Macht auszuschalten. aa) Vorgeschichte: Anklagedrohung und Kammerauflösung Der erste Schritt in jahrzehntelange Verfassungskonflikte und Lethargie war die Auflösung des Landtags, mit der das Gouvernement versuchte, einer Minister­ anklage zuvorzukommen. Auslöser des Streits waren die „Sechs Artikel“, ein reaktionärer Bundesbeschluss, der neben Beschränkungen des landständischen Petitionsrechts ein Steuerverweigerungsverbot sowie Beschneidungen des Gesetzgebungsrechts oder der landständischen Redefreiheit brachte und in der Einrich-

452 Dazu M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn.  40; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 48 ff. und krit. M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art.  44 Rn.  27 sowie zum Verbot ständiger, die Regierungstätigkeit begleitender Untersuchungsausschüsse N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 57 ff. 453 BVerfGE 67, 100 (137). 454 H. Seier, in: Heinemeyer (Hg.), Verfassungsstaat, 1982, S. 53.

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tung einer ständigen Bundesüberwachungskommission gipfelte. Auf diesen ersten Schlag folgten wenig später die „Zehn Artikel“, die Vereins-, Versammlungs-, Redeund Pressefreiheit ins Visier nahmen. Diese Bundesbeschlüsse wurden in Kurhessen am 18. und am 21. Juli 1832 durch Verordnungen in Kraft gesetzt.455 Bereits am 23.  Juli 1832 schlug Sylvester Jordan in nichtöffentlicher Sitzung vor, den Rechtspflegeausschuss mit einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit beider Verordnungen zu beauftragen. Schon jetzt klang eine Ministeranklage an.456 Als juristisches Fundament dienten wohl staatsrechtliche Stimmen, dass die Regierungen wegen Art. 13 DBA 1815 und Art. 56 WSA 1820 keine Bundesbeschlüsse mittragen dürften, die ihrer „eigenen Staatsverfassung zuwiderlaufen“ würden.457 In dieser bundespolitisch heiklen Lage bereitete der Kurprinz der Kammer ein jähes Ende und vereitelte so nicht nur die drohende Ministeranklage, sondern vermied zugleich Schwierigkeiten mit dem Deutschen Bund, die jede Anklage eines Ministers wegen der Umsetzung eines Bundesbeschlusses hätten nach sich ziehen müssen.458 Trotzdem wird es die Landstände sicherlich wie ein Blitz aus blauem Himmel getroffen haben, als ihnen einen Tag vor der angekündigten Schließung die Auflösung verkündet wurde.459 Mit diesem Schachzug konnte sich das Gou­ vernement bloß temporäre Entlastung verschaffen, weil die Opposition schon in den folgenden Septemberwahlen wieder eine deutliche Mehrheit errang.460

455

Abdruck der „Sechs“ und der „Zehn Artikel“ bei M. Kotulla, DtVerfR I, 2006, S. 734 ff., 737 ff. In Kurhessen erfolgte die Umsetzung durch die Verordnung vom 18. Juli 1832, betreffend die vom deutschen Bunde beschlossenen Masregeln zur Aufrechthaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland, sowie die Verordnung vom 21. Juli 1832, betreffend die weiteren vom deutschen Bunde beschlossenen Maasregeln zur Aufrechthaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe in Deutschland (KhGS 1832, S. 217, 221). Zum Hambacher Fest als Auslöser und der kurhessischen Entwicklung s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 71 f.; G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 105 ff. 456 Vgl. G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 101; P. Popp, Ministerverantwortlichkeit, 1996, S. 212; E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 71 sowie H. Seier (Hg.), Akten und Briefe, 1992, S. 202 in Fn. 6 und S. 202 ff. den Bericht des Abgeordneten Heinrich Christian v. Warnsdorf. 457 A. Brunnquell, StaatsR I, 1824, S. 161 unter Berufung auf J. L. Klüber, ÖffR II2 1822, S. 453 und 454 in Note c). 458 Vgl. K. H. Hermes, Geschichte IV6 1853, S. 53. Abdruck der Anweisung des Innenministeriums an Landtagskommissar Friedrich Meisterlin bei H.  Seier (Hg.), Akten und Briefe, 1992, S. 201 f. H. Seier, in: Heinemeyer (Hg.), Verfassungsstaat, 1982, S. 40 berichtet, dass der Verfassungsausschuss dem ständigen Ausschuss das Recht der Ministeranklage zusprechen wollte, die Regierung aber widersprochen habe. 459 s. dazu G. Kleinknecht, S.  Jordan, 1983, S.  89, 99, 100 ff. und P. Popp, Ministerverantwortlichkeit, 1996, S.  213 sowie die Verordnung vom 26.  Juli 1832, die Auflösung der gegenwärtigen Ständeversammlung und die Wahl neuer Stände betreffend (KhGS 1832, S.  225). Hassenpflug erklärte 1833 gegenüber der Deputation des Oberappellationsgerichts, dass eine Ankündigung der Auflösung „nirgends vorgeschrieben“ sei. s.  N. N., Actenstücke, 1836, S. 241 (247). 460 H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (81 f.); ders. (Hg.), Akten und Briefe, 1992, S. LIII. Übersicht über die Landtagsfraktionen bei E. Grothe, Verfassungsgebung, 1996, S. 420.

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bb) Der Kampf um Auskunft und Kontrolle Noch am Tag der Auflösung remonstrierten die fünf Mitglieder des landständischen Ausschusses, den die Kammer in Erwartung ihrer regulären Schließung kurz vor der überraschenden Auflösung gewählt hatte,461 gegen die Inkraft­setzung der reaktionären Bundesbeschlüsse und die vermeintlich verfassungswidrige Kammerauflösung. Die „Geltendmachung dieser Verwahrung im verfassungsmäßigen Wege“, ggf. wohl auch eine Anklage der Verantwortlichen, behielt man dem kommenden Landtag vor.462 Trotzdem entwickelte sich zwischen dem permanenten Ausschuss und dem bald als „Hessenfluch“463 verschrienen einstweiligen Vorstand des Innenministeriums Ludwig Hassenpflug ein zäher Machtkampf. Für die landständische Seite sollte es in diesem Ringen eine erhebliche Hypothek bedeuten, dass die Kammer wegen ihrer überraschenden Auflösung nicht mehr dazu gekommen war, dem Ausschuss gemäß § 102 KhVerf­Urk 1831 eine besondere Instruktion zu geben; ohne ausdrücklichen Auftrag durfte dieser keine weitergehenden­ „Geschäfte im Namen der Landstände […] verrichten“.464 Es dürfte also ein Akt der Verzweiflung gewesen sein, dass der permanente Ausschuss seine Befugnisse in dieser Lage extensiv interpretierte. Aber selbst Versuche der fünf Landstände, relativ unverfängliche gesetzgeberische Schritte oder Verwaltungsmaßnahmen durchzusetzen oder anzuregen, scheiterten an Ludwig Hassenpflugs Widerstand.465 Ein dezidierter Kontrollanspruch stand auf der Tagesordnung, als sich der Ausschuss „eine an die Landstände gerichtete Vorstellung des Einwohners Christian Herwig von Neuerode, Beschwerden gegen den Schul­theißen Klor daselbst etc. betreffend“, zu eigen machte und an das Innenministerium abgab. Minister Hassenpflug monierte, dass § 35 KhVerf­Urk 1831 das entsprechende Recht der Ständeversammlung, nicht aber ihrem „ständigen Ausschusse eingeräumt“ habe. Die Vorstellung werde deswegen „für die nächste Ständeversammlung aufzubewahren seyn“.466 Die Gegenvorstellung des Ausschusses, man habe die Beschwerde ohne Verwendung weitergeleitet, ließ der Jurist Hassenpflug nicht gelten.467 461

Es handelte sich um die Liberalen Burchard Wilhelm Pfeiffer, Vizepräsident Moritz v. Baumbach, Karl Schomburg, Bernhard Eberhard sowie Georg Scholl. S. G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 99. 462 Wegen der Beteiligung von Mitgliedern der aufgelösten Kammer verweigerte Hassenpflug die Annahme des Pamphlets als „Beschluß einer den Vorschriften der Verfassungsurkunde zufolge unzulässigen Versammlung“. N. N., Actenstücke, 1836, S. 44 f. (Anl. 2 bis 5). 463 Vgl. W. Müller, Geschichte 1816–18682 1869, S. 259. 464 Vgl. N. N., Actenstücke, 1836, S. 5 f. 465 s. N. N., Actenstücke, 1836, S. 49 ff. zur Gründung einer polytechnischen Anstalt oder der Sanktion des Wildschadensgesetzes. Weitere „Sollicitationen“ folgten aufgrund des Landtagsabschieds vom 9. März 1831. s. dazu a. a. O. S. 165, 168 ff. sowie den Landtagsabschied selbst in KhGS 1831, S. 92 ff. 466 N. N., Actenstücke, 1836, S. 46 f. 467 N. N., Actenstücke, 1836, S. 47 f.

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Unter dem 11. August 1832 kam es in der Frage der Regierungskontrolle zum Schwur, als der Ausschuss dem Innenministerium nicht nur eine „Beschwerde mehrerer Bürger und Einwohner von Kassel“ übermittelte, sondern zugleich „um baldgefällige Auskunft über das Sachverhältniß und Rücksendung jener Eingabe“ bat.468 Es ging um das Verbot, ein „Fest der Versöhnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das Fest der ersten Verheißung eines feierlich gegebenen und in seinem vollem Umfang erfüllten Fürstenworts“ zu veranstalten. Hinter dieser scheinbar harmlosen Beschreibung verbarg sich in Wahrheit die Ankündigung einer politischen Demonstration zum Jahrestag des noch dem Kurfürsten abgerungenen Verfassungsversprechens, die der Kurprinz durchaus als Provokation auffassen musste. Das zweite Monitum betraf die Untersagung einer „zum Zwecke der Einsicht und Unterschrift einer […] Petition“ geplanten Versammlung.469 Wie nicht anders zu erwarten, wies Ludwig Hassenpflug das Ersuchen des Ausschusses zurück, weil man diesen „nicht für befugt halten könne, die verlangte Auskunft zu begehren“. Selbst ungeachtet der „materiellen Unbedenklichkeit einer Mittheilung des in Frage stehenden Sachverhältnisses“  (!) sei diese deswegen zu versagen.470 Es ging also nicht um den Schutz pikanter Geheimnisse, sondern ums Prinzip: Die Kompetenzen des lästigen landständischen Ausschusses sollten soweit wie irgend möglich beschränkt werden, um seinen Einfluss auf ein Minimum zu reduzieren. Postwendend qualifizierte der permanente Ausschuss die provokante Absage als verfassungswidrig: Einmal werde ihm unmöglich gemacht, gemäß § 102 KhVerf­ Urk 1831 das „landständische Interesse wahrzunehmen“. Zum anderen lasse sich die Arbeit der künftigen Ständeversammlung ohne Regierungsauskünfte nicht vorbereiten. Informationsrechtlich ist die These interessant, dass das Innenministerium, weil es zwischen zwei Landtagen dem Ausschuss gegenüber die Stellung der Landtagskommission einnehme, eine Auskunft analog § 93 KhVerf­Urk 1831 nur dann verweigern dürfe, wenn sich der Ausschuss „außer den Gränzen seiner Competenz“ befinde. Ähnlich wie Sylvester Jordan im Streit um die Separatproto­ kolle471 argumentierte der Ausschuss weiter, dass er sein Anklagerecht bloß nach „vorgängige[r] Auskunftsertheilung von Seiten des betreffenden Ministeriums“ ausüben könne.472 Die Regierungsseite konterte, § 93 KhVerf­Urk  1831 sei unanwendbar, weil die „Rechte der Ständeversammlung und ihrer Arbeits- oder Geschäftsausschüsse […] von denen des ständigen Ausschusses sehr verschieden“ wären. Indem „in Kurhessen kein förmlicher Anklage-, sondern nur Untersuchungsproceß bestehe“, könne eine Anklage zudem „durch eine bloße Anzeige bei Gericht“ erhoben werden; es könne also keine Rede davon sein, dass die Ausübung dieses landständischen Rechts „durch vorher eingeholte Auskunft […] 468

N. N., Actenstücke, 1836, S. 51. N. N., Actenstücke, 1836, S. 181. 470 N. N., Actenstücke, 1836, S. 52. 471 s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. a) cc) (3). 472 N. N., Actenstücke, 1836, S. 52 ff. 469

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bedingt“ wäre. Nach dieser rabulistischen Interpretation des Sachverhalts wies Hassenpflug die Ausschussmitglieder zurecht, dass sie künftige Petenten dazu anhalten sollten, zuerst die Instanzen zu durchlaufen. Auf diese Weise könne sich der Ausschuss zugleich aus den Beschwerdeschriften und behördlichen Erwiderungen „genügende Auskunft über die Sache […] verschaffen“. Das nächste Argument wurzelte gewissermaßen in der parlamentarischen Diskontinuität: Mit der Begründung, dass es nicht angehe, die „Instruction [des künftigen Landtags] durch den Ausschuß der aufgelösten Ständeversammlung oder mit dessen Beihülfe bewirken zu lassen“, wies Ludwig Hassenpflug sogar ein Auskunftsrecht zur Vorbereitung der anstehenden Verhandlungen zurück. Nach ihrer Eröffnung habe die künftige Kammer allein darüber zu entscheiden, „auf welchem verfassungsmäßigen Wege sie sich näher […] unterrichten“ wolle.473 Letztlich fügte sich der Ausschuss anscheinend in seine Niederlage und verlangte Anfang Januar 1833 nach weiterem Geplänkel474 resigniert die „geneigte Zurücksendung der […] Beschwerdeschrift des hiesigen Stadtrathes ergebenst, um davon […] bei der künftigen Ständeversammlung Gebrauch [zu] machen“.475 Zu neuerlichem Streit, der Mitte März 1833 wieder bis zur Auflösung eskalieren sollte, führte im Herbst 1832 die Weigerung der „vorgesetzten Behörde[n]“, ihre Genehmigung zu den Wahlen verschiedener Justiz- und Verwaltungsbeamten zu erteilen.476 Gegenüber einer Remonstration des landständischen Ausschusses Mitte Dezember 1832, dass ihm die Versagungsgründe trotz einer entsprechenden Bitte der früheren Kammer nicht unverzüglich mitgeteilt worden seien, damit sich der künftige Landtag der Sache rasch annehmen könne,477 erklärte ­ Ludwig ­Hassenpflug, dass § 71 KhVerf­Urk 1831 ausschließlich die Information der Ständeversammlung vorsehe.478 Dem landständischen Ausschuss brauche die Regierung bloß die Namen der betreffenden Personen mitzuteilen, damit sie nicht irrtümlich für das Konstituierungsquorum berücksichtigt würden. Zudem sei der Wunsch der aufgelösten Kammer  – wieder scheint der Diskontinuitätsgedanke durch – für die neugewählte Versammlung völlig unerheblich.479 473

N. N., Actenstücke, 1836, S. 55 f. Der Ausschuss rügte nochmals die Verfassungswidrigkeit, die Regierung wies die Kompetenzüberschreitung erneut zurück. s. N. N., Actenstücke, 1836, S. 57 f. 475 N. N., Actenstücke, 1836, S. 59. 476 Insbesondere Sylvester Jordan weigerte sich, eine Genehmigung des Ministeriums einzuholen, und berief sich auf seine Stellung als Deputierter der Landesuniversität. Der landständische Ausschuss erkannte die Legitimation des Bibliothekars Karl Bernhardi an, der lediglich über die Genehmigung des Bibliotheksdirektors verfügte. Vgl. N. N., Actenstücke, 1836, S. 60 ff. Die Genehmigungsversagung und Anordnung von Nachwahlen verurteilte man als „indirecte Vereitelung“ eines Rechts der Ständeversammlung, sich mit der Regierung in der Frage noch zu einigen. s. dazu S. 64 ff. und zum „Mandatszulassungs-Streit“ H. Seier, in: HdbHessGesch IV/2, 2003, S. 1 (82); P. Losch, KhGesch, 1922, S. 188 f.; E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 72 und ausführlich G. Kleinknecht, S. Jordan, 1983, S. 116 ff. 477 N. N., Actenstücke, 1836, S. 68. 478 N. N., Actenstücke, 1836, S. 69 f. 479 N. N., Actenstücke, 1836, S. 72. 474

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Ein unverzichtbarer Wesenszug des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts ist es, dass das Parlament mit anderen Personen oder staatlichen Stellen unmittelbar Kontakt aufnehmen kann480. Insoweit passt es in das bisherige Bild der kurhessischen Staatspraxis, dass der Jurist Hassenpflug unter dem 17. Dezember 1832 lakonisch dekretierte, „daß der ständige Ausschuß […] nur mit dem Ministerium des Innern zu communiciren habe“.481 Dieser verwahrte sich umgehend gegen die Annahme, eine derartige Beschränkung jemals anerkannt zu haben. Man habe zunächst bloß irrtümlich „vorzugsweise in dem Ministerium des Innern ein willfährig vermittelndes Organ zwischen der Regierung und den Landständen für Gegenstände [gesehen], welche nur im beiderseitigen Einverständnisse erledigt werden könn[t]en“.482 Soweit andere „Ministerialdepartements weit mehr Bereitwilligkeit zu thätiger Mitwirkung im landständischen und Landesinteresse“ zeigten, bleibe dem Ausschuss durch seine „wiederholte[n] Erfahrungen“ mit dem Innenministerium „nichts Anderes übrig, als sich an die einzelnen Ministerien […] unmittelbar zu wenden“. Der Annahme, dass keine verfassungsrechtliche „Bestimmung [existiere…], welche dem bleibenden Ausschusse die Verpflichtung [auflege…], nur mit dem Ministerium des Innern zu communiciren“,483 hielt Ludwig Hassenpflug § 23 Nr. 2 Kh­Vw­Umb­VO 1821 entgegen, der seinem Ministerium neben 16 anderen Punkten auch die „landständischen Angelegenheiten“ anvertraute. Diese allgemeine Regel werde durch die §§ 92, 93 KhVerf­Urk  1831 bloß „rücksichtlich der Ständeversammlung selbst und ihrer Geschäfts- und Arbeitsausschüsse“ modifiziert. Um jeder „Täuschung“ vorzubeugen, ließ Ludwig Hassenpflug den Ausschuss abschließend wissen, dass die „andern […] betheiligten Ministerien […] doch nur durch die Communication des Ministeriums des Innern dazu veranlaßt werden konnten und veranlaßt worden“ seien, dem Ausschuss überhaupt Mitteilungen zu machen.484 In der Sache scheiterten so alle Informa­ tions- und Kontrollanstrengungen, die der Ausschuss unternommen hatte, um in der Interimszeit nach der Auflösung der Kammer wenigstens einen gewissen landständischen Einfluss sicherzustellen. cc) Erneute Kammerauflösung und Ministeranklagen Nach diesem Intermezzo führte ein Disput um zwei liberale Kandidaten für das Amt des Kammerpräsidenten bzw. des Vizepräsidenten Anfang Februar 1833 zu weiteren Verzögerungen. Als der einberufene Landtag selbst Wochen später noch nicht tagte, unterrichtete der Ausschuss das Ministerium Anfang März 1833, dass man das „einzige und letzte Mittel“ ergriffen und „Anklage des dermaligen Herrn Vorstandes der Ministerien der Justiz und des Innern wegen Verfassungsverletzung bei 480

Vgl. 1. Teil C. N. N., Actenstücke, 1836, S. 69. 482 N. N., Actenstücke, 1836, S. 70. 483 N. N., Actenstücke, 1836, S. 70 f. 484 N. N., Actenstücke, 1836, S. 72 f. 481

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kurfürstl. Oberappellationsgerichte eingereicht“ habe.485 Gegenstand der Anklage waren einerseits die Vorgänge seit der Kammerauflösung, die der landständische Ausschuss als Obstruktion qualifizierte, und andererseits die verfassungswidrige Versagung der Wahlgenehmigungen. Obwohl § 100 KhVerf­Urk 1831 eine Ministeranklage dem Plenum vorbehielt, stützte der Ausschuss sein Anklagerecht auf § 61 KhVerf­Urk 1831. Es handelte sich um eine riskante extensive Interpretation, weil dieser Paragraph lediglich von einer Anklage der „Staatsdiener“ handelte; der Begriff deutete aber durchaus darauf hin, dass lediglich untere Chargen erfasst waren. Der Ausschuss stützte seine extensive Interpretation dagegen auf die Prämisse, dass jeder Minister zugleich Staatsdiener im Sinne dieser Vorschrift wäre und andernfalls für Gesetzesverletzungen überhaupt nicht bzw. für Verfassungsverletzungen nur alle drei Jahre zur Rechenschaft gezogen werden könne.486 Der kurze Zeit später eröffnete Landtag endete nach nur 10 Tagen.487 Mitten in den Beratungen über eine Ministeranklage wegen der Behinderung Sylvester­ Jordans bei der Mandatsübernahme wurde er am 18. März 1833 erneut aufgelöst.488 Die Begründung zu diesem rigorosen Schritt ließ die Regierung im Gesetzblatt publizieren. Dabei warf sie dem Landtag u. a. vor, mit den geheimen Beratungen über die Instruktion des bleibenden Ausschusses, von denen der Regierungskommissar ausgeschlossen worden war, sowohl das Oberaufsichtsrecht des Kurfürsten als auch das „monarchische Prinzip […] in seinem innersten Wesen“ verletzt zu haben.489 In den letzten Endes also verhängnisvollen Beratungen hatte die libe­rale Mehrheit dem Ausschuss aufgetragen, „auf die Vollziehung der Landtagsabschiede und sonstigen Beschlüsse der jetzigen und frühern Ständeversammlung hinzuwirken“ und „auch sonst das landständische Interesse wahrzunehmen, so wie die ihm nach dem Inhalte gegenwärtiger Instruction weiter obliegenden Geschäfte im Namen der Landstände zu verrichten“. „[B]ei seiner Geschäftsführung [sollte er] auch die den Umfang seiner Befugnisse und Verpflichtungen näher bestimmenden §§. 61, 81, 87, 93 [sic!], 95, 101, 102, 104, 105, 126 und 142 […] beobachten“. Von konservativer Seite war u. a. bestritten worden, dass sich der Ausschuss überhaupt auf § 93 KhVerf­Urk 1831 stützen könne.490 Trotz der Bedeutung, die dem Auskunftsrecht des Ausschusses in den bisherigen Auseinandersetzungen zugekommen war, spielte es in der folgenden Zeit kaum 485

N. N., Actenstücke, 1836, S. 120. s. N. N., Actenstücke, 1836, S. 133 ff., 144 f., 145 f. sowie zur ausführlichen Begründung der einzelnen Vorwürfe S. 149 ff. und aus heutiger Sicht P. Popp, Ministerverantwortlichkeit, 1996, S. 215 ff. mit krit. Anm. gegenüber dieser Argumentation S. 216 („etwas künstlich“). 487 s. die Verordnung vom 18. März 1833, die Auflösung der gegenwärtigen Ständeversammlung und die Wahl neuer Stände betreffend, KhGS 1833, S. 5. 488 P. Popp, Ministerverantwortlichkeit, 1996, S. 219. Aus zeitgenössischer Sicht C. Venturini, Chronik VIII (1835), S. 241. 489 KhGS 1833, S. 7 ff., 11 ff. Abdruck auch in N. N., Actenstücke, 1836, S. 121 ff. s. zur Rolle der Landtagskommissare als Kontrolleure der bayerischen Kammern D. Götschmann, Bay. Parlamentarismus, 2002, S. 204 f. 490 Abdruck des Protokolls sowie der Instruktion in N. N., Actenstücke, 1836, S. 277 f., 291. 486

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eine relevante Rolle. Stattdessen nahm das so instruierte Gremium die erste Ministeranklage wieder auf und ergänzte sie um weitere Vorwürfe.491 U. a. kamen das Verbot des Versöhnungsfests bzw. der Petitionsversammlung zur Sprache. In diesem Kontext monierte der ständige Ausschuss nur am Rande, dass ­Ludwig ­Hassen­ pflug wiederholte Auskunftsersuchen ignoriert hatte.492 Weitere Klagen über eine Missachtung dieses landständischen Rechts in dieser Sache oder in vergleichbaren Fälle fanden sich unter den insgesamt 13 Verfassungsverletzungen, die Hassenpflug zur Last gelegt wurden, ebenso wenig wie ein ausdrücklicher Vorwurf eines Verstoßes gegen § 93 KhVerf­Urk  1831. Der im Juni einberufene dritte Landtag machte sich am 21. September 1833 diese Schritte des Ausschusses zu eigen.493 In der Folgezeit wurde Ludwig Hassenpflug vernommen, Schriftsätze wurden ausgetauscht und der Staatsrechtler Robert v. Mohl stieg zugunsten des Angeklagten in den Ring.494 In dem gesamten Verfahren kamen die Auskunftsverlangen des landständischen Ausschusses oder die Obstruktion des Innenministers – soweit ersichtlich – nicht wieder zur Sprache. Schließlich endete der keineswegs von Anfang an aussichtslose495 Versuch, sich des verhassten Ministers mit gerichtlicher Hilfe zu entledigen, mit einem vollständigen Freispruch Hassenpflugs.496 Ungeachtet dieses Scheiterns hatte die Angelegenheit eine gewaltige politische Dimension: Nicht nur die deutsche Öffentlichkeit, sondern insbesondere die beiden Großmächte und der Deutsche Bund beäugten den ersten Anwendungsfall einer konstitutionellen Ministeranklage misstrauisch, drohte doch bei einem Unterliegen der Regierungsseite ein empfindlicher Schlag gegen das sakrosankte „monarchische Prinzip“.497 So trug die Niederlage der kurhessischen Landstände, die sich trotz ihrer beachtlichen Befugnisfülle nicht gegen das Gouvernement durchsetzen konnten, wahrscheinlich zu einer Stabilisierung der politischen Verhältnisse über die Grenzen des Kurstaates hinaus bei. dd) Zwischenergebnis Wie nicht anders zu erwarten, scheiterte der permanente Ausschuss ebenso wie die Kammer bei dem Versuch, mit Hilfe von § 93 KhVerf­Urk 1831 eine gewisse Kontrolle über die Staatsregierung auszuüben. Zu der Geschichte des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts trägt diese Episode eine weitere Bestä 491

s. die Anzeige an das Oberappellationsgericht N. N., Actenstücke, 1836, S. 162 ff. nebst Auszügen aus Sitzungsprotokollen und Instruktion. 492 N. N., Actenstücke, 1836, S. 181, 183. 493 s. P. Popp, Ministerverantwortlichkeit, 1996, S.  229 ff. sowie den Beschluss des Oberappellationsgerichts vom 29. Oktober 1833, N. N., Actenstücke, 1836, S. 451 f. 494 Abdruck in N. N., Actenstücke, 1836. Vgl. R. v. Mohls Schreiben, mit dem er die Verteidigung Hassenpflugs übernimmt, bei H. Seier (Hg.), Akten und Briefe, 1992, Nr. 104, S. 272 ff. 495 Vgl. H. Seier (Hg.), Akten und Briefe, 1992, S. LIV. 496 Abdruck der Entscheidungen in N. N., Actenstücke, 1836, S. 516 ff., 567 ff. 497 P. Popp, Ministerverantwortlichkeit, 1996, S. 221 f.

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tigung der These bei, dass sich der vermeintliche Frühtyp eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts tatsächlich in konfliktsuntauglichen, interpellationsartigen Befugnissen erschöpfte. Nichtsdestotrotz bemühten sich die landständischen Ausschüsse, von diesen geringen Möglichkeiten in einer Weise Gebrauch zu machen, die den politischen Zielsetzungen eines modernen Untersuchungsrechts nahekam.498 Eingedenk der Verfassungsprozesswelle, die regelmäßig von der heutigen Opposition losgespült wird, sobald eine Verletzung parlamentarischer Informationsrechte bloß möglich erscheint, ist es verwunderlich, dass die Verletzung des § 93 KhVerf­Urk 1831 Ludwig Hassenpflug nicht als eigenständiger Vorwurf zur Last gelegt wurde. Entweder schätzten die Zeitgenossen eine Verletzung landständischer Hilfsrechte als nicht so schwerwiegend ein oder sie waren selbst nicht vollkommen von der Berechtigung des landständischen Ausschusses überzeugt. 4. Der Beitrag Kurhessens zur Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte Eine Bewertung dieser Ausschnitte aus der kurhessischen Verfassungsgeschichte fällt unter dem Blickwinkel der Entwicklung des Enquête- und Untersuchungsrechts zwiespältig aus: Einerseits ist die tradierte These, die §§ 92, 93 Kh­Verf­ Urk 1831 hätten den Landständen des Kurstaats wenigstens eine Frühform dieses wichtigen parlamentarischen Rechts eingeräumt,499 angesichts des Nachweises ihres in Wahrheit interpellationsartigen Charakters sowie des permanenten Scheiterns aller landständischen Aufarbeitungsbemühungen nicht mehr länger haltbar; ein parlamentarisches Selbstinformationsrecht hat es nicht gegeben. Andererseits finden sich in den Auseinandersetzungen vielfältige Anklänge verschiedener bis heute aktueller Strukturen und Interessenkonstellationen, aber auch einiger Argumente und Vorbehalte. Das geht so weit, dass in den frühen 1830er Jahren schon verschiedene vermeintlich moderne Ideen zur Lösung von sich teils bis heute stellenden Fragen antizipiert wurden. Man wird also sagen dürfen, dass die weitere Entwicklung hin zu einem Selbstinformationsrecht, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Märzrevolution erreichen sollte, auch in den kurhessischen Krisen ein Stück weit vorbereitet oder sogar vorgeprägt wurde. a) Kein landständisches Selbstinformationsrecht Allen Ähnlichkeiten und funktionalen Parallelen zum Trotz lassen sich die §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831 nicht als Frühform eines parlamentarischen Enquêteund Untersuchungsrechts qualifizieren. Zwar versprachen diese Vorschriften den Ständen weit über übliche Befugnisse hinaus, Aufklärung zu Beschwerden aus der 498

Vgl. dazu 1. Teil C. s. 2. Teil Fn. 235.

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Bevölkerung zu verlangen, Auskunft „über alle Verhältnisse, welche nach ihrem Ermessen auf das Landeswohl wesentlichen Einfluß“ hatten. Schon aus dem Wortlaut des § 92 Satz 1 Hs. 2 KhVerf­Urk 1831, dass die Kammer „Aufklärung von den landesherrlichen Kommissaren […] begehren“ könne, folgt der zeit­typische, interpellationsartige Charakter dieses Rechts. Den Landständen stand es keineswegs zu, nach der Art eines Enquête- und Untersuchungsrechts unmittelbar und selbständig Zeugen oder Sachverständige zu vernehmen.500 Nicht einmal mit nachgeordneten Behörden durften sie – sieht man von der budgetrechtlichen Ausnahme ­ ujet des § 93 Kh­Verf­Urk 1831 ab – unmittelbar verkehren. Ebenfalls auf dieses S beschränkt stand der Kammer ein Aktenvorlagerecht zu. Versuche, diesen Abglanz unmittelbarer Selbstinformationsbefugnisse allgemein zu etablieren, trat die Regierung ebenso entschieden wie letzten Endes erfolgreich entgegen. Statt über Anflüge eigenständiger und unmittelbarer Selbstinformationsinstrumente zu verfügen, die den gesamten Kreis ihrer Aufgaben abgedeckt und so den Namen eines Enquête- und Untersuchungsrechts verdient hätten, blieben die Landstände sowohl für die Gesetzesvorbereitung als auch – was fataler war – für die Regierungskontrolle auf die Kooperationswilligkeit des Staatsministeriums und die durch dieses gewährten Auskünfte angewiesen. Vor diesem Hintergrund lassen sich die in § 93 Kh­Verf­Urk  1831 genannten­ Ausschüsse nicht als Untersuchungsausschüsse oder Enquêtekommissionen qualifizieren. Die Aufgabe dieser vorberatenden Gremien bestand gerade nicht in der Aufklärung eines Sachverhalts, sondern erschöpfte sich in einer „vorbereitenden Arbeit oder Geschäftseinleitung“ für das Plenum. In seinem informationsrechtlichen Gehalt ist dieser Paragraph bloß ein Annex des Kommissionsverfahrens bzw. des allgemeinen Auskunftsrechts der Stände nach § 92 Kh­Verf­Urk 1831. Funktio­ lenums entnal machte diese Vorschrift lediglich eine vorherige Befassung des P behrlich. Nichts anderes galt für den permanenten Ausschuss, dessen Versuche, in der Zeit zwischen den Landtagen mit Hilfe von Auskunftsersuchen eine landständische Kontrolle und Mitsprache sicherzustellen, zum Scheitern verurteilt waren. b) Politische Ausgangslage und Herauskristallisierung informationsrechtlicher Phänotypen Das vollkommen zerrüttete Verhältnis des Kurhauses und der oppositionellen Kammermehrheit prägte die politische Situation in Hessen-Kassel. Karl Heinrich Ludwig Pölitz’ euphorische Prognose, die Januarverfassung werde „eben so dem Sturme einer Revolution [vorbeugen…], wie dem möglichen Angriffe der Reaction im Voraus […] begegnen“,501 wurde von der Realität brutal entlarvt. Die 500

Krit. F. Murhard, KhVerUrk II, 1835, S. 418, weil Privatpersonen „nicht selten mit größerer Unbefangenheit über die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit projectirter Gesetze ur­ theil[t]en, als im Staatsdienste Angestellte“. 501 K. H. L. Pölitz, PölJB 1831/1, 241 (261).

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Analyse Karl Wippermanns kam der Wahrheit bereits näher: Der aus Kurhessen stammende Publizist räsonierte 1863 im Rotteck-Welcker’schen Staatslexikon, dass es das „anticonstitutionelle Element in der Verfassung […] in Verbindung mit einer kühnen und beispiellosen Wortverdrehungskunst Hassenpflug’s“ ermöglicht habe, „daß während 17 Jahren die Verfassung nicht zur Wahrheit wurde“.502 Das von Dauerkonflikten und Machtproben vergiftete Klima gab unzweifelhaft den Ausschlag für die informationsrechtlichen Streitigkeiten um eine parlamentsfreundliche Inter­pretation der §§ 92, 93 Kh­Verf­Urk 1831, die die größeren sachlichen Auseinandersetzungen begleiteten. Der zeitlosen Erkenntnis des ehemaligen Bundestagsdirektors Joseph Bücker gemäß, dass parlamentarische Information gegenüber der Regierung zu „Herrschaftswissen“ wird, das über „Machtzuweisung und Machterhaltung“ entscheiden kann,503 versuchten die Stände letzten Endes im Er­nennungsstreit, aus Anlass der „Garde-du-Corps-Nacht“ oder auf außenpolitischem Terrain sich einen gewissen Einfluss auf das Gouvernement zu sichern. In demselben Maß, in dem diese Bemühungen scheiterten und die landständischen Niederlagen zum Menetekel des heraufziehenden Verfassungskonflikts wurden, bewahrheitet sich für die interpellationsartigen §§ 92, 93 Kh­Verf­ Urk  1831 Egon Zweigs Verständnis der Informationsrechte als „Gradmesser“, der „gleichsam mikroskopisch [den…] Entwicklungsgang der parlamentarischen Macht“ widerspiegele.504 Sämtliche Versuche der Landstände, diese Paragraphen in einer funktionell dem modernen Untersuchungsrecht vergleichbaren Weise in ihrem Kampf mit dem Staatsministerium in Stellung zu bringen, wurzelten in der oppositionellen Grundhaltung ihrer Mehrheit. So bestätigt sich die These, dass die Existenz eines repräsentativen Wahlkörpers sowohl die notwendige als auch die hinreichende Bedingung für die Herausbildung einer parlamentarischen Opposition ist, deren wesentlicher Daseinszweck in Kritik und Kontrolle der Regierung besteht und die deswegen auf robuste Informationsrechte drängen muss.505 Ein parlamenta­risches Regierungssystem mit freien und gleichen Wahlen und „echter“ Regierungsverantwortung ist demgegenüber keine unerlässliche Voraussetzung einer solchen Entwicklung. Wie das Schicksal des glücklosen Kriegsministers v. Loßberg zeigte, konnte selbst im Konstitutionalismus, ein gewisses Maß an Konzilianz des Landesherrn vorausgesetzt, der „Sturz“ eines Ministers aus politischen Gründen ­sogar dann gelingen, wenn der rechtliche Erfolg einer Anklage zweifelhaft war. Die Konflikte mit dem Ministerium veranlassten die Stände also nicht nur zu einer­ naheliegenden Ministeranklage als dem primären konstitutionellen Kontrollinstru 502 K. Wippermann, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon VIII3 1863, S. 43. s. ferner auch N. N., in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch V, 1860, S. 169 f. sowie zu den Konflikten mit dem Ministerium unter Ludwig Hassenpflug auch E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 70 ff. 503 J. Bücker, ZG 1989, 97. 504 E. Zweigs, ZfP 1913, 265 (269). 505 s. 2. Teil 3. Kap. C.

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ment, sondern veranlassten die Landstände weiterhin zu richtungweisenden Versuchen, die gegebenen interpellationsartigen Auskunftsinstrumente in rudimentäre Kampfmittel gegen das Staatsministerium umzudeuten. Auf diese Weise kündigte sich bereits die in der Revolution folgende Konversion prima facie sachbezogener Informationsvorschriften in konflikttaugliche Kontrollmittel an. Bei seinen Bemühungen wagte sich der kurhessische Landtag manches Mal weiter als andere Volksvertretungen „in ihm notorisch fremde, der Theorie nach verschlossene Tätigkeitsfelder“ vor (Hellmut Seier).506 Das Scheitern dieser Expeditionen führte den Zeitgenossen zwangsläufig sowohl die relative Nutz­losigkeit interpellationsartiger Rechte als auch die Notwendigkeit unabhängiger Selbstinformationsinstrumente vor Augen. Auf mittlere Sicht dürften die in ganz Deutschland beobachteten kurhessischen Auseinandersetzungen ebenso wie vergleichbare Episoden in anderen Bundesstaaten zum vorläufigen Sieg des Enquête- und Untersuchungsrechtsgedankens in der Märzrevolution beigetragen haben. Die §§ 92, 93 Kh­Verf­Urk 1831 dienten aber nicht ausschließlich der Regierungs­ kontrolle. Vielmehr wurden diesen Paragraphen beide Funktionen eines modernen Enquête- und Untersuchungsrechts zugeschrieben. Friedrich Murhard charakte­ risierte das Informationsrecht des Plenums (§ 92 Kh­Verf­Urk 1831) in seinem Verfassungskommentar von 1835 als Werkzeug „beständige[r] Kontrolle […] über die Verwaltung“, mit dem die Landstände verhindern könnten, „daß unfähige Männer an der Spitze der öffentlichen Geschäfte“ blieben.507 Die Ausschussbefugnisse des § 93 Kh­Verf­Urk 1831, insbesondere das Recht der „persönliche[n] Zuziehung von den dazu sich hauptsächlich eignenden Staatsbeamten“, ordnete er dagegen der ­Gesetzesvorbereitung zu und erteilte der Ständeversammlung den guten Rat, „nie eine so große Einbildung von sich [zu] haben, als sey in ihr alle Staatsweisheit anzutreffen und als bedürfe sie nicht […] öfters des Raths solcher, welche sich nicht in ihrer Mitte befinden“.508 Das kurhessische Beispiel zeigt so die Zeitlosigkeit beider Wurzeln eines parlamentarischen Informationsrechts, wenn die Macht bloß zwischen legislativen und exekutiven Organen aufgeteilt ist. c) Antizipation einzelner Untersuchungsrechtsaspekte In den kurhessischen Auseinandersetzungen entfalteten sich teilweise Denkmus­ nquêteter und Argumentationsweisen, die bis heute für das parlamentarische E und Untersuchungsrecht zum Tragen kommen. Das gilt etwa für die Korollartheorie, die in ihrem Kern, dass ein parlamentarisches Informationsrecht das 506 H. Seier, in: ders. (Hg.), Akten und Briefe, 1992, S. L. Der dort als dritter Fall genannte Beitritt Kurhessens zum Zollverein ähnelt mit seinem außenpolitischen Bezug dem Streit um Bundespolitik und Separatprotokolle. 507 F. Murhard, KhVerUrk II, 1835, S. 416. 508 F. Murhard, KhVerUrk II, 1835, S. 417 f.

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notwendige logische Gegenstück der materialen Volksvertretungskompetenzen sei,509 gleich mehrfach anklang. In der Ernennungsstreitigkeit versuchte ­Sylvester Jordan aus einer Gesamtschau sämtlicher Vorschriften über die landständische „Befugniß und Verpflichtung“, für die „Aufrechterhaltung der Verfassung zu sorgen“, ein Aktenvorlagerecht abzuleiten, weil die Kammer dieser Aufgabe andernfalls nicht gerecht werden könne.510 In vergleichbarer Weise argumentierte er in der Auseinandersetzung um die kurhessische Bundespolitik und die Publikation der Separatprotokolle. Als Grundlage einer unbedingten Aktenvorlagepflicht diente jetzt das Anklagerecht des § 61 Kh­Verf­Urk 1831, dessen „Ausübung“ im Fall einer „Verweigerung der über das Benehmen der Staatsbeamten Aufschluß gewährenden Dokumente geradezu unmöglich“ werde.511 Die Regierungsseite konterte – ebenfalls nach dem Muster der Korollartheorie, wenngleich ihrer beschränkenden Seite –, dass die Ständeversammlung, weil sie keinen Anteil an der auswärtigen Gewalt habe, keine „aktenmäsige Aufklärung verlangen“ könne.512 Diese frühen Vorgriffe legen die Vermutung nahe, dass sich die Korollartheorie in einer Trivialität erschöpft. Ihre „Erkenntnisse“ resultieren ohne weiteres aus dem offenkundig dienenden Charakter formell-rechtlicher Informationsvorschriften gegenüber den verfolgten materiellen Zwecken. Dass die Reichweite eines dienenden Hilfsrechts niemals über den Radius des Hauptrechts hinausgehen kann, versteht sich von selbst. Auch für die bedeutendste moderne Grenze parlamentarischer Informationsbefugnisse, den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung,513 finden sich in den kurhessischen Auseinandersetzungen erste Anklänge. So hob das Außenministerium anlässlich des Streits um die Frankfurter Separatprotokolle hervor, dass das konstitutionelle Ziel einer „Oeffentlichkeit der ganzen Staatsverwaltung […] nicht einmal in der inneren Staatsverwaltung vollständig zu erreichen [wäre], indem in den obersten Landeskollegien […] gar manche Gegenstände zu verhandeln [seien…], die […] nur in geheimen Sitzungen berathen werden könn[t]en“.514 Erfolgte diese Äußerung auch in einem anderen Kontext – das Ministerium sprach dieses Prädikat gerade landständischen Beratungen zu  –, könnte sie doch ein­ denkbarer Ausgangspunkt für die „Evolution“ bis hin zu der Kernbereichslehre des BVerfG sein, soweit sie auf der Grundannahme genuin arkaner staatlicher Bereiche fußt. Noch deutlicher wird die thematische Verwandtschaft dadurch, dass 509 s. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (265, 267) und im Anschluss S.  Magiera, in: Sachs (Hg.), GG6 2011, Art. 43 Rn. 7; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 19 ff.; N. Achterberg/ M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 2 ff.; M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 37 je m. w. N. s. ausführlich unten 8. Teil 4. Kap. A. I. 510 VerhKhLT 1831, S. 674. 511 Beil. XXXIX, VerhKhLT 1831, S. 6. 512 Beil. LXIX, VerhKhLT 1831, S. 2 f. und passim. 513 s. dazu BVerfGE 124, 78 (120); BVerfGE 110, 199 (214); BVerfGE 77, 1 (59); BVerfGE 67, 100 (139); R. Scholz, AöR 105 (1980), 564 (598); O. Lepsius, KJ 2009, 81 (84); C. Seiler, AÖR 129 (2004), 378 (388); D. Engels, Jura 1990, 71 (73 f.). 514 Beil. LXIX, VerhKhLT 1831, S. 1.

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es um die „Unmöglichkeit“ einer Weitergabe bundespolitischer Informationen an die Landstände ging, weil mit diesem Schritt durch Verhandlungsöffentlichkeit und Protokollpublikation jedes Geheimnis verloren wäre. In diesen Kontext fügt sich die Kritik der Regierung, dass die Rechte der Landstände kaum dazu führen dürften, dass es – mit Schaden für die Regierungstätigkeit – keinerlei Amtsgeheimnis mehr gebe.515 Eine äußerlich vergleichbare Strategie verfolgte das Ministerium in der Ernennungsangelegenheit, indem es aus der Ausnahmeregel des § 107 Kh­Verf­Urk 1831 abzuleiten versuchte, dass der Kurfürst die Pflichten eines „obersten Militärchefs“ ohne Mitwirkung verantwortlicher Minister versehe. Auf diese Weise sollte nicht bloß ein kontrollexemter, sondern ein geradezu vorkonstitutioneller und ausschließlicher Exekutivbereich geschaffen werden.516 In das Notensystem des Grundgesetzes transponiert, das keine extrakonstitutionellen Kompetenzen zulässt, ließe sich funktional von einem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung sprechen. Ebenfalls in den Kontext einer Abgrenzung der landständischen Informationskompetenzen gegenüber anderen Gewalten gehören Vorbehalte, das Parlament solle sich bei der Aufarbeitung der „Garde-du-Corps-Nacht“ aus Rücksicht auf die Unabhängigkeit der Justiz bis zum Abschluss der gerichtlichen Untersuchung gedulden. Mit diesem rhetorischen Meisterstück versuchte die kurhessische Regierung, die vollkommen gerechtfertigten Nachfragen der Landstände als unzulässige Einflussnahmeversuche zu unterbinden.517 Während die Unabhängigkeit der Justiz in der Weimarer Republik noch mit Verve verfochten werden sollte, verschwanden entsprechende Forderungen mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes allmählich.518 Außenpolitische Belange des Staates können mit parlamentarischen Informa­ tionsinteressen kollidieren. Als in der „BND“-Untersuchung immer wieder aus Verschlusssachen zitiert wurde, äußerte sich der Chef des Bundeskanzleramtes gegenüber dem Untersuchungsausschuss besorgt, „dass die Bundesrepublik Deutschland  […] im Ausland als verlässlicher Partner diskreditiert werde“. Um dieser Gefahr zu begegnen, sollten entsprechende Unterlagen künftig nur noch an die Geheimschutzstelle des Bundestages abgegeben werden.519 Als sich ein Zeuge für seine Weigerung, auf Fragen „zu seinen Kontakten und Gesprächen mit Angehörigen des US-amerikanischen Geheimdienstes“ zu antworten, auf Einschränkungen seiner Aussagegenehmigung für solche Sachverhalte berief, deren „Erörterung“ im Untersuchungsverfahren die „Wahrung des Staatswohls“ entgegenstehe,520 dürfte es ebenfalls um den Schutz der internationalen Zusammenarbeit gegangen 515

s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. a) cc) (5). Vgl. VerKhLT  1831, Sp.  80 f. Abdruck auch als Beil. A., S.  208; G. Hollenberg, HessJbLGesch 34 (1984), 101 (118 ff.) und M. Arndt, Militär, 1996, S. 118 ff. je m. w. N. 517 s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. a) bb) (2) und (3). 518 s. 7. Teil 3. Kap. B. III. und 8. Teil 4. Kap. B. II. 519 BT-Drs. 16/13400, S. 51. 520 BVerfGE 124, 78 (133 f.). 516

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sein. – In vergleichbarer Weise weigerte sich die kurhessische Staatsregierung, der Ständeversammlung die Separatprotokolle mitzuteilen, weil die „diplomatischen Verhandlungen mit auswärtigen Staaten“ weder für öffentliche Debatten noch eine „landständische[n] Theilnahme“ geeignet wären. Würden „Mittheilungen“ auf Drängen der Stände, „wohl gar schon vor beendigtem Geschäft [!], der Publizität übergeben“, könnten sich die Großmächte gezwungen sehen, ihre „diplomatische[n] Unterhandlungen“ mit kleineren „konstitutionellen Staaten“ einzustellen.521 Auch Fragen des Daten- und Geheimschutzes, wie sie in den §§ 15 f. PUAG­ wiederkehren, wurden grundsätzlich schon in Hessen-Kassel berücksichtigt. Wenig überraschend ist, dass die Stände ebenfalls den im „Flick“-Urteil angesprochenen Öffentlichkeitsausschluss praktizierten;522 dieser verfahrensmäßige Schritt liegt schlicht in der Natur der Sache. Bemerkenswerter ist, dass der Ausschuss, der in der „Garde-du-Corps“-Angelegenheit berichten sollte, die „Gründe einer Anklage gegen einzelne der durch den öffentlichen Ruf angeschuldigten Staats­diener vom Militairstande unter namentlicher Bezeichnung der Personen nicht […] in öffentlicher Sitzung zur Erörterung […] bringen“ wollte.523 Eingedenk der Ausschreitungen gegen den Polizeidirektor Giesler dürfte diese Zurückhaltung nicht nur dem Schutz der Privatsphäre vor dem Zorn der öffentlichen Meinung gedient haben. Im Streit um Bundespolitik, Separatprotokolle und Auskunft über die Tätigkeit des kurhessischen Bundestagsgesandten spielte der Geheimschutz gleichsam wieder eine Rolle, indem die Regierung zunächst bundesrechtliche Geheimhaltungspflichten anführte und sich dann selbst für den Fall, dass die Kammer im Grunde über ein Aktenvorlagerecht verfügen sollte, gleichwohl das Recht vorbehielt, Informationen aus Gründen des Landeswohls zurückzuhalten.524 Sylvester Jordan pochte ohne Erfolg darauf, dass nach § 89 Kh­Verf­Urk 1831 (auch) die Landstände das Recht hätten, „das unzertrennliche Wohl des Landesherrn und des Vaterlandes nach Kräften zu fördern“.525 Gut 172 Jahre später leitete das BVerfG im „Flick“-Urteil aus der gemeinschaftlichen Verantwortung der Bundesregierung und des Bundestages für das Staatswohl ab, dass eine „Berufung auf das Wohl des Bundes gerade gegenüber dem Bundestag in aller Regel“ keine Vorenthaltung von Informationen rechtfertige. Gleichzeitig verlangten die Karlsruher Richter als Junktim von der parlamentarischen Seite „wirksame Vorkehrungen gegen das Bekanntwerden von Dienstgeheimnissen“.526 Anfang 1832 monierte Landtagskommissar Karl Eggena, dass Abgeordnete verschiedentlich die „geheimen oder vertraulichen Mittheilungen ihrer Staatsregierungen der Oeffentlichkeit übergeben“ hätten.527 Auch der schließlich erwogene Kompromiss, die verlangten Unterlagen nicht einem 521

Beil. LXIX, VerhKhLT 1831, S. 1 (Hervorhebung nur hier). Vgl. BVerfGE 67, 100 (137). 523 Beil. LXXVIII, VerKhLT 1831, S. 3 f. 524 Beil. XXXIX und LXIX, VerhKhLT 1831. 525 Beil. LXXVI, VerhKhLT 1831, S. 5. 526 BVerfGE 67, 100 (136 ff.). 527 Beil. LXIX, VerhKhLT 1831, S. 4. 522

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besonderen Ausschuss zuzuleiten, sondern zur Einsicht der Landstände in der Bibliothek niederzulegen,528 hat mit weniger als dem berühmten Körnchen Salz große Ähnlichkeit mit der Abgabe von Dokumenten an die Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages. Gleichgelagerte Interessen brachten also vor mehr als einem und einem dreiviertel Jahrhundert bereits vergleichbare Lösungsansätze hervor. Der Blick in die Vergangenheit spricht somit für eine gewisse Plausibilität. d) Fazit Ein Selbstinformationsrecht der Landstände, das auch nur im Ansatz mit Art. 44 GG vergleichbar wäre, hat es nicht gegeben. Die kurhessische Entwicklung ist mangels landständischer Selbstinformationsbefugnisse, die den Merkmalen eines „echten“ Enquête- und Untersuchungsrechts gerecht würden,529 kein eigentlicher Bestandteil der Geschichte dieses wichtigen parlamentarischen Rechts. Soweit dieses aber in Kassel bereits erste Schatten vorauswarf, in den Auseinandersetzungen mit dem Kurhaus Aspekte der späteren Entwicklung vorgezeichnet oder vorgeprägt wurden, kann dieses Kapitel mit Fug und Recht der Vorgeschichte des­ Enquête- und Untersuchungsrechts zugeschlagen werden. Eine engere Verbindung besteht zu den parlamentarischen Fragerechten.

III. Fürstentum Hohenzollern-Sigmaringen Ein mutmaßlicher „Musterknabe“ aus der zweiten Konstitutionalisierungswelle ist die „mit Beirath und vertragsmäßiger Zustimmung der […] Ständeversammlung“ geschaffene Verfassungs-Urkunde für das Fürstenthum Hohenzollern-Sigmaringen vom 11. Juli 1833, als deren Paten „in wirklich liberalem Geiste“ die Grundgesetze Badens und Württembergs galten.530 Anders als andere zeitgenössische Regelwerke beschränkte sich diese Konstitution, der wegen des Anschlusses des Fürstentums an Preußen Mitte des Jahrhunderts keine lange Geltungsdauer beschieden war,531 nicht auf die äußere Einrichtung oder die Kompetenzen der aus 17 Mitgliedern bestehenden Ständeversammlung, sondern regelte – teils als textliche Hypertrophie kritisiert – auch Wahlrecht und Geschäftsreglement, statt beides speziellen Gesetzen oder Verordnungen vorzubehalten.532 528

VerhKhLT 1831, S. 1744 f. Vgl. 1. Teil C. 530 J. W. Zinkeisen, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon VIII3 1863, S. 297. 531 s. R. Kirchherr, Verf­Urk ­Ho­Si, 1979, S. 293 sowie E. Gönner, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 433, S. 433 (460 ff.). 532 Zur Entstehungsgeschichte dieser Bestimmungen R. Kirchherr, Verf­Urk  ­Ho­Si, 1979, S. 221 ff. sowie S. 225 f. zu anderen Verfassungen, die demselben Muster folgten. Krit. zur Aufnahme entsprechender Regelungen etwa v. Weber, PölJB 1833/2, 481 (483, 484, 496 f.) oder für Württemberg R. v. Mohl, ZGStW 1845, 191 (227 f.). 529

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1. Zusammensetzung und Kompetenzen der Landstände In der Zusammensetzung der Landstände folgte die Verfassungsurkunde einerseits altlandständischen Maximen, berücksichtigte andererseits aber auch den Repräsentativgedanken. Nach § 80 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 bestand die „Ständeversammlung […] aus den Fürstlichen Standesherren oder ihren Abgeordneten; […] aus einem Abgeordneten der Geistlichkeit [sowie…] aus 14 Abgeordneten der aus sämmtlichen Gemeinden des Fürstenthums gebildeten sieben Wahlbezirke“. Die übrigen Deputierten wurden mittelbar gewählt, wobei die Wahlmänner „theils aus der höchstbesteuerten Klasse der Ortsbürger“ entnommen, „theils durch die freie Wahl der gesammten Bürgerschaft“ bestellt wurden (§ 85 Verf­Urk ­Ho­Si 1833). Die Landstände, die gemäß § 112 Abs. 2 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 im Dreijahres­ turnus  versammelt werden mussten, galten nach § 65 Verf­Urk  ­Ho­Si  1833 im Geiste des Repräsentativsystems als „das gesezmäßige Organ der Gesammtheit aller Staatsbürger“, um „deren Rechte im Verhältniß zur Regierung nach den Bestimmungen der Verfassungsurkunde geltend zu machen, und das allgemeine Wohl des Fürsten und des Landes mit treuer Anhänglichkeit an die Grundsäze der Verfassung möglichst zu befördern“. Ihre Kompetenzen erstreckten „sich […] auf die verfassungsmäßige Mitwirkung zur Gesezgebung, […] auf die Steuerbewilligung, […] auf die Mitwirkung bei der Militairaushebung [und…] bei der Landesfinanzverwaltung“. Als Kontrollinstrumente gestand ihnen § 66 Verf­Urk  ­Ho­Si  1833 das „Recht der Beschwerden und Anträge in Beziehung auf Staatsverwaltung überhaupt und im Einzelnen, und […] der Anklage wegen Verfassungsverlezungen“ zu. Gemäß § 70 Abs. 1 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 war das Plenum befugt, über „Mängel und Mißbräuche […] in der Landesverwaltung oder Rechtspflege“ ihre „Vorstellungen und Beschwerden dem Landesfürsten vorzulegen, und auf […] Abstellung anzutragen“. Dazu hieß es im imperativen Präsens, dass „[d]ie in solchen Fällen verlangten aktenmäßigen Aufschlüsse […] niemals verweigert“ werden würden. Im zweiten Absatz gestattete dieser Paragraph der Ständeversammlung, „Beschwerden und Vorstellungen Einzelner oder ganzer Korporationen wegen widerrechtlicher Verlezung ihrer Interessen und Bedrükung anzunehmen, und an den Landesfürsten zu bringen, […] wenn nachgewiesen [wurde…], daß die Beschwerdeführer die gesezlichen Wege bei den Landesstellen vergeblich eingeschlagen [hatten…], und die Beschwerde selbst nach eingeholter Auskunft bei der obersten Landesbehörde als begründet“ erschien. Nach § 70 Abs. 4 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 konnte die Versammlung „Beschwerden gegen einzelne Staatsdiener, namentlich wegen Verlezung der Verfassung […], Veruntreuung öffentlicher Gelder, Erpressung, Bestechung oder gröblicher Hintansezung ihrer Amtspflichten […] entweder unmittelbar an den Landesfürsten bringen, oder an die kompetenten Gerichte im Wege förmlicher Anklage gelangen lassen“. Die „Abstellung der Beschwerden oder das Ergebniß der Untersuchung“ waren ihr zu eröffnen.

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Prima facie waren also nach Zusammensetzung und Kompetenzen der Landstände die grundsätzlichen Voraussetzungen für ein Enquête- und Untersuchungsrecht dem Grunde nach gegeben.

2. Vorbereitungskommissionen und Informationsrechte Zum Geschäftsgang bestimmte § 146 Abs. 1 Verf­Urk ­Ho­Si 1833, dass die Landstände, „so oft sie es für nöthig erachtet[en], zur Prüfung, Ausarbeitung und zum Vortrage der vorkommenden Geschäftsgegenstände besondere Commissionen“ wählen konnten; die landesherrlichen Propositionen mussten „zur Berichterstattung an eine Commission verwiesen werden“ (§ 157 Abs. 1 Verf­Urk ­Ho­Si 1833). Die Ausschussmitglieder, deren Zahl von Fall zu Fall bestimmt wurde (§ 146 Abs. 1 Verf­Urk ­Ho­Si 1833), wurden grundsätzlich „durch geheimes Abstimmen mittelst Zeddel nach relativer Stimmenmehrheit“ gewählt. Ausnahmsweise konnte der Landtagsdirektor oder sein Stellvertreter gemäß § 146 Abs. 3 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 „einzelne Mitglieder als besonders für die Prüfung und Ausarbeitung des Gegenstandes geeignet […] bezeichnen“. Der folgende Absatz gestattete es den Kommissionen, „den Beitritt gewisser anderer Mitglieder aus der Ständeversammlung zu begehren“. Die Verfassungsurkunde sorgte so für eine möglichst sachkundige Besetzung der Sonderkommissionen aus den eigenen Reihen der Kammer; eine Hinzuziehung von Privatsachverständigen oder Zeugen war nicht vorgesehen. Die Kommissionen hatten, „um die an sie verwiesenen Gegenstände gehörig zu bearbeiten“, nach § 147 Abs.  2 Verf­Urk  ­Ho­Si  1833 lediglich „alle hierzu erfor­ derlichen Aufschlüsse, Akten und Urkunden zu sammeln, und sich mit der Landtagskommission in schriftliches oder mündliches Benehmen zu sezen, um die ­nö­ thigen Erläuterungen, Auskünfte und aktenmäßige Belege zu erwirken“. Die Verfassungsurkunde setzte also primär auf eine Information der Stände­ versammlung durch die Regierung. Bemerkenswert ist das Remonstrationsrecht der Ausschüsse gemäß §  147 Abs. 3 Verf­Urk ­Ho­Si 1833, „[i]m Verweigerungsfalle […] Anzeige und Vortrag an die Ständeversammlung [zu machen], welche hierauf die weiteren Auskünfte und Aktenvorlage unmittelbar bei der Regierung oder dem Landesfürsten nachzusuchen berechtigt“ war. Einerseits wurde den Ausschüssen der Rekurs an das Plenum eröffnet. Andererseits zeigte diese Vorschrift, dass eine unbedingte Pflicht der Regierungsseite, den Informationsforderungen der Stände nachzukommen, nicht bestand. Indem die Kammer bloß berechtigt war, um „Auskünfte und Aktenvorlage […] nachzusuchen“, blieb die Letztendscheidung der Regierung bzw. dem Landesfürsten vorbehalten und war zwangsläufig politischer Natur. Offenbar setzte die Verfassungsurkunde allein auf das politische Gewicht des öffentlich verhandelnden Plenums. Ein formelles Untersuchungsrecht, mit dessen Hilfe Landstände und Kommissionen hätten eigenständig Beweis erheben oder unmittelbar mit Behörden oder Privaten in Verbindung treten können, gab es offenkundig nicht.

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Nach getaner Arbeit hatten die Kommissionen in einem Bericht die „Gründe für und wider“ die Sache „genau zu entwickeln, und den Vortrag mit allen Meinungen der Commissionsmitglieder umständlich zu entwerfen“. Fand das Plenum den „Vortrag nicht erschöpfend“, konnte es „den Gegenstand zur weiteren Ausarbeitung wieder an die Commission zurückweisen, und dieselbe mit noch einigen Mitgliedern verstärken“. 3. Zutritts- und Rederecht der Landtagskommissare §  157 Abs. 2 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 sah ein Zutritts- und Rederecht der „landesherrlichen Commissarien“ vor. § 157 Abs. 4 Satz 1 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 bestimmte weiter, dass diese Regierungsvertreter zur „Beförderung des Geschäftsganges“ wichtige Beratungsgegenstände „in der Versammlung noch besonders mündlich erörtern“ konnten. Wollte eine Kommission „wesentliche Änderungen“ gegenüber den landesherrlichen Propositionen vorschlagen, hatte sie gemäß § 159 Abs. 1 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 „vor dem Schlusse ihrer Arbeit den mit der Vertheidigung des Entwurfes beauftragten Landesfürstlichen Commissär zu einer gemeinschaftlichen Sizung einzuladen“. Den Abstimmungen der Kammer durften die Landtagskommissare nicht beiwohnen (§ 157 Abs. 2 Verf­Urk ­Ho­Si 1833). In § 157 Abs. 4 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 erkannte die Verfassungsurkunde bereits ein beschränktes interpellationsartiges Fragerecht an, indem die landesherrlichen Kommissarien „auf Verlangen der Ständemitglieder jede angemessene Nachweisung und Erläuterung über einzelne Gegenstände abzugeben“ hatten. Dieser Passus stand mit den landesherrlichen Propositionen in Zusammenhang, so dass sich ihm kein voll­wertiges Interpellationsrecht entnehmen lässt. 4. Öffentlichkeit der Landtagsverhandlungen Durch die Öffentlichkeit der „allgemeinen Sitzungen“ (§ 153 Verf­Urk ­Ho­Si 1833) konnte wenigstens der Inhalt der den Kommissionen gemachten Aufschlüsse etc. oder eine landständische Regierungskritik über das Medium der Plenarverhandlungen an ein breiteres Publikum gelangen. Auf Antrag der zuständigen Vorberatungskommission oder der Versammlungsmehrheit konnten die Sitzungen aber auch „bei verschlossenen Thüren statt finden“. Die fürstlichen Landtagskommissare waren ebenfalls berechtigt, „bei Eröffnungen oder Berathungen“ eine „geheime Sitzung“ zu verlangen. Die Protokolle wurden dann gemäß § 154 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 „nur im Einverständnisse mit der Regierung durch den Druk bekannt gemacht“. Die Verfassungsurkunde trug so einem etwaigen Geheimhaltungsbedürfnis Rechnung.

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5. Zwischenergebnis Auch in Hohenzollern-Sigmaringen verfügten die Stände keineswegs über ein Recht zu unmittelbaren, eigenen Enquêten oder Untersuchungen. Ihre Auskunftsrechte wurden durch das allgemeine Prinzip geschwächt, dass „Mittheilungen zwischen der Ständeversammlung und der Regierung […] durch die oberste Landesbehörde, oder deren Commissäre“ erfolgten (§ 71 Verf­Urk ­Ho­Si 1833). Indem sich die Landstände ausschließlich an das Ministerium oder dessen Landtags­ kommissare wenden durften, ähnelten ihre Informationsrechte eher einem rudimentären Interpellationsrecht. Unmittelbare Nachfragen bei nachgeordneten Stellen oder gar Privaten waren nicht vorgesehen und nach allgemeinen monarchisch-konstitutionellen Grundsätzen unzulässig. Ein modernes Selbstinforma­ tionsrecht hat es in Hohenzollern-Sigmaringen ebenso wenig gegeben wie einen frühen Vorläufer des Art. 44 GG. Obwohl die Verfassung verhältnismäßig weite Auskunfts- und Aktenvorlagerechte statuierte, verfügte die Kammer nicht über wirkungsvolle Druckmittel, um das Entgegenkommen der Regierung zu erzwingen. Zwar konnte sie gegen die Ablehnung eines Ausschussersuchens remonstrieren. Verpflichtet, einer Forderung Folge zu geben, war das Ministerium ebenso wenig angesichts des Wortlauts wie eingedenk allgemeiner konstitutioneller Standards. Eine Ausnahme bestand dem Wortlaut nach („niemals verweigert“) anscheinend für durch „Vorstellungen und Beschwerden“ gegen „Mängel und Mißbräuche“ veranlasste Nach­fragen. Rechtliche Durchsetzungsmechanismen, insbesondere eine funktionstüchtige Verfassungsgerichtsbarkeit, die sich nicht auf die Ministeranklage beschränkte, bestanden nicht. Allenfalls der faktische Druck durch die Sitzungsöffentlichkeit des Landtags war kalkuliert. Von einem politischen Untersuchungsrecht unterschied diese Befugnis trotz ihrer vergleichbaren Zielsetzung außerdem die Mittelbarkeit der Informationseinholung. Welches Gewicht derart zahnlosen Befugnissen im Konfliktsfall zukam, illustriert das kurhessische Paradigma. Ein weiterer Hemmschuh für eine wirkungsvolle Kontrolle war die Kürze der lediglich im Drei­ jahresturnus abgehaltenen Sitzungsperioden.533 Gleichwohl gehörten die Informa­ tionsrechte der Landstände von Hohenzollern-Sigmaringen wahrscheinlich zu den weitesten interpellationsartigen Regelungen der damaligen Zeit, die – ausweislich des engen Zusammenhangs mit dem Beschwerde- und Anklagerecht – auch einer beschränkten Exekutiv- und Regierungskontrolle dienen sollten.

533 s. für den ersten Landtag F. Eisele, Landtag HoSi, 1933, S. 8, 20, 21: Der Mitte Juni er­ öffnete Landtag wurde Mitte August nach 42 Sitzungen bis Mitte November 1834 vertagt und am 5. Januar 1835 geschlossen. In dieser kurzen Sitzungsperiode hatten die bloß 17 Abgeord­ neten ein erhebliches Arbeitspensum zu bewältigen, das für eingehende politische Untersuchungen oder Vorbereitungsenquêten keinen Raum ließ. s.  zu den Beratungsgegenständen a. a. O., S. 11 ff.

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B. Die drei süddeutschen Verfassungsvorbilder I. Großherzogtum Baden Eine besondere Vorreiterrolle für den liberalen Konstitutionalismus wird der Verfassungsurkunde für das Großherzogthum Baden vom 22. August 1818 zugeschrieben, die das Produkt eines längeren Modernisierungs- und Reformprozesses war und teils „als liberalste Verfassung ihrer Zeit im Deutschen Bund“ galt534. 1. Zusammensetzung und Kompetenzen der Landstände In Zusammensetzung und Kompetenzen der Ständeversammlung folgte das Verfassungswerk bekannten Pfaden und schuf so die äußeren Voraussetzungen für parlamentarisches Leben und Informationsbedarf. Die Landstände bestanden aus zwei Kammern (§ 26 Bad­Verf­Urk  1818). Geborene Mitglieder der Ersten Kammer waren die Prinzen des großherzoglichen Hauses, die standesherrlichen Familienoberhäupter, der Landesbischof sowie ein durch den Großherzog auf Lebenszeit ernannter protestantischer Geistlicher im Prälatenrang. Hinzu kamen acht Abgeordnete des grundherrlichen Adels sowie zwei aus dem Kreis der Professoren, sonstigen Gelehrten oder Staatsdiener des Landes gewählte Abgeordnete der Landesuniversitäten (§ 31 Bad­Verf­Urk 1818). Bis zu acht Mitglieder konnte der Großherzog ernennen (§ 32 Bad­Verf­Urk 1818). Aufgrund ihrer Zusammensetzung bot sich die Erste Kammer als Hort der bishe­ rigen Eliten sowie als Gegengewicht zu der gewählten Zweiten Kammer an.535 Diese bestand aus 63 Abgeordneten der Städte und Ämter, ohne dass das ständische Element eine Rolle spielte (§ 33 Bad­Verf­Urk  1818). Zunächst wurden Wahlmänner gewählt, die dann die Abgeordneten bestimmten (§ 34 Bad­Verf­ Urk 1818). Zum Wahlmann konnte wählen und gewählt werden, wer das 25. Lebensjahr vollendet hatte, im Wahldistrikt als Bürger ansässig war oder ein öffentliches Amt bekleidete (§ 36 Bad­Verf­Urk  1818). Mitglieder der Ersten Kammer oder bei der Grundherrenwahl aktiv oder passiv Wahlberechtigte schieden nach § 35 Bad­Verf­Urk 1818 aus. Das passive Wahlrecht zum Abgeordneten setzte gemäß § 37 Bad­Verf­Urk 1818 zusätzlich ein christliches Bekenntnis, die Überschreitung des 30.  Lebensjahres sowie die Eintragung im „Grund-, Häuser- oder Gewerbssteuer-Kataster wenigstens mit einem Capital von 10,000 Gulden […] oder eine jährliche lebenslängliche Rente von wenigstens 1500 Gulden von einem Stamm- oder Lehnsgutsbesitze, oder eine fixe ständige Besoldung oder Kirchenpfründe von gleichem Betrag“ voraus. In den letztgenannten Fällen war darüber hinaus die Zahlung einer direkten Steuer aus dem Eigentum erforderlich. Eine 534

Dazu H.-P. Ullmann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 25 (59 ff., 62). H.-P. Ullmann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 25 (62).

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Wahl von landes-, standes- oder grundherrlichen Beamten war nur außerhalb ihres Amtsbezirks möglich. Die Verfassung folgte in § 48 Bad­Verf­Urk 1818 den Grundsätzen des freien Mandats. Dem Großherzog standen die Einberufung, Vertagung und Auflösung der Stände zu (§ 42 Bad­Verf­Urk  1818). Landtage mussten im Zweijahresturnus abgehalten werden (§ 46 Bad­Verf­Urk 1818). In der Zwischenzeit bestand ein ständischer Ausschuss mit beschränkten Befugnissen, der aus dem Präsidenten sowie drei Mitgliedern der Ersten und sechs Mitgliedern der Zweiten Kammer gebildet wurde (§ 51 Bad­Verf­Urk 1818). Gemäß § 43 Bad­Verf­Urk 1818 verloren durch die Auflösung sämtliche gewählten Mitglieder beider Kammern ihr Mandat. „Erfolgt[e] die Auflösung, ehe der Gegenstand der Berathung erschöpft [war, musste nach § 44 Bad­Verf­Urk 1818…] längstens innerhalb drei Monaten zu einer neuen Wahl geschritten werden.“ Mit der Ständeversammlung war zugleich der Ausschuss aufgelöst. Die Landstände verfügten über die gewöhnlichen Mitwirkungsrechte: Ohne ihre Zustimmung konnte keine Auflage ausgeschrieben und erhoben werden. Entsprechende Gesetze wurden in der Regel auf zwei Jahre gegeben. Gemeinsam mit dem Entwurf war den Ständen „das Staats-Budjet und eine detaillirte Uebersicht über die Verwendung der verwilligten Gelder von den frühern Etats-Jahren [zu] übergeben.“ Für geheime Ausgabenposten war eine kontrasignierte Versicherung des Großherzogs erforderlich, „daß die Summe zum wahren Besten des Landes verwendet worden sey, oder […] solle“ (§§ 53 ff. Bad­Verf­Urk 1818). Nach § 56 Bad­ VerfUrk  1818 durften die Stände die Steuerbewilligung nicht an Bedingungen knüpfen; die Schlagkraft dieses vermeintlich wirkungsvollsten Instruments der Stände, um Einfluss auf die Regierungspolitik zu nehmen, war so schon von Verfassungs wegen eingeschränkt. § 57 Bad­Verf­Urk  1818 bestimmte, dass „[o]hne Zustimmung der Stände […] kein Anlehen gültig gemacht werden“ konnte. Von diesen landständischen Mitwirkungsbefugnissen war u. a. eine bundesrechtlich gebotene Ausnahme vorgesehen, indem der Großherzog im Kriegsfall bzw. für die­ vorausgehenden Rüstungen „zur schleunigen und wirksamen Erfüllung seiner Bundespflichten, auch vor eingeholter Zustimmung der Stände, gültige Staatsanlehen machen oder Kriegssteuern ausschreiben“ konnte (§ 63 Bad­Verf­Urk 1818). Auf dem Feld der Gesetzgebung bestimmte § 65 Bad­Verf­Urk  1818 nach der Formel des klassischen Gesetzesvorbehalts, dass „[z]u allen […] die Freiheit der Personen oder das Eigenthum der Staatsangehörigen betreffenden allgemeinen neuen Landesgesetzen oder zur Abänderung oder authentischen Erklärung der bestehenden, […] die Zustimmung der absoluten Mehrheit einer jeden der beiden Kammern erforderlich“ war. Für Verfassungsänderungen verlangte § 65 Bad­Verf­ Urk  1818 eine Zweidrittelmehrheit der anwesenden Mitglieder in beiden Kammern. Dem Großherzog standen gemäß § 66 Bad­Verf­Urk  1818 Bestätigung und Promulgation der Gesetze zu. Außerdem erließ er die zu „Vollzug und Handhabung erforderlichen, die aus dem Aufsichts- und Verwaltungsrecht abfließen-

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den, und alle für die Sicherheit des Staats nöthigen Verfügungen, Reglements, und allgemeinen Verordnungen“. Zu guter Letzt stand ihm ein Recht zum Erlass der „durch das Staatswohl dringend gebotene[n]“ Notverordnungen zu, „deren vorübergehender Zweck durch jede Verzögerung vereitelt würde“. § 67 Bad­Verf­Urk 1818 sprach den Landständen ein umfangreiches „Recht der Vorstellung und Beschwerde“ zu, das aber die „Zustimmung der Mehrheit einer jeden der beiden Kammern“ voraussetzte. Sie besaßen das „Recht, Mißbräuche in der Verwaltung, die zu ihrer Kenntniß gelang[t]en, der Regierung anzuzeigen“ und die „Minister und Mitglieder der obersten Staatsbehörden wegen Verletzung der Verfassung oder anerkannt verfassungsmäßiger Rechte förmlich anzuklagen“. Die Einzelheiten des Anklagerechts blieben einem besonderen Gesetz vorbehalten. Die Annahme von Individualbeschwerden setzte voraus, dass sich der Beschwerdeführer zuvor „vergebens an die geeigneten Landesstellen und zuletzt an das Staats-Ministerium um Abhülfe gewendet hat[te]“. Statt eines Gesetzes­ initiativrechts konnten die Stände den „Großherzog unter Angabe der Gründe um den Vorschlag eines Gesetzes bitten“. Es verdient Erwähnung, dass „Verordnungen, worinnen Bestimmungen eingeschlossen, wodurch [die Stände…] ihr Zustimmungsrecht für gekränkt erach[te]ten, […] auf ihre erhobene gegründete Beschwerde sogleich ausser Wirksamkeit gesetzt werden“ sollten. 2. Ausschließliche Vermittlung durch die Regierung Die Information der Landstände entsprach frühkonstitutionellen Standards, indem die Kammern gemäß § 75 Bad­Verf­Urk 1818 „nur mit dem großherzoglichen Staats-Ministerium in unmittelbarer Geschäftsberührung“ stehen und „keine Verfügungen treffen oder Bekanntmachungen irgend einer Art erlassen“ durften. Nicht einmal eine gemeinschaftliche Beratung war der Ersten und der Zweiten Kammer gestattet. Über den interorganschaftlichen Verkehr der Volksvertretung bestimmte der weitgehend auf dem Regierungsentwurf beruhende536 § 83 GO-Bd2K  1819, dass der Großherzog mit den „Kammern durch das Organ der Mitglieder des StaatsMinisteriums und der Commissairs [kommunizierte], die besonders hierzu beauftragt [wurden…]; die Kammern mit dem Großherzoge durch ihre Präsidenten“. Unmittelbare Nachfragen, also die Quintessenz eines „echten“ Enquête- und Untersuchungsrechts, waren damit de jure ausgeschlossen. Stattdessen setzte § 76 Bad­Verf­Urk 1818 auf ein Zutrittsrecht der Minister, anderer Mitglieder des Staatsministeriums oder Kommissare zu den Kammerverhandlungen, die auf ihr Verlangen „bei allen Discussionen gehört werden“ mussten. Der badische Finanzrat Carl Friedrich Nebenius, der Architekt von Verfassungsurkunde 536 Vgl. VerhBad2K 1819/1, S. 24 f., 29 ff., 49 ff. Gleichwohl betonte Carl Friedrich Nebenius Ende April 1819 ausdrücklich, dass man „nur dasjenige als unabänderliche Grundlage zu betrachten [habe], was schon in der VerfassungsUrkunde festgesetzt“ sei.

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und Reglement,537 rechtfertigte diese Konstruktion mit einer „bessern Ansicht von dem Verhältniß der Kammer zur Regierung, daß sie als verschiedene Gewalten dennoch einander nicht entgegengesetzt, sondern durch ihren letzten Zweck zu einem harmonischen Wirken berufen“ seien. Weil beide Seiten dem Gemeinwohl dienten, könne ihre „engere Verbindung durch lebendige wechselseitige Mittheilung und gemeinschaftliche Be­rath­ung nicht anders als nützlich und wohlthätig seyn“. So würden der „Geschäftsgang […] beschleunigt, manche förmliche Bothschaft beseitigt, Mißverständnisse in ihrem Ursprunge gehoben, und die Vereinigung der verschiedenen Meinungen erleichtert, indem man für die Berichtigung seiner Ansichten empfänglicher [bleibe…], wenn man sich noch nicht auf dem solennen Wege schriftlicher Mittheilung ausgesprochen“ habe. Zu guter Letzt habe die Kammer so die „nicht unwichtige Garantie“, „daß die Regierung für ihre Ansichten Organe in die Kammer zu bringen, [nicht] versucht seyn“ werde.538 Mit diesen Grundentscheidungen legte die Verfassung keineswegs das informationsrechtliche Fundament für eigene Enquêten oder Untersuchungen. 3. Abteilungen und Kommissionen der Zweiten Kammer Französischen Vorbildern ähnlich539 wurde die Zweite Kammer durch das Los in fünf Abteilungen geteilt (§ 60 GO-Bd2K 1819). Ihr erstes Amt war die Legitimationsprüfung (§ 4 GO-Bd2K  1819). Nach der Konstituierung der Kammer wurden die Gesetzentwürfe der Regierung und die Vorschläge der Ersten Kammer in die Abteilungen verwiesen (§ 48 GO-Bd2K 1819). Nach einer Vorberatung wählten sie „durch absolute StimmenMehrheit ein Mitglied für die Commission“ (§ 62 GO-Bd2K  1819). Waren drei „Commissairs“ ernannt,540 begann „sogleich die gemeinschaftliche Berathung“ (§ 63 GO-Bd2K 1819). In diesen „besondern Commissionen“ waren gemäß § 70 Bad­Verf­Urk 1818 die großherzoglichen Propositionen vorzuberaten. Zur Information der Abgeordneten, zugleich aber auch zur Wahrung der Regierungsinteressen wurde ähnlich wie im Plenum verfahren, indem die „landesherrlichen Commissarien […] zur vorläufigen Erörterung […] mit ständischen Commissarien zusammen[traten], so oft es von der 537

„Zur Entstehungsgeschichte der badischen Verfassung“, Nebenius Rolle und seiner Ur­ heber­schaft für das Reglement s. J. Beck, C. F. Nebenius, 1866, S. 36 ff., 49 sowie H.-P. ­Ullmann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 25 (61). 538 VerhBad2K 1819/1, S. 50 f. 539 Der Kommissionsberichterstatter, bekundete, dass die „englische ParlamentsVerfassung […] viel zu weit aus [dem…] Gesichtskreise [liege], als daß dieselbe […] zum Vorbilde dienen [könne…]. Viel näher gerückt und [hiesigen…] Verhältnissen conformer [sei…] die […] Einrichtung der Französischen Kammern“ (VerhBad2K 1819/1, S. 77). 540 Schließlich dürfe „freylich die Wirksamkeit der Commission nicht auf so lange verschoben werden, bis dieselbe durch die Wahl aller Sectionen ganz vollzählig [sei]: aber sie [könne…] doch auch nicht wohl in ihre Functionen eintreten, bis wenigstens die Hälfte der Commissionsmitglieder ernannt“ sei (Kommissionsbericht Kern, VerhBad2K 1819/1, S. 88 f.).

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einen oder andern Seite für nothwendig erachtet“ wurde (§ 71 Bad­Verf­Urk 1818). Nach getaner Arbeit wählte die Kommission „durch absolute StimmenMehrheit einen oder mehrere Berichterstatter, welche in ihrem Namen die Meinung der Commission nach dem Beschluß der Mehrheit in der Kammer vor[zu]­tragen“ hatten (§ 64 GO-Bd2K 1819). Obwohl das Kommissionsverfahren in der Verfassung nur für landesherrliche Anträge vorgesehen war, erstreckte es die Geschäftsordnung auf andere Gegenstände. So konnte die Kammer gemäß § 51 GO-Bd2K  1819 Anträge aus ihrer Mitte, die „auf eine Nachsuchung um einen GesetzVorschlag gerichtet“ waren, entsprechend behandeln. Betraf der „Vorschlag einen andern Gegenstand“, konnte er ebenso in die Abteilungen verwiesen oder ebenso „unmittelbar“ beraten werden. In den Entwurfsmotiven der Geschäftsordnung führte Carl Friedrich Nebenius für das Abteilungsverfahren an, dass eine „gründliche Erörterung der Landesherrlichen Anträge, der Motionen der StändeMitglieder, so wie der Bittschriften“ in der Regel nicht „ohne nähere Vorbereitung“ möglich sei. Deswegen sei die „ruhige Prüfung der Sache durch diejenigen Mitglieder, die mit dem Gegenstand am besten vertraut“ seien, sowie die „vollständige Kenntnißnahme vom Gegenstand von Seiten aller Abgeordneten“ zur Vorbereitung der Plenarberatungen geboten. Zudem seien die Landstände für den Kommissionsbericht „empfänglicher“, wenn sie über die Sache zuvor in den Abteilungen beratschlagt hätten. Eine Wahl der Kommissionsmitglieder in den Abteilungen statt durch das Plenum empfehle sich, weil im kleineren Kreise „der Austausch der Ideen leichter von statten“ gehe, die Abteilungsmitglieder „mit ihren gegenseitigen Ansichten bekannt“ würden, so dass sich zeige, „wer am tauglichsten […] zur nähern Prüfung“ sei. Indem sich die Position der Abteilungsmehrheit in der „Ernennung des Commis­ sairs“ niederschlage, werde die „Meinung der Commission […] in der Regel mit der Meinung der Mehrheit in der vollen Versammlung zusammentreffen“. „[D]aß der Zufall mehrere Stände-Glieder, die zur Beurtheilung eines Gegenstandes am geschicktesten [seien…], in einer Abtheilung“ zusammenführe, so dass sie nicht in die Kommission entsendet werden könnten, wollte der liberale Beamte dadurch verhindern, „daß die Kammer, wie es für alle hochwichtige Gegenstände Regel seyn [solle…], die Commission durch ein oder mehrere Mitglieder verstärke[n]“ könne.541 Auch in Baden sollte also der Sachverstand der Landstände für die Be­ ratungen erschlossen werden. Ständigen Kommissionen für „einzelne Zweige der Landständischen Wirksamkeit“ stand Carl Friedrich Nebenius skeptisch gegenüber. Außer „unangenehme[n], bisweilen ärgerliche[n] Competenz-Streitigkeiten“ fürchtete er den „zweifache[n] Nachtheil“, dass auf diese Weise die vielfältigen Fragen kaum je „von den, der Sache am meisten gewachsenen Ständemitgliedern […] berathen“ würden. Zudem würden „schwierigere Arbeiten […] auf wenige Personen zurück 541

VerhBad2K 1819/1, S. 53 f.

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fallen, während die übrigen geschäftslos“ blieben. Aus diesen Gründen fand mit § 54 GO-Bd2K 1819 lediglich eine ständige Petitionskommission Eingang in das badische Parlamentsrecht.542 Besondere Regeln über ihre Information, etwa eigenständige Untersuchungsrechte, sah das Reglement nicht vor. Wenigstens konnte „[j]edes StändeMitglied […] bey der Commission Einsicht von den eingekommen Petitionen nehmen“ (§ 55 GO-Bd2K 1819). 4. Zwischenergebnis Die badische Volksvertretung wurde  – wie unter der Herrschaft des „monarchischen Prinzips“ üblich  – durch die Regierung mit Informationen versorgt. Zu diesem Zweck diente das Zutritts- und Rederecht, das zugleich dem Gou­ vernement die Möglichkeit verschaffte, seine Position in den Verhandlungen zu erläutern, Missverständnisse auszuräumen und seine Politik zur Not gegenüber landständischen Angriffen zu verteidigen. Die Landstände konnten bei diesen­ Gelegenheiten einfache Nachfragen an die Regierungsvertreter richten. Neben der regierungsamtlichen Unterrichtung bestanden also bestenfalls informelle inter­ pellationsartige Informationsmöglichkeiten. Ein „echtes“ Interpellationsrecht hat es dagegen auch in Baden in den ersten Jahren nicht gegeben; es entwickelte sich erst in den 1830er Jahren aus den zuvor formlosen Fragemöglichkeiten.543 Die Vorberatungskommissionen verfügten nicht über weitergehende Befugnisse und eigneten sich so weder zur Regierungskontrolle noch als Enquêtekom­ mis­sionen. Ihr Daseinszweck erschöpfte sind in der Vorbereitung der Beratungsgegenstände für das Plenum. Das vorgeschaltete Abteilungsverfahren sollte dafür Sorge tragen, dass sämtliche Abgeordneten an den Beratungen beteiligt wurden. Die fähigsten Männer und Wortführer der einzelnen Richtungen sollten in die Kommissionen gewählt werden. Auf diese Weise wurde einerseits der eigene Sachverstand aus dem Kreis der Landstände in den Ausschüssen versammelt. Zum anderen wurden auf diese Weise die politischen und sachlichen Ansichten konzentriert. Auch die ständige Petitionskommission, die sich als Ort eigener Erhebungen angeboten hätte, verfügte über keine weitergehenden Befugnisse. Eine Frühform des Enquête- und Untersuchungsrechts hat es in Baden nicht gegeben. Statt­dessen hatte die Kammer noch 1895 nicht einmal in der Wahlprüfung das Recht, „zur Aufklärung über Wahlvorgänge etc. […] unmittelbar amtliche Erhebungen [zu] machen, sondern [musste…] um die Veranlassung solcher die großherzogliche Regierung […] ersuchen“.544

542

VerhBad2K 1819/1, S. 54 f. H.-P. Becht, Bad. Parlamentarismus, 2009, S. 234 f. Zur späteren Handhabung s. F. Wielandt, BadStaatsR, 1895, S. 73. 544 F. Wielandt, BadStaatsR, 1895, S. 67 in Anm. 1. 543

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II. Königreich Württemberg Nach dem Intermezzo der glücklosen Landständischen Verfassung vom 15. März 1815, die an dem Beharren der Landstände auf dem „guten alten Recht“ scheiterte,545 wurde kurz nach den Karlsbader Beschlüssen die Verfassungs-Urkunde des Königreichs Württemberg vom 25. September 1819 vereinbart. Mit den Worten des Tübinger Staatsrechtlers Carl Fricker brachte sie endlich „Frieden“ in den seit 1815 „zwischen dem König von Württemberg und seinem Volke gekämpft[en]“ „Verfassungskampf“.546 1. Zusammensetzung und Kompetenzen der Landstände Obwohl die württembergische Verfassungsurkunde eine Vereinigung neuartiger repräsentativer Prinzipien mit älteren Reminiszenzen versuchte, schuf sie nach Zusammensetzung und Kompetenzen der Zweiten Kammer die Grundvoraussetzungen für die Herausbildung informationsrechtlicher Begehrlichkeiten. Demgegenüber verkörperte die Kammer der Standesherrn das ständisch-konservative Element: Sie bestand aus den Prinzen des königlichen Hauses, „den Häuptern der fürstlichen und gräflichen Familien, und den Vertretern der standesherrlichen Gemeinschaften, auf deren Besitzungen vormals eine Reichs- oder Kreistags-Stimme geruht hat[te]“. Bis zu einem Drittel der Mitglieder konnte der Landesherr erblich oder auf Lebenszeit ernennen (§§ 129, 132 Württ­Verf­Urk 1819). Auch die Zweite Kammer war nicht frei von altständischen Anklängen: Sie bestand aus 13 Vertretern der Ritterschaft, den sechs protestantischen General-Superintendenten, dem Landesbischof, einem Vertreter des Domkapitels sowie dem dienstältesten katholischen Dekan, dem Kanzler der Landesuniversität, je einem Abgeordneten der Städte Stuttgart, Tübingen, Ludwigsburg, Ellwangen, Ulm, Heilbronn und­ Reutlingen sowie jedes Oberamtsbezirks (§ 133 Württ­Verf­Urk 1819). Das aktive Wahlrecht stand den steuerzahlenden Bürgern in den Städten und Oberamtsbezirken zu (§  137 Württ­Verf­Urk 1819). Ein ordentlicher Landtag war alle drei Jahre abzuhalten. Außerordentliche Landtage konnten einberufen werden, „so oft es zur Erledigung wichtiger oder 545 Auch diese Verfassungsurkunde sah kein Enquête- oder Untersuchungsrecht vor, sondern gab den zur „Vorbereitung der Berathschlagungen“ gemäß § 22 Ls­Verf­Württ 1815 gebildeten „besondere[n] Commissionen“ in § 30 das Recht, „mit den einzelnen Ministern, in deren Geschäfftskreis der Gegenstand [einschlug…], Rücksprache zu nehmen, und die zu dessen Beurtheilung erforderlichen Erläuterungen nachzusuchen“. Andere „unmittelbare Communica­ tionen der Landstände mit Königlichen Stellen“ waren ausdrücklich untersagt. Stattdessen hatten die Minister gemäß § 26 Ls­Verf­Württ  1815 „zu jeder Zeit den Zutritt zu der Stände-­ Versammlung“ und durften bei „Berathschlagung[en]“ das Wort ergreifen. s. dazu N. N., PölJB 1832/1, 481 (490 ff.) und ferner H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 188 f. in Fn. 7 und S. 226 f. sowie aus neuerer Zeit E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 331 ff. 546 C. Fricker, ZGStW 1862, 139.

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dringender Landes-Angelegenheiten erforderlich“ war. Im Fall einer „RegierungsVeränderung“ mussten die Stände versammelt werden (§ 127 Württ­Verf­Urk 1819). Der König konnte den Landtag schließen, vertagen oder auflösen. Im letzteren Fall war „spätestens binnen sechs Wochen eine neue Versammlung ein[zu]berufen“ (§  186 Württ­Verf­Urk 1819). Durch § 124 Württ­Verf­Urk  1819 waren die Landstände „berufen, die Rechte des Landes in dem durch die Verfassung bestimmten Verhältnisse zum Regenten geltend zu machen“. Im Einzelnen hatten „sie bei Ausübung der Gesetzgebungs-­ Gewalt durch ihre Einwilligung mitzuwirken, in Beziehung auf Mängel und Mißbräuche […] bei der Staats-Verwaltung […] ihre Wünsche, Vorstellungen und Beschwerden dem Könige vorzutragen, auch wegen verfassungswidriger Handlungen Klage anzustellen, die nach gewissenhafter Prüfung für nothwendig erkannten Steuern zu verwilligen, und überhaupt das unzertrennliche Wohl des Königes und des Vaterlandes mit treuer Anhänglichkeit an die Grundsätze der Verfassung zu befördern“. Ihrer Einwilligung unterlagen „Verträge mit Auswärtigen“, durch die ein „Theil des Staats-Gebietes und Staats-Eigenthums veräußert“ werden sollte, die Übernahme „neue[r] Last[en] auf das Königreich und dessen An­ gehörige“, die Abänderung oder Aufhebung eines Landesgesetzes sowie völkervertragliche „Verpflichtung[en], welche den Rechten der Staatsbürger Eintrag thun“ konnten (§  85 Württ­Verf­Urk 1819). Ausdrücklich bestimmte § 88 Württ­Verf­Urk  1819, dass „[o]hne Beistimmung der Stände […] kein Gesetz gegeben, aufgehoben, abgeändert oder authentisch­ erläutert werden“ konnte. Jenseits des Gesetzesvorbehalts gestattete § 89 Württ­ Verf­Urk 1819 dem Monarchen, „ohne Mitwirkung der Stände die zu Voll­streckung und Handhabung der Gesetze erforderlichen Verordnungen und Anstalten zu treffen, und in dringenden Fällen zur Sicherheit des Staates das Nöthige vorzukehren“. § 90 Württ­Verf­Urk  1819 ordnete „bei den Gesetzen, Verordnungen und Anstalten im Landes-Polizeiwesen“ ausdrücklich die Geltung der §§ 88 und 89 Württ­Verf­Urk  1819 über die Mitwirkung der Landstände an. Nach § 99 Württ­ Verf­Urk 1819 wurde die „Zahl der zu Ergänzung des Königlichen Militärs jährlich­ erforderlichen Mannschaft mit den Ständen verabschiedet“. Ausgedehnte landständische Befugnisse lagen auf dem Feld der Staatsfinanzen: Das Kammergut war „in seinem wesentlichen Bestande zu erhalten“ und durfte deswegen „ohne Einwilligung der Stände weder durch Veräußerung vermindert, noch mit Schulden oder sonst mit einer bleibenden Last beschwert werden“ (§ 107 Württ­Verf­Urk 1819). Soweit der Ertrag nicht ausreichte, wurde der „Staatsbedarf durch Steuern bestritten“, die „[o]hne Verwilligung der Stände […] weder in Kriegs- noch in Friedenszeiten […] ausgeschrieben und erhoben werden“ durften (§  109 Württ­Verf­Urk 1819). §  119 Württ­Verf­Urk 1819 unterstellte die Staatsschuld der „Gewährleistung der Stände“. „Die Schulden-Zahlungs-Casse [wurde…] von ständischen, durch die Regierung beschäftigten Beamten, unter Leitung und Verantwortlichkeit der Stände, verwaltet“. Dem ständischen Ausschuss waren mo-

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natlich „Cassenberichte gedoppelt ausgefertigt [zu] übergeben“ (§ 121 Württ­Verf­ Urk  1819). Die Regierung konnte aber vermöge ihres Oberaufsichtsrechts „von dem Zustande dieser Casse zu jeder Zeit Einsicht nehmen […] lassen“ (§ 122 Württ­Verf­Urk 1819). 2. Zutritts- und Rederecht, Verbot unmittelbarer Kontakte In informationsrechtlicher Hinsicht folgte die württembergische Verfassung dem gängigen konstitutionellen Schema: Zur Unterrichtung der Landstände, aber auch zur Wahrung der landesherrlichen Interessen gab § 169 Württ­Verf­Urk 1819 den Ministern das Recht, „den Verhandlungen der beiden Kammern anzuwohnen und an den Berathschlagungen Theil zu nehmen“. Dabei konnten sie „sich auch von andern Staatsdienern begleiten lassen, welche etwa den vorliegenden Gegenstand besonders bearbeitet [hatten…], oder sonst vorzügliche Kenntniß davon“ besaßen. Dieses Zutritts- und Rederecht galt nicht für die Verhandlungen der Kommission, in denen königliche Anträge gemäß § 173 Württ­Verf­Urk 1819 zwingend vorzubereiten waren.547 Zu diesen Beratungen hatten die Regierungsvertreter „blos im Falle einer ausdrücklichen Einladung“ Zutritt.548 Wenigstens im Kommissionsverfahren lag die Initiative also bei den Landständen; die Verfassung trug so u. a. auch ihrem Informationsbedürfnis Rechnung. Ein unmittelbarer Kontakt mit anderen staatlichen Stellen oder Privaten war weder dem Plenum noch den Kommissionen gestattet.549 Nach § 126 Württ­Verf­ Urk  1819 war der „Geheime Rath […] die Behörde, durch welche sowohl der König seine Eröffnungen an die Stände [richtete…], als auch letztere ihre Erklärungen, Bitten und Wünsche an den König […] bringen“ konnten. Selbst bei der Wahlprüfung durfte die Kammer keine eigenen Erhebungen anstellen  – ein Zustand, auf dessen Abänderung der Abgeordnete Robert v. Mohl im Februar 1847 erfolglos antrug und den er seither literarisch bekämpfte.550 Das Fremdinforma­ 547

Vgl. sonst R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 630 sowie ausführlich H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 232 ff. 548 Vgl. R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 579. 549 Vgl. R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 579 sowie S. 581 ff., der S. 589 in Anm. 27) unter Hinweis auf die englische Praxis die Hoffnung äußert, „daß dieses Verbot von Privaten persönlich Eingaben anzunehmen oder sie darüber zu vernehmen, nicht dahin ausgedehnt werde, daß es einer Kammer oder einer Commißion untersagt wäre, Privaten vor sich zu fordern, um sie über gewisse Gegenstände, gleichsam als Zeugen, zu vernehmen.“ s. auch O. Sarwey, WürttStaatsR II, 1883, S. 231 dazu, dass den Kammern nicht das „sg. Recht der Erhebung von Thatsachen […] zu[stand], Zeugen und Sachverständige […] vorzufordern und vor der Versammlung oder durch Kommissarien zu Protokoll zu vernehmen“. Mit dem Recht der Kommissionen, gemäß § 21 GO-Württ2K 1851 bzw. § 56 GO-Württ2K 1875 „erforderlichenfalls Zeugen und Sachverständige zur Aeußerung zu veranlassen, [sei…] jedenfalls keine Pflicht […] verbunden“. Zum Kampf um diese Vorschriften s. 4. Teil 1. Kap. A. II. und B. 550 s. R. v. Mohl, StaatsR, VölkerR, Pol. I, 1860, S. 207 ff.; ders., ZGStW 1845, S. 523 ff. und zum Ganzen H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 140, Fn. 49. Ein weiterer Anlauf, in

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tionsprinzip wurde im Vormärz so konsequent durchgehalten, dass nicht einmal ein Interpellationsrecht bestand.551 An der Vorherrschaft der Regierung rüttelte auch das zunächst bloß provisorisch  sanktionierte und später dann faktisch befolgte552 Reglement der AbgeKAbg  1821 verbot den Kommissionen ordnetenkammer nicht; § 36 GO-Württ­ ausdrücklich jeden unmittelbaren Kontakt mit privaten Dritten oder staatlichen Stellen.553 Wenigstens durften die Kommissionen „bei vorkommenden Anständen mit den betreffenden Ministerien Rücksprache pflegen, oder die Minister zur persönlichen Theilnahme an ihren Berathungen einladen“. Eine Pflicht zum Erscheinen oder zur Auskunft entsprach dem nach allgemeinen konstitutionellen Grund­sätzen nicht. 3. Zwischenergebnis Das Königreich Württemberg fügte sich in das gewöhnliche konstitutionelle Bild: Statt auf eigene Informationsrechte der Ständeversammlung setzte man auf das ministerielle Zutritts- und Rederecht bzw. beschränkte Befugnisse, mit der Regierung Rücksprache zu halten, um die Landstände mit den für ihre Mitwirkung erforderlichen Informationen zu versorgen. Das Fehlen eines Interpellationsrechts oder eines anderen Instruments zur politischen Auseinandersetzung versuchten die Landstände durch einen inflationären Gebrauch von Motionen zu kompensieren; über diesen Notbehelf ließen sich einzelne Angelegenheiten in die öffentliche Beratung bringen.554

der Verfassung das Recht der Kammer zu verankern, „bei Beschwerden wegen ungesezlicher Wahlhandlung Kommissäre zu Erhebung der Thatsachen an Ort und Stelle zu schicken“, scheiterte 1863. Dazu O. Sarwey, WürttStaatsR II, 1883, S. 232. 551 Vgl. H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 182. 552 Dazu R. v. Mohl, WürttStaatsR I2 1840, S. 698 in Fn. 3. 553 Deswegen gilt die Feststellung von H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 233, die Kommissionen hätten das Recht besessen, mit „Ämtern und Privatpersonen [zu] korrespondieren […] und […] schließlich Zeugen [zu] vernehmen, wenn ihnen auch das richterliche Zwangsrecht bei der Zeugnisabnahme verwehrt war“, nicht für Frühkonstitutionalismus und Vormärz. Andernfalls wäre der Streit um die Geschäftsordnung von 1851 unverständlich, in dem die Zweite Kammer versuchte, sich ein freiwilliges Enquêterecht beizulegen (BeilWürttAbgK 1851/52 I.1, Beil. 16, S. 35). Gerade dieser Passus stieß auf königlichen Widerstand (Reskript vom 3. Juni 1854, BeilWürttAbgK 1854/55 I.1, S. 5 unter 3). s. auch Fn. 549 und dort zum Streit um die Geschäftsordnungsreform. 554 H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 202 ff.

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III. Königreich Bayern Auch die in Erfüllung von Art. 13 DBA 1815 ergangene Verfassungs-Urkunde des Königreichs Baiern vom 26. Mai 1818 setzte für die Information der Landstände ausschließlich auf die monarchische Exekutive.555 1. Bildung und Befugnisse der Kammern Bildung und Befugnisse der bayerischen Kammern passten sich nahtlos in das allgemeine frühkonstitutionelle Bild ein: Obwohl die Ständeversammlung sämtliche Untertanen repräsentierte, bestand sie „abgetheilt in zwey Kammern, in eine Kammer der Reichsräthe, und in eine Kammer der Abgeordneten“.556 Die Kammer der Reichsräte wurde aus den volljährigen Prinzen, Kronbeamten, Erzbischöfen, Häuptern der mediatisierten Fürsten- und Grafenfamilien, einem Bischof sowie den Präsidenten des protestantischen Generalkonsistoriums und anderen „Personen gebildet, welche der König entweder wegen ausgezeichneter dem Staate geleisteter Dienste, oder wegen ihrer Geburt, oder ihres Vermögens zu Mitgliedern […] erblich oder lebenslänglich“ ernannte (Tit. VI § 2 Bay­Verf­Urk 1818). Die Zweite Kammer bestand aus Abgeordneten der Grundbesitzer mit Patrimonialgerichtsbarkeit, der Universitäten, der katholischen und protestantischen Geistlichkeit, der Städte und Märkte sowie anderer Landeigentümer, die nach ihren jeweiligen Klassen gewählt wurden (Tit. VI §§ 7 ff. Bay­Verf­Urk  1818). Trotzdem galt der Landtag im Sinne des Repräsentativprinzips als „einheitliches Organ, das die Gesammtheit der Staatsgenossen als eine Einheit darstellt[e]; er repräsentirt[e…] das ganze Volk in allen seinen Bestandtheilen“ (Joseph Pözl).557 Freies Mandat und Öffentlichkeit der Verhandlungen galten als Vorbedingungen der landständischen Repräsentation.558 Ordentliche Landtage waren im Dreijahresturnus abzuhalten, außerordentliche in bestimmten Fällen einzuberufen. Darüber hinaus lag die Versammlung der Stände im Ermessen des Monarchen. Nach seiner Eröffnung, der die Konstituierung vorausging, dauerte ein Landtag zwei Monate. Anschließend erlosch die „rechtliche Fähigkeit zu berathen und zu beschließen“ ipso jure von selbst. Nur der Monarch konnte die Sitzungen verlängern, den Landtag aber ebenso gut vertagen, schließen, entlassen oder auflösen, um in den dann notwendigen Neuwahlen eine günstigere Zusammensetzung der Ständeversammlung zu erreichen.559 555

Zu ihrer Entstehung und insbesondere zum Wahlrecht s. J. Leeb, Wahlrecht I, 1996, S. 36 ff. sowie allg. D. Götschmann, Bay. Parlamentarismus, 2002, S. 46 ff. 556 F. C. K. Schunck, BayStaatsR I, 1824, S. 502 f. 557 J. v. Pözl, BayVerfR3 1860, S. 457 ff. Ähnl. C. Cucumus, StaatsR, 1825, S. 308: „Es besteht für das Königreich eine allgemeine, aber in zwei Kammern abgetheilte Ständeversammlung.“ 558 C. Cucumus, StaatsR, 1825, S. 303 f. 559 J. v. Pözl, BayVerfR3 1860, S. 476 ff. „Die Auflösung des Landtages geschieht zu dem Zwecke, um eine andere Zusammensetzung […] zu veranlassen“. Zu „Einberufung und Constituirung der Kammern. Wahl der Präsidenten. Eröffnung der Ständeversammlung“ s. auch

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Dem Wirkungskreis der Stände galt der VII. Titel der Verfassungsurkunde: Nach § 2 konnte ohne „Beyrath“ oder Zustimmung der Versammlung „kein allgemeines neues Gesetz, welches die Freyheit der Personen oder das Eigenthum der StaatsAngehörigen [betraf…], erlassen, noch ein schon bestehendes abgeändert, authentisch erläutert oder aufgehoben werden“. Soweit dieser konstitutionelle Gesetzesvorbehalt nicht eingriff, konnte der Monarch ohne Mitwirkung der Stände Recht setzen.560 Entsprechend dem in Tit. II § 1 Bay­Verf­Urk 1818 mit den Worten, „[d]er König ist das Oberhaupt des Staats, vereinigt in sich alle Rechte der StaatsGewalt, und übt sie unter den von Ihm gegebenen und der gegenwärtigen Verfassungs-Urkunde festgesetzten Bestimmungen aus“, bestätigten „monarchischen Prinzips“, verfügte er alleine über die Gesetzesinitiative.561 Die Kammern besaßen lediglich das „Recht, ein Gesetz zu ‚beantragen,‘ oder um die Vorlage eines Gesetzes über eine gewisse Materie zu petitioniren“.562 2. Zutritts- und Rederecht Die Verfassungsurkunde sah keine allgemeinen oder unmittelbaren landständischen Selbstinformationsrechte vor. Stattdessen bestimmte Tit. VII § 24 Bay­ Verf­Urk 1818 in der üblichen Weise, dass die „Staats-Minister […] den Sitzungen der beyden Kammern beywohnen [konnten], wenn sie auch nicht Mitglieder derselben“ waren. Sie überbrachten den Ständen die königlichen Propositionen, die sie „nicht blos mündlich vortragen, sondern […] auch schriftlich übergeben, und […] immer die erforderlichen Erläuterungen ertheilen“ sollten.563 Allgemein führte dieses Zutritts- und Rederecht „keineswegs ein Interpellationsrecht“ im Gepäck,564 sondern ermöglichte den Ministern, den Kammern nach ihrem Ermessen Mitteilungen zu machen, Informationen zukommen zu lassen oder die Regierungsposition zu begründen bzw. zu verteidigen.

C. Cucumus, StaatsR, 1825, S. 334 ff. Die für die Konstituierung erforderliche Wahlprüfung­ erfolgte durch eine „Einweisungscommission, welche immer für den ersten Fall der Zusammenberufung einer neugewählten Kammer aus einer eigens ernannten k. Commission; sonst aber aus dem Präsidenten und Sekretär der letzten Versammlung [bestand…]. Sie ha[tte] vor Allem die Beglaubigung der Abgeordneten, ihre Wahlen und erforderlichen Eigenschaften mit Beiziehung von sechs, durch das Loos zu wählenden Mitgliedern der Kammer zu prüfen, wozu ihr sämmtliche Wahlprotokolle mitgetheilt“ wurden (S. 335 f.). 560 s. dazu E. v. Moÿ, BayStaatsR I/1, 1840, S. 131 ff., 137. 561 Eine Änderung brachte erst das Gesetz, die ständische Initiative betreffend, vom 4. Juni 1848 (BayGBl 1848, Sp. 61). Verfassungsgesetze durfte der Landtag nur zu bestimmten Teilen der Verfassungsurkunde vorschlagen. 562 J. v. Pözl, BayVerfR3 1860, S. 483 in Fn. 3 (Zitat) und C. Cucumus, StaatsR, 1825, S. 339 f., der dieses Petitionsrecht anscheinend als „Theilnahme an der Initiative“ bewertet. 563 C. Cucumus, StaatsR, 1825, S. 338. 564 H. L. S., in: Hermes 1820/1, 311.

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3. Kommissionsverfahren Nähere Regelungen über das parlamentarische Verfahren stellte das Edict über die Stände-Versammlung vom 26. Mai 1818 auf: Die besonderen Ausschüsse, die von den Kammern gemäß Tit. II § 25 Bay­Ed­SV 1818 für Gesetzgebungsangele­ genheiten, Steuern, Staatsschuldentilgung etc. sowie „für die Untersuchung der vorkommenden Beschwerden über die Verletzung der Staatsverfassung“ niedergesetzt werden sollten, hatten nach Tit.  II § 29 Bay­Ed­SV  1818 „alle […] erforderlichen Erläuterungen zu sammeln, und sich hierüber mit den betreffenden Staats-Ministerien ins Benehmen zu setzen, die Gründe für und wider genau zu entwickeln, und hiernach den Vortrag mit allen Meinungen der Mitglieder des Ausschusses umständlich zu entwerfen“. Selbständige Ermittlungsbefugnisse, etwa um mit nachgeordneten staatlichen Stellen unmittelbar in Kontakt zu treten oder Beamte respektive private Dritte als Zeugen oder Sachverständige zu ver­ nehmen, standen grundsätzlich weder den Kammern noch den Ausschüssen zu. Daran änderten auch das Edict über die Geschäftsordnung für die Kammer der Abgeordneten vom 28. Februar 1825565 oder das Gesetz, den Geschäftsgang der beyden Kammern betreffend, vom 2.  September 1831566 nichts.567 Als Reaktion auf dieses Gesetz gab sich die Abgeordnetenkammer 1831 eine neue Geschäftsordnung,568 die die Pflicht der Ausschüsse, die „erforderlichen Erläuterungen zu sammeln“ und „sich hierüber mit den betreffenden Staatsministerien in Benehmen zu setzen“, als Art.  45 GO-Bay­AbgK  1831 übernahm. Von selbständigen Informationsrechten der Kammer gab es weiterhin keine Spur. Zu allem Überfluss bestimmte Art. 53 GO-Bay­AbgK 1831 zu Petitionen und Beschwerden ausdrücklich, dass es ebenso wenig dem „Ausschusse […] wie der Kammer […] zu[stehe, …] weitere Instructionen zu veranlassen, oder von Königlichen Stellen 565 Nach § 70 hatten die Ausschüsse durch Vermittlung des Präsidenten „alle […] erforderliche[n] Erläuterungen zu sammeln, und sich […] mit den betreffenden Staatsministerien ins Benehmen zu setzen“. Zudem mussten in den Beratungen von Regierungsvorlagen königliche „Commissairs“ gehört werden. Jede unmittelbare Kontaktaufnahme mit anderen staatlichen Stellen untersagte § 101. Abdruck bei K. H. L. Pölitz/F. Bülau, DtVerf I, 1847, S. 175. 566 BayGBl 1831, Sp. 26. 567 Stattdessen stärkte das Gesetz von 1831 neben verschiedenen Verfahrensregelungen die Stellung der königlichen Kommissarien und Minister: Gemäß § 2 sollten die Ausschussberichte, „welche einen von der Staatsregierung an die Kammer gebrachten Gegenstand [betrafen…], vor allen andern in Be­ra­thung genommen werden.“ Gleichwohl sollte „in jeder Woche ein Tag der Be­ra­thung und Erledigung der Anträge der Kammer-Mitglieder und der Beschwerden gewidmet werden“. Nach § 3 waren die „von den Ausschüssen bearbeiteten Vorträge […] den Königlichen Staatsministern und Commissarien mitzutheilen“. Am Schluss jeder Debatte stand ihnen eine „Schluß-Aeußerung“ zu. Kamen dabei „bisher nicht vorgekommene Thatsachen“ zur Sprache, konnte jeder Abgeordnete das Wort verlangen. Gemäß § 15 stand es den Kammermitgliedern und Regierungsvertretern frei, „sowohl zu jedem einzelnen Artikel eines Gesetz-­ Entwurfes, als auch bey allen Be­ra­thungs-Gegenständen, welche nicht von der Staats-Regierung an die Kammer gebracht worden“ waren, „Abänderungen […] oder Unter-Abänderungen“ vorzuschlagen. 568 BeilBay2K 1831 XI, Beil. XLVI, S. 1 f.

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Berichte zu verlangen“. Sowohl ein Requisitionsrecht zu weiteren Ermittlungen als auch ein ausgedehntes Auskunftsrecht der Stände waren damit ausgeschlossen. Immerhin durften sie, „um jede Vorlage grundloser Beschwerden zu beseitigen“, „von den einschlägigen Staatsministerien durch den Präsidenten die erforderlichen Aufschlüsse erholen“. Eine Pflicht zur sachlichen Beantwortung war damit nicht verbunden. 4. Verfahren bei landständischen Anklagen Für die Anklage höherer Beamter und der Staatsminister bestimmte der X. Titel der Verfassungsurkunde, dass die Stände die „Anklags-Puncte“ wegen „vorsätzlicher Verletzung der Staats-Verfassung“ gegen den Betroffenen „bestimmt zu bezeichnen, und in jeder Kammer durch einen besondern Ausschuß zu prüfen“ hatten (Tit. X § 6 Bay­Verf­Urk 1818).569 „Vereinig[t]en sich beyde Kammern […] über die Anklage; so [brachten…] sie dieselbe mit ihren Belegen […] an den König“, der „sie sodann der obersten Justiz-Stelle […] zur Entscheidung [zu] übergeben, und die Stände von dem gefällten Urtheile in Kenntniß [zu] setzen“ hatte. Eine offenkundige Schwächung des Anklagerechts bedeutete seine Limitierung auf dolose Verfassungsverletzungen.570 Von untersuchungsrechtlichen Befugnissen findet sich auch in diesem Kontrollkontext, der für eine landständische (Vor-)Untersuchung eigentlich prädestiniert gewesen wäre, noch keine Spur.571 Entgegen des Wortlauts von Tit. X § 6 Bay­Verf­Urk 1818, der mit dem Gebot, den Vorwurf „durch einen besondern Ausschuß […] prüfen“ zu lassen, prima facie entsprechende Befugnisse zu verheißen schien, sollten den Kammern erst im Zuge der Märzrevolution Anflüge eines Untersuchungsrechts zuteil werden. Bis dahin erschöpfte sich diese­ Regelung – ähnlich wie der überschätzte § 91 StGG SWE 1816 – in einer infor­ mationsrechtlich belanglosen Regelung des Geschäftsverfahrens. 569

Hervorhebung nur hier. Erst durch das Gesetz, die Verantwortlichkeit der Minister betreffend, vom 4. Juni 1848 (BayGBl 1848, Sp.  69; Abdruck auch bei H. A. Zachariä, VerfG, 1855, S.  139) wurde die Gegen­zeichnung ausdrücklich zur Vollziehbarkeit der königlichen Regierungsanordnungen gefordert (Art.  IV.). Außerdem sah das Gesetz die freie Annahme eines Ministeriums, ein­ „unentziehbares Standesgehalt“ von 3.000 Gulden und die jederzeitige Demission vor, wenn „der König in wichtigen Regierungs-Angelegenheiten die Rathschläge Seines Ministers nicht annehmen zu können glaubt[e]“ (Art.  III). „Ein Staatsminister oder dessen Stellvertreter, der durch die Handlungen oder Unterlassungen die Staatsgesetze verletzt[e, war…] den Ständen des Reiches verantwortlich, und [konnte…] auf deren Anklage […] bestraft werden“. Darüber hinaus erweiterte das Gesetz mit den Worten, „[e]in Staatsminister oder dessen Stell­ vertreter, der durch Handlungen oder Unterlassungen die Staatsgesetze verletzt, ist den Ständen des Reichs verantwortlich“, die Haftung auf nicht-vorsätzliche Verfassungs- und Gesetzesverletzungen (Art. IX.). s. dazu K. Brater, in: Dollmann (Hg.), BayGesetzgebung II/1, 1855, S. 1 (3). 571 Sie wurden erst 1850 geschaffen. Zum Staatsgerichtshofsgesetz vom 30. März 1850 s. 4. Teil 2. Kap. C. 570

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

5. Zwischenergebnis Das bayerische Staats- und Parlamentsrecht fiel im Vergleich mit den Regelungen anderer konstitutioneller Bundesstaaten nicht aus dem Rahmen; ungeachtet aller landständischen Befugnisse blieben den Kammern Selbstinformationsrechte versagt. Nichts anderes gilt im Vormärz auch für das Interpellationsrecht als Informations- und Kontrollinstrument.572 Lediglich, „[u]m die Vorlage grundloser Beschwerden zu vermeiden“, konnten die Landstände „durch den (Kammer-)Präsidenten von den einschlägigen Staatsministerien die erforderlichen Aufschlüsse […] erholen“.573 Wie andere Landesvertretungen auch blieben die bayerischen Kammern in Frühkonstitutionalismus und Vormärz auf die ihnen von der Regierung überlassenen Informationen angewiesen. Allein auf dem Sektor der Staatsfinanzen bestanden weitergehende Befugnisse. Für die allgemeine Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung sind sie nicht weiter von Interesse. Von einer Frühform eines allgemeinen Selbstinformationsrechts konnte demgegenüber offensichtlich keine Rede sein.

C. Weitere Beispiele der regierungsvermittelten Information der Landstände Dem in Sachsen-Weimar-Eisenach, Kurhessen, Hohenzollern-Sigmaringen, Baden, Württemberg und Bayern verbreiteten Modell, der Volksvertretung be­ stenfalls interpellationsartige Befugnisse einzuräumen, ohne ihnen schon das­ abstrakte Interpellationsrecht voll zuzugestehen, und in der Regel auf ihre landesherrliche Unterrichtung zu setzen, folgten grosso modo auch die übrigen Staaten des Deutschen Bundes. So sahen die §§ 123, 124 Sächs­Verf­Urk 1831 die Vorberatung der königlichen Propositionen und anderer Beratungsgegenstände in Deputationen vor, denen gemäß § 125 Sächs­Verf­Urk 1831 auf ihren Antrag „durch Königliche Commissarien die nöthigen Erläuterungen“ gegeben werden sollten. Im Gegenzug waren diese Ausschüsse verpflichtet, die Landtagskommissare vor der Abgabe ihres Gutachtens zu hören, ihre Stellungnahmen in Erwägung zu ziehen und ggf. zu berück­ sichtigen. Außerdem stellte es § 126 Sächs­ Verf­ Urk  1831 jedem Kammermitglied oder königlichen Kommissar frei, „der Deputation seine Ansicht über den zu berathenden Gegenstand schriftlich vorzulegen“. § 94 CobSaal­Verf  1821 ordnete an, dass die „Mittheilungen [der landesherrlichen…] Anträge […] schriftlich [erfolgten], entweder durch das Landes-Ministerium, oder eine besondere Commission“. Wenn es der „Beförderung“ des Ge-

572

Es wurde erst in Art. 72 ff. GO-Bay­AbgK 1851 verankert. J. Pözl, BayStaatsVerfR, 1847, S. 265.

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2. Kap.: Die landständische Information in den Einzelstaaten 

201

schäftsgangs diente, konnten „wichtige Angelegenheiten durch Mitglieder des Landes-Ministeriums oder besondere Commissionen in der Stände-Versammlung noch besonders mündlich erörtert und erläutert werden“. Allgemein bestimmte Verf  1821, dass die Stände „zur Bearbeitung einzelner Gegen§ 96 CobSaal­ stände  […] einige aus ihrer Mitte durch die Wahl nach relativer Mehrheit der­ Stimmen ernennen“ konnten. Diese Kommissionen konnten „sich mit den Mitgliedern des Ministeriums oder den Landtags-Commissarien […] benehmen, um die erforderlichen Nachrichten zu erhalten, oder um zu einer Ausgleichung etwa abweichender Ansichten zu gelangen“. Es handelte sich um eine Ausnahme von dem Grundsatz des § 84 Abs. 1 CobSaal­Verf 1821, dass „[a]uf den Landtägen […] alle ständischen Angelegenheiten in der Regel von der Gesammtheit der Stände zu­ behandeln“ waren. Das Grundgesetz der landschaftlichen Verfassung des Herzogtums SachsenHildburghausen vom 19. März 1818574 bestimmte, dass der Regent, wenn er „bei Gesetzesvorschlägen oder andern wichtigen Gegenständen mündliche Erleuterungen für zweckdienlich erachtet[e, …] ein Mitglied oder einige Glieder des Geheimraths oder der Regierung zu den Sitzungen des Landtags [abordnen konnte…], welche die Sache nach ihren Beweggründen entwickeln“ sollten. Der „ständischen Abstimmung und Beschlußfassung“ durften sie nicht beiwohnen. In vergleichbarer Weise ordnete § 50 Ls­Verf­Urk­Lip 1819 an, dass „der Landesherr eine Commission [ernennen konnte], die den einzelnen Sitzungen […] beyzuwohnen hat[te]“, „wenn es wegen der Landesherrlichen Propositionen und Regierungs-Anträge mündlicher Entwickelungen und ausführlicher Nachweisungen“ bedurfte. Nach § 9 Abs. 5 Ls­ Verf­Urk­SchwaSo 1830 wurde ein landesfürstlicher Kommissar „zu dem bevorstehenden Landtage“ ernannt, der „dessen Sitzungen beiwohnt[e], sich über [die…] landesherrlichen Propositionen mit den Landständen [beriet…] und zu seiner Zeit das Resultat [dem Fürsten…] zur weitern Entscheidung vorlegt[e].“ Auch § 13 GG  Lds­Verf­Sa­Co­Mei  1824 sah vor, dass „zu den landschaftlichen Sitzungen […] vom Landesherrn 1 bis 2 Commissairen abgeordnet werden“ konnten, die ohne Stimmrecht „Antheil an den Deliberationen nehmen“ sollten. Immerhin bestimmte § 73, dass – ähnlich wie in Sachsen-Weimar-Eisenach – dem landschaftlichen Vorstand zur Vorbereitung der Versammlungen „hinlängliche Zeit vor Eröffnung des Landtags die nöthigen Mittheilungen gemacht werden“ sollten. Ferner stand es diesem aus dem Landmarschall, zwei landschaftlichen Vorstehern und dem Landschafts-Syndicus gebildeten Gremium „frei, in Ansehung der ihm erforderlichen Nachrichten und Aufschlüsse sich unmittelbar an die obersten Landesbehörden zu wenden“. Allgemein kommunizierte der „Landtag […] mit den 574 SlgSaHilEVO II (1826), S. 1. § 3 Abs. 2 über das landschaftliche Recht, „durch Einzelne aus ihrer Mitte, welchen bestimmte Geschäfte übertragen sind, (einen Ausschuß) fortwährend repräsentirt zu werden“, ist anders als J. Platter, Untersuchungsverfahren, 2004, S. 21 f. in Fn. 3 annimmt, kein Vorläufer eines Enquête- und Untersuchungsrechts, sondern eine zeit­ typische Regelung eines permanenten Ausschusses.

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

oberen Landesbehörden durch Anschreiben“; ein direkter Kontakt fand also in der Regel nicht statt. In Sachsen-Altenburg ordnete der „Landesherr […] Kommissarien zu mündlichen Eröffnungen und zur Theilnahme an den Berathungen in die Landstube“ ab, die „so oft gehört werden [mussten], als sie es verlang[t]en.“ Kamen „wesentliche Abänderungen von vorgeschlagenen Gesetzentwürfen und Bewilligungsanträgen in Frage[, waren…] die Erbittung und Zuziehung landesherrlicher Kommissarien Alt  1831). Anscheinend stand dieses Vorgehen unerläßlich“ (§§ 232 ff. GG  Sa­ also grundsätzlich im landesherrlichen Ermessen, während die Stände ggf. zu einem Ersuchen verpflichtet waren. Angesichts dessen liegt es nahe, dass der Landtag allgemein um eine Entsendung herzoglicher Vertreter ersuchen konnte. Auch in Sachsen-Altenburg fand ein vollwertiges Interpellationsrecht erst 1849 seinen Weg in den Verfassungstext.575 Ein möglicherweise weitergehendes Recht, dass ihnen „diejenigen Notizen amtlich mitgetheilt [würden…], deren sie zu ihrer Belehrung und gründlicher Prüfung“ bedurften, sah § 156 LGG Schwa­So 1841 vor, soweit sich die Landstände „in Angelegenheiten, welche im allgemeinen Interesse“ lagen, mit „Vorstellungen, Bitten und Beschwerden in angemessener Form an den Landesherrn“ wendeten. Eine Ausnahme war für „Verhandlungen mit andern Staaten“ vorgesehen, „deren Mittheilung der Beurtheilung der Staatsregierung überlassen“ blieb. Den ständischen Auskunftsrechten korrespondierte nach § 185 LGG SchwaSo 1841 – außer bei Beschwerden oder Anklagen gegen Staatsbeamte – das Recht des Geheimratskollegiums und der landesherrlichen Kommissarien, „den Verhandlungen der Stände beizuwohnen, darin Erklärungen zu geben und ihre Ansichten aus­ einander zu setzen“. Anflüge eines Enquête- und Untersuchungsrechts oder anderer allgemeiner Selbstinformationsmöglichkeiten sind auch in diesen Staaten nicht zu finden. Stattdessen dominierte das Zutritts- und Rederechtsmodell, das den Kammern zwar formlose Nachfragen nach der Art eines freiwilligen Dialogs über einen Beratungsgegenstand ermöglichte, aber keinesfalls mit einem Zitier- oder Inter­ pellationsrecht verwechselt werden darf.

575

Vgl. GSHAltbg 32 (1849), S. 96.

3. Kap.: Die Bedeutung der Zeit von 1815 bis 1848

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3. Kapitel

Die Bedeutung der Zeit von 1815 bis 1848 A. Keine Frühformen eines Enquête- und Untersuchungsrechts Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bietet ein ernüchterndes Bild. Unbeschadet einer gewissen Unsicherheit, dass eine abschließende Antwort erst nach monographischer Aufarbeitung der landständischen Praxis sämtlicher Einzelstaaten möglich sein wird, sprechen die hier ausgewählten Beispiele eine überdeutliche Sprache: Allem Anschein nach existierten in Frühkonstitutionalismus und Vormärz noch keine im Ansatz mit Art. 44 GG vergleichbaren Selbstinformationsrechte der Kammern. So bestätigt sich Karl Salomo Zachariäs pessimistisches Urteil, dass ein Enquêteund Untersuchungsrecht, nach englischem Vorbild verstanden als parlamentarisches Hilfsrecht, „durch eine aus Mitgliedern des Hauses bestehende Kommission Zeugen abhören zu lassen und überhaupt die Nachrichten einzuziehen, welche zur gehörigen Erledigung einer zur Kompetenz des Hauses gehörenden Angelegenheit“ waren, trotz der Vorteile, die diese Einrichtung augenscheinlich bot, „in den Deutschen konstitutionellen Monarchien schwerlich das Bürgerrecht erhalten“ konnte.576

I. Zutritts- und Rederecht An seiner Stelle baute das „gemeine deutsche Staatsrecht“ primär auf das Zutritts- und Rederecht der Regierungskommissare bzw. Minister, das sich in vergleichbarer Form bis heute in Art. 43 Abs. 2 GG gehalten hat. Seine antiquierte Variante passte unter der Ägide der Wiener Schlussakte bestens in den Bauplan der konstitutionellen Monarchie: Neben der von Bundesrechts wegen gebotenen Aufsicht über die Landstände diente das Zutritts- und Rederecht zugleich ihrer Versorgung mit den erforderlichen Kenntnissen, indem die Regierungsvertreter die Propositionen ggf. durch weitere Tatsachenauskünfte etc. in den Kammern erläuterten. Obwohl die Initiative der Versammlung grundsätzlich von der Staatsregierung ausging, gab das Zutritts- und Rederecht den Deputierten wenigstens die Gelegenheit, formlose Nachfragen an die Regierungsvertreter zu richten. Vor diesem Hintergrund galt das Doppelrecht zeitgenössisch als probates Mittel zur erleichterten Kommunikation von Gouvernement und Ständen, zur frühzeitigen Aufklärung von Missverständnissen oder zum Ausgleich von Meinungsverschiedenheiten.577 576

K. S. Zachariä, Vierzig Bücher III2 1839, S. 263; E. Zweig, ZfP 1913, 265 (293). K. S. Zachariä, Vierzig Bücher III2 1839, S. 260 f. mit Überlegungen, dass Minister besser zugleich Kammermitglieder wären. R. v. Mohl, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch IV, 1859, S. 285 befürwortete eine Ministerbeteiligung in den Schlussberatungen von Gesetzentwürfen in den Ausschüssen, „theils zur Vermeidung von Mißverständnissen, theils zur rechtzeitigen Einräumung von Zugeständnissen“.

577

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

Bis heute wird die Funktion des Art.  43 GG in vergleichbarer Weise in einem „staatsleitenden Dialog zwischen Parlament und Regierung“ gesucht; Carl ­Friedrich Nebenius führte schon 1819 analoge Gründe an.578 Solchen augenscheinlichen Ähnlichkeiten zum Trotz darf man keinesfalls die vollkommen verschiedenen staatstheoretischen und verfassungspolitischen Ausgangssituationen verkennen: Steht der Dialog von Bundesregierung und Bundestag heute ganz unter den demokratischen Prämissen des parlamentarischen Systems, in dem die Regierung von der Volksvertretung abhängt und ihr Rechenschaft schuldig ist, war die Anwesenheit der Landtagskommissare im 19. Jahrhundert Ausdruck einer heute unvorstellbaren Präponderanz der monarchischen Exekutive, ja eines Aufsichtsrechts über die Stände.579 Das historische Zutritts- und Rederecht diente keineswegs aus­ schließlich der Erleichterung des Geschäftsverkehrs. Noch viel weniger war es Ausdruck einer parlamentarischen Kontrolle, sondern ein monarchisches Instrument zur Verteidigung der Regierungspolitik, zur Überwachung renitenter Landstände und zur Auseinandersetzung mit der Opposition. Ein förmliches oder mit einer Antwortpflicht bewehrtes Fragerecht war mit der faktischen Fragemöglichkeit deswegen nicht verbunden. Das vollwertige Interpellationsrecht ist – wie das Enquête- und Untersuchungsrecht – ein Kind späterer Tage.

II. Interpellationsartige Instrumente Neben formlosen Fragemöglichkeiten, die nicht mehr als schlichte Anhängsel des Zutritts- und Rederechts waren, gestand das konstitutionelle Staatsrecht den Landständen teils unterschiedliche Möglichkeiten zu, ihrerseits die Initiative zu ergreifen und die Regierung respektive ihre Landtagskommissare um Auskunft oder Unterlagen zu ersuchen.580 Auch diese Instrumente waren keine Frühformen eines Selbstinformationsrechts, sondern fügten sich durch ihr interpellationsartiges Wesen bruchlos in das konstitutionelle Staatsrecht ein. Gegenüber einem Enquête- und Untersuchungsrecht deklassiert diese Rechte ihr reiner oder nahezu unverwässerter Fremdinforma­ tionscharakter.581 Diese Konstruktion spielte nicht bloß den Übermittlungsmodus, sondern auch die Information der Kammern in die Hände der Staatsministerien. 578 s. einerseits S. Magiera, in: Sachs (Hg.), GG7 2014, Art. 43 Rn. 7 (Zitat); M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 43 Rn. 17 je m. w. N. sowie andererseits die Entwurfsbegründung, VerhBad2K 1819/1, S. 50 f. 579 In diesem Sinne begründete der Kurprinz die zweite Auflösung der kurhessischen Landstände u. a. damit, dass die Versammlung durch eine geheime Beratung das „monarchische Prinzip“ und das „Oberaufsichtsrecht“ verletzt habe. Vgl. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. b) cc). 580 s. neben den Verfassungsurkunden Sachsen-Weimar-Eisenachs, Hohenzollern-Sigmaringens und Kurhessens etwa § 30 Ls­Verf­Württ  1815, der freilich nicht wirksam geworden ist, oder § 125 Sächs­Verf­Urk 1831 und § 94 Cob­Saal­Verf 1821. 581 Zum Interpellationsrecht vgl. K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  7 f. oder W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (323 in Fn. 35, 324): zur Ermittlung komplexer Tatsachen zu schwach.

3. Kap.: Die Bedeutung der Zeit von 1815 bis 1848

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Trotz eines Ersuchens stand es in ihrem Ermessen, ob, wann, wie und welche Informationen sie den Landständen überlassen wollten. Die Minis­ter konnten die verlangten Auskünfte vermöge des Zutritts- und Rederechts persönlich, ebenso gut aber auch durch die sonstigen zur Kommunikation mit den Landständen bestimmten Kanäle übermitteln. Eine Verpflichtung, nach dem Klischee eines parlamentarischen Zitierrechts auf Ersuchen der Landstände persönlich in der Kammer zu erscheinen, um in öffentlicher Sitzung Rede und Antwort zu stehen, gab es nicht. Die vermeintlichen Auskunftsansprüche lassen sich deswegen maximal als unvollkommene Verbindlichkeiten deuten; mangels einer in Ansätzen ausgebildeten Verfassungsgerichtsbarkeit fehlten wirkungsvolle Durchsetzungsmechanismen. Als einziges Druckmittel, um diesen Mangel notdürftig zu kompensieren, kam u. U. die öffentliche Meinung in Betracht. In aller Regel dürfte es allerdings bestenfalls ein schwacher Trost gewesen sein, dass eine ministerielle Weigerung, Auskunft zu erteilen, ebenso wie die faktische Nichtbeantwortung peinlicher Fragen dem politischen Ansehen der Regierung schaden konnte. Ein Vergleich der frühen landständischen Auskunftsrechte mit dem späteren Interpellationsrecht ist also schon dadurch gerechtfertigt, dass sie dessen konstruktive Hauptschwäche teilten, indem die Beantwortung einer Frage im Belieben des Befragten stand.582 Eine weitere Parallele besteht in der Mittelbarkeit der Auskunftsrechte, die sich in Anfragen bzw. Ersuchen an die Regierung oder die Landtagskommissare erschöpften. Materiell bedeutete diese Mittelbarkeit sämtlicher Kenntnisse und Informationen, die sich die Kammern mit Hilfe ihres Auskunftsrechts verschaffen konnten, eine schwere Hypothek. Dass Fehlen jeder Möglichkeit ungefilterter Beweiserhebung war nicht nur bei der Regierungskontrolle, sondern auch für eine verantwortungsvolle Gesetzgebung schmerzlich wahrnehmbar. Zu allem Überfluss hatte es die Regierung in der Hand, überhaupt (weitere) Tatsachen zu erheben; eine Weigerung, tätig zu werden, bot Möglichkeiten, missliebige Diskussionen über tatsächliche­ Probleme schon im Vorfeld abzuwürgen. Sachlich-inhaltlich fehlte den teleologisch primär sachbezogenen Auskunftsrechten der universale Charakter eines Enquête- und Untersuchungsrechts; die Beschränkung auf Angelegenheiten, mit denen die Versammlung ohnehin durch landesherrliche Propositionen, Anträge aus ihrer Mitte oder Petitionen und Beschwerden aus der Bevölkerung befasst war, unterschied das Auskunftsrecht von einem „echten“ Interpellationsrecht: Während das Enquête- und Untersuchungsrecht dem Parlament eine umfassende Aufarbeitung beliebiger Sachverhalte erlaubt,583 ermöglicht das Interpellationsrecht wenigstens parlamentarische Anfragen zu jedem beliebigen Gegenstand, der potentiell in die Zuständigkeit der Volksvertretung fällt.584 Freilich versuchte z. B. die kurhessische Ständeversamm 582

Vgl. für das Interpellationsrecht G. Meyer, DtStaatsR5 1899, S. 267 f. Ebenso C. J. A. Mitter­ maier, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon VI3 1862, S. 422; H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 275 f. in Fn. 2. 583 Vgl. 1. Teil C. 584 Zum Interpellationsrecht s. 2. Teil 1. Kap. C. II. 4.

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

lung etwa im Ernennungsstreit, vor allem aber bei dem verzweifelten Bemühen, die „Garde-du-Corps-Nacht“ aufzuarbeiten, sich wenigstens ansatzweise von diesen Fesseln zu befreien, indem sie die Regierung – noch bevor sachliche Forderungen im Raum standen – um Aufklärung ersuchte, um dann ggf. weitere Schritte zu ergreifen. Die Stoßrichtung dieses von Sachanträgen losgelösten Auskunfts­ ersuchens war eindeutig auf eine abstraktere Form der Exekutivkontrolle gerichtet. Letzten Endes scheiterten die Versuche, die §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831 funk­tional näher an das „echte“ Interpellationsrecht heranzurücken, aber am Widerstand der Staatsregierung. Ein weiterer Unterschied der landständischen Auskunftsrechte gegenüber konflikttauglicheren Instrumenten bestand in ihrer Ausgestaltung als Mehrheitsrechte. Waren die Landstände nicht überwiegend oppositionell, versprach diese Konstruktion eine gemäßigte oder regierungsfreundliche Anwendung dieses Mittels. Zugleich entsprach dieser Bauplan dem grundsätzlichen Dualismus der Kammern auf der einen und den monarchischen Regierungen auf der anderen Seite. Die Landstände verfügten also in den ersten Jahrzehnten nach Einsetzen der Kon­ stitutionalisierung keineswegs über vormoderne Selbstinformationsbefugnisse nach dem Muster eines Enquête- und Untersuchungsrechts, sondern allenfalls über unvollkommene interpellationsartige Fremdinformationsansprüche.585 De facto konnten die monarchischen Regierungen so die nahezu unbeschränkte Informationshoheit behaupten. Karl v. Rottecks weitergehende These, dass das Ministerium der Ständeversammlung „nichts verheimlichen [dürfe…], sondern alle zur Darstellung der Lage des Staates und der von den Ständen zu vertretenden Interessen nöthigen Weisungen, Aufklärungen, Aktenstücke, Urkunden u. s. w. auf Verlangen vor[zu]­ legen […] und […] auf ihre Aufforderungen die nöthigen Untersuchungen zu veranstalten“ habe,586 auf die sich das BVerfG 1984 zur Begründung des parlamentarischen Aktenvorlageanspruchs gestützt hat,587 entsprang dem Wunschdenken eines idealen Staatsrechts, nicht der harten Verfassungsrealität. Wie wenig sich mit den damaligen Fragerechten gegenüber einem reaktionären Ministerium ausrichten ließ, zeigten die fruchtlosen Bemühungen der kurhessischen Landstände Anfang der 1830er Jahre.

585 Erstaunlich klar F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  13: „Mögen auch hier und da auf den ersten flüchtigen Blick hin gewisse Redewendungen das Vorliegen von selbständigen Untersuchungsrechten […] vermuten lassen, bei genauerer Untersuchung sind sie doch nur Rechte der Beschwerde und Klageführung oder die Verweisung des Landtages an die Regierung zum Zwecke der Information.“ Gleichwohl qualifiziert er § 91 StGG SWE 1816 als „Recht des Landtages  […], von sich aus Untersuchungen auf dem Gebiete der gesamten Staatstätigkeit vorzunehmen“, und schreibt § 93 Kh­Verf­Urk  1831 das Verdienst zu, „die Idee des parlamentarischen Enquêterechts […] neuerdings zum Ausdruck“ gebracht zu haben (S. 12, 15). 586 K. v. Rotteck, VernunftR II2 1840, S. 256. 587 BVerfGE 67, 100 (129).

3. Kap.: Die Bedeutung der Zeit von 1815 bis 1848

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III. Petitions- und Beschwerderecht Mehr auf die Regierungskontrolle war das Recht der Kammern zugeschnitten, dem Ministerium ggf. Beschwerden und Bittschriften aus der Bevölkerung vorzulegen und um Aufklärung zu bitten. Welchen Stellenwert die Zeitgenossen dieser Spielart des Petitionsrechts beimaßen, sollte sich 1867 in den Norddeutschen Verfassungsberatungen zeigen, als man sie einem parlamentarischen Untersuchungsrecht vorzog.588 Soweit die Regierungen, wie es in Hohenzollern-­ Sigmaringen der Fall gewesen zu sein scheint, verpflichtet waren, Anfragen wegen Beschwerden zu beantworten, rückt das Petitionsrecht funktional in die Nähe des modernen Untersuchungsrechts.589 Dabei büßt es keineswegs den interpellationsartig-mittelbaren Charakter aller damaligen Befugnisse einschließlich ihrer gravierenden Schwächen ein. Damit bleibt der faktische Wert entsprechender Befugnisse ein Stück weit offen. Zur Konfrontation mit der Regierung waren sie jedenfalls denkbar ungeeignet: Einerseits konnten die Landstände keine eigenen Untersuchungen veranstalten; als vermeintlicher Einbruch in die monarchische Exekutive war ihnen nicht einmal der unmittelbare Kontakt mit dem Betroffenen erlaubt.590 Damit fehlte die Drohung, die gewünschten Informationen ggf. selbst zu beschaffen. Andererseits bestanden für die schwächlichen Auskunftsrechte keine wirkungsvollen Durchsetzungsmöglichkeiten nach dem Muster einer funktionstüchtigen Verfassungsgerichtsbarkeit. Ohne jedes Druckmittel blieben die Kammern ganz vom Entgegenkommen der Staatsregierungen abhängig.

IV. Weitergehende Befugnisse und Staatsfinanzen Weitergehende Informationsmöglichkeiten existierten häufig auf dem Feld der Staatsfinanzen. Für die Entwicklung des allgemeinen Enquête- und Untersu­ chungs­rechts, das zur Vorbereitung sämtlicher parlamentarischer Aufgaben einschließlich der Regierungskontrolle dient,591 sind sie bestenfalls am Rande von Interesse. Schließlich ging es bei den finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzen der Kammern um ihren primären Daseinsgrund. Es war geradezu eine Notwendigkeit, den Ständen über den pekuniären Anteil, den das durch sie repräsentierte Land zur Deckung der monarchischen Staatsausgaben beisteuern sollte, erweiterte Kontroll- und Aufsichtsrechte einzuräumen. Diese Befugnisse können weder ein Vorbild für ein allgemeines Selbstinformationsrecht noch seine Keimzelle sein. 588

Zu den norddeutschen Verfassungsberatungen s. 6. Teil 2. Kap. A. I. Vgl. A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 12 f. 590 In diesem Sinne ordnete § 67 Abs. 2 Bad­Verf­Urk 1818 an, dass „Beschwerden einzelner Staatsbürger […] von den Kammern nicht anders als schriftlich […] angenommen werden“ konnten, und § 169 Württ­Verf­Urk 1819 bestimmte, dass die Ständeversammlung keine Deputationen „annehmen“ durfte. Gemäß § 127 Abs. 1 LVerfG Ha 1840 wurde dem Petenten das Ergebnis durch Protokollauszug eröffnet. 591 s. 1. Teil C. 589

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

V. Keine Selbstinformationsrechte Während die Ständeversammlungen zur Regierungskontrolle bloß auf allgemein­ kundige oder veröffentliche Tatsachen zurückgreifen konnten, ansonsten aber auf die Absurdität von Auskunftsersuchen gegenüber der Regierung angewiesen waren, standen ihnen in der Gesetzesvorbereitung oder für andere Sachaufgaben wenigstens die Kenntnisse und Erfahrungen ihrer Mitglieder zur Verfügung. Sie profitierten davon, dass die Landstände anders als moderne Abgeordnete noch keine Berufspolitiker waren, sondern jahrzehntelange berufliche Erfahrungen aus den unterschiedlichsten Professionen mit in ihre parlamentarische Arbeit brachten. Entsprechend qualifizierte Kammermitglieder wurden bevorzugt in die Vorberatungskommissionen gewählt.592 Verbreitet stand diesen Kommissionen das er­gänzende Recht zu, weitere sachverständige Landstände zu ihren Beratungen hinzuzuziehen.593 Einem Selbstinformationsrecht kamen diese informellen Möglichkeiten nicht einmal nahe. Die Informationsmöglichkeiten jenseits dieses landständischen „Humankapitals“ waren durch Mittelbarkeit und unbedingte gouvernementale Dominanz geprägt. In dieses Raster fügen sich auch die vermeintlichen Frühformen eines Enquête- und Untersuchungsrechts in Kurhessen, Hohenzollern-Sigmaringen oder Sachsen-Weimar-Eisenach nahtlos ein: Die §§ 92, 93 KhVerf­Urk 1831 beschränkten sich ausdrücklich auf Auskunftsersuchen an die landesherrlichen Kommissare. Nicht besser war es um die Landstände in Hohenzollern-Sigmaringen bestellt, deren Ausschüsse sich gemäß § 147 Abs. 2 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 bloß „mit der Landtagskommission in schriftliches oder mündliches Benehmen […] sezen“ durften. Nichts anderes galt wegen der allgemeinen Regel des § 71 Verf­Urk ­Ho­Si 1833, dass „Mittheilungen zwischen der Ständeversammlung und der Regierung“ ausschließlich „durch die oberste Landesbehörde, oder deren Commissäre“ erfolgten, für das Recht, über „Mängel und Mißbräuche“ die erforderlichen „aktenmäßigen Aufschlüsse“ zu verlangen (§ 70 Abs. 1 Verf­Urk ­Ho­Si 1833). Selbst der seiner Zeit vermeintlich so weit vorausgeeilte594 § 91 StGG SWE 1816 hat über einen in der Retrospektive missverständlichen Wortlaut hinaus nichts mit einem Enquête- und Untersuchungsrecht gemein. In der Sache erschöpfte sich der überschätzte Paragraph in verfahrenstechnischen Details des Kommissionsverfahrens, das als Durchbrechung des Prinzips landständischer Gesamtrepräsentation gesetzlicher Grundlage bedurfte. Die irrige Annahme, Sachsen-Weimar-Eisenach habe kurz vor den restriktiven Beschlüssen von 1820 noch ein Enquête- und Untersuchungsrecht geschaffen, dürfte wie so­ Vieles auf Egon Zweigs Aufsatz von 1913 zurückgehen. Echte informationsrechtliche Anklänge wie der Aktenvorlageanspruch gemäß § 70 Abs. 1 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 blieben singulär. Selbst wenn den Kammern ent 592 Vgl. Carl Friedrich Nebenius, VerhBad2K 1819/1, S. 53; C. J. A. Mittermaier, in: Rotteck/ Welcker (Hg.), Staatslexikon VI3 1862, S.  419 sowie zur richtigen Besetzung von „Gesetzgebungscommission[en]“ R. v. Mohl, StaatsR, VölkerR, Pol. II/1, 1862, S. 498 ff. 593 s. etwa für Kurhessen F. Murhard, KhVerUrk II, 1835, S. 418 f. 594 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (273).

3. Kap.: Die Bedeutung der Zeit von 1815 bis 1848

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sprechende Befugnisse auf dem Papier zustanden, war die Mitwirkung der Staatsministerien alles andere als selbstverständlich. Von Rechts wegen stand es letzten Endes im Ermessen der ersuchten Stelle, wie sie auf ein Ersuchen reagierte.595 Indem eine Verfassungsgerichtsbarkeit fehlte, die mit Rationalisierung und Juridi­ fizierung zu einer Mäßigung hätte beitragen können, blieben sämtliche Rechte und Befugnisse der Kammern letztendlich ohnehin dem freien Spiel der politischen Kräfte überlassen. Dass die Ministeranklage nicht als Ersatz für ein Organstreitverfahren taugt, beweist die kurhessische Geschichte.

B. Hindernisse für ein Enquête- und Untersuchungsrecht So überraschend das Ergebnis, dass es keine Selbstinformationsrechte nach dem Muster eines Enquête- und Untersuchungsrechts gegeben hat, auf den ersten Blick auch scheinen mag, so zwangsläufig ist dieser Befund bei genauerer Betrachtung. An erster Stelle war die Strahlkraft des „monarchischen Prinzips“, dessen Geist, obgleich erst in der Wiener Schlussakte festgeschrieben, doch schon das Staatsgrundgesetz von Sachsen-Weimar-Eisenach beherrschte, offensichtlich noch zu stark, als dass die Anerkennung eines landständischen Selbstinformationsrechts in Frage gekommen wäre. Die verbreitete Annahme, dass der Landesvertretung selbständige Informationsrechte überhaupt nicht zustehen könnten, wurzelte im Boden des „monarchischen Prinzips“. Nach einer verbreiteten Überzeugung durften die Landstände selbst dort, wo entsprechende Schranken nicht ausdrücklich existierten, „nur mit dem Ministerium und den Regierungs-Commissären in Geschäftsverbindung“ stehen (Heinrich Zoepfl). Keinesfalls verfügten sie über das Recht, „mit irgend anderen Behörden sich in unmittelbare Verbindung zu setzen, soferne nicht die Verfassung für gewisse Fälle eine Ausnahme“ machte.596 Mit der Beschränkung des Verkehrs auf Staatsministerium und Landtagskommission waren selbständige Erhebungen ebenso unmöglich wie Requisitionen nachgeordneter Stellen.597 Auf dieser Linie urteilte Heinrich Albert Zachariä noch 1853, dass die Landstände den Staat „weder in seinen innern noch in seinen äußern Verhältnissen“ repräsentierten und „daher auch kein Recht des unmittelbaren Verkehrs mit dritten Personen“ besitzen könnten; eine „Befehls- und Zwangsgewalt“ gegenüber Dritten stehe ihnen nicht zu.598 Auf dieser Grundlage waren nicht bloß zwangsbewehrte Zeugenver 595

s. für Sachsen-Weimar-Eisenach G. W. Burckhard, HdbVwSWE, 1844, S. 68. H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S.  352. Als Ausnahme erkannte er „selbstverständlich die­ Beziehung der Landstände oder Kammern zum Staatsgerichtshofe in den verfassungsmäßig zugelassenen Fällen der Ministeranklage“ an. s.  ferner F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 14 m. w. N. an Rechtsquellen: „Es ist überhaupt die Regel, daß sich zur Information die Landtage an die Regierung zu wenden haben.“ 597 Vgl. auch J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 31 ff. zu diesem QuasiGewaltenteilungseinwand. 598 H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 578. 596

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

nehmungen und Sachverständigenanhörungen, sondern ebenso jeder direkte Verkehr mit nachgeordneten Stellen passé. Einem politischen Untersuchungsrecht wurden außerdem die Unverletzlichkeit des Fürsten und sein Exekutivprimat zum Verhängnis. In dem durch Karl v. Rotteck fortgeführten Staatsrecht Johann Christoph v. Aretins war noch 1838 zu lesen, dass die Ständeversammlung, soweit ihr das Recht zukomme, „zu untersuchen, wie die von ihr gegebenen Gesetze vollzogen“ würden, sich, „von welcher Art diese Untersuchung auch sey“, „nicht anmaßen [dürfe], die Person und die Handlungsweise Dessen, welcher vollzieht, zu richten“. Andernfalls sei der „Staat keine Monarchie, sondern eine Republik ohne Freiheit“ unter parlamentarischer Diktatur.599 In solchen Äußerungen schwang unverkennbar die Angst mit, dass sich die Volksvertretung nach französischem Schreckbild zum Revolutionskonvent aufwerfen könnte. Überhaupt standen die Zeitgenossen landständischen Befugnissen nach dem Muster eines im Ausland teils praktizierten Enquête- und Untersuchungsrechts mehrheitlich ablehnend gegenüber.600 Karl v. Rotteck, über den Michael Stolleis urteilt, er habe „besonders früh und besonders klar die Parlamentarisierung des Staatslebens, die Zurückdrängung des monarchischen Prinzips und die Realisierung einer grundrechtlich geschützten Öffentlichkeit gefordert“,601 gestand den Landständen 1840 zwar das diffuse „Recht der Kenntnißnahme von Allem [zu], was im Staate vorgeht oder ist, in so fern solches auf den Zweck des Staates Bezug hat, oder auf die Ausübung oder Richtung einer [ihrer…] Befugnisse von Einfluß seyn kann“, schreckte aber vor einer landständischen „Untersuchungsgewalt“ doch zurück.602 Eine Ursache dieser Ablehnung war das aus dem alten Reichsstaatsrecht603 überkommene monarchische „Oberaufsichtsrecht“, dem auch der liberale Staatsrechtler und Politiker Rotteck die „Untersuchungsgewalt“ ausschließlich zuordnete.604 Solange dieses „jus supremae inspectionis“ zu den e­ xklusiven Majestätsrechten gehörte, war es nur natürlich, konkurrierende landständische Befugnisse als verfassungswidrigen Einbruch in landesherrliche Bastionen zu verteufeln.605 Vereinzelt gab es auch kritische Stimmen gegenüber einem selbständigen „Oberaufsichtsrecht“. 1841 trat Carl Theodor Welcker einer Anerkennung des 599

J. C. v. Aretin/K. v. Rotteck, StaatsR I2 1838, S. 41 f. Eine frühe Ausnahme macht R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 589 in Anm. 27), auf dessen Betreiben ein Enquêterecht in die Geschäftsordnung der Paulskirche aufgenommen wurde. 601 M. Stolleis, GeschÖR II, 1992, S. 161. 602 K. v. Rotteck, VernunftR II2 1840, S. 256. 603 s. dazu W. Kahl, Staatsaufsicht, 2000, S. 41 ff., 45 ff. m. w. N. und wörtlichen Zitaten aus der zeitgenössischen Literatur sowie ferner beispielsweise H. G. Scheidemantel, StaatsR, 1775, S. 57, 81 ff.; J. S. Pütter, Litteratur III, 1783, S. 300. 604 K. v. Rotteck, VernunftR II2 1840, S. 256. 605 Es ist bemerkenswert, dass in der Weimarer Republik Versuche folgten, das Enquête- und Untersuchungsrecht des Art. 34 RVerf 1919 unter Berufung auf ein „Oberaufsichtsrecht“ des Parlaments ausdehnend auszugestalten oder auszulegen. s. W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (293 ff.) und aus den Verfassungsberatungen den Antrag Cohn (USPD), VerhWeimNV, Nr. 391, S. 263, der freilich zusätzlich Weisungsbefugnisse anstrebte. 600

3. Kap.: Die Bedeutung der Zeit von 1815 bis 1848

211

„Recht[s] des Aufmerkens und Zusehens“ als selbständiges „Staatshoheitsrecht“ entgegen, weil es sich zwangsläufig entweder um ein „natür­liches Recht aller Bürger, aller einzelnen und moralischen Personen“ oder um einen „Bestandtheil aller anderen formellen Hoheitsrechte, aller gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Thätigkeit“, handele.606 Mit dieser Überlegung bereitete der süddeutsche Liberale gewissermaßen der Korollartheorie, wenn auch aus monarchisch-exekutiver Sicht, den Weg, die das Enquête- und Untersuchungsrecht als notwendiges logisches Seitenstück der materiellen Volksvertretungs­kompetenzen auffasst.607 Bevor sich diese Sichtweise auf dem Boden von Demokratie, Volkssouveränität und Parlamentarismus allgemein durchsetzen konnte, wurde aus dem „monarchischen Prinzip“ ein sonderbarer „Pseudo-Gewaltenteilungseinwand“ gegen landständische Enquête- und Untersuchungsbefugnisse deduziert, dem nicht Montesquieus Gedanken,608 sondern der mit Art. 57 WSA 1820 verordnete monarchische Gewaltenmonismus zugrunde lag. Auf dieser Grundlage mussten sämtliche Befugnisse der Kammern ausdrücklich in der Verfassung nachzuweisen sein, während zugunsten des Monarchen eine Kompetenzvermutung eingriff.609 Dieses zu Beginn des Konstitutionalismus etablierte Denkmodell belastete die enquête- und untersuchungsrechtliche Entwicklung noch Jahrzehnte. Es wurde durch Bedenken im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Justiz zunächst flankiert und später teils verdrängt, die – das kurhessische Beispiel zeigte es früh610 – dem parlamentarischen Wissenshunger entgegengehalten wurde.

606

C. T. Welcker, in: Rotteck/ders. (Hg.), Staatslexikon X1 1841, S. 714. s. nur P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 2 ff. m. w. N. 608 Zur Antinomie von „monarchischem Prinzip“ und „Theilung der Gewalt mit Beschränkung des Königs auf die Vollziehung“ F. J. Stahl, Staatslehre3 1856, S. 373 f.: „denn die Souveränetät des Königs schließt die Volkssouveränetät und […] die Theilung der Gewalt aus“. Freilich ist das „monarchische Prinzip“ auch mit dem „parlamentarische[n] Prinzip“ unvereinbar, d. h. mit der „überwiegende[n] Stellung des Parlaments gegenüber dem Könige“. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts erklärte M. v. Seydel, BayStaatsR, 1903, S. 71 im Zusammenhang mit dem „Recht der Behördeneinrichtung“, dass die „bayerische Verfassungsurkunde von einer Teilung der Gewalten nichts“ wisse. 609 Vgl. E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 2006, S.  278. Dementsprechend führt M. v. Seydel, BayStaatsR, 1903, S. 50 f. aus: „Der Landtag ist kein ‚Staatsorgan‘ neben dem Könige, sondern unter dem Könige. Er verhandelt mit dem Könige nicht auf dem Fuße einer gleichberechtigten Partei, […] sondern er erfüllt staatsrechtliche Obliegenheiten in dem Maße und in der Weise, wie sie die vom Könige ausgehende Rechtsordnung ihm übertragen hat.“ Der Landtag tritt „nur in bezug auf die Ausübung der Staatsgewalt durch den König beschränkend oder anregend hinzu. Aber auch dies nicht allgemein, sondern lediglich soweit, als Verfassung oder Gesetz ihn hierzu berufen. Die Kammern, sagt die Verfassung […], können nur über jene Gegenstände in Beratung treten, die in ihren Wirkungskreis gehören. Der Landtag hat also nirgends eine Vermutung der Zuständigkeit für sich, sondern muß seine Zuständigkeit durch eine Rechtsvorschrift dartun können. Das Umgekehrte gilt für den König. Der König ist in Ausübung der Staatsgewalt unbeschränkt, soweit nicht ein beschränkender Rechtssatz nachzuweisen ist.“ 610 s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. bb) zu Aufklärungsversuchen nach der „Garde-du-Corps-Nacht“. 607

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2. Teil: Frühkonstitutionalismus und Vormärz

C. Der Beitrag für die weitere Entwicklung Trotzdem trägt diese frühe Phase deutscher Verfassungsstaatlichkeit ihr Scherflein zu der Genese des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts bei. In erster Linie wurden nach 1815 die wesentlichen Grundlagen für die spätere Entwicklung gelegt. Das gilt einmal für den Verfassungsstaatsgedanken, dessen Siegeszug mit Art. 13 DBA 1815 Fahrt aufnahm, durch die reaktionäre Bundespolitik nach 1819 zunächst eingebremst, dann aber von der französischen Juli­revolution kräftiger als zuvor doch wieder angeschoben wurde. Das landständisch-repräsentative Modell löste – von wenigen Ausnahmen abgesehen – noch vor der Revolution von 1848/49 die absolute Monarchie ab. Zu dieser Entwicklung gehörten einerseits weitgehende Mitwirkungsrechte der Ständeversammlungen gegenüber den legislatorischen und finanziellen Staats­aufgaben. Andererseits kristallisierte sich in vielfältigen Be­schwer­de-, Petitions- und Anklagerechten ihre Rolle als „Hüter der Verfassung“ heraus. Unter der Herrschaft der neuen Repräsentativ­ verfassungen konnte sich erstmals eine ihrem innersten Wesen nach parlamenta­ rische Beratungs- und Streitkultur herausbilden. Obgleich das Wahlrecht mit kräftigen altlandständischen Anleihen, Zensuselementen etc. oder mancherorts auch massiven Wahlmanipulationen für gouvernementale Mehrheiten sorgen sollte, entwickelte sich eine parlamentarische Opposition gewählter Mandatsträger. Eine solche Entwicklung war in absolutistischen Zeiten ebenso wie in der altlandständischen Phase mit ihren instruierten Standes- und Interessenvertretern undenkbar. Addiert man beide Entwicklungen, kommen notwendigerweise Informationsbedürfnisse heraus. Das gilt für die Mitwirkung bei der Gesetzgebung oder in Steuer- und Abgabenfragen ebenso wie für die Verfassungsschutz- und Kontroll­ aufgabe der Landstände. Oppositionelles Misstrauen gegenüber dem Gouverne­ ment muss auf beiden Feldern den Wunsch nach eigenständigen Informationsquellen wecken, sei es, um die landesherrlichen Propositionen frei beurteilen oder den Konflikt mit der Regierung aufnehmen zu können. Mit jedem Verantwortungszugewinn der Versammlungen musste dieses Interesse wachsen. Statt diese Bedürfnisse durch gemäßigte Selbstinformationsrechte zu befriedigen, speisten die einzelstaatlichen Verfassungen die Stände in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mit schwachen, interpellationsartigen Auskunftsinstrumenten ab. Die zwangsläufige Folge dieser unbefriedigenden Lage waren politische Spannungen und Konflikte um die landständischen Informationsforderungen, die mangels Verfassungsgerichtsbarkeit oder landständische Selbstinformationsrechte zugunsten der monarchischen Seite ausgehen mussten. Nicht nur Individuen werden aus Fehlern klug, lernen aus bestehenden Mängeln, sondern ebenso Staatsrechtslehre und Volksvertretungen. Die schlechten Erfahrungen mit dem konstitutionellen System regierungsvermittelter Kenntnisse mussten insbesondere unter dem Eindruck teils missverständlicher ausländischer Vorbilder wie England oder Belgien zu einer Transition der bisherigen einzelfallbezogenen Auskunftsforderungen zu landständischen Selbstinformationsrechten

3. Kap.: Die Bedeutung der Zeit von 1815 bis 1848

213

führen.611 Es bedurfte lediglich eines revolutionären Funkens, um das bisherige Regime aus hoheitlichen Mitteilungen und Auskünften zum Bersten zu bringen. Bis dahin mussten sich die Ständeversammlungen mit den bestehenden Instrumenten und ihren Defiziten arrangieren. Bereits zuvor brachte die modernen Verhältnissen ähnliche politische Grundkonstellation Argumentationsmuster und Lösungsstrategien hervor, die im Kontext des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts wiederkehren sollten.

D. Fazit Auch ohne das Wirken aller deutschen Ständeversammlungen en détail zu sichten, kann von Ansätzen eines parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts in Frühkonstitutionalismus und Vormärz wohl keine Rede sein. Selbst unterstellt, den Ständeversammlungen hätten entsprechende Befugnisse zugestanden, wäre ihre Bedeutung allenfalls gering gewesen: In der Praxis hätten die Dauer der Sitzungsperioden, die sich bei Unterbrechungen von mehreren Jahren auf wenige zusammenhängende Wochen oder Monate beschränkte,612 gemeinsam mit der „Größe“ der Versammlungen von unter 20 bis hin zu häufig auf zwei Häuser aufgeteilten 150 Abgeordneten613 jedem informationsrechtlichen Eifer ein enges Korsett verpasst. Die Versammlungen verfügten angesichts dieser Eckdaten und der infrastrukturellen Rahmenbedingungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keinesfalls über ausreichende Ressourcen für ausgedehnte Enquêten und Untersuchungen. Immerhin wurden in diesen Jahren die verfassungsrechtlichen Grundlagen der späteren Entwicklung gelegt und die maßgeblichen Interessenkonstellationen vorgeformt. Der Vormärz bestellte so einen fruchtbaren politischen Boden, auf dem die Saat des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts in den Revolutionsjahren 1848/49 gedeihen sollte. Abweichend von der herkömmlichen Annahme, dass die Geschichte des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts durch die drei Daten 1815, 1848 und 1918 geprägt sei und mittlerweile gut 200 Jahre währe, lässt sich der erste Zeitabschnitt deswegen bloß als Vorgeschichte qualifizieren.

611 Als Vorreiter kann R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 589 in Anm. 27) gelten, der das Recht der Kammern forderte, „Private[n] vor sich zu fordern, um sie über gewisse Gegenstände, gleichsam als Zeugen, zu vernehmen.“ 612 Vgl. H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 643 f. m. w. N. in Fn. 1. 613 Vgl. die Aufstellung bei B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, S. 79 ff.

3. Teil

Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 „Man darf aber nicht vergessen, daß in einer Uebergangsperiode, in welcher alle Verhältnisse erschüttert […] sind, ein scheues und zaghaftes Anklammern an gebrechliche Formen gefährlicher ist, als ein kühnes, thatkräftiges Eingreifen ins Leben, und daß eine aus der Volkswahl hervorgegangene […] Versammlung sich nicht theilnahmslos hinter das Außenwerk einer vermeintlichen Unzuständigkeit verbergen darf“. Carl Fuchs am 17. Juni 18481

1. Kapitel

Die Frankfurter Nationalversammlung Die Revolutionsjahre 1848 und 1849 brachten in der Frankfurter Paulskirche neben dem ersten Versuch, einen deutschen Bundesstaat zu gründen, die ersten Kapitel der Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte hervor. Das gilt für die Entstehung des § 99 RVerf 1849 ebenso wie für die bislang weitgehend vernachlässigte Praxis der Frankfurter Nationalversammlung. In ihren Ausschüssen vollzog sich eine informationsrechtliche Zeitenwende, deren revolutionäre Grundlagen das einleitende Zitat von Carl Fuchs aus den Debatten über die Untersuchung der Mannheimer Einquartierungslasten auf den Punkt bringt.

A. Entstehung und Bedeutung des § 99 RVerf 1849 I. Prolog: Grundzüge der Frankfurter Reichsverfassung Im Allgemeinen löste die Paulskirchenversammlung ihre Herkulesaufgabe, gleichzeitig den Nationalstaat zu errichten und ihm eine Verfassung zu geben, durch die Synthese alter und neuer Prinzipien. An der Spitze des Bundes­staates sollte nach konstitutionellem Grundmuster ein unverantwortlicher und unverletz 1 s. den Bericht des Petitions- und Prioritäts-Ausschusses über die Beschwerde der Stadt Mannheim über die drückende Einquartirungslast, bei Wigard, VerhFNV, S. 336 f.

1. Kap.: Die Frankfurter Nationalversammlung

215

licher Monarch stehen. Die Regierungshandlungen des Kaisers hätten zu ihrer Wirksamkeit der Gegenzeichnung durch verantwortliche Minister bedurft, über deren Ernennung und Entlassung er allein und ohne Mitwirkung der Volksvertretung entscheiden sollte (vgl. §§ 73 f. RVerf 1849).2 Wie nach gemeinem deutschem Staatsrecht wurde die völkerrechtliche Vertretung durch die Reichsverfassung dem Monarchen überlassen; eine parlamentarische Mitwirkung war bloß in einzelnen Fällen vorgesehen (vgl. §§ 75 ff., 102 RVerf  1849). Auch sollte der Kaiser über die ausführende Gewalt verfügen. Vom Deutschen Bund sollte das Reichsoberhaupt wohl die „Wahrung des Reichsfriedens“ als Aufgabe erben (§§ 54 ff., 82 f. RVerf 1849). Die Grundsätze der Reichsexekution und Reichsintervention sowie der Einsatz der bewaffneten Macht im Innern waren Reichsgesetzen vorbehalten (§§ 55 f. RVerf 1849). Der Reichstag sollte aus zwei Häusern bestehen. Während vorgesehen war, die Mitglieder des Staatenhauses je zur Hälfte durch die Landtage wählen und von den Regierungen ernennen zu lassen (§§ 86 ff. RVerf 1849), sollte das Volkshaus aus den demokratisch3 gewählten „Abgeordnete[n] des deutschen Volkes“ gebildet werden (§§ 93 f. RVerf 1849). Für beide Häuser bekannte sich § 96 RVerf 1849 zum freien Mandat. Eine formelle Stärkung des Parlaments zeigte sich in den §§ 110, 112, 116 RVerf 1849, die jedem Haus die Legitimationsprüfungen, die Wahl des Präsidiums und die Geschäftsordnung überließen. Das Recht und die Pflicht zur jährlichen Einberufung des Reichstags hätten ebenso wie seine Schließung und – bei mehr als 14-tägiger Unterbrechung mit parlamentarischer Zustimmung – seine Vertagung dem Kaiser zugestanden. Für den Fall einer Auflösung des Volkshauses war vorgesehen, dass der Reichstag binnen drei Monaten wieder versammelt werden musste (§§ 79, 104 ff. RVerf 1849). Das Staatenhaus wurde bis dahin gemäß § 107 RVerf 1849 vertagt. Der Mitwirkung des Parlaments sollten gemäß § 102 RVerf 1849 Erlass, Änderung und authentische Interpretation der Gesetze, der Reichshaushalt, Anleihen, Matrikularbeiträge, Steuern, unvorhergesehene Ausgaben sowie verschiedene völkerrechtliche und andere Materien unterliegen. § 99 RVerf 1849 sah für jedes Haus das „Recht des Gesetzesvorschlages, der Beschwerde, der Adresse und der Erhe­ bung von Thatsachen, sowie der Anklage der Minister“ vor. Der Erlass der zur Vollziehung der Reichsgesetze erforderlichen Verordnungen sollte dem Kaiser zustehen (§ 80 Satz 3 RVerf 1849). Indem § 102 RVerf 1849 für einen Reichstagsbeschluss die „Uebereinstimmung beider Häuser“ verlangte (§ 100 RVerf 1849), hätte sowohl dem Volks- als auch dem 2 Zu den Regelungen und den Diskussionen über die Verantwortlichkeit der Exekutive s. K. Stein, Verantwortlichkeit, 2009, S. 235 ff. 3 Das revolutionäre Wahlgesetz vom 12. April 1849, das ein aktives Mehrheitswahlrecht der über 25-Jährigen vorsah, hatte die Linke buchstäblich im letzten Moment durchgesetzt. Vgl. H.-W. Hahn, HdbDtGesch XVIII10 2010, S.  417 (633 f., 636); T. Nipperdey, DtGesch 1800–1866, 1998, S. 654 f.; H. Boldt, VerfGesch II2 1993, S. 154.

216

3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

Staatenhaus ein absolutes Vetorecht zugestanden. Der Kaiser sollte demgegenüber – anders als die konstitutionellen Landesherrn – bloß über ein suspensives Vetorecht verfügen. Verweigerte er seine Zustimmung, kam ein Gesetz trotzdem zustande, wenn der Reichstag den Beschluss „in drei sich unmittelbar folgenden ordentlichen Sitzungsperioden […] unverändert“ wiederholte (§ 101 Abs. 2 Satz 1 RVerf 1849).4 Selbst in Verfassungsänderungsfragen verfügte der Kaiser nicht über ein absolutes Veto.5 Obwohl Rudolf Hübner sogar davon sprach, der Reichstag könne „die volle Gesetzgebungsgewalt in sich“ konzentrieren,6 hat Thomas Nipperdey treffend darauf hingewiesen, dass der Monarch eine Entscheidung im Konfliktfall mit Hilfe seines Auflösungsrechts „zwei bis drei Jahre“ hinausschieben konnte.7 Berücksichtigt man außerdem die Regel des § 101 Abs. 2 Satz 2 RVerf 1849, dass eine „ordentliche Sitzungsperiode, welche nicht wenigstens vier Wochen dauert[e, …] nicht mitgezählt“ werden sollte, hätte sich jede Streitfrage – eine hemmungslos positivistische Verfassungsauslegung unterstellt – auf die „griechischen Kalenden“ vertagen lassen. Trotzdem musste schon die theoretische Möglichkeit, dass sich der Reichstag auf dem Feld der Gesetzgebung auf lange Sicht (!) gegen den Kaiser durch­ setzen könnte, konservativen Kreisen als unverzeihlicher Frevel wider das „monarchische Prinzip“ erscheinen.8 In informationsrechtlicher Hinsicht sah die Frankfurter Reichsverfassung – wie in den Bundesstaaten üblich – ein Zutritts- und Rederecht der Reichsminister vor (§ 121 RVerf 1849). Eine Novität war das Zitierrecht des Reichstags; gemäß § 122 RVerf 1849 sollten die Minister „auf Verlangen jedes der Häuser […] erscheinen und Auskunft […] ertheilen“ oder wenigstens den Grund ihrer Weigerung angeben. Obwohl diese Verpflichtung deutlich mit vorherigen Prinzipien brach, hätte es an robusten Durchsetzungsmechanismen dieses Zitier- und Interpellationsrecht gefehlt. Schließlich stand ein Organstreitverfahren gemäß § 126 lit. b) RVerf 1849 unter dem Vorbehalt, dass beide „Theile sich vereinig[t]en, die Entscheidung des Reichsgerichts einzuholen“. Die eigentliche informationsrechtliche Revolution war zudem § 99 RVerf 1849, indem er beiden Häusern des Reichstages das „Recht […] der Erhebung von Thatsachen“ zusprach. 4

Zum suspensiven Veto s. R. Hübner, in: HdbDtStR I, 1930, S. 31, 43, 44; M. Kotulla, VerfGesch, 2007, Rn. 1738; W. Frotscher/B. Pieroth, VerfGesch13 2014, Rn. 339; H. Boldt, VerfGesch II2 1993, S. 154 f.; H.-W. Hahn, HdbDtGesch XVIII10 2010, S. 417 (634 f., 636). s. auch T. Nipperdey, DtGesch 1800–1866, 1998, S.  654 mit dem berechtigten Hinweis, dass auch diese Regelung die parlamentarische Macht erheblich beschränkte. 5 Vgl. H. Zoepfl, StaatsR I5 1863, S. 493, der darin eine Sollbruchstelle zwecks „Einführung der Republik auf scheinbar gesetzlichem Wege“ sieht. 6 R. Hübner, in: HdbDtStR I, 1930, S. 31, S. 44. 7 T. Nipperdey, DtGesch 1800–1866, 1998, S. 654. 8 Vgl. H. Boldt, VerfGesch II2 1993, S. 197 f. und S. 154 f. zu der Forderung der Nationalversammlungsrechten, den Kaiser und beide Häuser des Reichstags im Hinblick auf ihre Veto­ position gleichzustellen. Freilich forderten auch Liberale wie Friedrich Dahlmann das absolute Veto, um die Gefahr einer linken Parlamentsdiktatur zu bannen. H.-W. Hahn, HdbDtGesch XVIII10 2010, S. 417 (634 f.).

1. Kap.: Die Frankfurter Nationalversammlung

217

II. Zusammensetzung und Vorarbeiten des Verfassungsausschusses § 99 RVerf 1849 entstand im Verfassungsausschuss, der seine Arbeit am 25. Mai 1848 unter dem Vorsitz des gemäßigten Liberalen und ehemaligen Vertrauensmannes Friedrich Daniel Bassermann aufnahm.9 Zuvor hatte es die Nationalversammlung abgelehnt, ihren Beratungen den Entwurf der 17 Vertrauensmänner, die am 10. März nach Frankfurt berufen worden waren, um „der Bundesversammlung […] zum Behufe der Vorbereitung der Revision der Bundesverfassung mit gutachtlichem Beirathe“ beizustehen,10 oder irgendeinen anderen Vorschlag zugrunde zu legen.11 Der angeschlagene Bundestag hatte wohlweislich auf eine „Proposition“ verzichtet, die doch der konstitutionellen Übung in den Einzelstaaten entsprochen hätte, ja nicht einmal zu dem 17er-Entwurf offiziell Stellung genommen, sondern sich auf einen blassen Glückwunsch an die Nationalversammlung beschränkt.12 Hieß es auch zu Unrecht, die Frankfurter Nationalversammlung sei ein „Professorenparlament“ gewesen13, vielmehr entsprach sie einem Akademiker-, Beamten 9

s. J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 2; G. Beseler, Erlebtes, 1884, S. 62. s. zu den Sitzungen dieses Gremiums zwischen dem 3.  und 25.  April 1848 P. Roth/ H. Merck (Hg.), QuellenSlg I, 1850, Nrn. 56 (S. 209), 59 f. (S. 214 ff.), 65 (S. 235), 67 (S. 246 f.), 69 (S. 251 f.), 73 (S. 263 ff.), 78 f. (S. 283 f.) sowie Nr. 91 (S. 332) mit dem Beschluss, den Entwurf „mit einem erläuternden Vorworte nach vorgängiger Verständigung mit der hohen Bundesversammlung als ein an dieselbe erstattetes Gutachten der Oeffentlichkeit sofort zu übergeben“. Dem Siebzehner-Entwurf zufolge sollten in den erbkaiserlichen, großdeutschen Bundesstaat die bisherigen Bundesglieder einschließlich Österreichs, der preußischen Ost-Provinzen und des Herzogtums Schleswig einbezogen werden. Der mindestens jährlich tagende Reichstag sollte aus einem Oberhaus, das aus den Fürsten, Abgeordneten der Städte sowie auf 12 Jahre gewählten Reichsräten gebildet werden sollte, und einem für die Dauer von sechs Jahren durch das Volk gewählten Unterhaus bestehen. Vorgesehen waren das „Recht des Gesetzvorschlags, der Beschwerde und der Adresse“ sowie der Ministeranklage. Außerdem enthielt der Entwurf „Grundrechte des deutschen Volkes“, die neben Verbürgungen individueller Freiheit objektivverfassungsrechtliche Garantien einer Volksvertretung, der Ministerverantwortlichkeit, freien Gemeindeverfassung mit Selbstverwaltung sowie der richterlichen Unabhängigkeit umfassten. s. zum Ganzen den Entwurf des deutschen Reichsgrundgesetzes, Der hohen Bundesversammlung als Gutachten der siebenzehn Männer des öffentlichen Vertrauens überreicht am 26. April 1848, S. 10 bis 23 und zusammenfassend E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 768 f. 11 Vgl. W. Siemann, Revolution, 1985, S. 135. 12 Vgl. H. Blum, Revolution, 1898, S. 261 f. mit Kritik an dem „völlige[n] Mangel an Regierungsvorlagen“, der sich in einer Verzögerung der Arbeiten „unangenehm fühlbar“ gemacht habe. 13 Während der ehemalige Reichshandelsminister A. Duckwitz, Denkwürdigkeiten, 1877, S. 82 f. lediglich davon sprach, die „große Mehrzahl [habe…] aus Gelehrten, Professoren, die mehr oder minder in ihren Fächern berühmte Namen trugen, außerdem aus mehreren reichen Fabrikanten, verschiedenen Kaufleuten, vielen Adligen und Ministern fast sämmtlicher süddeutschen Staaten“ bestanden, klagte P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 53, dass das Scheitern der Paulskirchenversammlung am „öden Doctrinarismus“ „erklärlich [werde], wenn man sich vergegenwärtigt, daß in dem Frankfurter Parlamente 118 Professoren saßen!“ Dagegen lässt sich R. v. Mohls, DtVjS 1850/2, 1 (13) Erwiderung auf die pejorative Bezeichnung als „Professorenconvent“, „daß Begabung und Wissen kein Ausschlußgrund seyn können bei schwerer Aufgabe“, wenig entgegensetzen. Zur Berufsstruktur s. W. Siemann, Revolution, 1985, S. 125 ff. 10

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

und Juristenkonvent,14 kam diese Charakterisierung dem Verfassungsausschuss schon deutlich näher:15 In seiner „Geschichte des Deutschen Verfassungswerks“ berichtet der konstitutionell-liberale Abgeordnete Karl Heinrich Jürgens, dass das „Professorentum“ durch zwölf der 30 Ausschussmitglieder sowie einen „kaum gewesenen Professor (Welcker) und einen Professor der Stenographie, Wigard“, vertreten gewesen sei. „An der Spitze [hätten…] Dahlmann und Beseler [gestanden], denen man auch noch Droysen und Waitz […] als die Haupturheber des nachmaligen Verfassungsentwurfs“ hinzuzählen könne.16 Besonders stark war die Gruppe der Rechtswissenschaftler, unter ihnen der badische Liberale Carl Theodor Welcker, der seine Amtsstellung gleich mehrfach wegen seiner Tätigkeit in der Zweiten Kammer eingebüßt hatte, oder der Greifswalder Georg Beseler, der laut Robert v. Mohl den „üble[n] Auftrag“, „Namens des Verfassungsausschusses die Verhandlung über den einen großen Theil des Verfassungsparagraphen einzuleiten und zusammenzufassen“, „mehr […] in gewissenhaften Berichten als in politischen­ Reden“ erfüllen sollte.17 Weitere Vertreter dieser Zunft waren der Bonner Professor für Privat- und Lehnsrecht sowie Rechtsgeschichte Peter Franz Deiters oder der Heidelberger Straf- und Prozessrechtler und Präsident der badischen Zweiten Kammer Carl Josef Anton Mittermaier, der 1838 im Staatslexikon einen einflussreichen Beitrag über die landständische Geschäftsordnung publiziert hatte.18 Ein prominentes Mitglied war Mittermaiers erst 1847 nach Heidelberg berufener Fakultätskollege, der Staatswissenschaftler und spätere Reichsjustizminister Robert v. Mohl, auf dessen Betreiben das Enquête- und Untersuchungsrecht in die Geschäftsordnung aufgenommen wurde. Dem Anfang der 1830er Jahre ins Brüsseler Exil geflohenen Heinrich Ahrens kommt dagegen das Verdienst zu, das entsprechende Recht des Reichstags im Verfassungsausschuss angeregt zu haben. Rechnet man zu den Rechtswissenschaftlern noch die Ausschussmitglieder hinzu, die eine rechtswissenschaftliche Aus- oder Vorbildung genossen hatten, ergibt sich ein Juristenanteil von beinahe 80 v. H.19 Angesichts dieser Zusammensetzung darf man eine gewisse Qualität der Verfassungsberatungen erwarten. Mit dem ehemaligen Wortführer der Göttinger Sieben und Bonner Professor der Deutschen Geschichte und Staatswissenschaften Friedrich Dahlmann, dem K ­ ieler Historiker Johann Gustav Droysen, Max v. Gagern und Friedrich Daniel Bassermann waren auch vier der 17 Vertrauensmänner im Verfassungsausschuss vertreten.20 Unter den übrigen Mitgliedern befanden sich politische Persönlichkeiten wie Heinrich v. Gagern, der das Amt des großherzoglich hessischen Ministerprä 14

Ausführlich zu den Berufsgruppen M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 160 ff. s. das Verzeichnis der Mitglieder des Verfassungsausschusses bei J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 361 ff. 16 C. Jürgens, Geschichte I, 1856, S. 182. s. auch G. Beseler, Erlebtes, 1884, S. 62 und ferner W. Siemann, FNV, 1976, S. 256 zum Einfluss Beselers und Dahlmanns. 17 R. v. Mohl, DtVjS 1850/2, 1 (21). 18 C. J. A. Mittermaier, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon VI1 1838, S. 613 bis 629. 19 W. Siemann, FNV, 1976, S. 256. 20 W. Nippel, J. G. Droysen, 2008, S. 120. 15

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sidenten mit dem des Präsidenten der Nationalversammlung vertauscht hatte,21 der württembergische Oppositionsführer Friedrich Römer, der als Regierungschef nach seinem Austritt aus der Nationalversammlung das radikalisierte Rumpfparlament zerschlagen sollte, der schlesische Publizist Heinrich Simon, der in den 1840er Jahren im Streit um die richterliche Unabhängigkeit den Justizdienst quittiert hatte und später mit Ludwig v. Rönne ein zehnbändiges Werk über die Verfassung und Verwaltung des Preußischen Staates bearbeitete,22 oder der liberale Advokat und Prokurator am Oberhofgericht Mannheim Alexander v. Soiron, der schon an den Versammlungen von Heppenheim, Heidelberg und Offenburg sowie dem Vorparlament teilgenommen und dem Fünfzigerausschuss präsidiert hatte.23 Andere bekannte Politiker bzw. Aktivisten unterschiedlichster Couleur waren der Leipziger Buchhändler Robert Blum, der in Wien ermordete Märtyrer der demokratischen Linken, oder der ebenfalls links stehende Zentrumspolitiker, Advokat und Publizist Gabriel Rießer sowie der in den Septemberunruhen ermordete Konservative Felix Fürst v. Lichnowsky. Obwohl in seinen Reihen grosso modo sämtliche politischen Richtungen ver­ treten waren, spiegelte der Verfassungsausschuss doch die Stärke der gemäßigten Liberalen überproportional wider.24 Das „Casino“, zu dem sich lediglich ein gutes Fünftel der Abgeordneten bekannte,25 verfügte über 18 der 30 Sitze. Für die Linke bis hin zu den Radikalen waren vier Abgeordnete gewählt worden. Die Konserva­ tiven befanden sich ebenfalls in der Minderheit.26 Gleich zu Beginn entschied der Ausschuss, dem Reichstag einen vollständig neuen Verfassungsentwurf zu unterbreiten.27 Zu diesem Zweck wurden Vorkommis­ 21

G. Beseler, Erlebtes, 1884, S. 59 f. s. dazu die kurze Rechtfertigungsschrift „Mein Austritt aus dem preußischen Staatsdienste“, 1846, die, dem Vorwort S. 3 zufolge, im Wesentlichen in dem Abdruck des zweiten Abschiedsgesuchs vom Dezember 1845 besteht. s. außerdem T. Ormond, Richterwürde, 1994, S. 21. 23 H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 322 f. 24 Zur Zusammensetzung des Parlaments s. W. Siemann, Revolution, 1985, S. 127 ff. 25 Prozentuale Angaben bei W. Siemann, Revolution, 1985, S. 128; D. Willoweit, VerfGesch7 2013, § 31 Rn. 9. 26 Trotzdem urteilte H. Blum, Revolution, 1898, S. 264 nicht zu Unrecht, dass in den Verfassungsausschuss die „hervorragendsten Führer und Köpfe aller Parteien gewählt“ worden seien. Zu seinen Mitgliedern s. J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 361 ff. mit Ein- und Austrittsdaten sowie die Kurzbiographien mit Fraktionsangaben bei H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996. 27 J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 2. Vgl. außerdem L. Häusser, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch VII, 1862, S. 178. Bedauernd äußerte sich R. v. Mohl, DtVjS 1850/2, 1 (7) über das Schicksal des Siebzehner-Entwurfs: „Selbst die von den Regierungen zur Bildung eines sittlichen Dammes gegen die Volkswellen gesendeten Vertrauensmänner zogen ihre Hand vom Bundestage ab. In stiller Sonderung beriethen sie eine Verfassung für das neu zu gründende deutsche Reich. Wollte Gott, es wäre die Einsicht bei dem Reichstage und bei dem deutschen Volke damals schon so weit entwickelt gewesen, daß diese Verfassung mit Einem Beschlusse, ohne Mäkeln und Bessern, mit Fehlern und Lücken, allein in ihrem starken Gedanken der Einheit, hätte angenommen werden können! So war es vergebliche Arbeit; nicht einmal für würdig erachtet, um nur den Be­ra­thungen eines Ausschusses zu Grunde gelegt werden zu können.“ 22

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sionen gebildet, um zu einzelnen Abschnitten Diskussionsgrundlagen zu verfassen.28 Aufgrund der fatalen Fehlentscheidung, als Erstes die Grundrechte festzustellen,29 kamen die Zuständigkeiten und Befugnisse des Reichstages erst am 28.  Oktober 1848 zur Sprache. Während der Vorentwurf kein irgendwie geartetes parlamentarisches Enquête- und Untersuchungsrecht vorsah,30 brachte der gemäßigte Linke und Abgeordnete des 9.  hannoveranischen Wahlbezirks Heinrich­ Ahrens (Westendhall) die Forderung aufs Tableau, „daß beiden Häusern auch noch das droit d’enquête beigelegt werde“.31 Der zu Beginn der 1830er Jahre nach Belgien exilierte Rechtswissenschaftler, der drei Jahre später einen Ruf an die Universität Brüssel erhalten und in der Folgezeit anonym über das belgische Staatsleben an die „Preußische Staatszeitung“ berichtet hatte,32 dürfte mit der Konstitution vom 7. Februar 1831 gut vertraut gewesen sein. So wird Art. 40 Belg­Verf 1831, der möglicherweise nach englischem Muster33 mit den Worten, „chaque Chambre a le droit d’enquête“ bzw. „elke Kamer heeft het recht van onderzoek“, beiden Kammern das Enquête- oder Untersuchungsrecht zusprach, Pate für die Forderung gestanden haben, dem künftigen Reichstag in deutlicher Anlehnung an den Wortlaut dieser Vorschrift ein allgemeines „Recht […] der Untersuchung“ beizulegen.34 Dieser Vorschlag stieß – soweit ersichtlich35 – nicht einmal auf konservativen Widerstand.36 In Johann Gustav Droysens Aufzeichnungen heißt es lakonisch, dass „[b]ei der Abstimmung […] Rießers Antrag [scil. auf Streichung des Adressrechts] einstimmig verworfen; der Antrag von Ahrens angenommen“ wurde.37 Den so ergänzten 28

s. J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 3 zum Entwurf der Volksrechte sowie S. 56 ff. zur Vorbereitung weiterer Vorlagen für den Verfassungsausschuss und C. Jürgens, Geschichte I, 1856, S. 193 mit Kritik an diesem Vorgehen. 29 W. Siemann, Revolution, 1985, S. 135 ff. Zeitgenössische Kritik bei A. Duckwitz, Denkwürdigkeiten, 1877, S. 84, man habe „den Zeitpunkt Mai, Juni, Juli, in welchen die Wucht des Willens der Nation noch hinter der Versammlung [ge]stand[en habe], verstreichen [lassen], ohne eine Verfassung festzustellen, und […] sich mit der Be­ra­thung über die Grundrechte [geplagt], womit denn der günstige Zeitpunkt verloren“ gewesen sei. s. auch S. 87 das Urteil des britischen Gesandten, „daß die Nationalversammlung ihre Zeit mit den Grundrechten und a­ llerlei Nebensachen verthue, statt sich mit der Verfassung zu beschäftigen“. 30 Die ursprüngliche Fassung lautete: „§ 20. Das Recht des Gesetzesvorschlags, der Beschwerde und der Adresse, sowie der Anklage der Minister steht jedem Hause für sich zu.“ Abdruck als Anl. 2 bei R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 688. 31 s. R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 179. 32 Vgl. K. v. Savigny, ADB XLV, 1899, S. 714 f. 33 Dazu J. Gilissen, in: Conze (Hg.), Dt. und belg. VerfGesch, 1967, S. 38, S. 58 f. 34 s. den Abdruck bei Wigard, VerhFNV, S. 3800: „§ 17. Das Recht des Gesetzvorschlags, der Beschwerde, der Adresse und der Untersuchung, sowie der Anklage der Minister, steht jedem Hause für sich zu.“ 35 R. v. Mohl, DtVjS 1850/2, 1 (33) kolportiert, dass sich Johann Gustav Droysen als Schriftführer des Ausschusses zwar nicht auf ein Beschlussprotokoll beschränkte, gleichwohl aber „natürlich nicht Lust [hatte,] den Geschwindschreiber zu machen“. 36 Im Plenum kritisierte der Konservative Felix Fürst v. Lichnowsky die Regel des § 24 GOFNV  1848 als Zeitvergeudung, dass das Plenum den Ausschüssen die Enquête- und Untersuchungsbefugnisse jeweils ausdrücklich beilegen musste (VerhFNV, S. 171). 37 R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 179.

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Entwurf bestätigte der Verfassungsausschuss ohne weitere Behandlung in seiner 103. Sitzung am 23. November 1848.38

III. Erste Lesung Diese dem Wortlaut nach unbestimmte Forderung erläuterte der von Friedrich Dahlmann verfasste Ausschussbericht dahin, dass „das Recht der Untersuchung (droit d’enquête) […] jedem Haus für sich das Recht [verleihe], Zeugen und Sachverständige vorzufordern, zu vernehmen und vernehmen zu lassen, sowie mit Behörden in Verbindung zu treten“.39 Der spätere § 99 RVerf 1849 wurde nach dieser Charakterisierung also schon prima facie den wichtigsten Kriterien eines „echten“ Enquête- und Untersuchungsrechts gerecht.40 In der kurzen Plenarberatung vom 12. Dezember 1848 kam der Antrag Justin v. Lindes, „die Worte: ‚des Gesetzvorschlags und der Untersuchung‘ zu streichen“, anscheinend versehentlich nicht zur Abstimmung. Nach einem Missverständnis zwischen Präsident und Versammlung über das Biedermann’schen Amendement, das Beschwerderecht als Ausdruck „parlamentarischer Ohnmacht“ fallenzulassen, blieb diese Forderung unbehandelt. Dennoch konstatierte Heinrich v. Gagern, dass der Paragraph „in der vom Ausschuß vorgeschlagenen Fassung angenommen und die Anträge der Herren Biedermann und von Linde […] abgelehnt“ wären. Widerspruch regte sich nicht; das Versehen blieb unbemerkt.41

IV. Vorbereitung der zweiten Lesung im Verfassungsausschuss Vor der zweiten Lesung im Reichstag wurde der Entwurf erneut im Verfassungs­ ausschuss beraten. 1. „Untersuchung“ vs. „Erhebung von Thatsachen“ Dabei regten sich am 21. Februar 1849 Bedenken gegen den Begriff der „Untersuchung“. Louis Tellkampf, der mehrere Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt und als Professor der Staatswissenschaften gewirkt hatte,42 betonte, dass die Wortwahl leicht an eine gerichtliche Untersuchung denken lasse. Anlass zu d­ erartigen 38

Vgl. R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 251. Wigard, VerhFNV, S. 3805. 40 s. 1. Teil C. 41 s. die Debatte, Wigard, VerhFNV, S. 4065 ff. (Hervorhebung nur hier) sowie die Übersicht zu Art. V. 17, ders. (Hg.), Inhaltsverzeichnis, 1850, S. 78 f. 42 H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 324. 39

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Missverständnissen gaben sicherlich u. a. auch zeitgenössische Ausgaben der belgischen Verfassung, die  – aufgrund eines Übersetzungsfehlers (?)  – in Art.  40 BelgVerf  1831 von einem „Recht zu gerichtlichen Untersuchungen“ sprachen.43 Während Friedrich Ernst Scheller, Appellationsgerichtspräsident aus Frankfurt an der Oder, anregte, auf die neutralen Termini „Erörterungen“ oder „Ermittlungen“ auszuweichen, geht die Fassung, beiden Häusern des Reichstags die „Erhebung von Tatsachen“ zuzusprechen, auf Georg Waitz zurück.44 Nähere Motive für Vorschlag oder Annahme im Ausschuss bleiben die Protokolle schuldig. Angesichts der vorausgehenden Debatte dürfte der Göttinger Historiker einerseits eine Entschärfung des vermeintlich verfänglichen Wortlauts, andererseits dessen Präzisierung beabsichtigt haben. Ob die ursprüngliche Wortwahl tatsächlich ein terminologischer Fehlgriff war oder aber einer bestimmten Tendenz Ausdruck verleihen sollte, ist nicht sicher. Schließlich hatten etwa die kurhessischen Verfassungskämpfe in den 1830er Jahren gezeigt, wie misslich es war, wenn die Landstände für die Kontrolle der Exekutive auf Auskünfte des Ministeriums angewiesen waren.45 Dass von solchen Vorfällen, die in dieser oder ähnlicher Form auch in anderen Bundesstaaten kaum ausgeblieben sein dürften, in den Protokollen des Verfassungsausschusses keine Rede ist, muss nicht bedeuten, dass entsprechende Erfahrungen tatsächlich keine Rolle spielten. Ebenso gut könnte das Schweigen der Protokolle für das politische Geschick sprechen, mit dem Johann Gustav Droysen die Ausschussberatungen aufgezeichnet hat. Immerhin konnte das Verfassungswerk nur gemeinsam mit den Regierungen gelingen, so dass man unnötige Provokationen besser unterließ. 2. Der Bericht für die zweite Lesung Eine „Reihe von Bemerkungen und Abänderungs-Vorschlägen zu den in erster Lesung bezüglich der Verfassung von der deutschen Nationalversammlung gefaßten Beschlüsse[n]“ der Bevollmächtigten Preußens und 26 weiterer Staaten vom 23. Februar 1849, auf die eine knappe Woche später noch weitere „gemeinschaftliche Zusätze, Erläuterungen oder Anträge“ folgten, veranlassten eine erneute Ausschussberatung. Die Kollektivnoten gaben u. a. der Überzeugung Ausdruck, dass auf „das Recht der […] Untersuchungen verzichtet werden“ könne. Zur Begründung wurde die Sorge aufgefahren, dass es, in „der vorgeschlagenen Allgemein 43 s. die bei E. H. Schröder in Berlin publizierte „Belgische Verfassung, angenommen vom National-Congresse am 25. Februar 1831“, 1848, S. 7 sowie das bei Heinrich Matthes in Leipzig publizierte Pendant „Die belgische Constitution“, 1848, S. 6. Bei K. H. L. Pölitz, EurVerf II2 1833, S. 240 findet sich eine treffendere Übersetzung. 44 R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 535. 45 Insoweit mag Erwähnung verdienen, dass das Mitglied des Verfassungsausschusses Carl Wippermann von 1832–1847 der Kurhessischen Ständeversammlung angehört hatte. s.  dazu H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 362.

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heit verliehen, […] in einem Bundesstaate noch viel größere Anstände mit sich führen [werde], als in einem Einzelstaate, indem daraus die Befugniß einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten abgeleitet werden“ könne.46 Dieses föderale Bedenken, das wenigstens vordergründig dem Schutz der einzelstaatlichen Souveränität diente,47 darüber hinaus sicherlich aber ebenso innere Machtbastionen erhalten sollte, schob der Verfassungsausschuss als durch die frühere Wortwahl („Untersuchung“) veranlasstes Missverständnis beiseite. Weil dieser anstößige Terminus schon dem „genauere[n] Wort“ der Tatsachenerhebung Platz gemacht habe, überging man das vermeintlich irrtümliche Monitum. Während der gemäßigte Liberale Gabriel Rießer der Irrtumsthese widersprach, weil es „allerdings störend für die Regierung [sein könne], wenn man sich von ihr Bericht erbittet usw.“, warf der Rechtswissenschaftler Carl Theodor Welcker (Casino) ein, dass das beanstandete Recht aus der Warte der Regierungen „besonders dadurch [bedenklich sei], daß jedes Haus diese Erhebungen machen […] und damit die­ einzelnen Staaten sehr unangenehm behandeln [könne…]. Er könne jedoch dies Bedenken nicht teilen“. Der linke Zentrumspolitiker und Trierer Advokat-Anwalt Friedrich Josef Zell hob überdies hervor, dass man dieses Recht auch gerade deswegen aufgenommen habe, „weil […] in den einzelnen Staaten die Beamten […] die Reichsgewalt unschicklich behandeln könnten“.48 Mit dem Bericht des Verfassungsausschusses für die zweite Lesung fand das Enquête- und Untersuchungsrecht des § 99 RVerf 1849 seine endgültige Gestalt. Dazu hieß es in den Motiven wörtlich: „Statt des Wortes ‚Untersuchung‘, welches möglicherweise mißverstanden werden konnte, namentlich wenn es neben der Anklage der Minister steht, ist gesetzt: ‚Erhebung von Thatsachen‘. Dieser Ausdruck schien geeignet, um statt des fremden droit d’énquête in der bestimmten technischen Bedeutung angenommen und eingebürgert zu werden.“ Das im Kontext ungewöhnliche Verb mag eine Allegorie auf Karl Salomo Zachariäs Urteil vom Ende der 1830er Jahre gewesen sein, dass ein Enquête- und Untersuchungsrecht „in den Deutschen konstitutionellen Monarchien schwerlich das Bürgerrecht er-

46 s. die Erste Kollektiverklärung der Bevollmächtigten für Preußen und sechs und zwanzig andere deutsche Regierungen, die deutsche Reichsverfassung betreffend d. d. 23ten Februar 1849, in: P. Roth/H. Merck (Hg.), QuellenSlg II, 1852, Nr.  63, S.  299 sowie die Zweite Kollektiv-­ Erklärung des Bevollmächtigten für Preußen und sieben und zwanzig andere deutsche Regierungen, die deutsche Reichsverfassung betreffend, d. d. 1then März 1849, sammt besonderen Bemerkungen des großherzoglich hessischen, großherzoglich oldenburgischen, groß­herzoglich luxemburgischen, fürstlich schwarzburgischen und freistadt-lübeckischen Bevollmächtigten, Nr. 74, S. 342. 47 So sollte wohl die Eigenstaatlichkeit in möglichst großem Umfange weiterhin erhalten werden (vgl. P. Roth/H. Merck (Hg.), QuellenSlg II, 1852, Nr. 63, S. 301). Vgl. auch K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  9: „Bemerkenswert ist, daß Preußen und einige andere Staaten gegen den § 99 heftig Sturm gelaufen waren, da er die Gefahr von Uebergriffen der Zentral­ organisation in die Rechte der Einzelstaaten nahelege: Der erste Einfluß der bundesstaatlichen Natur Deutschlands, die auch heute noch dem Enqueterecht Schwierigkeiten macht.“ 48 R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 602 f.

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halten“ werde.49 In der Ausschussbegründung hieß es weiter: „[D]ie Collectivnote wünscht freilich, daß dieses Recht ganz aufgehoben werde. Dagegen aber wird in den Competenzbestimmungen für die Reichsgewalt überhaupt und in dem rich­ tigen Urtheil des Reichstags besonders die nöthige Sicherung gegeben sein, während man einer großen parlamentarischen Versammlung gewiß das Recht nicht absprechen kann, thatsächliche Erhebungen vorzunehmen, Sachverständige zu hören und auf andere Weise sich über allgemein wichtige Verhältnisse Auskunft zu verschaffen. Es wird hier namentlich an die bedeutenden Leistungen des englischen Unterhauses zu erinnern sein.“50 Diese Gründe unterstrichen nicht bloß das Selbstverständnis der Abgeordneten bzw. die Rolle, die sie der künftigen Volksvertretung und ihrem Enquête- und Untersuchungsrecht zugedachten, sondern antizipierten mit dem limitativen Verweis auf die Reichskompetenzen gewissermaßen Ansätze der auf Egon Zweig zurückgeführten Korollartheorie. Ebenso klang in der Begründung, warum an der umstrittenen Befugnis festzuhalten sei, die nach 1871 erfolgreiche These eines „natür­lichen“ Enquêterechts an. Im Verfassungsausschuss wurde auch über die Reichweite des Enquête- und Untersuchungsrechts diskutiert. Auf Carl Josef Anton Mittermaiers Mahnung, dass man bei der Wortlautänderung („Untersuchung“) vergessen habe, ausdrücklich die „Vernehmung von Sachverständigen mit aufzuführen“, konterte Friedrich ­Josef Zell, dass zu dem „Recht der Erhebung von Tatsachen ein gesetzlicher Zwang“ gehöre; „dazu [müsse…] ein Gesetz gegeben werden“. Sollte der ­Advokat-Anwalt aus der Rheinprovinz damit auf die (vermeintliche?) Notwendigkeit eines Ausführungsgesetzes neben einer verfassungsrechtlichen Regelung angespielt haben, hätte er eine Hypothek vorausgeahnt, die in den kommenden Jahrzenten das preußische Untersuchungsrecht schwer belasten sollte. Jedenfalls hielt er dem Monitum­ Mittermaiers entgegen, dass „Gutachten zu geben[, …] niemand gezwungen werden [könne], daher [brauche diese Befugnis…] nicht aufgenommen zu werden“. Dem widersprach der Heidelberger Rechtswissenschaftler Mittermaier, dass in England und Belgien „jeder erscheinen und seine Meinung sagen“ müsse; auf dieses parlamentarische Recht werde man doch wohl in Deutschland nicht verzichten wollen. Gleichwohl fiel die ausdrückliche Aufnahme einer „Vernehmung von Sachverständigen“ im Ausschuss durch, ohne dass die Protokolle Auskunft gäben, ob die Frage einer gesetzlichen Grundlage nochmals angeschnitten wurde. Ebenso wenig sind die Gründe für die Ablehnung des Mittermaier’schen Petitums erkennbar.51

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K. S. Zachariä, Vierzig Bücher III2 1839, S. 263 (Hervorhebung nur hier). Wigard, VerhFNV, S. 5771 (Hervorhebung nur hier). 51 R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 603. 50

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V. Zweite Lesung Als Art. V. § 106 wurde über den späteren § 99 RVerf 1849 am 26. März 1849 in zweiter Lesung beraten. Erwähnung verdient lediglich die Feststellung des Präsidenten Eduard Simson vor der Abstimmung, dass zwischen der Ausschuss- und der Fassung des Minderheitsberichts  – u. a. Carl Josef Anton Mittermaier, der Grazer Statistiker und Professor Gustav Franz v. Schreiner sowie Franz ­Wigard, Professor der Stenographie und Vorstand der Stenographenkanzlei der National­ versammlung, hatten nochmals darauf angetragen, „statt der Worte: ‚Der Untersuchung‘ zu setzen: Das Recht, Zeugen und Sachverständige vorzufordern, zu vernehmen und vernehmen zu lassen“52 – lediglich ein „stilistischer Unterschied“ bestehe, so dass „keine Fassung […] die andere aus[schließe], und der Intention nach […] beide Fassungen dasselbe sag[t]en“ – kurzum: sie seien „ein Aequivalent“. Nach diesen die Ausschussberatungen verfälschenden  (!) Vorbemerkungen wurde der Mehrheitsentwurf mit Stimmen von „allen Seiten“ des Hauses angenommen.53 Welche Bedeutung wenigstens ein Teil  der Abgeordneten dem Enquête- und Untersuchungsrecht beimaß, zeigen Forderungen einer entsprechenden reichsrechtlichen Garantie: Als Minoritätserachten des Verfassungsausschusses, das von Franz Wigard, Christian Schüler, Heinrich Simon und Gustav Franz v. Schreiner getragen wurde, kam der Vorschlag in die zweite Lesung, in den Grundrechts­ paragraphen festzuschreiben, dass jeder Volksvertretung u. a. auch das „Recht des Gesetzesvorschlags, der Beschwerde, der Adresse, der Erhebung von Thatsachen, sowie der Anklage der Minister“ zustehen müsse.54 Einen vergleichbaren Vorstoß, dem Mehrheitsantrag „nach den Worten: ‚auch hat [die Ständeversammlung…] das Recht der Initiative bei der Gesetzgebung‘, hinzuzufügen: […]‚ und der selbstständigen Erhebung von Thatsachen“, unternahm der Marburger Professor der Staatswissenschaften Bruno Hildebrand.55 Bemerkenswert ist die Betonung der Selbständigkeit der Tatsachenerhebung, die auf ein echtes Enquête- und Untersuchungsrecht hindeutet.56 Nachdem dieses Amendement durchgefallen war – immerhin war eine Gegenprobe erforderlich –, betrachtete Präsident Eduard Simson das Minderheitsvotum von Franz Wigard u. a. ebenfalls als erledigt.57

52

Wigard, VerhFNV, S. 5785. Wigard, VerhFNV, S. 6028 rechte Spalte. 54 Wigard, VerhFNV, S. 5599 (Hervorhebung nur hier). 55 Wigard, VerhFNV, S. 5642 (Hervorhebung nur hier). 56 s. 1. Teil C. 57 Wigard, VerhFNV, S. 5643 ff. 53

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VI. Bewertung 1. Ausländische Vorbilder und nationale Erfahrungen Sucht man nach Gründen für die Aufnahme des Enquête- und Untersuchungsrechts in die Reichsverfassung, können die bitteren Erfahrungen, die zahlreiche Mitglieder der Paulskirche in früheren Jahrzehnten als Landstände gemacht haben, sicherlich einen gewissen Anteil für sich reklamieren. Nicht umsonst kritisierte Robert v. Mohl es in seinem Geschäftsordnungsentwurf als „eine der größten Unfähigkeits- und Unwissenheits-Sünden der bisherigen deutschen Ständeversammlungen, daß sie dieses natürliche, ja noth­wendige Recht gar nie […] in Anwendung“ gebracht hätten.58 Dabei verschwieg er geflissentlich, dass selbständige Tatsachenerhebungen den Kammern ohnehin nicht zugestanden hätten.59 Eine weiter ausgreifende Suche nach konkreten „Vorbildern“ führt einerseits auf die belgische Konstitution von 1831 und andererseits auf das englische Parlamentsrecht60 oder besser auf das Bild zurück, das man sich in der Paulskirche von beidem machte. Nicht von Ungefähr brachte der mit dem belgischen Staatsleben vertraute Heinrich Ahrens das „droit d’enquête“ erstmals ins Spiel. Im Verfassungsausschuss hatte der in Brüssel lehrende Rechtswissenschaftler die Konstitution von 1831 schon früher als den „Bildungsverhältnissen der Gegenwart“ entsprechend, ja als „besonders lehrreich“ angepriesen.61 Überdies waren auch andere Ausschussmitglieder mit den belgischen Verhältnissen bekannt.62 Bestätigt findet sich die These vom Vorbildcharakter der 1831er Konstitution in den Entwurfserläuterungen für die erste Lesung, die den technischen Begriff des bel­gischen Verfassungstextes als Klammerzusatz übernahmen. Der Einfluss des englischen Beispiels tritt ebenfalls in den Entwurfsmotiven zutage. Außerdem lobte Robert v. Mohl in seinem Geschäftsordnungsentwurf, den er Ende April 1848 lange vor den Beratungen des Verfassungsausschusses verfasst hatte, das englische Beispiel.63 Diese Anfang Mai 1848 oder die später gemeinsam mit Ludwig Schwarzenberg und Wilhelm Heinrich Murschel publizierte

58

R. v. Mohl, Vorschläge GO FNV, 1848, S. 38 und ebenso L. Schwarzenberg/R. v. Mohl/ W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848, S. 26. 59 Stattdessen forderte R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 579 sowie S. 589 in Anm. 27) schon früh unter Hinweis auf die englische Praxis, „daß es einer Kammer oder einer Commißion [nicht] untersagt [werde…], Privaten vor sich zu fordern, um sie über gewisse Gegenstände, gleichsam als Zeugen, zu vernehmen“. 60 Vgl. K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 9. 61 s. J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 5 im Hinblick auf die Grundrechte und allg. zu­ ihrem Vorbildcharakter F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 213. 62 Etwa war Moriz Briegleb, der dem Verfassungsausschuss seit dem 8.  September 1848­ angehörte, seit 1847 belgischer Hofrat. Maximilian v. Gagern fungierte zwischen 1844 und Mai 1848 als außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister in Belgien und den Niederlanden. s. H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 108, 149. 63 R. v. Mohl, Vorschläge GO FNV, 1848, S. 38 f.

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Fassung64 dürften wenigstens verschiedene, wenn nicht sämtliche Ausschussmitglieder gekannt haben. Schon früher hatte der Rechtswissenschaftler Mohl aufgrund der englischen Erfahrungen in seinem Württem­bergischen Staatsrecht die Vorteile von Ausschussenquêten hervorgehoben.65 Das auf seinen Vorschlag in der Geschäftsordnung verankerte Recht des Plenums, jedem „Ausschusse das Recht ein[zu]räumen, Zeugen und Sachverständige vorzu­fordern, zu vernehmen und vernehmen zu lassen, oder mit Behörden in Verbindung zu treten“,66 spricht für einen gewissen Anteil des süddeutschen Gelehrten – sei es in der Form des Geschäftsordnungsentwurfs, sei es durch unprotokollierte Äußerungen im Verfassungsausschuss oder im Einzelgespräch mit anderen, möglicherweise seinem Bekannten Heinrich Ahrens67 – an der Idee, auch dem künftigen Reichstag entsprechende Befugnisse beizulegen. Nebenbei bestätigen diese Umstände, dass es in Sachsen-Weimar-Eisenach, Kurhessen oder Hohenzollern-Sigmaringen jedenfalls kein frühes Enquête- und Untersuchungsrecht gegeben hat. Andernfalls müssten sich in der Arbeit des Verfassungsausschusses Spuren dieser nationalen Vorläufer finden lassen. 2. § 99 RVerf 1849 als „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht? Misst man § 99 RVerf 1849 an den eingangs skizzierten Kriterien für ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht,68 spricht viel für eine moderne Interpretation, obwohl die Auslegung dieser Vorschrift einige Schwierigkeiten bereitet: So verrät der Wortlaut nichts über die Themen, die der künftige Reichstag hätte untersuchen können. Nicht ergiebiger sind auf den ersten Blick die Protokolle des Verfassungsausschusses oder der Plenarberatungen. Trotzdem wird zu Recht aus der Enumeration des Gesetzesvorschlags, der Beschwerde und Adresse sowie der Ministeranklage abgeleitet, dass § 99 RVerf  1849 sowohl zur Informationsbeschaffung als auch der Regierungskontrolle dienen sollte.69 Einen Schritt zu weit ging 1913 demgegenüber Egon Zweig mit seinem Urteil, dass das „Informationsrecht vor allem als eine Kontrollmaßregel gegenüber der Exekutive gedacht“ gewesen wäre. Schon der vermeintlich klarere Wortlaut des Ausschussentwurfs („Recht der Untersuchung“), von dem Zweig irrtümlich annimmt, dass man den Entwurf erst auf die Kollektivnote hin entschärft habe,70 ist 64

s. das Datum des Vorworts in R. v. Mohl, Vorschläge GO  FNV, 1848, S. VI sowie die zweite Publikation L. Schwarzenberg/R. v. Mohl/W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848. 65 s. R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 589 in Anm. 27). 66 Wigard, VerhFNV, S. 164. 67 Zu privaten Besuchen bei Heinrich Ahrens in Brüssel s. R. v. Mohl, Lebenserinnerungen II, 1902, S. 368, 408. 68 s. 1. Teil C. 69 So W. Steffani, in: Kluxen (Hg.), Parlamentarismus5 1980, S. 249 (255). 70 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (281 f.) (Hervorhebung nur hier).

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nicht eindeutig. Einen subtilen Fingerzeig mag dagegen die Ausschussdebatte über die föderale Kompatibilität des avisierten Rechts bieten, soweit einzelstaatliche Domänen in erster Linie von Kontrollenquêten bedroht werden; Sachstandsermittlungen, etwa die Anforderung statistischen Materials, sind im Vergleich unproblematisch. Einen gewissen Fingerzeig bietet, wenngleich mit föderalem Unterton, Friedrich Josef Zells Argument, dass das Untersuchungsrecht auch ­deswegen erforderlich gewesen sei, „weil […] in den einzelnen Staaten die Beamten […] die Reichsgewalt unschicklich behandeln könnten“.71 Ungeachtet dessen wird eine einseitig auf die politische Kontrollfunktion zugespitzte Auslegung dem politischen Willen nicht gerecht. Bedenkt man die prekäre informationsrechtliche Verfassungslage der vergangenen Jahrzehnte, avanciert die Ermöglichung von Sachstandsenquêten zwangsläufig zu einem mindestens gleichberechtigten Anliegen. In diese Richtung deuten auch Robert v. Mohls Vorarbeiten in der Geschäftsordnungsfrage. Außerdem datiert die Abänderung des Entwurfswortlauts  – Egon Zweigs untersuchungsrechtsaffiner Sichtweise zuwider  – auf den 21.  Februar. Die vermeintlich anlassgebende Kollektivnote folgte erst gut eine Woche später. Damit dürfte die Wortlautänderung, mit der von dem vermeintlich auf politische Untersuchungen fixierten Begriff auf die neutralere „Erhebung von Thatsachen“ gewechselt wurde, eher für als gegen die Enquêtefunktion sprechen. Zudem legten verschiedene Mitglieder des Verfassungsausschusses auf ein Recht zur An­ hörung von Sachverständigen Gewicht; dieses Instrument dient aber zur besseren Durchdringung einer Materie im Rahmen einer parlamentarischen Vorbereitungsoder Sachstandsenquête. Im Wege systematischer Interpretation lässt sich zu guter Letzt die Enumeration der Reichstagsbefugnisse sowohl für das Enquêterecht als auch für die Kontrollfunktion ins Feld führen. Schließlich verlangte eine Geset­ zesinitiative zweifellos ebenso wie eine Ministeranklage oder Beschwerde vorausgehende Sachstandsermittlungen, sollte es nicht bei dem antiquierten Gesetzespetitionsrecht früherer Ständekammern bleiben.72 Die inhaltliche Reichweite des Selbstinformationsrechts des Reichstags entsprach wohl, bedenkt man die Enumeration des § 99 RVerf 1849, seinen materiellen Mitwirkungsbefugnissen. Damit entsprach diese Verfassungsvorschrift nicht nur den Anforderungen an ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht, sondern antizipierte gewissermaßen die moderne Korollartheorie. Eine immanente Beschränkung findet sich in den Materialien im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Stellung der Einzelstaaten: Wenn es in dem Bericht des Verfassungsausschusses für die zweite Lesung heißt, dass „in den Competenzbestimmungen für die Reichsgewalt überhaupt“ eine ausreichende Sicherung gegen jeden Missbrauch zu Lasten der Einzelstaaten liege,73 ist dies ein Vorgeschmack auf die limitative Seite der Korollartheorie.74 71

Zu dieser Sitzung am 6. März 1849 s. R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 602 f. Im Ergebnis ähnl. W. Steffani, in: Kluxen (Hg.), Parlamentarismus5 1980, S. 249 (255). 73 Wigard, VerhFNV, S. 5771 (Hervorhebung nur hier). 74 Zur Korollartheorie in der Weimarer und der Bundesrepublik Deutschland s. 7.  Teil 3. Kap. A. I. und II. sowie 8. Teil 4. Kap. A. I. 72

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Nimmt man die „Beweiserhebungsbefugnisse“ der künftigen „Untersuchungsausschüsse“ in den Blick, zeigt sich ein moderat modernes Bild: Die Schlussberatung verdeutlicht, dass die Versammlungsmehrheit dem kargen Wortlaut des § 99 RVerf 1849 offenbar das „Recht [entnahm], Zeugen und Sachverständige vorzu­ fordern, zu vernehmen und vernehmen zu lassen“. Der im Verfassungsausschuss von Friedrich Josef Zell angemeldete Widerspruch, dass zu dem „Recht der Erhebung von Tatsachen ein gesetzlicher Zwang“ gehöre, also ein „Gesetz gegeben werden“ müsse,75 kam im Plenum nicht mehr zur Sprache. Der Kontext, in dem diese Äußerung im Ausschuss fiel – der Abgeordnete Zell erwiderte einmal auf die Forderung Carl Josef Anton Mittermaiers, die Sachverständigenvernehmung ausdrücklich aufzunehmen, und betonte zum anderen, dass, weil zur Abgabe eines Gutachtens niemand gezwungen werden könne, die Aufnahme des entsprechenden Passus überflüssig wäre  – spricht dafür, dass der Trierer Advokat-Anwalt keine zusätzliche gesetzliche Regelung im Sinne hatte, sondern lediglich über die nähere Ausgestaltung des Enquête- und Untersuchungsrechts in der Verfassung räsonierte. Bei der Mehrheit dominierte dagegen allem Anschein nach die Vorstellung, dass mit dem Recht der „Erhebung von Thatsachen“, scheinbar der angloamerikanischen „Implied-Powers-Doktrin“ vergleichbar,76 in Wahrheit aber dem Rechtsgedanken aus § 89 EinlALR  1794 folgend, dass die Gesetze demjenigen, dem sie „ein Recht geben, […] auch die Mittel [bewilligen], ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann“, die dazu erforderlichen Befugnisse automatisch verbunden seien. Das auf „Ueberbringer von Bittschriften“ und „überhaupt Deputationen“ beschränkte Verbot des § 115 RVerf 1849, aus dessen konstitutionellen Verwandten bislang ein generelles Kontaktverbot mit privaten Dritten destilliert worden war,77 sollte einer Anhörung von Beweispersonen offenkundig ebenso wenig länger entgegenstehen wie die Exekutive des Monarchen. Diese Überlegungen leiten zu der anderen Frage über, ob die Reichstagsausschüsse von ihren Befugnissen selbständig, also ohne Vermittlung von Regierungsstellen und in diesem Sinne unmittelbar hätten Gebrauch machen können. Andernfalls ginge § 99 RVerf 1849 über vormärzliche Standards kaum hinaus. Gegen eine derart restriktive Interpretation spricht aber, dass die Versammlung von dem Minderheitsvotum, das eine Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen ausdrücklich vorsah, auf den Hinweis ihres Präsidenten Eduard Simson, die Abweichung wäre ­lediglich „stilistischer“ Natur, ja beide Fassungen wären ein „Aequivalent“, Abstand nahm.78 Ausdrückliche Regelungen, die den Kontakt des Reichstags mit nach­geordneten Stellen etc. oder allgemein mit Außenstehenden beschränkten, wie sie im bisherigen Konstitutionalismus nicht ungewöhnlich waren, sah die Reichsverfassung nicht mehr vor. Vor allem ist die entgegengesetzte und dem „monar­chischen 75

R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 603. So für das preußische Untersuchungsrecht W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 57. 77 s. 2. Teil 2. Kap. B. II. 2 zu Württemberg. 78 Wigard, VerhFNV, S. 6028 rechte Spalte. 76

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Prinzip“ wohlfeile Auslegung mit dem Selbstverständnis der Frankfurter Nationalversammlung inkompatibel; die Arbeit des ersten deutschen Parlaments und seiner Ausschüsse spricht insoweit eine deutliche Sprache.79 Erstmals auf deutschem Boden sollte also die informatorische Emanzipation eines Parlaments von der Informationshoheit der Exekutive stattfinden. Obwohl die Paulskirchenverfassung keine parlamentarische Regierungsform vorsah, weicht sie in diesem Punkt doch erheblich von dem bisherigen konstitutionellen Denken in den Bahnen des „monarchischen Prinzips“ ab, indem die Häuser des k­ ünftigen Reichstags nicht mehr auf die Vermittlung der Regierung angewiesen sein, sondern über ein eigenes Selbstinformationsrecht verfügen sollen. Unter der Herrschaft des Art. 57 WSA 1820 wurde dagegen jeder Kontakt mit nachgeordneten Behörden oder gar privaten Dritten argwöhnisch der Regierung vorbehalten. Mit diesen überkommenen Regeln brach die Frankfurter Nationalversammlung und sagte nach Winfried Steffanis Urteil mit diesem klaren Bekenntnis zu „Selbständigkeit“ und „Machterweiterung“ der monarchischen Exekutive den Kampf an.80

B. Die Enquête- und Untersuchungspraxis der Nationalversammlung Obwohl verschiedene Bundesstaaten die Frankfurter Reichsverfassung anerkannten,81 scheiterte das ehrgeizige Projekt mit der Weigerung des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV., die ihm von Bürgerhand angetragene Kaiserkrone anzunehmen.82 Im Sommer 1849 wurde nach Abberufung zahlreicher Abgeordneter der verbliebene Torso des ersten deutschen Parlaments in Stuttgart auseinandergetrieben.83 Zu Recht zeigte sich Robert v. Mohl über dieses Rumpfparlament verwundert, „[w]ie […] diese Handvoll Männer auch nur einen Augenblick glauben [konnte], daß Deutschland sie als seine Vertretung anerkennen werde? wie voll 79

s. 3. Teil 1. Kap. B. W. Steffani, in: Kluxen (Hg.), Parlamentarismus5 1980, S. 249 (255). Dementsprechend korrespondierte dem Zutritts- und Rederecht der Reichsminister aus § 121 RVerf 1849 in § 122 RVerf 1849 als Zeichen der gestärkten Stellung des Parlaments ein Zitier- und Interpellationsrecht, das im Fall einer Verweigerung der Auskunft eine Begründung verlangte. Vergleichbare Forderungen erhebt heute BVerfGE 124, 161 (193) bei Anfragen aus dem Bundestag. 81 Dazu H.  Lutz, Habsburg und Preußen, 1998, S.  307; H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, ­ igard, S. 211 f. s. etwa die Mitteilungen verschiedener Abgeordnetenkammern, Fürsten etc. bei W VerhFNV, S. 6158 f., 6211 f., 6212, 6229, 6264, 6332 f., 6333 sowie ferner die „Anerkennung“ durch verschiedene Städte, Gemeinden, Bürger oder Bürgervereine, S. 6496, 6636 f., 6694, 6695, 6721, 6745 und passim. 82 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S.  842 ff.; F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S.  186. s. den Bericht Simsons über den Verlauf der Kaiserdeputation, Wigard, VerhFNV, S. 6125 ff. Die endgültige Ablehnung erfolgte erst mit der Note von Ministerpräsident Brandenburg vom 28. April 1849 (Abdruck bei Wigard, VerhFNV, S. 6387 ff.). 83 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 877 ff.; F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 186 f. 80

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ends darauf rechnen, daß der Regentschaftsschwank irgendwo für Ernst genommen werde?“84 Das folgende Intermezzo eines kleindeutschen Bundesexperiments unter preußischer Ägide, dessen „Erfurter Unionsverfassung“ aus dem Frankfurter Werk hervorging und aus diesem auch das Enquête- und Untersuchungsrecht übernahm, konnte das Scheitern nicht mehr in einen Erfolg ummünzen.85 Statt zur Geburt eines kleindeutschen Bundesstaates kam es unter österreichischem Druck zur Wiederbelebung des Deutschen Bundes.86

I. Grundlegung Lange vor dem Scheitern des Reichsgründungsprojekts wurde in der Frankfurter Paulskirche mit der bislang kaum gewürdigten Praxis der Nationalversammlung ein weiteres Kapitel der Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte aufgeschlagen. 1. Die Bedeutung der Frankfurter Parlamentspraxis Wie modern der Wortlaut des § 99 RVerf 1849 auch wirken mag: Über die Rolle, die diese Bestimmung im Staatstheater des Deutschen Reiches tatsächlich gespielt hätte, lässt sich durch das Scheitern des Frankfurter Werkes bloß spekulieren. D ­ ieter Grimm hat diese Selbstverständlichkeit in die Worte gefasst, dass es „die Aussagemöglichkeit über die Paulskirchen-Verfassung“ begrenzt, dass diese niemals in Kraft getreten ist, weil „Verfassungen […] das von ihnen konstituierte politische System nicht abschließend fest[legen]“, sondern ihm lediglich ein „Gerüst [geben], […] einen Rahmen [ziehen] und […] Ziele“ setzen. Die „konkrete Ordnung und die Bedeutung der Regelungen“ werden erst als „Ergebnis des Zusammenspiels von Verfassungstext, gesellschaftlichem Kontext, politischer Praxis und Verfassungsinterpretation“ sichtbar.87 – Ein Stück weit lässt sich diese Lücke mit Hilfe des parlamentarischen Selbstverständnisses und der Praxis der Paul­skirchenversammlung schließen;88 ihre umfangreiche Enquête- und Untersuchungstätigkeit erschöpfte sich keinesfalls – wie verschiedentlich kolportiert89 – in bloßer Gesetzesvorbereitung oder unpolitischen Enquêten. 84

R. v. Mohl, DtVjS 1850/2, 1 (57). s. dazu F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 187 f. Zur „en bloc“-Annahme des Verfassungs­ entwurfes durch Volks- und Staatenhaus am 12./13. April 1850, dem so bewirkten Inkrafttreten der Verfassung der deutschen Union sowie der Tatsache, dass sie gleichwohl niemals vollzogen wurde, s. M. Kotulla, DtVerfR I, 2006, S. 183 f. 86 Zu den Ereignissen von der Erfurter Union bis zur Wiederherstellung des Bundestages s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 885 ff.; H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 213 ff. 87 D. Grimm, in: Müßig (Hg.), Konstitutionalismus, 2006, S. 257. 88 Vgl. D. Willoweit, VerfGesch7 2013, § 31 Rn 11. 89 s. nur J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 9, 13 f. 85

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2. Die Geschäftsordnung der Nationalversammlung Für die Enquête und Untersuchungen der Frankfurter Nationalversammlung gab es keine gesetzliche Grundlage. Insbesondere das Gesetz über Einführung einer provisorischen Centralgewalt für Deutschland ging nicht über ein Zitierund Interpellationsrecht hinaus.90 Ebenso wenig existierte ein einheitliches Wahlgesetz einer zentralen (Bundes-)Instanz, das den Auftrag der Versammlung hätte näher ausgestalten oder ihr besondere Befugnisse einräumen können.91 Statt­dessen räumte die Nationalversammlung ihren Ausschüssen in der ersten parlamentarisch-revolutionären Euphorie ausschließlich durch ihr autonomes Recht die Befugnis ein, Zeugen und Sachverständige zu vernehmen und sich unmittelbar mit den Behörden in Kontakt zu setzen. a) Entstehung Weder der Frankfurter Bundestag noch der Fünfziger-Ausschuss hatten an der Entstehung des Reglements Anteil.92 Der erste Entwurf ging auf eine private Initiative des Heidelberger Staatswissenschaftlers Robert v. Mohl zurück, der nach eigenem Bekunden die „Zwischenzeit [von seiner Wahl] bis zur Eröffnung der Versammlung […] zur Ausarbeitung einer Geschäftsordnung für dieselbe [genutzt hatte], damit weder kostbare Zeit mit der Beratung einer solchen verdorben werde, noch gleich von Anfang Unordnung einreiße“.93 Nach einer ersten Publikation Anfang Mai 184894 präsentierte er gemeinsam mit Ludwig Schwarzenberg und ­Wilhelm Heinrich Murschel, die beide Vorparlament und Fünfziger-Ausschuss angehört und Parlamentserfahrung in der kurhessischen bzw. württem­bergischen Ständeversammlung gesammelt hatten, später noch eine leicht überarbeitete Fassung.95 Dieser Entwurf wurde in der chaotischen vorberatenden Sitzung am 18. März 1848 anstelle einer Vorlage des linksliberalen Düsseldorfer ­Advokaten Hugo Wesendonck zum vorläufigen Reglement erhoben. Zugleich wurde beschlos­ sen, tags darauf eine Kommission zur Überarbeitung dieses Provisoriums niederzusetzen.96 In der Fassung dieses Gremiums, für das Robert v. Mohl Bericht

90 s. § 10 Prov­Cen­tralgG 1848 lautete: „Die Minister haben die Verpflichtung, auf Verlangen der Nationalversammlung in derselben zu erscheinen und Auskunft zu ertheilen.“ 91 Zu partikularem Wahlrecht und Wahlen M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 141 ff. 92 M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 482. 93 R. v. Mohl, Lebenserinnerungen II, 1902, S. 31 f. 94 s. das Datum des Vorworts bei R. v. Mohl, Vorschläge GO FNV, 1848, S. VI. 95 Dazu M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 482. Im Vorwort erklären L. Schwarzenberg/ R. v. Mohl/W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848, dass sie bei ihrer Arbeit „in Text und Moti­ ven“ von R. v. Mohls Vorentwurf ausgegangen, aber „über manche sehr wesentliche Abänderungen übereingekommen“ seien. 96 Vgl. den Antrag Friedrich Wilhelm v. Redens sowie Beratung und Abstimmung vom 18. Mai 1848, Wigard, VerhFNV, S. 6 ff.

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erstattete, wurde die Geschäftsordnung am 29. Mai 1848 mit verschiedenen Modifikationen unter dem Vorbehalt in „Bausch und Bogen“ angenommen, „zum Z ­ wecke der vollständigen Berathung auf jeden einzelnen Gegenstand zurückzukommen, sobald wenigstens 50 Mitglieder der Versammlung dieses wünsch[t]en“.97 b) Abteilungs- und Ausschussverfahren Für die Bildung der Ausschüsse folgte das Frankfurter Reglement französischen Vorbildern, die bereits in Baden reüssiert hatten und später in Preußen wiederkehren sollten:98 Gemäß § 19 GO-FNV 1848 wurden die vorzuberatenden Gegenstände zunächst in ausgeloste Abteilungen verwiesen, die nach Beratung eines oder mehrere ihrer Mitglieder in einen Ausschuss wählten (§§ 20, 22 GO-FNV 1848). Auf diese erste Behandlung in den Sektionen, an der sämtliche Abgeordneten teilnahmen, folgte damit eine abschließende Vorberatung im kleineren Kreise.99 Bemerkenswert modern erscheint das Recht einer Minderheit von wenigstens drei Ausschussmitgliedern, ein „Minoritäts-Gutachten zu geben, und dieses dem Hauptberichte beizufügen“, sofern „die Erstattung des letzteren dadurch nicht verzögert“ wurde (§ 25 GO-FNV 1848). Anders als die Geschäftsordnung vom Mai 1848 hatte Robert v. Mohls Entwurf vorgesehen, die Ausschussmitglieder in der Regel nicht in den Abteilungen wählen, sondern durch den Gesamtvorstand bestimmen zu lassen. Dabei sollte darauf zu achten sein, „daß die voraussichtlich vorhandenen wesentlichen Meinungen in denselben vertreten“ wären.100 Rückblickend befürwortete Mohl die Wahl in den Sektionen: Zwar habe möglicherweise eine „Abtheilung mehrere für einen fraglichen Ausschuß besonders befähigte Mitglieder [gehabt…], von denen sie nun doch nur Einen [habe] wählen [können…], während zu gleicher Zeit eine andere Abtheilung aus Mangel an ganz tauglichen Männern einen mittelmäßigen [habe] senden“ müssen. Dagegen seien bei einer „Wahl durch die volle Versammlung“, die als viel zu „weitläufiges Geschäft“ ohnehin undenkbar wäre, die „Minderheiten wahrscheinlich gar nicht berücksichtigt worden“. Die Folgen eines solchen Vorgehens wären wahrscheinlich eine „Beeinträchtigung“, „Verbitterung und Ausdehnung der Debatte“ gewesen. Anschauungsmaterial für diese Thesen bot dem Staatsrechtler die Praxis der württembergischen Zweiten Kammer, in der etwa in den 1820er Jahren lediglich rund ein Drittel der 90 Abgeordneten einen der 97

Vgl. Wigard, VerhFNV, S.  163 ff. mit Abdruck des Entwurfs der Geschäftsordnungs­ kommission. Zu den Abweichungen gegenüber R. v. Mohls Vorschlägen M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 487 ff. 98 Dazu C. J. A. Mittermaier, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon VI3 1862, S.  418, 424 f.; O. G. Oppenheim, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch VII, 1862, S.  703, 706 f. und M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 468 zu Frankreich und Baden. 99 Vgl. O. G. Oppenheim, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch VII, 1862, S. 706. 100 R. v. Mohl, Vorschläge GO FNV, 1848, S. 31.

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220 bis 250 Kommissionssitze errungen hatte.101 Bei einer Auslosung der Sektionen hielt es Robert v. Mohl für wenigstens möglich, dass eine Minderheit zufällig in einer Abteilung die Mehrheit habe und deswegen einen Ausschussvertreter stellen könne.102 Tatsächlich soll die Wahl in den Abteilungen wesentlich zu einer „Zusammensetzung der Ausschüsse nach rein fachlichen Gesichtspunkten“ beigetragen haben (Gilbert Ziebura).103 Mit der Bildung von Fraktionen ging die Bedeutung der Abteilungen als Vorberatungsgremien zurück, so dass sich ihre Funktion bald auf die Wahl der Ausschussmitglieder beschränkte. Eine vorherige Beratung, in der die Abgeordneten ihre gegenseitigen Ansichten hätten kennenlernen können, unterblieb zunehmend ebenso wie die monatliche Auslosung.104 Auch die Bedeutung der Ausschüsse sank mit dem Aufstieg der Fraktionen. In diesem Sinne berichtete Robert v. Mohl in seinen Lebenserinnerungen, dass manche Ausschüsse viel geleistet, andere wenigstens „reiches Material aufgespeichert“, wieder andere sich lediglich durch den „allen parlamentarischen Ausschüssen anklebende[n] Nachteil der Verzögerung, wo nicht gänzlichen Liegenlassens der Geschäfte“ ausgezeichnet hätten. Infolgedessen sei die Bedeutung verschiedener Ausschüsse „allmählich in den Hintergrund gegenüber dem Einflusse der Klubs [getreten], in welche die wirkliche Vorbereitung der Verhandlungen und Beschlüsse der großen Versammlung mehr und mehr verlegt“ worden sei.105 c) Hinzuziehung sachverständiger Abgeordneter Mit dem Urentwurf übereinstimmend sah die provisorische Geschäftsordnung das in den Einzelstaaten verbreitete Recht jedes Ausschusses vor, „solche Mit­ glieder der Versammlung, welche nicht in seiner Mitte [saßen…], denen er aber besondere Kenntnisse des Gegenstandes zutraut[e], zur Theilnahme an den Sit­ zungen mit berathender Stimme beizuziehen“.106 In den Motiven hieß es, dass „es sich leicht treffen [könne…], namentlich bei Wahlen durch Abtheilungen, daß die sachverständigsten Männer nicht in einen Ausschuß gewählt“ würden. Weil dieser „sie doch kaum entbehren [könne, sei…] es von größestem Interesse, die Ungunst des Zufalles oder die Unbilligkeit einer Parthei gut [zu] machen“. Der ­naheliegenden Sorge, „daß durch ein solches Recht der Berufung vieler, wenn auch schließlich nicht abstimmender, Mitglieder die Ausschüsse allzu 101

Vgl. H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 235 ff. R. v. Mohl, DtVjS 1850/2, 1 (34). 103 G. Ziebura, in: Ritter/ders. (Hg.), FG E. Fraenkel, 1963, S. 185 (219). 104 R. v. Mohl, Lebenserinnerungen II, 1902, S. 65 f.; M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 489; G. Ziebura, in: Ritter/ders. (Hg.), FG E. Fraenkel, 1963, S. 185 (202 f.). 105 R. v. Mohl, Lebenserinnerungen II, 1902, S. 66. 106 L. Schwarzenberg/R. v. Mohl/W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848, S. 5; R. v. Mohl, Vorschläge GO FNV, 1848, S. 32. Früher etwa F. Murhard, KhVerUrk II, 1835, S. 418 f. 102

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zahlreich“ werden könnten, hielt Robert v. Mohl entgegen, dass man die „Erlaubniß zu solchen Einladungen für jeden Ausschuß auf 2–3 Mitglieder beschränken“ könne.107 Obwohl die Geschäftsordnung vom Mai 1848 das Recht, in den Abteilungen nicht gewählte Abgeordnete beratend hinzuzuziehen, nicht ausdrücklich übernahm, verfuhren die Ausschüsse in der Praxis entsprechend. Die erforderliche Grundlage, fanden die Ausschusssitzungen doch gemäß § 28 GO-FNV 1848 grundsätzlich „bei geschlossenen Thüren“ statt, bot entweder der folgende Halbsatz dieser Vorschrift, der eine „besondere Einladung“ an andere „Mitglieder der Versammlung“ vorsah, oder die Regelung des § 24 GO-FNV 1848 über „Zeugen und Sachverständige“. d) Vernehmungen und Behördenkontakte Zu Recht gelten die in § 24 Satz  1 Hs.  2 GO-FNV  1848 vorgesehenen Ausschussbefugnisse bis heute als Frühform eines Enquête- und Untersuchungsrechts.108 Allerdings folgte der erste Halbsatz noch überkommenen Denkmustern, indem ein „Ausschuß […], wenn er nicht ausdrücklich andere Aufträge von der Versammlung [erhielt…], sich nur mit Vorbereitung der ihm zugewiesenen Geschäfte zu beschäftigen [hatte], und […] weder mit Behörden noch mit Einzelnen außerhalb seiner in Verbindung“ stehen durfte. Schon ein Semikolon nach dieser Beschränkung des Ausschusseinflusses109 folgte eine revolutionäre Novität, indem das Plenum jedem „Ausschusse das Recht einräumen [konnte], Zeugen und Sachverständige vorzufordern, zu vernehmen und vernehmen zu lassen, oder mit Behörden in Verbindung zu treten“.110 An dieser Stelle brach die Frankfurter Nationalversammlung durch ihr autonomes Recht offen mit der maßgeblich durch das Bundesrecht gesteuerten Verfassungstradition der Einzelstaaten. Indem sie i­hren Ausschüssen ein selbständiges Vernehmungsrecht und weitgehende Requisitionsbefugnisse zubilligten, befreiten sich die Abgeordneten auf einen Schlag von den informationsrechtlichen Fesseln, die den Landständen mit Hilfe des „monarchischen Prinzips“ angelegt worden waren. Anfangs konnten die Ausschüsse noch nicht eigenständig über die Veranstaltung einer Enquête oder Untersuchung entscheiden. § 24 GO-FNV 1848 stellte es in das Ermessen der Versammlung, ihnen diese Befugnisse im Einzelfall – oder mit den Worten des Mohl’schen Entwurfs „ausnahmsweise“111  – einzuräumen. 107 L. Schwarzenberg/R. v. Mohl/W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848, S. 25; R. v. Mohl, Vorschläge GO FNV, 1848, S. 37. 108 s. nur J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 9; W. Steffani, Untersu­chungs­ ausschüsse, 1960, S. 46; E. Zweig, ZfP 1913, 265 (278 f.). 109 Vgl. G. Ziebura, in: Ritter/ders. (Hg.), FG E. Fraenkel, 1963, S. 185 (196). 110 Wigard, VerhFNV, S. 164 (Hervorhebungen nur hier). 111 R. v. Mohl, Vorschläge GO FNV, 1848, S. 32; L. Schwarzenberg/R. v. Mohl/W. H. ­Murschel, Entwurf GO FNV, 1848, S. 6.

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Diese lästige Konstruktion wurde selbst von konservativer Seite kritisiert112 und fiel durch einen Beschluss der Nationalversammlung im November 1848 fort, mit dem diese Befugnis den Ausschüssen generell beigelegt wurde.113 Die Geschäftsordnungskommission rechtfertigte diesen Schritt damit, dass jedem Ausschuss selbst daran gelegen sei, „alles unnöthige Vernehmen von Zeugen und Sachverständigen so wie jeden überflüssigen Verkehr mit Behörden zu vermeiden, weil dadurch seine Arbeiten nur vermehrt und verzögert“ würden. Einer „zu weit greifenden Thätigkeit“ werde in § 24 Satz 2 GO-FNV 1848 „hinreichend vorgebeugt“, der es den Kommissionen untersage, „ohne neuen Auftrag der Versammlung über [ihre…] ursprüngliche Aufgabe hinaus[zu]gehen“. Eine generelle Ermächtigung helfe dagegen, „unnütze Verhandlungen [des Plenums (!)] über eine rein formelle [!] Frage“ zu vermeiden.114 Deutlicher als mit diesen Worten ließ sich die informationsrechtliche Zeitenwende, die in den wenigen Wochen seit dem Ausbruch der Revolution stattgefunden hatte, nicht auf den Punkt bringen. Schließlich hatten unmittelbare Kontakte der Landstände mit Außenstehenden und selbst nachgeordneten staatlichen Stellen noch kurz zuvor als schwere Verletzung des sakrosankten und formal immer noch fortgeltenden „monarchischen Prinzips“ gegolten. Zugleich verabschiedete sich die Versammlung so von dem zurückhaltenderen Ansatz ihres autonomen Rechts: Vor diesem Beschluss sahen sowohl der zur provisorischen Geschäftsordnung erhobene Entwurf Robert v. Mohls, Ludwig Schwarzenbergs und Wilhelm Heinrich Murschels als auch der Vorentwurf übereinstimmend lediglich vor, dass das Plenum die Ausschüsse ausnahmsweise ermächtigen könne, „Zeugen vorzufordern und zu vernehmen oder mit Behörden in Verbindung zu treten“.115 Die verhaltene Fassung beider Entwürfe („ausnahmsweise“), über die das Plenum nicht nur sprachlich, sondern durch die generelle Vorausermächtigung der Ausschüsse auch sachlich hinwegging, war aber angesichts der Deutlichkeit der Entwurfsmotive, es sei „eine der größten Unfähigkeits- und Unwissenheits-Sünden der bisherigen deutschen Ständeversammlungen, daß sie dieses natürliche, ja nothwendige Recht gar nie […] in Anwendung“ gebracht hätten, anscheinend ohnehin nicht als ernsthafte Beschränkung gedacht gewesen. Näher liegt es, dass so bzw. mit dem Vorbehalt jedesmaliger Ermächtigung sichergestellt werden sollte, dass kein Ausschuss „Rechte an sich reiße, welche nur der ganzen Versammlung zustehen“ könnten. Denkbar ist auch, dass man Widerspruch von rechts vermeiden wollte. – Ebenso wenig dürfte das Fehlen der Sachverständigenvernehmung im Kanon der Ausschussbefugnisse als beredtes Schweigen zu deuten sein; Robert v. Mohl verurteilte in den Entwurfsmotiven ausdrücklich jeden Versuch, „einer vorbereitenden 112

s. Lichnowskys Äußerung bei Wigard, VerhFNV, S. 171. Wigard, VerhFNV, S.  3139; Haßler, VerhFNV II, S.  194 f. (Bericht des Geschäfts­ ordnungsausschusses). Aus dem Schrifttum J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 9; G. Ziebura, in: Ritter/ders. (Hg.), FG E. Fraenkel, 1963, S. 185 (218 f.). 114 Wigard, VerhFNV, S. 3138 (Hervorhebung nur hier). 115 Dazu L. Schwarzenberg/R. v. Mohl/W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848, S. 6 (Hervorhebung nur hier) sowie R. v. Mohl, Vorschläge GO FNV, 1848, S. 32. 113

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Stelle aus formellen Bedenklichkeiten das Recht streitig zu machen, sich über ihre Aufgabe mündlich belehren zu lassen von Sachverständigen“, als „trostlose Geistlosigkeit“.116 Entsprechende Forderungen hatte er schon für die württembergische Verfassung erhoben.117 Beide Erweiterungen des Enquête- und Untersuchungsrechts der Ausschüsse – also der Fortfall des Wortes „ausnahmsweise“ ebenso wie die generelle Ermächtigung zu eigenen Erhebungen – entsprachen also durchaus Sinn und Zweck der Entwurfsfassungen. Sucht man ausländische Vorbilder für § 24 GO-FNV 1848, liegt das Beispiel der Select Committees aufgrund einer Passage in Robert v. Mohls Entwurfsbegründung nahe, dass sämtliche Fehler „in der englischen Parlamentseinrichtung […] allein durch das so reichlich geübte Recht der Ausschüsse […], Zeugen abzuhören über verwickelte, vielseitige, dem Staatsmanne in der Regel unbekannte Gegenstände“, ausgeglichen worden seien, weil man auf diese Weise einen „Schatz von practischer Weisheit zu Tage gefördert“ habe.118 Eingedenk der Tatsache, dass die parlamentarische Praxis Englands, aber auch Belgiens,119 Frankreichs und der süddeutschen Staaten, die diesen Vorbildern folgten, für die zeitgenössischen Vorstellungen maßgeblich waren, wie ein Parlament zu organisieren sei und zu verfahren habe,120 wären entsprechende Einflüsse in der Frankfurter Geschäftsordnung alles andere als unwahrscheinlich.121 Tatsächlich spricht für das englische Vorbild außer den Entwurfsmotiven, dass Robert v. Mohl erst 1847 eine Reise in das Mutterland des Parlamentarismus unternommen hatte, um „seine staatlichen Einrichtungen an Ort und Stelle genauer kennenzulernen, sein soziales Leben in der Wirklichkeit zu beobachten“. Die „persönliche Beobachtung des Parlaments“ tat der kurz zuvor nach Heidelberg berufene Staatsrechtler darüber hinaus als „Gegenstand mehr der Neugierde als des eigentlichen Studiums“ ab, weil ihm dessen „Formen“ bereits bekannt gewesen seien.122 Eine Vorbildwirkung Englands liegt auch wegen der Verbreitung der englischen Staatsdenker nahe: So erklärte das in Deutschland ebenso bekannte wie einfluss 116 L. Schwarzenberg/R. v. Mohl/W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848, S. 26; R. v. Mohl, Vorschläge GO FNV, 1848, S. 38. 117 s. R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 589 in Anm. 27), der dort unter Hinweis auf die­ englische Praxis die Hoffnung äußert, „daß es einer Kammer oder einer Commißion [nicht] untersagt wäre, Privaten vor sich zu fordern, um sie über gewisse Gegenstände, gleichsam als Zeugen, zu vernehmen.“ 118 L. Schwarzenberg/R. v. Mohl/W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848, S. 26; R. v. Mohl, Vorschläge GO FNV, 1848, S. 38 f. (Hervorhebung nur hier). 119 Nach R. v. Mohl, Lebenserinnerungen II, 1902, S. 367 ff. soll eine Reise nach Belgien im Herbst 1840 „eine reine Touristenfahrt“ gewesen sein, auf der er sich gleichwohl „mit den wissenschaftlichen und politischen Zuständen des Landes“ beschäftigte. Der weiteren Schilderung nach galt sein Interesse aber Gefängnissen, Nervenheil- und Altenanstalten etc. 120 Allg. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S.  463 ff.; J. Redlich, Parlamentarismus, 1905, S. 780 ff. 121 Vgl. J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 88 ff., 95. 122 R. v. Mohl, Lebenserinnerungen II, 1902, S. 407. Vgl. G. Ziebura, in: Ritter/ders. (Hg.), FG E. Fraenkel, 1963, S. 185 (194 f.).

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reiche123 Werk Jeremy Benthams zum englischen Parlamentsrecht in der Übersetzung Ludwig Friedrich Wilhelm Meyniers von 1817, dass „Gewalt und Functionen der Ausschüsse“ von „den besonderen Instructionen und der Autorität“ abhingen, die ihnen die Kammer beilege. Im Allgemeinen würden sie ermächtigt, „alle Papiere und Personen kommen zu lassen, und in Untersuchung zu nehmen, die ihnen Aufschluß geben könn[t]en“. Fanden die Sitzungen gewöhnlich in einem Raum neben dem Kammersaal statt, habe doch im Einzelfall die „Nothwendigkeit eintreten [können], daß [ein Ausschuss…] seine Geschäfte in einem andern Local verrichte; z. B. wenn er Bändereiche Schriften zu untersuchen [habe…], oder auch aus andern Gründen“.124 Bemerkenswert ist der Stellenwert der parlamentarischen Autonomie, der in diesen Überlegungen zutage tritt. Die Ausschüsse der Frankfurter Nationalversammlung erhielten mit § 24 GOFNV 1848 – zunächst unter dem Vorbehalt ausdrücklicher Anordnung – ganz nach diesem Vorbild das Recht, Zeugen und Sachverständige vorzufordern und anzu­ hören.125 Die Aktenvorlagebefugnisse, von denen in Benthams Text offensichtlich auch die Rede war („alle Papiere […] kommen zu lassen“), waren nicht ausdrücklich vorgesehen. Wahrscheinlich diente aber das Recht der Ausschüsse, „mit Behörden in Verbindung zu treten“, u. a. dazu, schriftliche Auskünfte zu verlangen und ggf. sogar Ab- respektive Urschriften zu erbitten. e) Ausschussöffentlichkeit Aus damaliger Sicht nicht unverzichtbar, ist die Beweiserhebungsöffentlichkeit heute eines der prägenden Momente des Enquete- und Untersuchungsrechts.126 Auch in der Paulskirche wurde diskutiert, ob man nicht für bestimmte öffentlich 123 Zu Jeremy Benthams Einfluss vgl. J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 88; M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 478, 514 sowie zu R. v. Mohl und der Frankfurter Geschäftsordnung G. Ziebura, in: Ritter/ders. (Hg.), FG E. Fraenkel, 1963, S. 185 (194 f.) und J. Redlich, Parlamentarismus, 1905, S. 779 f., der auch Mittermaiers Beitrag im Staatslexikon von 1838 durch Bentham beeinflusst sieht. 124 J. Bentham/L. F. W. Meynier, Geschäftsgang, 1817, S. 258 f. und Fn. *. In dem nicht minder wichtigen Werk von T. E. May, Treatise, 1844, S. 233 hieß es: „As the object of select committees is usually to take evidence, the House of Commons, when necessary, give them ‚leave to send for persons, papers, and records.‘ By virtue of this authority, any witness may be summoned by an order, signed by the Chairman, and he must bring all documents which he is informed will be wanted for the use of the committee. Any neglect oder disobedience of a summons will be reported to the house, and the offender will be treated in the same manner as if he had been guilty of a similar contempt to the house itself.“ 125 Zu Select Comittees vgl. J. Hatschek, EnglStaatsR I, 1905, S. 413 ff. mit Beispielen sowie S. 422 f. zum „Recht auf Zeugenvorladung und Zeugniszwang“ oder T. E. May, Treatise, 1844, S. 230 ff. und S. 239 ff. zu Vorladung, Vernehmung etc. 126 Vgl. BVerfGE 124, 78 (125 f.); L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 10 Rn. 1; S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 328 ff.; dies., ZRP 2003, 348 (349 f.). Zur Bedeutung des Enquêterechts als „Mittel, die Publizität der Verwaltung zu erzwingen“, vgl. Max Webers Reformvorschläge von 1917 bei W. J. Mommsen, Dt. Politik3 2004, S. 273 f.

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keitswirksame Fragen von der allgemeinen Regel des § 28 GO-FNV 1848 abweichen solle, dass die Ausschüsse „bei geschlossenen Thüren“ tagten. Dieser Vorstoß erfolgte nicht im Kontext des allgemeinen Ausschussenquêterechts. Vielmehr begründete Alexander Bally (Café Milani) die Forderung, die Sitzungen des Volkswirtschaftlichen Ausschusses „in den frühesten Frühstunden in der Paulskirche öffentlich abzuhalten“, mit einer „Aufwühlung der unteren Volksklassen Deutschlands durch gemiethete Aufwühler“, gegen die eine Demonstration der „glühenden Theilnahme der deutschen Reichsversammlung für das Gemeinwohl der B ­ rüder der unteren Volksklasse“ erforderlich sei. Diesem Vorschlag eines aus heutiger Sicht demokratischeren Verfahrens zuwider, urteilte der Ausschuss, dass die Geschäftsordnung, „wie bei den Arbeiten der anderen Ausschüsse, so bei seinen Sitzungen […] völlig zweckmäßig die Oeffentlichkeit ausschließe; damit nicht der vorläufige Austausch von Ansichten die Bedeutung gründlicher Erörterung gewinne, und unreife Vorschläge sich vorzeitig verbreite[te]n und das Publikum irre führ[t]en“. Gerade die „Vielseitigkeit der Auffassungsweise volkswirthschaftlicher Gegenstände“ und die „Mannigfaltigkeit neuer oder doch wenig erprobter Vorschläge“ machten es „doppelt noth­wendig, die unzeitige Veröffentlichung der Verhandlungen zu verhüten, und nur das Resultat allseitiger Erörterung und gründlicher Erwägung in den Berichten an die Nationalversammlung bekannt zu geben“.127 Am 18. Juli 1848 ergriff in der Plenarberatung nur der promovierte Jurist und Spandauer Bürgermeister Eduard Zimmermann (Donnersberg) für die Ausschussöffentlichkeit Partei, weil diese „dem Sinn und dem Geiste“ der Verhandlungen besser gerecht werde. Der Linksliberale, der dem Reichstag in den 1870ern für die Fortschrittspartei angehören sollte, verwies darauf, dass sich „gerade jetzt verschiedene Mitglieder der Gewerbe-Vereine“ in Frankfurt am Main befänden, so dass „man […] nicht genug die Discussion veröffentlichen“ und den „Herren, die sich für diese Sache interessir[t]en, Gelegenheit“ zur Äußerung geben könne.128 Gegen dieses Plädoyer für eine Einbeziehung der Öffentlichkeit wendete der rechte Zentrumspolitiker Alexander v. Wartensleben-Schwirsen (Landsberg) ein, dass so sämtliche Vorgänge, die im Plenum behandelt würden, doppelt öffentlich zur Sprache kämen. Außerdem sei zu befürchten, „daß diejenige Gegend, welche hier Theil nehmen [könne…], von Einfluß auf die Berathungen sein“ werde.­ Eduard Zimmermann hielt dagegen, dass es die Ausschussöffentlichkeit ermögliche, „mit Gründen und Gegengründen im Voraus zu fechten“. Zudem könnten die 127 Abdruck des Antrags und Überlegungen bei Wigard, VerhFNV, S. 999 f. Bemerkenswerterweise stimmte die Begründung teils mit den Erwägungen überein, die in Sachsen-WeimarEisenach den Ausschlag für die Nichtöffentlichkeit der Landtagsverhandlungen gegeben hatten: Die Landstände erhoben Ende 1820 in einer Erklärungsschrift Bedenken, dass man, je „kleiner der Staat, je kleiner die Anzahl der Abgeordneten in dem Landtage, desto mehr […] die Nachtheile öffentlicher Verhandlungen – fremden Einfluß aus den nächsten Umgebungen, Abhängigkeit, Befangenheit, zu großes Uebergewicht eines einzigen beredten Sprechers – zu fürchten“ habe. Abdruck der Erklärungsschrift Großherzoglich S. Weimar-Eisenachisches Regierungs-Blatt 1821, S. 18 ff. als Beil. C. 128 Wigard, VerhFNV, S. 1000.

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Abgeordneten, von denen nicht wenige wie er Beamte seien, „von den Gewerbsmännern in praktischer Beziehung noch manches erfahren und lernen“. Der Weingutsbesitzer Wilhelm Wernher monierte, dass die Ausschüsse bei zusätzlichen nichtöffentlichen Sitzungen doppelt tagen müssten. Besser sollten sich die „vorbereitenden Versammlungen der Ausschüsse nach ihrem wahren Zwecke […] in der Stille halten, ruhig und genau die ihnen vorgelegten Gegenstände erwägen, und das Resultat ungeschminkter Weisheit [der…] Versammlung vorlegen“.129 Auch die Versammlungsmehrheit sprach sich gegen den Öffentlichkeitsantrag aus.130 Bedenkt man, dass sich der Volkswirtschaftliche Ausschuss noch verschiedentlich mit „Sachverständigen“ austauschen sollte, hätte sich andernfalls möglicherweise wirklich eine dem englischen Vorbild vollständiger Öffentlichkeitsbeteiligung vergleichbare Praxis ergeben. f) Der Rösler’sche Antrag Obwohl die Annahme der Geschäftsordnung einschließlich des § 24 GO-FNV 1848 noch keine Woche zurücklag, unternahm der zum Führungskreis des demokratisch-republikanischen „Deutschen Hofs“131 gehörende Adolph Rösler am 3. Juni 1848 einen Vorstoß, um ein belastbares Enquête- und Untersuchungsrecht zu etablieren.132 Der Gymnasiallehrer aus dem schlesischen Oels forderte die National­ versammlung auf, sich „dieselben Befugnisse und Vorrechte bei[zu]lege[n], welche die gesetzgebenden Versammlungen anderer freien Staaten“ besäßen. Unter seinen Forderungen, die Egon Zweig retrospektiv als „Vorstellung von einem Durchschnittstypus der volkstümlichen Verfassungsorganisation, einem gemeinen Recht der Demokratie“ – freilich unter Einfluss des englischen Vorbilds – bewertete,133 fanden sich u. a. ein Interpellationsrecht gegenüber Bundestag, Zentralgewalt und einzelstaatlichen Regierungen, für die Abgeordneten Immunität, Indemnität, Diäten und Portofreiheit sowie zu guter Letzt eine parlamentarische Bannmeile gegen die bewaffnete Macht. In informationsrechtlicher Hinsicht verlangte der linke Politiker das „Recht, Untersuchungen anzustellen“ (§ 1). Der „Bundestag (bezugsweise 129

Wigard, VerhFNV, S. 1000 f. Wigard, VerhFNV, S. 1001. 131 Nach E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 618 verfocht der „Deutsche Hof“ einen „demokratischen Republikanismus mit Einkammersystem und allgemeinem, gleichem und direktem Wahlrecht“. Obwohl „Ziel […] das parlamentarische Regierungssystem“ gewesen sei, habe bei Robert Blum und anderen eine „gewisse Bereitschaft zum Kompromiß mit der liberalen Mitte“ existiert. Zu Programm und Entwicklung vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 426 f. 132 Der Fassung in Paragraphen nach könnte es sich um einen Gesetzentwurf handeln, zumal Adolph Rösler keine Ergänzung der Geschäftsordnung, sondern einen selbständigen Beschluss verlangte. In der mündlichen Antragsbegründung betonte er, „daß es wichtig [sei, solche Befugnisse…] zuvor festzustellen, damit nicht dringende Ereignisse es einmal nöthig mach[t]en, sich derselben zu bedienen, ehe sie gesetzlich“ feststünden (Wigard, VerhFNV, S. 194, Hervorhebung nur hier). 133 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (280 f.). 130

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die zu errichtende Centralgewalt) wie die Regierungen und Unterbehörden der einzelnen Staaten [sollten…] zu jeder amtlichen Auskunft, namentlich zur Vorlage der nöthigen Urkunden, amtlichen Schriften, Berichte u. s. w. an die Nationalversammlung selbst oder an den betreffenden Ausschuß“ verpflichtet sein (§ 2). Nach § 4 wären die zu einer Untersuchung „niedergesetzten Ausschüsse befugt [gewesen], Sachverständige zu berufen, und wenn sie es für zweckmäßig erachte[te]n,­ jeden Beamten eines deutschen Staats auf seinen Amtseid, jede Privatperson aber auf ­Zeugeneid zu vernehmen. Wegen der Aussagen [sollte…] Niemand gerichtlich noch sonst verfolgt oder zur Rechenschaft gezogen werden [können], außer im Falle des Meineids“. „Alle Kosten einer solchen Untersuchung [sollte…] die Bundescasse“ tragen (§ 5).134 Neben diesen revolutionären Forderungen, die auf ein echtes Enquête- und Untersuchungsrecht einschließlich erheblicher Vernehmungsbefugnisse hinausgelaufen wären und relativ unverblümt auf eine gewisse Parlamentarisierung der Regierungsverhältnisse abzielten,135 nahm Adolph ­Rösler die mittlerweile probate Lösung für ein weiteres, bis heute aktuelles Problem vorweg: „In Fällen, welche Geheimhaltung erforder[te]n, [sollten…] die nöthigen Vorkehrungen […] jedesmal besonders angeordnet“ werden (§ 2).136 Anstatt dem Parlament geheimhaltungsbedürftige Informationen vorzuenthalten, sollten lediglich Maß­nahmen ergriffen werden, um ihren Verbleib im parlamentarischen Raum zu sichern. Entsprechend wird heute verfahren.137 – Der Antrag wurde mit anderen Motionen vergleichbarer Stoßrichtung an den Prioritäts- und Petitionsausschuss verwiesen138 und blieb – soweit ersichtlich – unerledigt.139 Bedenkt man die politische Heimat des Antragstellers auf der demokratischen linken Seite des Hauses, die immer wieder Vorstöße unternahm, um weitergehende parlamentarische Kompetenzen zu erkämpfen, wird klar, warum Rösler seine Forderungen noch nach der Annahme des „weichen“ § 24 GO-FNV  1848 erhoben hat. Konsequenterweise reihte die konservative Seite diese Vorschläge unter die Bemühungen der Linken ein, die bisherige Ordnung umzustoßen, um ein parlamentarisches Regiment zu etablieren.140 Ihr Scheitern gestattet einen klaren Blick auf die Haltung der gemäßigten Mehrheit, die bei kommenden staatspolitischen Grundentscheidungen eine Reform der konstitutionellen Monarchie der Republik mit parlamentarischem Regiment vorzog.141 134

Wigard, VerhFNV, S. 194 (Hervorhebung nur hier). W. Löwer, DVBl 1984, 757 (759 f.). 136 Wigard, VerhFNV, S. 194. 137 Dazu L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 11 Rn. 5 f. m. w. N. aus der Rspr. 138 Wigard, VerhFNV, S. 194. 139 So auch W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 47. 140 In diesem Sinne äußerte sich der ehemalige preußische Justizminister K. v. Kamptz, FNV, 1849, S. 76 ff. und insbesondere S. 80, der sich in der Demagogenverfolgung nach den Karlsbader Beschlüssen hervorgetan hatte (vgl. P. Baumgart, NDB XI, 1977, S. 95 (96)). 141 Zu den Mehrheitsverhältnissen M. Kotulla, VerfGesch, 2007, Rn. 1705 und ausführlich M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 419 ff. 135

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3. Bewertung Sieht man nur auf seinen Wortlaut, scheint der äußerlich schwächliche § 24 GOFNV  1848  – anders als die erfolglose Rösler’sche Motion  – den Ansprüchen an ein „echtes“ parlamentarisches Enquête- und Untersuchungsrecht kaum gerecht zu werden, indem diesem Paragraphen gleich verschiedene Schwächen in die Wiege gelegt worden waren: Anders als durch Adolph Rösler gefordert, verfügten die Ausschüsse aufgrund der Geschäftsordnung nicht über robuste Vernehmungsbefugnisse.142 Ebenso wenig bestand eine Verpflichtung der einzelstaatlichen Behörden, des fortvegetierenden Bundestages oder der Provisorischen Zentralgewalt, einem parlamentarischen Informationsersuchen nachzukommen. Stattdessen blieben die Ausschüsse der Nationalversammlung wie ihre konstitutionellen Vorgänger auf mehr oder w ­ eniger freiwillige Auskünfte angewiesen. Wenigstens verfügten sie in der Anfangszeit über das politische Gewicht der Paulskirchenversammlung als Druckmittel gegenüber Zentralgewalt, Regierungen und Behörden. Für die Kooperationsbereitschaft der Einzelstaaten erscheint die Note vom März 1849, mit der beinahe 30 Regierungen unter preußischer Führung die Streichung des Enquêterechts aus dem Reichsverfassungsentwurf forderten, dennoch nachträglich als Menetekel.143 Überdies war ein politisches Untersuchungsrecht zur Kontrolle der provisorischen Reichsgewalt oder der einzelstaatlichen Regierungen und Behörden offenkundig kein primäres Anliegen; die Wurzeln von § 24 GO-FNV 1848 führen eher auf die Idee der Sachstands- oder Gesetzgebungsenquête zurück. Nicht von ungefähr betonte Robert v. Mohl in seiner Entwurfsbegründung, dass der konstituierende Reichstag an seinen großen Aufgaben – namentlich der Harmonisierung des Postwesens, der Fluss-Schifffahrt, Währung sowie des Maß- und Gewichtssystems oder an der Notwendigkeit, einen „leitenden Gedanken über die Arbeiterverhältnisse“ zu entwickeln, – scheitern müsse, wenn nicht „seine vorbereitenden Ausschüsse erst sattsam Sachverständige hörten, um dadurch zunächst sich, dann aber [das Plenum…] wirklich belehren zu können“.144 Im Schatten dieser Herkulesaufgaben und eingedenk der ersten Parlamentarisierungs- und Reichsgründungseuphorie im Frühjahr 1848 wurden Kontrollmittel sicherlich weit weniger vermisst als legislatorische Hilfsinstrumente, um die Herausforderungen des Einigungswerks zu meistern. Anklänge eines „investigativen Parlamentarismus“,145 142 Zu Recht hatte der Trierer Abgeordnete Friedrich Josef Zell schon in den Beratungen des Verfassungsausschusses über das Untersuchungsrecht der Reichsverfassung hervorgehoben, dass zu dem „Recht der Erhebung von Tatsachen ein gesetzlicher Zwang [gehöre], und dazu […] ein Gesetz gegeben werden“ müsse (R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 603). 143 s. die Zweite Kollektiv-Erklärung des Bevollmächtigten für Preußen und sieben und zwanzig andere deutsche Regierungen, die deutsche Reichsverfassung betreffend, d. d. 1then März 1849, sammt besonderen Bemerkungen des großherzoglich hessischen, großherzoglich oldenburgischen, großherzoglich luxemburgischen, fürstlich schwarzburgischen und freistadt-­lübeckischen Bevollmächtigten, P. Roth/H. Merck (Hg.), QuellenSlg II, 1852, Nr. 74, S. 342 (343 f.). 144 L. Schwarzenberg/R. v. Mohl/W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848, S. 26. 145 So der Titel der Dissertationsschrift von S. Bräcklein.

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eines Enthüllungsinstruments für politische Skandale oder exekutives Fehlverhalten sucht man demgegenüber in der Begründung des Geschäftsordnungsentwurfs vergebens.146 Im Gegenteil wurde die Vollmacht der Kommissionen aus Furcht vor einer Usurpation von Plenarkompetenzen ausdrücklich auf „Vorarbeiten für die Versammlung“ limitiert.147 Die in Bezug genommenen Aufgaben der Nationalversammlung lagen aber auf dem Feld der Verfassungs- und Gesetzgebung. Möglicherweise führten gerade diese Beschränkungen des § 24 GO-FNV 1848 dazu, dass auch von rechts kein Widerspruch erfolgte. Noch Ende Mai 1848 kritisierte der Konservative Felix v. Lichnowsky, Großgrundbesitzer, ehemaliger preußischer Offizier und bekennender Vertreter des rechten Flügels, „daß der Ausschuß jedesmal, wenn er bei technischen Fragen Sachverständige beizuziehen für nothwendig erachtet[e], die Erlaubnis von dem Reichstage erhole[n]“ müsse.148 Ungeachtet dieser – wie sich noch herausstellen sollte – scheinbaren Harmlosigkeit manifestierte sich in § 24 GO-FNV 1848 ein offener Bruch mit bisherigen staatsrechtlichen Prinzipien. Die subtile Stärkung des Parlaments, seine Emanzipation vom Informationstropf der Exekutive, dessen Fluss die einzelstaatlichen Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten nach ihrem Willen hatten drosseln können, war für den Versuch der Reichsversammlung symptomatisch, den bisherigen Konstitutionalismus „Karlsbader“ Prägung durch eine eigentümliche Mixtur monarchischer und parlamentarisch-demokratischer Elemente zu substituieren.149 Ohne Zweifel streifte man mit Hilfe eines parlamentarisch-autonom geschaffenen Selbstinformationsrechts die informationsrechtlichen Fesseln früherer Ständeversammlungen ab, denen entsprechende Befugnisse wegen des in der Schlussakte zementierten „monarchischen Prinzips“ wohl selbst durch Gesetz nicht hätten eingeräumt werden können. Die geradezu revolutionäre Befugnis, Informationen unmittelbar und ohne ministerielle Vermittlung etc. von Stellen der Zentralgewalt, der Einzelstaaten oder von privaten Dritten einzuziehen, nahmen die Frankfurter Abgeordneten wie selbstverständlich aus eigenem Recht in Anspruch.150 Auch mit diesem Detail wehte der Wind des politischen Wandels deutliche Vorahnungen von Demokratie und Volkssouveränität durchs Land. Wie sehr § 24 GO-FNV 1848 mit bisherigen Regeln brach, sollte sich in der Praxis der Nationalversammlung zeigen: Ihre Ausschüsse führten dem staunenden Publikum das gesamte Panoptikum an Sachstands- und Kollegialenquêten respektive Missstands- und Kontrolluntersuchungen vor; nicht nur Private oder wirtschaftliche Organisationen, sondern selbst exekutive, judikative und militärische Stellen kooperierten unter dem Eindruck der Märzrevolution anstandslos mit den Parlamentsausschüssen. 146 Stattdessen entwickelte R. v. Mohl, StaatsR, VölkerR, Pol. II/1, 1862, S. 495 ff., 506 f. entsprechende Gedanken im Hinblick auf die Gesetzesqualität. 147 L. Schwarzenberg/R. v. Mohl/W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848, S. 25. 148 Wigard, VerhFNV, S. 171. 149 Zu den staatsorganisationsrechtlichen Positionen der Fraktionen M. Botzenhart, Parla­ mentarismus, 1977, S. 419 ff., 641 ff. und ferner M. Kotulla, VerfGesch, 2007, Rn. 1721 ff. 150 Ähnl. F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 23.

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Die Zeitlosigkeit der Ausschussbefugnisse, die sich die Frankfurter Nationalversammlung selbst beilegte, wird durch die wiederholte Renaissance eines „weichen“ Enquêterechts ohne Pflicht und Zwang untermauert: 1868 kam in den Beratungen des Norddeutschen Reichstags über einen Verfassungsänderungsantrag von Sozialdemokratie und Fortschritt, dem Reichstag ein belastbares Enquête- und Untersuchungsrecht einzuräumen,151 die Frage auf, ob das Parlament nicht auch ohne ausdrückliche Ermächtigung über ein „natürliches Recht“ zu ­Enquêten verfüge.152 Während in den folgenden Jahren und Jahrzehnten selbst konservative Gelehrte wie der bayerische Staatsrechtler Max v. Seydel den Gedanken freiwilliger Enquêten aufgriffen,153 beklagte die Reichstagslinke das Fehlen von Pflicht und Zwang und jeder Möglichkeit, Auskunftspersonen zu entschädigen.154 Im Reichstag nicht zu Meriten gelangt, reüssierte das „natürliche Enquêterecht“ in der jungen Bundesrepublik, indem der erste Bundestag seinen Ausschüssen in § 73 Abs. 2 GO-BT  1951 das Recht beilegte, vor den nichtöffentlichen Beratungen „öffentliche Informationssitzungen“ abzuhalten, zu denen „nach Bedarf Interessenvertreter, Auskunftspersonen und Sachverständige, die Presse sowie sonstige Zuhörer zugelassen“ werden konnten. Der folgende Absatz sah für den Fall einer Ladung „durch Beschluß des Ausschusses mit vorheriger Zustimmung des Präsidenten“ einen „Ersatz von Auslagen an Sachverständige und Auskunftspersonen“ vor und linderte so wenigstens eines der früheren Gebrechen. Mittlerweile enthält § 70 GO-BT eine ausführliche Regelung über „Öffentliche Anhörungssitzungen“ unter Hinzuziehung sachverständiger oder interessierter Dritter und sonstiger Auskunftspersonen durch die Ausschüsse des Deutschen Bundestages. Vor diesem Hintergrund greift Winfried Steffanis Annahme zu kurz, dass § 24 GO-FNV 1848 heute „lediglich in der Untersuchungsbefugnis der Ausschüsse des amerikanischen Kongresses eine Parallele“ finde.155 151 Der Reichstag sollte „Behufs seiner Information Commissionen zur Untersuchung von Thatsachen […] ernennen“ können. Außerdem sollten die Behörden „diesen Commissionen bei der Ausübung ihrer Amtspflicht, innerhalb der Grenzen ihres Commissoriums, die geforderte Unterstützung zu gewähren“ haben (VerhNdtRT I/1868, Nr. 33). 152 So E. Lasker, VerhNdtRT I/1868, S. 262. 153 s. die These M. v. Seydels, RVerf2 1897, S. 203, dass dem Reichstag zwar kein „Recht der Untersuchung von Thatsachen – enquête –“ zustehe, es ihm aber gleichwohl „nicht untersagt [sei], Auskunftspersonen oder Sachverständige mündlich oder schriftlich einzuvernehmen“; freilich könne er „niemanden zwingen“. Schon in AnGVS 1880, 352 (358) vertrat der konservative Staatsrechtler, dass dem Reichstag, weil es „überhaupt keine gesetzlichen Vorschriften über den Verkehr […] mit Privatleuten“ gebe, „niergends untersagt [sei], Auskunftspersonen oder Sachverständige schriftlich oder mündlich einzuvernehmen“. Er sei aber auf den „guten Willen der Betreffenden angewiesen“. 154 Der Sozialdemokrat A. Bebel, VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3295 stellte nicht in Abrede, „daß der Reichstag gegenwärtig ohne eine Verfassungsbestimmung das Recht habe, Sachverständige zu laden, um von ihnen Auskunft zu erhalten“, bezweifelte aber, ob diese Sachverständigen ohne Pflicht und Zwang erscheinen würden, zumal man niemandem zumuten könne, ohne Kostenerstattung aus Rheinland oder Ostprovinzen vor dem Reichstag zu erscheinen. 155 W. Steffani, in: Kluxen (Hg.), Parlamentarismus5 1980, S. 249 (254); ders., Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 46 in Fn. 6.

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II. Die Praxis der Frankfurter Nationalversammlung Äußerlich unscheinbar liegt die Bedeutung von § 24 GO-FNV 1848 in dem Gebrauch, der von dieser vermeintlich harmlosen Vorschrift gemacht werden sollte. Unbeschadet seiner primären Verwurzelung in dem Gedanken einer Sachstands­ enquête entwickelte die Frankfurter Nationalversammlung aufgrund des blassen Paragraphen eine beeindruckende Enquête- und Untersuchungstätigkeit. Unter verschiedenem Rubrum wurden Sachverständige zu Vorarbeiten für das Verfassungswerk, wirtschaftsrechtlichen Reformen oder anderen legislativen Projekten zugezogen (Sachstands- und Sozialenquêten), exekutive Maßnahmen selbst auf dem Militärsektor – also der monarchischen Prärogative schlechthin – parlamentarischer Prüfung unterworfen (Missstands- oder Exekutivenquêten) sowie die Legitimation oder das Verhalten von Abgeordneten bzw. die Frage untersucht, ob ihre Immunität wegen eines möglicherweise strafbaren Verhaltens aufzuheben sei (Wahlprüfung und Kollegialenquêten im weitesten Sinne).156 Die Ergebnisse wurden der Öffentlichkeit nicht allein in den Plenarberatungen präsentiert und in der halboffiziellen Wigard’schen Protokollausgabe dokumentiert, sondern in Form der jeweiligen Ausschussberichte in Konrad Dietrich Haßlers offiziellen „Verhandlungen der deutschen verfassunggebenden Reichsversammlung zu Frankfurt am Main“ vollständig publiziert. 1. Sachstands- und Gesetzgebungsenquêten a) Verfassungsausschuss Daseinszweck der Frankfurter Nationalversammlung war die Ausarbeitung der künftigen Reichsverfassung, mit der nicht „bloß“ einem bestehenden Staatswesen eine neue Ordnung gegeben, sondern ein neuer Bundesstaat aus der Taufe gehoben werden sollte.157 Die legislatorische Hauptlast dieses Unterfangens trug der Verfassungsausschuss, unter dessen 30 Ausschussmitgliedern sich zahlreiche Rechtswissenschaftler und praktische Juristen befanden.158 Außerdem wurden zu seinen Beratungen – Hinweisen des Abgeordneten Carl Schorn zufolge – „Sachverständige“ hinzugezogen.159 Welcher Art diese „Sachverständigen“ waren, erhellten Johann Gustav Droysens Protokolle der Ausschussarbeit: Einerseits handelte es sich um Abgeordnete, die durch ihren persönlichen Hintergrund über besondere Kenntnisse verfügten, aber keine Mitglieder des Verfassungsausschusses waren, andererseits um den Reichskriegs- und den Reichshandelsminister. Für die sachverstän 156

Zu der heutigen Typologie s. S. Magiera, in: Sachs (Hg.), GG7 2014, Art. 44 Rn. 4 ff. oder L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 1 Rn. 33 ff. m. w. N. 157 Vgl. L. Häusser, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch VII, 1862, S. 168, 178; M. Duncker, GeschFNV, 1849, S. 3. 158 Zur Zusammensetzung des Verfassungsausschusses s. 3. Teil 1. Kap. A. II. 159 Wigard, VerhFNV, S. 4192.

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digen Abgeordneten kam so der nicht in das Reglement übernommene Vorschlag Robert v. Mohls zu Ehren, die in der Versammlung verkörperte Sachkunde durch die Hinzuziehung von Volksvertretern, die nicht in den jeweiligen Ausschuss gewählt worden waren, nutzbar zu machen.160 Auf diese Weise führte der Verfassungsausschuss gewissermaßen eine Art Enquête bzw. wenigstens formlose Ausschussanhörungen durch, die einen näheren Blick wert sind. aa) Der Entwurf der Reichswehrverfassung Aber nicht erst der Verfassungsausschuss, sondern bereits die Vorkommission, der neben dem Historiker Friedrich Dahlmann auch die Rechtswissenschaftler Georg Beseler und Carl Josef Anton Mittermaier angehörten, gründete ihre Vorschläge zur künftigen Ordnung der bewaffneten Macht „auf Mittheilungen und Gutachten von v. Radowitz, v. Meyern und einem bairischen Officier“.161 Zu Rate gezogen wurden also sachverständige Mitglieder des Hauses selbst: Generalmajor a. D. Joseph v. Radowitz, durch diplomatische Missionen auch politisch ausgewiesen, war u. a. seit Mitte der 1820er Jahre Mitglied verschiedener Militärstudienbehörden, militärischer Lehrer des Prinzen Albrecht v. Preußen, später Chef des Generalstabs der Artillerie und überdies ein seinem König nahestehender Berater Friedrich ­Wilhelms IV. Bevor Radowitz den Staatsdienst im März 1848 vorläufig quittierte, versah der Katholik zwölf Jahre den Posten eines preußischen Militärbevollmächtigten am Bundestag. Als Abgeordneter wirkte er im Marineausschuss bzw. ab Anfang Oktober 1848 im Ausschuss für Volksbewaffnung und Heer­wesen mit.162 Der kaiserlich-königliche Oberst im Generalstab Franz v. Mayern hatte in den 1830er Jahren verschiedene Festungsbauprojekte geleitet und im Generalquartiermeisterstab gedient. Seit 1847 war er Unterdirektor des militärgeographischen Instituts zu Wien.163 Über den bayerischen Offizier finden sich keine näheren Angaben, so dass nicht einmal feststeht, ob er der Nationalversammlung angehörte oder nicht. Ungeachtet dessen zeigt sich in der „Sachverständigen“-Auswahl das Bestreben der Vorkommission, in einer Schicksalsfrage des künftigen Reichs Vertreter beider Bundesgranden sowie des einflussreichsten Mittelstaates zu Wort kommen zu lassen. Auch das Ausschlussplenum zog „Sachverständige“ zu seinen Beratungen hinzu. Gleich zu Beginn der kontroversen Diskussion über Art. III § 6 des Vorentwurfs über „Die Reichsgewalt“,164 der auf eine vollständige Zentralisierung der „bewaffnete[n] Macht zu Wasser und zu Lande“, in Krieg und Frieden abzielte, 160

s. 3. Teil 1. Kap. B. I. 2. c). J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 89 sowie S. 58 zur Wahl der Vorkommissionsmitglieder. 162 H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 267 f. 163 s. W. Zimmermann, Revolution2 1851, S. 590, 616; H. Laube, Parlament II, 1849, S. 149 und H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 233. 164 Abdruck als Anl. 6 bei J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 387 ff. 161

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wurde in der 29. Sitzung am 20. Juli 1848 „bemerklich gemacht, daß der Kriegsminister gewünscht habe, den Berathungen beizuwohnen“. Der Vorschlag des liberalen württembergischen Oppositionsführers Friedrich Römer, die Beratung bis zu seiner Einladung auszusetzen, „wenn der Minister im Stande sei, […] weise Rathschläge zu geben“, wurde abgelehnt. Stattdessen beauftragte der Ausschuss seinen Vorsitzenden Friedrich Daniel Bassermann, Kriegsminister Eduard v. Peucker zu der nächsten Sitzung zu bitten.165 Tags darauf betonte der Zentralisierungsbefürworter Heinrich Ahrens (Westendhall) nach fortgeschrittener Sachdebatte, „daß er weitere Aufklärung und die Gutachten Sachverständiger erwarte“.166 Ob sich diese Forderung auf eine Stellungnahme des Reichskriegsministers bezog oder ob der promovierte Jurist und Philosophieprofessor, der kurze Zeit später die Aufnahme des „droit d’enquête“ in die Reichsverfassung anregte, Erläuterungen fachkundiger Abgeordneter oder gar externer Sachverständiger erwartete, geht aus den Protokollen nicht hervor. Der ehemalige preußische Offizier und erklärte Gegner einer Militärzentralisierung Felix v. Lichnowsky (Casino) verlangte ausdrücklich, dass der Kriegsminister „in dieser Frage seine technisch begründeten Ansichten über das zur Bundeseinheit Nothwendige“ mitteile und „diesen Artikel überarbeite“. Georg Beseler konstatierte gar den „Wunsch aller Mitglieder des Ausschusses“, „vor Ende der Sitzung die Meinung des Herrn Kriegsministers zu vernehmen“.167 Die Ausführungen des preußischen Generalmajors Eduard v. Peucker, der sich 1809 – eigentlich zum Jurastudium entschlossen – nach einem Gespräch mit Gneisenau zur Artillerie gemeldet, zunächst auf französischer Seite gedient, dann aber an den Befreiungskriegen teilgenommen hatte, 1816 in das Kriegsministerium versetzt und Anfang Mai 1848 zum Militärbevollmächtigten bei der Bundesversammlung bestellt worden war, fielen an diesen Erwartungen gemessen eher knapp aus: Der Reichskriegsminister, der sein schwieriges Amt zwar auf Wunsch des Reichsverwesers, aber mit dem Segen seines Königs übernommen hatte, entschuldigte sich gleich zu Anfang, dass er „ganz unvorbereitet in diese vielfach belehrende Verhandlung“ gekommen wäre und sich „nur als Privatmann […] äußern“ könne. Seine Ansicht sei die eines „Militärs, dem die Einheit und Macht des Vaterlandes am Herzen liege“.168 Diese vorauseilenden Entschuldigungen und Erklärungen v. Peuckers, der seine reichspatriotische Haltung gerade erst mit dem kontroversen Huldigungserlass unter Beweis gestellt hatte, dürfte mit dem Zwiespalt zu erklären sein, in den ihn seine Reichsgesinnung mit dem verbreiteten Credo brachte, dass die Größe der Hohenzollernmonarchie direkt von ihrer militärischen Stärke abhänge.169 In der Sache gab Eduard v. Peucker zu bedenken, dass eine vollständige Zentralisierung 165

J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 89 ff. J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 93. 167 J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 98 f. 168 J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 99 f. (Hervorhebung nur hier). 169 Zu Gesinnung und Huldigungserlass Eduard v. Peuckers sowie seinen Schwierigkeiten mit der preußischen Regierung s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 629 und in Fn. 39, 651 ff. 166

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zwar möglich, mit dem föderalen Wesen des künftigen Reichs aber inkompatibel sei. Gleichwohl müssten die „Gegenstände, die die Verwendbarkeit des Heeres und dessen Kriegstüchtigkeit [beträfen, …] von der Reichsgewalt abhängen“. Abschließend erbat er die Erlaubnis, später noch einmal das Wort zu ergreifen.170 Tatsächlich nahm der Minister auch an den folgenden beiden Sitzungen teil. Am 26. Juli 1848 eröffnete Carl Josef Anton Mittermaier dem Ausschuss „ein ihm von General v. Radowitz privatim mitgeteiltes Gutachten in Betreff des Centralmilitärwesens, so wie mehrere Notizen von anonymen Militärs in Betreff des vorgelegten Entwurfes“.171 Es handelte sich möglicherweise um verschiedene Pamphlete, die anonym veröffentlicht worden waren, nachdem der Kommissionsentwurf durch eine Indiskretion vorzeitig an die Öffentlichkeit gelangt war.172 In der weiteren Beratung kamen die Mitteilungen des ehemaligen Generals zur Sprache.173 Außerdem teilte Mittermaier dem Ausschuss mit, dass ihm „ein tüchtiger Militär […] gesagt [habe], das Heer müsse schon im Frieden zusammenwachsen, wenn es für den Krieg tüchtig sein solle; es sei von demselben vorgeschlagen: die Volkswehr aller deutschen Lande bilde das Reichsheer u.  s.  w.“.174 Der Kriegsminister erklärte in der Tradition des Bundeskontingentswesens, „daß unerläßlich alle Grundlagen, worauf die technische und moralische Tüchtigkeit des Reichsheeres beruhe, der Reichsgewalt angehör[t]en […]. Die Mittel aber dazu herzustellen, werde so lange dem einzelnen Staate überlassen bleiben müssen, als man noch bei der Idee des Bundesstaates bleibe“. Weil der vorliegende Entwurf schon für Aufregung in den Heeren gesorgt habe, sei es „dringend nothwendig, sehr vorsichtig zu sein“. Schließlich unterbreitete der Minister dem Ausschuss einen eigenen Vorschlag, der – anders als der viel gescholtene Kommissionsentwurf – die Eingriffe in die einzelstaatliche Wehrhoheit auf ein Minimum beschränkte.175 Am 27. Juli 1848 wurde die Beratung „mit Beziehung auf den von dem Kriegsminister überreichten Entwurf“ unter seiner Beteiligung abgeschlossen.176 Allen Bedenken zum Trotz blieb es bei dem Votum der Vorkommission, dass „die Verfügung [über das Militär] in Krieg und Frieden dem Reich zugeschrieben werden“ solle.177 170

J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 99 f. J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 103. 172 s. J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 89 f. Etwa verfasste Gustav v. Griesheim im Sommer 1848 die anonyme Schrift „Die Deutsche Centralgewalt und die Preußische Armee“, in deren Einleitung er dem Ausschuss vorwarf, „die preußische Armee als solche […] vernichten“ zu wollen. s.  dazu zu Person und Wirken des ultrakonservativen Direktors des Allgemeinen Kriegsdepartements, der maßgeblich an der konterrevolutionären Militärfronde beteiligt war und Ende November 1848 die anonyme Schrift „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten“­ publizierte, E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 654, 733 f. G. Beseler, Erlebtes, 1884, S. 73 ging von einer Indiskretion Robert Blums aus. 173 Vgl. Friedrich Ernst Schellers Äußerung bei J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 104. 174 J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 105. 175 Abdruck als Anl. 7 bei J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 391. 176 J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 107 ff. 177 J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 114 (Hervorhebung nur hier). 171

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Mit den künftigen Reichsfestungen und der Übernahme der einzelstaatlichen Anlagen durch das Reich stand am 2. August 1848 ein weiterer wehrrechtlicher Topos auf der Agenda. Wieder wurde Eduard v. Peucker konsultiert. Während die Vorkommission im unitarischen Sinne votiert hatte, ging der ministerielle Entwurf lediglich von der „Befugniß [aus], vorhandene Festungen, in so weit die Sicherheit des Reichs dieß erforderlich [mache…], zu Reichsfestungen zu erklären, und […] demnächst auf Reichskosten zu erwerben, beziehungsweise neue anzulegen und zu unterhalten“.178 Im Ausschuss erklärte der Rechtswissenschaftler Welcker freimütig, „da man doch einmal von der Sache nicht viel verstehe, so müsse man sich an die Kenntniß des Kriegsministers halten“. Sein Greifswalder Kollege Beseler schlug vor, diesen „für die nächste Sitzung […] herzuladen, da es doch nicht gehe, daß [die Ausschussmitglieder…] über so wichtige Sachen hasardir[t]en“. Auch der promovierte Appellationsgerichtsdirektor aus Frankfurt an der Oder Friedrich Ernst Scheller schätzte es als „doch sehr bedenklich [ein], unkundig, wie [man sei…], über diese Dinge zu entscheiden“, und „wünsch[t]e, daß Sachverständige zugezogen würden“. Darauf wurde beschlossen, auch „diese Frage erst in Gegenwart von Sachverständigen weiter zu verhandeln und namentlich, außer dem Kriegsminister, den General v. Radowitz und den k. k. Obristen v. Mayern einzuladen“.179 Den drei „Sachverständigen“ wurden schriftliche Fragen übermittelt, deren Beantwortung als weitere Beratungsgrundlage dienen sollte.180 Am 5. August 1848 wurden die Verhandlungen unter Beteiligung der Abgeordneten v. Radowitz (Café Milani) und v. Mayern (Casino) fortgesetzt.181 Zu der ersten Frage, „in wie weit es den Einzelstaaten gestattet sein dürfe, neben der Reichsgewalt Verfügung über ihre Truppen zu behalten“, verlas der Österreicher v. Mayern Teile eines Gesetzentwurfs des Wehrverfassungsausschusses, dessen stellvertretender Vorsitzender er war.182 Eine umfassende eigene Expertise erstattete Joseph v. Radowitz, der – ausgehend davon, „daß das deutsche Heer im Kriege eines sei und […] dazu bereits im Frieden gewisse Vorbereitungen“ durch die Reichsgewalt getroffen werden müssten – an seiner dem Ausschuss von Carl Josef Anton Mittermaier übermittelten Auffassung festhielt.183 Beide Sachverständigen äußerten sich 178 Abdruck beider Entwürfe als Anl. 6 und 7 bei J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 387 ff., 391 f. 179 J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 145 f. 180 In dem Schreiben hieß es wörtlich: „Der Verfassungsausschuß ist in seinen Be­ra­thungen über die Competenz der Reichsgewalt in Betreff des Heerwesens auf einige Bedenken ge­ stoßen, zu deren Lösung er das Urtheil Sachverständiger zu vernehmen wünschen muß […] Im Namen des Verfassungsausschusses beehre ich mich dem Herrn etc. diese Frage zur gütigen Erwägung vorzulegen und Ihn zu ersuchen, einer der nächsten Sitzungen des Ausschusses beiwohnen zu wollen, um demselben Seine Ansichten und Rathschläge mitzuteilen.“ Abdruck bei J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 146 in Fn. **). 181 Vgl. J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 146 ff. 182 J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 148. 183 s. J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 148 ff. (Hervorhebung nur hier). Im Einzelnen ging es um eine Vereinheitlichung von Dienstvorschriften und Inspektion, Kalibern, des Militärstrafrechts, der Besoldung und Verpflegung etc.

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noch zu verschiedenen Fragen oder machten Formulierungsvorschläge zu einzelnen Verfassungsbestimmungen.184 Außerdem wohnten sie verschiedenen weiteren Sitzungen bei und beteiligten sich auch aktiv an den Beratungen.185 In der Sache bemühte sich die Nationalversammlung schließlich um einen „Kompromiß zwischen einer unitarischen und einer föderativen Heeresverfassung“ (Ernst Rudolf Huber).186 bb) Eisenbahnen und Wasserstraßen In vergleichbarer Weise wie in Wehrverfassungsfragen griff der Verfassungsausschuss bei anderen Gelegenheiten auf „Sachverständige“ zurück. Am 26. August 1848 wurden die Befugnisse der Reichsgewalt im Hinblick auf die Eisenbahnen und Wasserstraßen auf der Grundlage des Vorkommissionsentwurfs und der „Anträge und Motive“ des Volkswirtschaftlichen Ausschusses behandelt.187 Nachdem Alexander v. Soiron aus diesen Motiven zu der Abschaffung der Flusszölle vorgetragen hatte, forderte Heinrich Ahrens, „daß man Mitglieder der Majorität und Minorität des volkswirtschaftlichen Ausschusses einlade, über diese Fragen [den Verfassungsausschuss…] aufzuklären“. Diesem Vorschlag hielt Georg Beseler entgegen, dass diese Abgeordneten voraussichtlich nicht besonders sachverständig seien, so dass von ihnen keine über die schriftlichen Motive hinausgehende Aufklärung zu erwarten sei. Sein Vorschlag, lieber „den Minister des Handels zu Rathe zu ziehen“, fand „allgemeine Billigung“.188 Wie Reichskriegsminister Eduard v. Peucker war auch Arnold Duckwitz kein Mitglied der Nationalversammlung, sondern ursprünglich als Vertreter Bremens nach Frankfurt gekommen und hatte dort an Vorparlament und 50er-Ausschuss teilgenommen.189 Wohl wegen des Gesetzes über die Provisorische Zentralgewalt, das das Verfassungswerk ausschließlich der Nationalversammlung vorbehielt, urteilte der ehemalige Reichshandelsminister 1877, dass ihn der Verfassungsausschuss „im Widerspruch mit den Beschlüssen der Nationalversammlung [ersucht habe], seinen Berathungen über denjenigen Theil der Reichsverfassung, welcher sich auf Handel und Schifffahrt bezog, beiwohnen zu wollen“.190 Außer an der 49. und 50. Sitzung am 29. August 1848 nahm der Bremer Kaufmann und Dampfschifffahrtsunternehmer am 30. und 31. August, am 2. September sowie vom 6. bis zum 9. September 1848 täglich an den Ausschussberatungen teil. Wie der Reichskriegsminister beschränkte er sich nicht auf allgemeine sachliche Auskünfte oder eine Stellungnahme zu den geplanten Regelungen über die Eisenbahnen, die er auch in schrift 184

J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 153, 154. s. J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 157 ff., 163 ff., 170 ff. 186 Zum Ganzen E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 647 ff. 187 Vgl. J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 212 f., 219 ff. 188 J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 226; G. Beseler, Erlebtes, 1884, S. 73. 189 A. Duckwitz, Denkwürdigkeiten, 1877, S. 76, 79. 190 A. Duckwitz, Denkwürdigkeiten, 1877, S. 86. 185

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licher Form vorlegte.191 Vielmehr beteiligte er sich lebhaft an der Diskussion und unterbreitete dem Ausschuss – im Einklang mit seinen Vorstellungen für das „Zollwesen, Flußzölle, Flußcorrectionen, Häfen und Seewesen“  – Formulierungsvorschläge, denen man nach seinem Dafürhalten „durchweg“ folgte.192 Mit Georg Beselers Worten hatte der Handelsminister im Verfassungsausschuss die Stellung eines einflussreichen Beraters.193 cc) Bewertung Der Verfassungsausschuss griff also einerseits auf Arbeiten anderer Nationalversammlungskommissionen und private Publikationen bzw. Mitteilungen zurück. Andererseits luden Vorkommissionen und Ausschussplenum verschiedene „Sachverständige“ zu ihren Beratungen ein. Für die Hinzuziehung des Kriegsministers Eduard v. Peucker und des Handelsministers Arnold Duckwitz, die beide keinen Sitz in der Nationalversammlung hatten, war die besondere Regelung des § 24 GO-FNV  1848 erforderlich. Das Zitierrecht, das § 10 Prov­Cen­tralgG  1848 einschließlich einer „Verpflichtung“ der Minister vorsah, „auf Verlangen der Natio­ nalversammlung in derselben zu erscheinen und Auskunft zu ertheilen“, kam offenkundig nicht zum Tragen.194 Dass der Verfassungsausschuss die Minister  – anders als der Volkswirtschaftliche Ausschuss, der ihre weitergehende Beteiligung ausdrücklich ablehnte195 – über den Wortlaut des § 24 GO-FNV 1848 hinaus nicht nur als Auskunftspersonen hörte, sondern eine aktive Mitwirkung zuließ, könnte an der Dominanz des rechten Zentrums in diesem Gremium gelegen haben.196 Schließlich entsprach diese Vorgehensweise ein Stück weit der Praxis früherer Ständeversammlungen, in denen den landesherrlichen Kommissaren oder Ministern ebenfalls eine aktivere Rolle zugestanden hatte. Die Grundlagen einer Beteiligung von Regierungsvertretern konnten in beiden Konstellationen kaum unterschiedlicher sein: Während die konstitutionellen Ständeversammlungen verpflichtet waren, Minister oder Landtagskommissare auf deren Wunsch hin zu beteiligen, konnte der Verfassungsausschuss autonom über diesen Schritt entscheiden. Anders als in der Information der konstitutionellen Kammern mit Hilfe des Zutritts- und Rederechts ging es nicht mehr um die Erläuterung landesherrlicher Propositionen; Kriegs- und Handelsminister wurden vielmehr als Ratgeber zur Mitarbeit an einem parlamentarischen Entwurf hinzugezogen. Aus heutiger Sicht erinnert ihre Beteiligung weniger an eine parlamentarische Untersuchung als an

191

Abdruck als Anl. 10 bei J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 409 f. J. G. Droysen, VerfA FNV I, 1849, S. 227 ff.; A. Duckwitz, Denkwürdigkeiten, 1877, S. 86 (Zitate). 193 G. Beseler, Erlebtes, 1884, S. 73. 194 Hervorhebung nur hier. 195 s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 1. c) ff). 196 Zur Zusammensetzung des Verfassungsausschusses s. 3. Teil 1. Kap. A. II. 192

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die Zusammenarbeit von Parlamentariern und externen Sachverständigen in einer Enquêtekommission. Ausschlaggebend war nicht mehr die amtliche Stellung als Minister, sondern die fachliche Qualifikation der Person: Eduard v. Peucker war ein militärischer Praktiker ersten Ranges, Arnold Duckwitz erfolgreicher Kaufmann und Unternehmer. Damals wurden politische Spitzenämter noch mit Kennern der jeweiligen Materie besetzt. Heute ist ein Berufspolitiker – einem ­Bonmot Richard v. Weizsäckers zufolge  – „im allgemeinen weder ein Fachmann noch ein Dilettant, sondern ein Generalist mit dem Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft“­.197 Ungeachtet ihrer Sachkunde ist es bemerkenswert, dass im Verfassungsausschuss weder die Hinzuziehung der Minister noch ihre aktive Beteiligung an den Beratungen in Frage gestellt wurde, zumal der „Wunsch“ des Reichshandelsministers, „an den Verhandlungen […] bedingten Anteil [zu] nehmen“, im Volkswirtschaftlichen Ausschuss auf entschiedenen Widerstand stoßen sollte.198 Der Verfassungsausschuss behandelte die Minister keineswegs als vollwertige Ausschussmitglieder und gestand ihnen insbesondere kein Stimmrecht zu. Ihre Funktion war allein beratender Natur. Selbst wenn der Verfassungsausschuss „Sachverständige“ aus den Reihen der Nationalversammlung zu Rate zog, war nach dem Buchstaben des § 28 GO-FNV 1848, dass die Ausschusssitzungen „bei geschlossenen Thüren statt[fanden]“, eine Ausnahmeregelung erforderlich. Zwar konnten „Mitglieder der Versammlung […] auf besondere Einladung Zutritt“ erhalten. Den Entwurfsmotiven zufolge sollte­ ihnen so aber lediglich ermöglicht werden, „als stille Zuhörer die Ausschusszimmer [zu] besuchen“, um sich über den Stand der Dinge zu unterrichten.199 Aufgrund von § 24 GO-FNV  1848 konnten sachkundige Versammlungsmitglieder eigentlich bloß als „Zeugen und Sachverständige“ hinzugezogen werden; trotzdem ließ sie der Verfassungsausschuss an seinen Beratungen aktiv partizipieren. Dieses Vorgehen entsprach Robert v. Mohls ursprünglichem Vorschlag, sachkundige Mitglieder ggf. mit beratender Stimme in die Ausschüsse einzuladen.200 Ent­ sprechende Überlegungen bzw. auch ausdrückliche Regelungen gab es teils bereits für die konstitutionellen Kammern in den Einzelstaaten.201 Alles in allem veranstaltete der Verfassungsausschuss also keine modernen Enquêten. Dennoch scheint die revolutionäre Wende auch in seiner Arbeit durch, indem er es selbst in der Hand hatte, Regierungsvertreter einzuladen oder von seinen Bera 197

Vgl. G. Hofmann/W. A. Perger, R. v. Weizsäcker im Gespräch, 1992, S. 150. W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 118 f. 199 L. Schwarzenberg/R. v. Mohl/W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848, S. 26 f. unter w) (Hervorhebung nur hier). Bemerkenswerterweise kommen die Motive restriktiver als der Entwurf zu dem Schluss, „daß in der That überhaupt ein Zutritt von Nichtmitgliedern zu unter­ sagen [sei…], und zwar in jedem Stadium der Geschäftsbesorgung.“ Eine zweckmäßige Information der Nichtausschussmitglieder lasse sich ggf. mit dem Druck von Zeugenaussagen und Aktenstücken besorgen. 200 Vgl. IV. 5. Satz 2 in R. v. Mohl, Vorschläge GO FNV, 1848, S. 32 und L. Schwarzenberg/ R. v. Mohl/W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848, S. 5. 201 Vgl. etwa F. Murhard, KhVerUrk II, 1835, S. 418 f. 198

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tungen fernzuhalten. Ihre Anwesenheit war Ausdruck parlamentarischer Autonomie und nicht länger des Oberaufsichtsrechts einer der Volksvertretung übergeordneten monarchischen Gewalt. War das Vorgehen des Verfassungsausschusses informa­ tionsrechtlich prima facie alles andere als eindrucksvoll, fußte es doch schon auf vergleichbaren Grundlagen wie das heutige Enquête- und Untersuchungsrecht. b) Wehr- und Marineausschuss Anders als der Verfassungsausschuss, der sich wenigstens äußerlich mit konventionellen Informationsinstrumenten zufrieden gab, veranstalteten sowohl der Wehr- als auch der Marineausschuss relativ moderne Enquêten, bei denen sie sich auch mit Dritten in Verbindung setzten. aa) Die Flottenfrage Erste Anstrengungen um eine deutsche Flotte nahmen weit vor der Revolution ihren Anfang.202 Nachdem sich Vorparlament und Vertrauensmänner der Frage angenommen hatten, setzte der Bundestag einen Marineausschuss aus den Gesandten Preußens, Hannovers, Mecklenburgs, Oldenburgs, Hamburgs, Bremens und Lübecks ein. Unabhängig von diesen offiziellen Bemühungen entstanden überall im Land private Vereine, Komitees und Gesellschaften, die sich in dieser nationalen Prestigefrage engagierten.203 Angesichts dieser Vorgeschichte ist es nicht erstaunlich, dass sich die Nationalversammlung schon in ihrer siebten Sitzung am 26. Mai 1848 mit einem Antrag Johann Gustav Heckschers zu der deutschen Flottenfrage beschäftigte. Mit großer Mehrheit folgte das Plenum der Forderung des promovierten Hamburger Advokaten, der sich im Vorparlament als Wort­führer der Flottenfrage profiliert hatte,204 „einen Ausschuß für die deutsche Marine in den Abtheilungen [zu] ernennen, und denselben [zu] ermächtigen, mit den Marine-Comités der deutschen Seehäfen sich in Vernehmen zu setzen, auch vom Inund Auslande die erforderlichen Materialien zur Vorlage an die Nationalversammlung einzuholen.“205 Genau besehen beschloss die Versammlung damit nicht nur die Niedersetzung eines Ausschusses, sondern erteilte diesem künftigen Gremium zugleich einen umfangreichen Enquêteauftrag. Indem das Untersuchungsthema und die auszuschöpfenden Quellen bestenfalls in Umrissen festgelegt wurden und sich die Frankfurter Nationalversammlung auf eine finale Grobdetermination beschränkte, überließ sie den konkreten „Untersuchungsauftrag“ ebenso wie das weitere Vorgehen grosso modo der künftigen Kommission. 202 H. Best, Interessenpolitik, 1980, S. 27 zu erster Begeisterung für eine deutsche Flotte als außenhandelspolitisches Instrument. 203 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 656 f. 204 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 656. 205 Wigard, VerhFNV, S. 92 f.

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Am 3. Juni 1848 entschuldigte der Abgeordnete für Triest Carl Ritter v. Bruck den Marineausschuss in der Versammlung; man könne „noch keinen Bericht erstatten, weil die Hülfsmittel dazu erst eingeholt werden müss[t]en, zum Theil aus so entfernten Orten, daß sie zur Zeit noch nicht eintreffen konnten“. Bisher habe man die „Bundesversammlung [ersucht…], alle Verhandlungen mitzutheilen, welche von ihr darüber gepflogen worden [seien…], und von den einzelnen Regierungen gegeben werden könn[t]en. Auch vom Fünfziger-Ausschuß [sei…] einiges hierauf Bezügliche eingeliefert worden, ebenso von Privatvereinen, welche sich an diesen gewendet [hätten…]. Gegenwärtig [halte überdies…] ein Marine-Congreß in Hamburg seine Berathungen, der hoffentlich manche Beiträge liefern“ werde.206 „Erst dann, wenn alles dieses einzelne Material gesammelt [sei, werde es dem Ausschuss…] möglich sein, ein Bild zusammen zu stellen von dem, was in dieser wichtigen Angelegenheit bisher geleistet worden“.207 Fünf Tage später folgte ein Zwischenbericht von Joseph v. Radowitz. Der Ausschuss hatte seine Aufgabe, die „geeigneten Vorschläge zur Bildung einer deutschen Kriegsmarine“ vorzu­ legen, mittlerweile in vier Einzelfragen unterteilt: An erster Stelle sollte geklärt werden, welche „Bedingungen […] eine deutsche Seemacht überhaupt […] in Bezug auf die Beförderung der großen commerciellen und politischen Interessen des­ Gesammtvaterlandes“ zu erfüllen habe. Die zweite und dritte Frage betrafen Art und Anzahl der notwendigen Fahrzeuge, den wahrscheinlichen Zeitrahmen sowie die Kosten. Weiterhin sei zu untersuchen, in „welche natürliche[n] Abschnitte […] die Ausführung dieser gesammten Aufgabe“ zerfalle. Der Berichterstatter betonte, dass der Ausschuss noch geraume Zeit benötige, um der „Versammlung ein Werk vorlegen [zu] können“, das „als Grundlage [von…] ferneren Beschlüssen […] dienen“ könne. Auch v. Radowitz verwies darauf, dass insbesondere „das Herbei­ ziehen der erforderlichen Materialien, die Verbindungen, in die [man sich…] zu setzen [habe…] mit den verschiedenen Marine-Comité’s, die Auskunft, die […] in fremden Seestädten einzuziehen“ wäre, zeitlichen Tribut verlangten. Ungeachtet dessen folgte ein erster Antrag des Marineausschusses – weil die „Schöpfung der Flotte […] nicht bloß eine militärische Frage, eine comercielle Frage, sondern im höchsten Grade eine nationale Frage“ sei.208 Obwohl die Nationalversammlung die Forderung, „die hohe Bundesversammlung zu veranlassen  […], die Summe von sechs Millionen Thalern auf verfassungsmäßigem Wege verfügbar zu machen“,209 am 14. Juni 1848 „mit einer an Stimmeneinhelligkeit grenzenden Majorität“ genehmigte,210 kam die Marineangelegenheit bald darauf ins Stocken. Erst im 206

Die Einberufung dieses Kongresses ging u. a. auf das Verlangen des Fünfziger-­Ausschusses zurück. s.  dazu W. Menzel, Dt. Krieg II, 1867, S.  347 f., der nach eigenem Bekunden das entsprechende Schreiben entworfen haben will. Abdruck dieses und eines Schreibens an den Bundestag sowie einer Proklamation an die Bevölkerung in N. N., VerhDtParl II, 1848, S. 347 ff. s. ferner den Bericht über den Hamburger Marinekongress bei Wigard, VerhFNV, S. 336. 207 Wigard, VerhFNV, S. 196. 208 Wigard, VerhFNV, S. 251. 209 Wigard, VerhFNV, S. 252. 210 Wigard, VerhFNV, S. 319.

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Oktober 1848 erließ der Reichsverweser die Verordnung, betreffend die Beschaffung von 5.250.000 fl. (3.000.000 Thaler) für die deutsche Marine.211 Im folgenden März hatten noch nicht einmal alle Staaten die erste Rate aufgebracht.212 Die Weigerung Preußens und Österreichs, ihren Teil beizutragen, der sich andere Staaten anschlossen, besiegelte gemeinsam mit der Entscheidung der Hohenzollern­ monarchie für eine eigene Kriegsmarine das Schicksal der Reichsflottenangelegenheit, obwohl das Prestigeprojekt zunächst selbst politische Gegner geeint hatte.213 Unbeschadet seines Scheiterns in der Sache hatte sich der Ausschuss für eine ausgedehnte parlamentarische Enquête entschieden. bb) Die „Wehrhaftigkeit im Vaterlande“ Schon am 5. Juni 1848 beschloss das Plenum auf vielfachen Antrag214 die Wahl eines Ausschusses, um „Untersuchungen über die Wehrhaftigkeit und die Ver­ besserung dieser Wehrhaftigkeit im Vaterlande anzustellen, den Zustand der Sicherheit Deutschlands nach Außen zu erwägen, die Organisation der Volkswehr und die stets mögliche Verwendung derselben in Berathung zu ziehen und über alles dieses der Nationalversammlung bald möglichst Vorschläge zu machen“.215 Ausdrücklich wurde „dem Ausschuß nach Maßgabe des § 24 der Geschäftsordnung das Recht eingeräumt  […], Zeugen und Sachverständige vorzufordern, zu vernehmen und vernehmen zu lassen, oder mit Behörden in Verbindung zu treten“.216 Politisch brisant war das Unterfangen dadurch, dass sich die Frankfurter Nationalversammlung so in das Allerheiligste der monarchischen Macht in den Einzelstaaten vorwagte. Daran änderte es wenig, dass dieser Vorstoß im engen sachlichen Zusammenhang mit der eigentlichen Aufgabe der Versammlung stand, die künftige Reichsverfassung festzulegen. Der Militärausschuss bezeichnete die „Untersuchung des gegenwärtigen Zustandes der Wehrhaftigkeit Deutschland’s in Bezug auf dessen gesicherte Selbstständigkeit gegen Angriffe von Außen“ als Vorarbeit für einen „Entwurf der künftigen allgemeinen Wehrverfassung für das gesammte deutsche Reich“. Außerdem gelte es, „geeignete Vorschläge zur Verbesserung dieser Wehrhaftigkeit [auszuarbeiten], insofern sie sich in ihrem jetzigen Zustande als unzulänglich für ihren Zweck ergeben sollte“.217 Im Anschluss an diese Vorarbeiten wollte man das 211 RGBl. 1848, S. 11 ff. nebst Bekanntmachung des Reichsministers der Finanzen, betreffend die Vertheilung der vorläufig für die deutsche Marine verfügbar zu machenden 5,250,000 fl. (3,000,000 Thaler) auf die einzelnen Staaten. 212 Antwort des Reichsfinanzministers Hermann v. Beckerath auf die Interpellation des Mari­ neausschusses bei Wigard, VerhFNV, S. 5679 ff. 213 Zum Ganzen E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 655 ff. 214 Vgl. Wigard, VerhFNV, S. 205 ff. 215 s. die Frage des Präsidenten Heinrich v. Gagern bei Wigard, VerhFNV, S. 212. 216 Wigard, VerhFNV, S. 212. 217 Bericht des Militärausschusses bei Wigard, VerhFNV, S. 792 ff.

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eigentliche Gesetz über die Organisation der allgemeinen deutschen Volkswehr in Angriff nehmen.218 Erwähnung verdient, dass der Ausschuss in seinem „Bericht […] über den gegenwärtigen Zustand der Wehrhaftigkeit Deutschland’s und über die Mittel zur Verbesserung derselben“ nach einer ungefähren Bezifferung des militärischen­ Personals das Plenum „um Erlaubniß [bat], diesen Vortrag nur auf allgemeinere Motive beschränken zu dürfen, indem er der Meinung [war…], daß die Angabe ganz genauer Details in dieser Angelegenheit nicht ersprießlich für das allgemeine Interesse Deutschland’s seyn“ werde.219 Man schützte also militärische Geheimhaltungsinteressen durch die Art und Weise, in der an das Plenum berichtet wurde. Entsprechende Forderungen werden heute noch erhoben, wenn einem Untersuchungsausschuss eingestufte Informationen mitgeteilt worden sind, deren Publikation die Bundesregierung nicht zustimmt.220 cc) Bewertung Sowohl an die Marine- als auch an die weiteren Wehrverfassungsfragen gingen die jeweiligen Fachausschüsse zunächst mit einer Enquête über den gegenwärtigen Zustand heran. Der Marineausschuss machte sich zu diesem Zweck die „Vorarbeiten“ des Bundestages, Vorparlaments und Fünfziger-Ausschusses zunutze, griff aber auch auf die Arbeiten des Hamburger Marine-Kongresses und vergleichbarer Privatveranstaltungen zurück. Vor einem Bericht an das Plenum wollte der Militärausschuss zunächst Zeugen und Sachverständige anhören und sich mit offiziellen Stellen in Verbindung setzen. Beide Kommissionen nutzten also die­ ihnen durch § 24 GO-FNV 1848 erschlossenen Informationsquellen aus. Soweit ersichtlich kamen Bedenken wegen der föderalen Kompetenzverteilung oder die Abgrenzung exekutiver und parlamentarischer Befugnisse, die später das Selbstinformationsrecht der preußischen Kammern belasten sollte, nicht zur Sprache. Stattdessen setzte man sich für die erforderliche Sachstandsenquête mit privaten Dritten oder staatlichen Stellen in Verbindung, baute auf ihr Wissen auf oder holte externe Expertisen ein. Entsprechende Schritte wären den vormärzlichen Ständeversammlungen unter der Herrschaft des „monarchischen Prinzips“ unmöglich­ gewesen. Auch die Arbeit dieser beiden Ausschüsse verdeutlicht also den informationsrechtlichen Umbruch in der Märzrevolution.

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s. die Ankündigung des Berichts durch Friedrich Stavenhagen bei Wigard, VerhFNV, S. 2266 sowie den Bericht selbst bei Haßler, VerhFNV II, S. 329 ff. 219 Haßler, VerhFNV II, S. 78. 220 Vgl. U. Sacksofsky, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, § 15 Rn. 31 ff. m. w. N.

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c) Volkswirtschaftlicher Ausschuss Eine besonders reiche Enquêtetätigkeit entfaltete der Volkswirtschaftliche Ausschuss, der teils wegen seiner „so ergötzlichen Vielseitigkeit ‚volkswirtschaftlicher‘ Anregungen“ Hohn und Spott erntete.221 Obwohl die Frankfurter Nationalversammlung den Antrag Friedrich Wilhelm v. Redens, „auf geeignetem Wege, namentlich durch Vermittlung der betreffenden Behörden, Vernehmung von Zeugen u.  s.  w., über die Erwerbs- und Arbeitsverhältnisse Deutschlands diejenigen Nachrichten einzuziehen, welche den Reichstag zur gründlichen Erledigung der in diesem Gebiete zu erwartenden Verhandlungen befähig[t]en; sodann aber Vorschläge wegen Behandlung dieser Angelegenheit zu machen“, in ihrer zweiten ­Sitzung am 19. Mai 1848 als nicht dringlich (!) in die Abteilungen verwiesen hatte,222 wurde schon fünf Tage später beschlossen, „daß ebenso wie für das Verfassungswerk sofort […] ein Ausschuß niedergesetzt werde, welcher die Arbeiterfrage und Alles, was damit in Beziehung [stehe…], nämlich die Anträge in Bezug auf die Handels- und Gewerbsverhältnisse zum Gegenstand seiner Begutachtung und seiner Anträge an die Nationalversammlung“ zu machen habe.223 Es handelte sich um den ersten parlamentarischen Auftrag zu einer ausgedehnten Wirtschaftsund Sozialenquête auf gesamtstaatlicher Ebene. aa) Die Ermächtigung des Volkswirtschaftsausschusses Am 3. Juni 1848 vermeldete sein Präsident Friedrich v. Rönne, der ältere Bruder Ludwig v. Rönnes, die Konstituierung des „Ausschusses für Volkswirtschaft“, der gleichzeitig Unterausschüsse für verschiedene wirtschaftliche Fragen, allgemeine Arbeiterangelegenheiten, Auswanderung, Ansässigmachung und Frei­zügigkeit gebildet hatte. Dem Antrag des Gesamtausschusses, „in Gemäßheit des § 24 der Geschäftsordnung“ Enquêten veranlassen zu dürfen, um im Interesse „wahrhaft practische[r] und volksthümliche[r] Vorschläge“ zunächst „durch Besprechung mit sachverständigen Männern aus dem Volke über Zustände und Bedürfnisse […] in allen Gauen des deutschen Vaterlandes genaue Aufklärung“ zu schaffen,224 fand im Plenum beinahe einhellige Zustimmung.225 In der Äußerung des Ausschuss­ vorsitzenden, dass dieser Antrag darauf abziele, den Ausschuss „zu Vorlagen zu ermächtigen“,226 spiegelte sich deutlich der legislatorische Vorbereitungszweck des Enquête­rechts wider. Mit den Befugnissen des § 24 GO-FNV  1848 ausstaf 221

Vgl. H. Blum, Revolution, 1898, S. 264. Wigard, VerhFNV, S. 27 f. 223 Wigard, VerhFNV, S. 71. 224 Wigard, VerhFNV, S. 195 f. (Hervorhebung nur hier). Zu der entsprechenden Ausschuss­ entscheidung vom 31. Mai 1848 s. W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 54 f., wo irrtümlich auf § 14 GO-FNV 1848 verwiesen ist. 225 Wigard, VerhFNV, S. 196. 226 Wigard, VerhFNV, S. 195. 222

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fiert, verfügte der Volkswirtschaftliche Ausschuss, der sich zudem „durch die ungewöhnliche Qualifikation fast aller Mitglieder“ auszeichnete,227 über die erforderlichen Mittel, um Gesetzgebungs-, Sozial- und Sachstandsenquêten zu veranstalten. bb) Der Zolltarif Eine besonders umfangreiche Enquête wurde zur Vorbereitung eines Allgemei­ nen Deutschen Zolltarifs durchgeführt. Grundlage war ein am 23. Juni 1848 „nach kurzer Debatte“ im Ausschussplenum einstimmig angenommener Antrag des III.  Unterausschusses, „[n]ach Beseitigung der Verfassungsfragen die Vorbereitung eines Gesetzes für die zu verändernden Zollverhältnisse Deutschlands in die Hand zu nehmen und nach Einsetzung der provisorischen Zentralgewalt auf dessen Erlassung hinzuwirken“.228 (1) Allgemeines Vorgehen Bei dieser Gelegenheit wurde das Arbeitsprogramm bloß grob abgesteckt:­ Zunächst sollten durch den Unterausschuss „namentlich wegen Aufstellung des neuen Tarifs Sachverständige aus Behörden und Privaten abzuhören und diesfallsige Vorschläge dem Gesamtausschusse vor[zu]legen“ sein.229 Tatsächlich entschied man sich später für ein zweistufiges Prozedere mit schriftlichen Fragen und anschließender Sachverständigenanhörung. Teils „um sich […] genaue Auskunft zu verschaffen[,] theils um den Befragten Gelegenheit zu geben, ohne Rücksicht auf die gestellten Fragen Aufklärungen und Berichtigungen über örtliche Handelsund Zollverhältnisse und Bedürfnisse beizufügen“, wurden „nach allen größeren Fabrik-, Handels- und Hafenplätzen, sowie an fachkundige Privaten, ausführliche Fragen gesandt“, bei deren Ausarbeitung „jedes Mitglied des Gesammtausschusses […] das Recht [erhielt], beliebige Fragen […] zu stellen“. Außerdem erging „an alle größeren Handels-Corporationen die Aufforderung, Sachverständige zu bezeichnen, damit der volkswirthschaftliche Ausschuß diese nach Frankfurt einladen und mündlich vernehmen könne.“230  – Neben dieser Einbeziehung der ebenso interessierten wie sachkundigen Kreise machte der „Ausschuß von dem ihm nach § 24 der Geschäftsordnung zugestandenen Rechte Gebrauch, indem er Commissäre sämmtlicher deutschen Regierungen zu Besprechungen über diesen und ähnliche Zwecke“ einlud.231 Während die Einzelstaaten dieser parlamentarischen Aufforderung teils nur zögerlich nachkamen, traten diese Sachverständi 227

Vgl. R. Moldenhauer, in: Conze/Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 30. W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 73 (Hervorhebung nur hier). 229 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 73 (Hervorhebung nur hier). 230 Vgl. Wigard, VerhFNV, S. 2679 f. 231 Wigard, VerhFNV, S. 2679. 228

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gen später mit Handelsminister Arnold Duckwitz zu „regelmäßigen Sitzungen“ zusammen. – Obwohl die parlamentarische Aufforderung den Erinnerungen des Bremer Kaufmanns Duckwitz zufolge in den „Seestaaten“ auf wenig Gegenliebe gestoßen sein soll,232 bediente sich der Volkswirtschaftliche Ausschuss einer „sorgfältig formulierten Enquête“ (Gilbert Zieburas).233 Indem Anhörungen mit einer vorbereitenden schriftlichen Enquête kombiniert werden sollten, zeichneten sich deutlich moderne Muster ab, wie sie heute § 70 GO-BT zugrunde liegen. (2) Schriftliche Enquête Mitte September 1848 brachte Schriftführer Bernhard Eisenstuck, der für den abwesenden Präsidenten den Vorsitz übernommen hatte, „die Notwendigkeit, die eingegangenen Antworten zu ordnen, um danach den Termin für die Einberufung und Vernehmung der Sachverständigen zu bestimmen, zur Sprache“. Der Kaufmann Carl Theodor Gevekoht, der gemeinsam mit Arnold Duckwitz Ende März von der Bremer Bevölkerung für das Frankfurter Vorparlament ausgewählt worden war,234 regte an, „sich vor Zusammenstellung der Antworten über ein gemeinsames System der Anordnung zu verständigen“, „gleichzeitig“ aber auch schon die „Sachverständigen […] zusammenzuberufen, da die meisten von ihnen alle oder mehrere Handels- und Gewerbezweige ihrer Gegend vertreten würden“. Zur Überzeugung Eisenstucks gehörte dagegen „die ganze […] Frage zunächst vor den III. Unterausschuß, dem auch die Vernehmung obliegen“ sollte. Auf Vorschlag Gevekohts wurde die Entscheidung, „ob die Zusammenstellungen der Antworten im Plenum des Ausschusses oder im III. Unterausschusse beraten werden sollten, auf die nächste Tagesordnung gesetzt“.235 Anscheinend fiel diese Sitzung in den September-Unruhen aus;236 überhaupt scheint der Ausschuss die Enquêteangelegenheit in diesen turbulenten Tagen nicht weiterverfolgt zu haben. So wurde die Materialauswertung erst am 29.  September 1848 erneut zum Thema, als der Marburger Staatswissenschaftler Bruno Hildebrand (Westendhall) beantragte, „daß ein Resumee aus den schriftlich eingegangenen Beantwortungen der Tariffragen […] aufgestellt und zur öffentlichen Kenntnis gebracht werde“. Sinn und Zweck dieser Forderung war zweifellos, die Öffentlichkeit – möglicherweise nach englischem Vorbild  – in die Sache einzubeziehen, um ggf. weiteres Material zu erhalten. Nachdem entschieden war, die mündliche Enquête noch vor „Entwerfung des Tarifes“ durchzuführen, wurde „der Antrag Hildebrand auf Erstattung eines schriftlichen Resumees mit 16 gegen 5 Stimmen angenommen und sogleich die Notwendigkeit anerkannt, daß den Mitgliedern gestattet werden 232

Vgl. A. Duckwitz, Denkwürdigkeiten, 1877, S. 78 f., 97 f. G. Ziebura, in: Ritter/ders. (Hg.), FG E. Fraenkel, 1963, S. 185 (222). 234 A. Duckwitz, Denkwürdigkeiten, 1877, S. 76. 235 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 137 f. 236 Vgl. R. Moldenhauer, in: Conze/Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 138 Nr. 48a. 233

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müsse, für diese höchst umfängliche Arbeit sich der nötigen Hilfsarbeiter zu bedienen“. Anscheinend geschah in letzterer Hinsicht nichts; am 9. Oktober 1848 kam Heinrich Carl, ein konservativer preußischer Tuchfabrikant, auf die Forderung nach „Hilfsarbeitern“ zurück, „da nach seiner und Gevekohts Ansicht die Zeit der Mitglieder zu der quästionierten Arbeit nicht ausreiche“. Gleichzeitig präsentierte er ein „Schema“, „wonach diese Hilfsarbeiter die Zusammenstellung machen soll[t]en“. Auch Friedrich Wilhelm v. Reden, der u. a. seit 1843 als Referent für industrielle und Handelsangelegenheiten im preußischen Außenministerium gewirkt hatte, gab „Anweisung zur zweckmäßigen Technik einer solchen Arbeit“.237 Trotz dieses Vorspiels wurde über die Forderung personeller Entlastung der Ausschussmitglieder anscheinend kein Beschluss gefasst, so dass offen blieb, ob diese „Hilfsarbeiter“ – was nahe liegt – aus den Reihen des Parlaments rekrutiert oder besonders angestellt werden sollten. In heutiger Zeit fällt die Aufgabe, die Ausschussmitglieder bei der Auswertung des teilweise ungeheuren Materials zu unterstützen, den Fraktionsmitarbeitern zu, deren Zutritt deswegen in § 12 Abs. 2 PUAG geregelt ist.238 Teils kommt es wohl auch zu einer Anstellung Dritter.239 Am 11. November 1848 entschied der Ausschuss, die schriftliche Enquête zu vollenden und der Zentralgewalt das Resultat durch die Nationalversammlung mit dem Auftrag überweisen zu lassen, „den Tarif zu entwerfen“. Danach sollte der Entwurf „zunächst dem Ausschuß wieder mitgeteilt und zum Zwecke der Kritik desselben die mündliche Enquête vorgenommen“ werden.240 Beinahe zwei Wochen später erstattete Friedrich Wilhelm Stahl, ein Bruder des konservativen Staatsrechtlers und preußischen Politikers, am 24. November 1848 im Plenum den Abschlussbericht. Darauf folgte ein Bericht der ehemaligen Ausschussminorität, die mit dem Hinzutreten eines weiteren Mitglieds zur Mehrheit aufgeschlossen hatte.241 Erst gut zwei Monate später wurde die Reichsexekutive neben dem Parlament in das für die deutsche Einigung so wichtige Projekt eingebunden. Indem der Volkswirtschaftsausschuss am 10. Januar 1849 auf Ersuchen des Handelsministers entschied, „die sämtlichen Antworten auf die Enquetefragen, welche bis heute eingegangen, dem Handelsministerium“ gemeinsam mit den abgeschlossenen „Zusammenstellungen der Antworten“ zu übermitteln,242 kam es zu einer gegenüber den einzelstaatlichen Verhältnissen, dass die Landstände die Regierung um Erhebungen und Mitteilungen bitten mussten, bemerkenswerten Umkehrung der informationsrechtlichen Verhältnisse. Gleichwohl war die Abgabe der Sache zugleich ein gewisses Eingeständnis des parlamentarischen Scheiterns bei dem Versuch, eine Einigung in der komplizierten Zollfrage zu erreichen. 237

W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 147 ff. (Hervorhebung nur hier). Vgl. L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 9 Rn. 20 f.; C. Heyer, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, § 12 Rn. 42. 239 S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 100 f. 240 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 193. 241 Wigard, VerhFNV, S. 3542 f. 242 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 233. 238

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(3) Die Vorbereitung von Sachverständigenanhörungen Nach den ursprünglichen Absichten des Ausschusses sollte auf die schriftliche Enquête eine mündliche Anhörung folgen. Am 26. Juli 1848 präsentierte der Vorsitzende dem Volkswirtschaftlichen Ausschuss eine „Liste der Korporationen und Sachverständigen  […], welche für die Tariffrage einberufen werden soll[t]en“. Wie schon die Enquêtefragen wurde „dieselbe auf Antrag mehrerer Mitglieder ergänzt und verändert, auch jedem Mitgliede schließlich anheim gegeben, diesfallsige Vorschläge nachträglich […] einzureichen.“243 Anscheinend wurden bereits die Minderheiten mit ihren Wünschen berücksichtigt, wie es heute in § 70 Abs. 2 GO-BT vorgesehen ist. – Die beabsichtigten Anhörungen sollten im Sinne einer Gesetzesvorbereitungsenquête dazu dienen, die für den Entwurf eines Zolltarifs erforderlichen Informationen und Kenntnisse zusammenzutragen. Dementsprechend kam es am 29. September 1848 durch die Frage des rechten Zentrumspolitikers und Bankiers Carl Breusing (Landsberg), ob „die mündliche Enquete nach Entwerfung des Tarifes und unter Grundlage dieses Entwurfes stattfinden“ solle, zwar zu einer längeren Diskussion. Letztlich wurde diesem Vorschlag aber entgegenhalten, „daß eben die Enquete den Anhalt geben solle für den Entwurf des Tarifes und demnach jedenfalls vor dessen Feststellung stattfinden müsse“.244 Bei der Vorbereitung der Enquête kam in Gestalt der Entschädigungsfrage eine beachtliche potentielle Schwäche jedes freiwilligen Enquêterechts zur Sprache. Trotzdem lehnte die Ausschussmehrheit den Antrag, „eine Bestimmung über Aufwandsentschädigung für die einzuberufenden Sachverständigen zu treffen und deshalb eine Bewilligungsfrage an die Nationalversammlung zu stellen“, mit 17 gegen 5 Stimmen ab. Die Ausschussmajorität war der Auffassung, dass man mit „einer offiziell ausgesprochenen pekuniären Entschädigung viele der Einberufenen [einerseits überhaupt erst] zu einer Liquidation veranlassen werde“. Andererseits habe „die Nationalversammlung den Ausschuß zu Abhörung von Sachverständigen ausdrücklich ermächtigt“, so „daß man somit auch unbezweifelt zu Ergreifung [der erforderlichen…] Mittel beigestimmt habe“. Gegenüber diesem laxen Umgang mit der Budgethoheit erklärte eine Minderheit zu Protokoll, „daß sie eine besondere Bewilligung […] unter genauer Vorlage einer Kostenberechnung für unentbehrlich halte, weil es sich um die Verwendung öffentlicher Mittel handele“, die man „in der allgemein erteilten Ermächtigung nicht als bewilligt betrachten könne“.245 Bemerkenswert ist, wie hoch die Ausschussmehrheit anscheinend den Patriotismus und die Kooperationsbereitschaft der geladenen Sachverständigen anschlug. Soweit es sich um einzelstaatliche Beamte handelte, die möglicherweise in Frankfurt am Main logierten, lag eine Kostenübernahme in der Tat nicht nahe. Sonst war die Sorge der Minderheit berechtigt, dass man auswärtige Sachverständige, die noch dazu nicht förmlich zum Erscheinen vor dem Ausschuss verpflichtet waren, we 243

W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 93. W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 147. 245 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 92 f. 244

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nigstens für ihre Kosten entschädigen müsse. Entsprechende Überlegungen sollten zu Beginn der 1890er Jahre im kaiserlichen Reichstag wiederkehren, während das Risiko ausufernder Enquêtekosten bereits im Frühjahr 1850 im bayerischen Landtag eine Rolle spielte.246 (4) Ein vermeintlicher Kompetenzkonflikt mit der Regierung Trotz der umfangreichen Vorarbeiten zog sich der Beginn der Anhörungen weiter hin. Als Friedrich Wilhelm Freiherr v. Reden am 9. Oktober 1848 „seine Enquete­ zusammenstellung vor[legte] mit der Beschwerde, daß mehrere von ihm […] an das Büro gerichtete Anträge auf Einberufung von Sachkundigen ohne alle Folge geblieben seien“, erwiderte der Vorsitzende Bernhard Eisenstuck, „daß […] die Sache durch die Vorlage des Ministeriums in eine ganz andere Lage gekommen sei“.247 Gemeint war die Forderung des Reichshandelsministers vom 23. September 1848, „die commercielle Einheit Deutschlands […] begründen“ zu dürfen.248 Arnold Duckwitz hatte dem Plenum vorgehalten, dass die „Handels- und Zollgesetzgebung Deutschlands“, um ein „organisches Ganzes“ werden zu können, „von einem Centralpunkte aus geleitet werden“ müsse. Würden die erforderlichen Regelungen dagegen von verschiedenen parlamentarischen Ausschüssen vorbereitet, müsse man „Mißstände mancher Art […] besorgen“. Kurzum: Die Versammlung wäre gut beraten, wenn sie dem „Ministerium die abschließende Vorlage der Gesetze über Handel und Schifffahrt wenigstens für einen Theil dieses Gebietes“ überlasse.249 Obwohl sich mit dieser Bitte kein Kompetenzkonflikt im technischen Sinne anbahnte, war die Sache politisch brisant: Einerseits machte Arnold Duckwitz seine Forderung, „daß man dem Handelsministerium das Recht einräume, Gesetzesvorlagen über Handel und Schifffahrt selbst auszuarbeiten, überhaupt demselben die Initiative einräume und davon absehe, durch Ausschüsse dergleichen Gesetze in die Nationalversammlung zu bringen, ohne vorab eine Prüfung […] durch das Ministerium geschehen zu lassen“, nach der Demission des Ministeriums Leiningen zum Junktim seiner Rückkehr ins Amt.250 Obwohl er nicht rechtliche, sondern Zweckmäßigkeitserwägungen ins Feld führte, ging es andererseits nicht bloß um das Selbstverständnis der 246 s. 6. Teil 2.  Kap. B. III. 2. c)  zum Antrag Auer im Reichstag sowie zu Bayern 4. Teil 2. Kap. B. II. 2. c) und D. I. 247 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 149. 248 s. dazu A. Duckwitz, Denkwürdigkeiten, 1877, S. 90 ff. 249 Diese Vorlage wurde an den Volkswirtschaftlichen Ausschuss verwiesen (Wigard, VerhFNV, S. 2215, 2216), der am 6. November 1848 folgenden Antrag beschloss: „Die Nationalversammlung wolle auf Veranlassung des Vortrages des Handelsministers die Zentralgewalt auffordern, die zur kommerziellen Einheit Deutschlands erforderlichen Gesetzentwürfe vorzulegen“. Später fand in der 70. Sitzung noch eine „Konferenz mit dem Handelsminister“ statt, worauf in der nächsten Sitzung die endgültigen Beschlüsse folgten. s. W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 165 ff., 183 f., 190 ff. 250 A. Duckwitz, Denkwürdigkeiten, 1877, S. 85 f.

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Versammlung, sondern ebenso um ihren Einfluss auf die Reform der Wirtschafts­ verfassung.251 Zu allem Überfluss ließ sich die ministerielle Forderung, die entsprechenden zentralen Gesetze vorbereiten zu dürfen, als Auftakt eines Machtkampfes interpretieren, überließ doch § 3 Prov­Cen­tralgG 1848 die „Errichtung des Verfassungswerks“ ausschließlich der Nationalversammlung. Ganz proparlamentarisch betonte der Professor der Geschichte und Staatswissen­ schaften Bruno Hildebrand (Westendhall) in den Ausschussberatungen dementsprechend, dass das „Memorandum des Ministeriums […] keine Änderung herbeigeführt“ habe. Im krassen Gegensatz dazu stellte der Danziger Oberregierungsrat und Dirigent der Finanzabteilung Heinrich Osterrath die leider nicht näher begründete These von der „Unzulässigkeit diesseitiger Vernehmung der Sachverständigen“ auf und wünschte stattdessen, „die Enquete in die Hände des Ministeriums übergehen zu sehen“;252 möglicherweise handelte es sich bei diesem Einwand um einen Anklang der durch die Revolution scheinbar überwundenen informationsrechtlichen Vorstellungen auf der Grundlage des monarchischen Prinzips. Der Direktor des statistischen Büros zu Wien Carl Czoernig besetzte die vermittelnde Position, dass „die Sache nicht […] beschlußreif [sei], bevor die Nationalversammlung sich über die Vorlage des Ministeriums entschieden habe“. Demgegenüber bestritt Bruno Hildebrand schon die Notwendigkeit einer Entscheidung der Nationalversammlung und „vindiziert[e] die Pflicht der ganzen Enquete dem Ausschusse“.253 Über diesen grundsätzlichen Streit hinaus waren sich nicht einmal die Abgeordneten, die in parlamentarischer Regie fortfahren wollten, über das weitere Vorgehen einig.254 Auf die Feststellung des Konservativen Heinrich Osterrath, „daß zunächst über die Einberufung der Sachverständigen ein Beschluß zu fassen sei“, fragte der Vorsitzende, „ob 251 Letztendlich ging der Kampf um die parlamentarische Prärogative wohl verloren. s. dazu G. Ziebura, in: Ritter/ders. (Hg.), FG E. Fraenkel, 1963, S. 185 (219, 221) sowie A. Duckwitz, Denkwürdigkeiten, 1877, S. 90 ff. 252 Bereits am 29. September 1848 war im Volkswirtschaftlichen Ausschuss der Antrag kritisiert worden, der Zentralgewalt die Vorbereitung des Zolltarifs zu überlassen. Anlass war ein Vorschlag im Plenum, dass die „Nationalversammlung […] die Zentralgewalt [beauftragen solle], unter Benutzung der bei dem Ausschusse bereits eingegangenen und noch eingehenden Antworten auf die ausgesendeten Tariffragen sowie der Aussagen der von dem Ausschusse noch zu berufenden Sachverständigen ein Zollgesetz und einen Zolltarif für ganz Deutschland nach Maßgabe der von der Nationalversammlung festgestellten Grundsätze zu entwerfen und der Nationalversammlung zur Beschlußfassung vorzulegen.“ Der Advokat, Notar und P ­ lauener Patrimonialgerichtsdirektor Julius v. Dieskau protestierte gegen dieses „Armutszeugnis des Ausschusses“ (W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 147). 253 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 149. 254 Der Abgeordnete Heinrich Carl hielt „eine besondere Beschlußnahme […] für nötig, wer einzuberufen sei, was sich erst nach Bearbeitung der Enquete übersehen lasse“. Friedrich­ Wilhelm v. Reden erwiderte, „daß die Liste der Einzuberufenden von ihm schon am 12. v. M. eingereicht sei“. Während er „die Einberufung der Sachverständigen für Leder, Eisen und­ Papier zum 28. d. M.“ beantragte, verlangte Carl „die gleichzeitige Einberufung der Sachverständigen aller Branchen“ und diesen Schritt „nicht von dem Ermessen einzelner Mitglieder, sondern von einem förmlichen Beschluß des Ausschusses abhängig [zu] machen“. W. Conze/ W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 149.

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in einer der nächsten Sitzungen […] die Auswahl der einzuberufenden Sachverständigen beschlossen werden solle. Gevekoht, Francke und Degenkolb [sprachen…] für Verweisung an den III.  Unterausschuß, v. Reden und Hildebrand dagegen“. Schließlich wurde auf Vorschlag Bernhard Eisenstucks einstimmig die „Niedersetzung einer besonderen Kommission zu diesem Behufe“ beschlossen.255 Diese Entscheidung kam de facto einer Vertagung auf die „­ griechischen Kalenden“ gleich.256 (5) Beteiligung von Vertretern der Regierungen Blieb eine mündliche Enquête auch aus, griff der Volkswirtschaftliche Ausschuss wenigstens auf die Kenntnisse der Regierungen zurück. Nachdem die Einzelstaaten der Aufforderung, Sachverständige für eine Anhörung zu benennen, teils nur widerstrebend257 nachgekommen waren, wurden die den „Regierungsbevollmächtigten vorzulegenden Fragen über den Entwurf des Zollgesetzes“ am 25. Juli 1848 im Volkswirtschaftlichen Ausschuss genehmigt. Anschließend „soll[t]en dieselben den genannten Herren mitgeteilt und sodann eine allgemeine Versammlung […] veranlaßt werden“.258 Über diese Anhörung hinaus ließ man die Regierungsvertreter nicht zu Wort kommen. Das galt auch für die sachkundigen Bevollmächtigten, die die Regierungen nach Frankfurt am Main entsendet hatten, um über eine „deutsche Zoll-Einheit“ zu beratschlagen.259 Als ihm durch den Abgeordneten und Regierungspräsidenten der provisorischen schleswig-­holsteinischen Regierung Carl Francke im Oktober 1848 „Vorschläge und Amendements“ der in Frankfurt „versammelten Zollkommissarien“ angetragenen wurden, beschloss der Ausschuss, den Abgeordneten Francke zu ersuchen, „den quästionierten Kommissarien mitzuteilen, daß der Ausschuß die Kompetenz der Kommissarien nicht anerkennen könne“.260 Diese Weigerung war zugleich eine Spitze gegen die Einzelstaaten, die das Zollproblem ihrerseits in die Hand nehmen wollten, und gegen den Reichs­ handelsminister, der an diesem Projekt Anteil hatte.261 (6) Keine Beteiligung parlamentsfremder Dritter Kein Erfolg war Petitionen von Wirtschaftsvertretern aus drei Handelsstätten beschieden, die ihre Beteiligung an den Verhandlungen des Volkswirtschaftlichen Ausschusses erreichen wollten. In der Sache klagten die Kaufmannschaften von Stettin und Stolpe, dass die schriftlichen Enquêtefragen „im Geiste des Schutzzoll 255

W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 149. Vgl. G. Ziebura, in: Ritter/ders. (Hg.), FG E. Fraenkel, 1963, S. 185 (222). 257 s. dazu A. Duckwitz, Denkwürdigkeiten, 1877, S. 78 f. 258 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 88, 90 f. 259 Vgl. N. N., Herstellung der Zoll-Einheit, 1851, S. IV. 260 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 148 f. 261 Vgl. N. N., Herstellung der Zoll-Einheit, 1851, S. IV. 256

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systems abgefaßt“ wären. Weil im Ausschuss zudem „kein sachverständiger Vertreter […] der Ostseeküste Sitz und Stimme“ habe, verlangten die Petenten, „daß zur Ermittlung der Interessen der Schifffahrt, Industrie und des Handels der Ostseehäfen, Sachverständige nach Frankfurt eingeladen [würden…], die den Berathun­ gen und Discussionen des volkswirthschaftlichen Ausschusses über diesen Gegenstand, mit gleicher Stimmberechtigung wie dessen Mitglieder, beiwohnen“ sollten.262 Eine Wismarer Petition war zurückhaltender „bloß“ auf eine Teilnahme ohne Stimmrecht gerichtet. Übermittelt bzw. befürwortet wurden diese Petitionen, die aus heutiger Sicht auf eine gemischte Enquêtekommission hinausliefen,263 durch Abgeordnete aus der jeweiligen Gegend.264 Im Volkswirtschaftlichen Ausschuss berichtete der Kaufmann Johann Albert Droege für den III.  Unterausschuss über diese Bittschriften. „Nach einer längeren Debatte“, über deren Gang die Protokolle leider schweigen, empfahl der Ausschuss dem Plenum, „in Betracht, daß der Anspruch auf Stimmrecht für Nicht­ mitglieder der Nationalversammlung eine Verletzung ihrer ganzen gesetzlichen Basis sein werde, Sachverständige übrigens aus allen Teilen Deutschlands und in allen Richtungen gehört würden, außerdem aber zur Aussprache jeder Ansicht durch die ausgesendeten Fragen hinreichende Gelegenheit gegeben sei, zur motivierten Tagesordnung über[zu]gehen“.265 Weiter hieß es, dass das in § 24 GOFNV 1848 nicht vorgesehene Ansinnen „auf gänzlicher Verkennung der Stellung der Nationalversammlung“ beruhe, mit der es schlechthin unvereinbar sei, „Nichtmitgliedern […] eine Stimmberechtigung […] einzuräumen“. Nachdem sich der Ausschuss in dieser Weise, man wird sagen können: vor das Prinzip demokra­ tischer Legitimation gestellt hatte, ging das Plenum antragsgemäß und ohne über die Bittschriften auch nur zu debattieren zur Tagesordnung über.266 (7) Bewertung der Enquêtetätigkeit zu einem Zolltarif Obwohl die Bemühungen des Volkswirtschaftlichen Ausschusses letzten Endes nicht von Erfolg geprägt waren, sind sie für die Entstehung des Enquête- und Untersuchungsrechts in Deutschland von Interesse. Dessen mehr sachbezogene und insbesondere gegenüber der parlamentarischen Gesetzgebungsbefugnis dienende Seite wurde in den Anstrengungen des Volkswirtschaftsausschusses bereits überdeutlich. Dabei zeigten sich schon deutlich moderne Strukturen, die sich heute unverkennbar in § 70 GO-BT wiederfinden, obwohl der Bundestag selbst 1951 auf 262

Vgl. den Ausschussbericht bei Wigard, VerhFNV, S. 2678 f. (Hervorhebung nur hier). Zur Mitwirkung Dritter in heutigen Enquêtekommissionen vgl. W. Hoffmann-Riem/ U. Ramcke, in: Schneider/Zeh (Hg.), ParlamentsR, 1989, § 47 Rn. 2 ff. oder S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 70. 264 Dazu W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 125. 265 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 125. 266 Wigard, VerhFNV, S. 2679. 263

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das ausländische Vorbild amerikanischer „Hearings“ verwies.267 Das Scheitern des ehrgeizigen Reformprojekts ist nicht dem vermeintlich schwachen § 24 GOFNV 1848, sondern ausschließlich der politischen Lage anzulasten. – Neben diesem Ausblick auf moderne Zeiten mauserte sich der Volkswirtschaftliche Ausschuss nicht zu einer „echten“ Enquêtekommission, indem entsprechende Anträge verschiedener Kaufmannschaften zurückgewiesen wurden. Von besonderem In­ teresse sind die dafür angeführten Gründe: Indem die Abgeordneten ein entsprechendes Verhalten für mit der Würde der Versammlung unvereinbar hielten, beriefen sie sich möglicherweise wie moderne Volksvertreter auf ihre demokratische Sendung. Ebenfalls in diesem Sinne erscheint die Ablehnung, private Dritte mit Stimmrecht an den Ausschussberatungen zu beteiligen, als Absage an ein Konvents- oder Rätesystem und auch insoweit eine Bekräftigung des demokratischparlamentarischen Prinzips. cc) Die Flusszölle und andere Schifffahrtsübel Zu den Flusszöllen schöpfte der Volkswirtschaftliche Ausschuss, wie es schon frühere Ständeversammlungen getan hatten, seine Kenntnisse u. a. insbesondere aus verschiedenen Petitionen. Weil dem jährlichen Zollaufkommen für Elbe und Rhein von 1.008.500 bzw. 905.000 Reichstalern nur Aufwendungen von 381.600 bzw. 605.000 Reichstalern gegenüberstanden, trat der Volkswirtschaftliche Ausschuss für die Abolition der horrenden Zöllen ein, die teils den Wert der Fracht sogar noch empfindlich überstiegen.268 Der Bericht stützte sich im Tatsächlichen auf Anträge aus den Reihen der Abgeordneten, Petitionen von Schifferverbänden, Handelskammern, Gewerbetreibenden, Bürgern sowie der bayerischen Regierung.269 Außerdem beriet sich der Volkswirtschaftliche Ausschuss am 21. August 1848 mit den in Frankfurt anwesenden Beauftragten der Bundesregierungen über die bis dato erarbeiteten Vorlagen.270 In der Sache blieb der Vorstoß folgenlos, weil das Parlament die Sache Anfang Dezember 1848 mit Blick auf das Verfassungsprojekt zurückstellte.271

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s. 8. Teil 3. Kap. A. I. Ausschussbericht, Motive, Gesetzentwurf und Minoritätserachten bei Haßler, VerhFNV II, S. 229 ff., 235 ff. sowie Wigard, VerhFNV, S. 3755 ff. 269 Übersicht in dem Bericht des Volkswirtschaftlichen Ausschusses bei Wigard, VerhFNV, S. 3755 f. 270 Wigard, VerhFNV, S. 3756. s. ferner W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 111 ff. und zu den Tagungen G. Ziebura, in: Ritter/ders. (Hg.), FG E. Fraenkel, 1963, S. 185 (221), der wegen der Beteiligung von Regierungsbeamten eine gewisse Annäherung an das Vereinbarungsprinzip sieht. 271 Stattdessen sollte, „sobald über die das Flußzollwesen und die Freiheit der Ströme be­ treffende Bestimmung der Verfassung beschlossen, und dieselbe publicirt sein [würde…], die Centralgewalt einen Gesetzentwurf zur Ausführung dieser Verfassungsbestimmung für die Reichsgesetzgebung vorzubereiten“ haben (Wigard, VerhFNV, S. 3774). 268

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In derselben Sitzung kamen im Plenum Bittschriften „der Schiffer und vieler sonstigen Gewerbestände, ingleichen von Uferbewohnern aus allen Orten am Rhein und seinen Nebenflüssen, sowie von der Weser“ zur Sprache. Diese Petitionen, „bedeckt mit vielen tausend Unterschriften, [richteten…] sich gegen den Gütertransport der Dampfschiffe [und…] gegen mehrfache andere Uebelstände“. Die Versammlung beschloss auf Antrag des Volkswirtschaftlichen Ausschusses, die Zentralgewalt um Prüfung und ggf. Abhilfe zu ersuchen. Ihre Kenntnisse über diesen Gegenstand schöpfte die Kommission aus „diesen Petitionen, mehreren vom Fünfziger-Ausschuß überkommenen Acten, protocollarischen Vernehmungen des volkswirthschaftlichen Ausschusses und einzelnen Druckschriften“.272 Der Volkswirtschaftsausschuss beschränkte sich also in diesen zentralen Fragen damaliger Infrastruktur auf eher konventionelle Informationsmechanismen. Ein Grund für den Verzicht auf eigene Erhebungen dürfte die evidente Insuffizienz und Ungerechtigkeit der bestehenden Abgabenverhältnisse gewesen sein. dd) Die deutsche Gewerbeordnung Ein brennendes Problem stellte die künftige Wirtschaftsordnung Deutschlands dar. Als Alternativen standen das überkommene Zunftwesen oder die moderne Gewerbefreiheit im Raum. Ein Folgeproblem bestand in der Frage eines ggf. zu fordernden Befähigungsnachweises. Fünf Tage nach der Eröffnung des Allgemeinen Deutschen Handwerker- und Gewerbekongresses, der vom 15. Juli bis zum 18. August 1848 in Frankfurt am Main tagte,273 kam im Volkswirtschaftlichen Ausschuss „eine Eingabe von Bevollmächtigten der […] Mitglieder des deutschen Gewerbe- und Handwerkerstandes zum Vortrage, worinnen dieselben die Nationalversammlung ersuch[t]en, es möge dieselbe dem Ausschusse Auftrag geben, bei der bevorstehenden Beratung über die Gewerbeordnung mit dem Handwerkerund Gewerbekongreß sofort in gemeinschaftliche Verhandlung zu treten“. Ähnlich wie in Sachen Zolltarif forderten die Interessenvertreter so ihre Beteiligung an der parlamentarischen Arbeit. Dem Antrag des Präsidenten des preußischen Revisionskollegiums für Landeskultursachen, Mitbegründers und Vorsitzenden des Berliner Konstitutionellen Clubs und Sozialpolitikers Adolph Lette (Casino), eine Ausschussdeputation von sechs Mitgliedern zu wählen, „um den ­Sitzungen des Kongresses beizuwohnen, sich behufs der Entwerfung der Gewerbeordnung zu informieren und Bericht zu erstatten“, hielt die Mehrheit entgegen, „daß der Ausschuß nicht die Befugnis habe, über die in § 24 der Geschäftsordnung bezeichnete Grenze ‚Abhörungen von Sachverständigen‘ hinauszugehen“. Es wurde „beschlossen, sich nur in diesem Sinne, wenn auch auf die bereitwilligste Weise,

272

s. Wigard, VerhFNV, S. 3780 sowie zu Antrag und Beschluss S. 3781 f., 3787. Dazu E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 684 f. und zu den Vorschlägen des Kongresses O. T. Risch, Handwerksgesetzgebung, 1861, S. 32 ff. mit Auszügen. 273

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gegen den Kongreß schriftlich auszusprechen“.274 Vier Tage später betrachtete der Volkswirtschaftliche Ausschuss ein Kontaktersuchen der „dritten Kommission des Handwerkerkongresses“ dann „als erledigt“.275 Wie es der Ausschuss bereits abgelehnt hatte, mit Vertretern der Ostseehäfen eine gemischte Kommission zu bilden, verweigerte er nun den Handwerkern und Gewerbetreibenden eine unmittelbare Zusammenarbeit; stattdessen nahmen einzelne Ausschussmitglieder halbprivat an entsprechenden Zusammenkünften teil.276 Zu einer direkten Kooperation, die mehr oder weniger den gemischten Untersuchungen in der Zeit des Kaiserreichs, der preußischen Eisenbahnenquête oder moderneren Enquêteformen vorgegriffen hätte, kam es nicht. Ende Juli 1848 beauftragte die Nationalversammlung den Volkswirtschaftlichen Ausschuss mit knapper Mehrheit mit der Vorbereitung einer Gewerbeordnung.277 Am 4. August 1848 machte der Vorsitzende „zunächst Anzeige von einer Petition [von…] Handwerksgesellen“ und „beantragt[e] auf Veranlassung einer Bitte des Komitees des Handwerkerkongresses, dasselbe auf [den kommenden Tag…] zur Sitzung des Ausschusses einzuladen“. Anschließend kam es „zur Frage, ob auch die Deputation der Gesellen mit einzuladen sei“. Beide Anträge fanden rasch Zustimmung; die „Deputationen [sollten…] nacheinander zu vernehmen“ sein.278 Der Ausschuss beabsichtigte jetzt offenbar, von seiner Befugnis aus § 24 GOFNV 1848 zur Anhörung privater Sachverständiger Gebrauch zu machen. Am folgenden Tag wurden fünf Vorstandsmitglieder des Frankfurter Gewerbekongresses empfangen. Zur „Äußerung ihrer Desiderien“ aufgefordert, überreichte diese Deputation eine „Zusammenstellung der ‚Mittel zur Hebung des Handwerker­ standes‘ mit dem Bemerken, daß man sich nur vorläufig über diese nur allgemeine Andeutungen enthaltenden Grundzüge geeinigt habe und die Vorlegung eines speziellen Grundrisses zu einer allgemeinen Gewerbeordnung vorbehalte.“279 Darauf folgte „eine speziellere Erörterung des Grundrisses, in dem von verschiedenen Mitgliedern des Ausschusses an die Deputierten Fragen gestellt wurden“.280 Der Volkswirtschaftliche Ausschuss veranstaltete auf diese Weise eine kleine mündliche Enquête. Wie unspektakulär dieser Vorgang vor dem Hintergrund heutiger „Ausschuss­hearings“ des Bundestags aufgrund von § 70 GO-BT auch wirken mag, so revolutionär war er vor dem Passepartout des vor wenigen Monaten vorläufig 274

W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 87 (Hervorhebung nur hier). W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 90. 276 s. etwa das Protokoll der fünften Sitzung am 3.  Juni 1848, W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 55: „Der Abgeordnete Degenkolb zeigt an, daß eine Einladung des Darmstädter Gewerbevereins mittelbar an den Ausschuß gelangt sei, eine auf morgen anberaumte Generalversammlung hessischer Gewerbetreibender in Offenbach zu besuchen. Es ist diese Einladung nicht offiziell zu betrachten, jedoch werden mehrere Mitglieder des Ausschusses aufgefordert und erklären sich bereit, den dortigen Verhandlungen privatim beizuwohnen.“ 277 Wigard, VerhFNV, S. 1077 bis 1082. 278 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 103. 279 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 105. 280 W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 106. 275

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überwundenen Konstitutionalismus Karlsbader Prägung; verschiedenen Ständeversammlungen war es sogar ausdrücklich untersagt, Deputationen zu empfangen281 und selbst § 115 RVerf 1849 enthielt ein entsprechendes Verbot. Als die zweite Lesung der Grundrechte näher rückte, kam es im Volkswirtschaftlichen Ausschuss zu Zwistigkeiten über das weitere Vorgehen in der Gewerbe­ord­ nungsangelegenheit.282 Als „Vorarbeit und als nöthigen Leitfaden“ wurde eine „Zerlegung und vergleichende Darstellung der in den einzelnen deutschen Staaten über das Gewerbewesen erlassenen Bestimmungen“ erstellt.283 Als die parlamentarische Arbeit nach dieser Bestandsaufnahme erneut stockte, warteten zahl­reiche Handwerker- und Gewerbevereine nicht länger auf ungewisse Wohltaten, sondern nahmen ihre Belange durch umfangreiche Bittschriften und Vorschläge an die Nationalversammlung selbst in die Hand. Auch die in solchen Eingaben enthaltenen Schilderungen dienten dem Ausschuss bei seinen umfangreichen Arbeiten als Quellen.284 In der 177. Sitzung der Nationalversammlung am 26. Februar 1849 musste der Braunschweiger Advokat und Notar August Hollandt als Ausschussberichterstatter trotz aller Bemühungen eingestehen, dass sich der Ausschuss nicht auf einen Entwurf verständigen konnte. Stattdessen unterbreitete man dem Plenum zwei Entwürfe, um sie in den Wahlkreisen als Diskussionsgrundlage zu verteilen und anschließend gemeinsam mit etwaigen Reaktionen der Provisorischen Zentralgewalt zur Berücksichtigung in der Reichsgesetzgebung zu übergeben.285 Diesem Vorschlag trat die Nationalversammlung am 26. März 1849 ohne Aussprache bei.286 Das so beschlossene Vorgehen trug gewisse Züge einer Enquête oder einer eigentümlichen Volksbefragung in einer wirtschaftspolitischen Schicksalsfrage, in der sich die Volksvertreter nicht einigen konnten. Die beabsichtigte Abgabe des gesammelten Materials an die Provisorische Zentralgewalt war zugleich politische Kapitulationserklärung und selbstbewusster Gesetzgebungsauftrag an die Exekutive. Indem der Ausschuss in der Gewerbeordnungsfrage eine Einbeziehung wirtschaftlich interessierter und fachlich kompetenter, aber parlamentsfremder Kreise nach der Art einer gemischten Enquêtekommission ablehnte, verteidigte er erneut die Kompetenz der Versammlung und das demokratische Prinzip. Die E ­ rledigung 281

s. etwa § 169 Württ­Verf­Urk 1819 und dazu R. v. Mohl, WürttStaatsR I2 1840, S. 704 f. sowie 2. Teil 2. Kap. B. II. 2. zu Württemberg. 282 Während ein Teil  der Ausschussmitglieder alsbald einen Entwurf präsentieren wollte, waren andere der Auffassung, „daß die Vorlage in dieser aufgeregten Zeit gar nicht zu erfolgen brauche“. „Nach längerer Besprechung [wurde…] dieser Gegenstand verlassen, da es wünschenswert erschien, die Sachen selbst zu fördern, als diese Diskussion zu verlängern“ (W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 157). 283 s. die Ankündigung des Abgeordneten Friedrich Wilhelm v. Reden bei Wigard, VerhFNV, S. 2063. Abdruck bei Haßler, VerhFNV II, S. 269 ff. 284 Dazu „Bericht über die auf eine Gewerbeordnung bezüglichen Petitionen“ (Veit) sowie „Bericht über den Entwurf einer Gewerbeordnung“ (Hollandt), Haßler, VerhFNV II, S. 869 ff., S. 889 ff.; der Gesamtbericht umfasst 90 Druckseiten. 285 Wigard, VerhFNV, S. 5422 f. 286 Wigard, VerhFNV, S. 6003.

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der Sache, indem zwei Entwürfe in die Wahlkreise versendet wurden, mag ein Zeichen parlamentarischen Scheiterns sein. Verglichen mit den Befugnissen der Stände­versammlungen in den Einzelstaaten, die sich unter keinen Umständen unmittelbar an das Volk wenden durften, war dieser Schritt der Nationalversammlung dennoch geradezu revolutionär. So gibt die Angelegenheit für die vermeintliche Schwäche des Enquêterechts nichts her; vielmehr macht das Vorgehen des Volkswirtschaftlichen Ausschusses deutlich, dass die Befugnisse des § 24 GO-FNV 1848 gerade in kontroversen Fragen von Bedeutung waren. Der Grund für das Scheitern der Reformbemühungen liegt indessen in den politischen Verhältnissen. ee) Die soziale Frage: Petitionen als Informationsquelle In verschiedenen Bereichen, die für die Untertanen in den Einzelstaaten besonders drückend waren, stützte sich der Ausschuss (auch) auf Angaben in den Petitionen. Zahlreiche Bittschriften, aber auch Anträge aus der Mitte der Versammlung betrafen die „Auflösung der in allen deutschen Staaten noch mehr oder weniger vorhandenen sogenannten Feudalverhältnisse, insbesondere [der…] meist aus der Gesellschafts-Verfassung des fernen Mittelalters auf die Gegenwart vererbten bäuerlichen Lasten und gutsherrlichen Berechtigungen“.287 Im Ausschuss wurde ein „Referat über die in Betreff der Feudallasten eingegangenen Petitionen“ ausgelegt, das „keinen Antrag [enthielt…], sondern nur als Material der bevorstehenden Beratung über den betreffenden Paragraphen in den Grundrechten“ dienen sollte.288 In dem Bericht selbst hieß es, dass der „Petitionen […] ausführlicher Erwähnung geschehen“ müsse, weil einerseits „[d]ie Bittsteller […] deren Prüfung von der Nationalversammlung erwarten“ dürften. Andererseits gewinne das Parlament „daraus eine nähere Uebersicht über die auf diesem großen Gebiet des socialen Lebens herrschenden Bedürfnisse, Beschwerden und Wünsche des Volks, sowie über dessen Ansichten wegen deren Erledigung; dadurch also auch ein vollständigeres Material zur Beurtheilung der von den Ausschüssen vorgelegten Entwürfe.“289 Tatsächlich wurden verschiedene Forderungen in den §§ 166 bis 169 RVerf 1849 aufgegriffen. Im Hinblick auf die Abschaffung der Jagdgerechtigkeiten290 oder in der brennenden sozialen Frage der Arbeiterschaft einschließlich der Spinner und Weber, von denen „die ergreifendsten Schilderungen von Noth und Druck“ eingingen,291 griff der Ausschuss auf Informationen in den Eingaben zurück.292 Insgesamt bewegten sich die Bemühungen des Ausschusses um Information also in den bisherigen Bahnen. 287

Ausschussbericht bei Wigard, VerhFNV, S. 2388 ff. Vgl. Adolph Lettes Ankündigung eines entsprechenden Referats, das dann „vorläufig zur Kenntnisnahme der Mitglieder“ ausgelegt wurde (W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 141). 289 Wigard, VerhFNV, S. 2390. 290 Ausschussbericht bei Haßler, VerhFNV II, S. 356. 291 Wigard, VerhFNV, S. 6362, 6364. 292 Bericht des volkswirthschaftlichen Ausschusses über zu § 30 der Grundrechte eingegangene Anträge auf Bürgschaft und Schutz der Arbeit, Wigard, VerhFNV, S. 5100 ff. 288

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ff) Eine Beteiligung der Reichsminister? Am 22. August 1848 wurde über den „Wunsch“ des ­Reichshandelsministers Duckwitz beraten, „an den Verhandlungen des Ausschusses bedingten Anteil nehmen zu dürfen“. Anders als im Verfassungsausschuss, der die Minister an seinen Beratungen anstandslos beinahe wie Mitglieder teilnehmen ließ, kam es im Volkswirtschaftlichen Ausschuss selbst über diese zurückhaltende Forderung zum Streit: Der linke Zentrumspolitiker und Münchener Professor der Technologie und Staatswirtschaft Friedrich v. Hermann (Württemberger Hof) monierte, „daß der Handelsminister nicht Mitglied der Nationalversammlung sei; es würde deshalb gegen das Gesetz sein und der Ausschuß seine Befugnisse überschreiten, wenn man ihm an den Verhandlungen Teil  geben wolle“.  – Das „Gesetz“ dürften die §§ 2, 3, 9 und 11 Prov­Cen­tralgG 1848 gewesen sein, die die Kompetenzen der Zentralgewalt und ihrer Minister auch im Verhältnis gegenüber der Versammlung festlegten; eine Teilnahme an der Gesetzgebung oder gar der Ausarbeitung der künftigen Reichsverfassung gehörte gerade nicht hierher.  – Demgegenüber vertrat der Jurist und Regierungspräsident der provisorischen schleswig-holsteinischen Regierung Carl Francke, „daß auf Grund des Zentralgewaltgesetzes der Minister erscheinen [könne…], wenn der Ausschuß ihn einlade, und daß der Ausschuß, wenn er in einzelnen Fällen um den Zutritt nachsuche, sich zu entscheiden haben werde, ob dem Gesuch zu willfahren sei“. Tatsächlich sah einerseits § 9 Prov­Cen­tralgG 1848 vor, dass „[d]ie Minister […] das Recht [hatten], den Berathungen der Nationalversammlung beizuwohnen und von derselben gehört zu werden“. Andererseits regelte der folgende Paragraph ihre „Verpflichtung, auf Verlangen der Nationalversammlung in derselben zu erscheinen und Auskunft zu ertheilen“.293 Eine ausdrückliche Regelung für die Ausschüsse bestand gerade nicht. Nachdem Friedrich v. Hermann auf Bedenken im Gesetzgebungsausschuss hingewiesen hatte, „ob überhaupt das provisorische Zentralministerium ein Recht haben könne, Gesetzesentwürfe in die Nationalversammlung einzubringen, obschon dort der ganz abweichende Fall vorliege, daß der Justizminister Mitglied der Nationalversammlung und auch selbst des Ausschusses sei“, befand der Volkswirtschaftliche Ausschuss, sich „über die jedenfalls wichtige Prinzipienfrage […] durch einen ordnungsmäßig ernannten Referenten Bericht erstatten zu lassen.“294 Diese Expertise folgte neun Tage später durch den Marburger Professor der Staatswissenschaften Bruno Hildebrand (Westendhall). Der gemäßigte Linke ging „von der Annahme aus, daß der Minister nach § 2a und c des Gesetzes […] nur vollziehende Gewalt nach außen, resp. unter Genehmigung der Nationalversammlung habe, nach § 3 aber sich jeder Mitwirkung beim Verfassungswerke zu enthalten habe“. Eine „allgemeine Teilnahme des Ministers“ an den Verhandlungen des Ausschusses, der „sich größtenteils mit der Verfassung und der Fundamental­ gesetzgebung beschäftige“, sei deswegen abzulehnen. Der Ausschuss dürfe ihn 293

(Hervorhebung nur hier). W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 118 f.

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aber „bei allen Gelegenheiten gern und dankbar zu Rate ziehen […], wo man sei­ ner Auskunft als Sachverständiger zu bedürfen glaube“. Aufgrund dieses Votums kam man zu dem Schluss, dass die so „stattfindenden Vernehmungen des Ausschusses […] nur auf Grund § 24 der Geschäftsordnung als Abhörung von Sachverständigen oder als Vernehmen mit Behörden betrachtet werden“ könnten.295 Anders als der Verfassungsausschuss achtete der Volkswirtschaftsausschuss also penibel darauf, dass die revolutionären Errungenschaften parlamentarischer Autonomie und Kompetenz auch gegenüber dem quasi-parlamentarischen Regime der Proviso­rischen Zentralgewalt gewahrt wurden. gg) Bewertung Anders als der Verfassungsausschuss, der sich auf erweiterte Anhörungen sachverständiger Versammlungsmitglieder oder der Reichsminister beschränkte, führte der Volkswirtschaftliche Ausschuss eine „echte“ schriftliche Enquête in den beteiligten Kreisen durch und plante selbst ein „Sachverständigenhearing“ mit fach­ kundigen Wirtschaftsvertretern. Daneben griff man auf informelle Instrumente und allgemein verfügbare Quellen zurück. Das gilt etwa für die „private“ Teilnahme von Abgeordneten an den Handwerker- und Gewerbekongressen. Weitere Erkenntnisse lieferten Vorarbeiten des Fünfziger-Ausschusses sowie Auskünfte der einzelstaatlichen Gesandten über heimische Verhältnisse, deren Kooperationswilligkeit aber in dem Maß schwand, in dem sich die Monarchen von dem ersten Revolutionsschock erholten.296 Darüber hinaus wurden private Bittschriften – ohne inhaltliche Validierung (!) – als Informationsquelle herangezogen. Zur Vorbereitung der Gewerbeordnung entschied sich die Nationalversammlung zu guter Letzt auf Vorschlag des Ausschusses für eine eigentümliche „Öffentlichkeitsbeteiligung“, indem der Entwurf in die Wahlkreise versendet werden sollte, um etwaige Rückmeldungen gemeinsam mit dem Entwurf der Zentralgewalt zur Ausarbeitung eines Gesetzesvorschlags zu überlassen. Gerade wegen dieser eigentümlichen Volksbefragung lässt sich dem Ausschuss ein gewisser Einfallsreichtum attestieren. Über die behandelten Beispiele hinaus stützte man sich auch sonst vielfach auf Informationen Dritter. Etwa wurden über die Aufhebung oder Ablösung des Bergbauzehnts und vergleichbarer Bergwerkslasten Angaben der Antragsteller sowie je eines nassauischen und österreichischen Sachverständigen herangezogen.297 Dem Göttinger Historiker Georg Waitz zufolge war anscheinend nur einer von ihnen, „[b]eide technisch mit dem Bergbau vertraut“, selbst Mitglied der Versammlung.298 Der zweite Experte dürfte ein Beamter oder Unternehmer gewesen sein. Mit diesen Ermittlungen „wie durch Einsicht der betreffenden Gesetzgebungen 295

W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 129 f. (Hervorhebung nur hier). Vgl. G. Ziebura, in: Ritter/ders. (Hg.), FG E. Fraenkel, 1963, S. 185 (221 f.). 297 Vgl. die Anmerkung des Abgeordneten Carl Schorn bei Wigard, VerhFNV, S. 4192. 298 Wigard, VerhFNV, S. 4193. 296

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einzelner Staaten“ wollte der Ausschuss mit Adolph Lettes Worten „eine vollständige Reformation über den Gegenstand“ gewinnen.299 Ähnlichkeiten mit modernen Formen sind ebenso unverkennbar wie eine Anknüpfung an die Möglichkeiten, die den Ständeversammlungen in den Einzelstaaten zu Gebote standen. Obwohl der Volkswirtschaftliche Ausschuss von § 24 GO-FNV  1848 ausgiebig Gebrauch machte, goutierten keineswegs sämtliche seiner Mitglieder das von­ Robert v. Mohl hoch gelobte Enquêterecht: Ende August sprachen sich der Hamburger Kaufmann Ernst Merck und der Dirigent der Finanzabteilung der Danziger Regierung Osterrath „gegen jede Befragung [aus], weil sie sich keine ersprießliche Förderung der Ausschußarbeiten durch die allzu häufigen Enqueten“ versprachen. Die Forderung der beiden Konservativen, über die „entworfenen Fragen, welche dem Eisenbahnkongresse in Dresden vorgelegt werden“ sollten, zur Tagesordnung überzugehen, wurde mit der keineswegs erdrückenden Mehrheit von 12 gegen 9 Stimmen abgelehnt.300 Aber ungeachtet solcher Zweifel schöpfte der Ausschuss die ihm durch § 24 GO-FNV 1848 eingeräumten Möglichkeiten in kontroversen Fragen wie der künftigen Gewerbeverfassung oder des Zolltarifs durchaus aus. Ebenfalls abweichend von der Praxis des Verfassungsausschusses führte die Beteiligungsforderung des Reichshandelsministers zum Streit. Der Ausschuss drückte die Rolle der Minister der Provisorischen Zentralgewalt auf die Stellung von Sachverständigen herab, an die sich die parlamentarische Seite gemäß § 24 GO-FNV 1848 nach ihrem Willen wenden konnte – oder eben auch nicht. Eine aktive Rolle, etwa das Recht, Anregungen zu machen, Anträge zu stellen oder schlicht mitzudiskutieren, wurde den Reichsministern anders als im Verfassungsausschuss nicht eingeräumt. Die diese restriktive Haltung auslösenden Bedenken des Münchener Professors der Technologie und Staatswirtschaft und Ministerialrats im Bayerischen Innenministerium Friedrich v. Hermann (Württemberger Hof), „daß der Handelsminister nicht Mitglied der Nationalversammlung sei“, dürften dem Schutz von Stellung und Kompetenzen der Nationalversammlung gegenüber der Zentralgewalt gedient haben. Untermauert wird diese These durch das Gutachten Bruno Hildebrands, der einerseits die ministerialen Kompetenzbeschränkungen und andererseits  – passend zu der parlamentarisch-republika­ nischen Ausrichtung der Fraktion „Westendhall“  – die alleinige verfassungsgebende Gewalt der Nationalversammlung betonte.301 Diesem Votum schloss sich der Volkswirtschaftliche Ausschuss an, obwohl er politisch ähnlich wie der konziliantere Verfassungsausschuss zusammengesetzt war.302 In der Entscheidung, den 299

s. Adolph Lettes Ausführungen bei Wigard, VerhFNV, S. 4250. W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 130. 301 Zur Fraktion „Westendhall“ s. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 424; H. Best/ W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 402; E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 619; H.-W. Hahn, HdbDtGesch XVIII10 2010, S. 417 (567 f.); W. Siemann, Revolution, 1985, S. 129. 302 Später fand doch eine Konferenz mit Arnold Duckwitz statt (W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 190 ff.), worin W. Conze, S. 34 einen Wendepunkt in der Selbständigkeit des Ausschusses gegenüber dem Handelsministerium sah. 300

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Vertretern der Provisorischen Zentralgewalt keine herausgehobene Stellung einzuräumen, wird der Bruch mit Frühkonstitutionalismus und Vormärz deutlicher als im Verfassungsausschuss, der den Reichsministern eine vergleichbare Stellung wie den Vertretern der monarchischen Regierungen in den Einzelstaaten zugestanden hatte. Nichts anderes gilt für die Ablehnung, sich mit den in Frankfurt anwesenden Zollkommissarien auszutauschen. In anderem Zusammenhang musste der Ausschuss sein wenigstens partielles Scheitern eingestehen, indem er die unvollendeten Vorarbeiten in der Gewerbeordnungsfrage an das Ministerium abgab und diesem damit zugleich die Regie in der Angelegenheit überließ. d) Die Deutsche Wechselordnung 1847 wurden auf Betreiben Preußens Vertreter aller deutschen Staaten zur Vereinheitlichung des Wechselrechts nach Leipzig einberufen. Aus dieser Wechselkonferenz, an der „nicht bloß Beamte, sondern auch […] kaufmännische, mit der gesammten Technik des Wechselverkehrs genau vertraute Sachverständige“ teilgenommen hatten, ging der Entwurf einer Deutschen Wechselordnung hervor. Als dessen Umsetzung in den unruhigen Revolutionstagen scheiterte, nahm sich die Nationalversammlung der Sache an. Mit der erklärten Absicht, „hier­ einzugreifen und den auf früherns Betreiben der Einzelstaaten soweit vorbereiteten Entwurf […] als ein für das gesammte Deutschland giltiges Gesetz zu verkünden“, „trat der Ausschuß für Gesetzgebung zur Vorbereitung und Prüfung des […] Entwurfes mit mehreren Mitgliedern des volkswirthschaftlichen Ausschusses und andern Sachverständigen zusammen, aus welchen namentlich die […] Kaufleute de Bary und Pfeffel als Mitglieder der zur speciellen Vorbereitung der Gesammtberathung niedergesetzten Untercommission gewählt wurden“;303 beide besaßen kein parlamentarisches Mandat. In den Beratungen wurden außerdem „mehrere Sachverständige aus dem Handelsstande von hier und anderen Orten [zugelassen, um den…] Berathungen anzuwohnen und […] ihre Mittheilungen zu machen“.304 Schließlich wurde die Allgemeine Deutsche Wechselordnung305 als Reichsgesetz erlassen. – Der Ausschuss für Gesetzgebung griff also auf umfangreiche Vorarbeiten sowie einen Entwurf zurück, der noch unter der Regie der vorrevolutionären Eliten zustande gekommen war. Bemerkenswert war die Durchführung einer enquête­artigen Beratung unter Beteiligung sachverständiger Kaufleute. Zwei Vertreter dieses Wirtschaftsstands wirkten anscheinend sogar als Mitglieder einer Unterkommission. Anders als der Volkswirtschaftliche Ausschuss, der eine

303 Bericht des Gesetzgebungsausschusses zur Wechselordnung bei Wigard, VerhFNV, S.  3558 ff. s.  auch J. E. Kuntze, Deutsches Wechselrecht, 1862, S.  38 f. sowie M. Kotulla, DtVerfR I, 2006, S. 147 f. 304 Vgl. die Mitteilung des Abgeordneten Carl Josef Anton Mittermaier über den Abschluss der Arbeiten bei Wigard, VerhFNV, S. 3168. 305 Gesetz vom 26. November 1848, RGBl. S. 19.

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Teilnahme parlamentsfremder Dritter an seinen Verhandlungen ausdrücklich abgelehnt hatte, verfuhr der Ausschuss für Gesetzgebung also großzügiger und gerierte sich damit gewissermaßen als erste parlamentarische Enquêtekommission modernen Typs. Ein abschließendes Urteil über die enquête- und untersuchungsrechtliche Bedeutung dieser Sache setzt freilich das Studium der Protokolle dieses ­Gremiums voraus. e) Der Antrag Grävell Schon im Juli 1848 beantragte der spätere Reichsinnenminister Maximilian Grävell, „[n]achdem durch die Einsetzung des Reichsverwesers in sein Amt die Gestaltung der Zwischenregierung des Reiches deutscher Nation vollbracht worden [sei, …] nach dem Muster aller Verfassungsurkunden […] dessen Civilliste zu bestimmen, auch […] den Gehalt und die Tafelgelder der Minister, nicht minder die Grundsätze bei ihrer Pensionirung festzustellen; gleichzeitig aber […] die den Präsidenten und Schriftführern der Nationalversammlung gebührende Zulage zu ihren Diäten zu bemessen, und […] überhaupt den Ausgabe-Etat für [die…] Versammlung zu ordnen“. Zu diesem Zweck forderte der Jurist, „einen besonderen Ausschuß durch die Abtheilungen mit der Befugniß des § 24 der Geschäftsordnung und mit dem Auftrage niederzusetzen, über jeden dieser vier Punkte einen besonderen gutachtlichen Bericht möglichst bald zu erstatten“.306 Nachdem das Plenum am 1. August 1848 die Dringlichkeit dieser Forderung verneint hatte, deren offenkundiges Ziel die Veranstaltung einer Enquête zur Vorbereitung der entsprechenden Regelungen war, die aber möglicherweise zugleich nach der Art einer modernen Untersuchung in Arkanbereiche der Zentralgewalt vordringen sollte, kam der Antrag anscheinend nicht mehr auf die Tagesordnung.307 f) Exkurs: „Privatkonferenzen“ von Abgeordneten Auch jenseits der offiziellen Ausschusstätigkeit, ja der Nationalversammlung selbst bemühten sich einzelne Abgeordnete um Aufklärung und Information. So dürfte es kein Einzelfall gewesen sein, dass Georg Beseler als Berichterstatter für die Grundrechte in seiner Wohnung private „Konferenzen“ zur Vorbereitung der „Verhandlungen über das Verhältniß zwischen Kirche und Staat […] veranlaßt[e], an denen Heinrich Förster, der spätere Fürstbischof, Aulicke, später Direktor der katholischen Abtheilung im preußischen Kultusministerium, Graf Schwerin, bis zu seinem Erscheinen in Frankfurt Kultusminister, Professor Hundeshagen aus Heidelberg Theil nahmen“.308 Maximilian v. Schwerin und Heinrich Förster wa 306

Haßler, VerhFNV V, S. 213. Wigard, VerhFNV, S. 1290. Vgl. Wigard, VerhFNV-Inhalt, S. 31. 308 G. Beseler, Erlebtes, 1884, S. 64 f. 307

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ren Abgeordnete, die anderen sachverständige Dritte: Über Mathias Aulicke urteilte Heinrich v. Treitschke später, er sei ein „hartkatholischer Westphale“, die „Seele der neuen Behörde“ im preußischen Kultusministerium und ein „erklärter Ultramontaner“, der „lange eine verhängnißvolle Rolle“ gespielt habe.309 Karl Bernhard Hundeshagen war ein 1847 nach Heidelberg berufener Philosoph und evangelischer Theologe.310 Diese „Konferenzen“ waren keine parlamentarischen Enquêten. Vielmehr verschaffte sich der „Casino“-Politiker Beseler inoffiziell weitere Einsichten und Kenntnisse. Für die Entwicklung des Enquête- und Untersuchungsrechts sind solche Privatinitiativen bis auf die triviale Erkenntnis, dass es ein ­„natürliches“ Jedermannsrecht darstellt, sich nach allen Seiten zu erkundigen, ohne Belang. g) Zwischenergebnis Die Skizzen aus der Enquêtetätigkeit der Frankfurter Nationalversammlung zeugen davon, dass ihre Ausschüsse zur Vorbereitung gesetzgeberischer Aufgaben häufig auf die ihnen mit § 24 GO-FNV  1848 eingeräumten Befugnisse zurückgegriffen haben. Eine genauere Analyse dieser parlamentarischen Praxis, die erst anhand von Archivalien möglich wäre, ist für die hiesigen Zwecke nicht geboten: Es genügt, dass sich die Versammlung keineswegs ausschließlich des Sachverstands ihrer Mitglieder, sondern in unterschiedlichster Art und Weise des Wissens und der Kenntnisse Dritter sowie der Informationen staatlicher bzw. von Stellen der Provisorischen Zentralgewalt bediente. Damit befreite sich das Parlament aus den bisherigen informationsrechtlichen Fesseln der einzelstaatlichen Verfassungstraditionen, die den Landständen weder den unmittelbaren Verkehr mit Dritten noch mit nachgeordneten Behörden oder anderen Stellen zugestanden hatten: Anders als ihre konstitutionellen Vorverfahren veranstalteten die Ausschüsse des Frankfurter Reichstags zur Vorbereitung seiner parlamentarischen Aufgaben allein auf der Grundlage autonomen Rechts selbstbewusst schriftliche Enquêten, Sachverständigenanhörungen und andere Erhebungen. Die Märzrevolution brachte informationsrechtlich einen eindeutigen Bruch mit konstitutionellen Grundsätzen, indem sich parlamentarische Gremien unmittelbar  – d. h. ohne Vermittlung der Provisorischen Zentralgewalt oder der einzelstaatlichen Regierungen – an Dritte und Behörden wenden durften. Als die Frankfurter Nationalversammlung für sich erfolgreich das Recht beanspruchte, parlamentsfremde Sachverständige aus Verwaltung und Wirtschaft, wie es kurz zuvor etwa auf der Leipziger Wechsel­ konferenz vorexerziert worden war, zu Anhörungen und Beratungen einzuladen, zog sie gewissermaßen mit der monarchischen Exekutive gleich, als deren exklusives Vorbehaltsgut solche Schritte bislang gegolten hatten.

309

H. v. Treitschke, Geschichte V, 1894, S. 38, 298. T. Schott, ADB XIII, 1881, S. 406 ff.

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Im Vergleich damit erscheinen andere Mechanismen geradezu antiquiert. Das gilt etwa für die Information aus Petitionen und Bittschriften, obgleich das Recht der Versammlung, die Verfasser einzuladen, unmittelbar zu empfangen und auch anzuhören, durchaus revolutionär war. Dass die Ausschüsse zu ihren Beratungen im Einzelfall auch solche sachkundigen Abgeordneten hinzuziehen konnten, die keinen Ausschusssitz besaßen, war in den einzelstaatlichen Kammern teilweise bereits üblich, aber noch keineswegs selbstverständlich. – Soweit die Beteiligung der Reichsminister an den Ausschussberatungen dem landständischen Verkehr mit den landesherrlichen Kommissaren ähnelt, trügt der erste Schein: Die vorläufige Neuverteilung der Macht unter parlamentarisch-demokratischem Vorzeichen als unmittelbare Folge der Märzrevolution wird in der Weigerung des Volkswirtschaftlichen Ausschusses deutlich, Handelsminister Arnold Duckwitz auf sein Ersuchen an den Beratungen zu beteiligen. In Kurhessen hatte ein Ausschluss der kurfürstlichen Landtagskommissare in politisch brisanten Konfliktfragen erst 1831 zur Kammerauflösung geführt. Ebenso frei, autonom und ohne Rücksicht auf irgendeine Regierungspräponderanz fiel die konträre Entscheidung des Verfassungsausschusses. Von der Anerkennung eines „Oberaufsichtsrechts“, das in Kurhessen zur Begründung des Zutritts- und Rederechts bzw. der Kammerauflösung hatte herhalten müssen,311 konnte keine Rede mehr sein. Ganz im Sinne eines parlamentarischen Regiments lagen sowohl die Initiative zu gesetzgeberischen Maßnahmen oder die Befugnis zur Ausarbeitung der Reichsverfassung als auch die flankierenden Informationsrechte in der Hand der Nationalversammlung. Ihre Ausschüsse konnten die Minister nach ihrem Willen einladen oder ihnen den Zutritt verweigern. Das Gesetz über die Provisorische Zentralgewalt regelte demgegenüber lediglich ein Zutrittsrecht zu den Sitzungen des Reichstagsplenums – und stellte ihm ein parlamentarisches Zitierrecht gegenüber. Die Enquêtepraxis in der Frankfurter Paulskirche trug eindeutig moderne Züge. Das gilt unbestreitbar für ihre schriftlichen Enquêten mit Hilfe von Fragebögen, ihre Sachverständigenanhörungen und erst recht für die anscheinend erste Enquêtekommission der deutschen Parlamentsgeschichte, zu der eine Subkommission des Gesetzgebungsausschusses möglicherweise durch die Beteiligung externer Dritter mutierte. Letztlich untermauert die Praxis verschiedener Ausschüsse die eingangs aufgestellte These, dass § 24 GO-FNV 1848 ein heute verleugneter Vorfahre der Ausschussanhörungen im Deutschen Bundestag darstellt.312 Daran ändert es nichts, dass deren Öffentlichkeit noch nicht zum damaligen Standard parlamentarischer Informationserhebung gehörte. Allgemein dominierte in den Ausschüssen das Prinzip der Nichtöffentlichkeit, von dem manches Mal im Interesse vollstän 311

Zu Kurhessen vgl. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. b) cc). Insoweit trifft wohl die Vermutung J. Bückers, ZG 1989, 97 (99) nicht zu, das Recht zu Ausschussanhörungen nach der Geschäftsordnung des Bundestages habe seine Grundlage in Art. 44 GG; vielmehr entwickelte sich dieses Instrument, wie Bücker selbst anerkennt, schon früher und bereits im Kaiserreich wurde ein „natürliches Enquêterecht“ als geschäftsordnungsrechtliche Möglichkeit zur Selbstinformation des Reichstages diskutiert. 312

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diger Information und Beteiligung der interessierten Kreise abgewichen werden sollte. Ungeachtet dessen diente dieser Paragraph als Grundlage gesetzesvorbereitender Informationserhebung und bot so einen Ausblick auf das moderne Enquêterecht. Von Pflicht und Zwang war – anders als heute in Art. 44 GG vorgesehen – bei den freiwilligen Sachverständigenvernehmungen etc. der Ausschüsse noch keine Spur zu finden; wohl zu Recht machte Friedrich Josef Zell sogar zu dem späteren § 99 RVerf 1849 darauf aufmerksam, dass ein das „Recht der Erhebung von Tat­ sachen“ flankierender „gesetzlicher Zwang“ auch nur durch ein Gesetz geschaffen werden könne.313 Für die allein in der Geschäftsordnung verankerte Befugnis des § 24 GO-FNV 1848 traf dieser Ausspruch über den entsprechenden Paragraphen des Verfassungsentwurfs gleich um ein Vielfaches zu. Dennoch lässt sich sagen, dass die Geschichte des Enquêterechts in Sankt Paul begonnen hat. Von wenigen, unsystematischen, unbedeutenden, oder irrelevanten Sachstandserhebungen lässt sich angesichts dessen dagegen kaum sprechen. 2. Politische Untersuchungen Aber auch die andere Funktion jedes parlamentarischen Selbstinformationsrechts kam in der Paulskirche in Gestalt politischer Untersuchungen zum Tragen. Tatsächlich befassten sich verschiedene Ausschüsse mit der Untersuchung mutmaßlicher politischer Missstände, Fehltritten der Herrschenden oder sogar Ausschreitungen des Militärs. Bei mancher Gelegenheit gerieten die Befugnisse des § 24 GO-FNV 1848, die ursprünglich wohl einer sachbezogenen Selbstinformation des Parlaments zur Vorbereitung seiner legislativen Aufgaben dienen sollten, gleichsam zwischen die politischen Fronten, indem die Versammlungslinke  u. a. mit Hilfe dieses Enquête- und Untersuchungsrechts wiederholt versuchte, einen parlamentarischen Einfluss auf Regierung und Exekutive zu etablieren und die Versammlung in die Rolle einer „Art von Convent oder Wohlfahrtsausschuß“ hinein­zudrängen (Carl Biedermann).314 a) Die Mainzer Untersuchung im Mai 1848 Unter diesem Blickwinkel ist die politisch brisante Untersuchung des Mainzer Vorfalls vom Frühjahr 1848 von besonderem Interesse, die das enquête- und untersuchungsrechtliche Schrifttum merkwürdigerweise bisher anscheinend nicht berücksichtigt hat.315 313

R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 603. Vgl. K. Biedermann, Erinnerungen, 1849, S. 12 ff.; C. Jürgens, Geschichte I, 1856, S. 129 f. 315 Nicht einmal E. Zweig, ZfP 1913, 265; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960 oder J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998 gehen auf diese Angelegenheit ein. 314

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aa) Vorgeschichte: Zusammenstöße im Mai 1848 Im März 1848 kam es zwischen der preußischen Besatzung in der Bundesfestung Mainz, den dortigen Bürgern und der ohne behördliche Genehmigung aufgestellten Bürgerwehr zu Spannungen. In der zweiten Maihälfte eskalierte die Lage, als sich preußische Soldaten durch spöttische Bemerkungen zu einer Wirtshausschlägerei hinreißen ließen. Welche politische Bedeutung die aufgewühlte­ öffentliche Meinung dem Vorfall beimaß, belegen aufgeregte Presseberichte bis in Berliner Zeitungen.316 In den folgenden Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der preußischen Festungsbesatzung auf der einen und der Mainzer Bürger­ wehr auf der anderen Seite, in denen insbesondere die Soldaten Tote zu beklagen hatten, versuchte der preußische General und Vizegouverneur Heinrich v. Hüser mit der drakonischen Drohung, die Stadt mit glühenden Kanonenkugeln zu bombardieren, wenn die Bürgerwehr nicht bis Mittag sämtliche Waffen abliefere, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Das Militär übernahm die Polizeigewalt, ein Versammlungsverbot erging317 und die „Vossische Zeitung“ meldete am 25. Mai 1848  – formal unzutreffend  –, dass „Mainz […] seit gestern Abend in Kriegszustand erklärt“ wäre.318 Obwohl das Ultimatum bis zum Mittag des folgenden Tages verlängert wurde, kam es zu weiteren Zusammenstößen, die unter den Soldaten vier Tote und 32 Verwundete forderten. Auf Mainzer Seite blieben drei Tote und zehn Verwundete.319 Als Nachspiel litt die Pressefreiheit, indem preußen­ kritische Zeitungsartikel und Karikaturen geraume Zeit ebenso unterdrückt wurden wie andere anheizende Publikationen.320 316 s. Königlich privilegierte Berlinische Zeitung, No. 119, vom 24. Mai 1848: „Aus einer zur Zeit noch nicht klaren Veranlassung begannen gestern mehrere Soldaten des 35sten preußischen Infanterieregiments in einem stark besuchten Bierhause Skandal, zertrümmerten ­Tische und sonstige Hausgeräthe, zogen ihre Säbel und sollen einige schwer verwundet haben. Das Einschreiten einer österreichischen Patrouille und der Bürgergarde, welche letztere einen preußischen Soldaten verhaftete und ihn an die preußische Hauptwache ablieferte, machte dem Unfug ein Ende; auch erschienen sofort der […] Platzmajor und einige andre Offiziere, und, wie wir hören, sind die Namen einiger der Unruhestifter verzeichnet worden, so daß die Untersuchung alsbald eingeleitet werden kann.“ 317 Zu den Maßnahmen des Festungsgouvernements s. den Kommissionsbericht bei Wigard, VerhFNV, S. 95, 97 sowie den Artikel in der Königlich privilegierten Berlinischen Zeitung, No. 122, vom 27. Mai 1848. Mit dem Belagerungszustand waren üblicherweise Stand- und Kriegsrecht verbunden. 318 s. Königlich privilegierte Berlinische Zeitung, No. 120, vom 25. Mai 1848: „Reibungen zwischen Bürgerwehr und preußischem Militair [hätten…] zu einem blutigen Zusammenstoß [geführt…], in welchem beiderseits von Feuerwaffen Gebrauch gemacht wurde. Die Soldaten haben mehrere Todte und Verwundete, die Bürger sollen deren auch haben. Das Festungs­ kommando sah sich zum entschiedensten Auftreten genöthigt, die Truppen wurden nach der Citadelle und den Festungswerken consignirt und die Entwaffnung der Bürger innerhalb drei Stunden, d. h. bis 12 Uhr Nachts geboten, widrigenfalls die Stadt beschossen würde.“ 319 Zu den Vorgängen V. Valentin, Revolution 1848/49 II, 1931, S. 19 oder aus zeitgenössischer Sicht A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 236 ff. aus Anlass einer in Preußen umstrittenen Unterstützungs-Adresse des Berliner „demokratischen Clubs“ an die „Mainzer Bürger“. 320 S. Müller, Soldaten, 1999, S. 84.

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bb) Einsetzung des Ausschusses und Absendung einer Untersuchungsdelegation In der 4. Sitzung der Nationalversammlung am 23. Mai 1848 gab der M ­ ainzer Abgeordnete und Chef der in die Geschehnisse verstrickten Bürgerwehr Franz Heinrich Zitz (Deutscher Hof) eine „ausführliche, grell gefärbte Schilderung“ der Sache.321 Anschließend forderte der linke Advokatanwalt, dass sämtliche Ausnahmemaßregeln aufgehoben, den Soldaten das Tragen von Waffen außer Dienst untersagt und die „preußische Besatzung […] bis zu ihrer Ablösung […] außerhalb der Stadt campirt“ würden.322 Die Abgeordneten Carl Jürgens (Casino) und Carl Biedermann (Württemberger Hof) sprachen rückblickend von einer „entstellenden und aufregenden Erzählung“ bzw. einer „durch und durch rabbulistische[n] Darstellung“.323 Während Rudolf Haym (Casino) Franz Heinrich Zitz’ Forderungen als einen der „ersten kecken Vorstöße der Linken“ qualifizierte324 und Robert Blums Sohn 50 Jahre später gar sinnierte, dass die Annahme dieser Anträge die „Preußen einfach durch das caudinische Joch geschickt hätten“,325 brachte Carl Jürgens ihre Bedeutung dahin auf den Punkt, dass es um nichts Geringeres gegangen sei, als „daß die National-Versammlung die Exekutive an sich nehmen, […] das hieß[e] Deutschland der herrsch- und zerstörungsbegierigen und zum Regieren und Organisiren untüchtigen radikalen Linken überliefern soll[te]“.326 Tatsächlich war die Brisanz dieser Forderungen in dem revolutionären Klima des Frühjahrs 1848 kaum zu überbieten. In der Debatte über die alle Gemüter erregende Motion forderte ein Parteifreund des Antragstellers, der Mitherausgeber der linksstehenden Deutschen Reichstags­ zeitung und Gießener außerordentliche Zoologieprofessor Carl Vogt (Deutscher Hof), über den Robert v. Mohl später urteilen sollte, dass er ein „furchtbarer Gegner gewesen [wäre], hätte er nicht der sittlichen Würde und Wahrheit ermangelt“,327 „daß unverzüglich eine Commission nach Mainz gesendet werde, welche den Thatbestand genau untersucht“. Diesen Antrag machte sich am anderen Ende des politischen Spektrums der Landgerichtsdirektor Carl Fuchs (Casino) zu eigen, nicht, um weitere Vorwürfe gegen die Festungsbesatzung zu erheben, sondern um nach der „schweren Anklage“ gegen die Soldaten „auch die Vertheidigung [zu] hören“. In eine vergleichbare Richtung ergänzte Adolf Heinrich v. Arnim-­Boitzenburg,

321

L. Häusser, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch VII, 1862, S. 170. Wigard, VerhFNV, S. 59. 323 C. Jürgens, Geschichte I, 1856, S. 129; K. Biedermann, Erinnerungen, 1849, S. 406. 324 R. Haym, Erinnerungen, 1902, S. 192. 325 H. Blum, Revolution, 1898, S. 266. 326 C. Jürgens, Geschichte I, 1856, S. 129. R. Haym, DtNV, 1848, S. 16 spricht von einem „heftige[n] Andringen der zu solchen Regierungsübergriffen nur allzu geneigten Linken“, das „überdies nur allmälig zurückzudrängen“ gewesen sei. s. ferner K. Biedermann, Erinnerungen, 1849, S. 13 f. 327 R. v. Mohl, DtVjS 1850/2, 1 (25). 322

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fraktionslos, aber dem linken Zentrum zugetan und im März für kurze anderthalb Wochen der erste Ministerpräsident der preußischen Geschichte,328 dass man „nicht ohne genaue Kenntniß des Thatbestandes […] ein Urteil“ fällen könne.329 Bei aller Zurückhaltung in der Sache wird doch selbst in diesen Äußerungen deutlich, dass sich die Abgeordneten in der Mainzer Angelegenheit für berechtigt und verpflichtet hielten, das Vorgehen des Militärs einer eigenen Prüfung zu unterziehen. Die Nationalversammlungsmehrheit votierte ungeachtet dessen zunächst dafür, die Sache – „ohne vorherige Absendung einer Commission“ – an einen Ausschuss zu verweisen. Auf laute Zweifel aus der Mitte des Hauses, ob ein solches Gremium eine Unterkommission nach Mainz entsenden dürfe, erwiderte Präsident Heinrich v. Gagern (Casino), dass der Ausschuss im Plenum ggf. einen entsprechenden Antrag stellen könne. Dagegen schlug der Linke Wilhelm Schaffrath (Deutscher Hof) vor, dem Ausschuss sofort auf der Grundlage der vorläufigen Geschäftsordnung „das Recht ein[zu]räumen, Zeugen vorzufordern und zu vernehmen, oder mit Behörden in Verbindung zu treten“. Auf einen Zwischenruf, den sich auch der Vorsitzende des demokratischen „Deutschen Hofs“ Robert Blum zu eigen machte, ließ der Präsident schließlich über die Frage abstimmen, ob dem Ausschuss „die Pflicht auferlegt werde[n solle], eine Commission nach Mainz zu senden, um den Thatbestand der Ereignisse dort aufzunehmen“.330 Mit dem entsprechenden Beschluss setzte die Frankfurter Nationalversammlung so den ersten politischen Unter­ suchungsausschuss der deutschen Parlamentsgeschichte nieder. Noch am selben Tage begab sich eine aus dem Leipziger Buchhändler und prominenten Linken Robert Blum, dem früheren Oberprokuratur und nassauischen Ministerpräsidenten August Hergenhahn (Casino), dem 1779 geborenen ­Veteranen der Befreiungskriege Bernhard v. Lindenau, der u. a. Rechts- und Kameralwissenschaften studiert hatte und in der Verwaltung sowie als Minister in Sachsen-­ Gotha-­Altenburg tätig gewesen war, dem österreichischen Oberst Franz v. Mayern (Casino) und dem k. u. k. Hauptmann im Geniekorps Carl Möring bestehende Subkommission auf dem Schienenweg nach Mainz.331 Das rechte Zentrum verfügte also einschließlich der ihm politisch nahestehenden Mitglieder über eine deutliche Mehrheit in der Untersuchungsdeputation; Robert Blum war der einzige Linke. Dem vorläufigen Bericht zufolge, den der Wiesbadener Abgeordnete August Hergenhahn – also eines der beiden juristisch vorgebildeten Deputationsmitglieder – zwei Tage später erstattete, hatte man sich vor Ort und Stelle „mit den Militär- und Civilbehörden, mit der Anführung der Bürgerwehr und vielen Bürgern selbst in Verbindung gesetzt, um Allen gerecht zu sein“. Unabhängig davon seien

328

s. H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 85; H. Gollwitzer, NDB I, 1953, S. 368. Wigard, VerhFNV, S. 60. 330 Wigard, VerhFNV, S. 60 ff. (Hervorhebungen nur hier). 331 s. W. Zimmermann, Revolution2 1851, S. 616 und die Äußerung des Kommissionsmitgliedes Mathy bei Wigard, VerhFNV, S. 78. 329

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„eine Menge schriftlicher Aussagen und Anzeigen eingehändigt“ worden.332 Der endgültige Ausschussbericht vom Folgetag sprach davon, dass die Subkommission die „Civil- und Militärbehörden zu einer Besprechung ein[ge]laden“ habe: Darauf „versammelten sich alsbald der großherzogl. hessische Regierungscommissar, der Generalprocurator, Staatsprocurator und der Bürgermeister mit mehreren Mitgliedern des Stadtrathes. Der Herr Vicegouverneur, Generallieutenant v. Hüser ließ sich durch Krankheit entschuldigen und [die Abordnung der Nationalversammlung…] ersuchen, die gewünschte Conferenz in seiner Wohnung abzuhalten“.333 Außer diesen Offiziellen hatte man „eine große Anzahl von Einwohnern der Stadt Mainz über die fraglichen Ereignisse selbst gehört, und über 200 schriftliche Eingaben, Anzeigen und Beschwerden enthaltend, in Empfang genommen“. In ungewohnter Zurückhaltung – in anderen Dingen vertrauten verschiedene Ausschüsse auf ungeprüfte Hintergrundangaben in Petitionen und Beschwerden – mahnte die Kommission, dass diese Quellen „mit Vorsicht zur Begründung eines Urtheils über die fraglichen Vorfälle aufgenommen werden müss[t]en, da sie keinen beglaubigten Charakter“ hätten und die Deputation „nicht im Stande [sei…], die Iden­ tität der Unterzeichnenden zu verbürgen“. Außerdem hätten – „was doch die Parität erfordert haben würde, wenn es sich um Begründung eines Urtheils gehandelt hätte“ – keine Soldaten vernommen werden können. Die Kommission sah deswegen davon ab, „alle einzelne[n] in jenen schriftlichen Eingaben liegende[n] Anzeigen […] besonders aufzuführen.“ Neben diesen eigenen Erhebungen bzw. den Eingaben der Mainzer Bürger stützte die Abordnung ihren Bericht auf vorläufige Ergebnisse einer „gemischte[n] Commission […] aus einem österreichischen und preuß. Stabsofficier, großh. hess. Kreisgerichtsrath, dem Staatsprocurator und einem preußischen Auditeur“, die von offizieller Seite ebenfalls mit einer Untersuchung beauftragt worden waren.334 Abschließend mahnte der Berichterstatter noch einmal, dass allein „der richterlichen Behörde […] das Urtheil über Schuld oder Unschuld zu[stehe]“335 – und hob so unausgesprochen den genuin politischen Charakter der parlamentarischen Untersuchung hervor. cc) Das parlamentarische „Urteil“ In der Sache bewertete der Ausschuss Heinrich v. Hüsers Maßnahmen als in dieser Schärfe möglicherweise nicht geboten, jedenfalls aber dem geltenden Recht gemäß. Die Androhung der Beschießung habe bloß einen blutigen und verlust­ reichen Häuserkampf verhindern sollen; überhaupt habe sich das Festungsgouvernement um Mäßigung bemüht, zumal Mainz in militärischer Hinsicht „das Schild, 332

Wigard, VerhFNV, S. 85 f. Wigard, VerhFNV, S. 93. Abdruck des Ausschussberichts auch bei Haßler, VerhFNV II, S. 1 ff. 334 Wigard, VerhFNV, S. 94 f. 335 Wigard, VerhFNV, S. 96. 333

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der Schlüssel Deutschlands“ sei.336 Selbst der gemäßigte Linke Robert Blum erteilte dem Festungsgouvernement die Absolution.337 Trotz dieses freisprechenden Votums im Einzelfall hielt es der Ausschuss „gerade bei der Wichtigkeit des Platzes [für] sehr wünschenswerth […], Maßregeln zu veranlassen, welche zur Beruhigung der Einwohner […] dienen“ könnten. Im Einzelnen forderte man die Nationalversammlung auf, „1) bei der Bundesversammlung einen theilweisen Wechsel der Garnison zu Mainz zu veranlassen; 2) daß ein Bataillon der großherzogl. hes­ sischen Truppen baldmöglichst nach Mainz gelegt werde; 3) daß die Bürgerwehr zu Mainz, sobald ein Bürgerwehrgesetz mit den Ständen des Großherzog­ thums Hessen vereinbart [wäre…], auf den Grund desselben reorganisirt werde, jedoch unter Beobachtung der durch das Festungs-Reglement vorgeschriebenen Formen“.338 Der keineswegs entschieden linke Ausschuss bemühte sich also, die durchaus günstige Gelegenheit zu nutzen, um einen gewissen parlamentarischen Einfluss auf das Militär zu etablieren.339 Zugleich dienten seine Forderungen in erster Linie zur Beruhigung der angespannten Lage, obwohl sich antiborussische Ressentiments als Begleitmotiv nicht ausschließen lassen. Nach teils heftiger Debatte verwarf die Versammlungsmehrheit diese Forderungen und ging stattdessen „im Vertrauen, daß die zuständigen Behörden thun [würden…], was ihres Amtes“ sei, zur Tagesordnung über.340 dd) Bewertung der Mainzer Untersuchung Abweichend von dem Votum der Untersuchungsdeputation und des Plenums dürfte der Bewertung des Historikers Veit Valentin zuzustimmen sein, dass der preußische Vizegouverneur Hüser mit seiner Drohung, eine Stadt außerhalb von Feindesland einer schlecht ausgebildeten und bewaffneten Bürgergarde von gerade 1.000 Mann wegen zu bombardieren, jedes Maß verloren hatte. Dass die Ursachen der Zwistigkeit nicht allein auf Mainzer Seite lagen, belegt das gute Verhältnis von Bürgern und österreichischen Festungstruppen.341 Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, dass in den Beschlüssen der Nationalversammlung noch­ andere, politische Motive mitschwangen.

336

Wigard, VerhFNV, S. 96 f. Vgl. H. Blum, Revolution, 1898, S. 267. 338 Wigard, VerhFNV, S. 97. 339 In diesem Kontext sind die parallelen Bemühungen der kurhessischen Landstände in der „Garde-du-Corps-Nacht“ vom Ende 1831 interessant. Zum Verlegungsstreit M. Arndt, Militär, 1996, S.  180; H.  Seier, in: ders. (Hg.), Akten und Briefe, 1992, S.  XLIX; VerKhLT  1831, S. 1111 f., 1134 ff.; Anl. CXCIII, S. 1145 f. 340 Frage des Präsidenten und Abstimmung bei Wigard, VerhFNV, S. 114. 341 V. Valentin, Revolution 1848/49 II, 1931, S. 18 f. Krit. gegenüber Hüser und der Bewertung durch Hergenhahn und Reichsverweser S. Müller, Soldaten, 1999, S. 84. 337

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(1) Politische Einordnung Es spricht einiges dafür, dass die gemäßigte Mehrheit eine direkte Einflussnahme auf die Exekutive bzw. das Militär ablehnte.342 Zu gegenwärtig war möglicherweise auch das blutige Schreckgespenst der 1790er Jahre. Zugleich vermied man so einen Konflikt mit Preußen, auf den es verschiedene Kräfte möglicherweise abgesehen hatten.343 In diesem Sinne deutete der Publizist August Ludwig v. Rochau die Angelegenheit als ersten Hinweis, dass in der Paulskirche „nicht eigentlich“ um die Alternative „der Republik oder der Monarchie“, „sondern zunächst nur die Frage [gerungen worden sei], ob die Nationalversammlung neben der verfassunggebenden Machtvollkommenheit […] auch eine Regierungs- und Vollziehungsgewalt auszuüben habe, […] ob sie ein Parlament sey oder ein Convent, wenn auch […] ein zahmer Convent“.344 Tatsächlich reihte sich der ursprüngliche Antrag Zitz, die Ausnahmeverfügungen aufzuheben, den Soldaten das Tragen von Waffen außer Dienst zu verbieten und die preußische Garnison vor die Stadttore zu verbannen, nahtlos in die Versuche der parlamentarischen Linken ein, mit Hilfe unterschiedlichster Anträge wenigstens ein Stück weit die Kontrolle im Staat zu übernehmen.345 Für einen radikalen Hintergrund spricht, dass Franz Heinrich Zitz der Anführer der Radikalen war, die sich Ende März als Fraktion „Donnersberg“ vom „Deutschen Hof“ abspalteten und anders als die gemäßigte Linke eine Fortsetzung der Revolution befürworteten.346 Hätte die Verlegungsforderung im Plenum re­üssiert, wäre die Festungsbesatzung wenigstens zeitweilig geschwächt worden und die Bürgergarde zugleich in eine komfortablere Situation gelangt. – Entsprechende Sorgen griff der badische Liberale Carl Theodor Welcker auf, als er das Plenum aus­drücklich davor warnte, in den 38 deutschen Staaten die Regierung übernehmen zu wollen; so werde man nur das Hauptwerk der Nationalversammlung, die Verfassung Deutschlands, gefährden.347 Tatsächlich votierte die gemäßigte Mehrheit für ein besonnenes Auftreten und setzte, sicherlich zur Besänftigung der erregten Öffentlichkeit, den ersten parla­ men­tarischen Untersuchungsausschuss der gesamtdeutschen Parlamentsgeschichte 342

So auch V. Valentin, Revolution 1848/49 II, 1931, S. 20. Vgl. H.  Blum, Revolution, 1898, S.  266 ff. Zu Reibereien und Dissens zwischen deutscher und preußischer Nationalversammlung s. allg. M. Botzenhart, in: Ritter (Hg.), Regierung, 1983, S. 14 (18 ff.) 344 A. L. v. Rochau, DtVjS 1849/3, 129 (136 f.). 345 Selbst die populäre Illustrirte Chronik I, 1848, S. 266 befand, dass die „Reichsversammlung […] keine regierende Gewalt, noch weniger eine richterliche Behörde [sei], und Angelegenheiten wie diese […] nicht in ihren Bereich gezogen werden [dürften]. Eigentlich nur zur Schaffung einer Verfassung berufen und mithin, streng genommen, schon außerhalb der­ Grenzen ihres Gebiets, wenn sie gesetzgebend [auftrete, habe …] die linke Seite des Hauses hier zuerst [versucht], die Versammlung auf einen ihr fremden Boden zu drängen und in die Richtung des französischen Convents zu treiben.“ 346 Zu Zitz und Donnersberg s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 515, 618. 347 Wigard, VerhFNV, S. 108. 343

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ein. Obwohl man mit dieser Kontrollmaßnahme – wie August Ludwig v. Rochau urteilte – „bereits ziemlich weit über den Bereich der rein parlamentarischen Be­ fugnisse“ hinausgegangen war,348 brachte die konstitutionell gesinnte Majorität­ allen Hoffnungen der Republikaner und Demokraten, man könne der National­ versammlung bei dieser Gelegenheit nach französisch-revolutionärem Vorbild Einfluss auf die Exekutive verschaffen, eine empfindliche Niederlage bei.349 Zutreffend charakterisierte Rudolf Haym (Casino) das Mehrheitsvotum, im Vertrauen auf die Rechtschaffenheit der alten Machteliten zur Tagesordnung überzugehen, als gleich dreifach relevant: Einmal habe man das „Bewußtsein [der Abgeordneten…] über die Grenzen [ihrer…] Machtvollkommenheit“ gestärkt; die Nationalversammlung sei eben „eine constituirende, keine regierende[!] Körperschaft“ gewesen. Auf diese Weise sei die Volksvertretung mit ihrer „moralischen Autorität“ der „gebrochenen Autorität der Regierungen“ beigesprungen und habe zugleich die gegen­ seitigen Kompetenzen abgesteckt. „Wenn endlich republikanische Tendenzen hinter den Mainzer Vorfällen versteckt gewesen [sein sollten, habe…] die Majorität der Versammlung diesen jede Sympathie aufgesagt“ und damit „indirekt ein Votum gegen die Republik und deren Mittel“ abgegeben.350 Angesichts dieser allgemeinpolitischen „Begleitmusik“ nimmt es wenig wunder, dass die Resonanz auf das Verhalten des Paulskirchenparlaments höchst unterschiedlich ausfiel. Teile der Presse urteilten offenkundig vom Boden älterer Staatsauffassungen aus, die Nationalversammlung habe „[g]ewiß […] bereits mehr [getan], als ihr zukam, indem sie eine Abordnung nach Mainz entsendete, um Er 348

A. L. v. Rochau, DtVjS 1849/3, 129 (137 f.). Noch beinahe 15 Jahre später urteilte L. Häusser, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörter­ buch VII, 1862, S. 170, dass, wäre es geglückt, „die Versammlung in diese Stimmung zu versetzen und sie zu einer raschen faktischen Entscheidung fortzureißen, […] der erste Schritt geschehen [wäre], die verfassunggebende Versammlung in eine regierende umzuwandeln und ihr den Charakter eines Konvents zu geben“ (Hervorhebung nur hier). Ähnl. charakterisierte H. Blum, Revolution, 1898, S. 267 das Anliegen der Linken so, dass „sich das Parlament als revolutionärer Konvent aufspiele und durch tödliche Beleidigung der preußischen Waffen­ ehre einen Konflikt […] heraufbeschwöre“. s.  auch C. Jürgens, Geschichte I, 1856, S.  129 sowie H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S.  202: Die Nationalversammlung habe „auch die­ sogleich hervortretenden Versuche der linken Seite, sie zu einem Deutschland mitregierenden Organ zu machen, zurückgewiesen“. In Anm. 2 nimmt Zachariä „besond. [auf den] Beschluß in der Mainzer Angelegenheit“ Bezug. Drastischer brachte der Berliner Verleger, Hallenser außerordentliche Geschichtsprofessor und Casino-Abgeordnete M. Duncker, GeschFNV, 1849, S.  13 die Sache auf den Punkt, die Versammlung habe bei dieser Gelegenheit kurz nach ihrem „Zusammentreten […] zeigen können, daß der bewaffnete Aufruhr am wenigsten dann[,] wenn er mit der Hinterlist der Perfidie und dem Morde im Bunde [sei, auf ihre…] Unterstützung […] rechnen“ könne. Stattdessen sei man den „Beschwerden des Abgeordneten von Mainz, des bekannten Zitz, über das Festungscommando“ entschieden entgegengetreten, „nachdem man dort mehrere preußische Soldaten hinterrücks mit Dolchen niedergestoßen und […] auf andre Feuer gegeben [habe…], welche der Generalmarsch in die Kasernen“ zurückgerufen habe. 350 R. Haym, DtNV, 1848, S.  17 f.; zust. C. Jürgens, Geschichte I, 1856, S.  129. s.  ferner L. Häusser, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch VII, 1862, S. 170. 349

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kundigung über den Hergang der Sache einzuziehen“.351 Aus der Warte des rechten Zentrums erschien dieses Vorgehen auch Rudolf Haym verdächtig: Zwar konzedierte er der Versammlung, dass sie sich mit dem Vorbringen von Zitz habe befassen müssen, weil es in „einer Zeit nun, in welcher die Kraft und das An­ sehen der Regierungen gebrochen, der volle Glaube an eine Autorität dagegen auf dem eben zusammengetretenen Parlamente ruhte[,  …] Pedanterie gewesen [wäre], wenn dies Parlament schlechthin jedes Eingehen auf den Antrag […] von der Hand gewiesen hätte“. Die Absendung einer Untersuchungsdeputation war für den Publizisten anscheinend das kleinere Übel, soweit man habe „auf die so dringend und heftig vorgebrachte Angelegenheit [eingehen müssen], nicht um die gefährliche Bahn des Regierens zu betreten, sondern um sie ein für allemal abzuschneiden“. Die Nationalversammlung habe für „einen Augenblick die Grenzen der Befugniß einer verfassunggebenden Versammlung [überschritten], um für die Zukunft diese Grenzen um so sicherer einhalten zu können“.352 Wohlwollender­ urteilte Heinrich Laube (Linkes Zentrum), man habe „die praktische Mitte“ gesucht, indem, falls die Anschuldigungen bestätigt worden seien, „es noch immer möglich [gewesen wäre], daß die Versammlung, offenbar gegen ihren Wunsch, sich genöthigt [gefunden hätte…] zu Regierungsmaaßregeln“.353 Der Kieler Professor der Geschichte Johann Gustav Droysen (Casino) begrüßte in der Schleswig-­ Holsteinischen Zeitung vom 18. Juni 1848 offen das Scheitern des linken Antrags, weil das Parlament andernfalls ebenso gut habe alle Regierungen absetzen und selbst die Exekutive übernehmen können. Zugleich habe die Versammlung ihre Kontrollfunktion wahrgenommen.354 Demgegenüber prangerte die Linke die vermeintliche „Feigheit“ der Versammlung bitter an, die „für die constitutionelle Fürstenglorie“ schwärme und sich „vor der wirklichen That“ fürchte.355 Ende Juli 1848 warf ein demokratischer Kongress in Jena den Frankfurter Abgeordneten vor, „den Boden der Revolution verlassen“ zu haben. Nach diesem Verbrechen könnten sie „nicht ferner mehr berufen [sein…], über Deutschland’s Verfassung zu beschließen“; besser solle sich die Nationalversammlung „schleunigst selbst auflöse[n]“, statt „ihrer Unfähigkeit […] noch weitere Zeichen auf[zu]richte[n]“.356 Ganz auf dieser Linie beklagte der Berliner Schriftsteller Adolph Streckfuß die Mainzer Beschlüsse als Indiz, „wie gern [die Nationalversammlung…] die Regierungen dem Volke gegenüber in Schutz [nehme…], und sich von denselben abhängig erkläre“. Statt sich den „billigen For-

351

Illustrirte Chronik I, 1848, S. 266. Goutiert wurde dagegen der mit „richtigem Tact“ gefasste Beschluss der Nationalversammlung, „im Vertrauen“ auf die „zuständigen Behörden […] zur Tagesordnung überzugehen“. 352 R. Haym, DtNV, 1848, S. 16 f. 353 H. Laube, Parlament I, 1849, S. 195. 354 Wiedergabe bei W. Nippel, J. G. Droysen, 2008, S. 99. 355 So die namentlich auch gegen Carl Theodor Welcker gerichtete Polemik bei B. Bauer, Bürgerl. Revolution2 1849, S. 231 ff. 356 Vgl. Haßler, VerhFNV II, S. 593.

1. Kap.: Die Frankfurter Nationalversammlung

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derungen des Vertreters von Mainz“ (!) anzuschließen, habe die Mehrheit, „kaum glaublich, aber wahr“, eine „Angelegenheit, welche so und so viel Menschenleben gekostet [habe…], nicht für wichtig genug [erachtet], um […] einen Beschluß zu fassen“, sondern wäre „zur Tagesordnung über[gegangen und habe…] selbst den Antragsteller Zitz nicht mehr [gehört], dem nur vergönnt [gewesen wäre, …] die Versammlung mit dem Rufe: ‚Ich protestire im Namen der deutschen Nation!‘ zu verlassen“.357 (2) Einordnung in die Untersuchungsrechtsgeschichte Unabhängig von dieser politischen Dimension darf man die Bedeutung der Mainzer Untersuchung für die Geschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts nicht unterschätzen. Schließlich demonstrierte die Nationalversammlungsmehrheit ihre Bereitschaft, investigativ in den sakrosankten Bereich militärischer Macht vorzudringen, der nach überkommener Doktrin ganz der monarchischen bzw. Bundesprärogative vorbehalten war. In diesem Sinne diskreditierte der Linke Gustav Struve die Armee als despotisches Machtmittel in der Hand der Obrigkeit, das bloß dazu da wäre, „das Volk fühlen zu lassen, wie schwach es in seiner Vereinzelung und wie stark seine Machthaber durch die Vereinigung der ihnen unbedingt gehorchenden Soldaten“ wären. Obwohl der süddeutsche Revolutionär 1848 nicht ohne Grund orakelte, dass „die Probe des unbedingten Gehorsams noch nicht bestanden“ wäre,358 traf diese Charakterisierung des monarchischen Macht­ fundaments doch insgesamt ins Schwarze. Komplementär dazu hatte F ­ riedrich Dahlmann in seiner Politik 1847 prophezeit, dass zwar die „Militärverfassung […] an gesetzliche Bestimmungen geknüpft“ werden könne, „aber ein Parlament, welches die Kriegsmacht [befehlige, …] der Krone Sturz“ sei.359 Nimmt man beide Feststellungen zusammen, wird deutlich, welche Bedeutung der Tatsache zukommen musste, dass sich die Nationalversammlung ausgerechnet auf diesem hochsensiblen Feld und ohne gesetzliche Ermächtigung eines selb­ständigen Untersuchungsrechts berühmte und damit einen erheblichen parlamentarischen Kontrollanspruch artikulierte. Die prinzipielle Infragestellung der monarchischen Alleinverfügung über die Exekutive hätte sich auf kaum einem anderen Gebiet evidenter äußern können. Die symbolträchtige Bedeutung jeder parlamenta­rischen Kontrolle auf diesem Sektor hatte in Kurhessen 17 Jahre früher einen handfesten Streit zwischen der Kammer und dem kurfürstlichen Ministerium über die Aufarbeitung der „Garde-du-Corps-Nacht“ heraufbeschworen, den das kurfürstliche Gouvernement aufgrund der überkommenen informations­rechtlichen Fesseln der Landstände, die das „monarchische Prinzip“ gebot, klar für sich entscheiden konnte. 357

A. Streckfuß, R. Blum, 1850, S. 219, 221. G. Struve, Staatswissenschaft IV/2, 1848, S. 223. 359 F. C. Dahlmann, Politik I2 1847, S. 96. 358

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In ebenso deutlicher Abkehr von den bisher herrschenden konstitutionellen Regeln hatte sich die Mainzer Deputation der Frankfurter Nationalversammlung keineswegs darauf beschränkt, wie es ihr Franz Wigard hatte ins Pflichtenheft schreiben wollen, „hauptsächlich die gerichtlichen Untersuchungen, die gegenwärtig in Mainz obschweb[t]en, einen Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit werden zu lassen“.360 Statt sich in die Rolle eines passiven Beobachters zu fügen, machten die fünf Abgeordneten von den Vollmachten der vorläufigen Geschäftsordnung auch außerhalb des Parlamentssitzes ausgiebig Gebrauch: Die Untersuchungsdeputation trat unmittelbar an die „Militär- und Civilbehörden“ und die „Anführung der Bürgerwehr“, an großherzoglich hessische Beamte etc. heran. Die Reaktionen der offiziellen Stellen auf diese wenige Wochen zuvor vollkommen undenkbare Untersuchungstätigkeit einer parlamentarischen Versammlung zeigten, dass man die Autorität des Frankfurter Reichstags in der Bundesfestung Mainz Ende Mai 1848 durchaus anerkannte. Das untermauert auch die Anekdote, dass, obwohl die Stadttore nach dem Zwischenfall geschlossen worden waren, die Abgeordneten eingelassen wurden und man ihnen bereitwillig Auskunft gab.361 Damit zeigt die Mainzer Untersuchung deutlicher als alle Enquêten der Fachausschüsse, dass sich die Nationalversammlung schon wenige Tage nach ihrer Konstituierung erfolgreich von bisherigen informationsrechtlichen Fesseln befreite, die den konstitutionellen Landständen jede Untersuchung und erst recht eigene Erhebungen an Ort und Stelle unmöglich gemacht hätten. Mangels eines vergleichbaren Selbstinformations- und Kontrollrechts waren die kurhessischen Stände 1831/32 bei dem Versuch, mit zahnlosen Nachfragen bei der Regierung Licht in die „Garde-du-Corps-Nacht“ zu bringen oder wenigstens die offizielle Aufarbeitung kontrollierend zu begleiten, kläglich gescheitert.362 Statt die Untersuchung des Mainzer Zwischenfalls nach diesem „Vorbild“ dem Deutschen Bundestag, dem Festungsgouvernement oder dem Königreich Preußen zu überlassen, nahm sich die Nationalversammlung der Sache an, trat damit in Konkurrenz zu einzelstaatlichen und Bundesinstanzen und dokumentierte mit diesem revolutionären Schritt das neue Selbstverständnis und Selbstvertrauen der Volksvertretung. Vor diesem Hintergrund wurde, obgleich der Kommission Pflicht und Zwang gegenüber den Auskunftspersonen nicht zur Verfügung standen, eine „echte“ parlamentarische Untersuchung veranstaltet. Ziel der Übung war es einerseits, das Verhalten des Bundesmilitärs zu kontrollieren und andererseits durch eigene Erhebungen ggf. weitere Schritte vorzubereiten. Umso bemerkenswerter ist es, dass das moderne enquête- und untersuchungsrechtliche Schrifttum den Vorfall soweit ersichtlich bisher nicht aufgegriffen hat.

360

Wigard, VerhFNV, S. 60. Zum Vorgehen der Deputation etc. s. W. Zimmermann, Revolution2 1851, S. 616. 362 s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3 a) bb). 361

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b) Die Mannheimer Einquartierungslasten Während die Mainzer Untersuchung zu einem Kompetenzkonflikt mit der­ Bundesexekutive hätte führen können, tangierte die parlamentarische Behandlung der Mannheimer Einquartierungslasten möglicherweise auch die föderale Ordnung. Auslöser war eine Petition Mannheimer Einwohner und Bürger, die sich­ gegen die durch eine Unterbringung von Bundestruppen im Mai und Juni 1848 veranlassten wirtschaftlichen Lasten wendeten. Der erste Bericht des Prioritätsund Petitionsausschusses, den der Landgerichtsdirektor Carl Fuchs ­(Casino) im Plenum am 17. Juni 1848 erstattete, quittierte die keineswegs unberechtigte Frage, ob man überhaupt Beschwerden aus den Einzelstaaten annehmen dürfe, mit der lapidaren Antwort, dass sich die Nationalversammlung in der unruhigen „Übergangsperiode, in welcher alle Verhältnisse erschüttert, die bestehenden Gewalten gelähmt, und neues Vertrauen erweckende noch nicht begründet“ seien, „nicht theilnahmslos hinter das Aussenwerk einer vermeintlichen Unzuständigkeit verbergen“ dürfe; obwohl die Volksvertretung „keine Aufsichtsbehörde oder Beschwerde-Instanz für die deutschen Regierungen“ sei, habe sie „entschieden hervorzutreten, und das verletzte Recht wieder in sein Recht einzusetzen“. In der Sache beantragte der Ausschuss, weil die Bittschrift teils unvollständig sei  (!), „ihm die in §.  24 der Geschäftsordnung vorgesehene Ermächtigung zur Ermittlung des wahren Sachverhalts zu ertheilen, damit er in den Stand gesetzt werde, sich von dem Bundestage, erforderlichenfalls auch von den Behörden des Großherzogthums Baden, die Einsicht der über den Gegenstand vorhandenen Acten und sonstige Aufklärungen zu erbitten“.363 Dass die offenbar notleidende Petition nicht zu den Akten gelegt wurde, unterstreicht den neuartigen parlamentarischen Kontrollanspruch, den sich die Abgeordneten in der Revolution auf die Fahnen geschrieben hatten. – Die Nationalversammlung folgte diesem Antrag364 und machte so ein weiteres Mal nach der Art eines Untersuchungsrechts von § 24 GO-FNV 1848 Gebrauch, statt die Sache an den Bundestag abzugeben oder als insuffizientes Vorbringen auf sich beruhen zu lassen. Der Prioritäts- und Petitionsausschuss trat darauf „mit dem Bundestage und dem Gemeinderathe der Stadt Mannheim in Schriftwechsel“. Die durch den Bundespräsidialgesandten übermittelten „Auszüge aus den Bundestagsprotokollen“ ergab, „daß die früher an den Bundestag gerichtete Bittschrift der Stadt Mannheim, um Erleichterung der Einquartirungslast, dem Oberbefehlshaber mit dem Ersuchen um möglichste Berücksichtigung […] zugefertigt […] worden“ war. Weil sich die Einquartierungen mittlerweile überwiegend erledigt hatten und wegen eines finanziellen Ausgleichs ebenso wie des Ausnahmezustands Abhilfe „durch die Großherzoglich Baden’sche Staatsregierung, an welche man sich­ 363

Bericht des Petitions- und Prioritäts-Ausschusses über die Beschwerde der Stadt Mannheim über die drückende Einquartirungslast, bei Wigard, VerhFNV, S.  336 f. oder Haßler, VerhFNV II, S. 40 f. 364 Wigard, VerhFNV, S. 337.

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neuerdings […] gewendet, mit Zuversicht erwartet werden“ könne,365 ging das Plenum gut einen Monat nach dem ersten Bericht des Ausschusses am 18. Juli 1848 zur Tagesordnung über.366 Mit dieser zurückhaltenden Entscheidung vermied man  – dem Vorgehen in der Mainzer Angelegenheit nicht unähnlich – erneut den Konflikt mit den alten Machthabern, den jede Entscheidung in der Sache zwangsläufig heraufbeschworen hätte. Unter dem Blickwinkel der Befugnisse, die der Ausschuss aufgrund von § 24 GO-FNV  1848 in Anspruch nahm, bringt die Mannheimer Angelegenheit wenig Neues: Zum wiederholten Male trat man – ohne Vermittlung der Bundesversammlung; die Zentralgewalt bestand noch nicht367  – unmittelbar mit Behörden eines Einzelstaates in Verbindung, um Aufschluss über dortige Vorgänge und Verhältnisse zu gewinnen. Soweit der Bundestag um Auskunft ersucht wurde, erschien er durch die Truppenverlegung nach Mannheim als „Beteiligter“. Indem der Ausschuss ebenfalls unmittelbar mit dem „Gemeinderathe der Stadt Mannheim in Schriftwechsel“ trat, folgte er gewissermaßen dem Grundsatz, „audiatur et altera pars“, statt sich ausschließlich auf die Petitionen der Betroffenen oder die Auskünfte der Bundesseite zu verlassen. Bis auf den Umstand, dass Erkundigungen anscheinend unmittelbar eingeholt wurden, bewegte sich das Vorgehen der Petitionskommission in den aus früheren Tagen bekannten Bahnen einer Fremdinformation auf Ersuchen. Die Bedeutung der Mannheimer Einquartierungslasten für das Enquête- und Untersuchungsrecht besteht deswegen nicht in den in Anspruch genommenen Befugnissen, sondern in der Stellung, die die Nationalversammlung gegenüber den Einzelstaaten einnahm. Mit ihrer Aufgabe, Verfassungswerk und Einheit zu begründen, schwand anscheinend der Respekt vor der Fürstensouveränität als höchstem Gut der Bundesverträge. Insofern spielt es keine Rolle, dass keineswegs feststeht, dass jede parlamentarische Intervention tatsächlich eine Einmischung in innere Angelegenheiten bedeutet hätte. Schließlich erfolgte die Einquartierung von Bundestruppen zwar auf Anfordern des von inneren Unruhen gebeutelten Großherzogtums; dadurch ging aber der bundesrechtliche Charakter dieser Maßnahme auf der Grundlage von Art. 26 WSA 1820 keineswegs verloren.368 Möglicherweise war aber die Entschädigungsfrage Landessache. Ungeachtet dieser Feinheiten schob der Prioritäts- und Petitionsausschuss Bedenken wegen der Souveränität Badens mit machtpragmatischen Überlegungen beiseite: Erstens sollte dem „verletzten Recht wieder zum Durchbruch verholfen werden“; damit knüpfte

365 Anderweitiger Bericht des Prioritäts- und Petitions-Ausschusses über die Mannheimer Beschwerde vom 4.  Juni d. J., wegen drückender Einquartirungslast bei Wigard, VerhFNV, S. 1048. Abdruck auch bei Haßler, VerhFNV II, S. 100. 366 Wigard, VerhFNV, S. 1001. 367 Zur Errichtung der Zentralgewalt im Juni/Juli 1848 s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 625 ff. 368 Allg. zur inneren Sicherheit als Bundeszweck E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 595 f.

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man an Aufgaben der Ständeversammlungen an, hob den parlamentarischen Rechtsschutz aber auf eine bundesrechtliche Ebene. Zweitens sollte das parlamentarische Einschreiten das postrevolutionäre Machtvakuum ausfüllen, das der­ Autori­tätsverlust der alten Eliten hinterlassen hatte. Nachdem sich die Frankfurter Nationalversammlung das grundlegende Recht angeeignet hatte, auf Bittschriften und Beschwerden aus einem Bundesstaat zu reagieren, verfuhr sie bei der Untersuchung unausgesprochen analog dem Rechtsprinzip des § 89 EinlALR 1794, dass die Gesetze demjenigen, dem sie „ein Recht geben, […] auch die Mittel [bewilligen], ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann“. Die Volksvertretung nahm so wegen militärischer Maßnahmen während des badischen April­ aufstands369 ein Kontrollrecht gegenüber dem Deutschen Bund und dem betroffenen Einzelstaat in Anspruch, das ihr die Gesetze keineswegs zugestanden. Die einzige Grundlage für diesen Schritt waren das parlamentarische Selbstverständnis sowie das autonome Geschäftsordnungsrecht. c) Die Besetzung Sachsen-Altenburgs Im Herzogtum Sachsen-Altenburg führte die Märzrevolution zu radikaldemokratischen Veränderungen: Nachdem schon im April 1848 das allgemeine und direkte Wahlrecht eingeführt worden war, folgten auf einen Aufstand im Juni weitere demokratische Zugeständnisse des Herzogs. Als sich das Staatsministerium Anfang September hilfesuchend an die Zentralgewalt wendete und eingestand, „daß es sich nicht im Besitze jener Gewalt befinde, die nöthig sey, um für alle Eventualitäten die Fortdauer der gesetzlichen Ordnung zu sichern“, ordnete der Reichsverweser die militärische Besetzung des Herzogtums sowie der weiteren von den Unruhen erfassten Kleinstaaten an. Gegen diese Reichsinter­ vention, die augenscheinlich den Regeln der Wiener Schlussakte folgte, wendete sich die demokratisch-republikanisch beherrschte Landschaft an die National­ versammlung.370 Nachdem die Beschwerde am 29.  September 1848 im Plenum verlesen worden war, regte Franz Wigard (Deutscher Hof) an, den Prioritäts- und Petitionsausschuss „zu beauftragen, über diese Adresse schleunigst Bericht zu erstatten“. Weil in Frankfurt „zwei Deputierte der altenburgischen Landschaft anwesend“ seien, schlug er weiter vor, „daß nach § 24 der Geschäfts-Ordnung der Ausschuß ermächtigt werde, nähere Erkundigungen von denselben einzuholen“. Als der Breslauer Landgerichtsdirektor und Ausschussberichterstatter Carl Fuchs (Casino) daran erinnerte, dass der Ausschuss die „Vollmacht, die [ihm…] jetzt für einen einzelnen Fall beigelegt werden soll[e, …] schon früher generaliter in Betreff aller Be-

369

Zum badischen Aprilaufstand E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 511 ff. s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 532 sowie die Schilderung der Ereignisse in dem Bericht des Prioritäts- und Petitionsausschusses bei Haßler, VerhFNV II, S. 591 ff. (Zitat). 370

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schwerden […] erhalten“ habe, stellte Präsident Heinrich v. Gagern fest, dass dem Ausschuss die „Beschleunigung […] empfohlen“ werde und der „Gegenstand […] damit erledigt“ sei.371 Das Bestehen eines parlamentarischen Untersuchungsrechts wurde auch bei dieser Gelegenheit nicht in Frage gestellt. Dem Bericht des Prioritäts- und Petitionsausschusses zufolge, der, schenkt man dem Registerband Franz Wigards Glauben, nicht auf die Tagesordnung kam,372 hatte der Ausschuss tatsächlich „vermöge der ihm in Gemäßheit des §. 24 der ­Geschäftsordnung zustehenden Befugniß, an das Reichsministerium das Ersuchen gestellt: ihm über diejenigen thatsächlichen Vorgänge, welche die militärische Besetzung des Herzogthums Altenburg nöthig gemacht [hätten…], über den dadurch zu erreichenden Zweck und über die vermuthliche Dauer dieser Ausnahmemaßregel amtliche Mittheilung zugehen zu lassen“. Darauf hatte der Unterstaatssekretär im Reichsinnenministerium Joseph Edler v. Würth „in zwei Sitzungen des Ausschusses aus den zur Stelle gebrachten Acten des Reichsministeriums Mittheilungen gemacht, Fragen beantwortet, Aufklärungen gegeben“. Nach dieser scheinbaren Zeugenvernehmung – in Wahrheit hatte die parlamentarische Seite den Unterstaatssekretär nicht zur Vernehmung geladen, sondern das Ministerium lediglich um Auskunft gebeten – wurden Berichterstatter Fuchs und einem anderen Ausschussmitglied ebenfalls die Akten vorgelegt. Die Abgeordneten nahmen „Einsicht von den Verhandlungen“ und lasen die „erheblichsten Urkunden“. Das Ministerium ließ ferner eine „schriftliche Antwort an den Ausschuß gelangen“, eine „Abschrift derjenigen Aktenstücke beigefügt, deren Kenntniß den [parla­ mentarischen] Commissarien verzugsweise wünschenswerth erschien[en]“ war.373 Dem Ausschuss lagen außerdem eine Erklärung des Generalausschusses des Vater­ landsvereins zu Altenburg, eine Bittschrift des Dresdener Vaterlandsvereins sowie eine Eingabe des demokratisch-republikanischen Clubs zu Werdau vor. Aus „öffent­lichen Blättern“ entnahm man, dass eine „große Anzahl Altenburger Staatsbürger“ die Reichsintervention billige.374 In dem Ausschussbericht hieß es ausdrücklich, dass die „Feststellung der Thatsachen […] nur auf den Ministerialacten“ beruhe; „Zweifel an ihrer Richtigkeit [hätten sich…] nur dadurch […] heben [lassen], daß eine Commission der Reichsversammlung an Ort und Stelle durch Abhörung von Zeugen und Gegenzeugen eine förmliche Untersuchung“ vorgenommen hätte. Für diesen Schritt sah der Ausschuss aber keine „ausreichende Veranlassung“, sondern urteilte mit knapper Mehrheit von zehn gegen acht Stimmen, „daß die Beschwerde über die von dem Ministerium getroffenen Maaßregeln nicht begründet sey“.375

371

Wigard, VerhFNV, S. 2347 f. Vgl. Stichwort „Altenburg“ bei Wigard, VerhFNV-Inhalt, S. 6. Anzeige des Ausschusses bei Wigard, VerhFNV, S. 3326. 373 Haßler, VerhFNV II, S. 591. 374 Haßler, VerhFNV II, S. 594. 375 Haßler, VerhFNV II, S. 594. 372

1. Kap.: Die Frankfurter Nationalversammlung

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Anders als in der Mainzer Angelegenheit unterließ der Ausschuss also aus Zweckmäßigkeitserwägungen eine selbständige Untersuchung. Während die Majorität dem Plenum riet, „über die Beschwerde der Altenburger Landschaft und die [weiteren…] Gesuche zur Tagesordnung über zu gehen“,376 kam das Minoritätsgutachten aus der Feder des Koblenzer Advokatanwalts Johann Werner (Württemberger Hof) zu der Empfehlung, „daß […] dem durch die Altenburger Landschaft erklärten Wunsche, baldmöglichst durch die Reichsgewalt wenigstens insofern entsprochen werden möge, daß die Bewohner des Herzogthums von der ihnen […] auferlegten Last der Einquartierung enthoben“ würden.377 Der Ausschussmehrheit hielten die unterlegenen Abgeordneten vor, „zur Rechtfertigung der g­ egen das Herzogthum ergriffenen militärischen Maaßregeln Ereignisse [anzuführen…], welche an sich theils als unerheblich [erschienen…], theils ihren ruhigen Verlauf bereits gehabt [hätten…], bevor die Vollziehung der Maaßregeln eingeleitet“­ worden sei.378 Die Indolenz, die die Mehrheit gegenüber dem militärischen Auftreten in Sachsen-Altenburg an den Tag legte, hing möglicherweise mit dem Frankfurter Septemberaufstand zusammen, der vor gerade zwei Wochen mit militärischer Hilfe aus der nahen Bundesfestung Mainz niedergeschlagen worden war.379 Ungeachtet dessen übte der Prioritäts- und Petitionsausschuss parlamentarische Kontrolle über die Provisorische Zentralgewalt aus. Indem man Rechenschaft von der Zentralgewalt forderte, deren Existenz auf den „kühnen Griff“ der Nationalversammlung zurückging,380 kam hinter den Kulissen erstmals der für das moderne Untersuchungsrecht prägende Nexus von Kreation und Kontrolle zum Tragen. In der Sache wurde die brisante Frage untersucht, ob die Zentralgewalt – wie es ihr die sachsen-altenburgische Landschaft vorwarf – einen „Angriff auf die Freiheit und Selbstständigkeit [eines…] Landes unternommen“ und dieses „gewaltsam in einen Kriegs-Zustand“ gestürzt, ja „den Landtag unter den Einfluß der Bajonnette [ge]stellt“ habe.381 Materiell ließ sich die Kontrollkompetenz der Nationalversammlung auf die Ministerverantwortlichkeit des § 6 Prov­Cen­tralgG 1848 stützen, ohne dass das Fehlen des in § 8 Prov­Cen­tralgG 1848 vorbehaltenen Ausführungsgesetzes insofern eine Rolle spielte. Zusammen mit § 24 GO-FNV 1848 ergab sich aus dem Zentralgewaltsgesetz eine inhomogene, trotzdem aber wirkungsvolle, zusammengesetzte Ermächtigung zu parlamentarischen Untersuchungen. Wie weit der Ausschuss seine Kontrollbefugnis zog, beweisen die Überlegungen zur Validierung der offiziellen Auskünfte. Mit dem Verzicht auf eigene Untersuchungen vor Ort blieb der Ausschuss also bloß scheinbar bei vormärzlichen Formen stehen. Überdies waren weitergehende parlamentarische Schritte faktisch entbehrlich, 376

Haßler, VerhFNV II, S. 595. Haßler, VerhFNV II, S. 598. 378 Haßler, VerhFNV II, S. 595. 379 Zu den Septemberunruhen s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 697 ff. 380 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 625 f. und passim. 381 Vgl. den Wortlaut der Beschwerden vom 26. September 1848 bei Wigard, VerhFNV, S. 2347. 377

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weil das Reichsinnenministerium – anders als beispielsweise die k­ urhessische Regierung zu Beginn der 1830er Jahre382 – bereitwillig Auskunft erteilte und seine Akten öffnete. Auch insoweit hatte sich der politische Wind gegenüber dem Vormärz spürbar gedreht. d) Untersuchungsforderungen nach den Wiener Ereignissen Ein Vorgeschmack auf die spätere preußisch-deutsche Staatspraxis, statt einer parlamentarischen Untersuchung exekutive Ermittlungen anzuregen, bot sich im Zusammenhang mit der Wiener Oktoberrevolution. aa) Der Fall Blum Im Herbst 1848 wurde in der Hauptstadt der Donaumonarchie ein bewaffneter Aufstand durch den Feldmarschall Alfred Fürst v. Windisch-Graetz mit öster­ reichischen und kroatischen Truppen blutig niedergeschlagen. An den Barrikadenkämpfen hatten auch Vertreter einer Deputation der Linken der Frankfurter Nationalversammlung teilgenommen.383 Nach der Einnahme der Stadt wurden Robert Blum und Julius Fröbel, die sich in einem spontan gebildeten Corps d’elite aktiv beteiligt hatten, Anfang November 1848 verhaftet.384 Robert Blum wurde standrechtlich zum Tode verurteilt und am Morgen des 9. November 1848 erschossen; die rechtliche Beurteilung dieser willkürlichen Tat ist wegen des Reichsimmunitätsgesetzes vom 30. September 1848 bis heute rechtlich umstritten.385 Vor dieser Zuspitzung hatte die Provisorische Zentralgewalt am 12.  Oktober 1848 als Reichskommissare den Abgeordneten Carl Theodor Welcker und den Bevollmächtigten des Großherzogtums Oldenburg bei der Zentralgewalt Johann Ludwig Mosle386 nach Österreich entsandt, „um auf möglichst friedliche Weise die entgegenstehenden Interessen zur Ausgleichung zu bringen. Sie soll[t]en sich an Ort und Stelle von der Lage der Angelegenheiten durch eigene Anschauung und Prüfung vollständig unterrichten, um dann mit Sicherheit die geeigneten Maßregeln anzugeben, welche zur raschen Beendigung des Bürgerkrieges führen könn[t]en.“387 Am 23. Oktober 1848 sanktionierte die Nationalversammlung diesen 382

Zu den kurhessischen Auskunftsstreitigkeiten s. 2. Teil 2. Kap. II. 3. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 716. Dazu und zu den nachfolgenden Ereignissen s. Julius Fröbel bei Wigard, VerhFNV, S. 3419 ff. sowie das Protokoll vom 17. Oktober 1848, VerhÖRT 1848 III, S. 186 ff. 384 Vgl. Wigard, VerhFNV, S. 3137. 385 Etwa E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 717 ff. m. w. N. und Bericht des Öster­reichischen Ausschusses bei Wigard, VerhFNV, S. 3323 f. 386 Zu diesem s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 649 und in Fn. 7. 387 Wigard, VerhFNV, S. 2809 f. 383

1. Kap.: Die Frankfurter Nationalversammlung

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Schritt in mehrstündiger Debatte.388 Die Mission als Reichskommissare bestand also nicht in einer parlamentarischen Untersuchung, sondern war ein verzweifelter Versuch der Zentralgewalt, der Lage Herr zu werden. Angesichts der schwächlichen Konstitution der Reichsgewalt – von Anfang an fehlte es an Sachmitteln, Personal, Geld und Rückhalt in den Einzelstaaten;389 Manfred Botzenhart sprach in anderem Zusammenhang von „theoretischer Sandkastenspielerei“390  – nimmt es wenig wunder, dass die Bemühungen, einen Gewaltausbruch oder Sieg der Re­ aktion zu verhindern, kläglich scheiterten.391 Nach der Ermordung Robert Blums entsendete das Reichsministerium am 12. November 1848 zwei weitere Reichskommissare, „zunächst um die anderen Abgeordneten in Schutz zu nehmen, […] überhaupt aber, um das Nothwendige vorzukehren, daß dem Gesetze alle seine volle Geltung werde“.392 Die beiden Abgeordneten, der Professor des bayerischen Verfassungs- und Verwaltungsrechts Joseph Pözl und der Advokat und Notar Adolf Paur, hatten „den Auftrag mitbekommen, sich alle Papiere, die sich auf jenen unglücklichen Vorfall [bezögen…], ausliefern zu lassen, und [an den Sitz der Zentralgewalt…] zu schicken; zugleich aber auch alle verlässigen Nachrichten über den ganzen Vorfall möglichst zu sammeln, und schleunigst zu berichten“. Die Nationalversammlung billigte auch diesen Schritt nachträglich, obwohl verschiedene Linke forderten, dass man der „Centralgewalt insbesondere die erforderlichen Maßregeln zur Ermittlung und Bestrafung der mittelbaren und unmit­telbaren Mörder des Reichstags-Abgeordneten Robert Blum“ empfehle.393 Am 24. November 1848 berichtete Reichsjustizminister Robert v. Mohl im Plenum, dass sich die Reichskommissare am Nachmittag des 18. November 1848 nach Olmütz begeben hätten, wo ihnen der österreichische Ministerpräsident Freiherr v. ­ röbel erWessenberg u. a. versichert habe, „daß die in der Sache von Blum und F laufenen Acten sich […] in den Händen des designirten Justizministers […] befänden, und [ihnen…] dieselben […] zur Einsicht vorgelegt werden würden, und daß man [ihnen…] überhaupt Alles zu Gebote stelle, was geeignet sei, [sie…] über den Stand der Dinge zu orientiren“. Darauf wollten die Reichskommissare am nächsten Tag „nach Wien […] gehen, um dort die nöthigen Erhebungen pflegen zu können“. 388

s. die Abstimmung bei Wigard, VerhFNV, S. 2835. F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 183. 390 M. Botzenhart, in: Ritter (Hg.), Regierung, 1983, S. 14 (15 f.) zu Paulskirchenparlamen­ tarismus und Zentralgewalt. 391 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 714 ff. 392 Wigard, VerhFNV, S. 3271. 393 Wigard, VerhFNV, S. 3321. Trotz der Empfehlung, die Sache bis dahin ruhen zu lassen, beschloss die Nationalversammlung am 16. November 1848 nahezu einstimmig, dass sie, ­„indem sie vor den Augen von ganz Deutschland gegen die mit Außerachtlassung des Reichs[immunitäts]gesetzes vom 30. September l. J. vollzogene Verhaftung und Tödtung des Abgeordneten Robert Blum feierlich Verwahrung [einlege, …] das Reichsministerium auf[fordere], mit allem Nachdruck Maßregeln zu treffen, um die unmittelbaren und mittelbaren Schuldtragenden zur Verantwortung und Strafe zu ziehen“ (Wigard, VerhFNV, S. 3325). 389

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Im Anschluss an diesen Zwischenbericht versuchte der Demokrat Carl Theodor Dietsch (Donnersberg), die parlamentarische Initiative zurückzugewinnen, indem er verlangte, dass, um „die Schritte vollständig beurtheilen zu können, welche zur energischen Ausführung des […] Beschlusses wegen […] Sühne des an Blum verübten Mordes geschehen sind, und geschehen werden, […] die Nationalversammlung [beschließen möge, …] die sofortige Niederlegung sämmtlicher über diesen Gegenstand ergangenen und ergehenden Schriften und Actenstücke […] von dem Ministerium zu fordern“. Noch vor der Abstimmung über diesen Antrag, der mit dem Aktenvorlageverlangen über eine schlichte Interpellation weit hinausging, zog ihn der Antragsteller zurück.394 bb) Militärische Ausschreitungen Für die Geschichte des parlamentarischen Untersuchungsrechts ist der Vorstoß eines Parteifreundes Dietschs bedeutender. Nachdem die Nationalversammlung Berichte von brutalsten Ausschreitungen und Übergriffen gegen die Wiener Bevölkerung und die Teilnehmer der Aufstände erreicht hatten, verlangte der Spandauer Bürgermeister und Jurist Eduard Zimmermann (Donnersberg) am 23. November 1848, zur Untersuchung dieser Verbrechen „eine besondere Commission zu ernennen, welche […] an Ort und Stelle den Thatbestand der […] gemeldeten Greuel­ thaten auf das Genaueste zu erheben, und […] darüber zu berichten [habe…], inwieweit das Gesetz gehandhabt [sei…], um die Urheber solcher Handlungen zur Strafe zu ziehen.“395 Der Antrag zielte ausweislich seiner Begründung eindeutig auf eine parlamentarische Untersuchung des militärischen Fehlverhaltens in Wien.396 Aber obgleich dieser Vorstoß dem Präzedenzfall der Mainzer Untersuchung ähnelte, blieb er erfolglos. Anstelle einer eigenen Untersuchung legte der Österreichische Ausschuss der Versammlung nahe, „in Erwägung der hohen Wichtigkeit, daß das deutsche Volk über die Grundhältigkeit der im Antrage des Herrn Zimmermann von Spandow enthaltenen Angaben […] durch eine vollkommen unbefangene Erhebung des wahren Sachverhaltes Aufklärung erlange, das Reichsministerium auf[zu]fordern, den nach Oesterreich abgesendeten Reichscommissären ungesäumt den Auftrag zu ertheilen, an Ort und Stelle den Thatbestand […] auf das Genaueste zu erheben und darüber zu berichten“.397 394

Wigard, VerhFNV, S. 3540. Abdruck des Antrags Zimmermann bei Wigard, VerhFNV, S. 3514 f. 396 Bei Wigard, VerhFNV, S. 3515 heißt es zur Begründung, „[d]aß […] der eigentliche Zusammenhang erforscht werde, [sei…] heilige Pflicht der Volksvertreter“ (Hervorhebung nur hier). Aus diesem Grund habe die „Nationalversammlung […] eine besondere Commission zu ernennen“. 397 Bericht des Ausschusses für die österreichischen Angelegenheiten über den Antrag des Herrn Abgeordneten Zimmermann aus Spandow, die angeblich in Wien verübten Greuelthaten betr. (Franz v. Sommaruga) bei Haßler, VerhFNV II, S. 711 und Antrag bei Wigard, VerhFNV, S. 3749 f. 395

1. Kap.: Die Frankfurter Nationalversammlung

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Dem Wiener Abgeordneten Franz Philipp v. Sommaruga zufolge trugen acht Ausschussmitglieder Antrag und Bericht. Sechs Abgeordnete hatten die Beschlussfassung versäumt, Carl Ignatz v. Schrenk nicht mit der Mehrheit gestimmt.398 Anscheinend hatte die Ausschussmehrheit Bedenken, dass mit einer „Wahl dieser Reichscommissäre nach der Absicht des Herrn Antragstellers durch die Nationalversammlung“ doch „ganz wesentlich in den Wirkungskreis der Exekutivgewalt eingegriffen [werden könne…], deren Pflicht es eben [sei…], unter ihrer Verantwortlichkeit für die zweckmäßige Ausführung der von der hohen Versammlung gefaßten Beschlüsse zu sorgen“. Der Zusatz, dass „[z]u einem Abgehen von diesem bisher auch stets durch die Versammlung faktisch anerkannten Grundsatze […] um so weniger Grund vorhanden [sei], als sich ohnedem in diesem Augenblicke noch zwei Reichscommissäre […] in Oesterreich [befänden…], welche sich schon wegen des nahen Zusammenhanges des Gegenstandes als die geeignetsten Organe zur Ausführung dieses Beschlusses darstellen dürften“,399 verdeutlicht, dass der Ausschuss den Untersuchungsantrag (absichtlich?) dahin missverstanden hatte, dass die Versammlung Reichskommissare wählen solle, die von der Zentralgewalt entsendet werden sollten. Obwohl die Wiener Ereignisse für eine parlamentarische Untersuchung nach Mainzer Vorbild prädestiniert gewesen wären, hielt sich die Mehrheit auffällig bedeckt und befürwortete lediglich exekutive Ermittlungen, statt erneut auf § 24 GO-FNV 1848 zu pochen. Über die Gründe lässt sich bloß spekulieren. Einerseits lag der Ort des Geschehens jetzt 600 Kilometer weit entfernt, während es nach Mainz bloß gut 30 Kilometer waren. Auch ist dem Parlament zugute zu halten, dass die Bundesversammlung ihre Befugnisse zwischenzeitlich auf den Reichsverweser übertragen hatte,400 dem die Nationalversammlung durch § 2 lit. a) Prov­ Cen­tralgG 1848 die „Oberleitung der gesammten bewaffneten Macht“ anvertraut hatte. Darüber hinaus waren unter den von der Zentralgewalt entsendeten „Reichskommissaren“ auch Abgeordnete. Trotzdem markiert das Scheitern des Untersuchungsantrags Zimmermann, der in eine blasse Forderung umgedeutet wurde, anstelle der Zentralgewalt eine exekutive Personalentscheidung zu treffen, einen Wendepunkt in der Reihe der politischen Untersuchungen der Frankfurter Nationalversammlung, indem man eigene Ermittlungen zugunsten eines Ersuchens an die Zentralgewalt zurückstellte und so gewissermaßen zu eigentlich überkommenen Informationsmodi zurückkehrte. Anscheinend war die parlamentarische Euphorie der ersten Monate in diesen Krisentagen doch verflogen.

398

Wigard, VerhFNV, S. 3750. Haßler, VerhFNV II, S. 711. 400 s. die Uebertragung der Ausübung der Befugnisse und Verpflichtungen der Bundes­ versammlung an die provisorische Zentralgewalt in der Bundesplenarversammlung vom 12ten Juli 1848 (Abdruck bei P. Roth/H. Merck (Hg.), QuellenSlg I, 1850, Nr. 155, S. 550 ff.) sowie dazu E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 631 ff. 399

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e) Bundeswidriges Verhalten im dänischen Krieg Einem Verdacht bundeswidrigen Verhaltens verschiedener Einzelstaaten ging der Ausschuss für völkerrechtliche und internationale Fragen im Zusammenhang mit dem schleswig-holsteinischen Krieg nach. Unmittelbar nach dem Bundesbeschluss vom 12.  April 1848, militärisch in das Herzogtum einzurücken, beschlagnahmte Dänemark zahlreiche deutsche und insbesondere preußische Handelsschiffe. Auf Betreiben der Hohenzollernmonarchie entschied sich die Bundes­ versammlung im Gegenzug für die militärische Besetzung eines Teils des dänischen Staatsgebiets als „Unterpfand für den Ersatz des dem deutschen Handel zugefügten Schadens“. Verschiedene deutsche Küstenstaaten beschlagnahmten als Retorsionsmaßnahme ihrerseits dänische Schiffe. Gegen den preußischen Versuch, ein einheitliches Vorgehen zu erzwingen, wendeten sich indessen Hamburg und Lübeck, bis die Bundesversammlung es schließlich allen Bundesstaaten am 8. Mai 1848 freistellte, wie sie verfahren wollten; Hannover und verschiedene andere Staaten gaben daraufhin die dänischen Fahrzeuge wieder frei. Auf Anträge Carl Nauwercks (Deutscher Hof) und des fraktionslosen Friedrich Müller hatte der Völkerrechtliche Ausschuss zu untersuchen, ob einzelne Bundesglieder separate Neutralitätsabkommen mit Dänemark geschlossen hätten.401 Schließlich wurde dieser Verdacht verworfen, weil „zufolge der deßfallsigen Communication des Vorsitzenden des Ausschusses mit dem ehemaligen Bundespräsidialgesandten […] von solchen Separatverhandlungen und Neutralitätserklärun­ gen […] bei der Bundesversammlung nichts vorgekommen“ sei.402 Mit dieser Auskunft gab sich die Nationalversammlung am 11. August 1848 nach Erläuterungen des Reichsaußenministers Johann Gustav Heckscher und verschiedener anderer Abgeordneter zufrieden und ging antragsgemäß zur Tagesordnung über.403 Von Belang sind diese auf den ersten Blick unspektakulären Vorgänge, weil die Nationalversammlung das Verhalten der Bundesstaaten zum Gegenstand einer „Untersuchung“ machte. Ein ausreichender Bundesbezug, der ihre Zuständigkeit begründete, bestand möglicherweise, indem entsprechende Abkommen die in Art. 11 DBA 1815 statuierte Bundespflicht verletzt hätten, dass kein Bundesstaat bei „einmal erklärtem Bundeskrieg […] einseitige Unterhandlungen mit dem Feinde eingehen, noch einseitig Waffenstillstand oder Frieden schliessen“ dürfe. Für das Selbstverständnis der Nationalversammlung bedeutete die „Untersuchung“, dass man sich anscheinend für berechtigt hielt, die Bundestreue der Einzelstaaten zu hinterfragen, obwohl die eigentlich zuständige Bundesversammlung noch existierte. Über Nachfragen bei den zuständigen Stellen hinausgehende Informationsinstrumente kamen demgegenüber nicht zum Zuge. 401 s. die Richtigstellung durch Carl Nauwerck, es sei bloß von „abgesonderte[n] Verhandlungen mit der dänischen Regierung“ die Rede gewesen, bei Wigard, VerhFNV, S. 1518. 402 Bericht des Völkerrechtlichen Ausschusses bei Wigard, VerhFNV, S. 1515. 403 Wigard, VerhFNV, S. 1530 sowie S. 1523 f. die Ausführungen Heckschers zu den Kontakten verschiedener Staaten mit Dänemark.

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f) Bewertung der politischen Untersuchungen Angesichts dieser Beispiele aus der parlamentarischen Praxis wird das verbreitete Urteil, „[f]örmliche Untersuchungen, die über die gewöhnliche aufarbeitend-vorbereitende Tätigkeit von Parlamentsausschüssen hinausgingen und die als­ Paradigma einer Parlamentsenquete zu gelten hätten, [seien 1848/49…] nicht in die Geschichtsbücher des Parlamentsrechts eingegangen“ (Johannes Masing),404 der Frankfurter Nationalversammlung und ihren Ausschüssen nicht gerecht. Insbesondere die Untersuchung in der nahegelegenen Bundesfestung Mainz, im Ansatz aber auch das Vorgehen in der Mannheimer oder der Altenburger Angelegenheit verdeutlichen, dass § 24 GO-FNV 1848 zu mehr als „harmlosen“ Vorbereitungsenquêten taugte. Einerseits ist die politische Bedeutung dieser vier „Untersuchungen“ evident. Andererseits brach die Nationalversammlung nicht nur mit bisherigen Informationsmodalitäten, sondern schwang sich zum politischen Kontrolleur der Bundes-, Reichs- und einzelstaatlichen Exekutive auf. Indem sich allein auf der Grundlage einer autonomen Geschäftsordnungsvorschrift eine in dieser Form ungekannte informations- und kontrollrechtliche Parlamentstätigkeit entfaltete, kündigte sich im Vergleich mit den Befugnissen, die bisher den Landständen zugestanden hatten, eine regelrechte Zeitenwende an. aa) Ein modernes Untersuchungsrecht Das deutlichste Fanal eines grundlegenden Wandels war die Mainzer Untersu­ chung vom Mai 1848. Die Absendung einer parlamentarischen Untersuchungsdeputation an den Ort des Geschehens, um dort Befragungen und weitere Nachforschungen anzustellen, brach offenkundig mit den Grundregeln des „monarchischen Prinzips“, das den Landständen unter keinen Umständen unmittelbare Ermittlungen, ja nicht einmal Anfragen gestattet hätte. Unter seiner Ägide galt jeder Kontakt mit Außenstehenden und selbst mit nachgeordneten staatlichen Stellen als un­ statthaft. Sogar gegenüber potentiellem Fehlverhalten der Exekutive blieben die Ständeversammlungen auf Auskünfte derselben staatlichen Stellen angewiesen. Verweigerte die Regierung trotz eines landständischen Ersuchens Nachforschungen oder Auskunft, verlief die Sache, wie die skandalöse „Garde-du-Corps-Nacht“ in Kurhessen gezeigt hatte, notgedrungen im Sande. Aus dieser frühkonstitutio­ nellen Machtlosigkeit befreite sich die Frankfurter Nationalversammlung aus „eigenem“ oder – mit anderen Worten wohl besser: – aus revolutionärem Recht, indem sie sich Befugnisse, wie sie in früheren Tagen wegen Art. 57 WSA 1820 sogar auf formell-gesetzlicher Grundlage undenkbar gewesen wären, durch ihr autonomes Recht selbst beilegte. Damit unterstreicht die in der ersten revolutionären Erregung und parlamentarischen Euphorie veranstaltete Mainzer Untersu­ chung die These Winfried Steffanis, dass die informationsrechtliche „Selbständig 404

J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 9.

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

keit […] Machterweiterung“ bedeutete, das Enquêterecht des § 24 GO-FNV 1848 also nicht weniger als eine Kampfansage an die monarchische Exekutive war.405 Was dem Mainzer Ausschuss bzw. seiner Untersuchungsdeputation an belastbaren Beweiserhebungsbefugnissen einschließlich Pflicht und Zwang abging, machten die Abgeordneten mit der Legitimität der Volksvertretung erfolgreich wett. Eine derart moderne Form von Exekutivkontrolle und ausgerechnet auf dem sakrosankten Militärsektor hatte man in Deutschland bis dato nicht gesehen – und sollte sie außer nach dem Schweidnitzer Vorfall, dessen sich die Berliner Vereinbarungsversammlung im Sommer desselben Jahres in noch beeindruckenderer Weise annahm,406 auch nicht wieder zu Gesicht bekommen. Die ebenso eigenständige wie unmittelbare Untersuchungstätigkeit in der Mainzer Angelegenheit unterschied sich substantiell von dem bisherigen Wächteramt der konstitutionellen Landstände, dessen Wirksamkeit massiv unter den ausschließlich interpellationsartigen Informationsmechanismen des konstitutionellen Staatsrechts zu leiden hatte. In dieser Untersuchung verwirklichte sich im Hinblick auf die parlamentarischen Kompetenzen das erste Merkmal eines „echten“ Untersuchungsrechts.407 Anders als das heutige Untersuchungsrecht, das der Bundestag auch gleichsam als Selbstzweck dazu instrumentalisieren kann, einem politisch relevanten Sachverhalt losgelöst von konkreten Sachanträgen auf den Grund zu gehen, diente die Mainzer Untersuchung keinem derart abstrakten Ziel, sondern der Vorbereitung einer Plenarentscheidung über die Anträge von Franz Heinrich Zitz. Die Forderungen des Mainzer Linken waren schon für sich allein beachtlich, indem sie neben den Ausnahmemaßregeln das außerdienstliche Waffentragen des preußischen Militärs und eine Verbannung der Soldaten aus der Stadt betrafen. Obwohl die Versammlungsmehrheit diesen revolutionären Forderungen nicht folgte, trat bei dieser Gelegenheit trotzdem ein bedeutender materieller Aspekt neben die formell untersuchungsrechtliche Emanzipation der Paulskirchenversammlung, die einen beachtlichen Kontrollanspruch auf dem Feld der monarchischen Wehrhoheit artikulierte. Indem die Nationalversammlung ihr selbst geschaffenes Untersuchungsrecht auf diese ebenso usurpierte Kontrollaufgabe übertrug, verwirklichte sich auch der zweite Aspekte eines „echten“ Untersuchungsrechts, das modernen Parlamenten im gesamten Radius ihrer materiellen Kompetenzen zur Verfügung steht. Als die zivilen wie die Militärbehörden mit der Mainzer Deputation anstandslos kooperierten und so die parlamentarische Autorität anerkannten, war gleichsam der Geist des modernen Untersuchungsrechts aus der Flasche entwichen. Dass die Versammlungsmehrheit einen zurückhaltenden Beschluss fasste, der noch hinter den gemäßigten Kommissionsvorschlägen zurückblieb, änderte daran nichts mehr. Auf wie fruchtbaren Boden dieses Beispiel in der Revolutionszeit fiel, sollte im

405

Vgl. W. Steffani, in: Kluxen (Hg.), Parlamentarismus5 1980, S. 249 (255). s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 407 s. 1. Teil C. 406

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Hochsommer die schon mehrfach angesprochene Schweidnitzer Untersuchung der preußischen Nationalversammlung unter Beweis stellen. Den informationsrechtlichen Methoden nach fielen die Untersuchungen der Mannheimer Einquartierungen, der thüringischen Bundesintervention oder des mutmaßlichen Bundesbruchs im dänischen Krieg weit weniger spektakulär als die Mainzer Untersuchung aus, indem man sich primär auf Nachfragen gegenüber der Exekutive beschränkte. Gingen die Ausschüsse der äußeren Form nach auch damit kaum über die Möglichkeiten der Ständeversammlungen hinaus – die enquêteund untersuchungsrechtliche Unmittelbarkeit blieb dabei erhalten  –, hatten sich die zugrundeliegenden Verhältnisse doch fundamental verändert. Wie die Militärund Zivilbehörden in der Mainzer Angelegenheit erteilten die Repräsentanten des Deutschen Bundes oder des Großherzogtums Baden in der Mannheimer ebenso wie die Minister und Beamten der Zentralgewalt in der Altenburger oder der dänischen Sache auf Nachfrage bereitwillig Auskunft oder verteidigten sich gewissermaßen sogar gegenüber dem Parlament. Untersuchungsrechtliche Relevanz erhalten diese Vorgänge neben dieser modernen Rollenverteilung zwischen Volksvertretung und Exekutive durch den zugrundeliegenden parlamentarischen Kontrollanspruch bzw. seine militärische und föderale Stoßrichtung. Das beachtliche Recht, die Mannheimer Einquartierungslasten als unmittelbare Folgen einer Bundesmilitäraktion ohne Rücksicht auf die möglicherweise berührte Souveränität des Großherzogtums Baden auf der formell brüchigen Grundlage des § 24 GO-FNV 1848 zu untersuchen, nahm sich die Versammlung allein aufgrund ihrer demokratischen Legitimation und des postrevolutionären Machtvakuums. Die Grenzen der modernen Korollartheorie wurden damit vorerst überschritten.408 Nach diesem Präzedenzfall, der ein Kompetenzexzess gewesen sein mag, fand eine Kehrtwende statt. Bei späteren Gelegenheiten gab man der Eigenständigkeit und Souveränität der Bundesstaaten den Vorzug gegenüber Einzelpetitionen oder Amnestieforderungen.409 Bittschriften, die keine gesamtdeutschen Angelegenheiten, sondern die Verwaltung oder Regierung eines Einzelstaats betrafen, wurden konsequent nicht weiterverfolgt. Der Prioritäts- und Petitionsausschuss stellte im Plenum ausdrücklich klar, dass sich die „Nationalversammlung […] im Allgemeinen gewiß nicht berufen halten [könne], in dieses Recht der Einzelstaaten einzugreifen“. Es sei vielmehr ihre einzige Aufgabe, „die Einheit und Freiheit Deutschlands zu gründen, und zwar hauptsächlich durch Errichtung einer allgemeinen Verfassung, durch Feststellung der Grundrechte des deutschen Volkes und der wesentlichen die Gesammtfreiheit bedingenden Grundzüge der Verfassungen der Einzelstaaten“. Zu „in das Innere der Einzelstaaten eindringenden Dispositionen [sei die Versammlung…] dagegen nur in so weit befugt, als dieß sich zur Verwirklichung ihres Zieles als nothwendig“ herausstelle; ein sol 408

Zu föderalen Grenzen von Art.  44 GG s. M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art.  44 Rn. 23 ff.; S. Magiera, in: Sachs (Hg.), GG7 2014, Art. 43 Rn. 8. 409 Zu Amnestieforderungen s. H. Blum, Revolution, 1898, S. 300.

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cher Schritt könne aber immer bloß „eine durch die Noth gebotene Ausnahme zur allgemeinen Regel“ sein.410 Mit ihrer Zurückhaltung erkannte die Nationalversammlung fortan dieselben föderalen Grenzen an, die in vergleichbarer Weise heute in Übereinstimmung mit der Korollartheorie für das Untersuchungsrecht des Bundestages gelten.411 Eine ähnliche Schranke besteht für das Petitionsrecht des Art. 17 GG.412 In der Frage eines Bundesbruchs während des deutsch-dänischen Krieges bezog der Völkerrechtliche Ausschuss seine Kenntnisse zwar nur von dem ehemaligen Bundespräsidialgesandten. Unbeschadet dessen richtete sich die Untersuchung gegen das Verhalten der Einzelstaaten, die sich möglicherweise heimlich auf die dänische Seite geschlagen hatten. Die auch als Reichstag apostrophierte Nationalversammlung nahm sich also tatsächlich das Recht, im Bundesinteresse gegenüber den Einzelstaaten aufzutreten. In der Sache blieb ihr Engagement unbedeutend, indem es sich auf eine schlichte Nachfrage beschränkte. Als weiterer moderner Aspekt klang aber anlässlich der thüringischen Militärintervention erstmals der Zusammenhang von parlamentarischer Kreations- und Kontrollfunktion un­ ausgesprochen an, indem die Nationalversammlung Schritte der von ihr geschaffenen Zentralgewalt hinterfragte. Dieses Bild bleibt freilich etwas schief, weil nach konstitutionellem Muster nicht der gewählte Reichsverweser, sondern bloß die Reichsminister parlamentarisch verantwortlich waren, obwohl ihre Ernennung und Abberufung ausschließlich dem vorläufigen Reichsoberhaupt zustanden. Bei aller Modernität kam es in der Paulskirche nicht zu Anklängen einer Konventionsherrschaft; die deutsche Revolution von 1848/49 unterschied sich insoweit fundamental von ihrem französischen Pendant aus dem vergangenen Jahr­ hundert. Zwar stand die Nationalversammlung sowohl in der Mannheimer als auch in der Altenburger Angelegenheit durch die jeweiligen Beschwerden vor der hochpolitischen Frage, Maßnahmen des Deutschen Bundes bzw. der Provisorischen Zentralgewalt zur Bekämpfung der Revolution zu desavouieren. Aber obwohl die Abgeordneten formal erhebliche Kontrollbefugnisse beanspruchten, schreckten sie in beiden Fällen vor einem direkten Eingriff in die Exekutivgewalt zurück, sprachen Behörden und Militär vielmehr mehr oder weniger ihr Vertrauen aus und verzichteten auf Maßnahmen nach dem Vorbild eines Konvents oder Wohlfahrtsausschusses.413

410

s. etwa die Behandlung der zahlreichen Amnestiepetitionen wegen Taten in der Revo­ lution  bei Wigard, VerhFNV, S.  1415 ff., 1416 (Zitat), 1456 (Rede des Berichterstatters), 1458 ff. (namentliche Abstimmung). Zur Ablehnung verschiedener Petitionen verschiedener ehemaliger Beamter Wigard, VerhFNV, S. 986 („Schullehrer Wiesinger“), S. 1002 („Torschreiber ­Meurer“) etc. 411 Vgl. etwa M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 23 ff. m. w. N. 412 R. Uerpmann-Wittzack, in: vMüK6 I, 2012, Art. 17 Rn. 21. 413 M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 164 f. zur Ablehnung entsprechender Vorstöße durch die Nationalversammlungsmehrheit.

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bb) Rückfall in alte Formen Ein vollkommen anderer Geist hielt offensichtlich nach dem Schock der Nieder­ schlagung des Wiener Aufstandes Einzug. Statt eine parlamentarische Untersuchungsforderung zu unterstützen, verschanzte sich der Österreichische Ausschuss hinter dem morschen Argument, eine Wahl von Reichskommissaren durch die Nationalversammlung greife „in den Wirkungskreis der Exekutivgewalt“ ein. Ob den Ausschussmitgliedern das aus heutiger Sicht offenkundige Missverständnis bewusst war – der Antrag Zimmermann zielte auf eine parlamentarische Untersuchung nach Mainzer Vorbild –, lässt sich nicht sicher sagen. Jedenfalls kam mit der vermeintlichen Einmischung in exekutive Kompetenzen zum ersten Mal ein Argument zum Tragen, das eigenständigen Enquêten oder Untersuchungen in den folgenden Jahrzehnten immer wieder entgegengehalten werden sollte. Mit seinem unglücklichen Votum verabschiedete der Ausschuss die frisch gewonnene „infor­ mationelle Selbstbestimmung“ der Paulskirchenversammlung zugunsten traditioneller Formen. Daran rüttelte auch die scheinbare Imperativität, mit der den Reichskommissaren ein „Auftrag“ erteilt werden sollte, nicht. Auch wenn Bericht und Antrag im Plenum nicht beraten wurden, wäre der Schluss verfrüht, dass die Versammlung mittlerweile mehrheitlich die Überzeugung teilte, parlamentarische Untersuchungen wären unzulässig. Wahrscheinlicher sind pragmatische Gründe bzw. der Versuch, einem Konflikt mit der Habsburgermonarchie als Trägerin der Reaktion aus dem Wege zu gehen. 3. Die Behandlung von Kollegialsachen Als Kollegialenquêten gelten jedenfalls Untersuchungen eines innerparlamentarischen Verhaltens, sei es von Abgeordneten, sei es der Fraktionen.414 Im weiteren Sinne sollen unter diesem Stichwort hier auch die Legitimationsprüfungen sowie die Handhabung der Abgeordnetenimmunität verstanden werden. Schließlich stützte sich die Nationalversammlung auch in diesen Zusammenhängen teils auf § 24 GO-FNV  1848, um nähere Informationen einzuholen. Auch sonst lassen sich beide Tätigkeitsfelder cum grano salis dem Oberbegriff der „Kollegialenquête“ subsumieren.415 Daneben kam es über das Verhalten des Vizepräsidenten­ Alexander v. Soiron (Casino) sowie verschiedener Abgeordneter zu mindestens einer „echten“ kollegialen Untersuchung. Ein Versuch, eine (parlamentarische?) Untersuchung gegen die Vertreter des politischen Gegners zu führen, ist dem­ greisen „Turnvater“ Jahn zu verdanken.

414

B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 19. Vgl. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 10 zu den Immunitätssachen.

415

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a) Legitimationsprüfungen Das Grundgesetz überlässt die Wahlprüfung nicht dem Enquête- und Untersuchungsrecht, sondern sieht in Art. 41 GG ein besonderes Verfahren vor. Das Nähere regelt ein Gesetz: Gemäß § 5 Abs. 3 WahlPrG ist der Wahlprüfungsausschuss berechtigt, Auskünfte einzuziehen, Zeugen und Sachverständige eidlich vernehmen zu lassen. Gerichte und Behörden sind gemäß § 5 Abs. 4 WahlPrG zu Rechtsund Amtshilfe verpflichtet. Ggf. findet eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, zu der Zeugen und Sachverständige geladen werden können. Anders als im parlamentarischen Untersuchungsverfahren finden nicht die Vorschriften der Strafprozeßordnung, sondern die der Zivilprozeßordnung sinngemäße Anwendung (§§ 7 bis 9 WahlPrG). Die Geschäftsordnung der Frankfurter Nationalversammlung beschränkte sich demgegenüber auf die Regelung, dass angefochtene „Legitimationen […] an einen Centralausschuß verwiesen“ wurden, der „aus den Vorständen sämmtlicher Abtheilungen gebildet“ wurde. Dieser Ausschuss hatte die „Fälle, in welchen er auf Ausschluß [antrug…], der Nationalversammlung zur Entscheidung vorzulegen“ (§ 5 GO-FNV 1848). Spezielle informationsrechtliche Regelungen gab es für die Legitimationsprüfungen nicht. Abweichend von dieser rudimentären Regelung wurde für die Wahl des süddeutschen Revolutionärs Friedrich Hecker im „vierten Badischen Wahlbezirk (Thiengen)“, die – obwohl die Durchführung der Wahl rechtmäßig war – von der großherzoglichen Regierung wegen Heckers führender Rolle im badischen Aufstand für unwirksam erklärt wurde,416 eine besondere Kommission niedergesetzt und ihr ausdrücklich „die Ermächtigung des §. 24 der Geschäftsordnung zugestanden“.417 Die ganze Angelegenheit, die nach zeitgenössischer Meinung „die Stellung des Parlaments zwischen Gesetzlichkeit und Revolution schärfer als zuvor bezeichnete“,418 erregte großes Aufsehen. Der Ausschuss trat „mit der großherzoglich badischen Staatsregierung in Vernehmen […], um in den Besitz der auf diese Wahlangelegenheit bezüglichen Untersuchungs- und sonstigen Acten zu gelangen.“419 Sein Antrag, die „auf den Dr. Friedrich Hecker gefallene Wahl […] für ungültig und unwirksam zu erklären [und…] die badische Staatsregierung zu veranlassen, unverzüglich eine andere Wahl in jenem Bezirk anzuordnen“, lief Hoffnungen und Petitionen, Heckers Wahl könne als indirekte Bestätigung der Volkssouveränität anerkannt werden, diametral entgegen.420 Am 10. August 1848 annullierte das Plenum die Tiengener Wahl mit 350 zu 116 Stimmen.421 Begleitet wurde die Sache, durch die Linke mit der allgemeinen politischen Amnestiefrage verbunden, von heftigen Ausbrüchen und tumultartigen Szenen, die beinahe in Handgemenge übergingen.422 416

B. v. Simson, E. v. Simson, 1900, S. 111. Wigard, VerhFNV, S. 660. 418 N. N., Gegenwart VII, 1852, S. 239 (266). 419 Ausschussbericht bei Wigard, VerhFNV, S. 1476 ff. 420 Wigard, VerhFNV, S. 1480. 421 Wigard, VerhFNV, S. 1501. 422 H. Blum, Revolution, 1898, S. 300 ff. 417

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Als auch die Ersatzwahl auf den in seiner Heimat populären Revolutionär fiel, sah sich die badische Regierung „außer Stande […], eine andere Wahl zu bewirken, beziehungsweise den Beschluß der Nationalversammlung […] zur Vollziehung zu bringen“. Als Alternative empfahl sie, „ab[zu]warten, bis etwa der Bezirk selbst das Verlangen, in der Nationalversammlung vertreten zu sein, kundgebe“.423 Auf Antrag des Ausschusses für die Tiengener Wahl folgte das Plenum dieser Anregung gegen die Stimmen der Linken.424 Die ganze Angelegenheit hatte erhebliches politisches Gewicht und konnte durchaus als Zeichen an das Land gewertet werden. Max Duncker (Casino) urteilte im folgenden Jahr, dass die Versammlung den „wiederholten Anträgen auf Amnestirung der badischen Insurgenten vom April 1848, auf die Zulassung ihres Anführers Hecker, der in Thiengen zweimal gewählt worden war, […] entgegen[getreten]“ sei, „weil [sie…] das Gefühl für Recht und Gesetz [im…] Volke, was ohnehin nicht sehr lebendig war, nicht in schwächlicher Sentimentalität vollends aufopfern, vielmehr stärken und kräftigen [wollte…], weil [ein…] bewaffneter Aufruhr und parlamentarische Thätigkeit zu gleicher Zeit oder in beliebigem Wechsel unvereinbare Dinge schienen.“425 Die Nationalversammlung gab also, obwohl sie ihre Existenz der Revolution verdankte, ein deutliches Votum gegen jeden bewaffneten Umsturzversuch ab. Aus untersuchungsrechtlicher Sicht war der Sachverhalt eher unspektakulär: Das Paulskirchenparlament beschränkte sich auf Anfragen an die badische Regierung; wenigstens wurden diese Ersuchen unmittelbar gestellt und mit Aktenvorlageforderungen verbunden. Ähnlich lag der Fall des Advokaten Maximilian Werner, dem nicht einmal seine Wahl in Offenburg, Oberkirch und Gengenbach offiziell eröffnet werden konnte, weil er, steckbrieflich gesucht, „seit dem 20. April wegen Theilnahme an hoch­ verrätherischen Unternehmungen flüchtig“ war. Als Werner schriftlich seine Zulassung zum Parlament verlangte, wurde „die Einsendung der Wahlacten veranlaßt und die badische Regierung aufgefordert, näher zu begründen, welche Hindernisse der Zulassung […] etwa im Wege stehen könnten“. Darauf ersuchte der großherzogliche Vertreter bei der Provisorischen Zentralgewalt die Nationalversammlung unter Vorlage weiterer Akten, die bereits gerichtlich angeordnete Untersuchungshaft zu genehmigen. Weil keine formellen Gründe gegen die Anerkennung der Wahl vorlagen, beantragte der Zentralausschuss, für diese Immunitätsangelegenheit einen eigenen Ausschuss zu wählen.426 Maximilian Werner blieb durch diese Dilatationstaktik Mitglied der Versammlung; der Ausschuss, der mit der Prüfung des gerichtlichen Ersuchens befasst war, kam vor dem unrühmlichen Ende des Stuttgarter Rumpfparlaments nicht mehr zur Berichterstattung. 423 Wiedergabe der „Eröffnung an den Wahlbezirk Thiengen durch das Großherzogliche Ministerium des Innern“ bei Wigard, VerhFNV, S. 3325. 424 Wigard, VerhFNV, S. 5586, 5588. Beschlossen wurde, „die Zuschrift des großherzoglich badischen Bevollmächtigten d. d. 14. November 1848 zu den Acten [zu] nehmen, ohne ihr, zur Zeit wenigstens, weitere Folge zu geben“. 425 M. Duncker, GeschFNV, 1849, S. 13. 426 Bericht des Zentralwahlausschusses bei Wigard, VerhFNV, S. 2942. Die Nationalversammlung verwies die Immunitätssache an den zuständigen Ausschuss.

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Die Wahl des Abgeordneten Dr. Christian Heldmann wurde von verschiedenen Wahlmännern aus Gedern, Nidda und Büdingen angegriffen. Dieses Mal forderte der Zentralwahlausschuss „die betreffenden Wahlacten“ von der hessischen Regierung an und beantragte schließlich, weil sich Fehler bei der Mitwirkung zweier Wahlmänner gefunden hatten, die Wahl für ungültig zu erklären. Dieser Antrag wurde nach kurzer Debatte nahezu einstimmig angenommen.427 Christian­ Heldmann konnte auch die Nachwahl für sich entscheiden und gehörte dem Parlament fortan bis zu dessen Ende an.428 Die Legitimationsprüfungen wurden in einem schriftlichen Verfahren durchgeführt. Wie in Sachen Hecker beschränkte man sich auch bei anderen Gelegenheiten auf Ersuchen an die jeweilige Staatsregierung und stützte sich auf die von dieser überlassenen Wahlakten. Am weitesten ging der Ausschuss in der Causa ­Hecker, indem außer den Wahl- auch die Untersuchungsakten eingefordert wurden. Bedenken gegen eine Kollision dieses parlamentarischen Informations­ ersuchens mit dem Strafverfahren, wie sie in späteren Tagen bis in die Weimarer Republik erhoben werden sollten, wurden anscheinend nicht laut. Als Grundlage für die Kommunikation der Ausschüsse mit einzelstaatlichen Stellen  – wahrscheinlich waren die Vertreter der Bundesstaaten bei der Zentralgewalt die primären Ansprechpartner  – diente § 24 GO-FNV  1848 bzw. die provisorische Geschäftsordnung. In diesen beschränkten Wahlenquêten nutzte die Nationalversammlung ihr Selbstinformationsrecht, das den einzelstaatlichen Ständeversammlungen und Kammern selbst zu diesem Zweck noch vorenthalten wurde.429 Für das Enquête- und Untersuchungsrecht sind diese Vorgänge bis auf die Ausweitung des Selbstinformationsrechts in den Konstituierungsprozess der Versammlung hinein nicht von besonderem Interesse. b) Vizepräsident Soiron vor dem Geschäftsordnungsausschuss Bemerkenswert ist dagegen eine Kollegialenquête, mit der ein parlamentarischer Vorfall aus dem Dunstkreis der Tiengener Wahl aufgearbeitet werden sollte. aa) Vorspiel: Amnestiedebatte, Ordnungsruf und Missbilligungsantrag Anfang August 1848 forderte die Linke eine politische Amnestie für die Teil­ nehmer der verschiedenen Aufstände. Begleitmotiv war sicherlich, en passant ein Hindernis für die Wahl des badischen Revolutionsführers Friedrich Hecker aus dem 427

Wigard, VerhFNV, S. 952 f. H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 175. 429 Zu Württemberg krit. R. v. Mohl, StaatsR, VölkerR, Pol. I, 1860, S. 207 ff.; ders., ZGStW 1845, S. 523 ff. 428

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Weg zu räumen.430 Präsident Heinrich v. Gagern (Casino), dessen Bruder, Generalleutnant Friedrich v. Gagern, in den Unruhen umgekommen war, trat den Vorsitz an den der Linken suspekten Vizepräsidenten Alexander v. Soiron (Casino) ab.431 Schon zu Beginn der Beratungen war die Stimmung äußerst angespannt: Zwischen den „überfüllten, hoch aufgeregten, stets in die Verhandlung durch Zischen oder Beifall eingreifenden Zuhörerbühnen“, war es nach zeitgenössischem Urteil bereits eine Charakterprüfung, überhaupt gegen die Amnestie zu sprechen. Auch auf der rechten Seite des Hauses dominierte „mühsam verhaltene[r] Groll“.432 Als der führende Linke Lorenz Brentano (Donnersberg) den badischen Revolutionär Hecker auf eine Stufe mit dem Prinzen von Preußen stellte, dem doch auch vergeben worden wäre, kam es zum offenen Tumult. Zahlreiche Parlamentarier bestürmten die Tribüne, verschiedene Konservative forderten den Redner auf Pistolen,433 Parteifreunde versuchten, ihn vor Angriffen zu schützen.434 Während das offiziöse Protokoll Franz Wigards immerhin „[g]roße, anhaltende Unruhe“ dokumentiert, berichtete der konservative Historiker Wolfgang Menzel 1859 plastischer von einem „ungeheuren Sturm“, „wie man ihn noch nie im Parlament erlebt“ habe.435 In vergleichbarer Weise sprach Hans Blum von den „wildesten Scenen, die in der Paulskirche bis dahin erlebt waren“. Die Galerien ergriffen „durch Schreien, Toben und Schimpfen Partei für Brentano“, bis sich Vizepräsident Alexander v. Soiron schließlich nicht anders zu helfen wusste, als die Sitzung aufzuheben.436 Noch am selben Abend trafen sich zahlreiche Abgeordnete, um über das weitere Vorgehen zu beratschlagen. Forderungen, Brentano aus dem Parlament zu werfen, waren nicht mehrheitsfähig. So regte Georg Freiherr v. Vincke (Café ­Milani) an, Brentano für seinen Vergleich wenigstens die Missbilligung auszusprechen, weil er sich der „gröblichen Beleidigung eines deutschen Volksstammes“, ja der „Würde der Nationalversammlung“ selbst „schuldig gemacht“ habe. Besänftigungsversuche Heinrich v. Gagerns blieben ohne Erfolg.437 430

H. Blum, Revolution, 1898, S. 300. s. B. v. Simson, E. v. Simson, 1900, S. 100 f.; H. Blum, Revolution, 1898, S. 301. 432 N. N., Gegenwart VII, 1852, S. 239 (267 f.). 433 Vgl. die Äußerung Brentanos am folgenden Tag, Wigard, VerhFNV, S. 1451. Zu Brentano s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 410, 411. 434 H. Blum, Revolution, 1898, S. 301; Wigard, VerhFNV, S. 1437 f.; N. N., Gegenwart VII, 1852, S. 239 (267 f.). 435 W. Menzel, Gesch 1816–1856 II2 1859, S. 261. 436 H. Blum, Revolution, 1898, S. 301 (Zitate); Wigard, VerhFNV, S. 1437 f. 437 R. Haym, DtNV, 1848, S. 101 und ferner N. N., Gegenwart VII, 1852, S. 239 (269). A. Streckfuß, R. Blum, 1850, S. 258 f. berichtet, dass „in der Loge Socrates […] am Abende desselben Tages etwa 300 Mitglieder der Majorität in der Nationalversammlung zusammen[gekommen seien], es war die Rechte und das gesinnungslose Centrum. Fürst Lichnowsky, General von Radowitz und von Vincke beantragten in dieser Partheiversammlung die Ausschließung Brentano’s […]. Das war denn nun freilich dem Centrum zu arg, und dieser Antrag ging nicht durch. Dagegen wurde beschlossen, bei der Nationalversammlung zu beantragen, daß diese das Benehmen des Abgeordneten Brentano mißbillige, da derselbe sich der gröblichsten Beleidigung eines Volksstammes, und dadurch auch der Würde der Nationalversammlung schuldig gemacht habe“. 431

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Am Folgetag lagen der Versammlung neben diesem Antrag eine Forderung, Brentano zur Ordnung zu rufen, sowie eine Motion der Linken vor, die ihrerseits die Rüge der Abgeordneten verlangten, die die Tribüne bestürmt, den Redner „an der Beendigung seines Vortrags gewaltsam gehindert“, ihn beleidigt, zum Duell gefordert und versucht hätten, ihn „durch Thätlichkeiten von der Tribüne zu entfernen“. Ohne eine Aussprache über diese Anträge zuzulassen, rief Vizepräsident Alexander v. Soiron den Abgeordneten Brentano, genau besehen aus den Gründen des Vincke’schen Antrags, zur Ordnung.438 An eine Fortsetzung der Debatte war daraufhin nicht mehr zu denken. Den folgenden Tumult schilderte der württembergische Schriftsteller Gustav Schwab anschaulich in einem Brief an seine Ehefrau: „Heute wohnten wir der kurzen aber stürmischsten Sitzung bei, die je die Nationalversammlung gehalten hat. Die Sache drehte sich um einen an Brentano zu richtenden Ordnungsruf, den Soiron als Vicepräsident durchsetzen wollte. Aber das wahre Schakalgeheul der Linken und das Brüllen der Galerien wurde so groß, daß er die Sitzung von 10 bis 11 Uhr suspendiren mußte. Wiedereröffnet, ging der Skandal wieder los; Brentano wurde nun […] vom Präsidenten, nachdem auch Gagern herrlich gesprochen, zur Ordnung verwiesen, aber nun brüllte die Galerie ein schamloses: Hecker hoch! Und  – das erste mal, seit die National­ versammlung beisammen war – der Präsident gab Befehl zur Räumung der Galerien, was von unserer Seite sehr willig, von oben sehr unwillig geschah.“439

Obwohl die Presse nach der Unterbrechung wieder zugelassen wurde, scheiterten sämtliche Versuche, dem Publikum ebenfalls wieder Zutritt zu verschaffen. Weil die Bürgerwehr zwischenzeitlich zum Schutz der Nationalversammlung auf dem Kirchplatz aufgezogen war,440 verließen zahlreiche Linke unter Protest das Lokal. Anschließend wurde der Antrag, „über die […] Petitionen um Er­theilung oder Erwirkung einer Amnestie für die wegen politischer Verbrechen in Untersuchung befindlichen Deutschen zur motivirten Tagesordnung über[zu]gehen“, in namentlicher Abstimmung angenommen.441 Diese Angelegenheit hatte mit dem Antrag des Stadtgerichtsadvokaten und­ Notars Wilhelm Schaffrath (Donnersberg) und Genossen, „daß das geschäftsordnungswidrige Verfahren des stellvertretenden Vorsitzenden v. Soiron […] von der Versammlung gemißbilligt werde[, …] daß sowohl dieses Verfahren, weil außer 438

Wigard, VerhFNV, S. 1441 f. Vgl. R. Haym, DtNV, 1848, S. 101. Vincke erläuterte seinen Antrag in der Beratung über die Beschwerde der Linken nachträglich so, „daß in einer so außerordentlichen Veranlassung, wo es sich, wie auch der Herr Vicepräsident damals anerkannt [habe…], um die Beleidigung eines deutschen Volksstammes [gehandelt habe…], der einfache Ordnungsruf des Präsidenten nicht“ genüge (Wigard, VerhFNV, S. 1470 f., 1475). 439 K. Klüpfel, G. Schwab, 1858, S. 373 f. 440 s. zur Besetzung der „Zugänge der Paulskirche von Frankfurter Truppen“ A. L. v. Rochau, DtVjS 1849/3, 129 (174 f.) sowie N. N., Gegenwart VII, 1852, S. 239 (270): „Inzwischen hatte die von den Galerien hinweggewiesene Menge sich vor der Paulskirche gesammelt; und die Behörden der Stadt Frankfurt mochten die Sicherheit des Parlaments so gefährdet glauben, daß sie zu dessen Schutz bewaffnete Mannschaft aufboten.“ 441 Zum Ganzen Wigard, VerhFNV, S. 1442 ff.

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und ungesetzlich, als auch das Produkt desselben, d. h. die Entscheidungen des Vorsitzenden […] und besonders der Ordnungsruf gegen den Abgeordneten B ­ rentano als null und nichtig wieder aufgehoben“ würden, noch ein Nachspiel. Die Antragsteller warfen dem Vizepräsidenten in ihrer gut drei Druckspalten der Wigard’schen Protokollausgabe füllenden Anklage vor, gleich mehrfach „seine Befugniß überschritten und seine Pflichten vernachlässigt“ zu haben. Zu guter Letzt verlangten sie die Abstimmung über den noch unerledigten Rügeantrag gegen die Abgeordneten, die ihrerseits Brentano bedrängt hatten.442 Präsident Heinrich v. Gagern (Casino) schlug vor, diesen Antrag, da er „so viele Fragen“ über die „Function des Präsidenten“ enthalte, zunächst „mit Rücksicht auf das bestehende Reglement“ durch den Geschäftsordnungsausschuss „gründlich“ begutachten zu lassen.443 Darauf schlug der Vorsitzende dieses Gremiums, der Jurist, ehemalige sächsische Minister und Direktor des Landtags von SachsenAltenburg Bernhard v. Lindenau, vor, „daß dem Ausschuß […] gestattet werde, auch  […] noch Mitglieder der Versammlung zuziehen zu dürfen“. Obwohl sich dies zur Überzeugung des Präsidenten von selbst verstand, ließ er darüber abstimmen, „ob [man…] dem Ausschuß für Geschäftsordnung die im § 24 des Reglements ausgesprochene Befugniß, wonach er jeden hören [könne…], um weitere factische Aufschlüsse zu erhalten, beilegen“ wolle;444 die Frage wurde ohne Widerspruch bejaht. Indem die Nationalversammlung außerdem die Dringlichkeit des linken Antrags verneinte, so dass dieser an die Geschäftsordnungskommission gehen konnte,445 war der Weg für eine Kollegialenquête frei. Die politische Bedeutung dieser Angelegenheit verdeutlichen zwei Zitate aus der Beratung: Für das rechte Zentrum sprach Maximilian Heinrich Rüder (Casino) offen aus, „daß […] die Versammlung nicht bloß gleichsam als Cassationshof über die von dem Vicepräsidenten […] ausgesprochenen Urtheile erscheinen soll[e], sondern zugleich als ein Gerichtshof in Beziehung auf das Verfahren des Vicepräsidenten“. Trotzdem forderte er eine gründliche Untersuchung. Der Linke Carl Vogt (Deutscher Hof) bestand dagegen ganz im Sinne einer Anklage darauf, dass es sich um eine „Anschuldigung“ handele, „auf welche eine Vertheidigung folgen“ müsse.446 bb) Die Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses Bei seiner Arbeit ging der Geschäftsordnungsausschuss u. a. von acht „Eingaben“ verschiedener Abgeordneter beider Seiten aus. „Den Thatbestand, oder mit andern Worten die Darstellung der Vorfälle […] in den Sitzungen“, schöpfte er aus „den betreffenden Protokollen, den gleichzeitigen stenographischen Niederschrif 442

Wigard, VerhFNV, S. 1468 ff. Wigard, VerhFNV, S. 1470. 444 Wigard, VerhFNV, S. 1475. 445 Wigard, VerhFNV, S. 1474 f. 446 Wigard, VerhFNV, S. 1471. 443

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ten und den von [seinen Mitgliedern (!)…] als Augenzeugen gemachten Wahrnehmungen“. Die Verwendung der nichtamtlichen Wortprotokolle rechtfertigte man mit der Beschränkung des offiziellen Berichts auf Anträge und Beschlüsse.447 Für die „Richtigkeit der Thatsachen“ spreche der doppelte Grund der „eigenen Wahrnehmung“ und des „Unterbleiben[s] aller Reclamationen“.448 Außer diesen „Quellen“ holte der Ausschuss eine „Erklärung“ des Vizepräsidenten v. Soiron ein.449 Veranlassung zu diesem Schritt hatte es gegeben, dass die „Beschwerden und Anträge zunächst die Persönlichkeit des Vicepräsidenten […] als Vorsitzenden in den fraglichen Sitzungen“ betrafen.450 In der Sache empfahl der Ausschuss dem Plenum, über die Mehrzahl der Beschwerden zur Tagesordnung überzugehen. Zwar zog man die Berechtigung eines Ordnungsrufs in Zweifel, „weil […] in jener Aeußerung, nach deren klarem und natürlichem Wortlaut, irgend eine Verletzung des preußischen Volkes überhaupt und um so weniger gefunden werden [könne…], als der Redner selbst, dem die Auslegung der eigenen Worte zunächst [zustehe…], eine solche Absicht“ ablehne.451 Weiter lautete das „Urteil“ des Ausschusses, „daß der Vorsitzende v. Soiron […] sowohl die Eingaben mehrerer Abgeordneten, als deren Verlangen um Gestattung des Wortes über den […] Ordnungsruf nicht so behandelt [habe,] wie es §. 32 der Geschäftsordnung erfordere und das Anfangs mehreren Abgeordneten versprochene Wort nicht diesen, sondern nur ausnahmsweise dem Präsidenten v. Gagern er­ theilt habe“. Aufgrund der besonderen Umstände seien diese Verfahrensfehler aber weniger dem Vizepräsidenten als den jeweiligen Mitgliedern vorzuwerfen, „die durch ihre störende Aufregung einen außergewöhnlichen Zustand“ herbeigeführt hätten. Abschließend hieß es, dass aufgrund dieser „eigenthümlichen Sachlage­ weder eine specielle noch generelle Mißbilligung beantragt werden“ könne.452 Zu den Vorwürfen der Linken konstatierte der Ausschuss aus „eigener Wahrnehmung“, also der seiner Mitglieder, „daß nach den mehrerwähnten Worten [Brentanos] in der Mitte der Versammlung, während der Sitzung keine Thätlichkeiten, wohl aber ein so tumultarischer Zustand und namentlich ein […] ordnungs­ widriges Zudrängen vieler Abgeordneten an und auf die Tribüne“ eingetreten sei; eine „genaue Absonderung dessen, was während der Sitzung und was nach deren Schluß [vorgekommen sei…] und was somit in und außer [der…] Competenz [des Ausschusses liege, dürfe…] eben so schwer zu ermitteln seyn, als die Feststellung einzelner, zunächst dabei betheiligter Persönlichkeiten“. Mit der Begründung, dass „Zeugenverhöre und sonstige Erörterungen […] dem Zweck und der Würde der Versammlung nur nachtheilig werden“ könnten, beschränkte sich der Geschäftsordnungsausschuss darauf, „allein eine Mißbilligung dessen [zu] beantragen […], 447

Haßler, VerhFNV II, S. 202 f. Haßler, VerhFNV II, S. 205. 449 Haßler, VerhFNV II, S. 203. 450 Haßler, VerhFNV II, S. 206. 451 Haßler, VerhFNV II, S. 206, 208. 452 Haßler, VerhFNV II, S. 205 f. 448

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was am 7. August in der Nähe des Abgeordneten Brentano, an und auf der Tribüne“ geschehen sei. Konkrete Vorwürfe gegen Einzelne wurden nicht erhoben; der Sachverhalt im Interesse des „inneren Friedens“ der Versammlung also letztendlich nicht aufgeklärt, einzelnen Verfehlungen nicht nachgegangen.  – Gegenüber Alexander v. Soiron beschränkte sich der Ausschuss auf den Antrag, „[d]aß über die Beschwerden […] gegen das angeblich geschäftsordnungswidrige Verfahren des Vorsitzenden […] zur motivirten Tagesordnung übergegangen werden möge“. Zugleich war der Ausschuss der Auffassung, „daß der gegen Abgeordneten Brentano […] ausgesprochene Ordnungsruf für nicht ausreichend begründet zu erklären sey“. Als Anlagen waren dem Ausschussbericht die verschiedenen Anträge sowie Erklärungen von Otto Plathner und Heinrich Conrad Carl, denen vorgeworfen wurde, Brentano zum Duell gefordert zu haben, und die Stellungnahme Alexander v. Soirons beigefügt.453 Am 16.  Oktober 1848 entschied das Plenum auf Vorschlag des linken Darmstädter Hofgerichtsadvokaten und Prokurators Theodor Reh, die Sache „mit Stillschweigen zu bedecken, und […] in der sicheren Hoffnung, daß ähnliche Auftritte niemals wieder vorkommen werden, zur weiteren Tagesordnung über[zugehen]“.454 cc) Bewertung der Causa v. Soiron Die Abgeordnetenenquête in der Sache des Vizepräsidenten v. Soiron spielte sich gewissermaßen zwischen größeren politischen Fronten ab: Die „Deutsche Zeitung“ spekulierte direkt nach den Vorfällen am 9. August 1848, dass es „eine Partei [gebe], der es wesentlich darum zu thun [sei…], theils Unfrieden zwischen Preußen und dem übrigen Deutschland zu säen, theils die Nationalversammlung selbst durch solche wohlberechnete Spektakelscenen vor In- und Ausland möglichst in Mißkredit zu bringen“. Es sei nur zu hoffen, „daß man in Preußen nicht in die plumpe Falle gehe und sich vom Abg. Brentano nicht beleidigt fühlen“ werde.455 1852 machte die „Gegenwart“ als Grund für die Empörung weniger die Beleidigung als vielmehr die Tatsache aus, dass „in den Augen der Mehrheit […] das Einverständniß mit dem preußischen Königshause die unumgängliche Bedingung für eine glückliche Lösung der Aufgabe des Parlaments“ gewesen sei.456 Der anonyme Autor urteilte weiter, dass mit der Amnestieforderung, an der sich der ganze Streit entzündet habe, die „Versuchung [einhergegangen sei], der Nationalversammlung die eigentliche Regierungsgewalt beizulegen“.457 453 Haßler, VerhFNV II, S. 208 ff. (Hervorhebung nur hier). Außerdem stellte der Geschäftsordnungsausschuss allg. Regeln für den Ordnungsruf durch die Berufung des Betroffenen an das Plenum auf. 454 Wigard, VerhFNV, S. 2636. 455 Deutsche Zeitung, No. 220, vom 9. August 1848, S. 1750. 456 N. N., Gegenwart VII, 1852, S. 239 (269). 457 N. N., Gegenwart VII, 1852, S. 239 (266).

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In diesem Licht fügt sich die Angelegenheit in das Ringen der linken und der rechten Seite des Hauses um das Selbstverständnis der Nationalversammlung ein, das schon die Beratungen über die Mainzer Untersuchung beherrscht hatte. Diese These findet sich in der Klage des linken Schriftstellers Adolph Streckfuß bestätigt, der den Vorfall 1850 als Schlaglicht auf den „Charakter der Majorität“ bewertete, „wie sehr diese Versammlung in jedem Augenblick ihren Ursprung und ihre Aufgabe [vergessen habe…], wie sie sich stets […] zur Fürstendienerei, zur Schmeichlerin des Fürstenthums“ herabgewürdigt habe.458 Offenkundig hatte sich eine konziliante Mehrheit durchgesetzt, die weder die Linke endgültig verprellen noch einen Konflikt mit Preußen riskieren wollte. Ein weiterer Grund zur Zurückhaltung dürfte gewesen sein, dass Alexander v. Soiron sein Amt zum Zeitpunkt der parlamentarischen Entscheidung bereits verloren hatte: War der Vizepräsident Anfang August 1848 noch mit 284 von 435 Stimmen bestätigt worden, unterlag er am 2. Oktober 1848 gegen Eduard Simson mit 18 Stimmen.459 In Gestalt der Ereignisse auf dem schleswig-holsteinischen Schauplatz, des Streits um den Waffenstillstand, der blutigen Septemberunruhen und der Abgeordnetenmorde hatten zwischenzeitlich zudem „mächtigere Aufregungen das Interesse an diesem rein persönlichen Hader […] verdrängt“.460 Gegenstand dieser ersten „echten“ Abgeordnetenenquête waren nicht allein das Verhalten und die Maßnahmen des Vizepräsidenten, sondern ebenso die Äußerungen Lorenz Brentanos sowie das folgende Spektakel. Dass sich der Geschäftsordnungsausschuss neben einer Stellungnahme Alexander v. Soirons, also gewissermaßen einer „Schutzschrift des Angeklagten“, sonst lediglich auf Erinnerungen seiner Mitglieder, nichtamtliche Protokolle sowie Erklärungen verschiedener anderer Abgeordneter stützte, die gewissermaßen als Zeugen fungierten, dagegen dritte Auskunftspersonen, etwa aus dem Publikum oder den Reihen der Presse, nicht zu Wort kommen ließ, dürfte zum Teil der politischen Bedeutung der Angelegenheit geschuldet gewesen sein. Andererseits sah man auf diese Weise im Interesse des inneren Friedens in der Frankfurter Nationalversammlung von einer weiteren Aufklärung zu den beinahe ausgebrochenen Tätlichkeiten und ihren Verantwortlichen ab. Diese Zurückhaltung ermöglichte eine eher pauschale Ver­ urteilung der Ereignisse sowie aller Beteiligten, ohne sie namentlich zu nennen und so in den Reihen des Parlaments weitere Zwietracht zu säen. Zugleich vermied man, dass sich außerparlamentarische Dritte über das Verhalten von Abgeordneten äußern und damit gewissermaßen als Kontrolleure aufspielen konnten. In diese Richtung dürfte der Hinweis auf die Würde der Versammlung gegangen sein.

458

A. Streckfuß, R. Blum, 1850, S. 257. N. N., Gegenwart VII, 1852, S. 239 (271). B. v. Simson, E. v. Simson, 1900, S. 123 be­ richtet, dass, als die Linke zu Protokoll erklärte, sie lehne jede Verantwortlichkeit für die Folgen dieser Wahl ab, Soiron entschieden habe, keine weitere Wahl mehr anzunehmen. s. auch Wigard, VerhFNV, S. 2376. 460 N. N., Gegenwart VII, 1852, S. 239 (270).

459

1. Kap.: Die Frankfurter Nationalversammlung

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c) Die Abgeordnetenimmunität im „Untersuchungs-Ausschuß“ Die Pauls­ kirchen­ ver­ samm­ lung befasste sich mehrfach mit Fragen der Ab­ geordnetenimmunität; das Inhaltsverzeichnis der Wigard’schen Protokollausgabe verzeichnet zehn Fälle zu 16 Abgeordneten.461 Grundlage war das Reichsgesetz, betreffend das Verfahren im Falle gerichtlicher Anklagen gegen Mitglieder der verfassunggebenden Reichsversammlung, vom 30. September 1848462, dessen erster Artikel bestimmte, dass kein Abgeordneter, der nicht auf frischer Tat betroffen wurde, ohne vorherige parlamentarische Zustimmung verhaftet oder in strafrechtliche Untersuchung gezogen werden durfte.463 Die Vorbereitung der entsprechenden Entscheidungen wurde Kommissionen übertragen; den Löwenanteil übernahm ein später als „Untersuchungsausschuß“ bezeichnetes464 Gremium, das, eigentlich für einen Einzelfall gebildet, im Laufe der Zeit de facto permanent wurde. Seine Tätigkeit bietet nicht allein Anschauungsmaterial für das Vorgehen einer Parlamentskommission bei der Ermittlung von Tatsachen, sondern einen Vorgeschmack auf spätere Debatten zum Verhältnis parlamentarischer und gerichtlicher Untersuchungen, die das Enquête- und Untersuchungsrecht unter verschiedenen Blickwinkeln noch lange Zeit begleiten sollten. aa) Parlamentarische vs. gerichtliche Untersuchungen: Das Ersuchen des Frankfurter Appellationsgerichts465 Nach der parlamentarischen Anerkennung des Waffenstillstands mit Dänemark kam es im September 1848 zu Unruhen, die die beiden konservativen Abgeordneten Felix v. Lichnowsky und Adolph v. Auerswald das Leben kosteten. Nur mit militärischer Hilfe aus der Bundesfestung Mainz, in der man erst im Mai eine parlamentarische Untersuchung durchgeführt hatte, konnte die Ruhe wiederhergestellt werden.466 Kurz darauf sollten Robert Blum (Deutscher Hof)  und sein Schwager Johann Georg Günther (Donnersberg) wegen schmähender und aufstachelnder Texte in der von ihnen herausgegebenen „Deutschen Reichstags-Zeitung“ zur 461

s. S. 102 f. RGBl. 1848 S. 5. Dazu Bericht des Prioritäts- und Petitions-Ausschusses sowie die Debatte in der 88. Sitzung am 29. September 1948, Wigard, VerhFNV, S. 2350 ff. 463 „Art. 1. Ein Abgeordneter zur verfassunggebenden Reichsversammlung darf vom Augenblick der auf ihn gefallenen Wahl an, – ein Stellvertreter von dem Augenblick an, wo das Mandat seines Vorgängers erlischt,  – während der Dauer der Sitzungen ohne Zustimmung der Reichsversammlung weder verhaftet noch in strafrechtliche Untersuchung gezogen werden, mit alleiniger Ausnahme der Ergreifung auf frischer That.“ 464 s. etwa Lucas Ludwig Gombart als Berichterstatter bei Wigard, VerhFNV, S. 3580. 465 Dazu auch E. Zweig, ZfP 1913, 265 (279 f.). 466 Zu den Septemberunruhen E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 697 ff.; H. Lutz, Habsburg und Preußen, 1998, S. 288 ff. und zeitgenössisch L. Häusser, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch VII, 1862, S. 190 f. 462

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Verantwortung gezogen werden.467 Drei weiteren Linken, Franz Heinrich Zitz, der die Mainzer Untersuchung ins Rollen gebracht hatte, Friedrich Schlöffel und­ Ludwig Simon, wurde zur Last gelegt, durch Reden „zum Aufruhr und zur täthlichen Mißhandlung der Abgeordneten aus der Mehrzahl der Reichsversammlung“ aufgereizt zu haben.468 Tatsächlich waren die 257 Parlamentarier, die dem Waffenstillstand zugestimmt hatten, als „Verräther des deutschen Volks, der deutschen Freiheit und Ehre“ verunglimpft worden.469 Der greise „Turnvater“ Jahn (Casino) nahm die Ereignisse gar zum Anlass, den Ausschluss der Linken aus dem Parlament zu verlangen.470 Am 5. Oktober 1848 kam es durch ein Ersuchen des Frankfurter Appellations­ gerichts als Kriminalgericht, die Verfolgung der genannten Abgeordneten zu gestatten, zu einer intensiven Debatte über das Verhältnis von parlamentarischen Untersuchungen und Justiz. Obwohl die Beratungen bloß um den Spe­ zial­fall kreisten, inwieweit die Versammlung durch das Reichsimmunitätsgesetz zur Nachprüfung eines richterlichen Ersuchens ermächtigt wurde und welche Rolle § 24 GO-FNV 1848 ggf. spielte, gelten sie im Schrifttum – wohl nicht vollständig zu Recht – als erste Grundsatzdebatte über das parlamentarische Untersuchungsrecht.471 Bedenkt man die kurhessischen Auseinandersetzungen um die „Garde-du-Corps-Nacht“,472 trifft nicht einmal die Qualifikation als „Geburtsstunde der Diskussion über die durch parallele strafrechtliche und parlamentarische Untersuchungen entstehenden Probleme“ (George Alexander Wolf)  voll ins Schwarze.473 Gleichwohl sind sie für die Entstehung des Selbstinformationsrechts der Volksvertretung insoweit von Interesse, als das Verhältnis gegenüber der Justiz auch in die Aufarbeitung anderer Sachverhalte hineinspielen konnte, soweit sie möglicherweise strafrechtlich relevant waren. Den Vorschlag des Vizepräsidenten und Königsberger Professors der Rechte Eduard Simson (Casino), „durch Wahl aus den Abtheilungen einen Ausschuß zur Begutachtung dieser beiden […] Anträge des Frankfurter Criminalgerichts [zu] ernennen“, ergänzte der mitbeschuldigte Ludwig Simon um die Forderung, der „Commission die Befugnisse des § 24 der Geschäfts-Ordnung bei[zu]legen“, damit „dieselbe berechtigt werde, die Betheiligten vorzufordern, Zeugen zu vernehmen, oder fernere Zeugen durch die Gerichte vernehmen zu lassen“. Schließlich verlange das Reichsimmunitätsgesetz, „daß die Nationalversammlung die […] vorliegenden Indicien- und Zeugen-Aussagen mit eigenen Augen prüfe und […] ver 467

s. zu dem Strafverfahren gegen Robert Blum und seinen Schwager aus dem Ausschussbericht Wigard, VerhFNV, S. 3996 ff. 468 Vgl. Wigard, VerhFNV, S. 2431 bzw. S. 2637 ff. 469 Vgl. Wigard, VerhFNV, S. 2184 sowie E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 697. 470 s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 2. d). 471 s. W. Steffani, in: Kluxen (Hg.), Parlamentarismus5 1980, S. 249 (254 f.) und ferner J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 10. 472 s. dazu 2. Teil 2. Kap. A. II. 3 a) bb). 473 G. A. Wolf, Strafjustiz, 2004, S. 38.

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hindere, daß [der Beschuldigte…] das Opfer seiner politischen Meinung werde“.474 Besonders deutlich trat August Reichensperger (Casino) diesen Forderungen entgegen, die weniger auf die Vorbereitung der Genehmigung einer gerichtlichen­ Untersuchung als vielmehr deren parlamentarische Antizipation hinausgelaufen wären. Der frisch ernannte Kammerpräsident am Landgericht betonte, dass kein parlamentarischer Ausschuss „irgendwie richterliche Attributionen bekommen“ dürfe, weil andernfalls „eine ganz unzulässige Vermischung der Gewalten, ein Eingriff in die Befugnisse des hiesigen Criminalgerichts“ zu befürchten wäre. Mit § 24 GO-FNV  1848 habe keineswegs „gleichsam eine Concurrenz mit gerichtlichen Behörden begründet werden“ sollen. Das weitere Argument, dieser Paragraph diene ausschließlich dazu, Sachverständige anzuhören und isolierte Tatsachen aufzuklären, sollte in vergleichbarer Form noch in den preußischen Kammern Karriere machen. Weiter hob der rechte Zentrumspolitiker hervor, dass den Ausschüssen keine eidlichen Zeugenvernehmungen gestattet seien; eine „uneidliche Vernehmung [falle] aber […] den eidlichen Vernehmungen vor Gericht gegenüber nicht ins Gewicht“. Infolgedessen sei das Parlament lediglich dazu befugt, „die Acten dem Criminalgericht zur Ergänzung und Weiterführung […] zurückzugeben“, wenn sich die gerichtliche Untersuchung als lückenhaft erweisen sollte.475 Georg v. Vincke (Café Milani), dem Robert v. Mohl nachsagte, er sei „unübertrefflich [gewesen], wenn er, im getreuen Gedächtnisse alle Sünden der Gegner bewahrend, Mann für Mann in rascher Reihenfolge, mit beißendem Witze und mit der Gleichgültigkeit eines operirenden Wundarztes“ vorgenommen habe,476 fürchtete gar, dass parlamentarische Zeugenvernehmungen in gerichtliche Befugnisse eingreifen, ja Ansehen und Würde der Justiz „auf das Aeußerste“ erschüttern müssten. Die Nationalversammlung dürfe deswegen bloß prüfen, ob die Gerichte rechtmäßig verfahren seien und die Zeugen ordnungsgemäß vernommen hätten.477 In vergleichbarer Weise vertrat der Oberlandesgerichtsassessor Otto Plathner­ (Casino) die Auffassung, dass „nur zu prüfen [wäre], ob die Gerichte mit Recht die Verhaftung beantrag[t]en“. Dagegen stehe es dem Parlament nicht zu, sich „als ein Gericht [zu] etabliren“ oder „Zeugen [zu] vernehmen“.478 Der Greifswalder Professor Georg Beseler (Casino) leitete schließlich aus dem Reichsimmunitätsgesetz ab, dass die Versammlung die Berechtigung des Strafverfahrens ausschließlich anhand der Akten überprüfen dürfe. Obwohl die Ausschüsse grundsätzlich über das Recht verfügten, „sich irgendwie nach irgend einer Seite hin [zu] erkundigen“, gehe es nicht an, „einen Ausschuß als Untersuchungsgericht aufzustellen“.479 Diesen restriktiven Positionen begegneten die Befürworter des Simon’schen Antrags mit dem pragmatischen Argument, dass der Ausschuss seine Aufgabe nur mit 474

Wigard, VerhFNV, S. 2431 sowie S. 2433 die Erwiderung auf Otto Plathner. Wigard, VerhFNV, S. 2433 f. 476 R. v. Mohl, DtVjS 1850/2, 1 (24). 477 Wigard, VerhFNV, S. 2432. 478 Wigard, VerhFNV, S. 2431 f. 479 Wigard, VerhFNV, S. 2434. 475

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den vollen Befugnissen des § 24 GO-FNV 1848 erfüllen könne. Der fraktionslose Hauptmann im Geniekorps Carl Möring, der für gewöhnlich mit dem rechten Zentrum stimmte, mahnte die Abgeordneten, dass man nicht guten Gewissens über die Immunität eines Mitgliedes entscheiden könne, ohne sich zuvor zu vergewissern, dass für eine gerichtliche Untersuchung überhaupt ausreichender Anlass bestehe.480 Insofern verglich der Publizist Jacob Vendey (Westendhall) die Kommission mit einer „Groß-Jury“, die „über die Sache ein allgemeines Urtheil“ fälle – einen Ausschuss, der keine Zeugen vernehmen dürfe, hielt er für absolut überflüssig.481­ Johann Gottfried Eisenmann (Casino), der u. a. die Rechtswissenschaften studiert hatte, verglich das parlamentarische Verfahren mit verwaltungsinternen Voruntersuchungen, die vor einer Beamtenanklage durchzuführen seien. Im konkreten Fall hielt es der Würzburger Mediziner, der im Sommer den Antrag gestellt hatte, den Ausschüssen die Befugnisse nach § 24 GO-FNV 1848 generell beizulegen,482 für erforderlich, dass sich die Kommission selbst informiere, weil das Gericht bislang ausschließlich Belastungszeugen vernommen habe.483 Der Advokat Friedrich­ Siegmund Jucho (Westendhall) verwies auf den Ausschuss für die Tiengener Wahl, der auch über die Befugnisse des § 24 GO-FNV 1848 verfügt habe, „ohne dadurch den Wirkungskreis der Gerichte zu beeinträchtigen“.484 Ergänzend hob der Stadtgerichtsadvokat und Notar Wilhelm Schaffrath ­(Donnersberg) hervor, dass kein Ausschuss verpflichtet sei, von diesen geschäftsordnungsmäßigen Befugnissen Gebrauch zu machen. Interessanter war seine requisitionsrechtliche Interpretation des § 24 GO-FNV 1848, dass die Kommission den Gerichten aufgeben könne, Aussagen, „die noch nicht deutlich genug abgegeben zu sein scheinen, wiederholen, und verbessern“ oder von den Beschuldigten benannte Entlastungszeugen vernehmen zu lassen.485 Die Ableitung eines solchen Rechts aus dem Reglement zeigte deutlich das neue parlamentarische Selbstbewusstsein. Nach dem zutreffenden Hinweis des Vizepräsidenten Eduard Simson, dass sämtlichen Ausschüssen die Rechte nach § 24 GO-FNV 1848 durch einen früheren Beschluss generell beigelegt worden waren, veränderte sich die Stoßrichtung der Diskussion: Man debattierte nun, ob dem einzusetzenden Ausschuss die Befugnis, Zeugen vorzufordern, zu vernehmen oder vernehmen zu lassen, aus den genannten Gründen wieder abzuerkennen sei. Ein entsprechender Antrag scheiterte mangels Unterstützung. Obgleich Gewaltenteilung sowie Integrität und Unabhängigkeit der Justiz eine Rolle gespielt hatten, votierte die Majorität letztendlich für das parlamentarische Untersuchungsrecht,486 indem beschlossen wurde, in den Abteilungen einen Ausschuss zu wählen und ihm die Ersuchen des Frank 480

Wigard, VerhFNV, S. 2434. Wigard, VerhFNV, S. 2433. 482 Bericht des Ausschusses für die Geschäftsordnung, Haßler, VerhFNV II, S. 158 f. 483 Wigard, VerhFNV, S. 2432 f. 484 Wigard, VerhFNV, S. 2434. 485 Wigard, VerhFNV, S. 2432. 486 Vgl. F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 23. 481

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furter Appellationsgerichts zur Vorbereitung zu überweisen.487 Der Versuch, das parlamentarische Selbstinformationsrecht äußerlicher Ähnlichkeiten mit gerichtlichen Befugnissen wegen zu ächten, war vorerst abgewendet. Die National­ versammlung hatte im Gegenteil ein klares Votum für die Zulässigkeit paralleler Untersuchungen abgegeben. Trotzdem sah die Kommission in Sachen Blum und Günther bei „Prüfung der wider mehrere Mitglieder der Nationalversammlung beantragten strafrechtlichen Untersuchung“ von eigenen Vernehmungen ab und veranlasste lediglich das Appellationsgericht „zu einer wahren Bestimmung des Gegenstandes der Anschuldigung, namentlich darüber, welche Stellen der bezeichneten Nummern [der „Deutschen Reichstags-Zeitung“ es…] bei der strafrechtlichen Verfolgung besonders im Auge habe“.488 Anschließend empfahl der Ausschuss der Nationalversammlung, „daß sie zu der vom Appellationsgerichte […] wegen der in […] dieser Zeitung enthaltenen Beleidigungen verfügten strafrechtlichen Untersuchung […] ihre Zustimmung ertheile“.489 Bei dieser Gelegenheit kristallisierte sich gewissermaßen bereits der bis heute befolgte genuin politische Maßstab in Immunitätssachen heraus. Dementsprechend heißt es in Nr. A. 4 der Anlage 6 zur Geschäftsordnung des Bundestages, dass weder in eine „Beweiswürdigung […] eingetreten“ wird noch die „Entscheidung [eine…] Feststellung von Recht oder Unrecht, Schuld oder Nichtschuld“ beinhaltet. In der vorherigen Fassung hieß es deutlicher, dass die Immunitätsentscheidung politischer Natur sei und keinen Eingriff in ein schwebendes Verfahren bedeuten dürfe.490 – Unbeschadet dessen sind in die erforderliche Interessenabwägung neben den Belangen der staatlichen Strafverfolgung die Unabkömmlichkeit des Abgeordneten für die parlamentarische Arbeit und insbesondere die Frage einzustellen, ob substantiierte Vorwürfe erhoben werden oder von einem politisch motivierten Tendenzprozess auszugehen ist. Teils ist die Rede davon, dass der Bundestag nicht dazu verpflichtet sei, die rechtliche Schlüssigkeit der Vorwürfe zu hinterfragen, sondern die Beurteilung der Rechtmäßigkeit den Gerichten überlassen dürfe. Ein entsprechendes Recht wird ihm anscheinend trotzdem zugestanden.491 Rigoroser steckte die Mehrheit der Frankfurter Nationalversammlung ihre Befugnisse ab. Als in der Plenarberatung am 9. Dezember 1848 Bedenken aufkamen, ob anstelle des Appellations- das Polizeigericht sachlich zuständig sei,492 zog sich Reichsjustizminister Robert v. Mohl (Augsburger Hof) auf den formellen Stand 487

Wigard, VerhFNV, S. 2434 f. Wigard, VerhFNV, S. 3996. 489 Wigard, VerhFNV, S. 3998. 490 Abdruck bei H.-A. Roll, GO-BT, 2001, S. 204. 491 Vgl. BVerfGE 104, 310 (328 ff., 332 f.); M. Schulte/W. Zeh, in: Schneider/ders. (Hg.), Parla­mentsR, 1989, § 43 Rn. 11. 492 s. die Anmerkung des Abgeordneten Friedrich Siegmund Jucho bei Wigard, VerhFNV, S. 4004 f. 488

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punkt zurück, dass weder eine Bewertung des Frankfurter Rechts noch ein Urteil über die Güte des gerichtlichen Ersuchens oder die gerichtliche Zuständigkeit Sache der Versammlung wäre. Es gelte nur zu verhindern, dass die Strafverfolgung nicht sachlich motiviert, sondern politische Schikane sei.493 Auch der Ausschussberichterstatter, der Göttinger Staatsrechtler Heinrich Albert Zachariä (Casino), war der Überzeugung, dass die Nationalversammlung nur zu untersuchen habe, „ob die Einleitung einer strafrechtlichen Untersuchung aus keinem anderen, als eben aus rechtlichen Gründen begehrt [werde, und…] ob überhaupt ein Grund zur Einleitung einer Untersuchung“ gegeben sei. Obwohl man sich bei dieser Prüfung „durch rechtliche Gründe“ leiten lassen müsse, dürfe das Parlament keinen „richterlichen Standpunkt“ einnehmen oder gar „im Voraus über die Schuld oder Unschuld des Angeklagten […] oder über die möglichen Einwendungen [urteilen…], welche von Seite des Angeklagten wegen der formellen Behandlung der Sache, gegen die Competenz des Gerichtes, gegen die Zulässigkeit der Verfolgung oder aus anderen Gründen gemacht“ würden.494 Dieser zurückhaltenderen Sichtweise schloss sich die Versammlung durch die Annahme des Ausschussantrags an.495 Trotzdem stärkte sie so ihre Position, indem sie Vorstellungen, das Parlament dürfe kein Strafverfahren hinterfragen, eine Abfuhr erteilte. In Sachen Simon, Zitz und Schlöffel hielt der Ausschuss ebenfalls „noch Communicationen mit dem Appellationsgerichte [für] nothwendig“.496 Verzögerungen waren durch die „Nothwendigkeit theils einer ganz genauen Prüfung der […] mitgetheilten Actenstücke, theils einer Rückfrage an das hiesige Appellationsgericht, zu welcher die Fassung des gerichtlichen Antrags […] Veranlassung“ gegeben hatte, bedingt.497 Wieder nahm der Untersuchungsausschuss für sich das Recht in Anspruch, mit dem Gericht unmittelbar in Kontakt zu treten, um Un­ klarheiten auszuräumen. In der Sache limitierte er seine Befugnis darauf, keinesfalls „den Standpunct des Richters einzunehmen und den vorgelegten Acteninhalt einer juridischen Prüfung […] zu unterwerfen“; es sei lediglich zu untersuchen, ob dem Gericht „fremde oder nicht genügend gerechtfertigte Motive untergelaufen und bestimmend gewesen seien“. Das abschließende Votum ging dahin, „daß das hiesige Untersuchungsgericht […] vollkommen begründete Veranlassung hat[te], die Vorgänge in der am 17. September auf der Pfingstweide abgehaltenen Volksversammlung zum Gegenstande einer strafrechtlichen Untersuchung zu machen“; 493

Wigard, VerhFNV, S. 4005. Wigard, VerhFNV, S. 4005 f. Dementsprechend vertrat H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 615 in Fn. 17, dass das Immunitätsrecht „kein Freibrief der Gerechtigkeit gegenüber sein kann und soll“. Stattdessen könne der „ständische Standpunkt […] bei der Frage über die zu ertheilende Genehmigung nicht der des Richters, oder einer höhern Instanz sein, sondern nur der politische der Sicherung gegen Entziehung von Mitgliedern durch völlig grundlose oder chicaneuse Verfolgung“. 495 Wigard, VerhFNV, S. 4006 f. 496 Vgl. die Antwort August Hergenhahns auf die Interpellation des Abgeordneten Zitz bei Wigard, VerhFNV, S. 2558. 497 Wigard, VerhFNV, S. 2637. 494

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wegen der Schwere der Tatvorwürfe sei „eine Aussetzung der Untersuchung auf einen vielleicht noch fernen Zeitpunkt […] nicht [zu] rechtfertigen“.498 In der Plenardebatte über den Ausschussantrag, die Verfolgung der Abgeordneten zu genehmigen, betonte Oberlandesgerichtsassessor Otto Plathner (Casino), dass die Nationalversammlung „die Sache zwar nicht juristisch zu beurteilen, […] nicht darüber zu entscheiden [habe], inwieweit ein Verdacht gerechtfertigt“ sei, aber dennoch prüfen müsse, „ob der Richter innerhalb seiner Grenzen geblieben [sei und…] eben nur auf die juristische Beurtheilung sich eingelassen, oder […], sein Feld verkennend, vielleicht vom politischen Standpuncte aus die Sache betrachtet“ habe. In diesem Falle handele „es sich nicht um eine gerichtliche Anklage, sondern um einen Tendenzproceß“.499 Modernen Positionen noch ähnlicher war der Würzburger Straf- und Polizeirechtler Carl Edel (Casino) der Auffassung, dass die Reichsversammlung nicht den „Standpunkt einer Anklage-Jury und noch weniger den eines politischen Gerichtshofes einzunehmen“ habe, sondern nur überprüfen dürfe, „ob ein Nationalinteresse [bestehe, das gebiete…], die von dem Gerichte geforderte Einschreitung zu versagen, oder ob es die Würde und Unabhängigkeit der Versammlung [erfordere, …] ein Veto entgegen[zu]stellen.“ Abschließend warnte er noch einmal vor jedem Eingriff in „die Unabhängigkeit und Unaufhaltsamkeit der Rechtspflege“, die „zu den höchsten Gütern und Garantieen der bürgerlichen Freiheit“ zähle.500 Dagegen trat der Linke Wilhelm Schaff­ rath dafür ein, unter Berücksichtigung der Motive des Reichsimmunitätsgesetzes „ganz im Allgemeinen die Statthaftigkeit der Untersuchung zu erörtern, nicht nur die politische, sondern auch die rechtliche, nach dem Sinne und Zwecke jenes Gesetzes“.501 In dieselbe Kerbe schlug der seinerseits betroffene Franz ­Heinrich Zitz.502 Sämtlichen linken Forderungen, sich in dieser Weise gewissermaßen über die Gerichte zu stellen, erteilte die Nationalversammlung in namentlicher Abstimmung mit 245 gegen 140 Stimmen eine klare Absage und genehmigte die Strafverfolgung.503 bb) Weitere Untersuchungsverfahren In den folgenden Monaten kam es immer wieder zu vergleichbaren Vorgängen. So wurde Friedrich Wilhelm Levysohn (Deutscher Hof)  Majestätsbeleidigung durch Verbreitung eines anonymen Pamphlets vorgeworfen, in dem es u. a. über den preußischen König hieß: „Du darfst nicht länger athmen mehr, Pest bringt dein Hauch, er weht Verderben, Verworfener! Hah, du mußt sterben!“ Erneut 498

Wigard, VerhFNV, S. 2645. Wigard, VerhFNV, S. 2647. 500 Wigard, VerhFNV, S. 2655. 501 Wigard, VerhFNV, S. 2654. 502 Wigard, VerhFNV, S. 2656. 503 Wigard, VerhFNV, S. 2672. 499

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wurde der beistimmende Ausschussantrag damit motiviert, dass sich die Nationalversammlung auf die Prüfung zu beschränken habe, „ob der richterlichen Entscheidung […] rechtliche Beweggründe zu Grunde gelegen sind, ob man nicht von bloß politischen Motiven sich habe leiten lassen“.504 Die Nationalversammlung­ genehmigte die Fortsetzung des Strafverfahrens am 9. Dezember 1848 – demselben Tag, an dem über die Vorgänge auf der Pfingstweide beraten wurde.505 Strafverfahren gingen nicht bloß von der Obrigkeit aus: Gegen die Redakteure der „Flugblätter aus der Deutschen Nationalversammlung“ Carl Jürgens (Casino), Carl Bernhardi und Friedrich Loew erhob der linke Abgeordnete Christian Minkus (Deutscher Hof) Anklage wegen Verleumdung und Schmähungen.506 Die Äußerung: „Zu früh hetzt Minkus in Schlesien zum Morde“, erkannte der Ausschuss als ausreichenden Anlass für ein Verfahren vor dem Frankfurter Polizeigericht an. In der Frage, ob Carl Jürgens allein für den Druck verantwortlich sei, weil die beiden anderen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits aus der Redaktion ausgeschieden waren,507 prüfte man nur, ob Bernhardi und Loew noch in der entsprechenden Nummer genannt waren.508 Weil dies der Fall war, genehmigte die Nationalversammlung am 11. Dezember 1848 die Untersuchung gegen alle drei.509 Auch dem Antrag des Fürstlich Hohenzollern-Sigmaringenschen Hofgerichts, die Verfolgung des linken Advokaten und Vorstands des vaterländischen Vereins zu Sigmaringen Carl Würth wegen Hochverrats zu genehmigen, gab die Versammlung Mitte Januar 1849 statt.510 Zuvor hatte der Ausschuss aufgrund der vorliegenden Unterlagen davon abgesehen, eine „von dem Untersuchungsrichter angeblich gegen den Abgeordneten Würth veröffentliche Schmähschrift herbeizuschaffen“ und beantragt, die Strafverfolgung zu genehmigen.511 cc) Abgelehnte Verfolgungsersuchen Soweit ersichtlich verweigerte sich die Frankfurter Nationalversammlung erst Ende Januar bzw. Mitte April 1849 zwei Anträgen der Strafverfolgungsbehörden: Im Oktober 1848 leitete das Stadtgericht Rosenberg im Regierungsdepartement Oppeln eine Untersuchung wegen Hochverrats gegen den 78-jährigen Christian Minkus ein, der ohne vorherige Genehmigung der Nationalversammlung während eines Urlaubs in der Heimat verhaftet worden war. Zur Last gelegt wurden 504

s. den Bericht bei Wigard, VerhFNV, S. 4011 f. sowie dessen Ankündigung S. 3580. Wigard, VerhFNV, S. 4014. 506 Wiedergabe der Anklage im Ausschussbericht bei Wigard, VerhFNV, S. 4007. 507 s. die Rede von Carl Jürgens am 27. Oktober 1848 bei Wigard, VerhFNV, S. 2874. 508 Vgl. den Ausschussbericht bei Wigard, VerhFNV, S. 4007 f. 509 Wigard, VerhFNV, S. 4008 ff., 4011. 510 Wigard, VerhFNV, S. 4533. 511 s. den Bericht bei Wigard, VerhFNV, S. 4528 ff. sowie den Antrag S. 4531. 505

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ihm verschiedene Briefe „voll des wühlerischen Inhalts“.512 Im Plenum kam die Sache kurz darauf durch eine Interpellation Adolph Röslers (Deutscher Hof) zur Sprache, auf die Reichsjustizminister v. Mohl erklärte, dass er zwar amtlich noch keine Kenntnis erhalten, bei der preußischen Regierung aber um Aufklärung nachgesucht habe.513 Erst später erreichte ein Genehmigungsersuchen des Gerichts die Versammlung – unmittelbar und ohne Vermittlung des Ministeriums. Diese Vorgehensweise kritisierte Präsident Heinrich v. Gagern am 7. November 1848, weil es „nicht zulässig [erscheine], daß ein königl. Stadtgericht sich direct an die Nationalversammlung mit solchen Requisitionen wende“.514 In der Sache beantragte der mit der Vorberatung beauftragte Ausschuss, die „Genehmigung zur Einleitung der Untersuchung wegen Hochverrath gegen den Abgeordneten Minkus nicht [zu] ertheilen“, weil sich nach Lage der Akten „keine hinreichende Veranlassung [finde…], den Verdacht des Hochverraths […] begründet zu halten“.515 Am 29. Januar 1849 verlangten der Passauer Appellationsgerichtsassessor Ferdinand Hauben­ schmidt (Casino) und verschiedene andere Abgeordnete, die Genehmigung lediglich „zur Zeit“ nicht zu erteilen: Zwar sei dem Ausschuss in der Sache zuzustimmen. Abweichend von „der bisherigen Uebung des Hauses“ habe man sich aber „auf juristische Erwägungen über Schuld oder Nichtschuld“ eingelassen, statt lediglich zu hinterfragen, „ob wirklich die Anschuldigung […] sich auf juristische Gründe und Erwägungen [stützen könnte], oder ob Anhaltspunkte darüber [vorlägen…], daß ein Tendenzproceß beabsichtigt werde“. Weil sich wegen der Lückenhaftigkeit des Ersuchens derzeit über die Motive nicht urteilen lasse, sei die Genehmigung vorläufig abzulehnen. Dem hielt Heinrich Wilhelm Gottlieb Martens (Casino) ­entgegen, dass man so gerade den Standpunkt eines Richters einnehme. Schließlich verstehe es sich von selbst, dass bei anderer Sachlage, namentlich bei Vorlage weiterer Beweise, möglicherweise auf ein erneutes Ersuchen hin auch anders zu entscheiden wäre. Ohne kontroverse Diskussion lehnte die Versammlung die Genehmigungserteilung mit Stimmen der Linken und des Zentrums ab.516 Die Sache des badischen Abgeordneten Joseph Peter (Donnersberg), die sich bis ins Frühjahr 1849 hinzog, obgleich der Ausschussbericht bereits Ende September 1848 angekündigt und kurz darauf gedruckt und verteilt worden war, stand mit dem ersten badischen Aufstand in Verbindung.517 Obwohl Peter mit Friedrich ­Heckers 512

Verlesung des Schreibens des Stadtgerichts bei Wigard, VerhFNV, S. 3107 f. Wigard, VerhFNV, S. 2438. 514 Wigard, VerhFNV, S. 3108. 515 Wigard, VerhFNV, S. 4673 und 4937. Der Ausschuss hatte seinen Überlegungen lediglich zwei der vier Briefe zugrunde gelegt, die das Gericht als Anlass seiner Untersuchung angegeben hatte; weil zwei Schreiben „eben nur simple Abschriften [waren, mussten sie…], bei der Beurtheilung der vorliegenden Sache völlig unbeachtet bleiben“. „Nebenbei“ bemerkte der Ausschussbericht, „daß sie erhebliche Data zur Begründung der Anklage nicht enthalten, und daß es deshalb nicht darauf [ankam…], die Originalien zu fordern.“ Abdruck des Berichts bei Wigard, VerhFNV, S. 4936 f. 516 Wigard, VerhFNV, S. 4937 ff. 517 Ankündigung von Bericht und Antrag bei Wigard, VerhFNV, S. 2289. 513

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

Worten „ein ehrenwerther, es mit dem Volke gutmeinender Mann“ war, den man zur Annahme revolutionärer Ämter „durch das Volk nöthigen […] lassen“ musste,518 hatte er dem Ausschussbericht zufolge Mitte April 1848 nach der „Niederlegung seiner Stelle als Regierungsdirector die ihm übertragene Stelle eines Statthalters des Seekreises mit unbeschränkten Vollmachten“ übernommen und die Bundestruppen aufgefordert, nicht in den aufständischen Bezirk einzumarschieren. Als diesem Protest zum Trotz eine beschleunigte Besetzung vorbereitet wurde, beschloss der Gemeinderat, die „Vorgänge des vorigen Tages zu desavouiren, […] die Autorität der Beamten wieder anzuerkennen [und…] gegen das Einrücken der Truppen nichts einzuwenden“. Joseph Peter aber floh aus Angst vor Repressalien in die Schweiz.519 Mitte April 1849 beriet die Frankfurter Reichsversammlung kurz vor der zweiten badischen Erhebung, in die Peter erneut verwickelt werden sollte,520 über die von der badischen Regierung nachgesuchte Ermächtigung zu Verhaftung und straf­rechtlicher Verfolgung. Obwohl der Antrag ursprünglich nur dahin ging, die Strafverfolgung, nicht aber die Untersuchungshaft zu genehmigen, befürwortete der Ausschuss beide Verlangen, nachdem das Gericht weitere Haftgründe und zusätzliche Informationen nachgeliefert hatte.521 In der parlamentarischen Beratung betonte Heinrich Albert Zachariä für den Ausschuss erneut, dass die Nationalversammlung „der Forderung der Gerechtigkeitspflege kein Hindernis in den Weg legen“ dürfe, wenn keine „bestimmten Gründe [vorlägen…], welche das Verlangen […] als durchaus ungerechtfertigt erscheinen [ließen…], oder sobald nicht höhere politische Gründe, welche wichtiger [seien…] als die Sache selbst, dem Verlangen in den Weg“ träten. Den Vor­rednern, die sich gegen die Untersuchungshaft ausgesprochen und das gerichtliche Ersuchen kritisiert hatten,522 hielt der Staatsrechtler entgegen, „daß es sich […] nicht um ein Ur­ theil über die Schuld oder Unschuld des Abgeordneten Peter [handele…], sondern nur um einen […] nothwendigen processualischen Schritt“. Ohne Gründe, „welche das Verlangen des Gerichts als ein ungeeignetes und ungerechtfertigtes erscheinen“ ließen, und weil dem Ersuchen anscheinend keine „politische Verfolgungssucht“ zugrunde liege, sei die Genehmigung zu erteilen. Ungeachtet dieses Plädoyers lehnte die Frankfurter Nationalversammlung das Untersuchungshaftverlangen mit den Stimmen der Linken und von „viele[n] Mitglieder[n] der Centren“ ab.523

518

F. Hecker, Erhebung, 1848, S. 37. s. dazu den Ausschussbericht des Abgeordneten Franz Peter Adams bei Wigard, VerhFNV, S. 6189 ff., 6194 f. sowie S. 6197 den von Carl v. Breuning erstatteten zweiten Ausschussbericht. 520 Joseph Peter gehörte nach der Proklamation der glücklosen Republik im Mai/Juni 1849 neben Lorenz Brentano u. a. der revolutionären provisorischen Regierung an. Nach dem Scheitern dieses Unternehmens floh er erneut in die Schweiz, wurde in Abwesenheit zu 20 Jahren Zuchthaus und 10.000 fl. Geldstrafe verurteilt, aber 1862 amnestiert. Dazu H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 259. 521 s. den zweiten Ausschussbericht bei Wigard, VerhFNV, S. 6197. 522 Reden von Anton Christ und Lorenz Brentano bei Wigard, VerhFNV, S. 6198 f., 6199 f. 523 Wigard, VerhFNV, S. 6200 ff. 519

1. Kap.: Die Frankfurter Nationalversammlung

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dd) Unerledigte Ersuchen Verfahren wegen Hochverrats oder vergleichbarer Straftaten wurden außerdem gegen die Abgeordneten Max Werner, Maximilian Joseph Gritzner aus Wien und Hans Alfred Erbe eingeleitet. Zu einer Berichterstattung kam es nicht.524 Nicht besser erging es einem Ersuchen des preußischen Inquisitoriats zu Grünberg vom 16.  Januar 1849 auf „die Erlaubniß zur Eröffnung einer Untersuchung gegen den Abgeordneten Levysohn, als Redacteur des Grünberger Wochenblatts, wegen Beleidigung durch Pasquill“.525 Erwähnung verdient dagegen die Angelegenheit des Dresdener Advokaten Blöde, der im Wahlbezirk Neustadt-Dresden als Stellvertreter des Justizamtmanns Friedrich Hensel gewählt worden war. Nach der Verhaftung beantragte der Zentralwahlausschuss, das „Präsidium aufzufordern, sofort von der königlich sächsischen Regierung die die Verhaftung des stellvertretenden Abgeordneten, Advocaten Blöde, zu Dresden betreffenden Acten einzufordern, um nach deren Einsicht beurtheilen zu können, inwiefern der etc. Blöde als Mitglied der Versammlung einzuberufen sei“. Dieser Antrag wurde durch das­ radikalisierte Stuttgarter Rumpfparlament in der 235. und vorletzten Sitzung der­ Nationalversammlung am 16.  Juni 1849 angenommen.526 Zu weiteren Schritten kam es nicht mehr. ee) Zwischenergebnis: Parlamentarische Untersuchungskompetenz und Strafverfolgung Die Behandlung der Immunitätssachen gewährt interessante Einsichten in das sich im Laufe der Zeit verändernde Selbstverständnis der Nationalversammlung im Verhältnis zu den Strafgerichten. Dass derartige Konkurrenzfragen nicht bloß in Immunitätssachen auftreten können, belegte im Sommer 1848 die Debatte der preußischen Vereinbarungsversammlung über die Untersuchung des Schweid­ nitzer Blutbades; die Mainzer Untersuchung hätte der Frankfurter Nationalversammlung eigentlich Anlass zu analogen Streitigkeiten geboten. Selbst in der Weimarer Republik sollten trotz des ausdrücklichen Enquête- und Untersuchungsrechts des Art. 34 RVerf 1919 aus den Reihen der Richterschaft noch Forderungen nach einem absoluten Vorrang des Strafverfahrens erhoben werden.527 Die Beratungen in Immunitätssachen unterschieden sich von den allgemeinen Untersuchungsrechtsdebatten und Untersuchungsverfahren durch die Grundüberzeugung der Nationalversammlungsmehrheit, dass das Parlament – insoweit wurden gewissermaßen moderne immunitätsrechtliche Standards antizipiert  – bloß prüfen dürfe, ob Anhaltspunkte für eine missbräuchliche, politisch motivierte 524

s. bei Wigard, VerhFNV, S. 2942 f. (Werner), 6122 (Gritzner) und 6185 (Erbe). Bericht des Reichsjustizministers bei Wigard, VerhFNV, S. 4867. 526 Wigard, VerhFNV, S. 6854. 527 s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 3. c) und 7. Teil 3. Kap. B. III. 2. 525

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Strafverfolgung vorlägen. Eine vollständige Nachprüfung des Tatvorwurfs oder seiner rechtlichen Stichhaltigkeit stand der Volksvertretung nach herrschender Meinung gerade nicht zu. Max Duncker (Casino) fasste diese Überzeugung sowie die aus ihr resultierende Praxis später folgendermaßen zusammen: „Niemals verweigerten wir die Zustimmung zur Untersuchung gegen eines unserer Mitglieder, wenn sie von dem competenten Gerichtshofe nachgesucht wurde, sobald wir uns überzeugt hatten, daß die Motive der Verfolgung nicht politischer, sondern wirklich legaler Natur waren. Wir waren niemals der Meinung, daß der Schutz der Abgeordneten gegen willkürliche Eingriffe der Behörden in seine parlamentarische Thätigkeit, ein Privilegium sein sollte für ungesetzliche Handlungen, es schien uns vielmehr in der Pflicht des Volksvertreters zu liegen, ein Vorbild streng gesetzlichen Verhaltens zu sein.“528

Im Fokus der Beratungen standen am 5.  Oktober 1848 und auch sonst also­ weder die abstrakte Reichweite von § 24 GO-FNV  1848 noch Fragen des allgemeinen Verhältnisses von Parlament und Justiz, sondern ausschließlich der­ Sonderfall, dass auf Ersuchen einer Strafverfolgungsbehörde aufgrund eines eher politischen Maßstabes über die Immunität eines Abgeordneten zu entscheiden war. Damit drehte sich der unverdientermaßen zu großer Anerkennung gekommene Disput eigentlich bloß um die Auslegung des Reichsimmunitätsgesetzes, in die freilich die alte rechtsstaatliche Errungenschaft der justitiellen Unabhängigkeit hineinspielte. Diesen Besonderheiten, insbesondere dem beschränkten Erkenntnisinteresse, dürfte es zu verdanken sein, dass die Ausschüsse von eigenen Zeugenvernehmungen absahen und nach Aktenlage votierten. In der Sache wurde selbst dann nicht näher ermittelt, wenn eine parlamentarische Aufklärung des Sachverhalts ohne weiteres möglich gewesen wäre. Stattdessen ging man – wie bei der bloßen Nennung Bernhardis und Loews auf der ersten Seite der „Flug­blätter“ – bestenfalls auf den ersten Augenschein ein und zollte damit der richterlichen Unabhängigkeit Respekt. Unter dem Blickwinkel der enquête- und untersuchungsrechtlichen Entwicklung verdient Erwähnung, dass parlamentarische Nachfragen an die Gerichte  – soweit ersichtlich  – unmittelbar erfolgten; auch die Übersendung der Akten wurde anscheinend nicht durch das Ministerium vermittelt, sondern unmittelbar veranlasst.529 Die nach konstitutionellem Staatsrecht eigentlich gebotene Regierungsvermittlung fiel also auch in diesem Kontext aus; die Ausschüsse machten von § 24 GO-FNV 1848, wenngleich „bloß“ durch Aktenvorlageverlangen, insoweit nach der Art eines Selbstinformationsrechts Gebrauch. Damit emanzipierte sich die Nationalversammlung erneut von den informationsrechtlichen Bindungen früherer Ständeversammlungen, indem sie sich bei Unklarheiten etc. unmittelbar an die Strafverfolgungsbehörden wandte. Dass es sich bei diesem Modus nicht um eine belanglose Geschäftserleichterung handelte, unterstreicht der Protest ihres Präsident, als das Stadtgericht Rosenberg in Sachen ­Minkus mit der Versammlung unmittelbar Kontakt aufnahm. 528

M. Duncker, GeschFNV, 1849, S. 12 f. s. etwa die Äußerungen Gabriel Riessers bei Wigard, VerhFNV, S. 5199.

529

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Trotz der Besonderheiten des Immunitätsrechts gestatten manche Diskussionsbeiträge, die einer unbeschränkten Untersuchung das Wort reden, Rückschlüsse auf das allgemeine Verständnis der parlamentarischen Rolle des Nationalversammlung. Für ihre gemäßigte Mehrheit ist die Ablehnung der Versuche der Linken charakteristisch, jedes gerichtliche Ersuchen vollständig zu hinterfragen, sich durch eigene Beweiserhebungen ein vollständiges Bild zu verschaffen und so letzten Endes als parlamentarischer Kontrolleur über die Justiz zu stellen. Dementsprechend vermied die Majorität in der Regel jeden Eingriff in die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, indem sie die beantragte Strafverfolgung genehmigte. Lediglich in zwei Fällen, betreffend Christian Minkus und Joseph Peter, nahm die Versammlung das Recht in Anspruch, das Strafverfahren bzw. die Haftgründe einer eigenen juristisch-politischen Prüfung zu unterziehen. Ausschlaggebend dürfte die allgemeinpolitische Lage gewesen sein, die von dem Erstarken der Reaktion in den Einzelstaaten und einer verzweifelten Gegenwehr der Nationalversammlung geprägt war. Angesichts der Untersuchung der Mainzer Vorfälle, die vor Ort und parallel mit Ermittlungen der zuständigen Behörden veranstaltet wurde, lässt sich aus der konzilianteren Behandlung der übrigen Immunitätssachen nicht ableiten, dass sich die Versammlung generell gegenüber strafrechtlich relevanten Sachverhalten zurückgehalten hätte. Der Grund für die unterschiedliche Handhabung dürfte vielmehr in der Konzentration auf das Reichsimmunitätsgesetz sowie den Besonderheiten der Immunitätsangelegenheiten zu suchen sein, in denen man gleichsam in eigener ­Sache tätig wurde. d) Der Antrag Jahn gegen die Linke Selbst einen untauglichen Versuch, die parlamentarischen Befugnisse im Kampf gegen den politischen Gegner zu instrumentalisieren, erlebte die Frankfurter Nationalversammlung: Unter dem Eindruck des Septemberaufstandes, der Anfeindungen gegen die Unterstützer des Waffenstillstands und des Abgeordnetenmordes530 forderte Friedrich Ludwig Jahn, der 1813 zu Lützows Jägern gehört hatte, sich aber in „Privatgesprächen und […] Abstimmungen […] als einer der entschiedensten Gegner der Revolution und Republik“ erwiesen und so alle Hoffnungen der Linken, in dem „Turnvater“ einen der ihren zu finden, enttäuscht hatte,531 „die sämmtlichen Mitglieder der sogenannten Linken zur Untersuchung ziehen zu lassen, sie bis zu ausgemachter Sache aus der Versammlung zu entfernen und ihre Stellvertreter einzuberufen“. Wie kaum anders zu erwarten, befürwortete der Prioritäts- und Petitions-Ausschuss „in Betracht dessen Unschlüssigkeit und Unstatthaftigkeit, sowie dessen Ungehörigkeit nach Form und Inhalt“, die Ablehnung dieses Antrags. Erwähnung verdient der quasi-gewaltenteilungsrechtliche 530

Vgl. bei Wigard, VerhFNV, S. 2184 sowie E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 697. H. Blum, Revolution, 1898, S. 262.

531

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

bzw. rechtsstaatliche Einwand, dass „die beantragte Untersuchung […] nur vor die zuständigen Gerichte gehören“ könne; selbst wenn der Antrag darauf gerichtet wäre, „daß eine gerichtliche Untersuchung von dieser hohen Versammlung veranlaßt werde“, liege dies „außer deren Wirkungskreise“. So scheiterte der Versuch, den politischen Gegner durch eine pauschale Kollegialenquête zu diskreditieren. Zu einem Beschluss des Plenums kam es nicht, weil Friedrich Ludwig Jahn seinen Antrag vor der Abstimmung zurückzog.532 4. Das Großherzogtum Posen im Völkerrechtlichen Ausschuss Ein merkwürdiges Zwischending von Kollegial-, Sachstands- und politischer Enquête beschäftigte den Ausschuss für völkerrechtliche und internationale Fragen. Im Laufe des Jahres 1848 hatte sich die öffentliche Stimmung soweit zugunsten der nationalpolnischen Bewegung gedreht, dass Friedrich Wilhelm  IV. dem „Großherzogtum Posen“, das Preußen auf dem Wiener Kongress für andere Gebietsverluste zugefallen war, eine „nationale Reorganisation“ in Aussicht stellte. Als dieser Kurswechsel eine Zuspitzung der deutsch-polnischen Gegensätze bewirkte, schwenkte die Regierung auf eine rigorose Teilungspolitik über. Während der Bundestag die Aufnahme eines Großteils der Provinz Posen in den Deutschen Bund akzeptierte, sorgten diese Vorgänge in der Frankfurter Nationalversammlung für Unruhe: Die äußerste Linke forderte im Interesse der polnischen Unabhängigkeit, die Nicht-Zugehörigkeit der in den Bund aufgenommenen Gebiete festzustellen und die betreffenden Abgeordneten aus der Versammlung auszuschließen.533 Aus dem Bericht des Völkerrechtlichen Ausschusses, der sich mit diesen Fragen beschäftigte, geht hervor, dass „eine […] nicht unbeträchtliche Anzahl an Anträgen, Petitionen und Protestationen für und gegen die Einverleibung […] und die damit genau zusammenhängende endliche Anerkennung der in demselben Theile gewählten Abgeordneten […] und über die Nationalität der Polen in Westpreußen übergeben worden“ sei. Dem Ausschuss sei so „nicht nur die Verpflichtung auferlegt, die zum Theil umfassenden Eingaben selbst gehörig zu prüfen, sondern auch alle ihm möglichen Mittel zu ergreifen, um durch schriftliche und mündliche Zeugnisse und Nachrichten zu einer festen Ansicht über den eben so wichtigen als verwickelten Gegenstand zu gelangen“. Dieser Ankündigung zum Trotz fand keine ausgedehnte parlamentarische Untersuchung statt; vielmehr wurden bloß „zahlreiche Actenstücke benutzt und auch Abgeordnete beider Parteien gehört“.534 532 Vgl. Wigard, VerhFNV, S. 4924 f. Zweifelhaft war, ob eine Rücknahme des Antrags noch zulässig war, nachdem der Ausschussbericht bereits vorlag. Während die Nationalversammlungsmehrheit von einem solchen Recht des Antragstellers ausging, qualifizierte Franz Wigard den Antrag als „Eigenthum der Versammlung“, so dass über ihn abgestimmt werden müsse. 533 s. dazu E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 639 ff. 534 Wigard, VerhFNV, S. 1124.

1. Kap.: Die Frankfurter Nationalversammlung

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In der Sache forderte der Ausschuss die Nationalversammlung auf, die „Aufnahme […] anzuerkennen und demgemäß die aus dem Deutschland zugeordneten Theile gewählten zwölf Abgeordneten […] endgültig zuzulassen“. Außerdem sei „die von dem Königlich Preußischen Commissarius, General Pfuel, am 4. Juni d. J. angeordnete […] Demarcationslinie […] vorläufig an[zu]erkennen, sich jedoch die letzte Entscheidung über die […] Abgrenzung […] vor[zu]behalten“. Ein weiteres Verlangen richtete sich auf eine Schutzerklärung der preußischen Regierung für den deutschen Bevölkerungsteil.535 Nach mehrtägiger Debatte wurde der Ausschussantrag überwiegend, aber u. a. mit dem Vorbehalt einer endgültigen Entscheidung „nach dem Ergebniß weite­rer, von der Centralgewalt zu veranstaltender Erhebungen“ mehrheitlich gebilligt.536 Die Provisorische Zentralgewalt bestellte darauf den hessischen Gesandten in Berlin zum Reichskommissar, der – mit späterer Billigung der Nationalversammlung – eine deutschfreundliche Revision der bisherigen Demarkationslinie vornahm.537 Ähnlich wie es der Österreichische Ausschuss später in der Wiener Angelegenheit tun sollte, verzichtete der Völkerrechtliche Ausschuss bei dieser Gelegenheit zugunsten eines Ersuchens an die Exekutive auf eine parlamentarische Untersuchung. Eigenständige Erhebungen wären auch angesichts der Entfernung, der unruhigen Lage und der Komplexität der Sache kaum zu bewerkstelligen gewesen. Ungeachtet dessen nahm sich das Parlament unter dem Feigenblatt der Legitimationsprüfung das Recht, eine heikle völkerrechtliche Frage, die noch dazu preußische Angelegenheiten betraf, näher zu beleuchten und in der Sache Stellung zu beziehen.538

III. Bewertung der Tätigkeit der Paulskirchenversammlung Das 150 Jahre nach der Revolution gefällte Urteil Johannes Masings539, dass die Paulskirche außer verhältnismäßig belanglosen Enquêten nichts zur Geschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts beizutragen habe,540 bedarf, obgleich von nicht wenigen Autoren geteilt,541 einer Revision. 535

Wigard, VerhFNV, S. 1128. Vgl. Wigard, VerhFNV, S. 1233 ff., 1239 f. 537 s. dazu E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 643. 538 Zur Posener Untersuchung der preußischen Vereinbarungsversammlung s. 3. Teil 2. Kap.  C. II. 2. 539 s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 2. f). 540 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 9, 13 f. 541 Während verschiedene Autoren zu ähnl. Ergebnissen kommen, fällt das überwiegende­ enquête- und untersuchungsrechtliche Schrifttum kein direktes Urteil, sondern verweist schlicht auf § 24 GO-FNV 1848 und § 99 RVerf 1849 als Vorbilder der heutigen Entwicklung, denen freilich keine praktische Bedeutung zugekommen wäre. Vgl. zum Forschungsstand 1. Teil B. 536

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1. Enquête- und Untersuchungstypen In dem Panoptikum an Gegenständen, über die sich die Ausschüsse des Frankfurter Reichstags aufgrund von § 24 GO-FNV 1848 selbständig und unmittelbar und ohne obligatorische Vermittlung durch Behörden oder Regierungsstellen informierten, spiegelt sich das erste Kriterium für ein „echtes“ parlamentarisches Enquête- und Untersuchungsrecht in der Paulskirche wider, indem die Versammlung ihr Interesse ganz nach dem Bauplan eines modernen Selbstinformationsrechts selbständig auf sämtliche Themen lenken konnte, die ihren materiellen Kompetenzen unterlagen. Konnten letztere auf Kosten der alten Gewalten zugunsten der parlamentarischen Seite ausdehnt werden, passte man die Auslegung des § 24 GO-FNV 1848 den neuen Gegebenheiten ohne weiteres an.542 Sämtliche Enquête- und Untersuchungstypen, die heute in modernen Aufzählungen anzutreffen sind, lassen sich grosso modo in der parlamentarischen Tätigkeit der Frankfurter Nationalversammlung nachweisen:543 Ihre Fachausschüsse griffen zur Gesetzesvorbereitung auf verschiedene Formen der Sachstands- und Tatsachenermittlung zurück. In diesem Kontext befasste man sich, wenngleich in der Absicht, durch die Verfassung oder besondere Gesetze für Abhilfe zu sorgen, mit wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Missständen. Obwohl die Wurzeln des § 24 GO-FNV 1848 augenscheinlich primär auf dem Feld der Gesetzesvorbereitung lagen, instrumentalisierte das Parlament den scheinbar „harmlosen“ Paragraphen auch für verschiedene hochpolitische Untersuchungen zur Kontrolle der Exekutive. Insbesondere die in der Mainzer Angelegenheit vor Ort durchgeführten Ermittlungen lassen sich nicht auf eine belanglose Vorbereitungsenquête reduzieren. Dasselbe parlamentarische Selbstbewusstsein zeigte sich auch bei anderen Gelegenheiten. Wie weit der parlamentarische Primat de facto anerkannt wurde, lässt sich daran ablesen, dass sich zivile wie militärische Stellen zur Kooperation verstanden. Neben diesen politischen Untersuchungen wurden in Immunitätssachen Kollegialenquêten, wenngleich lediglich im schriftlichen Verfahren, durchgeführt; daneben veranstaltete der Geschäftsordnungsausschuss in der Causa Soiron eine „echte“ Kollegial­ enquête. Komplettiert wird dieses Bild durch die Legitimationsprüfungen, die ebenfalls schriftlich durchgeführt wurden. 2. Methoden und Befugnisse Auch das zweite Merkmal eines „echten“ Enquête- und Untersuchungsrechts findet sich in Frankfurt wieder. Gemeint ist die Selbständigkeit und Unmittelbarkeit der parlamentarischen Information in dem Sinne, dass die Volksvertretung eigene Nachforschungen anstellen kann, ohne auf die Vermittlung von Regierungs 542

s. dazu 1. Teil C. s. nur die Enumeration der Enquête- und Untersuchungstypen bei M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 17; L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 1 Rn. 34 ff. 543

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oder anderen staatlichen Stellen angewiesen zu sein.544 In diesem Sinne unterschieden sich die Befugnisse der Ausschüsse in der Paulskirche aufgrund von § 24 GOFNV 1848 substantiell von den interpellationsartigen Auskunftsrechten der landständischen Kommissionen in den einzelstaatlichen Kammern, die, wie es § 91 StGG SWE 1816 missverständlich ausdrückte, „zur Anstellung von Untersuchungen“ niedergesetzt werden konnten. Die vermeintlich modernen „Untersuchungs“Befugnisse erschöpften sich tatsächlich in schwächlichen Rechten zu Nachfragen oder Ersuchen an die Ministerien oder besondere Landtagskommissionen sowie das Studium des ggf. von diesen monarchischen Stellen überlassenen Materials. Eigenständige Vernehmungen waren ebenso wie unmittelbare Requisitionen nachgeordneter Behörden oder der Gerichte mit dem „monarchischen Prinzip“ in­ kompatibel.545 Von diesen informationsrechtlichen Fesseln befreite sich die Frankfurter Nationalversammlung selbstbewusst durch ihr autonomes Recht. Vor allem der Volkswirtschaftliche Ausschuss entfaltete auf dieser Grundlage weit­reichende Enquêten zur Gesetzesvorbereitung unter Einbeziehung der interessierten Stände und Bevölkerungsschichten. Ohne Pflicht und Zwang,546 dazu wäre schon nach zeitgenössischer Auffassung ein Gesetz erforderlich gewesen,547 führte der Mainzer Ausschuss eine eigenständige politische Kontrolluntersuchung über die Rolle des Militärs, der Zivilbehörden sowie der Mainzer Bürgergarde und Bevölkerung durch, die diese Protagonisten in den blutigen Zwischenfällen in der rheinischen Bundesfestung gespielt hatten. Auch in den anderen Fällen wurden unmittelbare Auskünfte von Reichs-, Bundes- oder einzelstaatlichen Stellen eingeholt. Die parlamentarischen Ausschüsse verfügten also über eigenständige Selbstinformationsrechte. Was ihnen an Pflicht und Zwang fehlte, kompensierten sie mit der moralisch-politischen Autorität einer Volksvertretung. Bei anderen Gelegenheiten kooperierten Zeugen und Sachverständige aus der Gesellschaft, um ihren Anliegen in den parlamentarischen Beratungen Gehör zu verschaffen.548 Wurden Minister der Zentralgewalt in den Ausschussberatungen des Verfassungsoder des Volkswirtschaftlichen Ausschusses beteiligt, ähnelte dieses Vorgehen nur vordergründig früheren Tagen. Während in den Einzelstaaten Regierungsmitglieder und Landtagskommissare als landesherrliche Vertreter schon aufgrund des „monarchischen Prinzips“ jederzeit gehört werden mussten, stand es auf dem Boden der Revolution nunmehr im politischen Belieben der Nationalversammlungsausschüsse, sie zu empfangen oder abzuweisen. Grundlage ihrer Beteiligung war nicht das klassische Zutritts- und Rederecht, das u. a. aus dem monarchischen „Oberaufsichtsrecht“ abgeleitet wurde, sondern die Ermächtigung der Ausschüsse in § 24 GO-FNV 1848, 544

Vgl. 1. Teil C. s. 2. Teil 1. Kap. C. I. 1., 2. sowie III. 546 Ungenau J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 10, der von den „Zwangsmittel[n], wie sie allen Ausschüssen [der Paulskirchenversammlung] zustanden“, spricht. 547 Vgl. Friedrich Josef Zells entsprechende Äußerung im Verfassungsausschuss bei R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 603. 548 Darauf weist J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 29 f., 76 zu Recht hin. 545

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parlamentsfremde Dritte als „Zeugen“ oder „Sachverständige“ hinzuzuziehen oder unmittelbar „mit Behörden in Verbindung zu treten“. Soweit man sich auf Anfragen oder die Durchsicht von Akten beschränkte, beruhte diese Zurückhaltung nicht auf gewaltenteilungsrechtlichen Ressentiments oder dem „monarchischen Prinzip“, das jede nur entfernt nach Exekutive „riechende“ Maßnahme dem Landesherrn vorbehielt, sondern auf einem freiwilligen Verzicht der Nationalversammlung auf derartige Schritte. Die Vielfalt der auf § 24 GO-FNV 1848 gestützten Informationsmaßnahmen von der Anhörung der Minister der Zentral­gewalt über die Anforderung weiterer Auskünfte oder Unterlagen von Gerichten und Behörden in den Einzelstaaten bis hin zu schriftlichen oder mündlichen Enquêten oder Sachverständigenanhörungen unter Beteiligung privater Dritter, die leicht als uneinheitliches Chaos in der Anwendung dieser Vorschrift missverstanden werden könnte,549 spiegelt schlicht die Befugnisvielfalt wider, auf welche die Ausschüsse der Frankfurter Nationalversammlung aufgrund der Geschäftsordnung zurückgreifen konnten. Auch die Bundestagspraxis war nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland keineswegs einheitlich, sondern hat sich ständig fortentwickelt, ohne dass darin ein Makel der parlamentarischen Praxis gesehen werden könnte. 3. Revolutionäre Grundlagen des Selbstinformationsrechts Sucht man nach den Gründen, die diese kurz zuvor undenkbare Entwicklung ermöglicht haben, stößt man auf dieselben politischen Umwälzungen in der Märzrevolution, denen das Paulskirchenparlament sein Dasein überhaupt verdankte. Besonders deutlich wurde der Bruch mit Frühkonstitutionalismus und Vormärz in der Gesetzgebung, die der Nationalversammlung von der Initiative bis zum Beschluss allein zustand; der Reichsverweser verfügte als Interimsoberhaupt weder über ein Veto- noch ein Initiativrecht,550 so dass sich seine Rolle in der Verkündung erschöpfte (Art. 1 RVer­kündG 1848). Hatte aber die materielle Kompetenzausstattung der Frankfurter Nationalversammlung mit den beschränkten Mitwirkungsbefugnissen konstitutioneller Landstände nichts mehr gemein, war es nur konsequent, ihr auch die bislang dem monarchischen „Oberaufsichtsrecht“ zugeschlagene Befugnis, im Vorfeld der Gesetzgebung oder anderer Maßnahmen die erforderlichen Informationen zu beschaffen, zuzusprechen. Das erklärt auch die bemerkenswerte Tatsache, dass es für die Enquête- und Untersuchungstätigkeit der Ausschüsse keine förmliche Rechtsgrundlage jenseits des autonomen Geschäftsordnungsrechts gab; kein Gesetz, keine Verordnung und nicht einmal ein Bundes­beschluss gaben dem Frankfurter Reichsparlament ausdrücklich das Recht, in informationsrechtlicher Hinsicht über die Befugnisse der Landstände in den Einzel­staaten hinauszu­ 549

Vgl. in diesem Sinne J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 9. Vgl. den Bericht des Ausschusses für Gesetzgebung über den Gesetzes-Entwurf, betreffend die Bekanntmachung der Reichsgesetze und der Verfügungen der provisorischen Centralgewalt, bei Wigard, VerhFNV, S. 2249 f. sowie den Bericht S. 2468. 550

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gehen. Stattdessen stützten sich die Frankfurter Volksvertreter allein auf ihre demokratische Sendung und verankerten das revolutionäre Selbstinformationsrecht ausschließlich in der Geschäftsordnung, die sie autonom und ohne Mitwirkung anderer Stellen schufen. Diese ausschließliche Grundlegung in der Geschäftsordnung war ein weiterer Ausdruck des revolutionären Bruchs mit der Vergangenheit und erscheint, wie es Egon Zweig dem Selbstinformationsrecht 1913 allgemein attestierte, als „Gradmesser für Stärke und Lagerung der […] politischen Spannungsverhältnisse“ bzw. für den „Entwicklungsgang der parlamentarischen Macht“.551 Die Revolution führte also auch im Hinblick auf die „Informationshoheit“ zu einer gründlichen Umwälzung der Verhältnisse. Indem sich die Rechte der Provisorischen Zentralgewalt auf „Vorschläge“ zu neuen Gesetzen beschränkten, hatte sie im Vergleich mit den Einzelstaaten die Rollen mit der Volksvertretung vertauscht.552 Die Grundlage der nach dem Muster der trivialen Korollartheorie gewissermaßen akzessorischen Enquête- und Untersuchungstätigkeit in der Paulskirche waren also Revolution und politische Veränderung oder mit anderen Worten: der Glaube an Demokratie und Volkssouveränität. Dass es trotz der stürmischen Märztage und des ständigen Drängens der Linken zu keinem parlamentarischen Machtspruch oder einem Eingriff in die Exekutive kam, dürfte der gemäßigten Mehrheit zu verdanken sein. Ihr Selbstverständnis war parlamentarischer Natur und nicht auf eine revolutionäre Konventsherrschaft gerichtet. In diesem Sinne berichtete Max Duncker (Casino), dass man die konstitutionelle Staatsform „als die gebotene Forderung der Zeit, als die geschichtliche Nothwendigkeit [der…] Epoche, als die Vermittelung zwischen dem alten und dem neuen politischen System, als die Versöhnung zwischen dem Norden und dem Süden Deutschlands, als die Ausgleichung zwischen dem Absolutismus und der Freiheit“ angesehen habe.553 Der Einfluss, den die Mehrheit der Volksvertreter auf die Exekutive wünschte, beschränkte sich auf deren eigenständige parlamentarische Kontrolle.

C. Fazit Die Frankfurter Nationalversammlung trägt gleich doppelt zu der Entwicklung eines parlamentarischen Selbstinformations- und Kontrollinstruments bei. An erster Stelle wurde die „verunglückte erste deutsche Reichsversammlung“ (Robert v. Mohl)554 zum Schauplatz aller relevanten Grundtypen eines modernen parlamentarischen Selbstinformationsrechts. Was die Art und Weise ihrer Information an 551

E. Zweig, ZfP 1913, 265 (269). Vgl. die Äußerung von Reichsjustizminister R. v. Mohl bei Wigard, VerhFNV, S. 2198: „Der Gesetzentwurf, oder ich darf diesen Ausdruck nicht gebrauchen, […] der Vorschlag, welchen das Ministerium glaubt, […] vorlegen zu dürfen […]“. 553 M. Duncker, GeschFNV, 1849, S. 4 f. 554 R. v. Mohl, DtVjS 1850/2, 1 (62). 552

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belangt, erscheint die Tätigkeit der Ausschüsse in der Retrospektive  – selbst an den heutigen Möglichkeiten des Deutschen Bundestags gemessen  – keineswegs antiquiert oder gar belanglos. Sieht man einmal von dem Fehlen von Pflicht und Zwang ab, griffen sie cum grano salis auf bis heute gebräuchliche Methoden und Instrumente zurück.555 Darüber hinaus legt es die Tatsache, dass die Väter des Frankfurter Reichsverfassungswerks selbst vor hochpolitischen Untersuchungen nicht zurückschreckten, nahe, dass § 99 RVerf 1849 dem künftigen Reichstag über Enquêten hinaus als Kontrollrecht gedient haben würde.556 Diese wahrscheinliche These lässt sich aber auch mit Hilfe der berichteten „Präzedenzfälle“ nicht als unanfechtbare Wahrheit verkünden.  – Gleichwohl dürfte § 99 RVerf  1849 den Anforderungen an ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht gerecht geworden sein.557 Was den Kreis der zulässigen Enquête- und Untersuchungsthemen betrifft, liefert die Enumeration der Rechte jedes Hauses des künftigen Reichstags erste Hinweise. Gemessen daran ist diese Vorschrift beinahe ebenso offen wie § 24 GOFNV 1848. Indem die Reichsverfassung die Legislative Kaiser und Volksvertretung gemeinsam zusprach, dürfte § 99 RVerf 1849 gesetzesvorbereitende Enquêten auch weiterhin von einer vorherigen Initiative unabhängig ermöglicht haben. Dass dieser Verfassungsparagraph auch zur parlamentarischen Regierungs- und Verwaltungskontrolle bestimmt war, legt die Reihung des Rechts zur „Erhebung von Tatsachen“ mit der Beschwerde und der Ministeranklage nahe. Das seinerseits sachlich unbeschränkte Adressrecht hätte den Kreis der potentiellen Untersuchungsthemen auf nahezu jedes politische Feld erstreckt. Ebenso hätten beide Häuser des Reichstages voraussichtlich bei ihren Legitimationsprüfungen, Immunitätsentscheidungen oder für die parlamentarische Disziplinargewalt gemäß §§ 112, 114, 117 RVerf 1849 potentiell von dem Recht zur „Erhebung von Thatsachen“ profitiert, obwohl dieser Topos in der Aufzählung des § 99 RVerf 1849 nicht auftaucht. Schließlich handelt es sich bei dieser nicht um eine abschließende Definition der Bereiche, auf die sich das „Recht […] der Erhebung von Thatsachen“ erstreckte, sondern um eine weitgehend vor die Klammer gezogene Enumeration selbständiger parlamentarischer Befugnisse. Das insoweit abstrakte und den übrigen Befugnissen dienende Selbstinformationsrecht dürfte deswegen im Sinne der Korollartheorie sämtliche materiellen Parlamentskompetenzen flankiert haben. Auch das zweite Merkmal eines „echten“ Enquête- und Untersuchungsrechts, die parlamentarische Selbständigkeit und Unmittelbarkeit seiner Ausübung, dürfte § 99 RVerf 1849 erfüllen. Daran ändern auch die Wortlautdifferenzen zwischen Reglement und Verfassung nichts: Obwohl der Verfassungstext anders als § 24 GOFNV 1848 keine ausdrücklichen Befugnisse anspricht, war die lakonische Formulierung („Erhebung von Thatsachen“) zu der parlamentarisch unwidersprochenen Überzeugung des Präsidenten Eduard Simson nichts anderes als ein „Aequivalent“ 555

Zu den heutigen Beweismitteln s. L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 15 Rn. 3 ff. 556 s. W. Steffani, in: Kluxen (Hg.), Parlamentarismus5 1980, S. 249 (255) und 3. Teil 1. Kap. A. V. 557 s. 1. Teil C.

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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des Rechts, „Zeugen und Sachverständige vorzufordern, zu vernehmen und vernehmen zu lassen“.558 § 99 RVerf 1849 zäumte das Pferd also gleichsam von hinten auf, hob den Sinn und Zweck einer parlamentarischen Untersuchung hervor, statt wie die Geschäftsordnung die Ausschussbefugnisse in den Vordergrund zu rücken. Ob das Selbstinformationsrecht der Reichsverfassung sich aber auch als gleich wirksam wie sein revolutionärer Vorgänger erwiesen hätte, bleibt zwangsläufig Spekulation. Insoweit unterliegt es jedenfalls gravierenden Zweifeln, dass sich die extensive Frankfurter Praxis hätte fortsetzen lassen. Das gilt in erster Linie für den militärischen Bereich. Schließlich sprach § 83 RVerf  1849 die „Verfügung über die bewaffnete Macht“ ausschließlich dem Kaiser zu. Ob es dem Reichstag gelungen wäre, eine parlamentsfreundliche Auslegung der Regeln über Gegenzeichnung und Ministerverantwortlichkeit (§§ 73, 74 RVerf 1849) durchzusetzen oder ob er wie das preußische Abgeordnetenhaus im Verfassungskonflikt bzw. wie die kurhessische Ständeversammlung an der militärischen Klippe spektakulär Schiffbruch erlitten hätte, bleibt wegen des Scheitern der Reichsverfassung offen.

2. Kapitel

Die preußische Vereinbarungsversammlung Das erste Revolutionsjahr bescherte der Geschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts ebenfalls aus Preußen einen Verfassungsentwurf, eine Enquête, verschiedene Untersuchungsforderungen sowie den bis heute anscheinend übersehenen Paukenschlag einer „echten“ politischen Kontrollenquête, bei der sich die Volksvertreter an strafprozessualen Vorgehensweisen orientierten.

A. Prolog: Die Entwicklung von 1815 bis 1848 Bis 1848 spielte die Hohenzollernmonarchie einem Verfassungsversprechen Friedrich Wilhelms III. vom 22. Mai 1815559 zuwider in der Liga der konstitutionellen Staaten keine Rolle.560 In den 1820er Jahren gewährte der König statt einer 558

Wigard, VerhFNV, S. 5785. PrGS. S. 103. Abdruck auch bei K. H. L. Pölitz/F. Bülau, DtVerf I, 1847, S. 55. 560 Zur preußischen Entwicklung s. I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (110 ff.); F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 248 ff.; E. W. Ackermann, G. v. Vincke, 1914, S. 11 ff. oder aus zeitgenös­ sischer Sicht H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S.  565 ff. oder H.  Schulze, PrStaatsR I2 1888, S. 98 ff. Zu früheren konstitutionellen Ideen seit den Reformministern Stein und Hardenberg und der Verordnung vom 22. Mai 1815 vgl. G. Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 3 ff., 9 ff. sowie J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 427 f. in Anm. a) und b) zu weiteren Verfassungs- bzw. Repräsentationsversprechen und der Errichtung von Provinzialständen. 559

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Landesvertretung beratende Provinzialstände.561 Diese hatten „sich […] wegen jeder Auskunft, oder wegen der Materialien, deren sie für ihre Geschäfte“ bedurften, als „Mittelperson aller Verhandlungen“ an einen königlichen Kommissarius zu wenden.562 Der 1847 durch Friedrich Wilhelm IV. am Vorabend der Märzrevolution einberufene Vereinigte Landtag verdankte seine Existenz nicht früheren Verfassungsversprechen oder Art.  13 DBA  1815, sondern der Verordnung über das Staatsschuldenwesen von 1820,563 die die „Aufnahme eines neuen Darlehns“ von der Mitwirkung einer „reichsständischen Versammlung“ abhängig machte.564 Nach altbekanntem Muster gewährte § 22 VLT­Bild­VO  1847 den Ministern und­ anderen königlichen Kommissaren das Recht, „[b]ei allen Berathungen des Vereinigten Landtages oder einzelner Stände oder Provinzen desselben […] gegenwärtig [zu] sein, und, so oft sie es nöthig [fanden…], das Wort [zu] verlangen“. Dagegen war dem Landtag jede unmittelbare „Geschäftsverbindung“ mit den „Kreisständen, Gemeinden und anderen Körperschaften, sowie mit den in ihm vertretenen Ständen und einzelnen Personen“ ausdrücklich untersagt (§ 19 VLT­ Bild­VO  1847). Außerdem gab sein Reglement565 den königlichen Kommissaren das Recht, an den Vorberatungen in den durch den „Marschall der Herrenkurie im­ Einvernehmen mit dem Marschall der Kurie der drei Stände“ ernannten Abteilungen teilzunehmen, „um, wo sie es nöthig [fanden…], Aufklärung zu geben und Mißverständnisse zu berichtigen“. Selbstinformationsrechte standen weder den beratenden Provinzialständen noch dem Vereinigten Landtag zu. Bei der Eröffnung des Vereinigten Landtags machte Friedrich Wilhelm IV. sei­ ner generellen Abneigung gegen eine geschriebene Verfassung Luft, indem er feier­ lich gelobte, dass sich niemals „zwischen […] Gott im Himmel und [sein…] Land ein beschriebenes Blatt, gleichsam als eine zweite Vorsehung eindränge[n solle], um […] mit seinen Paragraphen zu regieren und durch sie die alte, heilige Treue zu ersetzen“.566 Nachdem in Wien Clemens Fürst v. Metternich, der Architekt der 561

Dazu F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 250; L. v. Rönne, PrStaatsR I/12 1864, S. 22 f.; ders., PrStaatsR I/22 1864, S. 230 ff.; G. Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 17 ff. sowie das Gesetz wegen Anordnung der Provinzialstände vom 5. Juni 1823 (PrGS. S. 129) und die folgenden Gesetze für die einzelnen Provinzen. 562 s. § 35 des Gesetzes wegen Anordnung der Provinzial-Stände für die Mark Brandenburg und das Markgrafthum Niederlausitz vom 1. Juli 1823 sowie die vergleichbaren Vorschriften für die übrigen Provinziallandtage bei C. W. Lancizolle, Rechtsquellen, 1847, S. 11 ff. 563 Verordnung wegen der künftigen Behandlung des gesammten Staatsschulden-Wesens vom 17. Januar 1820 (PrGS. S. 9). Dazu G. Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 15 f. sowie H. A. Zacha­ riä, StaatsR I2 1853, S.  566 ff. Hinter dieser Verordnung blieb das Einberufungspatent vom Februar 1847 dadurch zurück, dass der Vereinigte Landtag einmalig einberufen wurde, statt­ periodisch zusammenzutreten. Vgl. F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 252. 564 Dazu E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S.  492 ff.; L. v. Rönne, PrStaatsR I/12 1864, S. 26 ff.; G. Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 23 ff. 565 Abdruck des Reglements über den Geschäftsgang bei dem Vereinigten Landtage bei A. T. Woeniger, PrRT I, 1847, S. 69. 566 s. die Thronrede zur Eröffnung des ersten Vereinigten Landtags am 11. April 1847 bei A. T. Woeniger, PrRT I, 1847, S. 59. Wiedergabe auch bei G. Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 28.

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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restaurativen Bundesverfassung, gestürzt worden war, erkannte auch Friedrich­ Wilhelm IV. im brodelnden Berlin die Unausweichlichkeit einer Verfassung.567 Als der König den Schlossplatz, auf dem sich eine friedliche Menschenmenge eingefunden hatte, um ihm für seine konstitutionellen Versprechen zu danken, am 18. März 1848 durch Soldaten räumen ließ, kam es zur Katastrophe: Aus den Reihen einer Infanteriekompanie fielen zwei verhängnisvolle Schüsse, worauf sich mit den Worten des Berliner Revolutions-Chronisten Adolf Wolff der „Jubel der auf dem Schloßplatze versammelten Menge – des Kernes der bürgerlichen Bevölkerung Berlins  – […] in Rachegeschrei“ verwandelte. „Die als Unterthanen auf den Schloßplatz gekommen waren, verließen als Menschen, voll Leidenschaft und Rachegedanken, den Platz. Jene Attaque des Militärs hatte die Katastrophe herbeigeführt. Die Krisis war gelös’t, die Revolution beginnt“!568 – Mit einem Appell an seine „lieben Berliner“ gelang es dem König, den blutigen Barrikaden­aufstand zu beenden. Als „Pfand der treuen Gesinnung“ kündigte der Monarch eine erneute Einberufung des Vereinigten Landtags an, um das Wahlgesetz für eine Nationalversammlung vorzubereiten. Mit dem Truppenabzug aus der Hauptstadt und der Verneigung Friedrich Wilhelm IV. vor den Gefallenen der Revolution schien deren Sieg besiegelt.569 Auf das 10-tägige Interregnum des ersten preußischen Ministerpräsidenten Adolf Heinrich Graf v. Arnim-Boitzenburg folgte am 28. März 1848 eine Regierung mit den Oppositionsführern des ersten Vereinigten Landtags Ludolf Camphausen und David Hansemann an ihrer Spitze. Dieses „Märzministerium“ bekannte sich, zum Zeichen, dass das konstitutionelle Zeitalter wahrhaft angebrochen wäre, ausdrücklich zu seiner Verantwortung gegenüber der Nationalversammlung – belastbare staatsrechtliche Folgen hatte dieser ebenso symbolträchtige wie populäre Akt nicht.570

Zu oppositionellen Reaktionen s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 495 f. sowie S. 486 f. zur Aversion Friedrich Wilhelms IV. gegen eine geschriebene Verfassung. 567 s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 573 ff.; M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 3 sowie G. Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 28 ff. 568 A. Wolff, Revolutions-Chronik I, 1851, S. 129 f. 569 Was diese Gesten für Konservative und Militärs bedeuteten, gibt ein Zeitungsbericht wieder: „Der 18. März hat mit einem Schlage das vernichtet, was der Soldat bisher als seine höchste Pflicht, was er als eine Auszeichnung seines Standes ansah, – der Schutz des Königs ist nicht mehr Soldaten, nein er ist Bürgern anvertraut. Die glänzende Stellung des preußischen Offiziers und der Armee überhaupt ist vernichtet und kehrt nimmer wieder.“ (Zitiert nach der Frankfurter Oberpostamts-Zeitung, No. 92, vom 1. April 1848). s. zum Ganzen E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 572 ff.; M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 3 ff. sowie aus zeitgenössischer Sicht A. Stahr, Pr. Revolution I/12 1851, S.  201 ff. oder A. Wolff, Revolutions-­ Chronik I, 1851, S. 108 ff. mit Abdruck des Patents wegen beschleunigter Einberufung des Vereinigten Landtages sowie des Gesetzes über die Presse (S. 110 ff.). 570 Zum Ganzen sowie zu Camphausen und Hansemann vgl. F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S. 251 oder E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 394 f., 494, 576 ff., 579 f. Krit. C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 11 f., 14 f.

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

B. Die Entstehung der preußischen Vereinbarungsversammlung Nach Beratung durch den zweiten Vereinigten Landtag verordnete der König das Wahlgesetz für die Versammlung zur Vereinbarung der Preußischen Staatsverfassung,571 die mit dem Monarchen gemeinsam genau den „papiernen Wisch“ schaffen sollte, gegen den er sich vor nicht einem Jahr auf ewig verwahrt hatte.572 Von Rechts wegen war die künftige Nationalversammlung weder eine Konstituante noch ein mit exekutiven Befugnissen ausgestatteter Konvent. Stattdessen übertrug ihr das oktroyierte Wahlgesetz vom 8. April 1848 die „Vereinbarung der preußischen Staatsverfassung“ mit dem Monarchen, gestand ihr zugleich aber auch die „interimistisch[e]“ Ausübung der „seitherigen reichsständischen Befugnisse namentlich in Bezug auf die Bewilligung von Steuern und Staatsanleihen“ zu.573 Ihre Legitimation bezog die Vereinbarungsversammlung aus staatsrechtlicher Sicht nicht aus der revolutionären Volkserhebung, sondern konnte sie – ganz nach altem Muster – lediglich von der königlichen Macht ableiten. In diesem Sinne betonte Ministerpräsident Camphausen im Plenum, dass „[k]eineswegs […] durch diese Begebenheit [scil. die Revolution!] eine vollständige Umwälzung eingetreten“ wäre. So sei es für das Ministerium eine „Frage seiner Existenz“, „daß aus der bestehenden Verfassung heraus mit den gesetzlichen Mitteln […] in die neue Verfassung übergegangen werde, ohne das Band abzuschneiden, welches das Alte an das Neue“ knüpfe.574 Unwissend spielte der rheinische Liberale mit dieser Äußerung dem „Staatsstreich“ vom 5. Dezember 1848 zu, in dem es der hochgehaltene Fortbestand der alten Ordnung dem König ermöglichen sollte, die durch ihn gewährte Nationalversammlung aufzulösen sowie einseitig und ohne parlamentarische Mitwirkung eine Verfassung zu geben.575 Schon Ende 1848 wurde damit – Otto v. Bismarcks Vorgehen im Verfassungskonflikt vergleichbar  – eine vermeintliche staatsrechtliche „Lücke“ im Sinne des „monarchischen Prinzips“ mit einem königlichen Notrecht ausgefüllt.576 571

Zur Vorgeschichte des Wahlgesetzes, insbesondere der Frage des Ein- oder Zweikammersystems s. F. Frahm, ForschBbgPrGesch 41 (1928), 248 (254 f.). 572 Vgl. L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 358 und zu der despektierlichen Bezeichnung als „Wisch“ E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 487. 573 „§. 13. Die auf Grund des gegenwärtigen Gesetzes zusammentretende Versammlung ist dazu berufen, die künftige Staatsverfassung durch Vereinbarung mit der Krone festzustellen und die seitherigen reichsständischen Befugnisse namentlich in Bezug auf die Bewilligung von Steuern und Staatsanleihen für die Dauer ihrer Versammlung interimistisch auszuüben.“ 574 VerhPrNV I, S. 52 (Hervorhebung nur hier). Zuvor hatte sich der Ministerpräsident auf dem Vereinigten Landtag vergleichbar geäußert. s.  den Abdruck der Rede bei A. Streckfuß, Preußen I2 1848, S. 160 ff. sowie zur Bedeutung als Distanzierung von der Revolution I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (249). Zur Kritik der Linken an dieser Reduzierung der Revolution auf eine „Begebenheit von hoher Bedeutung“ bzw. zum Wahlgesetz als Grundlage der­ Versammlung s. C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 6 f., 24 ff. 575 Dazu C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 8 ff. 576 Zum Scheitern der Vereinbarungsversammlung s. 3. Teil 2. Kap. C. III.

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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Im Mai 1848 fanden aufgrund des „fast rein demokratischen“577 Wahlgesetzes verhältnismäßig freie578 Wahlen statt, deren Ausgang sich deutlich von den Ergebnissen für die Frankfurter Nationalversammlung unterschied.579 Unter den rund 400 Abgeordneten der Vereinbarungsversammlung befanden sich 46 Bauern, ja selbst Taglöhner, 39 Gewerbetreibende, 18 Handwerker und 21 Lehrer.580 Verwaltungs- und Justizbeamte waren mit über 40 v. H. unverhältnismäßig stark repräsentiert; diese Personengruppe war zu einem nicht unerheblichen Teil  moderat op­positionell oder befürwortete wenigstens eine konstitutionelle Monarchie.581 Trotzdem hängt der preußischen Vereinbarungsversammlung das Urteil an, dass sie „wesentlich radikaler“ als ihr Frankfurter Pendant gewesen wäre.582 Hermann Wagener, ein sozialkonservativer Politiker und langjähriger politischer Weg­gefährte Bismarcks, resümierte 1883, dass in der Frankfurter Versammlung „mehr Intel­ ligenz, aber freilich auch mehr Doctrinarismus vertreten“ gewesen sei, während in der preußischen Vereinbarungsversammlung die „mit dem französischen Constitutionalismus kokettirende preussische Bureaukratie“ den größeren Einfluss besessen habe.583 Als Ursache, die „wüste Leidenschaften im Volke in Bewegung“ gesetzt, ja „Demagogie der verderblichsten Art“ hervorgerufen habe, verurteilte der Hallenser Staatswissenschaftler Johann Friedrich Gottfried Eiselen schon 1862 das „an keine Grenzen, an keinen Gliederbau in der Gesellschaft geknüpft[e]“ Wahlrecht.584 Anders als diese zeitgenössischen Äußerungen erwarten lassen, deuten die Beschlüsse der Vereinbarungsversammlung anfangs auf eine zurückhaltend gouvernementale Mehrheit hin: So wurde nicht der Demokrat Benedikt Waldeck, sondern der spätere Handelsminister und rechte Zentrumspolitiker Karl August Milde zum Präsidenten gewählt.585 Kurz darauf bewies die Mehrheit gegenüber dem libe­ralen Ministerium Camphausen-Hansemann bemerkenswertes Taktgefühl, indem sie den unpopulären Verfassungsentwurf nicht in Bausch und Bogen verwarf, sondern 577

H. v. Gerlach, Wahlrecht, 1908, S. 7 mit Teilabdruck des Gesetzes. Dazu H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 31; P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S.  48. Dage­gen berichtet der Linke A. Streckfuß, Preußen II, 1848, S. 36, dass die „Wahlprotokolle […] zum Theil die furchtbarsten Eigenmächtigkeiten der Wahlkommissarien [ergeben], zum Theil […] auch einen unverantwortlichen Leichtsinn oder auf die schmählichsten Wahlumtriebe derselben [hätten] schließen“ lassen. Zu den Wahlprüfungen s. 3. Teil 2. Kap. D. II. 1. 579 Dazu H. Lutz, Habsburg und Preußen, 1998, S. 257 ff.; M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 3 ff.; F. Ebel, Wisch, 1998, S. 9; G. Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 34 ff. Zur Zusammensetzung der Versammlung aus zeitgenössischer Sicht P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 60 f. 580 I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (254). Detailliertere Angaben bei M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 516, 517. 581 Insbesondere zum politischen Standort der Richterschaft nach 1815, ihrem Verhalten in der Revolution und Richtern als Parlamentariern s. C. v. Hodenberg, Partei, 1996, S. 265 ff., 288 ff., 304 ff. und T. Ormond, Richterwürde, 1994, S. 15 ff. bis 1866. 582 s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 584 f. oder I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (254). 583 H. Wagener, Friedrich Wilhelm IV., 1883, S. 56. 584 J. F. G. Eiselen, Pr. Staat, 1862, S. 301. 585 s. dazu A. Streckfuß, Preußen II, 1848, S. 37. 578

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

in eine Kommission verwies.586 Ein weiteres politisches Signal war es, als der Versuch des Radikalen Julius Berends’, die Versammlung nach einer provokanten587 Ansprache des Prinzen v. Preußen auf ein revolutionäres Fundament zu stellen, am 9. Juni 1848 in einer hitzigen Abstimmung scheiterte.588 Die Mehrheit von 196 zu 177 Stimmen würdigte zwar „das Verdienst der Kämpfer“ und die „hohe Bedeutung der großen März-Ereignisse, denen [man…] in Verbindung mit der Königlichen Zustimmung [!] den gegenwärtigen staatsrechtlichen Zustand“ verdanke, weigerte sich aber, antragsgemäß allein der Revolution Anerkennung zu zollen.589 Damit scheiterte ein erster Stimmungstest der radikalen Linken, die – wie auch in Frankfurt – später noch versuchen sollte, „die Versammlung zum allmächtigen Konvent aufzuspielen“ (Hans Blum).590 Auf diese zurückhaltende parlamentarische Entscheidung, mit der möglicherweise eine erste Auflösungsgefahr gebannt wurde,591 folgten Tumulte und Unruhen bis hin zu Beschimpfung und Tätlichkeiten gegen Abgeordnete und den Außenminister v. Arnim-Suckow.592 Selbst am 16. Oktober 1848 – also knapp einen Monat vor der fatalen Verta­gung und Verlegung der vermeintlich radikalen Versammlung nach Brandenburg an der Havel – votierte die Mehrheit in der Gretchenfrage parlamentarische Ausarbeitung und Fest­stellung der Verfassung vs. Vereinbarung immer noch im regierungsfreund­ lichen letzteren Sinne.593 Angesichts dieser moderaten Entscheidungen liegt Peter 586

Vgl. W. Siemann, Revolution, 1985, S. 142. K. Herdepe, PrVerf, 2003, S. 219. 588 Dazu W. Oncken, Wilhelm I, 1890, S. 274 f.; L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 363 f.: „Der eigentliche Hauptzweck […] ging dahin, durch diesen feierlichen Ausspruch die Revolution zum alleinigen Rechtsboden für die Neugestaltung des Staats zu erklären, und alsdann die nur zur ‚Vereinbarung‘ der Verfassung berufene Nationalversammlung, gleich der Paulskirche, zu einer einseitig ‚konstituierenden‘ umzugestalten.“ Aus heutiger Sicht R. Hachtmann, Berlin, 1997, S. 561 f. 589 s. zu Antrag und Amendement VerhPrNV I, S. 156, 164 ff., 169 ff. Bei der ersten Beratung hatte Finanzminister David Hansemann immerhin noch eine Vertagung erreichen können, damit „der Ausdruck so [gewählt werden könne…], daß die Basis der Regierung […] möglich bleibe“. s. VerhPrNV I, S. 160. Zum Ganzen A. Streckfuß, Preußen II, 1848, S. 89 ff.; H. Blum, Revolution, 1898, S. 343 sowie E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 725 f. 590 H. Blum, Revolution, 1898, S.  342. Ähnl. L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S.  363 f. und R. Hachtmann, Berlin, 1997, S. 561 f. 591 Friedrich Wilhelm IV. hatte gegenüber L. Camphausen angekündigt, „die sofortige Auflö­ sung (oder Verlegung) der Versammlung“ vorzunehmen, sollte der „Antrag per majora durch­ [gehen]“. Zitiert nach R. Hachtmann, Berlin, 1997, S.  566. s.  ferner U. A. v. Gerlach (Hg.), Denkwürdigkeiten I, 1891, S. 168 f. Auch in der Regierung wurde der Antrag Berends mit Sorge diskutiert. Dazu D. Blasius, Friedrich Wilhelm IV., 1992, S. 138. 592 Ausführlich A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S.  167 ff. s.  auch L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S.  364; I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S.  3 (255, 260). s.  zu diesem­ Zwischenfall auch 3. Teil 2. Kap. D. III. 593 Vgl. mit Kritik der Linken C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 25 ff. sowie das Propositions­ dekret für das Wahlgesetz vom 2. April 1848 (Abdruck bei A. Streckfuß, Preußen I2 1848, S. 162 ff.): „Um die Unserem getreuen Volke auf der breitesten Grundlage verheißene constitutionelle Verfassung in das Leben zu rufen, ist die Vereinbarung ihres Inhalts mit einer beschlußfähigen Versammlung freigewählter Volksvertreter erforderlich.“ 587

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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Reichenspergers Vermutung nahe, dass der „Geist der Mäßigung“ in den Wahlen den Sieg davongetragen hatte.594 Zur Radikalisierung der Nationalversammlung kam es erst in späteren Phasen, vor allem, als die Vereinigung der verschiedenen linken Gruppierungen glückte.595 Erste Erfolge konnte das neue Bündnis nach einem Blutbad in der südwestlich von Breslau gelegenen Festungsstadt Schweidnitz verbuchen: Über die Weigerung, die durch den Zwischenfall kompromittierte Armee  – also das Unterpfand monarchischer Macht – ausdrücklich auf die Märzerrungenschaften zu verpflichten, strauchelte das Ministerium Auerswald-Hansemann.596 Die eigentliche Basis des verbreiteten Radikalitätsverdikts dürfte der verzweifelte „Steuerverweigerungsbeschluss“ vom 15. November 1848 sein, den 227 Abgeordnete der eigentlich vertagten und nach Brandenburg verlegten Nationalversammlung in einem Berliner Gasthaus fassten.597 Alles in allem trifft das Urteil des Abgeordneten der Ersten Kammer Ferdinand Fischer zu, dass die „Nationalversammlung […] anfänglich­ liberal [gewesen sei…] und sich erst später zur Demokratie hin[geneigt]“ habe.598

C. Das Enquête- und Untersuchungsrecht der „Charte Waldeck“599 Rund drei Wochen nach ihrer Wahl wurde die preußische Vereinbarungsversammlung am 22. Mai 1848 – es war der 33. Jahrestag des Verfassungsversprechens von 1815 – im Weißen Saal des königlichen Schlosses eröffnet. Diese Loka­ lität, Tagungsort beider Vereinigter Landtage, symbolisierte wie das Wahlgesetz den Willen zur staatsrechtlichen Kontinuität – und bot damit ersten Anlass für Un 594 „Nur eine kleine Minderheit der Gewählten [habe…] der extremen Partei [angehört…], während die Mehrheit nach Beseitigung der reaktionären Elemente […] die konstitutionellen Anschauungen der Gegenwart [repräsentiert…] und die politische Zukunft des Staates und Reiches [habe] auf dem Fundamente fester monarchischer Ordnung […] begründen“ wollen (P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 53). Ebenso urteilte H. Blum, Revolution, 1898, S. 342 noch 50 Jahre später, dass unter den 370 Abgeordneten nur 30 bis 40 äußerste Linke gewesen seien. 595 Vgl. C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 7, 20 ff. Zur Radikalisierung der Versammlung s. auch H. Wegge, Öffentlichkeit, 1932, S. 20 ff. 596 Zu dieser politischen Facette der Schweidnitzer Angelegenheit s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 5. 597 Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 755 f. sowie I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (270 ff.) und zum Anteil des Militärs am Scheitern dieser Politik S. Müller, Soldaten, 1999, S. 85 f. 598 F. Fischer, Preußen, 1876, S. 263. 599 Diese bis heute gängige Bezeichnung geht auf die Person des Ausschussvorsitzenden ­zurück, obgleich er wohl keinen derart bestimmenden Einfluss hatte. s. M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S.  8 f. oder G. Anschütz, PrVerf  1850 I, 1912, S.  41 und I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (255 f.), die beide P. Reichenspergers Rolle hervorheben. Anscheinend bezeichnete zuerst die „äußerste Rechte“ die oktroyierte Verfassung abfällig als „Charte Waldeck“. Vgl. L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 497.

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

stimmigkeiten, weil sich die Volksvertreter nicht auf eigenem oder wenigstens neutralem Terrain versammeln, sondern mit Hans Viktor v. Unruhs Worten „zum Könige nach dessen Wohnung“ gehen sollten.600

I. Der Regierungsentwurf vom 20. Mai 1848 In der Eröffnungssitzung wurde dem Alterspräsidenten Theodor v. Schön der Verfassungsentwurf der Regierung Camphausen überreicht.601 Diesem auf den 20. Mai 1848 datierten Dokument war ein vor dem 15. Mai ausgearbeiteter „Urentwurf“ vorausgegangen.602 Obgleich beide Fassungen – insbesondere mit Ausnahme der Volkssouveränität als Staatsgrundlage603 – die Nähe der belgischen Verfassung von 1831 suchten,604 verweigerten sie sich diesem Vorbild u. a. auch in der Frage eines Enquête- und Untersuchungsrechts.605 Stattdessen sahen der Ur- und der Regierungsentwurf das Zutritts- und Rederecht der Regierungsmitglieder vor, dem aber ein Zitierrecht der Kammern entsprechen sollte. Den Ministern sollte es im Übrigen freistehen, „zu ihrer Vertretung oder Assistenz andere Staatsbeamte in die Kammersitzungen abzuordnen“ (§§ 33, 34 bzw. 34, 35). Die Entwürfe bauten also auf die im Vormärz erprobten Fremdinformationsinstrumente. Immerhin sollte die Regierung verpflichtet sein, den Kammern auf Beschwerden über die Verwaltung Auskunft zu erteilen (§ 55). Dieses unscheinbare Petitions- und Auskunftsrecht, das nicht ganz zu Recht teilweise als Interpellationsrecht interpretiert

600 s. dazu H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 31 f., der für den Weißen Saal eintrat, „in dem der Landtag verhandelt hatte, in dem das Wahlgesetz berathen war“. Freilich ist P. Reichenspergers, Erlebnisse, 1882, S. 55, Einwand, dass man die Wahl einer anderen Lokalität als „beabsichtigte Zurücksetzung der aus den Urwahlen hervorgegangenen Volksvertretung“ verstanden haben könnte, kaum von der Hand weisen. Ausführlich A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 3 ff., 11 f. und passim zu den Vorbereitungen der Eröffnungssitzung und dem „Streit um den Weißen Saal“ sowie M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S.  442, der den Streit in der Nationalversammlung als Geburtsstunde der parlamentarischen Linken bewertet. Laut U. A. v. Gerlach (Hg.), Denkwürdigkeiten I, 1891, S. 160 war der König nicht bereit, nachzu­ geben und die Vereinbarungsversammlung in ihrem Tagungslokal zu eröffnen. 601 VerhPrNV I, S.  1 ff. Abdruck des Entwurfs bei M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 77 ff. oder K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 1 ff. Eine detaillierte Zusammenfassung gibt A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 14 ff. s. sonst zu Entstehung und Inhalt F. Frahm, ForschBbgPrGesch 41 (1928), 248 (255 ff.). 602 s. dazu M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 4 ff. sowie den Abdruck S. 38 ff.; G. Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 36. 603 Vgl. A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 471. 604 G. Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 36 f.; F. Frahm, ForschBbgPrGesch 41 (1928), 248 (255); F. Hartung, DtVerfGesch8 1964, S.  253 f.; M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 535; E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 729. s. ferner R. Smend, PrVerf 1850, 1904 zu Übereinstimmungen der revidierten Verfassung mit der belgischen Konstitution. M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S.  6 f. rückt dagegen „nach Aufbau und Inhalt erheblich mehr den­ Vorbildcharakter der französischen Charten von 1814 und 1830“ in den Vordergrund. 605 Vgl. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (284); W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 49.

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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wird,606 war bereits ein erhebliches Zugeständnis an das Parlament. Schließlich ermöglichte es den Kammern nach verbreiteter Auffassung Kontrolle und Kritik des Gouvernements; noch 20 Jahre später gab ihm der Norddeutsche Reichstag gegenüber dem parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrecht den Vorzug.607 Zu guter Letzt sollte die Zweite Kammer eine Ministeranklage erheben können (§ 32 bzw. § 33), über die „als Gerichtshof“ die Erste Kammer entscheiden sollte. David Hansemanns Vorschlag, den obersten Gerichtshof mit dem Urteil zu betrauen,608 blieb ebenso ungehört wie der königliche Wunsch, die „erste Curie“ bei diesem Amt „durch richterliches Personal“ zu verstärken.609 Überhaupt klagte Friedrich Wilhelm  IV. den Denkwürdigkeiten seines Generaladjutanten Leopold v. Gerlach zufolge, dass „die Minister […] allen seinen Abänderungen des Verfassungs-Entwurfs widersprochen [hätten]; den vorliegenden wolle er nicht unterschreiben“.610 Dieser Regierungsentwurf, den Adolf Wolff für ein „unverarbeitete[s] Gemisch belgisch-französisch-englischer Verfassungs-Paragraphen“ hielt,611 stieß, obwohl er sich offenkundig an ausländische Vorbilder anlehnte und auch verschiedene Märzforderungen erfüllte, auch in der Presse auf breiteste Ablehnung.612 Die links stehende „Zeitungshalle“ urteilte: „Nichts für das Volk, Alles für die Privilegien – dieses eine Wort ist der Schlüssel zu diesem ganzen Verfassungs-Entwurfe“. Kaum schmeichelhafter räsonierte die „Nationalzeitung“, dass von der „Vereitelung der Versprechungen an, welche die Cabinetsordre des 22.  Mai 1815 [enthalten habe…], bis zur Eröffnung des Vereinigten Landtages […] und endlich noch[, …] wie […] der traurige Verfassungs-Entwurf zu […] Schmerze, wenn nicht zu […] Indignation [zeige,  …] derselbe historische Geist [wirke], welcher, eingeweiht in die Geheimnisse des Mittelalters und ganz verschlossen den Strömungen des Volksgeistes der Gegenwart, siegen oder untergehen“ werde. Die „Reform“ sprach gar von einer Volk und Zeitgeist verhöhnenden „Schmach“. Selbst die gemäßigte „Vossische Zeitung“ sparte nicht an Tadel.613 606

So W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 49. s. 6. Teil 2. Kap. A. I. 608 Vgl. M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 69. 609 Abdruck bei M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 55 und dazu S. Böhr, PrNV, 1992, S. 14 f. 610 U. A. v. Gerlach (Hg.), Denkwürdigkeiten I, 1891, S. 160. Zum Widerstreben Friedrich Wilhelms IV. auch M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 536 f. 611 A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 20. 612 Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S.  729 f. sowie ferner S.  586 und 554 und L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S.  359; A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S.  476. s.  die­ Kritik des Linken C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 24: Die „Vorlage […] fand sofort eine so entschiedene Mißbilligung im Volke, daß sie als völlig unbrauchbar bezeichnet werden muß“. Der rechte Zentrumsabgeordnete H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 36 berichtete später: „Anträge, [den Regierungsentwurf…] zu verwerfen, lagen vor; hunderte von Petitionen und fast die ganze Presse baten darum“. 613 s. Königlich privilegierte Berlinische Zeitung, No. 121, vom 26. Mai 1848 sowie zu den übrigen Zitaten A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 21 f. und H. Pfefferkorn, Kampf, 1926, S. 2 f. zur politischen Einordnung der einzelnen Blätter. 607

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

II. Der Gegenentwurf des Verfassungsausschusses Am 26. Mai 1848 wendete sich ein anonymer Autor gegen das Vereinbarungsprinzip, weil die Nationalversammlung nicht an den Regierungsentwurf gebunden, sondern „durch die bestimmende Macht einer Revolution [berufen wäre, …] selbstständig als das vollgültige Organ des Landes, aus [ihren…] Berathungen die Verfassung hervorgehen zu lassen“.614 Die Nationalversammlung machte sich weder diesen radikalen Standpunkt zu eigen noch erkannte sie die königlichen Propositionen als verbindliche Leitlinie an.615 Stattdessen wurde Mitte Juni 1848 eine Kommission von 24 Mitgliedern niedergesetzt,616 die den Regierungsentwurf entweder beraten und ggf. umarbeiten oder durch einen eigenen Vorschlag ersetzen sollte. Auf diese Weise kam das politische Meisterstück zustande, den un­ populären Regierungsentwurf weder anzuerkennen noch ausdrücklich zu verwerfen und mit diesem Schritt das liberale Ministerium Camphausen-Hansemann zu desavouieren.617 Ungeachtet aller Contenance urteilte der Demokrat Carl d’Ester 1849, dass dieses Votum „eigentlich [auf] eine Verwerfung des Verfassungsentwurfes“ hinausgelaufen sei.618 Der Konservative Hermann Wagener erblickte darin, dass die „Verfassungs-Commission“ beabsichtigt habe, „den vorgelegten Verfassungs-Entwurf vollständig umzuarbeiten und die zur Vereinbarung der Verfassung berufene Versammlung als Constituante auftreten zu lassen“, gar einen Beweis des „revolutionären Gebahren[s] der Volksvertreter“.619 614

s. die Artikel in der Königlich privilegierten Berlinischen Zeitung, No. 120, 121 und 122 vom 25., 26. und 27. Mai 1848. 615 In diesem Sinne aber der Abgeordnete Schlinck, VerhPrNV I, S. 200. 616 Über die Behandlung der Verfassungsfrage hatten sich drei Strömungen herauskristal­ lisiert: Präsident Karl August Milde wollte über den Regierungsentwurf verhandeln. Andere Abgeordnete wollten von einem Ausschuss einen eigenen Entwurf ausarbeiten lassen, der gemeinsam mit dem Regierungsvorschlag beraten werden sollte. Eine dritte Fraktion stimmte für die vollständige Verwerfung. s. dazu die Debatten vom 8. und 15. Juni 1848, VerhPrNV I, S.  153 f., 197 bis 205. Beschlossen wurde letztlich, „eine Kommission, bestehend aus 3 zu wählenden Mitgliedern jeder Abtheilung, also 24 Personen zu ernennen, und dieser unter Zufertigung des Regierungs-Entwurfs und Mittheilung aller auf die Verfassung bezüglichen Petitionen und Anträge, dessen Be­ra­thung, eventualiter dessen Umarbeitung, oder die Ausarbeitung eines neuen Entwurfs aufzutragen; den solchergestalt ausgearbeiteten Entwurf dann in den Abtheilungen zu berathen und durch die Central-Kommission vor das Plenum der Versammlung zu bringen“ (S. 203, 205). 617 H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 36 notierte im Januar 1849, dass die Majorität den Schritt der Verwerfung des Regierungsentwurfs, „mit welchem sie an Popolarität gewonnen, aber das Ministerium gestürzt hätte, [habe] vermeiden [wollen]. Dieser Umstand war in Privatversammlungen und in mehren Abtheilungen wohl erwogen, und deßhalb stellte ein Mitglied des nachherigen Centrums (Wachsmuth) den Antrag auf Verweisung in eine Commission, und Waldeck trat dem Amendement Harrassowitz bei: ‚zur Be­ra­thung und eventuellen Umarbeitung‘. Man wollte dem Ministerium nicht wehe thun, und absichtlich einen eclatanten Schritt vermeiden“. 618 C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 27. 619 H. Wagener, Friedrich Wilhelm IV., 1883, S. 48. W. Oncken, Wilhelm I, 1890, S. 276 urteilte, dass man mit dem „verhängnisvolle[n] Beschluß“ nicht nur die Regierungsprärogative in der Gesetzgebung missachtet, sondern zugleich „dem hohen Hause auf unberechenbare Zeit

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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1. Art. 73 „Charte Waldeck“ Der Verfassungsausschuss konstituierte sich am 17. Juni 1848 in der Berliner Singakademie und wählte mit knapper Mehrheit den aus Münster stammenden Obertribunalsrat Benedikt Waldeck, mit Peter Reichenspergers Worten das „Haupt“ und „lebendige Programm“ der demokratischen Linken, zu seinem Vorsitzenden.620 Formell lag der Kommissionsarbeit der Regierungsentwurf zugrunde, der aber nach Kräften im liberalen und demokratischen Sinne modifiziert wurde, bis der Kommissionsentwurf eigenständigen Charakter hatte.621 Zu den provokantesten Abweichungen des Ausschussentwurfs, der dem Plenum schon am 26. Juli 1848 präsentiert wurde,622 zählten fraglos die Leistung des Verfassungseids als Thronfolgevoraussetzung sowie die Abolition des Adels und aller Privilegien, daneben eine erhebliche Stärkung der Kammern auf Kosten des Monarchen, der in der Gesetzgebung bloß über ein suspensives Veto verfügen sollte, die Subordination der Armee unter das Gesetz sowie die Einrichtung einer konstitutionellen Volkswehr.623 die Hauptaufgabe völlig aus dem Auge gerückt und so die jedem Parlament so gefährliche Versuchung, abzuirren in die Politik des Uebergriffs und der Selbstüberhebung, […] geradezu unwiderstehlich gemacht“ habe. 620 Vgl. P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 64 und ähnl. F. Fischer, Preußen, 1876, S. 246. Allg. zu Waldecks Person und politischer Tätigkeit in der Nationalversammlung H.  Rempe,­ Gerichtswesen, 1970, S. 59 ff. sowie zu seiner Wahl K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 10. 621 F. Frahm, ForschBbgPrGesch 41 (1928), 248 (260 ff.). 622 Abdruck des Entwurfs nebst Motiven in VerhPrNV I, S. 589 ff., 685 ff. s. auch – ohne Motive – M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 89 ff. 623 Beachtenswerte Abweichungen gegenüber dem Regierungsentwurf waren u. a. die erheblich erweiterten „Rechte der Preußen“ (Art. 3 bis 37 gegenüber §§ 3 bis 19 der „Rechte der preußischen Staatsbürger“), die verfassungsmäßige Erblichkeit der „königlichen Gewalt“ (Art. 38) anstelle der erblichen „Krone“ den „Königlichen Hausgesetzen gemäß“ (§ 29), eine wörtliche Vorgabe des königlichen Verfassungseids (Art.  39 Abs.  2: „Ich schwöre, die Verfassung des­ Königreichs fest und unverbrüchlich zu halten und in Uebereinstimmung mit derselben und den Gesetzen zu regieren“; vgl. auch Art. 105 bzw. § 77), das Verbot, ohne Einwilligung der Kammer Herrscher eines anderen Staates zu sein (Art. 40), (weitergehende) Regelungen zur Regentschaft bei Minderjährigkeit oder Regierungsunfähigkeit (Art. 41 ff.), Vorbehalte gegenüber der Kommandogewalt bzw. dem Recht des Königs, Krieg und Frieden zu erklären, zu Gunsten des Bundesrechts, der Verfassungsurkunde, der Gesetze und der Kammern (Art. 46, 47), Beschränkungen des Auflösungs- und Vertagungsrechts (Art. 51, 52), Ministeranklage vor dem obersten Gerichtshof (Art. 54) anstelle vor der ersten Kammer (§ 33), Möglichkeit der Kammern, ein Gesetz durch dreimaligen Gesetzesbeschluss gegen den Willen des Königs in Kraft zu setzen (Art. 55 Abs. 3), Festlegung des aktiven Wahlrechts zur Zweiten Kammer in der Verfassung (Art. 57), passives Wahlrecht zur Ersten Kammer für jeden über 30-jährigen Preußen (Art. 61) anstelle der Wählbarkeit über 40-Jähriger unter Berücksichtigung eines Mindesteinkommens, einer Mindeststeuer, der Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften oder einer mindestens sechsjährigen Amtszeit als Oberbürgermeister einer Stadt mit mehr als 25.000 Einwohnern (§ 39), keine geborene Mitgliedschaft der Prinzen oder erbliche Mitgliedschaft königlich ernannter Personen mit einem Mindesteinkommen von 8.000 Rthlrn. (§ 38), keine turnusmäßigen Erneuerungen, sondern einheitliche Wahlperioden (Art. 67, §§ 40, 42), Enquête- und Unter­ suchungsrecht beider Kammern (Art. 73), Heraufsetzung der Beschlussfähigkeit (Art. 74, § 53),

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

Eine von diesen Forderungen durchaus zu Unrecht überstrahlte Neuerung war Art. 73 des Kommissionsentwurfs, der mit den Worten, dass „jede Kammer […] die Befugniß [habe], Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren“,624 die erste625 Emanation eines modernen Selbstinformationsrechts vorsah, die – zwar unter Beteiligung eines Richters – wahrscheinlich neben der Vereidigung auch Pflicht und Zwang­ ermöglicht hätte. Das Enquête- und Untersuchungsrecht der „Charte Waldeck“ übertraf mit diesen Kommissionsbefugnissen selbst noch das belgische Vorbild und den späteren Art. 81 PrVerf 1848. Wahrscheinlich rührt daher Benedikt Wal­ decks Urteil von 1868, dass es sich bei dieser Verfassungsvorschrift um eine „Art von Compromiß“ gehandelt habe.626 2. Präludium und Paradigma: Die Posener „Untersuchung“ Die Verfassungskommission erarbeitete diesen Entwurf in der zweiten Julihälfte des Jahres 1848 keineswegs ohne praktisches Anschauungsmaterial.627 Vielmehr konnte sie auf Argumente und Überlegungen aus einer rund zwei Wochen älteren Debatte zurückgreifen. Gemeint sind die Beratungen über eine Untersuchung der Vorfälle und Zustände in der Provinz Posen, die wegen der zeitlichen Nähe zu der Arbeit des Verfassungsausschusses gleichsam als ein vorgelagerter Teil der Entstehungsgeschichte des Art. 73 „Charte Waldeck“ anzusehen sind. Winfried Steffani spricht also vollkommen zu Recht von einer der „bedeutendsten Plenardebatten über das parlamentarische Untersuchungsrecht in der preußischen und deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts“.628

detailliertere Immunitäts- und Indemnitätsregeln (Art.  79; §§ 57, 58), unverzichtbare Diäten und Reisekosten für die Mitglieder beider Kammern (Art. 80; § 61: lediglich „Entschädigung“ der Mitglieder der 2. Kammer), Verbot von Titeln und Orden ohne Amtsbezug oder der Gratifikationsvergabe an Richter (Art.  84), gerichtsorganisatorische Vorgaben (Art.  85), Befähigung zum Richteramt (Art. 86), gerichtliche Verfolgung von Zivil- und Militärbeamten ohne Genehmigung (Art. 93), gesetzliche Regelung des Beamtenrechts (Art. 94 f.) sowie Festlegung von Grundsätzen für Gemeinden, Kreise und Bezirksverbände (Art.  102: u. a. Selbstverwaltung durch gewählte Gremien). s. dazu auch E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 730 f. oder F. Frahm, ForschBbgPrGesch 41 (1928), 248 (261 ff.). 624 „Art. 73. Eine jede Kammer hat die Befugniß, Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren.“ Abdruck bei L. v. Rönne, PrVerf 18501 1850, S. 162; M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 99. 625 In der Frankfurter Nationalversammlung wurde erst im Herbst 1848 über das Enquêteund Untersuchungsrecht beraten. S. 3. Teil 1. Kap. A. 626 VerhNdtRT I/1868, S. 261. 627 Dazu W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 51 ff. 628 W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 52.

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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a) Vorgeschichte: Die Entwicklung im „Großherzogtum Posen“ Unter der bloß elf Tage währenden Ministerpräsidentschaft Adolf Heinrich v. Arnim-Boitzenburgs kam es vorübergehend zu einem Kurswechsel in der preußischen Polenpolitik, indem Friedrich Wilhelm IV. ankündigte, den „Wünschen der polnischen Bevölkerung der Provinz Posen durch organische Einrichtungen“ entgegenzukommen.629 Zu diesem Zweck verhieß § 1 des Regierungsentwurfs einer künftigen preußischen Verfassungsurkunde eine nationale „Reorganisation und Verfassung“ der auf dem Wiener Kongress an Preußen gefallenen polnischen Gebiete.630 Statt einer Beruhigung der Gemüter waren blutige Zusammenstöße die Folge. Indem die Regierung zu einer Teilungspolitik überging, wurde die „Selbstständigkeit des Großherzogthums Posen“ in den Augen der Linken zum ersten „Opfer“ der Reaktion.631 b) Der Antrag Reuter Am 2.  Juni 1848 forderte der linke Jurist und Landrat des Kreises Johannisburg Robert Reuter, ein Advokat der polnischen Interessen,632 „[d]aß schleunigst eine aus 16 Personen bestehende Kommission zusammentrete, mit der Aufgabe, eine Untersuchung darüber anzustellen, welches die Ursachen gewesen, aus denen die unmittelbar nach der März-Revolution verkündete nationale Reorganisation der Provinz Posen zur Entzweiung der dortigen Bevölkerung und zum Blutbad geführt“ habe. Im Interesse der Unparteilichkeit sollten von dieser Untersuchung „alle Abgeordneten der Provinz Posen ausgeschlossen“ werden.633 Eine rechtliche Grundlage bestand für diese Untersuchungs­forderung nicht; auch das provisorische Reglement der Vereinbarungsversammlung vom 27. Mai 1848 sah anders als die Geschäftsordnung der Frankfurter National­versammlung kein parlamentarisches Selbstinformationsrecht vor. Diese Forderung Reuter enthielt, obwohl sie vordergründig auf Schuldzuweisungen verzichtete, doch einigen politischen Zündstoff, indem die offizielle Polen­

629 Freilich bestand der Vorbehalt „nothwendiger Berücksichtigung der Ansprüche der deutschen Nationalität“ (vgl. VerhPrNV I, S. 1 f.). s. auch die Allerhöchste Cabinets-Ordre, die nationale Reorganisation des Großherzogthums Posen betreffend, vom 24. März 1848. Abdruck bei A. Wolff, Revolutions-Chronik I, 1851, S. 375. 630 Abdruck des Entwurfs bei M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 78 ff. 631 Einschätzung und Zitat bei C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 16 f. Zum Ganzen K. Makowski, in: Jaworski/Luft (Hg.), Revolutionen, 1996, S.  149 ff.; E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 639 ff. Zu den Verhandlungen der Frankfurter Nationalversammlung über diese Angelegenheit s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 4. 632 K. Herdepe, PrVerf, 2003, S. 134. 633 VerhPrNV I, S. 79 (Hervorhebung nur hier).

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

politik auf den Prüfstand kommen sollte. Umso bemerkenswerter ist die Absicht des preußischen Ministerrats unter Ministerpräsident Rudolf v. Auerswald, der nach dem Rücktritt Ludolf Camphausens erst kurz zuvor eine Koalitionsregierung unter parlamentarischer Beteiligung gebildet hatte,634 diesen Antrag, wenngleich mit einem Amendement, zu unterstützen.635 c) Untersuchungs- vs. Vorberatungskommission? Zu ersten Präliminargefechten um das Untersuchungsrecht kam es am 2. Juni 1848. Ministerpräsident Ludolf Camphausen hielt Rudolf Parrisius’ Forderung, den Antrag nicht erst in den Abteilungen, sondern direkt im Plenum zu beraten,636 entgegen, dass „ein wichtiges politisches Prinzip“ zur Debatte stehe – gemeint war wohl das intrikate Selbstinformationsrecht –, „welches doch den Anspruch zu machen [habe…], vorher in den Abteilungen geprüft zu werden“. Der Naumburger Oberlandesgerichtsassessor Parrisius wollte die Kommission dagegen möglichst bald niedergesetzt sehen, damit das Staatsministerium ihr die „nöthige Auskunft“ noch vor der anstehenden Adressdebatte geben könne. Beschwichtigend fügte er hinzu, dass sie nicht „durch eigene Korrespondenz mit den Behörden der Provinz Posen Nachrichten und Erkundigungen [einziehen…], sondern nur ihre Erkundigungen aus den Mittheilungen des Staatsministeriums […] entnehmen“ solle.637 Damit wäre der Antrag nicht auf eine parlamentarische Untersuchung, sondern auf die Niedersetzung einer vorberatenden Kommission hinausgelaufen, in der die Angelegenheit anhand von Regierungs­informationen vorbereitet worden wäre. Statt ein parlamentarisches Enquête- und Untersuchungsrecht zu beanspruchen, wäre die Versammlung bei den antiquierten Formen des Vormärz stehengeblieben. Dieser Auslegung widersprach der Düsseldorfer Advokatanwalt Anton Bloem und der spätere Rechtsanwalt Ferdinand Lassalle, der in Düsseldorf gemeinsam mit Hugo Wesendonck im April 1848 den „Verein für demokratische Monarchie“ begründet hatte,638 verlangte, dass die Kommission die „Vorgänge in Posen untersuche“. Diese Forderung begründete er mit dem Wunsch, dass nicht trotz „Fragen oder Interpellationen“ letzten Endes „Zweifel“ blieben, „wo denn nun die Wahrheit liege“.639 Der scheinbar lapidare Hinweis, dass man trotz aller ministeriellen Auskünfte möglicherweise „in die Provinz gehen“ müsse, „sei es die ganze Kom 634

Zur Regierungsbildung s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 727 ff. Anwesend waren außerdem David Hansemann, Ludwig v. Roth v. Schreckenstein, Karl Anton Maerker, Julius Gierke, Friedrich Kühlwetter und der Führer des linken Zentrums Karl Rodbertus, der bereits am 4. Juli wieder aus dem Koalitionsministerium ausschied. s. dazu Acta Borussica IV/1, 2003, S. 59 und zur Bildung des Ministeriums E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 728 f. 636 VerhPrNV I, S. 78. 637 VerhPrNV I, S. 80. 638 Zu Anton Bloem s. H. Heidermann, DJb 76 (2006), 111 ff., 119. 639 VerhPrNV I, S. 80. 635

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mission, seien es einzelne Mitglieder“,640 verdeutlicht die informations­rechtliche Tragweite dieses Vorschlags. Die offenkundige Ähnlichkeit mit der Aufarbeitung des Mainzer Zwischenfalls durch das Paulskirchenparlament mag daher rühren, dass die Berliner Abgeordneten mit dieser Angelegenheit durch Presseberichte, Gerüchte oder persönliche Nachrichten vertraut waren.641 Der rechten Seite des Hauses musste die Forderung einer parlamentarischen Untersuchung als erster Versuch erscheinen, massiv in exekutive Bastionen einzufallen, ja einen ersten Schritt in Richtung Parlamentarisierung und Umsturz zu tun. Grundsätzliche Bedenken erhob der Abgeordnete Rietz mit den drei rhetorischen Fragen: „Ist das eine Sache, welche hier in Berlin erledigt werden kann?“ „Wollen Sie Kommissarien nach Posen schicken, um sie dort untersuchen zu lassen?“ „Wollen Sie sich zur Verwaltungs-Behörde machen oder zur Justiz-Behörde?“ Insbesondere diese letzte Suggestivfrage brachte unterschwellig das bekannte „Gewaltenteilungsargument“ ins Spiel, das in Frühkonstitutionalismus und Vormärz zum Schutz des „monarchischen Prinzips“ jedem unmittelbaren Verkehr der Ständeversammlungen mit Privaten oder nachgeordneten Behörden entgegengehalten worden war.642 Dagegen ergriff Karl v. Meusebach – wenngleich zurückhaltend – für die parlamentarische Befugnis zur Regierungskontrolle Partei, indem er betonte, dass die Nationalversammlung eine „besondere Kommission“ erst dann „zur Untersuchung des Verfahrens des Ministeriums“ einsetzen könne, „wenn man die Überzeugung von dem Ungenügen der [noch ausstehenden (!)] Auskunft […] gewonnen habe“. Weil mündliche Erläuterungen keinesfalls ausreichten, sondern die „Vorlage sämmtlicher Akten“ unabdingbar sei, könnten allein die Abteilungen beurteilen, „ob es nöthig sei, eine besondere Untersuchungs-Kommission einzusetzen“.643 Die Versuche der Regierung, diesen parlamentarischen Kontrollversuch abzuwehren, fielen sehr verhalten aus. David Hansemann mahnte die Abgeordneten, dass es „wirklich um eine der größten politischen Fragen“ gehe und sie wohl erwägen müssten, „auf einen Weg sich einzulassen, der sie in wesentliche Konflikte bringen“ könne. Um einen Aufschub der Entscheidung, möglicherweise aber auch eine Beruhigung der Gemüter zu erreichen, fuhr der Finanzminister fort, dass eine derart relevante Frage jedenfalls nicht „auf der Stelle abgemacht“ werden dürfe, sondern in den Abteilungen vorberaten werden müsse.644 In defenso überkommener Formen hielt Ministerpräsident Ludolf Camphausen den Parlamentariern vor, „daß die Versammlung schon aufgeklärt sein [könne…], wenn es [ihr…] beliebt hätte, einen Antrag oder eine Interpellation zu stellen. Dies [wäre…] die rascheste Art und Weise, sich […] Aufklärung zu verschaffen“. Der rheinische 640

VerhPrNV I, S. 81. Zur Berichterstattung in Berliner Zeitungen s. nur die Nachw. 3. Teil Fn. 316 und 318. 642 s. 2. Teil 3. Kap. B. 643 VerhPrNV I, S. 80. 644 VerhPrNV I, S. 82. 641

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Liberale schloss „mit der Erklärung, daß der ganze Antrag nichts weiter [sei…], als daß die Versammlung die Frage entscheiden soll[e], ob [sie…] zu diesen oder anderen Zwecken Kommissionen zur Untersuchung bilden [solle…]; daß diese Frage reiflich überlegt und geprüft werde, damit [sei er…] völlig einverstanden, nicht aber damit, daß sie so plötzlich zur Diskussion gebracht werde“.645 Der Ministerpräsident spielte also ebenfalls primär auf Zeit, riet der Versammlung aber außerdem aus vermeintlichen Zweckmäßigkeitserwägungen dazu, auf das revolutionäre Selbstinformationsrecht zu verzichten. Direkten Widerstand, etwa der Art, dass es das keineswegs selbstverständliche Recht der Nationalversammlung, eigene Unter­suchungen anzustellen, grundsätzlich in Zweifel gezogen hätte, leistete das überrumpelte Staatsministerium nicht. Im Gegenzug verhielt sich auch die parlamentarische Mehrheit konziliant, indem sie den Antrag in die Abteilungen verwies und damit auf die dilatorischen Regierungswünsche einging.646 d) Einsetzungsdebatte und Beschluss Nach einer ersten Behandlung in den ausgelosten Sektionen wurde der Reuter’sche Antrag in der aus den Abteilungsberichterstattern gebildeten Zentralabteilung weiter vorberaten. aa) Bericht und Antrag der Zentralabteilung Am 4.  Juli 1848, also gut einen Monat später, unterbreitete der Münsteraner Oberlandesgerichtsrat Johann Joseph Tüshaus dem Plenum den noch über die­ ursprüngliche Motion hinausgehenden, Forderungen der Einzelabteilungen aufnehmenden647 Antrag der Zentralabteilung,648 „daß eine aus 16 Mitgliedern […] bestehende Kommission zur Untersuchung der […] Entzweiungen und blutigen Ereignisse niedergesetzt“ werde. Wieder sollte durch einen Ausschluss der Posener Abgeordneten jeder „Anschein von Parteilichkeit“ vermieden werden. Außerdem sollten „gleichzeitig […] das ganze seit der Reorganisation […] seitens der Regierung beobachtete Verfahren [sowie…] die diese Provinz betreffenden nationalen Verhältnisse untersucht […] und […] die Mittel angegeben [werden…], wie 645

VerhPrNV I, S. 82. VerhPrNV I, S. 82 und dazu W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 52. 647 Eine Abteilung hatte befürwortet, nicht allein die unmittelbaren Ursachen der Auseinandersetzungen, sondern „die gesammten Zustände der Provinz in Untersuchung [zu] nehmen“. Zwei Abteilungen wollten die Kommission Vorschläge entwickeln lassen, „wie dem ferneren Ausbruche der Zwietracht vorgebeugt und ein bleibender Friede hergestellt werden könne“. Die vierte Abteilung forderte eine Kontrollenquête, indem „die Kommission auch zur Prüfung des von der Regierung und ihrer Organe seit der versprochenen Reorganisation […] beobachteten Verfahrens übergehen“ sollte (VerhPrNV I, S. 339 f.). 648 Vgl. den Kommissionsbericht, VerhPrNV I, S. 340. 646

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ferneren Ausbrüchen der Zwietracht vorgebeugt und ein bleibender Friede hergestellt werden“ könne.649 Über die Arbeitsweise oder Befugnisse des verlangten Ausschusses hatte man keine Einigkeit erzielt: Eine Minderheit in der Zentralabteilung wollte die Untersuchung auf die „von der Regierung über diesen Gegenstand verhandelten und zu gesinnenden Akten“ beschränken; eine „umfassende Befugniß“, „Beweise durch eigene Vernehmung von Zeugen und Aufklärungen an Ort und Stelle zu erheben“, hielten diese Abgeordneten erst dann für erforderlich, wenn feststehe, „ob nicht die vorhandenen Regierungs-Aktenstücke die erforderliche Aufklärung auf kürzerem Wege ertheilen könnten“. Anscheinend lagen dieser Position Zweckmäßigkeitserwägungen, aber keine grundlegende Ablehnung eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts zugrunde. Die Mehrheit war dagegen nicht dazu bereit, der Kommission „in der Art, durch welche Mittel und auf welchem Wege sie zur Feststellung des Thatbestandes und zur Erforschung der Wahrheit gelangen wolle, im voraus […] die Hände [zu] binden“. Insbesondere widersprach sie der Sorge, dass eine parlamentarische Untersuchung einen „Eingriff in die Justiz oder in die Administration“ bedeuten könne, „weil es sich […] nicht um ein Urtheil, um ein Rechtsprechen in Privat-Parteisachen […], eben so wenig um die sofortige Ausführung bestimmter Maßregeln, sondern lediglich um Aufklärung von bestimmten Thatsachen“ handele.650 Mit diesen Überlegungen wurde das vermeintliche Konkurrenzproblem ebenso scharfsichtig wie modern analysiert und aufgelöst. Angesichts des Spektrums der Abteilungsvorschläge, das sich von einer un­ bedingten Kommissionsvollmacht über das Requisitionsrecht gegenüber den Behörden bzw. zur Veranlassung eidlicher Zeugenvernehmungen bis hin zu einer die monarchische Exekutive wenigstens formell wahrenden Forderung spannte, „das Gouvernement zu ersuchen, der Kommission alle Befugnisse einer Regierungs-Kommission beizulegen“, verzichtete die Zentralabteilung auf einen konkreten Antrag und überließ es dem Plenum, „ob zur Zeit die Untersuchung sich blos darauf zu beschränken habe, die jenen Ereignissen zum Grunde liegenden Thatsachen aus den von der Regierung darüber verhandelten und zu gesinnenden Akten festzustellen, oder der Kommission bei der Untersuchung in Betreff der zur Erforschung der Thatsachen anzuwendenden Mittel ganz freie Hand zu lassen“ sei.651

649

VerhPrNV I, S. 339 ff. Die erste Abteilung hatte sich mit dem Gewaltenteilungsargument beschäftigt, aber festgestellt, dass mit dem „Recht, eine Kommission […] zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“, „nicht […] in das Getriebe der Administration oder der Justiz [übergegriffen werde], sondern die Kommission […] nur die Wahrheit und die Thatsachen herauszustellen“ habe. 651 VerhPrNV I, S. 339 f. (Antrag). 650

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bb) Plenarberatung Zu Beginn der Aussprache über diesen Antrag sowie zahlreiche teils weiter­ gehende, teils aber auch zurückhaltendere Amendements652 erhob der Berichterstatter Johann Joseph Tüshaus trotz des befürwortenden Votums der Zentralabteilung persönliche Bedenken gegen eine Untersuchungskommission und riet der Versammlung, sich zunächst an die Regierung zu wenden und ggf. danach weitere Maßnahmen zu beschließen. Gegen diesen Verwässerungsvorschlag verteidigte der Antragsteller Robert Reuter seine Untersuchungsforderung. Obgleich „guter Rath seitens der Versammlung nicht als ein Eingriff in die Prärogative der Regierung anzusehen sei“, stimmte er trotzdem nicht mit dem Zentralabteilungsvorschlag überein, „die Kommission [zu] beauftragen, diejenigen Mittel […] der Staats-Regierung anzugeben, wodurch ferneren Ausbrüchen der Zwietracht vorgebeugt und der Frieden hergestellt werden könne“. Maßgeblich war für ihn die Sorge, dass sich „vielleicht vom Ministertische, jedenfalls aber von einer großen Fraction dieser Versammlung, ein Widerspruch erheben“ könne.653 652 Das Amendement Müller, die Kommission nur zu beauftragen, „die diese Provinz betreffenden nationalen Verhältnisse zu untersuchen [und…] die Mittel aufzusuchen und anzugeben, wie […] bleibender Friede herzustellen sei“, ging darauf zurück, „daß das Ministerium, unter dem jene beklagenswerthen Ereignisse stattfanden, abgetreten [sei…] und die Ermittelung seines Verhaltens […] doch nur noch ein historisches Interesse“ habe (VerhPrNV I, S. 340 f.). Der Abgeordnete Wolff forderte, „das Staats-Ministerium zu ersuchen, […] sowohl der gedachten Kommission die […] Akten mitzutheilen, als auch die Unterbehörden anzuweisen, den seitens jener Kommission an sie ergehenden Requisitionen Folge zu leisten“, weil man sich nicht ohne „Verdacht der Parteilichkeit“ auf die Regierungsakten beschränken könne (S. 340, 344). Diese Aufforderung wollte der Abgeordnete Kühnemann um den Wunsch ergänzen, alternativ „auf­ Antrag der Kommission für einzelne Lokalermittelungen Kommissarien zu ernennen, die unter Zutritt eines oder mehrerer Kommissions-Mitglieder nach den Requisitionen der Kommission zu verfahren haben“. Zu Recht sah er in dem Antrag Wolff „eine Lücke“, weil die Versammlung nicht „ohne Weiteres […] citiren“ könne. Deswegen müsse man die Kommission gegenüber den Auskunftspersonen mit „einer gewissen Machtvollkommenheit versehen“. Mangels Unterstützung wurde dieser Antrag, der auf die entscheidende Schwäche jedes freiwilligen Enquêterechts abzielte, nicht weiterverfolgt (S. 348 f.). Während der gemäßigte Linke Julius v. K ­ irchmann für die Kommission „nicht blos das Recht, sondern auch die Pflicht [verlangte…], sich an Ort und Stelle zu begeben, dort die nothwendigen Informationen einzuziehen und Zeugen und Sach­ verständige zu verhören“ (S. 343), besetzte der Koblenzer Landgerichtsrat Peter ­Reichensperger die konservative Position, dass die Kommission allein „aus den offiziellen Akten, um deren Communication das Königliche Staats-Ministerium zu ersuchen [sei, …] so wie aus den ihr zugehenden sonstigen Nachweisen, zu ermitteln [habe], auf welchem Wege in der Provinz Posen ein bleibender Friede […] hergestellt und wie die beabsichtigte Reorganisation […] durchgeführt werden könne“ (S. 341). Demgegenüber wollte der Abgeordnete Sommer „die Sache an den Ausschuß zurückgeben, um nach Prüfung der […] Denkschrift des Ministeriums und […] Akten in Erwägung zu ziehen: ob es nun noch einer besonderen Kommission […] bedürfe“, weil man sich ebenso gut durch „die freie Presse und ein verantwortliches Ministerium“ informieren könne, „ohne eine Kommission zu ernennen“. Dieser Antrag wurde zurückgezogen, weil der Präsident darauf hingewiesen hatte, dass im Falle seiner Annahme „die ganze Sache noch einmal an die Central-Kommission zurückgewiesen“ werden müsse (S. 341, 352, 354). 653 VerhPrNV I, S. 341 f.

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Überhaupt wogen „Gewaltenteilungsbedenken“ oder besser: Ressentiments aus Respekt für die monarchische Macht in der Debatte schwer, obwohl die Zen­ tralausschussmehrheit sie bereits als Scheinproblem entlarvt hatte. Peter Reichensperger kritisierte, dass es allein „Aufgabe der Gerichte [wäre…], festzustellen, welcher der beiden Theile das Unrecht begonnen [habe und…] inwiefern heute noch praktische Folgen daran geknüpft werden soll[t]en“. Auf diese auch rechtsstaatlich motivierte Mahnung folgten konstitutionelle Klischees, eine parlamentarische Versammlung habe „nicht die Aufgabe, sich etwa durch Zeugen Aufklärung über die Vergangenheit zu verschaffen“, sondern dürfe allein „mit dem Ministerium verhandeln“. Insoweit biete die „große Oeffentlichkeit der Frage“ ausreichende Gewähr, „daß alle Aktenstücke […] auch wirklich vorgelegt“ würden. Abschließend warnte der spätere Mitbegründer der katholischen Zentrumspartei eindringlich vor einer „gerichtliche[n] oder administrative[n] Kommission […] aus unverletzlichen Abgeordneten“. Werde ein solches Gremium mit der Autorität versehen, „administrative oder gerichtliche Verhandlungen vorzunehmen, welche auf eidlichem Verhöre von Zeugen beruh[t]en“, verfüge es über eine „höchst monstruöse Stellung“. Während die „Handlungen von Beamten ihre Garantie in [ihrer…] Verantwortlichkeit“ fänden, wäre eine solche parlamentarische Kommission gerade nicht „durch jene Verantwortlichkeit gebunden“.654 Das staatstheoretische Fundament dieser aus heutiger Sicht eigentümlichen Argumentation war die den Konstitutionalismus prägende ausschließliche Verantwortlichkeit der Beamten gegenüber dem König, die Peter Reichensperger als Garantie für die Güte ihrer Amtshandlungen qualifizierte; seine Aversion jeder parlamentarischen Untersuchungskommission gegenüber beruhte also gleichermaßen auf einer Affinität zum „monarchischen Prinzip“ wie auf zwangsläufigen Ressentiments gegen demokratische Strukturen. – Angesichts dessen nimmt es wenig wunder, dass der Demokrat Anton Bloem „unverletzliche“ Abgeordnete aufgrund des „Vertrauen[s] der ganzen Nation“ gerade für besonders geeignet hielt, um „die Wahrheit zu erforschen und mit unerschütterlichem Muthe das festzustellen, was für oder ge­ gen Deutschland und für oder gegen die polnische Nation“ spreche.655 Unausgesprochene Grundlage seiner Position war die Volkssouveränität, für die Bloem noch nach der gescheiterten Revolution offen eintrat.656 Das Geplänkel zwischen dem Düsseldorfer Advokaten und dem Koblenzer Richter Reichensperger verdeutlichte letzten Endes, dass das so häufig gegen parlamentarische Selbstinformationsrechte ins Feld geführte „Gewaltenteilungsargument“ aus der staatstheoretischen Alternative von Volkssouveränität oder „monarchischem Prinzip“ 654

VerhPrNV I, S. 342 (Hervorhebung nur hier). A. Bloem gründete diese Kompetenz unmittelbar darauf, dass § 13 Pr­Vereinb­Vers­WahlG 1848 der Versammlung die Aufgabe übertrage, „die künftige Staatsverfassung durch Vereinbarung mit der Krone festzustellen und die bisherigen reichsständischen Befugnisse […] für die Dauer ihrer Versammlung interimistisch auszuüben.“ Wenn aber die Versammlung durch das Wahlgesetz berufen sei, „ein Staats-Grundgesetz zu bilden“, so habe das Gesetz ihr auch die kompetenziellen Mittel gegeben, die dazu nötig seien (VerhPrNV I, S. 350). 656 Zur politischen Entwicklung s. H. Heidermann, DJb 76 (2006), 111 (115 ff., 117 ff., 121). 655

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herrührte. Die eigentlich im Rechtsstaatsprinzip verwurzelte Unabhängigkeit der Gerichte, die einem parlamentarischen Untersuchungsrecht in potentiell straf­baren Sachverhalten immer wieder entgegengehalten wurde, trat demgegenüber in den Hintergrund.657 Ähnlich wie Peter Reichensperger befürwortete auch Eduard Baumstark, ein Führer der altliberalen Fraktion, die in der verkehrten Welt der Berliner Nationalversammlung den Platz der Rechten einnahm,658 dass sich die Kommission allein „aus den offiziellen Akten […] so wie aus den ihr zugehenden sonstigen Nach­ weisen“ informieren dürfe. Eigene Erhebungsbefugnisse betrachtete er – möglicherweise vom Boden der konstitutionellen monarchischen Staatslehre aus – als „Eingriff in die eigentliche exekutive Gewalt“, den man sich nicht einmal in England gefallen lasse: Dort würden Untersuchungen „unter der Unterstützung und selbst der Leitung der Staatsbehörden“ durchgeführt. Als Mittelweg schlug der Greifswalder Professor der Staats- und Kameralwissenschaften vor, die Untersuchung zwar Staatsbeamten zu übertragen, den parlamentarischen Kommissionsmitgliedern aber zu gestatten, „gleichsam als Geschworene Fragen zu stellen“.659 Das auf diese Weise skizzierte Modell einer gemischten Untersuchung kam erstmals gut 25 Jahre später in der preußischen Eisenbahnenquête und danach auch noch im Kaiserreich zu Ehren.660 Eloquent wie William Shakespeares Marc Anton stimmte Friedrich ­Kühlwetter in diesen Reigen ein: Zum Auftakt beteuerte der nicht einmal 40-jährige Innenminister, der auf Drängen David Hansemanns nach Berlin gekommen war und einen „Ausgleich zwischen Krone und Revolution“ versuchte,661 dass die Regierung „über jene Zeit hinaus [wäre], wo […] man vermeinte, daß in den Behörden […] allein alle Weisheit ruhe“. Der frühere Aachener Regierungspräsident ging so weit, dass sich das Ministerium, wenn kein Antrag aus der Versammlung erfolgt wäre, vielleicht selbst eine Kommission erbeten hätte. Sogar die Entscheidung, „inwieweit sie das Verfahren der Regierung prüfen oder gar […] die Frage […] erörtern [wolle], ob die Beamten zu wechseln“ seien, könne man der Kommission überlassen.662 Auf dieses beschwichtigende Vorspiel folgten Bedenken, dass es allerdings die „schwierigste und bedenklichste Frage“ wäre, „in welchen Formen die Kommission 657 Gegenüber dem ursprünglichen Pseudo-Gewaltenteilungseinwand, der in Wahrheit auf die monarchische Prärogative für die Exekutive zurückging (vgl. 2. Teil 3.  Kap. B.), ist die Unabhängigkeit der Justiz eher im Rechtsstaatsprinzip verwurzelt. In diesem Sinne leitete F. J. Stahl, Staatslehre3 1856, S. 601 ff. diesen Grundsatz aus dem Gerechtigkeitsgebot ab, Gleiche über Gleiche urteilen zu lassen, anstatt sie dem Gericht eines Höhergestellten zu unterwerfen. Gleichwohl werde die Justiz „immer nur in Vollmacht und unter Autorität des Souveräns“ ausgeübt. 658 I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S.  3 (254); A. Streckfuß, Preußen II, 1848, S.  40; H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (6). 659 VerhPrNV I, S. 347 f. 660 s. 5. Teil 3. Kap. E. sowie 6. Teil 3. Kap. B. 661 Vgl. W. Treue, WirtGesch, 1984, S. 458. 662 VerhPrNV I, S. 352.

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verhandeln soll[e]“. Mit der theoretischen Erwägung, dass nach „publizistischen Grundsätzen“ in der „Prinzipienfrage“ des „droit d’enquête, wie es sich in mehreren [scil. ausländischen] Verfassungen ausgeprägt“ habe, keine der drei Staatsgewalten „in die Sphäre der anderen übergreife[n]“ oder ohne spezielle Ermächtigung „direkt [ihre…] Organe […] in Anspruch nehme[n]“ dürfe, entzog der Jurist Kühlwetter jedem eigenständigen parlamentarischen Selbstinformationsrecht die Grundlage. Um diesen Coup zu verharmlosen, fuhr er fort, dass selbst in Belgien, wo beide Kammern über entsprechende Befugnisse verfügten, eine Untersuchungskommission eine „exceptionelle, auf kurze Zeit zu beschränkende Maßregel“ wäre. 1830 habe man in Belgien eine „commission d’enquête niedergesetzt“, für die durch „einen Gesetz-Entwurf das Recht in Anspruch genommen [worden sei], unmittelbar Zeugen eidlich zu vernehmen, die sämmtlichen Beamten zu requiriren etc.“. Dieser Vorschlag habe zwar „Veranlassung zu einer mehrtägigen Diskussion“ gegeben, wäre aber letzten Endes doch deswegen verworfen worden, „weil dadurch eine Verwirrung unter allen Gewalten herbeigeführt werden müsse“. Ein Jahr später habe man „abermals eine Kommission zur Untersuchung […] gebildet und derselben das Recht beigelegt, zwar nicht eidlich Zeugen zu vernehmen, aber doch die ­Organe der Staatsgewalt für ihre Zwecke in Anspruch zu nehmen“. Sie sei zusammengetreten, habe untersucht, aber niemals Bericht erstattet und sei „nach kurzer Frist […] mit dem Gesetz verschwunden“. In Preußen bestehe angesichts der „größte[n] ­Bereitwilligkeit“ des Ministeriums, „die Behörden anzuweisen, das­ jenige auszuführen, was die Kommission für nöthig“ halte und ihr sämtliche Materialien zu überlassen, „keine Veranlassung“ zu solchen vermeintlich unfruchtbaren Schritten. Zu guter Letzt führte der Innenminister mit der Sorge, dass es nicht sinnvoll wäre, parallel dieselbe Untersuchung neben der Regierung „auf doppeltem Wege“ zu betreiben, „Gründe der Nützlichkeit“ gegen eine parlamentarische Kommission ins Feld; andernfalls wären „Kollisionen“ unvermeidbar.663 Friedrich Kühlwetters Vorschlag ging bei Licht besehen – allen proparlamen­ tarischen Lippenbekenntnissen zum Trotz  – de facto kaum über die restriktive Haltung Peter Reichenspergers oder Eduard Baumstarks hinaus. Bemerkenswert ist, dass die gewaltenteilungsrechtlichen Bedenken im Zentrum seiner Überle­ gungen jeder rechtlichen Grundlage entbehrten, weil die von ihm idealisierte Form einer dividierten Machtverteilung bislang lediglich theoretisch existierte. Realiter lag die Staatsgewalt ungeteilt in den Händen des Monarchen und seiner Regierung. Auf diese oder ähnliche Weise wurde die von den Demokraten angefeindete „politische Dreifaltigkeit“ zum rhetorischen Instrument der Gouvernementalen, um einen parlamentarischen Einfluss auf die Exekutive abzuwehren.664 Vor dem Hintergrund dieser Rede legte der Demokrat Carl d’Ester dem Innenminister zu Recht zur Last, er sei ein „Doktrinär“ gewesen, habe „schon in Gedanken ein ganzes Staatsgebäude aus[gebaut]“ und sich der Nationalversamm 663

VerhPrNV I, S. 352 f. s. dazu C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 13 ff.

664

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lung gegenüber geriert, „als wenn er nicht eine constituirende, sondern eine schon nach seinem Plan constituirte Versammlung vor sich habe“.665 In vergleichbarer Weise kritisierte Antragsteller Reuter Kühlwetters „doctrinaire Expositionen“, die sich in den sattsam bekannten „Ansichten und Grundsätze[n] des Constitutionalismus“ erschöpften. Allzu optimistisch war aber die Hoffnung, dass man sich in der Versammlung über ihre Fehlerhaftigkeit doch „ziemlich einig“ wäre. Indem er die Frage auf den archimedischen Punkt radizierte, „ob die National-Versammlung als unabhängiger Volkskörper die rechtliche Befugniß [habe…], in Ausübung der Kontrolle über die Staats-Verwaltung sich selbstständig ihr Ur­ theil über Thatsachen zu schaffen oder nicht, oder ob sie verpflichtet [sei…], von den Behörden und der zu kontrollirenden Verwaltung allein die Auskunft zu verlangen“, legte der Johannisburger Landrat Reuter die revolutionäre Modernität seiner Untersuchungsforderung offen. Auf Eduard Baumstarks Einwendungen erwiderte er, dass in England keineswegs „große Eifersucht [herrsche…], daß keine Gewalt in die andere hinübergreife“, sondern die gesetzgebende Gewalt zum Wohle Aller an der Verwaltung beteiligt sei. Nach diesem Vorbild dürfe sich auch die Vereinbarungsversammlung „von dem Ministerium nicht blos die Akten vorlegen“ lassen, sondern müsse, wenn keine „genügende Auskunft“ erfolge oder an ihrer „Richtigkeit [zu…] zweifeln“ wäre, zu anderen Mitteln greifen.666 Offensichtlich ging es dem Antragsteller nach dem Muster des modernen Untersuchungsrechts darum, einen Kontrollanspruch der Volksvertretung gegenüber der monarchischen Exekutive mit Hilfe eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts durchzusetzen. Der gemäßigte Linke Julius v. Kirchmann, Erster Staatsanwalt in Berlin, den die Regierung später zum Oberlandesgerichtsvizepräsidenten in Ratibor und damit aus der Nationalversammlung hinausbeförderte,667 betonte ebenfalls, dass man in England „niemals Bedenken getragen [habe…], dem Parlamente dergleichen Befugnisse in sehr ausgedehnter Weise anzuerben“. Auf den Einwand, dass die Befugnis, Zeugen und Sachverständige zu vernehmen oder an Ort und Stelle Untersuchungen durchzuführen, in „die administrative und richterliche Gewalt“ eingreife, entgegnete der Jurist, dass „die Kommission […] nicht verwalten, […] nicht über Schuld und Unschuld erkennen, sondern nur Wahrheit ermitteln, Informationen einziehen“ solle. Demgegenüber hielt er eine „Kommission, wenn sie nur berechtigt würde, die Akten einzusehen, welche bei der Regierung und bei den Behörden […] vorhanden [seien, für…] gar nichts werth“  – ein ebenso zu­treffendes wie vernichtendes Urteil über die vormärzlichen Praktiken. Um je 665

C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 33 (Hervorhebung nur hier). VerhPrNV I, S. 354 (Hervorhebung nur hier). 667 Gesetzlich war jeder Abgeordnete, der befördert wurde oder ein besoldetes Staatsamt annahm, zur Mandatsniederlegung verpflichtet. Bereits im September 1848 gelang Julius v. Kirchmann, der sich umgehend erneut zur Wahl stellte, die Rückkehr in die Versammlung. s. dazu H. Scheerer, in: Bast (Hg.), J. H. v. Kirchmann, 1998, S. 15 ff. und ferner E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 586 in Fn. 61. 666

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dem Anschein von Befangenheit vorzubeugen, forderte Julius v. Kirchmann, der Kommission „nicht blos das Recht, sondern auch die Pflicht [zu geben…], sich an Ort und Stelle zu begeben, dort die nothwendigen Informationen einzuziehen und Zeugen und Sachverständige zu verhören“.668 Wieder wurde das Mainzer Vorbild sichtbar.669 Den entscheidenden Unterschied zwischen einer parlamentarischen und einer administrativen oder richterlichen Untersuchung arbeiteten auch die Abgeordneten Bloem, Wolff sowie der rechte Zentrumspolitiker Hans Viktor v. Unruh heraus,670 der eine parlamentarische Untersuchung immer dann für erforderlich hielt, wenn die Regierung bereits eingeschritten sei und „sich mehr oder weniger auf eine Partei [habe…] stützen müssen“. In einem solchen Fall werde es dem Staatsministe­rium anschließend „sehr schwer, ja unmöglich sein, die Sache völlig objektiv darzustellen“. Weiter fuhr der spätere Präsident der Nationalversammlung fort, dass eine Kommission, die sich „lediglich aus den Akten des Ministeriums […] infor­mire“, nichts weiter liefere, „als eine ausführliche Mittheilung des Ministeriums“.671 Zugleich legte er damit den Finger in die Wunde jedes interpellationsartigen Rechts. Der Abgeordnete Richter brachte deutliche Anklänge der revolutionären Volks­souveränität zu Gehör, als er davon ausging, dass, weil der Monarch nicht mehr alleine, sondern gemeinsam mit dem Volk durch dessen „Theilnahme an der Staatsgewalt“ zur Wiedergutmachung der polnischen Teilungen verpflichtet wäre, eine parlamentarische Kommission erforderlich sei.672 Nichts anderes bedeutete es, dass der Abgeordnete Weichsel die erforderliche Prüfung „Niemand anders“ als der „Nation und deren Vertreter[n]“ überlassen wollte; eine Behörde, die selbst das Werkzeug einer staatlichen Stelle sei, gegen die Misstrauen obwalte, könne keine Untersuchung führen.673 Die Befürworter einer parlamentarischen Aufarbeitung brachten also ebenso staatstheoretische wie prag­matische Gründe vor. Dass sie sich kaum mit den bisherigen informations 668

VerhPrNV I, S. 346. s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 2. a). 670 Während der „richterliche Beamte […] Thatsachen festzustellen [habe], um in seinem Erkenntniß zu einem Endurtheil zu kommen“, wolle die Versammlung „kein Endurtheil fällen über Schuld oder Unschuld, […] keinen Richterspruch abgeben“, sondern lediglich untersuchen, „wie es [aussehe…] im Reiche, damit [sie…] ein Reichsgrundgesetz aufstellen“ könne. Wende sie so „auch dieselbe Form wie der Richter“ an, greife sie doch „nicht in die richterlichen Functionen ein“ (Bloem, VerhPrNV I, S. 350). Auch der Abgeordnete Wolff betonte, dass die Gerichte zwar „über dieses oder jenes Verbrechen, welches dort vorgefallen [sei…], entscheiden“ würden. Über „die Bewegung im Ganzen, über die Ursachen, die ihr zu Grunde gelegen haben, [hätten sie dagegen…] weder Beruf, zu erkennen, noch [sei…] ihnen die Möglichkeit dazu gegeben“ (S.  344). H. V. v. Unruh widersprach ebenfalls der Sorge, „daß die Kommission in Konflikt gerathen [könne] mit den gerichtlichen und administrativen Behörden“, „sobald sie nur Thatsachen [untersuche…] und Vorschläge zur Besserung der dortigen Zustände darauf“ gründe (S. 344 f.). 671 VerhPrNV I, S. 344 f. 672 VerhPrNV I, S. 343. 673 VerhPrNV I, S. 349. 669

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rechtlichen Fesseln der Landstände in den konstitutionellen Bundesstaaten auseinandersetzten, könnte u. a. daran gelegen haben, dass die Hohenzollernmonarchie diesem Club bislang nicht beigetreten war. Keineswegs sämtliche Abgeordnete, die eine parlamentarische Nachprüfung­ favorisierten, unterstützten auch den Gedanken der Regierungskontrolle. Etwa erkannte Hans Viktor v. Unruh das Recht, „Kommissionen zu ernennen, welche Thatsachen untersuch[t]en, Erkundigungen [einzögen…] und Vorschläge mach[t]en“, zwar als ein „höchst wichtiges Prinzip“ an; trotzdem wollte er den Anwendungsbereich auf die Gesetzesvorbereitung beschränken, weil andernfalls – wohl in einem pseudostrafrechtlichen Sinn  – eine „Untersuchungs-Kommission“ geschaffen werde, deren „Erfolg […] in der Regel kein anderer [sein könne], als eine Rechtfertigung oder ein Tadel der Regierung“. Obwohl er damit aus heutiger Sicht eine akkurate Charakterisierung des politischen Untersuchungsrechts geliefert hatte, lehnte v. Unruh ein derartiges Vorgehen als selten geeignet oder gerechtfertigt ab. Die alles andere als unpolitische Posener Untersuchung verteidigte er dennoch damit, dass sie „augenscheinlich“ zur Vorbereitung derjenigen Passagen des Verfassungsentwurfs erforderlich wäre, die sich auf das Schicksal der Provinz beziehen sollten.674 Auf diese Weise verwies der rechte Zentrumspolitiker v. Unruh, der tendenziell im Lager des Koalitionskabinetts stand,675 die Vereinbarungsversammlung in die durch das Wahlgesetz gezogenen Schranken der Verfassungsberatung, statt ein unbeschränktes Recht zur Regierungskontrolle anzuerkennen. Die von verschiedenen Abgeordneten verfolgte Strategie, eine Gesetzesvorbereitungsenquête als Camouflage für die Kontrolle der Regierung zu nutzen,676 wird vor dem Hintergrund des § 13 Pr­Vereinb­Vers­WahlG 1848 verständlich, der die Versammlung lediglich zur Verfassungsberatung ermächtigte.677 Kompetenziellen Einwänden gegen eine politische Untersuchung ließ sich so ein Stück weit ausweichen. Moderater rückte Julius v. Kirchmann die unverfänglichere Enquêtefunktion in den Vordergrund, indem er eine Kommission „nicht allein mit dem Zweck [forderte], das Vergangene zu untersuchen, sondern […] hauptsächlich, um die Mittel zur Abhülfe des jetzigen Zustandes anzugeben“. Selbst wenn die Versammlung „blos dazu

674

VerhPrNV I, S. 344 f. s. dazu I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (254, 261). 676 Den Gedanken der Gesetzesvorbereitung brachten verschiedene Parlamentarier ins Spiel. So forderte etwa der Abgeordnete v. Berg: „Lieber das Verfassungs-Werk aufschieben, als nicht gehörig informirt daran gehen!“, und der Abgeordnete Weichsel war der Auffassung, dass man das „Werk der Verfassung“ nicht beginnen oder vollenden könne, bevor man wisse, „wer an dieser Vereinbarung Theil nehmen kann und muß […]. Diese Prüfung [könne aber…] Niemand anders, als die Nation und deren Vertreter vornehmen. Sie [könne…] nicht durch eine Behörde erfolgen, die selbst das Werkzeug einer Behörde ist, und gegen welche Mißtrauen [obwalte…]. Das Vertrauen [sei…] den Vertretern der Nation in die Hand gegeben, und dies Vertrauen müss[t]en [sie…] ehren!“ (VerhPrNV I, S. 348, 349). 677 Vgl. 3. Teil Fn. 573. 675

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da [wäre], die Verfassung zu berathen und zu vereinbaren“, gehöre dazu „nothwendig die Bestimmung der Theile der Monarchie“.678 Freilich klang mit einer „Untersuchung des Vergangenen“ unterschwellig der Kontrollgedanke an, möglicherweise in der Suche nach „Mittel[n] zur Abhülfe“ auch ein gewisser parlamentarischer Einfluss auf die Exekutive. Der Advokat Anton Bloem, der mit seiner Bemerkung, dass die Abgeordneten noch keine Geschichte schreiben könnten, aber Gesetze schreiben müssten, die Vorbereitungsfunktion prägnanter als mancher andere Redner auf den Punkt gebracht hatte, befürwortete in Wahrheit ein parlamentarisches Untersuchungsrecht als politisches Kontrollinstrument, wie das folgende Plädoyer des Düsseldorfer Demokraten gegen herkömmliche Informationsmechanismen unter Beteiligung des Gouvernements beweist: „Heißt es aber Wahrheit erforschen, wenn man, wie einige Amendements wollen, aus den Regierungs-Vorlagen die Wahrheit schöpfen will? Wahrlich mit nichten! Fragen wir, woraus die Regierungs-Vorlagen entstanden sind? Aus Berichten der Beamten größten­ theils. Woher sind die Beamten entstanden? Aus dem alten System. Sind diese Beamten verschwunden? Hat man aus neuer, volksthümlicher Wahl neue Landräthe eingesetzt? Werden wir von jenen über die wahre Stimmung in den Kreisen unterrichtet? Die alten Beamten berichten noch heute, wie sie es früher gethan haben. Selbst die Vorlage der Minister gehört dem alten Ministerium an, und das jetzige kann keine anderen Akten vorlegen, als die, welche von den früheren gesammelt sind. Es ist also klar, daß die Einsicht der Ministerial-Akten uns zu nichts führen kann, als sie gingen und gehen hervor aus einem ein­ seitigen Streben, wodurch wir in keiner Weise in die Lage gesetzt werden, die volle Wahrheit zu erkennen.“679

cc) Scheinsieg und Ernüchterung Nach dieser Grundsatzdebatte fasste die Nationalversammlung den Beschluss, in den acht Abteilungen eine Kommission von 16 Mitgliedern zur „Untersuchung der Zustände des Großherzogthums Posen“ unter Ausschluss der Posener Abgeordneten wählen zu lassen, um den „Gründe[n] und Ursachen“ der Entzweiungen auf den Grund zu gehen, „das ganze, seit der verheißenen Reorganisation der Provinz Posen und ihrer Organe beobachtete Verfahren“ sowie „die diese Provinz betreffenden nationalen Verhältnisse [zu] untersuchen“ und letztendlich „die Mittel [zu] erforschen und an[zu]geben, wie fernern Ausbrüchen der Zwietracht vorzubeugen und ein bleibender Friede zwischen den Angehörigen der deutschen und polnischen Nationalität herzustellen“ und „die beabsichtigte Reorganisation durchzuführen sei“.680 Mit diesen Beschlüssen ging das Plenum ebenso über den ursprünglichen Antrag wie über die Empfehlungen der Zentralabteilung noch hin 678

VerhPrNV I, S. 346. VerhPrNV I, S. 350. 680 VerhPrNV I, S. 354 f. 679

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aus. Anscheinend hatten die zitierten Überlegungen zur „Gesetzesvorbereitung“ eventuelle Sorgen, man könne Kompetenzen überschreiten oder sich zum Konvent aufwerfen, wenigstens insoweit zerstreut. So leicht der Nationalversammlung die grundsätzliche Entscheidung für eine Kommission mit einem weitgefassten Auftrag gefallen war, so schwer wurden ihr die Kommissionsbefugnisse. Zwar entschied eine Mehrheit von 195 zu 170 Stimmen in namentlicher Abstimmung zunächst, der Kommission „ganz freie Hand“ zu lassen“.681 Auf die zutreffende Feststellung des Präsidenten, dass über die Be­ nruh ein, fugnisse jetzt nicht mehr abzustimmen sei,682 wendete Hans Viktor v. U dass mit den bisherigen Beschlüssen keineswegs festgestellt wäre, „wie weit Privatpersonen und Behörden [der Kommission…] zu gehorchen“ hätten.683 ­Aegidius Rudolph Nikolaus Arntz, Inhaber eines Pandektenlehrstuhls in Brüssel, der wie sein Vorredner gegen die konkret beschlossene Untersuchung gestimmt hatte, sekun­dierte mit der Forderung, die „Befugnisse näher [zu] bestimmen und [zu] beschließen, wie [die Kommission…] diese Gewalt ausüben soll[e], damit diese Beschlüsse auch für Dritte bindend“ wären.684 Angesichts ihrer grundsätzlichen Ablehnung der weitergehenden Beschlüsse der Nationalversammlung liegt es nahe, dass beide Redner hofften, beim Zuschnitt der Ausschussbefugnisse verlorenen Boden wiedergutmachen zu können. Für eine rhetorische Finte spricht auch, dass sich mit Zwang durchsetzbare Pflichten schon damals nicht mit einem schlichten Parlamentsbeschluss begründen ließen. – Ebenso mag es eine vorder­gründige Antwort gewesen sein, als der Schriftsetzer Julius Brill auf diese möglicherweise vorgeschobene Abstimmungsforderung erwiderte, dass „nach einem […] Beschlusse von Seiten dieser hohen souverainen Versammlung Niemand im Lande […] wagen würde, dieser Kommission bei Erforschung der Wahrheit hindernd in den Weg zu treten“.685 Schließlich schienen zwischen den Zeilen deutlich genug Vorstellungen von Volkssouveränität, ja ggf. Konventsherrschaft durch. Der demokratische Schriftsteller Jodocus Donatus Hubertus Temme, der in der Befugnisfrage für die „freie Hand“ gestimmt hatte, fügte hinzu, dass die „Kommission […] ganz einfach die betreffenden Ministerien [requirieren könne], ihr diejenigen Organe zur Disposition zu stellen, die sie [benötige…], z. B. den Minister des Innern, 681

Frage des Präsidenten und Abstimmung in VerhPrNV I, S. 356 ff. Außerdem sollte abgestimmt werden, ob die Kommission „nur befugt sein [solle], ihre Ermittelungen auf Grund der […] Akten des Staatsministeriums vorzunehmen“ oder „die vom Staats-Ministerium […] anzuweisenden Behörden des Großherzogthums […] zum Zwecke der ihr nöthig scheinenden Ermittelungen zu requiriren“, „auch sonstige ihr zugehende und von ihr durch Vermittelung der Staats-Behörden einzuziehende Nachweise bei Ausführung ihres Auftrages zu berücksichtigen“ und „sich an Ort und Stelle [zu] begeben und Zeugen und Sachverständige [zu] vernehmen“. 683 VerhPrNV I, S. 358. B. Waldeck äußerte S. 359 ebenfalls, „daß durch den ersten Antrag alle übrigen absorbirt sind.“ Nachdem „die erste Frage angenommen [wäre, sei…] es ganz unmöglich […], über diese beschränkenden oder spezialisierenden Amendements noch abzustimmen.“ 684 VerhPrNV I, S. 358. 685 VerhPrNV I, S. 359. 682

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daß er ihr die nöthigen Polizei-Beamten zur Disposition stelle, ferner den JustizMinister, daß er ihr die richterlichen Beamten beigeselle, welche die Eide [abnähmen]“.686 Zwar redete der Staatsanwalt einer konventsherrlichen Machtfülle eindeutig nicht das Wort, stellte die Versammlung aber doch durch ein Requisitionsrecht gewissermaßen über die Regierung, um gegenüber Dritten relativ moderne, zwangsbewehrte Ermittlungsbefugnisse zu begründen. Nach diesem Vorspiel ließ Präsident Wilhelm Grabow darüber abstimmen, ob die Kommission „nur befugt sein [solle], ihre Ermittelungen auf den Grund der zu erfordernden Akten des Staats-Ministeriums vorzunehmen“. Obschon nach der Fragestellung „viele Mitglieder der äußersten Linken“ unter Protest das Lokal verließen, votierte niemand für diesen antiquierten Vorschlag. Stattdessen wurde beinahe einstimmig beschlossen, dass „die Kommission die vom Staats-Ministerium zu dem Ende anzuweisenden Behörden des Großherzogthums Posen zum Zwecke der ihr nöthig erscheinenden Ermittelungen zu requiriren befugt sein“ und auch „sonstige ihr zugehende und von ihr durch Vermittelung der Staatsbehörden einzuziehende Nachweise bei Ausführung ihres Auftrags berücksichtigen“ solle. Ungeachtet vereinzelten Protests, dass man so den ersten Beschluss desavouiere, verneinte die Mehrheit zu guter Letzt die Frage, ob sich die Kommission „an Ort und Stelle begeben“ oder „Zeugen und Sachverständige vernehmen“ dürfe.687 Eine unabhängige und unmittelbare parlamentarische Untersuchung war damit de facto ausgeschlossen. e) Würdigung der „Posener“ Debatte Die Posener Untersuchungsdebatte spiegelt den Kampf um das Untersuchungsrecht bzw. seine staatsrechtlichen Grundlagen deutlicher wider als manche andere Gelegenheit. Die Grundlagen der unterschiedlichen Positionen, das „monar­chische Prinzip“ mit dem königlichen Exekutivvorbehalt auf der einen und Demokratie und Volkssouveränität auf der anderen Seite, wurden mehr oder minder deutlich, so dass die Untersuchungsdebatte eindrucksvoll verdeutlichte, wie eng die Frage eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts mit dem Prinzipienstreit um Demokratie und Volkssouveränität vs. monarchische Herrschaft verbunden war. Während die Linke versuchte, die Autorität der Versammlung gegenüber Verwaltung und Regierung zu stärken, waren konservative und gouvernementale Kräfte bemüht, überkommene Fremdinformationsmechanismen zu bewahren. Sowohl die Zentralabteilungsmehrheit als auch verschiedene Debattenredner reagierten bemerkenswert modern auf die antiquierte Vorstellung, dass sich die Versammlung durch die politische Untersuchung eines Sachverhalts als Behörde oder Gerichtshof aufspiele; dass eine Volksvertretung bei ihrer Enquête- und Unter­ 686

VerhPrNV I, S. 358. VerhPrNV I, S. 359.

687

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suchungs­tätigkeit kein Urteil fällt und auch nichts exekutiv entscheidet, sondern lediglich einen Sachverhalt aufklärt, wird neben anderen Gründen bis heute für die Zulässigkeit paralleler Verfahren bemüht.688 Ungeachtet dessen sollten die pseudo-­gewaltenteilungsrechtlichen Bedenken der Untersuchungsrechtsgegner die Diskus­sion in den kommenden Jahren noch oft dominieren. Dass die bei dieser Gelegenheit erstmals erprobten Argumentationsmuster in der wechselhaften Geschichte des preußischen Enquête- und Untersuchungsrechts immer wiederkehren sollten, lässt die Posener Beratung gewissermaßen zum Brennglas der weiteren Entwicklung werden. In der Sache war von der „völlig freien Hand“, die der Kommission ursprünglich eingeräumt werden sollte, nicht allzu viel übrig geblieben. Es ist aber auch kaum anzunehmen, dass den Volksvertretern bei diesem unpräzisen Beschluss tatsächlich unbeschränkte Kommissionsbefugnisse vorschwebten. Wahrscheinlich hatten verschiedene Abgeordnete die Tragweite der ersten Frage nicht richtig ­aufgefasst. So bot die im Anschluss an dieses Missgeschick erzwungene ausdrückliche Beschlussfassung über die Befugnisse eine willkommene Chance zur Remedur. Im Ergebnis triumphierten gouvernementale oder wenigstens gemäßigte Kräfte über die Forderung der Linken, der Nationalversammlung ein unmittelbares Selbstinformationsrecht beizulegen.689 Genau besehen folgte man den Vorschlägen des Innenministers Friedrich Kühlwetter, der sowohl das Studium der Regierungsakten als auch Requisitionen befürwortet hatte. Damit behielt die Regierung letzten Endes, das lehrt die Erfahrung aus der Verfassungspraxis verschiedener deutscher Staaten, weitgehend die Informationshoheit, indem es faktisch in ihrem Ermessen stand, ob und welche Informationen sie beschaffte und der Versammlung zur Verfügung stellte. Zugleich sprach sich die Versammlungsmehrheit gegen ein selbständiges parla­ mentarisches Untersuchungsrecht aus und untersagte zu allem Überfluss in Gestalt der Entsendung einer Deputation oder einer Vornahme von Zeugenvernehmungen jede unmittelbare Untersuchungsmaßnahme. Ein denkbares Motiv für diesen rigorosen Schritt könnte es gewesen sein, dass die gemäßigten Kräfte schlicht Rücksicht auf das Staatsministerium nahmen oder auf seine Aufklärungsbereitschaft vertrauten. Möglicherweise regierten auch Ängste, die Vereinbarungsversammlung könne exekutive und judikative Funktionen usurpieren und zum Revolutionskonvent mutieren.690 Vor diesem Hintergrund könnten Sorgen um die „Gewaltenteilung“, wie sie insbesondere der Innenminister ins Feld geführt hatte, den gouvernementalen Etappensieg wenigstens partiell erklären, dass sich die parlamentarische Mehrheit für den Augenblick von vermeintlich exekutiven Be 688

s. 8. Teil 4. Kap. B. Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 498. 690 So könnte P. Reichenspergers Warnung vor der „höchst monstruöse[n] Stellung“ einer mit entsprechenden Attributen geschmückten Kommission auch zu verstehen sein (VerhPrNV I, S. 342). 689

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weiserhebungsbefugnissen distanzierte. Dass dieser Erfolg nicht von Dauer war, zeigte im Hochsommer 1848 die Schweidnitzer Untersuchung.691 Auch wenn die Nationalversammlung de facto letztendlich von der Koopera­ tionsbereitschaft des Staatsministeriums bzw. der Behörden abhing, lässt sich keineswegs von einem perfekten Sieg der Regierungsseite sprechen. Winfried Steffanis Einschätzung, dass die „Untersuchungskommission […] in ihrer Arbeit […] hinfort auf bloße Akteneinsicht beschränkt“ gewesen wäre,692 also mit anderen Worten in den insuffizienten Informationsmechanismen des Vormärz verharrte, greift angesichts des weitläufigen Requisitionsrechts, das ihr die Mehrheit zugedachte, zu kurz. Ebenso wenig blieb man bei konstitutionellen Formen stehen, obwohl die Kommission auf die Vermittlung der Staatsbehörden angewiesen bleiben sollte. Nach dem Buchstaben des „Einsetzungsbeschlusses“ gingen ihre Requisitionsbefugnisse gegenüber den Behörden, die zuvor durch das Ministerium zur Kooperation angewiesen werden mussten, z. B. weit über die Möglichkeiten der preußischen Provinziallandtage hinaus.693 Im deutschlandweiten Vergleich lag der Beschluss mit den liberalsten Verfassungsbestimmungen aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts694 mindestens gleichauf, ja überflügelte sie tendenziell. Indem kein einziger Abgeordneter dafür gestimmt hatte, die Posener Untersuchung auf die Durchsicht der von ministerieller Seite überlassenen Akten zu beschränken, hatte sich die Vereinbarungsversammlung überdies ebenso eindeutig wie geschlossen gegen die rigorosen informationsrechtlichen Beschränkungen ausgesprochen, denen die Kammern in den konstitutionellen Bundesstaaten unterlagen. Der Beschluss hatte damit einen eigentümlich hybriden Charakter zwischen dem Enquête- und Untersuchungsrecht auf der einen und überkommenen Fremdinformationsmechanismen in Regierungshand auf der anderen Seite. Auf der Habenseite des Enquête- und Untersuchungsrechts sind deutliche Anklänge eines parlamentarischen Kontrollanspruchs zu verbuchen,695 die sich in der Ausdehnung des Kommissionsauftrags auf das „ganze, seit der verheißenen Reorganisation der Provinz Posen und ihrer Organe beobachtete Verfahren“ niedergeschlagen haben. Zum Durchbruch kam dieser Gedanke in der Untersuchung des Schweidnitzer Vorfalls. In der Posener Frage meldete die Versammlung außerdem einen gewissen parlamentarischen Einfluss auf die kontroverse Polenpolitik an, indem sie der Kommission auftrug, „die Mittel [zu] erforschen und an[zu]geben, wie fernern Ausbrüchen der Zwietracht vorzubeugen und ein bleibender Friede […] 691

s. dazu 3. Teil 2. Kap. D. IV. W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 53 Anm. 1. 693 Vgl. § 35 des Gesetzes wegen Anordnung der Provinzial-Stände für die Mark Brandenburg und das Markgrafthum Niederlausitz vom 1. Juli 1823 sowie die analogen Vorschriften für die anderen Provinziallandtage bei C. W. Lancizolle, Rechtsquellen, 1847, S.  11 ff. und­ passim. 694 s. etwa die §§ 70 Abs. 1, 147 Abs. 2 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 und zu Hohenzollern-Sigmaringen 2. Teil 2. Kap. A. III. 695 Vgl. Fn. 719. 692

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herzustellen“ und „die beabsichtigte Reorganisation durchzuführen sei“.696 Dieser Kommissionsauftrag beschränkte sich nicht auf Vorschläge zum Verfassungswerk, bewegte sich also nicht in den Grenzen der gesetzlichen Vereinbarungskompetenz der Nationalversammlung, sondern artikulierte einen selbstbewussten Mitspracheanspruch gegenüber der monarchischen Exekutive. Für die Entstehung des Art. 73 „Charte Waldeck“ fällt diesen Beratungen durch die Fülle der ausgetauschten Argumente und die deutliche Herausarbeitung der informationsrechtlichen Alternativen gleichsam die Rolle eines staatsrechtlichen und verfassungspolitischen Repetitoriums zu, in dem Vor- und Nachteile, Nutzen und Gefahren eines selbständigen parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts ausgebreitet wurden. 3. Beratungen des Verfassungsausschusses vom 19. Juli 1848 Sicherlich standen die Mitglieder des Verfassungsausschusses noch unter dem Einfluss der Posener Grundsatzdebatte, als sie gut zwei Wochen später das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht der künftigen Verfassung behandelten. Drei von ihnen – die Abgeordneten Reuter, Bloem und Reichensperger – hatten sich bei jener Gelegenheit besonders engagiert. Tatsächlich finden sich, obwohl die Materialien dies nicht ausdrücklich belegen,697 gewisse Anknüpfungspunkte, indem Art. 73 „Charte Waldeck“ jeder Kammer die „Befugniß [zusprach], Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren“.698 Entsprechende Befugnisse waren diskutiert worden; ein Requisitionsrecht hatte selbst Innenminister Kühlwetter vorgeschlagen. Trotzdem blieb der Verfassungsausschuss weder bei den Posener Beschlüssen stehen noch nahm er in seinen Entwurf die beschränkenden Vorschläge aus der Debatte auf. Indem weder die durch Friedrich Kühlwetter befürwortete Vermittlung durch das Staatsministerium noch ein Verbot unmittelbarer Erhe­ bungen vor Ort und erst Recht keine Verpflichtung der Kommissionen in den Entwurf aufgenommen wurde, an erster Stelle das ihnen von der Regierung überlassene Material auszuwerten, votierte die Verfassungskommission für ein „echtes“ parlamentarisches Selbstinformationsrecht.

696

VerhPrNV I, S. 355. Bei K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 80 f. finden sich keine Hinweise auf die Posener Debatte. 698 „Art.  73. Eine jede Kammer hat die Befugniß, Kommissionen zur Untersuchung von­ Thatsachen zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen­ eidlich zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren.“ Abdruck bei L. v. Rönne, PrVerf 18501 1850, S. 162; M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 99. 697

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Der Vorbericht über die Rechte des künftigen Landtags stammte ausgerechnet aus der Feder Peter Reichenspergers, der in der Posener Angelegenheit eine zurückhaltende Position eingenommen hatte, dass sich ausschließlich die J­ ustiz, keinesfalls aber die Nationalversammlung „etwa durch Zeugen Aufklärung über die Vergangenheit […] verschaffen“ dürfe. Eindringlich hatte der Koblenzer Richter vor der „höchst monstruöse[n] Stellung“ gewarnt, die jede „gerichtliche oder administrative Kommission […] aus unverletzlichen Abgeordneten“ einnehmen würde.699 Angesichts seiner Vorbehalte ist es alles andere als erstaunlich, dass sich sein Vorentwurf nicht nur in dem Rahmen hielt, den die Posener Beschlüsse abgesteckt hatten, sondern sich ebenfalls in gemäßigte konstitutionelle Klischees einfügte: Nach Art.  20a sollten die künftigen Kammern lediglich das „Recht­ [erhalten], Kommissionen zur Untersuchung thatsächlicher Verhältnisse mit dem Auftrage zu ernennen, durch Vermittelung des Staats-Ministeriums die betreffenden Behörden zur Erledigung der an sie gelangenden Aufträge zu requiriren“.700 Dieser Vorschlag trug offenkundig den gewaltenteilungsrechtlichen Sorgen seines Verfassers Rechnung, indem künftige Untersuchungskommissionen nicht selbst über unmittelbare Beweiserhebungsbefugnisse verfügen, sondern auf eine Requisition von Behörden unter Vermittlung des Staatsministeriums angewiesen sein sollten. Mit der Forderung, den Volksvertretern jeden direkten Kontakt mit Privaten oder nachgeordneten Behörden vorzuenthalten, folgte diese Konstruktion eher altgedienten Mustern als dem Bauplan des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts. Gleichwohl wäre ein „echtes“ Requisitionsrecht, dem eine Pflicht der in Anspruch genommenen Stellen entsprochen hätte, eine informationsrechtliche Novität gewesen. Welchen geringen Wert mittelbare Rechte gegenüber einem entschlossenen Staatsministerium jedenfalls dann hatten, wenn sie nicht von wirkungsvollen Durchsetzungsmechanismen flankiert wurden, ließ sich der kur­ hessischen Verfassungsgeschichte der 1830er Jahre entnehmen.701 Über den Sinn und Zweck des Informationsrechts schwieg der Entwurf. Die politische Herkunft seines Verfassers, seine zurückhaltende Wortwahl, die – dem überschätzten § 91 StGG SWE 1816 ähnlich – bloß von einer „Untersuchung thatsächlicher Verhältnisse“ handelte, sowie der Verzicht auf unmittelbare Informa­ tionsmöglichkeiten legen es aber nahe, dass kein Instrument zur Regierungskontrolle geschaffen werden sollte. Nicht einmal eine Ausarbeitung von Vorschlägen, wie sie der Posener Kommission aufgetragen worden war, sah der Vorentwurf ausdrücklich vor. Überhaupt deutete der normative Kontext, in dem der betreffende Art. 20a stand, eher auf ein verhältnismäßig unpolitisches Enquêterecht zur Gesetzesvorbereitung als auf das konflikttauglichere Untersuchungsrecht hin: Art.  20 betraf das Gesetzesvorschlagsrecht des Königs und der Kammern, Art. 21 ihre Beschlussfähigkeit sowie das Mehrheitsprinzip und der folgende Artikel „Gesetzes-

699

VerhPrNV I, S. 342. K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 78. 701 s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. 700

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Vorschläge, durch welche die Bestimmungen der Verfassungs-Urkunde ergänzt, erläutert oder abgeändert werden soll[t]en“. Auf diese Aufgaben folgten erst mit einigem „Abstand“ das kontrollaffinere Adressrecht bzw. die Befugnis, dem Ministerium Bittschriften und Beschwerden zu überweisen (Art.  24 und 25).702 Zu­ allem Überfluss fehlte die Ministeranklage, nach verbreiteter Auffassung also der Schlussstein des konstitutionellen Gebäudes,703 so dass jedenfalls insoweit auch kein Selbstinformationsbedarf entstehen konnte. Verschiedene Mitglieder der Verfassungskommission verlangten gegenüber dem tendenziell konservativen Vorentwurf teils weitreichende Abänderungen.704 Etwa favorisierte der Kommissionsvorsitzende Benedikt Waldeck ohne nähere Erläuterungen das Recht der Kammern, „Kommissionen […] zur Ermittelung von Thatsachen“705 – ohne Regierungsvermittlung oder Requisitionen (!) – niederzusetzen; der Demokrat zog sein Amendement aber vor der Abstimmung zurück. Der Breslauer Lehrer Moritz Elsner, ein wichtiger Vertreter der äußersten Linken, dessen Name eng mit der Sozialenquête zur Lage der Weber und Spinner sowie der politischen Untersuchung des Schweidnitzer Blutbades verknüpft ist,706 propagierte das Recht der Kammern, „Untersuchungen anzustellen und durch ihre Kommissionen die verschiedenen Behörden für diesen Zweck zu requiriren“. Wenigstens sollte gegenüber dem Vorentwurf die Regierungsvermittlung fortfallen. Der weitestgehende Antrag stammte von Anton Bloem, der das Untersuchungsrecht schon in der Posener Debatte gegen gewaltenteilungsrechtliche Bedenken verteidigt hatte und jetzt die Befugnis jeder Kammer forderte, „Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“, die „mit dem Rechte der eidlichen Zeugenvernehmung und der Requisition der betreffenden Behörden“ ausstaffiert sein sollten. Das letzten Endes erfolgreiche Amendement des Geheimen Oberregierungsrats Maetzke ging von dem Recht der Kommissionen aus, „unter Mitwirkung richterlicher Beamten eidliche Zeugenvernehmungen vorzunehmen und die Behörden zur­ Assistenz zu requiriren“.707 Analoge Überlegungen, etwaige „Zeugen“ durch „richterliche Behörden“ vereidigen zu lassen, hatte in der Posener Debatte Antragsteller Reuter angestellt.708 Neben diesen Forderungen, die sich zwischen den Polen eines parlamentarischen Enquête- und Untersuchungs- bzw. eines regierungsvermittelten Fremdinforma­ tionsanspruchs und damit innerhalb des gewöhnlichen Spektrums der rechtspoliti 702 s. 2. Teil 3. Kap. A. I. zu der zeitgenössischen Qualifikation dieser Rechte als Mittel der Regierungskontrolle und -kritik. 703 s. die Nachw. 2. Teil Fn. 159. 704 Zur Zusammensetzung der Kommission s. S. Böhr, PrNV, 1992, S. 41. Ein Hinweis auf die Stimmung in der Kommission ist Benedikt Waldecks Wahl zum Vorsitzenden. 705 K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 81. 706 s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. und V. 707 K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 81. 708 VerhPrNV I, S. 354. Auch der Staatsanwalt und frühere Richter Julius v. Kirchmann war der Überzeugung, „daß die Behörden die Kommission hierbei [scil. der Zeugenvernehmung] gern unterstützen“ würden (S. 346).

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schen Diskussion bewegten, sprach sich Franz Rudolf Wachsmuth gegen eine allgemeine Regelung aus; stattdessen sollte „jede Kammer […] das Recht [erhalten], zur Feststellung thatsächlicher Verhältnisse Untersuchungs-Kommissionen zu ernennen, deren Befugnisse nach dem Bedürfniß durch ein jedesmaliges Special-­ Gesetz bestimmt werden“ sollten.709 Möglicherweise verwendete der Stadtrichter den „Gesetzes“-Begriff, wie es überhaupt dem damaligen Sprachgebrauch gelegentlich entsprach, untechnisch als Synonym für einen simplen Parlamentsbeschluss. Bei einem formellen Wortverständnis wäre jede Untersuchung von der Zustimmung der anderen Kammer und des Königs abhängig und infolge­dessen mit dem beabsichtigten Recht jeder Kammer inkompatibel gewesen. Andererseits hätte diese schwerfällige Konstruktion dem belgischen Vorbild entsprochen, wie es Innenminister Kühlwetter in der Posener Untersuchungsdebatte entworfen hatte. Bei einem derartigen Zuschnitt hätte das parlamentarische Informationsrecht jedenfalls nicht zu kontroversen politischen Untersuchungen getaugt, über deren Notwendigkeit oder Reichweite die Kammern uneins waren. Eine Sonderstellung nahm ebenfalls das Amendement der Abgeordneten Hesse, Joseph Johann Bauerband, Hartmann, Joseph Evelt, Eduard Baumstark, Zachariae und Ulrich ein, statt auf ein kommissionsvermitteltes Untersuchungsrecht – möglicherweise nach englischem Vorbild710 – auf ein Recht des Plenums zu setzen, „durch Vermittelung des Staats-Ministeriums die betreffenden Behörden zur Erledigung von Aufträgen zu requiriren“.711 Das knappe Protokoll, das Karl Friedrich Rauer Anfang April 1849 publizierte,712 bleibt Details zu den Beratungen des Verfassungsausschusses vom 19. Juli 1848­ bedauerlicherweise schuldig; fest steht nur, dass die Anträge Anton und Hesse­ ausdrücklich „durch Abstimmung verworfen“ wurden, während sich die übrigen Verbesserungsvorschläge mit der Annahme des Amendements Maetzke erledigten,713 das so gemeinsam mit dem Vorentwurf Peter Reichenspergers zur Grundlage von Art. 73 „Charte Waldeck“ avancierte. 4. Eine Einordnung des Art. 73 „Charte Waldeck“ Mit der endgültigen Fassung der Entwurfsbestimmung, die den künftigen Kammern die Befugnis gab, „Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich 709

K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 81. Zur Zeugenvernehmung durch das Haus s. T. E. May, Treatise, 1844, S. 239 oder J. Hatschek, EnglStaatsR I, 1905, S. 422. 711 K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 81: „Jede Kammer hat das Recht, über thatsächliche Verhältnisse Untersuchungen anzustellen und zu dem Ende durch Vermittelung des Staats-­ Ministeriums die betreffenden Behörden zur Erledigung von Aufträgen zu requiriren.“ 712 s. die Datierung am Ende des Vorworts. 713 K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 81. 710

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zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren“,714 knüpfte die Verfassungskommission äußerlich an die Posener Beschlüsse an, erweiterte diese aber zugleich um die wichtige Möglichkeit (eidlicher) Zeugenvernehmung. In der Entwurfsbegründung hieß es lapidar, dass den Kammern das „Recht, UntersuchungsKommissionen zu ernennen, […] vindizirt werden [müsse], wenn sie mit voller Sachkenntniß alle zu ihrer Wirksamkeit gehörigen Aufgaben lösen soll[t]en“.715 Hatte die Gesetzesvorbereitung in Peter Reichenspergers Vorentwurf noch ganz im Vordergrund gestanden, schloss dieser pauschale Hinweis – gewissermaßen im Vorgriff auf die Korollartheorie  – das gesamte parlamentarische Aufgabenspektrum ein. Das Informationsrecht der Kammern hätte sich also voraussichtlich, wäre Art. 73 in Kraft getreten, ebenso auf die Geltendmachung der Regierungsverantwortlichkeit (Art. 44) einschließlich der Vorbereitung kritischer Adressen (Art. 76) oder einer Ministeranklage (Art. 54) wie auf die Mitwirkung an der Gesetzgebung (Art. 55) respektive bei „Verträge[n] und Friedensschlüsse[n] mit fremden Staaten“ (Art. 47) und auf die Ausübung der finanzverfassungsrechtlichen Kompetenzen der Kammern (Art. 96 ff.) erstreckt. Angesichts der Quellenlage lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, wie weit die Verfassungskommission tatsächlich informationsrechtlich gehen wollte. Insbesondere finden sich in den knappen Protokollen zu Ministeranklage und Adressrecht keine Hinweise auf vorbereitende Enquêten oder Untersuchungen.716 Plenarberatungen, die nähere Aufschlüsse geben könnten, hat es nicht gegeben, weil die Vereinbarungsversammlung, lange bevor man den Entwurf des Art.  73 „Charte Waldeck“ behandeln konnte, aufgelöst wurde.717 Als Kehrseite dieser Unsicherheit gibt es ebenso wenig belastbare Indizien für eine restriktive Interpretation. Für ein weites informationsrechtliches Konzept spricht aber der revolutionäre Grundcharakter des Kommissionsentwurfs, der die Rechte der Volksvertretung vielfach auf Kosten der Krone stärken sollte.718 Außerdem hätte die erst kurze Zeit zurückliegende Posener Debatte, in der insbesondere auch der Gedanke einer parlamentarischen Regierungskontrolle unüberhörbar angeklungen war,719 deutliche 714

„Art. 73. Eine jede Kammer hat die Befugniß, Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren.“ Abdruck bei L. v. Rönne, PrVerf 18501 1850, S. 162; M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 99. 715 K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 132 (Hervorhebung nur hier). 716 Vgl. K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 74 f., 130 sowie 81 f., 132. 717 Vgl. M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 11 f. 718 Politische Charakterisierungen der „Charte Waldeck“ liefern M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 538 ff.; E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 730 ff.; M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 8 ff. 719 So verlangte die vierte Abteilung, dass „die Kommission auch zur Prüfung des von der Regierung und ihrer Organe seit der versprochenen Reorganisation […] beobachteten Verfahrens übergehen“ solle. Die Zentralabteilung ging darüber noch hinaus, indem „gleichzeitig […] das ganze seit der Reorganisation der Provinz Posen seitens der Regierung beobachtete Verfahren, […] die diese Provinz betreffenden nationalen Verhältnisse untersucht, und […] die Mittel angegeben werden [möchten…], wie ferneren Ausbrüchen der Zwietracht vorgebeugt und

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Hinweise erwarten lassen, wenn die Abgeordneten einem engen Zuschnitt des Informationsrechts den Vorzug hätten geben wollen. Demgegenüber ist die aus dem Vormärz bekannte, gegenläufige Kompetenzvermutung zugunsten des Monarchen720 für die Auslegung der auf dem Höhepunkt der Revolution geschaffenen „Charte Waldeck“ ohne Belang. Für einen politischen Zuschnitt des Selbstinformationsrechts im Sinne eines „echten“ Untersuchungsrechts spricht weiterhin, dass der Gedanke parlamenta­ rischer Exekutiv- und Regierungskontrolle 1848 auch unabhängig von der ­Posener Untersuchungsdebatte kein totales Novum war. Im Oktober 1840 hatte der Staatsminister und Oberpräsident der Provinz Preußen Theodor v. Schön, ein früherer Mitarbeiter des Freiherrn v. Stein, in seiner Denkschrift „Woher und Wohin?“ gefordert, auf die politische Mitsprache des aufgeklärten Bürgertums statt auf den verderblichen Machterhalt des Beamtenapparates zu setzen. Eine „ständische Repräsentation“ gebe dem Monarchen „für die Würdigkeit und Tüchtigkeit seiner Beamten unfehlbar den besten, vielleicht den einzigen, bleibend wirksamen Prüfstein. Wer vor die Stände zu treten […], wer Rechenschaft über seine Verwaltung vor ihnen ab[zu]legen [habe, könne…] nicht unwissend und kopflos sein; böser Wille [müsse…] schnell zu Schanden werden. Um so sicherer [dürfe…] der Souverain darauf vertrauen, daß er stets zum rechten Amte den rechten Mann gewählt habe; […] im öffentlichen Leben der ständischen Repräsentation [fänden…] alle Kabalen und alle Polizeikünste stets ein schnelles Ende“.721 Diese Thesen des Alters­präsidenten der Vereinbarungsversammlung hatten in kritischen Kreisen die Runde gemacht. Parlamentarische Beteiligung und Kontrolle entsprachen dem Geist der Zeit. Gründe, die mutmaßliche Kontrolldimension722 des Art. 73 nicht offen auszu­ sprechen, gab es genug: Einmal dürfte der Kompromisscharakter des Art. 82 PrVerf 1850723 ebenfalls schon Art.  73 angehangen haben, indem ein neutraler und für­ ein bleibender Friede hergestellt werden solle“ (VerhPrNV I, S. 339 f.). Am 4. Juli 1848 sprach R. Reuter im Plenum an, „ob die National-Versammlung als unabhängiger Volkskörper die rechtliche Befugniß [besitze…], in Ausübung der Kontrolle über die Staats-Verwaltung sich selbstständig ihr Urtheil über Thatsachen zu schaffen oder nicht, oder ob sie verpflichtet [bleibe…], von den Behörden und der zu kontrollirenden Verwaltung allein die Auskunft zu verlangen“ (S. 354). H. V. v. Unruh hielt eine parlamentarische Untersuchung dann für erforderlich, wenn die Regierung bereits eingeschritten sei, weil es ihr dann „sehr schwer, ja unmöglich sein [müsse], die Sache völlig objektiv darzustellen“ (S. 344 f.). Im konkreten Fall forderte der Abgeordnete Weichsel eine parlamentarische Prüfung aufgrund des Misstrauens gegen die Behörden (S. 349). 720 s. 2. Teil 1. Kap. C. I. 1. 721 s. die ohne Wissen des Autors 1842 publizierte Schrift „Woher und Wohin?“, S.  8 ff. (Hervorhebung nur hier). Zu den Umständen der Veröffentlichung durch Georg Fein und den­ Folgen für Schön s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 486 f. sowie zu Person und Wirken W. Maurenbrecher, ADB XXXII, 1891, S. 781 ff. 722 Vgl. auch E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 731 f. zu Art. 73: „Der Entwurf nahm­ damit für die Kammern ein bedeutendes Kontrollrecht gegenüber der Regierung wie der Verwaltung in Anspruch.“ 723 Vgl. Benedikt Waldeck entsprechende Äußerung in VerhNdtRT I/1868, S. 261.

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unterschiedliche Auslegungen offener Wortlaut gewählt wurde. Außerdem wäre eine normative „Drohung“, dass jedes exekutive Fehlverhalten künftig vor das parlamentarische Forum gezogen und unter den Augen der Öffentlichkeit seziert werden könnte, als Gegenstand für die Verfassungsvereinbarung mit der Krone wenig geeignet gewesen. Politisch war es eindeutig klüger, parlamentarische Mitspracheund Kontrollforderungen, die auf Kosten der monarchischen Macht gehen sollten, nicht offen und direkt, sondern verklausuliert und in interpretationsbedürf­tigen Formeln vorzutragen. Nichts anderes gilt für die Befugnisse, die man künftigen Enquête- und Untersuchungskommissionen mit Art.  73 einräumen wollte. Obwohl sie ausdrücklich über das Recht verfügen sollten, Verwaltungs- und richterliche Behörden für ihre Zwecke zu requirieren, steht keineswegs fest, dass man ihnen damit zugleich unmittelbare Selbstinformationsmöglichkeiten vorenthalten wollte. Der Entwurfswortlaut wäre ebenso gut mit einer Interpretation kompatibel, die eine „Mitwirkung richterlicher Beamter“ ausschließlich für eidliche Zeugenvernehmungen verlangt. Tatsächlich führten sowohl die Nationalversammlung als auch die späteren Kammern  – diese freilich aufgrund von Art.  81 PrVerf  1848 bzw. Art.  82 PrVerf 1850 – selbständig uneidliche, freiwillige Zeugenvernehmungen durch. In demselben Sinn könnte auch die Requisition der Behörden als zusätzliche Befugnis und nicht – wie in den Posener Beschlüssen – als zwingende und beschränkende Ausübungsmodalität konzipiert gewesen sein; auf eine solche Deutung weist der Zusatz „zur Assistenz“ hin. Dass der Verfassungskommission jedenfalls keine ausschließlich mittelbaren Informationsmechanismen vorschwebten, belegt die Begründungspassage, dass es „unnöthig [sei], die Requisition der Behörde nur durch Vermittelung des Staats-Ministeriums eintreten zu lassen“.724 Indem der Entwurf auch sonst gleich mehrfach mit bisherigen konstitutionellen Regeln brach, liegt es durchaus nahe, dass man die künftigen Kommissionen – Bedenken aus der Posener Debatte folgend – mit Hilfe der vermeintlichen Beschränkungen in Wahrheit „mit einer gewissen Machtvollkommenheit“ ausstaffieren wollte.725 Letztendlich spricht damit einiges dafür, dass sich hinter dem scheinbar harm­ losen Wortlaut des Art. 73 „Charte Waldeck“ ein relativ modernes Enquête- und Untersuchungsrecht verbarg, das – jedenfalls unter Mitwirkung der Gerichte und Behörden – auch Pflicht, Zwang und Eid eingeschlossen hätte.

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K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 132. Vgl. VerhPrNV I, S. 349.

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III. Scheitern und Leistung der „Charte Waldeck“ Dem Werk der preußischen Vereinbarungsversammlung war noch weit weniger Glück beschieden als der Paulskirchenverfassung. Als die parlamentarische Linke die Kompromissbereitschaft des Ministeriums v. Pfuel in der Septemberkrise726 mit Schwäche verwechselte und mit dem Versuch, den Adel, sämtliche Privilegien und das Gottesgnadentum abzuschaffen, in der Verfassungsdiskussion radikale Töne anschlug, verschärfte sich der konservative Widerstand gegen die Revolution.727 Nach dem Sturz des gemäßigten Generals begrüßte die Versammlung den neuen Ministerpräsidenten Friedrich Wilhelm v. Brandenburg mit einem Misstrauensvotum, dessen Zurkenntnisnahme der König verweigerte.728 Nach weiteren Zwischenfällen ließ Friedrich Wilhelm IV. die Nationalversammlung am 9. November 1848 nach Brandenburg an der Havel verlegen und auf den 27. vertagen.729 Während sich 77 überwiegend konservative Abgeordnete fügten, verurteilte eine Mehrheit von 252 gegenüber 30 Stimmen dieses Diktat als rechtswidrig.730 Fortan versammelte sich der oppositionelle Kern der Versammlung an wechselnden Lokalitäten. Den Höhepunkt des verzweifelten Machtkampfes markierte der „Steuerverweigerungsbeschluss“ vom 15. November 1848,731 dem Rudolph Gneist später die Bedeutung beimaß, „nach Bewandniß der Umstände entweder zu einem Ministerwechsel, oder zu einer Kammerauflösung oder zur Contrerevolution“ führen zu müssen.732 Friedrich Wilhelm IV. entschied sich dafür, das parlamentarische Schauspiel zu beenden. Als Preis für die Auflösung der Nationalversammlung oktroyierte der König die freisinnige Verfassungs-Urkunde für den preußischen Staat vom 5. Dezember 1848.733 Der vermeintliche Akt monarchischer Notwehr, der einen gewissen Vor 726

I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 265 ff. Dazu W. Oncken, Wilhelm I, 1890, S. 278 f. 728 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 746 ff.; W. Oncken, Wilhelm I, 1890, S. 282. 729 Vgl. D. C. Umbach, Parlamentsauflösung, 1989, S. 157 f. 730 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S.  741 ff.; I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S.  3 (267 ff.); F. Frahm, ForschBbgPrGesch 41 (1928), 248 (271 ff.). 731 Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 755 f. sowie I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (270 ff.). 732 R. Gneist, Zustände, 1849, 1849, S. 74. F. J. Stahl, Staatslehre3 1856, S. 389 f. qualifizierte eine „unbedingte Steuerverweigerung, welche die Regierung selbst in Frage stellt, welche den Fürsten nöthigt, den Ständen überall zu willfahren“, als unvereinbar mit dem „monarchischen Prinzip“. – Die Paulskirchenversammlung erklärte den „auf Suspension der Steuererhebung gerichteten, offenbar rechtswidrigen, die Staatsgesellschaft gefährdenden Beschluß“ am 20. November 1848 „ausdrücklich für null und nichtig“, forderte die provisorische Zentralgewalt aber zugleich auf, „durch die in Berlin anwesenden Reichscommissäre hinzuwirken auf Ernennung eines Ministeriums, welches das Vertrauen des Landes besitzt“ (Wigard, VerhFNV, S. 3465, 3470, 3474). 733 Zu Auflösung und Oktroyierung s. PrGS. S. 371 ff. In der Verordnung vom selben Tage hieß es, der Monarch habe aus dem „Berichte [des…] Staatsministeriums über die letzten Sitzungen der […] Versammlung zu [seinem…] tiefen Schmerze die Ueberzeugung gewonnen, daß das große Werk, zu welchem diese Versammlung berufen [worden sei…], mit derselben, ohne Verletzung der Würde [der…] Krone und ohne Beeinträchtigung des davon unzertrennlichen Wohles des Landes, nicht länger fortgeführt werden“ könne. 727

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geschmack auf die „Lückentheorie“ bot, auf deren Grundlage Otto v. Bismarck gut 15 Jahre später budgetlos regieren sollte, wurde unterschiedlich aufgenommen. Johann Gustav Droysen notierte unter dem 7. Dezember 1848 in sein Frankfurter Tagebuch: „Aus Berlin kommt die oktroyierte Verfassung, im höchsten Maß freisinnig, aber doch gegeben“.734 Deutlicher klagte der Liberale Karl August Varnhagen v. Ense seinem Diarium: „Dann bringt der ‚Staatsanzeiger‘ die Auflösung unsrer Nationalversammlung, so schlecht motivirt als möglich, und ferner die vom Könige oktroyirte Verfassung, eben so schlecht motivirt  […]. Frei ist sie genug, die Zugeständnisse übergroß, aber man fragt, warum, wenn man so viel geben wollte, den leidenschaftlichen gefährlichen Umweg, warum ein Ultra-­ Ministerium, warum den Hader mit der Nationalversammlung?“735 Anders als diese kritischen Stimmen begrüßte der Konservative Friedrich Julius Stahl736 die Verfassungsurkunde „vor allem deshalb mit Befriedigung, weil sie vom Könige ausgehend […] dem Standpunkte der Revolution auch den letzten Schein“ genommen habe.737 Welche Bedeutung diesem Schritt von der royal gesinnten Seite beigemessen wurde, zeigt beispielsweise eine Äußerung des Hallenser Staatswissenschaftlers Johann Friedrich Gottfried Eiselen, der die Oktroyierung noch 1862 zur „rettende[n] That“ verklärte.738 Jenseits der politischen Lager erregte der vermeintliche Staatsstreich in der breiteren Öffentlichkeit anscheinend wenig Aufsehen. Überwiegend wurden die ministerielle Politik und die Verfassungsgabe stillschweigend hingenommen.739 Teilweise hieß es sogar ein Stück weit anerkennend, der König habe die „Charte Waldeck“ in Kraft gesetzt.740 Unter derselben Firma741 lehnten die Konservativen die Verfassung als unhaltbar ab.742 Ungeachtet der rechtlichen Bewertung der „rettenden Tat“ – trotz der ­Tatsache, dass im Wahlgesetz weder Auflösung noch Vertagung vorbehalten waren,743 ließ sich der vermeintliche „Staatsstreich“ möglicherweise auf die Verwurzelung der 734

Abdruck bei R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 835 (Hervorhebung nur hier). s. L. Assing (Hg.), Tagebücher V, 1862, S. 327 f. 736 Zu dessen Wirken im Vormärz s. W. Durner, Antiparlamentarismus, 1997, S. 33 ff. 737 F. J. Stahl, Revolution, 1848, S. VI. 738 J. F. G. Eiselen, Pr. Staat, 1862, S. 301 f. Ebenso L. Hahn, Gesch7 1867, S. 460. 739 So G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S.  32 f. und H.  Wegge, Öffentlichkeit, 1932, S. 45 ff. m. w. N. zur publizierten Meinung. 740 Vgl. H. Wegge, Öffentlichkeit, 1932, S. 48: „Die Regierung habe die Vorarbeiten der N. V. benutzt und den Entwurf der Verfassungskommission als rechtsgültige preußische Verfassung veröffentlicht, allerdings mit einigen Aenderungen, zu denen sie als gleichberechtigter Kon­ trahent bei dem Werke der Vereinbarung befugt gewesen sei“. 741 Zur Verwendung der Bezeichnung als „Charte Waldeck“ durch die „äußerste Rechte“ vgl. etwa L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 497. 742 Vgl. H. Wegge, Öffentlichkeit, 1932, S. 51 ff. 743 s. dazu H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 37. D. Hansemann, Verfassungswerk, 1850, S. 94 interpretierte das Wahlgesetz so, dass die Krone mit dem Vereinbarungsprinzip keineswegs das „Recht […] vergeben [habe], die Nationalversammlung aufzulösen und Behufs Einführung der constitutionellen Verfassung einen andern Weg einzuschlagen, wenn eine Vereinbarung mit­ jener Versammlung nicht möglich sein sollte.“ 735

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Vereinbarungsversammlung in der alten Ordnung stützen,744 – konnten die Volksvertreter die meisten Vorschriften der „Charte Waldeck“ einschließlich ihres 73. Artikels nicht mehr beraten.745 Ob dieser Artikel die parlamentarische Arbeit unbeschadet überstanden hätte, lässt sich deswegen bloß spekulieren. Bedeutender als diese theoretische Frage ist der unbestreitbare Erfolg, dass das unbequeme parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht, durch Art. 81 PrVerf 1848 Einzug in die oktroyierte Verfassungsurkunde hielt, obwohl nicht einmal der Entwurf des Märzministeriums Camphausen-Hansemann entsprechende Regeln vorgesehen hatte. Nach dem Fortfall der Kommissionsbefugnisse, „unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren“, ähnelte diese Vorschrift mehr dem Vorbild des Art. 40 BelgVerf 1831 als dem Entwurf des Verfassungsausschusses. Gewissermaßen wurde durch den offenen Wortlaut der unvermeidbare Streit um die Reichweite dieser Befugnis auf kommende Gelegenheiten vertagt.

D. Die Praxis der Vereinbarungsversammlung Der Beitrag, den die Berliner Vereinbarungsversammlung zu der Geschichte des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts geleistet hat, beschränkt sich nicht auf das Verfassungswerk. Ähnlich wie in der Frankfurter Paulskirche führten ihre Ausschüsse verschiedene selbständige Erhebungen oder Ermittlungen durch, die sich bei genauerer Betrachtung als Anwendungsfälle eines parlamen­ tarischen Selbstinformationsrechts entpuppen.

744 Zur Bewertung als „Staatsstreich“ s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 753 f., 763. Diese Bezeichnung kam anscheinend schon 1848 auf. Vgl. H. Wegge, Öffentlichkeit, 1932, S.  45. Krit. gegenüber der Staatsstreichthese M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S.  22 und ders., VerfGesch, 2007, Rn. 1813, weil der König bis zum Inkrafttreten eines vereinbarten oder oktroyierten Staatsgrundgesetzes berechtigt gewesen sei, seine Zusagen zu widerrufen. – Insoweit ist relevant, dass das Wahlgesetz zwar nach Anhörung des Vereinigten Landtags, dann aber doch einseitig durch den König gegeben worden war. Mit dieser Verwurzelung der Vereinbarungsversammlung im alten Recht, stand es dem Monarchen frei, sich auf weitere Beratungen einzulassen oder diese als gescheitert mit der Auflösung der Versammlung zu beenden, einseitig eine Verfassung zu geben oder alles beim Alten zu belassen. Zu dieser Interpretation vgl. C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 9. Außerdem verliehen die gleichzeitige Oktroyierung der Verfassungsurkunde und Ankündigung von Wahlen zu den Kammern der Auflösung den Charakter eines Appells des Monarchen an das Volk, bei den anstehenden Wahlen für das gouvernementale Programm zu stimmen. Hinzu kam das Revisionsversprechen, das freilich unter Geltung der gegebenen Verfassung erfüllt werden sollte. 745 Vor der Auflösung der Vereinbarungsversammlung hatten ihre Abteilungen lediglich die Einleitung, die Art. 1 bis 4, 18 bis 25 sowie 96 bis 101 des Verfassungsentwurfs vorberaten. s. dazu M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 11 f.

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I. Grundlagen Die Vereinbarungsversammlung verfügte für Enquêten und Untersuchungen noch viel weniger als die Frankfurter Nationalversammlung über eine belastbare Rechtsgrundlage. Zwar sprach ihr § 13 Pr­Vereinb­Vers­WahlG 1848 das Recht zu, „die seitherigen reichsständischen Befugnisse, namentlich in Bezug auf die Bewilligung von Steuern und Staatsanleihen für die Dauer ihrer Versammlung interimistisch auszuüben“. Ein allgemeines Selbstinformations- oder Regierungskontrollrecht modernen Zuschnitts gehörte aber gerade nicht hierher. Ausdrücklich stand der Versammlung gemäß § 11 Pr­Vereinb­Vers­WahlG  1848 einzig und allein die „Prüfung der Richtigkeit der Wahl“ zu; der vermutlich von David Hansemann ausgearbeitete746 Reglementsentwurf der Staatsregierung, den die Versammlung mit gewissen Einschränkungen am 27. Mai 1848 als provisorische Geschäftsordnung adoptierte,747 sah insoweit lediglich „das Recht [vor], die Aufklärung et­waiger Zweifel zu verordnen“; § 2 GO-PrNV 1848 behielt diese Regelung bei. Neben diesem Fremdinformationsmechanismus waren keine eigenständigen Selbstinformationsmöglichkeiten vorgesehen. Im Allgemeinen folgte das provisorische Reglement ausgetretenen Pfaden: Nach französisch-belgischem Vorbild748 fand die Vorberatung in ausgelosten Abteilungen statt (§§ 14 ff. Prov­GO-PrNV 1848), deren Berichterstatter sich zu einer Zentralabteilung vereinigten (§ 18 Prov­GO-PrNV 1848). Ihre Gutachten wurden gedruckt, verteilt und – in einer „angemessene[n] Zahl von Exemplaren“ – auch dem Ministerium überlassen (§ 20 Prov­GO-PrNV 1848). Als Alternative zu diesem „äußerst schleppenden Geschäftsgange“ (Hans Viktor v. Unruh)749 sah § 23 Prov­GO-PrNV 1848 die Möglichkeit vor, „über einen oder mehrere Gegenstände eines Gesetzes-Vorschlages besondere Kommissionen zu bilden und deren Mitglieder durch Loos oder Wahl oder durch sonstige Uebereinstimmung zu ernennen“. Über die eingehenden Bittschriften  – es waren in der kurzen Dauer der Nationalversammlung wohl insgesamt mehr als 13.500750 – erstattete die in den Abteilungen gewählte Petitionskommission dem Plenum wöchentlich Bericht (§  21 Prov­GO-PrNV 1848). Nach konstitutionellem Muster hatten die „Minister des Königs und diejenigen Staats-Beamten, welche sie zu ihrer Vertretung oder Assistenz abordne[te]n, […] Zutritt zu der Versammlung und [mussten…] auf ihr Verlangen gehört werden“. Im Gegenzug besaß die Vereinbarungsversammlung ein Zitierrecht (§ 13 ProvGO-­ 746

A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 471; H. v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 90. 747 Vgl. VerhPrNV I, S. 4 ff. und 28 ff. sowie dazu M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 493 f. 748 Vgl. J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 92 f. 749 H. v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 90. Krit. auch A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 471. 750 Vgl. VerhPrNV III, S. 409 ff.

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PrNV  1848). Außerdem verfügten die „Minister oder die von ihnen beauftragten Staats-Beamten“ über das Recht, „den Berathungen der Central-Section und einer jeden Kommission, um Aufklärung zu ertheilen, bei[zu]wohnen“ (§ 25 Prov­ GO-PrNV 1848). Diese Kombination eines ausgedehnten ministeriellen Zutrittsund Rederechts mit einem Zitierrecht der Nationalversammlung dürfte – wie schon in den Einzelstaaten – sowohl einer Verfahrenserleichterung als auch zur Information der Volksvertretung gedient, gleichzeitig aber insbesondere der Regierung eine Möglichkeit eröffnet haben, den gouvernementalen Standpunkt frühzeitig in der Versammlung zu verteidigen.751 Obwohl der Vereinbarungsversammlung die Geschäftsordnungsautonomie nicht ausdrücklich eingeräumt worden war, sondern § 60 des Verfassungsentwurfs dieses Recht lediglich für die künftigen Kammern in Aussicht stellte, nahmen die Abgeordneten diese Befugnis anscheinend unwidersprochen in Anspruch, indem sie gut einen Monat nach der Annahme des Provisoriums verschiedene Änderungen beschlossen.752 Bei dieser Revision wurde das Abteilungssystem zwar grundsätzlich beibehalten (§§ 12 ff. GO-PrNV 1848), aber dennoch zugelassen, dass „besondere Kommissionen“ nach § 20 GO-PrNV 1848 n. F. nicht nur für die „Bearbeitung eines Gesetzes-Vorschlags“, sondern ebenso wegen jedes „sonstigen speziellen Gegenstandes oder eines ganzen Fachs von Gegenständen“ niedergesetzt wurden. Die Möglichkeit, für beliebige Zwecke Sonderkommissionen zu bilden, ist eine wichtige Voraussetzung jeder eigenständigen Untersuchung von Tatsachen. Dessen ungeachtet wurde auch bei dieser Gelegenheit kein ausdrückliches Enquêteund Untersuchungsrecht nach dem Vorbild des § 24 GO-FNV 1848 in das Reglement aufgenommen. Wenigstens wurde in den §§ 28 f. GO-PrNV 1848 ein Interpellationsrecht verankert. Eine Anfrage setzte die Unterstützung durch 25 Abgeordnete voraus. Fand sich das Ministerium zur Antwort bereit, wurde dem „Interpellanten zunächst die Einleitung seiner Interpellation verstattet“. Waren er oder ein anderes Mitglied der „Ansicht, daß die von dem Ministerium ertheilte Antwort die Frage nicht erschöpft habe, [war ihnen…] darüber das Wort gestattet“. Jede „Diskussion über den materiellen Gegenstand“ blieb ausdrücklich untersagt (§ 28 GO-PrNV 1848). Trotz dieser Beschränkung war das Interpellationsrecht eine wirkungsvolle Möglichkeit der Minderheit, um die Regierung vor den Augen des Publikums anzu­klagen, von der in der Praxis ausgiebiger Gebrauch gemacht wurde. Die Bedeutung dieses Instruments spiegelt Carl d’Esters Einschätzung wider, dass die Öffentlichkeit die einzige ideelle Machtbasis der Nationalversammlung gewesen wäre.753

751 Vgl. zu Sinn und Zweck dieser üblichen Konstellation 2. Teil 1. Kap. C. I. 3. sowie zu dem insoweit typischen Baden 2. Teil 2. Kap. B. I. 2. 752 Vgl. dazu M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 498 f. sowie VerhPrNV I, S. 265 ff. 753 C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 11. Zu Recht weist z. B. H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (7 f.) auf den krassen Widerspruch zwischen der faktisch parlamentarischen Regierungsweise des Märzministeriums und den realen Macht- sowie den Verfassungsverhältnissen hin.

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Weder das Wahlgesetz noch das Reglement gewährten der Vereinbarungsversammlung also ein Enquête- und Untersuchungsrecht. Anders als der Frankfurter Reichstag verfügte sie nicht über selbständige oder gar exklusive Gesetzgebungsbefugnisse; vielmehr war der preußischen Nationalversammlung das Vereinbarungsprinzip ins Pflichtenheft geschrieben. Trotzdem entfaltete sich in der Berliner Singakademie eine mit der Praxis in der Paulskirche vergleichbare­ Informationstätigkeit, die sich ebenfalls keineswegs in unspektakulären Gesetzesvorbereitungsenquêten erschöpfte.

II. Wahlprüfungen und Immunitätssachen Als Kollegialenquêten bezeichnet man parlamentarische Untersuchungen, die das „Verhalten eines Abgeordneten innerhalb und außerhalb der Volksvertretung“ zum Gegenstand haben; sie dienen Integrität und Vertrauenswürdigkeit des Parlaments.754 Wahlprüfungen gehören heute wegen Art. 41 GG nicht hierher. Lässt man aber in einem weiteren Sinne genügen, dass sich parlamentarische Ermittlungen auf einen Abgeordneten beziehen, lassen sich die Berliner „Wahlenquêten“ doch mit diesem Attribut schmücken.755 1. Wahlprüfungen Hatte für die Provinziallandtage noch ein königlicher Landtagskommissarius „zu prüfen, ob [die Wahlen…] in der Form und nach den Eigenschaften der Abgeordneten, der Vorschrift gemäß, geschehen“ waren,756 übereignete § 11 Pr­Vereinb­ Vers­WahlG  1848 diesen Teil  der Konstitutierung der Nationalversammlung. Zu diesem Zweck räumten § 5 Prov­GO-PrNV 1848 und § 2 GO-PrNV 1848 dem Plenum übereinstimmend das Recht ein, „die Aufklärung etwaiger Zweifel zu verordnen“. Angesichts des Wortlauts, der nicht von eigenen Ermittlungen handelte, liegt ein besonderes Requisitions- oder interpellationsartiges Recht nahe. Noch bevor das provisorische Reglement beschlossen wurde, das eine Verteilung der „Wahl-Protokolle mit den Belägen und den etwa eingegangenen Protestationen […] unter die acht Abtheilungen“ vorsah (§ 4), hatte eine ausgeloste Kommission mit den Wahlprüfungen begonnen. Beanstandungen des Referenten oder Korreferenten wurden in der Kommission behandelt. Teilte die Mehr 754

So K. Stein, Verantwortlichkeit, 2009, S. 400, 402. Zur „Wahlenquête“ vgl. L.-A. Versteyl, in: vMüK4–5 II, 2001, Art. 44 Rn. 3, 19. 756 Bestanden „in dieser Beziehung Mängel“, konnte er „eine andere Wahl […] verlangen“. S.  § 28 des Gesetzes wegen Anordnung der Provinzial-Stände für die Mark Brandenburg und das Markgrafthum Niederlausitz vom 1.  Juli 1823 sowie gleichlautende Vorschriften für die übrigen Provinziallandtage bei C. W. Lancizolle, Rechtsquellen, 1847, S.  11 ff. und­ passim. 755

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heit oder wenigstens eine „beträchtliche Minorität“ die Bedenken, kam die Sache vor das Plenum.757 Die Wahlprüfungskommission veranlasste keine Aufklärungen über die gesetzlichen „Qualitäten eines Abgeordneten“, sondern unterstellte Staatsangehörigkeit, Alter und den „Vollbesitz der bürgerlichen Rechte“ solange, „bis die gegentheilige Behauptung aufgestellt und erwiesen“ wurde.758 Abweichend davon fanden teils Ermittlungen über die Wahldurchführung statt.759 Die wohl spektakulärste Forderung einer „nähere[n] Untersuchung“ betraf die Wahlen des Prinzen von Preußen und seines Stellvertreters, die laut amtlicher Versicherung des Landrats einer „Insurrection“ wegen nicht an dem ursprünglichen Termin, sondern erst elf Tage später stattgefunden hatten.760 Anscheinend kam die Angelegenheit letztendlich aber nicht mehr zur Sprache. Später veranlasste die erste Abteilung, die das Wahlprüfungsgeschäft übernommen hatte, die Aufklärung von Zweifeln über eine Nachwahl.761 Der Protest, fünf Wahlmänner hätten nicht aus dem Bezirk gestammt, in dem sie gewählt worden seien, wurde – mit dem Reglement übereinstimmend – „seitens des Vorsitzenden an den Minister des Innern remittirt“, der den Magistrat zur Auskunft aufforderte.762 Zu der manipulativen Einteilung der Wahlkreise sowie anderen Machinationen in der Stadt Posen wurde ausgerechnet der gewählte Land- und Stadtgerichtsrat Neumann befragt, der, wie nicht anders zu erwarten, sämtliche Vorwürfe zurückwies.763 In der Debatte präsentierte der Linke Eduard Graf v. Reichenbach eine „gedruckte Eintheilung Posens“ in polnischer Sprache und forderte, diese „der Wichtigkeit der Sache angemessen […] durch einen Dolmetscher“ prüfen zu lassen.764 Stattdessen erkannte das Plenum, nachdem sich noch verschiedene ortskundige Abgeordnete in dem einen oder anderen Sinne geäußert hatten, die Wahl ohne nähere Untersuchung an.765

757 VerhPrNV I, S. 1, 6 f. s. ferner dazu sowie zu den teils chaotischen Zuständen in der Versammlung H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 33. 758 VerhPrNV I, S. 10. 759 Vgl. VerhPrNV I, S. 14 ff., 17 f. 760 VerhPrNV I, S. 18 f. 761 Es ging um das Mandat von J. v. Kirchmann, den die Regierung zum Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts in Ratibor ernannt hatte, um ihn aus der Nationalversammlung zu entfernen. Gesetzlich war jeder Abgeordnete, der befördert wurde oder ein besoldetes Staatsamt annahm, zur Mandatsniederlegung verpflichtet. Im September 1848 gelang Kirchmann die Rückkehr in die Versammlung. s. dazu H. Scheerer, in: Bast (Hg.), J. H. v. Kirchmann, 1998, S. 15 (17 f.). 762 Obwohl die Rüge teils zutraf, wurde die Nachwahl anerkannt. s.  dazu den Bericht H. V. v. Unruhs, VerhPrNV II, S. 285 f. 763 VerhPrNV I, S. 12 f. 764 Um die Wahlen zu beeinflussen, sollten zusammenhängende Ortsteile „in sieben Theile zerschlagen“ und die Garnison willkürlich auf verschiedene Stadtteile verteilt worden sein (VerhPrNV I, S. 13). 765 VerhPrNV I, S. 14.

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Diese wenigen Fälle dokumentieren, dass von der Nationalversammlung – anders als teils im zeitgenössischen Schrifttum gefordert766  – keine eigenen Nachforschungen angestellt wurden. Man beschränkte sich auf Ersuchen an das Ministerium. Mit der Befragung des Abgeordneten Neumann, der Entgegennahme eines Schriftstücks des Grafen Reichenbach und der Anhörung ortskundiger Abgeordneter machte sich die Versammlung lediglich die unmittelbar greifbaren Kenntnisse etc. ihrer Mitglieder zunutze. Damit liefern die Legitimationsprüfungen kein Anschauungsmaterial für ein par­ lamentarisches Selbstinformationsrecht. Wenigstens beanspruchte die Versamm­ lung in einem Fall das Recht, gegen das persönliche Fehlverhalten eines Beamten zu remonstrieren, indem dem Ministerium, weil ein Wahlkommissar „in seinem über die Abhaltung der Wahlen erstatteten Bericht so viel ungeeignete und parteiisch lautende Aeußerungen [über den Kandidaten hatte…] einfließen lassen, […] die Ernennung eines anderen Kommissarius“ empfohlen wurde.767 Mit dieser beiläufigen Bitte nahm die Volksvertretung en passant ein Kontrollrecht gegenüber der Exekutiven wahr.768 Dieser interessante Ansatz sollte erst in den 1860er Jahren mit der Untersuchung der massiven Wahlbeeinflussungen auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts zur Vollendung kommen.769 2. Immunitätssachen Parlamentarische Vorermittlungen in Immunitätssachen wurden zeitgenössisch teilweise mit dem Enquête- und Untersuchungsrecht in Verbindung gebracht.770 Im weitesten Sinne sind sie ein Sonderfall der Kollegialenquête, die allen Besonderheiten zum Trotz gewisse Aufschlüsse über das Selbstverständnis der Berliner Nationalversammlung gegenüber der Justiz versprechen. 766 s. etwa R. v. Mohl, StaatsR, VölkerR, Pol. I, 1860, S. 207 ff., der das grundsätzliche Verbot, unmittelbar mit anderen Stellen als dem Ministerium in Geschäftsbeziehung zu treten, in der Wahlprüfung weder auf Private noch Behörden bezog. 767 VerhPrNV I, S. 11. 768 H. V. v. Unruh berichtete über die zweite Wahl des Abgeordneten Räntsch, dass der Wahl­ kommissa­rius „ungeachtet seiner Entlastung“ ersetzt worden sei, weil er sich „über den Lebenswandel und die muth­maß­li­chen Absichten des [Kandidaten…] nicht in geeigneter Weise geäußert“ habe. Der betroffene Abgeordnete Räntsch berichtete darauf, dass ihn ein Kammerherr v. Kleist nach der ersten Wahl mit einem eisenbeschlagenen Stock zu Boden geschlagen und der Wahlkommissar ihn nach diesem „Mordversuch“ auch noch verleumdet habe. Gegen beide forderte er eine Untersuchung. Der Erwartung des Präsidenten gemäß versicherte der Justizminister Karl Anton Maerker, dass man die Sache weiter verfolgen werde (VerhPrNV I, S. 322). 769 s. dazu 5. Teil 3. Kap. C. 770 Im November 1849 sprach sich E. Wachler in der Verfassungsrevisionsdebatte der Ersten Kammer für das parlamentarische Untersuchungsrecht aus, weil die Kammern ohne „Prüfung der Thatsachen“ oder „Einziehung weiterer Informationen“ nicht über die Genehmigung befinden könnten (VerhPr1K I (1849/50), S. 1637).

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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a) Der Fall Valdenaire und das Gesetz zum Schutz der Nationalversammlung Obwohl die Immunität schon lange zum gemeinrechtlichen Bestand gehörte771 und der Regierungsentwurf für eine künftige Verfassungsurkunde in § 58 ausdrücklich vorsah, dass kein Abgeordneter „während der Dauer der Sitzungs-­Periode ohne vorgängige Erlaubniß der Kammer […] wegen eines Verbrechens oder Vergehens gerichtlich verfolgt oder verhaftet werden“ durfte, gab es für die Vereinbarungs­ versammlung zunächst keine ausdrückliche Regelung. Dieser Mangel wurde am 26. Mai 1848 offensichtlich, als die Verhaftung des in Trier gewählten Fabrikanten und Gutsbesitzers Viktor Valdenaire zur Sprache kam. Dem Schulfreund von Karl Marx wurde ein „Attentat gegen die Sicherheit des Staats“ vorgeworfen, weil er in den Maiunruhen „zum bewaffneten Zuzug nach der bereits mit Barrikaden bedeckten Stadt aufgefordert“ haben sollte.772 Gegen die Forderung des Trierer Arztes und überzeugten Demokraten Karl Leopold­ Wencelius, die „Freilassung und Einberufung des Herrn Valdenaire“ zu beschließen, weil die Obrigkeit andernfalls ad libitum „mißliebige Personen auf jede Art und Weise entfernen und beseitigen“ könne,773 polemisierte der Münsteraner Justizkommissarius Eduard Windhorst, „ob sich die National-Versammlung in ihrem Souverainetätsgefühl über die Justiz-Behörden stellen“ wolle?774 Auch Finanzminister David Hansemann warnte die Abgeordneten, „sich allerdings sehr davon entfernt zu halten […], in die richterlichen Urtheile einzugreifen“. Gleichwohl konzedierte der Altliberale, dass eine Kommission die Sache anhand der Akten prüfen müsse, damit man sich ein Urteil bilden könne.775 „Nach furchtbarem Lärm“776 wurde nahezu einstimmig beschlossen, „eine Kommission zur Prüfung der Thatsachen [zu ernennen], warum der Abgeordnete Valdenaire verhaftet worden“ sei.777 Dem Kommissionsbericht Peter Reichenspergers von Anfang Juni 1848 zufolge war man von den „in beglaubigter Abschrift vorliegenden Untersuchungs-Proto­ kollen und amtlichen Berichten“ ausgegangen. Offenbar hatte das Justizministerium, das diese Unterlagen übersendet hatte, entweder die Kompetenz der Verein 771

s. etwa K. S. Zachariä, Vierzig Bücher III2 1839, S. 255; K. v. Rotteck, VernunftR II, 1840, S. 247; J. L. Klüber, ÖffR4 1840, S. 456; H. A. Zachariä, StaatsR I1 1841, S. 415 ff. m. w. N. aus früherer Zeit. 772 Vgl. VerhPrNV I, S. 496. 773 VerhPrNV I, S. 21. 774 VerhPrNV I, S. 23 f. 775 VerhPrNV I, S. 24. 776 A. Streckfuß, Preußen II, 1848, S. 37. 777 VerhPrNV I, S. 24. In den Abteilungen wurden der Advokat, Justizrat und spätere Kölner Oberbürgermeister Herrmann Joseph Stupp, der Königsberger Mediziner Raphael Kosch, der Koblenzer Landgerichtsrat Peter Reichensperger, der Antragsteller Karl Leopold ­Wencelius, der Kölner Ober-Prokurator Zweiffel, der frühere Kölner Generaladvokat und spätere langjährige Justizminister Ludwig Simons, der Zülpicher Notar Ludwig Pfahl und der evangelische Theologe Leberecht Uhlich gewählt. Vgl. auch S. 83.

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barungsversammlung nicht angezweifelt oder wenigstens einen Konflikt vermeiden wollen. Eigene Nachforschungen stellte die Kommission soweit ersichtlich nicht an. In der Sache ging ihr Votum einerseits dahin, „bis zur Erlassung eines die Unverletzlichkeit der Abgeordneten aussprechenden Gesetzes vorläufig zur Tages­ ordnung über[zu]gehen“. Andererseits wurde schon jetzt „jede direkte Einwirkung der konstituirenden National-Versammlung, als eines rein politischen Körpers, auf die Ausübung der Justiz im einzelnen Falle als unstatthaft“, als „unlösbarer Konflikt mit dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit“ abgelehnt.778 Auch in Berlin obsiegte also in Immunitätsfragen der Glaube an die rechtsstaatlichen Errungenschaften über die Versuchung, sich zum Revolutionskonvent aufzuwerfen. Ein Grund für die informationsrechtliche Zurückhaltung dürfte – wie schon in der Paulskirche – die ebenso reservierte Interpretation der parlamentarischen Immunität gewesen sein, die heute praktizierten Maßstäben und Maximen teilweise erstaunlich nahekommt.779 Am 5.  Juni 1848 betonte der spätere Justizminister­ Ludwig Simons, der in früheren Jahren als Staatsprokurator und Generaladvokat und seit 1847 als Geheimer Justizrat im Ministerium tätig gewesen war, in der Vereinbarungsversammlung, „daß es vermieden werden müsse, in eine schwebende Untersuchung einzugreifen und das Maß der Schuld oder Nichtschuld zu prüfen[, …] weil dies ein Eingriff in die Attribute der Gerichte sein würde“. Vielmehr habe man ausschließlich zu entscheiden, „ob ein überwiegender Grund existire, wonach es vorzuziehen sei, in den Gang der schwebenden Untersuchungen einzugreifen und den Verhafteten in Freiheit zu setzen, als auf seine Mitwirkung […] zu verzichten.“780 Auch der später wegen des Steuerverweigerungsbeschlusses aus dem Dienst entfernte Jodocus Donatus Hubertus Temme, einer der künftigen Führer der Linken, wendete sich gegen eine Freilassung Valdenaires. Der Berliner Staatsanwalt und langjährige Richter, den die Regierung im August 1848 zum­ Vizepräsidenten des Oberlandesgerichts in Münster „strafbeförderte“, um ihn damit aus der unruhigen Hauptstadt zu entfernen und durch einen verlässlicheren Ankläger zu ersetzen,781 verglich einen solchen parlamentarischen Schritt mit einem Akt despotischer Kabinettsjustiz.782 Diesen Sorgen der praktischen Juristen leistete die Mehrheit Folge und ging trotz Mahnungen des entschiedenen Linken und Breslauer Oberlehrers Julius Stein, dass, obgleich derzeit kein Parlamentarier willkürlich verhaftet werde, sich die Zeiten doch sehr schnell wieder ändern könnten,783 „bis zur Erlassung eines die Unverletzlichkeit der Abgeordneten aus­ sprechenden Gesetzes vorläufig zur Tagesordnung“ über.784 778

VerhPrNV I, S. 99. Vgl. BVerfGE 104, 310 ff. 780 VerhPrNV I, S. 101. 781 Vgl. K. Herdepe, PrVerf, 2003, S. 134 f. 782 VerhPrNV I, S. 102. Zu monarchischen „Einmischungen“ s. T. Ormond, Richterwürde, 1994, S. 18. 783 VerhPrNV I, S. 102. 784 VerhPrNV I, S. 104. 779

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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Der Düsseldorfer Demokrat Anton Bloem hatte schon drei Tage vor dieser Debatte einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt. Die Regierung hatte darauf erklärt, dass sie „autorisirt und bereit [sei], auf den Antrag einzugehen und schnell nach der Berathung das erforderliche Gesetz zu erlassen“.785 Tatsächlich wurde das Gesetz, betreffend den Schutz der zur Vereinbarung der Preußischen Verfassung berufenen Versammlung, schon zwei Wochen später ohne weitere Diskussion in der Fassung des Zentralabteilungsberichts beschlossen.786 Mit Schreiben vom 24. Juni 1848 eröffnete Ministerpräsident Ludolf Camphausen der Nationalversammlung, dass es am Vortag „von des Königs Majestät vollzogen und der sofortige Abdruck in der Gesetz-Sammlung angeordnet“ worden sei.787 Neben der Indemnität regelte das Gesetz in zwei Paragraphen die Immunitätsfrage: Fortan durfte „[k]ein Mitglied der Versammlung […] während der Dauer derselben ohne ihre Genehmigung wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden, außer, wenn es entweder bei der Ausübung der That oder binnen der nächsten 24 Stunden nach derselben ergriffen“ wurde. Auch für die Schuldhaft war eine Genehmigung erforderlich. Außerdem waren „[j]edes Strafverfahren […] und jede Haft für die Dauer der Sitzung aufgehoben, wenn die Versammlung es verlangt[e]“. Regelungen über die informationsrechtlichen Möglichkeiten der Nationalversammlung, die Entscheidung in einer Immunitäts­ angelegenheit vorzubereiten, traf das Gesetz nicht. Am folgenden Tag verlangte Karl Leopold Wencelius, den Antrag auf Einberufung Valdenaires wieder an den Ausschuss zu verweisen.788 Peter Reichensperger erstattete darauf am 18. Juli 1848 in dieser Angelegenheit ein weiteres Mal Bericht. Wieder stützte sich die Kommission auf die „vom hohen Justiz-Ministerium […] übermachten Akten“, prüfte aber in der Sache die Verteidigung anhand der Zeugenaussagen. Weil der Oberprokuratur selbst die Aufhebung des Verwahrungsbefehls verlangt habe und die angeschuldigten Taten bloß in der allgemeinen Aufregung begangen worden seien, ohne der Sicherheit des Staates abträglich zu sein, riet sie dem Plenum, „daß die Suspendierung der gegen den Abgeordneten Viktor Valdenaire angeordneten Untersuchung und Haft für die Dauer der Session ausgesprochen und dessen sofortige Einberufung verordnet werde“.789 Gegenüber diesem Votum, das auf inhaltlichen Aspekten beruhte, mahnte ­Ludwig Simons die Versammlung zu „Vorsicht und Zurückhaltung“. Weil das zuständige Gericht die Untersuchung eingeleitet habe, der Verwahrungsbefehl in gesetzlicher Form ergangen und zudem mit einer Entscheidung des Anklagesenats bald zu rechnen sei, sprächen keine überwiegenden Gründe für einen „Eingriff in das gerichtliche Verfahren“. Spitz fügte der rechte Politiker hinzu, dass „durch die Fortsetzung 785

Entwurf und Erklärung des Finanzministers Hansemann in VerhPrNV I, S. 83. VerhPrNV I, S. 207 ff. 787 VerhPrNV I, S. 264. 788 VerhPrNV I, S. 271. 789 VerhPrNV I, S. 496. 786

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der Haft dieser Versammlung irgend ein Talent nicht entzogen“ werde.790 Der katholische Rechtswissenschaftler und spätere Rektor der Bonner Universität Joseph Johann Bauerband, ebenfalls rechts stehend, hielt der Kommission vor, ein „im Allgemeinen […] unrichtiges und in dem gegebenen Falle […] im höchsten Grade bedenkliches“ Verfahren eingeschlagen zu haben. Bei einer Immunitätsentscheidung dürften lediglich die Natur der mutmaßlichen Tat sowie etwaige Anzeichen berücksichtigt werden, „daß auf Betreiben eines Civil-Klägers oder ex officio gegen einen Abgeordneten eine Untersuchung lediglich zu dem Ende eingeleitet [werde, …] ihn seiner Wirksamkeit in der Kammer zu entziehen“. Allenfalls dürfe berücksichtigt werden, ob das betreffende Mitglied „nach seiner Persönlichkeit für die Kammer von so großer Wichtigkeit“ sei, dass man es trotz der schwebenden Untersuchung einberufen müsse.791 Der Advokat, Justizrat und spätere Kölner Oberbürgermeister Herrmann Joseph Stupp stimmte in die Ablehnung des Kommissionsantrags mit ein, weil eine „Prüfung der Thatsachen“ nicht in die Nationalversammlung, sondern allein vor den zuständigen Richter gehöre.792 Der Kritik unterlagen also nicht die informationsrechtlichen Modalitäten, unter denen der Antrag zustande gekommen war, sondern die sachlichen Kriterien, die dem Votum zugrunde lagen. Der Schwerpunkt der Auseinandersetzung betraf also das parlamentarische Immunitätsrecht und keineswegs Aspekte, die das parlamentarische Selbstinformationsrecht in seinem Kern tangierten. Dementsprechend sah der linke Kölner Advokatanwalt Friedrich Borchardt die Versammlung aufgrund der Untersuchungsakten zu einer eigenen Entscheidung „vollkommen“ imstande. Dem Bonner Professor Bauer­band hielt er vor, dass dieser „seine gelehrten Bemerkungen“ besser in den Gesetzesberatungen angebracht hätte; de lege lata habe die Versammlung „selbstständig zu entscheiden, ob nach Lage der Sache ein Grund [bestehe…], die Zustimmung zu der gerichtlichen Verfolgung gegen ein Mitglied […] zu ertheilen oder nicht.“793 Nach dem Schluss der Beratung stellte Berichterstatter Reichensperger, obwohl er selbst Richter war und in der Regel üblicherweise mit der rechten Seite des Hauses stimmte, klar, dass der Kommissionsantrag die Würde der Gerichte nicht „im allermindesten“ beeinträchtige. Er betonte, dass die Nationalversammlung keine „juristische Wahrheit festzustellen“, sondern bloß „einen politischen Standpunkt einzunehmen“, „nicht das Faktum oder die Person isolirt [sich…] vorzuführen[, sondern…] die Totalität des ganzen Falles mit allen ihren begleitenden Umständen ins Auge zu fassen und darauf hin den Spruch zu thun [habe], ob die gerichtliche Verhandlung […] suspendirt werden solle“. Nach dem Abschluss der „politischen Mission“ des Beschuldigten stehe einer Fortsetzung der sistierten Untersuchung nichts im Wege. In diesem Sinne beschloss die Mehrheit die „Suspendierung“ von Untersuchung und Haft sowie die Einberufung des Abgeordneten Valdenaire.794 790

VerhPrNV I, S. 497. VerhPrNV I, S. 499. 792 VerhPrNV I, S. 500. 793 VerhPrNV I, S. 499 f. 794 VerhPrNV I, S. 500 f. 791

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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Aus heutiger Sicht bewiesen die Abgeordneten beachtliches Augenmaß, als sie der Versuchung eines parlamentarischen „Machtspruchs“ widerstanden. Statt parlamentarischen Despotismus und neues Privilegientum zur Schau zu tragen, schuf man gemeinsam mit dem liberalen Ministerium die erforderlichen Rechtsgrundlagen. So wurde nicht nur die richterliche Unabhängigkeit geschont, obschon dieses Anliegen den zahlreichen Justizbeamten in der Versammlung am Herzen gelegen haben dürfte,795 sondern simultan die Stellung der Abgeordneten verrechtlicht und weit besser vor polizeilicher und richterlicher Willkür geschützt, als wenn man auf die rein faktische Machtposition gebaut hätte, die der Versammlung zu Beginn der Revolution zukam. Dass diese zurückhaltende Verfahrensweise in der aufgewühlten Stimmung des Sommers 1848 nicht überall auf Beifall stieß, ist selbstverständlich. Den ersten Beschluss in Sachen Valdenaire, eine Entscheidung bis zum Erlass eines Immunitätsgesetzes auszusetzen, unterzog Karl Marx in der Neuen Rheinischen Zeitung beißender Kritik: Weil man „in der alten Rumpelkammer der preußischen Geschichte“ ebenso wenig ein „Gesetz über die Unverletzlichkeit“ wie überhaupt „Volksrepräsentanten“ finde, sei es leicht, „alle Errungenschaften der Revolution […] im Interesse des Staatsfiskus zu vernichten!“ Den „rheinischen Juristen“, die gegen die Freilassung gestimmt hätten  – dieser Vorwurf zielte sicher auf den Kommissionsberichterstatter Reichensperger –, legte der Schulfreund des Beschuldigten zur Last, „jede politische Frage in eine Prozedurstreitigkeit [zu] verwandeln“, um „eine winzige Spitzfindigkeit und einen riesigen Servilismus zur Schau zu tragen“. Mit ihrer unbedachten Entscheidung habe sich die Vereinbarungsversammlung letztlich der „Laune eines Polizeipräsidenten oder eines Gerichtshofes“ ausgeliefert.796 Für die Entstehung des Enquête- und Untersuchungsrechts liefert diese An­ gelegenheit, die politisch doch so hohe Wellen schlug, einen geringeren Ertrag: Obwohl die Niedersetzung einer „Kommission zur Prüfung der Thatsachen“ beschlossen worden war, „warum der Abgeordnete Valdenaire verhaftet worden“ sei,797 stützte sich dieses Gremium lediglich auf die Untersuchungsakten. Nach­ Erlass des Immunitätsgesetzes zog man ebenfalls ausschließlich die durch das Ministerium überlassenen Unterlagen heran. Eigene Erkundigen, Nachfragen oder gar Zeugenvernehmungen fanden nicht statt. Trotzdem war die Causa Valdenaire für das parlamentarische Selbstinformationsrecht keineswegs bedeutungslos: Jenseits des Immunitätsrechts gehörte das Verhältnis zu den Gerichten lange Zeit zu den problematischsten Aspekten der parlamentarischen Aufarbeitung eines potentiell strafrechtlich relevanten Sachverhalts. Dieses Spannungsverhältnis von landständischer Untersuchungstätigkeit und gerichtlicher Kontrolle spielte schon bei der kurhessischen „Garde-du-Corps-Nacht“ den Gegnern einer politischen Auf 795 Zum „Richteranteil“ s. C. v. Hodenberg, Partei, 1996, S. 341 f. sowie S. 169 f., 270 zur Abneigung gegen jede Kabinettsjustiz oder andere Einmischung oder T. Ormond, Richterwürde, 1994, S. 18. 796 Neue Rheinische Zeitung, No. 19, vom 19. Juni 1848, S. 1. 797 VerhPrNV I, S. 24 (Hervorhebung nur hier).

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

klärung des skandalösen Vorfalls in die Hände und sollte – modernisiert auf das Verhältnis des Reichstags zu den Gerichten – in der Weimarer Republik wiederkehren.798 Bei der eigenständigen Gewichtung der angeschuldigten Tat, die aber andererseits auch nicht zu einer vollständigen rechtlichen Nachprüfung ausartete, dokumentierte die Versammlung den Anspruch, eigenständige Nachforschungen nicht bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens auszusetzen. Gleichzeitig nahm man von einem „echten“ Eingriff in die Rechtspflege Abstand und ging bloß so weit, wie es aus genuin politischen Gründen gerechtfertigt war. b) Der Fall Kuhr: Zeughaussturm und Zündnadelgewehr Mitte Juni 1848 kam es zur Erstürmung und Plünderung des Berliner Zeug­ hauses durch ärmere Bevölkerungskreise, die – weil sie sich die erforderliche Ausrüstung nicht leisten konnten – de facto von der Bürgerwehr ausgeschlossen waren.799 Der in den Revolutionstagen alles andere als ungewöhnliche Zwischenfall besaß besondere politische Brisanz, weil es dem Ministerium Camphausen-Hanse­ mann zum Verhängnis wurde, dass die Vereinbarungsversammlung den ihr in diesem Kontext angebotenen bewaffneten Schutz ablehnte. Nach dieser politischen Niederlage, mit der die Versammlung zudem näher an die Revolution heranrückte, drängte Finanzminister David Hansemann auf eine Kabinettsumbildung und führte dadurch eine Regierungskrise herbei, die mit dem Rücktritt des Ministeriums am 20. Juni 1848 endete.800 In den Zwischenfall am Zeughaus war auch mindestens ein Mitglied der Vereinbarungsversammlung verstrickt. Mit Schreiben vom 8.  Juli 1848 beantragte der Staatsanwalt Julius v. Kirchmann die „Genehmigung zur Verfolgung des Rittmeisters und Abgeordneten Kuhr, wegen der Theilnahme an dem Exzesse am Zeughause“. Der Tilsiter Abgeordnete sollte mehrere Waffen und Kriegsmaterial entwendet haben; konkret ging es um eines der neuen Zündnadelgewehre, die seit Anfang der 1840er Jahre unter der Tarnbezeichnung „leichtes Perkussionsgewehr“ in die Bewaffnung der Armee übernommen worden waren,801 sowie um sechs bis acht Spitzkugeln. Soweit aus dem Bericht der Zentralabteilung ersichtlich, lagen den Beratungen in dieser Immunitätsangelegenheit nur die Mitteilungen des Staatsanwalts v. Kirchmann zugrunde. Statt weitere Untersuchungen zu veranlassen oder selbst vorzunehmen, konstatierte der Ausschuss lakonisch, dass 798

s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3 a) bb) und 7. Teil 3. Kap. B. III. Zum Zeughaussturm s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 727; I. Mieck, in: HdbPr­ Gesch II, 1992, S. 3 (260) und zeitgenössisch H. Blum, Revolution, 1898, S. 344 f. 800 Dazu sowie der Neubildung des Ministeriums E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 727 ff.; I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (260 f.). 801 Vgl. H. Blum, Revolution, 1898, S. 345; D. Storz, in: Epkenhans/Groß (Hg.), Militär, 2003, S. 209, S. 211 f.; H. Kölling, in: Wirtgen, Zündnadelgewehr, 1991, S. 81 f. sowie S. 69 ff. zu Vorgeschichte, Einführung und Technik. 799

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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„das zu einer genauen Beurtheilung […] nöthige Material nicht vollständig vorliege“. Den Ausschlag für den Antrag der Zentralabteilung, die Strafverfolgung dennoch zu genehmigen, gab, „daß die Erstürmung des Zeughauses […] bei dem größten Theile der berliner Bevölkerung und im ganzen Lande einen großen Unwillen und eine gerechte Entrüstung hervorgerufen habe“.802 Diesem Votum widersprach der linke Advokat Friedrich Borchardt, weil jetzt andere Maßstäbe angelegt werden sollten als im Fall Valdenaire. Im Gesetz finde sich überdies kein Hinweis dafür, dass es ausschließlich darauf ankomme, „ob das Gouvernement ein Mitglied der Versammlung wegen mißliebiger Aeußerungen oder politischer Meinungen verfolge, um dasselbe der Versammlung zu entziehen“.803 Ungeachtet dieser Einwände genehmigte die Nationalversammlung in namentlicher Abstimmung mit 242 gegen 17 Stimmen bei 13 Enthaltungen die Strafverfolgung.804 Wieder wurde der tatsächliche Kern der Vorwürfe nicht geprüft. Stattdessen fällten Zentral­ abteilung und Nationalversammlung ihr Urteil aufgrund der offiziellen Akten und anhand eines genuin politischen Maßstabes. Zu einem Konflikt mit den Gerichten kam es nicht. Darüber hinaus distanzierten sich die Abgeordneten von revolutionären Gewaltmaßnahmen, indem sie die Strafverfolgung zuließen. c) Der Fall Piegsa: Unterstützung der polnischen Bewegung Anders entschied man in der Sache des promovierten Oberlehrers Johann Baptist Piegsa. Erst in der 62. Sitzung am 29. September 1848 präsentierte Hans Viktor v. Unruh dem Plenum das einstimmige Votum der Petitionskommission,805 „daß nach den gemachten Mittheilungen keine Veranlassung vorliege, die Genehmigung […] zu ertheilen, daß der Abgeordnete Dr. Piegsa während der Dauer der National-Versammlung zur Verantwortung gezogen werde.“806 Auch diesem Votum lagen bloß die – wohl urschriftlich übermittelten807 – Gerichtsakten des zuständigen Land- und Stadtgerichts zugrunde. Weil sich die Anklage bloß auf eine Zeugenaussage stützte, dass Piegsa aus einem seiner Aufsicht unterliegenden Lager „Naturalien“ an die „polnischen Insurgenten […] verabfolgt“ habe, stand die Ablehnung in der Kommission nach „wenige[n] Minuten“ fest. Im Plenum wurde der Antrag ohne Debatte „fast einstimmig angenommen“ und das Strafverfahren suspendiert.808 802

VerhPrNV I, S. 583. VerhPrNV I, S. 584 f. 804 VerhPrNV I, S. 587 f. 805 Präsident Wilhelm Grabow hatte über diese Behandlung entschieden, weil „alle diejenigen Anträge, die nicht von den Abgeordneten selbst eingebracht werden, […] sofern sie nicht zu einer Fachkommission gehör[t]en, der Petitions-Kommission zu überweisen seien“. s. dazu und der Billigung durch das Plenum VerhPrNV I, S. 738 f. 806 VerhPrNV II, S. 432. 807 Anders wäre die Mitteilung des Präsidenten unverständlich, dass das Gericht die Akten­ zurückfordere (VerhPrNV II, S. 394). 808 VerhPrNV II, S. 432. 803

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

d) Der Fall Szumann: Beleidigung des Generals v. Pfuel Ebenfalls ohne Aussprache und nahezu einstimmig lehnte die Vereinbarungsversammlung die Strafverfolgung des Abgeordneten Pantaleon Szumann809 ab. Dem zur Linken gehörenden Gutsbesitzer und Regierungsrat a. D. wurde ­Pasquill zur Last gelegt, „weil er in einem an den General von Pfuel gerichteten, in Nr. 120 der Vossischen Zeitung abgedruckten Schreiben [diesen…] als bekannten An­ führer einer Räuberbande bezeichnet und von ihm gesagt habe, daß er nicht zu den braven Preußen zu rechnen sei“.810 Tatsächlich sprach sich ein offener Brief eines P. Schuman gegen eine „neunte Theilung“ infolge der preußischen Polen­ politik aus.811 Die inkriminierten Passagen richteten sich offenkundig aber nicht gegen den preußischen General und Kommissar für das Großherzogtum, sondern gegen Dritte, denen der Verfasser antipolnische Agitationen vorwarf.812 Obwohl sich die Haltlosigkeit des konkreten Vorwurfs also durch einen einfachen Blick in die in Berlin (!) erscheinende Zeitung hätte feststellen lassen, stützte die Petitionskommission ihr Votum ausschließlich auf die Untersuchungsakten und befand, dass es „natürlich nicht im Geiste der National-Versammlung liegen [könne], ihre Mitglieder dem Gesetze zu entziehen und dieselben gleichsam s­traflos zu machen“. Nur ausnahmsweise sei es gerechtfertigt, die Einleitung einer Untersuchung abzulehnen. Da sich der Vorwurf aber in einer geringfügigen Privatbeleidigung erschöpfe und weder zu befürchten sei, dass die Sache durch eine Aus­setzung verdunkelt werde, noch besondere Gründe für die Beschleunigung vorlägen, sei es „wünschenswerth, daß der Abgeordnete nicht durch eine Untersuchung von dem Verfassungswerke, an dem er zu arbeiten berufen [sei…], abgezogen werde“.813 Ob die Kommission dieses politische Urteil in Wahrheit doch 809

Zu Szumann s. K. Herdepe, PrVerf, 2003, S. 332 in Fn. 1600. VerhPrNV II, S. 484. 811 Zu den geplanten Maßnahmen s. K. Makowski, in: Jaworski/Luft (Hg.), Revolutionen, 1996, S. 149 (160) sowie die zeitgenössische Kritik durch C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 16 f. 812 Das offene Schreiben an den neuen königlichen Kommissar für Posen beklagte, dass „[s]ämmtliche Einwohner der obengenannten Ortschaften […] Polen [seien], und mit Ausnahme eines Schäfers und seiner Frau […], der deutschen Sprache nicht kundig.“ In einem Ort habe „nur der bekannte Anführer der berüchtigten Räuberbande v. Treskow ein Be­sitz­thum“. Weil außerdem nur „Beamte aus der Flottwell- und Frankenberg’schen Schule [hätten…] in ihrem persönlichen Interesse Angaben aufstellen können, welche unwahr, welche Lügen“ seien, riet der Briefschreiber dem General v. Pfuel: Berufen „Sie unbefangene Männer und lassen Sie Selbige unter Ihrer Direktion und mit Zuziehung der durch allgemeines Vertrauen ihrer Mitbürger gewählten Kreisdeputirten eine Recherche an Ort und Stelle veranlassen und Sie werden sich überzeugen, daß man Sie belogen hat“. Zum Schluss hieß es, die Polen wollten nicht „um eines einzigen ­Schäfers willen […] um [ihre] Nationalität […] gebracht werden, sondern sie pfleg[t]en von Gottes und Rechtswegen, damit [sie sich…] der Achtung aller braven Deutschen, zu denen [der Autor und seine Mitbürger…] jene, von welchen die Rede, nicht zähl[t]en, werth“ erhielten. s. die Königlich privilegierte Berlinische Zeitung, No. 120, vom 25. Mai 1848, Zweite Beil. 813 VerhPrNV II, S. 484. 810

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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aufgrund des offenen ­Briefes in der „Vossischen Zeitung“ gefällt hat, sich aber nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, eine eigene „Untersuchung“ anzustellen, lässt sich nicht mehr sagen. e) Zwischenergebnis: Das Verhältnis zur Justiz Im auf die Revolution folgenden März des folgenden Jahres 1849 mokierte sich der Abgeordnete Otto v. Bismarck in der preußischen Zweiten Kammer über die „notorische Schlaffheit [der…] Gerichte in den letzten Jahren“ und die „Feigheit der meisten […] exekutiven und administrativen Behörden in den Provinzen“.814 Aus heutiger Perspektive wird man der Richterschaft eher eine rechtstreue Gesinnung attestieren.815 Würdigt man die bloß vier Immunitätssachen in der Vereinbarungsversammlung unter dem Blickwinkel eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts, fällt insbesondere auf, dass sich die Kommissionen wie das Plenum ausschließlich auf amtliche Akten stützten, obwohl eigene Ermittlungen wenigstens in einem Teil der Fälle möglich gewesen wären. So hätten sich für eine Verwicklung des linken Abgeordneten Kuhr in den Berliner Zeughaussturm sicherlich vor Ort Zeugen ­finden lassen. Wie sehr die Versammlung dem Grundsatz treu blieb, keine eigenen „Ermittlungen“ anzustellen, belegt der Fall Schumann, indem die Kommission nicht einmal die „Vossische Zeitung“, in der das vermeintliche corpus delicti erschienen war, (offen?) zu Rate zog. Gegenüber der Justiz übte man in der Regel äußerste Zurückhaltung. Erst auf gesetzlicher Grundlage war die Mehrheit der Abgeordneten, unter denen sich zahlreiche Richter, Rechtsanwälte und juristisch ausgebildete Beamte befanden, überhaupt bereit, über Immunitätssachen zu beraten. Die erhobenen Vorwürfe wurden auf der Grundlage des Gesetzes, betreffend den Schutz der zur Vereinbarung der Preußischen Verfassung berufenen Versammlung, weder sachlich noch rechtlich nachgeprüft, sondern lediglich an einem genuin politischen Maßstab gemessen. Auf diese Weise vermied die Vereinbarungsversammlung einerseits, die Rechtspflege durch funktional vergleichbare Maßnahmen zu beeinträchtigen, und trug andererseits den Anforderungen des Immunitätsrechts durch eine genuin politische Entscheidung Rechnung. Ähnlich wie es heute zu Art. 46 Abs. 2 GG vertreten wird,816 kamen in der ­Regel lediglich das parlamentarische Interesse an einer ungestörten Mitarbeit des „Beschuldigten“ sowie eine Verhinderung politischer Tendenzprozesse in Betracht. Sowohl in Sachen Valdenaire als auch gegen den Abgeordneten Piegsa wurde das 814

VerhPr2K I (1849), S. 88. s. allg. zur politischen Position der Richterschaft in Vormärz und Revolution C. v. Hodenberg, Partei, 1996, S. 265 ff., S. 288 ff., 304 ff. 816 Vgl. BVerfGE 104, 310 ff. 815

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Strafverfahren wegen Geringfügigkeit sistiert. Im zweiten Fall mag der Tat­vorwurf, der sich lediglich auf eine Denunziation stützte, auf derart tönernen juristischen Füßen gestanden haben, dass sich unlautere Motive der Strafverfolgungsbehörden nicht ausschließen ließen. In der Strafsache Szumann war eine politische Abwägung des Strafverfolgungs- mit dem parlamentarischen Interesse der Nationalversammlung maßgebend; möglicherweise hatte die Petitionskommission ihrem Votum unausgesprochen den offenen Brief in der „Vossischen Zeitung“ zugrunde gelegt. Dass die Strafverfolgung gegen den Linken Kuhr zugelassen wurde, dürfte mit der Missbilligung des von den unteren Bevölkerungsschichten getragenen Zeughaussturms durch die bürgerlichen Kreise in der Nationalversammlung zu erklären sein. Allgemein spielten die Vorgänge im Juni 1848 eher konservativen Kräften als der Demokratie in die Hände.817 Die Zurückhaltung, die die Nationalversammlung gegenüber der Justiz übte, lässt sich angesichts der Besonderheiten der Immunitätsangelegenheiten nicht in dem Sinne generalisieren, dass die Abgeordneten parallele Untersuchungen oder etwa eine parlamentarische Aufarbeitung potentiell strafbarer Sachverhalte generell abgelehnt hätten. In der Sache ging es schließlich nicht eigentlich um die Zulässigkeit einer konkurrierenden parlamentarischen Untersuchung, sondern um die Frage eines Eingriffs in die Strafrechtspflege in gleichsam eigener Sache. Vor einem solchen Schritt, der als neue Privilegienwirtschaft hätte gedeutet werden können, schreckte die Mehrheit zurück. Dass man parallele Untersuchungen keineswegs grundsätzlich ablehnte, belegte die Versammlung mit ihrer Entscheidung, den Ursachen eines Blutbades, das preußische Soldaten in der schlesischen Festungsstadt Schweidnitz angerichtet hatten, ungeachtet der Ermittlungen verschiedener Strafverfolgungsbehörden eigenständig auf den Grund zu gehen. Ein Argument für diesen untersuchungsrechtlich bedeutenden Schritt war das Misstrauen gegenüber der ohnehin kritisch beäugten Militärjustiz.818 Angesichts dessen lässt sich die Rücksichtnahme in Immunitätssachen nicht verallgemeinern und schon gar nicht auf das Verhältnis gegenüber der Exekutive übertragen.

III. Der Antrag Reichensperger zur Misshandlung von Abgeordneten 1. Vorgeschichte Nach Adolf Wolffs Bericht nahm die Öffentlichkeit an den Verhandlungen der Nationalversammlung im Allgemeinen regen Anteil: „[F]ast immer“ waren die „Zuhörer-Tribünen […] gefüllt“ und „auf dem Platze vor der Sing-Akademie, im Kastanienwäldchen, [standen] Gruppen politisirender Bürger, Studenten, Arbeiter

817

So A. Streckfuß, 500 Jahre, 1900, S. 700. s. zum Schweidnitzer Vorfall unten 3. Teil 2. Kap. D. IV.

818

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und geschäftsloser Personen aller Art“.819 Bei den Beratungen über den Antrag Berends, die „Revolution zum alleinigen Rechtsboden für die Neugestaltung des Staats“ zu verklären (Louis Constanz Berger),820 „wurde die Scene“ am 9.  Juni 1848 „belebter als zuvor. Der Platz füllte sich im Laufe des Vormittags mit Gruppen von Menschen, welche gekommen waren, die Entscheidung der NationalVersammlung […] aus erster Hand zu erfahren“.821 Als bekannt wurde, dass die Mehrheit der revolutionären Forderung eine Abfuhr erteilt hatte, wurden verschiedene Abgeordnete sowie Außenminister Heinrich Alexander v. Arnim-Suckow beim Verlassen des Lokals beleidigt und teils auch misshandelt.822 Ministerpräsident Ludolf Camphausen und Finanzminister David Hansemann entgingen dem Volkszorn nur, weil sie die Akademie heimlich verließen.823 Darüber hinaus gelang es vier Männern, sich in die Singakademie einzuschleichen und den Nationalversammlungspräsidenten Karl August Milde zur Rede zu stellen, „ob es seine Richtigkeit habe, daß die National-Versammlung die Revolution nicht anerkennen wolle“. Statt einer Antwort komplimentierte er die Eindringlinge hinaus. Obwohl die Menge nach der Rückkehr der selbsternannten „Deputirte[n] des s­ ouverainen Volkes“ beratschlagte, wieder auf die Barrikaden zu gehen,824 blieben ernstere Folgen letztlich aus.825 Am folgenden Tag forderte der Präsident das Staatsministerium schriftlich zum Schutz der Versammlung und ihrer Mitglieder sowie zu einer „strenge[n] Untersuchung der […] Vorfälle“ und „gerichtliche[n] Verfolgung der […] Urheber und Theilnehmer“ einschließlich der untätigen Bürgerwehr­ männer auf.826 Die Regierung setzte sich mit dem Magistrat in Verbindung und nach britischem Vorbild wurde eine 2.000 Mann starke Konstablertruppe als „Straßenpolizei“ eingerichtet. Weiterhin erging ein Versammlungsverbot, das sich nach der Art einer Bannmeile kategorisch auf den Umkreis der Singakademie erstreckte, aber, wenn die „Freiheit des Verkehrs oder sonst die öffentliche Ordnung“ beeinträchtigt sein sollten, auf ganz Berlin ausgedehnt werden konnte.827

819 A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 171. Laut R. Hachtmann, Berlin, 1997, S. 565 waren an den Reibereien vorwiegend Personen aus dem Arbeiterstand beteiligt. 820 Weiter argwöhnte L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 363 f., dass man „alsdann die nur zur ‚Vereinbarung‘ der Verfassung berufene Nationalversammlung, gleich der Paulskirche, zu einer einseitig ‚konstituierenden‘ umzugestalten“ versucht haben würde. 821 A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 171 f. 822 R. Hachtmann, Berlin, 1997, S. 562 mit zeitgenössischen Pressezitaten. 823 A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 485. 824 Vgl. A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 172 ff. sowie P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 80 oder A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 485. 825 Zum Ganzen A. Streckfuß, 500 Jahre, 1900, S. 696 ff.; A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 172 f. mit Auszügen aus verschiedenen Zeitungs- und Augenzeugenberichten. s. zu den Vorfällen vom 9. Juni 1848 auch den Bericht des Präsidenten Milde an das Staatsministerium, VerhPrNV I, S. 176 f. (Zitate) und ferner M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 520 sowie R. Hachtmann, Berlin, 1997, S. 563. 826 VerhPrNV I, S. 176 f. 827 R. Hachtmann, Berlin, 1997, S.  565 und S.  596 ff. zu den Konstablern sowie A. Wolff,­ Revolutions-Chronik III, 1851, S. 184 mit Abdruck des Versammlungsverbots.

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2. Die Sitzung vom 14. Juni 1848 Im Plenum kamen diese Vorfälle erst nach den Pfingstfeiertagen zur Sprache; es war der 14. Juni 1848, der Tag, an dem eine wütende Menge die eisernen Tore des königlichen Schlosses aufbrechen und das Zeughaus stürmen sollte.828 a) Vorschläge zum Schutz der Versammlung Nach der Verlesung seines Briefs an das Ministerium bat Präsident Milde den Staatsanwalt Temme, über die bereits unternommenen Schritte zu berichten. Dieser setzte sich zunächst mit zwei Alternativen zum Schutz der Versammlung auseinander: Ihre teils befürwortete Verlegung  – es handelte sich um einen Antrag u. a. Friedrich Harkorts829  – lehnte er kategorisch ab, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass „Ordnung und Sicherheit nicht mehr herrsch[t]en“, sondern die „Anarchie im Besitz Berlins“ wäre. Wahrscheinlich hoffte der Demokrat, damit dem Widerstand aus den Provinzen ebenso wie der Reaktion in der Hauptstadt den Wind aus den Segeln zu nehmen. Statt einer Verlegung der Versammlung, die „das Vaterland in die Größte Gefahr bringen“ könne, schlug der Jurist ein Gesetz vor, das ihre und die Unverletzlichkeit ihrer Mitglieder mit strafrechtlichen Sanktionen schützen sollte.830 Bedenkt man die Herkunft des Entwurfs, dürfte Hans Pfefferkorns Annahme zutreffen, dass die demokratische Linke versuchte, den u. a. von Milde geforderten Maßnahmen des Gouvernements zuvorzukommen.831 Ebenso gut könnte der offen formulierte Gesetzentwurf, dessen § 1 kategorisch die Unverletzlichkeit der Vereinbarungsversammlung während der gesamten „Dauer­ ihrer Sitzungen“ verkündete, unterschwellig auch darauf berechnet gewesen sein, im Falle eines Sieges der Reaktion Maßnahmen gegen die Volksvertretung zu erschweren. Vor diesem Hintergrund erscheint der Widerspruch des gemäßigten­ Linken Julius v. Kirchmann, ein solches Gesetz sei „nicht nöthig“, „unzureichend“ und „auch unpolitisch“,832 in einem anderen Licht. Nachdem er dazu die Genehmigung des Justizministers eingeholt hatte (!), berichtete der Staatsanwalt Temme knapp über die fruchtlosen Ermittlungen. Die Angriffe gegen den Außenminister und den Abgeordneten Sydow qualifizierte er als „causae cri­mi­na­lis“, die aber, weil die „Versammlung […] noch nicht als inte­ grirender Theil der Staats-Verfassung festgestellt“ wäre, bloß auf Antrag der Ver 828

Ausführlich A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 257 ff., 265 ff. und ferner P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 85 f. oder L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 366. 829 Vgl. L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 364 f., der S. 366 urteilte, dass eine Verlegung möglicherweise den Lauf der Geschichte geändert haben könnte, indem die so gestärkte liberalkonservative Versammlungsmehrheit dem Land binnen weniger Wochen eine Verfassung beschert hätte. 830 VerhPrNV I, S. 177. 831 Vgl. H. Pfefferkorn, Kampf, 1926, S. 15 f. 832 VerhPrNV I, S. 183.

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letzten verfolgt werden könnten.833 Innenminister Alfred v. Auerswald setzte die Abgeordneten ergänzend davon in Kenntnis, dass sich die Regierung schon vor dem Ersuchen des Versammlungspräsidenten an den Berliner Magistrat gewendet habe, weil die öffentliche Sicherheit seit den Märzereignissen „allein in die Hände der Bürgerschaft, und namentlich […] der Bürgerwehr, gelegt“ wäre. Als Antwort habe man versichert, „daß dergleichen nicht mehr geduldet werden dürfe“.834 Eine eigene Untersuchung durch die Versammlung stand bis jetzt nicht zur Debatte. b) Die „Interpellation“ zur Rolle der Bürgerwehr In derselben Sitzung wurde in Abwesenheit des Interpellierten eine Anfrage des Abgeordneten Johann Contzen an Außenminister v. Arnim-Suckow verlesen. Der Regierungsassessor forderte Auskunft über die Vorfälle vom 9.  Juni 1848, insbesondere, ob der Minister „unter den Augen oder doch in ganz unmittelbarer Nähe der Bürgerwehr“ misshandelt worden sei und „ob die Bürgerwehr ihm genügenden Schutz gewährt oder zu gewähren doch wenigstens versucht habe“. Erläuternd fügte der Interpellant hinzu, dass es ihm „besonders [darauf] an[komme], ob die Bürgerwehr nicht nur den guten Willen in sich [trage…], sondern auch die Kraft [habe…], solchen Ungesetzlichkeiten entgegenzutreten“.835 Die Anfrage zielte auf die dubiose Rolle der Bürgergarde, deren Mitglieder Karl August Milde wohl zu Recht836 in seinem Brief an das Staatsministerium verdächtigt hatte. Der Zulässigkeit dieser „Interpellation“ widersprach der zwei Wochen später zum vierten Vizepräsidenten gewählte837 Jurist Adolf Philipps mit der zutreffenden Überlegung, dass ein „Minister nur in Angelegenheiten seines Ressorts interpellirt werden“ könne.838 Tatsächlich handelte es sich um einen merkwürdigen Versuch, den Außenminister unter dem Deckmantel einer Interpellation gewissermaßen als Zeugen im Plenum anzuhören. Auch das BVerfG radiziert das politische Fragerecht auf den Kreis der Verantwortlichkeit der Bundesregierung; private Wahrnehmungen der Minister können ebenso wenig zum Gegenstand einer Interpellation gemacht wie der Regierung mit diesem Instrument verbindlich aufgetragen werden, einen Sachverhalt außerhalb ihres Verantwortungsbereiches zu ermitteln.839

833

VerhPrNV I, S. 177 f. VerhPrNV I, S. 179 f. 835 VerhPrNV I, S. 178 f. 836 L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 364. 837 VerhPrNV I, S. 274. 838 VerhPrNV I, S. 179. 839 Vgl. mit unterschiedlichem Akzent BVerfG, NVwZ 2014, 1652 (1654); BVerfGE 124, 161 (189); N. Kazele, VerwArch 101 (2010), 469 (471). 834

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c) Der Antrag Reichensperger Einen aus heutiger Sicht naheliegenden Weg schlug Peter Reichensperger zur Aufarbeitung des Vorfalls ein, indem er im Auftrag der Versammlungsrechten die Einsetzung einer Untersuchungskommission verlangte.840 Dieser Antrag dürfte, obgleich im enquête- und untersuchungsrechtlichen Schrifttum nicht behandelt,841 die erste Forderung dieser Art in Preußen sein. Im Einzelnen verlangte der Koblenzer Landgerichtsrat, unverzüglich eine Kommission mit der „Aufgabe [zu] ernennen, durch Vernehmung der betreffenden Abgeordneten diejenigen Thatsachen festzustellen, durch welche an den letzten Sitzungstagen die Würde der NationalVersammlung und die Sicherheit ihrer Mitglieder verletzt oder bedroht worden“ seien. Außerdem solle dieses Gremium dem Plenum „demnächst […] berichten, welche Maßregeln zur Verhütung jeder Wiederkehr derartiger Vorkommnisse ergriffen worden“ seien.842 Für seine Forderungen führte der katholische Politiker die Notwendigkeit ins Feld, „die Spannung, welche sich leider seit einiger Zeit in gewissen Klassen der [Berliner…] Bevölkerung gezeigt [habe…], auf ihr richtiges historisches Maß zurückzuführen und […] zu mildern“. Eine parlamentarische Untersuchung gebe der „ganzen Versammlung Gelegenheit  […], sich über die Störungen, welche unter­ ihren Augen stattgefunden, auszusprechen“. Weil ihre „Autorität“ allein auf der „Gewißheit“ aller Provinzen ruhe, „daß ihre Vertreter […] nach eigener gewissenhafter Ueberzeugung berathen und abstimmen“ könnten, dürfe man die Angelegenheit „nicht mit Stillschweigen […] übergehen“. Vor diesem Hintergrund beschwor es Peter ­Reichensperger als das „größte Unglück“, „wenn im Hinblick auf die März-Ereignisse die Hauptstadt sich von den Provinzen und deren Vertretern trennen oder sich gar über diese erheben wollte“.843 Diese Mahnungen hatten einen ernsten Hintergrund: Täglich wurde in Zuschrif­ ten an das Ministerium oder in Presseveröffentlichungen gegen die Berliner „Anarchie“ protestiert. Teils bestritt man den Beschlüssen der Vereinbarungsversammlung jede Bedeutung, „so lange die Versammlung nicht gegen den Zustand der Unfreiheit kräftigst beschützt“ werde. Andere forderten die Abgeordneten auf, die „Stadt [zu] verlassen und ihre Berathung in einer anderen treuen Stadt des Vater­ landes fortzusetzen“. Wieder andere drohten mit einem Marsch der „provincialen Gegner nach der Hauptstadt‚ zur Proclamirung des wahren Volkswillens‘“.844 840

Vgl. P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 82 ff. Vgl. nur J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 8 ff.; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 46 ff.; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 20 ff. oder E. Zweig, ZfP 1913, 265 ff. 842 VerhPrNV I, S. 176. 843 VerhPrNV I, S. 179. 844 A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 186 ff. Zu Zuschriften an F. Harkort wegen sei­ nes Verlegungsantrags L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 367. s. auch A. Bergengrün, D. Hanse­ mann, 1901, S. 482, dass „[i]n den Provinzen […] das königstreue Volk [begonnen habe,] aus 841

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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Indem Peter Reichensperger außerdem in Abrede stellte, dass die „große That­ sache der März-Revolution“ das Werk Berlins oder der Barrikadenkämpfer wäre, und betonte, dass sich nicht „leicht […] entscheiden [lasse…], wer den größten Antheil“ habe, handelte es sich offenkundig um einen Seitenhieb gegen die Linke und den Antrag Berends. Freilich wiegelte der altliberale Jurist ab, dass er keine „drakonische[n] Strafbestimmungen gegen die eingetretenen Volksbewegungen“ befürworte, sondern bloß verlange, „daß eine jede Bewegung die Heiligkeit und Unverletzlichkeit der National-Versammlung künftighin besser als bisher [zu]­ ehren“ habe. Ein „einstimmiges Votum“ in diesem Sinne könne zur „Beruhigung des ganzen Staates […] beitragen“.845 Eingeschränkte Schützenhilfe leistete der rechte Abgeordnete Johann Hermann Hüffer, der sich dann aber doch für eine Vertagung der Frage aussprach, „weil […] die Verhandlung […] am passendsten bei Gelegenheit des Gesetzes über die Unverletzbarkeit der Versammlung ­anzubringen wäre“. Bedenken der Linken wies der Münsteraner Oberbürgermeister pauschal zurück, weil man nichts ausrichten könne, sobald die Provinzen in Sorge wären, „daß die Versammlung nicht in dem Falle sei, völlig frei beschließen zu können“.846 Auf der linken Seite des Hauses stieß der Antrag Reichensperger, wie angesichts seiner Stoßrichtung gegen die Volksbewegung nicht anders zu erwarten, auf ­fundamentale Ablehnung. Trotzdem scheiterte ihr Versuch, eine Aussprache in der für die Berliner Bevölkerung peinlichen Angelegenheit mit geschäftsordnungsrechtlichen Mitteln zu verhindern.847 In der Debatte nahmen Demokraten und Linksliberale dann paradoxerweise Positionen ein, die sonst die Konservativen besetzten: Julius v. Kirchmann kapitelte die Untersuchungsforderung als überflüssig ab, weil die „Erörterungen, welche die Behörden angestellt [hätten], vollkommen Auskunft [gäben…] über das, was die Versammlung zu wissen“ brauche.848 Ebenso qualifizierte Lothar Bucher, der erst auf dem Boden der Revo­lution stand, wegen des Steuerverweigerungsbeschlusses verurteilt wurde, ins Ausland floh, nach seiner Rückkehr gewissermaßen die Fronten wechselte, 1864 ins preußische Außenministerium berufen wurde und schließlich als Sekretär und Gehilfe Bismarck langjährig verbunden war,849 die Untersuchungsforderung als mit dem „Schreiben des Präsidiums und durch die Erklärung des Herrn Ministers des I­ nnern vollständig erledigt“.850 Beide gaben sich also in einer Sache, die ein schlechtes Licht auf die revolutionäre Bewegung werfen konnte, dem Revolutionstaumel zu erwachen“. Zu Bekundungen der „provinziellen Sympathieen mit der hauptstädtischen Bewegung“ oder „Versicherungen des Dankes an die ‚braven Berliner‘, an die ‚Vorkämpfer der Freiheit‘“ s. A. Wolff, S. 196 ff. 845 VerhPrNV I, S. 179. 846 VerhPrNV I, S. 182. 847 s. die Anträge Elsner und Dierschke, VerhPrNV I, S. 182 f. 848 VerhPrNV I, S. 183. 849 Vgl. K. Herdepe, PrVerf, 2003, S. 198 und in Fn. 982; O. Pflanze, Bismarck I, 2008, S. 329, 345, 727; ders., Bismarck II, 2008, S. 655 f.; H. O. Meisner, NDB II, 1955, S. 698 f. 850 VerhPrNV I, S. 181.

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mit den Regierungsauskünften zufrieden; Hintergrund dürfte politisches Taktieren, keine „echte“ Abneigung gegen ein parlamentarisches Enquête- und Untersuchungsrecht gewesen sein. Aus ebenso ungewohnter Richtung wurde der „Gewaltenteilungseinwand“ erhoben, als der Abgeordnete v. Berg (linkes Zentrum) auf die motivierte Tagesordnung antrug, weil die Nationalversammlung „nicht das Recht und noch weniger die Pflicht [habe…], in die Geschäfte der konstituirten Behörden einzugreifen, [sich…] also weder ein Untersuchungsamt, noch polizeiliche Gewalt, noch das Kommando der Bürgerwehr anmaßen“ dürfe. Trotzdem bot diese scheinkonservative Position Gelegenheit zur Regierungskritik, die sich der Jülicher Kaplan nicht entgehen ließ; er forderte, weil das Ministerium nicht für die „Sicherheit des Staats“ gesorgt habe, in die Motive aufzunehmen, „daß die betreffenden Behörden für die Freiheit der Versammlung und die Sicherheit der Abgeordneten pflichtmäßig Sorge tragen“ müssten.851 Der linke Zentrumspolitiker Adolf Philipps betonte ebenfalls, „daß es nicht Aufgabe der National-Versammlung [wäre…], einzugreifen in die Befugnisse der Justiz- und Polizei-Behörden“, die „das ihrige zur Ermittelung der Exzesse bei[zu]tragen“ hätten. Ihm genügte aber die einfache Tagesordnung, um so zu dem Gesetzesvorschlag Anton Bloems über den Schutz der Versammlung übergehen zu können, der sich auf Indemnität und Immunität beschränkte.852 Statt auf die Tagesordnung trug der Oberlandesgerichtsassessor Bucher darauf an, den „Antrag […] geradezu und entschieden zu verwerfen“. Neben dem bereits erwähnten Erledigungsargument monierte er, dass der Versammlung in ­Sachen Valdenaire ausgerechnet von den „altländischen und rheinländischen Juristen und […] dem geehrten Antragsteller selbst aus­ein­ander­ge­setzt worden [wäre], daß es Sache der Justiz sei, Verbrechen zu rügen“. Das politische Taktieren wurde vollends offensichtlich, als Bucher erklärte, dass er damals zwar nicht einverstanden gewesen sei, es jetzt aber als „schreiende Inkonsequenz“ zurückweisen müsse, wenn die Versammlung „weniger skrupulös […] und wohl­ge­muth der Justiz und Polizei ins Handwerk greifen“ wolle; um in der prinzipiellen Frage (eines Untersuchungsrechts!) „wieder die richtige Stellung“ einzunehmen, gelte es, eine „würdigere Veranlassung ab[zu]warten […], als die kleinliche Sorge um [die eigene…] Sicherheit“.853 Die Kritik an Peter Reichensperger ging weder völlig fehl, noch traf sie vollends ins Schwarze. Zwar hatte dieser insbesondere in der Posener Debatte dezidiert vertreten, dass es keine Aufgabe einer parlamentarischen Versammlung wäre, „sich etwa durch Zeugen Aufklärung über die Vergangenheit zu verschaffen“; dieses Amt obliege ausschließlich der Justiz. Eine „gerichtliche oder administrative Kommission […] aus unverletzlichen Abgeordneten“ hatte er als „höchst monstruöse“ Chimäre abgelehnt.854 Andererseits stellte Peter Reichens 851

VerhPrNV I, S. 180. VerhPrNV I, S. 179. Abdruck des Gesetzentwurfs S. 83. 853 VerhPrNV I, S. 181. 854 VerhPrNV I, S. 342. 852

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perger zum Ende der Debatte klar, dass es ihm in diesem Fall überhaupt nicht um eine Untersuchung gehe, die mit den Gerichten konkurrieren könne, weil er lediglich Abgeordnete hören wolle.855 Außer dem Gewaltenteilungsargument erprobte die Linke eine weitere, noch heute beliebte Taktik gegen missliebige Untersuchungen: Man versuchte, den fraglichen Zwischenfall so weit herabzuspielen, dass weitere Maßnahmen Zeitvergeudung wären. Mit diesem offenkundigen Ziel qualifizierte Lothar Bucher die Bedrängung der Abgeordneten und des Ministers als beklagenswerte, „gegen Einzelne […] außerhalb dieser Räume“ gerichtete „Exzesse“, die allenfalls der „Reaction eine Handhabe“ böten. Weil ein „Angriff gegen die Versammlung [weder…] erfolgt“ noch zu erwarten wäre, forderte er ihre Mitglieder dazu auf, die eigene „Sicherheit nicht in außerordentlichen Kommissionen und Polizei-­Anstalten, sondern im Vertrauen und in der Anhänglichkeit des Volkes zu suchen“.856 Der Linke Georg Jung bagatellisierte die Angelegenheit zur „Unbequemlichkeit“ herab, über die man besser hinwegsehe; für weitere Schritte sei sie viel „zu un­bedeutend“.857 Analog motivierte Moritz Elsner seinen Antrag auf den Schluss der Debatte u. a. damit, dass der „Vorfall […] wirklich unwichtig, obgleich unangenehm“ gewesen wäre.858 Wie wenig solche Verharmlosungen der Realität ent­sprachen, wenn sich der Zorn erst einmal gegen unliebsame Volksvertreter entlud, bewies wenige Wochen später der Frankfurter Abgeordnetenmord.859 Angesichts dessen trat der altliberale Anführer Eduard Baumstark den Beschwichtigungsversuchen der Linken zu Recht entgegen und spitzte ihren Vorschlag polemisch dahin zu, dass man sich „mit Seelengröße“ von einem „großartigen welthistorischen Standpunkt aus vom sogenannten Volke […] verunglimpfen lassen“ solle. Trotz dieses Irrglaubens seien ausreichende Maßregeln zum Schutz der Versammlung „vom blos berliner lokalpolizeilichen Standpunkt“ ebenso unverzichtbar wie die exekutive Macht zu ihrem Vollzug.860 In vergleichbarer Weise äußerte sich der gemäßigte Linke Julius v. Kirchmann gegenüber dem Gesetzentwurf des Demokraten Temme. Indem er ein spezielles Gesetz als „nicht nö­ thig“ abtat, weil die „Vorfälle […] keinesweges bloße Injurien“, sondern ein „Versuch [gewesen seien], körperlich zu beschädigen und die Freiheit der Person zu beschränken“, qualifizierte der Berliner Staatsanwalt die Ausschreitungen als verfolgungsbedürftige Straftaten und widersprach damit zugleich einer Bagatellisierung.861

855

VerhPrNV I, S. 184. VerhPrNV I, S. 181. 857 VerhPrNV I, S. 180 f. 858 VerhPrNV I, S. 183. 859 Vgl. P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 84. 860 VerhPrNV I, S. 181. 861 VerhPrNV I, S. 183. 856

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Demgegenüber versuchte die entschiedene Linke, die Debatte über eine Unter­ suchung oder weitere Schritte dazu zu instrumentalisieren, die Nationalversammlung doch noch auf den Boden der Revolution zu stellen. In diesem Sinne mahnte Georg Jung die Abgeordneten, „auch ein Herz für die Bewegung [zu] haben, […] dem Sturme [zu]zujauchzen und sich von den Wellen […] tragen [zu] lassen“, um überhaupt „etwas aus[zu]richten“. Fordere man bei „jeder kleinen Störung“ gesetzliche Schritte, verliere sich die „Macht, in der Bewegung etwas zu vermögen“. Das Ideal der Freiheit sah der Landgerichtsassessor nicht in der Existenz einer Nationalversammlung oder in den Verfassungsberatungen, „sondern in der freien Bewegung“.862 Deutlicher wurde die Anerkennung der Revolution und des Volkszorns in den Vorhaltungen des Abgeordneten Dierschke, die Gegenseite verfange sich in Widersprüche, indem sie militärischen Schutz als „unangenehm“ bezeichne, zugleich aber den Schutz der Versammlung fordere, die „Souverainetät des Volkes“ bekämpfe und die Anerkennung der Revolution ablehne. Gegenüber dem Aufkeimen der Reaktion sei das „Volk von Berlin […] erbittert, und zwar mit Recht“. Schon einzelne dieser Äußerungen hatten „[g]roße Unruhe“ zur Folge gehabt. Als der Redner aber zu Vorwürfen gegen die Regierung ansetzte, sie habe u. a. die Oberpräsidenten zu reaktionären Adressen aufgefordert, war kein Wort mehr zu verstehen.863 Nachdem wieder Ruhe herrschte, wiesen Innen­minister­ Alfred v. Auerswald und Finanzminister David Hansemann diese konterrevolutionären Verdächtigungen entschieden zurück.864 Zum Schluss erhielt noch einmal der Antragsteller das Wort. Geschickt machte sich Peter Reichensperger die Ausgangsposition seiner Gegner zunutze, dass eine unzulässige „Einmischung in die Polizei“ drohe, betonte, dass er diesen Grundsatz wahrscheinlich höher halte als andere, – und strafte die allzu offensichtlich tak­tierende Linke mit einem Lob für ihre unerwartete „Unterstützung hinsichtlich dieses Prinzips“. Dann fuhr er fort, dass dieser richtige „Grundsatz hier gar keine Anwendung“ finden könne, weil keine „allgemeine Untersuchung angestellt […], sondern […] die Mitglieder der gegenwärtigen Versammlung vernommen werden“ sollten. Beabsichtigt sei bloß eine Handhabung der „Polizei, welche eine jede Versammlung in ihrer eigenen Mitte“ ausübe. Forderungen, die Sache auf sich beruhen zu lassen, wies der Koblenzer Richter zurück, weil sich die Versammlung, statt die „Dämme, die sie [umgäben…], ruhig unterwühlen [zu ] lassen“, mit Hilfe der „Aufklärungen […], die sich in ihrer eigenen Mitte“ böten, „von dem Stande der Gefahr […] unterrichten“ müsse. Die „gerichtlichen Verhandlungen“ würden dagegen – das habe man in Sachen Valdenaire gesehen – „alsdann ruhige voranschreiten, während die Versammlung auf einem Vulkan“ sitze. Gegenüber Versu­ 862

VerhPrNV I, S. 180 f. VerhPrNV I, S. 182 f. Abdruck der Kösliner Loyalitätsadresse bei A. Wolff, RevolutionsChronik III, 1851, S. 188 ff. mit Mitteilungen zur Entstehung. 864 VerhPrNV I, S. 183. Der Abgeordnete Dierschke bestritt, der Regierung vorgeworfen zu haben, „sie befördere die Reaction“. Dagegen könne es nicht sein, dass ihr die Adresse, gegen deren Verbreitung sie einzuschreiten habe, entgangen wäre. 863

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chen, die Zwischenfälle als Exzess einer kleinen Minderheit abzutun, mahnte er, „daß kleine Minoritäten nicht selten die Herrschaft über große Majoritäten erringen“ könnten. Unter „O ho!“-Rufen der Linken verlangte Peter Reichensperger zu guter Letzt, die „gestörte Harmonie zwischen den Provinzen und der Hauptstadt“ mit der Annahme seines Antrages wiederherzustellen, indem man „Gewißheit [schaffe…], welche Maßregeln getroffen [seien…], um die Wiederkehr der traurigen Störungen zu verhüten“.865 In der Abstimmung fielen die Anträge von Adolf Philipps und des Jülicher­ Kaplans Philipp Joseph Peter v. Berg auf einfache bzw. motivierte Tagesordnung durch. Dass der Antrag Reichensperger ausdrücklich abgelehnt wurde, diese Forderung hatte Lothar Bucher erhoben, quittierte die Linke mit lautem „Bravo“.866 Ihr Sieg war perfekt, als der Präsident eine mit 8.000 Unterschriften bedeckte Loyalitätsadresse der Bürgerwehr verlesen ließ.867 Das Märzministerium Camphausen-­ Hansemann aber sollte über die Ablehnung des der Versammlung angebotenen Schutzes straucheln.868 3. Zwischenergebnis Die protokollierten Ausrufe und Störungen untermauern Peter Reichenspergers Erinnerungen, dass die Debatte teils „tumultuarisch“ verlaufen sei. Die Ablehnung seines Antrags, den er als „Warnruf“ verstanden wissen wollte, interpretierte der spätere Mitbegründer der katholischen Zentrumspartei als Indiz dafür, dass die „frühere Majorität, welche die Freiheit auf dem Boden der gesetzlichen Ordnung begründen“ wollte, nicht länger existiert habe. So sei sein „selbstverständ­ liche[r], durch die Freiheit und die Würde der Nationalvertretung gebotene[r] Antrag“ „unter dem lebhaften Bravorufe der Linken“ dem „Terrorismus von außen in Verbindung mit Desertionen aus der Rechten und dem Eintritt vieler Stellvertreter statt der gewählten Abgeordneten“ zum Opfer gefallen.869 In vergleichbarer Weise urteilte Finanzminister David Hansemann noch in der Debatte, dass es einigen Mut erfordere, sich nicht der Straße zu beugen, während Unruhestifter­ wenig zu befürchten hätten.870 Nicht nur Peter Reichensperger wertete die Ablehnung seiner Forderungen im Kontext der Ereignisse als Menetekel, „welchen Umfang bereits die Anarchie und die beginnende Pöbelherrschaft in der Hauptstadt erlangt hatte“.871 Friedrich Harkort und verschiedene Parteifreunde verwahrten sich ausdrücklich gegen den „unbegreifliche[n]“ Beschluss. Dass der „Anarchie 865

VerhPrNV I, S. 184. VerhPrNV I, S. 184 f. 867 VerhPrNV I, S. 185. Ein weiteres Schreiben brachte die Bestürzung des Magistrats und der Stadtverordneten zum Ausdruck. Vgl. A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 182 ff. 868 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 727. 869 P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 83 f. 870 VerhPrNV I, S. 182. 871 s. P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 85 zu Gitterdiebstahl und Zeughaussturm. 866

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ein Vertrauensvotum“ gewährt worden sei, habe bloß geschehen können, weil über 70 Mitglieder der Versammlung „aus Gründen der persönlichen Sicherheit, oder weil [sie] die Versammlung als unfrei betrachtet“ hätten, ferngeblieben seien.872 Wie hart der Beschluss auch das königliche Umfeld traf und damit letztendlich der Reaktion in die Hände spielte, lässt sich an dem Geständnis des Generaladjutanten Leopold v. Gerlach gegenüber seinem Bruder Ernst Ludwig ablesen, „von Verstandes wegen [müsse er] einräumen“, dass der „Stand der Dinge […] hoffnungslos“ wäre.873 Tatsächlich desavouierte eine „große Majorität“ am Tag nach Debatte und Zeughaussturm das Ministerium Camphausen-Hansemann mit dem Beschluss, „daß sie keines Schutzes Bewaffneter bedürfe, sondern sich unter den Schutz der berliner Bevölkerung stelle“.874 In diesem brisant-politischen Kontext kristallisierte sich der Konflikt zwischen gemäßigten und revolutionären Kräften an der Untersuchungsforderung gleichsam mit umgekehrtem Vorzeichen heraus. Dass die Initiative dieses Mal von der Rechten ausging und von links vehement bekämpft wurde, hing nicht mit dem in Anspruch genommenen Recht, sondern mit dem Untersuchungsgegenstand zusammen: Es ging nicht um eine Kontrolle der Regierung, der Behörden oder des königlichen Militärs, sondern um die Aufklärung des Zwischenfalls vom 9. Juni, für den die Berliner Bürger, also die eigentlichen Träger der den Linken sakrosankten Revolution, und möglicherweise die Bürgerwehr als einer ihrer gefeierten Erfolge die Verantwortung trugen. Eine weitere Provokation der Radikalen bedeutete die in dem zweiten Antragsteil, „demnächst […] zu berichten, welche Maßregeln zur Verhütung jeder Wiederkehr derartiger Vorkommnisse ergriffen worden“ seien, anklingende Erwartung einer staatlichen Reaktion auf den Vorfall. Die Untersuchung hätte sich zudem wohl kaum auf die eigentlichen Verantwortlichen für Pöbeleien und Tätlichkeiten beschränken lassen. Indem die Menge nicht nur Vertreter der Rechten und Regierung beschimpft und bedrängt, sondern gleichzeitig ihre parlamentarischen „Helden“ von der anderen Seite des Hauses freudig begrüßt und mit Ständchen geehrt hatte,875 hätte sie sicherlich der Rechten auch dazu gedient, in den Reihen des politischen Gegners nach „Mitschuldigen“ zu suchen.876 872 Zitiert nach L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 367. Zum Fernbleiben der Rechten auch P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S.  90, der S.  91 f. berichtet, dass vor dem Schluss der­ Debatte kein Abgeordneter das Wort gegen den Antrag erhalten habe. 873 J. v. Gerlach (Hg.), E. L. v. Gerlach, 1903, S. 534. 874 VerhPrNV I, S. 194 ff. Zu den Folgen E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 727. 875 Vgl. A. Wolff, Revolutions-Chronik III, 1851, S. 172 ff., 178 und ferner A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 485. 876 Eine entsprechende Anklage erhob der Abgeordnete Müller (Wohlau) am Folgetag: „Eine dreifache moralische Mitschuld an dem; was wir gestern und diese Nacht erlebt haben, tragen allerlei Menschen. Meine Herren links […]. Ich beschuldige Sie nicht, daß Sie diese Bewegung hervorgerufen haben; dennoch sind Sie nicht ohne moralische Mitschuld. Ihre weit gestellten Anträge, von denen man nie wissen konnte, was sie bedeuteten, in denen Sie sich selbst ein Zeugniß legislativer Paupertas ausstellten, haben das traurige Mißverständniß dieser großen Hauptstadt möglich gemacht.“ Nach diesen Anschuldigungen erteilte der Pastor der Linken die Absolution: „Ihnen sei vergeben, Sie haben es aus gutem Willen gethan“ (VerhPrNV I, S. 195).

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Schon die politische Kampfsituation, in der dieser Antrag zum Einsatz kam, rückte ihn in eine funktionale Nähe zu einem modernen Untersuchungsrecht. 70 Jahre später wollte Max Weber mit der Ausgestaltung des Enquête- und Untersuchungsrechts als Recht der Minderheit eine Kontrolle der parlamentarischen Mehrheit ermöglichen.877 Analog dazu diente der Antrag Reichensperger der gemäßigten Rechten als Kampfmittel in der Auseinandersetzung mit dem zunehmend mächtigeren parlamentarischen Gegner. Vor diesem Hintergrund lässt es sich verschmerzen, dass keine externen Zeugen vernommen werden sollten, sondern sich die Untersuchung auf den Kreis der Versammlungsmitglieder beschränken sollte. Der prima facie berechtigte Einwand des Antragstellers, es handele sich mangels Vernehmungen Dritter nicht um eine „echte“ Untersuchung, tritt so ein Stück weit in den Hintergrund. Gegen seine These, es gehe lediglich um die Handhabung der „eigenen“ Polizei der Vereinbarungsversammlung, spricht, dass sich der Untersuchungsgegenstand eben nicht in innerparlamentarischen Fragen erschöpfte, sondern die Vorfälle außerhalb der Singakademie betraf. Durch die­ Beschränkung des Kreises der zu vernehmenden Auskunftspersonen auf die Mitglieder der Vereinbarungsversammlung bezweckte der Antragsteller möglicherweise, den Widerspruch mit älteren Positionen zu vermeiden, den ihm die Linke tatsächlich zur Last legte. Außerdem hätte die Untersuchung die Möglichkeit geboten, die Linke vorzuführen, indem auch ihre Mitglieder als „Zeugen“ vernommen worden wären. Wenigstens wäre es offen zum innerparlamentarischen Konflikt der Radikalen mit Gemäßigten und Konstitutionellen gekommen. Von seinem politischen Grundimpetus her wurde der Antrag dem Zweck eines parlamentarischen Untersuchungsrechts also voll gerecht.

IV. Die Untersuchung des Schweidnitzer Vorfalls Eine „klassischere“ Konstellation lag der Untersuchung des blutigen Zwischenfalls in der rund 50 Kilometer von Breslau gelegenen Festungsstadt Schweidnitz (Świdnica) zugrunde. Nicht nur der Anlass – preußisches Militär hatte auf Bürgerwehrmänner und Zivilisten geschossen –, sondern auch das Vorgehen der Vereinbarungsversammlung ähnelt frappant der Mainzer Untersuchung des Frankfurter Reichstags. Die politische Dimension der tragischen Ereignisse zeigt sich daran, dass die von der Linken erhobenen Forderungen letztlich zur Resignation des­ Ministeriums Auerswald führten.878

877

Zu M. Webers Vorschlägen für Conrad Haußmann s. 7. Teil 1. Kap. C. A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S.  535 ff.; P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 129 f.; E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 735 ff. 878

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1. Vorgeschichte: Das Blutbad vom 31. Juli 1848 Zum Auslöser der Tragödie in der schlesischen Festungsstadt wurde ein Verbot des ungeliebten Festungskommandanten Karl Rollas du Rosey, die Bürgerwehr „durch den Trommelschlag zum Exerciren zusammen[zu]berufen“.879 Während der Magistrat protestierte und der Bürgerwehrkommandeur resigniert das „Exerciren […] abbestellt[e]“, brachten etliche Einwohner und zahlreiche Neugierige, „meist Weiber und Kinder aus der niedern Volksklasse“, dem Kommandanten am Abend eine „Katzenmusik“.880 Nach einer Weile wurden – bei solchen Gelegenheiten nicht unüblich881 – auch Fensterscheiben eingeworfen.882 Die „bedeutende Erbitterung“ in der Bevölkerung wird durch den zeitgenössischen Hinweis verständlich, dass „der König selbst der Volkswehr nicht nur politische, sondern auch gleiche Rechte und Befugnisse mit der militairischen Macht eingeräumt“ habe.883 Unter diesem Vorzeichen musste das Verbot militärischer Signale geradezu als Auftakt der Reaktion erscheinen, zumal die Volksbewaffnung als Bollwerk g­ egen Militärdespotismus und Reaktion nicht nur für die äußerste Linke einen erheblichen Stellenwert besaß.884  – Obwohl sich die Schweidnitzer Bürgerwehr, die aufgrund der Verordnung vom 19. April 1848885 für die öffentliche Sicherheit zu 879 Zur Begründung betonte der Kommandant, dass die „Zusammenberufung der Garnisonen in den Festungen durch Militairsignale nur den Zweck habe, die Truppen bei zu besor­ gender Gefahr so schnell als möglich auf ihren Allarmplätzen zu sammeln, was, wenn man es auf ihre bloßen Uebungen anwende, leicht Beirrungen herbeiführen könne“. Außerdem­ hätten „die Truppen auch in dieser Festung solcher Signale bei ihren Uebungen bisher nie bedurft“. Es sei „endlich auch ein wesentlicher Unterschied zwischen offenen Orten und Fes­ tungen in dieser Beziehung“. Zu früheren Gründen für seine Unbeliebtheit in der Bevölkerung s. L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 16, S. 26 ff. zur Versetzung eines beliebten und um Ausgleich mit den Bürgern bemühten Leutnants im April sowie S. 34 f. zum Streit um das Exerziersignal. 880 Zitate nach dem Bericht der Schweidnitzer Deputation (PrNV-Drs. 226). 881 S. Müller, Soldaten, 1999, S. 74 ff. 882 So der offizielle Bericht des kommandierenden Generals Graf v. Brandenburg an das Kriegsministerium vom 2.  August 1848, der in den Untersuchungsbericht PrNV-Drs. 226, S. 4 ff. aufgenommenen wurde. Ebenso J. M. Petery, Schweidnitz, 1848, S. 11. 883 N. N., Bericht Schweidnitz, 1848, S. 4. 884 Allg. A. Stahr, Pr. Revolution I/12 1851, S. 163 ff.; im Schweidnitzer Kontext J. M. Petery, Schweidnitz, 1848, S. 4 f. und ferner L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 30. Zur Haltung des Militärs gegenüber der Bürgerwehr E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 733 f. 885 Verordnung über die Befugnisse der Bürgerwehr vom 19.  April 1848, PrGS. S.  111: „Nachdem Wir die Bildung von Bürgerwehren genehmigt haben, so verordnen Wir zur Be­ seitigung entstandener Zweifel, daß den mit Zustimmung der Obrigkeit gebildeten Bürger­ wehren Behufs Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit die Befugnisse der bewaffneten Macht nach den gesetzlichen Bestimmungen zustehen. Die Bürgerwehren sind daher insbesondere befugt, von ihren Waffen Gebrauch zu machen, wenn sie bei ihren Dienstleistungen angegriffen oder mit einem Angriff gefährlich bedroht werden oder Widerstand durch Thätlichkeit oder gefährliche Drohung stattfindet. Eben so sind sie befugt, bei einem Auflauf von den Waffen Gebrauch zu machen, wenn nach zweimaliger Aufforderung des Befehlshabers die versammelte Menge nicht auseinander geht.“

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ständig war,886 bereits anschickte, das Treiben zu beenden, marschierte eine Kompanie Soldaten auf. Als vermeintlich auf das Militär geschossen wurde  – später stellte ein Militärarzt fest, dass der verwundete Soldat in Wahrheit von Kameraden verletzt worden war –, feuerten die Füsiliere, die schon in einer Seitenstraße scharf geladen hatten, über 100 Schüsse in die Menge. Mehrere Zivilisten und Bürgerwehrmänner waren sofort tot, andere erlagen in den folgenden Tagen ihren Verletzungen.887 Major Karl Wilhelm Ludwig Alexander v. Gersdorf, der Anführer der Unglückskompanie, hatte durch das verfrühte Laden außer Sicht der Tumultuanten wenigstens militärische Regeln verletzt.888 Die Presse klagte überdies sicherlich zu Recht, dass die „gewaltsamen, kaum zu erklärenden Maßregeln […] einer erbärmlichen Katzenmusik wegen“, unnötig gewesen wären.889 2. Erste Unterrichtung durch den Ministerpräsidenten In der öffentlichen Wahrnehmung erschien der unselige Zwischenfall, dessen genauer Hergang niemals rekonstruiert werden konnte,890 nicht als vereinzelter Exzess, sondern als Ausdruck der reaktionären Gesinnung des preußischen Offizierskorps, ja als blutiges Fanal zur Gegenrevolution.891 So notierte Karl August Varnhagen v. Ense Anfang August über die „abscheuliche[n] Vorgänge“ in sein­ Tagebuch, dass „[a]lle solche Vorfälle […] eine Kette“ bildeten.892 Ohne „strenge Bestrafung der Befehlshaber“ werde der „Riß unheilbar“ und die Öffentlichkeit den „Soldat[en] als Feind des Bürgers“ ansehen.893 Außerdem berichtete der Publizist und ehemalige Diplomat, dass bereits öffentlich die Auflösung und Neu­ bildung des preußischen Militärs gefordert werde, das „sich nirgends mit den Bürgern vertragen“ könne.894 Dem Publikum erschien die Armee also als Hort der Reaktion, als offener Feind der Märzerrungenschaften, ja des Volkes selbst.895 Ähnlich negativ nahm die Nationalversammlung die Nachrichten aus Schweidnitz 886

Vgl. L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 33. Vgl. PrNV-Drs. 226, S. 36 ff. sowie L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 42, 75. 888 Es wäre geboten gewesen, vor der Menge laden zu lassen und sie zum Auseinandergehen aufzufordern. Zum Ganzen L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 36 ff. und aus zeitgenössischer, linker Sicht J. M. Petery, Schweidnitz, 1848, S. 9 ff. Ferner bzw. zu den politischen Auswirkungen E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 735 ff.; M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 524 ff. oder H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 53 ff. 889 Aschaffenburger Zeitung, No. 203, vom 9. August 1848. Freilich wusste der Autor augenscheinlich nichts von dem angeblichen ersten Schuss auf die Soldaten. 890 L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 5 f., 39. 891 Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 735 f.; D. Blasius, Friedrich Wilhelm IV., 1992, S. 145 f. und zeitgenössisch J. M. Petery, Schweidnitz, 1848, S. 6 ff. 892 L. Assing (Hg.), Tagebücher V, 1862, S. 149. 893 L. Assing (Hg.), Tagebücher V, 1862, S. 151. 894 L. Assing (Hg.), Tagebücher V, 1862, S. 154 f. 895 Vgl. L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 6 und Fn. 6, S. 15 sowie aus der Zeit C. d’Ester, Demo­kratie, 1849, S. 5. 887

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auf.896 Am 4. August 1848 informierte Ministerpräsident Rudolf v. Auerswald die Abgeordneten offiziell über den Vorfall und versicherte, dass nicht nur „[v]on Seiten der zuständigen Behörden […] sofort alles das geschehen [sei], was das Gesetz“ anordne, sondern auch weiterhin die „Gesetze ihren Lauf haben“ sollten.897 3. Die Untersuchungsdebatte vom 9. August 1848 Fünf Tage später beriet die Vereinbarungsversammlung über eine „sehr schleunige Petition“ aus Schweidnitz.898 Hans Viktor v. Unruh berichtete später, dass schon am Vortag bekanntgeworden sei, „daß in der Schweidnitzer Angelegenheit eine dringende Petition eingegangen sei, daß die Petitionscommission in der Sit 896 Vgl. D. Blasius, Friedrich Wilhelm IV., 1992, S. 146. So berichtete Goswin Krackrügge am 9. August 1848 über einen Erfurter Vorfall vom 14. März, bei dem rund 50 Ruhestörer bei einem Bierbrauer die Fenster eingeworfen hätten – auch dies eine nicht unübliche Form der „Katzenmusik“ –, weil dieser „sein Bier zu theuer verkaufte“ (allg. zu dieser Art des Volkszorns gegen Wucherer S. Müller, Soldaten, 1999, S. 74 ff.). Das Militär habe „mehrere unschuldige Menschen ohne Noth und ohne vorherige Warnung rücklings, also in dem Augenblick, als sie fliehen wollten, todtgeschossen, 6 andere aber mehr oder weniger schwer verwundet […], welche an dem Exzeß nicht betheiligt“ gewesen seien. „[Ü]ber die Ursache und die Schuld­ barkeit dieser Tödtungen und Verwundungen [sei] keine Untersuchung eröffnet“, so dass nicht einmal Schadenersatz zu erlangen sei. – Gleich mehrere Vorfälle brachte der Abgeordnete Pape zu ­Gehör, der das Schweidnitzer Ereignis als ein „Zeichen von den militairisch-polizeilichen Maßnahmen, von der Polizeiwillkür [bewertete], die man jetzt noch nicht verlernt [habe…], und die überall […] von neuem aufzutauchen“ suche. Er berichtete, dass über Schulkinder, die sich in einer schlesischen Kleinstadt an einer Katzenmusik beteiligt hätten, „[o]hne den Aeltern Anzeige zu machen, […] von Polizei wegen […] eine Züchtigung durch Peitschenhiebe verhängt“ worden sei. Auf die Beschwerde der Eltern habe man erwidert, dass die „Züchtigung“, die „keine blutigen Spuren zurückgelassen“ habe, nicht über das „gewöhnliche Maß“ hinausgegangen sei. „Daß aber eine solche Behandlung das Ehrgefühl morde, daß sie das höhere Recht der Aeltern an ihre Kinder schmachvoll verletze, darauf […] einzugehen [habe…] man höheren Orts nicht für nöthig befunden“. In einer anderen Stadt seien „innerhalb der letzten Wochen […] die größten Zügellosigkeiten von Seiten des Militairs gegen Bürger verübt worden“. So habe man „auf offener Straße einen geachteten Arzt mit der Knute verfolgt; Greise und Frauen [seien…] auf offenem Markte beleidigt und geschlagen worden“. Der Abgeordnete Messerich berichtete, dass in Kölner Vorfällen „ein Mensch getödtet und viele […] verwundet worden“ seien. In Trier habe sich ein „Konflikt [zugetragen], in Folge dessen vom Militair geschossen und ein Mensch erschossen“ worden sei. s. dazu VerhPrNV I, S. 668, 669, 671. 897 Der Ministerpräsident berichtete nur, dass „in Schweidnitz sehr beklagenswerthe Vorfälle stattgefunden [hätten], welche die öffentliche Theilnahme mit Recht in Anspruch [nähmen…]. Diese Umstände [würden…] durch Abgeordnete bestätigt, welche die Stadt Schweidnitz hierher gesandt, welche [er…] kurz vor Beginn der Sitzung empfangen habe. Von Seiten der zuständigen Behörden [sei…] sofort alles das geschehen, was das Gesetz [anordne…], so wie, um ferner Ruhestörungen zu vermeiden. Ueber diese ernsten Ereignisse enthalte [sich die Regierung gleichwohl…] für jetzt jeder weiteren Aeußerung, und füge nur hinzu, daß die Gesetze ihren Lauf haben“ würden (VerhPrNV I, S. 627). 898 Vgl. zu den Anträgen, die die Bürgerschaft von Schweidnitz am folgenden Tag stellte, in Fn.  901. In den Verhandlungen der Nationalversammlung spielten  – anders als in Frankfurt – theoretische Argumente eine kleinere Rolle. Stattdessen war teils die Sorge anzutreffen,

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zung am 9. Bericht erstatten, und daß entweder die Commission, oder einzelne Abgeordnete auf die Ernennung einer besonderen Commission zur Ermittelung der Thatsachen antragen würden. Eine solche [sei…] bereits in den Posener Angelegenheiten ernannt, und damit das Recht anderer Parlamente, namentlich des englischen und belgischen, in Anspruch genommen, auch von der Regierung nicht bestritten worden. In diesem Falle [habe…] man sich aber Abends vorher in den Centren gegen eine solche Maßregel aus[gesprochen], weil man voraussetzte, daß die Regierung in einem so eclatanten Falle genügende Erklärungen geben und energisch auftreten werde“. Mit den Worten des späteren Präsidenten der Nationalversammlung „täuschte [man] sich leider!“899 a) Kommissionsbericht und Verbesserungsvorschläge Anstelle eines eigenen Berichts las der Berichterstatter der Petitionskommission und Abgeordnete für das gut 50 Kilometer von Schweidnitz entfernte Hirschberg, der Lehrer und linke Publizist Moritz Elsner, am 9. August 1848 in Anwesenheit des Ministerpräsidenten Rudolf v. Auerswald sowie des Kriegsministers L ­ udwig Freiherr Roth v. Schreckenstein, des Landwirtschaftsministers Rudolf Eduard Julius Gierke und des Innenministers Friedrich Kühlwetter900 wörtlich aus der Schweidnitzer Bittschrift.901 Wie nicht anders zu erwarten, war diese nach Hans Viktor v. Unruhs nachsichtigem Urteil „mehr im Style eines Zeitungsartikels, als einer objectiven, klaren Darstellung abgefaßt[e]“902 Eingabe eine einzige Anklage gegen Militär und Behörden. Abweichend von der offiziellen Version, dass sich der Streit allein um das Exerziersignal drehte, warfen die Petenten dem Festungskommandanten vor, er habe kurzfristig die Erlaubnis zum Exerzieren der Bürgerwehr den Exzessen könne ein reaktionäres System zu Grunde liegen. Es wurde die allzu zurückhaltende Verfolgung des Militärs gerügt, während jeder Bürger für ein nichtiges Pressvergehen verhaftet werde. Um beide Seiten zu versöhnen, sei ein strenges Vorgehen erforderlich. s. etwa VerhPrNV I, S. 665 ff., 713. 899 H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 54. 900 VerhPrNV I, S. 664. 901 Bereits am 1. August 1848 stellte eine Abordnung der Bürgerschaft in der Stadtverordne­ tenversammlung vier Anträge: „1. Sofortige Entfernung des Kommandanten und des Offiziers, der am Abend vorher Feuer kommandiert habe und Anklage beider vor einem Kriegsgericht, 2. Bürgermeister Berlin müsse sein Amt ohne Anspruch auf Pension niederlegen, 3. sofortige Abberufung des Füsilierbataillons, 4. sofortige Absendung einer Deputation an die Nationalversammlung nach Berlin zur Wahrung der Rechte der Bürger. Die Nationalversammlung solle eine Kommission nach Schweidnitz senden und den Tatbestand an Ort und Stelle untersuchen.“ Auf Beschluss der Stadtverordneten reiste eine durch den Syndikus Pfitzner, der als vorläufiger Bürger­meister dem zurückgetretenen Ferdinand Berlin im Amt nachgefolgt war, angeführte Kommission am nächsten Tage in die Hauptstadt, um die Nationalversammlung und die Regierung über die Vorfälle zu unterrichten und die Forderungen der Bürger vorzubringen. s. L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 44 ff., 56 f. sowie zu dem späteren Streit um die Pension­ Berlins, S. 69 und ferner J. M. Petery, Schweidnitz, 1848, S. 16, 17 f. 902 H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 54.

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überhaupt widerrufen. In dem abendlichen Tumult sei dann „[o]hne irgend einen Aufruf, ohne irgend ein Signal, ohne Ansprache […] die rasende, von ihrem Führer […] bis zum zügellosesten Wahn hingerissene Soldateska […] wie eine wilde Meute auf die arglose, im treuen Pflichtgefühl die Befehle ihres Commandeurs harrende Bürgerwehr zu[gerast] und [habe…] das tödtende Blei in die Herzen treuer constitutioneller Bürger“ entladen. Besonderes Gewicht besaß der abschließende Vorwurf, es habe sich um eine koordinierte Attacke gehandelt, die der Kommandant mit dem Bürgermeister Ferdinand Berlin, „welche Beide zur entschieden reactionairen Partei gehör[t]en, mit vieler Geschicklichkeit vorbereitet“ habe.903 Angesichts der „Dringlichkeit der Umstände“, namentlich der „Stimmung, welche sich […] der ganzen Provinz bemächtigt“ habe, riet die Petitionskommission dem Plenum, „das Ministerium aufzufordern, entweder sofort oder spätestens in nächster Sitzung ausführliche Mittheilung darüber zu machen, was ihm von der Lage der Sache bekannt sei, und was es in Folge dessen veranlaßt habe“. Neben diesem interpellationsartigen Auskunftsersuchen, das sich äußerlich im konstitu­tionellen Rahmen hielt, materiell aber die monarchische Militärhoheit tangierte, zielte die Forderung, „diejenigen Truppentheile, welche bei dem Ereig­ nisse kom­promittirt [worden seien…], zur Vermeidung neuer Kollisionen sofort aus Schweidnitz zu entfernen“, unumwunden auf eine Einmischung in dieses prekäre königliche Reservatsrecht.904 Berichterstatter Elsner begründete diesen Antrag damit, dass trotz der „allgemeinen Versicherung“ des Ministerpräsidenten „ganz bestimmte Maßregeln getroffen und diese Maßregeln vorher bekannt gemacht werden müss[t]en, damit nicht nur die Provinz, sondern auch das ganze Land erfahre, daß es mit der Unterdrückung solcher Willkürlichkeiten des Militairs ernst gemeint sei“.905 Eher beiläufig folgte der eigentliche Untersuchungsantrag, indem Moritz Elsner abschließend von einem „Minoritäts-Votum“ in der Petitionskommission berichtete, das – ähnlich wie eine kürzliche Petition aus Leobschütz – darauf gerichtet sei, „daß sofort eine Kommission niedergesetzt werde, welche an Ort und Stelle die Vorfälle in Schweidnitz zu untersuchen habe“. Obwohl man „Bedenken gegen eine solche Kommission haben“ könne, urteilte der Berichterstatter, dass dieser Schritt sicherlich „zur Beruhigung [der…] Provinz wesentlich beitragen“ könne.906 Die folgende Debatte kreiste in erster Linie um die Einordnung des Schweid­ nitzer Desasters als singulärer Zwischenfall oder als Auftakt zu Reaktion und Gegenrevolution. Vor diesem Hintergrund versuchte die Linke, eine gewisse Kon 903 So habe man geladene Kanonen aufgefahren, „an denen die Mannschaft mit brennender Lunte stand, den Bürgerwehrmännern den Ausweg abschneidend“ (VerhPrNV I, S. 665). Laut L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 43 wurden diese Geschütze erst später aufgefahren; „scharfe Munition [habe] erst vom Depot geholt“ werden müssen. 904 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 736. 905 VerhPrNV I, S. 665. 906 VerhPrNV I, S. 665.

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trolle über die Armee zu erringen.907 Als einer ihrer Wortführer wies der Breslauer Abgeordnete und Oberlehrer Julius Stein, der zur Beisetzung der Opfer an den Ort des Geschehens gereist war,908 den Kommissionsantrag als „nicht vollständig genug“ zurück und verlangte, dass der „Herr Kriegs-Minister […] in einem Erlaß an die Armee sich dahin aussprechen [möge], daß die Offiziere allen reactionairen Bestrebungen fern bleiben, nicht nur Konflikte jeder Art mit dem Civil vermeiden, sondern auch durch Annäherung an die Bürger und Vereinigung mit denselben zeigen [sollten], daß sie mit Aufrichtigkeit und Hingebung an der Verwirklichung eines constitutionellen Rechts-Zustandes mitarbeiten woll[t]en.“909 Dieses revolutionäre Petitum, das sich äußerlich an einem früheren Erlass des Innenministers Kühlwetter orientierte,910 ergänzte der Rechtsanwalt Schultz aus Wanzleben um die provokante Forderung, „es denjenigen Offizieren, mit deren politischen Ueber­ zeugungen dies nicht vereinbar [wäre…], zur Ehrenpflicht zu machen, aus der Armee auszutreten“.911 Dieses Amendement überschritt nun gleich mehrere rote Linien: Einmal hatte bisher kein parlamentarischer Beschluss einen die „Regierung formell verpflichtenden Charakter“.912 Schwerer wog die postulierte Pflicht der konservativen Offiziere, ihren Dienst zu quittieren, die gut als ebenso provokante wie riskante Kampfansage an Militär, Regierung und Monarchie verstanden werden konnte.913 Neben diesem „Anti-Reaktions-Beschluss“, den der Unterstaatssekretär im Kriegsministerium Heinrich v. Brandt als „Nachäffereien“ der Französischen Revolution, „als Nüancirungen der Machination Robespierre’s gegen die Offiziere der Armee, um die Armee zu demoralisiren“, verurteilte,914 verlangte Julius Stein dem „Antrage der Minorität der Kommission“ entsprechend, „[d]aß die NationalVersammlung aus ihrer Mitte eine Kommission ernennen möge, welche das Recht [habe…], eines oder mehrere ihrer Mitglieder nach Schweidnitz selbst zu senden, um die Ursachen der blutigen Ereignisse zu ermitteln und den Thatbestand aufzunehmen“. Eine parlamentarische Untersuchung sei geboten, weil der zuständige Regierungskommissar, ein Sohn des früheren konservativen Kultusministers Eichhorn, im Lande kein Vertrauen genieße. Auch sei bislang gegen keinen der Verantwortlichen eingeschritten worden.915

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M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 524 ff. Vgl. J. M. Petery, Schweidnitz, 1848, S. 21, 24 und L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 52. Stein hatte feierlich gelobt, in der Nationalversammlung gegen die Reaktion in Armee, Adel und Beamtentum vorzugehen. 909 VerhPrNV I, S. 666. s. dazu E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 736. 910 Vgl. L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 57 in Fn. 183 sowie zu diesem Erlass R. Paetau, in: Acta Borussica IV/1, 2003, S. 18. 911 VerhPrNV I, S. 669. 912 A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 536 f. 913 Vgl. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 3. d). 914 H. v. Brandt, Leben III, 1882, S. 213. 915 VerhPrNV I, S. 666. 908

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b) Die Schweidnitzer Untersuchungsdebatte Als erster Redner der Debatte verurteilte der Schweidnitzer Abgeordnete Teichmann den schmachvollen Akt „willkürlichen aristokratischen Geistes [der…] Reactionaire“, der sowohl „Ausdruck der eingebildeten Uebermacht des Militairstandes über die Volkswehr und über das Volk überhaupt“ als auch „Verleugnung des Constitutionalismus“ sei. Der Breslauer Justizkommissar befürwortete die unverzügliche Verlegung der involvierten Soldaten, schloss sich dem Postulat einer „kriegsministeriellen Aufforderung an die Offiziere“ an und votierte insbesondere auch dafür, „eine Kommission aus der hohen Versammlung abzuordnen, welche zur Beseitigung der aufgeregten Stimmung die Hergänge in Schweidnitz ermittele und einer hohen Versammlung Bericht erstatte“. Dem aus der Posener und der Debatte über den Antrag Reichensperger bekannten „Gewaltenteilungseinwand“ griff der Jurist Teichmann vor, dass von der „Kommission kein Eingriff in die gerichtliche Untersuchung erfolgen“ solle; ihre „Abordnung“ sei allein „zur Informa­tions-­ Einziehung […] nothwendig“, weil „aus gerichtlichen Untersuchungsakten keine Mittheilungen gemacht werden“ dürften.916 Graf Reichenbach sprach sich ebenfalls für den „Steinschen Antrag auf eine Kommission“ aus, „die das Recht nach jeder Seite hin wahrhaft“ verteidige. Schließlich würden die „Offiziere, auf welchen ein Verdacht des Mordes“ ruhe, nicht verhaftet, während „gegen Bürger auf das schnellste mit Verhaftungen“ schon auf „eine Majestäts-Beleidigung oder eine Erregung von Mißvergnügen“ reagiert werde. Eine weitere Spitze gegen die Obrigkeit klang in der Vermutung an, dass der Bericht des Ministeriums „bereits das Anzeichen in sich [trage], daß man gegen die höheren Beamten nichts Anschuldigendes finden“ werde.917 Auch der demokratische Anführer Benedikt Waldeck hielt eine parlamentarische Untersuchung für „durchaus nothwendig“, weil noch keine „Einrichtung der Behörden vorhanden [sei…], welche dem Volke hinreichende Sicherheit gäbe, daß Alles in dieser Sache zur Erör­ terung“ komme. Gegenüber der „Fortsetzung des alten Militairgeistes“ sei das Volk nur durch eine parlamentarische Kommission zu beruhigen, die „an Ort und Stelle [prüfe…], wie sich die Sache [verhalte…], und […] dann in den Schooß der Versammlung Bericht erstatte“. Ohne diese Ergebnisse abzuwarten, forderte der Obertribunalsrat eine „Reorganisation des Heeres“, um die „aristokratische Scheidung zwischen Offizier und Soldat, zwischen Offizier und Bürger“ zu beenden, die eine

916

VerhPrNV I, S. 668. VerhPrNV I, S. 670 f. Dieses Urteil knüpfte Graf Reichenbach daran, dass der Bericht unterstelle, „es sei eine Schuld der Offiziere, ganz besonders der höheren Offiziere, nicht da, und man beweist uns dies scheinbar fast unumstößlich, indem man sagt, der Capitain Skribenski sei vor der Front marschiert, es sei also gar nicht möglich, daß er Feuer kommandirt habe, weil er durch dieses zuerst würde niedergeschossen worden sein.“ Demgegenüber stellte der Graf in Frage, ob in der höchst disziplinierten preußischen Armee Soldaten „aus jenen halbverhungerten Kreisen Ober-Schlesiens, […] die so niedergedrückt sind, daß sie schon vor dem­ Schnauzbart eines Unteroffiziers zittern“, ohne Kommando schössen. 917

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der „tieferen Ursachen“ sei, „warum das Militair gegen die Bürgerwehr“ einschreite, „als wären sie ganz verschiedene Menschen“.918 Ihre Befürworter setzten in eine parlamentarische Untersuchung also nicht bloß Hoffnungen, die Angelegenheit aufklären, sondern damit auch zur Beruhigung der erregten Öffentlichkeit beitragen zu können. Eine Besänftigung der Gemüter tat in der schlesischen Festungsstadt auch bitter not, nachdem es zwischenzeitlich zu weiteren Zwischenfällen gekommen war, die auch Tote gefordert hatten.919 Forderungen, die Nationalversammlung einerseits um die „Wahrung der Rechte der Bürger“ und andererseits darum zu ersuchen, „eine Kommission nach Schweidnitz [zu] senden und den Tatbestand an Ort und Stelle [zu] untersuchen“, waren schon am Morgen nach dem Zwischenfall von einer Deputation der Bürgerschaft in der Schweidnitzer Stadtverordnetenversammlung erhoben worden.920 Später berichtete die Presse, dass in Berlin „[a]us mehreren Städten Schlesiens […] Briefe eingegangen [seien], welche über den Beschluß des Reichslandtages, eine Deputation nach Schweidnitz zu schicken, die größte Genugthuung der Provinz ausdrück[t]en“.921 Gegenüber den teils anklagenden und provokanten Plädoyers für eine parlamentarische Untersuchung sowie den radikaleren Forderungen eines „Anti-Reaktions-­ Erlasses“ blieb die Antwort vom Regierungstisch erschreckend farblos. Hans Viktor v. Unruh kommentierte das Geschehen zutreffend mit den Worten: „Die Minister opponirten nicht, sie schwiegen“.922 Der Unterstaatssekretär im Kriegsministerium Heinrich v. Brandt urteilte, die Regierung habe zum Entsetzen von Konservativen und Militärkreisen nichts als „Unentschlossenheit“ zur Schau getragen, ja „die Minister [seien] so ruhig [geblieben], als wenn nichts vorgefallen wäre“.923 Jahre später urteilte der Historiker Alexander Bergengrün, ein Biograph David Hansemanns und Archivar der von diesem begründeten Diskonto-Gesellschaft, dass die Forderungen möglicherweise in der Versammlung gescheitert wären, hätte das Ministerium die drohende „gefährliche Kompetenzüberschreitung“ deutlich genug herausgestellt und die Sache zur „Kabinettsfrage“ gemacht.924 918

VerhPrNV I, S. 669 f. Laut L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 46 ff. wurden Soldaten mit Steinen beworfen und beschossen, die Kommandantur wurde bedrängt und einzelne Bürger wurden erschossen. s. auch den Bericht in der Aschaffenburger Zeitung, No. 204, vom 10. August 1848 über einen Vorfall vom Abend des 3. August 1848: „Gegen 9 Uhr knallten Büchsen in der Stadt. Man­ erzählte, daß nach der Kaserne, wo das Füsilier-Bataillon des 22.  Regiments sich befindet, aus dem gegenüberstehenden Hause ein Schuß gethan worden sey. Das Feuer wurde aus der Kaserne erwidert, die Frau eines Bürgers getödtet, ebenso wurde ein Artillerist in Zivilkleidung erschossen, […] ein anderer Mann verwundet. Die Nacht verging ruhig. Patrouillen durchstreiften die Stadt.“ s.  ferner den zeitgenössischen Bericht des Linken J. M. Petery, Schweidnitz, 1848, S. 16 ff. über die Entwicklung nach dem Zwischenfall. 920 Zu den Forderungen dieser Deputation s. Fn. 901. 921 Aschaffenburger Zeitung, No. 213, vom 19. August 1848. 922 H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 56. 923 H. v. Brandt, Leben III, 1882, S. 214. 924 A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 537. 919

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Statt in seiner gefürchteten, eloquent-doktrinären Art zurückzuschlagen, versuchte Innenminister Friedrich Kühlwetter nicht einmal, den parlamentarischen Forderungen Contra zu geben, sondern mühte sich bloß redlich, alle Fragen vorab ausreichend zu beantworten, um jedem weitergehenden Verlangen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Von den Justizbehörden sei eine „gemischte Kommission […] niedergesetzt worden“. Die „militairische Voruntersuchung“ sei abgeschlossen; „die Akten [habe man] an das Land- und Stadtgericht abgegeben“. Das Generalkommando habe den Kommandanten ersetzt. Auch werde erwogen, „das Füsilier-Bataillon […] zu versetzen“. Der verdächtigte Bürgermeister ­Ferdinand Berlin sei zurückgetreten. Obwohl er der Auffassung war, dass unmöglich Feuer befohlen worden sein könne, beteuerte der Innenminister, dass etwaige „Exzesse auf das strengste bestraft werden“ müssten. Abwiegelnd wies er darauf hin, dass ein absichtliches Fehlverhalten aber bislang überhaupt nicht feststehe.925 Dass der für seine Beredsamkeit bekannte Politiker nicht schärfer auf die Stein-Schultz’schen Forderungen reagierte, ja nicht einmal auf die mit diesen verbundenen Zumu­tungen einging, zeigt, wie sehr er überrumpelt wurde. Wenigstens Kriegsminister Ludwig Freiherr Roth v. Schreckenstein hob hervor, „daß im Allgemeinen Erlasse, Bekanntmachungen und Instructionen weit weniger […] geeignet [seien…], ein richtiges Verfahren herbeizuführen, als wenn […] von oben herab […] eingeschritten“ werde. Dies sei jedoch geschehen, indem man den Kommandanten zur Disposition gestellt und Untersuchungen veranlasst habe. Eine gewisse Verwahrung gegen eine parlamentarische Untersuchung lag in der Feststellung, dass ein endgültiges Urteil nur „durch kriegsrechtliches Erkenntniß und überhaupt durch Richterspruch“ fallen könne. Eine direkte Konfrontation vermied aber auch der Kriegsminister, dessen Äußerungen Hans Viktor v. Unruh deswegen „unmöglich als […] Bekämpfung des Stein’schen Antrages gelten“ lassen wollte.926 Näher als die Empfehlung des Soldaten Schreckenstein, dass die „Versammlung […] der Einsicht des General-Kommando’s vertrauen [möge], daß diejenigen Maßregeln ergriffen [würden…], die ähnlichen […] bedauerlichen Vorfällen vorbeugen könn[t]en“,927 dürfte der mehrheitlichen Stimmung unter den Abgeordneten die Sorge Karl August Varnhagen v. Enses gekommen sein, dass die Untersuchung von den zuständigen Behörden voraussichtlich „recht streng und ­ ilitair langwierig“ bis zu dem „Ergebniß [geführt werde], daß die Bürger dem M Abbitte thun soll[t]en“.928 Tatsächlich wurde das zunächst wenigstens zögerlich

925

VerhPrNV I, S. 667 f. s. zu dem angespanntem Verhältnis des Bürgermeisters zu Bürgern und Stadtverordneten, seiner politischen Kooperation mit dem Festungskommandanten sowie zu seinem Rücktritt auf Forderung der Bürger L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 17 f., 25 f., 45. Forderungen, er solle ohne Pension zurücktreten (vgl. J. M. Petery, Schweidnitz, 1848, S. 16, 17 f.), führten beinahe zu einem Rechtsstreit; aufgrund eines ihm günstigen Gutachtens wurde Berlin aber die gesetzliche Pension gewährt (L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 69). 926 H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 56. 927 VerhPrNV I, S. 668. 928 L. Assing (Hg.), Tagebücher V, 1862, S. 154.

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betriebene Strafverfahren 1854 endgültig ad acta gelegt.929 Parallelen mit der enttäuschenden Behandlung der hessischen „Garde-du-Corps-Nacht“, deren Aufarbeitung ebenfalls im Sande verlief, sind unübersehbar.930 Die eklatante Passivität der Regierungsseite erklärte der Finanzminister und eigentliche Kopf des Ministeriums931 David Hansemann 1850 so, dass er zwar „mehrmals […] das Wort zu nehmen im Begriffe [ge]stand[en habe, sich…] jedoch davon durch die Bemerkung [seines…] Freundes Auerswald, die Anträge seien ja gar zu unhaltbar, als daß nicht die Versammlung sie ohne Weiteres verwerfen würde, [habe…] abhalten“ lassen.932 Möglicherweise spielte ebenfalls, wie Ernst Rudolf Huber vermutete, die Sorge um die öffentliche Meinung eine Rolle.933 Jedenfalls musste die Zurückhaltung der Minister auf den unentschlos­ senen Teil der Abgeordneten sicher den Eindruck machen, dass die Regierung gegen die verschiedenen Forderungen keine durchgreifenden Einwände erhebe.934 Wenigstens aus den Reihen der Versammlung regte sich Widerspruch: Der Abgeordnete Hermann betonte stolz, dass er es sich „20 Jahre zur Ehre gerechnet [habe], der preußischen Armee anzugehören“, deren „Geist“ man keinesfalls „in Pausch und Bogen als einen aristokratischen und schlechten“ verurteilen dürfe. Unter Hinweis auf den Mainzer Vorfall, „wo [die…] braven Brüder in Uniform meuchlings niedergemordet“ worden seien  – die Paulskirchendeputation hatte ihr Augenmerk eher auf ein militärisches Fehlverhalten gerichtet935  –, oder den Dank der Aachener Bürger an das Militär, „daß es die Ruhe wiederhergestellt und Blutvergießen verhindert“ habe, forderte der Elberfelder Abgeordnete „Gerechtigkeit nach beiden Seiten“. Auf Julius Steins Forderung entgegnete er, dass es nicht angehe, „in dieser Weise den Stand, als solchen, an[zu]klagen“, während ein Teil desselben „mit freudiger Hingebung für die deutsche Sache“ im Felde stehe, befürwortete aber den Kommissionsantrag, weil er selbst ebenfalls „die strengste Untersuchung verlange und […] es auch für den Umständen angemessen erachte, daß die schweidnitzer Garnison gewechselt werde“. In ähnlicher Weise verwahrte sich der Premierleutnant a.  D. Wilderich v. Ketteler, der sich einer 13-jährigen Armee­laufbahn rühmte, gegen jede pauschale Unterstellung, „daß ein reactionairer Geist, ein Geist der Contre-Revolution in der Armee“ vorherrsche. Wie der Abgeordnete Hermann warnte der Rittergutsbesitzer und ältere Bruder des Mainzer Bischofs davor, das „Vertrauen“ in die preußische Armee zu schwächen, deren Dienste man in Holstein „bald genug“ benötige. Unter dem „Bravo von der Rechten und dem Centrum“ forderte der Tecklenburger Abgeordnete die Versammlung 929

s. dazu L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 68 f. s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. a) bb) (5). 931 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 727. 932 D. Hansemann, Verfassungswerk, 1850, S.  122 in Anm.  *. Im Ergebnis ähnl. wie hier L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 58. 933 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 736. 934 So A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 537. 935 s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 2. a). 930

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auf, „dem Gesetze freien Lauf [zu] lassen“ und „gegen das Amendement des Abgeordneten Stein und für den Kommissions-Antrag“ zu stimmen.936 Beide Abgeordneten lehnten u. a. eine parlamentarische Untersuchung also aus einem Gemisch affektiver und patriotisch-politischer Motive ab. In der Schweidnitzer Debatte kam wieder das aus den Beratungen über den Antrag Reichensperger und von anderen Gelegenheiten bekannte „Gewaltenteilungsargument“ zum Zuge. Der Aachener Abgeordnete Franz Jungbluth hielt allein den Kommissionsantrag für geeignet, damit „den Schuldigen die wohlverdiente Strafe treffe“ und „Gerechtigkeit im vollen Maße“ werde. Gegen Benedikt Waldecks Widerspruch hielt der Advokatanwalt dafür, dass die „Militair-Gerichte […], wie jede andere bestehende Gerichts-Behörde, das Zutrauen im Lande“ fänden. Nach diesem Plädoyer für die Justiz verurteilte er es als üblen Dienst, „daß man das Vertrauen gegen die Gerichte überhaupt in Zweifel“ ziehe. Eine parlamentarische Untersuchung lehnte er als unvereinbar mit dem Geist des Verfassungsentwurfs, dass „spezielle Kommissionen und Ausnahme-Gerichte nicht mehr eintreten soll[t]en“, sowie als unstatthaften „Eingriff in die organischen Rechte der Staatsgewalt und deshalb ein Unrecht“ ab. Selbst wenn nur „Information“ und „Aufklärung“ beabsichtigt würden, man „blos die Behörden stimuliren“ wolle, könne dies „mißlich für die gerichtliche Untersuchung […] sein“. Obwohl er die „guten Absichten, welche den Amendements zu Grunde“ lägen, anerkenne, votierte der Abgeordnete Jungbluth aus diesen Gründen für den Kommissionsantrag, damit „die Sache gesetzmäßig aufgeklärt und die Gerechtigkeit gehandhabt werde“.937 In seiner Argumentation verschob sich die Perspektive des aus dem Vormärz bekannten „Gewaltenteilungsarguments“ ein beachtliches Stück weit, indem es nicht um das „monarchische Prinzip“ ging, das quasi-exekutive Untersuchungsmaßnahmen verbieten sollte, sondern der rechtsstaatliche Grundwert einer unabhängigen Justiz in den Vordergrund rückte, dem sich selbst entschiedene Demokraten kaum verweigern konnten. Trotzdem entgegnete Benedikt Waldeck aus heutiger Perspektive zu Recht, dass „die Kommission lediglich zur Information bestimmt [sei], um dann Bericht zu erstatten“. Selbstredend solle sie „durchaus nicht irgend eine Gerichtsbarkeit ausüben“; „davon allein [handele aber…] der Paragraph der Verfassung, welchen der Redner angeführt“ habe. Der Antrag richte sich demgegenüber ausschließlich auf die Niedersetzung einer Kommission, „gerade wie diejenige, welche […] wegen der polnischen Angelegenheit“ gebildet worden sei. Tatsächlich waren Bedenken, eine (parallele)  parlamentarische Untersuchung könne die Unabhängigkeit der Justiz beeinträchtigen, bei dieser Gelegenheit mit analogen Argumenten zurückgewiesen worden.938 Ohne nähere Begründung fuhr der Berliner Obertribunalsrat fort, dass Maßnahmen „zur Einziehung von Erkundigungen […] in der Befugniß der National-Versammlung [lägen]. Die gerichtliche Untersuchung [behalte…] 936

VerhPrNV I, S. 670. VerhPrNV I, S. 671. 938 s. 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. d) aa). 937

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daneben ihren freien Lauf“.939 Mit diesen Aussagen konform konnte auch der Abgeordnete für Bitburg, Jean Augustin Messerich, ein Trierer Advokat und weiterer Freund von Karl Marx, „durchaus die Gefahr nicht erblicken, die aus solcher Kommission […] hervorgehen soll[e]“. Schließlich gehe es nicht um eine „SpezialKommission im gewöhnlichen Sinne des Wortes“ – gemeint waren wohl von Fall zu Fall zu Strafverfolgungszwecken eingesetzte Untersuchungsbehörden940 –, sondern es sollten bloß „Vertreter des Volkes […] in einer so hochwichtigen Sache mit eigenen Augen sehen“. Gemischte Kommissionen hätten dagegen in „politischen Angelegenheiten“ die „Wahrheit nie genügend an den Tag“ gebracht.941 c) Schluss der Debatte und Abstimmung Zum Schluss der Debatte erhielt entsprechend der Geschäftsordnung noch einmal Berichterstatter Elsner das Wort. Für den ersten Antrag der Petitionskommission, „daß […] das Ministerium Bericht geben möge von den Vorfällen in Schweidnitz“, führte der Linke an, dass der vorläufige „Bericht […] noch nicht befriedigt“ habe. Indem er verlangte, dass „nicht blos der Kommandant, sondern alle Offiziere und Unteroffiziere des Bataillons […] zur Verantwortung und Haft gezogen“ würden, dann aber bloß den Antragsteil befürwortete, „daß sofort das Militair aus Schweidnitz zurückgezogen werde“,942 genügte er vordergründig der Pflicht, als Berichterstatter für den Kommissionsantrag zu sprechen, lieferte aber andererseits zugleich Argumente für die weitergehenden Amendements. Nach einer „ungewöhnlich kurzen Debatte[,] durch deren Schluß neun angemeldeten Rednern das Wort abgeschnitten“ wurde (Peter Reichensperger),943 ließ Präsident Wilhelm Grabow zunächst über das „weiteste“ Amendement abstimmen, „eine Kommission zu ernennen, welche das Recht [habe…], eines oder mehrere Mitglieder nach Schweidnitz zu senden, um die Ursache der blutigen Ereignisse zu ermitteln und den Thatbestand aufzunehmen“. Obwohl ihm das Wort zu einer „thatsächliche[n] Bemerkung“ verweigert wurde, stellte Julius Stein durch Zwischenruf klar, „daß diese Kommission keine richterliche Gewalt“ haben solle. Laut Protokoll war das erste Abstimmungsergebnis trotzdem „zweifelhaft“ und erst die Zählung ergab eine durchaus beachtliche Mehrheit von 204 zu 163 Stimmen für 939

VerhPrNV I, S. 671. Vgl. dazu C. v. Hodenberg, Partei, 1996, S. 169. 941 Zur Untermauerung dieser These führte der Abgeordnete Messerich an, dass offizielle Untersuchungen in einem Kölner Vorfall, bei dem ein Toter und zahlreiche Verwundete zu beklagen gewesen seien, „zu keinem Resultat“ geführt hätten. Auch in Trier sei eine gemischte Kommission von „Ehrenmänner[n], welche sich alle Mühe gaben, die Wahrheit zu erforschen“, niedergesetzt worden, ohne dass diese „an den Tag“ gekommen wäre. Insbesondere habe nicht aufgeklärt werden können, „ob Feuer kommandirt worden“ sei oder „wer jene Unglücklichen getödtet“ habe. VerhPrNV I, S. 671. 942 VerhPrNV I, S. 672. 943 P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 121. 940

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diesen Einsetzungsantrag.944 Der zurückhaltendere Verbesserungsvorschlag des Stadtrichters Franz Rudolf Wachsmuth, die Kommissionsmitglieder nur „an Ort und Stelle“ zu entsenden, „um dem Gange der gerichtlichen Untersuchung beizuwohnen“, und das „Justiz-Ministerium zu ersuchen, zu diesem Ende das betreffende Gericht mit der nöthigen Instruction zu versehen“, war vor der Abstimmung zurückgezogen worden.945 Für den konkurrierenden Teil des Kommissionsantrags, das Ministerium zu einer „ausführliche[n] Mittheilung“ aufzufordern, der sich in einem interpellationsartigen Auskunftsersuchen erschöpft hätte, wie es schon vor gut 16 Jahren in Kurhessen nichts genutzt hatte,946 stimmte bloß eine Minorität. Erfolgreicher war der zweite Part, „das Ministerium aufzufordern, diejenigen Truppentheile, welche bei den Ereignissen kompromittirt [worden seien, …] sofort aus Schweidnitz zu ent­ fernen“. Trotz der mit diesem Dislokationsverlangen offenkundig verbundenen Einmischung in die monarchische Militärgewalt wurde der Antrag „mit bedeutender Majorität angenommen“. Ein weit größeres Politikum war sicherlich, dass Julius Steins Forderung, den Kriegsminister zu einem „Anti-Reaktions-Erlass“ aufzufordern, ebenso mit „bedeutender Majorität angenommen“ wurde. Der eigentliche Skandal aber bestand darin, dass das Amendement des Justizkommissars Carl Heinrich Schultz, den politisch dissentierenden Offizieren ihren Abschied „zur­ Ehrenpflicht zu machen“,947 zum Entsetzen der Regierung, der Rechten und der gemäßigten Parlamentarier mit der denkbar knappsten Mehrheit von einer Stimme erfolgreich war.948 d) Die politische Bedeutung der Schweidnitzer Beschlüsse Um den Stellenwert des Einsetzungsbeschlusses in der Schweidnitzer Angelegenheit richtig würdigen zu können, muss man sich die politische Lage und die Relevanz der übrigen parlamentarischen Forderungen vergegenwärtigen. Welche Bedeutung die Zeitgenossen insbesondere dem letzten Teil beimaßen – dem Verlangen eines „Anti-Reaktions-Erlasses“ mit der Aufforderung an die konservativen Offiziere, den Dienst zu quittieren –, spiegelt das spätere Urteil des konservativen Historikers Wilhelm Oncken wider, dass die Nationalversammlung „ganz offen [den…] Weg beschritten [habe], der zur Auflösung des Offiziercorps, d. h. zur Vernichtung des Heeres selber, zur Verwandlung desselben aus einem Bollwerk der Monarchie in ein Werkzeug der Anarchie [habe] führen“ müssen.949 Ein Grund für den in Regierungskreisen offenkundig unerwarteten Erfolg der äußersten Linken 944

VerhPrNV I, S. 672 f. VerhPrNV I, S. 670, 671 (Hervorhebung nur hier). 946 Vgl. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. a) bb) zu der „Garde-du-Corps-Nacht“. 947 VerhPrNV I, S. 669. 948 VerhPrNV I, S. 672 f. 949 W. Oncken, Wilhelm I, 1890, S. 278. 945

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mag der im Allgemeinen gerügte „bedenkliche Mangel“ der Geschäftsordnung gewesen sein, „daß im Plenum nur eine Berathung [stattgefunden…] und es daher bei irrtümlichen oder durch zufällige Majoritäten gefaßten Beschlüssen an jedem Korrektiv [gefehlt habe…], welches die später eingeführten drei Lesungen“ ermöglichten (Hans Viktor v. Unruh).950 Sicherlich spielte eine gewisse Überrumpelung der gemäßigten Kräfte tatsächlich eine Rolle. Viele Abgeordnete hatten nach Heinrich v. Brandts Urteil mit einem solchen Ausgang nicht gerechnet und deswegen „statt gegen den Antrag zu stimmen, im Buffet gesessen und dort geschmaust oder Zeitungen gelesen“.951 Die anscheinend durch Fehleinschätzungen der politischen Kräfteverhältnisse ermöglichte parlamentarische Kanonade wog dadurch besonders schwer, dass sie sich gegen das wichtigste Bollwerk der Monarchie, ihre alleinige Verfügungsmacht über die bewaffnete Macht, richtete. Einerseits griff die Forderung, die kompromittierten Truppen endgültig zu verlegen, in das Dislokationsrecht des Königs ein. Der Antireaktionsbeschluss mit dem Amendement Schultz traf Disziplinargewalt, Personalhoheit, ja das Selbstgefühl von Monarch und Armee tief ins Mark. Ernst Rudolf Huber verglich die parlamentarische Forderung eines Ministerialerlasses mit dem Versuch des französischen Jakobinismus, royalistische, föderalistische und klerikale Offiziere und Beamte aus dem Dienst zu jagen.952 Selbstverständlich riefen der Antireaktionsbeschluss und vor allem das skandalöse Amendement bei Hofe, in Militär- und Adelskreisen, aber auch in der Presse und in weiten Teilen der Bevölkerung „helle Empörung“ hervor. In diesem Zusammenhang kam es zum Bruch des Monarchen mit dem Ministerium, da seine Minister diese ungeheuerliche Verletzung der königlichen Stellung und Ehre fast wortlos hatten geschehen lassen.953 Zu allem Überfluss bewirkten die Beschlüsse statt der erhofften Kontrolle über die Armee das genaue Gegenteil. Mit der „Art und Weise, wie diese nun vollends zu Werke ging“, entfremdete sich die Nationalversammlung nach Heinrich v. Brandts Urteil „das Heer gänzlich“. Der „Schritt, von dem der Abgeordnete Stein das Heil erwartete, [kettete…] die Armee, wenn es möglich gewesen wäre, noch fester an den König“.954 Gegenüber diesem Bruch half es nichts,955 als sich in der nächsten Sitzung mehr als 130 Abgeordnete von den Beschlüssen distanzierten und mit der Verurteilung einer früheren parlamentarischen Entscheidung als 950

H. v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 90 f. H. v. Brandt, Leben III, 1882, S. 214. 952 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 736 und ähnl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S.  525 mit dem Hinweis, dass vergleichbare Forderungen in anderen revolutionären Parlamenten gang und gäbe waren. Aus zeitgenössischer Sicht H. v. Brandt, Leben III, 1882, S. 213: „Wer nur eine geringe Kenntniß von der französischen Revolution hat, wird zugeben, daß die hier gemachten Vorschläge nur Nachäffereien aus derselben waren“. 953 E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 736 f. (Zitat); D. Blasius, Friedrich Wilhelm IV., 1992, S. 146 ff. Reaktionen etwa in der Beil. zur Deutschen Zeitung, No. 225, vom 15. August 1848 S. 1 f. 954 H. v. Brandt, Leben III, 1882, S. 214. 955 H. v. Brandt, Leben III, 1882, S. 221. 951

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„beleidigenden Versuch zu einem Zwange der Gewissen durch die Organe der Regierung“ bzw. als „Anfang einer politischen Inquisition“ einen Eklat innerhalb der Vereinbarungsversammlung provozierten.956 Der parlamentarische Versuch, die Armee zu bändigen und einer antikonterrevolutionären Säuberung zu unterwerfen, führte auch zum Bruch zwischen der Versammlung und der Koalitionsregierung Auerswald, die in der von den Vorgängen ausgelösten Regierungskrise demissionierte. Obwohl die Minister u. a. wegen des parlamentarischen Vertrauensverlusts zurücktraten,957 brachte dieser Vorgang keineswegs die Parlamentarisierung Preußens voran. Zwar folgte auf Rudolf v. Auerswald vorerst der moderate General der Infanterie Ernst v. Pfuel, der sich dem Willen der Nationalversammlung beugte. Zugleich übertrug Friedrich Wilhelm  IV. aber den Oberbefehl über die Truppen in Berlin und Umgebung dem konservativen General Friedrich v. Wrangel. Die Nachwehen der Schweidnitzer Affäre riefen die Reaktion auf den Plan. Eine­ offene Auseinandersetzung wurde vorerst noch aufgeschoben, weil man – mög­ licherweise mit Rücksicht auf den Frankfurter Septemberaufstand – die Zeit noch nicht für reif hielt.958 Obwohl der grelle Antireaktionsbeschluss die Entscheidung der Nationalversammlung, einen „echten“ Untersuchungsausschuss einzusetzen, in der öffentlichen Wahrnehmung überstrahlte, war diese Entscheidung unter dem Blickwinkel des parlamentarischen Selbstinformationsrechts ein voller Erfolg, indem sich die Vereinbarungsversammlung das Recht nahm, einen militärischen Zwischenfall nicht nur unabhängig von der Exekutive, sondern auch parallel zu den offiziellen sowie zu den möglicherweise halbherzigen Aufklärungsbemühungen der 956 Als Motiv für ihr „Separat-Votum“ führten die Unterzeichner an, dass „eine namentliche Abstimmung nicht stattgefunden [habe…] und ihre abweichende Meinung deshalb dem Lande nicht bekannt geworden“ sei. Den Vorwurf des Abgeordneten Schultz, dass das „Separat-­ Votum […] der Majorität die größte Beleidigung zu[füge]“, indem es den „vorgestrigen Beschluß einen Angriff auf die Freiheit“ nenne und der „Majorität die Beschuldigung eines In­ quisitions-Verfahrens ins Gesicht“ sage, kritisierte der Abgeordnete Petersen gemeinsam mit dem Antrag, „daß die sämmtlichen Unterzeichner dieses Minoritäts-Votums zur Ordnung verwiesen werden“, „für eine Fortsetzung der in dem Separat-Votum schon bezeichneten Inquisition“. In diesen Vorwürfen sah nun wieder der Urheber des streitigen Amendements eine „persönlich[e] und namentlich[e]“ Beleidigung. Das Protokoll vermerkt zu dieser Auseinandersetzung: „Heftiger Lärm. Die ganze Versammlung erhebt sich.“ Erst durch „[a]nhaltendes Läuten“ gelang es dem Präsidenten, die Ruhe wiederherzustellen. Schließlich konstatierte Präsident Grabow, dass der Abgeordnete Petersen keinen Namen habe nennen sollen, im Übrigen aber, „daß, da die Minorität ihre Gründe angeben wollte, aus denen sie für das Amendement nicht stimmen zu können geglaubt [habe, ihm…] es nicht [zustehe…], darüber die Minorität zur Ordnung zu verweisen“ (VerhPrNV I, S. 714). 957 Vgl. P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 129. 958 Zum Ganzen E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 737 ff.; M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 526 ff., 534 f.; L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 58 ff.; H. Pfefferkorn, Kampf, 1926, S. 37 ff.; F. Frahm, ForschBbgPrGesch 41 (1928), 248 (265 ff.); I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (266 f.) (Zitat); D. Blasius, Friedrich Wilhelm IV., 1992, S. 147 ff.; M. ­Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 10 f.; R. Hachtmann, Berlin, 1997, S. 706 f.; G. ­Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 46 f. oder aus zeitgenössischer Sicht P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 122 ff.

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Militärjustiz zu untersuchen. Eine rechtliche Grundlage jenseits des demokratischen Selbstverständnisses der Versammlungsmehrheit gab es nicht; der nachträgliche (!) Hinweis Hans Viktor v. Unruhs, dass eine „Commission zur Ermittelung der Thatsachen […] bereits in den Posener Angelegenheiten ernannt, und damit das Recht anderer Parlamente, namentlich des englischen und belgischen, in Anspruch genommen, auch von der Regierung nicht bestritten worden“ wäre,959 überhöht die Posener Kommission zu Unrecht zum direkten Vorbild, weil die Nationalversammlung ihr gerade keine unmittelbaren Untersuchungsbefugnisse oder das Recht, eine Deputation an den Ort des Geschehens zu entsenden, zugestanden hatte. Mit diesen für ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht charakteris­ tischen Befugnissen wurde dagegen die Schweidnitzer Untersuchungskommission ausstaffiert, so dass sie in der kurzen parlamentarischen Geschichte der Berliner Vereinbarungsversammlung eine radikale Novität darstellte. Offenbar hatte sich eine mit 41 Stimmen beachtliche Mehrheit der Berliner Abgeordneten von den­ Bedenken verabschiedet, die Anfang Juni den Ausschlag für die zurückhaltendere Kompetenzausstattung der Posener Kommission gegeben hatten. Untersuchungstypologisch wurde eine moderne Kontrollenquête gegenüber der Exekutive beschlossen. Die politischen Zusammenhänge, in die dieser Beschluss eingebettet war, unterstrichen die Bedeutung eines unmittelbaren parlamentarischen Selbstinformationsrechts in der politischen Auseinandersetzung: Es ging um den Kampf der Vereinbarungsversammlung gegen die aufkeimende Reaktion, deren Heimstatt man in den Reihen von Militär und Behörden vermutete. Indem damit seine Konfliktfunktion an der Schnittstelle von Volksvertretung und vollziehender (Regierungs-)Gewalt offenbar wurde, erscheint das beanspruchte Selbstinformationsrecht als Instrument zur Verteidigung des aufkeimenden Parlamentarismus. Umso bemerkenswerter ist es, dass dieser Vorgang im modernen enquête- und untersuchungsrechtlichen Schrifttum bisher keine Rolle spielt. 4. Arbeit und Bericht der Kommission a) Zusammensetzung und Vorgehen Die Schweidnitzer Untersuchungskommission trat zwei Tage nach diesem Einsetzungsbeschluss erstmals zusammen.960 Mit dem Oberlandesgerichtsassessor und Kreisrichter Hermann Schulze-Delitzsch, dem Kölner Advokaten Franz ­Ulrich Kyll, den Oberlandesgerichtsassessoren Brehmer961 und Anton Ludwig Peters, dem Kammergerichtsrat Harrassowitz sowie dem Staatsprokurator Joseph Schornbaum 959

H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 54. Vgl. die Aufforderung des Präsidenten in VerhPrNV I, S. 693. 961 Dafür, dass es sich um den Juristen Brehmer und nicht den promovierten Oberlehrer gleichen Namens handelte, spricht, dass sich in einem Verzeichnis der Abteilungsmitglieder, das anscheinend aus dem Mai 1848 stammt, für die 6. Abteilung keines der Kommissions­ 960

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hatten die Abteilungen praktische Juristen in die Kommission gewählt.962 Hinzu kamen der Bürgermeister Wilhelm Nethe, der über eine juristische Ausbildung verfügte,963 und der Archivrat und Historiker Adolf Friedrich Johann Riedel.964 Politisch hielten sich beide Seiten der Vereinbarungsversammlung in etwa die Waage: Linke bzw. linkes Zentrum waren durch Hermann Schulze-Delitzsch (Fraktion Rodbertus),965 Anton Ludwig Peters, den Kölner Demokraten Franz Ulrich Kyll966 sowie Joseph Schornbaum vertreten. Dem rechten Zentrum gehörten der Ab­ geordnete Harrassowitz (Fraktion Duncker-Kosch)967 und wohl auch Wilhelm Nethe an.968 Adolf Friedrich Johann Riedel hatte dem Antrag Berends widersprochen und die Linke am 8. August 1848 mit der Ablehnung einer zeitnahen Beratung der „traurigen Ereignisse“ verärgert, weil diese „bei noch nicht geschlossener Untersuchung voraussichtlich […] ohne sonderlichen Nutzen“ wäre.969 Rechts stand ebenfalls der Oberlandesgerichtsassessor Brehmer.970

mitglieder findet. Der Oberlehrer Dr. Brehmer ist dagegen als Mitglied der 1. Abteilung aufgeführt, aus der nach Erklärung des Präsidenten der Abgeordnete Joseph Schornbaum in die Kommission gewählt wurde (VerhPrNV I, S. 695). Der Oberlandesgerichtsassessor B ­ rehmer trat dem Verzeichniß der Abgeordneten zur Preußischen National-Versammlung bei Adolf Wolff, Berliner Revolutions-Chronik, Bd. 1, 1854, S. 600 zufolge erst später in die Versammlung ein. Unter dem Kommissionsbericht der Schweidnitzer Kommission vom 21.  September 1848 fehlt die Unterschrift dieses Kommissionsmitgliedes (PrNV-Drs. 226, S.  43). Ob und welche Rolle der Abgeordnete Brehmer gespielt hat, lässt sich anhand der Parlamentaria nicht klären. 962 Anhand des Verzeichnisses der Abteilungsmitglieder und der Äußerungen des Präsidenten lassen sich folgende Wahlen rekonstruieren: Schornbaum (1. Abteilung), Schulze-Delitzsch (2. Abteilung), Harrassowitz (3. Abteilung), Kyll (4. Abteilung), Peters (5. Abteilung), Brehmer (6. Abteilung), Nethe (7. Abteilung), Riedel (8. Abteilung). Obwohl das Verzeichnis aus dem Mai 1848 stammen dürfte, kann es als Grundlage dienen, weil regelmäßige Neuauslosungen in der preußischen Vereinbarungsversammlung anders als in der Frankfurter Nationalversammlung nicht vorgesehen waren. s. dazu M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 494 f. 963 W. Nethe, Lebenserinnerungen, 1906, S. 16, 18, 44, 46 ff., 54, 55, 56 ff. 964 VerhPrNV I, S. 693, 695. s. auch die Unterschriften unter dem Bericht der Schweidnitzer Kommission, PrNV-Drs. 226, S. 43. 965 R. Aldenhoff-Hübinger, NDB XXIII, 2007, S. 731. Zur Charakterisierung der „Fraktion Rodbertus“ s. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 447. 966 In der Allgemeinen Zeitung, Nr. 313, vom 8. November 1848, S. 4940 (Beil.) hieß es, es habe sich um „einen Mann von Bedeutung, einen Rathgeber vom hellsten Verstande und einen ehrlichen Charakter“ gehandelt. Seine „Gesinnungsgenossen“ seien die Kölner Linken Carl d’Ester und Friedrich Borchardt gewesen. 967 Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 442, 498 in Fn. 26; K. Herdepe, PrVerf, 2003, S. 116. 968 W. Nethe, Lebenserinnerungen, 1906, S. 62 f. 969 Für die Personalie Riedel spricht, dass Mitglieder der 7.  Abteilung sowohl der in die­ Kommission gewählte Bürgermeister Nethe als auch der Bauer und Schulze Riedel waren. Demgegenüber ist das einzige Mitglied der 8. Abteilung, dessen Nachname sich unter den Kommissionsmitgliedern findet, der Professor Riedel. Zur Person Adolf Friedrich Johann­ Riedels sowie seiner Haltung zu dem Antrag Berends s. F. Holtze, ADB, 1889, S. 514 (515). 970 Fraktionszuordnungen ohne gesonderten Nachweis sind einer 1848 anonym publizierten Conduiten-Liste entnommen.

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Zunächst ging die Kommission eher konventionell ans Werk und prüfte die durch Innen- und Kriegsministerium vorgelegten Akten. Angesichts der politischen Mehrheitsverhältnisse ist es nicht verwunderlich, dass die studierten Akten nach ihrem Urteil keine „genügende Aufklärung“ boten und deswegen Tags darauf beschlossen wurde, dem Einsetzungsbeschluss entsprechend eine Deputation nach Schweidnitz zu entsenden. Am 16. August 1848 machten sich daraufhin der Kreisrichter Hermann SchulzeDelitzsch, der Oberlandesgerichtsassessor Anton Ludwig Peters und der Staats­ prokurator Joseph Schornbaum auf den Weg, „nachdem sie auf ihr Ansuchen von den betreffenden Ministerien die nöthigen Anweisungen an die Behörden […] erhalten hatte[n]“.971 Das Kommissionsplenum hatte damit drei forensisch erfahrene Berufsjuristen und Vertreter der Linken und des Zentrums Rodbertus ausgewählt. Die berufliche Qualifikation der Deputationsmitglieder für diese Aufgabe wurde von der Öffentlichkeit durchaus zur Kenntnis genommen und goutiert.972 In diesem Zusammenhang verdient außerdem eine Anekdote aus den Lebenserinnerungen des Generals Heinrich v. Brandt Erwähnung: Der zu den Verhandlungen der Nationalversammlung als Kommissar des Kriegsministeriums abgesandte Unterstaatssekretär forderte Hermann Schulze-Delitzsch auf, „darüber zu wachen, daß sich einzelne Draufgänger durch ihre Parteiansichten nicht hinreißen ließen, ein leidenschaftliches Urtheil zu fällen“. Darauf soll ihm dieser versprochen haben, „er werde Alles thun, um die Wahrheit ans Licht zu fördern, und der Erste sein, die Unschuld des betheiligten Militärs zu proklamiren und zu verfechten, im Falle sich herausstelle, daß sie die Angegriffenen gewesen wären und sich nur vertheidigt hätten.“ Ähnlich, wie Hans Viktor v. Unruh in seinen Erinnerungen klagte, dass die Regierung nicht alles zur Aufklärung der Sache getan habe, soll Hermann Schulze-Delitzsch noch hinzugefügt haben, „Glauben Sie doch Herr General[, …] daß meine Partei an der ganzen Sache keine Freude hat; das Ministerium zwingt uns ja, sie so zu nehmen.“ Abschließend mahnte Heinrich v. Brandt den linksliberalen Abgeordneten halb scherzhaft, „[v]erfallen Sie nur nicht auf den Gedanken von Konventsdeputirten[, …] denn allzu scharf macht immer schartig.“973 Mit dieser Bemerkung sprach er zweifellos ein zentrales Ressentiment gegenüber jeder parlamentarischen Untersuchung an.

971 s. den Bericht der für die Schweidnitzer Angelegenheit gewählten Kommission, PrNVDrs. 226, S.  1. Laut L. Radler, Schweidnitz, 1933, S.  56 hatte Justizminister Karl Anton­ Maerker das Schweidnitzer Landgericht zur Unterstützung angewiesen. 972 Etwa meldete die Aschaffenburger Zeitung, No. 213, vom 19. August 1848 beifällig, dass „[a]lle drei Mitglieder“ der Deputation, die „sich auf lokale Erforschung des Thatbestandes­ beschränken und hiernächst Bericht erstatten“ werde, „dem Richterstande an[gehörten]“. 973 H. v. Brandt, Leben III, 1882, S. 221 f.

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b) Die Untersuchung der Deputation vor Ort In Schweidnitz traten die drei Abgeordneten am 17. August 1848 mit den Behörden und einer „gemischten Untersuchungs-Kommission“ aus zivilen und militärischen Ermittlungsbeamten zusammen.974 Nach eigenem Bekunden fand die Deputation „überall die für den Zweck [der…] Sendung erforderliche Bereitwil­lig­ keit“ vor, „jede mögliche Aufklärung zu gewähren“: Die Zivilbehörden übermit­ telten die „betreffenden Verhandlungen und Korrespondenzen“ und die „gemischte Kommission gab […] Einsicht der Akten, so weit dies dem steten Fortgange der Untersuchung nicht hinderlich erschien“.975 Die Abgeordneten „wohnten zum Theil den gerichtlichen Vernehmungen bei; erhielten von der Kommission so wie von dem Königl. Land- und Stadtgerichte die gewünschten Abschriften einzelner Aktenstücke; der interimistische Kommandant verfügte auf […] Ersuchen das­ Erscheinen von Militairpersonen als Zeugen  […]; und die Zeugen bürgerlichen Standes fanden sich sofort auf bloße Bestellung oder von selbst […] ein“.976 Ihren Bericht stützten die drei Abgeordneten u. a. teils wörtlich auf die Mitteilungen des „kommandirenden Generals, Grafen von Brandenburg an das KriegsMinisterium vom 2.  August d. J.“,977 sowie auf einen Aufruf  – wohl ein Flugblatt – „[a]n die Bravgesinnten der Stadt Schweidnitz“, unterzeichnet mit: „Viele Bürger“.978 Aus dem Schriftwechsel des Kommandanten mit den „städtischen Behörden“ sowie aus öffentlichen Bekanntmachungen wurden wörtliche Passagen in den Bericht übernommen. In gleicher Weise verfuhr man – auszugsweise – mit Dokumenten über die Zusammenberufung der Bürgerwehr zu ihren Übungen.979 Zentrale Zeugnisse wie den dienstlichen Bericht des Majors v. Gersdorf rückte die Deputation vollständig in ihren Bericht mit ein.980 Auf das im Druck rund vier­ seitige Schriftstück, in dem der Anführer der Unglückskompanie jede Schuld leugnete und Zeugen für einen vermeintlichen Angriff auf die Soldaten nannte,981 folgte die Anordnung des Kommandanten vom 2.  August 1848, dass „der Garnison-­ 974 Weiter teilte die Deputation mit: „Namentlich äußerte sich dieses Mißtrauen gegen den Civilkommissar Assessor Schroeder. Es gründete sich darauf, daß er Landwehr-Lieutenant, und als solcher vor kurzem den Feldzug in Posen mitgemacht, noch sehr jung sei, erst nach dem Examen in diesem Frühjahr als Assessor angestellt worden, daß er daher den drei militai­ rischen Mitgliedern der Kommission gegenüber nicht als ein gleiches Gewicht in der Wagschale betrachtet werden könne.“ Über die Zusammensetzung der gemischten Kommission berichtete die Deputation außerdem von einer „Verfügung des Oberlandesgerichts zu Breslau“, „welche auf ein Gesuch des Land- und Stadtgerichts zu Schweidnitz um Aushülfe er­ lassen worden“ sei und die Abordnung eines richterlichen Beamten betroffen habe (PrNVDrs. 226, S. 15 f.). 975 Hervorhebung nur hier. 976 PrNV-Drs. 226, S. 3. 977 PrNV-Drs. 226, S. 4. 978 PrNV-Drs. 226, S. 5 f. 979 PrNV-Drs. 226, S. 6 ff. 980 PrNV-Drs. 226, S. 10 ff. 981 PrNV-Drs. 226, S. 10 ff.

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Auditeur Stein eine summarische Vernehmung der Leute der 11. Kompagnie des 22. Regiments […] veranlassen“ solle, „[u]m zu ermitteln, auf wessen Befehl die unheilbringende[n] Schüsse gethan, und wo möglich auch von wem sie gethan worden [seien], und wer den Befehl zum scharfen Laden der Gewehre ertheilt“ habe.982 Ebenfalls im Wortlaut wurde ein anderes zentrales Schriftstück, das „Attest des Garnisonstabsarzts“ Zahn vom 5. August 1848, in den Bericht aufgenommen. Der sachverständige Mediziner, der kurz darauf verstarb,983 kam aufgrund der konkreten Verletzungen des verwundeten Soldaten zu dem Ergebnis, „daß der Schuß […] in sehr großer Nähe beigebracht“ worden sein musste.984 Sein Bericht war ohne Zweifel eines der brisantesten Beweisstücke, weil es eindeutig die apologetische These widerlegte, dass zuerst auf das Militär geschossen worden wäre. Vielmehr musste der verhängnisvolle Schuss von einem Kameraden des Verwundeten ab­ gegeben worden sein oder sich unwillkürlich gelöst haben. Schließlich übernahm die Untersuchungsdeputation in ihren Bericht auch ein „Verzeichnis der bei den unglücklichen Ereignissen am 31.  Juli und 1. August 1848 in Schweidnitz Ge­ tödteten und Verwundeten“ des Magistrats vom 22. August 1848.985 Eine weitere wesentliche Quelle stellten Aussagen von Augenzeugen und Beteiligten dar, etwa des Kommandanten oder des Bürgermeisters Berlin.986 Teils auf dem Seitenrand des Kommissionsberichts wiedergegebene Hinweise auf die Foliierung einer anderen Quelle lassen vermuten, dass die drei Abgeordneten ihr Wissen unmittelbar aus den offiziellen Untersuchungsakten schöpfen konnten.987 Für die fatale Aussage des Unglücksmajors v. Gersdorf, dass er, wo immer man „revolutionäre und rebellische Reden höre, […] schießen“ lassen werde, stützte sich der Bericht auf die Zeugenaussage des Bürgerwehrkommandeurs v. der Hardt, deren Richtigkeit der verdächtigte Major bestritt.988 Gestützt wurde der Verdacht dagegen dadurch, dass sowohl ein Freicorpsmann als auch ein Magistratsmitglied ebenfalls von Drohungen und Verdächtigungen durch den Hallenser Offizier berichteten.989 Zahlreiche weitere wörtliche Zitate stammten  – ohne Angabe der Provenienz  – vermutlich aus den Vernehmungsprotokollen des Auditeurs Stein,

982 PrNV-Drs. 226, S.  14. Gemäß § 78 II.  Theil des Strafgesetzbuches für das Preußische Heer vom 3. April 1845 (PrGS. S. 287) war der „Auditeur“ dem „Gerichtsherrn bei Ausübung der gerichtsherrlichen Befugnisse […] als richterlicher Beamter zugeordnet. Er hat[te] die Gesetzlichkeit der im Namen des Gerichts zu erlassenden Verfügungen zu vertreten. In Betreff seiner Pflichten als Gerichtsperson [fanden…] die Vorschriften der allgemeinen Landesgesetze Anwendung.“ 983 Mitteilung in Die medicinische Reform 1848, 108. 984 PrNV-Drs. 226, S. 31. 985 PrNV-Drs. 226, S. 36 ff. 986 PrNV-Drs. 226, S. 8 ff. 987 s. etwa PrNV-Drs. 226, S. 9. 988 PrNV-Drs. 226, S. 35. s. auch L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 43. 989 PrNV-Drs. 226, S. 35 f.

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des Regierungsassessors Eichhorn oder der gemischten Kommission.990 In ihrem Bericht vermerkten die forensisch erfahrenen Deputationsmitglieder jeweils den für den prozessualen Wert einer Aussage ausschlaggebenden Umstand, ob die Vernehmung eidlich oder uneidlich erfolgt war. Ebenso wurde der für die Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen relevante Aspekt aufgenommen, ob die jeweiligen „Zeugen  […] nicht vereidet [worden waren], weil sie gemäß den Mittheilungen der Untersuchungs-Kommission möglicherweise wegen Theilnahme oder doch Anwesenheit bei dem Vorfalle in die Untersuchung verwickelt werden könn[t]en“.991 Der unmittelbare Zugang, den die Abgeordneten offensichtlich zu laufenden Ermittlungen hatten, belegt eindrucksvoll, dass für die parlamentarische Information neue Zeiten angebrochen waren. Trotzdem gab sich die Dreierdeputation mit diesen Auskünften dritter Stellen in der Kardinalfrage, ob zuerst auf oder durch das Militär geschossen worden war, nicht zufrieden. Zwar übernahmen Hermann Schulze-Delitzsch, Anton Ludwig Peters und Joseph Schornbaum die „wichtigsten Aussagen“ der beteiligten Soldaten „in ihrem wesentlichen Inhalte wörtlich“ in den Untersuchungsbericht, merkten dazu aber beiläufig kritisch an, dass diese Darstellung auch dazu diene, „der Versammlung […] ein Bild des Verfahrens unter dem noch bestehenden besonderen Gerichtsstande des Militairs zu gewähren“.992 Einen Verfahrensmangel sahen sie insbesondere darin, „daß die summarisch vernommenen Personen eine neue und umfassende Erklärung vor der eigentlichen Untersuchungs-Kommission abzugeben [hatten …], bevor ihnen die früheren summarischen Aussagen vorgelesen und von ihnen genehmigt“ worden waren. Weil die Zeugen zudem „noch nicht auf dem Platze selbst […] über den Ort der angeblichen Schüsse“ befragt worden waren, entschieden die drei Juristen, „besonders in Betracht der Unklarheit und Widersprüche dieser Angaben, […] sie einzeln auf den Platz selbst zu führen und sich […] genauer aussprechen zu lassen“. In die Tat umgesetzt wurde dieses Vorhaben am 19. August 1848. Die als Zeugen geladenen Soldaten wurden vor ihrer Vernehmung durch die Abgeordneten „ernstlich zur Aussage der Wahrheit ermahnt“ und mussten beteuern, „ohne Haß und ohne Furcht zu reden, die ganze Wahrheit und Nichts als die Wahrheit zu sagen“.993 Tat 990

Außer dem Auditeur Stein, der „unter Assistenz des Artillerie-Lieutenants Coester“ am 3. August verschiedene Soldaten anhörte, führte der Regierungsassessor Eichhorn am 3. und 4. August 1848 „aus Auftrag des Ober-Präsidenten“ eine Anzahl Verhöre durch. „Am 8. August begann […] die gemischte Kommission, bestehend aus dem Divisions-Auditeur P ­ etiscus, der dazu vom General-Kommando aus Breslau geschickt worden war, dem Land- und StadtgerichtsRath George aus Schweidnitz und dem Kriminal-Aktuar Rudolf, ihre Vernehmungen […]. In den folgenden Tagen trat George aus, und an dessen Stelle der Oberlandesgerichts-Assessor Schroeter aus Breslau, so daß die ganze Kommission nunmehr bestand aus: dem Hauptmann Pochhammer, dem Sekonde-Lieutenant Graf v. Henkel, dem Divisions-­Auditeur, Justizrath Petiscus, dem Oberlandesgerichts-Assessor Schroeter und dem als Kriminal-Protokoll­führer vereideten Bergis“ (PrNV-Drs. 226, S. 14 f.). 991 PrNV-Drs. 226, S. 19. 992 PrNV-Drs. 226, S. 20 ff. 993 PrNV-Drs. 226, S. 26.

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sächlich förderten diese Nachvernehmungen durch die Abgeordneten erhebliche Ungenauigkeiten, ja geradezu Unrichtigkeiten in den früheren und für das Militär günstigeren Bekundungen zutage. Nicht weniger als sieben Soldaten relativierten auf Vorhalt und Nachfrage ihre bisherigen Angaben oder erklärten, nicht genau angeben zu können, von wo aus auf wen geschossen worden sei.994 Abschließend wurden die Aussagen den Zeugen vorgelesen, von diesen genehmigt und unterschrieben.995 Eine Vereidigung durch die Untersuchungsdeputation schied mangels gesetzlicher Grundlage aus. Neben der Aufklärung der Ursachen und Geschehnisse fasste die Deputation, wie schon in der Plenardebatte angeklungen, als ihre zweite Hauptaufgabe einen Beitrag zur Wiederherstellung des inneren Friedens auf. So berichteten die drei Abgeordneten, dass es ihnen am Abend des 17. August 1848 gelungen sei, die Schweidnitzer Bevölkerung zu beruhigen, obwohl das verantwortliche FüsilierBataillon just an dem Tage, an dem man zwei der Opfer beigesetzt habe, „nach dem Exercieren mit klingendem Spiele über den Schauplatz des traurigen Ereignisses gezogen“ sei. Endgültig habe „die den Tag darauf in Folge des Beschlusses der National-Versammlung ausgeführte Verlegung des Füsilier-Bataillons […] die letzten Spuren des unangenehmen Eindrucks“ verwischt.996 Nach Abschluss ihrer Untersuchungen veranlassten die Deputierten, „als das geeignetste Mittel, um auf die Beruhigung der Stadt, als einen der Hauptzwecke [ihrer…] Sendung, zu wirken, eine öffentliche Sitzung des Magistrates und der Stadtverordneten […], welche in feierlicher Weise unter zahlreicher Betheiligung der Bürger am 23. August Nachmittags Statt“ fand.997 Am 24. August 1848 machten sich die Abgeordneten auf den Rückweg nach Berlin.998 Eine Woche später folgte der Bericht an das Kommissionsplenum,999 dessen Tenor lautete, dass es keinen Unterschied mache, ob Feuer kommandiert oder ohne Kommando geschossen worden wäre; die verantwortlichen Offiziere oder Mannschaften hätten sich so oder so „höchst strafbar“ gemacht. Weil ein „schwerer Verdacht der Tödtung oder des Mordes vor[liege]“, sahen die drei forensischen Juristen „genügenden Grund  […], sowohl gegen den Kommandanten, und die Führer […], als auch gegen die Soldaten sofortig ein gerichtliche Untersuchung einzuleiten“.1000 Wurden so auch keine parlamentarischen Schritte verlangt, hatten die Abgeordneten doch ein für das Militär vernichtendes Urteil gefällt. Wie es ebenfalls bereits in den Beratungen der Nationalversammlung angeklungen war, 994

PrNV-Drs. 226, S. 28 ff. PrNV-Drs. 226, S. 27 f. 996 PrNV-Drs. 226, S. 2 f. 997 PrNV-Drs. 226, S. 3 f. Nach der Begrüßung durch die städtischen Behörden hätten sie „eine Ansprache über [ihre…] eigene Stellung und die richtige Auffassung des ganzen Ereignisses“ gehalten und „zugleich die Stadt der regsten Theilnahme der National-Versammlung“ versichert. 998 L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 57. 999 PrNV-Drs. 226, S. 40. 1000 PrNV-Drs. 226, S. 38. 995

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kritisierte die Deputation zweierlei Maß innerhalb der Strafrechtspflege: Während man die Bürger für jede Nichtigkeit zur Verantwortung ziehe, begnüge man sich gegenüber dem Militär mit einer „allgemeinen summarischen Voruntersuchung“, lasse dann aber alle Beteiligten „ganz unangefochten in ihrer gewöhnlichen Stellung“. So sei durch das Generalkommando dem Kommandanten bloß ein „4 bis 6 wöchentlicher Badeurlaub nach Salzbrunn […] bewilligt“ worden. Bittere Kritik übten die drei Linksliberalen auch an den militärischen Untersuchungen. Wegen der Einzelvernehmungen „vor einer ihnen imponirenden Kommission von fünf Mitgliedern“, des „absoluten Unterthänigkeits-Verhältnisse[s]“, in dem sie stünden, sowie des „vollkommen ausgebildeten Korps-Geiste[s]“ könne man schwerlich erwarten, „daß die gemeinen Soldaten […] gegen ihren Hauptmann und Major etwas Nachtheiliges aussag[t]en“. Weitere Schelte erntete die Armee, weil sie ein Ersuchen des Schweidnitzer Magistrats, die beteiligten Truppen aus der Stadt abzuziehen, mit der Begründung abgelehnt habe, dass noch keineswegs feststehe, „inwiefern das Militair irgend wie ein Verschulden treffe“. Auch sonst sei es zu bedauerlichen Querelen zwischen der Stadt und dem Militär gekommen.1001 c) Der Kommissionsbericht Die Kommission befand diesen Bericht der Deputation „ausgehend von der Ansicht, daß ein richterliches Urtheil nicht gefällt werden soll[te]“, für aus­reichend, „um der hohen Versammlung über die Ursachen und den weiteren Verlauf der Schweidnitzer Ereignisse“ ein „Bild zu gewähren“. Nicht abschließend habe festgestellt werden können, ob ein „Befehl zum Feuern“ erteilt worden wäre oder nicht. Während „[r]ücksichtlich des Hauptmann v. Skrbensky […] dieser Verdacht vollständig beseitigt“ sei, bestünden „[g]egen den Major v. Gersdorf […] erheb­ lichere Verdachtsgründe […], welche jedoch von den zu seinen Gunsten sprechenden Momenten überwogen“ würden. Die Kommission legte dem Offizier zur Last, dass er „ohne genügenden Grund“ habe vorzeitig „scharf […] laden lassen“. Bei diesem Vorwurf handelte es sich keineswegs um die Verletzung einer belanglosen Förmlichkeit. Vielmehr sollte die strikte Formalisierung des militärischen Vorgehens in Aufstandslagen den Insurgenten die Ernsthaftigkeit der Lage vor Augen führen und auch Unbeteiligten die Möglichkeit geben, sich noch rechtzeitig zu entfernen. Kommandant Karl Rollas du Rosey wurde vorgehalten, dass er „ohne Requisition Seitens der Civilbehörde“ selbst dann noch militärisch eingeschritten sei, „nachdem der eigentliche Tumult schon beendigt“ gewesen sei.1002 1001 PrNV-Drs. 226, S. 38 ff. Es ging u. a. darum, ob das Bataillon weiterhin auf Wache ziehen dürfe. Auch seien die Verhandlungen über einen Wechsel der Garnison, der am 19. August 1848 „in Folge der nachdrücklichen wiederholten Bemühungen von Seiten der Stadt“ erfolgt sei, schwerfällig verlaufen. 1002 PrNV-Drs. 226, S. 40 f.

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Über die „Ursache des Schießens“ hielt die Kommission ausschließlich „Vermu­ thungen“ für möglich: Wahrscheinlich habe im allgemeinen „Gedränge […], während vielleicht den Soldaten nach den Gewehren gegriffen [worden wäre…], Einer oder der Andere derselben absichtlich“ geschossen. Ebenso gut sei es auch denkbar, dass „durch Zufall ein oder mehrere Gewehre [losgegangen…] und dadurch  […] die übrigen Soldaten zum Schießen verleitet“ worden wären. Ausschließen lasse sich jedoch, dass auf die Soldaten geschossen worden wäre; es sei „durchaus wahrscheinlich“, dass der verwundete Füsilier durch „Zufall oder Unvorsichtigkeit des Militairs selbst“ verletzt worden sei.1003 Der Kommissionsbericht beschränkte sich auf diese Tatsachen; einen Antrag an das Plenum enthielt er nicht. 5. Bewertung der Schweidnitzer Untersuchung Die im enquête- und untersuchungsrechtlichen Schrifttum1004 anscheinend unbehandelte Schweidnitzer Untersuchung bietet aus den Tagen der ­Märzrevolution das bemerkenswerteste Beispiel einer relativ „modernen“ Kontrollenquête: Die Vereinbarungsversammlung artikulierte den Anspruch parlamentarischer Exeku­ tivkontrolle um ein Vielfaches deutlicher als bei der vergleichsweise zahmen Posener Untersuchung. Dabei gingen die Berliner Abgeordneten weit über die Kompetenzbestimmungen des § 13 Pr­Vereinb­Vers­WahlG  1848 hinaus, der der Versammlung lediglich zugestand, „die seitherigen reichsständischen Befugnisse, namentlich in Bezug auf die Bewilligung von Steuern und Staatsanleihen für die Dauer ihrer Versammlung interimistisch auszuüben“. Anders als in der Posener Frage fehlte dieses Mal das Feigenblatt einer formalen Anknüpfungsmöglichkeit an die Vorbereitung des Verfassungswerks; gleichviel musste der frühere Präzedenzfall wenigstens in den Erinnerungen der Abgeordneten als Legitimation für die Einsetzung einer „besonderen Commission zur Ermittelung der Thatsachen“ herhalten.1005 Bei früheren Gelegenheiten artikulierte Ressentiments, eine parlamentarische Untersuchung beeinträchtige die Unabhängigkeit der Justiz, ja könne zu einem despotischen Machtspruch führen, wurden im Interesse der Aufklärung des blutigen Vorfalls beiseite geschoben. Das Enquête- und Untersuchungsrecht kam als Kontrollinstrument zum Durchbruch. Die Schweidnitzer Untersuchung genügte allen Anforderungen an ein „echtes“ parlamentarisches Enquête- und Untersuchungsrecht:1006 Ihr materieller Ausgangspunkt war das Selbstverständnis der preußischen Nationalversammlung, das im 1003

PrNV-Drs. 226, S. 41. Erwähnt wird die Schweidnitzer Untersuchung dagegen durch R. Hachtmann, Berlin, 1997, S. 706 und M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 524 f., dessen Einschätzung, die Linke habe durch „Interpellationen und Untersuchungskommissionen eine ständige direkte Aufsicht über die Verwaltung auszuüben“ versucht, angesichts des singulären Ereignisses wohl etwas weit geht. 1005 H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 54. 1006 s. 1. Teil C.

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Sommer 1848 eindeutig das Recht und die Pflicht umfasste, die bisherigen Er­ rungenschaften der Revolution zu schützen und das Militär als Hort der Reaktion auszuschalten oder wenigstens zu bändigen und unter parlamentarische Kontrolle zu bringen.1007 Indem das Untersuchungsrecht unausgesprochen aus dieser materiellen Aufgabe abgeleitet wurde, beanspruchten die Volksvertreter im Sinne der Korollartheorie das Recht, sich mit eigenen Untersuchungen sämtlicher Themen anzunehmen, für die sie eine materielle Kompetenz besaßen. Das erste Kri­ terium eines „echten“ parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts ist­ damit gegeben. Die von der Vereinbarungsversammlung, der Kommission und insbesondere auch der Untersuchungsdeputation beanspruchten Befugnisse werden diesem Bild ebenfalls gerecht: Die Abgeordneten agierten unabhängig von der Regierung und waren für Ermittlungen nicht auf die Vermittlung des Ministeriums angewiesen. Zwar beschränkte man sich zunächst auf eine Durchsicht des von Seiten der Ministerien vorgelegten Materials. Statt aber wie die konstitutionellen Ständeversammlungen der Vergangenheit bei dieser Fremdinformation stehen zu bleiben, entsendete die Kommission im Auftrag der Versammlung aus ihrer Mitte eine Dreier-Deputation, um den Sachverhalt vor Ort unmittelbar zu untersuchen. Dass man diese heikle Aufgabe ausgerechnet drei forensisch erfahrenen Juristen anvertraute, kam angesichts der offenkundigen strafrechtlichen Bedeutung des­ aufzuklärenden Vorfalls nicht von ungefähr, sondern unterstreicht den parlamentarischen Kontrollanspruch. Tatsächlich brachten diese ihre praktische Erfahrung in die Untersuchung ein – und führten so zum ersten Mal in der deutschen Parlamentsgeschichte eine Kontrollenquête analog strafprozessualen Regeln durch. Nachdem sich die Deputation aus den offiziellen Untersuchungsakten informiert und bei den zuständigen Stellen nach dem Stand der Angelegenheit erkundigt hatte, stellten die Abgeordneten eigene Nachforschungen an und nahmen sich insbesondere das Recht, bereits durch die zuständigen Behörden vernommene Zeugen erneut zu befragen. Trotz der darin mitschwingenden Kritik an den staatlichen Ermittlungsorganen verwiesen die drei Abgeordneten „neue“ Zeugen nach eigenem Verhör an die offizielle Untersuchungs-Kommission.1008 Bei ihren Vernehmungen richteten sich der Kreisrichter Schulze-Delitzsch, der Staatsprokurator Schornbaum und der Oberlandesgerichtsassessor Peters nach den Regeln der preußischen Kriminal-Ordnung vom 11. Dezember 1805: Während die Deputation Zivilpersonen selbst lud, wurde Militärpersonal über den Vorgesetzten einbestellt. Jeder Zeuge wurde entsprechend § 317 Pr­KrimO 1805 „ernstlich erinnert“, „auf alles, worüber er gefragt“ wurde, „die reine Wahrheit nach seiner besten Wissenschaft anzugeben“. Anschließend wurde er zu einer „­ umständliche[n] und zusammenhängende[n] Erzählung der Thatsache“ aufgefordert und diese Aussage „getreu und vollständig, auch so viel als möglich mit des Zeugen eigenen 1007

Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 524 ff. PrNV-Drs. 226, S. 19.

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Worten in der ersten Person“ niedergeschrieben. Bei der Verifikation und Korrektur der zuvor von einer Militärkommission aufgenommenen Aussagen richteten sich die Abgeordneten nach § 326 Pr­KrimO  1805, der bestimmte, dass „[w]enn sich in der Aussage des Zeugen über die ihm vorgelegten speciellen Fragen ein Widerspruch mit demjenigen [äußerte], was er etwa schon zuvor in seiner summarischen Erzählung bekundet hat[te]“, ihm seine frühere Aussage vorzuhalten und seine „Erläuterung“ zu protokollieren war. Zum Abschluss der Vernehmung wurde jedem Zeugen seine „Aussage langsam und deutlich wieder vorgelesen“ und dann die Frage gestellt, „ob das, was niedergeschrieben [worden…], wirklich seine Aussage und Meinung sei“ (§ 330 Pr­KrimO 1805). Die Deputationsmitglieder lösten ihre Aufgabe, „die Ursache der blutigen Ereignisse zu ermitteln und den Thatbestand aufzunehmen“, als erfahrene Praktiker also anhand der Regeln, die sie aus ihrer Arbeit kannten. Angesichts des Vorgefallenen lag eine sinngemäße Anwendung der Kriminal-Ordnung keineswegs fern. Wahrscheinlich machten sich die drei Juristen über die Kompatibilität dieser Vorgehensweise mit ihrer spezifisch parlamentarischen Mission nicht einmal Gedanken. Möglicherweise ließen sie sich auch durch das Enquête- und Untersuchungsrecht der „Charte Waldeck“ inspirieren, die der Verfassungsausschuss eine Woche vor dem Schweidnitzer Zwischenfall vorgelegt hatte. Das in Art. 73 vorgesehene Recht der Untersuchungskommissionen, unter Mitwirkung richterlicher Beamter eidliche Vernehmungen durchzuführen, wies gewissermaßen einen prozessrechtlichen Bezug auf. Obwohl Pflicht, Zwang und Eid mangels gesetzlicher Ermächtigung fehlten, erscheint die Schweidnitzer Untersuchung noch deutlicher als die vergleichbaren Mainzer Ermittlungen des Paulskirchenparlaments als Vorbote und Wegbereiter des modernen parlamentarischen Untersuchungsrechts. Wie durch Egon Zweig allgemein beschrieben, kann das parlamentarische Selbstinformationsrecht in dieser Phase der preußischen Revolution tatsächlich als „Messinstrument“ für die innerstaatliche Machtbalance herangezogen werden.1009 Wie das große Frankfurter Vorbild hatte sich die Berliner Nationalversammlung das früheren Ständeversammlungen mit Rücksicht auf das „monarchische Prinzip“ vorenthaltene Selbstinformationsrecht ohne Mitwirkung monarchischer Stellen selbst beigelegt und seiner natürlichen Zweckbestimmung gemäß als Instrument der politischen Auseinandersetzung aufgefasst. Der mit der Schweidnitzer Untersuchungsforderung gegenüber dem Militär artikulierte Kontroll- und Mitspracheanspruch spiegelte sich vor allem in den skandalisierten Beschlüssen zu „AntiReaktions-Erlass“ und Demissionspflicht wider, die letzten Endes zum Scheitern des Ministeriums Auerswald führten.1010 Dass ein erheblicher Teil der Versammlung, wenn nicht ihre Mehrheit, seine politischen Ziele bereits mit der Durchsetzung dieser Beschlüsse sowie dem Sturz des Ministeriums erreicht hatte, legt die Tatsache nahe, dass der nach dieser Entwicklung vorgelegte Untersuchungsbericht 1009

E. Zweig, ZfP 1913, 265 (269). Vgl. P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S. 129 ff.; I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (266) sowie ausführlich M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 524 ff. 1010

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nicht mehr auf die Tagesordnung kam. Bestätigt wird diese Vermutung auch durch die Einschätzung David Hansemanns, es sei der „eigentliche Sinn“ der Anträge gewesen, „die Nationalversammlung über die Krone zu stellen, das Ministerium Auerswald, wenn es hierauf einging, als ein gefügiges Instrument zu betrachten oder benutzen zu können, oder dasselbe zum Abtreten zu bewegen, damit alsdann ein Ministerium, mit welchem die mehr und mehr links gehenden Ansichten der Centren überwogen würden, gebildet werden möge“.1011 Von solchen Alb­ drücken geplagt, urteilte der Generaladjutant des Königs Leopold v. Gerlach, dass es überhaupt „nicht auf den Inhalt des Erlasses an die Armee […], sondern darauf [angekommen wäre], daß überhaupt ein solcher dem ‚Befehle‘ der Versammlung gemäß stattfände“; in diesem Fall werde die „Linke […] mit Recht triumphiren, daß der König als ihr Exekutor gehandelt habe, und das Ministerium nach der Linken hinrutschen“.1012 Dass in Regierungs- wie monarchischen Kreisen Sorgen umgingen, die Versammlung könne zu einem Revolutionskonvent mutieren, legt das Gespräch Heinrich v. Brandts mit Hermann Schulze-Delitzsch vor dessen Aufbruch nach Schweidnitz nahe.1013 In diesem Sinne attestierte Manfred Botzenhart der Versammlung ein allgemeines „Bemühen der Linken, durch Interpellationen und Untersuchungskommissionen eine ständige direkte Aufsicht über die Verwaltung auszuüben.1014 Das Enquête- und Untersuchungsrecht erscheint vor diesem Hintergrund als wichtiges Instrument zur Parlamentarisierung der Regierungs­ verhältnisse eines konstitutionellen Staates.

V. Die Sozialenquête zur Lage der Spinner und Weber Neben der Befugnis zu politischen Untersuchungen nahm die Vereinbarungsversammlung aus Anlass der brennenden sozialen Frage auch ein Enquêterecht in Anspruch. Zum Auslöser wurde eine entsprechende Forderung des ­Hirschberger Abgeordneten Moritz Elsner, der am 28. Juni 1848 beantragte, „daß in den Abtheilungen eine Kommission zur Untersuchung der eigenthümlichen Verhältnisse der Weber und Spinner, so wie der gesammten preußischen Linnea-Manufactur, gewählt werde.“1015 Nachdem der drei Tage zuvor zum Handelsminister avancierte Karl August Milde, selbst Mitglied der Versammlung, „im Namen des Gouverne­ ments“ und unter dem „Bravo!“ der Versammlung versichert hatte, „daß eine solche Kommission in jeglicher Art und Weise und mit allen Hilfsmitteln, die der Regierung zu Gebote [stünden…], unterstützt“ werde, wurde die Einsetzung ohne Debatte einstimmig beschlossen.1016 Es war das einzige Mal in der preußischen Ge 1011

D. Hansemann, Verfassungswerk, 1850, S. 118. U. A. v. Gerlach (Hg.), Denkwürdigkeiten I, 1891, S. 192 (Hervorhebung nur hier). 1013 H. v. Brandt, Leben III, 1882, S. 221 f. 1014 M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 524 f. 1015 VerhPrNV I, S. 281 (Hervorhebung nur hier). s. zum Niedergang der Schlesischen Textilwirtschaft sowie der Not der 1840er Jahre etwa W. Treue, WirtGesch, 1984, S. 361 ff., 450 f. 1016 VerhPrNV I, S. 282. 1012

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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schichte, dass sich Regierung und Volksvertretung über die Notwendigkeit einer Enquête derart einig waren.1017 Diese bemerkenswerte Harmonie zwischen beiden Flügeln der Versammlung einer- und dem Staatsministerium andererseits ging auf den alle Parteigrenzen überwindenden Wunsch zurück, die brennende Not der Weber und Spinner zu lindern. Das bestätigt, obwohl in anderem Zusammenhang gefallen, die Bemerkung des Handelsministers Karl August Milde, dass eine Antwort auf die soziale Frage für das Schicksal der Nation ebenso wichtig wäre wie das ganze Verfassungswerk.1018 Trotzdem blieben die Leistungen dieser mit der Auflösung der Versammlung im Dezember 1848 abrupt beendeten Sozialenquête gering. Anfang 1850 klagte der Kaufmann Albert Haupt als Berichterstatter einer mit dieser Frage erneut befassten Kommission der Zweiten Kammer, dass die „Nationalversammlung […] keine Erbschaft hinterlassen [habe] als wie Ansprüche und Erwartungen der betheiligten Bevölkerung“.1019 Dieses partielle Scheitern der Kommission kündigte sich bereits an, als Karl August Milde anlässlich einiger Petitionen von Webern und Spinnern aus der Grafschaft Ravensberg1020 am 24. Oktober 1848 in seiner Eigenschaft als Abgeordneter klagte, dass er „erwartet und gehofft [habe,  …] bei dieser Gelegenheit einen Bericht […] über die Arbeiten und den Stand [zu erhalten], in welchem die­ Untersuchungen jener Kommission sich befänden“.1021 Moritz Elsner erwiderte, dass man, „eben so, wie andere Kommissionen, eigene Erfahrungen [habe] machen müssen“; er selbst habe sich als Antragsteller über den erforderlichen Zeitaufwand geirrt. Weil sich die westfälischen und schlesischen Verhältnisse bei näherer Betrachtung als „ganz verschieden“ dargestellt hätten, habe die Kommission entschieden, „daß die Abgeordneten von Westfalen und Schlesien die Arbeit vorläufig gesondert betreiben sollten“. Georg v. Borries, Landrat des Kreises Herford, sei darauf nach Westfalen gereist, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Das Schweigen der Regierung zu diesem Schritt dürfte als Zustimmung zu werten sein, zu­ oritz ­Elsner mal sie dem Landrat v. Borries die Reise hätte untersagen können. – M hatte zwei „Weber-Ordnungen“ entworfen und „an einige Kaufmannschaften und Weber-Vereine“ versandt, dann aber die Antwort erhalten, „dieselben seien nicht 1017 W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 53. Freilich ist auch die faktische Unterstützung der Schweidnitzer Untersuchung durch die Kooperation der örtlichen Stellen, die doch von der Regierungsseite mindestens krit. beäugt worden sein dürfte, bemerkenswert. 1018 VerhPrNV III, S. 162. 1019 Abdruck in Annalen der Landwirthschaft XVI (1850), 203. 1020 In der Sache ging es um den Kommissionsantrag, „das Staatsministerium […] dringend zu ersuchen, […] diejenigen Geldmittel zu überweisen, welche erforderlich sind, um den ärmeren Spinnern und Webern der Kreise Herford, Bielefeld, Halle, Minden, Lübbecke und­ Wiedenbrück lohnende, ihre Subsistenz sichernde Arbeit zu verschaffen.“ Diesem Antrag gab die Nationalversammlung mit dem Amendement Karl August Mildes, auch die „gewerbliche Abhülfe jener Kreise, namentlich durch Unterstützung des Associationsgeistes, nach Kräften zu fördern“, einstimmig statt (VerhPrNV III, S. 162, 165). 1021 VerhPrNV III, S. 162.

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ausführbar“. Nach diesem Misserfolg hatte er sich „mit Gewerbetreibenden in Verbindung [gesetzt], um ihr Gutachten anzuhören“, „gleich anfangs an alle Magistrate der schlesischen und westfälischen Weber-Distrikte geschrieben und […] um Auskunft über die verschiedenen Verhältnisse gebeten“. Die eingehenden Antworten wurden den „Abgeordneten in der Weber-Kommission mitgetheilt […]; eben so die umfangreichen Akten, welche das Ministerium von dem Ober-Präsidium Schlesiens und dem breslauer Comité zur Unterstützung der Weber und Spinner zugeschickt erhalten“ habe. Obwohl das Material so „voluminös“ sei, dass man unmöglich „in einigen Monaten […] fertig“ werden könne, bestand Moritz Elsner darauf, es selbst zu sichten; von der „Unmasse“ der Akten habe er aber „erst einige durchsehen können“.1022 Angesichts dieser Arbeitsmethoden, sowie der weiteren Verzögerungen, von­ denen Elsner für die Kommission berichtete, nimmt es wenig wunder, dass das Los der Weber und Spinner vor dem plötzlichen Ende der Nationalversammlung Anfang Dezember nicht abschließend untersucht oder im Plenum beraten werden konnte.1023 Unter dem Blickwinkel des parlamentarischen Selbstinformationsrechts lassen sich die Enquêteversuche der Kommission mit den Befugnissen in Verbindung bringen, die Art. 73 „Charte Waldeck“ den künftigen Kammern versprach. Insbesondere nahm die Kommission auch ohne ausdrückliche Ermächtigung das Recht zu eigenen, unmittelbaren Erkundigungen bei privaten Dritten sowie bei den Behörden der betroffenen Provinzen in Anspruch. Eine Vermittlung durch das Ministerium erfolgte bei den schriftlichen Anfragen etc. anscheinend nicht. Die westfälische Reise des Abgeordneten Georg v. Borries war von der Versammlung wenigstens gebilligt. Außerdem griff man auf Unterlagen des Staatsministeriums zurück. Alles in allem erscheinen die Bemühungen der „Weber- und Spinner-Kommission“ als Versuch, eine umfangreiche Sozialenquête anzustellen, um weitere sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen vorzubereiten und die schwere Not der betroffenen Bevölkerungskreise zu lindern.

E. Zwischenergebnis Angesichts des noch über § 99 RVerf  1849 hinausgehenden Entwurfs eines Selbstinformationsrechts der „Charte Waldeck“ bzw. von drei Enquête- und Untersuchungskommissionen und verschiedenen teils grundsätzlichen Debatten lässt sich die Arbeit der Vereinbarungsversammlung trotz des Scheiterns ihres Verfassungsprojekts keineswegs als für die Geschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts verloren qualifizieren.

1022

VerhPrNV III, S. 163 f. Vgl. die entsprechende Mitteilung des Abgeordneten Borries in der 10.  Sitzung der­ Zweiten Kammer am 15. März 1849, VerhPr2K I (1849), S. 145. 1023

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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I. Bedeutung der „Charte Waldeck“ Bevor sich der Verfassungsausschuss am 19. Juli 1848 mit dem Recht der künftigen Kammern, „Commissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“, befasste, hatte das Versammlungsplenum bereits zwei prägende Entscheidungen getroffen: Einerseits dürfte die widerspruchslose Anerkennung des am 28.  Juni 1848 anlässlich des Schicksals der Spinner und Weber geforderten Enquêterechts Spuren hinterlassen haben. Andererseits lieferte die Posener Debatte Anfang Juli Anschauungsmaterial dafür, dass ein parlamentarisches (Selbst-)Informationsinstrument ein wichtiges Mittel der Regierungskontrolle sein konnte. Vor diesem Hintergrund sollte Art. 73 „Charte Waldeck“ – ebenso wie § 99 RVerf 1849 – wahrscheinlich beides sein: genuin politisches Untersuchung- und sachbezogenes Enquête­recht. Die Begründung des Verfassungsentwurfs brachte diese Absicht in der an die moderne Korollartheorie erinnernden Formulierung zum Ausdruck, dass den Kammern das Recht, „Untersuchungs-Kommissionen zu ernennen“, nicht vorenthalten werden könne, „wenn sie mit voller Sachkenntniß alle zu ihrer Wirksamkeit gehörigen Aufgaben lösen soll[t]en“.1024 Anders als § 99 RVerf  1849 sah die „Charte Waldeck“ nicht nur das bloße­ Enquête- und Untersuchungsrecht der Kammern vor, sondern flankierte es noch mit konkreten Befugnissen. Obwohl der Wortlaut des Art. 73 von einer „Mitwirkung richterlicher Beamter“ bei der Zeugenvernehmung sprach, dürfte es sich trotzdem um ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht mit unmittelbaren Beweiserhebungsmöglichkeiten gehandelt haben. Näher als eine enge Interpretation liegt es, dass der entsprechende Passus die Rechte der Kommission nicht beschränken, sondern auf eidliche Vernehmungen erweitern sollte. Indem lediglich von einer „Mitwirkung“ bei diesen Vernehmungen die Rede war, blieb deren grundsätzliche Durchführung dem ersten Halbsatz zufolge wohl den Kommis­ sionen überlassen. Unterhalb dieser formellen Schwelle sollte den Kommissionen deswegen wahrscheinlich das Recht zustehen – dafür spricht die Praxis der Versammlung  –, freiwillige Zeugen und Sachverständige selbständig zu hören. Ergänzend sollten künftige Untersuchungskommissionen ein sachlich unbeschränktes Requisitionsrecht gegenüber den Behörden erhalten; heute würde man wohl von einer Amtshilfepflicht sprechen. Die informationsrechtliche Abkehr von den bisherigen Verfassungszuständen in den Einzelstaaten, ja der Bruch mit den Beschränkungen der Ständeversammlungen ist evident. Der 73. Artikel der „Charte Waldeck“ kann also  – wie im Schrifttum bereits festgestellt – als Beispiel für ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht gelten.1025

1024

K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 132 (Hervorhebung nur hier). Ähnl. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  17 und 11 in Fn.  26; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 50; E. Zweig, ZfP 1913, 265 (284 f.).

1025

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II. Die Praxis der Vereinbarungsversammlung Die preußische Vereinbarungsversammlung verfügte ebenso wenig wie das Paulskirchenparlament über eine gesetzliche Grundlage für ihre Enquêten oder Untersuchungen. Während sich die Frankfurter Nationalversammlung dieses Recht in ihrer Geschäftsordnung beilegte, verzichteten die Berliner Abgeordneten auf eine generelle Ermächtigung. Stattdessen wurden Kommissionen, die den Auftrag erhielten, einen Sachverhalt näher zu beleuchten, von Fall zu Fall eingesetzt. Diese äußerliche Differenz bedeutet in der Sache keinen qualitativen Unterschied. Beide Versammlungen eigneten sich ohne Zustimmung der Herrschenden und allein auf der Grundlage des in der Märzrevolution herrschenden Klimas von Demokratie und Parlamentarismus ein Enquête- und Untersuchungsrecht an.1026 Auf demselben Boden vollzog sich die Kooperation der Regierung und Behörden, deren Autorität doch durch diese parlamentarische Anmaßung eigentlich kompromittiert war, mit den Untersuchungskommissionen der Vereinbarungsversammlung. Zum Auftakt des Vereinbarungsversuchs kam noch das Einvernehmen breiter Kreise der Nationalversammlung mit dem liberalen Staatsministerium hinzu. Justizminister Karl ­Anton Maerker wies die lokalen Behörden selbst noch nach dem provokanten „Anti-­ Reaktions-Beschluss“ und der Einsetzung einer Untersuchungskommission zur Kooperation mit der Schweidnitzer Untersuchungsdeputation an.1027 Ein Vergleich mit dem Lavieren des kurhessischen Staatsministeriums, als die Kammer sich zum Jahreswechsel 1831/32 vergeblich abmühte, Licht in die „Garde-du-Corps-Nacht“ zu bringen,1028 macht überdeutlich, wie groß der revolutionäre Wandel war. Wie rasch einmal Gewonnenes aber ebenso gut wieder verloren gehen konnte, sollte in den 1860er Jahren die konsequente Obstruktionshaltung des Ministeriums Bismarck­ gegenüber der Wahlmanipulationsuntersuchung zeigen.1029 Trotz der sehr begrenzten Zahl von lediglich drei „Präzedenzfällen“ und (mindestens?) einem erfolglosen Antrag sah man in der Berliner Singakademie beide Grundtypen eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts. Vordergründig standen die Posener Untersuchung und die Erhebungen zur Lage der Weber und Spinner unter dem Vorzeichen einer Vorbereitungsenquête für weitere parlamentarische Schritte. Ein genauerer Blick verdeutlicht, dass die Anknüpfung an das Verfassungswerk in der Posener Angelegenheit ebenso offenkundig ein schaler Vorwand war, um wenigstens im Ansatz nach dem Muster einer Kontrollenquête die 1026

Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S.  498 f.; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 51 f. („Im Banne des revolutionären Elans […] fühlte [man…] sich auch ohne grundgesetzliche Ermächtigung befugt, Untersuchungsausschüsse einzusetzen.“) und ferner J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 11 f. (Herleitung „aus allgemeinen parlamentarischen Grundsätzen“ ohne „Rechtsgrundlage“). 1027 L. Radler, Schweidnitz, 1933, S. 56. 1028 s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. a) bb). 1029 s. dazu sowie zu dem Missbilligungsbeschluss des Abgeordnetenhauses 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. b), e) und 3.

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

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preußische Polenpolitik auf den politischen Prüfstand zu heben, wie es in der anderen An­gelegenheit wirklich um Hilfe für die bittere Not leidenden Bevölkerungsschichten ging. Ganz frei von Regierungskritik, das sollten künftige Enquêten über diesen Gegenstand zeigen, wäre die Sache aber wahrscheinlich auch nicht abgelaufen. Ein beeindruckendes Beispiel für diese heute prototypische Funktion von Art. 44 GG ist die parlamentarische Kontrolle des schwerwiegenden militärischen Exzesses in der schlesischen Festungsstadt Schweidnitz.1030 Diese Untersuchung steht in einer direkten Linie mit den erfolglosen Bemühungen der kurhessischen Stände wegen der „Garde-du-Corps-Nacht“ oder der erfolgreichen Untersuchung der ähnlich gelagerten Mainzer Geschehnisse durch die Frankfurter National­ versammlung im Mai 1848. Alle drei Zwischenfälle ereigneten sich in revolutio­ nären bzw. gerade erst beruhigten Zeiten. Beteiligt waren u. a. jeweils einerseits das Militär als das Fundament der monarchischen Macht und andererseits die Bürgerwehr als Zeichen einer neuen Zeit. Während die kurhessische Ständeversammlung 1831/32 wegen ihrer lediglich interpellationsartigen Auskunftsrechte nicht dazu imstande war, die Angelegenheit aufzuklären, konnten die Kommissionen und Untersuchungsdeputationen beider Nationalversammlungen ihren Untersuchungsauftrag 1848 erfüllen. Gemeinsam illustrieren diese drei Begebenheiten die eklatante Schwäche interpellationsartiger Befugnisse und damit die Notwendigkeit eines unmittelbaren Selbstinformationsrechts, wenn es um die parlamentarische Kontrolle der Exekutive geht. Nur noch ein Mal sollte in der älteren preußischen Parlamentsgeschichte nach dem Vorbild der Schweidnitzer Untersuchung verfahren werden, als das preußische Abgeordnetenhaus auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts der 1860er Jahre eine Kommission zur Untersuchung ausgedehnter Wahlbeeinflussungen durch das Ministerium Bismarck niedersetzte; merkwürdigerweise berief man sich bei dieser Gelegenheit nicht auf den offensichtlichen Schweidnitzer „Präzendenzfall“.1031 Die preußische Vereinbarungsversammlung legte sich gemessen an den eingangs aufgestellten Kriterien1032 ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht bei. Einerseits nahmen die Abgeordneten diese Befugnis ohne Rücksicht auf die monarchische Regierung oder das königliche Militärregiment, andererseits auch – das zeigt die Schweidnitzer Untersuchung – in Konkurrenz mit den staatlichen Strafverfolgungsorganen wahr. Thematisch befasste sich die Versammlung mit sämtlichen Gegenständen, für die sie auch eine materielle Kompetenz beanspruchte. Damit ist das erste Kriterium erfüllt. 1030 Zu Recht kritisierte die Aschaffenburger Zeitung, No. 203, vom 9. August 1848, dass man die „gewaltsamen, kaum zu erklärenden Maßregeln […] einer erbärmlichen Katzenmusik wegen für nöthig erachtet“ habe. „Wie sich das Einzelne dieses beklagenswerthen Ereignisses auch herausstellen möge, so viel ist gewiß, daß auf eine unverantwortliche Weise ein roher Mißbrauch militärischer Amtsgewalt vorliegt, und es bleibt daher zu hoffen, daß hier eine eben so strenge Sentenz, wie in der Zeughaus-Angel[eg]enheit, gefällt werde“. 1031 s. 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. d). 1032 s. 1. Teil C.

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

Die Arbeit der Vereinbarungsversammlung verdient aber auch unter dem Blickwinkel der Untersuchungsbefugnisse Beachtung. Eine Beschränkung auf die Kommunikation mit der Regierung fand nicht mehr statt. Allein in der Posener Angelegenheit beschränkte die Versammlung ihre Kommission auf die Requisition der Behörden und untersagte eigenständige Untersuchungen vor Ort ebenso wie Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen. Eine Vermittlung der Regierung war gleichwohl nicht mehr vorgesehen; das Ministerium sollte die Behörden in der Provinz zur Kooperation mit der Kommission anweisen. Diese mediokre Kompetenzausstattung, die das Prädikat „Untersuchung“ kaum rechtfertigt, war der anfangs äußerst moderaten Haltung der vermeintlich besonders radikalen preußischen Nationalversammlung zu verdanken. Dass eine gemäßigte gouvernementale Mehrheit den „Ursprung der Versammlung auf das unter dem Beirathe des Vereinigten Landtages erlassene Gesetz vom 8. April“ zurückführte (Carl d’Ester),1033 dürfte die Ablehnung eigenständiger Befugnisse begünstigt haben. Ein moderneres Maßnahmenrepertoire, das den Anforderungen eines Enquêteund Untersuchungsrechts voll gerecht wird, präsentierte die Versammlung dagegen bei der Aufarbeitung des Schweidnitzer Vorfalls oder der Enquête zur Lage der Spinner und Weber: So führten die an den Ort des Geschehens in der schlesischen Festungsstadt entsendeten praktischen Juristen Schulze-Delitzsch, Peters und Schornbaum unmittelbare Untersuchungen durch, orientierten sich insoweit möglicherweise an (vermeintlichen?) Kompetenzen fremder Parlamente1034 und wendeten bei Zeugenvernehmungen strafprozessuale Methoden analog an; erst in der Weimarer Reichsverfassung finden sich entsprechende Befugnisse, jetzt freilich mit Pflicht und Zwang versehen, ausdrücklich wieder. Durch diesen bemerkenswerten Vorgriff auf die weitere Verfassungsentwicklung fiel das Vorgehen der Berliner Vereinbarungsversammlung ungleich moderner aus als die im Vergleich blasse Untersuchungstätigkeit der Frankfurter Nationalversammlung in der Mainzer Angelegenheit. Die Enquêteversuche der „Weber- und Spinner-Kommission“ kamen den Methoden in der Paulskirche dagegen zumindest nahe, indem Moritz Elsner unmittelbar mit den Behörden in den Provinzen, Gewerbevertretungen und Betroffenen kommunizierte. Landrat Georg v. Borries reiste nach Westfalen und verschaffte der Kommission – gleichsam als früher Ermittlungsbeauftragter (vgl. § 10 PUAG) – ein unmittelbares Bild der Lage. Obwohl das Wahlprüfungsgeschäft – wie Robert v. Mohl 1860 zutreffend betonte1035  – eine von der Regierung unabhängige parlamentarische Untersuchung verlangte, beschränkte sich die Versammlung nahezu ausschließlich auf das Studium offizieller Unterlagen. Bloß ausnahmsweise wurde das Staatsministerium – wie in der Geschäftsordnung vorgesehen – um weitere Ermittlungen ersucht. In den

1033

C. d’Ester, Demokratie, 1848, S. 20 f. Vgl. H. V. v. Unruh, Skizzen2 1849, S. 54. 1035 R. v. Mohl, StaatsR, VölkerR, Pol. I, 1860, S. 207 ff. 1034

2. Kap.: Die preußische Vereinbarungsversammlung

431

wenigen Immunitätssachen stützten sich die Kommissionen in vergleichbarer Weise auf die Akten der Strafverfolgungsbehörden; nicht einmal leicht greifbare Beweise wurden erhoben. Von Enquêten oder Untersuchungen lässt sich im Hinblick auf diese „Kollegialangelegenheiten“ kaum sprechen.

III. Fazit Die preußische Vereinbarungsversammlung entfaltete mit nur drei „echten“ Anwendungsfällen eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts keine vergleichbar reiche Enquête- und Untersuchungstätigkeit wie ihr Frankfurter Pendant; die Bedeutung ihrer Bemühungen bleibt dennoch nicht hinter dem „großen Vorbild“ zurück. Das gilt in politischer ebenso wie in informationsrechtlicher Hinsicht. So lässt sich die politische Brisanz der Schweidnitzer Untersuchung kaum hoch genug veranschlagen, indem sich die Vereinbarungsversammlung ohne normative Grundlage in einer vor dem Hintergrund des schwelenden Konflikts mit der Reaktion1036 besonders heiklen Frage das Recht nahm, einen militärischen ­Exzess zu untersuchen. Die parlamentarische Seite hoffte auf einen moralischen Sieg, möglicherweise sogar Einfluss auf die Armee.1037 Trotzdem war die Mehrheit von „Konventsgelüsten“ weit entfernt; statt einer parlamentarischen Inter­vention verlangte die zuständige Kommission, über verschiedene Petitionen, die von einer Bestrafung der verantwortlichen Offiziere bis hin zu Wiedergutmachung und Schadenersatz für die Geschädigten reichten, zur motivierten Tagesordnung überzugehen.1038 Dass der für die Armee blamable Untersuchungsbericht im Plenum letztendlich keine messbare Rolle spielte, lässt sich nicht dem Untersuchungsrecht, sondern nur dem spektakulären Pyrrhussieg anlasten, den die Linke mit dem Sturz des Ministeriums Auerswald-Hansemann und dem Antireaktionserlass des moderaten Ministeriums v. Pfuel errungen hatte. Auch die beiden anderen Präzedenzfälle aus der Singakademie hatten eine nicht zu unterschätzende politische Dimension. Für die Posener Untersuchung, deren Beschluss schon Kritik an der Polenpolitik früherer Regierungen zum Ausdruck brachte, ist dies evident. Aber auch der Enquête zur Lage der Spinner und Weber ging trotz ihrer sachbezoge-

1036 Zu dieser Bedeutung der Sache aus pointiert linker Sicht J. M. Petery, Schweidnitz, 1848, S. 6 ff. 1037 Vgl. H. Pfefferkorn, Kampf, 1926, S. 42 ff. 1038 Gefordert wurden u. a. eine andere Zusammensetzung der gemischten Untersuchungskommission oder ein Verzicht des Königs auf sein Begnadigungsrecht. Andere Bittschriften betrafen die Versorgung der Witwen und Waisen, eine Änderung der Verhältnisse, die den Vorfall ermöglicht hätten, oder den Erlass eines Bürgerwehrgesetzes. Wieder andere waren allg. ­darauf gerichtet, „daß die National-Versammlung ihrer heiligen Verpflichtung in vollem Maaße genüge und dem ihr vertrauenden Volke die wirkliche Sühne dieses gegenwärtigen Ver­ brechens sowohl, als möglichst sichere Bürgschaft gegen Wiederholungsfälle für die Zukunft veranlasse“ (PrNV-Drs. 226, S. 41 ff.).

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

nen Grundausrichtung keineswegs jede politische Dimension ab: Einmal demonstrierten die Berliner Abgeordneten der bitter leidenden Bevölkerung, dass sich die Volksvertretung ihrer Nöte annahm. Außerdem bot die soziale Frage, wie verschiedene Enquêten in den folgenden Jahren zeigen sollten, reichlich Gelegenheit, mit der offiziellen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik ins Gericht zu gehen. Das ungeschriebene Enquête- und Untersuchungsrecht der preußischen Vereinbarungsversammlung lässt sich also keineswegs auf ein „langweiliges“ Instrument zu unspektakulären Sachstandsermittlungen reduzieren. Dass die Berliner Abgeordneten von ihren Selbstinformationsmöglichkeiten keinen ausgiebigeren Gebrauch machten, liegt einerseits an der zunächst vorherr­ schenden politischen Mäßigung der Mehrheit. Ein weiterer Grund dürfte darin zu suchen sein, dass Enquêten und Untersuchungen – anders als heute oder in der Weimarer Republik – der Majorität vorbehalten waren. Tatsächlich kam das überdies versatilere Interpellationsrecht, das im Gegensatz dazu der Minderheit zustand, weitaus häufiger zum Einsatz.1039 Eine schwerfälligere Enquête oder Untersuchung wurde demgegenüber auf Initiative der linken Minderheit  – als Antragsteller traten Robert Reuter, Julius Stein oder Moritz Elsner auf – in immerhin drei Fällen initiiert. Gemeinsam ist diesen drei Beispielen, dass breite Einigkeit über die Bedeutung des jeweiligen Sachverhalts über alle Fraktionsgrenzen hinweg herrschte und die Volksvertretung, wie es theoretisch dem konstitutionellen Dualismus entsprach, der Regierung mehr oder minder geschlossen gegenübertrat. Die drei Verfahren zeigen erhebliche Übereinstimmungen: Obwohl man zunächst von Mitteilungen des Staatsministeriums ausging, blieb nicht einmal der Posener Einsetzungsbeschluss bei diesen stark vormärzlichen Fremdinforma­ tionsformen stehen, sondern ging mit einem Requisitionsrecht über die bisheri­ gen  Möglichkeiten hinaus. Die beiden folgenden Untersuchungskommissionen stellten eigenständige Erhebungen an, traten unmittelbar mit Privatpersonen, nachgeordneten Behörden u. a. in Kontakt. Die auffälligen Unterschiede in Intensität und Förmlichkeit der unmittelbaren Nachforschungen in der Sozial- und der Kontrollenquête sind der Verschiedenartigkeit des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes geschuldet: Während der politische Wunsch, die Lebensbedingungen der Weber und Spinner zu verbessern, formlose Erhebungen gestattete, verlangte der strafrechtlich relevante Schweidnitzer Sachverhalt nach strengeren und belastbareren Formen der Aufarbeitung; einfache Erkundigungen wären weder dem Vorfall noch den wechselseitigen Anschuldigungen gerecht geworden. Die Praxis der Vereinbarungsversammlung gilt also bislang zu Unrecht als unter enquête- und untersuchungsrechtlichem Blickwinkel weitgehend unbedeutend; zudem verliert man ihre tatsächliche Reichweite aus dem Blick, wenn man 1039

Vgl. C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 27 f., 29. Zur Funktion als Kontrollinstrument vgl. C. v. Kaltenborn, ConstVerfR, 1863, S. 89.

3. Kap.: Revolutionäre Verfassungsentwicklungen in den Einzelstaaten 

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sich bloß auf die Enquête zum Leid der Weber und Spinner, die Grundsatzdebatte in der Posener Angelegenheit und die eher atypischen Immunitätssachen konzen­triert.1040 Insbesondere verliert man damit das unter der Perspektive eines politischen Untersuchungsrechts interessanteste Anschauungsmaterial, den gescheiterten Antrag Reichensperger und die beeindruckende Schweidnitzer Kontrollenquête, aus dem Blick. Eine Zusammenschau von Art. 73 „Charte Waldeck“ und der beiden „echten“ praktischen Beispiele liefert das überraschend moderne Bild eines unmittelbaren parlamentarischen Selbstinformationsrechts. Die kurze Phase der Berliner Ver­ einbarungsversammlung verdeutlicht eindrucksvoll, wie schnell sich zwischen sachlichen Notwendigkeiten und revolutionären politischen Fronten im Prinzip bis heute gültige Verfahrensweisen herauskristallisieren konnten. Das Vorbild aus dem preußischen Frühling wirkte trotz des Scheiterns der Revolution über das­ Medium des Art. 81 PrVerf 1848 bzw. des Art. 82 PrVerf 1850 bis weit über das Jahr 1848 hinaus. Als ungeschriebenes Enquêterecht, das sich die preußische Nationalversammlung ohne monarchische Gegenwehr genommen hatte, geisterte das Phantom eines vermeintlich „natürlichen Rechts“, sich bei sachverständigen Dritten zu erkundigen, das jeder parlamentarischen Versammlung ebenso wie jedem Privatmann zustehe, noch durch die wilhelminische Staatsrechtslehre und die Debatten des Deutschen Reichstags. Seinen modernen Niederschlag hat es wenigstens teilweise in § 70 GO-BT gefunden.

3. Kapitel

Revolutionäre Verfassungsentwicklungen in den Einzelstaaten A. Reichsverfassung und „Charte Waldeck“ als Vorbilder Aufgrund des deutschlandweit sichtbaren Beispiels der Frankfurter und der Berliner Nationalversammlung liegt die Vermutung nahe, dass das parlamenta­ rische Selbstinformationsrecht auch andernorts Konjunktur hatte, bevor es mit zahllosen anderen Märzerrungenschaften der Reaktion zum Opfer fiel. Tatsächlich finden sich in den Einzelstaaten wenigstens erkennbare Nachahmer der Frank­ furter Reichsverfassung und möglicherweise auch der „Charte Waldeck“.

1040 So aber mit Unterschieden z. B. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  11 f., 14; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S.  51 ff.; E. Zweig, ZfP 1913, 265 (285) in Anm. 1).

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

B. Schleswig-Holstein (1848) Anders als das resignierende Urteil des Theologen und Historikers Otto Fock vermuten lässt, es habe, „wenn es auch Manches zu wünschen übrig ließ, doch im Ganzen genommen einen leidlich freisinnigen Charakter“ gehabt, sprach das schleswig-holsteinische Staatsgrundgesetz der je zur Hälfte nach allgemeinem und Zensuswahlrecht gebildeten Landesversammlung umfangreiche Kompetenzen  zu.1041 So verfügte der Landtag gemeinsam mit dem Herzog über die gesetzgebende Gewalt einschließlich der Initiative (Art.  70 f. StGG  SH  1848). Weitergehende Be­fugnisse standen ihr in Bezug auf den Haushalt, die Steuern und Abgaben, die Prüfung der jährlichen Staatsrechnung etc. zu (Art. 136 ff. StGG  SH  1848). Gemäß Art.  68 StGG  SH  1848 konnte kraft Beschlusses der Landesversammlung „gegen die Minister wegen der Verwaltung ihres Amtes ein Strafverfahren eingeleitet werden“. Diese materiellen Befugnisse wurden durch das „Recht [flankiert], Adressen und Anträge zu beschließen“ (Art.  72 StGG SH 1848). Ein solcher Strauß an Befugnissen musste ein profundes Informationsbedürfnis wecken. Tatsächlich sprach Art.  73 StGG  SH  1848 der Versammlung „in Ausübung der ihr in Betreff des Staatshaushalts und sonst zustehenden Befugnisse“ (!) das Recht zu, „Ausschüsse zur Untersuchung von Thatsachen [zu] ernennen und denselben das Recht [zu] verleihen, allein oder unter Zuziehung von richterlichen Beamten, Vernehmungen vorzunehmen und die Behörden zur Hülfe zu requiriren“. Obwohl sich die Materialien über die Entstehung dieser mit einer überwältigenden Mehrheit von 95 gegen vier Stimmen angenommenen Regelung ausschweigen,1042 deutet der Gesetzeswortlaut unmissverständlich auf ein eigenständiges Enquête- und Untersuchungsrecht mit einem Zuschnitt nach den Regeln der Korollartheorie hin. Insoweit ist Georg-Christoph v. Unruh zuzustimmen, dass mit Art. 73 StGG SH 1848 – hier ist zu ergänzen: auch – „parlamentarische Einrichtungen zur Überwachung der Exekutive“ geschaffen wurden.1043 Ergänzend ordnete Art. 65 Abs. 3 StGG SH 1848 an, dass den Ausschüssen der Landesversammlung auf ihr Verlangen das über die „im Staatsrath gefaßten Beschlüsse“ geführte „Protocoll  […], welches die Vota der einzelnen Mitglieder“ enthielt,

1041

Laut O. Fock, Erinnerungen, 1863, S. 153 handelte es sich um eines der letzten Werke der Provisorischen Regierung und der von „alle[n] mündigen Staatsbürger[n] jedes Standes“ gewählten konstituierenden Landesversammlung. G.-C. v. Unruh, StGG  SH  1848, 1981, S.  16 weist auf die Besonderheit hin, dass die Initiative zur Bildung dieser Versammlung vom Volk ausging. Wahlberechtigt waren alle über 21-jährigen männlichen Einwohner, die weder wegen einer entehrenden Straftat verurteilt waren noch unter Kuratel standen. Die Wahlbeteiligung fiel mit 15 v. H. niedrig aus. s. zu Vor- und Entstehungsgeschichte neben G.-C. v. Unruh auch H.-G. Skambraks, ZSHG 84 (1960), S. 121 ff. und ZSHG 85/86 (1961), S. 131 ff. 1042 s. ProtSHLV, S. 28 zu der 15. Sitzung am 7. September 1848. 1043 G.-C. v. Unruh, StGG SH 1848, 1981, S. 21.

3. Kap.: Revolutionäre Verfassungsentwicklungen in den Einzelstaaten 

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„nebst  […] Beilagen […] zur Einsicht“ vorzulegen war. Weitergehende Befugnisse bestanden bei der Rechnungsprüfung.1044 Gerade vor dem Hintergrund der modernen Auseinandersetzungen um den Schutz des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung ist diese weitgehende Regelung bemerkenswert modern.1045 Die Frankfurter Reichsverfassungsberatungen können Art.  73 StGG  SH  1848 aus Gründen der zeitlichen Abfolge nicht beeinflusst haben: Während die Landesversammlung über das Enquête- und Untersuchungsrecht am 15. September 1848 beschloss, wurde im Verfassungsausschuss der Paulskirchenversammlung erst Ende Oktober 1848 über das entsprechende Recht beraten. Eine Rolle könnte aber § 24 GO-FNV 1848 gespielt haben, der zu Anfang ebenfalls eine jedesmalige Ermächtigung der Ausschüsse durch das Plenum vorsah. Möglicherweise orientierte man sich überdies an dem älteren Entwurf des Berliner Verfassungsausschusses: Ähnlichkeiten mit dem Wortlaut des Ende Juli 1848 geschaffenen Art. 73 „Charte Waldeck“, der den künftigen Kammern „die Befugniß [versprach], Kommis­sionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen und die Behörden zur As­sistenz zu requiriren“, sind offenkundig. Anders als dieses potentielle Vorbild überließ Art. 73 StGG SH 1848 die Alternative einer Hinzuziehung richterlicher Beamter oder einer selbständigen parlamentarischen Vernehmung ausdrücklich der Versammlung. Neben diesem Enquête- und Untersuchungsrecht sah Art. 98 StGG SH 1848 ein weites Interpellationsrecht vor. „Jeder Abgeordnete [war…] berechtigt, von den Ministern Aufschlüsse zu verlangen, wenn er seine Absicht, eine Frage zu stellen unter Bezeichnung des Gegenstandes derselben, in einer vorhergehenden Sitzung angekündigt hat[te].“ Überwies die Landesversammlung die „an sie gerichteten Bittschriften an die Minister“, hatten diese auf Verlangen „über deren Inhalt Auskunft zu ertheilen“ (Art. 97 StGG SH 1848). Älteren Klischees folgte Art. 66 StGG SH 1848, der das Recht der Minister auf „freien Zutritt zu den Sitzungen der Landesversammlung“ regelte. Modern war, dass diesem Recht ein parlamenta­ risches Zitierrecht gegenübergestellt wurde. Große Bedeutung war dem liberalen Staatsgrundgesetz, das insbesondere in diesen Regelungen bemerkenswert deutliche Ansätze parlamentarischer Regierungskontrolle vorsah,1046 nicht vergönnt. Zwar wurde es noch durch die von den Konfliktparteien installierte „Waffenstillstandsregierung“ bestätigt, die sich damit den 1044 Nach Art. 141 StGG SH 1848 hatte der von der letzten ordentlichen Landesversammlung gewählte Finanzausschuss die „jährliche Staatsrechnung über alle Statt gehabten Einnahmen und Ausgaben […] mit allen Belegen“ zu prüfen. Ihm stand das „Recht [zu], jede Art der Aufklärung von dem Ministerium zu verlangen“. 1045 Vgl. zum Kernbereichsschutz aus heutiger Sicht M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 40; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 48 ff. sowie mit krit. Überlegungen M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 27. 1046 Vgl. J. Krech, StGG SH 1848, 1985, S. 184 ff.

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

Unmut der dänischen Seite zuzog.1047 Aber schon Anfang Februar 1851 wurde die Verfassung im Zuge der Restauration der dänischen Herrschaft außer Kraft gesetzt.1048

C. Herzogtum Lauenburg (1849) Analog verlief die Entwicklung im Herzogtum Lauenburg: Am 11. Mai 1849 wurde ein „auf demokratische Principien basirtes“ Staatsgrundgesetz1049 geschaffen, dessen Art. 73 die Landesversammlung ermächtigte, „Ausschüsse [zu] ernen­ nen und denselben das Recht [zu] verleihen, zur Erlangung ihnen nöthig erscheinender Aufklärungen allein oder unter Zuziehung von richterlichen Beamten Vernehmungen vorzunehmen und die Behörde zur Hülfe zu requiriren“.1050 Schon wenig später wurde die Verfassung wieder aufgehoben.1051

D. Waldeck und Pyrmont (1849) § 66 des auf den Tag 100 Jahre vor dem Bonner Grundgesetz geschaffenen Staatsgrundgesetzes für die Fürstenthümer Waldeck und Pyrmont vom 23.  Mai 1849, der dem Landtag das „Recht der Beschwerde, der Adresse und der Erhebung von Thatsachen und Gutachten, so wie der Anklage der verantwortlichen Mitglie­ der der Staatsregierung“ zusprach,1052 ist erkennbar durch den Wortlaut des zwei Monate älteren Frankfurter Vorbilds beeinflusst.1053 Angesichts der materiellen Befugnisse des lediglich aus 15 Abgeordneten bestehenden Landtags – die Volksvertretung verfügte u. a. ebenso wie der Fürst über das Gesetzesinitiativrecht (§§ 43, 1047

O. Fock, Erinnerungen, 1863, S. 154 und aus heutiger Perspektive G.-C. v. Unruh, StGG SH 1848, 1981, S. 25 f. 1048 Dazu H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 230 ff.; H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 242 sowie G.-C. v. Unruh, StGG SH 1848, 1981, S. 28. 1049 s. das Grundgesetz für das Herzogthum Lauenburg, Officielles Wochenblatt für das Herzogthum Lauenburg vom 23. Mai 1849, Nr. 11, S. 85. 1050 Darüber hinaus sah Art. 98 ähnl. wie das schleswig-holsteinische Staatsgrundgesetz das Recht der Landesversammlung vor, „die bei derselben beschafften Eingaben an die betreffenden Departements zu verweisen. Die Ministerialbeamten [waren dann…] auf Verlangen der Landesversammlung verpflichtet, über deren Inhalt die etwa erforderlichen Aufklärungen, so wie Auskunft über deren Erledigung zu ertheilen.“ Ebenfalls genossen die „Ministerial­beamten […] freien Zutritt zu den Sitzungen der Landesversammlung und [mussten…] auf ihr Verlangen gehört werden“. Im Gegenzug waren „sie […] verpflichtet, zu erscheinen, so oft es von der Landesversammlung verlangt“ wurde (Art. 66). 1051 s. Hantelmann, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch VI, 1861, S.  343 und H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 242 sowie zur Entwicklung unter dänischer Regie ders., VerfG, 1855, S. 417 ff. mit Abdruck der Quellen. 1052 „§. 66. Das Recht der Beschwerde, der Adresse und der Erhebung von Thatsachen und Gutachten, so wie der Anklage der verantwortlichen Mitglieder der Staatsregierung, steht dem Landtage zu.“ 1053 Vgl. A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 16.

3. Kap.: Revolutionäre Verfassungsentwicklungen in den Einzelstaaten 

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44 StGG WaPy 1849) und konnte Petitionen annehmen sowie beraten (§ 67 StGG WaPy 1849) – liegt die Vermutung nahe, dass mit § 66 neben Sachstands- und Gesetzgebungsenquêten auch eine Exekutivkontrolle ermöglicht werden sollte. Für eine richtungweisende Staatspraxis blieb auch dieser Verfassung keine Zeit, weil der Bundestag Anfang 1852 eine Revision des Staatsgrundgesetzes verlangte.1054 Zwar sah auch § 64 Abs.  2 VerfUrk  WaPy  1852 noch das Recht des Landtags vor, „über alle Landesangelegenheiten Auskunft zu begehren, sowie zur Aufklärung von Thatsachen und Vorbereitung seiner Berathungsgegenstände Ausschüsse niederzusetzen, welche zu ihren Sitzungen Sachverständige zuziehen“ konnten. Diese Befugnisse wurden aber dadurch auf vormärzliche Formen kupiert, dass die Ab­geordneten gemäß § 64 Abs. 3 VerfUrk WaPy 1852 außer bei einer Ministeranklage ausschließlich mit der Staatsregierung in „unmittelbarer geschäftlicher Beziehung“ stehen durften.1055 Statt eigenständiger Untersuchungen kamen so lediglich schwächliche Ersuchen an das Gouvernement in Betracht, wie sie sich u. a. bereits in Kurhessen als wirkungslos erwiesen hatten.1056 Eine unmittelbare Ladung von Sachverständigen – Zeugen waren ohnehin nicht vorgesehen – kam wegen dieser Regel nicht in Frage. Welcher Art diese Sachverständigen sein sollten, ob sich das betreffende Recht etwa auf eine Hinzuziehung besonders geeigneter Beamter beschränken sollte, spielt angesichts dessen keine Rolle mehr.

E. Gotha (1849) Das kurz vor der Reichsverfassung „mit einer auf breitester Basis gewählten Abgeordnetenversammlung […] festgestellt[e]“ Staatsgrundgesetz für das Herzogthum Gotha vom 25.  März 1849 verdankte sein Dasein der Rückständigkeit des „in altständischer Form“ steckengebliebenen Herzogtums. Im benachbarten­ Coburg wurde die Verfassungsurkunde von 1821 bloß zweimal amendiert.1057 Auf den ersten Blick enthielt die vermeintlich „demokratische“1058 Konstitution eine § 99 RVerf 1849 bzw. Art. 73 „Charte Waldeck“ funktional vergleichbare Bestimmung, indem § 67 StGG Go 1849 der Abgeordnetenversammlung das Recht gewährte, „in allen Fällen, wo ihr zur Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Wirksamkeit die Ermittelung und Aufklärung thatsächlicher Verhältnisse wünschenswerth oder nothwendig [erschien…], entweder die nöthigen Untersuchungen durch Einen der bereits bestehenden Ausschüsse vornehmen zu lassen, oder aber zu demselben Zwecke einen besonderen Ausschuß aus ihrer Mitte zu ernennen. Insoweit diese Ausschüsse, zur Feststellung der Thatsachen, der Auskunftsertheilung oder sonstigen Mitwirkung der Behörden [bedurften, waren diese…] auf Veranlassung 1054 M. Kotulla, VerfGesch, 2007, Rn.  1536; ders., Deutsches Verfassungsrecht 1806–1918, Bd. 1, 2006, S. 95 f. 1055 Ähnl. F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 25. 1056 s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. 1057 Brückner, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch X, 1867, S. 555. 1058 Brückner, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch X, 1867, S. 555.

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

der Abgeordneten-Versammlung von der Staatsregierung hierzu anzuweisen“. Als inländische Vorbilder für diese Regelungen kamen außer der Frankfurter Reichsverfassung oder der „Charte Waldeck“ etwa auch die Verfassungsurkunden Schleswig-Holsteins oder Lauenburgs in Frage. Obwohl der Normtext des § 67 StGG Go 1849 u. a. scheinbar ein parlamentarisches Selbstinformationsrecht schuf – das Wort „insoweit“ zu Beginn des zweiten Satzes ließ potentiell Raum für eigenständige parlamentarische Maßnahmen –, gestattete § 63 StGG Go 1849 der Versammlung nach vormärzlichem Muster ausschließlich die Geschäftsbeziehung mit der obersten Staatsbehörde. Ein unmittelbarer Kontakt mit außenstehenden privaten Auskunftspersonen oder nachgeordneten staatlichen Stellen, also das Lebenselixier eines „echten“ Enquête- und Untersuchungsrechts, war damit inkompatibel. In der Praxis soll sich die Ausschusstätigkeit aufgrund von § 67 StGG Go 1849 denn auch auf Gesetzgebungsvorarbeiten beschränkt haben.1059 Als nach gut drei Jahren das Staatsgrundgesetz für die Herzogtümer Gotha und Coburg vom 3. Mai 1852 in der Realisierung älterer Vereinigungspläne die Verfassung von 1848 ablöste, waren weder in dieser neuen Konstitution1060 noch in der Geschäftsordnung1061 Anklänge parlamentarischer Selbstinformationsbefugnisse zu finden.

F. Fazit Während der Märzrevolution oder in der ersten Folgezeit wurden in verschiedenen Einzelstaaten Regelungen zur Information der Stände geschaffen, die mehr oder minder deutlich an das Frankfurter oder das Berliner Vorbild anknüpften. Trotzdem blieb ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht die Ausnahme, weil die Kammern in der Regel zugleich auf den Kontakt mit dem Staatsministerium oder der Landtagskommission beschränkt wurden. Selbst wenn ausdrücklich kein entsprechender Vorbehalt existierte, folgte er in aller Regel aus dem gemeinen deutschen Staatsrecht.1062 Die wenigen wirklich freisinnigen Regelungen fielen der staatsrechtlichen Revision nach dem Scheitern der Märzbewegung zum Opfer. 1059

So F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 27. Vgl. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (283 in Fn. 2). Immerhin übertrug die Verfassung dem Landtag die Wahlprüfung; zu diesem Zweck waren ihm „die Wahlacten von der Staatsregierung mitzutheilen“ (§  81 St­GG Go­Co 1852). 1061 s. die Regelungen über die Kommissionen in den §§ 30 ff. GO-LT Co­Go 1852. Vorgesehen war ein Interpellationsrecht (§ 44 GO-LT Co­Go 1852) und das Staatsministerium hatte „die gewünschte Auskunft zu ertheilen, oder, dafern es überhaupt oder wenigstens zur Zeit nicht zu antworten [vermochte…], ersteren Falls die Gründe der Unthunlichkeit anzugeben, letzteren Falls aber die Zeit der Antwortsertheilung zu bestimmen.“ 1062 E. Huhn, StaatsR V, 1863, S. 436 kam zu dem Schluss, dass „die Kammern nur mit den Ministern in direkter Verbindung und die von ersteren etwa niedergesetzten Commissionen zur 1060

4. Kap.: Die Bedeutung der Märzrevolution

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In den übrigen Bundesstaaten wachte der Deutsche Bund mit Argusaugen darüber, dass sich keine zu liberale Praxis entwickeln konnte. Im August 1851 forderte der Bundestag die Einzelstaaten ultimativ dazu auf, die „namentlich seit dem Jahre 1848 getroffenen staatlichen Einrichtungen und erlassenen gesetzlichen Bestimmungen einer sorgfältigen Prüfung zu unterwerfen und dann, wenn sie mit den Grundgesetzen des Bundes nicht in Einklang stehen [sollten], diese nothwendige Uebereinstimmung ohne Verzug wieder zu bewirken“.1063 In der Folgezeit wurden zahlreiche liberale Verfassungen aufgehoben oder wenigstens im reaktionären Sinne revidiert. Das politische Klima dieser Jahre charakterisierte Johann Caspar Bluntschli so, dass beinahe „die ganze Wirksamkeit des deutschen Bundes […] darauf gerichtet [gewesen sei], das sogenannte ‚monarchische Princip‘ möglichst absolut zu bewahren und die Völker policeilich zu bevormunden“.1064 Damit wurden Prophezeiungen von Joseph v. Radowitz wahr, dass zwangsläufig auf die „unvermeidliche Uebergangsstufe“ der „parlamentarischen Monarchie“ die Renaissance der „wahren Monarchie“ folgen müsse.1065 Für das Enquête- und Untersuchungsrecht brachen überwiegend dunkle Zeiten an.

4. Kapitel

Die Bedeutung der Märzrevolution Die Märzrevolution hat wesentlich zu der Entwicklung des modernen Enquêteund Untersuchungsrechts in Deutschland beigetragen. So ist es keineswegs übertrieben, dass George Alexander Wolf die „Revolution von 1848 [als…] einen Meilenstein“ ansieht.1066

A. Die Enquête- und Untersuchungstätigkeit in Frankfurt und Berlin Sowohl der mehr sachbezogenen Enquête- als auch der politischen Untersuchungstätigkeit der Frankfurter und der Berliner Nationalversammlung kommt bei genauerer Betrachtung Vorbildcharakter für die spätere Entwicklung zu.

Untersuchung von Thatsachen […] ebenfalls nur durch die Minister Aufklärungen von anderen Personen sich zu verschaffen“ hätten. Das sollte selbst für Preußen gelten! 1063 Abdruck bei M. Kotulla, DtVerfR I, 2006, S. 797 f. sowie G. Reichlen, StaatsR II, 1863, S. 92 f. Dazu ferner M. Stolleis, GeschÖR II, 1992, S. 282 f. sowie M. Kotulla, VerfGesch, 2007, Rn. 1528 ff. und H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 234 ff. mit einem Überblick Anfang der 1850er Jahre. 1064 J. C. Bluntschli, StaatsR I3 1863, S. 418. 1065 J. v. Radowitz, Schriften IV, 1853, S. 191 ff. 1066 G. A. Wolf, Strafjustiz, 2004, S. 36.

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

Egon Zweig hat das Enquête- und Untersuchungsrecht als „Messinstrument“ für das politische Gewicht einer Volksvertretung charakterisiert.1067 In diesem Sinne schlug die Nadel sowohl am früheren Sitz des Deutschen Bundestages als auch im Herzen der Hohenzollernmonarchie lange Zeit in die parlamentarische Richtung aus. Beide Versammlungen verfügten nicht über eine gesetzliche Grundlage für das Recht, Ausschüsse oder Kommissionen zu Selbstinformation und Exekutivkontrolle niederzusetzen, sondern nahmen sich diese revolutionäre Befugnis eigenmächtig und im Bruch mit der Vergangenheit. Keine gesetzliche Ermäch­tigung, kein gouvernementaler Mitwirkungsakt legitimierte das Selbstinformationsrecht, das in früheren Zeiten einen wegen Art. 57 WSA 1820 unvorstellbaren Einbruch in exekutive Bastionen bedeutet hätte. Dass die Paulskirchenversammlung die Befugnis der Ausschüsse, Zeugen und Sachverständige anzuhören oder mit Behörden in Verbindung zu treten, in ihr autonomes Recht aufnahm, vermochte diese Lücke bestenfalls notdürftig zu stopfen. Das wahre Fundament der Enquête- und Untersuchungstätigkeit beider Versammlungen setzte sich aus der revolutionären Aufbruchsstimmung des Jahres 1848 sowie latenten bzw. unterschwelligen An­flügen von Demokratie und Parlamentarismus gepaart mit dem gegenüber der verfassungsrechtlichen Ausgangslage überschießenden Selbstbewusstsein der Volks­vertretungen und der zunächst vorhandenen Bereitschaft der Regierungen zusammen, sich einem diesen Leitlinien de facto entsprechenden Regierungssystem zu unterwerfen. Zwar hingen die preußischen Minister rechtlich allein vom König ab, wurden von ihm ernannt und konnten allein von ihm entlassen werden. Ebenso gebot der Reichsverweser ohne Mitwirkung der Frankfurter Nationalversammlung über das Schicksal der Reichsminister. Weder am Main noch an der Spree war das Kabinett bei einem parlamentarischen Vertrauensverlust also rechtlich zur Demission verpflichtet. Ungeachtet dessen etablierte sich rein faktisch ein proto-­parlamentarisches politisches System, indem die Vertreter der Provisorischen Zentralgewalt ebenso wie die preußischen Minister vorerst bemüht waren, ihre Politik auf parlamentarische Mehrheiten zu bauen. Scheiterten sie an diesem selbstgesteckten Ziel, indem sie die Zustimmung der Volksvertretung verloren, traten sie aus freien Stücken zurück.1068 Diese Regierungsweise war teils der konsti­ tutionellen Gesinnung der Ministerien, teils der ängstlichen Sorge der alten Eliten vor einem erneuten Gewaltausbruch geschuldet, der die Monarchie hätte hinwegfegen können. Nicht revolutionäres Recht, sondern faktische Kooperationswilligkeit der altliberalen preußischen Märzregierungen erlaubte es der Vereinbarungsversammlung, ihr Enquête- und Untersuchungsrecht auszuüben. Analog erhob die Provisorische Zentralgewalt, über deren „Paulskirchen-Parlamentarismus“ Manfred Botzenhart wegen der Schwäche der vermeintlichen Zentralgewalt urteilte, ihm habe „etwas von theoretischer Sandkastenspielerei an[ge]haftet“,1069 entsprechenden Ambitionen der Nationalversammlung gegenüber keinen Widerspruch. 1067

E. Zweig, ZfP 1913, 265 (269). Zu Preußen H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (7). 1069 M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 15. 1068

4. Kap.: Die Bedeutung der Märzrevolution

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Ungeachtet der verfassungsrechtlichen Ausgangslage, die weit von einem moder­ nen Parlamentarismus entfernt blieb, formte das Vertrauen beider Volksvertretungen in ihre demokratische Legitimation und faktische Macht die revolutionäre Grundlage eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts relativ moderner Prägung, das nach Reichweite und Befugnissen den Anforderungen an ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht genügte. Komplementär zu dieser Entwicklung regte sich Widerstand gegen politische Kontrollversuche nicht länger unter der Firma des „monarchischen Prinzips“ bzw. eines Schutzes der Exekutive vor parlamentarischen Übergriffen, sondern unter dem rechtsstaatlich-liberalen Palladium der richterlichen Unabhängigkeit. Angesichts dieses Perspektivenwechsels blieb das unpolitischere Enquêterecht zwangsläufig tendenziell unangefochten. In den protokollarischen Hinterlassenschaften beider Nationalversammlungen finden sich Ansätze aller bis heute gängigen Enquête- und Untersuchungstypen. In der Frankfurter Paulskirche dienten verschiedene Enquêten oder Ausschuss­ anhörungen zur Vorbereitung des Verfassungswerks oder wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischer Reformvorhaben. Zu den üblichen Aufgaben parlamenta­ rischer Versammlungen gehörten die Legitimationsprüfung sowie die Vorbereitung von Immunitätsentscheidungen. Eine echte Kollegialenquête war die Überprüfung der Verhandlungsleitung Alexander v. Soirons. Von größerem Interesse für die Entwicklung eines modernen politischen Untersuchungsrechts nach dem Muster des Art.  44 GG sind die Untersuchungen des Zwischenfalls in der Bundes­ festung Mainz, zu den durch die Einquartierung von Bundesmilitär in Mannheim verursachten wirtschaftlichen Lasten, einer Militärintervention der Zentralgewalt in Sachsen-Altenburg und des Verdachts bundeswidriger Separatabsprachen im deutsch-­dänischen Krieg. Mit der Vorbereitung des Verfassungswerks, also der Hauptaufgabe und dem eigentlichen Daseinszweck der Nationalversammlung, hatten diese Untersuchungen nichts zu schaffen. Auf welcher Grundlage man stattdessen operierte, offenbart eine Passage aus dem Bericht des Prioritäts- und Petitionsausschusses vom 17. Juni 1848, der die Versammlung in der Mannheimer Einquartierungsangelegenheit dazu aufforderte, sich in der „Übergangsperiode, in welcher […] die bestehenden Gewalten gelähmt“ seien, nicht „theilnahmslos hinter das Aussenwerk einer vermeintlichen Unzuständigkeit“ zurückzuziehen, sondern „entschieden hervorzutreten, und das verletzte Recht wieder in sein Recht einzusetzen“.1070 Diese Argumentation war nichts anderes als eine Evokation der parlamentarischen bzw. Volkssouveränität zur Legitimation einer Kontrollenquête gegenüber dem Militär. Es ist der Gunst der Stunde zu verdanken, dass die bis­herigen Machthaber diesen Ambitionen nicht entgegentraten. Im Gegenzug verhinderten ihre gemäßigten Elemente eine Mutation der Nationalversammlung zum Revolutions­ konvent. Analog verlief die Entwicklung in Berlin: Neben Legi­ti­ma­tions­prüfungen und Immunitätssachen untersuchte die Vereinbarungsversammlung die Zustände in der Provinz Posen sowie den Zwischenfall in der Festungsstadt Schweidnitz. Neben 1070

Wigard, VerhFNV, S. 336 f.

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

diesen politischen Untersuchungen erfolgte zu der schreienden Notlage der Spinner und Weber ein Enquêteversuch. Mangels normativer Vorgaben oder detaillierter Vorbilder und wegen der Kürze der Revolutionszeit bildete sich 1848/49 keine konsistente Praxis für die Veranstaltung von Enquêten und Untersuchungen heraus. Stattdessen verfuhren die Ausschüsse, Kommissionen und Abteilungen in Frankfurt und Berlin jeweils so, wie es ihrer Mehrheit am Zweckmäßigsten erschien. Trotzdem greift es zu kurz, diesen wichtigen Ausschnitt aus dem 19. Jahrhundert in enquête- und untersuchungsrechtlicher Hinsicht damit abzutun, dass das „Untersuchungsrecht [habe…] über das Aufkeimen der Idee hinaus kaum Gestalt gewinnen“ können, ja von einer „rechtsformenden Praxis des Untersuchungsrechts […] kaum die Rede sein“ könne ­(Johannes Masing).1071 Vielmehr verfuhr man trotz aller Unterschiede im Detail grosso modo in vergleichbarer Art und Weise, so dass sich rudimentäre Grundzüge einer parlamentarischen Selbstinformationsübung herausbilden konnten: Den ­Enquêten oder Untersuchungen ging üblicherweise ein mehr oder minder konkreter „Einsetzungsbeschluss“ des Plenums voraus, durch den die Zahl der Ausschussmitglieder festgelegt und der „Untersuchungsauftrag“ umrissen wurde. Sofern die Sache nicht an einen existierenden Ausschuss verwiesen wurde, fand die Wahl der Kommissionsmitglieder in den Abteilungen statt. Bei der Durchführung der Enquête oder Untersuchung war größtmögliche Zweckmäßigkeit mangels detaillierter normativer oder im Einzelfall beschlossener Vorgaben oberstes Gebot: In der Regel ersuchten die Kommissionen zunächst die Regierung oder andere­ exekutive Stellen um Auskünfte, Akten und Unterlagen. Nach einer Vorprüfung dieses Materials wurde über die Notwendigkeit weiterer Schritte befunden. Ggf. wurden schriftliche Enquêten, in Frankfurt auch Sachverständigenanhörungen von Ministern der Zentralgewalt, Vertretern der Einzelstaaten, sachkundigen Versammlungsmitgliedern, die trotz ihrer Qualifikation keinen Platz in einer Kommission erhalten hatten, oder sachverständigen Dritten aus dem Kreis der Interessenten, Betroffenen oder Berufsvertreter veranstaltet. Eine Beteiligung parlamentsfremder Personen an den Kommissionsverhandlungen, wie sie bei heutigen Enquêtekommissionen möglich ist, lehnten die Abgeordneten der deutschen Nationalversammlung ab. In der preußischen Vereinbarungsversammlung wurde im Kontakt mit den betroffenen Kreisen eine umfangreiche schriftliche Enquête zur Lage der Spinner und Weber eingeleitet. Beide Volksvertretungen führten anlässlich von Zusammenstößen des Militärs mit Bürgerwehr und Zivilisten Untersuchungen vor Ort durch. Die Mainzer Deputation der Frankfurter Nationalversammlung holte Auskünfte von Militär- und Zivilbehörden, der Bürgerwehrführung sowie von Bürgern und den zuständigen Ermittlungs- und Strafverfolgungsorganen ein. Weiterhin wurden zahlreiche schriftliche Aussagen und Anzeigen ausgewertet. Förmliche Zeugenvernehmungen fanden anscheinend nicht statt. An dieser Stelle über­f lügelte 1071 So urteilt J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 13 f. über die gesamte Phase des deutschen Konstitutionalismus.

4. Kap.: Die Bedeutung der Märzrevolution

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die preußische Vereinbarungsversammlung das Paulskirchenparlament, indem die Schweidnitzer Untersuchungsdeputation nicht nur Auskünfte einholte und Akten einsah, sondern erstmals in der deutschen Parlamentsgeschichte Zeugenvernehmungen analog strafprozessualen Regeln durchführte. Entsprechend sollte erst wieder die Kommission zur Untersuchung der Wahlmanipulationen während des Verfassungskonflikts der 1860er Jahre verfahren.1072 Nach dem Abschluss ihrer Arbeiten unterbreiteten die Ausschüsse und Kommissionen den jeweiligen Volks­ vertretungen ihren Bericht. Obwohl beiden Nationalversammlungen Pflicht, Eid und Zwang mangels gesetzlicher Ermächtigung nicht zur Verfügung standen, entwickelte sich in Frankfurt und Berlin eine in den Grundzügen durchaus vergleichbare Enquête- und Untersuchungspraxis, die sich gemessen an den Untersuchungsthemen und Untersuchungsmethoden kaum hinter heutigen Standards verstecken muss. Vor allem in der Schweidnitzer Angelegenheit wurden erhebliche Parallelen mit modernen Untersuchungen aufgrund von Art. 44 GG sichtbar. Die Verfahrensdiversität des revolutionären Enquête- und Untersuchungsrechts ist demgegenüber kein­ Makel der parlamentarischen Praxis in Frankfurt und Berlin. – Bis zum Inkrafttreten des Untersuchungsausschussgesetzes war auch das Verfahren der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages alles andere als klar geregelt. Die „IPA-Regeln“ von 1969 waren neben Art. 44 GG der einzige Anhaltspunkt für eine Vereinheitlichung.1073 Die seit dem Inkrafttreten der Verfassung bis auf unsere Tage fortdauernde Evolution des Enquête- und Untersuchungsrechts gilt nicht als Schwäche, sondern als Erfolgsgeschichte.

B. Normative Vorbilder aus der Revolutionszeit Das bis heute sichtbarste enquête- und untersuchungsrechtliche Erbe der Revolutionszeit sind die Frankfurter Reichsverfassung, der Entwurf der „Charte Waldeck“ und die diesen Vorbildern verpflichteten einzelstaatlichen Grundgesetze. § 99 RVerf 1849 und § 66 StGG WaPy 1849 beschränkten sich auf eine schlichte Enume­ ration der Volksvertretungsrechte, unter denen sich auch die „Untersuchung“ bzw. „Erhebung von Thatsachen“ befand. Art. 73 „Charte Waldeck“ und Art. 73 StGG  SH  1848 ermächtigten das Parlament zur Ernennung besonderer „Commissionen“ oder „Ausschüsse zur Untersuchung von Thatsachen“, die ausdrücklich das Recht erhalten sollten, Zeugen zu vernehmen und die Behörden zur „Assistenz“ bzw. „Hülfe zu requiriren“. Auch ohne ausdrückliche Befugnisregelungen sollte wenigstens mit der Frankfurter Reichsverfassung ein modernes parlamentarisches Selbstinformationsrecht geschaffen werden, um die Volksvertretung aus der Abhängigkeit der bisherigen Fremdinformationsmechanismen zu emanzipieren. 1072

s. 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. Vgl. M. Schröder, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 46 Rn. 10 ff.

1073

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

Während die „Charte Waldeck“ noch nicht einmal abschließend beraten, geschweige denn beschlossen werden konnte, scheiterte die glücklose Paulskirchen­ verfassung an der Weigerung Friedrich Wilhelm  IV., die ihm aus Bürgerhand angetragene Krone anzunehmen. Die übrigen informationsrechtlich bemerkenswerten Verfassungen wurden aufgehoben oder im reaktionären Sinne revidiert. Ein verfassungsrechtlich verbürgtes Enquête- und Untersuchungsrecht blieb deswegen in den meisten Einzelstaaten Episode. Eine Ausnahmestellung nimmt trotz des ­kapitalen Scheiterns der Vereinbarungsversammlung ausgerechnet das Königreich Preußen ein. Obwohl selbst der altliberale Regierungsentwurf des Ministeriums Camphausen-Hansemann kein derartiges Recht enthalten hatte, ging das Enquête- und Untersuchungsrecht – obschon mit verschiedenen Blessuren – aus dem Entwurf des Verfassungsausschusses in die oktroyierte Verfassungsurkunde über. Mit Art. 81 PrVerf 1848, der in Art. 82 PrVerf 1850 selbst die konservative Revision der oktroyierten Verfassung überstand, stieß die „Charte Waldeck“ im Königreich Preußen eine facettenreiche Entwicklung an, die sich in den Verfassungsdebatten des Norddeutschen Bundes und des Kaiserreichs nachweisen lässt und schließlich in Art. 34 RVerf 1919 vollendet werden sollte.

C. Politische Rahmenbedingungen Die Selbstinformations- und Kontrollpraxis der Frankfurter und der Berliner Nationalversammlung wurde durch den Pseudo- bzw. Proto-Parlamentarismus der ersten Revolutionszeit ermöglicht. Trotzdem bestätigt ihr Verfassungswerk nicht die naheliegende These, dass ein solches Regierungssystem für ein Enquêteund Untersuchungsrecht unverzichtbar wäre: Sowohl die Frankfurter Reichsverfassung als auch die preußische „Charte Waldeck“ stellten das künftige Staatsgebäude ­allen liberalen, republikanischen und demokratischen Tendenzen zum Trotz letzten Endes auf ein konstitutionell-monarchisches Fundament.1074 In der zentralen Frage der parlamentarischen Regierungsverantwortung gingen sie nicht über eine Ministeranklage hinaus. Dagegen verweigerten sich beide Verfassungen der für einen „echten“ Parlamentarismus unabdingbaren Voraussetzung, dass das Gouvernement vom politischen Vertrauen der Volksvertretung abhängt.1075 Trotzdem sahen sie ein Enquête- und Untersuchungsrecht vor und knüpften damit  – in gemäßigten konstitutionellen Bahnen  – an die revolutionäre Praxis der National­versammlungen an. Zur Überzeugung der Frankfurter wie der Berliner 1074 Zum parlamentarischen Charakter der Reichsverfassung von 1849 s. M. Kotulla, VerfGesch, 2007, Rn.  1738 und ferner T. Nipperdey, DtGesch 1800–1866, 1998, S.  653, der wegen der Praxis von Nationalversammlung und Zentralgewalt davon ausgeht, dass die Versammlungsmehrheit, „ohne sich explizit zu diesem Prinzip zu bekennen, für das parlamentarische Regierungssystem“ gewesen sei. H. Boldt, VerfGesch II2 1993, S. 155 schließt von den Frankfurter Erfahrungen der Jahre 1848/49 auf eine faktische Parlamentarisierung des Reiches. 1075 Vgl. M. Brenner, in: HdbStR III3 2005, § 44 Rn. 6.

4. Kap.: Die Bedeutung der Märzrevolution

445

Verfassungs­väter bedurfte es also gerade keines parlamentarischen Regierungssystems, um entsprechende informationsrechtliche Befugnisse Wirklichkeit werden zu lassen. Diese scheinbar konträren Signale  – faktischer Proto-Parlamentarismus hier, dort Selbstinformations- und Kontrollrechte in monarchisch-konstitutionellem Kontext – lassen sich ohne Quadratur des Kreises auf einen gemeinsamen Nenner bringen: Frühkonstitutionalismus und Vormärz haben gezeigt, dass eine relativ frei gewählte Repräsentativkörperschaft, in der sich politische Opposition und parlamentarisches Misstrauen entwickeln können, Grundvoraussetzung informa­ tionsrechtlicher Begehrlichkeiten ist.1076 Die Überwindung der aus dem „monarchischen Prinzip“ abgeleiteten, interpellationsartigen Mechanismen durch ein selbständiges parlamentarisches Informations- und Kontrollinstrument konnte in der revolutionären Aufbruchsstimmung der Jahre 1848/49 gelingen. Eine gleichberechtigte Rolle spielte die Schockstarre der alten Eliten, die in Frankfurt und Berlin eine proto-parlamentarische Regierungsweise auch ohne verfassungsrechtliche Absicherung ermöglichte. War so auch kein „echter“ Parlamentarismus erforderlich, war doch eine faktische Machtverschiebung zugunsten des Parlaments unverzichtbar, damit sich ein selbständiges Informations- und Kontrollrecht Bahn brechen konnte. In dem Maße, in dem das „monarchische Prinzip“ an Kraft verlor, gewann das Enquête- und Untersuchungsrecht an Boden. So konnte in der Märzrevolution das Verbot eigenständiger Informationsbeschaffung überwunden werden  – und die Stellschraube in den meisten Bundesstaaten nach dem Sieg der Reaktion auch wieder auf vormärzliche Standards zurückgedreht werden. Eine deutliche Stärkung der künftigen, repräsentativen und verhältnismäßig demokratisch zu wählenden Volksvertretungen gegenüber früheren Ständeversammlungen beabsichtigten auch die Frankfurter Reichsverfassung und die „Charte Wal­deck“. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sollte die neue Machtstellung der Parlamente durch ein Enquête- und Untersuchungsrecht abgerundet werden, das es ihnen ermöglicht hätte, sich die für ihre Tätigkeit erforderlichen Informationen selbst zu beschaffen. Der damit geborene Gedanke eines „natürlichen“ Enquêterechts findet sich in der späteren staatsrechtlichen Diskussion des Kaiserreiches wieder. Genau betrachtet ist er ein wichtiger Vorfahre der modernen Korollartheorie, die nicht von ungefähr bereits vor 100 Jahren und damit noch in der Endphase des Kaiserreichs aus der Taufe gehoben wurde. So hatte sich in der Revolution die Überzeugung Bahn gebrochen, dass auch künftige konstitutionelle Versammlungen berechtigt wären, sich selbständig zu informieren.1077 Hinter diesen Standard konnte in Preußen selbst die Reaktion der 1850er Jahre nicht mehr zurück. 1076

s. 2. Teil 3. Kap. C. Entsprechende Forderungen, „daß künftige Ausschüsse von dem Rechte, Sachverständige und Zeugen vorzuladen und deren Aussagen den Berichten als Beil. beizugeben, weit häufigeren Gebrauch […] machen“ sollten als bislang, erhob R. v. Mohl, DtVjS 1850/2, 1 (37 f.) und riet ihnen außerdem, „das Recht der parlamentarischen Enquête auf das ausgedehnteste zu benützen“. 1077

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3. Teil: Entwicklungen in der Revolution von 1848/49 

Die für den Parlamentarismus ausschlaggebende Frage, ob die Volksvertretung über die rechtliche Macht verfügt, eine missliebige Regierung zu stürzen, steht auf einem vollkommen anderen Blatt. Notwendige, aber auch hinreichende Bedingung eines parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts ist im Vergleich mit Frühkonstitutionalismus und Vormärz also lediglich eine gewisse Aufwertung des Parlaments gegenüber der Regierung. Ein voll ausgebildetes parlamentarisches Regierungssystem ist nicht erforderlich.

D. Zwischenergebnis Allgemein attestierte Manfred Botzenhart der Revolutionsphase einen pragmatisch gehandhabten, improvisierten Parlamentarismus.1078 Ein Baustein in diesem Mosaik war die Enquête- und Untersuchungstätigkeit der Nationalversammlungen in Frankfurt und Berlin. In den revolutionären Volksvertretungen kamen sämtliche der in heutigen Aufzählungen genannten Enquête- und Untersuchungstypen vor.1079 Weder die deutsche noch die preußische Nationalversammlung blieben bei ihrer Tätigkeit in vormärzlichen Fremdinformationsformen stecken. Insbesondere beschränkten sie sich nicht auf interpellationsartige Auskunftsbegehren an die Adresse der Regierung oder Provisorischen Zentralgewalt, sondern griffen auf überraschend moderne Selbstinformationsinstrumente zurück. Der Märzrevolution ist im Ergebnis also weit mehr zu verdanken als bloß eine zwar bestimmtere, aber dennoch undifferenzierte Artikulation der Selbstinformationsidee. Das ein­leitende Zitat aus dem Bericht von Carl Fuchs in der Mannheimer Einquartierungsangelegenheit1080 charakterisiert zutreffend den revolutionären Umbruch in der Geschichte des parlamentarischen Selbstinformationsrechts. Nach den Fortschritten und den 1848/49 gesammelten Erfahrungen ließ sich die Uhr nicht wieder vollständig auf frühere konstitutionelle Verhältnisse zurückdrehen.

1078

M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 790. Vgl. nur M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 17 oder L. Brocker, in: Glauben/ ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 1 Rn. 34 ff. je m. w. N. 1080 s. 3. Teil. 1079

4. Teil

Süddeutsche Folgeentwicklungen „Es ist eine der größten Unfähigkeits- und Unwissenheits-­Sünden der bisherigen deutschen Ständeversammlungen, daß sie dieses natürliche, ja nothwendige Recht gar nie […] in Anwendung brachten.“ Robert v. Mohl im April 18481

1. Kapitel

Württemberg A. Die verfassungsrevidierende Landesversammlung (1849) Ende 1849 beanspruchte im Königreich Württemberg die verfassungsrevidierende Landesversammlung ein offensichtlich an § 24 GO-FNV 1848 angelehntes Enquête- und Untersuchungsrecht.

I. Vorgeschichte (1819–49) Dagegen bildete die „landständische Geschichte des ersten Jahrzehents nach gegründeter Verfassung“ mit H. Scherers zutreffender Beschreibung im liberalen Staatslexikon einen „Theil des trüben Gemäldes, worin sich damals der gesammte europäische Kontinent offenbarte“.2 Auf dem ersten Landtag wagte Anfang 1820 bloß eine kleine Minderheit der Zweiten Kammer um den oppositionellen Professor Friedrich List, der für sein politisches Engagement drangsaliert, aus der Volksvertretung entfernt und zur Emigration genötigt werden sollte,3 den Konflikt mit der Regierung.4 Nach der Julirevolution brachten die Wahlen im Dezember 1831 1

s. R. v. Mohl, Vorschläge GO FNV, 1848, S. 38. H. Scherer, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon XII2 1848, S. 819 f. 3 F. Raberg, BioHdbWürttLT, 2001, S. 515 f.; H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 484 ff. 4 Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch I2 1990, S. 383 ff. und H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 470 ff. auch zu der oppositionelleren Ersten Kammer. Aus zeitgenössischer Sicht H. Scherer, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon XII2 1848, S. 820. 2

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4. Teil: Süddeutsche Folgeentwicklungen

den Liberalen deutliche Gewinne. Bei den Neuwahlen nach der Auflösung der Zweiten Kammer, die – ähnlich wie die kurhessische Ständeversammlung – die „Sechs Artikel“ bekämpft und bundespolitische Mitspracheforderungen erhoben hatte, setzte die Regierung im Frühjahr 1833 auf Agitation und Wahlbeeinflussung.5 Erst Mitte der 1840er Jahre bescherten presserechtliche Lockerungen und verhältnismäßig freie Wahlen den Liberalen wieder ein Drittel der Wahlmandate.6 1848 musste König Wilhelm I. die Regierung unter massivem Druck der Volksvertretung und der Öffentlichkeit dem altliberalen Oppositionsführer Friedrich­ Römer anstelle seines Favoriten, des Juristen Joseph v. Linden, übertragen. Erst im September 1848 – das „Märzministerium“ nahm auf das Frankfurter Verfassungswerk Rücksicht und beabsichtigte dessen bedingungslose Anerkennung – wurde der bis in den August des Folgejahres tagende „Lange Landtag“ eröffnet.7 Kurz vor Toresschluss folgte Anfang Juli 1849 das Gesetz, betreffend die Einberufung einer Versammlung von Volksvertretern zur Berathung einer Revision der Verfassung.8 Bei den Wahlen erhielt das Ministerium Römer Anfang August 1849 mit dem deutlichen demokratischen Sieg die Quittung für die Zerschlagung des nach Stuttgart geflohenen Frankfurter Rumpfparlaments.9 Durch die Wiederherstellung des Deutschen Bundes, die König Wilhelm befürwortete, brach das Märzministerium Römer im Spätsommer und Herbst 1849 auseinander. Nach dem Rücktritt des Innenministers Duvernoy und des Finanzministers Goppelt ersetzte der König Friedrich Römer Ende Oktober durch seinen konservativen Vorgänger, den Juristen Johannes v. Schlayer.10 Der Verfassungsrevisionsversuch begann also Ende 1849 unter denkbar schlechten Vorzeichen.

II. Die Geschäftsordnung 7./22. Dezember 1849 Immerhin verfügten Demokraten und Liberale in der lediglich zwischen dem 1.  und 22.  Dezember 1849 tagenden verfassungsrevidierenden Landesversammlung über eine Mehrheit.11 Die parlamentarischen Zuständigkeiten erschöpften sich nicht in den „Abänderungen der Landes-Verfassung“, sondern umspannten „alle diejenigen Staatsgeschäfte, welche zu dem Wirkungskreise der Stände-Versammlung“ 5 Ausführlich H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 112 ff., 127 ff., 513 ff., 528 ff., 542 ff., 554 ff. und H. Scherer, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon XII2 1848, S. 820 ff. 6 Zum Ganzen B. Mann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 235 (281 f., 287, 295 f., 297, 299 f.). 7 B. Mann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 235 (300 ff., 306 ff.); H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 617 ff. 8 Zum Austritt Friedrich Römers die Mitteilung des Präsidenten Wilhelm Löwe (Calbe) vom 18.  Juni 1849 sowie den Namensaufruf in der letzten Sitzung der Frankfurter Nationalversammlung, Wigard, VerhFNV, S. 6841, 6880. 9 B. Mann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 235 (309 f., 312 f.). 10 B. Mann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 235 (312 f.) und zur Person Schlayers, S. 295 f. 11 Vgl. H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 618; B. Mann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 235 (310, 312).

1. Kap.: Württemberg

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gehörten, von der Regierung an sie gebracht oder von der Versammlung selbst mit Zweidrittelmehrheit für dringlich erklärt wurden. Das Juli-Gesetz enthielt Regelungen über die Konstituierung und Eröffnung der Landesversammlung, das freie und repräsentative Mandat ihrer Mitglieder sowie zu Details ihres Geschäftsgangs. Ergänzend blieb die Verfassungsurkunde von 1819 „[b]is zur Verabschiedung der neuen Verfassung […] in Kraft“ (Art. 2 Verf­Rev­LVG 1849). Innerhalb dieses normativen Rahmens überließ Art. 27 Abs. 7 Verf­Rev­LVG 1849 die „näheren Bestimmungen über die Geschäfts-Ordnung“ der Volksvertretung. Schon in der 2. Sitzung am 3. Dezember 1849 unterbreiteten zwei Linke, der Rechtsanwalt Karl August Fetzer und der Finanzrat Gustav Zeller, der Versammlung einen Reglementsentwurf,12 nach dessen § 24 Abs. 2 die Kommissionen zur „Bearbeitung der ihnen zugewiesenen Gegenstände“ dazu „befugt [sein sollten], von dem Gesammtministerium oder den einzelnen Ministern die Mittheilung von Aufschlüssen und Akten zu verlangen, auch die Minister einzuladen, entweder persönlich oder durch Bevollmächtigte ihren Sitzungen anzuwohnen“. Weiterhin sollten die Kommissionen das Recht erhalten, „sowohl von Mitgliedern der Versammlung als anderen Personen Eingaben, die sich auf die ihnen ertheilten Aufträge [bezögen…], anzunehmen, sowie erforderlichen Falls Zeugen und Sachverständige zur Aeußerung aufzufordern“.13 Zu den erklärten Vorbildern dieses Entwurfs gehörte außer § 36 GO-Württ­KAbg  1821, Tit. II § 29 Bay­Ed­SV  1818 und § 169 Württ­Verf­Urk 1819, die neben einem Verbot, Eingaben oder Mitteilungen anzunehmen, das Recht zur Rücksprache mit den Ministerien, das Ausschussverfahren im bayerischen Landtag sowie das Zutritts- und Rederecht der württembergischen Minister betrafen, auch § 24 GO-FNV 1848.14 Insoweit kommentierte der Abgeordnete August Ludwig Reyscher zu Recht, dass in den Reglementsentwurf „Erfahrungen […] sowohl bei der Nationalversammlung […] als in diesem Hause“ eingeflossen seien. Nach kurzem Disput über den Druck dieser Motion schloss sich das Plenum der Forderung Fetzers an, „eine Commission zu wählen und ihr den Entwurf mit dem Auftrage zuzufertigen, […] in kürzester Zeit Bericht darüber zu erstatten“.15 Während der Kommissionsbericht an diesen Informationsbefugnissen keinen Anstand nahm,16 erhob das Ministerium am 7. Dezember 1849 Widerspruch. Der faktische Chef des Oktoberministeriums, Innenminister Johannes v. Schlayer,17 betonte in den Beratungen, dass gegen das Recht der Ausschüsse, „von dem Gesammtministerium oder den einzelnen Ministern die Mittheilung von Aufschlüssen und Akten zu verlangen“, an sich nichts zu erinnern wäre. Es verstehe sich aber von selbst, „daß das Rechtsverhältniß dadurch nicht geändert“ werde. Zwar könne der Aus 12

s. die VerhVerfRevLV 1849, S. 8 ff. Hervorhebung nur hier. 14 Abdruck des Entwurfs in BeilVerfRevLV 1849, S. 58 ff. 15 VerhVerfRevLV 1849, S. 9 f. 16 BeilVerfRevLV 1849, S. 93 ff. 17 Zur Person Schlayers s. B. Mann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 235 (295). 13

450

4. Teil: Süddeutsche Folgeentwicklungen

schuss Informationen „[v]erlangen“, aber das „Ministerium [müsse…] darüber erkennen, ob es die Aufschlüsse und Akten geben [könne…] oder nicht“. Das Recht der Kommissionen, „erforderlichen Falls Zeugen und Sachverständige zur Aeußerung aufzufordern“, beanstandete der Jurist Schlayer ebenfalls, weil eine solche Befugnis „bisher nicht [bestanden habe] und […] im Wege der Geschäftsordnung nicht eingeführt werden“ könne. Offenkundig versuchte die Regierungsseite, ihr ausschließliches Recht, mit Dritten in Kontakt zu treten, in Übereinstimmung mit gängigen konstitutionellen Standards zu behaupten. Die Verteidigung des Entwurfs übernahm Karl August Fetzer. Indem er konzedierte, dass es einerseits dem Ministerium überlassen bleibe, ob und wieweit es einem Ersuchen um „Mittheilung von Aufschlüssen und Akten“ folge, und andererseits kein „Zwangsrecht gegen das Ministerium“ existiere, brachte er die Schwäche der damaligen interpellationsartigen Fremdinstrumente treffend auf den Punkt; eher hilflos wirkt der Zusatz, dass es den Ausschüssen „aber immer frei[stehe…], Anträge wegen solcher Akten bei der Versammlung zu stellen“. Sicherlich zum Ausgleich dieser informationsrechtlichen Schwäche trat der Demokrat Fetzer im Anschluss daran für das „natürliche Enquêterecht“ ein: Zu seiner Überzeugung musste „jeder Commission die Möglichkeit gegeben seyn  […], sich schriftliche oder mündliche Aeußerungen von Sachverständigen zu verschaffen“, um „dem ihr gegebenen Auftrage vollkommen [zu] entsprechen“. Freilich verfügten die Ausschüsse gegenüber Privatpersonen ebenfalls nicht über ein „Zwangsrecht“, sondern könnten „bloß wünschen, auffordern, aber Niemand zwingen, ihrer Aufforderung zu entsprechen“. Mit diesen Erklärungen gab sich der Innenminister zufrieden. Widerspruch forderte die aus heutiger Sicht zutreffende These des Staats- und Privatrechtlers August Ludwig Reyscher heraus,18 „daß die Ministerien zur Aktenmittheilung verpflichtet [wären…], wofern nicht höhere Rücksichten die Mittheilung“ verböten. „In die bloße Willkür [dürfe man…] die Sache nicht stellen“. Zur Widerlegung verwies Johannes v. Schlayer auf die Verfassungsurkunde, die „von dem Rechte der Ständeversammlung [spreche,] in den Fällen der §§ 36–38 Aufschlüsse zu verlangen“, ohne dass „von einem Rechte, Akten zu verlangen“,­ irgendwo die Rede wäre. Zu einer Entscheidung kam es in dieser Frage nicht, da Antragsteller Fetzer abwiegelte, dass die Aktenvorlage einerseits „ohne Zweifel bei den Verfassungsberathungen wieder an die Tagesordnung kommen“ werde und andererseits die „Commission[en] kein Zwangsrecht […] gegenüber der Regierung [haben sollten], so lange in der Verfassung nichts Anderes festgestellt“ sei.19 Das Reglement aber wurde in der beratenen Form am 7. Dezember beschlossen und trat zum 22. Dezember 1849 in Kraft.20 18 Laut J. Rückert, NDB XXI, 2003, S. 482 (483) gehörte August Ludwig Reyscher zu den Initiatoren und Organisatoren der Germanistenversammlung von 1846/47, war 1848 Teil­ nehmer des Vorparlaments, wurde 1851 nach Ulm strafversetzt und quittierte den Dienst. 19 VerhVerfRevLV 1849, S. 35 (Hervorhebung nur hier). 20 VerhVerfRevLV 1849, S. 44, 48.

1. Kap.: Württemberg

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Dieser Vorstoß der ersten Landesversammlung, in ihrer Geschäftsordnung ein Selbstinformationsrecht mit Auskunftsersuchen, Aktenvorlagerecht sowie Zeugenund Sachverständigenvernehmungen zu etablieren, war – bezieht man neben dem Normtext des § 24 GO-FNV 1848 auch das Gesetz über die Provisorische Zentralgewalt sowie die Praxis der Nationalversammlung in die Betrachtung mit ein – eindeutig dem Frankfurter Beispiel nachempfunden: So legte § 24 GO-Württ­LV 1849 den Kommissionen das Recht bei, „erforderlichen Falls Zeugen und Sachverständige zur Aeußerung aufzufordern“. Die interpellations- und zitierrechtlichen Befugnisse, „von dem Gesammtministerium oder den einzelnen Ministerien die Mittheilung von Aufschlüssen und Akten zu verlangen, auch die Minister einzu­ laden, entweder persönlich oder durch Bevollmächtigte ihren Sitzungen anzuwohnen“, gingen zwar über § 24 GO-FNV  1848 hinaus; der Paulskirchenversammlung stand ein vergleichbares Auskunftsrecht aber gegenüber den Ministern der Provisorischen Zentralgewalt durch § 10 Prov­Cen­tralgG 1848 zu. Außerdem hatten verschiedene Ausschüsse Minister zu ihren Sitzungen eingeladen, als Sach­ verständige gehört oder sogar an den Beratungen beteiligt.21 Weder in Frankfurt noch in Stuttgart handelte es sich um robuste Auskunfts- oder Aktenvorlagerechte, die im Konfliktfall tatsächlich hätten durchgesetzt werden können, sondern um interpellationsartige Befugnisse. Damit lag  – was Karl August Fetzer ausdrücklich einräumte – die Entscheidung, ob und inwieweit sie auf eine parlamentarische Anfrage einging, de facto im Ermessen der Regierung. Weiter konnte das autonome Recht der Versammlungen aber auch nicht gehen. – Eine weitere Präzisierung respektive Erweiterung gegenüber dem Frankfurter Reglement bestand darin, dass die Kommissionen nach § 24 GO-Württ­LV 1849 „sowohl von Mitgliedern der Versammlung als anderen Personen Eingaben, die sich auf die ihnen ertheilten­ Aufträge“ bezögen, annehmen dürfen sollten.22 Die Landesversammlung brach­ insoweit offen mit § 36 GO-Württ­KAbg 1821, der die Annahme von „Eingaben oder sonstigen Mittheilungen“ ausdrücklich verboten hatte. Getragen war diese beachtliche Anknüpfung an das Reglement und die Arbeit der deutschen Nationalversammlung von personellen Kontinuitäten: Mitverfasser des Stuttgarter Geschäftsordnungsentwurfs war Karl August Fetzer, der dem Frankfurter Reichsparlament bis auf die letzten Tage angehört hatte.23 Mit ihm waren verschiedene Veteranen der Frankfurter Geschäftsordnungskommission in die württembergische Landesversammlung eingezogen: Wilhelm Heinrich Murschel24 hatte gemeinsam mit Robert v. Mohl und Ludwig Schwarzenberg den Reglementsentwurf einschließlich des § 24 GO-FNV 1848 in die Nationalversammlung eingebracht.25 21 s. zu § 24 GO-FNV 1848 und der Praxis des Verfassungsausschusses 3. Teil 1. Kap. B. I. 2.  und II. 1. a). 22 s. BeilVerfRevLV 1849, S. 149. 23 Vgl. den Namensaufruf in der letzten Sitzung der Reichsversammlung bei Wigard, VerhFNV, S. 6880. 24 F. Raberg, BioHdbWürttLT, 2001, S. 596. 25 L. Schwarzenberg/R. v. Mohl/W. H. Murschel, Entwurf GO FNV, 1848.

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4. Teil: Süddeutsche Folgeentwicklungen

Der Altliberale Friedrich Römer hatte nicht nur der Geschäftsordnungskommission, sondern auch dem Verfassungsausschuss angehört, der seinerseits Sachverständige hingezogen hatte und für das große Vorbild des § 99 RVerf  1849 verantwortlich zeichnete. Moritz Mohl hatte als Mitglied des Volkswirtschaftlichen Ausschusses ausgedehnte Enquêten beobachten können.26 Außer diesen Abgeordneten gehörten der Stuttgarter Landesversammlung noch elf ehemalige Mitglieder der Paulskirchenversammlung an.27

III. Bewertung des § 24 GO-Württ­LV 1849 Mit § 24 GO-Württ­LV 1849 führte die erste Landesversammlung das parlamentarische Selbstinformationsrecht in das württembergische Staatsrecht ein. Indem die Abgeordneten von dieser neuen Befugnis ohne thematische Beschränkung zur „Bearbeitung der ihnen zugewiesenen Gegenstände“ Gebrauch machen können sollten, ist das erste Kriterium eines „echten“ Enquête- und Untersuchungsrechts nach dem Muster der Korollartheorie erfüllt. Nichts anderes gilt für den Aspekt­ unmittelbarer Selbstinformation, der sich insbesondere in dem Recht zu freiwilligen Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen realisierte.28 Wie revolutionär die neuen Befugnisse tatsächlich waren, offenbart ein Blick in die württembergische Verfassungsurkunde von 1819, die ausschließlich auf eine Fremdinformation der Volksvertretung durch die Staatsregierung setzte.29 Jeder Kontakt mit Dritten, also das Lebenselixier eines Enquête- und Untersuchungsrechts, galt als unzulässig.30 Ein Selbstinformationsrecht, wie es die Dezembergeschäftsordnung vorsah, war in der Verfassungsurkunde weder vorgesehen noch mit ihr vereinbar.31 Trotz der faktischen wie rechtlichen Schwächen der neuen Auskunftsmöglich­ keiten, die das württembergische Reglement mit seinem Frankfurter Pendant oder der Praxis der preußischen Vereinbarungsversammlung teilte, befreite sich die Landesversammlung wie die beiden großen deutschen Nationalversammlungen kraft ihrer demokratischen Sendung von überkommenen Bindungen.

26

H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 404 f. H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 411. 28 Zu den Anforderungen s. 1. Teil C. 29 s. 2. Teil 2. Kap. B. II. 2. 30 Vgl. R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 579 sowie S. 581 ff. Freilich forderte der Staatsrechtler S. 589 in Anm. 27) zugleich, dass diese Regel „nicht dahin ausgedehnt werde, daß es einer Kammer oder einer Commißion untersagt wäre, Privaten vor sich zu fordern, um sie über gewisse Gegenstände, gleichsam als Zeugen, zu vernehmen“. 31 Nicht anders verhielt es sich mit dem Reglement von 1821, das ungeachtet seines in § 76 GO-Württ­KAbg 1821 festgeschriebenen provisorischen Charakters bislang immer übernommen worden war. Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 463 f. in Fn. 3 sowie A. L. Reyscher (Hg.), WürttGSlg III, 1830, S. 196 ff., 208 f., 214 f., 224 zu Entstehung und Fortgeltung der Geschäftsordnung. 27

1. Kap.: Württemberg

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Über die Schaffung dieses Instruments hinaus ist aus der Zeit der württembergischen Verfassungsrevisionsversuche für das Enquête- und Untersuchungsrecht nichts weiter zu berichten. Obwohl sowohl die zweite als auch die dritte Landesversammlung das neu gesetzte Reglement einschließlich der revolutionären informationsrechtlichen Regelung adoptierten,32 kam es, schenkt man den Sach­ registern der Protokoll- und Anlagenbände Glauben, nicht zur Anwendung.

B. Der Streit um das Enquête- und Untersuchungsrecht Die revidierende Landesversammlung scheiterte an der namensgebenden Aufgabe, die Verfassungsurkunde von 1819 zu erneuern. Mit der alle Märzerrungenschaften ablehnenden Regierung Schlayer, die das liberale Ministerium Römer im Oktober 1849 abgelöst hatte, kam es zum Bruch.33 Auch die zweite und dritte Landesversammlung wurden unverrichteter Dinge aufgelöst. Statt der erhofften Verfassungsrevision Raum zu geben, desavouierte Joseph v. Linden,34 der als Innenminister die Regierung übernommen hatte, das Gesetz vom 1. Juli 1849, stellte die Konstitution von 1819 und die alte Geschäftsordnung wieder her und kündigte an, das „zum Wohl des Landes Erforderliche“ aufgrund von § 89 Württ­Verf­Urk 1819 durch eine Notverordnung vorzukehren. Obwohl das parlamentarische Intermezzo der Landesversammlungen mit diesem Coup beendet war, schwelte der Streit zwischen der Opposition und der Regierung, ob das Zweikammer­system mit dem Gesetz vom 1. Juli 1849 abgelöst worden wäre oder nicht, noch über zwei Dekaden.35

I. Prolog: Die Spaltung der Opposition in der Zweiten Kammer Am Vormittag des 7. Mai 1851 sagten in der ersten Sitzung der postrevolutionären Zweiten Kammer 18 Abgeordnete der Regierung den Kampf an und erklärten feierlich, „daß sie die Berufung der Ständeversammlung nach den Bestimmungen der Verfassungsurkunde von 1819 als eine berechtigte nicht anerkennen“ könnten, sondern „vielmehr das Gesetz vom 1.  Juli 1849 als […] gültig betrach[te]ten“.36 Einen Tag später sprachen sich etliche Landstände im gouvernementalen Sinne aus.37 Am folgenden Tag gaben 42 Abgeordnete zu Protokoll, „daß sie bei ihrem Ent 32

Bericht der Geschäftsordnungskommission, BeilWürtt2K 1909 CV, Beil. 372, S. 369 (412). B. Mann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 235 (309 f., 312 f.). 34 Überhaupt favorisierte der Minister eine Wiederbelebung des Deutschen Bundes mit gewissen Reformen und stand den Paulskirchenerrungenschaften ablehnend gegenüber. s. F. Menges, NDB XIV, 1985, S. 589 f.; E. Schneider, ADB LI, 1906, S. 719 ff. 35 B. Mann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 235 (312 ff.). 36 VerhWürttAbgK 1851, S. 5. 37 s. VerhWürttAbgK 1851, S. 13 f. mit der Antwort des Linken Adolf Schoder. 33

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4. Teil: Süddeutsche Folgeentwicklungen

schlusse, in die Kammer der Abgeordneten einzutreten, die Gründe, welche gegen einen solchen Schritt angeführt werden könn[t]en, vollständig gewürdigt“ hätten, es aber gleichviel für ihre Pflicht hielten, „gerade in den schwierigsten Verhältnissen dem Vaterlande sich nicht zu entziehen“.38 Diese Erklärungen spiegelten ebenso die Spaltung wie die künftigen Machtverhältnisse innerhalb der Opposition wider: Rund 20 entschiedenen Demokraten standen 35 bis 40 Liberal-Konstitutionelle gegenüber. Durch diese Front innerhalb der Volksvertretung kam es zu dem Kuriosum, dass das Ministerium ungeachtet der liberalen Kammermehrheit von Fall zu Fall ­Abstimmungsmehrheiten hinter sich versammeln konnte.39

II. Die Debatte über die Kommissionsbefugnisse Ungeachtet ihrer inneren Zwistigkeiten unternahm die Mehrheit einen Versuch, die Befugnisse der Kammer nach dem Vorbild des Reglements der ersten Landesversammlung auszuweiten. In der zweiten Sitzung am 8. Mai 1851 wurde die Wahl einer Druck- und Geschäftsordnungskommission beschlossen,40 in deren Namen der Generalsuperintendent von Schwäbisch Hall,41 Gebhard v. Mehring, sieben Tage später verkündete, dass man das 1849er Reglement zur Vorbereitung der Plenarberatung über die neue Geschäftsordnung verteilen wolle. „[I]ndem die Commission ihre Bemerkungen […] an die Geschäftsordnung der Landesversammlung anknüpfen“ könne, sei der „Druck eines besonderen Berichtes“ entbehrlich.42 Mit diesem Schritt wurde das im Nachgang der Märzrevolution geschaffene Reglement zu Ausgangspunkt und Grundlage der Beratungen. Am 17. Mai 1851 erstattete Eduard Süskind, ein linksliberaler Teilnehmer an den drei Landesversammlungen,43 der zu Beginn des Landtags zu den 18 Funda­ mentalprotestanten gehört hatte, für die Kommission Bericht. Zum Auftakt kapitelte der erst zwei Wochen zuvor wegen einer Strafversetzung aus dem Kirchendienst geschiedene evangelische Theologe44 das reanimierte Reglement von 1821 als „viel Ungenügendes und Mangelhaftes“ enthaltend ab. Im Gegensatz dazu habe sich die Geschäftsordnung der ersten Landesversammlung, in der sich die „gründlichsten Erfahrungen des parlamentarischen Lebens“ niedergeschlagen hätten, „als vorzügliches Hülfsmittel für Vereinfachung, für Klarheit, für Durchsichtigkeit und für Beschleunigung des Gangs der Verhandlungen bewährt“. Weil man 38

VerhWürttAbgK 1851, S. 26. B. Mann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 235 (321). Nachdem es Mitte der 1850er Jahre zu einer Annäherung beider Oppositionsflügel gekommen war, die in der Verweigerung höherer Ministergehälter gipfelte und eine Landtagsauflösung nach sich zog, schuf die Regierung Ende 1855 durch massive Wahlbeeinflussungen sichere Mehrheiten. 40 Vgl. VerhWürttAbgK 1851, S. 21. 41 F. Raberg, BioHdbWürttLT, 2001, S. 559. 42 VerhWürttAbgK 1851, S. 32. 43 F. Raberg, BioHdbWürttLT, 2001, S. 916. 44 F. Raberg, BioHdbWürttLT, 2001, S. 917. 39

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unglücklicherweise trotzdem mit der Rückkehr zu der Verfassung von 1819 wieder „auf die ältere Geschäftsordnung zurückverwiesen“ worden sei, schlug die Kommission vor, das Reglement der Landesversammlungen zu adoptieren.45 Während die Kammermehrheit auch die Übernahme des § 24 GO-Württ­LV 1849 befürwortete, bemerkte Innenminister Joseph Freiherr v. Linden in den Beratungen, dass der Passus, dass die Volksvertretung „von dem Gesammtministerium oder den einzelnen Ministern die Mittheilung von Aufschlüssen und Akten […] verlangen“ könne, bloß „cum grano salis zu nehmen“ wäre, weil allein die „Minis­ter […] zu erkennen [hätten], ob sie im Stande [seien…], diesem Ersuchen Statt zu geben“. Auf diesen bekannten Vorhalt, der nach gängigem konstitutionellen Staatsrecht die Hauptschwäche jedes interpellationsartigen Rechts ausmachte, entgegnete Berichterstatter Süskind, dass Karl August Fetzer diesem „Bedenken“ schon in der ersten Landesversammlung entgegengehalten habe, dass die Vorschrift „nicht anders verstanden [werden könne], als daß die Commissionen die Mit­theilung von Aufschlüssen und Akten begehren“ dürften; ob das Ministerium einem derartigen Ersuchen aber Folge leiste, „sey lediglich seine Sache“.46 Auch das Recht, parlamentsfremde Dritte anzuhören, stieß erneut auf Widerstand. Am 19. Mai 1851 betonte Innenminister v. Linden, dass – wie in der Landes­ versammlung angeklungen – die „Aufforderung, Zeugniß abzulegen oder zur Abgabe von Aeußerungen von Sachverständigen“, keinesfalls „irgend einen Zwang, eine Pflicht“ impliziere. Sicherlich vor dem Hintergrund konservativ-konstitutioneller Vorstellungen betonte der Jurist, dass den Kommissionen „keinerlei obrig­ keitliche Gewalt gegeben werden [dürfe], vermöge welcher sie irgend einen Unter­ thanen des Königreichs auffordern könn[t]en, Zeugniß zu geben, wie ihn die Obrigkeit auffordern“ könne. Auch in anderen Bundesstaaten unterliege ein parlamentarisches „Recht, Zeugen zur Aeußerung aufzufordern, überhaupt einigen Bedenken“: So seien die Ausschüsse des bayerischen Landtages „zwar befugt […], durch Vermittlung ihres Präsidenten das mündliche und schriftliche Gutachten von Sachverständigen zu erholen“. Von einer „Vernehmung von Zeugen“ sei dort aber keine Rede. Trotz dieser Bedenken lenkte Regierungskommissar v. Linden ein, dass, solange feststehe, „daß jetzt, wie früher, keine Pflicht zur Abgabe eines Zeugnisses hierunter verstanden“ werde, sich gegen diese Geschäftsordnungsbestimmung „wohl am Ende“ nichts einwenden lasse. Auch auf diese Bemerkungen hin zitierte der Berichterstatter der Geschäftsordnungskommission wieder Karl August Fetzer, der diese „Auffassung“ bereits in der Landesversammlung „im Wesentlichen“ zugestanden habe. Unbeschadet dessen müsse „jeder Commission die Möglichkeit gegeben seyn […], sich schriftliche oder mündliche Aeußerungen von Sachverständigen zu verschaffen, wenn sie […] dem ihr gegebenen Auftrage vollkommen entsprechen“ wolle. Die Kommissionen hätten „durchaus kein Zwangsrecht“, sondern könnten „bloß wünschen, auffordern, aber Niemand zwingen, ­ihrer 45

VerhWürttAbgK 1851, S. 53 f. (Hervorhebung nur hier). VerhWürttAbgK 1851, S. 66 (Hervorhebung nur hier).

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Aufforderung zu entsprechen“.47 Wie in der Landesversammlung ging es also lediglich um ein „natürliches“ Enquêterecht, dessen Zuschnitt der Korollartheorie analog den materiellen Befugnissen der Kammer entsprechen sollte. In der Schlussberatung nahm Innenminister v. Linden Ende Mai 1851 noch einmal zu dem Auskunfts- und Aktenvorlagerecht Stellung. Der konservative Politiker kritisierte, dass es sich mit der „Hauptfunktion“ des Geheimen Rats, den König zu beraten, „schwerlich vereinigen [lasse…], daß aus diesen Aktenstücken“ – „ohne die höchste Genehmigung Seiner Majestät“ – „Mittheilungen gemacht“ würden, und regte deswegen an, besser die Ministerien in die Pflicht zu nehmen, die „ihre Akten an den Geheimenrath ab[gäben]“ und mit seinem „Gutachten“ sowie der „Resolution Seiner Majestät“ wieder zurückerhielten. Mit diesem Vorschlag waren der Berichterstatter Eduard Süskind und die Kammer einverstanden.48 Schließlich machte Joseph Freiherr v. Linden noch die „reine Redaktionsbemerkung“, dass man statt von einem „Verlangen“ besser von einem „Ersuchen“ an die Regierung sprechen werde, und schlug für Zeugen und Sachverständige vor, „anstatt des Ausdrucks: ‚aufzufordern‘ den Ausdruck zu setzen: ‚zu veranlassen‘, […] um so das „Mißverständnis“ zu vermeiden, „als ob hier Zeugen und Sachverständige wie einer obrigkeitlichen Gewalt zu gehorchen hätten“.49 Gegen den ersten dieser Ratschläge opponierte Berichterstatter Süskind, dass absichtlich ein „etwas starker Ausdruck gewählt“ worden sei, um zu verdeutlichen, „daß die Kammer dem Ministerium nicht untergeordnet“ wäre. Gegenüber Zeugen und Sachverständigen sei das angeregte Verb „veranlassen“ wohl stärker als das bisherige „auffordern“, das nicht impliziere, „daß der Aufforderung entsprochen“ werde. Die angeregte Änderung laufe demgegenüber darauf hinaus, „was man zu Stande bringen [wolle…], wirklich auch [zu] erreichen“. Abweichend davon maß Joseph v. Linden dem „Veranlassen“ bloß die Bedeutung bei, „Gelegenheit dazu zu geben, eine Aeußerung der fraglichen Art in die Hände der Commission zu bringen“; das „Wort ‚auffordern‘“ schließe „nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch eine Verbindlichkeit“ mit ein. Nach der etwas spitzzüngigen Beteuerung, er beabsichtige keineswegs, sich „mit dem gelehrten Herrn […] in einen Streit über Stylistik […] einzulassen“, versicherte er „allein von dem Standpunkt der Geschäftssprache […], daß das […] proponirte Wort das der Sache angemessenere“ wäre. Den Bedenken des Berichterstatters zum Trotz folgte die „Mehrheit der Mitglieder“ beiden ministeriellen Änderungswünschen.50 Zum Streit kam es über die seit den 1820er Jahren schwelende Frage, ob das Reglement königlicher Bestätigung bedürfe.51 Gegen alle Versuche, zwischen auto 47

VerhWürttAbgK 1851, S. 78 f. VerhWürttAbgK 1851, S. 113 f. 49 VerhWürttAbgK 1851, S. 114. 50 VerhWürttAbgK 1851, S. 115. 51 Vgl. A. L. Reyscher (Hg.), WürttGSlg III, 1830, S. 197 f. Zur Entwicklung des Genehmigungsvorbehalts und dem Lavieren beider Seiten s. H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 177 f., 179 ff. s. auch den Bericht der Geschäftsordnungskommission, BeilWürtt2K 1909 CV, Beil. 372, S. 369 (412). 48

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nomer innerer und zustimmungsbedürftiger äußerer Geschäftsordnung zu differenzieren, bestand Innenminister v. Linden pauschal auf einem Genehmigungsrecht der Krone. Zur Beschwichtigung äußerte er aber die „persönliche Meinung“, „daß die Regierung [kaum] irgend einen Anstand bei der Geschäftsordnung finden“ könne. Am 26. Mai 1851 wurde das neue Reglement mit einer „an Stimmeneinhelligkeit gränzenden Mehrheit“ angenommen.52

III. Verwahrung der Regierung (1854) Eine Reaktion auf diesen Beschluss ließ gut drei Jahre auf sich warten. Erst durch Reskript vom 3. Juni 1854, das während der Vertagung der Kammer an den ständigen Ausschuss übermittelt wurde, erklärte Wilhelm  I., er vermöge „nicht nachzugeben  […], daß es den Commissionen […] erlaubt seyn soll[e], Zeugen und Sachverständige über den Gegenstand ihres Auftrags zur Äußerung zu veranlassen“. Den Beschwichtigungen seines Ministers v. Linden zuwider nahm der Monarch den konservativ-konstitutionellen Standpunkt ein, dass die Kammer etwa erforderliche „Notizen über erhebliche Thatsachen oder sachverständige Gutachten“ allein durch die „Vermittlung der Ministerien erwirken“ könne; auch werde es „nicht schwer fallen […], wünschenswerthe Erkundigungen noch auf anderem Wege einzuziehen“.53 Zu guter Letzt verteidigte der König sein Recht zur Genehmigung der Geschäftsordnung.54 Diesen antiquierten Positionen zum Trotz wurde das Recht der Kammer, die Minister um die Mitteilung von Aufschlüssen und Akten zu ersuchen, nicht zum Stein des Anstoßes. Ausschlaggebend dürfte der interpellationsartige Charakter dieser „Befugnis“ gewesen sein, der erklärtermaßen keine Pflicht des Staatsministeriums korrespondieren sollte. Die monarchischen Verwahrungen kamen in der Beratung des Rechenschaftsberichts des ständigen Ausschusses am 13.  Dezember 1854 kurz zur Sprache. Während die Genehmigungsfrage an die Staatsrechtliche Kommission verwiesen wurde, gingen die konkreten Beanstandungen an die Geschäftsordnungskommission.55 Keines dieser Gremien erstattete Bericht, bevor die Kammer am 20. August 1855 aufgelöst wurde.56 Später wurde die Angelegenheit nicht wieder aufgenommen.57 52

VerhWürttAbgK 1851, S. 102 ff., 108, 115. Abdruck der Geschäftsordnung in BeilWürtt­ AbgK 1851/52 I.1, Beil. 16, S. 35. 53 Abdruck des Reskripts im Rechenschafts-Bericht des ständischen Ausschusses in BeilWürttAbgK 1854/55 I.1, S. 5 unter 3). 54 BeilWürttAbgK 1854/55 I.1, S. 4. 55 VerhWürttAbgK 1854/55, S. 347. 56 VerhWürttAbgK 1854/55, S. 2157. 57 Vgl. das RegVerhWürttAbgK von 1854/55, S.  10 sowie den Bericht der Geschäftsordnungskommission BeilWürttAbgK 1862/65 I.3, Beil. 182, S. 2200.

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IV. Aufschub und Lösung des Konflikts (1854–74) Auch in den kommenden Jahren wurde der schwelende Konflikt nicht ausge­ räumt. Die Kammer bestätigte ihr Reglement trotz des monarchischen Widerspruchs in den Jahren 1856, 1862 und 1868 zu Beginn der jeweiligen Legislaturperioden, ohne dass die Regierungsseite versuchte hätte, ihre Abänderungsforderungen durchzusetzen.58 Der Streit um die Genehmigungsbedürftigkeit wurde 1874 dadurch beigelegt, dass den Kammern durch Gesetz „innerhalb der verfassungsmäßigen Schranken“ Geschäftsordnungsautonomie gewährt wurde.59 Der Passus zu Zeugen und Sachverständigen in dem Reglement vom Juni 1875 blieb daraufhin von der Regierung unbeanstandet,60 obwohl doch das grundsätzliche „Problem“, ob der Kammer ein Kontakt zu parlamentsfremden Dritten gestattet werden könne, keineswegs von ihrer Geschäftsordnungsautonomie abhing. Ungeachtet des bis dahin bestehenden Schwebezustandes gingen die Abgeordneten von einem Recht aus, sich durch unmittelbare Erkundigungen über einen Sachverhalt zu informieren. Z. B. trat der linksliberale Jurist Friedrich Rödinger am 19. Februar 1855 für eine Enquête über die Form des Strafvollzugs ein. Zwar bedauerte der Paulskirchenveteran, der in Frankfurt dem links stehenden Deutschen Hof angehört hatte, dass man „in der Kammer seit der Abänderung der­ Geschäftsordnung das Recht der Enquêten nicht mehr“ habe. Dennoch verlangte er, wenn die Regierung einem entsprechenden Wunsch keine Folge leiste, eine eigene Enquête zu beschließen. Zu diesem Zweck habe die Kammer die „beiden Referenten“ nach Bruchsal und München „zu senden, um die Anstalten ein­zusehen“ und sich bei den Anstaltsleitern über ihre „Erfahrungen“ zu erkundigen.61 Acht Tage auf diese eigenwillige Rede folgte der „Antrag […] auf Abordnung der beiden Referenten über den Gesetzesentwurf wegen Einführung des Zellensystems […] zur Besichtigung der Gefängnisse in Bruchsal, München und St. Gallen und zur Vergleichung ihrer Resultate“ mit dem württembergischen „Gefängnißwesen“.62 In den schriftlichen Motiven klagte der Antragsteller ganz im Sinne einer Sachstands-

58

H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 182 f. H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 183. 60 Gleichwohl betont O. Sarwey, WürttStaatsR II, 1883, S.  231, dass den Kammern nicht das „Recht zu[stehe], Zeugen und Sachverständige zur Vernehmung […] vorzufordern und vor der Versammlung oder durch Kommissarien zu Protokoll zu vernehmen“. Mit ihrer Befugnis gemäß § 56 GO-Württ2K 1875, „erforderlichenfalls Zeugen und Sachverständige zur Aeuße­ rung zu veranlassen, [sei…] jedenfalls keine Pflicht der Einzelnen, der Aufforderung Folge zu leisten, verbunden“. 1909 forderte der Geschäftsordnungsausschuss bloß noch das Recht der Kommissionen, „das Staatsministerium und die einzelnen Ministerien um Mitteilung von Aufschlüssen und Akten zu ersuchen, die Ministerien um Einleitung von Erhebungen durch Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen anzugehen, auch die Minister einzuladen, persönlich oder durch Bevollmächtigte ihren Sitzungen anzuwohnen“ (s. § 20 des Geschäftsordnungsentwurfs, BeilWürtt2K 1909 CV, Beil. 372, S. 369 (376)). 61 VerhWürttAbgK 1854/55, S. 607 (Hervorhebung nur hier). 62 VerhWürttAbgK 1854/55, S. 687. 59

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oder gesetzesvorbereitenden Enquête, dass die Abgeordneten, obwohl sie einem der „Faktoren der Gesetzgebung“ angehörten, überwiegend „weder mit der Literatur über das Gefängnißwesen“ noch mit dem Zustand der „einheimischen Gefängnisse“ vertraut seien. Weil sich keinesfalls „alle Mitglieder“ die erforderliche „eigene Anschauung […] verschaffen könn[t]en“, solle man die „Referenten […] beauftragen und in den Stand […] setzen, sich dieser umfassenden Arbeit zu unterziehen“. Dass es sich um eine offizielle Enquête der Kammer handeln sollte, deutete sich in der Forderung an, ihnen „während der Reise neben den Diäten […] Ersatz ihrer baaren Auslagen zu verwilligen“ und das Justizministerium zu ersuchen, sie „mit Regierungsempfehlungen zu versehen“.63 Zu einem Bericht der Justizkommission über diesen Antrag kam es nicht mehr;64 am 2. August 1855 verfiel er durch Kammerauflösung der Diskontinuität.

V. Bedeutung für die weitere Entwicklung Trotz eines Einspruchs der Regierungsseite und Kritik des Königs versuchte die württembergische Kammer der Abgeordneten das Recht, freiwillige Zeugen und Sachverständige anzuhören, auch nach der Revolution zu behaupten. Die Gründe des verhaltenen Widerstands der gouvernementalen Seite deuten an, dass es sich bei § 21 Abs.  2 Satz  2 GO-Württ­KAbg  1851 tatsächlich um ein unmittelbares Selbstinformationsrecht handelte. Dafür spricht auch der Vorstoß Rödinger Mitte der 1850er Jahre, der zugleich verdeutlicht, dass es jedenfalls um ein Instrument zur Sachstandserhebung und Gesetzesvorbereitung ging. Eingedenk der erkennbaren Frankfurter Erbschaft dürften sich die Auskunfts- und Vernehmungsrechte des § 21 Abs. 2 GO-Württ­KAbg 1851 aber ebenfalls zur politischen Kontrolle der Exekutive geeignet haben. Entsprechend charakterisierte der führende Linksliberale Julius Hölder diese Geschäftsordnungsbestimmung in der Verfassungsreformdebatte der 1860er Jahre.65 War ein versatiles freiwilliges Enquête­recht Mitte des 19. Jahrhunderts eine revolutionäre Novität, die mit dem weiten Verständnis der exklusiven Exekutive des Monarchen aufgrund des „monarchischen Prinzips“ kollidierte, klagte der Zentrumspolitiker Adolf Gröber als Berichterstatter des württembergischen Geschäftsordnungsausschusses 1909 zu Recht, dass freiwillige Zeugen und Sachverständige ein „unvollkommenes Mittel zur Erforschung der Wahrheit“ seien.66 Mit ähnlichen Gründen hatte Julius Hölder 1865 die Notwen 63

BeilWürttAbgK 1854/55 I.1, Beil. 122, S. 528 (529). Vgl. Register über die VerhWürttAbgK von 1854–1855, S. 26 („Zuchthausstrafe“) und zur Verweisung VerhWürttAbgK 1854/55, S. 699. Als der Justizminister den Bericht über die Zellenhaft Mitte Juli anmahnte, warf Kommissionsberichterstatter Franz Weber der Staatsregierung vor, dass sie den Ausschuss nicht mit Informationen über die „Erfahrungen in andern Ländern“ versorgt habe; andernfalls würde der Bericht nicht so viel Zeit erfordern (VerhWürtt­ AbgK 1854/55, S. 1977 f.). Friedrich Rödingers Enquêteantrag kam nicht zur Sprache. 65 VerhWürttAbgK 1862/65, S. 3052. 66 Bericht der Geschäftsordnungskommission, BeilWürtt2K 1909 CV, Beil. 372, S. 369 (458 f.). 64

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digkeit einer Verankerung des Enquête- und Untersuchungsrechts in der Verfassung begründet.67 Ein anderes Manko stellte das Ermessen der Regierung in der Frage dar, ob und wieweit auf parlamentarische Auskunfts- und Aktenvorlage­ ersuchen einzugehen wäre. Wenigstens eine dieser Schwächen teilten sämtliche parlamentarischen (Selbst-)Informationsrechte aus der Zeit des deutschen Konstitutionalismus mit dem Enquête- und Untersuchungsrecht der württembergischen Abgeordnetenkammer.

C. Der Gesetzentwurf über die ständische Gesetzesberatung (1854) Kurz vor dem Reskript vom Juni 1854 leitete die Regierung dem ständigen Ausschuss einen Gesetzentwurf68 zu, der für die Beratung „umfangreicherer oder solcher Gesetzentwürfe, deren Prüfung besondere Fachkenntnisse voraussetzt[e]“, auf Antrag des Gouvernements die Niedersetzung besonderer Kommissionen vorsah (Art.  1). Obwohl diese Vorlage kein parlamentarisches Selbstinformationsrecht enthielt, verdient sie als konservativer Gegenentwurf gegenüber dem weit fortschrittlicheren bayerischen Gesetz, die Behandlung neuer Gesetzbücher betreffend, vom 12.  Mai 1848 bzw. dem späteren Gesetz über den Geschäftsgang vom 25. Juli 1850 Erwähnung.69 Statt eigenständigen Informationsmöglich­keiten der Kammer sah der württembergische Entwurf in Art.  6 vor, dass die „Minister […] zur Theilnahme an den Verhandlungen der Commissionen in Person oder durch stellvertretende Regierungscommissäre einzuladen“ wären. Diese Regelung wich trotz ihres scheinbar unverfänglichen Wortlauts von der Regel des § 169 Satz 3 Württ­Verf­Urk 1819 ab, dass Minister an den Kommissionsberatungen nur „im Fall einer ausdrücklichen Einladung“ teilnehmen durften. Die Entwurfsbegründung rechtfertigte den mit der Einladungspflicht verbundenen Einschnitt in die parlamentarische Autonomie mit der „Natur der Sache“, „indem schon vorweg nicht wohl denkbar [wäre…], wie die Einzelberathung eines Gesetzes ohne manchfache mündliche, von Seiten der Organe der Regierung während der Berathschlagung zu ertheilende Erläuterungen zu Ende geführt werden [solle…], gleichviel ob diese Berathschlagung in dem Sitzungszimmer der Commissionen oder in dem Ständesaal vor sich“ gehe. Einen gewissen Aufschluss über die eigentliche Stoßrichtung gewährte die beiläufige Feststellung, dass „andern Falls der Regierung die Gelegenheit zur Vertheidigung eines eingebrachten Gesetzentwurfes gegen die dagegen vorgebrachten Einwendungen entzogen“ wäre.70 Letztlich schei 67

VerhWürttAbgK 1862/65, S. 3052 f. Vgl. die Mitteilung im Rechenschafts-Bericht des ständischen Ausschusses in BeilWürtt­ AbgK 1854/55 I.1, S. 3 unter 7) sowie S. 142 ff. den Entwurf eines Gesetzes, betreffend die ständische Be­ra­thung von Gegenständen der Gesetzgebung, vom 31. März 1854. 69 s. 4. Teil 2. Kap. A. und B. 70 BeilWürttAbgK 1854/55 I.1, S. 145. 68

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terte dieser Entwurf, der nur dazu diente, die Einflussmöglichkeiten der Regierung auf die Gesetzgebungsarbeit der Kammer auszubauen, an deren Widerstand.71­ Moritz Mohl polemisierte am 23. November 1854 gegen den gouvernementalen Versuch, „die Verfassung in Wirklichkeit auf[zu]heben, sie zu einem leeren Spiele [zu] machen“, mit dem „die freie Erörterung in den Ständen abgeschnitten und der Schwerpunkt der Verhandlungen in die […] bei verschlossenen Thüren tagenden Kommissionen gelegt und […] die Ständeversammlung eigentlich bloß zu einer Abstimmungsmaschine“ herabgedrückt werden solle.72 Bemerkenswert aktuell erscheint der Einwand der Staatsrechtlichen Kommission, dass § 169 Satz 3 Württ­ Verf­Urk 1819 die Teilnahme von Regierungsvertretern an den Kommissionsberatungen beschränke, damit, „[w]ie die Organe der Staatsregierung in besonderen Sitzungen über Gesetzesentwürfe [berieten…], und dort ihre Ansichten sich bilden und ihre Beschlüsse fassen [könnten], je ohne eine Einwirkung von Seite der Stände, […] auch denjenigen Kammermitgliedern, welche zur Vorbereitung der Berathungsgegenstände, insbesondere Gesetzentwürfe, von den Kammern aufgestellt worden [seien…], die Gelegenheit gewährt [werden müsse…], vorerst in ihrem Kreise die Meinungen der Einzelnen von äußeren Einflüssen ungetrübt hervortreten zu lassen“.73 In der Tradition solcher Überlegungen steht der Gedanke, dass sowohl Bundestag als auch Bundesregierung über einen impermeablen Bereich eigener Verantwortung verfügen, der Ingerenz- und Informationsrechten der jeweils anderen Seite Grenzen zieht, um jedem Verfassungsorgan einen initiativen und delibera­tiven Arkanbereich zu verschaffen.74 Die heute zum Schutz der Re­ gierung bekannte Figur eines „Kernbereichs an Eigenverantwortung“ wurde also gewissermaßen mit umgekehrtem Vorzeichen von der strukturell unterlegenen parlamentarischen Seite ins Feld geführt. Mit dieser Intervention verteidigte die Kammer das Prinzip. Aufgrund der Gebrechen der konstitutionellen Geschäftsordnung konnten umfangreiche Gesetz­ entwürfe in der Folgezeit de facto bestenfalls mit allerlei Tricks bewältigt werden.75 Dem Regierungsvorschlag lag nach Hartwig Brandts Urteil tatsächlich Joseph v. Lindens Absicht zugrunde, „den parlamentarischen Betrieb zu diszi­ plinieren“, indem die Regierung jeden Gesetzentwurf fortan der öffentlichen Be 71 Die Regierung zog den Entwurf während der Vertagung unter dem 6. Februar 1855 gegenüber dem Ausschuss zurück. Vgl. die Note an die Kammer der Standesherrn vom 13. Dezem­ ber 1854 sowie die Adresse vom Vortag (BeilWürttAbgK 1854/55 I.1, Beil. 44, 45, S. 350) und den ablehnenden Bericht der Staatsrechtlichen Kommission vom 17. Oktober 1854 (Beil. 43, S. 330 ff.), das Vertagungs-Reskript sowie den Bericht des ständischen Ausschusses von der Zurücknahme (BeilWürttAbgK 1854/55 I.1, Beil. 79, S. 400, Beil. 80, S. 403 unter § 4). 72 VerhWürttAbgK 1854/55, S. 27, 30. 73 BeilWürttAbgK 1854/55 I.1, Beil. 43, S. 345. 74 Vgl. P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 48 ff. und insbesondere zum Schutz der Exekutive M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 40 oder krit. M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 27. 75 Vgl. H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 237 ff. Etwa wurde die Kammer auf längere Frist „vertagt“, um dem Ausschuss eine ausführliche Vorberatung zu ermöglichen.

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ratung in den Landständen hätte entziehen können. Dass der Anwendungsbereich dieser verfassungsdurchbrechenden Regeln mit dem kryptischen Erfordernis „besondere[r] Fachkenntnisse“ dem diskretionären Ermessen der Regierung über­ antwortet gewesen wäre, hätte – wie Moritz Mohl zu Recht befürchtete – zu einer weiteren Entmachtung des Parlaments missbraucht werden können.76

D. Thronwechsel und Verfassungsreformforderungen (1864/65) Nach dem Tod seines Vaters Wilhelm I. im Juni 1864 unterzeichnete sein Sohn Karl vor dem ständigen Ausschuss die feierliche Urkunde mit dem Verfassungseid.77 König Karl  I. war liberalen Forderungen gewogener als sein Vorgänger. Schon im September 1864 ersetzte er den Freiherrn v. Linden, der die Geschicke Württembergs seit 1850 gelenkt hatte, durch den gemäßigten Liberalen Friedrich Gottlob Karl v. Varnbüler. Am Heiligen Abend restituierte Karl gar die Presse- und Vereinsfreiheit in den Grenzen der alten Landesgesetze.78 Am 28.  März des folgenden Jahres brachten 41 Abgeordnete um den Links­ liberalen Julius Hölder einen „Antrag auf Verfassungsrevision“ ein, der u. a. das „Recht des Gesetzesvorschlags“ sowie der „Erhebung von Thatsachen (enquête)“ vorsah.79 Für die Initiativrechtsforderung führte der Rechtsanwalt und Mitbegründer der württembergischen „Fortschrittspartei“ Hölder80 Anfang April 1865 ins Feld, dass man die Ständeversammlung nicht mehr auf ein bloßes Gesetzespetitionsrecht beschränken könne. Auf einer Linie mit diesem Eintreten für eine stärkere Beteiligung lag die Begründung für das parlamentarische Selbstinformationsrecht, dass es sich um ein für die Ständeversammlung „ganz wichtiges Recht [handele], um das Material für ihre Anträge an die Regierung, seien es Beschwerden, Wünsche oder Gesetzesvorschläge, jederzeit mit Sicherheit zu gewinnen“. Angesichts dieser Enumeration zielte die Forderung unbestreitbar auf ein Enquête- und Untersuchungsrecht, das insbesondere auch zur Auseinandersetzung mit der Regierung bestimmt sein sollte. Im zeitlichen Kontext der kürzlichen Wahlmanipulationsuntersuchung des preußischen Abgeordnetenhauses exemplifizierte der Linksliberale das Fehlen eines solchen Rechts sicherlich nicht von ungefähr ausgerechnet 76

Zum Schicksal des Entwurfs H. Brandt, Württ. Parlamentarismus, 1987, S. 279 ff. BeilWürttAbgK 1862/65 I.3, Beil. 132, S. 1862. 78 E. Naujoks, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 333 (334 f.) sowie ferner H. Fenske, S. 1 (17) sowie B. Mann, S. 235 (329). s. die Verordnung, betreffend die Presse und das Vereinswesen, WürttRegBl 1864, No. 25, S. 226 f. 79 s. den Antrag in VerhWürttAbgK 1862/65, S.  2964 ff. sowie die Zusammenfassung der Forderungen in BeilWürttAbgK 1862/65 I.5, Beil. 401, S. 3756 ff. mit Berichtsentwürfen der Referenten. 80 s. B. Mann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 235 (327 ff.) sowie zur weiteren Entwicklung bis zur Spaltung des „Fortschritts“. 77

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an dem ­provokanten Beispiel von „Beschwerden wegen ungesetzlicher Wahlbeeinflussung“, denen man mit Hilfe der begehrten Befugnis durch „Commissäre […] an Ort und Stelle“ auf den Grund gehen könne. Als Vorteil einer verfassungsrechtlichen gegenüber einer Regelung in der Geschäftsordnung stellte er heraus, dass eine „Pflicht der Staatsbürger“ begründet werden könne, „sich [den landständischen…] Commissären zu stellen und ihnen die erforderliche Auskunft zu geben“; jeder Bürger könne verpflichtet werden, „nöthigenfalls unter Belegung mit einem Eid für die Wahrhaftigkeit seiner Angaben diese zu machen“. Außerdem forderte Julius Hölder das Recht, „die Vorlegung von Urkunden, soweit sie nicht Staatsgeheimnisse [beträfen …], von allen denjenigen zu verlangen, welche solche in der Hand [hätten …], vorausgesetzt, daß aus denselben nach der Ansicht der Kammer Auskunft über Thatsachen entnommen werden [könnten…], deren­ Ermittlung von Wichtigkeit“ sei.81 Berichterstatter der Spezialkommission, der die Reformforderungen zur Berichterstattung überwiesen worden waren,82 war Martin Joseph Mack, der in den ersten beiden Landesversammlungen dem Verfassungsausschuss angehört hatte.83 In seinem schriftlichen Votum kritisierte der katholische Theologe, der seine Professur wegen der Gemischtehenfrage verloren hatte, ebenfalls, dass nicht mehr einzusehen wäre, „warum den Ständen der Gesetzesantrag [in Form einer Petition] zugestanden sein, der Gesetzentwurf aber verwehrt bleiben“ solle. Eine Verletzung des „monarchischen Prinzips“ stellte er in Abrede, weil der Grundsatz, „daß der König alle Rechte der Staatsgewalt in sich vereinige“, durch sein Sanktionsrecht gewahrt bleibe. Ebenso wenig überschreite die Volksvertretung den „Kreis ihrer Obliegenheit“, an der „Gesetzgebungsgewalt durch ihre Einwilligung mitzuwirken“.84 Im Vorgriff auf das geforderte Enquête- und Untersuchungsrecht betonte der Referent unter Berufung auf Robert v. Mohl, dass das „erweiterte Maß von Sachkenntniß, welches die Ausübung der ständischen Initiative [verlange, …] der Gesetzgebung nur förderlich sein“ könne.85 War der Heidelberger Staatsrechtler Mohl so schon beiläufig zum Kronzeugen des ständischen Initiativrechts geworden, bestand das Plädoyer des Juristen und späteren Mitbegründers der württembergischen Nationalliberalen („Deutschen Partei“)86 Oskar Wächter für das „Recht der Erhebung von Thatsachen (Enquête)“, das er wie der Antragsteller nach dem Klischee der Korollartheorie als „wesentliche Voraussetzung für die gehörige Ausübung des Gesetzesvorschlags […] und […] überhaupt von der größten Wichtigkeit für eine gründliche Behandlung der ständischen Geschäfte“ qualifizierte, weitgehend aus einem Langzitat aus der „Politik“ des renommier 81

VerhWürttAbgK 1862/65, S. 3052 f. VerhWürttAbgK 1862/65, S. 3056. 83 F. Raberg, BioHdbWürttLT, 2001, S. 531. 84 BeilWürttAbgK 1862/65 I.5, Beil. 401, S. 3773 f. 85 BeilWürttAbgK 1862/65 I.5, Beil. 401, S.  3774 unter Hinweis auf R. v. Mohl, WürttStaatsR I2 1840, S. 621 Anm. 1). 86 F. Raberg, BioHdbWürttLT, 2001, S. 963. 82

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4. Teil: Süddeutsche Folgeentwicklungen

ten Staatsrechtlers.87 Trotzdem fiel der Bericht „zahmer“ als Julius Hölders Antragsbegründung aus, indem der Enquêteaspekt stärker in den Vordergrund rückte. Wächter forderte, dass der Gesetzgeber nicht nur ein „vollkommener Rechtsgelehrter“ sein, sondern ebenso „die Thatsachen kenne[n müsse], für welche er Gesetz geben“ wolle. Trotz dieser Hervorhebung der sachlichen Vorbereitungsfunktion eines Selbstinforma­tionsrechts, fehlte auch eine Spitze gegen die Regierung nicht: Der Rechtskonsulent Wächter zitierte aus Robert v. Mohls Kapitel über die „Abfassung der Rechtsgesetze“ ausgerechnet die Passage, dass „nur ein un­ verständiger Hochmuth der Regierenden […] annehmen [lasse], daß die Kenntniß jener Bedürfnisse ohne weiteres und immer den höchsten Behörden des Staates beiwohne“. Der Gesetzgeber müsse „die Erfahrungen und Ansichten wohlmeinender und unterrichteter Männer auch außer seinem unmittelbaren Kreise […] vernehmen“. Eine Auswertung des Schrifttums reiche insoweit nicht aus. Vielmehr sei eine „regelmäßig[e], absichtlich[e] und planmäßig[e]“ Erhebung geboten, nach englischem Vorbild durch „theils mündliche Zeugenaussagen, theils schriftlich erhaltene Nachweisungen“ veranstaltet, wobei in aller „Regel […] die persönliche Vernehmung von Sachverständigen“ vorzuziehen sei. Bei der Auswahl dieser Sachverständigen müssten „alle Gattungen von Personen“ berücksichtigt werden, die entweder über den „jetzigen Zustand des Rechts“ im Klaren oder mit den „thatsächlichen Bedürfnissen“ bestens vertraut seien. Schließlich habe man für die „verschiedene[n] Standpunkte“ die „tüchtigsten Stimmführer“ heranzuziehen. Modern wirkt die ebenfalls schon durch Robert v. Mohl vertretene These, dass man es zur „staats­bürgerliche[n] Pflicht“ erklären müsse, „solcher Vorladung zu folgen, und wahrheitsgetreue Aussagen zu machen“. „Handgelöbniß, wo nicht Beeidigung, [sollten…] die Wahrheitsliebe steigern“, Ungehorsam bestraft werden. Ebenfalls bedacht wurde ein „besonderer gesetzlicher Schutz […] gegen Verletzungen Dritter“. Die Aussagen sollten wörtlich niedergeschrieben und im vollen Wortlaut publiziert werden, um „wenigstens bei wichtigeren Gegenständen […] zur Hervorlockung weiterer Aufklärung von Seiten bisher nicht Gehörter“ beizutragen. Darüber hinaus galt die „Oeffentlichkeit der Sitzungen“ als Mittel „für die möglichste Herstellung der Wahrheit“.88 Diese Forderungen antizipierten mit Pflicht, Zwang, Eid und Öffentlichkeit einen beachtlichen Teil der Wesensmerkmale des modernen ­Enquête- und Untersuchungsrechts des Art. 44 GG. Der Kommissionsbericht kam erst in der letzten Landtagssitzung am 18. August 1865 zur Beratung. Ohne sachliche Debatte machte sich die Kammer mit 73 ge 87 BeilWürttAbgK 1862/65 I.5, Beil. 401, S. 3774 f. Passagen entnommen aus R. v. Mohl, StaatsR, VölkerR, Pol. II/1, 1862, S. 535 ff. Außerdem hatte R. v. Mohl, WürttStaatsR I, 1829, S. 589 in Anm. 27) schon Jahrzehnte früher unter Hinweis auf England die Hoffnung geäußert, dass das Verbot, von privaten Dritten „Eingaben anzunehmen oder sie darüber zu vernehmen, nicht dahin ausgedehnt werde, daß es einer Kammer oder einer Commißion untersagt wäre, Privaten vor sich zu fordern, um sie über gewisse Gegenstände, gleichsam als Zeugen, zu­ vernehmen.“ 88 BeilWürttAbgK 1862/65 I.5, Beil. 401, S. 3774 f.

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gen fünf Stimmen den Kommissionsvorschlag zu eigen, „den Antrag der 41 Abgeordneten vom 28. März d. J. der K. Staatsregierung zur Berücksichtigung [zu] übergeben“.89 Weder Innenminister Ernst v. Geßler noch der Vizepräsident der Kammer der Standesherrn, Friedrich Fürst v. Waldburg zu Wolfegg und Waldsee, gingen in ihren Reden auf die Verfassungsreformfrage ein.90 Nicht besser erging es diesem Anliegen in der Folgezeit: Obwohl König Karl I. den Liberalen in der Presse- und der Frage der Vereinsfreiheit entgegengekommen war, überging er die verfassungspolitischen Wünsche schlicht.91 So sollte es bis 1874 dauern, bis die Kammer der Abgeordneten endlich das Recht der Gesetzesinitiative erhielt; eine Reform ihrer Zusammensetzung ließ noch bis zum Anfang des 20. Jahrhundert auf sich warten.92 Trotz dieses Scheiterns verdienen die Forderungen eines robusten Selbstinformationsrechts Beachtung: In enger Anlehnung an die zeitgenössische Wissenschaft wurden bemerkenswert moderne Konzepte entwickelt, die heute noch ­aktuelle Elemente in den Vordergrund rückten. Thematisch wurde der Enquêtemit dem Untersuchungsrechtsgedanken vereinigt, indem die neue Befugnis sowohl der Gesetzesvorbereitung als auch der Regierungskontrolle dienen sollte. Der Bruch mit vormärzlichen Traditionen wäre also perfekt gewesen. Bemerkenswert ist der enge zeitliche Zusammenhang der Reformforderungen mit dem preußischen Verfassungskonflikt, auf dessen Höhepunkt die Abgeordnetenkammer ausgerechnet Wahlmachinationen des Ministeriums Bismarck zum Gegenstand einer deutschlandweit Aufsehen erregenden Kontrolluntersuchung machte. So ist es möglicherweise kein Zufall, dass Julius Hölder für die Notwendigkeit eines Enquête- und Untersuchungsrechts ausgerechnet „Beschwerden wegen ungesetzlicher Wahlbehandlung“ ins Feld führte. Die württembergische Diskussion könnte also neben der eigenen geschäftsordnungsrechtlichen Vorgeschichte ein Stück weit durch das „Vorbild“ des Art. 82 PrVerf 1850 beeinflusst sein.

E. Fazit Die Württembergische Entwicklung zum Ende 1849 und in den 1850er Jahren verdeutlicht, welche Auswirkungen das parlamentarische Intermezzo der deutschen Nationalversammlung auf die Einzelstaaten haben konnte. Die Wurzeln der geschäftsordnungsmäßigen Informationsbefugnisse der Landesversammlungen, die die Zweite Kammer in den 1850er Jahren gegen den Widerstand des Gouvernements verteidigte, führen personell wie sachlich eindeutig nach Frankfurt am Main. Obwohl die Stuttgarter Volksvertreter mit der Befugnis des § 24 GO-Württ­

89

VerhWürttAbgK 1862/65, S. 4771, 4773. VerhWürttAbgK 1862/65, S. 4781 f. 91 B. Mann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 235 (330). 92 H. Fenske, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 1 (17). 90

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LV  1849 anscheinend nicht allzu viel anzufangen wussten  – die Stichwortverzeichnisse der Protokollausgaben aller drei Landesversammlungen fördern keinen Fall zutage, in dem das Enquête- und Untersuchungsrecht praktisch geworden wäre –, verteidigte die Zweite Kammer die neugewonnene informationsrechtliche Selbständigkeit nach dem Scheitern der Märzrevolution gegen die Regierung. Die strafvollzugspolitische Episode von 1855 zeigt, dass die Kammer anscheinend wenigstens von dem Bestehen eines Enquêterechts ausging. Mitte der 1860er Jahre wird eine deutliche Weiterentwicklung der parlamentarischen Desiderate in Richtung eines modernen Selbstinformationsrechts deutlich, indem das „Recht der Erhebung von Thatsachen (Enquête)“ neben der Gesetzesinitiative zu den zentralen Verfassungsreformforderungen der Liberalen gehörte. Zur Begründung berief man sich nicht auf die Praxis der revolutionären Parlamente, sondern auf Robert v. Mohls Gedanken zur Gesetzesvorbereitung. Gleichwohl richteten sich die Forderungen nicht „nur“ auf ein Enquêterecht, das als unmittelbares parlamentarisches Selbstinformationsrecht ohnehin mit den Vorgaben des „monarchischen Prinzips“ und den aus dieser Maxime abgeleiteten informationsrechtlichen Grundregeln gebrochen hätte, sondern ebenso auf ein „echtes“ politisches Untersuchungsrecht. Diese nach dem Muster der Korollartheorie doppelfunktionale Befugnis sollte, dies wäre ein weiterer Bruch mit monarchisch-konstitutionellen Kompetenzverteilungsmechanismen gewesen, durch Pflicht, Zwang und Eid verstärkt werden. Mit dem Scheitern dieses Vorstoßes blieb es bei den schwächeren, geschäftsordnungsmäßigen Befugnissen. Ungeachtet dessen kann die württembergische Reform­ diskussion als einer der weitgehend in Vergessenheit geratenen Wegbereiter des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts gelten.

2. Kapitel

Bayern A. Die Behandlung neuer Gesetzbücher Mit der Abdikation Ludwigs  I. nach der „Lola Montez“-Affäre93  – der Fortschrittspolitiker Louis Constanz Berger sprach von einem „Kehraus unter allge­ meinem Volksjubel, wie Deutschland nie etwas ähnliches gesehen“,94 – fiel seinem Sohn Maximilian II. die Aufgabe zu, die seinem Vater in der Krise abgerungenen Versprechungen einzulösen. Nach einem Regierungsrevirement Ende März 1848 brachte das Ministerium in der Folgezeit mit Hilfe der 1845 gewählten bürgerlichliberalen Kammermehrheit zahlreiche Reformen auf den Weg.95 Unter diesen Wer 93

Vgl. A. Kraus, in: HdbBayGesch IV/12 2003, S. 129 (224 ff.). L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 337. 95 W. Volkert, in: HdbBayGesch IV/12 2003, S. 237 (237 ff., 250 ff.); E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 505 ff.; K.-J. Hummel, München, 1987, S. 24 ff. 94

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ken befand sich auch das Gesetz, die Behandlung neuer Gesetzbücher betreffend, vom 12. Mai 1848,96 das eine Beratung umfangreicher Reformvorhaben in speziellen Gesetzgebungsausschüssen vorsah. Während eine ähnliche Regelung in Württemberg am Widerstand der Kammer scheiterte, wurde das bayerische Gesetz als „höchst wichtige Institution“ begrüßt, mit der ein „consequente[r] Fortgang der Gesetzgebungsarbeit“ und das „Zustandekommen weiterer Gesetzbücher über das bürgerliche Recht und das Verfahren in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten [als…] gesichert“ gelten könnten.97

I. Sachverständigenvernehmungen (Art. 8 Bay­Neu­GBG 1848) Vorausgegangen waren Ankündigungen, den „innern Zustand des Vaterlandes […] besonders in Betreff der Rechtsverwaltung“ durch neue „Gesetzbücher über das Verfahren in Civil- und Strafsachen, die Wechselordnung, das Polizei- und das Strafgesetzbuch“ sowie ein „allgemeines bürgerliches Gesetzbuch und ein Handelsgesetzbuch“ zu verbessern. Für diese Großvorhaben bedurfte die „Form der ständischen Berathung“ einer Modernisierung:98 Art. 11 f. Bay­Neu­GBG 1848 gestattete besondere vorberatende Ausschüsse, die auf königliche Verfügung außerhalb der Landtagssitzungen tagen durften. Diesen Gremien stand im Ansatz auch ein Enquêterecht zu, indem sie gemäß Art. 8 Abs. 3 Bay­Neu­GBG 1848 „sowohl im Einzelnen, als vereint, […] befugt [waren], auch Männer, welche nicht Mitglieder der StändeVersammlung, aber durch wissenschaftliches oder praktisches Vertrautsein mit der treffenden Materie bekannt [waren…], einzuberufen, und sie über bestimmte Fragen zu vernehmen“. Untersuchungsrechtliche Attribute, irgendeine Möglichkeit zu Regierungskontrolle oder -kritik, waren mit diesem informationsrechtlichen Instrument offenkundig nicht verknüpft. Vielmehr traf Art. 14 Bay­Neu­GBG 1848 Vorsorge gegen eine unerwünschte landständische Permanenz, indem die Ausschusstätigkeit ausdrücklich auf die speziell überwiesenen Reformwerke beschränkt wurde.

96 Schon Ende September 1847 hatten 21 Abgeordnete der Zweiten Kammer einen ent­ sprechenden Antrag auf „Vorlage eines Gesezentwurfs über die Behandlung neuer Gesetz­ bücher“ gestellt. In der Sache verlangten sie eine „zeitige Veröffentlichung der Entwürfe“ und ihre gemeinsame Beratung in „[v]erstärkte[n] Gesezgebungs-Ausschüsse[n]“ beider Kammern, damit „nicht allein die Wissenschaft, sondern auch die Erfahrung und das praktische Leben ihre Schätze beitragen [könnten, der…] Bau [der Reformgesetze] von tüchtigen Sachkennern geprüft und die einzelnen Theile in ein harmonisches Ganzes gefügt [würden…], damit jeder Verständige sich sagen [könne…], ob das Werk seinen Meister lobe“ (BeilBayAbgK 1847 I, Beil. V, S. 149 ff.). Zum Gang der Beratungen s. D. Götschmann, Bay. Parlamentarismus, 2002, S. 817 ff. 97 N. N., BayReform, 1862, S. 8 f. 98 BeilBayAbgK 1848 I, Beil. II, S. 9 f.

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II. Entstehungsgeschichte des Art. 8 Bay­Neu­GBG 1848 Der ursprüngliche Gesetzentwurf,99 den der liberale Pfälzer Jurist und Justizminister100 Karl Friedrich Heintz der Zweiten Kammer am 4. April 1848 unterbreitete,101 enthielt diese Regelung noch nicht. Auch in der Kammer wurden keine entsprechenden Forderungen erhoben.102 Stattdessen geht der „Zusatz rücksichtlich parlamentärer enquête“ auf einen Vorschlag Ludwig Krafft Karl Fürst v. Oettingen-­ Wallersteins in der Reichsrätekammer zurück. Der linksliberale Adelige, der von 1831–37 das Innenministerium versehen hatte, später wegen Zwistigkeiten ent­ lassen worden war, dann ab Ende 1847 als Minister des Auswärtigen und des Kultus dem berüchtigten „Lola-Ministerium“ vorgestanden hatte und Mitte März 1848 unter demütigenden Umständen demissionieren musste,103 begründete dieses Amendement „von vitaler Wichtigkeit“ mit der „Gediegenheit der englischen Gesetzgebung“, die „vorzüglich auf jenen umfassenden und gründlichen parla­ mentären Enquêten [beruhe…], welche den Gesetzesberathungen voranzugehen pfleg[t]en“.104 Das räumlich nähere, aber revolutionäre Frankfurter Beispiel erwähnte der Fürst nicht. Zwar beschwichtigte Justizminister Karl Friedrich Heintz, dass gegen diese Forderung nichts einzuwenden sei, fuhr aber fort, dass sich die Ausschussmitglieder schon immer „technische Kenntnisse aus andern Fächern […] oder statistische Notizen“ von sachkundigen Dritten hätten beschaffen können.105 Dieser verkappte Widerspruch gegen eine Befugnis der Ausschüsse stieß zu Recht auf Gegenwehr: Joseph Ludwig v. Armansperg verteidigte das Amendement damit, dass bisher kein „Fremder in den Ausschuß […] Zutritt“ habe, und der Freiherr v. Freyberg wendete ein, dass ein Ausschussmitglied, das versuche, Erkundigungen einzuholen, möglicherweise „entweder die Sache nicht genug aufgefaßt oder die Gabe nicht [habe…], die Sache vollkommen so mitzutheilen, wie sie ihm erklärt“ worden sei.106 Tatsächlich standen sich der Vorschlag Oettingen-Wallerstein und die Position des Justizministers antonym gegenüber: Ging es dem Antragsteller um ein Recht der Ausschüsse, sich in offizieller Eigenschaft an Sachverständige zu wenden, hatte der Minister anscheinend das vermeintlich „natürliche“ Recht ­jedes 99

BeilBayAbgK 1848 I, Beil. II, S. 5 ff. W. Volkert, in: HdbBayGesch IV/12 2003, S. 237 (247). 101 VerhBayAbgK 1848 I, S. 269, 270 f. 102 Vgl. BeilBayAbgK 1848 I, Beil. XI, S. 184. Zu Amendements s. VerhBayAbgK 1848 II, S. 45, 62. 103 Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S.  36 in Fn.  20, 436 f., 505 f.; A. Kraus, in: HdbBayGesch IV/12 2003, S. 129 (228); D. Götschmann, Bay. Parlamentarismus, 2002, S. 786 sowie zu Person und Werdegang K. Möckl, NDB XIX, 1999, S.  476; D. Götschmann, Bay. Innen­ministerium, 1993, S. 215 ff., 223 f. und ausführlich K. H. Zuber, Proletarier, 1978. 104 VerhBayRRK 1848 I, S. 352 f. 105 VerhBayRRK 1848 I, S. 355. 106 VerhBayRRK 1848 I, S. 357 f. 100

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Privatmannes im Sinn, sich durch Nachfragen bei Dritten zu informieren. Das vermeintliche Genügen solcher Privatauskünfte sollte parlamentarischen Enquêterechtswünschen noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entgegenhalten werden. Weil sich auf der Regierungsbank kein ernsthafter Widerspruch regte, nahm die Erste Kammer das Amendement Oettingen-Wallerstein trotzdem einstimmig an.107 Am 21. April 1848 passierte der Vorschlag, der sich, wie es der Würzburger Rechts- und Staatswirtschaftswissenschaftler Carl Edel ausdrückte, schon „durch seine Zweckmäßigkeit“ empfahl, den Ausschuss der Zweiten Kammer.108 Das Plenum trat diesem Votum am folgenden Tag ohne Diskussion einstimmig bei.109

III. Bewertung Um welche Art von Sachverständigen und Enquêten es ging, zeigt der unwidersprochene Wunsch des Reichsrats v. Freyberg, „daß Männer des Faches, des Handelsstandes, den Berathungen des Ausschusses in Gegenständen des Handels- und Wechselrechtes beiwohnen möchten, […] wenn sie auch nicht Mitglieder der Kammer“ seien.110 Das Amendement zielte also auf ein sachlich eng umgrenztes Recht der Gesetzgebungsausschüsse, zur Gesetzesvorbereitung Enquêten bzw. Anhörungen praktisch erfahrener Dritter zu veranstalten. Eine Beschränkung auf sachkundige Beamte und Regierungsvertreter, wie sie zumindest bis in den Vormärz üblicherweise bei „Anhörungen“ in den Kammern geherrscht hatte, war nicht intendiert. Trotz der Unmittelbarkeit der parlamentarischen Informa­ tionserhebung taugte diese Regelung nicht zur Regierungskontrolle, indem Art. 14 Abs. 1 a. E. Bay­Neu­GBG 1848 „jede andere Verhandlung“ als über die zu beratenden Reformvorschläge für „ohne Gültigkeit und Erfolg“ erklärte. Unbeschadet dessen erntete durch diese wenigstens auf die Gesetzgebung bezogene informa­ tionsrechtliche Wende auch der bayerische Landtag die Früchte der Jahre 1848/49. Eine interessante Fußnote ist, dass sich der „geistige Vater“ dieses Enquêterechts, der Fürst v. Oettingen-Wallerstein, nach seiner Entlassung als Minister mehr und mehr demokratischen Gedanken öffnete, bis er, aus der Ersten Kammer hinausgedrängt,111 im Sommer 1849 als gewählter Abgeordneter in die Volksvertretung einzog.112 Die Initiative für das relativ „harmlose“ Enquêterecht ging also von einem linksliberalen Politiker aus. In frühen Jahren hatte der Fürst außerdem 107

VerhBayRRK 1848 I, S. 359, 360 f. BeilBayAbgK 1848 I, Beil. XXIII, S. 319. 109 VerhBayAbgK 1848 II, S. 273. 110 VerhBayRRK 1848 I, S. 358. 111 s. das Ministerialrescript vom 10. Juli 1849, den Austritt des Herrn Fürsten Ludwig Kraft Carl von Oettingen-Oettingen und Oettingen-Wallerstein aus der Kammer der Reichsräthe betreffend, VerhBayRRK 1849 I, S. 11. 112 D. Götschmann, Bay. Innenministerium, 1993, S. 224 und ausführlich K. H. Zuber, Proletarier, 1978, S. 84 ff., 186 ff., 229 ff., 273 ff., 284 ff. 108

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ein gewisses Misstrauen gegen eine „Beamtenherrschaft“ als den „furchtbarsten aller Absolutismen“ geäußert.113 Dabei darf man zwar nicht überbewerten, dass er diese Abneigung ausgerechnet mit Max Weber, also dem „Erfinder“ des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts, teilte. Trotzdem fügt es sich ins Bild, dass v. Oettingen-Wallerstein den herrschenden Beamtenabsolutismus allgemein durch ein System ersetzen wollte, das erst statistische Erhebungen unternehme und dann die Ergebnisse publiziere, um so „[m]öglichst reichhaltige Gelegenheit für alle, dem Staatsdienste nicht angehörende Intelligenzen zu regelmäßiger Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten“ zu schaffen.114 Die Ignoranz der Bürokratie sollte einem offenen und diskursorientierten System weichen, in dem die Ständeversammlung eine zentrale Rolle eingenommen hätte. Zugleich sollte wenigstens auf dem Feld der Legislative zugunsten der Ständeversammlung mit der bisherigen informationellen Suprematie der Exekutive gebrochen werden. Die Gedanken v. Oettingen-Wallersteins weisen also keineswegs bloß äußerliche Parallelen mit Max Webers späteren Überlegungen auf, den Reichstag durch ein Enquête- und Untersuchungsrecht aus seiner „dilettantischen Dummheit“ zu befreien und zum zentralen Politikfaktor aufzuwerten.115

B. Das Gesetz über den Geschäftsgang vom 25. Juli 1850 Am 21.  September 1849 brachte die Regierung den Entwurf eines Gesetzes, den Geschäftsgang des Landtages betreffend, in die im Juli neugewählte Volksvertretung ein.116 Vorausgegangen war ein Versuch der vorherigen Kammer, die Geschäftsordnungsangelegenheit selbst in die Hand zu nehmen, nachdem der König ein Reformversprechen vom Januar 1848 nicht eingelöst hatte.117

I. Vorgeschichte: Antrag Kolb und Kommissionsentwurf (1849) In den Herbstwahlen 1848 errangen Linke und linkes Zentrum aufgrund einer Wahlrechtsreform vom Juni, die das allgemeine, indirekte Wahlrecht aller männlichen Steuerzahler über 25 Jahre eingeführt hatte, in der Zweiten Kammer die 113

K. H. Zuber, Proletarier, 1978, S. 74; D. Götschmann, Bay. Innenministerium, 1993, S. 216. s. K. H. Zuber, Proletarier, 1978, S. 74. s. ferner D. Götschmann, Bay. Innenministerium, 1993, S. 216 sowie 354 ff. zur politischen Entwicklung des Fürsten. 115 Zu Max Webers Konzeption s. 7. Teil 1. Kap. C. 116 VerhBayAbgK 1849/2 I, Nro. 3, S. 64 sowie Abdruck des Berichts, BeilBayAbgK 1849/2 I, Beil. XIII, S. 139 ff. 117 Abdruck der Thronrede als Außerordentliche Beil. zur Neuen Münchener Zeitung vom 22. Januar 1849. Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 590. 114

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Mehrheit.118 Schon im folgenden Frühjahr machte die Volksvertretung mit einem Vorstoß zur Geschäftsordnung zum ersten Mal von dem ebenfalls im Juni 1848 errungenen Initiativrecht Gebrauch.119 Am 14.  Februar 1849 richtete der Unternehmer, Rechtsanwalt und führende Linksliberale120 Friedrich Justus Willich, der an der Heidelberger Versammlung teilgenommen und das Königreich Bayern von Ende März bis zum 27. April 1848 am Bundestag vertreten hatte,121 anlässlich einer Wahlreklamation die „Vorfrage an den Ministertisch […], warum denn die in der Thronrede […] zugesagte Geschäftsordnung für beide Kammern […] noch nicht eingebracht“ wäre? Als Ministerialrat August Friedrich Hänlein einer Antwort unter Hinweis auf die kürzliche Regierungskrisis auswich,122 regte der Demokrat Georg Friedrich Kolb, Teilnehmer an Vorparlament und Paulskirchenversammlung sowie Verfasser des Programms der Linken in der bayerischen Zweiten Kammer,123 die Wahl eines besonderen Ausschusses an, um ein vollständig neues Reglement auszuarbeiten. Dieser Antrag wurde einstimmig angenommen.124 Die Vorschläge, die der Ausschuss für Abfassung des Entwurfes einer neuen Geschäftsordnung dem Plenum am 24.  Februar 1849 unterbreitete, qualifizierte Manfred Botzenhart als „in nuce die Forderungen der Zeit zur Reform des landständischen Geschäftsverfahrens im damaligen Deutschland überhaupt“:125 Die Kammer sollte Geschäftsordnungsautonomie erhalten sowie künftig für die Wahlprüfung und die Präsidentenwahl zuständig sein. Die bisherigen Vorrechte der­ Regierung bzw. ihrer Kommissare wollte man im Gegenzug beschränken. Außerdem sollte die Kammer das Recht erhalten, zu beliebigen Beratungsgegenständen 118 W. Volkert, in: HdbBayGesch IV/12 2003, S. 237 (251, 254). Vgl. D. Götschmann, Bay. Parlamentarismus, 2002, S. 835 ff. zur Entstehung des Gesetzes, die Wahl der Landtags-Abgeordneten betreffend (BayGBl 1848, Sp. 77). 119 Zu sämtlichen Reformen vom Wahlgesetz über das Initiativrecht bis hin zum Gesetz über den Geschäftsgang von 1850 s. die zeitgenössische Darstellung N. N., BayReform, 1862, S. 5 ff., deren Tenor schon die Überschrift „Belebung und Stärkung des constitutionellen Princips“ andeutet. s. auch L. Hauff, Maximilian II., 1864, S. 234 ff. 120 M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 586. 121 K.-J. Hummel, München, 1987, S.  99, 103 f.; M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 586 in Fn. 32, 116. 122 Vor wenigen Tagen hatte das Ministerium wegen bundespolitischer Differenzen mit der Kammer demissioniert. Die Nachfolge trat im März/April 1849 die Regierung des konservativen Juristen Ludwig Karl v. der Pfordten an. s. die Eröffnung des Innenministers B ­ eisler an die Kammer, VerhBayAbgK 1849 I, Nro. 7, S.  92 und dazu K.-J. Hummel, München, 1987, S. 231 und in Fn. 9. Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 589 ff. und ferner W. Volkert, in: HdbBayGesch IV/12 2003, S. 237 (248 f.) zu Zerfall und Neubildung des Staatsministeriums. 123 s. G. F. Kolb, Lebenserinnerungen, 1976, S. 164. Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 455 in Fn. 12. 124 VerhBayAbgK 1849 I, Nro. 9, S. 132 ff. 125 M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 506. Abdruck des Entwurfs in BeilBayAbgK 1849 I, Beil. XVI, S. 109.

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Kommissionen niederzusetzen.126 Diesen Ausschüssen sollte nach Art.  XI künftig „gestattet [sein], das mündliche oder schriftliche Gutachten von Sachverständigen zu erholen, und ebenso Zeugen vernehmen zu lassen, ohne jedoch die Gränzen des ihnen ertheilten Auftrags zu überschreiten. Die Art der Vernehmung [sollte…] die Geschäftsordnung […] bestimmen“. Sowohl die Kammer als auch die Ausschüsse sollten darüber hinaus „innerhalb des Umfangs ihres Wirkungskreises das Recht [erhalten], diejenigen Erläuterungsmittel, namentlich vollständige Vorlage der Originalakten, welche sie für erforderlich erach[te]ten, von den einschlägigen Staatsministerien zu begehren“. Neben dieser erneuten Allegorie auf die moderne Korollartheorie ist der Zusatz, „welche diese Letzten zu ertheilen“ hätten, bemerkenswert, der auf eine echte Pflicht hindeutet; eine solche Klausel stellte für das bisherige konstitutionelle Staatsrecht einen Fremdkörper dar. Trotzdem war in den Vorbemerkungen des Berichterstatters ausdrücklich von einer „Verpflichtung des Ministeriums, den deßfallsigen Aufforderungen zu entsprechen“, die Rede, so dass zumindest eine gewisse Tendenz, über das vermeintlich harmlose Informationsrecht eine parlamentarische Kontrollmöglichkeit zu etablieren, unverkennbar ist.127 Für das Enquêterecht der Ausschüsse berief man sich auf das Vorbild des § 24 GOFNV  1848.128 Die demgegenüber zurückhaltendere Zeugenregelung  – die Ausschüsse der Frankfurter Nationalversammlung verfügten selbst über das Recht, „Zeugen vorzufordern und zu vernehmen“, – ging auf eine Intervention des Regierungskommissars zurück. Nicht durchsetzen konnte er sich mit seinen Bedenken gegen eine „Vorlage von Originalakten“. Zwar erklärte der Regierungskommissar, dass das Ministerium sie „in der Regel“ nicht verweigern werde. Es „ließen sich [aber] doch Fälle denken, namentlich was diplomatische Beziehungen betreffe, in denen hiedurch bedeutende Nachtheile entstehen könnten“. Die Ausschussmehrheit hielt dagegen, „daß der eigene Takt der Kammern dieselben vor dießfallsigen Mißgriffen bewahren werde“.129 Als eine der maßgeblichsten Neuerungen hob der Kommissionsbericht von Georg Friedrich Kolb u. a. die „Einräumung geeigneter Befugnisse an [die…] Ausschüsse [hervor], insbesondere die Befugniß einer Einsichtnahme von Original­ acten und der Vernehmung von Sachverständigen und Zeugen“. Wie so oft wurde wieder das englische Vorbild bemüht: Der Referent betonte, dass es im Mutterland des Parlamentarismus gerade diese Mittel ermöglichten, „so gründliche und in allen Verhältnissen, namentlich den volkswirthschaftlichen, so wohlthätig wirkende Ergebnisse zu erzielen“. In diesem Sinne habe die Paulskirchenversammlung ent 126

Zusammenfassend BeilBayAbgK 1849 I, Beil. XVI, S. 110 sowie M. Botzenhart, Parla­ mentarismus, 1977, S. 505 f. 127 Vgl. W. Löwer, DVBl 1984, 757 (759 f.). 128 BeilBayAbgK 1849 I, Beil. XVI, S.  110 f. Vgl. die unwidersprochene Bemerkung des Pfarrers Johann Peter Gelbert im Dezember 1849, „daß die königl. Regierung verpflichtet [sein solle…], möglichen Falls die Originalakten der Kammer zur Vorlage zu bringen, wenn diese oder die Ausschüsse es in einzelnen Fragen nöthig [fänden…], bis auf die Quellen zurückzu­ gehen, um daraus ein erschöpfendes Urtheil zu bilden“ (VerhBayAbgK 1849/2 II, S. 474). 129 BeilBayAbgK 1849 I, Beil. XVI, S. 112 f.

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sprechende Befugnisse „erst einzelnen ihrer Ausschüsse, dann diesen sämmtlich einzuräumen geeignet, ja nothwendig“ gefunden. Dem Frankfurter Beispiel nachempfunden war ebenfalls die „Beschränkung der Ausschüsse auf die ihnen ertheilten Aufträge, damit nicht durch bloße Ausschüsse, (wie es in der letzten Zeit des früheren alten Ständewesens [geschehen sei…]) die Befugnisse der ganzen Volksvertretung untergraben werden könn[t]en“.130 Zu einer Plenarberatung über diese Forderungen kam es nicht mehr,131 weil der Landtag wegen Streitigkeiten über die Frankfurter Grundrechte vertagt und nach einem erfolglosen Versuch, die Zweite Kammer durch den Ausschluss der 19 Pfälzer Abgeordneten gefügig zu machen, am 11. Juni 1849 aufgelöst wurde.132 Ungeachtet dieses Scheiterns verdient der Beschluss dieses Initiativentwurfs im Ausschuss, dem doch mit Ausnahme der Rechten Vertreter sämtlicher Fraktionen angehörten, angesichts der weitreichenden Forderungen Beachtung.133 Insbesondere das Petitum, künftig Originalakten einzufordern, war ein gravierender Eingriff in die sakrosankte monarchische Exekutive. Insoweit gingen die Ausschussforderungen über das Beispiel des § 24 GO-FNV 1848 oder die württembergische Dezembergeschäftsordnung deutlich hinaus und näherten sich eher modernen Standards. Dagegen milderte der Ausschuss den Vorschlag des Demokraten Georg Friedrich Kolb, „Zeugen vorzufordern, zu vernehmen, oder vernehmen zu l­ assen“, auf ein schlichtes Requisitionsrecht ab und blieb so noch hinter dem Reglement der Paulskirche zurück. Möglicherweise war die weitere Fassung, die ein eigenständiges Ladungs- und Vernehmungsrecht etabliert hätte, der Ausschussmehrheit doch gewaltenteilungsrechtlich suspekt. Das bei genauerer Betrachtung kaum minder­ intrikate Aktenvorlagerecht ging wenigstens der Form nach besser mit konstitutionellen Regeln konform. In der Sache griff es ebenfalls in das Verhältnis von Volksvertretung und Regierung ein und bedingte eine gewisse Kompetenzverschiebung, wenngleich die Kammern auch keine exekutiven Befugnisse erhalten sollten. Mit dem Recht, „das mündliche oder schriftliche Gutachten von Sachverständigen zu erholen“, ging der Ausschussentwurf wiederum über § 24 GO-FNV 1848 hinaus. Politisch beschränkten sich die Ausschussforderungen – wie es der Entwurfswortlaut nahelegt – nicht auf ein einfaches Enquêterecht, sondern erstreckten sich auch auf diejenigen Mittel, die für ein politisches Untersuchungsrecht erforderlich sind. Für diese Interpretation spricht insbesondere auch das Aktenvorlagerecht, das heute als wichtiges Attribut der Regierungskontrollbefugnis des Bundestags gilt und durch das BVerfG unmittelbar aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG abgeleitet wird.134 130

BeilBayAbgK 1849 I, Beil. XVI, S. 110. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 506. 132 VerhBayAbgK 1849 I, Nro. 15, S. 224 sowie II, Nro. 23, S. 137. Zu den Hintergründen M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 592 ff.; W. Volkert, in: HdbBayGesch IV/12 2003, S. 237 (239 f., 254) und S. 249 zur Ausrichtung der Regierung v. der Pfordten; K.-J. Hummel, München, 1987, S. 232. 133 Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 506. 134 BVerfGE 67, 100 (127 ff.). 131

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Einen weiteren Fingerzeig gibt die politische Provenienz der Gesetzesinitiative, die ebenso wie das Manifest der Linken in der Zweiten Kammer aus der Feder Georg Friedrich Kolbs stammte.135 Das vorgenannte, von rund 50 Abgeordneten signierte Parteiprogramm forderte Volkssouveränität, eine „[n]eue Gestaltung der baierischen Staatsverfassung“, Verwaltungsreformen, die „Entfernung aller Verschwendungen im Staatshaushalte“, Steuer-, Abgaben- und Gebührenreformen, die „Abänderung des Ablösungsgesetzes zu Gunsten der Belasteten“, Wirtschaftsförderung, Arbeiterfürsorge und Bildungsreformen.136 Um diesen Kanon politischer Forderungen Wirklichkeit werden zu lassen, bedurfte die Volksvertretung u. a. sowohl eigenständiger Informations- als auch Kontrollinstrumente, wie sie der Kommissionsentwurf vorsah.

II. Die Instrumente des Geschäftsgangsgesetzes (1849/50) Sicherlich durch diesen Entwurf aufgescheucht, nahm die Regierung die Angelegenheit nach der Kammerauflösung vom Juni 1849 selbst in die Hand. Nach den Juliwahlen konnte das Gouvernement im Sommer 1850 mit dem Rückhalt einer gouvernementalen Mehrheit137 zahlreiche Abstriche gegenüber dem Vorjahres­ entwurf durchsetzen, obwohl die Geschäftsordnungsautonomie der Kammern tatsächlich in Art. 1 Bay­GeschG 1850 verankert wurde. 1. Zutritts- und Rederecht sowie interpellationsartige Instrumente Neben dem Zutritts- und Rederecht der „Staatsminister und Königliche[n] Commissäre“, durch dessen Ausübung wenigstens „[k]ein Redner […] unterbrochen werden“ durfte (Art. 15 Bay­GeschG 1850), waren die Regierungsvertreter „gleich den Kammermitgliedern berechtigt, bei allen […] Gesetzentwürfen Abänderungen oder Unterabänderungen vorzuschlagen“ (Art. 16 Bay­GeschG 1850). Kammern und Ausschüsse behielten „innerhalb des Umfanges ihres Wirkungskreises das Recht, diejenigen Erläuterungen und Aufschlüsse, welche sie für erforderlich erachte[te]n, von den einschlägigen Staatsministerien zu verlangen“. Von einem Aktenvorlagerecht war keine Rede mehr. Wenigstens folgte abweichend von früheren Tagen der Zusatz, dass die Regierungsstellen „solchen Ansinnen zu entsprechen“ hätten (Art. 33 Abs. 1 Bay­GeschG 1850). Indem die Bestimmung des „Erforderlichen“ den Kammern überlassen wurde,138 wertete das Gesetz ihre Stel 135

Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 455 in Fn. 12. Abdruck in Deutsche Zeitung vom 25. Januar 1849, Zweite Beil., S. 4. s. auch W. Volkert, in: HdbBayGesch IV/12 2003, S. 237 (254). 137 W. Volkert, in: HdbBayGesch IV/12 2003, S. 237 (254). 138 K. Brater, in: Dollmann (Hg.), BayGesetzgebung II/1, 1855, S. 17 (24). 136

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lung ein Stück weit auf. Ungeachtet dessen blieb ihnen ein „unmittelbares Benehmen“ mit anderen Stellen und Behörden ausdrücklich untersagt (Art.  33 Abs.  2 Bay­GeschG 1850); ganz nach überkommenen Mustern waren gemäß Art. 37 Bay­ GeschG 1850 „[w]eder die Kammern noch ihre Ausschüsse […] berechtigt, ohne Zustimmung der Staatsregierung Aufrufe oder Erklärungen an das Volk oder einzelne Theile desselben zu richten, oder Deputationen oder Ueberbringer von Bittschriften zuzulassen“. So blieb der bayerischen Volksvertretung die Unmittelbarkeit der Informationsbeschaffung und damit die Quintessenz eines „echten“ Enquête- und Untersuchungsrechts moderner Prägung vorenthalten.139 Wenigstens sahen die Art. 18 ff. Bay­GeschG 1850 erstmals „Anfragen (Interpellationen) einzelner Kammermitglieder an die Staatsregierung“ vor. Um zu verhindern, dass dieses Minderheitenrecht „zum Nachtheile der übrigen Geschäfte gehandhabt“ werde, wurden „Regeln über die Art und Weise“ vorgesehen.140 U. a. war eine Unterstützung durch mindestens 15 Mitglieder erforderlich (Art. 74 GO-Bay­ AbgK 1851). Indem der interpellierte Minister selbst entschied, ob er „sogleich“, an einem späteren Tag oder – unter Angabe von Gründen – überhaupt nicht antwortete, konnte die Regierung eine Beantwortung missliebiger Interpellationen direkt ablehnen oder die Sache geräuschloser im Sande verlaufen lassen. Auf diese Weise ließ sich die andernfalls bestehende lästige Pflicht umgehen, die Aus­ kunftsverweigerung öffentlich vor der Kammer zu verantworten. Gravierende politische Konsequenzen brauchten die Minister in der Regel nicht zu fürchten.141 Eine weitere Schwächung des Interpellationsrechts bedeutete Art. 21 Bay­ GeschG  1850, demzufolge keine „weitere Verhandlung über die Anfrage und die darauf ertheilte Antwort […] statt[finden]“ durfte. Spezielle interpellationsartige Instrumente, die für die Entwicklung des allgemeinen Enquête- und Untersuchungsrechts nicht von Interesse sind, waren hinsichtlich des Staatsschulden­ tilgungsplans vorgesehen.142

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Vgl. 1. Teil C. So die amtliche Entwurfsbegründung in BeilBayAbgK 1849/2 I, Beil. XIII, S. 142. 141 Etwa führte öffentlicher Druck allenfalls in krassen Ausnahmefällen zur Resignation eines missliebigen Regierungsmitglieds. s. zum Rücktrittsangebot der Minister v. der Pfordten, v. Reigersberg und v. Ringelmann und ihrer Entlassung zum 1. Mai 1859 W. Volkert, in: Hdb­Bay­ Gesch IV/12 2003, S. 237 (249, 256); D. Götschmann, Bay. Innenministerium, 1993, S. 275 f. 142 Gemäß Art. 35 f. Bay­GeschG 1850 waren die Kammern verpflichtet, „die nach Tit. VII. §. 14 der Verfassungs-Urkunde zu ernennenden Kommissäre […] nach der Wahl der Ausschüsse“ zu bestimmen. Diese Kommissäre und ihre Stellvertreter hatten die Verhandlungen der Staatsschuldentilgungskommission auch nach dem Ende eines Landtages zu überwachen. Alle zehn Tage sollten ihnen Verhandlungsprotokolle, Journale und Hauptbücher zur Einsicht vorgelegt werden. Außerdem konnten sie jederzeit die Vorlage von Akten, Rechnungen, Kassa­büchern, Urkunden etc. verlangen. Ließ die Staatsschuldentilgungskommission Remonstrationen unbeachtet, konnten sie sich an das Finanzministerium wenden oder dem Landtage Anzeige erstatten. Anders als das allg. Auskunftsrecht des Art. 33 Bay­GeschG 1850 sah Art. 36 Abs. 2 Bay­GeschG 1850 ein Recht auf Vorlage von Originalakten vor. s.  zu dem entsprechenden Art.  36 Abs.  2 Bay­ GeschG 1872 M. v. Seydel, BayStaatsR, 1903, S. 52. 140

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2. Das Recht zur Einholung von Sachverständigengutachten Über diese Befugnisse hinaus sah Art. 33 Abs. 3 Bay­GeschG 1850 ein unpolitisches Enquêterecht vor: Die bayerischen Landtagsausschüsse erhielten das Recht, „das mündliche und schriftliche Gutachten von Sachverständigen zu erholen“. Im krassen Gegensatz dazu, wie sehr diese informatorische Emanzipation der Kammern mit bisherigen Regeln brach, beschränkte sich der Regierungsentwurf auf die lapidare Begründung, dass diese Vorschrift „keiner besonderen Rechtfertigung“ bedürfe.143 a) Art der Sachverständigen Dass es in Art. 33 Abs. 3 Bay­GeschG 1850 (auch) um externe Sachverständige und nicht – wie in früheren Tagen – ausschließlich um sachkundige Beamte, Regie­ rungsvertreter oder Abgeordnete ging, die kein Ausschussmandat besaßen, belegt eine Äußerung Johann Georg Forndrans in den Beratungen über die Geschäftsordnung: Der Augsburger Bürgermeister und Jurist erwiderte auf den Vorwurf, „es sei ein Referat gemacht worden im Gewerbswesen von einem Ausschusse, in welchem gar kein Gewerbsmann gewesen“, „daß dieser vielgeschmähte Ausschuß“ – er hatte ihm selbst angehört – „vorher das gethan [habe…], was die jetzige Geschäftsordnung [gestatte…], nämlich Sachverständige [zu] hören. [Man habe…] die Sachverständigen allerdings nicht außer der Kammer, sondern in der Kammer gesucht, nach der damaligen Kompetenz.“144 Diese Äußerung gestattet den Umkehrschluss, dass das neue Recht auch eine Anhörung externer Sachverständiger zuließ. Dennoch legen verschiedene Beispiele aus der Praxis der Kammer nahe, dass man in der Regel auf sachkundige Volksvertreter zurückgriff: So betonte der Würzburger Rechtswissenschaftler und Ausschussberichterstatter Carl Edel am 1. Mai 1865 in der Beratung über die Zusammensetzung der Vorberatungskommissionen für die Gemeindeordnung, die Heimat und die Armenpflege sowie das Gewerbswesen,145 dass man „mehr als einmal in die Lage kommen [werde…], die Gutachten Sachverständiger zu erholen und daß [man…] diese Gutachten vorzugsweise mit Benützung derjenigen Sachverständigen [beschaffen solle…], die [die Kammer…] so zahlreich in [ihrer…] eigenen Mitte“ habe. Zuvor hatte Anton Wodak vorgeschlagen, „daß bei der Wahl des Ausschusses zur Prüfung dieser so wichtigen Gesetze wenigstens aus jedem der acht Kreise zwei sach- und fachkundige Männer gewählt“ würden; schließlich sei „es eine reine Unmöglichkeit […], vom Gesetzgebungstisch aus alle die Eventualitäten zu berechnen, welche sich seiner 143

BeilBayAbgK 1849/2 I, Beil. XIII, S. 143. VerhBayAbgK 1851 I, Nro. 2, S. 20 (Hervorhebungen nur hier). 145 Vgl. den Abdruck des entsprechenden Gesetzentwurfs in BeilBayAbgK 1863/65 V, Beil. LXVII, S. 97 ff. sowie den Kommissionsbericht S. 180 ff. 144

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Zeit bei der Anwendung der Gesetze“ ergäben.146 Vergleichbares teilt ein zehn Jahre älteres Ausschussprotokoll von Anfang 1855 mit: In der Beratung über die Forderung, Getreide- und Viktualienhandel zu reformieren, „daneben aber […] anzuordnen, daß jährlich genaue Erhebungen über Produktion an Cerealien und Nahrungsmitteln überhaupt hergestellt und zeitgemäß veröffentlicht“ würden,147 „ward so vielfach auf die Zollvereins-Verträge und auf die beim königlichen Staatsministerium im Werke begriffenen statistischen Erhebungen […], sowie auf d[er]en Einfluß […] auf die Frage des Getreidehandels Bezug genommen, daß die Frage aufgeworfen wurde, ob es nicht zweckmäßig sey, nach Anleitung der Geschäftsordnung Artikel 42 […] einen Sachverständigen in der Person des Abgeordneten Herrn Dr. von Hermann beizuziehen, und dessen mündliches Gutachten über die einzelnen, bezüglich der erwähnten Materien angeregten Fragen zu vernehmen“. „Dieser Vorschlag fand allseitige Annahme, daher die Sitzung […] verschoben, und das Präsidium ersucht wurde, den Abgeordneten […] zur nachmittägigen Sitzung einzuladen“. Der so Hinzugezogene war der Paulskirchen­ veteran und königliche Ministerialrat Friedrich v. Hermann, ein ordentlicher Professor der Technologie und Staatswirtschaft in München, den seine berufliche Erfahrung als Referent und Vorstand des statistischen Büros bzw. als ehemaliger Referent für Zollvereinsfragen, Handel, Industrie etc. im Innenministerium für die anstehenden Fragen qualifizierte.148 Tatsächlich erschienen am Nachmittag ­ ermann der Innenminister Graf v. Reigersberg sowie der „Sachverständige“ v. H zu einer „Berathung, an welcher sämmtliche Anwesende Theil nahmen“.149 Es ist eine merkwürdige Fußnote, dass sich ausgerechnet Friedrich v. Hermann im Volkswirtschafts­ ausschuss der Paulskirchenversammlung gegen die Hinzuziehung des Handelsministers ­Arnold Duckwitz ausgesprochen hatte, weil dieser kein Mitglied der Versammlung war.150 Das letzte Anwendungsbeispiel für das Ausschussenquêterecht, das hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit vorgeführt werden soll, stammt aus dem Jahr 1859: Ein Ausschuss der Zweiten Kammer war mit der Vorberatung eines Gesetzes über die Gewährleistung beim Viehkauf befasst. Im Vorfeld hatte die Regierung „eine Kommission von anerkannt kompetenten Sachverständigen gehört, den ausge­ arbeiteten Entwurf […] einem Kollegium von solchen Sachverständigen, nämlich dem Lehrergremium der Thierarzneischule zur kollegialen Berathung und Begutachtung mitgetheilt und ihn in der hiernach modifizierten Form an die Kammer der

146

VerhBayAbK 1865 II, S.  103. Grundlage dieser Expertisen vornehmlich sachkundiger Abgeordneter wäre wohl Art. 4 Bay­Beh­GEntwG 1865 gewesen, der für die Gesetzgebungsausschüsse die entsprechende Geltung des Geschäftsgangsgesetzes von 1850 anordnete, andererseits aber bestimmte, dass „Gutachten Sachverständiger von den Vorsitzenden unmittelbar erholt werden“ durften. 147 BeilBayAbgK 1853/54 II, Beil. LX, S. 241 f. 148 H. Best/W. Weege, BioHdbFNV, 1996, S. 178. 149 BeilBayAbgK 1853/54 II, Beil. LX, S. 242. 150 s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 1. c) ff).

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Abgeordneten gebracht“.151 Am 24. Februar 1859 versammelte sich der Ausschuss, dem die Vorberatung übertragen worden war, „um die Frage zu erörtern, ob es nicht zweckmäßig sei, zu den Ausschußberathungen über den Gesetz­entwurf […] sachverständige Oekonomen und Aerzte zuzuziehen“. Mit acht gegen eine Stimme einigte man sich, „daß das hohe Präsidium nach Art. 42 der Geschäftsordnung zu ersuchen sei, die Herren Abgeordneten […] Dr. Schrauth, […] Urban, […] Hirnbein[, …] Adam Müller, […] Krämer von Uttenhofen, als Sachverständige […] einladen lassen zu wollen“. Obwohl diese „Sachverständigen“ in den Beratungen zu den „einzelnen Thiergattungen, sowie deren Krankheiten und Gewährfristen“ Stellung nahmen, blieben Zweifel, die auch in „mehrstündiger Diskussion“ nicht ausgeräumt werden konnten. So kam man überein, „vor der definitiven Abstimmung noch den von Seite der k. Staatsregierung vorgeschlagenen, schon bei Abfassung des Art. I des Entwurfes zugezogenen Sachverständigen, den Dozenten an der hiesigen Veterinärschule Herrn Niklas gutachtlich [zu] vernehmen […], weshalb von kurzer Hand sofort die geeignete Verfügung getroffen wurde, um dessen Vernehmung […] zu ermöglichen“.152 Am Nachmittag des 26. Februar 1859 nahm auf dieser Grundlage der Tierarzt Georg Niklas, nach Auffassung des Berichterstatters Johann Jakob Lauk ein „sowohl durch theoretische als praktische Bildung in seinem Fache“ ausgezeichneter Veterinär,153 als externer Sachverständiger an den Ausschussberatungen über den Katalog der Tierkrankheiten und Gewährleistungsfristen teil. Nachdem er sich „über die vorgelegten Fragen geäußert hatte, wurde[n] zur Feststellung und Vereinfachung der Begriffsbezeichnung mit Zustimmung dieses Sachverständigen einstimmig [zahlreiche Änderungen] beschlossen“.154 Allgemein berichtete Ausschussreferent Lauk später, dass die Sachverständigen den „Mitgliedern des Ausschusses nicht nur die denselben mangelnden technischen Kenntnisse an die Hand [gegeben…], sondern auch den Ausschuß mit ihren Lebenserfahrungen bezüglich des Verkehrs“ unterstützt hätten.155 Aufgrund von Art. 33 Abs. 3 Bay­GeschG 1850 sowie des Art. 42 Abs. 3 GO-Bay­ AbgK  1851, der diese Vorschrift um die „Vermittlung des Präsidenten“ ergänzt hatte, konnten also sowohl sachkundige Abgeordnete, die keinen Kommissionssitz innehatten, als auch externe Sachverständige zu den Ausschussberatungen hinzu­gezogen werden. Ähnlich wie § 28 GO-FNV 1848 bestimmte Art. 44 Abs. 4 GO-Bay­AbgK  1851, dass „Mitglieder der Kammer, welche nicht zugleich Mitglieder eines Ausschusses [waren, …] zu den Sitzungen desselben keinen Zutritt“ hatten. Eine Abweichung von dieser Regel bedurfte deswegen einer besonderen Grundlage.

151

J. J. Lauk, in: Dollmann (Hg.), BayGesetzgebung I/3, 1863, S. 1 (19). BeilBayAbgK 1859 I, Beil. XXXIX, S. 520. 153 J. J. Lauk, in: Dollmann (Hg.), BayGesetzgebung I/3, 1863, S. 1 (19). 154 BeilBayAbgK 1859 I, Beil. XXXIX, S. 521. 155 J. J. Lauk, in: Dollmann (Hg.), BayGesetzgebung I/3, 1863, S. 1 (19). 152

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b) Keine Vermittlung durch Regierungsstellen Trotz des Rechts der Ausschüsse, gemäß Art. 33 Abs. 3 Bay­GeschG 1850 „das mündliche und schriftliche Gutachten von Sachverständigen zu erholen“, bleibt die Frage, ob sie insoweit auf die Vermittlung des Staatsministeriums etc. angewiesen waren. Schließlich durften sich wegen Art. 37 Bay­GeschG 1850 weder die Kammern noch ihre Ausschüsse „ohne Zustimmung der Staatsregierung“ an die Bevölkerung oder einzelne Privatpersonen wenden. Auf derselben Linie untersagte ihnen Art. 33 Abs. 2 Bay­GeschG 1850 ein „[u]nmittelbares Benehmen mit anderen Stellen und Behörden“. In diesem Fall würde es sich nach der eingangs aufgestellten Definition nicht um ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht handeln.156 Gegen eine solche Beschränkung spricht aber, dass Art. 42 GO-Bay­AbgK 1851­ lediglich die „Vermittlung des Präsidenten“ anordnete.157 Von einer Dazwischenschaltung exekutiver Stellen war indessen keine Rede. Das Präsidium durfte folglich zu diesem Zweck ausnahmsweise unmittelbar mit Außenstehenden Kontakt aufnehmen.158 Bestätigt wird diese These durch Art. 4 Abs. 2 Satz 2 Bay­Beh­GEntwG 1865, der für die „Abwesenheit der Kammern“ anordnete, dass „Gutachten Sachverständiger“ von den Vorsitzenden der permanenten Gesetzgebungsausschüsse für verschiedene Reformvorhaben „unmittelbar [!] erholt werden“ konnten. c) Einschränkungen des Rechts zur Sachverständigenanhörung Normativ relativierte Art. 33 Abs. 4 Bay­GeschG 1850 das neue „Informationsrecht“159, indem „[z]ur Abgabe solcher Gutachten Niemand angehalten werden“ und der Staatskasse „keine eigenen Ausgaben […] erwachsen“ durften. Auf einen ersten Blick scheinen beide Maßgaben das Enquêterecht vollständig zu entwerten.160 Tatsächlich war das Fehlen von Pflicht und Zwang zweifellos ein unbestreitbarer Hemmschuh. Insoweit ging das bayerische Recht nicht über die §§ 24 GO-FNV 1848, 24 GO-Württ­LV  1849 oder die analoge Praxis der preußischen Vereinbarungsversammlung hinaus. Wie das Beispiel des Gesetzes über die Gewährleis 156

s. 1. Teil C. Der Zusatz wurde im Plenum ohne Diskussion angenommen (VerhBayAbgK 1851 I, S. 70). In den Beratungen der Geschäftsordnungskommission spielte der Entwurf zu Art. 41 keine Rolle. s. dazu BeilBayAbgK, Beil. III–V, S. 4 ff. 158 Vgl. J. v. Pözl, BayVerfR3 1860, S. 510, der das Recht, „Gutachten von Sachverständigen zu erholen“, konsequenterweise dem allg. Verbot, „Aufrufe oder Erklärungen an das Volk oder einzelne Theile desselben zu richten“, gegenüberstellte. 159 M. v. Seydel, BayStaatsR, 1903, S. 52. 160 Vgl. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (292) („Enquêterecht […] nur in sehr bedingter Weise“); F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  26 („im Grund […] nichts anderes, als die Geltendmachung eines jedem Privaten zustehenden Rechtes, zu Zwecken der Erweiterung seiner Kenntnisse, Fachleute zu befragen“) oder J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 10 („Ansatz eines Enquêterechts“, „Minimalbefugnis der Heranziehung freiwilliger Sachverständiger ohne Kostenerstattung“). 157

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tung beim Viehkauf zeigte, gelang es im Einzelfall trotzdem, qualifizierte Sachverständige zu gewinnen. Weiterhin ist die Feststellung, dass niemand zur Abgabe eines Gutachtens verpflichtet war, allenfalls nur sehr bedingt eine spezifisch anti­ parlamentarische Spitze: Einerseits war Art. 33 Abs. 4 Bay­GeschG 1850 Ausdruck der allgemeinen Regel, dass der „Landtag [über…] keine Herrschergewalt, nicht einmal eine Amtsgewalt gegenüber den Staatsangehörigen“ verfügte.161 Andererseits spiegelte diese Vorschrift eine allgemeine prozessrechtliche Regel wider, indem sich nach Art. 436 Bay­Bürg­PrO 1869 bloß solche „Sachverständige, welche zur Abgabe von Gutachten der verlangten Art öffentlich bestellt [waren, …] ohne erhebliche Gründe einem […] Auftrage nicht entziehen“ konnten. „Andere Perso­ nen“ waren demgegenüber „nicht verpflichtet, die Wahl oder Ernennung als Sachverständige anzunehmen“. Über diese Vorgabe ging Art.  33 Abs.  4 Bay­GeschG 1850 für die Ausschussenquêten genau betrachtet sogar noch hinaus. Außerdem blieb das bayerische Recht nicht hinter dem Vorbild des § 99 RVerf 1849 zurück, dem Pflicht und Zwang ebenfalls fremd waren.162 Schwerer könnte das Verbot von „eigenen Ausgaben für die Staatskasse“ wiegen, indem die unscheinbare Klausel zur Folge zu haben scheint, dass die Kammern einem Sachverständigen weder Auslagenerstattung noch ein bescheidenes Honorar gewähren konnten.163 Wahrscheinlich waren es auch entsprechende Bedenken, die den linksliberalen Advokaten Friedrich Karl Burkart dazu veranlassten, in seinem Bericht für den Geschäftsordnungsausschuss kommentarlos ihre Streichung vorzuschlagen.164 Die Zweite Kammer machte sich diese Forderung am 7. Dezember 1849 einstimmig zu eigen.165 Der Ausschussbericht für die Reichsrätekammer aus der Feder des Freiherrn v. Zu-Rhein dokumentiert die Bedenken des Innenministers gegen diesen Vorschlag. Weil die Regierungsseite ihren Widerspruch „jedoch bei der Kammerdebatte nicht […] wiederholt“ habe, schloss sich Friedrich v. Zu-Rhein der Forderung der Volksvertretung an. Sehr pragmatisch hieß es zur Begründung, dass, sobald sich ein Sachverständiger weigere – „wie es voraussichtlich der Fall seyn“ werde –, sein „Gutachten unentgeltlich abzugeben“, die Kammern von ihrem Rechte keinen Gebrauch machen könnten, „ohne […] auf die Staatskasse zu recurriren“.166 Trotz 161 M. v. Seydel, BayStaatsR, 1903, S. 50 f., der in Anm. 1) ausgerechnet auf die Nachfolgevorschrift des Art. 33 Abs. 4 Bay­GeschG 1872 verweist. 162 So hatte sich der Trierer Advokat-Anwalt Friedrich Josef Zell im Verfassungsausschuss der Frankfurter Nationalversammlung geäußert, dass zu dem „Recht der Erhebung von Tat­sachen ein gesetzlicher Zwang [gehöre], und dazu […] ein Gesetz gegeben werden [müsse]. Gutachten zu geben[, könne…] dagegen niemand gezwungen werden, daher [brauche diese Befugnis…] nicht aufgenommen zu werden“. Carl Josef Anton Mittermaier hatte ihm unter Hinweis auf England und Belgien widersprochen. s. dazu R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 603. 163 In diesem Sinne etwa J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 10. 164 BeilBayAbgK 1849/2 I, Beil. XL, S. 271, 274 (Art. 32). 165 VerhBayAbgK 1849/2 II, S. 474 f. In der folgenden Sitzung wurde der Beschluss bestätigt und der Entwurf an die Reichsräte überwiesen (S. 482 f.). 166 BeilBayRRK 1850 IV, Beil. LXXXV, S. 119.

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dem votierte die Ausschussmehrheit am 20. März 1850 für das Verbot, weil „man einen großen Mißbrauch davon zum größten Nachtheile des Staatsärars machen“ könne, „wenn die Erholung solcher Gutachten gar keiner Beschränkung unter­liegen würde“.167 Das Plenum billigte diese Position am 13. April 1850.168 Im Ausschuss der Abgeordnetenkammer hielt Referent Burkart an der Streichung fest. Obwohl er betonte, dass es „im Grunde einerlei [wäre…], ob diese Auslagen aus der Staatskasse oder aus der Regiekasse der Kammern, welche ­ihren Fond aus jener [beziehe…], genommen“ würden, warnte er die Abgeordneten, dass die von den Reichsräten befürwortete „Bestimmung von einem späteren Ministerium sehr leicht zu einer Beschränkung des Rechts der enquête mißbraucht werden“ könne.169 Erneut schloss sich der Ausschuss der Streichungsforderung an.170 Im Plenum mahnte Staatsminister Friedrich v. Ringelmann, dass die „Nichtannahme jenes Satzes“ zu erheblichen finanziellen Lasten führen könne. Werde etwa eines „Gesetzentwurf[s] über Eisenbahnen“ wegen eine „enquête angestellt“, verursache dies voraussichtlich „beträchtliche Kosten“. „Solche kostspielige Gutachten […] abzuschneiden“, sei der alleinige „Zweck des Beisatzes“. Dagegen konzedierte der konservative Politiker, dass sich „Kosten von geringem Belange“ aus der „Regiekasse der Kammern leicht bestreiten“ ließen. Auch Ministerpräsident Ludwig Karl v. der Pfordten und der Abgeordnete Ernst v. Lasaulx sprachen sich für die Beschränkung aus. Der Münchener Philosophieprofessor Lasaulx hielt dem Plenum den allgemeinen „Grundsatz im Leben [vor…], daß jeder nur über das Geld verfüge, was er selbst“ habe; in demselben Sinne dürfe auch die Kammer lediglich über ihre Regiesumme verfügen.171 Die Kammermehrheit votierte gleichwohl erneut für die Streichung.172 Letztendlich trug trotzdem die­ Beharrungskraft der Reichsräte den Sieg davon, indem sich der Ausschuss der Abgeordnetenkammer im Mai 1850 einstimmig ihrem erneuten Votum beugte.173 Fünf Tage später tat Präsident Friedrich Graf v. Hegnenberg-Dux die Sache im Plenum als „kleine Differenz“ ab und die Kammer räumte einstimmig die früher gehaltene Bastion.174 Eine vollkommene Niederlage hatten die Volksvertreter durch ihr Entgegenkommen keineswegs erlitten. Angesichts der konkreten Beschlüsse war – der anderslautenden Interpretation zum Trotz175 – weder jede Kostenerstattung noch eine 167 VerhBayRRK 1850 V, S.  627. s.  ferner das (knappere)  Beschlussprotokoll des Aus­ schusses, BeilBayRRK 1850 IV, Beil. LXXXVI, S. 129. 168 VerhBayRRK 1850 V, S. 628. 169 BeilBayAbgK 1850/2 III, Beil. CXI, S. 388 (Hervorhebung nur hier). 170 BeilBayAbgK 1850/2 III, Beil. CXI, S. 389. 171 VerhBayAbgK 1849/2 IV, S. 551 f. 172 VerhBayAbgK 1849/2 IV, S. 552. Am 22. April 1850 wurde die Entscheidung, „auf der diesseits vorgeschlagenen Fassung zu beharren“, bestätigt (S. 577). 173 BeilBayAbgK 1850/2 III, Beil. CXLIII, S. 633. 174 VerhBayAbgK 1849/2 V, S. 154 (Zitat), 171. 175 Anders J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 10. Undifferenziert J. v. Pözl, BayVerfR3 1860, S. 510: „wenn dadurch keine eigenen Ausgaben für die Staatskasse erwachsen“.

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Entlohnung apriorisch ausgeschlossen. Stattdessen limitierte die Ächtung einer Belastung der Staatskasse den finanziellen Spielraum der Kammer lediglich auf „ihre“ Regiemittel. Diese Auslegung wurde am 14. Januar 1852 beiläufig bestä­tigt: Als der Regierungskommissar v. Schubert gegenüber einer Forderung, die Worte „ohne Kosten“ aus einer Ermächtigung der Landräte zur „Einvernehmung von Sachverständigen“ zu streichen, auf den entsprechenden Passus des Geschäftsgangsgesetzes verwies, ergriff der zweite Präsident Ludwig Weis das Wort, um das „Recht des Landtages“ zu „wahren“, „Sachverständige zu honoriren“. Der promovierte­ Jurist stellte klar, dass die Geschäftsordnung keineswegs Kosten überhaupt verbiete; Sachverständigenvernehmungen müssten bloß „ohne eigene Ausgabe für die Staatskassa“ durchgeführt werden. Die Kammer habe der entsprechenden Klausel 1850 nur unter dem Junktim zugestimmt, dass etwaige Kosten „aus der Regiekassa des Landtags bestritten“ werden dürften.176 Art. 33 Abs. 4 Bay­GeschG 1850 war also gerade kein absolutes Verbot, Auskunftspersonen ihre Auslagen zu er­ statten oder ein moderates Honorar zu zahlen, sondern beschränkte lediglich den finanziellen Spielraum der Kammern. Der bayerischen Volksvertretung stand also alles in allem bereits 1850 ein relativ modernes Enquêterecht zur Verfügung, mit dessen Hilfe Sachverständige angehört oder zu einem schriftlichen Gutachten aufgefordert werden konnten. Ebenso waren „Ausschusshearings“ nach dem Grundmuster von § 70 GO-BT möglich. Indem anders als in vorrevolutionären Tagen keine Mitwirkung der Staatsregierung erforderlich war, sondern die Ausschüsse einen Sachverständigen durch Vermittlung des Kammerpräsidenten zur Äußerung auffordern konnten, handelte es sich um ein „echtes“ Enquêterecht. 3. Rückschritte gegenüber den Vorjahresvorschlägen Obwohl die Neuerungen des Geschäftsgangsgesetzes von 1850 zeitgenössisch als „Belebung und Stärkung des constitutionellen Princips“ gefeiert wurden, weil sich die Kammern „unverhältnismäßig selbstständiger und freier als vordem“ bewegen könnten,177 blieben die Befugnisse des Art. 33 Bay­GeschG 1850 deutlich hinter den Forderungen des Vorjahresentwurfs zurück. Das gilt an erster Stelle für das Aktenvorlagerecht und die korrespondierende Pflicht der Regierung. Statt eines Rechts, die „Aushändigung amtlicher Akten“ zu fordern oder „sich selbst aus den amtlichen Quellen zu unterrichten“, blieb den Kammern und Ausschüssen nur, 176

VerhBayAbgK 1852 III, Nro. 69, S. 146 f. (Hervorhebungen nur hier). N. N., BayReform, 1862, S. 5, 7 f. Als Neuerungen führt der anonyme Autor auf: Wahl der Direktorien durch die Kammern selbst mit Ausnahme des ersten Präsidenten der Reichsräte, freie Sitzordnung (früher wurden die Plätze ausgelost und so die Fraktionsbildung erschwert), Anfragen an die Staatsregierung und das Recht der Ausschüsse, „in allen Fragen, welche ihrer Begutachtung überwiesen werden, das Gutachten von Sachverständigen ein[zu]holen“. s. auch L. Hauff, Maximilian II., 1864, S. 235 f. 177

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„Erläuterungen“ und „Aufschlüsse“ von den Staatsministerien zu verlangen.178 Die Debatten über dieses für eine parlamentarische Untersuchung fundamental wichtige Recht, das das BVerfG „zum ‚Wesenskern‘ des Untersuchungsrechts“ rechnet,179 waren teilweise überraschend modern. Ausschussberichterstatter Burkart nahm den Rückschritt mit dem frommen Wunsch hin,180 dass ein Minister, der „wirklich ein solches Mißtrauen [verdiene], daß man ihn für fähig [halte…], er könne den Inhalt der Akten verschweigen, oder aus solchen falsche Aufklärungen ertheilen“, „in einem konstitutionellen Staate“ „nicht länger mehr am Ruder bleiben“ könne. Eine Vorlagepflicht lasse sich zudem leicht unterlaufen, indem delikate Verhandlungen nicht mehr zu den Akten kämen. Zu guter Letzt griff der Advokat das gouvernementale Argument auf, dass „in sehr vielen Fällen durch die Mittheilung der Originalakten sehr bedeutende Nachtheile“ entstehen könnten.181 In der Zweiten Kammer kam die Aktenvorlage am 7.  Dezember 1849 noch­ einmal zur Sprache. Johann Peter Gelbert, der im Vorjahr zu den Befürwortern gehört hatte, erkannte jetzt ausdrücklich an, „daß nicht alle Originalakten überhaupt zur Vorlage gebracht werden könn[t]en“. Statt einer kategorischen Vorlagepflicht habe man deswegen im Ausschuss erwogen, ob den Ministern in „näher zu begründenden Fällen“ ein Weigerungsrecht zustehen solle, wenn „durch die Mittheilung erweislichermaaßen Nachtheile für das Wohl des Staates“ drohten. Zum Vergleich verwies der Pfarrer auf die „Bestimmungen [der…] Gerichtsverfassung“ – hierin lag neben den übrigen Allegorien der heutigen Geheimschutzdiskussion noch ein gewisser Vorgriff auf die limitative Funktion der Strafprozessordnung für das moderne Enquête- und Untersuchungsrecht182 –, betonte aber, dass den Ausschüssen selbst dann „Einsicht in die genaue Aktenlage gegönnt werden“ müsse, wenn die „Vorlage der Originalakten schon durch das Gesetz unmöglich“ sei. Von einem konkreten Antrag sah der linksliberale Politiker ab, um nicht durch eine „Verwerfung“ ein fatales „Präjudiz“ zu riskieren, dass für Originalakten überhaupt keine Vorlagepflicht bestehe. Gustav v. Lerchenfeld, zweiter Präsident der Abgeordnetenkammer, hielt es für unmöglich, dass man das Ministerium „zu einer Recht-

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So M. v. Seydel, BayStaatsR, 1903, S. 52 zu dem identischen Art. 33 Abs. 1 Bay­GeschG 1872. Lediglich in Art. 36 Abs. 2 Bay­GeschG 1850/1872, der den gesetzlichen Staatsschuldentilgungsplan betraf, war u. a. ein Aktenvorlagerecht vorgesehen. 179 s. BVerfGE 67, 100 (130 ff.) zur Beibehaltung des Aktenvorlagerechts und seiner Bedeutung für das Enquête- und Untersuchungsrecht. 180 Von Rechts wegen standen Berufung und Abberufung der „Räte der Krone“ im Belieben des Monarchen. Vgl. M. v. Seydel, BayStaatsR, 1903, S. 74 ff. und J. v. Pözl, BayVerfR3 1860, S. 361, 369, 429. Zu dem Ausnahmefall eines Rücktrittsgesuchs oder Revirements wegen Widerstands der Kammer vgl. W. Volkert, in: HdbBayGesch IV/12 2003, S. 237 (249, 256); D. Götschmann, Bay. Innenministerium, 1993, S. 275 f. 181 BeilBayAbgK 1849/2 I, Beil. XL, S. 271. 182 Vgl. BVerfGE 67, 100 (133) zur sinngemäßen Anwendung sowohl befugnisbegründender als auch befugnisbegrenzender Normen der Strafprozeßordnung.

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fertigung wegen Verweigerung einer Aktenvorlage anhalten [könne], ohne auf den ganzen Inhalt dieser Akten einzugehen“. Überhaupt wäre es eine politische Frage, ob man dem Ministerium grundsätzlich vertraue, „daß es […] die Wahrheit aus den Akten“ sage, oder es „auf jedem gesetzlichen Wege zu bekämpfen [habe], bis dasselbe von dem Amte entfernt“ sei.183 Innenminister Friedrich v. Ringelmann lehnte eine ministerielle Aktenvorlagepflicht als Verstoß gegen „gewisse Maximen und Grundsätze der Verwaltung, […] die unter allen Verfassungsformen […] immer dieselben“ blieben, prinzipiell ab: Soweit die „Verhältnisse des Ministeriums zu den Unterbehörden“ oder die „Verhältnisse des Ministers zu seinen Referenten“ in Rede stünden, könne „[k]ein Beamter […] mit der nöthigen Aufrichtigkeit und Unbefangenheit die wahre Sachlage darstellen, wenn er immer fürchten [müsse…], daß jeder seiner Berichte Gegenstand der Oeffentlichkeit und der tadelnden Kritik“ werde; „[ä]hnliche Rücksichten“ seien für die „Verhandlungen in den Ministerien selbst“ erforderlich. Gewissermaßen waren damit die wesentlichen Gründe für den heute sakrosankten Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung skizziert.184  – Weiter gab der habilitierte Zivilrechtler zu bedenken, ob nicht das „Prinzip der Verantwortlichkeit der Minister durch unbeschränkte Vorlage der Ministerialakten leicht eine ­Alteration erleiden“ könne, weil die „Beziehungen des Ministers zur Krone niemals ein Gegenstand der Oeffentlichkeit werden“ dürften. Außer diesen prinzipiellen und staatsrechtsdogmatischen Bedenken führte der konservative Innenminister den praktischen Einwand ins Feld, das „Ministerialakten […] meist keine Spezialakten, […] sondern sogenannte Generalakten [seien], wo die verschiedenartigsten Verhältnisse zusammengestellt“ würden. Würden derartige „Akten auseinandergelegt“, um den Kammern Teile vorzulegen, gäbe es keine „Garantie für die Erhaltung ihrer Vollständigkeit“. Abschließend griff er Gustav v. Lerchenfelds Gedanken auf, dass es vor allem „auf das Vertrauen der Kammer zu dem Ministerium an[komme]“, und beruhigte die Abgeordneten zugleich, dass auch zukünftig die „Einsicht in […] Beschlüsse und Verfügungen des Ministeriums, welche Anlaß zu Beschwerden geben könn[t]en, […] nie verweigert“ werden würde. Nach diesem Intermezzo wurde der Ausschussantrag angenommen.185 Den zweiten herben Rückschlag gegenüber den Vorjahresvorschlägen stellte der Wegfall des Rechts zu Zeugenvernehmungen dar. Beschwichtigend wies Friedrich Karl Burkart in seinem Ausschussbericht darauf hin, dass die „Kammern wohl selten in die Lage kommen [könnten…], streitige Thatsachen feststellen zu lassen“. Überdies stünden ihnen „Mittel und Wege genug zu Gebote […], Thatsachen, welche ihnen noch nicht vollständig erwiesen [vorlägen…], auf dem gewöhnlichen 183

VerhBayAbgK 1849/2 II, S. 474. Vgl. M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 40; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Unter­ suchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 48 ff.; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 27 mit krit. Überlegungen. 185 VerhBayAbgK 1849/2 II, S. 475. 184

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gesetzlichen Wege konstatiren zu lassen“. In leicht verkappter Form klang in der These, dass den Kammern „der zur Legalität eines Zeugenverhörs unumgänglich nöthige amtliche Charakter“ fehle, wieder das bekannte „Gewaltenteilungs­ argument“ an.186 Es ging wohl um das mutmaßliche Fehlen der Eigenschaft als „Verwaltungsbehörde“ bzw. um die entsprechende Fähigkeit, überhaupt mit exekutiven Vollmachten bekleidet zu werden;187 eine entsprechende Debatte sollte in der Weimarer Republik geführt werden.188

III. Zwischenergebnis Dass die Mehrheit der Zweiten Kammer die linksliberalen Vorjahresforderungen ohne viel Federlesen aufgab, geht auf den Erfolg des gouvernementalen Zweckbündnisses aus Konservativen und rechtem Zentrum in den Juliwahlen zurück; fortan konnte die Regierung auf rund 60 v. H. der Volksvertreter bauen.189 An diesem günstigen Ausgang hatte sie unrühmlichen Anteil, indem sie u. a. den Wahltermin, den Zuschnitt der Wahlkreise sowie die Auswahl der Wahlorte nach ihren Vorstellungen maßgeschneidert hatte, um das konservative Gewicht der Landbevölkerung zum Nachteil von Radikalen und Demokraten stärker zur Geltung zu bringen.190 Die so an die Macht beförderten Parteien hatten sich nicht Volkssouveränität oder Parlamentarismus auf die Fahnen geschrieben, sondern standen fest auf konstitutionellem Boden. Befugnisse der Kammern, Einblick in Originalakten oder Zeugenvernehmungen zu verlangen, waren mit entsprechenden Glaubenssätzen inkompatibel. Damit blieb das parlamentarische Selbstinforma­ tionsrecht des Art. 33 Abs. 3 Bay­GeschG 1850 auf einen abgeschwächten enquête­ rechtlichen Ansatz beschränkt. Für Befugnisse, die ein „echtes“ politisches Untersuchungsrecht auszeichnen, blieb kein Raum.

C. Das Staatsgerichtshofsgesetz vom 30. März 1850 Entsprechende Ansätze finden sich in dem Gesetz, den Staatsgerichtshof und das Verfahren bei Anklagen gegen Minister betreffend, vom 30. März 1850.

186 BeilBayAbgK 1849/2 I, Beil. XL, S.  271. Zu den pseudo-gewaltenteilungsrechtlichen­ Untersuchungsrechtshindernissen des konstitutionellen Staatsrechts s. 2. Teil 3. Kap. B. 187 Zu der entsprechenden Debatte in der Weimarer Republik s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 2. d). 188 s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 2. d). 189 M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 594; W. Volkert, in: HdbBayGesch IV/12 2003, S.  237 (254); K.-J. Hummel, München, 1987, S.  250 f.; Neue Münchener Zeitung, Beil. zu Nr. 179, 1. August 1849, S. 2. 190 K.-J. Hummel, München, 1987, S. 242.

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I. Die Ermittlungsbefugnisse des Art. 2 Abs. 1 Bay­StGHG 1850 Im Falle der Anklage eines Ministers oder seines Stellvertreters hatte jede Kammer gemäß Art. 2 Abs. 1 Bay­StGHG 1850 nicht nur „die Anklagepuncte bestimmt zu bezeichnen“, sondern auch „durch einen besonderen Ausschuß zu ­prüfen“. Diese vorbereitenden Gremien waren befugt, „mündliche oder schriftliche Gutachten von Sachverständigen zu erheben; […] die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen durch den ordentlichen Richter nach Maßgabe der allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen zu veranlassen, und […] von den einschlägigen Staatsministerien die nöthigen auf den Gegenstand der Anklage bezüglichen Erläuterungen zu verlangen“. Weiter sah das Gesetz die „Vernehmung des betheiligten Ministers mit seiner schriftlichen Verantwortung“ vor. Aufgrund dieser Ermittlungen sollten die Untersuchungsausschüsse dann den Kammern ihren Bericht erstatten (Art. 3 Bay­StGHG 1850).191

II. Entstehungsgeschichte Diese beachtlichen Ermittlungsbefugnisse, die das zeitgenössische Schrifttum als „ausgedehnter als die der übrigen Ausschüsse“ qualifizierte (Joseph Pözl),192 gingen auf den Regierungsentwurf zurück.193 Zu ihrer Begründung hieß es lapidar, dass „der großartige Akt der Zusammenberufung des Staatsgerichtshofes nicht leichthin veranlaßt, der Schutz der Verfassung nicht durch eine mangelhafte Vorbereitung und Begründung der Anklage gefährdet und der Schlußstein des constitutionellen Systems nicht seines moralischen Eindruckes durch unbegründete und darum erfolglose Anklagen beraubt werde[n]“ dürfe. Angesichts dessen müsse „es der anklagenden Volksvertretung möglich gemacht werden, sich von der Zulässigkeit und dem Erfolge der beabsichtigten Anklage eine feste Ueberzeugung zu verschaffen, und in einer Art von Voruntersuchung die erheblichen Thatumstände zu erkundigen, das Beweismaterial zu sammeln, und das Hauptverfahren vorzu­bereiten, bevor sich der Staatsgerichtshof mit Verhandlung und Entscheidung der Anklage“ befasse.194 Anfang Oktober 1849 wurde der Regierungsentwurf im Ausschuss der Reichsrätekammer beraten. Sicherlich nicht von ungefähr propagierte ausgerechnet Georg Ludwig Ritter v. Maurer, der als Minister 1847 das Erhebungspatent für Lola Montez kontrasigniert hatte,195 eine zurückhaltende Interpretation des Rechts, „von 191 Demgegenüber sah der Entwurf von 1848 nur vor, „geeigneten Falls die erforderlichen­ näheren Erhebungen im Dienstwege mittelst Requisition der betreffenden Behörden zu veranlassen“ (BeilBayAbgK 1848 I, Beil. XXV, S. 328 f.). Zur Erledigung s. BeilBayRRK 1849 I, Beil. V, S. 65. 192 J. v. Pözl, BayVerfR1 1851, S. 465 in Fn. 1. 193 BeilBayRRK 1849 I, Beil. V, S. 59. 194 BeilBayRRK 1849 I, Beil. V, S. 74 f. 195 A. Kraus, in: HdbBayGesch IV/12 2003, S. 129 (226).

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den einschlägigen Staatsministerien die nöthigen auf den Gegenstand der Anklage bezüglichen Erläuterungen zu verlangen“. Weil es nicht angehe, „[a]lle Amtsgeheimnisse […] aus[zu]kramen“, dürfe „nicht gefordert […] und […] auch nicht mit­ge­theilt werden“, „[w]as nicht gerade zur Vertheidigung nothwendig“ wäre.196 Dagegen betonte Justizminister Karl Joseph v. Kleinschrod, dass dem Recht der Kammern, „Erläuterungen zu verlangen“, „auf der andern Seite eine Verpflichtung entsprechen [müsse…], solche Aufschlüsse zu geben“. Freilich sollten die Minister ihre „Dienstpflicht vor Augen“ haben und „bei jedem einzelnen Aufschlusse ermessen  […], wie weit die Aufklärungen gegeben werden könn[t]en, ohne das Staatswohl zu gefährden“. „[U]numgänglich nothwendig[e]“ Urkunden dürften heraus­gegeben werden, wenn nicht das „Staatsinteresse“ ihre Geheimhaltung gebiete. Sonst kämen „Auszüge aus den Urkunden“ oder „factische Erläuterungen“ in Betracht, die „jedenfalls so vollständig“ sein müssten, „daß das Sachverhältniß nicht zweifelhaft“ bleibe. Nach diesen Hinweisen, die teils bemerkenswerte Pa­ rallelen mit heutigen Überlegungen aufweisen, nahm der Ausschuss den Artikel einstimmig an.197 Im Plenum kam die Frage am 8. Oktober 1849 aufs Tapet. Berichterstatter Graf v. Reigersberg sprach den Fall an, dass „auf solche Aktenstücke bei dem Ministerium recurrirt [werde…], die man, ohne dem allgemeinen Wohl zu schaden, nicht wohl der Oeffentlichkeit übergeben“ dürfe.198 Ein Minister, der sich um des öffent­lichen Wohls willen zu einer verfassungswidrigen Handlung hergegeben habe, müsse dann auch dazu bereit sein, sich „lieber selbst den Folgen […] preiszu­geben, als ein Geheimnis kundzugeben, was dem allgemeinen Wohle nachtheilig seyn“ könne. Ein solcher Konfliktfall sei „übrigens kaum denkbar, denn diejenigen Handlungen, die sich bloß auf eine Urkunde gründ[et]en, [könnten…], wenn sie öffentlich kundgegeben, dem allgemeinen Wohl nicht […] schaden“. Für eventuell weiter erforderliche Regelungen schlug er vor, diese bei Gelegenheit der Geschäftsordnung zu beraten.199 – Im Widerspruch zu diesen heroischen Thesen stellte Art. VIII Bay­ StGHG 1850 klar, dass „[j]edem wirklichen oder abgetretenen Staatsminister oder Verweser eines Staatsministeriums […] die amtlichen Behelfe zur Rechenschaftsablage über seine Amts-Verwaltung nicht vorenthalten werden [konnten], wenn er derselben zu seiner Rechtfertigung vor […] den Ständen des Reichs“ bedurfte. In der Debatte charakterisierte der zweite Präsident Carl Graf v. Seinsheim das Verfahren in den Kammern als eine „Art Voruntersuchung“ vor der eigentlichen Ministeranklage. Bedenken gegen das Auskunftsrecht wies er zurück, weil das Staatsministerium keineswegs verpflichtet wäre, „die nöthigen Urkunden mit[zu] theilen“, sondern lediglich „die nöthigen auf den Gegenstand der Anklage bezüglichen Erläuterungen zu ertheilen“ habe. Ein „kluges Ministerium“ werde es „so 196

BeilBayRRK 1849 I, Beil. XV, S. 282. BeilBayRRK 1849 I, Beil. XV, S. 283. 198 VerhBayRRK 1849 I, Nro. 4, S. 94. 199 VerhBayRRK 1849 I, Nro. 4, S. 95. 197

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einrichten“ können, keine „Urkunden“ mitzuteilen, „deren Bekanntwerdung für das gemeine Wohl nachtheilig seyn“ könne. Nach dieser Debatte wurde der Artikel bei bloß einer Gegenstimme angenommen.200 Im Ausschuss der Zweiten Kammer erstattete der Paulskirchenveteran Carl Kirchgeßner (Württemberg Hof), den die bayerische Regierung im März 1848 als „Vertrauensmann“ an den Bundestag entsandt, später aber wieder abberufen hatte,201 über das Gesetz Bericht. Wie der Vizepräsident der Reichsrätekammer qualifizierte der Würzburger Advokat das parlamentarische Verfahren vor der Ministeranklage als „Voruntersuchung, welche […] nicht durch das Richteramt [erfolge], dem solche […] bei gewöhnlicher Strafsache übertragen [sei]“. Gegen die „Ermächtigung zur Erhebung von Gutachten der Sachverständigen“ sei, „da dieß zu den Beweismitteln […] des gewöhnlichen Strafprozesses“ gehöre, nichts einzu­ wenden; „[e]benso [sei…] auch die Vernehmung von Zeugen ein in dem gewöhnlichen Strafprozesse nothwendig stattfindendes Beweismittel.“ Die Übertragung dieser Aufgabe an den Richter und nach „Maaßgabe der allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen“ sei nicht zu beanstanden, „da die Vernehmung von Zeugen, deren Aussage […] ein besonderer Werth beigelegt werden soll[e], eidlich bestätigt werden“ müsse.202 Gegenüber dem Recht der Ausschüsse, „von den einschlägigen Staatsministerien die nöthigen auf den Gegenstand der Anklage bezüglichen Erläuterungen zu verlangen“, erhob Carl Kirchgeßner Bedenken, weil Unstimmigkeiten „über die Frage, welche Erläuterungen ‚nöthig‘ und auf den Gegenstand der Anklage ‚bezüglich‘ erschienen“, entstehen könnten. Trotzdem folgte der Ausschuss seinem Vorschlag nicht, sich an die Formulierung des Entwurfs für das Geschäftsgangsgesetz anzulehnen, dass „die Kammern sowohl als ihre Ausschüsse […] innerhalb des Umfanges ihres Wirkungskreises das Recht [besäßen], diejenigen Erläuterungen etc., welche sie für erforderlich erach[te]ten, von den einschlägigen Staatsministerien zu verlangen“. Stattdessen wurde schlicht festgestellt, dass „derselbe Sinn unterstellt werden“ müsse.203 Obwohl der Ausschussberichterstatter am 13. März 1850 auch im Plenum anschnitt, ob man nicht dem deutlicheren Wortlaut des Geschäftsgangsgesetzes den Vorzug geben wolle, blieb die Kammer bei der Ausschussfassung stehen.204 200 VerhBayRRK 1849 I, Nro. 4, S.  98 (Hervorhebung nur hier). s.  auch den Gesetzesbeschluss vom 9. Oktober 1849 (S. 250). 201 K.-J. Hummel, München, 1987, S. 102. 202 BeilBayAbgK 1850 III, LXXIX, S.  199. Am 19.  bzw. 21.  März 1850 akzeptierten der Ausschuss und das Plenum der Reichsrätekammer den Vorschlag der Zweiten Kammer, auch die eidliche Sachverständigenvernehmung dem Richter zu übertragen. s. dazu die BeilBayRRK 1850 IV, Beil. LXXXI, S.  12, Beil. LXXXII, S.  33 sowie VerhBayRRK 1850 V, Nro. 38, S. 452 f. und S. 472 ff. den Gesamtbeschluss. 203 s. Ausschussbericht und -protokoll in BeilBayAbgK 1850 III, Beil. LXXIX, S.  199 f., 208. K. Brater, in: Dollmann (Hg.), BayGesetzgebung II/1, 1855, S. 17 (24) urteilte Mitte der 1850er Jahre aufgrund der Entstehungsgeschichte, dass für das Auskunftsrecht im Ausschussverfahren vor der Ministeranklage der präzisere Art. 33 Bay­GeschG 1850 gelte. 204 s. VerhBayAbgK 1849/2 IV, S. 223 und die Schlussabstimmung S. 235 ff.

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III. Die Reichweite des Untersuchungs- und Anklagerechts Gemäß Art. IX Bay­Min­VerantwG 1848 konnten die Kammern Anklage gegen jeden „Staatsminister oder dessen Stellvertreter“ erheben, „der durch Handlungen oder Unterlassungen die Staatsgesetze verletzt[e]“. In Verbindung mit der Pflicht jedes Ministers oder Vertreters aus Art. VII Bay­Min­VerantwG 1848, jede „ihm angesonnene Amtshandlung“, die er für „gesetzwidrig, oder dem Landeswohl nach­ theilig“ hielt, abzulehnen,205 scheint sich eine weite politische Verantwortlichkeit konstruieren zu lassen. In diesem Sinne charakterisierte Manfred Botzenhart Art. VII Bay­Min­VerantwG 1848 als „fast unbegrenzt weite Ausdehnung der Ministerverantwortlichkeit“, die es „theoretisch ermöglicht [habe], jederzeit mit dem Vorwurf einer dem Landeswohl nachteiligen Amtsführung, und das heißt: mit letztlich rein politischen Argumenten, eine Ministeranklage zu begründen“. Die ursprünglich auf Rechtsverletzungen limitierte Ministeranklage sei damit einem politischen Misstrauensvotum angenähert worden, ja habe zum potentiellen Hebel zur „Durchsetzung einer parlamentarischen Regierung“ werden können. Weil die bayerischen Kammern aber weder eine Ministeranklage erhoben noch Versuche unternommen hätten, „die […] Möglichkeiten zur Durchsetzung einer parlamen­ tarischen Regierung auszunutzen“, sei es nicht so weit gekommen.206 Gegen die interessante These, dass das bayerische Staatsrecht solche Möglichkeiten überhaupt bereitgestellt hätte, spricht, dass eine derart weite Interpretation des Art. VII Bay­Min­VerantwG 1848 mit dem „monarchischen Prinzip“ absolut u­ nvereinbar gewesen wäre.207 Darüber hinaus scheidet eine genuin politische Verantwortungsdimension für die gesamte Amtstätigkeit schon deswegen aus, weil jede Anklage gemäß Art. IX Bay­Min­VerantwG 1848 mindestens Fahrlässigkeit voraussetzte.208 Der Begriff des „Landeswohls“ muss deswegen enger zu verstehen gewesen sein, als es heute z. B. das „öffentliche Interesse“ ist. Andernfalls hätte sich die Ministeranklage nicht im Sinne eines rechtlichen Sanktionsverfahrens einhegen lassen. Neben diesen grammatikalisch-systematischen Argumen 205

Hervorhebung nur hier. Der ursprüngliche Gesetzentwurf hatte lediglich ein Recht jedes Ministerialvorstands vorgesehen, sofern er „eine ihm angesonnene Amtshandlung für verfassungs- oder gesetzwidrig [hielt…], dieselbe abzulehnen, und im Falle seine Gegenvorstellungen erfolglos bleiben sollten, die Enthebung von seiner Ministerstelle sich zu erbitten. Demselben [sollten…] solchen Falles seine erworbenen pragmatischen Rechte vorbehalten“ bleiben. Abdruck in BeilBayAbgK 1848 I, 1848, Beil. VII, S. 145 ff. 206 M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 113 ff. unter Bezug auf verschiedene Archivalien. 207 In diesem Sinne verdammte F. J. Stahl, Staatslehre3 1856, S. 378 es als eine mit dem „monarchischen Prinzip“ unvereinbare „parlamentarische Regierung“, wenn die Minister durch weitgehende parlamentarische Anklagerechte „in eine unbedingte Abhängigkeit vom Parlament [gerieten], während sie vom Könige gar nichts mehr zu fürchten“ hätten und dieser „nicht die geringste Verfügung treffen, ja nicht die geringste Aeußerung kund geben [könne], ohne Kontrasignatur eines solchen vom Parlament völlig abhängigen Ministers“. 208 K. Brater, in: Dollmann (Hg.), BayGesetzgebung II/1, 1855, S. 1 (3, 8).

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ten deutet die Entstehungsgeschichte des Art. VII Bay­Min­VerantwG 1848 auf ein engeres Verständnis hin. Zwar wollte Ausschussreferent Carl Edel mit der Verpflichtung auf das Landeswohl gewährleisten, dass ein „Staatsminister oder dessen Stellvertreter […] nicht nur zu Gesetzwidrigkeiten, sondern zu allem, was dem Wohle des Landes und der Nationalehre nachtheilig [wäre…], seine Mitwirkung versagen“ müsste. Von einer Anklage für die Verletzung dieser politischen Pflicht war indessen keine Rede.209 Der Würzburger Rechtswissenschaftler scheiterte aber bei dem Versuch, neben einer Verletzung der „Staatsgesetze“ die der „verfassungsmäßigen Amtspflichten“ als weiteren Anklagegrund durchzusetzen. Zur Begründung dieser Forderung legte er dar, dass man durchaus „dem Geist der Gesetze zuwiderhandeln, das Staatswohl und die heiligsten Interessen des Landes gefährden“ könne, aber „scheinbar kein Gesetz“ verletze. Obwohl nach diesem Vorschlag dem „Bereiche der Verantwortlichkeit ein weites Feld eröffnet“ werden solle, sei doch nicht „zu erwarten, daß in zwei Kammern, wenn denselben irgend Rechtsgefühl und politische Bildung [innewohne…], eine Anklage wegen Verletzung verfassungsmäßiger Amtspflichten durchgehen könne, so ferne nicht ein Minister durch seine Handlungsweise in einen grellen Kontrast mit dem Geiste verfassungsmäßiger Bestimmungen getreten“ wäre.210 Nach dem Scheitern dieses ausdrücklichen Vorstoßes schon im Ausschuss211 ist kaum anzunehmen, dass das letztlich im Plenum beschlossene Anklagerecht trotzdem auch gerade solche Fälle erfassen sollte, in denen die Kammern die Nützlich- oder Schädlichkeit einer Amtshandlung abweichend von dem betreffenden Minister beurteilten. Konsequenterweise zog das zeitgenössische rechtswissenschaftliche Schrifttum ebenfalls keineswegs den Schluss, dass eine Anklage schon bei jedem (schuldhaften) Handeln zum Nachteil des Landeswohls statthaft wäre. Zwar stellte Joseph Pözl 1851 in der Erstauflage seines Lehrbuchs des Bayerischen Verfassungsrechts klar, dass der Leiter eines Ministeriums für seine Handlungen „nicht bloß, wie jeder andere Staatsgenosse, […] den bürgerlichen und den Strafgerichten verantwortlich [sei…], sondern […] zugleich die politische Verantwortlichkeit […] gegenüber den Kammern“ trage. Wirksam werde diese aber erst, „soferne die Staatsgesetze […] verletzt“ würden.212 Dass zu seiner Überzeugung durch eine Ministeranklage die „Zuständigkeit der ordentlichen Strafgerichte bezüglich der etwa concurrirenden gemeinen oder Amtsverbrechen oder Vergehen, sowie die Verfolgung der Entschädigungs-­ Ansprüche vor den bürgerl. Gerichten in keiner Weise ausgeschlossen oder beschränkt“ werde,213 deutet ebenfalls auf eine engere Auslegung hin, weil kein rein politischer Dissens die genannten Konsequenzen haben könnte. Noch 1903 betonte der konservative Münchener Staatsrechtler Max v. Seydel, dass jeder 209

BeilBayAbgK 1848 II, Beil. XLV, S. 271. BeilBayAbgK 1848 II, Beil. XLV, S. 274. 211 Der Ausschuss befürwortete die schließlich Gesetz gewordene Fassung, die ausschließlich auf eine Verletzung der „Staatsgesetze“ rekurrierte. s. das Ausschussprotokoll vom 15. Mai 1848, BeilBayAbgK 1848 II, Beil. XLV, S. 277. 212 J. v. Pözl, BayVerfR1 1851, S. 463 f. (Hervorhebung nur hier). 213 J. v. Pözl, BayVerfR1 1851, S. 467 f. 210

2. Kap.: Bayern

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„Minister […] lediglich Regierungsorgan des Königs“ und „kein Organ des Landtags“ sei. Die „Lehre von der parlamentarischen Regierung [habe] in dem Sinne, daß die königlichen Minister der Kammermehrheit genehm sein oder die Regierung nach deren Ansichten führen müßten, […] keinerlei staatsrechtlichen Anhalt“. Dementsprechend hafte ein „Minister […] den Kammern nur wegen Verletzung der Staatsgesetze […], nicht wegen sonstiger Verletzungen seiner Amtspflicht“. Für eine derartige Verfehlung schulde er „Rechenschaft“ ausschließlich seinem königlichen Herrn.214 In vergleichbarer Weise sprach der Liberale Karl Brater in seinem Kommentar ausschließlich eine „Verletzung eines Gesetzes“, nicht aber des Landeswohls als ­Anklagegrund an. Den Gesetzesbegriff definierte der Jurist und politische Publizist angelehnt an Tit. VII § 2 Bay­Verf­Urk  1818 als „diejenigen allgemein gültigen Verfügungen der Staatsgewalt, welche ‚die Freiheit der Personen oder das Eigenthum der Staatsangehörigen [beträfen…].‘“215 Nach diesem engen Maßstab war Art. VII Bay­Min­VerantwG 1848 überhaupt kein strafbewehrtes Gesetz im Sinne des Art. IX Bay­Min­VerantwG 1848. Trotzdem hatte das Anklagerecht einen gewissen politischen Einschlag, indem die Kammern anders als die kurhessische Ständeversammlung nicht zu diesem Schritt verpflichtet, sondern, wie Karl Brater es ausdrückte, ebenfalls dazu „berechtigt [waren], aus politischen Rücksichten einen […] ablehnenden Beschluß zu fassen, auch wenn die Zulässigkeit des Antrages […] keinem Zweifel“ unterlag.216 Unter diesem Blickwinkel erscheinen die Untersuchungsmöglichkeiten zur An­ klagevorbereitung zwangsläufig auch als politisches Instrument.

IV. Zwischenergebnis Im Kontext der Ministeranklage gewährte Art. 2 Abs. 1 Bay­StGHG 1850 den Kammern ein politisch angehauchtes Untersuchungsrecht. Ungeachtet dessen beschränkten sich das Anklagerecht und das vorbereitende Untersuchungsrecht auf den Vorwurf einer Rechtsverletzung. Ein genuin politisches Missbilligungs- oder Selbstinformationsinstrument existierte damit nicht. Jenseits der verrechtlichten Ministerverantwortung blieb den Kammern bloß die übliche politische Verantwortlichkeitsdimension, die sich in öffentlichen Auseinandersetzungen mit der Regierung, durch Interpellationen, Motionen etc. geltend machen ließ. Dennoch standen die bayerischen Kammern deutlich besser da, als die kurhessischen Landstände in den 1830er Jahren. Eine dilatorische Informationspolitik versprach aufgrund des relativ eigenständigen Untersuchungsrechts der Landstände weit­ weniger Erfolg als in diesen Frühtagen des Konstitutionalismus.217 214

M. v. Seydel, BayStaatsR, 1903, S. 76. K. Brater, in: Dollmann (Hg.), BayGesetzgebung II/1, 1855, S. 1 (3, 8 f.). 216 K. Brater, in: Dollmann (Hg.), BayGesetzgebung II/1, 1855, S. 17 (23). 217 s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. zu den fruchtlosen informationsrechtlichen Auseinandersetzungen mit dem kurfürstlichen Staatsministerium. 215

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4. Teil: Süddeutsche Folgeentwicklungen

D. Bewertung der bayerischen Entwicklung 1913 konstatierte Egon Zweig, dass der bayerische Landtag ein „eigentliches Enqueterecht […] – abgesehen von dem Fall der Ministeranklage – […] nur in sehr bedingter Weise“ besessen habe.218 Gut 85 Jahre später nahm Johannes Masing dieses Urteil auf und qualifizierte Art. 33 Abs. 3 und 4 Bay­GeschG 1850 in vergleichbarer Weise lediglich als „Ansatz eines Enquêterechts“, als „Minimalbefugnis der Heranziehung freiwilliger Sachverständiger ohne Kostenerstattung“.219 Dieses auf den Normtext gegründete Verdikt wird den historischen Fakten nicht in allen Facetten gerecht. So durften die Kammern Sachverständigengutachten selbst dann einholen, wenn damit Kosten verbunden waren. Die vermeintlich rigorose Regelung beschränkte lediglich ihren finanziellen Spielraum für Kostenerstattung und Vergütung auf die „eigenen“ Regiemittel der Landstände. Die Bestimmung des Art. 33 Abs. 4 Hs. 1 Bay­GeschG 1850, dass durch die Kammern „Niemand“ zur „Abgabe solcher Gutachten […] angehalten werden“ konnte – mit anderen Worten also: das Fehlen von Pflicht und Zwang – war keine antiparlamentarische Schikane, sondern transponierte lediglich allgemeine zivilprozessuale Grundsätze auf das Enquêterecht. Es ist kaum anzunehmen, dass es den Abgeordneten durch beide Einschränkungen unmöglich gewesen wäre, zu jeder Frage einen sachverständigen Gefolgsmann aus den eigenen politischen Reihen aufzubieten. Standen unpolitische Sachfragen im Raum, ging es also „bloß“ um eine Sachstandsenquête, fanden sich, wie das Beispiel des Veterinärs Georg Niklas zeigt, selbst Staats­diener zu Erläuterungen bereit. Für politische Kontrollenquêten war das beschränkte Selbstinformationsrecht der Kammern gleichwohl offenkundig nicht gedacht. Unbeschadet dessen waren die normativen Voraussetzungen für eigene Enquêten in Bayern weitaus besser entwickelt, als bislang angenommen. Auch um die Befugnisse stand es keineswegs so übel wie im Vormärz: Art. 33 Bay­GeschG 1850, der in dem Geschäftsgangsgesetz von 1872 wiederkehrte,220 ermächtigte die Ausschüsse, „mündliche und schriftliche Gutachten von Sachverständigen“ gegen Entschädigung oder Entlohnung einzuholen. Gemacht waren diese Vorschrift oder ihr Pendant in dem Gesetz über die Behandlung neuer Gesetzbücher, um die Reformgesetzgebung auf dem Gebiet der gewerbe-, handels- oder sozialpolitischen Verhältnisse zu erleichtern. Sollten diese Regelungen in der Praxis keine besondere Rolle gespielt haben, läge dies nicht an der normativen Ausstattung der Kammern, sondern an­ ihrem politischen Willen. Das Recht zu Zeugenvernehmungen und das Recht auf Vorlage von Regierungsakten sind funktional eher einem politischen Untersuchungs- als einem sachbezogenen Enquêterecht zuzuordnen. Angesichts dessen überrascht es kaum, dass entsprechende Forderungen unter dem Einfluss der Märzrevolution aus den Reihen der Abgeordneten erhoben wurden. Verglichen mit dem Initiativentwurf des Ge 218

E. Zweig, ZfP 1913, 265 (292). J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 10 (Hervorhebung nur hier). 220 Zur Rechtslage bis ins 20. Jahrhundert s. M. v. Seydel, BayStaatsR, 1903, S. 52. 219

2. Kap.: Bayern

493

schäftsordnungsausschusses von 1849, der mit Selbstinformationsrechten und Aktenvorlageanspruch eindeutig eine Aufwertung des Parlaments gegenüber der Exekutive bezweckte, mussten die 1850 Gesetz gewordenen Befugnisse als herber Dämpfer erscheinen. Der Untersuchungsrechtsaspekt erlitt mit dem Gesetz über den Geschäftsgang zweifellos Schiffbruch, indem die Volksvertretung auf ministeriale Auskünfte beschränkt wurde, statt sich unmittelbar aus Ministerialakten informieren, Sachverständige anhören oder Zeugenvernehmungen veranlassen bzw. selbst durchführen zu können. Anders als der Vorjahresentwurf trug das Gesetz von 1850 dem politischen Kontrollgedanken keine Rechnung, erkannte aber immerhin das Enquêtebedürfnis der gesetzgebenden Versammlung an. Diese Konzession an den parlamentarischen Geist sollte man vor dem Hintergrund der vergangenen Jahrzehnte nicht zu gering achten: Schon diese moderate Befugnis der Kammern war ein erheblicher, mit dem antiquierten „monarchischen Prinzip“ inkompatibler Fortschritt auf dem Weg zur informationsrechtlichen Emanzipation der Volksvertretung. Darüber hinaus ist vor allem das Ringen um das Aktenvorlagerecht für die weitere Entwicklung interessant. Ein Teil der ausgetauschten Argumente wirkt noch heute erstaunlich aktuell. So ähnelt Johann Peter Gelberts Vorschlag vom 7. Dezember 1849, eine Ausnahme von der Pflicht zur Vorlage der „Originalakten“ vorzusehen, wenn andernfalls „erweislichermaaßen Nachtheile für das Wohl des Staates“ drohten; den Ausschüssen müsse dann aber „Einsicht in die genaue Aktenlage gegönnt werden“, heutigen Grenzen und Modalitäten der Aktenvorlagepflicht aus Art. 44 Abs. 1 GG. Auch Gustav v. Lerchenfelds Bedenken, dass der Regierung eine „Rechtfertigung wegen Verweigerung einer Aktenvorlage“ kaum möglich sei, „ohne auf den ganzen Inhalt dieser Akten einzugehen“, sollte in späteren Zeiten wiederkehren. Die Sorge des Innenministers Friedrich v. Ringelmann, dass sich eine umfassende exekutive Aktenvorlagepflicht negativ auf die Beratungen innerhalb von Behörden und Ministerium auswirken müsse, weisen in dieselbe Richtung wie die Überlegungen des BVerfG und des Schrifttums zum Schutz eines Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung.221 Ein eher politisches Untersuchungsrecht bestand bloß im Vorfeld einer Ministeranklage. Für den Fall eines derartigen Konflikts zwischen Regierung und Volksvertretung, zu dem es in Bayern niemals kommen sollte,222 gewährte das Staatsgerichtshofsgesetz von 1850 den Kammern den Gesamtkanon parlamentarischer Untersuchungsrechte von Sachverständigengutachten über gerichtliche Zeugenvernehmungen bis hin zu Auskunftsverlangen an die Staatsregierung. Strafprozessual beeinflusst wirkt insbesondere die „Vernehmung des betheiligten Ministers mit seiner schriftlichen Verantwortung“. Wie in Württemberg weist die bayerische Entwicklung – wenigstens zu Anfang noch – auf das Vorbild der Geschäftsordnung und Praxis der Paulskirchenversamm 221

Zu Aktenvorlage und Kernbereich s. 8. Teil 4. Kap. B. I. und C. III. 1. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 115.

222

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4. Teil: Süddeutsche Folgeentwicklungen

lung hin. Neben personellen Verbindungslinien zeigt sich dies in der Arbeit des Geschäftsordnungsausschusses vom Anfang 1849: Der Frankfurter und Stuttgarter Veteran Georg Friedrich Kolb verwies für ein Enquête- und Untersuchungsrecht nicht nur auf England, sondern ausdrücklich auch auf das Vorbild der Deutschen Nationalversammlung.223 Mit dem Ausschussentwurf hätte also eine Entwicklung hin zu einem versatilen Selbstinformationsrecht angestoßen werden können. Diese Gefahr einzudämmen, war das zentrale Anliegen der zurückhaltenderen Regierungsvorlage aus dem folgenden Jahr. Ein politisches Untersuchungsrecht im Dunstkreis der Ministeranklage gehörte dagegen ohnehin nicht zu den Erbschaften der Paulskirchenpraxis. Denkbar ist allerdings ein gewisser Einfluss von § 99 RVerf 1849, in dessen Enumeration die Verbindung einer „Anklage der Minister“ mit dem Recht zur „Erhebung von Thatsachen“ einen Konnex zwischen beiden Befugnissen andeutete. Ungeachtet dessen sind die bayerischen Regelungen aus den Jahren 1848 und 1850 als Nachwehen der Märzrevolution einzustufen, indem sich der in diesen Jahren geborene Gedanke eines unmittelbaren, parlamentarischen Selbstinformationsrechts ein Stück weit Bahn brechen konnte.

3. Kapitel

Einordnung der süddeutschen Entwicklung Trotz des Scheiterns der Paulskirchenverfassung und des gewaltsamen Endes des preußischen Vereinbarungsversuchs hat die Zeit der revolutionären Parlamente in den Königreichen Württemberg und Bayern sichtbare Spuren hinterlassen. Zwar fand in ihre Verfassungsurkunden kein allgemeines Enquête- und Untersuchungsrecht nach dem Beispiel des § 99 RVerf 1849 oder des Art. 73 „Charte Waldeck“ Eingang.224 Wenigstens rangen die Volksvertretungen den Regierungen aber teilweise im Ansatz vergleichbare, einfachgesetzliche bzw. geschäftsordnungsrechtliche Befugnisse ab; der direkte Einfluss des Frankfurter Vorbilds ist beide Male personell wie sachlich nachweisbar. Der politischen Großwetterlage im Nachmärz und den folgenden Jahrzehnten gemäß wurden parlamentarische Selbstinformationsrechte primär im Interesse der Gesetzesvorbereitung anerkannt. Der Aspekt politischer Regierungskontrolle tritt demgegenüber bestenfalls in den Hintergrund. Während es der württembergischen Kammer der Abgeordneten glückte, in ihrer Geschäftsordnung ein allgemeines Informationsrecht einschließlich moderater Aktenvorlage- und Auskunfts­rechte sowie eines Rechts zur Anhörung von Zeugen und Sachverständigen zu etablieren, das wenigstens der Form nach theoretisch auch für politische Untersuchun 223

BeilBayAbgK 1849 I, Beil. XVI, S. 110 f. und die Bemerkung Johann Peter Gelberts in Fn. 128. 224 In diesem Zusammenhang spielte das Großherzogtum Baden, für dessen Landtag es bei den überkommenen Formen blieb, keine Rolle. Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 504 f.

3. Kap.: Einordnung der süddeutschen Entwicklung

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gen nach dem Vorbild der revolutionären Parlamente taugte, blieb es in Bayern bei dem stärker sachpolitikbezogenen Recht, Sachverständigengutachten ­einzuholen. Diese Befugnis, die ebenfalls im Widerspruch mit vormärzlichen Verfassungs­ standards stand, war aber keineswegs so stark eingeschränkt, wie bislang ange­ nommen. Insbesondere stand das Verbot von „Ausgaben für die Staatscasse“ einer moderaten Honorarzahlung aus Regiemitteln der Kammern nicht entgegen. An Pflicht, Zwang oder Eid war im Allgemeinen noch nicht zu denken. Weitergehende Befugnisse sah das materielle Staatsrecht im Königreich Bayern im Vorfeld einer Ministeranklage vor. Ein Recht zu unmittelbaren Zeugenvernehmungen blieb den Kammern aber selbst in diesem Kontext verwehrt.225 Die süddeutsche Folgeentwicklung ist also von dem Durchbruch des Enquête­ gedankens geprägt. Vor allem die württembergische Geschäftsordnung schließt auch der äußeren Form nach an die informationsrechtlichen Standards der Paulskirchenversammlung an; die Bestimmung über das Enquête- und Untersuchungsrecht lässt sich als Anerkennung eines „natürlichen Enquêterechts“ deuten. Darüber hinaus bot das parlamentarische Ringen um weitergehende Befugnisse in den beiden deutschen Mittelstaaten einen interessanten Ausblick auf kommende Auseinandersetzungen um das parlamentarische Selbstinformationsrecht. 225

Auch in Sachsen-Weimar-Eisenach standen dem Landtag besondere Befugnisse zur Vorbereitung einer Ministeranklage zu, die gemäß § 49 RevGG SWE 1850 u. a. wegen „Unterschlei­ fe[n] bei öffentlichen Kassen, Bestechlichkeit, gesetzwidrige[n] Eingriffe[n] in die Rechtspflege, absichtliche[r] Verzögerung in der Verwaltung oder andere[n] willkührliche[n] Eingriffe[n] in die Verfassung oder in die gesetzliche Freiheit, in die Ehre und in das Eigenthum der Staatsbürger“ erhoben werden konnte. Verhandlung und Entscheidung oblagen gemäß § 56 Rev­GG SWE 1850 einem besonderen Staatsgerichtshof, der sich „aus dem Präsidenten des Ober-Appellationsgerichtes zu Jena und zwölf Räthen“ zusammensetzte, die je zur Hälfte durch den Landesfürsten und den Landtag gewählt wurden (§§ 51 f. RevGG SWE 1850). Unterstützten 15 Ab­ geordnete einen Anklageantrag, hatte der Landtagspräsident „sofort die Wahl eines Ausschusses zu veranlassen“ (§§ 1, 2 MinAnklG SWE 1850), der aus dem Landtags­vorstand – gemäß § 11 MinAnklG SWE 1850 waren dies der aus der Mitte der Versammlung gewählte Präsident und die beiden Vizepräsidenten – und vier weiteren Abgeordneten bestand. Dieses Gremium hatte gemäß § 3 MinAnklG SWE 1850 die „erforderlichen Aufklärungen über die in dem Antrage enthaltenen Anklagepunkte auf geeignete Weise zu beschaffen“ und zu diesem Zweck „nicht nur die auf die Anklagepunkte bezüglichen Akten und Urkunden, welche […] von jeder Staatsbehörde un­weigerlich mitzutheilen [waren …], einzufordern und zu prüfen, sondern auch Zeugen zu vernehmen und Sachverständige zuzuziehen, ingleichen Anträge auf nöthig erscheinende Verhaftungen und andere unaufschiebbare Sicherungsmaßregeln bei dem Staatsgerichtshofe zu stellen, welcher […] die nöthigen Verfügungen durch [die zuständige…] Staatsbehörde vornehmen zu lassen hat[te]“. Die „Ausschußmitglieder [waren …] verpflichtet, alle Wahrnehmungen, welche sie aus den mitgetheilten Akten entnommen [hatten …], soweit sie nicht mit den Anklagepunkten in nothwendiger Verbindung [standen …], geheim zu halten“. Andernfalls drohten strafrechtliche Sanktionen und der Verlust der „Fähigkeit, Volksvertreter zu seyn“. Über das Resultat seiner Ermittlungen hatte der Ausschuss dem Plenum nach § 4 MinAnklG SWE 1850 zu berichten. Der Landtag entschied über die Anklageerhebung. Um eine Vereitelung der Anklage nach kurhessischem Muster zu verhindern, ordnete § 6 MinAnklG SWE 1850 an, dass die „Mitglieder des Ausschusses“ auch im Fall einer Auflösung des Landtags „bis zum Zusammentritte des nächsten Landtages in ihren Funktionen“ blieben.

5. Teil

Das Enquête- und Untersuchungsrecht im konstitutionellen Preußen (1849–1873) „Wir haben nach der Verfassungs-Urkunde durch Art. 82. das Recht, in jeder Beziehung die Staats-Regierung zu kontrolliren darüber, ob sie den Gesetzen gemäß regiert.“ Richard Eduard John im Abgeordnetenhaus 18651

1. Kapitel

Die Geringschätzung der preußischen Entwicklung Obwohl Art.  81 PrVerf  1848 Teil  der einseitig durch Friedrich Wilhelm  IV. gege­benen Verfassungsurkunde vom 5. Dezember 1848 ist, verdankt das Enquêteund Untersuchungsrecht der preußischen Kammern seine Existenz den Vorarbeiten der preußischen Vereinbarungsversammlung; ersichtlich hat der Entwurf des Verfassungsausschusses zu Art.  73 „Charte Waldeck“ für diese oktroyierte Vorschrift Pate gestanden.2 Passend zu diesen revolutionären „Geburtsumständen“ schürt das einleitende Zitat des Königsberger Kriminalrechtsprofessors und Fortschrittspolitikers Richard Eduard John hohe Erwartungen an die Geschichte des preußischen Enquête- und Untersuchungsrechts. Im krassen Gegensatz dazu steht ihre übliche Bewertung durch das enquête- und untersuchungsrechtliche Schrifttum. Ausgangspunkt einer geradezu traditionellen Geringschätzung dürften die Verfassungsberatungen des Norddeutschen Bundes sein. Bei dieser Gelegenheit beriefen sich die Gegner eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts fast 20 Jahre nach der Oktroyierung erstmals auf die vermeintliche Bedeutungslosigkeit des preußischen Vorbilds, um das bekämpfte ­ ekermann, Selbstinformationsrecht zu diskreditieren.3 1910 urteilte dann Lucjan B ein Heidelberger Doktorand, mit diesem politisch motivierten Diktum konform, 1

VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 1022. s. 3. Teil 2. Kap. C. III. 3 Zu den Verfassungsberatungen und dem folgenden Antrag Reincke s. 6. Teil 2. Kap. A. I. und II. 2

1. Kap.: Die Geringschätzung der preußischen Entwicklung 

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dass Art. 82 PrVerf 1850 niemals über das Embryonalstadium hinausgewachsen wäre.4 Drei Jahre später folgte Egon Zweigs bis heute tonangebender Beitrag in der Zeitschrift für Politik; der Wiener Jurist hielt die „praktische Bedeutung“ und „faktische Leistung“ des preußischen Enquête- und Untersuchungsrechts für „sehr dürftig“. Die bis heute anzutreffende These, dass die Kammern von ihrem Selbstinformationsrecht nicht öfter als vier Mal Gebrauch gemacht hätten, dürfte ebenfalls durch diese Arbeit populär geworden sein.5 Vor allem wertete Zweig die Einsetzung einer königlichen „Spezialuntersuchungskommission“ zur Aufklärung des Eisenbahn- und Gründerskandals der 1870er Jahre als Menetekel des heraufziehenden Antiparlamentarismus in der Ära Bismarcks. Mit diesem Schachzug wäre die Regierung der „Wißbegierde der Volksvertretung“ zuvorgekommen und habe eine parlamentarische Untersuchung vereitelt.6 1925 stimmte der spätere Bundesverfassungsrichter Karl Heck in den Kanon ein, dass sich die Volksvertretung in enquête- und untersuchungsrechtlicher Sicht niemals habe gegenüber der Regierung behaupten können; das Gouvernement habe eine Auslegung von Art. 82 PrVerf 1850 durchgesetzt, „die den Kammern die selbständige Untersuchungsbefugnis tatsächlich vollkommen entzog[en] und sie gänzlich vom Willen der Regierung abhängig“ gemacht habe. Nach der vermeintlichen Schlappe der Wahlmanipulationsuntersuchung von 1863/64 wäre das Enquête- und Untersuchungsrecht mit „Beginn der siebziger Jahre allmählich in Vergessenheit“ geraten.7 Sechs Jahre später kam der Gießener Doktorand Josef Kahn in seiner Dissertationsschrift zu dem bis heute verbreiteten Pauschalurteil, dass es die „preußische Regierung [stets…] meisterhaft [verstanden habe], dieses Institut zur vollständi­ asing gen Bedeutungslosigkeit herabzudrücken“.8 Differenzierter ging Johannes M 1998 mit dem preußischen Enquête- und Untersuchungsrecht ins Gericht, das seiner Meinung nach, obwohl durch die oktroyierte Verfassung gegenüber der „Charte Waldeck“ verwässert, „auch in dieser Form nicht ohne Bedeutung“ geblieben ist. Immerhin hätten aufgrund von Art. 82 PrVerf 1850 eine Enquête zum Banken- und Sparkassenwesen sowie die Wahlmanipulationsuntersuchung stattgefunden. Weitere Anträge seien dagegen gescheitert. Wieder folgt aber die These, dass das Gouvernement den „(letzte[n]) Untersuchungsantrag zur Aufklärung von Unkorrektheiten bei Erteilung von Eisenbahnkonzessionen (1873)“ durch die „Einsetzung einer regierungsgeleiteten Kommission“ erfolgreich „verdrängt“ habe. „Angesichts der zunehmenden Widerstände der Regierung gegen autonome Unter-

4

Zur Überzeugung von L. Bekermann, Kontrolle, 1910, S. 45 ist die „Enquête in Preußen ein gänzlich embryonales Gebilde geblieben“. 5 s. zu dieser Zahl auch H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 456 mit Hinweis auf A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 93, auf den diese Annahme wohl zurückgeht. 6 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (285 ff.). 7 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 10 f. 8 J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S. 4. U. a. gingen auch J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR II2 1930, S. 688 davon aus, dass die Regierung seit den 1870er Jahren „parlamentarische Enqueten“ durch die „Bildung eines Spezialausschusses“ „überflüssig“ gemacht habe.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

suchungen des Parlaments [habe…] sich damit […] der Weg ab[gezeichnet], den die Praxis im Laufe der Zeit“ eingeschlagen habe; künftige Enquêten habe die Regierung in die Hand genommen, dem Parlament allenfalls noch eine beschränkte Teilnahme angeboten. „Von einem parlamentarischen Untersuchungsrecht [sei deswegen…] nichts mehr übriggeblieben.“9 Im Allgemeinen urteilte Johannes Masing über die Phase der „konstitutionellen Monarchie“, dass „[v]on einer rechtsformenden Praxis des Untersuchungsrechts […] kaum die Rede sein“ könne.10 Komplementär zu diesem vernichtenden Verdikt musste Art.  82 PrVerf  1850 in einer Dissertationsschrift von 2006 als Negativvorbild für die informationsrechtliche Bedeutungslosigkeit der einzelstaatlichen Verfassungen herhalten.11 Allenfalls vereinzelt wird die Bedeutung des bemerkenswerten Artikels höher angeschlagen12 oder sogar ein gewisser Einfluss auf die Entstehung von Art.  34 RVerf  1919 anerkannt  – freilich üblicherweise mit negativem Vorzeichen.13 Der Meinungsstand lässt sich auf den Nenner bringen, dass das Enquête- und Untersuchungsrecht der preußischen Kammern gegenüber der Übermacht der Regierung versagt habe. Für eine politische Bedeutung dieser hart erkämpften, vermeintlich aber nutzlosen Befugnis bleibt so denkbar wenig Raum. Diese verbreitete Einschätzung kann einer intensiveren Analyse der parlamentarischen Tätigkeit zwischen 1849 und 1873 nicht standhalten. Die Untersuchung ihrer informationsrechtlichen Praxis wird zeigen, dass die preußischen Kammern nicht in dem Maße unter der gouvernementalen Knute standen, wie bislang angenommen. Die verschiedenen Regierungen hatten es keineswegs in der Hand, nach ihrem Belieben jede Enquête oder Untersuchung zu vereiteln. Stattdessen knüpften die konstitutionellen Volksvertretungen in der Hohenzollern­monarchie ein Stück weit an das revolutionäre Vorbild der Vereinbarungsversammlung an. Die in der Berliner Singakademie im turbulenten Revolutionsjahr 1848 angestoßene Entwicklung setzte sich nicht nur in der ersten Konsolidierungsphase nach der Oktroyierung fort, sondern kam nicht einmal in der folgenden Reak­tionszeit 9

J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 11 ff. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 14. 11 So S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 45 f. Ebenso bricht J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 7, 8, 11 ff., 13 ff. den Stab der Bedeutungslosigkeit über die gesamte deutsche Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte des 19.  Jahrhunderts. Zwar habe die „Idee des politischen Untersuchungsrechts“ „erste Konturen“ erhalten, sei „vorgeformt“, aber keineswegs „ausgeformt“ worden. „[P]olitisch entscheidende Bedeutung“ sei ihr zwangsläufig versagt geblieben. Ähnl. urteilen L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungs­ ausschüsse2 2011, § 2 Rn. 14 und M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 2 über die einzelstaatlichen Verfassungen. 12 s. etwa L.-A. Versteyl, in: vMüK4–5 II, 2001, Art. 44 Rn. 1: „Das Recht des Parlaments, mit dem Instrumentarium eines Untersuchungsausschusses […] Mißstände aufzudecken, richtete sich ursprünglich gegen die Regierung und damit gegen die Verwaltung allgemein (vgl. Art. 82 Pr.Verf. 1850 […])“. 13 So F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 80: „Den Schöpfern der Verfassungen stand sehr wohl der unleidliche Zustand vor Augen, unter dem die Enquêteausschüsse der preußischen Verfassung vor 1918 ihr Dasein hatten fristen müssen.“ 10

2. Kap.: Rechtsgrundlagen parlamentarischer Information 

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zum Erliegen. Ihren Zenit erreichte die preußische Enquête- und Untersuchungspraxis ausgerechnet auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts, als das Abgeordnetenhaus gegen den Widerstand des Ministeriums Bismarck eine spektakuläre Untersuchung über die Beeinflussung der Oktoberwahlen von 1863 veranstaltete; die politische wie verfassungsgeschichtliche Bedeutung dieser Kontroll­ enquête wird bis heute häufig verkannt. Nicht einmal das vermeintliche „Einknicken“ in der Eisenbahn- und Gründerangelegenheit, als Eduard Lasker seinen Untersuchungsantrag zugunsten einer Beteiligung des Abgeordnetenhauses an der könig­lichen Spezialkommission zurückzog, war ein gelungener Coup der preu­ ßischen Regierung; die Aufarbeitung der teils skandalösen Vorgänge konnte damit ebenso wenig vereitelt werden wie eine parlamentarische (Mit-)Regie. Die preu­ ßische Parlamentsgeschichte hält also  – an bisher gefestigten Auffassungen gemessen – manche Überraschung bereit.

2. Kapitel

Rechtsgrundlagen parlamentarischer Information A. Die Entstehung des Enquête- und Untersuchungsrechts Das Recht der Kammern, „Behufs ihrer Information Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“, wurde erstmals in Art. 81 PrVerf 1848 festgeschrieben, bevor diese Vorschrift in Gestalt des wortgleichen Art. 82 PrVerf 1850 die konservative Verfassungsrevision von 1849/50 überstand.

I. Die Oktroyierte Verfassungsurkunde (1848) Im zeitgenössischen Schrifttum hieß es lange Zeit, die oktroyierte Dezemberverfassung entspreche im Wesentlichen dem Entwurf der Verfassungskommission der Vereinbarungsversammlung. Noch 1890 urteilte der konservative Historiker Wilhelm Oncken, „daß Waldecks Verfassungsausschuß mit Staunen sein eigen Werk darin erkannte“.14 Im November 1848 hatte der Generaladjutant des Königs, Leopold v. Gerlach, über einen Vorentwurf geäußert, es wäre „fast ganz der […], welcher aus den Abtheilungen hervorgegangen“, kurzum: ein „elendes Resultat!“.15

14

W. Oncken, Wilhelm I, 1890, S. 286. Freilich bezog sich dieses Verdikt primär auf den Grundrechtsteil mit seinem „vollständigen Bruch mit allen Anschauungen und Ordnungen des Polizeistaates“. 15 U. A. v. Gerlach (Hg.), Denkwürdigkeiten I, 1891, S. 245.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

1. Die Verfassungsurkunde vom 5. Dezember 1848 Tatsächlich hatte das Ministerium Brandenburg erste Vorschläge in Anlehnung an die Vorarbeiten der Verfassungskommission verfasst. Dieser Text wurde wahrscheinlich dem konservativen Berliner Professor des Römischen Rechts Friedrich Ludwig Keller vom Steinbock vorgelegt und das im monarchischen Sinne revidierte Dokument schließlich um den 20.  November 1848 herum Friedrich Wilhelm  IV. unterbreitet. Seine Forderungen führten zu weiteren Modifikationen der vermeintlich zu freisinnigen, ja „über jeden Ausdruck Gefahr bringend[en], schlecht[en] und unpraktisch[en]“ Vorlage. Auf diesem Weg hielt u. a. das Gottes­ gnadentum wieder Einzug in den Text, die Streichung des Adels verschwand und die königliche Alleinherrschaft über die Armee wurde wiederhergestellt. Insgesamt ist von „rund 40 gravierenden Änderungen“ die Rede. Zu den dramatischsten Eingriffen in das Werk des Verfassungsausschusses gehörten zweifellos das Notverordnungsrecht, das teils – verstanden als vorbehaltene Befugnis zum Verfassungsbruch – als Conditio sine qua non der „liberalen“ Dezemberverfassung gilt,16 der Austausch des parlamentsfreundlichen suspensiven gegen ein promonarchisches absolutes Vetorecht des Königs sowie das Recht der Regierung, im Ausnahmezustand neben den Habeas-Corpus-Grundrechten auch Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit zu suspendieren.17 De facto veränderten diese Eingriffe das Wesen des Kommissionsentwurfs grundlegend und das Notverordnungsrecht sollte sich schon 1849 als wirkungsvoller Hebel der Reaktion erweisen, auf dessen Grundlage das berüchtigte Dreiklassenwahlrecht oktroyiert werden konnte.18 2. Art. 81 PrVerf 1848 als Rückschritt gegenüber Art. 73 „Charte Waldeck“? Angesichts der konservativen Remedur des Kommissionsentwurfs ist es eigentlich erstaunlich, dass das selbst in der Nationalversammlung nicht unumstrittene Enquête- und Untersuchungsrecht, das noch dazu erst durch die Verfassungs­ kommission aufs Tableau gekommen war, – wenngleich mit einigen Läsionen – 16

So G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 63 f. Zum Ganzen mit unterschiedlichem Akzent M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 15 ff.; G. Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 47 f., 52 f.; H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 46 (Zitat) sowie zum weiteren Verlauf S. 54 ff.; U. A. v. Gerlach (Hg.), Denkwürdigkeiten I, 1891, S. 242 f., 244, 245 f., 248 ff.; F. Frahm, ForschBbgPrGesch 41 (1928), 248 (279 ff., 288 ff.); I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (273) oder E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 740. Allen Wesensänderungen zum Trotz betonte das Patent, betreffend die Zusammenberufung der Volksvertreter, vom 5. Dezember 1848 (PrGS. 392), dass bei der Feststellung der Verfassungsurkunde der Regierungsentwurf zugrunde gelegt, aber „nach Maßgabe der von der VerfassungsKommission […] ausgegangenen Vorschläge, […] so wie in gebührender Berücksichtigung der Beschlüsse der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt a. M., modifizirt“ worden sei. 18 Zu Entwicklung und Bedeutung des Notverordnungs- und Diktaturrechts vgl. F. Frahm, Forsch­ BbgPrGesch 41 (1928), 248 (279 ff., 290 f.) sowie G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 66 ff. 17

2. Kap.: Rechtsgrundlagen parlamentarischer Information 

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grundsätzlich erhalten blieb: Enger als die „Charte Waldeck“ am Vorbild des Art. 40 BelgVerf 1831 orientiert,19 der mit den Worten „chaque Chambre a le droit d’enquête“ bzw. „elke Kamer heeft het recht van onderzoek“ ein nicht näher umgrenztes Enquête- und Untersuchungsrecht gewährte,20 gab Art.  81 PrVerf  1848 fortan „jede[r] Kammer […] die Befugniß, Behufs ihrer Information Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“. Fortgefallen waren damit insbesondere die ausdrücklichen Kommissionsbefugnisse des Art. 73 „Charte Waldeck“. Der im direkten Vergleich offenere Wortlaut des Art. 81 PrVerf 1848 gab einem politischen Ringen um die Reichweite des neuen Rechts breiten Raum. Über die nähere Entstehungsgeschichte oder die mit dem Entwurf verfolgten Zielsetzungen lässt sich den verschiedenen regierungsinternen Entwurfsfassungen und sonstigen Quellen wenig entnehmen: Ein vermutlich um den 25. November 1848 entstandener, undatierter Entwurf21 sah noch ganz nach dem Vorbild der „Charte Waldeck“ das Recht der Kammern vor, „Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren“. Diese Kommissionsbefugnisse fielen wohl dem Federhalter des Innenministers Otto v. Manteuffel zum Opfer, der dem Enquête- und Untersuchungsrecht so eine mit dem „monarchischen Prinzip“ schwer vereinbare Spitze nahm. Zugleich findet sich in der entsprechenden, ebenfalls undatierten Entwurfsfassung, die nach dem 26. November, aber nicht nach dem 3. Dezember“ 1848 entstanden sein soll, als Randbemerkung der Zusatz: „Behufs ihrer Information“. Gründe für diese beiden Abweichungen von der „Charte Waldeck“ sind nicht überliefert.22 Es liegt aber nahe, dass das neue Recht auf „ungefährlichere“ Sachstandsermittlungen etc. beschränkt werden sollte. In diesem Sinne notierte der Finanzminister des Revolu­ tionsjahres, der altliberale Politiker David Hansemann, 1850 in seinen Erinnerungen über jene „drei Worte“, dass er versucht habe, das Untersuchungsrecht mit dem Zusatz: „jedoch nur Behufs ihrer Information“, zu entschärfen. Am 4.  Dezember 1848 hätten diesen Vorschlag ein Mitglied des Staatsministeriums sowie eine andere hochgestellte Persönlichkeit gelesen. Die zweite Anregung des rheinischen Unternehmers, „[z]ur Ausübung dieser Befugniß […] ein[en] Beschluß durch eine Stimmenmehrheit von mindestens zwei Drittheilen der anwesenden Mitglieder“ zu fordern, blieb unberücksichtigt.23 19

Vgl. R. Smend, PrVerf 1850, 1904, S. 24. Zur Vorbildwirkung dieser Bestimmung s. K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  9 oder W. Steffani, in: Kluxen (Hg.), Parlamentarismus5 1980, S. 249 (256). 21 M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 126. 22 M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 19, 137, 150. 23 D. Hansemann, Verfassungswerk, 1850, S. 155 f., 162 und Fn. *. Der Vorschlag lautete: „Eine jede Kammer hat, jedoch nur Behufs ihrer Information, die Befugniß, Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren. Zur Ausübung dieser Befugniß ist ein Beschluß durch eine Stimmenmehrheit von mindestens zwei Drittheilen der anwesenden Mitglieder erforderlich.“ 20

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Liegen auch die entstehungsgeschichtlichen Details im Dunkeln, sprechen doch die politisch-historischen Rahmenbedingungen dafür, dass man das Enquête- und Untersuchungsrecht gegenüber dem revolutionären Entwurf des Verfassungsausschusses nicht etwa kosmetisch verschönern, sondern materiell kupieren wollte.­ Sicherlich hoffte das konservative Ministerium, die künftigen Kammern durch eine Streichung eigenständiger Kommissionsbefugnisse vormärzlichen Standards gemäß an der kurzen informationsrechtlichen Leine halten und seiner Vorherrschaft unterwerfen zu können. Ebenso wenig ist es ausgeschlossen, dass man – ähnlich wie für die lex imperfecta der Ministerverantwortlichkeit  – darauf spekulierte, eine papierene Befugnis werde ohne Ausführungsgesetz nichts wert sein; immerhin hätte sich die Entscheidung über das problematische Selbstinformationsrecht auf die „griechischen Kalenden“ vertagen lassen, indem jedes Gesetz von der Zustimmung des Monarchen abhing. Außerdem überließ der häufig als Kompromiss bewertete offene Wortlaut des Art. 81 PrVerf 1848 – worauf der Greifswalder Staats- und Kameralwissenschaftler Eduard Baumstark Ende 1849 in den Revi­ sions­verhandlungen hinwies  – das Enquête- und Untersuchungsrecht der Kammern de facto dem Spiel der politischen Kräfte.24 Diese Partie sollte die Regierung durch die Oktroyierung des Dreiklassenwahlrechts und kräftige Wahlagitationen gleichsam mit „gezinkten Karten“ spielen.25

II. Die Verfassungsrevision (1849–50) Mit der Oktroyierung der Verfassungsurkunde hatte Friedrich Wilhelm IV. eine Revision „im ordentlichen Wege der Gesetzgebung“ in Aussicht gestellt. Die Kodifizierung dieser Verheißung in Art. 112 PrVerf 1848 machte die Oktroi zum Provisorium. Mit diesem Revisionsversprechen unterwarf sich der Monarch nach dem Scheitern der Nationalversammlung gewissermaßen ein weiteres Mal dem Ver­ einbarungsprinzip und kündigte die Transformation der vorläufigen Gabe in ein endgültiges Vereinbarungswerk an. Selbst der Termin für die Aufnahme dieser­ Arbeiten wurde mit Patent vom 5. Dezember 1848 gleichzeitig mit der Auflösung der Vereinbarungsversammlung und der Oktroyierung der Verfassungsurkunde verordnet.26 Freilich baute man in Regierungskreisen auf eine Revision im kon 24 Vgl. W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 50; VerhPr1K I (1849/50), S. 1637 (Baumstark). 25 Eine Rechtfertigung versuchte der ehemalige konservative Abgeordnete L. Hahn, Gesch7 1867, S.  468: Das Klassenwahlrecht sei geschaffen worden, „um […] den gebildeteren und wohlhabenderen Klassen, welche an der Entwickelung des Staatswesens ein größeres Interesse haben, wieder einen höheren Einfluß bei den Wahlen zu sichern“. In der neuen Kammer habe deswegen „wieder ein Geist größerer Besonnenheit und das Bestreben [vorgewaltet…], die neuen Staatsreinrichtungen wieder mehr mit den alten Grundlagen des preußischen Staatswesens in Einklang zu bringen.“ 26 Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 35 f.; G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S.  35 sowie H.  Wegge, Öffentlichkeit, 1932, S.  48 f. zu zeitgenössischen Einschätzungen. Aus damaliger Sicht H. V. v. Unruh, Erfahrungen, 1851, S. 136. In dem Patent, betreffend die­

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servativen Sinne, während die gegebene Verfassung nach Friedrich Frahms Urteil durch ihre liberalen Zugeständnisse ebenso wie die Ankündigung von Neuwahlen und Revision erst einmal zur „Beruhigung der Gemüter“ dienen sollte.27 1. Das Scheitern des ersten Revisionsversuchs (1849) In der Wahlrechtsfrage enttäuschte die Dezemberverfassung gleichermaßen die Wünsche des Innenministers Otto v. Manteuffel oder David Hansemanns, „daß das allgemeine Stimmrecht unbedenklich aufgehoben werden könne“, wie die katas­ tro­phalen Erwartungen der liberalen Opposition: Man blieb vorerst den Wahlrechtsidealen des Revolutionsjahres grosso modo treu.28 Zwar band das Interimistische Wahlgesetz für die Erste Kammer vom 6. Dezember 184829 das Urwahlrecht an einen relativ hohen Zensus.30 Weitere Einschränkungen der Wählbarkeit oder gar königliche Ernennungen waren aber nicht vorgesehen. Die Erste Kammer war damit noch nicht das aristokratische Herrenhaus späterer Jahre, das Friedrich­ Wilhelm IV. von Anfang an bevorzugt hatte;31 für den Moment konnte Alterspräsident Bracht bei der Eröffnung noch konstatieren, dass zwar das Jahr 1848 „die erste preußische Volks-Kammer […] begrüßen“ durfte, die jetzigen Kammern aber ebenso als Volksrepräsentation anzusehen seien.32 Noch freier fiel das Wahlgesetz für die Zweite Kammer vom 6. Dezember 184833 aus: Die 350 Abgeordneten wurden, was der Kammer den Ruf als „eigentliche“ Volksvertretung eintrug,34 geheim und ohne Zensus gewählt. Einer restriktiven Interpretation des gesetzlichen Vorbehalts, dass nur „jeder selbstständige Preuße“ urwahlberechtigt sei, beugte das Ministerium Brandenburg durch Verwaltungsanweisung vom 19. Dezember 1848 Zusammenberufung der Volksvertreter, vom 5. Dezember 1848 (PrGS. S. 392) hieß es, „daß die nach der Verfassungs-Urkunde ins Leben zu rufenden Kammern am 26. Februar 1849 in [der…] Haupt- und Residenzstadt Berlin sich [zu] versammeln“ hatten. 27 Dazu F. Frahm, ForschBbgPrGesch 41 (1928), 248 (278 ff., 286 ff.). 28 Vgl. einerseits H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 62; D. Hansemann,­ Verfassungswerk, 1850, S. 155 und andererseits H. V. v. Unruh, Erfahrungen, 1851, S. 135 f.; H. v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 115 f. s. auch M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 606. 29 PrGS. S. 395. 30 H.-U. Wehler, GesellGesch II4 2005, S.  753; M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 614 f.; F. Frahm, ForschBbgPrGesch 41 (1928), 248 (288 f.). Zu den Wirkungen s. H. Kaltheu­ ner, ZVGA 48 (1927), 1 (12): rund 3,5 Mio. Wahlberechtigten zur Zweiten Kammer standen 189.975 Wahlberechtigte zur Ersten Kammer gegenüber. 31 s. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 536 f. sowie zu Änderungswünschen gegenüber dem Regierungsentwurf M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S.  56 bzw. gegenüber der zur Oktroyierung bestimmten Fassung H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 52. Zur Entwicklung s. J. F. G. Eiselen, Pr. Staat, 1862, S. 302 ff. Andeutungen fanden sich in der Publika­tion der oktroyierten Verfassung zu Art. 63 und 67 (PrGS. S. 375 (383, 384)). 32 VerhPr1K I (1849/50), S. 2. 33 PrGS. S. 399. 34 H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (12).

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vor.35 Das passive Wahlrecht knüpfte lediglich an ein Lebensalter von 30 Jahren sowie die mindestens einjährige Staatsangehörigkeit an. Bei ihrem vermeintlichen Dezemberstaatsstreich wagte die Regierung also noch keinen Bruch mit diesen demokratischen Märzerrungenschaften. Wie nicht anders zu erwarten, kreiste der Wahlkampf im Frühjahr 1849 um die „rettende Tat“ des Ministeriums Brandenburg-Manteuffel.36 Dabei beschränkte sich die gouvernemental-konservative Seite keineswegs auf Meinungsmache, sondern die Regierung griff „in den Wahlkampf energisch ein“ (Heinrich v. Poschinger) und versuchte, durch eine willkürliche Wahlkreiseinteilung „demokratische Volksmassen zu zersplittern“ (Ferdinand Fischer). Auch konservative und Adelskreise agitierten, manipulierten und drohten, um eine Neuauflage der Nationalversammlung zu verhindern.37 In der Ersten Kammer besetzte die demokratische Linke, die sich gegen die oktroyierte Verfassung stellte, höchstens 30 der 180 Sitze,38 während das „liberale Großbürgertum“ eine „überragende Mehrheit“ gewonnen hatte.39 In der Zweiten Kammer stellten die Demokraten immerhin die zweitstärkste Fraktion.40 Die siegreiche Mitte setzte sich aus dem oppositionellen linken und dem regierungsfreundlicheren rechten Zentrum zusammen.41 Obwohl die Zweite Kammer damit allen Anstrengungen zum Trotz doch wieder der Vereinbarungsversammlung ähnelte,42 konnte die Regierung zunächst auf eine Mehrheit bauen. Während Hans Viktor v. Unruh von etwa 17 Stimmen spricht, stimmten einer Schätzung Ferdinand Fischers zufolge zunächst 270 der 350 Abgeordneten im gouvernementalen Sinne. Als das Ministerium aber einen harten Konfrontationskurs einschlug und kaum eine Gelegenheit ausließ, um die Volksvertretung „überall in die ‚gebührenden Schranken zurück zu weisen‘, Souverainitätsgelüste im 35

Die Anweisung ging dahin, „daß eine […] Begriffsbestimmung im Wege der Gesetzgebung […] bewirkt werden [müsse…], und daß, so lange dies nicht geschehen [sei…], Niemand von der Theilnahme an der Wahl […] ausgeschlossen werden [dürfe…], der die sonstigen gesetzlichen Bedingungen des aktiven Wahlrechts [erfülle…] und von dem nicht [feststehe…], daß er sich zur Zeit der Wahl nicht in der Lage [befinde…], über seine Person und sein Eigenthum zu verfügen“. Zitiert nach AblRegDüsseldorf 1848, Nr.  83, S.  667. Abdruck auch bei D. Hansemann, Verfassungswerk, 1850, S. S. 171. s. ferner dazu G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 38 f. und M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 606. 36 Vgl. F. Fischer, Preußen, 1876, S. 11 f.; M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 607; H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (12). 37 H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 67 ff. Die pauschale Annahme, die Regierung habe mit dem Wahlausgang zufrieden sein können, dürfte für die Zweite Kammer zu weit gegangen sein. Heinrich v. Poschinger, S. 74 beschränkt sie dann in der Anm. * auch auf die Erste Kammer. s. außerdem ders. (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 123 und zu der kreativen „Wahlkreisgeometrie“ F. Fischer, Preußen, 1876, S. 12 f. 38 M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 460; E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 36. 39 B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, S. 83. 40 H.-U. Wehler, GesellGesch II4 2005, S. 753; M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 607 sowie S. 458 ff. zum weiteren Schicksal der Fraktionen. 41 E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 37. 42 B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, S. 83.

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Keim zu ersticken und dem constitutionellen Staate eine durchaus andere Basis zu geben“, kippte die „Stimmung der Kammer […] innerhalb 8 Wochen gänzlich“ um (Ferdinand Fischer), so dass nach Hans Viktor v. Unruhs Urteil selbst in „wichtigsten Fragen“ nur noch zufällige Mehrheiten zustande kamen, bis die Verhandlungen gänzlich „lächerlich“ geworden waren.43 Der kommende Konflikt zeichnete sich spätestens ab, als aus Anlass der Adressdebatte Zweifel an der Gültigkeit der oktroyierten Verfassung sowie verschiedener Notverordnungen laut wurden.44 Die Lage spitzte sich weiter zu, als die Linke die Aufhebung des Berliner Belagerungszustands forderte.45 Versuche, die Anerkennung der Frankfurter Reichsverfassung durchzusetzen,46 konnten bloß als Misstrauensvotum gegen das konservative Staatsministerium gedeutet werden.47 Als sich die Regierung nach dieser Desavouierung in der deutschen Frage und dem Angriff auf die militärische Suprematie der Krone dazu entschloss, auch diese Volksvertretung aufzulösen, hatte der zweite Vereinbarungsversuch am 27. April 1849 ein Ende.48 Nachdem Ministerpräsident Friedrich Wilhelm Graf v. Brandenburg die Auflö­ sungsverordnung verlesen hatte, schloss Präsident Wilhelm Grabow die Versammlung um fünf vor zwölf Uhr; die Erste Kammer wurde verfassungsgemäß vertagt.49 43 Vgl. F. Fischer, Kammern, 1849, S. 339; ders., Preußen, 1876, S. 263; H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 84 f.; H. V. v. Unruh, Erfahrungen, 1851, S. 137 f.; H. v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 123 f. 44 Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S.  609 f. und H.  Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (16 ff.) dazu sowie dem Ringen um die Adresse. 45 In der Debatte zitierte der konservative Innenminister Otto v. Manteuffel aus amtlichen Unter­lagen und betonte, dass bei „Erwägung aller dieser Umstände“ die Gründe für den Belagerungszustand fortbestünden. Der Kammer bestritt er das Recht, die Aufhebung des Belagerungszustandes zu verlangen (VerhPr2K I (1849), S. 663 bis 668). Diese schlug die Mahnungen des Grafen Zieten in den Wind, sich nach den ministeriellen Mitteilungen „desto entschiedener gegen die Aufhebung des Belagerungszustandes aus[zu]sprechen“ (VerhPr2K I (1849), S.  668 f.), und folgte Hans Viktor v. Unruhs Amendement, „daß die Fortdauer des Belagerungszustandes ohne Zustimmung der Kammern ungesetzlich“ sei. Im zweiten Schritt wurde die vermeintlich erforderliche parlamentarische Genehmigung verweigert (VerhPr2K I (1849), S. 703 ff.). Zum Ganzen H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 99 ff.; ders. (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 126 ff.; H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (24 f.) und M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 627 ff. 46 Vgl. M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S.  23; E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 44 ff. Zum Antrag Rodbertus, Amendements und Beschluss in den Sitzungen am 13. und 21. April 1849 s. VerhPr2K I (1849), S.  461 (Antrag), 581 ff., 608 ff. (Debatte und Abstimmung). Ausführlich zu dieser Frage H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (20 ff.). 47 So H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 94 f. 48 Dazu M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 629 und H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 101 ff. mit Abdruck der Auflösungsverordnung mit ministeriellen Motiven. s. zum Ganzen auch I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (273 f.). 49 Dazu VerhPr2K I (1849), S.  708 mit Abdruck der Verordnung sowie mit unterschiedlichem Akzent H. v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 129 f.; H. Wagener, Friedrich Wilhelm IV., 1883, S. 53; F. Fischer, Preußen, 1876, S. 13; G. Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 56 oder aus neuerer Zeit M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 616 f., 618 ff., 625 ff.; M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 23.

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Anders als für die Auflösung der Nationalversammlung existierte mit Art.  49 Satz  2 PrVerf  1848 dieses Mal eine ausdrückliche Rechtsgrundlage. Erscheint ein solcher Schritt aus heutiger Perspektive auch als despotisch, hatte er damals durchaus eine Berechtigung. Der Konstitutionalismus besaß, wie es Hans Viktor v. Unruh formulierte, „nun einmal keine andere Basis, als die Majorität und fordert[e] deshalb gebieterisch, daß Minister, welche dieselbe nicht mehr [besaßen, ausschieden…], oder die Kammer auflös[t]en und zur Neuwahl“ schritten, um das Einvernehmen mit der Volksvertretung wiederherzustellen. Geschehe „keines von beiden, [liege…] das nach beiden Seiten hin gefährliche und widerliche Experiment vor, eine leer gewordene Staatsform mit anderem, ihr fremden Inhalt zu füllen“.50 Obwohl Friedrich Wilhelm IV. ultrarechten Einflüsterungen widerstand, durch Staatsstreich zu vorkonstitutionellen Zuständen zurückzukehren,51 sollte das Wahlergebnis nicht mehr dem demokratischen Zufall überlassen werden. Ende Mai wurde durch eine Notverordnung aufgrund von Art. 105 Abs. 2 PrVerf 1848 das mündliche und öffentliche Dreiklassenwahlrecht oktroyiert,52 um mit den Worten des Staatsministeriums „endlich zu geordneten Zuständen und […] einer Volksvertretung zu gelangen, die auch innerhalb des Kreises der II. Kammer den einzelnen Volksschichten denjenigen Einfluß [einräume…], welcher zu ihrer wirklichen Bedeutung im Staatsleben im richtigen Verhältnis“ stehe.53 Als weiteres Manipulationsinstrument kam erneut die Wahlkreiseinteilung zum Einsatz.54 Auch sonst wurde eine „freie Wahl nicht zugelassen“: Jede „Verschämtheit oder Aengstlichkeit der Regierungsorgane und einflußreicher Reaktionäre war bei den […] Neuwahlen verschwunden“, Liberale Wähler wurden eingeschüchtert, Wahlversammlungen von der Polizei gesprengt.55 Darüber hinaus sicherte die Regierung durch Disziplinarverordnungen über Dienstvergehen der Richter und Beamten einen günstigen Wahlausgang.56 Die Linke, durch wiederholte Wahlkämpfe finanziell geschwächt, in den Städten durch den Belagerungszustand und auf dem Land von den konservativen Eliten behindert, entschied sich für Wahlenthaltung und Obstruktion. Dass der Verzicht Ministerielle und Konservative 50

H. V. v. Unruh, Erfahrungen, 1851, S. 138. Vgl. auch H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (24). Vgl. H. Wagener, Friedrich Wilhelm IV., 1883, S. 54. 52 Ausführlich F. Fischer, Preußen, 1876, S. 266 ff. und H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (25 ff.). 53 s. die Ausführungsverordnung vom 30.  Mai 1849, PrGS. S.  205. Vgl. L. v. Rönne, PrStaatsR I/12 1864, S.  41 mit Zitat aus dem Bericht des Staatsministeriums vom Vortag in Anm. 3 sowie E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 49 und S. 87 f. 54 H. v. Gerlach, Wahlrecht, 1908, S. 23 ff. 55 H. v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 132. 56 H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (28). s. die Verordnung, betreffend die Dienstvergehen der Richter und die unfreiwillige Versetzung derselben auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand, vom 10. sowie die Verordnung, betreffend die Dienstvergehen der nicht richterlichen Beamten und die Versetzung derselben auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand, vom 11. Juli 1848 (PrGS. S. 253 und 271). 51

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stärkte,57 brachte der „Demokratie“ das hämische Lob des Sozialkonservativen Hermann Wagener ein, sie habe „sich […] zum Heil des Landes der Theilnahme“ enthalten.58 Auch Teile der Liberalen blieben der Wahl fern und trugen so zu diesem Effekt noch weiter bei.59 Durch Kammerauflösung und Dreiklassenwahlrecht, dessen Ausgestaltung Georg v. Vincke zum Anlass nahm, „[s]olange man die geheime Abstimmung nicht [einführe, …] den ganzen Akt der Wahl für eine Art Komödie“ zu halten,60 wurde das Scheitern des ersten Revisionsversuchs zum Grundstein für den Sieg der Reaktion. Während die Liberalen in den Juliwahlen nur noch rund 60 Mandate errangen, gewannen die Konservativen eine beeindruckende Mehrheit von 158 Sitzen.61 Auch die soziale Zusammensetzung der Kammer hatte sich verändert: Der Anteil der konservativen Landräte, höheren und sonstigen Verwaltungsbeamten und insbesondere der Großgrundbesitzer stieg erheblich, während die quantitative Bedeutung der tendenziell liberalen Richterschaft massiv einbrach.62 Mit den Worten des Linksliberalen Hellmut v. Gerlach hatte das „oktroyierte Dreiklassenwahlrecht […] vollkommen seinen Zweck [erfüllt]: die zweite Kammer wurde 1850 konservativ-reaktionär“, ja die „wirkliche Volksvertretung“ degenerierte zu einem „Scheinparlament“.63 Mag dieses Urteil auch zu weit gehen,64 gelang der Regierung doch der Coup, die Opposition für ein Dezennium zu lähmen. Obwohl die Kammer andererseits aber auch kein gefügiges Akklamationsinstrument war,65 wendeten sich die durch das Ministerium gerufenen Geister erst in den 1860er Jahren gegen ihren Meister, indem der wahlrechtliche Manipulationsversuch durch die wirtschaftliche Prosperität des liberalen Bürgertums in sein komplettes Gegen 57 Vgl. F. Fischer, Preußen, 1876, S. 274 ff.; H. v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S.  132 ff.; M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S.  745 ff.; E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 50, 51 und H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (28). 58 H. Wagener, Friedrich Wilhelm IV., 1883, S. 53. 59 H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (28 ff.). 60 Zitiert nach H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (28). 61 H.-U. Wehler, GesellGesch III2 2006, S. 200 f. 62 Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S.  517 (Tabelle)  und 749; I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (276) (Tabelle) sowie H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (31 f.). 63 H. v. Gerlach, Wahlrecht, 1908, S. 223, 10 f. 64 Zu Zusammensetzung und Zielen vgl. H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (31 ff.). 65 Vgl. H.  Schulze, in: HdbPrGesch II, 1992, S.  293 (313 f.). H.  Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 f. spricht davon, dass die Jahre der Reaktion keine „größeren dramatischen Konflikte“ und für die Opposition keinen Aufsehen erregenden Erfolg gebracht hätten. Gleichwohl seien die „Kämpfe dieser beiden Richtungen von großer Bedeutung, [handele…] es sich doch um die Entwicklungsjahre des konstitutionellen Lebens in Preußen, dem wichtigsten deutschen Staate. Der Hauptkampfplatz der Parteien [sei…] natürlich die Volksvertretung“ gewesen. s. zu den „politischen Parteien in der Manteuffelzeit“ E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 178 ff. mit dem Urteil, dass die „Reaktionspolitik […] in eine permanente Krise“ geführt habe: Während die Opposition den Staatsstreich und ein Ministerium Gerlach gefürchtet habe, hätten die Hochkonservativen vor einem Kabinett Bethmann-Hollweg Sorgen gehegt. So hätten die stärksten Widersacher Manteuffels auf beiden Seiten ein Interesse am Fortbestand seiner Regierung gehabt (S. 182).

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teil umschlug: Statt der konservativen Landbesitzer-, Adels- oder Junkerkreise begünstigte die pekuniäre Arithmetik des Klassenwahlrechts jetzt das Unternehmerund Großbürgertum, das für politische Mitspracheforderungen stand. À la longue fand sich im preußischen Abgeordnetenhaus so eine breite oppositionelle Mehrheit zusammen, die anlässlich der Heeres- und Budgetfrage den grundlegenden Konflikt mit der Regierung aufnahm.66 2. Die Revisionsarbeit der Kammern (1849–50)67 Bevor es in den 1860er Jahren soweit kam, hatte die Regierung vorerst einen beachtlichen Sieg errungen. In welchem Ausmaß es geglückt war, sich der Kooperationsbereitschaft der Volksvertretung zu versichern, untermauerte die widerstandslose Bestätigung des undemokratischen Klassenwahlrechts.68 Aber obwohl die Zweite Kammer sich dem Regierungswillen auch in der Verfassungsrevision mehrheitlich unterordnete, ja zu Hans Viktor v. Unruhs Bedauern ein „wichtiges Recht nach dem andern auf[gab]“,69 überstand das Enquête- und Untersuchungsrecht diesen Prozess ohne Abstriche. a) Zweite Kammer Am 18. August 1849 beschloss die Zweite Kammer nach kurzer Debatte „mit großer Majorität“, „die im Art. 112 der Verfassungs-Urkunde vorbehaltene Revision der Verfassung durch Erwählung einer Kommission von 21 Mitgliedern in den Abtheilungen einzuleiten“.70 Gut zwei Monate später erstattete der Krefelder Kommerzienrat und Bankier Hermann v. Beckerath Bericht über den V. Titel der Verfassung.71 Im Ausschuss hatte man die angesichts der Abstriche, die die Oktroyierung gegenüber dem Entwurf des Verfassungsausschusses gebracht hatte, naheliegende „Frage aufgeworfen […], ob Artikel 81 […] den Kommissionen der Kammern die Befugniß verleihe, Zeugen und Sachverständige zu vernehmen“. Die Anmerkung, dass auf dieses Recht der „größte Werth zu legen [sei…], da eben auf diesem Wege der gründlichen Untersuchung gewerblicher Zustände und anderer Landesverhältnisse die Kammern eine sehr heilsame Wirksamkeit ausüben könnten“, deutete auf die Enquêtefunktion des Selbstinformationsrechts hin. Ohne nähere Begründung verzichtete die Kommission trotzdem in der einmütigen Über 66

Vgl. H.-U. Wehler, GesellGesch III2 2006, S. 199 ff. PrGS. S. 17. 68 Vgl. H. v. Gerlach, Wahlrecht, 1908, S. 17; H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (33 f.) sowie E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 49 ff.; M. Kotulla, VerfGesch, 2007, Rn. 1814 ff.; ders., Verfassungswerk, 2008, S. 23, 25. 69 H. v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 143. 70 VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 50 ff. 71 VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 793. 67

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zeugung auf einen Ergänzungsantrag, „daß der Artikel 81 […] unzweifelhaft die hier in Anspruch genommene Befugniß gewähre“.72 Mit diesem Votum konter­ karierte man ein Stück weit den Regierungsversuch, Art. 73 „Charte Waldeck“ in der Oktroyierung zu entschärfen; das Recht zur eidlichen Vernehmung „unter Mitwirkung richterlicher Beamten“, das die Verfassungskommission ebenfalls vorgesehen hatte, ließ sich so natürlich nicht en passant restituieren. Im Plenum wurde die Vernehmungsfrage nicht wieder angeschnitten. Die Kammer ging am 27. Oktober 1849 ohne Weiteres über die Art. 78 bis 82 hinweg.73 b) Erste Kammer Komplizierter gestaltete sich der Revisionsprozess in der Ersten Kammer: Statt die Vorberatung keiner besonderen Kommission zu übertragen, wurde der aufwendigere Weg einer Beratung in den Sektionen und einer aus den Berichterstattern gebildeten Zentralabteilung eingeschlagen. Während die zweite, vierte und fünfte Abteilung an Art. 81 PrVerf 1848 festhalten wollten, forderten die erste und dritte Abteilung, „eidliche Vernehmungen“ bzw. jede „eigene Vollziehung von Vernehmungen überhaupt“ auszuschließen. Im Widerspruch dazu befürwortete die Zentralabteilungsmehrheit die ersatzlose Streichung. Zur Begründung berief man sich auf die „Gefahr von Uebergriffen der wesentlich legislativen Kammern in das Gebiet der Staats-Verwaltung und ausübenden Gewalt“, also auf den klassischen „Gewaltenteilungseinwand“, dessen konkreter Hintergrund mög­licherweise die Posener und die Schweidnitzer Untersuchung der Vereinbarungsversammlung waren.74 Weiterhin führten die Gegner des Art. 81 PrVerf 1848 die „gewöhnliche Nutz- und Erfolglosigkeit solcher Kommissionen“, ja die „Entbehrlichkeit solcher Untersuchungen [an…], da die Regierung viel besser im Stande sei, den Kammern etwa nöthige Aufklärung selbst zu geben oder glaubhaft zu verschaffen“. Das britische Beispiel sollte der Hinweis entkräften, dass im Vereinigten Königreich – anders als in Preußen – durch einen „Mangel an Centralisation der Verwaltung“ durchaus „ein Bedürfniß solcher außerordentlichen Untersuchungen“ bestehen könne. Bloß eine Minderheit, die ausweislich ihrer Argumente mutmaßlich aus Vertretern der Linken bestand, verteidigte den Standpunkt, dass die „Kammern […] zur vollständigen Erhaltung ihrer Rechte und zur Ausübung ihrer Pflichten das fragliche Untersuchungsrecht nicht entbehren“ könnten. Vergangener Missbrauch, möglicherweise handelte es sich um eine verhaltene Anspielung auf die Vereinbarungsversammlung, rechtfertige „höchstens Modalitäten in der Ausübung“. Indessen dürfe man sich keinesfalls ausschließlich auf „Mittheilungen der Regierung“ verlassen, da das Gouvernement „in einer Sache auch Partei sein könne“. Überdies­

72

VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 800. VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 910. 74 s. zu diesen Untersuchungen 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. sowie D. IV. 73

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belegten ausländische Erfahrungen, dass allein durch „Untersuchungen […] in vielen sehr wichtigen Fragen höchst wichtige Ergebnisse geliefert“ werden könnten. Wie in der Zweiten Kammer führten die Befürworter des Art. 81 PrVerf 1848 dessen Enquêtefunktion ins Feld, erinnerten an die notwendige Reform der „Provinzial-, Bezirks-, Kreis- und Gemeinde-Verwaltungs-Organisation“ und verwiesen zu guter Letzt darauf, dass die Frankfurter Reichs- ebenso wie die Erfurter Unions­ verfassung das „nämliche Recht […] beiden Häusern gewährt“ hatten. Ein Eventualantrag ging dahin, entweder den Artikel ganz zu streichen oder wenigstens zu präzisieren; im Sinne eines Enquêterechts sollten die Kammern allen­falls das Recht erhalten, „Kommissionen zur Feststellung thatsächlicher Verhältnisse, welche auf die Gesetzgebung von Einfluß [seien…], zu ernennen“. Ihre Befugnisse sollten sich darauf beschränken, „Sachverständige und andere Personen am Sitze der Kammern anzuhören“. Offenkundig wäre damit jede Form selbständiger Regierungskontrolle und selbst jede Vorbereitungsenquête, die nicht unmittelbar legislativen Schritten diente, ausgeschlossen gewesen. Die Beschränkung auf Anhörungen am „Sitze der Kammern“ könnte eine Reaktion auf die Schweidnitzer Untersuchung der Vereinbarungsversammlung gewesen sein. Jedenfalls hätte ein derart zurechtgestutztes Recht jede politische Schärfe eingebüßt. Zweifellos wurden mit dem Amendement, dass „jede Kammer […] die Befugniß [erhalten solle], Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu er­ nennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren“, diametrale Absichten verfolgt; schließlich kam mit diesem Antrag die ursprüngliche Fassung der „Charte Waldeck“ wieder auf den Tisch. Zwar sollte durch das Requisitionsrecht und die Mitwirkung richterlicher Beamter sichergestellt werden, nicht „in die ausübende Gewalt des Behörden-Organismus einzugreifen“; andererseits wollte man ausdrücklich anerkennen, dass „nach Umständen eidliche Vernehmungen auch außerhalb des Sitzes der Kammern nothwendig“ werden könnten. Ein „Vermittelungs-Antrag“ ging dahin, zu dem Recht der Kammern, gemäß Art. 80 Abs. 3 PrVerf 1848 „an sie gerichtete Schriften an die Minister [zu] überweisen und von denselben Auskunft über eingehende Beschwerden [zu] verlangen“, hinzuzusetzen, dass „[s]ie […] zu diesem Behufe auch unmittelbar durch zu ernennende Kommissionen Sachverständige, jedoch nicht eidlich, vernehmen“ könnten. Obwohl auf diese Weise kein allgemeines Enquête- und Untersuchungsrecht etabliert worden wäre, hätten die verlangten Befugnisse doch eine Spitze gegen die Regierung bedeutet, indem das Selbstinformationsrecht seine klassische Stoßrichtung als Instrument der Exekutivkontrolle erhalten hätte. Die Zentralabteilung ging über alle diese Vorschläge hinweg und sprach sich mit 9 gegen 5 Stimmen für die vollständige Streichung des verdächtigen Art. 81 PrVerf 1848 aus.75 75

Zum Ganzen VerhPr1K I (1849/50), S. 1636 f.

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In der kurzen Plenarberatung über diesen Antrag und Bericht, den der altliberale Professor der Staats- und Kameralwissenschaften Eduard Baumstark am 28. November 1849 in der Kammer erstattete, ergriff als erster Redner der Präsident der Zentralabteilung Friedrich v. Ammon das Wort. Erneut forderte der in den Ausschussberatungen offensichtlich unterlegene Kölner Appellationsgerichtsrat und Präsident der Rheinischen Eisenbahndirektion, das Enquête- und Untersuchungsrecht aus den Gründen der Ausschussminderheit beizubehalten, zumal einer Streichung ohnehin das positive Votum der Zweiten Kammer entgegenstehe. Ausgerechnet Heinrich v. Itzenplitz, der als Handelsminister beinahe ein Vierteljahrhundert später u. a. durch eine Untersuchungsforderung zum Rücktritt gedrängt werden sollte,76 entgegnete, dass „nicht bestritten werden [könne], daß der betreffende Satz, wie er in der Verfassung [stehe…], zu großem Mißbrauche leicht Veranlassung“ gebe. Indem er hinzufügte, dass Preußen das „Beispiel in [der…] eigenen neuesten Geschichte [habe], daß dies wirklich geschehen“ wäre, spielte der Graf möglicherweise auf die mit dem Sturz des Ministeriums Auerswald-Hansemann im Zusammenhang stehende Schweidnitzer oder die Untersuchung in der Provinz Posen an, deren Regierungsvizepräsident er zwischen 1843 und 1845 gewesen war.77 Trotzdem ging dem Abgeordneten v. Itzenplitz die „Streichung des Artikels“ doch zu weit. Es sei ein „feststehender parlamentarischer Gebrauch auch in anderen Ländern, die mit parlamentarischen Dingen länger vertraut [wären…], daß die Kammern befugt [seien…], Kommissionen zu ernennen, um Thatsachen zu ermitteln, welche sich auf Gegenstände der Gesetzgebung“ bezögen. Das entsprechende „Bedürfniß [habe sich…] schon bei den früheren ständischen Verhandlungen herausgestellt“.78 Auch jetzt sei nichts dagegen einzuwenden, wenn sich die Kammern „in solchen Fragen, die sich auf die Gesetzgebung [bezögen, …] nicht allein auf den Bericht und die Notizen der Regierung [verließen…], sondern auch ihrerseits Fakta zu ermitteln such[t]en“. Um dieses parlamentarische Recht zu erhalten, griff er den im Zentralausschuss durchgefallenen Antrag wieder auf, den Kammern zu gestatten, „Kommissionen zur Feststellung thatsächlicher Verhältnisse, welche auf die Gesetzgebung von Einfluß [seien…], zu ernennen“. Die Einschränkung, dass Vernehmungen ausschließlich am „Sitze der Kammer“ erfolgen dürften, verhindere, „daß eine solche Kommission durch die Monarchie wandere und dadurch in den Fehler verfalle, daß sie eine Behörde neben den Staats-Behörden“ werde.79 Diese Bemerkung legt es

76

s. zur Eisenbahnenquête 5. Teil 3. Kap. E. Zu Posener und Schweidnitzer Angelegenheit s. 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. sowie D. IV. 78 „[A]uf dem ersten allgemeinen Landtage [sei] die Frage über Sperrmaßregeln und Schutzzölle oder das Freihandels-System sehr ernstlich zur Erwägung“ gekommen. Freilich wendete Graf Itzenplitz ein, dass „keine gewöhnliche Kommission, welche während der Dauer der Kammern gewählt [werde…] in der kurzen Frist […] von etwa 4 bis 6 Wochen […] einen Bericht erstatten [könne], der eine solche Hauptfrage erschöpfend und gründlich zu beantworten ge­ eignet“ sei. 79 VerhPr1K I (1849/50), S. 1637 (Hervorhebung nur hier). 77

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

nahe, dass das allegierte Negativbeispiel aus der „neuesten Geschichte“ tatsächlich die Schweidnitzer Untersuchung war, in der man in direkter Konkurrenz mit zivilen und militärischen Ermittlungsbehörden vor Ort Zeugen geladen und vernommen hatte.80 Auf die unveränderte Beibehaltung von Art.  81 PrVerf  1848 plädierte Ernst Wachler, der am 24. März 1849 – gestützt auf diese Vorschrift – für eine parlamentarische Enquête zum Schicksal der Spinner und Weber eingetreten war.81 Ganz im Sinne der vermeintlich erst 1913 „erfundenen“ Korollartheorie qualifizierte der Oberlandesgerichtsrat ein Selbstinformationsrecht als „Grundlage für [die…] eigene Geschäftsführung“ der Kammern. Ob Sachverständige hinzugezogen werden könnten oder nicht: Jede Kommission müsse ihre Arbeit „auf die Untersuchung von Thatsachen ausdehnen können“, um „irgendwie einen ersprießlichen Bericht [zu] erstatten“. Zur Untermauerung dieser Position führte der linke Zentrumspolitiker ausgerechnet die Ministeranklage an, von der die Kammern nur Gebrauch machen könnten, „wenn die Thatsachen, welche der Anklage zum Grunde gelegt werden [sollten], vorher vollständig ermittelt“ würden. Vergleichbar lägen die Dinge in Immunitätssachen, weil die Kammern ohne vorherige „Prüfung der Thatsachen“ bzw. „Einziehung weiterer Informationen“ ihre „Genehmigung […] weder aussprechen noch versagen“ könnten. Kurzum: Die Beibehaltung oder Streichung des Art. 81 PrVerf 1848 tangiere einen „Hauptbestandtheil [des…] Geschäftsbetriebes“ der Volksvertretung.82 Zum Schluss versuchte Berichterstatter Baumstark, die Wogen mit dem Hinweis zu glätten, „daß man bei der Bestimmung […] in dieser Allgemeinheit sich vollkommen beruhigen und das Weitere, wie man von solchen Kommis­sionen Gebrauch zu machen haben werde, der ferneren Entwickelung im prak­tischen Leben überlassen“ könne. Wie der Jurist Ernst Wachler widersprach der Professor der Staatsund Kameralwissenschaften dem Beschränkungswunsch des Grafen ­Itzenplitz, „weil […] offenbar Fälle vorliegen [könnten], in welchen solche Untersuchungen nicht zum Zweck der Gesetzgebung bestimmt“ seien. Damit sprach er der umstrittenen Vorschrift einen erweiterten Anwendungsbereich zu, der mög­licherweise den Sachkompetenzen der Kammern entsprechen sollte. Eduard Baumstarks Aufforderung gemäß, „lieber […] den Artikel der Verfassungs-Urkunde, als jenes Amendement anzunehmen“, erteilte die Erste Kammer Streichungsforderung und Verbesserungsantrag eine Abfuhr und hielt gegen das Votum ihres Zentralausschusses an Art. 81 PrVerf 1848 fest.83

80

s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 4. b). s. 5. Teil 3. Kap. A. II. 1. a) aa). 82 VerhPr1K I (1849/50), S. 1637. 83 VerhPr1K I (1849/50), S. 1637 f. 81

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c) Die Verfassungsvereinbarung Nach Abschluss der parlamentarischen Beratung wurden die von den Kammern beschlossenen Änderungen Friedrich Wilhelm IV. zur Genehmigung vorgelegt. Obwohl die Landesvertretung seine weiteren Forderungen teils verworfen, teils verändert und teils akzeptiert hatte, gab sich der Monarch schließlich zufrieden. Die revidierte Verfassungsurkunde konnte am 31. Januar 1850 ausgefertigt werden.84

III. Zwischenergebnis Eindeutig maß die Mehrheit der Abgeordneten Art. 81 PrVerf 1848 eine wichtige Rolle in der Gesetzesvorbereitung bei. Etwa legte man in der Zweiten Kammer den „größte[n] Werth“ auf diesen Artikel, da die Kammern nach einer „gründlichen Untersuchung gewerblicher Zustände und anderer Landesverhältnisse […] eine sehr heilsame Wirksamkeit“ entfalten könnten. Die Position der Zentralabteilungsminderheit in der Ersten Kammer, dass die Volksvertretung „zur vollständigen Erhaltung ihrer Rechte und zur Ausübung ihrer Pflichten das fragliche Untersuchungsrecht nicht entbehren“ könne, schließt eine Enquêtefunktion ebenfalls ein. Bestätigt wird diese Annahme durch den Hinweis auf die anstehenden Reformen der „Provinzial-, Bezirks-, Kreis- und Gemeinde-Verwaltungs-Organisation“. Gleichzeitig gibt die Entstehungsgeschichte des Art. 82 PrVerf 1850 deutlichere Hinweise, dass es nicht ausschließlich um ein „harmloses“ Enquêterecht ging, als die Beratungen zu Art. 73 „Charte Waldeck“ in der Vereinbarungsversammlung. Das gilt einmal für die überkommenen Sorgen der Zentralabteilungsmehrheit in der Ersten Kammer, dass der fragliche Artikel einem Kompetenzexzess der „wesentlich legislativen Kammern in das Gebiet der […] ausübenden Gewalt“ Vorschub leisten könnte; mit diesem Monitum wurden frühkonstitutionelle Vorstellungen wiederbelebt, dass jeder Kontakt mit Dritten zwangsläufig mit der monar­chischen Exekutive in Konflikt gerate.85 In dieses Bild fügen sich restriktive Forderungen, „eidliche Vernehmungen“ oder jede „eigene Vollziehung von Vernehmungen“ ausdrücklich auszuschließen. Die Mahnung der Minderheit, man dürfe sich nicht allein auf Auskünfte der Regierung verlassen, weil diese im Einzelfall „Partei sein könne“, deutet  – bei umgekehrtem Vorzeichen  – in dieselbe Richtung. Beide Überlegungen betreffen (primär) Kontrolluntersuchungen, nicht eher unpolitische Sachstandsenquêten. Im Plenum der Ersten Kammer führte Ernst Wachler dann ausgerechnet das Konfliktrecht der Ministeranklage an. Eduard Baumstarks Annahme, ein Selbstinformationsrecht könne auch einmal zu anderen Zwecken als der Gesetzesvorbereitung dienen, komplettiert das Bild. In den harmonischeren Bera 84

Zum Gang der Revision s. E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 52 f.; M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 26 f.; G. Anschütz, PrVerf 1850 I, 1912, S. 59 f. 85 s. 2. Teil 1. Kap. C. I.

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tungen der Zweiten Kammer findet sich demgegenüber bloß der versteckte Hinweis, dass „Zeugen und Sachverständige“ vernommen werden könnten; Zeugen­ vernehmungen sind aber ein typisches Instrument politischer Kontrolle. Für die Befugnisse, die den „Untersuchungskommissionen“ künftig zustehen sollten, knüpften die Abgeordneten beider Kammern offensichtlich an die Vorbilder der Vereinbarungsversammlungspraxis bzw. des Art. 73 „Charte Waldeck“ an. Für die Zweite Kammer gilt dies im positiven Sinne, indem man Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen als natürlichen Teil des Rechts, „Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“, qualifizierte und von einer ex­ pliziten Regelung absah. Im Gegensatz dazu bemühte man sich in der Zentral­ abteilung der Ersten Kammer, eigenständige Beweiserhebungen zu untersagen oder auf Vernehmungen am Sitz der Kammern zu beschränken. Der Grund dieser Beschränkungsforderungen dürfte neben allgemeinen Ressentiments gegen schein-exekutive Kompetenzen insbesondere in der Praxis der revolutionären Vereinbarungsversammlung zu suchen sein, die von den jetzt bekämpften Befugnissen in der Schweidnitzer Untersuchung Gebrauch gemacht hatte. Dennoch votierte das Plenum der Ersten Kammer mit der unveränderten Beibehaltung des Art. 81 PrVerf 1848 ebenso wie die „eigentliche“ Volksvertretung letzten Endes für ein nach Reichweite und Befugnissen potentiell „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht. Diese Zustimmung zur Beibehaltung des umstrittenen Artikels stand erst nach einer Gegenprobe fest; die Mehrheit war also alles andere als überwältigend. Das angesichts des vorbereitenden Meinungsbildes in den Abteilungsberatungen überraschende Votum lässt sich durch verschiedene Faktoren erklären: Einmal war die von der Zentralabteilung favorisierte Streichung nach dem positiven Beschluss der Zweiten Kammer unerreichbar, weil zu jeder Abänderung der oktroyierten Verfassung gemäß Art. 112, 60 PrVerf 1848 die „Uebereinstimmung des Königs und beider Kammern“ erforderlich war. In dieser Situation mag der nebulöse Art. 81 PrVerf 1848, der nach Eduard Baumstarks Urteil alles „Weitere […] der ferneren Entwickelung im praktischen Leben“ oder mit anderen Worten: dem freien Spiel der politischen Kräfte überließ, selbst konservativen Abgeordneten als ein kleines Übel erschienen sein. Dass selbst ­moderate Beschränkungsforderungen durchfielen, deutet außerdem auf eine hauchdünne Mehrheit für die Beibehaltung von Art. 81 PrVerf 1848 hin. Als konsensfähige Grundlage kommt vor allem die mehrfach angesprochene Enquête­ funktion in Betracht, während durch den offenen Wortlaut die intrikaten Kommissionsbefugnisse ebenso wie das politische Untersuchungsrecht der „ferneren Entwicklung“ überlassen werden konnten. Die unausweichlichen Konflikte um den Zuschnitt und die eigentliche Charakterisierung des Artikels als Enquête- oder als Untersuchungsrecht waren damit bloß vertagt. Tatsächlich sollte es über diese Fragen in der wechselhaften preußischen Verfassungsgeschichte noch zu heftigen Auseinandersetzungen kommen.

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B. Art. 82 PrVerf 1850 im Spiegel des zeitgenössischen Schrifttums Das staatsrechtliche Schrifttum spiegelte die in der parlamentarischen Praxis verteidigten liberalen oder konservativen Positionen wider, ohne neue Impulse setzen zu können.

I. Reichweite und Funktion des Enquête- und Untersuchungsrechts Einen Versuch, Art. 82 PrVerf 1850 im gouvernementalen Sinne auf ein unpolitisches Enquêterecht zurückzustutzen, unternahm Eugen Huhn 1863. Zu seiner Überzeugung zeigte „gerade dieser Artikel […], wie rein unpraktisch eine solche allgemeine Bestimmung ohne weitere Garantien und Fürsorge“ [wäre, …], da die zweite Kammer hiernach eine Kommission zur Kenntnißnahme unerlaubter Wahlbeherrschung aufstellte, aber die Regierung ihr jeden Beistand und alle Mitwirkung der Beamten [verweigert habe, …] ohne welche überhaupt nicht viel zu erzielen“ wäre. Mit diesen Worten war der informationsrechtliche Frontverlauf in Berlin zutreffend umrissen; die bis heute anzutreffende Bewertung blieb freilich defizitär.86 Der süddeutsche Historiker spekulierte weiter, dass man bei der „Abfassung der Verfassung“ allein an Kommissionen zur „Informirung über gewerbliche, Handels- und Zollverhältnisse“, keinesfalls aber an eine „derartige Kommission“ gedacht habe.87 Gut 45 Jahre nach diesem Plädoyer für ein eher unpolitisches Enquêterecht beschränkte der Greifswalder Staatsrechtler Eduard Hubrich den­ betreffenden Artikel ebenfalls auf die „Herbeischaffung und Sichtung tatsächlichen Materials behufs informatorischer Kenntnisnahme des Plenums“.88 Dagegen hatte der Liberale Ludwig v. Rönne schon 1864 nicht nur die Befugnis der Kommissionen anerkannt, „Thatsachen zu konstatiren“, sondern hielt sie für „ebenso berechtigt, als verpflichtet […], diese ermittelten Thatsachen […] auch nutzbar zu machen“. Der Sinn und Zweck einer Untersuchung erschöpfe sich keineswegs in einer „bloße[n] Belehrung des Hauses über vorgefallene Thatsachen“. Vielmehr sollten die Kommissionen das „Haus über gewisse Thatsachen […] informiren“, um es damit in den Stand zu versetzen, „selbstständig (d. h. unabhängig von der Regierung) beurtheilen zu können, ob und zu welchen weiteren Maßregeln das […] gewonnene Material die Veranlassung darbieten möchte“. Konsequent erkannte Ludwig v. Rönne deswegen die Befugnis der Kommissionen zu der „von den Thatsachen untrennbaren Beleuchtung derselben“ an.89 Wie heutige Unter 86

Zur Wahlmanipulationsuntersuchung s. 5. Teil 3. Kap. C. E. Huhn, StaatsR V, 1863, S. 501. 88 E. Hubrich, PrStaatsR, 1909, S. 218. 89 L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S.  322. Diese Position behielt L. v. Rönne/P. Zorn, PrStaatsR I5 1899, S. 363 f. bei. 87

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suchungsausschüsse sollten die preußischen Untersuchungskommissionen also dazu berechtigt sein, einen Sachverhalt aufzuklären, selbst zu würdigen und dem Plenum mit diesen eigenen Einschätzungen und Schlussfolgerungen zu unter­ breiten. In der Praxis wurde dieses selbstverständliche Recht, die ermittelten Tatsachen zu bewerten, anstatt sie lediglich in einem wertungsfreien Bericht zusammenzustellen, in Abrede gestellt.90 Gegen Ende des Jahrhunderts wärmte Karl v. Stengel in seinem preußischen Staatsrecht eine erstmals vor 42 Jahren durch die gouvernementale Seite ins Spiel gebrachte vermeintliche Restriktion des Art.  82 PrVerf  1850 wieder auf:91 Der Würzburger Verwaltungsrechtler vertrat die Auffassung, „daß sich das durch diesen Artikel den Kammern eingeräumte Recht nur auf Dinge [erstrecken könne…], mit denen eine Kammer gerade befaßt [wäre…], nicht aber auf jeden beliebigen Gegenstand“.92 Auf diese Weise wurde zwar die Vorbereitungsfunktion dieser Bestimmung unterstrichen, zugleich aber ihre selbständig investigative bzw. Kontrolldimension nahezu vollständig ausgeblendet. Initiativen, einen Sachverhalt unabhängig von konkreten Sachanträgen zunächst grundsätzlich aufzuklären, um auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob weitere Maßnahmen geboten wären, erschien unter diesem Blickwinkel als unzulässig. Berechtigten Widerspruch erhob zwei Jahre später Ernst Schwartz, der diese Auffassung als entstehungsgeschichtlich unbegründete und irrationale Behauptung verdammte, die erst ersonnen worden sei, „als es sich um Kommissionen zur Untersuchung solcher Thatsachen [gehandelt habe…], welche sich auf das System der Regierung bezogen“ hätten. Gegenüber diesem „Vorstoß gegen die Minister selbst“, besser sollte man sagen: gegen jeden parlamentarischen Kontrollversuch, hätten diese „ihrerseits zu jedem Einwande [ge]griffen, der, wenn er auch in juristischer Beziehung zweifelhaft erscheinen mochte, doch zum Kampfmittel“ taugte.93 Schon rund 30 Jahre früher hatte Ludwig v. Rönne kritisiert, dass die Regierung gegen das Enquête- und Untersuchungsrecht erst Einwände erhoben habe, „als Kommissionen zur Untersuchung solcher Thatsachen niedergesetzt werden sollten oder wirklich ernannt wurden, welche sich auf das System der Regierung im allgemeinen oder in speziellen Richtungen“ bezogen. Solange das „eigentlich politische Gebiet“ nicht berührt worden sei, habe man am Regierungstisch geschwiegen.94 Die restriktive Interpretation finde aber keinen Halt „in den Worten des Art. 82“ und widerspreche überdies dem politischen Anliegen in der Verfassungsrevision, „daß eine solche Einschränkung der Befugniß der Kammern gerade durch die völlig unbeschränkte Fassung […] abgelehnt werden“ sollte; mit 90

Vgl. etwa 5. Teil 2. Kap. B. I., 3. Kap. B. II. 2. c) aa) (2) und d). s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. b) cc). 92 K. v. Stengel, PrStaatsR, 1894, S. 83 f. Ebenso A. Arndt, PrVerf 1850, 1907, S. 289 unter Hinweis auf K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 106, 132. 93 E. Schwartz, PrVerf 1850, 1896, S. 240 f. Ohne Begründung auch E. Hubrich, PrStaatsR, 1909, S. 218. 94 L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S. 322. 91

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ihrem Schweigen habe die Verfassungsurkunde das Enquête- und Untersuchungsrecht „in das freie Ermessen des betreffenden Hauses“ gelegt. Art. 82 PrVerf 1850 ermögliche es den Kammern, sich „zuvörderst die nötige Information zu verschaffen“, bevor entschieden werde, „ob […] Veranlassung vorhanden sei, das gewonnene sachliche Material zur Stellung von Anträgen, zur Erhebung von Beschwerden, zum Erlaß einer Adresse zu benutzen“.95 So klar der Gedanke parlamentarischer Regierungskontrolle in Ludwig v. ­Rönnes Staatsrecht, mit Michael Stolleis’ Worten das „Orakel der liberalen Mehrheit im preußischen Abgeordnetenhaus während des Verfassungskonfliktes“,96 und anderswo auch mitschwang, so vehement trat die Gegenseite gegen das Recht der Kammern auf, „Maßregeln der Staatsregierung oder gar das System der Staatsverwaltung in Betreff eines speziellen Gegenstandes oder im Ganzen einer Untersuchung zu unterwerfen“.97 In der Praxis pochten die Untersuchungsrechtsgegner darauf, dass keine parlamentarische Kommission über die königliche Staatsregierung zu Gericht sitzen dürfe.98 Derartige Sorgen, die sicherlich einem Nachhall des „monarchischen Prinzips“ entsprangen, wies Ludwig v. Rönne in die Schranken, weil „in dem bloßen Untersuchen von Thatsachen […] noch nicht die Ausübung eines Richteramtes gefunden werden“ könne. Schon 1848 war die Zentralabteilung der Vereinbarungsversammlung mit ähnlichen Gründen analogen Einwänden gegen die Posener Untersuchung entgegengetreten.99 Ludwig v. Rönne sprach der Landesvertretung zudem noch das Recht und die Pflicht zu, sich über die Maßnahmen der Staatsregierung zu informieren, sie „in der Ausübung der ihr zustehenden Vollzugsgewalt zu überwachen“ und ggf. „in Beziehung auf Mängel und Mißbräuche bei der Staatsverwaltung, wegen Kränkung oder Gefährdung der verfassungsmäßigen Rechte des Landes, sowie der staatsbürgerlichen Rechte der Einzelnen Beschwerden zu führen, und […] in den dazu geeigneten Fällen Anklage gegen die Minister zu erheben“. Das „Recht, sich über etwaige Mißbräuche und Mängel Aufklärung durch Untersuchung der Thatsachen zu verschaffen“, betrachtete der Liberale als „selbstverständlich[e]“ Folge dieser Befugnisse.100 Deutlicher ließ sich die politische Untersuchungs- und Kontrollfunktion eines Selbstinformationsrechts unter Vorgriff auf die heute herrschende Korollartheorie aber nicht auf den Punkt bringen. In vergleichbarer Weise reihte Hermann Schulze Art. 82 PrVerf 1850 neben dem Adress-, Petitions- und Beschwerderecht in die Befugnisse ein, die den Kammern dazu dienten, „die Verfassung und den bestehenden Rechtszustand des ganzen Landes, sowie die staatsbürgerlichen Rechte der Einzelnen gegen etwaige Eingriffe 95

L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S.  321 f. und in Anm.  2. Auch L. v. Rönne/P. Zorn, PrStaatsR I5 1899, S. 362 widersprach einer derartigen Beschränkung. 96 M. Stolleis, GeschÖR II, 1992, S. 300. 97 Vgl. E. Schwartz, PrVerf 1850, 1896, S. 240, der diese Position zurückweist. 98 s. etwa in der Dissidentenangelegenheit unten 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. b) bb) und c) aa) (1). 99 s. 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. d) aa). 100 L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S. 322 f.

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der Regierung […] zu vertheidigen“. Dass die Volksvertretung von diesem Artikel als „Hüter der Verfassung und des Gesetzes“ zur Vorbereitung einer Beschwerde oder Anklage Gebrauch machen können sollte, war bloß konsequent. Ein unzulässiges „Richteramt über das bestehende Ministerium“ konnte der Heidelberger Staatsrechtler in diesen Befugnissen ebenfalls nicht erkennen, weil die „Entscheidung über eine erhobene Beschwerde […] dem Könige, über eine gerichtliche Anklage dem Staatsgerichtshofe“, in keinem Fall aber der Volksvertretung zustehe. Art. 82 PrVerf 1850 sei auch kein Ausdruck des jeder Monarchie widersprechenden Grundsatzes der Volkssouveränität, sondern des „allgemein anerkannten, geschichtlich begründeten Berufe[s] deutscher Landstände, Wächter des verfassungsmässigen Rechtes auch der Regierung gegenüber zu sein“. Diese Zeilen, erstmals 1877 publiziert,101 zielten möglicherweise auf die kurhessische Bundesintervention in den 1850er Jahren, die unter anderem mit der Inkompatibilität der landständischen Kontrollrechte mit dem „monarchischen Prinzip“ begründet worden war.102 Hermann Schulze hielt das Enquête- und Untersuchungsrecht für „nicht auf bestimmte Gegenstände beschränkt, sondern [erstreckte es…] auf alle Angelegenheiten, welche überhaupt in den Bereich der Staatsthätigkeit fallen könn[t]en“.103 Eine recht moderne Definition des Informationsrechts der Kammern, die auf die Korollartheorie vorgriff, lieferte 1910 der Heidelberger Doktorand Paul Bode, indem er die These aufstellte, dass sich die „Tätigkeit der Kommission […] zweifellos nur auf Gegenstände beziehen [könne], die überhaupt in die Zuständigkeit des Landtags“ fielen. Für nicht erforderlich hielt er indessen, dass es sich um „Dinge“ handele, „mit denen sich die Kammer gerade“ beschäftige. Vielmehr könne sich eine Untersuchung „auf jeden möglichen in den Geschäftskreis des Landtags fallenden Gegenstand beziehen“.104

II. Die Befugnisse der Enquête- und Untersuchungskommissionen Auch im Hinblick auf die Kommissionsbefugnisse bediente Eugen Huhn 1863 konservative Desiderate, indem er offenkundig vom Boden eines älteren konsti­ tutionellen Verständnisses aus vertrat, dass die „Commissionen zur Untersuchung von Thatsachen […] nur durch die Minister Aufklärungen von anderen Personen sich […] verschaffen“ könnten. Zur Begründung verwies er auf den überkommenen Grundsatz, dass die „Kammern nur mit den Ministern in direkter Verbindung“ stehen dürften.105 Ganz in diesem Sinne stellte Heinrich Zoepfl den robusteren Art. 82 PrVerf 1850 noch im selben Jahr als Beispiel für die konservative Regel, 101

H. Schulze, PrStaatsR II1 1877, S. 180. s. dazu 2. Teil 2. Kap. A. II. 2. a) m. w. N. in Fn. 257. 103 H. Schulze, PrStaatsR I2 1888, S. 613 ff. 104 P. Bode, Mitwirkung, 1910, S. 63 f. 105 E. Huhn, StaatsR V, 1863, S. 436. 102

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dass die Kammern in den Einzelstaaten zwar das Recht besäßen, „Commissionen zur Aufklärung von Thatsachen niederzusetzen“, sich diese aber nur „mit den Ministern oder Regierungscommissären ins Benehmen […] setzen“ dürften, ausgerechnet neben den kraftlosen § 93 KhVerfUrk 1831.106 Indem der Heidelberger Staatsrechtler mit diesem Vergleich versuchte, das preußische Enquête- und Untersuchungsrecht auf vormärzlich-interpellationsartige Befugnisse zu beschränken, blendete er die Entwicklung in der Revolution, deren Produkt Art. 82 PrVerf 1850 doch erkennbar war, vollständig aus. Gut 30 Jahre später hielt es Karl v. Stengel ebenfalls für ganz „zweifellos“, „daß die betreffenden Kommissionen behufs Einziehung der erforderlichen Informationen sich der Vermittelung des Ministeriums bedienen müss[t]en, da die Kammern sich nicht direkt an öffentliche Behörden wenden könn[t]en und ihnen auch jede obrigkeitliche Gewalt gegenüber den Unterthanen“ fehle.107 Auf derselben Linie vertrat Conrad Bornhak noch 1911 die These, dass die Kommissionen im Sinne des Art. 82 PrVerf 1850 nicht befugt wären, „mit untergeordneten Behörden oder einzelnen Staatsangehörigen in amtlichen Verkehr [zu] treten“. Weil die Verfassung auch für sie keine „Ausnahme“ mache, besäßen sie kein Recht „zur selbständigen Feststellung von Thatsachen“. Eine Qualifikation als „selbständige Untersuchungsbehörde“, die in der Weimarer Zeit Karriere machen sollte,108 wies der rechte Staatsrechtler zurück, weil eine derartige Kommission „nur aus dem Mißtrauen gegen die Regierung hervorgehen“ könne. Gegen eine solche Auslegung spreche, dass der Verfassungsgeber wohl kaum das „Mißtrauen zwischen Regierung und Volksvertretung zu einer ständigen Einrichtung des preußischen Verfassungsrechtes [habe] machen“ wollen.109 Bereits vier Jahre früher hatte Adolf Arndt den Kommissionen das Recht abgesprochen, die unteren Staatsbehörden „um Vornahme von Handlungen (Vernehmungen, Vereidigungen) zu requirieren“. Eine entsprechende Befugnis lehnte er als „unzulässigen Eingriff in die Exekutive“ ab. Stattdessen folgerte er aus Art. 81 PrVerf 1850, dass „Requisitionen nur durch Vermittlung des Staatsministeriums“ in Betracht kämen. Die Regierung wäre aber zu einer Mitwirkung keineswegs rechtlich verpflichtet.110 Eine vermittelnde Position nahm 1909 der Greifswalder Rechtswissenschaftler Eduard Hubrich ein, indem er den Kommissionen einerseits die Befugnis zugestand, Zeugen und Sachverständige uneidlich zu vernehmen, sich Urkunden vorlegen zu lassen oder die Staatsbehörden für Auskünfte bzw. die Erledigung sonstiger Aufträge zu „requirieren“. Wohl zu Recht hielt auch er andererseits weder Behörden noch Private für verpflichtet, entsprechenden Aufforderungen Folge 106

H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 352. K. v. Stengel, PrStaatsR, 1894, S. 83. 108 s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 2. d). 109 C. Bornhak, PrStaatsR2 I, 1911, S. 459 f. 110 A. Arndt, PrVerf 1850, 1907, S. 289 f. Zust. P. Bode, Mitwirkung, 1910, S. 64. J. Adams, PrStaatsR, 1911, S. 102 betonte, dass die Kammern „nur mit den Ministern, nicht mit sonstigen Beamten“ in unmittelbaren Geschäftsverkehr treten könnten, vermerkte allerdings, dass dies „für das Enqueterecht bestritten“ werde. 107

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zu leisten.111 Robustere Befugnisse hatte schon 45 Jahre früher Ludwig v. Rönne propagiert. Auf die gouvernementale These, „daß eine auf Grund des Art. 82 niedergesetzte Untersuchungs-Kommission keine weitergehende Befugniß habe, als jede andere zur Vorbereitung einer Beschlußnahme des Hauses ernannte Kommission“, erwiderte der liberale Autor, dass Untersuchungskommissionen ihre Befugnisse nicht aus der Geschäftsordnung ableiteten, sondern unmittelbar durch die Verfassung „dazu bestimmt [seien], zur Information des Hauses für dasselbe in das Leben einzutreten und Alles zu thun, was die Erreichung des Zweckes der Ermittelung der Wahrheit“ fordere. Diesen Auftrag hätten die Kommissionen „ohne Vermittelung der Staatsregierung oder doch nicht ausschließlich durch dieselbe“ zu erfüllen.112 Mithin handele es sich um „selbstständige in den staatlichen Organismus eingereihte Instanzen“, die – wie alle „anderen Organe öffentlicher Thätigkeit“ auch – dazu imstande seien, „selbst Zeugen und Sachverständige abzuhören, also unmittelbar nach Außen hin gerichtete Funktionen […] auszuüben“. A maiore ad minus deduzierte Ludwig v. Rönne aus diesen Befugnissen das „mindere Recht“, das man heute wohl der Rechts- und Amtshilfe zuschlagen würde, „die Mitwirkung anderer […] staatlicher und dazu an sich kompetenter Organe […] unmittelbar in Anspruch zu nehmen“. Zur Grundlage weitergehender Befugnisse wurde die Überlegung, dass Art. 82 PrVerf 1850 den Kammern als Ausnahme von der Regel, dass die vollziehende Gewalt der Krone vorbehalten bleibe und die Kammern bloß mit dem Ministerium in Kontakt treten dürften (Art. 45 und 81 PrVerf 1850), das eigentlich exeku­tive Recht erteile, eine Untersuchungskommission einzusetzen. Eine solche Kommission trete dadurch „in die Reihe der staatlichen Untersuchungs-Kommissionen“ ein und sei „[a]ls solche […] befugt, alle einer staatlichen Untersuchungs-­Behörde zustehenden Rechte auszuüben“. Von diesem theoretischen Ausgangspunkt aus, über den auch in der Weimarer Republik diskutiert werden sollte,113 hielt ­Ludwig v. Rönne „nicht bloß“ sämtliche „Staatsbürger [für] verpflichtet  […], ihr über Thatsachen Auskunft zu geben, also Zeugniß abzulegen und Urkunden vorzu­ legen“, sondern auch „alle Behörden und Beamte[n] innerhalb ihres Ressorts [für] verbunden […], den Requisitionen der Kommission zu genügen und die von derselben verlangte Auskunft über thatsächliche Fragen zu ertheilen“.114 In Übereinstimmung mit diesen Thesen sprach Hermann Schulze den Untersuchungskommissionen das Recht zu, sich nach der Art einer „unabhängigen staatlichen Untersuchungsbehörde“ ohne Vermittlung der Regierung „Urkunden vorlegen [zu] lassen, Zeugen [zu] vernehmen, Beweise jeder Art [zu] erheben“. Auch er hielt Staatsbürger, Behörden und Beamte für „verpflichtet[, …] Requisitionen Folge zu leisten“, schränkte aber ein, dass diese Pflicht „natürlich nur soweit“ gehe, als „es sich dabei um die verlangte Auskunft über thatsächliche Verhältnisse“ handele. 111

E. Hubrich, PrStaatsR, 1909, S. 218. L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S. 323 f. 113 s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 2. d). 114 L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S. 325 f. 112

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Insoweit stelle Art. 82 PrVerf 1850, „[d]em englischen Parlamentsrecht und der belgischen Verfassung entnommen, […] eine spezielle Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatze der preussischen Verfassung [dar…], dass die vollziehende Gewalt der Krone allein“ zustehe. Gegen die konservative Auslegung dieser Vorschrift führte der Staatsrechtler ins Feld, dass Art.  82 PrVerf  1850 in dem Fall, dass er der „Volksvertretung nichts anderes gewähren [solle…], als ‚Auskunft von den Ministern über eingehende Beschwerden verlangen zu können‘, neben Art. 81 vollständig tautologisch und nichtssagend“ wäre. Vielmehr müsse die überkommene Pflicht der Volksvertretung, „das verfassungsmässige Recht des Landes, wie der Einzelnen, auch gegen die Eingriffe der Staatsregierung zu schützen“, der „leitende Gesichtspunkt“ bei der Auslegung dieses Artikels sein. Diene eine Untersuchung also der Vorbereitung einer Beschwerde oder Anklage  – später kritisierte Hermann Schulze zu Recht, dass die preußischen Kammern von diesem Recht mangels Ausführungsgesetzes „bis auf den heutigen Tag keinen Gebrauch machen“ könnten115  –, sei das „Ministerium selbst Partei“. In dieser Situation könne das „ganze Untersuchungsverfahren leicht vereitelt werden […], wenn die Volksvertretung […] lediglich vom guten Willen der Minister abhängig wäre“. Wie wahr dieser Kassandraruf war, hatten zu Beginn der 1830er Jahre die Kontrollversuche der kurhessischen Kammern gezeigt; dagegen hatte das Abgeordnetenhaus aufgrund der auch durch Schulze vertretenen Auslegung des Art.  82 PrVerf 1850 die Wahlmachinationen des Ministeriums Bismarck im Verfassungskonflikt öffentlich bloßstellen können.116 – Trotz seines umfassenden enquête- und untersuchungsrechtlichen Bekenntnisses riet der Heidelberger Professor den Kammern schließlich, „sich […] dieser Ausnahmebefugniss auch nur in Ausnahmefällen [zu] bedienen“, und erklärte beschwichtigend weiter, dass es grundsätzlich für eine „Untersuchung von Thatsachen keinen besseren und zuverlässigeren Weg [gebe…], als sich der Vermittelung des Staatsministeriums und der betreffenden Ressortministerien zu bedienen“.117 1896 schloss sich Ernst Schwartz diesen Überlegungen weitgehend an.118 Trotzdem lehnte er eine Pflicht von Zeugen und Sachverständigen, vor den Untersu­ chungskommissionen zu erscheinen oder auszusagen, ab, weil diese weder „Justiz­ behörde“ noch „Gerichtshof“ wären. Wenn Auskunftspersonen nicht erschienen, die Aussage verweigerten oder eidlich vernommen werden sollten, müsse die betreffende Kommission deswegen das „zuständige Gericht requiriren“; nichts ande­res gelte für eine „Vorlegung von Urkunden“. Für eine Requisition sollten „natur­gemäß die allgemeinen strafprozessualischen“ Formen gelten. Die weitere Überlegung, dass „[b]ezüglich der Requisitionen Seitens der Kommission an die Justiz- und Verwaltungsbehörden […] der staatsrechtliche Grundsatz maßgebend 115

H. Schulze, PrStaatsR I2 1888, S. 615. s. zu Kurhessen 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. sowie 5. Teil 3. Kap. C. zur preußischen Wahlmanipulationsuntersuchung. 117 H. Schulze, PrStaatsR I2 1888, S. 614 f. 118 E. Schwartz, PrVerf 1850, 1896, S. 241. 116

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[sei], daß sich sämmtliche Behörden bei Erledigung der ihnen obliegenden Geschäfte innerhalb ihres Ressorts Unterstützung leisten soll[t]en“, antizipierte neben den Grenzen der Rechts- auch die der später in Art. 34 Abs. 2 RVerf 1919 niedergelegten Amtshilfe. Mit diesen Maßgaben hielt Schwartz Justiz- wie Verwaltungsbehörden für verpflichtet, dem „Verlangen der Kommission um Ertheilung einer Auskunft über thatsächliche Verhältnisse“ nachzukommen. Im Hinblick auf den parlamentarischen „Beruf einer custodia et jurium patriae“ dürfe das Ministerium einem „Verlangen […] auf Vorlegung oder Auslieferung von Urkunden“ nicht einmal deswegen widersprechen, „weil das Bekanntwerden des Inhalts der Urkunde dem Wohle des Reichs oder eines Bundesstaates Nachtheil bereiten […] (Strafprozeßordnung § 96)“ könne.119 Diese moderne Sichtweise120 verwarf Egon Zweig 1913 als „offenbar zuweit gehende Folgerung“ und hielt das Ministerium für durch § 96 StPO von „seiner Auskunftspflicht entbunden“.121

III. Zwischenergebnis Egon Zweig urteilte vor über 100 Jahren, dass „[i]n der Auslegung der preußischen Verfassung und ihres Artikels 82 […] die politische Note besonders deutlich an[klinge], und […] solche Zweckjurisprudenz – das Wort in seinem schlimmsten Sinne genommen – eine so seltsame Umkehrung des natürlichen Verhältnisses ergeben [habe], daß für eine die Rechtssphäre der Volksvertretung einschränkende Deutung zugunsten des gouvernementalen Standpunktes grade die jüngere Schriftstellergeneration“ eingetreten sei.122 Tatsächlich dominierte im älteren Schrifttum eine freisinnigere Interpretation des Art.  82 PrVerf  1850, die erstaunliche Ähn­ lichkeiten mit der heute vorherrschenden Korollartheorie aufweist. Im Spiegel des liberalen Schrifttums wird dieser Artikel, was seine thematische Reichweite anbetrifft, den Anforderungen an ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht gerecht. Für die Untersuchungsbefugnisse der Kommissionen ergibt sich zwar ein abgeschwächtes, grundsätzlich aber ähnliches Bild. Versuchen, das Selbstinformationsrecht der Kammern nach vormärzlichem Muster auf ein schwächliches interpellationsartiges Instrument oder ein Requisitionsrecht zurückzustutzen, stehen z. B. die Konzeptionen Ludwig v. Rönnes oder Hermann Schulzes gegenüber, die – mit gewissen Abstrichen – dem modernen Art. 44 GG bereits erstaunlich ähnlich sind. Geht man von diesen Stimmen aus, statuierte der letztendlich aus dem revolutionären Art. 73 „Charte Waldeck“ hervorgegangene Art. 82 PrVerf 1850 ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht.123 Um die Jahrhundertwende domi­ 119

E. Schwartz, PrVerf 1850, 1896, S. 242. Vgl. BVerfGE 67, 100 (137 ff.) und zur Aktenvorlage aufgrund von Art. 44 Abs. 1 GG unten 8. Teil 4. Kap. C. III. 1. 121 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (310 f.) und dort in Fn. 3. 122 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (287 f.). 123 Zu den Anforderungen s. 1. Teil C. 120

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nierten dagegen die konservativeren Thesen eines Adolf Arndt, Conrad Bornhak, Karl v. Stengel oder Philipp Zorn. Gesellte sich zu dem eigentümlichen staatsrechtlichen Atavismus, dass es den Kommissionen verboten wäre, unmittelbar mit nachgeordneten Behörden, Gerichten oder privaten Dritten in Kontakt zu treten, noch das Recht der Regierung hinzu, Auskunft oder Mitwirkung zu verweigern, war Art. 82 PrVerf 1850 auf ein kraftloses Fremdinformationsinstrument geradezu vormärzlicher Dimensionen reduziert. Zwischen dieser unglücklichen Renaissance altlandständischer Formen und einem robusten Selbstinformationsrechtsmodell liberaler Prägung versuchten z. B. Ernst Schwartz und Eduard Hubrich zu vermitteln, indem sie einerseits den Kommissionen das Recht zu unmittelbaren Vernehmungen Dritter und Ersuchen gegenüber den Behörden zuerkannten, andererseits aber eine Pflicht zur Mitwirkung ablehnten. Ernst Schwartz hielt wenigstens die Behörden für verpflichtet, Requisitionen Folge zu leisten, versuchte also offenbar, das Enquête- und Untersuchungsrecht zwar nicht zum Machtinstrument gegenüber dem Einzelnen ausufern zu lassen, aber doch gegen gewaltenteilungsrechtliche Angriffe zu schützen.

C. Andere Informations- und Kontrollinstrumente Die Verfassungsurkunde und das Geschäftsordnungsrecht beider Kammern­ sahen noch verschiedene andere Instrumente zur Information der Kammern bzw. zur Auseinandersetzung mit der Regierung vor.

I. Verfassungsrechtliche Regelungen Art. 60 PrVerf 1850 erkannte wie Art. 58 PrVerf 1848 das Zutritts- und Rederecht der Minister und ihrer Kommissare an; im Gegenzug konnten die Kammern die Anwesenheit der Minister verlangen.124 Der Verfassungsausschuss der Vereinbarungsversammlung hatte eine vergleichbare Regelung damit begründet, dass die Regierungsvertreter „jeden Augenblick im Stande sein [müssten], die Interessen der Krone innerhalb der Kammern geltend zu machen“.125 Die mit diesen Rechten ver­ ebenius 1819 bundene Vereinfachung des Geschäftsverkehrs hatte Carl Friedrich N für das badische Verfassungs- und Geschäftsordnungsrecht ins Feld geführt.126 Das Recht der Regierungsvertreter, jederzeit das Wort zu ergreifen, bot aber auch 124 Anders als Art. 60 Abs. 2 PrVerf 1850 spricht Art. 43 Abs. 1 GG das Zitierrecht nicht nur dem Plenum, sondern auch den Ausschüssen zu. 125 s. die Begründung zu Art. 53 des Entwurfs bei K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 130. In diesem Sinne maß R. v. Mohl, in: Bluntschli/Brater (Hg.), Staats-Wörterbuch IV, 1859, S. 285 diesem Instrument die Aufgabe frühzeitiger „Vermeidung von Mißverständnissen“ bzw. einer Lösung von Streitfragen zu. 126 s. 2. Teil 2. Kap. B. I. 2.

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Konfliktpotential. So kritisierte es David Hansemann 1849 als „unerhört“, als der­ Justizminister nach dem Schluss der Debatte noch einmal das Wort ergriff. Werde die Beratung auf diese Weise faktisch wiedereröffnet, müsse den Abgeordneten Gelegenheit zur Erwiderung gegeben werden.127 In Übereinstimmung mit Art. 80 Abs. 3 PrVerf 1848 verfügte jede Kammer gemäß Art. 81 Abs. 3 PrVerf 1850 über das Recht, Bittschriften anzunehmen, „die an sie gerichteten Schriften an die Minister [zu] überweisen und von denselben Auskunft über eingehende Beschwerden [zu] verlangen“. Diesem Petitionsrecht, das nach zeitgenössischer Auffassung eine kritische Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik, ja ihre parlamentarische Kontrolle ermöglichte, korrespondierte eine ungeschriebene Pflicht des Ministeriums, diese „Schriften entgegenzunehmen und Auskunft zu ertheilen“. Auch legte die Regierung – wenigstens in späteren Jahren – jährlich Rechenschaft u. a. über die entsprechenden Vorgänge ab.128 Trotzdem kritisierte Julius Hatschek noch 1915 die unglückliche „Vermengung“ von Petition und Interpellation, die letztere in „Mißkredit“ gebracht habe.129 Ein Instrument, das zur politischen Auseinandersetzung mit der Regierung und der sie unterstützenden Abgeordneten genutzt werden konnte, war, obgleich es weder Auskunftsrechte noch Ermittlungsbefugnisse gewährte, das sachlich unbeschränkte Adressrecht des Art.  80 Abs.  1 PrVerf  1848 bzw. Art.  81 Abs.  1 PrVerf 1850. Mit seiner Hilfe konnten die Kammern Wünsche, Kritik und Anregungen vor den Monarchen bringen. Die Befugnis, sich ebenfalls unmittelbar an die Staatsregierung zu wenden, wurde ihnen – nach anfänglichem ministeriellen Widerstand – in Form eines allgemeinen Resolutionsrechts zugesprochen.130 Der Kreis zu den Informationsrechten schließt sich, indem die Kammern Antworten auf Interpellationen oder Auskünfte der herbeizitierten Minister bzw. Enquêteoder Untersuchungsergebnisse zum Anlass einer kritischen Adresse oder Resolution nehmen konnten.

127 VerhPr1K I (1849/50), S. 192. Nachdem Präsident Rudolf v. Auerswald die Inkompatibilität des ministeriellen Rederechts mit den Geschäftsordnungsbestimmungen über den Debattenschluss konstatiert hatte, ließ David Hansemann von der Sache ab. 1851 remonstrierte er erneut und gab zu bedenken, „ob nicht nach der Geschäfts-Ordnung doch wieder der Berichterstatter, da derselbe das letzte Wort haben soll[e], zum Worte zu verstatten sei“ (VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 825). 128 Vgl. K. v. Stengel, PrStaatsR, 1894, S. 83, der berichtet, „daß die Regierung in jeder Session jedem der beiden Häuser des Landtags eine Uebersicht der von ihr über die Anträge und Resolutionen des Hauses gefaßten Entschließungen mittheilt[e]“. 129 J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 79. 130 s. L. v. Rönne, PrStaatsR I/12 1864, S. 366 in Anm. 4 sowie ders., PrStaatsR I/22 1864, S. 318 in Anm. 4.

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II. Autonome Regelungen des Geschäftsverfahrens 1. Entstehung und Grundzüge der Geschäftsordnungen Dem Autonomieversprechen des Art. 77 Abs. 1 Satz 2 PrVerf 1848 gemäß kamen die Geschäftsordnungen beider Kammern ohne Mitwirkung des Staatsministeriums zustande. Den Entwurf hatten Abgeordnete beider Kammern vor Eröffnung der Sitzungen unter Berücksichtigung der „Geschäfts-Reglements mehrerer anderer constitutioneller Staaten“, der aufgelösten Vereinbarungs- sowie der Frankfurter Nationalversammlung ausgearbeitet.131 Die Kammern akzeptierten diese Vorschläge als Provisorien, beauftragten aber zugleich Kommissionen mit der Überarbeitung.132 Am 28. März 1849 nahm die Zweite Kammer etliche Modifikationsvorschläge „ohne weitere Diskussion en bloc“ an.133 Zwei Tage später beschloss die Erste Kammer verschiedene Amendements.134 Während die Volksvertretung dieses Reglement im Grunde für längere Zeit unverändert beibehielt – Modifikationen folgten erst 10 bzw. 14 Jahre später135 – übernahm das Herrenhaus 1856 zwar zunächst die Geschäftsordnung der Ersten Kammer, änderte diese dann aber im Laufe der Jahre mehrfach ab und gab sich 1864 ein neues Reglement, das 1892 erneut ersetzt wurde.136 Anfang 1849 sahen beide Provisorien für Gesetzentwürfe der Regierung oder der jeweils anderen Kammer das Abteilungsverfahren mit abschließender Beratung in einem Zentralausschuss vor. Abweichungen waren zunächst bloß auf Antrag der Regierung möglich. Besondere Kommissionen konnten nur für solche Gegenstände gewählt werden, die nicht in den Abteilungen vorberaten werden mussten. Am 12. März 1849 nahm sich die Zweite Kammer dann das Recht, eine Gesetzesvorlage auch ohne Regierungsantrag in eine Kommission zu verweisen.137

131 s. dazu den Abgeordneten v. Jordan, VerhPr1K I (1849/50), S. 2 bzw. die Ergänzung S. 4 sowie VerhPr2K I (1849), S. 3. Zum Ganzen M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 499. 132 Vgl. VerhPr1K I (1849/50), S. 5 f.; VerhPr2K I (1849), S. 20 ff. 133 s. VerhPr2K I (1849), S. 325 f. mit Abdruck des Berichts S. 324 f. sowie die Synopse in VerhPr2K I (1849), Bd. 1, S. XXV. Dem Kommissionsbericht zufolge hatte man die „vorläufige Geschäftsordnung zum Grunde gelegt und mit Benutzung des Geschäfts-Reglements für die National-Versammlung zu Frankfurt, für die preußische National-Versammlung des Jahres 1848 und für die belgische Kammer, so wie mit Berücksichtigung der durch die Erfahrung sich herausgestellten Mängel jener vorläufigen Geschäftsordnung solche zu verbessern versucht“. Allg. zur Entwicklung A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 1 ff. 134 Zu verschiedenen Amendements, die nach dem Bericht der Geschäftsordnungskommis­ sion (Jordan) am 30. März 1849 beschlossen wurden, s. VerhPr1K I (1849/50), S. 263 ff. s. zum Ganzen auch G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 353 ff. 135 Zur Entwicklung A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 1 ff.; L. v. Rönne/P. Zorn, PrStaatsR I5 1899, S. 398 und in Anm. 2 bis 4 sowie ferner G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 353 ff. 136 L. v. Rönne/P. Zorn, PrStaatsR I5 1899, S.  399 und in Anm.  1 bis 6; Abdruck der Geschäftsordnung von 1892 bei A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 266. 137 VerhPr2K I (1849), S. 119 f.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Diesem Beispiel folgte die Erste Kammer knapp zwei Wochen später, weil die alte Regel doch „eine zu große Beschränkung“ gewesen sei.138 Nur auf einen ersten Blick überstand das Abteilungsverfahren in beiden Kammern die Geschäftsordnungsrevision.139 In Wahrheit installierte die Zweite Kammer neben der obligatorischen Petitionskommission weitere ständige Ausschüsse für Agrarverhältnisse, Handel und Gewerbe, Finanzen, Zölle, Justiz-, Gemeindesowie Unterrichtswesen (§ 19 GO-Pr2K 1849). Die Kommissionsberatung wurde für Gesetzesvorlagen und Anträge aus der Mitte des Hauses durch § 15 Abs. 2 GOPr2K 1849 zur Regel, so dass für das schwerfälligere und arbeitsintensivere Abteilungsverfahren nur noch die Rolle eines Lückenbüßers übrigblieb; im Laufe der Zeit wurde es vollständig verdrängt.140 In der Ersten Kammer konfrontierte man die Vorteile dieses Modus Operandi mit dem Nachteil, dass in einer Kommission nicht sämtliche Abgeordneten „in einer für die Sache ersprießlichen und Zeit ersparenden Weise“ an den Beratungen Teil nehmen könnten.141 Später fanden trotzdem verschiedene Fachkommissionen in die Geschäftsordnung des Herren­ hauses Eingang und die „Bearbeitung der der Kammer vorliegenden Gegenstände [fand…] in der Regel [in den] besonderen, zu erwählenden oder schon bestehenden Kommissionen“ statt. Das Abteilungsverfahren kam nur noch auf Antrag des Präsidenten oder eines Mitgliedes in Betracht.142 Auch in der Beteiligung der Regierungsvertreter unterschieden sich die Geschäftsordnungen: Während die Zweite Kammer den Ministern und ihren Beauftragten gestattete, den Sitzungen der Abteilungen, Zentralausschüsse und Kommissionen „mit berathender Stimme bei[zu]wohnen“ (§ 21 GO-Pr2K 1849), beschränkte die Erste Kammer dieses Recht auf Zentralausschüsse und Kommissionen; immerhin konnten die Regierungsvertreter die Aufnahme ihrer „Erklärungen“ in das Protokoll verlangen, um  – wie es im Bericht der Geschäftsordnungskommission hieß – „bei späterer Bezugnahme auf angebliche Erklärungen die Möglichkeit einer Beweisführung über den Inhalt“ zu gewährleisten (§ 23 Satz 1 GO-Pr1K 1849).143 138

So die Begründung der Geschäftsordnungskommission, VerhPr1K I (1849/50), S. 266. Die Erste Kammer reduzierte das Quorum für die Neuverteilung von 50 auf 40 Stimmen (§ 16), weil diese Anzahl Stimmen genüge, „um die Erneuerung der Abtheilungen, lediglich auf den Antrag einer Abtheilung, zu verhindern“ (VerhPr1K I (1849/50), S. 266). 140 Vgl. A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 1. 141 VerhPr1K I (1849/50), S. 265. Diese Vorteile des Abteilungsverfahrens hebt C. J. A. Mitter­ maier, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staatslexikon VI3 1862, S.  419, 424 f. hervor. Den Unterschied beider Verfahren brachte F. v. Ammon auf den Punkt, dass eine Kommission „zweckmäßig“ sei, wenn „zur Beurtheilung besondere Fachkenntnisse erforderlich“ wären. Für die Verfassungsrevision werde dagegen die Mitarbeit „von Allen erfordert […], welche durch die Wahl des Volkes berufen [seien…], zu seiner definitiven Feststellung mitzuwirken“. Einer Kommission könne man bloß einen ersten Entwurf überlassen (VerhPr1K I (1849/50), S. 212). 142 s. § 14 GO-Pr1K 1854. Zunächst sahen die §§ 18, 19 GO-Pr1K 1854 lediglich Kommissionen für die Petitionen und den Staatshaushalt vor. § 15 GO-PrHH 1892 forderte dann acht Fachkommissionen. 143 VerhPr1K I (1849/50), S. 266. Vgl. § 19 Abs. 1 GO-PrHH 1892. 139

2. Kap.: Rechtsgrundlagen parlamentarischer Information 

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2. Das Interpellationsrecht als Minderheitenrecht In beiden provisorischen Geschäftsordnungen wurde ein Interpellationsrecht verankert. Anfragen an die Minister bedurften lediglich einer Unterstützung von 15 bzw. 30 Mitgliedern, so dass es sich um ein Minderheitenrecht handelte. Verfahrensmäßig entschied zunächst der „Gesammtvorstand der Kammer“ über die Zulässigkeit einer Interpellation. Lehnte die Regierung die Beantwortung nicht kategorisch ab – dazu war sie gegenüber den bloß auf die Geschäftsordnung gestützten Anfragen berechtigt –, entschied die Kammer ohne Aussprache über die Zulassung der Interpellation. Erst dann wurde dem Interpellanten die „nähere Ausführung […] gestattet“. Im Anschluss erklärte sich der interpellierte Minister über den Zeitpunkt seiner Stellungnahme. „Mit der Beantwortung [war…] die Interpellation als solche erledigt“. Eine streitige Debatte fand nicht statt. Wenigstens blieb es den Abgeordneten „überlassen“, den Gegenstand einer Interpellation durch Sachanträge weiterzuverfolgen. In der Ersten Kammer wurde bei der Überarbeitung des Provisoriums das Unterstützerquorum von 15 auf 25 angehoben; im Gegenzug verzichtete man auf eine Annahme durch den Gesamtvorstand (§ 32 GO-Pr1K 1849).144 Die Geschäftsordnungskommission begründete diesen Schritt damit, „daß eine Ueberweisung […] an den Gesammtvorstand [diesem…] Verlegenheiten mannigfacher Art bereiten würde“. Die geänderte Fassung schütze Plenum und Ministerium ausreichend vor „ungeeigneten Interpellationen“, ohne das „werthvolle Recht […] zu verkümmern“, indem der Interpellant, „was auch das Schicksal der Interpellation sein möge“, durch Verlesung und Veröffentlichung zu seinem Recht komme. Die „Entscheidung über Beantwortung oder Ablehnung“ blieb dem „Willen des interpellirten Ministers“ überlassen.145 Auch in der Zweiten Kammer ließ man das Annahmeverfahren fallen (§ 28 f. GO-Pr2K 1849). 144 Das weitere Verfahren entsprach wieder dem Provisorium: Die Interpellationen wurden „sofort nach ihrer Einbringung dem betreffenden Minister schriftlich mitgetheilt, gedruckt, an die Kammermitglieder vertheilt und in der nächsten Sitzung vor der Tagesordnung verlesen, worauf der Präsident den betreffenden Minister zur Erklärung darüber auffordert[e], ob er die Interpellation zu beantworten gedenke?“ Ggf. wurde dem Interpellanten dann „die nähere Ausführung“ gestattet, worauf der Minister den Zeitpunkt der Beantwortung bestimmte. Eine „Diskussion über die Interpellation [fand…] nicht statt“; diese war mit der Beantwortung erledigt. 145 VerhPr1K I (1849/50), S. 267. Der Vorstoß des Grafen Dyhrn, dem Interpellanten nach der Beantwortung die Erklärung zu gestatten, „ob ihn dieselbe befriedigt habe oder nicht, und im letzteren Falle die Gründe dafür anzuführen“, kam nicht zur Abstimmung. In den Motiven zu diesem Amendement hieß es: „Da den Herren Ministern frei[stehe…], die Interpellation zu beantworten oder nicht, [seien…] sie vollständig vor der Gefahr gesichert, auf ungehörige oder unzeitige Interpellationen Antworten ertheilen zu müssen.“ Andererseits müsse dem Fragesteller „der Weg zur Kundgebung seiner Meinung über die Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit der Antwort geöffnet werden, während ihm durch den gegenwärtigen Wortlaut […] dieser Weg vollkommen verschlossen“ sei. Sonst könne er die Sache nur durch weitere Anträge oder eine erneute Interpellation weiterverfolgen, wofür sich nicht jede Frage eigne. Graf Dyhrn zog seinen Antrag mit dem Vorbehalt zurück, ihn der Geschäftsordnungskommission später erneut zu unterbreiten (VerhPr1K I (1849/50), S. 264, S. 268).

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Eine rechtliche Verpflichtung der Regierung, Interpellationen zu beantworten oder nur auf sie einzugehen, konnte das autonome Recht beider Kammern nicht begründen.146 Noch 1899 hieß es in dem durch Philipp Zorn fortgeführten „Staatsrecht der Preußischen Monarchie“ Ludwig v. Rönnes, dass die „ganze Frage der Beantwortung von Interpellationen […] keine Frage des Rechtes, sondern der Politik“ wäre.147 Zwischen diesen Grundkoordinaten war die Schlagkraft des Interpellationsrechts als Informations- oder Instrument der Regierungskritik weitgehend dem Ermessen des Staatsministeriums überlassen. Schlimmstenfalls riskierte ein Minister, der sich weigerte, auf eine parlamentarische Frage Rede und Antwort zu stehen, öffentlichen Ansehensverlust, möglicherweise sogar politischen Schaden.148 Darüber hinaus dürfte es aber dem damaligen Ehrverständnis entsprochen haben, sich gegen einen öffentlichen Angriff ebenfalls vor den Augen des Publikums zu verteidigen. Im Laufe der Zeit wurde das Interpellationsrecht noch verschiedentlich modifiziert.149 Dabei blieb es als Minderheitenrecht das geborene Kampfmittel der durch das Klassenwahlrecht marginalisierten Opposition.

D. Zwischenergebnis Die preußischen Kammern verfügten mit Art.  82 PrVerf  1850 potentiell über ein „echtes“ parlamentarisches Enquête- und Untersuchungsrecht, das trotz seines gegenüber Art. 73 „Charte Waldeck“ kupierten Wortlauts zur Überzeugung einer Mehrheit in der Zweiten Kammer auch das Recht umfasste, „Zeugen und Sachverständige zu vernehmen“. Mit diesem Votum in der Verfassungsrevision wurde der Erfolg des Gouvernements bei dem Versuch, die Enquête- und Untersuchungsrechtsforderungen der „Charte Waldeck“ in der Oktroyierung zu entschärfen, wenigstens ein Stück weit wieder in Frage gestellt. Ungeachtet der Unsicherheiten, die der nebulöse Wortlaut des Art. 82 PrVerf 1850 ließ, stand den Kammern jedenfalls auf dem Papier ein Instrument zu Gebote, um sich die für ihre Tätigkeit erforderlichen Informationen und Kenntnisse unabhängig von der Regierung zu verschaffen. Ganz im Sinne der Korollartheorie umspannte dieses Recht nach einer verbreiteten Auffassung sachbezogene Enquêten ebenso wie konfliktträchtige ­poli­tische Untersuchungen. Die Ergebnisse konnten über das Medium eines 146

Vgl. C. Bornhak, PrStaatsR2 I, 1911, S. 458 f., der das Interpellationsrecht als Verlängerung des Petitionsrechts ansieht. 147 Zum Fehlen einer „Verbindlichkeit zur Beantwortung“ s. L. v. Rönne/P. Zorn, PrStaatsR I5 1899, S. 394 sowie Anm. 2., S. 395 f.: „Nach allgemeinem konstitutionellen Gebrauche wird die Beantwortung einer Interpellation bei noch schwebenden Verhandlungen mit auswärtigen Regierungen mit Recht verweigert. Auch in anderen Fällen kann der gefragte Minister nicht genötigt werden, eine Antwort zu erteilen. Die ganze Frage der Beantwortung von Interpellationen ist keine Frage des Rechtes, sondern der Politik.“ 148 Vgl. M. Botzenhart, Parlamentarismus, 1977, S. 501. 149 Zur Entwicklung A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 118 ff.

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Berichts an das Plenum dem Publikum vorgeführt werden. Das revolutionäre Enquête- und Untersuchungsrecht, das die Vereinbarungsversammlung 1848 für sich beansprucht hatte, konnte sich also in Art. 81 PrVerf 1848 bzw. seinem revidierten Pendant trotz Auflösung und Oktroyierung in das konstitutionelle Preußen hinüberretten. Obwohl Pflicht, Zwang und Eid nicht ausdrücklich vorgesehen waren, wurden diese modernen Attribute parlamentarischer Selbstinformation und Kontrolle im Schrifttum teils unterstellt; überhaupt finden sich in den ersten Jahrzehnten des preußischen Konstitutionalismus einige überraschend moderne Interpretationen des Art. 82 PrVerf 1850. Während das Enquête- und Untersuchungsrecht – anders als in der Weimarer Zeit und heute – ausschließlich ein Instrument der Mehrheit war, gab das Interpellationsrecht oppositionellen Minderheiten die Möglichkeit, die Regierung durch peinliche Anfragen öffentlich in Bedrängnis zu bringen. Obschon das Fehlen einer gouvernementalen Antwortpflicht ein zeittypischer Nachteil des bis heute erhaltenen Fragerechts war, stellte doch die ausdrückliche Anerkennung dieses „Rechts“, das die Vereinbarungsversammlung lediglich faktisch beansprucht hatte, eine bemerkenswerte Neuerung dar. Die Verfassung und die Geschäftsordnung bauten neben diesen modernen parlamentarischen Rechten, die ihre Existenz der Revolutionsphase verdankten, in Gestalt des Zutritts- und Rederechts der Minister auch auf überkommene Instrumente, um die Verhandlungen zu vereinfachen und der Regierung gleichzeitig die Möglichkeit an die Hand zu geben, ihren Standpunkt jederzeit in den Kammern geltend zu machen. Neu war freilich das korrespondierende parlamentarische Zitierrecht.

3. Kapitel

Schlaglichter der preußischen Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte A. Die Zeit der Verfassungsrevision (1849–50) I. Kollegiale Angelegenheiten150 Ein gesteigerter Informationsbedarf kann sowohl bei der Legitimationsprüfung als auch in Immunitätssachen aufkommen. Insoweit würde es sich anbieten, auf das neue Enquête- und Untersuchungsrecht zurückzugreifen. Tatsächlich beschränkten sich die Kammern aber auf Unterstellungen und leicht greifbare Quellen. 150 Für die Zweite Kammer wird im Folgenden ausschließlich die konfliktreiche erste Legislaturperiode berücksichtigt.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

1. Legitimationsprüfungen Nähere Bestimmungen über die den Kammern gemäß Art.  77 Abs.  1 Satz  1 PrVerf 1848 zustehende Legitimationsprüfung trafen die Ausführungsreglements zu den Wahlgesetzen.151 Demgemäß hatte die Regierung ihnen die schriftlichen „Wahlverhandlungen“ zuzuleiten. Während „Bedenken gegen die formelle Gültig­ keit“ einer Urwahl schon in der „Versammlung der Wahlmänner“ zu behandeln waren, oblag die weitere Prüfung den Kammern.152 Anders als die Geschäftsordnung der Nationalversammlung sah das autonome Recht der Revisionskammern nähere Erkundigungen oder Ermittlungen nicht mehr ausdrücklich vor. Implizit folgte diese Befugnis dennoch zumindest aus § 7 Prov­ GO-Pr2K 1849 bzw. § 7 Vorl­GO-Pr1K 1849, denenzufolge die Kammerpräsidenten gewählt wurden, nachdem „über die Wahlen der Abgeordneten bis auf die einer näheren Aufklärung vorbehaltenen entschieden“ war.153 Obwohl sich Art. 81 PrVerf 1848 auf den ersten Blick für diesen Zweck empfahl, spielte er in diesem Kontext keine Rolle. Ein Grund mag gewesen sein, dass die Legitimationskontrolle kein „eigentliches“ Geschäft der Kammern, also der Ermächtigungsadressaten dieser Vorschrift, sondern Teil ihrer Konstituierung war.154 Die Protokolle beider Kammern zeigen, dass man sich bei den Legitimationsprüfungen in erster Linie auf die offiziellen Wahlakten stützte.155 Während die Erste 151

Abdruck etwa im AblRegDüsseldorf 1849, Nr. 1, S. 1 ff., 7 ff. In der Ersten Kammer wurde bestritten, dass die Kammer die Urwahlen noch nach dem Wahlmännerkollegium überprüfen könne (VerhPr1K I (1849/50), S.  14 ff., 26, 27 f.). In der Zweiten Kammer hielt die Mehrheit der siebten Abteilung eine Prüfung der Urwahlen „in formeller Beziehung“ selbst auf Reklamationen hin für unzulässig, weil Bedenken aufgrund des Wahlreglements der Wahlmännerversammlung zu unterbreiten seien. Eine materielle Kontrolle sei dagegen zulässig. Weil es auf die Streitfragen im konkreten Fall nicht ankam, da die betreffenden Abgeordneten mit ausreichenden Mehrheiten gewählt worden waren, blieb die Kompetenzfrage offen (VerhPr2K I (1849), S. 29 f.). 153 Hervorhebung nur hier. 154 Vgl. H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 330 f. 155 Zum Prozedere berichtete der gemäßigte Rechte Theodor Brüggemann aus der zweiten Abteilung, dass man für „jeden Wahlakt“ einen Referenten und Korreferenten, die der Ab­ teilung „das Resultat der Prüfungs-Verhandlungen vorgetragen“ hätten, „durch das Loos gezogen“ habe (VerhPr1K I (1849/50), S. 12). Entsprechend verfuhr die vierte Abteilung (S. 91). Für die erste Abteilung der Ersten Kammer betonte der Abgeordnete Wodiczka, dass man sich „keineswegs auf die bloße Durchsicht der Wahlprotokolle […] beschränkt“, sondern – wohl anhand der Akten – „genau geprüft [habe], ob vor und bei dem Akte der Wahl, so wie bei Abfassung der Wahlprotokolle, die gesetzlichen Vorschriften beobachtet“ worden seien. Außerdem habe die Abteilung „die Verhandlungen über die Wahlen der Wahlmänner einer Prüfung darum unterworfen, um zu ermitteln, ob materielle Mängel […] gerügt worden“ seien (S. 12). Die vierte Abteilung hatte sich in formeller Hinsicht darauf beschränkt, „ob entweder ausdrückliche Reclamationen oder Protestationen gegen die Abgeordneten-Wahlen eingegangen [seien…], oder ob durch einzelne dieser Wahlverhandlungen für die prüfende Abtheilung von Amts wegen eine Veranlassung [vorgelegen habe, …] eine Wahl zu kassiren.“ Andernfalls sei „angenommen“ worden, „daß gegen die Wahlen nichts zu erinnern sei“ (S. 16). 152

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Kammer Unsicherheiten anscheinend schlicht überging,156 entschied die Zweite Kammer wenigstens einmal in namentlicher Abstimmung mit einer knappen Mehrheit von 167 zu 165 Stimmen, dass „über den materiellen Inhalt des eingelegten Protestes […] die nähere Untersuchung eingeleitet und die Wahl […] beanstandet“ werden sollte. Im konkreten Fall bestand der Verdacht, dass ein Wahlkommissar bei einer auf ihn selbst gefallenen Urwahl „durch einige Schreiber, welche nicht Urwähler gewesen, die Stimmzettel [hatte…] schreiben lassen“. Nach dem Beschluss kündigte Präsident Grabow an, „den Herrn Minister des Innern [zu] ersuchen, die nöthige Untersuchung [zu] veranlassen“.157 Im Allgemeinen sah man im Sinne der von Heinrich Zoepfl beschriebenen Regel dann von etwaigen „Unregelmässigkeiten“ ab, „wenn […] dieselben auf das Ergebniss keinen Einfluss gehabt“ haben konnten.158 So forderte die Erste Kammer nicht einmal die Einsendung fehlender Wahlakten oder eine Ergänzung unvollständiger Protokolle und die Zweite Kammer konstatierte lapidar, dass „die Beobachtung der gesetzlichen Form zu präsumiren“ wäre bzw. ein etwaiger „Formfehler die Ungültigkeit der Wahl nicht nach sich ziehe“.159 In einem Fall entschuldigte die Zweite Kammer ein wahlrechtliches Versäumnis damit, dass das vorgeschriebene Prozedere ohnehin bloß „in den wenigsten Fällen beobachtet worden“ wäre.160 Die passiven Wahlvoraussetzungen behandelte man ebenso wie die Annahme der Wahl entweder als notorisch oder richtete formlose Nachfragen an die Betrof­fenen.161 Auch wurden Informationen den „öffentlichen Blättern“ ent-

156 Z. B. forderte die zweite Abteilung fehlende Urwählerlisten nicht an, obwohl das Wahlreglement deren Einsendung vorschrieb. Befanden sich von den Wahlmännern erledigte Protestationen nicht bei den Akten, wurde unterstellt, „daß die Wahlmänner-Versammlung innerhalb ihrer Kompetenz geblieben sein werde“ (VerhPr1K I (1849/50), S. 27 f.). 157 Außerdem hatte der Wahlvorsteher angeblich „bereits vor dem Tage der Wahl […] widergesetzlich einzelne Wahlzettel […] vertheilen lassen“, die mit einem „Namen […] beschrieben“ gewesen seien. Auch habe er „Arbeiter unter Androhung der Arbeitsentziehung dazu angewiesen […], für ihn zu stimmen“ (VerhPr2K I (1849), S. 96 ff.). 158 H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 330 f. Zum Erheblichkeitsgrundsatz s. auch BVerfGE 4, 370 (372 f.); BVerfGE 21, 196 (199). 159 VerhPr2K I (1849), S. 26. In vergleichbarer Weise ging man in anderen Fällen über Bedenken hinweg (S. 24). Für die Urwahlen wollte die siebte Abteilung sogar möglichen materiellen Fehlern nicht nachgehen, weil „das zur Erledigung derselben erforderliche Material bei den Wahl-Verhandlungen gewöhnlich nicht vor[lag und man außerdem…] in diesen Fällen annehmen [müsse], daß die gesetzlichen Vorschriften beobachtet [worden seien…], so lange das Gegentheil nicht behauptet oder bewiesen“ sei (S. 29). 160 VerhPr2K I (1849), S. 24. 161 s. VerhPr1K I (1849/50), S. 12, 13, 14, 161 f., 162, 197 f. s. zu Friedrich Kühlwetter, der nach eigenem Bekunden nicht das erforderliche Alter hatte, S. 331. David Hansemann und Friedrich Wilhelm Ludwig Bornemann erklärten auf Nachfrage, dass und welche Wahl sie angenommen hätten. Für den Prinzen von Preußen erklärte der Abgeordnete v. Katte, dass er eine schriftliche Ablehnung selbst „gelesen [habe] und […] sogar im Stande [sei], einen Abdruck […] zu überreichen“ (S. 17 f., 28).

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

nommen.162 In der Zweiten Kammer machte der nach Belgien emigrierte Aegidius Rudolph Nikolaus Arntz von seinem Recht aus § 6 Prov­GO-Pr2K 1849 Gebrauch, „in Beziehung auf [seine…] Wahl alle […] nöthig scheinende Aufklärung [zu] geben“, um Zweifel an seiner Eigenschaft als Preuße auszuräumen.163 Im Einzelfall wurden auch Zuschriften Dritter verwendet.164 Machten die Kammern dem Staatsministerium Mitteilung von Wahlmängeln, ging es nicht um weitere Untersuchungen. Vielmehr zeigte man der Regierung augenscheinliche Missstände zur weiteren Veranlassung an. So beanspruchten die Kammern wenigstens eine rudimentäre, dem Petitions- und Beschwerderecht ähnliche Kontrollbefugnis über die exekutive Wahldurchführung. Kompetenz­ einwände gegen dieses Vorgehen fanden bloß teilweise Gehör.165

162 Am 19. März 1849 wurde auf Betreiben E. Wachlers, der darauf hinwies, dass der ehe­ malige Justizminister K. A. Maerker die Annahme in „öffentlichen Blättern“ abgelehnt habe, diese Wahl beanstandet, obgleich Berichterstatter Wodiczka monierte, dass man über solche Umstände bislang hinweggegangen sei (VerhPr1K I (1849/50), S. 161 f.). 163 Für den promovierten Juristen, der seit seiner Flucht eine rechtswissenschaftliche Professur in Brüssel bekleidete, wurde die „Eigenschaft als preußischer Staatsbürger in Zweifel gezogen“. Ungeachtet des „nach Lage der Akten“ gefassten Abteilungsantrags für die Gültigkeit seiner Wahl erläuterte Arntz im Plenum seine Situation. Nach kurzer Debatte stimmte die gesamte Versammlung unter dem „Bravo“ der Linken für die Gültigkeit (VerhPr2K I (1849), S. 27 f.). 164 So wurde die zweifelhafte Legitimation des Oberregierungsrats Botho zu Eulenburg anerkannt, nachdem F. v. Ammon ein Schreiben von drei Wahlmännern verlesen hatte, die nicht ordnungsgemäß geladen worden waren. Sie erklärten, dass sie andernfalls für den Grafen­ Eulenburg gestimmt haben würden (VerhPr1K I (1849/50), S.  330 f.). Diese Wahlmänner­ waren keine „Zeugen“ im technischen Sinn, sondern erklärten sich über ein hypothetisches­ Abstimmungsverhalten. 165 In einem Fall, in dem Mängel der Urwahlen für die Abteilung nicht so schwer wogen, „daß deshalb die Wahl […] beanstandet werden“ konnte, erkannte das Plenum der Ersten Kammer sämtliche Wahlen antragsgemäß an, beschloss aber eine Mitteilung der „angeführten Versehen und Mängel“ an das Ministerium. Dem Einwand E. Wachlers, dass sich die Kompetenzen in der Wahlprüfung selbst erschöpften, hielt der vormalige Präsident der Nationalversammlung K. A. Milde entgegen, dass „die Kammer […] im ganzen Umfange […] das Wahlgeschäft […] einer genauen Kontrolle“ unterziehen müsse. Bei dieser „Superrevision“ habe sie das Recht, „Mängel und Versehen […] zur Kenntniß der Regierung zu bringen“ (VerhPr1K I (1849/50), S. 12 f.). – Die Zweite Kammer entschied, „daß, da die Bildung der Wahlbezirke durch das Gesetz der Regierung übertragen worden [sei, man…] auf eine solche Protestation nicht eingehen könne“ (VerhPr2K I (1849), S. 33). Der Abteilungsantrag, der „Staats-Regierung die bei den Wahlen […] vorgefallenen erheblichen Mängel zur Belehrung der Wahl-Kommissarien und zur Remedur für die Zukunft mitzutheilen“, fand bei „nur wenigen Mitgliedern“ Anklang (S. 24 f.). In einem anderen Fall zeigte man dem Innenminister „Unregelmäßigkeiten und Fälschungen“ zur Einleitung weiterer Schritte an, obwohl die Vorfälle das endgültige Wahlergebnis nicht beeinflusst haben konnten (S. 336.).

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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2. Immunitätssachen Grundlage der Immunitätssachen war Art. 83 PrVerf 1848, der für die Durchführung eines Strafverfahrens oder die Verhaftung eines Abgeordneten während der Sitzungsperiode eine Genehmigung der Kammer verlangte, sofern der Betroffene nicht auf frischer Tat oder innerhalb der nächsten 24 Stunden ergriffen worden war. Ebenso bedurfte die Schuldhaft der Genehmigung. Strafverfahren, Untersuchungs- oder zivilrechtliche Haft waren zudem auf Verlangen der Kammer für die Dauer der Sitzungsperiode aufzuheben. In der ersten Kammer kam das Enquête- und Untersuchungsrecht anlässlich einer Immunitätssache wenigstens beiläufig zur Sprache. Als Präsident Rudolf v. Auerswald erfuhr, dass Jodocus Donatus Hubertus Temme für seine Teilnahme am Stuttgarter Rumpfparlament wegen Hochverrats verhaftet worden war, verlangte er von dem Ministerium unter Berufung auf Art. 83 PrVerf 1848 die „Untersuchungs-Akten“ zur „Einsicht der hohen Kammer“.166 Justizminister Ludwig Simons kam diesem Verlangen nach, betonte aber, dass „für die Verwaltung eine Verbindlichkeit zur Vorlegung der gerichtlichen Untersuchungs-Akten durch die, in Bezug genommene Vorschrift des Art.  83 der Verfassungs-Urkunde, auch in Verbindung mit den Bestimmungen der Art. 80 und 81 [sic!] daselbst zur Zeit nicht begründet“ wäre. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass die beiden zuletzt zitierten Bestimmungen in Form des Adress- und des Untersuchungsrechts ausgerechnet zwei unzweifelhafte Instrumente parlamentarischer Regierungskontrolle betrafen. Trotz der ministeriellen Kooperation im Einzelfall war die simultane Verwahrung ein böses Omen, indem die Regierung unmissverständlich andeutete, dass sie sich selbst auf der Grundlage des Art. 81 PrVerf 1848 nicht für verpflichtet hielt, parlamentarischen Aktenvorlageersuchen Folge zu leisten. Weiterhin ersuchte der Justizminister den Kammerpräsidenten, „daß die […] UntersuchungsAkten selbst nicht im Büreau der Kammer zur allgemeinen Einsicht offen gelegt, sondern nur, wenn zur Vorbereitung eines Kammerbeschlusses […] eine Kommission niedergesetzt werden sollte, dieser die Akten, auf Verlangen, zugänglich gemacht“ würden. Rudolf v. Auerswald fügte sich diesem „durch Umstände gerechtfertigt[en]“ Geheimhaltungswunsch und überwies die Sache mit stiller Akklamation des Plenums an den Gesamtvorstand.167 Dem Bericht dieses Gremiums vom 20. Dezember 1849 zufolge hatte tatsächlich keine „Offenlegung der Akten im Büreau der Kammer“ stattgefunden. Stattdessen hatte man einem „Mitgliede des Gesammtvorstandes die spezielle Durchsicht dieser Akten und die Berichterstattung übertragen“ sowie eine „aus jenen Akten […] gefertigte species facti zur Einsicht der Kammer-Mitglieder offen­ gelegt“. In der Sache riet der Gesamtvorstand dem Plenum, von dem Immunitäts­ recht des Art. 83 PrVerf 1848 nur „mit Vorsicht Gebrauch“ zu machen, und schlug 166

VerhPr1K I (1849/50), S. 1341. VerhPr1K I (1849/50), S. 2061 (Hervorhebung nur hier).

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so einen rücksichtsvollen Kurs gegenüber den Gerichten ein. Im konkreten Fall sah man keine „Gründe der überwiegendsten Erheblichkeit“ gegen die Strafverfolgung, weil das zuständige Gericht in gesetzlicher Form entschieden habe, die nächste Instanz eine Beschwerde Temmes zurückgewiesen und sich der Angeschuldigte mit der Weigerung, über „seine Betheiligung bei den stuttgarter Beschlüssen“ auszu­ sagen, die Haftfortdauer selbst zuzuschreiben habe.168 In der Debatte konterte Justizminister Ludwig Simons, ein früherer Staatsprokurator und Generalanwalt, den Einwand des Abgeordneten Martens, die Kammer müsse sich über den Richter stellen, ja wäre zu einer „selbstständige[n] Prüfung“ geradezu verpflichtet, weil Art. 83 PrVerf 1848 sonst „illusorisch“ werde, damit, „daß die Kammer einen Akt der Jurisdiction nicht vorzunehmen, sondern nur zu prüfen habe, welches Verbrechen vorliege, von welcher Schwere es sei und welches die Veranlassung der Untersuchung und Verfolgung gewesen“.169 Auch der Magde­burger Oberlandesgerichtspräsident und konservative Anführer Ludwig v. Gerlach bekräftigte, „daß nur dann ein rechtsmäßiger und dem Staate nicht nach­ theiliger Gebrauch von diesem Privilegium gemacht werden [könne…], wenn irgend eine Corruption der Justiz vorhanden oder der Verdacht einer solchen begründet“ sei. Andernfalls dürfe man „in den Gang der Rechtspflege nicht eingreifen“.170 Als Justizminister Simons der Mahnung des Kammergerichtsrats Striethorst, dass Temme schon zuvor „seiner parlamentarischen Thätigkeit wegen grundlos verfolgt und auf schmähliche Art im Zuchthause zu Münster seiner Freiheit beraubt worden“ sei, entgegenhielt, „daß die Tribüne [nicht] der Ort sei, wo in dieser Weise ein solcher Vorwurf gemacht werden könne“,171 meldete David Hansemann Widerspruch an. Indem er darauf pochte, dass „dieser Ort […] gerade derjenige [sei…], wo unnachsichtlich […] Alles, was man für einen Mißbrauch [halte…], zur Sprache gebracht werden [könne…], von welcher Behörde der Mißbrauch [auch immer] ausgehe“, artikulierte der altliberale Bankier und Finanzminister des Revolutionsjahres den grundsätzlichen parlamentarischen Kontrollanspruch gegen­über der Staatsgewalt einschließlich der Justiz. Letztendlich löste sich der Konflikt in Wohlgefallen auf: Nach der Beschwichtigung Ludwig Simons’, er habe sich lediglich gegen die Wortwahl verwahren wollen  – Präsident Rudolf v. Auerswald hatte darauf die parlamentarische Redefreiheit verteidigt –, wiegelte auch der Abgeordnete Striethorst ab, dass seine pejorative Formulierung allein auf den Haftort gemünzt, keineswegs aber gegen die Justiz gerichtet gewesen sei.172 In der Sache genehmigte die Kammer das Strafverfahren gegen den Publizisten und Juristen Temme mit „sehr überwiegende[r] Mehrheit“.173

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VerhPr1K I (1849/50), S. 2131 f. VerhPr1K I (1849/50), S. 2132 f. 170 VerhPr1K I (1849/50), S. 2133. 171 VerhPr1K I (1849/50), S. 2132 f. 172 VerhPr1K I (1849/50), S. 2134. 173 VerhPr1K I (1849/50), S. 2134. 169

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Eine größere Rolle spielten Immunitätssachen in der ohne Zensus und nach dem demokratischen Wahlrecht der Revolutionstage gewählten Zweiten Kammer: Das Verfahren gegen den linken Landgerichtsassessor Georg Jung, dem eine „Beleidi­ gung des Magistrats von Berlin“ vorgeworfen wurde, begutachtete man ausgehend von den Gerichtsakten. Während die „Prüfung der Anklage und ihrer gesetzlichen Begründung“ allein der Justiz überlassen blieb, fällte die Kammer allen Mahnungen zum Trotz, ausreichender Anlass für eine Untersuchung sei gegeben, das parlamentarisch-politische Urteil, die Genehmigung der Strafverfolgung abzulehnen.174 Anfang März 1849 wurde die „sofortige Einberufung“ des in Untersuchungshaft einsitzenden Gütersloher Justizkommissars Friedrich David Groneweg beschlossen, dem die Teilnahme an einem Kongress zur Last gelegt wurde, auf dem die Vereinbarungsversammlung als „einzige legale Behörde“ bezeichnet worden sein sollte. Zusätzlich verlangte man die Untersuchungsakten.175 Als gut zweieinhalb Wochen später noch nichts geschehen war, forderte der Zentralausschuss das Justizministerium dazu auf, ihm „nach Lage der bei demselben befindlichen amtlichen Nachrichten […] nähere Mittheilung zu machen“. Obwohl das Zitierrecht des Art. 58 Abs. 2 PrVerf 1848 ausschließlich dem Plenum zustand, kam die Regierung dieser Bitte nach. In der Sache entschied der Zentralausschuss nach politischer Abwägung, dass ein „Zurückgehen auf die Untersuchungs-Akten nicht weiter […] erforderlich“ sei. Die Kammer nahm den Ausschussantrag, „die Untersuchungshaft […] für die Dauer der Sitzung der Kammer aufzuheben und die Einberufung […] herbeizuführen“, fast einstimmig an.176 In zwei weiteren Fällen wurde auf Antrag des betroffenen Mitglieds entschieden: Während die Bitte von Aegidius Rudolph Nikolaus Arntz, eine Voruntersuchung wegen des Steuerverweigerungsbeschlusses zu genehmigen, abgelehnt wurde; eine solche Untersuchung sei kein Anwendungsfall von Art. 83 PrVerf 1848,177 folgte die Kammer Gottfried Kinkels Wunsch, gleich zwei schwebende Strafverfahren „vorläufig zu sistiren und die Einforderung der Akten zu verlangen“.178 Eigene Untersuchungsversuche gab es also auch in der Zweiten Kammer nicht. Gleichwohl zeigte sich in der Ende April 1849 aufgelösten „Zweimonatskammer“ die Frontstellung gegen das Ministerium deutlich darin, dass Strafverfolgungs-

174

VerhPr2K I (1849), S. 336 ff. VerhPr2K I (1849), S. 87 ff. (Hervorhebung nur hier). 176 VerhPr2K I (1849), S. 300. Der Präsident kündigte daraufhin an, dass er, „in Folge dieses Konklusums, sofort den Herrn Minister des Innern bitten [werde], schleunigst Veranstaltung zu treffen, daß der Abgeordnete Groneweg entlassen werde, damit er [den…] Sitzungen beiwohnen könne“. 177 Antragsgemäß beschloss die Kammer, „zur Tages-Ordnung überzugehen“ (VerhPr2K I (1849), S. 339 f.). 178 Dazu und dem Beschluss, die Sache zur Beschleunigung an die Petitionskommission zu verweisen, s. VerhPr2K I (1849), S. 336, 366. 175

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genehmigungen verweigert, eine schwebende Untersuchung sistiert und die Voruntersuchung gegen den Abgeordneten Arntz nicht einmal auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin genehmigt wurde. 3. Zwischenergebnis Über eine beiläufige und noch dazu negative Erwähnung durch die Regierung, dass sie u. a. auch aufgrund dieser Vorschrift nicht dazu verpflichtet wäre, der Kammer die Untersuchungsakten vorzulegen, spielte Art. 81 PrVerf 1848 weder in den Wahlprüfungen noch den Immunitätsangelegenheiten eine Rolle. Wenigstens berühmten sich beide Kammern in den Legitimationsprüfungen einer gewissen Kontrollkompetenz gegenüber der staatlichen Wahldurchführung, indem sie dem Ministerium Mängel und Missbräuche anzeigten. Gegenüber den Gerichten schlug man in Immunitätssachen einen zurückhaltenden Kurs ein und verzichtete auf eigene Nachforschungen oder eine detaillierte juristische Prüfung. Stattdessen trafen die Kammern genuin politische Entscheidungen über die Immunität ihrer Mitglieder und beschränkten sich im Übrigen nach dem Vorbild der Vereinbarungsversammlung auf die Verhinderung von Tendenzprozessen. Freilich sistierte die Zweite Kammer verschiedene Untersuchungsverfahren aus politischen Gründen. Über diese Ansätze eines Kontrollanspruchs bzw. die Anklänge einer oppositionellen Haltung der Zweiten Kammer hinaus verdient aus den „Kollegialsachen“ der Revisionskammern bloß die bereits erwähnte Verwahrung des Justizministers Ludwig Simons gegen eine Aktenvorlagepflicht aufgrund des Art. 81 PrVerf 1848 Beachtung. Für die weitere Entwicklung, insbesondere, wenn man Bismarcks Ukas aus den 1860er Jahren bedenkt, nicht mit der Kommission des Abgeordnetenhauses zur Untersuchung der gouvernementalen Wahlmachinationen zu kooperieren, erscheint dieser Protest der Regierungsseite als frühes Menetekel;179 bemerkenswert ist weiterhin, dass sich die parlamentarische Seite für ihr Auskunftsbegehren nicht auf das Enquête- und Untersuchungsrecht berief. Ein anderer interessanter Aspekt ist ihr Widerstand gegen eine Beschneidung ihrer Kontrollrechte: Als sich Justizminister Simons gegen ein parlamentarisches Recht zur Richterschelte aussprach, sprangen der altliberale Kammer­­ präsident Rudolf v. Auerswald und sein Parteifreund David Hansemann für das Recht der freien Rede und Kritik jedes staatlichen Missbrauchs in die Bresche. Zu guter Letzt behandelte die Kammer die ihr überlassenen Untersuchungsakten auf Bitte des Justizministers vertraulich. Indem sich der Gesamtvorstand, also ein relativ kleines Gremium der Sache annahm, wurden – dem heutigen Vorsitzendenverfahren ähnlich180 – die Zahl der „Mitwisser“ und damit das Risiko eines informationellen „Lecks“ beschränkt. 179 Zu dem diesbezüglichen Missbilligungsbeschluss des Abgeordnetenhauses s. 5.  Teil 3. Kap. C. II. 2. e) und 3. 180 Dazu P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 11 Rn. 35 ff. m. w. N.

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II. Sozialenquêten Das 19.  Jahrhundert war eine Zeit schwerer sozialer Verwerfungen. Die permanente Verschlechterung der Lage der Arbeiterschaft, aber auch des Kleingewerbes und der Kleinbauern, die in den Pauperismus breiter Bevölkerungsschichten mündete, gehörte zu den dringendsten sozial-, wirtschafts- und innenpolitischen Problemen. Angesichts dieser prekären Lage ist es nicht verwunderlich, dass das parlamentarische Selbstinformationsrecht in den Revisionskammern vor allem in seiner Funktion als Enquêterecht eine Rolle spielte. 1. Erste Kammer Ein weithin sichtbarer Kristallisationspunkt der sich verschärfenden sozialen Frage war das durch Gerhart Hauptmann in den 1890er Jahren besungene bittere Los der Spinner und Weber, zu dessen Untersuchung schon die preußische Nationalversammlung Ende Juni 1848 eine Kommission niedergesetzt hatte.181 a) Die Enquête zur Lage der Weber und Spinner Insbesondere die Handspinner wurden hart von der ausländischen Maschinenspinnerkonkurrenz getroffen. Die Unternehmer versuchten der wirtschaftlichen Krise u. a. durch Lohnsenkungen Herr zu werden. Missernten trugen durch explodierende Grundnahrungsmittelpreise zur Massenverelendung bei. Hinzu kam die liberale Handelspolitik des Zollvereins, der bloß geringe Einfuhrabgaben auf Rohstoffe und Vorerzeugnisse erhob und damit den Import zu Lasten der heimischen Produktion begünstigte, während das Ausland teils hohe, den deutschen Export benachteiligende Schutzzölle erhob. Als die Garnzölle 1846 endlich angehoben wurden, kam dieser Schritt zu spät, um die soziale Katastrophe noch aufzuhalten.182 aa) Behandlung des Einsetzungsantrags Am 24. März 1849 wurde in der Ersten Kammer über die Forderung des Grafen v. Schlieffen beraten, „daß eine Kommission von je zwei Mitgliedern aus jeder Abtheilung niedergesetzt werde, um in Erwägung zu ziehen, wie der Noth der Spinner und Weber in Schlesien und in der Grafschaft Ravensberg Abhülfe geschafft werden könne“. In den Antragsmotiven hieß es u. a., dass sich in „den Ak 181

Zu diesem gescheiterten Enquêteversuch s. 3. Teil 2. Kap D. V. Vgl. H.  Best, Interessenpolitik, 1980, S.  47 ff., 57 f., 60 ff.; W. Treue, WirtGesch, 1984, S.  361 ff. zu Not und Ursachen in der schlesischen Textilwirtschaft und ferner I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (216 ff.) zur Entwicklung seit dem Hungeraufstand von 1844.

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ten der Ministerien, so wie der aufgelösten National-Versammlung […] ein großer Schatz von Materialien und Vorarbeiten befinden“ müsse, die, „mit kritischem Blick“ gesichtet, „die nützlichsten Data verschaffen [dürften…], um zu zweckentsprechenden Maßregeln den nöthigen Anhalt zu erlangen“.183 Gefordert war also nicht die Veranstaltung einer weiteren Enquête, sondern lediglich eine Prüfung des bereits vorhandenen Materials, um auf Grundlage dieser Erkenntnisse Strategien zur Verbesserung der sozialen Lage der betroffenen Bevölkerungskreise auszuarbeiten. Obwohl der Gegenstand eigentlich wie maßgeschneidert für Art.  81 PrVerf 1848 wirkte, berief sich der Antragsteller möglicherweise auch deswegen nicht auf diese Vorschrift. Erst Ernst Wachler hob auf die Rüge des Regierungsrats Bennecke aus Frankfurt an der Oder hin, dass man im „Verwaltungswege“ nach „Maßregeln zur Abhülfe der Noth“ suchen wolle, obgleich die Kammer ausschließlich zur Gesetzgebung berufen wäre,184 das verfassungsmäßige Recht des Plenums hervor, „Kommissio­ nen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“. Damit brachte der linke Zentrumspolitiker, der den umstrittenen Art.  81 PrVerf  1848 im November gegen Streichungsforderungen verteidigen sollte,185 das neue Enquête- und Untersuchungsrecht nach der stiefmütterlichen Behandlung durch die Antragsteller anscheinend erstmalig zur Sprache. Ergänzend betonte der Breslauer Richter, dass die Kammer keineswegs allein „aus dem Volke hervorgegangen“ wäre, „um Gesetze zu berathen, sondern auch, um dem Nothstande des Volkes abzuhelfen“ und „eine […] Kommission zu ernennen, welche geeignete Vorschläge machen [werde…], die ein Einzelner nicht so gut machen“ könne.186 David Hansemann sprach sich ebenfalls für den Antrag aus, von dem er sich aber wenig verspreche. Immerhin dürfe man auf weiterführende Vorschläge des Zentralausschusses hoffen: entweder „bestimmtere Maßregeln“ oder die Niedersetzung einer „Kommission zur Untersuchung dieser Angelegenheit“ aufgrund von Art. 81 PrVerf 1848 (!), „deren Aufgabe es sein [werde…], alle die Verhältnisse, die aus den vorhandenen Materialien [und] durch Aufnahme von Thatsachen an Ort und Stelle oder auf andere Weise zu ermitteln [seien…], zu prüfen“. Ein solches Gremium könne „am Ende die geeigneten Vorschläge machen“.187 Damit 183

VerhPr1K I (1849/50), S. 200 (Hervorhebung nur hier). Nach Verlesung des Antrags betonte der Antragsteller Graf Schlieffen erneut, welch „ansehnliches Material“ schon an verschiedenen Plätzen schlummern müsse. Weil es „gewiß auch zahlreiche Vorschläge [enthalte…], um den allgemeinen Nothstand zu beheben“, habe die Kommission dieses „reichliche Material zu sichten, zu ordnen und übersichtlich zusammenzustellen“. Anschließend solle sie dem Plenum ihre Erkenntnisse und Vorschläge unterbreiten, „wie das vorgesteckte Ziel zu erreichen sein dürfte“. Schlimmstenfalls müsse „jede Hoffnung, diese Nothstände glücklich und dauernd zu beseitigen, aufgegeben werden“, so dass „nichts anderes übrig bleibe, als die Arbeits-Bedürfnisse und Arbeitskräfte […] auf andere ersprießliche Gebietsthätigkeiten hinüberzuleiten“ (S. 201). 184 VerhPr1K I (1849/50), S. 201 f. 185 s. 5. Teil 2. Kap. A. II. 2. b). 186 VerhPr1K I (1849/50), S. 203. 187 VerhPr1K I (1849/50), S. 201 (Hervorhebung nur hier).

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plädierte ausgerechnet der altliberale Politiker für eine parlamentarische Enquête, der im Vorfeld der Oktroyierung für eine Zweidrittelmehrheit zur Beschränkung dieses Rechts geworben hatte.188 Auch Karl August Milde befürwortete den Antrag, weil es gelte „eine Menge irriger Ansichten und Hoffnungen zu berichtigen und ins wahre Licht zu stellen“. Der altliberale Unternehmer, der die entsprechende Enquêteforderung der Nationalversammlung 1848 als Handelsminister ausdrücklich befürwortet hatte,189 hielt dem durch Bennecke ins Spiel gebrachten „Gewaltenteilungseinwand“ entgegen, dass die Kammer keineswegs „auf dem Verwaltungswege eine Lösung der Frage herbeizuführen“ gedenke. Die Forderung erschöpfe sich in ihrer Allgemeinheit darin, „endlich einmal die Frage in Bezug auf die Weber und Spinner in ihrem ganzen Umfange gründlich zu erörtern“. Der schlesische Industrielle äußerte die Hoffnung, dass die „Kommission […] Vorschläge […] machen [könne…], um der schwerbedrückten Weberei erfolgreich Hülfe zu gewähren, sei dies auf dem Wege der Association, sei es auf anderem Wege, und namentlich dem Wege des Schutzes gegen auswärtige Konkurrenz“.190 Obwohl ein Teil der Befürworter also durchaus kein Hehl daraus machte, dass es um eine parlamentarische Enquête – nötigenfalls mit Ermittlungen vor Ort – ging, deren Ergebnisse zu sozial-, gewerbe-, zoll- und handelspolitischen Vorschlägen etc. verwendet werden sollten, folgte die Kammer dem Antrag, ohne einschränkende Maßgaben.191 Die Rechtsgrundlage der geforderten Kommission blieb im Nebel: Der Antrag stützte sich angesichts der zurückhaltenden Forderung der Antragsteller noch nicht auf Art. 81 PrVerf 1848. Im Ausgangspunkt war auch keine 188

s. 5. Teil 2. Kap. A. I. 2. s. 3. Teil 2. Kap. D. V. 190 VerhPr1K I (1849/50), S. 202. 191 VerhPr1K I (1849/50), S. 203. Der Antrag, „daß eine Kommission von je zwei Mitgliedern aus jeder Abtheilung niedergesetzt werde, um in Erwägung zu ziehen, wie der Noth der Spinner und Weber in Schlesien und der Grafschaft Ravensberg Abhülfe geschafft werden könne“, wurde in nähere Erwägung gezogen. Auch der Zusatzantrag, „daß die […] zu bildende Kommission zugleich in Erwägung ziehe, wie dem Nothstande der Weber auf dem preußischen Theile des Eichsfeldes – Kreise Worbis und Heiligenstadt und theilweise Mühlhausen – abzuhelfen sein möge“, wurde angenommen und die Sache „zur weiteren Erwägung an die Abtheilungen verwiesen“. Dieser Zusatzantrag musste aus Geschäftsordnungsgründen nochmals beschlossen werden (vgl. S. 233). – In der Debatte widersprach der Abgeordnete Herrmann der Einsetzung einer Kommission und warf den Antragstellern vor, dass sie der Kammer keinen sachlichen Antrag unterbreitet hätten, obgleich doch zu ihrer Überzeugung „so vieles Material in den Akten des Ministeriums“ vorhanden wäre. „[D]ergleichen vagen Anträgen beizutreten“, führe zu nichts. Moritz August v. Bethmann-Hollweg, der Großvater des späteren Reichskanzlers, hoffte dagegen, „daß eine gründliche Untersuchung wenigstens zu einer Erleichterung, wenn auch nicht zu einer vollständigen Abhülfe führen“ werde. Der Abgeordnete Bergmann betonte die Wichtigkeit einer Kommission, um erst die bestehenden Zustände zu untersuchen, bevor ein bestimmter Antrag gestellt werde: „Die nächste und wesentlichste Aufgabe [sei es…], Material zu bekommen, um unterscheiden zu können, wie die Abhülfe geschehen soll[e]. Wenn [man…] jetzt einen Antrag machen [wolle…], ohne solches Material, […] glaube [er…] allerdings, [man habe…] denen Steine gegeben, die Brod haben woll[t]en“ (VerhPr1K I (1849/50), S. 201, 202, 203). 189

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Enquête im eigentlichen Sinne selbständiger Erhebungen, sondern lediglich eine Kommission beantragt, die sich aus dem von der Nationalversammlung zusammengetragenen Material sowie aus Informationen in Regierungshand unterrichten sollte. Was dieses Gremium von einer „gewöhnlichen“ Vorberatungskommission unterschied, war, dass ihr kein konkreter Antrag oder Gesetzentwurf zur Vorberatung unterbreitet werden sollte. Stattdessen sollte sie beauftragt werden, Lösungsstrategien zu erarbeiten. In diesem Sinne erhoffte sich David Hansemann weiter­ gehende Vorschläge oder einen „Einsetzungsantrag“ von der Zentralabteilung. Der rheinische Bankier ging also offenkundig davon aus, dass der Antrag Schlieffen zunächst in den Abteilungen vorberaten werden müsse. Tatsächlich beschloss die Kammer, den Antrag zur Erwägung in die Abteilungen zu verweisen. Diese interpretierten ihren Auftrag aber extensiv und Präsident Rudolf v. Auerswald unterrichtete das Plenum keine Woche später, dass bereits die Kommissionsmitglieder gewählt worden seien. Der Hinweis auf dieses „Versehen“ provozierte keinen Widerspruch, so dass die Kommission ihre Arbeit mit Billigung der Kammer aufnehmen konnte.192 Außerdem hatte man den Kommissionsauftrag zwischenzeitlich nach dem Amendement Bergmann-Keuffel auf die Lage der „Weber auf dem preußischen Theile des Eichsfeldes, Kreise Worbis und Heiligenstadt und theilweise Mühlhausen“ ausgedehnt.193 bb) Kommissionsbericht und Plenarberatung Der Bericht dieser Kommission konnte wegen der Zwangspause durch die Auflösung der Zweiten Kammer erst am 7. Januar 1850 und damit ein dreiviertel Jahr später beraten werden. Die Kommission erhob verschiedene Forderungen, die sich nicht auf die Gesetzgebung beschränkten, sondern deutlich in das Feld der Exekutive hinübergriffen. Nach der Art eines Resolutionsantrags verlangten die Abgeordneten, der „Staatsregierung zu empfehlen“, gemeinsam mit den Zollvereinsstaaten die Eingangszölle auf Rohgarne zu erhöhen, die Ausfuhr einheimischer Erzeugnisse durch einen „Rückzoll oder Prämien“ zu fördern und einen Ausfuhrzoll auf Flachsabfälle zu erheben, die noch zur Garnproduktion geeignet waren. Verschiedene andere „Vorschläge zur Verbesserung der Lage der Weber und ihres Gewerbes“, die ebenfalls an die Adresse der Staatsregierung gerichtet waren, zielten auf eine „Beförderung anderer Erwerbszweige, zumal solcher, die mit der Weberei in Verbindung stehen“, die „Einrichtung von Leihbanken“, staatliche Förderung der Aus- und Weiterbildung, eine paternalistische „Verbesserung der sittlichen Zustände“, arbeitsrechtliche Regelungen sowie – als ultima ratio zur Behebung der schlimmsten Not  – auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Form von „Chausseebauten und Landesmeliorationen“.194 192

VerhPr1K I (1849/50), S. 263. Zu Amendement und Beschluss s. VerhPr1K I (1849/50), S. 201, 233. 194 VerhPr1K I (1849/50), S. 2212. 193

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Bei ihrer Arbeit hatte sich die Kommission die benötigten Informationen über den schwächlichen „Einsetzungsbeschluss“ hinaus „theils durch Communication mit der Staats-Regierung, theils durch Einziehung von Nachrichten von Privatpersonen und Sachverständigen, so wie durch Einsicht der bei der Kammer eingegangenen hierauf bezüglichen Petitionen“ verschafft.195 Zu Reibereien mit der Regierung kam es bei dieser faktischen „Enquête ohne Auftrag“ offenbar nicht. Vielmehr lobte ein Kommissionsmitglied im Plenum ausdrücklich die Koopera­tions­bereitschaft des Regierungskommissars, von dem man „alle diejenige Auskunft erhalten [habe…], welche [man…] nur irgend [habe…] verlangen können“.196 – In der Frage, „ob […] Abhülfe möglich“ und durch welche Ursachen „die Leinen-Industrie gelähmt und die Verarmung herbeigeführt“ worden seien, griff die Kommission auf „vielfache Mittheilungen“ leider ungeklärter Art und Provenienz zurück.197 Keine genaueren Angaben gab sie ebenfalls über die „vielfache[n] Vorschläge[n] von Mitteln“, die ihr aus ungenannten Quellen zugingen.198 Über die Höhe der Schutz- und Rückzölle, mit deren Hilfe die einheimische Produktion gegenüber der ruinösen Auslandskonkurrenz geschützt werden sollte, hatte die Kommission „bei Sachverständigen Erkundigungen eingezogen“.199 Ob diese Auskunftspersonen Unternehmer, staatliche Beamte, Ökonomen oder lediglich sachkundige, der Kommission aber nicht angehörende Abgeordnete waren, ließ der Bericht offen. Über mittel- bzw. langfristige protektionistische Forderungen hinaus suchte die Kommission noch „nach anderen Mitteln“ zur temporären Linderung der Not. Auch „in dieser Beziehung [waren] vielfache Vorschläge eingegangen“. Zur Sprache kamen neben der abgelehnten Umsiedelung oder Auswanderung der Betroffenen u. a. überraschend aktuelle Instrumente wie – modern gesprochen – Arbeitsbeschaffungs-, Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahmen.200 Zudem machte sich die Kommission ausdrücklich den in verschiedenen „Denkschriften“ artikulierten Wunsch zu eigen, dass die Rechtsverhältnisse zwischen Arbeitern, Arbeitgebern und den Abnehmern der Waren „geregelt und überwacht“ werden sollten. Schiedsgerichte seien einzurichten, der Lohn zu regeln sowie Vorsorge zu treffen, „daß einerseits der Arbeiter nicht dem Eigennutze und den Launen des Kaufmanns oder Fabrikanten preisgegeben werde“, man aber „andererseits […] auch den schlechten und betrügerischen Arbeiter zur wohlverdienten Correction“ ziehen könne. Die „Ausarbeitung solcher Bestimmungen und Ordnungen“ qualifizierte 195

VerhPr1K I (1849/50), S. 2208. VerhPr1K I (1849/50), S. 2225. 197 VerhPr1K I (1849/50), S. 2208 f. 198 Im Einzelnen handelte es sich um die „Colonisation, theils inländische, theils überseeische, Anlage von Chausseen in den betreffenden Landestheilen und Beschäftigung der Arbeitslosen bei selben und bei Landes-Meliorationen, Beschränkung des zu frühen Heirathens und der Ansiedlungen ohne den Nachweis zureichender Mittel, Aufhebung der sogenannten Paternitäts­ klagen, Anordnung von Armen-Vorständen in jedem Orte unter Aufsicht einer Central-Behörde für die Gegend, Ueberwachung der Arbeitsscheuen, Spar- und Prämienkassen u. s. w.“. 199 VerhPr1K I (1849/50), S. 2210. 200 VerhPr1K I (1849/50), S. 2210 f. 196

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die Kommission primär als „Beruf“ der Anfang 1849 geschaffenen „GewerbeRäthe und Gewerbe-Gerichte“, also der Standesvertretungen bzw. „Sozialpartner“, nicht aber eines parlamentarischen Gremiums.201 Zu guter Letzt stellte der Bericht, wie es auch heute noch üblich ist, Überlegungen zu der Relation der voraussichtlichen Kosten und des erhofften Nutzens an.202 Obwohl die „Empfehlungen“ der Kommission keineswegs auf gesetzgeberische Schritte zielten, sondern tief in das Feld von Regierung und Exekutive hinein­ reichten, fand keine Abrechnung mit der früheren Handels- und Sozialpolitik statt.203 Explizite Regierungs- oder Exekutivschelte standen nicht auf der Agenda. Die Kommission war ehrlich bemüht, die Situation der betroffenen Bevölkerungskreise zu bessern. Trotzdem stießen ihre Vorschläge in der Öffentlichkeit teils auf fundamentale Ablehnung. Das galt für den erhofften Rückgang der Baumwollindustrie ebenso wie für die Schutzzollforderungen, von denen die traurigsten Konsequenzen für die Betroffenen erwartet wurden. Neben der Finanzierung der geforderten Ausfuhrprämien kritisierte man, dass sämtliche Maßnahmen nicht der armen Bevölkerung, sondern allein den „Herren Capitalisten“ zugute kämen.204 Auch in der Kammer wurde Kritik an den protektionistischen Vorschlägen laut.205 Den Befürwortern des beantragten Wechsels bot die Debatte dann aber die Gelegenheit, mit der Handels- und Zollpolitik der Regierung abzurechnen. Der Regierungskommissar und Geheime Regierungsrat Rudolph Delbrück versuchte das Ministerium in der Sitzung vom 7.  Januar 1850 damit zu verteidigen, dass verschiedene der geforderten Maßnahmen bereits ergriffen seien. Den Schutzzollforderungen hielt der preußische Beamte, der unter Bismarck zur treibenden Kraft der Freihandelspolitik avancieren sollte,206 entgegen, dass der „jetzige Augenblick […] nicht geeignet [wäre], eine Frage zur Entscheidung zu bringen, die vor einem anderen Forum [scil. dem Zollverein…] ausgetragen werden“ müsse.207 Handelsminister August v. der Heydt verwies darauf, dass die Regierung noch vor seinem Amtsantritt einen „umfassenden Bericht über die bestehenden Einrichtungen“ in Auftrag gegeben und auch verschiedene Schritte unternommen habe. Der parlamentarischen Seite kreidete er an, dass man von alledem der Kommission „Mittheilung gemacht“ habe, „ehe der Bericht“ festgestanden habe.208 Der Abgeordnete Friedrich Diergardt zog die Wirksamkeit der bisherigen Maßnahmen in Zweifel. Der sozial eingestellte Großindustrielle, zu dessen Textilfabrikation Anfang der 1860er Jahre rund 1.000 Webstühle mit über 3.000 Arbeitern 201

VerhPr1K I (1849/50), S.  2212. s.  zu Gewerberäten und Gewerbegerichten allg. H. A. Mascher, PrGewO, 1862, S. 3 ff., 11 ff. 202 VerhPr1K I (1849/50), S. 2211 f. 203 Vgl. VerhPr1K I (1849/50), S. 2210. 204 Etwa C. Noback, Leinenindustrie, 1850, S. 42 ff. 205 s. die Debatte in VerhPr1K I (1849/50), S. 2219. 206 R. Morsey: in: Gall/Lappenküper (Hg.), Mitarbeiter, 2009, S. 69 (74 f.) und passim. 207 VerhPr1K I (1849/50), S. 2212 f. 208 VerhPr1K I (1849/50), S. 2225.

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zählen sollten,209 betonte, dass eine „gründliche Untersuchung unter Zuziehung von Sachverständigen aus den verschiedenen Provinzen der Monarchie in ähnlicher Weise, wie in England alle wichtigen materiellen Fragen behandelt [würden…], am sichersten herausstellen [könne], durch welche Maßregeln die Maschinen-­ Spinnereien ins Leben zu rufen“ seien. Schließlich gehe es nicht allein um die Linderung akuter Not, „sondern um Förderung der Haupt-Faktoren des National-­ Wohlstandes, Landwirthschaft, Handel und Schifffahrt.“210 Trotzdem forderte der Geheime Kommerzienrat aus Viersen keine parlamentarische Enquête, sondern hielt es für den „sicherste[n] Weg“, „den bereits von der ersten Kurie des ersten Vereinigten Landtages von […] der großen Mehrheit […] gestellten Antrag auf baldige Einberufung von Sachverständigen [scil. durch die Regierung (!)…] wieder aufzunehmen“. Die „Beschlußnahme über den Schluß-Antrag der Kommission“ wollte er dagegen „vorläufig“ aussetzen und das Ministerium „unter Ueberweisung [des…] Berichtes […] ersuchen, durch Kommissionen, welche in den einzelnen Distrikten der Leinen-Fabrication die Ursache des Sinkens dieses wichtigen In­dustriezweiges und die Mittel zur Herstellung seiner früheren Blüthe, so wie der gegenwärtigen Lage der Spinner und Weber und die Mittel zur Beseitigung der häufig wiederkehrenden Nothstände derselben, nach Vernehmung der Betheiligten an Ort und Stelle genau untersuchen zu lassen und demnächst bei der künftigen Zoll-Konferenz die im Interesse des Landes erforderlichen Anträge zu stellen […] und sonstige geeignete Vorschläge den Kammern zur Berathung vorzulegen.“211 Später dehnte er seine Forderungen darauf aus, man solle „England nachahmen“ und insbesondere festlegen, „daß die Antworten veröffentlicht [würden…], damit Jeder überlegen [könne…], was er den Herren Ministern“ antworte.212 Im weiteren Verlauf verständigte sich Friedrich Diergardt mit dem Abgeordneten Delius auf ein gemeinsames Amendement, das seinen ursprünglichen Antrag um den Vorschlag erweiterte, „der Staatsregierung zu empfehlen[, …] die preußische Leinen-Industrie durch angemessene Maßregeln wieder zu beleben und namentlich zu diesem Ende […] mit den Zollvereins-Staaten“ weitere Schritte „in Erwägung zu ziehen“.213 Ernst Wachler war der Auffassung, dass man vor einer definitiven Entscheidung über die „materiellen Fragen“ zunächst „Zeugnisse und Ermittelungen von Sachverständigen“ veranlassen müsse, um der Kammer eine angemessene Be­urteilung

209

Vgl. W. Crecelius, ADB V, 1877, S. 140; B. Haunfelder, BioHdbPrAbgH, 1994, S. 318. VerhPr1K I (1849/50), S. 2219. 211 VerhPr1K I (1849/50), S.  2220. Gemeint war wohl der Beschluss vom 17.  Mai 1847, „daß die Herren-Kurie die anliegende Petition nebst Denkschrift [des Fürsten v. Lichnowsky] im gesetzlich vorgeschriebenen Wege Sr. Majestät dem Könige vorlegen und den Wunsch aussprechen möge, daß der Inhalt derselben, nach der ferneren Anhörung von Sachverständigen, bei der nächsten Zoll-Konferenz beachtet und zur Erwägung gezogen werde“ (A. T. Woeniger, PrRT IV, 1847, S. 93 ff.). 212 VerhPr1K I (1849/50), S. 2229. 213 Vgl. VerhPr1K I (1849/50), S. 2220, 2223. 210

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zu ermöglichen. „Diese Sachverständigen müss[t]en an Ort und Stelle […] aus der Mitte derer, die Arbeit geben und die Arbeit nehmen, erwählt werden“. Demgegenüber konnten „solche Sachen“ zur Überzeugung des Breslauer Richters „vom grünen Tische aus nicht beurtheilt werden“.214 Scharfe Kritik an den bisherigen Regierungsenquêten, die bloß zu lebensfremden Resultaten geführt hätten, übte Friedrich Diergardt und qualifizierte die bestehenden Missstände als Folgen einer Politik, die „von Theorieen“ ausgehe und versuche, „vom grünen Tische aus die wichtigen Interessen des Landes [zu] leiten“.215 Regierungskommissar Delbrück versuchte die volle Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit der Regierung zu verteidigen, indem er den Vorschlag der Abge­ ordneten Kupfer, Kühne und v. Katte befürwortete, über sämtliche zollpoliti­schen Forderungen zur Tagesordnung überzugehen. Weiterhin erinnerte der Geheime Regierungsrat daran, dass „in Westfalen bereits am Schlusse des Jahres 1848 eine Berathung […] über die Maßregeln zur Aufhülfe der Spinner und Weber und der Leinen-Industrie im Allgemeinen“ stattgefunden habe. „[D]ieser Berathung [hätten…] Angehörige aller betheiligten Stände beigewohnt: Grundbesitzer, Spinner, Weber, Kaufleute und die mit der Bearbeitung der Sache beauftragten Beamten“. Für Schlesien verwies er auf die „Einrichtung von Handels-Kammern“, von denen das Ministerium „Aufschluß erhalten [könne…] über die jetzige Lage sowohl, als über das, was nach der Ansicht der mit der Sache Vertrauten zu thun [sei…], um den vorhandenen Uebelständen abzuhelfen“.216 „Eine Kommission an Ort und Stelle zu senden, die im Wesentlichen weiter keine Ermittelung anstellen [könne…], als dasselbe weiter festzustellen, was schon [feststehe…] oder auf anderem Wege sich feststellen“ lasse, lehnte er entschieden ab, weil ein solcher Schritt allenfalls unberechtigte Hoffnungen wecken könne. Erneut betonte der Freihandelsbefürworter Delbrück, „daß der jetzige Augenblick zu einer entscheidenden Beschlußnahme nicht reif“ wäre.217 Ebenso sprach sich Handelsminister August v. der Heydt gegen den Vorschlag aus, „eine Kommission von Sachverständigen zu ernennen“. Stattdessen trat er dafür ein, es „den sachverständigen Organen, welche hervorgegangen

214

VerhPr1K I (1849/50), S. 2226 f. VerhPr1K I (1849/50), S. 2227. 216 Zu den Handelskammern, die u. a. die Aufgabe hatten, „auf Verlangen den vorgesetzten Provinzial- und Centralbehörden Berichte und Gutachten über Handels- und Gewerbe­ angelegenheiten zu erstatten, auch nach eigenem Ermessen ihre Wahrnehmungen über den Gang des Handels und der Gewerbe, sowie über die für den Verkehr bestehenden Anstalten und Einrichtungen zur Kenntniß jener Behörden zu bringen und diesen ihre Ansichten da­ rüber mitzutheilen, durch welche Mittel Handel und Gewerbe zu fördern sind, welche Hindernisse entgegen stehen und in welcher Weise dieselben zu beseitigen sind“, s. H. A. Mascher, PrGewO, 1862, S. 8 ff. 217 VerhPr1K I (1849/50), S. 2224. Der Verbesserungsantrag lautete: „In Erwägung, daß eine so wichtige Frage wie die, ob Schutzzölle und Ausfuhr-Prämien zu bewilligen sind, einer allseitigen und gründlichen Prüfung bedarf und nicht wohl einseitig hinsichtlich einer besonderen Industrie-Branche entschieden werden kann, geht die Kammer in Betreff der Anträge der Kommission ad 1 bis 4 zur Tagesordnung über“ (S. 2223). 215

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[seien…] aus dem Vertrauen der Betheiligten, [zu…] überlasse[n], ihre Vorschläge zu machen“; gemeint waren wohl die neuerdings eingerichteten Gewerberäte und Gewerbegerichte.218 Letzten Endes rangen in der Debatte die Schutzzollbefürworter, die seit dem Vormärz in der bürgerlichen Opposition zu finden waren,219 mit den Freihandelsanhängern um ihre gegensätzlichen Prinzipien. In diesem Sinne brachte es der Abgeordnete v. Bülow auf den Punkt, „daß es sich […] um die Entscheidung über ein wichtiges Prinzip, um die Annahme oder Verwerfung eines Systems“ handele: Würden die Kommissionsforderungen von der Kammer adoptiert und von der Regierung umgesetzt, stehe man „mit beiden Füßen im Prohibitiv-System“. Würden aber „für einen Zweig der Industrie Prohibitiv-Zölle [bewilligt, müsse man…] dieselben auch für eine zweite und dritte Brache bewilligen […] und alle übrigen könn[t]en und [würden…] dann Gleiches verlangen und wahrscheinlich auch erlangen“. Nach diesen Ermahnungen ging die Kammer in namentlicher Abstimmung mit 57 zu 55 Stimmen knapp über die zollpolitischen Forderungen zur Tagesordnung über, schloss sich aber mit „überwiegende[r] Mehrheit“ den übrigen Kommissionsvorschlägen an, die ursprünglich nur für eine kurzfristige und tem­ poräre Linderung der schlimmsten Not gedacht gewesen waren.220 cc) Zwischenergebnis Ausgerechnet der pauschale Beschluss auf Antrag des Grafen Schlieffen ist für die Entwicklung des Enquête- und Untersuchungsrechts in Preußen von Interesse, indem sich die Kammer das Recht nahm, losgelöst von einer königlichen Proposition oder einem Sachantrag aus den eigenen Reihen eine Kommission zur Untersuchung allgemeiner Fragen niederzusetzen. Obwohl Art. 81 PrVerf 1848 bei dieser Gelegenheit beiläufig zur Sprache kam, leistete die Regierung keine Gegenwehr. Erst in späteren Jahren versuchte sie, diesen Artikel auf ein unselbständiges Hilfsrecht herabzudrücken, das den Kammern bloß im Kontext konkreter Beschlussvorlagen zustehe.221 Eine selbständige Enquête, wie sie über das Los der Weber und Spinner schließlich veranstaltet wurde, wäre mit dieser Forderung inkompatibel gewesen. Trotz des beschränkten Einsetzungsantrags, der den Motiven nach – eher in vormärzlichen Informationsformen gefangen – auf eine Durchsicht des bei der Regierung vorhandenen bzw. von der Nationalversammlung nachgelassenen Mate­ rials abzielte, veranstaltete die Kommission eine Enquête zur Lage der Weber und 218 VerhPr1K I (1849/50), S. 2229. Zu Einrichtung und Zusammensetzung der Gewerberäte und Gewerbegerichte s. H. A. Mascher, PrGewO, 1862, S. 3 ff., 11 ff. 219 Vgl. H. Best, Interessenpolitik, 1980, S. 22 ff. 220 VerhPr1K I (1849/50), S. 2230 f. 221 s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. b) bb) und c) aa) (1).

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Spinner. Die auf dieser Grundlage verfassten Empfehlungen handels-, wirtschaftsund sozialpolitischer Natur griffen tief in die Kompetenzen von Exekutive und Regierung ein. Indem sich das Plenum die Kommissionsvorschläge zu einem guten Teil zu eigen machte, artikulierte es in diesen zentralen Fragen einen parlamentarischen Mitspracheanspruch. Der Selbstinformationsanspruch trat also Hand in Hand mit der Forderung nach politischer Mitgestaltung auf. Trotzdem drohte kein parlamentarischer Kompetenzexzess: Unausgesprochene informationsrechtliche Grundlage war Art.  81 PrVerf  1848. Der Versuch, Einfluss auf die Regierungspolitik zu nehmen, erschöpfte sich in einer parlamentarischen Resolution; dieses Recht stand der Kammer nach verbreiteter Auffassung zu, obwohl ihr ausdrückliches Adressrecht aus Art. 80 PrVerf 1848 nicht gegenüber der Regierung eingriff.222 Die Ablehnung der zollpolitischen Forderungen darf nicht als Respekt vor einem außenpolitischen Regierungsprimat missdeutet werden. Vielmehr stand eine hauchdünne Mehrheit dem geforderten handelspolitischen Kurswechsel kritisch gegenüber. Mit den Beschlüssen der Kammer war das Gemeinschaftsamendement Diergardt-Delius erledigt, so dass eine Aufforderung an die Regierung, weitere Untersuchungen durchzuführen, unterblieb. Auf den ersten Blick legt es dieser gescheiterte Verbesserungsvorschlag nahe, dass das Enquête- und Untersuchungsrecht bei den Abgeordneten nicht allzu hoch im Kurs stand. Aber dieser Schein trügt:­ Friedrich Diergardt erklärte in der Debatte ausdrücklich, dass er ursprünglich „von Seiten der Kammer eine enquête“ gewünscht habe, wozu ihr das Recht „[n]ach der Verfassung“ zustehe. Zu einem Ersuchen an die Regierung hatte ihn lediglich das bevorstehende Sessionsende veranlasst, dass für eine „ausführliche Arbeit“ der Kammer selbst keine ausreichende Zeit mehr ließ.223 Erste Wahl blieb also die parlamentarische Enquête. Der Notbehelf eines Ersuchens an die Regierung war der Diskontinuität geschuldet. Immerhin hätte ein Bericht des Ministeriums an die Kammer der oppositionellen Forderung Raum gegeben, die politischen Schicksalsfragen auf dem öffentlichen „Forum der Nation“ zu diskutieren.224 Abschließend zeigte das gescheiterte Amendement, das in der Ersten Kammer zu einer Auseinandersetzung oppositioneller und gouvernementaler Kräfte über die bisherige Handels-, Wirtschafts- und Sozialpolitik Anlass bot, welchen Zündstoff vermeintlich harmlose Enquêteforderungen, ja selbst entsprechende Ersuchen an die Adresse des Ministeriums enthalten konnten. Die Regierung erkannte die politische Relevanz einer öffentlichen Debatte und bezog eine deutliche Abwehrstellung gegenüber jedem Anflug von Kritik. Selbst als der Abgeordnete Diergardt ausdrücklich beteuerte, dass man der jetzigen Regierung nicht den „geringsten Vorwurf“ mache, weil es seit dem März 1848 dringendere Auf 222

Vgl. L. v. Rönne, PrStaatsR I/12 1864, S. 195 in Anm. 1 und 201 in Anm. 1. VerhPr1K I (1849/50), S. 2227. 224 Zu entsprechenden Forderungen oppositioneller Kräfte s. H. Best, Interessenpolitik, 1980, S. 23 f. 223

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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gaben als die „industriellen Angelegenheiten“ gegeben habe,225 verwahrte sich Handelsminister v. der Heydt gegen jeden Untätigkeitsverdacht und verteidigte die Regierungspolitik.226 b) Exkurs: Regierungsberichte über den Stand der Armenpflege Ein anderer Teil  der sozialen Frage betraf die zunehmende Verelendung der städtischen Kleinhandwerker und Arbeiter. Das Problem verschärfte sich zusätzlich durch das Fehlen jeglicher Kranken- oder Alterssicherung; im modernen Schrifttum ist die Rede davon, dass sich rund zwei Drittel der preußischen Bevölkerung nicht aus eigener Kraft helfen konnte.227 In dieser sozialpolitischen Ka­ tastrophenlage forderte der konservative Bonner Rechtswissenschaftler Ferdinand Walter am 4. April 1849 in der Ersten Kammer zwar keine parlamentarische Enquête, aber wenigstens einen „Vorschlag“ an die „Staatsregierung […], daß eine stehende Kommission von drei von Sr. Majestät dem Könige zu ernennenden Mitgliedern eingesetzt werde, welche […] als Central-Behörde von dem dadurch möglichen höheren Standpunkte aus für die Förderung der durch die ö­ ffentliche und Privatwohltätigkeit beabsichtigten Zwecke thätig sein“ solle. Diese Regierungskommission sollte „namentlich über die Zahl und den Zustand der Armen die genauen Materialien […] sammeln, sich über die der Wohltätigkeit gewidmeten Kräfte und Anstalten […] unterrichten [und…] die allgemeinen und örtlichen Ursachen der Armuth, ihrer Ab- und Zunahme, mit Vergleichung der in anderen Ländern vorkommenden Erscheinungen […] erforschen“. Abschließend sollte diese Behörde „die Mittel der Abhülfe in Erwägung […] ziehen, sich darüber mit den betreffenden anderen Staatsbehörden in Verbindung […] setzen, die auf das Armenwesen sich beziehenden Gesetze […] revidiren und die Resultate ihrer Nachsuchungen und Erfahrungen mit den geeigneten Vorschlägen jährlich in einem den Kammern zu erstattenden ausführlichen Berichte […] veröffentlichen“. Ausreichend unterstützt, wurde der Antrag in die Abteilungen verwiesen.228 Obwohl der Vorschlag prima facie bei frühkonstitutionellen Formen stehen blieb, indem er sich in einem Ersuchen an die Regierung erschöpfte, ging er in Wahrheit doch dadurch über die überkommenen interpellationsartigen Informationsmechanismen hinaus, dass einerseits eine dauerhafte Behörde geschaffen werden sollte, die andererseits den Kammern turnusmäßig zu berichten haben sollte. Zu einer entsprechenden Einrichtung wären die Kammern aufgrund der parlamentarischen Diskontinuität und der langen Pausen zwischen ihren Versammlungen überhaupt nicht imstande gewesen. 225

VerhPr1K I (1849/50), S. 2227 f. VerhPr1K I (1849/50), S. 2229. 227 Vgl. I. Mieck, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 3 (152 ff.). 228 VerhPr1K I (1849/50), S. 294. 226

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Am 19. November 1849 erstattete der liberale Direktor des statistischen Büros Wilhelm v. Dieterici über diesen bemerkenswerten Antrag Bericht. Nach umständlichen Bekenntnissen, dass es „Humanität und Menschenliebe“ verlangten, „daß für die Armen geschehe, was möglich sei“, hatte sich die Kommissionsmehrheit gegen eine „besondere Centralbehörde für die Förderung der durch die öffentliche und Privatwohlthätigkeit beabsichtigten Zwecke“ ausgesprochen. Zur Begründung hieß es, dass eine derartige Stelle, die „in den ganzen Bereich der Polizei-, Steuer-, Gemeinde- und privatrechtlichen Gesetzgebung einzugreifen, Verfügungen zu erlassen, Nachrichten einzufordern haben werde, von allen […] bestehenden Behörden“, „mit einem geregelten Gange der Verwaltung unvereinbar“ wäre. Trotzdem hielt es die Kommission für erforderlich, „daß das Ministerium des Innern veranlaßt werde, bei dem Zusammentritt der Kammern alljährlich einen zu veröffentlichenden Bericht vorzulegen, aus dem eine genaue Kenntniß der Verwaltung des Armenwesens im ganzen Staate“ hervorgehe.229 In der Debatte hielt der Abgeordnete Sägert dem Vorschlag entgegen, dass in den voraussichtlich „38,000 Berichte[n]“ der Behörden aller Erfahrung nach „gewöhnlich nicht viel darin[stehen]“ werde. Statt zu einer solchen Verschwendung von Papier, „mit Ziffern und tabellarischen Uebersichten überhäuft“, befürwortete er, „das Ministerium zu ersuchen, 100,000 Viergroschen-Brode zu vertheilen“ – so hoch schätzte der Berliner Stadtrat, der das Armenproblem aus der Hauptstadt kannte, „die Kosten eines solchen Berichtes“.230 Weniger beeindruckend, dafür aber verfassungsrechtlich interessanter war der Einwand des Magdeburger Oberregierungsrats Triest, dass „die Kammer verfassungsmäßig nicht befugt [sei], einen Antrag, wie die Kommission ihn vorgeschlagen [habe…], an das Königliche Ministerium zu richten“. Schließlich gebe ihr die Verfassung „nicht die Befugniß, von den Ministerien allgemeine Berichte über Gegenstände der Verwaltung zu verlangen“, sondern räume ihr lediglich die „Theilnahme an der Gesetzgebung“ ein, lasse sie „Kommissionen zur Einziehung von Informationen ernennen und über einzelne Beschwerden und Anträge Auskunft in Anspruch nehmen“.231 Überraschenderweise nahm Innenminister Otto v. Manteuffel an einem freiwilligen Bericht des ­Ministeriums keinen Anstoß. Die Regierung habe selbst den „Wunsch  […], genauere Kenntniß von dem Zustande der Armen im Lande zu erhalten“. Zugleich betonte der konservative Politiker, dass sich die vielfältigen Schwierigkeiten nicht einmal im Gesetzgebungswege allseits befriedigend bewältigen ließen.232 Nach diesen Erklärungen votierte die Erste Kammer für das Amendement des Abgeordneten Bornemann, „[i]n Erwägung, daß das Ministerium des Innern sich bereit erklärt [habe…], den Kammern periodisch über die Verwaltung des Armen 229

VerhPr1K I (1849/50), S. 1481 ff. VerhPr1K I (1849/50), S.  1483. Die immense Zahl kam zustande durch Berichte von „37,570 Gemeinden, dann Extrakte von den circa 300 Landraths-Aemtern, Extrakte von den 25 Regierungen und Berichte, welche das Ministerium vorlegen“ werde. 231 VerhPr1K I (1849/50), S. 1483 f. 232 VerhPr1K I (1849/50), S. 1484. 230

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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wesens im Staate Auskunft zu geben, […] zur Tagesordnung über[zugehen]“.233 Vor einer direkten Aufforderung des Gouvernements durch eine eigene Resolution schreckte die knappe Mehrheit von 63 der 120 abstimmenden Abgeordneten also anscheinend zurück. Eine parlamentarische Enquête wurde offensichtlich nicht einmal in Erwägung gezogen. Weil sich der beratene Gegenstand aber auch überhaupt nicht zu eigenen Schritten eignete, entsprachen die an die Regierungsadresse erhobenen Forderungen der Kammer schlicht den Geboten praktischer Vernunft und sind kein Anzeichen von „Enquêtemüdigkeit“. 2. Die „Zweimonatskammer“ Art. 81 PrVerf 1848 spielte augenscheinlich auch in der Zweiten Kammer, die den demokratischen Wahlprinzipien der Revolutionszeit entsprechend gewählt worden war und deswegen der Vereinbarungsversammlung ähnelte,234 keine bedeutende Rolle. a) Das Schicksal der Weber und Spinner Mitte März 1849 forderten 14 Abgeordnete die Bildung einer Kommission, „welche die Verhältnisse der Spinner und Weber in Schlesien und in der Grafschaft Ravensberg näher zu untersuchen und zur Verbesserung ihrer traurigen Lage der Kammer eine Vorlage zu machen habe“.235 Auf Art. 81 PrVerf 1848 stützten sich auch die Antragsteller in der Zweiten Kammer nicht. Stattdessen hob Georg v. Borries, der in der Nationalversammlung der entsprechenden Kommission angehört und als Landrat des Kreises Herford versucht hatte, für Besserung zu sorgen,236 in der Debatte schlicht auf die „weltbekannte“ materielle Notlage ab und verlangte, dass „durchgreifende Maßregeln“ von einer „aus fachkundigen Mitgliedern der Kammer gebildeten Kommission“ vorberaten und dann der Kammer vorgelegt würden.237 Obwohl diese Forderung, die anscheinend von der altliberalen Fraktion Auerswald-Schwerin ausging, von der Kammer ohne weitere Beratung und mit großer Mehrheit in Erwägung gezogen wurde,238 kam die Kammerauflö 233

VerhPr1K I (1849/50), S. 1484 f. s. 5. Teil 2. Kap. A. II. 1. 235 VerhPr2K I (1849), S. 144. Es handelte sich um die Abgeordneten v. Borries (Herford), Dallmann (Herford), Bentrup (Bielefeld), v. Viebahn (Bielefeld), Schöpplenberg (Löwenberg), Andritzky (Waldenburg, Reichenbach), Riedel (Oppeln), Schober (Leobschütz), Schwarz­ (Lublinitz, Groß-Strelitz), R. Seiffert (Schweidnitz), Graf Poninsky (Löwenberg, Lauban), Graf Zieten (Breslau), Kießling (Schönau) und Gellern (Minden, Lübbecke). 236 s. 3.  Teil 2.  Kap. D.  V. Vgl. Friedrich Harkorts „Special-Bericht von Westphalen“ in SlgDrs­Pr2K 1850/VI, No. 503, S. 34. 237 VerhPr2K I (1849), S. 145. 238 VerhPr2K I (1849), S. 145. 234

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sung jeder weiteren Beratung zuvor. So blieb insbesondere offen, ob man dem geforderten Ausschuss die Befugnisse des Art. 81 PrVerf 1848 beigelegt oder bloß (offizielle) Akten, Regierungsmitteilungen und ggf. die Vorarbeiten der Vereinbarungsversammlung überlassen hätte. b) Eine „Untersuchung der Arbeiter-Verhältnisse“? Am 14. April 1849, also keine zwei Wochen vor dem erzwungenen Ende der Kammer, beantragte Hermann Schulze-Delitzsch, dass „sofort eine besondere Kommission von 21 Mitgliedern zur Untersuchung der Arbeiter-Verhältnisse gebildet werde, welche, unter Benutzung der einschlagenden Petitionen, der Kammer Vorschläge über Abhülfe des drückenden Nothstandes der arbeitenden Klassen zu machen habe“. Zur Begründung hob er hervor, dass zwar für „Handel und Gewerbe eine besondere Fachkommission bereits gebildet, für Handwerker-Verhältnisse mindestens beantragt“ sei, sich aber die Gruppe der Lohnarbeiter so sehr von den anderen unterscheide, dass eine „Beschäftigung mit der Lage dieser so überaus zahlreichen Klasse […] nicht füglich der ohnehin schon überaus in Anspruch genommenen Handels- und Gewerbe-Kommission überlassen werden“ dürfe.239 Der als besonders dringlich in die Geschäfts-Reglements-Kommission verwiesene Antrag kam vor der Auflösung am 27. April 1849 nicht mehr zur Beratung.240 Trotzdem ist offensichtlich, dass es sich nicht um eine Enquêteforderung handelte; schließlich sollte die Kommission bloß die der Kammer vorliegenden Bittschriften auswerten. c) Wirtschaftsverhältnisse und Gewerbeordnung Über die Forderung verschiedener linker Abgeordneter, „daß sofort eine Kommission von je zwei Mitgliedern aus jeder der sieben Abtheilungen gebildet werde, welche, unter Zugrundelegung des provisorischen Gewerbe-Gesetzes […] nebst der Gewerbe-Ordnung […] mit Berücksichtigung der Verhandlungen des frankfurter Meister- und Gesellen-Kongresses, die bestehenden gewerblichen Verhältnisse und die Gewerbe-Gesetzgebung einer allseitigen Prüfung unterwerfe und der Kammer darüber eine Vorlage mache“, konnte ebenfalls nicht abschließend beraten werden. Ganz im Sinne des Enquêterechts verlangten die Antragsteller, „daß die Kommission ermächtigt werde, zu ihren Berathungen Sachverständige aus verschiedenen Theilen der Monarchie zuzuziehen“; außerdem sollten „die Abtheilungen […] bei der Wahl der Kommissions-Mitglieder auf Fachkenntniß Rücksicht  […] nehmen“.241 Anlass zu diesem Vorstoß hatte die kurz zuvor erlassene 239

VerhPr2K I (1849), S. 477 f. Zur Überweisung s. VerhPr2K I (1849), S. 478. 241 VerhPr2K I (1849), S.  102. Es handelte sich um die Abgeordneten Pflücker (Breslau), Minsberg (Bunzlau), Heinze (Görlitz-Bunzlau), Neumann (Glatz), Stein (Breslau), Hermann (Elberfeld), Schmidt (Elberfeld), v. Merckel (Liegnitz) und Schmiedicke (Neustadt-Leobschütz). 240

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Verordnung, betreffend die Errichtung von Gewerberäthen und verschiedene Abänderungen der allgemeinen Gewerbeordnung, vom 9. Februar 1849242 gegeben, mit der u. a. die Gewerbefreiheit wieder eingeschränkt worden war.243 Die Allgemeine Gewerbeordnung hatte dieses alte wirtschaftsliberale Versprechen indessen 1845 nicht bloß erneuert, sondern auch auf die Teile der Monarchie erstreckt, in denen bislang noch das Zunftwesen fortbestanden hatte.244 Obwohl die neun Antragsteller ihre Forderungen einschließlich der Ermächtigung, externe „Sachverständige […] zuzuziehen“, nach dem Schnittmuster einer parlamentarischen Enquête gefertigt hatten, stützten sie sich nicht auf Art.  81 PrVerf 1848. Der Görlitzer Oberlehrer Wilhelm Heinze hob lediglich hervor, dass man angesichts der Differenzen in der Gewerbeordnungsfrage „durch Sachkundige bestimmen zu lassen [habe], wie das gewerbliche Leben zum handeltreibenden Publikum zu fixiren sei“. Nur unter „Zuziehung von Sachverständigen“ sowie durch die „Benutzung der Materialien, die sich auf Gewerbe-Kongressen angesammelt“ hätten, lasse sich diese „Schicksalsfrage“ ordnen, so dass „sowohl die, welche die unbedingte Freiheit, als auch die anderen, welche einen Innungszwang im alten Sinne woll[t]en“, zufrieden gestellt werden könnten.245 Den Antragstellern ging es also, wenn sie sich auch nicht ausdrücklich auf den entsprechenden Verfassungsartikel beriefen, um eine Sachstandsenquête zur Vorbereitung von Reformen. Sachverstand wollte man auf zwei Wegen aggregieren: Zum einen sollten die Kommissionsmitglieder statt nach Parteirücksichten nach Sachkenntnis gewählt werden, zum anderen sachverständige Interessenvertreter aus dem ganzen Land hinzugezogen werden. Soweit die Verhandlungen der Gewerbekongresse des Revolutionsjahres publiziert waren, sollte auch dieses Material verwertet werden. Waren Resolutionen u. ä. dieser spontanen Interessenvertretungen an die Behörden gelangt, schwang in dem Antrag auch die Erwartung mit, dass das Ministerium etwaige Unterlagen übermitteln werde. In der Debatte sprach sich Julius Möcke gegen den Antrag aus: Unter Anspielung auf die diversen Vorarbeiten unterschiedlichster Provenienz warf der Breslauer Journalist den Antragstellern vor, trotz einer „vor den Augen von ganz Deutschland gethanen Arbeit“ erneut die Einberufung von Sachverständigen zu fordern. Überdies habe die Vereinbarungsversammlung die betroffenen Kreise bereits beteiligt und das Ministerium die „sachverständigen Handwerker aus allen acht Provinzen“ vor Erlass der Verordnung versammelt. Vor diesem Hintergrund reiche es voll 242

PrGS. S. 93. Dazu O. T. Risch, Handwerksgesetzgebung, 1861, S. 83 ff. 244 Allg. zu Entwicklung und Bedeutung der Gewerbefreiheit H.-U. Wehler, GesellGesch II4 2005, S.  54 ff.; W. Treue, in: HdbPrGesch II, 1992, S.  449 (515); ders., WirtGesch, 1984, S. 315 ff., 260 f. sowie zur Reform der preußischen Sozialverfassung E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 28 ff. Zeitgenössisch O. T. Risch, Handwerksgesetzgebung, 1861, S. 24 ff., 38 ff., 70 ff. zu Zunftwesen oder Gewerbefreiheit bzw. zur Entwicklung in Baden, Bayern, Hannover, Nassau, Österreich, Preußen, Sachsen und Württemberg. 245 VerhPr2K I (1849), S. 102. 243

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

kommen aus, den parlamentarischen Beratungen die provisorische Gewerbeordnung als „Ausdruck der Stimmen aller Gewerbetreibenden“ zugrunde zu legen.246 Schützenhilfe leistete Handelsminister August v. der Heydt den Enquêtebefürwortern, indem er sich ausdrücklich für eine Hinzuziehung von Sachverständigen aussprach, sofern es die Kommission als „wünschenswerth“ betrachte.247 Da­ rauf erwiderte der spätere Fortschrittspolitiker Pflücker, dass man diesen Schritt keineswegs unbedingt erwarte; eine Ermächtigung der Kommission sei lediglich erforderlich, weil das Reglement in dieser Frage schweige.248 Auf Art. 81 PrVerf 1848, der zweifellos eine Grundlage für ein solches Verfahren geboten hätte, ging der Breslauer Stadtgerichtsrat nicht ein. Möglicherweise hielt er die Befragung von Sachverständigen aber auch überhaupt nicht für eine Untersuchung im Sinne dieses Artikels. Die Kammer verwies den Antrag schließlich „fast einstimmig“ in die Abtei­ lungen.249 d) Zwischenergebnis In der Zweiten Kammer ging es lediglich in der Gewerbeordnungsfrage ein­ deutig um eine Sachstandsenquête. Hermann Schulze-Delitzschs Motion „zur Untersuchung der Arbeiter-Verhältnisse“ zielte nicht auf eine Sozialenquête, sondern auf die Auswertung der Bittschriften aus der Bevölkerung. Für die Kommission zum Schicksal der Leinen produzierenden Bevölkerung blieb unklar, ob eine „echte“ Enquête mit eigenständigen parlamentarischen Ermittlungen, möglicherweise sogar vor Ort und unter Beteiligung der betroffenen Kreise, oder – gewissermaßen älteren konstitutionellen Sitten gemäß – eine Kommission zur Auswertung des vorhandenen Materials beabsichtigt war. Jedenfalls beriefen sich die Antragsteller in diesen Fällen nicht auf das ausdrückliche Enquête- und Untersuchungsrecht der oktroyierten Verfassungsurkunde. 3. Die Sozialenquête nach den Neuwahlen Nachdem die ersten Enquêteanstrengungen durch die plötzliche Auflösung vereitelt worden waren, kam es nach den Neuwahlen, die aufgrund des staatsstreichartig oktroyierten Klassenwahlrechts stattgefunden hatten, trotzdem noch zu einer Sozialenquête der Zweiten Kammer.

246

VerhPr2K I (1849), S. 102 f. VerhPr2K I (1849), S. 103. 248 VerhPr2K I (1849), S. 103. 249 VerhPr2K I (1849), S. 104. 247

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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a) Die Einsetzung der Enquêtekommission Noch bevor in der Verfassungsrevision über Art. 81 PrVerf 1848 beraten wurde, behandelte die Kammer am 25. August 1849 den Antrag des Langenberger Kaufmanns Gustav Herrmann, „[e]ine aus 14 Mitgliedern bestehende Kommission zu erwählen, welche die Ursachen der Noth der westfälischen und schlesischen Spinner und Weber und die möglichen Mittel zu deren Hebung […] berathen“ sollte. In den Motiven gab der Antragsteller seiner Hoffnung Ausdruck, „daß den in so großer Noth lebenden […] Spinnern und Webern durch die Arbeiten dieser Kommission ein Weg zur Hülfe angebahnt [werden könne…], als die Königliche Regierung bereits thatsächlich bewiesen [habe…], daß sie dem […] Gegenstande ihre lebhafte Aufmerksamkeit zugewendet“ habe.250 Forderungen nach bestimmten Kommissionsbefugnissen wurden nicht erhoben. Die Geschäftsordnungskommission, der die Vorberatung übertragen worden war, empfahl dem Plenum, „über den Antrag […] sowohl in Betreff der Dringlichkeit, als dem materiellen Inhalte nach zur Tages-Ordnung überzugehen“. Dieses überraschende Votum wurde allgemeinpolitisch damit begründet, dass nach dem Scheitern des ersten Revisionsversuchs der „Regel nach gegenwärtig kein Antrag für dringend zu erachten [wäre…], welcher sich nicht auf die Zustände der ganzen Monarchie“ beziehe. Vor allem sei „unter den jetzigen Umständen nichts so dringend [zu bewerkstelligen…] als: die Revision der Verfassungs-Urkunde, die Verhältnisse Deutschlands, die organischen Gesetze u. s. w.“. In der Sache selbst sei ohnedies durch Regierung und Erste Kammer „Hülfe bereits angebahnt“.251 Die Geschäftsordnungskommission zog mit dieser Empfehlung offenkundig die­ Lehren aus der Auflösung der vorherigen Kammer, ohne die Not der betroffenen Bevölkerungskreise herunterzuspielen. Am 4. September 1849 beriet das Plenum über den ursprünglichen Antrag, das Kommissionsvotum sowie zwei Amendements.252 Zur Verteidigung des Enquêteantrags betonte Albert Haupt, ein fraktionsloser Kaufmann aus dem schlesischen Textilstandort Wüstewaltersdorf,253 dass es angesichts der Vorarbeiten von Regie 250

VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 136. VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 180. 252 U. a. beantragte Friedrich Harkort, „[d]ie Prüfung und weitere Behandlung der zur Hebung der Noth […] gemachten Vorschläge unter näherer Kenntnißnahme der von der Königlichen Regierung […] bereits eingeleiteten Hülfsmaßregeln der Kommission für Handel und Gewerbe zu überweisen“. Er begründete sein Amendement mit der Sorge, dass man „bei einer großen nationalen Frage“ andernfalls „gleich zur Tagesordnung“ übergehe. Als Beispiele dafür, dass sach­ gerechte Maßregeln zu Verbesserungen führen könnten, verwies er auf England oder Belgien. Der Sorge, dass die Arbeitskraft der Kommission für Handel und Gewerbe erschöpft sein könne, lasse sich durch die Hinzuwahl weiterer Mitglieder begegnen (VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 180 ff.). 253 Nach L. v. Zedlitz-Neukirch, Wegweiser, 1831, S. 581 handelte es sich um „eins der grössten Fabrikdörfer Schlesiens[, in dem…] viele wohlhabende Kaufleute [wohnten], die […] starken Leinwandhandel [trieben…]. Unter den 1400 Einwohnern [seien…] viele Weber und Spinner“ gewesen. 251

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

rung und Nationalversammlung „nicht an Vorlagen [fehle,  …] welche ein reiches Material liefer[te]n, um auf dem Grunde […] fortzuarbeiten“.254 Trotzdem bezweifelte Handelsminister August v. der Heydt grundsätzlich, dass „von […] einer […] periodisch niedergesetzten Kommission so große Vortheile zu erwarten“ wären. Als schlechtes Omen wertete er die Vorjahreserfahrung, dass es der Vereinbarungsversammlung binnen vier Monaten nicht gelungen sei, das reiche Material zu sichten – tatsächlich erklärte der Abgeordnete Haupt Mitte Februar 1850 für die gleichwohl niedergesetzte Kommission, dass die „Nationalversammlung […] keine Erbschaft hinterlassen [habe] als wie Ansprüche und Erwartungen der betheiligten Bevölkerung“.255 In der Einsetzungsdebatte fuhr der Handelsminister fort, dass von einer „vorübergehenden Kommission“ überhaupt nicht erwartet werden könne, das verworrene Ursachenbündel zu entwirren, realistische und utopische Ziele voneinander zu scheiden und wirkungsvolle Abhilfevorschläge zu entwickeln, „wie es der Verwaltung […] möglich“ wäre.256 Ähnlich wie das Mitglied der Ersten Kammer Friedrich Diergardt favorisierte der Minister angesichts der parlamentarischen Diskontinuität eine exekutive anstelle einer parlamentarischen Enquête. Wahrscheinlich handelte es sich nicht um ein politisches Taktieren, sondern um echte Sorgen des altliberalen Politikers. Hält man sich die Kürze der ersten Session der zweiten Legislaturperiode vor Augen, die nur knapp sieben Monate dauerte, werden seine Sorgen nachvollziehbar. Obwohl Antragsteller Herrmann dem Urteil über das Versagen der Nationalversammlung in dieser Frage beipflichtete, wies er doch die pauschale Schlussfolgerung zurück, „daß deshalb jede Kommission nichts zu leisten vermöchte“. Vor allem betonte der Kaufmann, dass sich dem „Volke die constitutionelle Staats-Form [nur] genehm machen“ lasse, indem die „Volks-Vertretung namentlich für die materiellen Interessen […] ein warmes Herz habe“. Insofern hielt er es für eine wichtige Aufgabe der Kammer, „bei sozialen und materiellen Fragen des Landes einen belebenden und an­ regenden Einfluß nach Seiten der Regierung sowohl, als auch der Ersten Kammer gegenüber, auszuüben“.257 Auf die Bemerkung des Handelsministers, dass sich in der Kammer bloß „wenig Mitglieder […] befänden, welche der Sache vollkommen gewachsen seien“, regte Leopold Graf v. Zieten an, sich „durch noch mehr Leute vom Fach [zu] renforciren“.258 Obwohl August v. der Heydt beteuerte, dass er keineswegs die persönliche Kompetenz der Abgeordneten, sondern bloß die Eignung einer „vorüber­gehenden Kommission“ angezweifelt habe,259 war die Frage externen Sachverstands unwider 254

VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 181. s. den „Bericht über einige Petitionen und über die von der Kommission gemachten Vorschläge“, SlgDrsPr2K 1850/VII, No. 605, S. 1. Abdruck auch in Annalen der Landwirthschaft XVI (1850), 203. 256 VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 182. 257 VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 183 f. 258 VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 183. 259 VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 183. 255

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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sprochen auf den Tisch gekommen; tatsächlich trat die Kommission später mit Behörden, Handelskammern etc. in regen Verkehr.260 Allgemeine Kritik an der Informationslage der preußischen Kammern übte der rechte Zentrumspolitiker und Industriepionier261 Friedrich Harkort: Während englische Staatsmänner aus den parlamentarischen Kommissionen hervorwüchsen, aus deren Arbeit sie ihre Kenntnisse schöpften, seien die preußischen „Vorräthe bald erschöpft“. Für eine große Rede zum „Zustand des Landes“, wie sie ­Benjamin Disraeli in London gehalten habe, fehlten in Preußen „zwar […] nicht das Talent […], wohl aber die Mittel“. Während für die „englische Kornbill“ „Erfahrungen von ganz Europa zusammengetragen“ worden seien, könne man hierzulande „wohl über theoretische Dinge schwätzen, [komme…] aber beim Materiellen […] nicht vom Flecke“. Zwar sei das derzeitige Gouvernement anders als auf vorangegangenen Landtagen, als die „Regierung zuweilen die Vorlage der Akten“ verweigert habe, „in dieser Beziehung sehr zuvorkommend“, allein „in vielen Fällen“ fehlten auch ihm die „Aufschlüsse“.262 Als letzter Redner erhielt Berichterstatter Ebert noch einmal das Wort. Der Vertreter der Fraktion Auerswald-Schwerin resümierte lakonisch, dass die Geschäftsordnungskommission habe kein Urteil in der Sache treffen dürfen. Die Prüfung des Antrags Herrmann habe aber ergeben, „daß die Motive […] nicht ausreichend“ wären.263 Trotz dieser Mahnungen schloss sich das Plenum der Motion mit der zusätzlichen Erweiterung, „auch die Ursachen der Noth der Weber in dem preußischen Antheile des Eichsfeldes mit in Untersuchung zu ziehen“, mit „großer ­Majorität“ an.264 b) Die Durchführung der Enquête Dass die Regierung der Kommission keine Steine in den Weg gelegt, sondern ihr gut zwei Wochen später das vorhandene Material überlassen hatte, verstärkt den Eindruck, dass August v. der Heydts Bedenken gegen eine parlamentarische Enquête nicht vorgeschoben waren. In enquête- und untersuchungsrechtlicher Hinsicht verdient Erwähnung, dass sich die Abgeordneten Ende September un 260 s. das „Verzeichniß der benutzten Quellen“ in F. Harkorts „Special-Bericht von Westphalen“ (SlgDrsPr2K 1850/VI, No. 503, S. 47) sowie den „Bericht über einige Petitionen und über die von der Kommission gemachten Vorschläge“ des Kaufmanns Albert Haupt aus Wüste­ waltersdorf (SlgDrsPr2K 1850/VII, No. 605, S.  1): „Außerdem wurden Sachverständige vernommen“. 261 Vgl. W. Treue, WirtGesch, 1984, S. 409 und ausführlich L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 143 ff. 262 VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 181 f. 263 VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 184. 264 VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 180, 185. Zuvor wurde F. Harkorts Alternativvorschlag, die Sache an die Kommission für Handel und Gewerbe zu überweisen, abgelehnt (S. 184).

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mittelbar an das zum Ressort des Landwirtschaftsministeriums gehörige LandesÖkonomie-Kollegium wendeten und ihre Anfragen anstandslos beantwortet wurden. Dasselbe gilt für Ersuchen an Handels-, Finanz- und Außenministerium vom Anfang Oktober.265 Unter dem 19. Februar 1850 erstattete die Kommission ihren Bericht, der aus einem Votum der Gesamtkommission sowie aus Friedrich Harkorts „Special-­ Bericht von Westphalen“ und einem von Julius Möcke und Albert Haupt gemeinsam verfassten „Bericht über die Zustände der Schlesischen Leinen- und Baumwollen-Industrie, insbesondere über ihren Verfall und die möglichen Mittel ihrer Hebung“ bestand.266 Als verwendete Quellen listete Friedrich Harkort neben den „Akten des Handels-Ministeriums“ Berichte verschiedener Konsulate, der Seehandlung, des Landes-Ökonomie-Kollegiums, der schlesischen Flachsbereitungsanstalten sowie der Bielefelder Handelskammer auf. Wenigstens ein Teil dieser Unterlagen dürfte von den Abgeordneten zum Zwecke ihrer Enquête von den betreffenden Stellen angefordert worden sein. Die Kommission griff außerdem auf verschiedene Schriften aus dem In- und Ausland, eine „Menge Berichte von Privatleuten“ sowie „Aussagen von Sachverständigen“ zurück. Auch lagen „Muster aus Irland, Belgien, Westphalen und Schlesien, sowohl in Leinwand, als Garnen“  – modern gesprochen also: Augenscheinsobjekte  – vor.267 Aus Albert Haupts Bericht geht hervor, dass man die „Akten des Handelsministeriums“ be­ ücken auszufüllen, […] eine Menge Fragen an die Königlichen nutzte, „[u]m L Behörden und Consulate in Bremen, Hamburg, Antwerpen, London u. s. w.“ richtete, auch „Sachverständige“ vernahm und auf „Petitionen und Nachrichten von Privaten, sowie die eigenen Erfahrungen“ der Kommissionsmitglieder zurückgriff. Die verwertbare „Erbschaft“ der Vereinbarungsversammlungskommission qualifizierte der Kaufmann als gering.268 Ausweislich des Berichts waren also offenkundig vergleichbare Methoden wie bei modernen Enquêten zur Anwendung gekommen.

265

Vgl. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 553. Das Landes-Ökonomie-Kollegium war eine Stelle, die „nach dem Regulativ v. 25. März 1842 die Bestimmung [hatte, …] dem vorgeordneten Ministerium zu dienen, theils als technische Deputation in landwirthschaftlichen Angelegenheiten, theils als Organ zur Ausführung der ihm zu ertheilenden Aufträge, […] die landwirthschaftlichen Vereine in den Provinzen in ihrer gemeinnützigen Thätigkeit zu unterstützen, ihre Wirksamkeit zu befördern und ihre Verbindung unter einander und mit den StaatsBehörden zu vermitteln“ (L. v. Rönne, PrStaatsR II/12 1864, S. 105 f.). 266 SlgDrsPr2K 1850/VI, No. 503 und SlgDrsPr2K 1850/VII, No. 547. Abdruck auch in­ Annalen der Landwirthschaft XVI (1850), 87, 141. 267 SlgDrsPr2K 1850/VI, No. 503, S. 47. 268 SlgDrsPr2K 1850/VII, No. 605, S. 1. Der Nationalversammlung lastete Haupt an, dass „das in Bruchstücken gesammelte Material vielleicht in den anliegenden Spezial-Berichten über den Zustand der Leinen-Industrie in Schlesien und Westphalen hie und da einen loseren Zusammenhang [habe], als wie zu wünschen wäre“.

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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c) Der Kommissionsbericht Ernst hatte die Kommission auch den Auftrag genommen, Abhilfevorschläge zu erarbeiten  – dem Plenum wurden nicht weniger als 17 Anträge unterbreitet. Bis auf den Vorschlag, die Petition verschiedener Fabrikanten „um […] eines angemessenen Schutzzolles auf ausländische, namentlich englische und belgische Zwirne“ der Finanzkommission zu überweisen,269 richteten sich die Motionen auf parlamentarische Resolutionen an die Adresse des Ministeriums, die – wie die erst im Januar 1850 in der Ersten Kammer beratenen Empfehlungen – konkrete wirtschaftspolitische, aber auch herstellungstechnische sowie straßenbauliche Infrastruktur- und andere Maßnahmen betrafen.270 Kaum verhohlene Schelte klang in 269

SlgDrsPr2K 1850/VII, No. 605, S. 11. Etwa sei der „Bezug der Leinsaat“ zu erleichtern und für „deren wo möglich kreditweise Vertheilung an kleine Flachsproducenten durch Saamenniederlagen […] unter öffentlicher Aufsicht“ zu sorgen. Die Provinzialbehörden sollten ermächtigt werden, „die sich bildenden Associationen auf direkte oder indirekte Weise zu diesem Behufe zu unterstützen“. Die Staatsregierung solle in den betroffenen Gegenden auf die „Errichtung zweckmäßiger Flachsbereitungs-Anstalten“ wirken, dafür Sorge tragen, „Spinnschulen zu errichten“, dazu gegründete „Associationen kräftigst zu unterstützen“ etc. Gefordert wurden öffentliche Garnmagazine, welche […] den Spinnern die preiswürdigen Garne abkaufen, dieselben sortiren und nach Qualitätsnummern geordnet, in jeder beliebigen Qualität den Webern zum Verkauf stellen“ sollten. Die „Handspinnerei [sei] durch Vertheilung englischer Hecheln und zweckmäßiger Spinnräder an die besten Spinner zu fördern“. Auch solle die Staatsregierung „auf eine Verbesserung der Webestühle für Leinwand und Kattune durch Anbringung von Regulatoren, so wie von besseren Geschirren, namentlich auf die Einführung geaichter Stahlblätter hinwirken“ und „auf Wiederbelebung und allgemeine Einführung der Schauämter“ dringen. Die gewerberechtlichen „Bestimmung[en] über die Prüfungen gegen alle Personen, welche das Webergewerbe als Hauptbeschäftigung betreiben, [seien] gewissenhaft zur Anwendung zu bringen, so wie auf Regelung der Verhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch eine Kommission von Sachverständigen aus den Betheiligten hinzuwirken“. Weiterhin sollte die Regierung veranlasst werden, „eine gegen den betrügerischen Aufkauf des Garnes […] gerichtete Gesetzesvorlage“ auszuarbeiten, „[a]uf Einführung, Unterstützung und im Allgemeinen erfolgreichere Einrichtung von Weberschulen […] so wie auf Ausdehnung dieser Anstalten über die einzelnen Landestheile“ und „eine Verbesserung des bisherigen Bleichverfahrens und auf Anlegung von Musterbleichanstalten in einzelnen Theilen des Staates, mit besonderer Berücksichtigung der schon bestehenden Anstalten hinzuwirken“. Weitere Forderungen richteten sich „zum Schutz des inländischen Gewerbes“ auf einen „Ausfuhrzoll auf sogenannte Hede oder Werg“ sowie auf einen „nach dem Befinden der Finanz-Kommission und dem Gutachten der Handelskammern“ gestalteten höheren „Einfuhrzoll auf Leinengarn nach dem Grade der Feinheit“. Damit alle diese Maßnahmen fruchten könnten, solle die Regierung für eine „Eröffnung neuer Absatzwege“, eine „bessere Regelung [des…] Consularwesens“, „regelmäßige Veröffentlichungen der bei den Ministerien eingehenden Handelsberichte“ und die „Bewilligung von Reisestipendien an junge Gewerbetreibende so wie von Ausfuhrprämien“ sorgen. Auf eine Verbesserung der Infrastruktur zielte die Forderung, „sobald es thunlich [sei…], den Bau einer chaussirten Straße von Dingelstädt über Kühlstedt-Groß-Bartloff und Geismar nach dem Werrathal bis zum Anschluß an die Mühlhauser Chaussee, und einer chausseemäßigen Verbindung der Städte Glatz, Wünschelburg und Neurode unter sich und mit der Landesgrenze bei Braunau, so wie der Städte Habelschwerdt, Reinerz, Wünschelburg und Neurode, endlich aber einer chaussirten Straße von Wüste­wal­ters­dorf über Eule und Glätzisch-Falkenberg nach Neurode anordnen zu wollen“ (SlgDrsPr2K 1850/VII, No. 605, S. 3 ff.). 270

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der Forderung an, „die Königliche Regierung zur baldigen Verwendung [der…] im Jahre 1848 bewilligten Hunderttausend Thaler unter Zuziehung der Handelskammern oder Landrathsämter auffordern zu wollen“, weil den Betroffenen von der damals „zur augenblicklichen Abhülfe der dringendsten Noth“ bewilligten Summe bislang nicht das Geringste zugekommen sei. Während das damalige Versprechen „für Schlesiens darbende Spinner- und Weberbevölkerung lange Zeit die Quelle froher Hoffnung“ gewesen sei, sei seine Nichterfüllung jetzt „vielfach der Grund von Mißstimmung“.271 Eine Bittschrift von Webern aus dem nahe Potsdam ge­legenen Dorf Nowawes bewertete die Kommission als „begründet“. Die aus der 1754 durch Friedrich II. eingerichteten Weberkolonie stammenden Petenten, deren böhmische Vorfahren wegen ihres protestantischen Glaubens emigriert waren, forderten, dass die „Weberei in Strafanstalten eingestellt“ oder wenigstens beschränkt werde, so „daß die Pächter der Arbeitskräfte in den Strafanstalten die angefertigten Waaren [nicht] für ein Drittheil des Preises verkaufen und den fleißigen Arbeiter ruiniren könn[t]en“. Auch dieser „Gegenstand“ war nach dem Willen der Kommission „den Ministerien des Innern und für Handel und Gewerbe zu baldmöglichster Berücksichtigung zu empfehlen“.272 d) Zwischenergebnis Ohne ausdrücklich auf Art.  81 PrVerf  1848 Bezug zu nehmen, initiierte die Zweite Kammer über die Not der Weber und Spinner eine Sozialenquête. Anders als in der Ersten Kammer wurden gegen die Forderung, auch Vorschläge zur Abhilfe vorzubereiten, keine Kompetenzeinwände erhoben. Obwohl die demokra­ tische Linke durch ihren Wahlboykott aus der Kammer ausgeschieden war,273 beugte sich die Kammermehrheit keineswegs den Mahnungen des Handelsministers, der statt einer parlamentarischen Enquête exekutive Auskünfte befürwortete. Ebenso verhallte freilich Friedrich Harkorts Grundsatzplädoyer für ein wirkungsvolles Enquêtewesen nach englischem Vorbild letztendlich ungehört. Obwohl der Einsetzungsantrag keine entsprechenden Forderungen enthalten hatte und man offenkundig nicht (ausdrücklich?) auf Art. 81 PrVerf 1848 zurückgriff, unterschieden sich die Methoden der Enquête nicht wesentlich von den Erhebungen in der Frankfurter Nationalversammlung oder von modernen Verfahren: Man griff auf Material des Ministeriums zurück, richtete Nachfragen an staatliche und private Stellen, nahm Gutachten und Anregungen Dritter zur Kenntnis oder holte die Expertise von „Sachverständigen“ ein. Kritik oder Widerstand der Regierung zogen diese Maßnahmen, die mit älteren, strikt dem „monarchischen Prinzip“ verpflichteten informationsrechtlichen Prinzipien inkompatibel waren, nicht nach sich. Ihren Mahnungen in der Debatte zum Trotz opponierte die Regierung nicht 271

SlgDrsPr2K 1850/VII, No. 605, S. 9 f. SlgDrsPr2K 1850/VII, No. 605, S. 10. 273 Zur Oktroyierung des Dreiklassenwahlrechts und den Neuwahlen s. 5. Teil 2. Kap. A. II. 1. 272

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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gegen die Enquêtebemühungen, sondern unterstützte die Kommission und auch nachgeordnete Stellen verhielten sich kooperativ. Zu guter Letzt schreckten die Kommissionsmitglieder in der wegen des Klassenwahlrechts deutlich konservativeren Zweiten Kammer nicht vor weitgehenden Forderungen an die Adresse der Regierung zurück, sondern verlangten eine gewisse Mitsprache in diesen Fragen der Staatsleitung. Obwohl die parlamentarischen Bemühungen letzten Endes im Sande verliefen, weil weder die Enquête noch der Kommissionsbericht, der, soweit ersichtlich, vor dem Sessionsende Ende Februar 1850 nicht mehr auf die Tagesordnung kam, oder die politischen Reformforderungen konkrete Auswirkungen hatten, brachte die Angelegenheit wenigstens das parlamentarische Enquêterecht in Preußen voran.

III. Bewertung der Praxis der Revisionskammern Obwohl Art. 81 PrVerf 1848 in den Debatten der Revisionskammern kaum ausdrücklich berührt wurde, ist die Phase von Februar 1849 bis zum Abschluss der Verfassungsrevision im Januar 1850 für die Geschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts nicht verloren. 1. „Kollegialenquêten“ In beiden Kammern verliefen die Legitimationsprüfungen unter enquête- und untersuchungsrechtlichem Blickwinkel unspektakulär: Man stützte sich primär auf offizielle Unterlagen, überging Unklarheiten, griff auf Zeitungsberichte zurück oder befragte die Betroffenen. Bloß vereinzelt wurde das Staatsministerium zu weiteren Sachverhaltsaufklärungen aufgefordert. Wenigstens zeigten die Kammern dem Ministerium besonders eklatante Verfehlungen der staatlichen Wahlkommissare an und berühmten sich so eines gewissen Kontrollrechts. In Immunitätssachen stützten sich die Kammern ebenfalls auf die offiziellen Untersuchungsakten. In diesem Kontext kam es zu einem folgenlosen Präliminar­ gefecht um das parlamentarische Aktenvorlagerecht, indem Justizminister Simons zwar kooperierte, jede Vorlagepflicht aber in Abrede stellte. Bei dieser Gelegenheit wurde auch Art. 81 PrVerf 1848 kurz tangiert, ohne dass dieser Vorschrift eine relevante Rolle zugekommen wäre. „Echte“ Untersuchungen wurden in Kollegialsachen nicht veranstaltet. 2. Sozial- und Sachstandsenquêten Außer in dem Protest des Justizministers kam Art. 81 PrVerf 1848 anscheinend nur noch im Kontext der Notlage der Weber und Spinner in der Ersten Kammer knapp zur Sprache. Dieser Kontext lag alles andere als fern, gehörten doch Sozial-

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enquêten zu den „Klassikern“ des parlamentarischen Selbstinformationsrechts. In beiden Kammern kam es, wenngleich nicht präzise durchzeichnet, anlässlich des Elends der betroffenen Bevölkerungskreise zu deutlichen Ansätzen eines relativ modernen Enquêterechts. Ersichtlich knüpfte man insoweit an die Nationalversammlungspraxis an, indem die Kommissionen unausgesprochen (!) auf die Befugnisse des Art. 81 PrVerf 1848 zurückgriffen und sich insbesondere nicht nur mit der Regierung, sondern auch unmittelbar mit nachgeordneten Behörden oder gewerblichen Interessenvertretungen etc. in Verbindung setzten und auch sachverständige Stellungnahmen einholten. Mit ihren Anträgen, die Maßnahmen auf vielfältigen politischen Feldern bis hin zu der deutschen Zollpolitik anregten, beanspruchten die Kommissionen für die Kammern das Recht, der Regierung Ratschläge zu erteilen. Ein Beispiel für eine Enquête zur Vorbereitung gesetzgeberischer Schritte hätte der Antrag in der Zweiten Kammer, „die bestehenden gewerblichen Verhältnisse und die Gewerbe-Gesetzgebung einer allseitigen Prüfung [zu] unterwerfe[n] und der Kammer darüber eine Vorlage [zu] mache[n]“, bieten können. Obgleich der Antrag offensichtlich auf eine Sachstandsenquête gerichtet war, gefordert wurde u. a. die Beteiligung von Sachverständigen, stützten ihn die Antragsteller nicht (ausdrücklich?) auf Art. 81 PrVerf 1848. Die Auflösung der Kammer verhinderte schließlich jede Beratung oder Beschlussfassung über diese Enquêteforderung. 3. Die politische Dimension des Enquêterechts Politische Kontrollenquêten spielten in den Revisionskammern keine Rolle. Statt die Auseinandersetzung mit Hilfe des schwerfälligen Untersuchungsrechts zu suchen, das die Verfassung überdies ausschließlich der parlamentarischen Mehrheit anvertraut hatte, griff die Opposition auf das versatilere Interpellations- bzw. das parlamentarische Recht zu Anträgen und kritischen Amendements zurück, über die öffentlich beraten wurde.274 Selbst die Kommission, die von der Zweiten Kammer niedergesetzt worden war, um den Belagerungszustand in der Hauptstadt zu „untersuchen“, beschränkte sich auf das Studium einer ministeriellen Denkschrift sowie verschiedener Petitionen. Statt selbständige Sachverhaltsaufklärung zu betreiben, wurde lediglich die Plenarentscheidung vorberaten. Dass die zahlenmäßig unterlegene Opposition nicht versuchte, politische Untersuchungen mit Hilfe des Art. 81 PrVerf 1848 durchzusetzen, entsprach angesichts deren Ausgestaltung des Selbstinformationsrechts als Mehrheitsrecht schlicht Geboten politischer Klugheit. Mit aussichtslosen Anträgen hätte man das parlamentarische 274

Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 38 ff. zur Anerkennung der Verfassung bzw. S. 44 ff. zum Kampf um die Reichsverfassung; H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 98 zu den von Innenminister Manteuffel beantworteten Petitionen zu Beschränkungen der Versammlungsfreiheit, politischen Ausweisungen, der Verhaftung eines Polen auf russischem Gebiet oder der Vorenthaltung von Waffen gegenüber der Wetzlarer Bürgerwehr.

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Untersuchungsrecht als Kontrollinstrument zudem beschädigen können.275 Möglicherweise wollte man auch keine schlafenden Hunde wecken bzw. das Gouverne­ ment in der Verfassungsrevision gegen Art. 81 PrVerf 1848 aufbringen. Zu Anflügen parlamentarischer Kritik gegenüber der Regierungspolitik kam es immerhin im Zuge der Enquêten über das Schicksal der Weber und Spinner. So versuchte die Opposition, zum Schutz der notleidenden heimischen Industrie vor ausländischer Konkurrenz einen grundlegenden Kurswechsel in der Handelspolitik durchzusetzen. Angesichts der „linken“ Provenienz des Antrags zur Gewerbeordnung ist es wahrscheinlich, dass es den Antragstellern neben einer Enquête auch auf eine kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen Regierungspolitik ankam. Selbst wenn es nicht direkt um die Aufarbeitung von Skandalen oder eines potentiell rechtswidrigen Verhaltens staatlicher Organe ging, ließ sich das Enquêteund Untersuchungsrecht also für eine Abrechnung mit dem Gouvernement nutzen. 4. Gründe für die geringe Präsenz von Art. 81 PrVerf 1848 Eine Antwort auf die naheliegende Frage, warum Art. 81 PrVerf 1848 in beiden Kammern nahezu keinerlei Rolle spielte, obwohl verschiedene Enquêten durchgeführt oder beantragt wurden und die Kommissionen tatsächlich entsprechende Befugnisse in Anspruch nahmen, fällt nicht leicht. Ein denkbarer Grund könnte insbesondere für die aufgelöste Zweite Kammer sein, dass die linke Mehrheit die oktroyierte Verfassung grundsätzlich ablehnte.276 Schließlich hätte eine Berufung auf günstige Vorschriften zwangsläufig die Anerkennung der ungeliebten Verfassungsurkunde bedeutet. Statt sich dazu herabzulassen, knüpfte die Mehrheit anscheinend lieber an die von Revolution und Volkssouveränität getragene Praxis der Verein 275 Noch als auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts oppositionelle Mehrheiten existierten, sorgte sich Leopold v. Hoverbeck anlässlich des Versuchs, die konservativen Wahlmachinationen zu untersuchen, dass es „schade um den schönen Verfassungsartikel [wäre], der so illusorisch gemacht“ werde. s. dazu L. Parisius, L. v. Hoverbeck II/1, 1898, S. 193. 276 Als am 8. März 1848 der Antrag zur Sprache kam, „daß durch die Wahl der Abtheilungen ein Ausschuß von 21 Mitgliedern gebildet werde, welchem die am 5. Dezember ­octroyirte Verfassung als Grundlage der Vorbe­ra­thung für das Plenum überwiesen werde“, erhob C. D’Ester für die linke Seite des Hauses den Anspruch, „daß bestimmt ausgesprochen werde, daß die Verfassung nicht rechtsgültig“ wäre. Angesichts der Oktroyierung könne sie „nichts Anderes sein, als ein Entwurf, den [die Kammer…] anzunehmen und abzulehnen vollständig das Recht“ habe. Dem hielt der Abgeordnete v. Vincke entgegen, „daß das Volk die Verfassung vom 5. Dezember mit Jubel aufgenommen [und…] auf Grund dieser Verfassung […] gewählt“ habe (VerhPr2K I (1849), S. 82 f.). In der „Prinzipienfrage […] über die Rechtsbeständigkeit der Verfassung“, die in der Adressdebatte fortgesetzt wurde (etwa S. 163 ff.; 172 ff.), konnten sich konservative Kräfte durchsetzen. Zu Recht erwiderte Graf Zieten auf den Vorwurf, „die bisherige Tätigkeit der Kammer [habe] lediglich darin bestanden, drei Adressen zu debattiren, die in sich selbst zusammengefallen wären“, dass „gerade in der ersten Adresse […] das erste und kräftigste Faktum die Anerkennung der Verfassung“ gewesen sei (S. 559).

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barungsversammlung an, Enquêten ohne gesetzliche Grundlage zu veranstalten. In dieses Bild passt die Herkunft der Enquêteanträge zur Lage der Weber und Spinner aus dem linken Lager. Mit diesen aus heutiger Warte sperrigen Überlegungen ist die beinahe ebenso strikte Zurückhaltung der Ersten Kammer, deren Mitglieder mehrheitlich auf dem Boden der Verfassung standen,277 nicht zu erklären. Die Erste Kammer war weitaus gouvernementaler als die Zweite Kammer eingestellt, eher zur Kooperation bereit, so dass Wünsche, sich von der Regierung durch selbständige Enquêten aus eigenem Recht zu distanzieren, keine Rolle spielten. Das wirft ein anderes Licht auf ihre Zurückhaltung gegenüber Art. 81 PrVerf 1848, die tatsächlich auf konservativen staatsrechtlichen Ressentiments gegenüber diesem Artikel beruht haben könnte, der scheinbar hybride Befugnisse der Kammern mit sich brachte und damit unter dem Blickwinkel des „monarchischen Prinzips“ in das Feld der Exekutive hinübergriff. Diese Ablehnung spiegelte in der Verfassungsrevision das Votum der Zentralabteilung wider, die sich mit neun gegen fünf Stimmen deutlich für die Streichung ausgesprochen hatte. Die knappe Beibehaltung dieses Artikels mag u. a. auf die Tatsache zurück­zuführen sein, dass sich gegen den Widerstand der Zweiten Kammer nicht viel ausrichten ließ und sich der Konflikt um das suspekte Recht durch den offenen Wortlaut des Art. 81 PrVerf 1848 auf bessere politische Tage verschieben ließ. Vor diesem Hintergrund konnten die konservativen Volksvertreter in der Ersten Kammer kein besonderes Interesse daran haben, Präzedenzfälle für das suspekte Selbstinformationsrecht zu schaffen. Seine Vorteile wollten sich die Abgeordneten trotzdem offensichtlich nicht entgehen lassen. Da­ rüber hinaus ist es nicht unwahrscheinlich, dass verschiedene Abgeordnete die von David Hansemann im Frühjahr 1851 aufgestellte These teilten, dass keineswegs „in der Zuziehung von Sachverständigen etwas Aehnliches wie eine Enquête vorhanden“ wäre, sondern es schlicht „viel vernünftiger“ sei, „als wenn man Gesetze [mache…], die für thatsächliche Verhältnisse nicht pass[t]en“.278 5. Zwischenergebnis Als Fazit der Tätigkeit in den Revisionskammern bleibt, dass wenigstens eigenständige Enquêten veranstaltet wurden. Eine Anknüpfung an die politische Unter­ chweidnitzer suchungspraxis des Jahres 1848, deren Höhepunkt die spektakuläre S Untersuchung war, war unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen 277 Die mehrheitlich konservative bzw. liberalkonservative Erste Kammer bekannte sich in ihrer Adresse ausdrücklich zu dem Oktroi: „Die Verfassung  […], auf deren Grund wir gewählt und berufen sind, erkennen wir als die zu Recht bestehende Grundlage unseres Staatsrechts an und gewahren mit Dank, daß durch Verleihung der Verfassung das Vaterland vor drohender Zerrüttung bewahrt und ein fester öffentlicher Rechtszustand wiederhergestellt worden ist“ (VerhPr1K I (1849/50), S. 77, 157 ff.) Die Kritik des Abgeordneten Sperling am 10. März 1849, die Verfassung sei nicht alleinige Grundlage des deutschen Staatsrechtes und die Ok­ troyierung „ein Widerruf früherer Zugeständnisse, eine Verletzung der Rechte des Volkes auf Vereinbarung“, konnte sich nicht durchsetzen (S. 79). 278 VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 599.

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nicht zu erwarten. Indem sich beide Kammern gegenüber dem Leid der Spinner und Weber vergleichbarer Enquêtemethoden bedienten, schlossen sie ein Stück weit an die entsprechende Kommission der Vereinbarungsversammlung an. Mit diesem Schritt untermauerten die Volksvertreter einerseits das eigenständige parlamentarische Informationsbedürfnis in Fragen des Gemeinwohls und bestätigten andererseits den Anspruch der Kammern, eigene Erhebungen durchzuführen, Informationen bei Dritten zu beschaffen, insbesondere Sachverständige zu vernehmen, sich aber ebenfalls unmittelbar an die Ministerien oder nachgeordnete Stellen zu wenden. Ausdrücklich zitiert wurde der dazu passende Art. 82 PrVerf 1850 nicht. Die maßgeblichen politischen Motive ließen einen informationsrechtlichen Konflikt innerhalb der Kammern zur Gewißheit werden, sollten anstelle verhältnismäßig zahmer Enquêten die ersten politischen Kontrollforderungen aufkommen. Die bedeutendste informationsrechtliche Leistung der Revisionskammern bestand zweifellos in der Übernahme des Art. 81 PrVerf 1848 in die revidierte Verfassungsurkunde, dessen Zuschnitt, die Beratungen in der Zweiten Kammer ließen dies erkennen, dem Bauplan eines „echten“ parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts mit der Zeit angemessenen Befugnissen folgen sollte. Dass sich die Regierung weder gegen die Beibehaltung des konfliktträchtigen Selbstinformationsrechts noch gegen die auf unklarer Grundlage veranstalteten Sozial­ enquêten sperrte, zeigt, dass beide Seiten den neuen Rechtszustand wenigstens vorläufig akzeptierten. Immerhin entzog sich das Gouvernement nicht von Anfang an jeder Kooperation mit den Kammern; als erster Vorbote heraufziehender informationsrechtlicher Konflikte erscheint retrospektiv die Verwahrung des Justizministers gegen eine Aktenvorlagepflicht des Ministeriums, die einen schwachen Vorgeschmack auf die Obstruktionspolitik der 1860er Jahre bot.

B. Ära Manteuffel (1850–58) I. Sachstandsermittlungen und Gesetzgebungsvorarbeit Selbst in der Ära Manteuffel, die für Reaktion und Scheinkonstitutionalismus steht,279 spielte das parlamentarische Selbstinformationsrecht eine Rolle. Blieben politische Untersuchungen auch zwischen 1850 und 1858 grundsätzlich aus – über verschiedene Anträge wird noch zu berichten sein –, wurde wenigstens eine ­rudi­ mentäre Wirtschaftsenquête veranstaltet. In einem anderen konfliktträchtigen Fall, der Beratung des bis in konservative Kreise umstrittenen Pressgesetzes, wurden „Sachverständige“ angehört, was vor dem historischen Passepartout des älteren Konstitutionalismus einen wichtigen Schritt in die Richtung eines unabhängigen parlamentarischen Selbstinformationsrechts bedeutete.

279

s. nur H. Schulze, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 293 (309 ff.).

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1. Banksystem und Geldverkehr (1850–52) Das preußische Bank-, Geld- und Kreditwesen genügte um die Jahrhundertmitte keinesfalls den wirtschaftlichen und sozialen Bedürfnissen der Zeit. Nach den Wirtschaftskrisen der 1840er Jahre litten Gewerbe und Bevölkerung gleicher­ maßen unter einem Mangel barer Mittel. Zwar war prinzipiell ausreichendes Kapital vorhanden; die Investoren setzten aber lieber auf konservative Anlageformen oder den profitablen Eisenbahnbau, statt kleineren Unternehmen oder Privatleuten Kredit zu geben. Selbst Grundbesitz versprach keinen Zugang zu liquiden Mitteln unter erträglichen Konditionen und der „kleine Mann“, der Arbeiter, Kleinbauer oder Kleinhandwerker besaß überhaupt keine Möglichkeit, finanzielle Engpässe kurzfristig zu überbrücken. Zu allem Überfluss installierte die preußische Regierung mit den „Normativ-Bedingungen“ vom 15. September 1848280 auch noch Genehmigungspflichten und Beschränkungen bis hin zu einem Verbot, verzinsliche Depositen anzunehmen, statt das lahmende Bankwesen durch eine Liberalisierung auf Trab zu bringen. Einschränkungen des Rechts zur Notenemission behinderten den Geldfluss weiter. In der Folge blieben erhebliche Kapitalien ungenutzt, während gleichzeitig flüssige Mittel vorwiegend fehlten.281 a) Der Enquêteantrag vom Frühjahr 1851 Anfang Februar 1851 beantragte der Industriepionier und liberale Wirtschaftspolitiker282 Friedrich Harkort, der sich im Spätsommer 1849 für ein weites parla­ mentarisches Enquêterecht stark gemacht hatte,283 gemeinsam mit 16 Mitgliedern der Zweiten Kammer, „[e]ine Kommission von 21 Mitgliedern zu ernennen, um das System der Banken und Geld-Kredit-Institute des Landes zu untersuchen und über die im Interesse eines rascheren Geldverkehrs nothwendig erscheinenden Reformen zu berichten“. In den Motiven hoben die Antragsteller die „Pflicht der Kammer [hervor], den so wichtigen Gegenstand näher in Erwägung zu ziehen, damit das Material gesammelt werde, um der nächsten Legislatur gediegene Vorschläge machen zu können“. Die große Zahl von 21 Kommissionsmitgliedern, also drei Abgeordneten pro Abteilung, rechtfertigte man damit, dass „viele Mitglieder unbeschäftigt [seien…] und es wünschenwerth [erscheine…], Handel, Gewerbe und Ackerbau sämmtlicher Provinzen gehörig vertreten zu sehen, da Provinzial-Hülfs 280

PrMinBl IX (1848), Nr. 423, S. 348. s. zu Problemen der Kapitalbildung einerseits, der Entwicklung der Banken, Börsen und Sparkassen andererseits H.-U. Wehler, GesellGesch II4 2005, S. 95 ff., 110 f., 113, 115 ff.; ders., GesellGesch III2 2006, S. 85 ff. sowie H. Kiesewetter, Industrielle Revolution, 2004, S. 264 ff. Vgl. F. Harkort, Volksbanken, 1851 zur Einschätzung der damaligen Lage sowie die Debatte über den Kommissionsentwurf vom 7.  Mai 1852, VerhPr2K II/3 (1851/52), S.  1308 ff. Zum­ Zustand in den 1860er Jahren vgl. L. v. Rönne, PrStaatsR II/22 1865, S. 381 f. 282 Zum wirtschaftspolitischen Wirken F. Harkorts s. L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 479 f. 283 s. 5. Teil 3. Kap. A. II. 3. a). 281

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cassen, Kreisbanken, Alters-Versorgungs-Anstalten, Sparkassen u. s. w. aller Orten als dringendes Bedürfniß“ hervorträten. Eine klare Bezeichnung der Rechtsgrundlage für die verlangte Sachstandsenquête blieben die Antragsteller schuldig.284 aa) Vorberatung Der Antrag wurde zur Vorberatung an die Kommission für Handel und Gewerbe überwiesen. Der Anfang April 1851 erstattete Bericht fand in der rechtlichen Vorfrage, „ob die Kammer an und für sich das Recht habe, eine Kommission zu dem im Antrage angedeuteten Zwecke zu bestellen“, „mit Rücksicht auf die Bestimmungen der Artikel 82 und 64 der Verfassungs-Urkunde […] um so weniger […] Bedenken, als der […] Antragsteller […] den […] gebrauchten Ausdruck ‚untersuchen‘ dahin [erläutert habe…], daß er demselben nur die Bedeutung einer informatorischen Prüfung beigelegt wissen“ wolle. Dieser Hinweis, der klar in die Richtung einer sachlichen Enquête zielte, sollte zweifellos gouvernementale Sorgen zerstreuen, dass aufgrund des pseudostrafrechtlichen Terminus einer „Unter­suchung“ Regierungskritik drohen könne. Wichtiger ist, dass neben Art. 82 PrVerf 1850 erstmals das Gesetzesinitiativrecht des Art. 64 PrVerf 1850 zur Rechtfertigung einer Enquête zum Zuge kam. Ganz im Sinne der Korollartheorie stützte sich der parlamentarische Selbstinformationsanspruch damit auf die materiellen Kompetenzen der Kammer. Die Regierungskommissare stellten die „Befugniß einer derartigen Recherche an und für sich“ nicht in Abrede, rieten aber gleichwohl entschieden von diesem Schritt ab: Einerseits seien die „Grundsätze, welche den bestehenden Banken und sonstigen Geldkredit-Instituten des Staates zu Grunde [lägen, …] in den betreffenden Verordnungen klar und deutlich ausgesprochen“. Andererseits könne die „angeregte Untersuchung […] sehr leicht auf den Irrweg einer blos theoretischen Ermittelung […] führen“. Ähnlich wie im Vorjahr zur Lage der Weber und Spinner warnte die Regierung außerdem davor, dass man eine „Menge Vorschläge und Projekte“ hervorbringen werde, die, weil die „gespannten Erwartungen“ niemals erfüllt werden könnten, bloß eine „aufregende Wirkung auf das Publikum“ haben würden. Nach dieser Diskreditierung einer parlamentarischen Enquête erklärte sich das Gouvernement dazu bereit, „über jeden Punkt, über welchen von den Antragstellern oder anderen Mitgliedern der Kammer noch nähere Informationen gewünscht werden sollten, die vollständigste Auskunft zu ertheilen“. Diese Offerte, eine eigenständige Untersuchung durch großzügige Fremdinformation entbehrlich zu machen, verband die Regierung mit der Warnung, dass sie die „Ernennung einer besonderen Kommission zur Einziehung dieser Informationen“ als unberechtigten „Ausdruck des Mißtrauens“ ansehen müsse.285 – Wohl nicht zu Unrecht urteilte 284

VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 128, S. 963. Antragsteller waren neben F. Harkort die Abgeordneten Winzler, Haupt, Fliegel, Hammacher, Genther, Röhricht, Kolbe, Langer, Berndt (Nimptsch), Tellkampf, John, Näwe, Gebauer, Blümel, Fröhner und Schöpplenberg. 285 VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 129, S. 965.

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Heinrich v. Poschinger später, dass dieses „ängstliche sich Sperren der Staatsregierung gegen die Enquête“ politisch nicht klug gewesen sei, weil „erfahrungsgemäss […] ein solches Vorgehen weit eher stimulirend, als beruhigend [wirke], schon wegen des Argwohnes, dass am Ende doch etwas geheim zu halten sei“.286 Tatsächlich hieß es aus den Reihen der Abgeordneten diplomatisch, dass ein „näheres Eingehen auf den hochwichtigen Gegenstand und eine reifere Prüfung“ auch der Staatsregierung nützlich wäre: Entweder würden die bisherigen Verwaltungsgrundsätze und Normen bestätigt. Sollten diese dagegen einer „Verbesserung und Erweiterung“ bedürfen, könne es dem Ministerium doch nur „erwünscht sein […], die Ansichten und Erfahrungen der aus allen Provinzen des Staats gewählten Volksvertreter kennen zu lernen, um danach […] die Initiative ergreifen zu können“. Von Misstrauen könne keine Rede sein; man wünsche vielmehr, dass „die anzustellende Prüfung unter Zuziehung und in Gemeinschaft mit der Staats-Regierung erfolge“. Der beschworenen Gefahr „nutzloser Projektmacherei“ lasse sich durch die „Bestimmung und Feststellung des Zwecks der Thätigkeit der […] Kommission“ – heute würde man wohl sagen: durch eine präzisere Fassung des Untersuchungsauftrags – begegnen.287 Über die einzuschlagende „Richtung“ und den „Umfang“ der Enquête gab es in der Kommission keine „erhebliche Meinungs-Verschiedenheit“. Obwohl eine „bloße Informations-Einziehung über das System der Banken und Geld-Institute […] nicht alleinige Aufgabe der Kommission sein [sollte…], zumal sich ihre Forschungen ohne bestimmtes Ziel […] nutzlos verallgemeinern und verflachen würden“, wurde es trotzdem ebenso als „nicht rathsam“ abgelehnt, „in dem künftigen Berichte […] bereits bestimmte Anträge oder Vorschläge zu Reformen und Verbesserungen entgegen zu nehmen, weil die Ergreifung der Initiative seitens der Kammer entweder für verfrüht oder für unzweckmäßig erachtet werden könne“. Stattdessen kam man „in dem Kardinalpunkte […] überein, die allerdings unvermeidlich einzuholende, theils aus den Mittheilungen der Königlichen Staats-­Regie­ rung, theils aus dem Leben und dessen Erfahrungen zu erzielende Information auf einen praktischen Zielpunkt hinzulenken, […] an welchen sich sowohl seitens der Königlichen Staats-Regierung als seitens der Kammer später und selbstständig die geeigneten Anträge und Vorschläge knüpfen ließen“. Gegenüber dem Antrag Harkort, der „bereits den Weg der Initiative“ betrete, ja präsumiere, „daß das bestehende System der Geld-Kredit-Institute ein so mangelhaftes und unvollkommenes sei, daß Reformen nothwendig eintreten müßten“, zog die Ausschussmehrheit das moderate Amendement288 vor, „eine Kommission 286

H. v. Poschinger, Bankwesen II, 1879, S. 136. VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 129, S. 966. 288 Der Forderung, „eine Kommission zu ernennen, deren Aufgabe es sein soll[e], nach Information aus dem betreffenden Material der Königlichen Staats-Regierung, zu untersuchen, ob die bestehenden Bank- und Kredit-Institute für die Bedürfnisse des Verkehrs ausreichend“ seien, wurde entgegengehalten, „daß es die Vertretung und Theilnahme der Staats-Regierung bei der beabsichtigten Untersuchung ausschließe und nur das zur Information dienende Material, also Akten und publizirte Gesetze oder Instructionen und Kassenbücher vorgelegt ­wissen wolle, wäh 287

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zu ernennen, um unter Communication mit der Königlichen Staats-Regierung zu untersuchen, ob die zurzeit bestehenden Geld-Kredit-Institute des Landes dem gesteigerten Bedürfnisse eines rascheren und umfangreicheren Geldverkehrs“ entsprächen. Mit der „Umgehung und Beseitigung der erhobenen Bedenken“ sollte einerseits die erwünschte „Theilnahme der Königlichen Staats-Regierung an den künftigen Kommissions-Berathungen“ ermöglicht, andererseits eine „Ausdehnung der Untersuchung auf die verschiedenartigsten Geld-Kredit-Institute dem freien Ermessen der künftigen Kommission“ überlassen werden. Mit dem Einverständnis Friedrich Harkorts empfahl der Ausschuss für Handel und Gewerbe dem Plenum schließlich diesen Antrag, ergänzt um die ursprünglich verlangte Kommissionsgröße von 21 Mitgliedern.289 bb) Plenarberatung und Beschluss Über diese Empfehlung, die offenkundig dem Vorbild oder besser: dem Bild nachempfunden war, das sich die Abgeordneten von der englischen Praxis machten, wie es Friedrich Harkort im Vorjahr gezeichnet hatte,290 beriet die Zweite Kammer am 12. April 1851. Wilhelm Osterrath ergriff auch gegen den entschärften Ausschussvorschlag Partei, weil dieser „weiter zu führen [scheine…] als das augenblicklich vorliegende Bedürfniß“: Das geforderte Gremium werde schließlich keine „Kommission sein, wie [man…] sie in der Geschäfts-Ordnung [kenne…], als Vorbera­ thung für einen in der Kammer zum Vortrag kommenden Gegenstand“, sondern eine „Kommission, wie sie nach Art. 82 der Verfassung gewählt werden“ könne, um „nöthigenfalls an Ort und Stelle Informationen einzuziehen“ über die öffentlichen und privaten „Geld-Kredit-Institute“. Ein solcher Aufwand sei aber keinesfalls gerend es gerade zweckmäßig erscheine und am sichersten zu einer glücklichen Lösung der Aufgabe führen würde, wenn man die Königliche Staats-Regierung unmittelbar in das Interesse mit hineinziehe und durch wechselseitigen Austausch der Informationen und Erfahrungen die Ur­ theile zu läutern sich bestrebe“. Der dritte Vorschlag, „eine Kommission niederzusetzen, welche sich mit der Regierung behufs der Information über das von ihr befolgte System im Bankverkehr in Verbindung setze und die Frage beantworte, ob dieses System den gegenwärtigen Anforderungen des Geldverkehrs“ entspreche, „rief das Bedenken hervor, daß die Information, welche die künftige Kommission nach dem Wortlaute des Amendements nur über den Bankverkehr und das System der Bank einzuziehen haben soll[e], eine zu begränzte sei; es müsse vielmehr der künftigen Kommission unbenommen bleiben, ihre Information außer auf Banken auch auf andere Geld-Kredit-Institute des Landes nach Befinden auszudehnen“. Dem vierten Amendement, „eine Kommission zu ernennen, um sich mit den Verhältnissen der bestehenden Banken und Darlehnskassen bekannt zu machen und sich darüber zu äußern, ob dieselben den Bedürfnissen des Landes“ entsprächen, „wurde der Vorwurf gemacht, daß es die Thätigkeit der Kommission auf ein Institut, die Darlehnskassen, verweise, über dessen Aufhebung bereits die Finanz-Kommission der Kammer berichtet habe. Zu der Zeit also, wo die künftige Kommission ihre eigentliche Wirksamkeit zu entfalten erst beginnen werde, würden die Darlehnskassen als vorhanden nicht mehr zu betrachten sein“ (VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 129, S. 966). 289 VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 129, S. 966. 290 s. 5. Teil 3. Kap. A. II. 3. a).

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rechtfertigt, weil durch die Regierung dem „Bedürfniß, wo es sich irgend erkennen [lasse…], schon abgeholfen“ werde. Wo dies nicht der Fall sei, drängten die an den Königlichen Banken beteiligten Privaten, wenn sie nur „irgendwo ein vortheilhaftes Geschäft“ witterten, auf Remedur. Eine Kommission, „die, wo das Bedürfniß jetzt etwa nicht bekannt [sei…], das Bedürfniß aufsuche“, hielt der Oberregierungsrat für ebenso bedenklich wie eine Aufforderung an die Adresse des Ministers, „an einem bestimmten Orte noch eine Bank-Kommandite [zu] errichten“; für solcherlei Geschäfte sei allein die Staatsregierung verantwortlich.291 Grund des Widerspruchs war also anscheinend die Sorge, dass sich die Kammer in ein exekutives Geschäft einmischen könne; der „Gewaltenteilungseinwand“ kam dieses Mal nicht gegen die sonst bekämpften Selbstinformationsbefugnisse der Kommissionen zum Zug, die der Danziger Beamte Osterrath lediglich als zu aufwendig, nicht aber als unzulässig zurückwies. Auf einer vergleichbaren Linie deutete Handelsminister v. der Heydt, wie es die Regierungskommissare schon in den Ausschussverhandlungen getan hatten, die Nutzlosigkeit einer parlamentarischen Enquête an, indem er betonte, dass das Ministerium jede gewünschte Information „ohne Aufwand“ erteilen könne. Gegenüber dem mutmaßlich freiwilligen Enquête- und Untersuchungsrecht der Kammern legte er den Finger in die entscheidende Wunde, dass zwar das Gouvernement imstande sei, „durch den Kommissar der Regierung […] jede Information einzu­ ziehen, welche die hohe Kammer und ihre Kommission für wünschenswerth er­ ach[te]ten“, einer parlamentarischen Kommission aber im Gegensatz dazu gegenüber Privatbanken „ohne deren Zustimmung“ keinerlei Auskunft zustehe. Die geltende Rechtslage für die bestehenden staatlichen und Privatbanken sei zudem ebenso wie die Konzessionierungsvoraussetzungen für weitere Geldhäuser öffentlich bekannt. In Gestalt des Zeitmoments sprach der altliberale Handelsminister dann eines der Hauptgebrechen des damaligen parlamentarischen Selbstinformationsrechts, ja gewissermaßen der gesamten Tätigkeit der Kammern an, indem er zu bedenken gab, dass eine Kommission vor dem nahen Sessionsende Mitte Mai keinen „ausführlichen Bericht“ mehr abliefern könne. Eine „permanente Kommission“ sei der Geschäftsordnung indessen fremd. Mit dem Rat an die Abgeordneten, zunächst „bestimmte Anträge auf Aenderung der Bankgesetzgebung“ abzuwarten,292 antizipierte der Minister den kommenden Einwand der Regierung, dass sich das Enquête- und Untersuchungsrecht ausschließlich auf Gegenstände beziehen könne, die den Kammern bereits anderweitig unterbreitet worden seien.293 Weiter ging der ministeriale Widerstand in dieser Sache nicht; überhaupt zeigte sich das Ministerium, obwohl Ende November 1850 mit der Olmützer Wende die Zeit der Reaktionspolitik angebrochen war, noch bis zum Sessionsende am 9. Mai 1851 verhältnismäßig konziliant.294 291

VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 995 f. VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 996. 293 s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. b) bb). 294 Dazu H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (55 f.). 292

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Friedrich Harkort verteidigte seinen Vorstoß gegen die Unterstellung, „irgend ein Mißtrauen gegen das Ministerium an den Tag zu legen“. Zu seiner Überzeugung lag es eher „im Interesse des Ministeriums […], wenn die Initiative von der Kammer ausgehe“, weil „viele nützliche Dinge […] nur langsam und unter stürmischen Debatten reif[t]en“. Wie schon 1849 in Sachen der Weber und Spinner berief sich der fortschrittliche Unternehmer wieder auf das englische Vorbild. Die politische Stoßrichtung seines Antrags offenbarte der Hinweis, dass die Probleme der Kreditwirtschaft „ganz genau mit der sozialen Frage“ verbunden seien.295 Weil die Kammer in diesen Fragen nicht über die erforderlichen Informationen verfüge, sei eine besondere Kommission geboten. Anders als in England, wo sich das Material in den „Parlaments-Akten“ befinde und „sich die Staatsmänner“ aus diesen informierten, verfüge die erst seit Kurzem bestehende und „alle drei Jahre neu zusammengesetzt[e]“ Kammer nicht über die notwendigen Daten. Eine Enquête sei deswegen schon dann hilfreich, wenn sie bloß „für künftige Berathungen“ einen „Kodex der besten Anstalten dieser Art“ zusammentrage und erweise, „welches […] die beste Bankordnung, welches das beste Kreditinstitut und welches die beste Hypothekenbank […] in Europa“ seien.296 Allen Beteuerungen zum Trotz, dass es ausschließlich um die Information der Kammer und keineswegs um Regierungsschelte gehe, warf der linke Zentrumsabgeordnete Carl Albrecht Brämer dem Ministerium vor, dass bislang noch nicht alles Erdenkliche getan worden sei. Außerdem brachte der Landschaftsrat und Ritter­gutsbesitzer die Kommissionsbefugnisse zur Sprache, indem er verlangte, der Kommission, obgleich sie „nach der Verfassung die Berechtigung [habe…], auch je nach ihrem Ermessen Sachverständige zuzuziehen“, eine entsprechende Pflicht ausdrücklich aufzutragen.297 Trotz der knapp angeklungenen Kritik an der offiziellen Bankenpolitik betonte Berichterstatter Robert Berndt in seiner abschließenden Stellungnahme noch einmal, „daß die zu ernennende Kommission […] durchaus nicht den Charakter einer Inquisition annehmen soll[e], sondern nur berufen sei, eine Information zu einem bestimmten praktischen Zwecke herbeizuführen und diese der hohen Kammer zur Erörterung und Beschlußnahme zu unterbreiten“. Auf die Sorgen des Handelsministers, das eine parlamentarische Kommission diese Herkulesaufgabe in der Kürze der ihr zur Verfügung stehenden Zeit nicht bewältigen könne, entgegnete der Glogauer Stadtsyndikus, dass man weit davon entfernt wäre, Permanenz zu fordern. Der Antrag lasse sich aber, „sobald der Schluß der Sitzungsperiode die Fortsetzung der Geschäfte der Kommission hindern sollte“, in der nächsten Session wieder aufnehmen.298 Der Forderung des Abgeordneten Brämer, in den Einsetzungsbeschluss eine ausdrückliche Verpflichtung zu Sachverständigenanhörun 295

VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 996. VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 997. 297 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 997. 298 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 997. 296

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gen aufzunehmen, widersprach der Berichterstatter, weil es „nicht gerechtfertigt“ sei, „der künftigen Kommission eine Beschränkung in dieser Beziehung aufzuerlegen“;299 in der Abstimmung fiel das Amendement tatsächlich durch.300 Letzten Endes folgte das Plenum mit dem Beschluss, „eine Kommission von 21 Mitgliedern zu ernennen, um unter Communication mit der Königl. Staats-Regierung zu untersuchen, ob die zur Zeit bestehenden Geld-Kredit-Institute des Landes dem ge­steigerten Bedürfnisse eines rascheren und umfangreicheren Geldverkehrs“ entsprächen, dem Kommissionsantrag.301 cc) Der Kommissionsbericht Natürlich konnte die damit eingesetzte Enquêtekommission ihre Arbeit in dem knappen Monat bis zum Ende der Session nicht mehr vollenden. Untersuchungsmaßnahmen im eigentlichen Sinn, also Zeugenvernehmungen oder Sachverständigenanhörungen, blieben aus. Immerhin gelang es mit Friedrich Harkorts Worten, „mit lobenswerthem Eifer bereits 3 Berichte [der…] Subcommissionen dem Druck [zu] übergeben“.302 Die Untersuchungskommission beschränkte sich ebenfalls auf den Druck des gesammelten Materials.303 Auch das Plenum konnte sich nicht mehr mit der Sache befassen.304 Die erste Kommissionsabteilung urteilte über die Normativbedingungen, dass sie „ohne eine Abänderung […] Privat-Kredit-Institute nie zu einer gedeihlichen freien Entwickelung kommen“ lassen würden.305 Mehr den Charakter einer Tatsachenermittlung hatte ihr zweiseitiger „Bericht über die Preußische Bank“, der neben Kritik an dieser von Friedrich Harkort generell abgelehnten306 Einrichtung Verbesserungsvorschläge enthielt.307 Der mit knapp sieben Seiten längste Teil über den „Plan der Berliner Kredit-Gesellschaft“, ein von David Hansemann nach belgischem Vorbild initiiertes Projekt, dem die Regierung nicht die Erlaubnis zur Annahme verzinslicher Depositen geben wollte,308 ging von dem Vorbild des Brüsse­ ler Kreditvereins aus und kritisierte dann wieder Aufbau und Arbeitsweise der preußischen Bank.309 Diese drei Teilberichte versah die erste Abteilung noch mit umfangreichen Anlagen.310 Diese Unterlagen gewähren einen gewissen Einblick 299

VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 998. Zur Unterstützung s. VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 997 sowie S. 998 zur Abstimmung. 301 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 998. 302 F. Harkort, Volksbanken, 1851, S. 4. 303 s. den Kommissionsbericht vom 8. Mai 1851, SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 1. 304 H. v. Poschinger, Bankwesen II, 1879, S. 138. 305 SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 3 ff. 306 A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 657 f. 307 SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 13 ff. 308 A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 661 ff. 309 SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 31 bis 38, 39 bis 53, 55 bis 71. 310 SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 3 ff., 13 ff., 31 ff. 300

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in die Arbeitsweise der Kommission und in den parlamentarischen Anspruch auf Mitsprache über den betreffenden Teil der Finanzpolitik. Für ihren „Bericht über die Kreditverhältnisse der ländlichen Grundbesitzer“ hatte die zweite Abteilung 137 Mitteilungen des Landwirtschaftsministeriums ausgewertet, die von „Spezial-Kommissarien“ sowie „einigen Landräthen und Kreditbeamten“ eingeholt worden waren. An dem auf Veranlassung von Abgeordneten der Ostprovinzen gesammelten Material wurde kritisiert, dass es, „nicht aus aktenmäßigen Recherchen oder Zeugen-Vernehmungen“ stammend, keine „unbedingte Beweiskraft“ habe; es handele sich nur um die „gutachtliche Aeußerung“ von beruflich mit den Verhältnissen „vollkommen vertraut[en]“ Männern. Etwaige Unklarheiten wurden nicht durch eigene Recherchen, sondern soweit möglich „theils durch die Herren Regierungs-Kommissarien, theils aus der Kenntniß der Kommissions-Mitglieder“ ausgeräumt.311 Anlässlich von Überlegungen, „wie [sich] die Naturalwirthschaft in ihren Ergebnissen […] zu dem System der Geldwirthschaft“ verhalte, wertete die Abteilung das offizielle statistische Material der letzten 50 Jahre zu Konsum und Produktivität als „wenig stichhaltig“ ab. Damit die Regierung „die zeitgemäßen Reformen rechtzeitig eintreten […] lassen“ könne, seien weitere Nachforschungen unerlässlich. Weil man „[d]urch Zeugenvernehmungen und amtliche Recherchen […], wie sie z. B. das Englische Parlament veranlaßt [habe, …] bereits zur Klarheit gelangt sein“ könne, warf die Abteilung der Regierung vor, dass sie mit entsprechenden Schritten die „tief beklagenswerthe Katastrophe in Oberschlesien vorausgesehen, und derselben rechtzeitig entgegengewirkt“ haben könnte.312 Abschließend räsonierte man über Möglichkeiten, „um ein geordnetes, das volkswirthschaftliche Leben unterstützendes Kreditwesen hervorzurufen“.313 Wegen des bevorstehenden Sessionsendes sah die Abteilung von einem konkreten Antrag ab und entschied, den Bericht drucken zu lassen – einerseits, um die Abgeordneten über die unbekannten Verhältnisse auf dem Lande zu informieren, andererseits, weil man hoffte, dass die Regierung „auch ohne Kammerbeschluß […] dem bisher nur zu lange vernachlässigten ländlichen Kreditwesen eine ernste Aufmerksamkeit und Fürsorge […] schenken“, den Sachverhalt „durch Zeugenvernehmungen und aktenmäßige Recherchen“ weiter klären und dann entscheiden werde, „inwieweit sie berechtigt und verpflichtet sei, das Geldregal zu Gunsten der bedrohten Landestheile zu beschränken“.314 Diese Äußerungen vereinten genau besehen Kritik und Mitspracheanspruch gegenüber dem Gouvernement. Die dritte Abtheilung der Kommission, die über „Sparkassen und Leihbanken“ berichtete, gab offen zu, dass es ihr zeitlich unmöglich war, „zu einem praktischen Resultate zu gelangen“. Deswegen habe man bloß versucht, eine „Uebersicht des 311

SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 73 ff. SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 81 ff. 313 SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 87 ff. 314 SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 92 f. 312

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vorliegenden Stoffes und Materials zu einer künftigern ausführlichern und erschöpfenden Behandlung desselben zu gewinnen“.315 Als Quellen wurden eine „Schrift über die Sparkassen Frankreichs“, ein parlamentarischer „Bericht […] über die­ Typhus-Waisen in Oberschlesien“ sowie zwei kleine Schriften des „Central-Verein[s] für das Wohl der arbeitenden Klassen“ über die „Preußischen und übrigen Deutschen Sparkassen“ bzw. – aus anderer Feder – über die Idee des Sparkassenbuchs verwertet.316 Ein Vertreter des Ministeriums, der den Beratungen offenkundig beigewohnt hatte, hatte Auskünfte erteilt.317 Weil dieser Regierungskommissar ­eingestanden hatte, „daß die Königliche Regierung jetzt nur im Besitz sehr un­ vollständiger Materialien […] sei, aber schon selbst das Bedürfnis gefühlt habe, namentlich die ganze Angelegenheit des Sparkassenwesens, einer Prüfung zu unterwerfen, und auf eine weitere Ausbildung der betreffenden Institute hinzu­arbeiten“, forderte die Abteilung das Ministerium dazu auf, „die erforderlichen Notizen ein[zu]fordern […], um sie als Material, einer künftig etwa zu demselben Zweck wieder einzusetzenden Kommission mitzutheilen“.318 Weil es die fortgeschrittene Zeit nicht mehr „gestattete, diesen weit umfassenden Gegenstand erschöpfend zu erörtern“, wurden die Beratungen schließlich abgebrochen.319 Die drei Kommissionsabteilungen beratschlagten also aufgrund allgemein zugänglicher publizierter Quellen über das Enquêtethema, zogen Vorwissen ihrer Mitglieder sowie Informationen der Regierung oder parlamentarische Vorarbeiten heran. Obwohl angesichts dieses Verfahrens eigentlich von keiner parlamentarischen Untersuchung im eigentlichen Sinne die Rede sein konnte, trifft Heinrich v. Poschingers Urteil, dass „[m]it Enquêten, welche von den Volksvertretungen veranstaltet bezw. von denselben hervorgerufen werden, […] der Regierung in der Regel keine grosse Freude bereitet“ wird,320 auf diese Vorarbeiten ein Stück weit zu: Alle drei Abteilungen kritisierten die bestehenden Verhältnisse und die Normativbedingungen, deren mannigfache Abänderung sich vor allem die erste Abteilung auf die Fahnen geschrieben hatte; Missstände und Fehlentwicklungen im Bankwesen oder dem Geldverkehr wurden sogar als Mitursache für das furchtbare Elend der Spinner und Weber verantwortlich gemacht. Nach diesen Anklagen forderten die Abgeordneten die Regierung zu weiteren Erhebungen auf, um die Grundlage für eine überfällige Reform zu schaffen.

315

SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 95. SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 97 f., 98, 102, 106. 317 SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 99, 108. 318 SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 99 f. 319 SlgDrsPr2K II/2 (1850/51), Nr. 325, S. 105 ff. 320 H. v. Poschinger, Bankwesen II, 1879, S. 134. Parlamentarisches Drängen bedeute, dass die Volksvertreter „mit den bestehenden Verhältnissen missvergnügt [seien], und die Untersuchung derselben […] ihnen das Beweismaterial liefern [solle], um das Bedürfniß einer Reform zur Evidenz zu bringen“. 316

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b) Wiederaufnahme in der Folgesession (1851/52) Nach ihrer Wiedereinberufung im Dezember 1851 fasste die Zweite Kammer auf einmütige Empfehlung aller Abteilungen den Beschluss, dass „der von der vorjährigen Session bereits genehmigte amendirte Antrag […] wieder aufgenommen werde“.321 aa) Kommissionsbericht Die zweite Kommission, in der verschiedene frühere Mitglieder wieder einen Sitz hatten, erstattete ihren Bericht unter dem 27. April 1852.322 Verwendung fanden dieses Mal außer Erläuterungen der Regierung auch verschiedene Forderungen des privaten „Verwaltungs-Comité’s der Berliner Credit-Gesellschaft um Genehmigung des Statuts und um Verleihung von Corporationsrechten“, verschiedene Beschleunigungsgesuche sowie ministerielle Verfügungen etc. in derselben Sache, weiterhin eine „Uebersicht von dem Stande der damals bestehenden 6 landschaftlichen Credit-Anstalten“, andererseits „Gesuche um Errichtung ländlicher Credit-Anstalten“ sowie ein französisches Dekret.323 In der Sache kam man zu dem Schluss, dass nach der „Prüfung der Systeme der Banken von England, Schottland, besonders aber der Vereinigten Staaten von Nordamerika, unter Beachten der aus dem Durchführen dieser Systeme in den betreffenden Ländern hervorgegangenen Erfahrungen“, die Banken das beste Mittel seien, um die „Geld-Circulation zu erleichtern, zu vervielfältigen und durch Letzteres die Summe des Staats-Vermögens zu erhöhen“. Diesem „staatswirthschaftlichen Beruf“ könnten aber nur solche Institute vollständig gerecht werden, „welche sämmtliche in dem Begriff des Bankverkehrs liegende Geschäfts-Sphären in sich vereinig[t]en“. Die Staatsregierung sei deswegen sowohl dazu „verpflichtet, das gesammte Bankwesen ihrer Ober-Aufsicht […] zu unterziehen“, um das Publikum vor „schwindlerische[n] Bank-Unternehmer[n]“ zu schützen, als auch dafür zu sorgen, dass „soliden Unternehmern […], nach dem Bedarf der allgemeinen Versur von Geld und Kredit, Gelegenheit werde[,] für diesen Bedarf mit billigem Gewinn Hülfe zu leisten“.324 Gegenüber der preußischen Bank kritisierte der Bericht, dass von ihr weder „Darlehnen in ganz geringen Posten, zur Förderung kleiner gewerblicher Bestrebungen“ oder eine „Minderung der […] zu bestellenden Sicherheit“ noch ein „[l]eichterer Geschäftsgang bei den Darlehns-Versuren“ erreicht würden.325 Die Kommissionsmehrheit folgte der Bewertung des Antragstellers, dass es, „[o]hne demnach der Preußischen Bank […] einen Vorwurf zu 321

VerhPr2K II/3 (1851/52), S. 42 f. Zusammenfassung bei H. v. Poschinger, Bankwesen II, 1879, S. 139 ff. 323 H. v. Poschinger, Bankwesen II, 1879, S. 147 in Anm. 1). 324 SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), Nr. 255, S. 2 (Hervorhebung nur hier). 325 SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), Nr. 255, S. 6. 322

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

machen, […] in dem Sinne des Antrages Pflicht der Kommission [sei], zu untersuchen, in wiefern eine andere vorhandene oder neu zu gründende Bank in dem Preußischen Staate [diese Forderungen…] zu erledigen vermöge“.326 Mit der Regierung, die einer Erhebung der Normativbestimmungen zum Gesetz  ebenso wie verschiedenen Änderungen oder einer allgemeinen parlamentarischen Mitsprache bei der Zulassung der Banken widersprochen hatte, war kein Einvernehmen zu erreichen.327 Trotzdem empfahl die Kommission dem Plenum verschiedene Änderungen der Normativbestimmungen und präsentierte den „Entwurf eines entsprechenden Gesetzes, Behufs seiner Genehmigung Seitens der Kammer und demnächstigen befürwortenden Beförderns an die Erste Kammer“.328 Offenkundig setzte man also auf das politische Gewicht der Landesvertretung, um das Staatsministerium in diesen Fragen doch noch zu einem Einlenken zu bewegen. Die zweite Kommission führte ebenso wenig wie ihre Vorgängerinnen im eigentlichen Sinne eine Enquête zum preußischen Bankwesen und Geldverkehr durch. Statt eigenständig Beweis zu erheben, etwa durch die Anhörung privater Sachverständiger oder Vertreter der betroffenen Wirtschaftskreise etc., hatten sich die Abgeordneten mit dem Studium verschiedener Publikation sowie sonstiger Unterlagen begnügt. Wenigstens wurden auch Anträge und Schriften von Interessenten sowie Auskünfte der Regierungskommissare verwertet. Auf dieser Grundlage hatte die Kommission Vorschläge erarbeitet, kontrovers mit der Regierungsseite beratschlagt, dabei aber keine Einigung erzielt und deswegen schließlich in Form einer Gesetzesinitiative eine Art Kampfantrag formuliert, der an die Erste Kammer weitergeleitet werden sollte, um so gesamtparlamentarischen Druck auf das Gouvernement auszuüben. bb) Plenarberatung des Berichts und Gesetzentwurfs Am 7. Mai 1852 sprachen sich Handelsminister August v. der Heydt und der­ Regierungskommissar, der Präsident des Hauptdirektoriums der preußischen Bank Ferdinand v. Lamprecht, in der Plenardebatte einmütig gegen jede gesetzliche Regelung aus, weil es keinerlei Bedarf an zusätzlichen Privatbanken gebe. Am folgenden Tag wurde der Kommissionsentwurf auf Antrag des Vizepräsidenten und Parteiführers des rechten Zentrums Johann Geppert, der damit möglicherweise dem Ministerium einen Dienst erwies,329 abgelehnt.330 Gleichwohl konstatierte die Zweite Kammer nach einem Wortgeplänkel um die Frage, ob es überhaupt ihre 326

SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), Nr. 255, S. 6 f. SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), Nr. 255, S. 10 ff. 328 SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), Nr. 255, S. 16 f. 329 L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 481. 330 VerhPr2K II/3 (1851/52), S. 1311 f., 1314. 327

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Sache wäre, „Resolutionen zu fassen, wonach der Regierung [legislative] Befugnisse gegeben werden soll[t]en“ (Louis Tellkampf), „daß sie es im Interesse der Förderung des Verkehrs für nothwendig und ohne Gefährdung der Sicherheit der Privatbanken für zulässig erachte, die Normativ-Bedingungen […] zu ändern“. Im einzelnen sollte es Privatbanken künftig erlaubt sein, bis zu einem gewissen Anteil ihres Stammkapitals „verzinsliche und unverzinsliche Kapitalien“ und „[h]ypothekarische Schuldverschreibungen als Faustgeld und zur Bestärkung der Sicherheit für Darlehen und Wechsel anzunehmen“. Weitere Modifikationen betrafen den Mindestwert von Aktien sowie die Wechseldiskontierung, für die u. a. nicht mehr „wenigstens, sondern nur in der Regel drei solide Verbundene […] nothwendig“ sein sollten.331 c) Bewertung der „Enquête“ Anstatt gemeinsam mit der Kammer auf die Lösung des Bankenproblems zu dringen, ignorierte die Staatsregierung den parlamentarischen Vorstoß, so dass sich die preußische Landesvertretung künftig noch verschiedentlich mit Fragen des Geld-, Kredit- und Bankwesens befassen sollte.332 Eine andere Frage ist, welche enquête- und untersuchungsrechtliche Bedeutung der Bankenfrage zukommt. Schenkt man dem Geheimen Regierungsrat im Reichsamt des Innern Heinrich v. Poschinger Glauben, konnte man im Hinblick auf die sachlichen Erfolge der Enquête „nicht behaupten, dass dieselbe allen oder auch nur einigermassen hohen Anforderungen Genüge geleistet habe“. Zwar habe man zu den Sparkassen „endloses und gewiss auch interessantes Material“ zusammengetragen, „ein anderes hochwichtiges staatliches Creditinstitut“ aber, die Seehandlung, ebenso wie verschiedene weitere Beispiele „mit keinem Wort“ gewürdigt. In rechtsvergleichender Hinsicht habe man lediglich auf England, Schottland und die Vereinigten Staaten gesehen, Vorbilder auf dem Kontinent aber außer Acht gelassen. Infolgedessen sei es „[k]ein Wunder, wenn […] die Regierung die ganze Arbeit nicht hoch [angeschlagen…] und das ganze Material vielleicht nicht einmal als ein ‚schätzbares‘“ angesehen habe.333 Trotz dieses vernichtenden zeitgenössischen Urteils sollte man die Bedeutung der Angelegenheit für die Entwicklung des Enquête- und Untersuchungsrechts nicht unterschätzen. Insbesondere verdient der Einsetzungsantrag Beachtung, verband er doch erstmalig in der preußisch-deutschen Parlamentsgeschichte das­ Gesetzesinitiativrecht mit dem Enquête- und Untersuchungsrecht, um die par­ lamen­tarische Selbstinformation gegen den Widerspruch der Regierungsseite zu

331

VerhPr2K II/3 (1851/52), S. 1326 ff., 1328 f. Zum Stand in den 1860er Jahren s. L. v. Rönne, PrStaatsR II/22 1865, S. 381 f. und insbesondere S. 382 in Anm. 3. 333 H. v. Poschinger, Bankwesen II, 1879, S. 152 und passim zur weiteren Entwicklung. 332

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rechtfertigen. Zugleich verdeutlichte die Konstruktion die dienende Funktion dieses formellen Rechts, dessen primärer Sinn und Zweck es ist, die Volksvertretung mit den zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen zu versorgen. Geradezu enttäuschend fielen demgegenüber die Arbeitsmethoden aus, die das Prädikat einer parlamentarischen Enquête nicht verdienen. War die erste Kommission für das Unterlassen eigenständiger Erhebungen noch durch das nahende Sessionsende entschuldigt, wählte ihre Nachfolgerin die Selbstbeschränkung aus freien Stücken. Möglicherweise erschienen den Abgeordneten aufwendige eigene Ermittlungen angesichts des vorhandenen Materials als unnötig. Wenigstens beanspruchte die Kammer mit dem Hinweis, dass „viele nützliche Dinge […] nur langsam und unter stürmischen Debatten reifen“ könnten (Friedrich Harkort), die Stellung als „Forum der Nation“. Zu diesen offensichtlichen Punkten kommt noch ein sublimer Aspekt hinzu. Bei genauerer Betrachtung gibt die Abstinenz von eigenen Erhebungen den Blick auf die unterschwelligen Zielsetzungen der Kammer frei. In der Sache stand der Liquiditätsmangel anscheinend nicht in Frage; das vorhandene Material scheint ausgereicht zu haben. Die Aufklärung eines unsicheren Sachverhalts war damit offenbar kein primäres Anliegen. Das legt die Vermutung nahe, dass es der Kammermehrheit in erster Linie um eine Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik ging. Sowohl die Einsetzung der Enquêtekommission gegen den beleidigten Widerspruch des Ministeriums als auch der gegen den Widerstand des Regierungskommissars beschlossene Kommissionsvorschlag, die Normativbestimmungen zu modifizieren und zum Gesetz zu erheben, verdeutlichen, dass die Kammer zum Konflikt mit der Regierung bereit war. Hinzu kommt die drastische Regierungsschelte, die der preußischen Politik ein Stück der Verantwortung für die soziale Katastrophe der Spinner und Weber anlastete. Ähnlichkeiten mit den analogen Vorgängen in der Ersten Kammer, in der Friedrich Diergardt 1849 als Wortführer der Regierungskritik auftrat,334 sind unverkennbar. Beide Male warfen die Abgeordneten dem Ministerium vor, dass es den drohenden Missstand durch Enquêten nach britischem Muster hätte rechtzeitig erkennen und letztendlich verhindern können. Eine weitere politische Dimension der Angelegenheit wird dadurch deutlich, dass das von der Regierung behinderte, von der Kommission aber David­ befürwortete Projekt der Berliner Kreditgesellschaft ausgerechnet von ­ Hansemann ausging. Im September 1848 hatte der Altliberale den Ministerstuhl mit dem Chefsessel der Preußischen Bank vertauscht; den Konservativen ein Dorn im Fleische wurde er im April 1851 wieder abgesetzt. Angesichts der Vorgeschichte ist seine Vermutung, dass die Regierung die Kreditgesellschaft aus persönlichen Ressentiments abgelehnt, ja befürchtet habe, dass er auf diesem Wege zu „Einfluß und ­Popularität in Berlin“ hätte kommen können, durchaus plausibel.335 Die Kommission ergriff mit ihrem Votum auch in dieser Sache Partei. 334

s. 5. Teil 3. Kap. A. II. 1. a) bb). Vgl. A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 663 ff.

335

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Alles in allem trägt die Angelegenheit die These, dass das Selbstinformationsrecht, selbst wenn es vordergründig um die Aufarbeitung eines Sachverhalts zur Vorbereitung parlamentarischer Entscheidungen geht, immer einen genuin politischen Charakter hat und sich keinesfalls in einer sachbezogenen Tatsachenermittlung im Interesse „objektiver Wahrheit“ erschöpft. 2. Die Entstehung des Pressgesetzes (1851) Zu Sachverständigenanhörungen, die in den Dunstkreis des Enquête- und Untersuchungsrechts gehören,336 sollte es wegen des umstrittenen Pressgesetzes kommen. a) Vorgeschichte: Revolution, Pressefreiheit und Reaktion Die Märzrevolution hatte der Hohenzollernmonarchie vorerst Pressefreiheit beschert. Selbst in der Oktroyierung wagte es die Regierung nicht, dieses liberale Zugeständnis rückgängig zu machen, sondern sicherte das neue Grundrecht in Art. 24 PrVerf 1848 dadurch ab, dass es „unter keinen Umständen und in keiner Weise […] beschränkt, suspendirt oder aufgehoben werden“ durfte. Eine Wende kündigte sich schon im folgenden Sommer an. Nachdem eine Notverordnung vom 30.  Juni 1849337 das Pressewesen neugeordnet und insbesondere die strafrechtliche Verantwortlichkeit geregelt hatte, wurde das zarte liberale Pflänzlein in der Verfassungsrevision brutal zurückgeschnitten. Obwohl Art. 27 Abs. 1 PrVerf 1850 jedem Preußen pro forma das Recht versprach, „durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern“ und auch die Zensur verboten blieb, desavouierte ein einfacher Gesetzesvorbehalt die vermeintliche Garantie.338 Ein weiterer Schlag folgte auf den Attentatsversuch des ehemaligen Soldaten Maximilian Joseph Sefeloge vom Mai 1850. Obgleich rasch feststand, dass es sich nur um die Tat eines einzelnen Geisteskranken handeln konnte, ergriff die

336

Zur Einordnung als eine denkbare Enquêteform vgl. U. Karpen, AÖR 125 (2000), 302 (305). 337 s. die Verordnung, betreffend die Vervielfältigung und Verbreitung von Schriften und verschiedene durch Wort, Schrift, Druck, Zeichen, bildliche oder andere Darstellung begangene strafbare Handlungen (PrGS. S. 226). Zwar gestattete es Art. 105 PrVerf 1848, „[w]enn die Kammern nicht versammelt [waren, …] in dringenden Fällen, unter Verantwortlichkeit des gesammten Staatsministeriums, Verordnungen mit Gesetzeskraft [zu] erlassen“. Solche Notverordnungen waren „den Kammern bei ihrem nächsten Zusammentritt zur Genehmigung sofort vorzulegen“. Gleichwohl kam es nicht mehr zu einer Debatte oder Genehmigung der Notverordnung, weil mit dem Ende der Wahlperiode der Ersten Kammer auch die der Zweiten erlosch. s. dazu sowie zu Erlass und Inhalt der Verordnung L. v. Rönne, PrPressG, 1851, S. 9 f. 338 Zur Entwicklung der Pressefreiheit in der Märzrevolution s. L. v. Rönne, PrPressG, 1851, S. 7 ff. und den Kommissionsbericht, VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 401 f.

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Regierung die günstige Gelegenheit, um gegen die Linke und ihr Zeitungswesen vorzugehen:339 Unter dem Deckmantel, dass „die unheilvollen Zustände, w ­ elche die Ordnung und Ruhe im Lande mit wachsenden Gefahren bedroh[t]en, zum großen Theile dem Mißbrauch der Presse, so wie der Unzulänglichkeit der gegenwärtigen Preßgesetzgebung zuzuschreiben“ wären,340 ermächtigte eine Notverordnung vom 5. Juni 1850341 den Innenminister zum Verbot auswärtiger Druckschriften, gestattete der Postverwaltung, Zeitungs- und Zeitschriftenbestellungen abzulehnen, und erstreckte die gewerberechtliche Konzessionspflicht auf das Druckerei-, Zeitungs- und Buchhandelswesen. Am schwersten traf die liberale Presse die horrende Kaution für Periodika von bis zu 5.000 Reichstalern, deren (teilweiser) Verfall bei wiederholten Pressvergehen angeordnet werden konnte, ab der dritten Verfehlung aber verfügt werden musste.342 Der Erfolg dieser Maßnahmen blieb nicht aus. Allein beinahe 150 linke und liberale Zeitungen verloren mit dem Postdebit jeden Einfluss auf die öffentliche Meinung.343 Von einer Einberufung der Kammern, um diese Einschnitte im Gesetzgebungsweg zu legitimieren, sah man ab. Der General der Infanterie Leopold v. Gerlach schrieb an Innenminister Otto v. Manteuffel, wie „wichtig [es wäre], das Land und [das…] Staatsrecht daran zu gewöhnen, daß die Regierung Verordnungen [gebe…] und [ausführe…] und daß die Kammern sie nachher sanktionir[t]en“. Diese eklatante Verkürzung 339

Zu entsprechenden Überlegungen des Prinzen v. Preußen und innerhalb der Regierung s. H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 222. Einen derartigen Verdacht äußerten z. B. A. Streckfuß, 500 Jahre, 1900, S. 724 f. oder verschiedene Abgeordnete in der Kommission der Zweiten Kammer. Schon die Deutsche Zeitung, No. 145, vom 25. Mai 1850, S. 986 ff.­ berichtete über Spekulationen zu einer Geisteskrankheit des Täters. 340 Zu Entstehung und Begründung der Verordnung vom 5. Juni 1850 s. L. v. Rönne, PrPressG, 1851, S. 12 ff. und Schwarck, PrPressG, 1862, S. 10 ff. je mit amtlichen Motiven. 341 Verordnung zur Ergänzung der Verordnung über die Presse vom 30.  Juni 1849 (PrGS. S. 329). 342 Dementsprechend bewertete die Kommission der Ersten Kammer die „Wiedereinführung  der Cautionen“ als einen Schritt, „gegen welche[n…] die Vorschriften über die Annahme und Ausführung von Bestellungen auf Zeitungen und Zeitschriften (§ 1), über den Gewerbebetrieb des Buchhandels (§ 2) und über die Verbreitung von Druckschriften jeder Art, welche außerhalb des preußischen Staates erscheinen (§ 3), von verhältnismäßig geringerer Bedeutung“ seien (VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 402). – Die Kaution musste vor Herausgabe von Zeitungen und Zeitschriften bar hinterlegt werden. Sie sollte „vorzugsweise vor allen andern Forderungen, für die Geldstrafen und Untersuchungskosten, ohne Rücksicht auf die Person des Verurtheilten“ haften, wenn eine Strafe wegen des Inhalts einer kautionspflichtigen Druckschrift verhängt wurde. Im Wiederholungsfall „hat[te] der Richter mit Rücksicht auf die Schwere des begangenen Verbrechens oder Vergehens, neben der dafür zu erkennenden Strafe, die Kaution ganz oder mindestens zum zehnten Theil für verfallen zu erklären“. Im dritten Fall war die Kaution verfallen; „außerdem [konnte] das fernere Erscheinen der Zeitung oder Zeitschrift untersagt werden“. Die Bestellung einer neuen bzw. Ergänzung der Kaution musste innerhalb von drei Tagen erfolgen. Allg. dazu P. Collin, Staatsanwaltschaft, 2000, S. 141 f. sowie zum Zusammenhang mit dem Attentat aus zeitgenössischer Sicht A. Geisler, Geschichte, 1854, S. 486 und L. v. Rönne, PrPressG, 1851, S. 20 f. mit Nachw. aus den Kammerverhandlungen. 343 G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 198 f.

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der verfassungsmäßigen Mitwirkungsrechte des Landtags pries der Generaladju­ tant Friedrich Wilhelms  IV. als dasjenige „Regiment, wohin der Konstitutiona­ lismus gebracht werden [müsse…], wenn er nicht entweder zur Vernichtung der Monarchie oder zum Absolutismus führen soll[e]“.344 Solchen Überlegungen zum Trotz entschied sich die Regierung gegen eine vollständige Neuordnung des Presse­wesens im Notverordnungsweg und beschränkte sich auf das „augenblicklich Nothwendige“. Die abschließende Regelung behielt man im konstitutionellen Sinne der regulären Gesetzgebung vor.345 b) Die Beratungen des Pressgesetzes Obgleich beide Notverordnungen den Kammern wegen Art.  63 PrVerf  1850 „bei ihrem nächsten Zusammentritt zur Genehmigung sofort vorzulegen“ gewesen wären, brachte die Regierung den Pressgesetzentwurf nebst Genehmigungsanträgen für die oktroyierten Verordnungen Anfang 1851 bloß in die Erste Kammer ein.346 aa) Erste Kammer Diese Vorlagen wurden in einer Kommission vorberaten, deren Bericht am 20. Februar 1851 ins Plenum kam.347 Obwohl die konservative348 Kommissionsmehrheit den Gesetzentwurf mit verschiedenen Änderungen grundsätzlich zur Annahme empfohlen hatte, weil „alle das Preßgebiet berührenden gesetzlichen Vorschriften in einem umfassenden Gesetze kodifizirt und in dasselbe die Verbesserungen zu Gunsten der Presse aufgenommen [worden wären…], deren die Staats-Regierung die vorläufig erlassenen Verordnungen für bedürftig“ erachtet habe,349 beschloss die Erste Kammer Ende Februar 1851, die besonders umstrittenen Paragraphen über die Verantwortlichkeit der Redakteure, Drucker, Verleger, Buchhändler, Kommissionäre, Antiquare etc. sowie den Abschnitt über die Strafen einschließlich zahlreicher, teils der Regierungsvorlage konträrer Verbes-

344

H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 222. Auszugsweiser Abdruck der Vorlage des Staatsministeriums vom 4.  Juni 1850 bei H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 223 f. 346 Zum Ganzen L. v. Rönne, PrPressG, 1851, S. 16 sowie die Ankündigung in dem Immediatbericht des Ministeriums an den König vom 4. Juni 1850 S. 15 in der Anm.: „In jedem Falle unterliegt auch diese Verordnung, für deren Erlaß wir die volle Verantwortlichkeit übernehmen, der nachträglichen Genehmigung der Kammern.“ 347 VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 400. 348 Laut Schwarck, PrPressG, 1862, S. 15 gehörte nur der Abgeordnete Herrmann der Linken, „die übrigen sieben Mitglieder […] der Rechten bez. äußersten Rechten an“. 349 VerhPr1K II/1 (1850/51), S.  402. s.  zu den Änderungen S.  423 ff. die Synopse sowie L. v. Rönne, PrPressG, 1851, S. 17. 345

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

serungsvorschläge an die Kommission zurückzuverweisen.350 Regierungskom­ missar ­Jacob Scherer erklärte sich damit einverstanden, obwohl er das System des Entwurfs zuvor gemeinsam mit Justizminister Simons verteidigt hatte.351 Auf Adolph Lettes einige Tage früher angestimmte Klage, dass, wenn das parlamentarische Leben Preußens schon 1815 angefangen hätte, die Beratungen eines „Gesetzentwurfs von so tiefgreifender Wichtigkeit“ kaum aufgenommen worden wären, ohne zuvor „Sachverständige, Buchhändler und Buchdrucker“ über die „verschiedenen Bestimmungen und ihren Einfluß auf Wissenschaft und Gewerbe“ anzuhören,352 erwiderte der Geheime Regierungsrat im Ministerium des Innern, dass einerseits die Betroffenen über jeden Eingriff lamentierten und die Regierung andererseits ihre Interessen mit dem „Vorbehalte des höheren Standpunktes“ einer „ernsten und sorgfältigen Prüfung unterzogen“ habe.353 Kommissionsberichterstatter Ludwig v. Jordan verteidigte den Kommissionsantrag gegen Angriffe von beiden Seiten des Hauses. Von diesem verlorenen Posten aus verlangte der Finanzrat schließlich nur noch, es der Kommission zu überlassen, „[i]nwieweit […] Sachverständige und namentlich auch Redacteure bei der weiteren Berathung zuzuziehen“ seien. Letztlich entschied sich die Kammer „mit großer Majorität“ dafür, die strittigen Entwurfsteile „mit den dazu eingegangenen Verbesserungs-Anträgen zur anderweitigen Prüfung und Bericht-Erstattung an die Kommission für das Preßgesetz zurückzuweisen“.354 Die Sachverständigenfrage kam durch ein Amendement Ludwig v. Rönnes noch einmal zur Sprache. Der Jurist und staatsrechtliche Schriftsteller forderte, die Kommission ausdrücklich damit „zu beauftragen, die betreffenden Amendementssteller zuzuziehen, auch noch Sachverständige mit ihrem Gutachten zu hören“. Auf den Hinweis des Kammerpräsidenten Graf v. Rittberg, dass „[d]as […] ohne­dies in den Befugnissen der Kommission“ liege (!) – ein direkter Hinweis auf Art. 82 PrVerf  1850 oder eine andere Grundlage blieb aus  –, erwiderte der Kammergerichtsrat v. Rönne, dass er eine ausdrückliche Verpflichtung wünsche und „ins-

350 Etwa klagte Heinrich Philipp v. Sybel (Fraktion v. Vincke), dass mit dem „Verantwortlich­ keits-System“ dem „preußischen Buchhandel ohne Zweifel der Todesstoß“ gegeben werde. Der Vater des bekannten Historikers attestierte der Regierung, dass sie, wenn sie „absichtlich die Stimmung [habe] verderben und [ihr Ansehen…] in der öffentlichen Meinung herabsetzen wollen, […] diesen Zweck nicht besser [habe…] erreichen können“ (VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 586). Selbst der konservative Staatsrechtler F. J. Stahl sparte nicht mit Kritik und betonte, „daß die Berichterstattung der Kommission noch keinesweges ausreichend“ sei (S.  587). Schon früher waren Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit und Durchführbarkeit zahlreicher Bestimmungen aufgekommen (S. 407 ff.). s. auch den Beschluss der Kammer (VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 596, 597) und dazu L. v. Rönne, PrPressG, 1851, S. 17 f. 351 VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 588 f., 592 f. 352 VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 506. 353 VerhPr1K II/1 (1850/51), S.  589. Zum Beleg verwies der Geheime Regierungsrat ausgerechnet auf das Kautionssystem, das die Kammer erst vor wenigen Tagen gebilligt habe. 354 VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 593 f., 596, 597.

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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besondere“ an der „Zuziehung von Sachverständigen“ interessiert sei.355 Auch der Mitautor an Rönnes Werk zu Verfassung und Verwaltung des preußischen Staats, der Präsident des Revisionskollegiums für Landeskultursachen Adolph Lette, befürwortete, „daß Sachverständige zugezogen [würden…], um sowohl die Bedürfnißfrage wegen der verschiedenen einzelnen Bestimmungen, als den Einfluß derselben auf das überwiegend wichtigste Gewerbe gründlicher zu erwägen. Obgleich die Sache von verschiedenen Stellen bereits erörtert worden“ wäre, sei es doch „sehr wichtig, daß die Zuziehung von Sachverständigen […] der Kommission zur Pflicht gemacht werde, weil diese den Ansichten entgegen [sei…], in Folge deren die nochmalige Verweisung des Gesetz-Entwurfs“ erfolge.356 Schon in früheren Sitzungen hatte der Jurist Lette sein Bedürfnis nach weiteren Informationen durchblicken lassen und erklärt, dass er sich privat bei Betroffenen erkundigt habe.357 Gegen eine Zuziehung von Sachverständigen sprach sich der ministerielle Abgeordnete Hartmann Erasmus v. Witzleben aus. Der konservative sächsische Oberpräsident, der sich Amt und Würden in der Revolutionszeit verdient hatte, monierte, dass über einen solchen Schritt „eine lange Zeit hingehen“ werde. Auch wäre es der „Gerechtigkeit“ zuwider, „blos einige Sachverständige hier aus Berlin herauszugreifen“. Für das „ganze Verfahren“, das gewissermaßen als „Enquête“ (!) erscheine und der erste Fall wäre, „daß man Leute […] vor die Barre einer Kommission [vorlade], um Auskunft zu ertheilen“, hielt er das Pressgesetz nicht für einen geeigneten Anlass. Um zu verhindern, dass „aus einer solchen unbeantworteten Aeußerung die Regel entnommen werde, daß eine Kommission nicht das Recht habe, Sachverständige zuzuziehen“, meldete sich der Oberstleutnant a. D. Karl v. Vincke zu Wort. Der Vetter des liberalen Parteiführers bestand darauf, dass alle Kommissionen „das Recht, ja die Pflicht [hätten], Sachverständige, wo sie es für nöthig [hielten…], zur gründlichen Aufklärung und Belehrung zuzuziehen nach dem Muster der Versammlungen anderer […] Staaten“. Ohne Normzitat und in dieser Allgemeinheit deutete der Einwand auf das natürliche Enquêterecht hin, das sich die Vereinbarungsversammlung ohne gesetzliche Grundlage allein ihrer ­ ermann parlamentarischen Stellung wegen angeeignet hatte. – Der Abgeordnete H sekundierte diesen Thesen in der Hoffnung, „daß die Zuziehung […] sehr oft geschehe[n]“ möge, weil die „Erfahrung“ lehre, „daß viele Bestimmungen des Gesetzes und die eigentlichen Wirkungen desselben nur durch Sachverständige erläutert werden könn[t]en“. Außerdem berichtete der Liberale, dass „deshalb auch schon in der Kommission der Antrag, Sachverständige zuzuziehen, gestellt“ worden sei. 355

Über eine Verpflichtung der Kommission zur Beteiligung der Antragsteller kam es zum Streit. Ludwig v. Jordan und Graf Itzenplitz qualifizierten eine solche Abweichung von der Geschäftsordnung als unzulässig. Dagegen verteidigte der Erste Präsident des Appellationsgerichts zu Königsberg Christian Friedrich Gotthilf v. Zander das „Recht der hohen Kammer, ihr Geschäfts-Reglement jeden Augenblick ab[zu]ändern[, …] wenn es die einstimmige Meinung des hohen Hauses“ sei (VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 597). 356 VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 598. 357 So hatte sich Adolph Lette „bei Buchdruckern und Buchhändlern erkundigt“ (VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 484, 506 f.).

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Auf den Einwand, dass „man […] gegen Sachverständige immer etwas mißtrauisch sein [müsse], wenn sie etwas vorbrächten, was ihnen nachtheilig sei“, erwiderte er, dass es „auch noch Sachverständige [gebe, …] die unparteiisch ur­theilen“ könnten.358 Auch der Berliner Rechtsanwalt Karl Friedrich Heinrich Straß hielt eine „Zuziehung von Sachverständigen [für] durchaus nothwendig“, weil der Gesetzentwurf „sehr viele unpraktische Bestimmungen“ enthalte.359 Ganz auf dieser Linie hatte der unter dem Pseudonym Otto v. Deppen als Schriftsteller bekannte Liberale in einem im Mai oder Juni 1848 publizierten Verfassungsentwurf für die künftigen Kammern das Recht gefordert, „zur Prüfung einzelner Vorschläge, Gesetze und dergleichen bestimmte Deputationen aus ihrer Mitte [zu] ernennen, welche auch befugt [sein sollten…], Gutachten von Sachverständigen einzuholen“.360 Schließlich widersprach David Hansemann der These Witzlebens, dass „in der Zuziehung von Sachverständigen etwas Aehnliches wie eine Enquête vorhanden“ wäre; es sei schlicht „viel vernünftiger“, „[w]enn die Kammer sich Sachverständige kommen [lasse…] und von diesen [höre…], auf welche Weise sich thatsächlich die Verhältnisse am besten ordnen könn[t]en, […] als wenn man Gesetze [mache…], die für thatsächliche Verhältnisse nicht pass[t]en“. Diese Nachteile wögen schwerer als ein „Zeitverlust von 1 oder 2 Stunden“.361 Letztendlich kam es in der Sachverständigenfrage nicht zum Schwur: Als der Kommissionsvorsitzende ­Theodor Brüggemann versicherte, dass er die „Wünsche […] auf Zuziehung der Amendementssteller oder von Sachverständigen“ in der Kommission „Erörterung und Abstimmung […] unterwerfen“ wolle, zog Ludwig v. Rönne sein Amendement „im Vertrauen auf die […] Zusicherung“ zurück.362 Am 15. März 1851 erklärte Ludwig v. Jordan in seinem „Bericht der Kommis­ sion für die Preßgesetzgebung“, dass man „in analoger Anwendung des §. 28 [GOPr1K 1849363…] ohne Präjudiz für künftige Fälle und lediglich aus Zweckmäßig­ keits-Gründen die Amendementssteller“ habe zu Wort kommen lassen. Unter dem Blickwinkel eines Enquêterechts interessanter war die Mitteilung, dass die Kommission „desgleichen zu ihrer näheren Information über die in Betracht kommenden technischen und gewerblichen Fragen Sachverständige aus den Kategorien der Verleger, Drucker, Sortiments-Buchhändler und Redacteure“ hinzugezogen habe.364 Mit diesem Schritt habe sich die Kommission „[m]it Ernst und Sorgfalt […] der Erfüllung des von beiden Seiten [des Hauses] geäußerten Wunsches unterzogen und Sachverständige aus den verschiedenen Kategorieen von Ge­werbe­treibenden […] 358

VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 598. VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 599. 360 K. F. H. Straß, Preußen, 1848, S. 31. Die „Nachschrift“ S. 45 ist auf den 20. Mai 1848 datiert. 361 VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 599. 362 VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 598. 363 „§. 28. Dem Antragsteller ist es gestattet, seinen Antrag in dem Central-Ausschusse oder der Kommission näher zu begründen. Lautet der erstattete Bericht des Central-Ausschusses oder der Kommission auf Verwerfung des Antrages oder Uebergang zur einfachen Tagesordnung, so findet eine Be­ra­thung in der Kammer nur statt, wenn 25 Mitglieder sich dafür erklären.“ 364 VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 669 (Hervorhebungen nur hier). 359

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gehört“. „Ausdrücklich und gern“ erkannte Ludwig v. J­ ordan an, „daß die Mittheilungen […] nicht nur lehrreich […], sondern auch insofern von wesentlichem Einflusse auf die neuen Vorschläge gewesen [seien…], als die ruhige Darlegung der aus […] der Gesetz-Vorlage möglicherweise entspringenden Härten die Kommission in dem Vorsatze möglichster Beseitigung solcher Härten bestärkt“ habe.365 Auf der Grundlage dieses Berichts wurde der Entwurf zwischen dem 15. und 19.  März 1851 erneut beraten und am 22.  beschlossen.366 Obwohl die Kammer Notwendigkeit und Dringlichkeit beider Notverordnungen  – mit anderen Worten also: deren Verfassungsmäßigkeit – grundsätzlich anerkannte (Art. 63 PrVerf 1850), behielt sie sich die Genehmigung doch bis zur endgültigen Entscheidung über das Pressgesetz vor.367 bb) Zweite Kammer Diesen Beschluss übermittelte Präsident Ludwig v. Rittberg der Zweiten Kammer. Deren Präsident Maximilian v. Schwerin riet am 24. März 1851 dazu, „zur Beratung […] eine besondere Kommission [zu] ernennen“. Nach kurzem Disput, ob man die Beratung besser aussetze, bis der Kammer die Pressverordnungen formell vorgelegt würden, kam die Mehrheit diesem Vorschlag entsprechend überein, eine besondere Kommission zur Vorberatung des Entwurfs und des Urteils über die Notverordnungen in den Abteilungen wählen zu lassen.368 Die Arbeit dieser Kommission liefert ein Beispiel dafür, dass auch in der Ära Manteuffel ein ­alles andere als fundamentaloppositionelles Gremium keineswegs kritiklos mit dem Staatsministerium kooperieren musste. Der „Preßgesetz-Kommission“ gehörten u. a. der liberale Oppositionsführer Georg v. Vincke, sein konservativer Vetter, der frühere Minister Ernst v. Bodelschwingh, sowie der liberale Unternehmer Friedrich Harkort an. Die gemäßigte linke Seite des Hauses war noch durch den Hallenser Hauptschulrektor Friedrich August Eckstein, die Theologen Jan Karol Antoni Klingenberg und Theodor Reck sowie den Rittergutsbesitzer August Karl Friedrich Pieschel vertreten. Aus dem politischen Zentrum hatte man den Kölner Appellationsgerichtsassessor J­oseph Ignaz Bürgers, den Mediziner Heinrich Joseph Claessen, Rechtsanwalt Dürre sowie den Berliner Mathematikprofessor Martin Ohm, einen Bruder des Physikers, in die Kommission gewählt. Von der Rechten gehörten ihr der führende Konservative und Mitbegründer der Kreuzzeitung Hans Hugo v. Kleist-Retzow, die Land 365 VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 672. In der Beratung nahmen noch verschiedene Redner auf diese Stellungnahmen Bezug. s.  z. B. einerseits Ludwig v. Jordan und andererseits Ludwig v. Gerlach (S. 681 f., 689). 366 s. VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 777 ff., 782 mit Abdruck des gesamten Entwurfs. 367 s. VerhPr1K II/1 (1850/51), S. 765, die vorstehende Debatte sowie die Unterrichtung der Zweiten Kammer, VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 666. 368 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 666 f.

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räte Jérôme Napoleon v. Schlotheim, Christoph v. Poninski sowie der Oberregierungsrat Heinrich Osterrath, der Oberlandesgerichtspräsident August Wentzel, der Königsberger Stadtgerichtsdirektor Rudolf Hermann Friedrich Reuter, der Kreisgerichtsdirektor Breithaupt und der Geheime Archivrat und Berliner Professor Adolf Friedrich Johann Riedel an, der 1848 Mitglied der Schweidnitzer Untersuchungskommission gewesen war.369 Gleich zum Auftakt ihrer Tätigkeit verlangte die Kommission die „Mittheilung der thatsächlichen Umstände  […], aus denen die Regierung bei Erlaß der Ver­ ordnung vom 5. Juni 1850 die Ueberzeugung gewonnen [habe], daß die Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit“ diesen Schritt gebiete. Man forderte Auskunft über die Wirkungen des oktroyierten Presseregimes, etwa „wie viele und welche Zeitungen und Zeitschriften […] cautionspflichtig geworden“ seien oder den „Post-Debit verloren“ hätten und „muthmaßlich“ deswegen eingegangen seien. Zu guter Letzt sollte sich die Regierung äußern, „wie hoch sich die Anzahl der Ge­ werbetreibenden belaufe, denen in Folge der Verordnung […] die Befugniß zum Gewerbebetrieb entzogen worden“ sei. Legitimiert wurde dieser offensichtliche parlamentarische Kontrollversuch damit, dass man für die Gesetzesberatungen Gewissheit über diese Fakten brauche. Das Ministerium lenkte ein und erklärte sich bereit, wenigstens „die ad 2 und 3 gedachte Auskunft, so weit der Regierung die betreffenden Nachweise vorlägen, mitzutheilen“. Dieses Zugeständnis garnierte man noch mit dem Vorbehalt, dass die „Vorlagen als vertrauliche anzusehen sein“ sollten. Trotz des partiellen Entgegenkommens hielt eine Kommissionsmehrheit von elf zu acht Stimmen auch an den abgelehnten Auskunftsforderungen über die Oktroyierungsgründe fest.370 In der Frage des ministeriellen Geheimhaltungsverlangens zeigten sich die Abgeordneten konzilianter; der Kommissionsbericht nahm auf die überlassenen Unterlagen, bei denen es sich zumeist um Regierungsakten, etwa Aufstellungen publizierter bzw. verbotener Druckschriften, ein Verzeichnis von Beschwerden gegen Konzes­sionsverweigerungen sowie staatsanwaltschaftliche Berichte über vermeintlich gefährliche Publikationen handelte, die nach der Juniverordnung von 1849 nicht geahndet werden konnten, bloß, „so weit es statthaft“ war, für die „thatsächliche[n] Verhältnisse Bezug“.371 Neben diesem Auskunftsersuchen, das durch seinen Kontrollcharakter nicht ohne politische Delikatesse war, behielt sich die Kommission ausdrücklich vor, ggf. auf die „Vernehmung von Sachverständigen aus dem Bereiche der Journalisten und bei der Presse betheiligten Gewerbetreibenden […] zurückzukommen“. Konsequenterweise kam der für einen derartigen Schritt prädestinierte Art. 82 PrVerf 1850 nicht zur Sprache, nachdem diese Vorschrift bei der Einsetzung keine Rolle gespielt hatte. Letztendlich setzte die Kommission ihre Drohung nicht in die Tat um. 369

VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 691 f. VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 155, S. 1133. 371 VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 155, S. 1134. 370

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Die politische Dimension der Angelegenheit deutete sich in verkappten Vorwürfen an, die Regierung habe das missglückte Attentat eines offenkundig verwirrten Einzeltäters dazu missbraucht, die zweite Notverordnung zu rechtfertigen. Die provokante Forderung, die „Staats-Regierung um Auskunft zu ersuchen, ob die gegen Sefeloge geführte Untersuchung Beweismittel ergeben [habe], um [mit seinem…] Attentat einen Zusammenhang mit politischen Umtrieben anzunehmen oder dasselbe als die isolirte That eines mehr oder weniger Gestörten zu betrachten“, ließ sich kaum anders deuten. Dass der provokante Vorstoß mit zehn gegen elf Stimmen nur knapp scheiterte, zeigt, wie zerrissen die Kommission in diesen Fragen war.372 Das politisch delikate Problem, ob der Notverordnungserlass verfassungsrechtlich gerechtfertigt war – verschiedene Abgeordnete sahen den preußischen Konstitutionalismus wegen des Vorfalls bereits am Scheideweg –, ging die Kommission weit weniger friedvoll an: Zwar ließ man die Verordnung von 1849 mit sieben zu fünf Stimmen passieren, weil sie verschiedene „Lücken“ in der Gesetzgebung geschlossen und nach Art. 105 PrVerf 1848 ein dringlicher Fall bereits ausgereicht habe.373 Für die zweite Notverordnung schwenkte die Kommission dagegen mit der Feststellung auf Konfrontationskurs ein, dass insoweit Art. 63 PrVerf 1850 Anwendung finde, der über die alte Rechtslage hinaus verlange, dass „die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder die Beseitigung eines ungewöhnlichen Nothstandes den Erlaß […] dringend“ gebiete. Für diese Anforderungen genüge es keineswegs, wenn lediglich ein „Theil der Presse ‚die Gottesfurcht, den Patriotismus, die Achtung vor dem Königthum, vor den Personen der Fürsten und vor der Regierung zu untergraben‘ bemüht“ sei; vielmehr müsse die Regierung „nichts Geringeres als [den…] Beweis […] erbringen, daß […] ein gewaltsamer Umsturz der gesetzlichen Ordnung zu besorgen“ sei.374 Zu Recht hielt die Kommission mit zehn gegen zwei Stimmen das Scheitern verschiedener Regierungsvorlagen in den Kammern für keinen ausreichenden Grund und fällte das vernichtende Verdikt einer „offenbar[en]“ Verfassungswidrigkeit, weil das legislative Mitwirkungsrecht des Landtags das „letzte Fundament der Verfassung“ sei.375 Die Abgeordneten mühten sich also offenkundig nach Kräften, die Anforderungen an die Zulässigkeit gesetzesvertretender Notverordnungen hoch zu hängen, um ihre Mitsprache zu sichern. Um nicht durch die Kassation der verfassungswidrigen Verordnung einen unhaltbaren Rechtszustand zu schaffen, regte die Kommission gleichwohl an, „bis zur schließlichen Entscheidung über den vorliegenden Gesetz-Entwurf […] die Erklärung über die verfassungsmäßige Genehmigung der Verordnungen […], unbeschadet der vorläufigen Wirksamkeit derselben, vorzubehalten“.376 Vorgehen und Überlegungen ähneln ein Stück weit der „bloßen“ Unvereinbarkeitserklärung durch das BVerfG.377 372

VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 155, S. 1133 f. (Hervorhebung nur hier). VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 155, S. 1154 f. 374 VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 155, S. 1155. 375 Lediglich zwei der 12 Kommissionsmitglieder wollten diese Vorgänge anerkennen (Verh­ Pr2K II/2 (1850/51), Nr. 155, S. 1156). 376 VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 155, S. 1156. 377 s. nur W. Löwer, in: HdbStR III3 2005, § 70 Rn. 120 ff. 373

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Das Plenum der Zweiten Kammer nahm die Beratungen über den Gesetz­entwurf und die Notverordnungen Anfang Mai 1851 in Gegenwart der Minister Otto v. Manteuffel, August v. der Heydt, Ludwig Simons, August Wilhelm Ernst v. Stockhausen, Ferdinand v. Westphalen sowie des Regierungskommissars und Geheimen Regierungsrats Jacob Scherer auf.378 In der allgemeinen Aussprache fielen bloß zwei kritische Stimmen auf: Während der Abgeordnete Winzler gegen den Pressgesetz­ entwurf polemisierte, ging Konrad Graf v. Dyhrn mit der antiparla­mentarischen Notverordnungspraxis ins Gericht. Der Linksliberale prophezeite dem Gouvernement, „was die innere Gesetzgebung [betreffe…], ein unentfliehbares Schicksal“. Wie die „rettende That […] an der Wiege“ des Ministeriums gestanden habe – gemeint waren Auflösung und Oktroyierung Ende 1848 –, gehe „diese Oktroyirung, diese rettende That durch sein ganzes Leben, und das Ministerium [müsse…] sich durch rettende Thaten vor seinen eigenen rettenden Thaten retten“.379 Nach zwei weiteren Beratungstagen wurde der Gesetzentwurf schließlich beschlossen.380 In der politisch brisanten Frage der Notverordnungen schloss sich das Plenum dem Kommissionsvotum an, ließ die Verordnung von 1849 passieren, verweigerte seine Gunst aber dem zweiten Oktroi knapp mit 126 zu 120 Stimmen.381 Die Sache hatte noch ein Nachspiel, als sich wenig später 50 Abgeordnete gegen die Annahme des Pressgesetzentwurfs verwahrten. Unter diesen Protestanten befanden sich der linke Lübbenauer Kaufmann Winzler und Graf Dyhrn, aber auch Altliberale wie Friedrich Harkort, der frühere Ministerpräsident Rudolf v. Auers­ wald, Georg Beseler oder der Berliner Verleger und außerordentliche Hallenser Geschichtsprofessor Max Duncker. Diese bemerkenswerte Koalition führte gegen den Entwurf ins Feld, „daß derselbe sowohl in seiner wichtigsten Bestimmung die ausdrücklichen Vorschriften der Verfassung [verletze…], als auch in mehreren anderen Punkten mit dem Geiste der Verfassungs-Urkunde […] nicht in Einklang [stehe…] und zur willkürlichen Bedrückung der Presse die Mittel“ schaffe.382 c) Bewertung Trotz dieses Widerstandsversuchs wurde das umstrittene Gesetz über die Presse am 12. Mai 1851 nach einem weiteren Durchgang in der Ersten Kammer mit der königlichen Sanktion versehen und schließlich im Gesetzblatt publiziert.383 Für die Geschichte des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts sind verschiedene Aspekte seiner Entstehungsgeschichte von Interesse: In beiden Kammern kam das in Art.  82 PrVerf  1850 berücksichtigte parlamentarische Selbst 378

VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 1207. VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 1208 f. 380 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 1237 ff., 1271 ff. 381 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 1315 f. 382 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 1339. 383 s. L. v. Rönne, PrPressG, 1851, S. 21 ff. sowie die Gesetzespublikation, PrGS. S. 273. 379

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informationsinteresse zur Sprache, obgleich man sich nicht auf diesen „Kampfparagraphen“384 berief. Das Versäumnis des Plenums, die informationsrechtliche Seite des Beschlusses nicht auf diesen Artikel zu stützen, ließ sich in der Kommission nicht wiedergutmachen. Offenkundig war dieser Mangel aber auch kein Hinderungsgrund. Obwohl sich in verschiedenen Anfragen ein deutlicher Kontroll- und Mitspracheanspruch artikulierte, richtete man in der Zweiten Kammer bloß interpellationsartige Ersuchen an die Regierungsseite. Gegenüber einer Kommission, die aufgrund von Art. 82 PrVerf 1850 eingesetzt worden wäre, bedeutete dieses Vorgehen kein Defizit: Soweit sich die Abgeordneten für Kenntnisse, Absichten und Motive der Regierung interessierten, hätten sie auch auf dieser Grundlage nicht anders verfahren können; insbesondere kam keine „Vorladung“ von Regierungsmitgliedern als Zeugen in Betracht, wie sie heutigen Untersuchungsausschüssen zustehen soll.385 Wenigstens behielt man sich – möglicherweise als Drohung bzw. „Druckmittel“ – die Hinzuziehung externer Sachverständiger aus den betroffenen Kreisen vor. Die Kommission der konservativeren Ersten Kammer ging diesen Schritt tatsächlich und knüpfte damit an die Praxis der Revisionskammern, aber auch der revolutionären Vereinbarungsversammlung an. Obwohl Art. 82 PrVerf 1850 schon ausweislich der Revisionsverhandlungen eine Grundlage für derartige Maßnahmen bieten sollte, berief man sich nicht auf diese Vorschrift. David Hansemann widersprach sogar der These des konservativen Oberpräsidenten v. Witzleben, dass es sich bei den geforderten Sachverständigenanhörungen überhaupt um eine Enquête handele. Anscheinend gingen die Abgeordneten von einem ungeschriebenen, gleichsam „natürlichen“ Recht der Kammern aus, wie es der Linke Carl­ d’Ester Anfang Juli 1848 in der Vereinbarungsversammlung propagiert hatte.386 Diese Figur sollte in der wilhelminischen Staatsrechtslehre und einzelnen Reichstagsdebatten wiederkehren. Auch heute ist das Recht der Bundestagsausschüsse, „[z]ur Information über einen Gegenstand [ihrer…] Beratung“ Anhörungssitzungen mit „Sachverständigen, Interessenvertretern und anderen Auskunftspersonen“ durchzuführen, in § 70 GO-BT unabhängig von Art.  44 GG geregelt; trotzdem­ gelten entsprechende Ausschussanhörungen als Unterform der Enquête.387 384

So K. Schraders Äußerung, VerhRT VIII/1 (1890/92) S. 3290. Zum Zitierrecht s. L.-A. Versteyl, in: vMüK4–5 II, 2001, Art.  43 Rn.  8; S.  Magiera, in: Schneider/Zeh (Hg.), ParlamentsR, 1989, § 52 Rn.  4. Anders als Art.  43 Abs.  1 GG sprach Art. 60 Abs. 1 PrVerf 1850 das Zitierrecht allein dem Plenum, nicht aber den Ausschüssen zu. Mindestens missverständlich ist deswegen die Annahme von E. Schwartz, PrVerf 1850, 1896, S. 241, dass jede Kammer die Minister „zu ihrer Vernehmung vorladen“ könne. 386 VerhPrNV I, S.  353: „Wenn wir heute die Ernennung der fraglichen Kommission fest­ setzen, so mischen wir uns nicht in die richterliche Gewalt ein; wir thun nichts Anderes, als jeder Privatmann, welcher irgend einen Entschluß fassen will und sich deshalb zuerst über die Lage der Sache informirt“. 387 U. Karpen, AÖR 125 (2000), 302 (305). 385

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Obwohl in Preußen nicht einmal eine solche Geschäftsordnungsvorschrift existierte, mit der sich die Befugnisse der Kammern oder ihrer Kommissionen ohnehin nicht über den Rechtsrahmen der Verfassungsurkunde hinaus hätten erweitern lassen, blieb das reaktionäre Ministerium passiv. Sein Schweigen lässt sich nur so deuten, dass es den Anspruch der Kammern, selbständig und unmittelbar mit privaten Dritten in Kontakt zu treten, wenigstens einstweilen hinnahm. Auf die Frage, welche Motive für diese Haltung ausschlaggebend waren, gibt die Existenz von Art. 82 PrVerf 1850, also gewissermaßen eine informationsrechtliche Eskalationsdrohung, eine denkbare Antwort. Eine andere Interpretationsmöglichkeit ist, dass das Gouvernement mit Rücksicht auf die negativen Folgen, die ein um dieses Recht vom Zaun gebrochener Machtkampf für das weitere Schicksal des Pressgesetzentwurfs und der Verordnungen haben musste – insoweit war man auf die Kooperation beider Kammern angewiesen –, den relativ harmlosen Sachverständigenanhörungen keine Steine in den Weg legte. Aus ähnlichen Erwägungen wird die Regierung den Auskunftsforderungen in der Zweiten Kammer entgegengekommen sein. Schließlich wurden das kontroverse Gesetzgebungsverfahren und die umstrittenen Oktroyierungen ohnehin argwöhnisch beäugt. Schon die Sachverständigenanhörungen der Ersten Kammer brachten sublim ein gewisses Misstrauen zum Ausdruck, indem man sich nicht auf Auskünfte und Beteuerungen der Regierung verlassen wollte. Deutlicher traten Kritik und Kontrollanspruch paradoxerweise in der enquête- und untersuchungsrechtlich zurückhaltenderen Zweiten Kammer zutage, in deren Nachfragen sich ein bestenfalls notdürftig kaschierter Missbrauchsvorwurf zeigte. Mit der ausdrücklichen Verwerfung des zweiten Oktrois brach die Volksvertretung zudem nicht bloß den Stab der Verfassungswidrigkeit über diese Notverordnung, sondern gleichzeitig über die antiparlamentarisch-reaktionäre Regierungsweise des Staatsministeriums Manteuffel. Die Vorbereitung des Pressgesetzes und der Entscheidung über die beiden Notverordnungen bot beiden Kammern also die Gelegenheit, mit der Pressepolitik bzw. dem Regierungsstil ins Gericht zu gehen. Für das Staatsministerium stand Einiges auf dem Spiel. Nicht zu Unrecht urteilte „Die Gegenwart“ 1854, dass der Pressgesetzentwurf zu den wichtigsten Vorlagen zählte, weil das „Ministerium, je mehr seine Politik mit der herrschenden öffentlichen Meinung in Widerspruch [geraten sei…], desto mehr die freie Discussion in der Tagespresse [habe] fürchten“ müssen.388 3. Bewertung der Enquêtetätigkeit der Kammern Ähnlich wie in den Revisionskammern spielte Art. 82 PrVerf 1850 auch nach der Verfassungsrevision keine überragende Rolle. Immerhin wurde anlässlich der Bankenenquête erstmals der Nexus von Enquête- und Gesetzesinitiativrecht hergestellt. Auch erkannte der Abgeordnete Harkort gewissermaßen die Funktion 388

N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (567).

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des Parlaments als „Forum der Nation“ an, indem er betonte, dass schwierige Gemeinwohlfragen am Besten in kontroversen Debatten reiften. Blieb die parlamentarische Tätigkeit in der Bankenfrage auch enttäuschend, weil es nicht einmal zu Sachverständigenanhörungen kam, behauptete die Kammer doch grundsätzlich ihr Selbstinformationsrecht gegenüber den Mahnungen des Staatsministeriums, das eine parlamentarische Enquête wegen seiner Kooperationswilligkeit als über­ flüssig, ja als ungerechtfertigtes Misstrauensvotum ablehnte. Ein überraschenderes Bild bieten die Beratungen des Pressgesetzes und das Urteil über die oktroyierten Verordnungen von 1849/50: Die Erste Kammer hörte ohne Mitwirkung der Regierung selbständig Sachverständige aus den betroffenen Kreisen an – und dokumentierte damit Missfallen und Misstrauen. Indem sich die Kommission nicht auf den naheliegenden Art. 82 PrVerf 1850 berief, sondern allein Gründe der Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit ins Feld führte, bestehen gewisse Parallelen mit der revolutionären Praxis der Vereinbarungsversammlung. Der merkwürdigste Aspekt der Angelegenheit ist aber, dass das reaktionäre Staatsministerium diesem Vorgehen nicht widersprach und damit anscheinend ein freiwilliges Enquêterecht der Kammern anerkannte. Obwohl die Bankenenquête und die Anhörungen zum Pressgesetz eindeutig zur Vorbereitung parlamentarischer Sachentscheidungen dienten, hatten beide Vorgänge auch eine deutliche politische Dimension: In der Bankenfrage klang Kritik an der Wirtschaftspolitik der Regierung und ihren sozialen Konsequenzen an. Möglicherweise warnte die Regierung aus einer gewissen Vorahnung heraus vor einer parlamentarischen „Untersuchung“ und brandmarkte diesen Schritt, dessen verfassungsrechtliche Zulässigkeit sich wegen Art. 64 und 82 PrVerf 1850 kaum in Abrede stellen ließ, als unberechtigten „Ausdruck des Mißtrauens“. Der Vorfall zeigt, dass selbst vermeintlich harmlose Sachenquêten durchaus zum Vehikel einer parlamentarischen Abrechnung mit der offiziellen Politik des Staatsministeriums werden konnten. Ein gewisser Argwohn gegenüber der restriktiven Pressepolitik des Ministeriums Manteuffel zeigte sich tatsächlich in den Sach­ verständigenanhörungen, die in der Ersten Kammer über die kontroversesten Vorschriften des Entwurfs angehalten wurden. Die Zweite Kammer nutzte die Gelegenheit, um die Regierung anlässlich der Vorbereitung der Gesetzesbera­ tungen, aber auch der Entscheidung über die Notverordnungen mit lästigen Fragen in die Enge zu treiben. Schon diese vordergründig ausschließlich sachbezogenen Anwendungsbeispiele eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts zeigen, dass die Kammern in der Ära Manteuffel trotz des berüchtigten Klassenwahlrechts keineswegs vollständig unter der Knute des reaktionären Staatsministeriums standen.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

II. Politische Kontrollversuche 1. Der Antrag Vincke als erster Regierungskontrollversuch (1851) Frühe Versuche, direkte Regierungskritik in die Formen des Art. 81 PrVerf 1850 zu kleiden, sind der parlamentarischen Minderheitsopposition zu verdanken. Zu einem ersten Vorstoß kam es bereits in der auf die Verfassungsrevision folgenden Legislaturperiode der Zweiten Kammer. a) Politische Ausgangslage und Vorgeschichte Anfang der 1850er Jahre befand sich der preußische Staat zur Überzeugung vieler Liberaler in einer „verhängnißvollen Lage“:389 Nach dem Scheitern der­ Erfurter Unionspläne am österreichischen Widerstand erlebte der Deutsche Bund eine Wiedergeburt. Im Norden ging das Ringen um die Elbherzogtümer verloren. Im Südwesten musste man sich in der kurhessischen Angelegenheit internationalem Druck beugen. Ende November 1850 wurden diese außenpolitischen Niederlagen zu allem Überfluss in der Olmützer Punktation offiziell besiegelt.390 Für die Liberalen um Georg v. Vincke, die die Einheitspolitik selbst um den Preis eines Krieges mit Österreich weiterverfolgen wollten, war das preußische Einknicken vor der Habsburgermonarchie eine Katastrophe.391 Über Otto v. Manteuffel, den Architekten dieser Politik, urteilte der Liberale Georg Beseler 1884, er sei „ideen­ los und von beschränktem Gesichtskreise“, habe die „deutsche Frage und deren Bedeutung für Preußen […] nie verstanden und zum Minister der auswärtigen Angelegenheiten [habe…] ihn Gott in seinem Zorne gemacht“.392 Auf dem Feld der Innenpolitik hatten sich alle Hoffnungen, das Ministerium der „rettenden Tat“ könne mit Abschluss der Verfassungsrevision einem Regiment aus den eigenen Reihen Platz machen, zerschlagen.393 Anfangs war die Regierung für ihre Unionspolitik auf eine Kooperation mit den Liberalen angewiesen, hatte sich konziliant gezeigt, ja noch kurz vor der Olmützer Katharsis einen Gesetzentwurf zur Ministerverantwortlichkeit vorgelegt.394 Mit dem Scheitern der Erfurter Pläne schwenkte Otto v. Manteuffel, der Anfang November 1850 die Nachfolge 389

M. Duncker, Bericht, 1851, S. 3. Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 908 ff., 920, 926 ff.; H. A. Winkler, Westen I, 2000, S. 125 f.; T. Nipperdey, DtGesch 1800–1866, 1998, S. 670 ff. oder zeitgenössisch R. Haym, M. Duncker, 1891, S. 131 ff., 134 f. 391 Vgl. H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (44 ff.). 392 G. Beseler, Erlebtes, 1884, S. 95. 393 Vgl. H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (10 f., 24). 394 H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (49, 83 f.) und ausführlich N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (564 ff.). 390

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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des verstorbenen Grafen Brandenburg angetreten hatte, auf einen harten Reak­ tionskurs ein. Anfang Januar erklärte er in der Ersten Kammer unumwunden, dass ein „Wendepunkt“ erreicht wäre und fortan „entschieden mit der Revolution gebrochen“ werde.395 Das äußere Zeichen dieses durch den König goutierten396 Politikwechsels war die Berufung hochkonservativer Minister.397 Die Regierung nutzte das missglückte Attentat Maximilian Joseph Sefeloges nicht bloß für presserechtliche Schritte, sondern machte – obwohl es sich ersichtlich um die Tat eines verwirrten Einzeltäters handelte  – allgemein gegen den politischen Gegner mobil. Schon am Tag nach dem unseligen Vorfall notierte Karl August Varnhagen v. Ense in sein Tagebuch, dass sich die „ganze Verkehrtheit der Polizei“ in willkürlichen Verhaftungen zeige; „aber auch die verstockte Bosheit der herrschenden Parthei“, die „das Vorgefallene [benutze,] um gehässige Vermuthungen auszustreuen und zu nähren“, prangerte er an.398 Die Unterdrückung jeder oppositionellen Regung ging so weit, dass nicht nur die Demokraten, sondern später auch die Altliberalen, obgleich sie die ersten Schritte gegen die Revolution noch mitgetragen hatten,399 und zu guter Letzt selbst Ultrakonservative, die Absolutismus und Umsturz predigten, nicht mehr vor den Nachstellungen des verhassten Berliner Polizeipräsidenten Karl Ludwig Friedrich v. Hinckeldey sicher waren.400 In der Verfassungspolitik mühte sich das Ministerium nach Kräften, den 1848/50 installierten Konstitutionalismus einzuschränken. Deutliche Anzeichen waren verschiedene Änderungen der revidierten Verfassung, eine Wiederbelebung der Provinzialstände, die Rückwärtsrevision des Kommunalrechts und die Transformation der gewählten Ersten Kammer in ein ernanntes Herrenhaus.401 Die innenpolitische Wende brachte das Ministerium zwangsläufig auf einen scharfen Konfliktkurs mit den Liberalen, deren Hoffnungen auf einen Regierungswechsel und ein parlamentarisch-konstitutionelles Regiment sich zerschlagen hatten.402

395 H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (48 ff.) mit Zitaten. Zur Aufnahme durch König und konservative Kreise s. H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 385 f. Die Kreuzzeitung forderte gar: „So breche man denn auch mit der ganzen Revolution, nicht blos mit der höchsten Blüthe der zahmen Revolution – dem souveränitätslüsternen Kammer-Oppositionswesen – sondern auch mit dem revolutionären Beamtenthum. Auch hier muß die Politik des Ministeriums durchsichtig werden, zerstreuen muß es die dicken Wolken, die bisher aufstiegen aus der von jenem ‚Helden in Pantoffeln und Schlafrock‘ dargebrachten Friedenspfeife.“ 396 Vgl. den Abdruck eines Dankschreibens Friedrich Wilhelms  IV. an Manteuffel bei H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 385. 397 N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (549). 398 L. Assing (Hg.), Tagebücher VII, 1865, S. 192 f. 399 H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (54 ff.). 400 E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S.  169 ff.; H.  Schulze, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 293 (312 f.); M. Kotulla, VerfGesch, 2007, Rn. 1886. 401 Ausführlich zum Kampf um die Verfassungsurkunde H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (65 ff.); ferner A. Bernstein, Geschichte II, 1882, S.  27 ff.; L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 501 f. 402 Vgl. H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (10 f., 13, 24); G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 201.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Die Opposition eröffnete die Auseinandersetzung mit der Regierung, die in­ Olmütz vormals gemeinsame Ziele verraten hatte, Anfang Dezember 1850 in der Adressdebatte.403 Der Schlachtplan sah vor, Otto v. Manteuffels Politik bloßzustellen und auf eine Ablösung des Ministeriums zu drängen.404 Obwohl die Gegenseite die Gefahr witterte und gegenüber der Adresskommission entscheidende Informationen zurückhielt,405 verfasste diese einen kritischen Entwurf, der unter der Regie des an sich regierungsfreundlichen Zentrums Bodelschwingh-­Geppert Kernpunkte der Regierungspolitik tadelte, auf eine Fortsetzung der Union drang und sich strikt gegen eine Wiederaufnahme des Deutschen Bundes aussprach. Dabei wurde die drohende Preisgabe Holsteins ebenso gerügt wie Beistand für das von einer Bundesintervention bedrohte Kurhessen verlangt.406 Der liberalen Opposition gingen diese Kritik und diese Ansprüche noch nicht weit genug; sie forderte die Regierung u. a. direkt zum bewaffneten Einschreiten gegen jede Einmischung des Bundes im Norden und Südwesten auf.407 Als Außenminister Otto v. Manteuffel am Vorabend der Adressdebatte einige Kommissionsmitglieder über die Verhandlungen mit Österreich informierte, wurden auf Anregung Georg v. Vinckes bis in Zentrumskreise (!) hinein Überlegungen angestellt, den Adressentwurf noch durch ein Misstrauensvotum zu ersetzen. Letztendlich entschied sich das rechte Zentrum aber aus Sorge davor, dass auf die Regierung Manteuffel ein noch übleres Kreuzzeitungskabinett folgen könnte, für eine Mäßigung.408 Am 3. Dezember 1850 antwortete Georg v. Vincke mit einer ebenso langen wie scharfen Rede auf Otto v. Manteuffels Verteidigung der ungeliebten Friedens­ politik. Der durch v. Vincke verfochtene Verbesserungsvorschlag gegenüber dem aus liberaler Sicht zu zahmen Adressentwurf verlangte u. a., „dem Systeme ein Ende zu machen, durch welches das Land in diese verhängnißvolle Lage gebracht [worden wäre…], und dessen Träger die gegenwärtigen verantwortlichen Rathgeber der Krone“ seien. Der westfälische Liberale warf der Regierung unum­ wunden vor, mit ihrer falschen Politik die makellose Geschichte und Ehre Preußens zu verspielen. Die provokante Rede schloss unter „Bravo […] der linken und­

403

Vgl. M. Duncker, Bericht, 1851, S. 3 ff.; L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 452. N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (543). 405 Vgl. H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (45); N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (543); M. Duncker, Bericht, 1851, S.  5; L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S.  449 und ferner auch B. v. Simson, E. v. Simson, 1900, S. 266. Später wurde diese Obstruktion zum Programm, um parlamentarischen Einflussnahmeversuchen auf die Außenpolitik den Boden zu entziehen. Die Schwäche des Interpellationsrechts nutzte die Regierung aus, indem die Minister erwiderten, „daß bis jetzt in den Verhandlungen mit den auswärtigen Mächten nichts vorläge, was eine im Sinne des Artikels 46 der Verfassung einzuholende Genehmigung der Kammer vorhersehen ließe“. Vgl. bei H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 381. 406 N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (543 f.). 407 M. Duncker, Bericht, 1851, S. 5 f.; N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (544). 408 A. Bernstein, Geschichte II, 1882, S. 9 ff.; H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (45 f.). 404

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Zischen […] der rechten Seite“ mit dem programmatischen Ausruf: „Weg mit diesem Ministerium!“409 Eine Unterbrechung der Debatte bis zum folgenden Tag410 bot dem Ministerium die Chance zum Handeln. In der Adressdebatte eine blamable Niederlage vor Augen, vertagte sie die Kammer um vier Wochen auf den 3. Januar 1851. Während dieser Schritt auf ein Umfallen des tendenziell regierungsnahen Zentrums hoffen ließ, wäre mit der Alternative einer Auflösung das Risiko verbunden gewesen, dass die Kammer aus den Neuwahlen noch oppositioneller hervorgegangen wäre.411 Tatsächlich ging die Rechnung zugunsten der Regierung auf:412 Am 7. Dezember 1850 zeigte sich mit Bekanntwerden der Olmützer Punktation das ganze Ausmaß der liberalen Niederlage.413 Otto v. Manteuffel hatte überdies offen angekündigt, dass er sich keinem Misstrauensvotum beugen werde.414 Dass der König ebenso wenig zu einem liberalen Revirement bereit sein würde, zeigten die Ernennungen Manteuffels zum Ministerpräsidenten, Karl Otto v. Raumers zum Kultus- und Ferdinand v. Westphalens zum Innenminister. Durch diese Personalentscheidungen, die der 1812 geborene Linksliberale Aaron Bernstein 1882 als Zeichen eines „vollen Systemwechsel[s]“, Georg Beseler aber als Menetekel einer „Periode schroffer Reaktion“ deutete, wurden zugleich diejenigen Abgeordneten eingeschüchtert, die als Beamte, Richter etc. der Disziplinargewalt des Ministe­ riums unterlagen.415 Als die Kammer Anfang Januar 1851 wieder zusammentrat, wurde die Adressdebatte bis nach Dreikönig aufgeschoben.416 Am 7. Januar 1851 standen außer dem Kommissionsentwurf verschiedene Amendements und Anträge auf motivierte Tagesordnung auf der Agenda. Dagegen forderte die Rechte die einfache Tagesordnung, um keine öffentliche Debatte zuzulassen:417 Nach der Geschäftsordnung wurde im Falle eines derartigen Antrags nur je ein Redner für bzw. gegen die ein-

409 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 50. Dazu H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (46 f.); A. Bernstein, Geschichte II, 1882, S. 11 ff.; N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (544 ff.); L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 450 f. 410 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 62. 411 Mit Unterschieden in Detail und Akzent M. Duncker, Bericht, 1851, S. 7 f.; N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (547); A. Bernstein, Geschichte II, 1882, S. 14 f.; R. Haym, M. Duncker, 1891, S. 135; B. v. Simson, E. v. Simson, 1900, S. 269 f.; L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 451; H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (48). Zur Vertagung s. VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 65 und A. Bernstein, a. a. O., S. 15; N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (547). 412 H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (49 ff.). 413 Zur Bekanntgabe durch Österreich s. A. Bernstein, Geschichte II, 1882, S. 17. 414 N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (552). 415 G. Beseler, Erlebtes, 1884, S. 103; A. Bernstein, Geschichte II, 1882, S. 18, 19 f. L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 452 sprach von einer „in streng konservativem Sinne rekonstruierten Regierung“. Zur Abhängigkeit des Zentrums von der Regierung, „in dem sich in der Hauptsache die Beamten zusammenschlossen“ hatten, s. H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (31). 416 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 70. 417 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 83 (Antrag), 86 f. (Beschluss).

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fache Tagesordnung gehört.418 Als Anwalt dieser gouvernementalen Forderung trat Theodor Reck auf. Der Neuwieder Geistliche und Lehramtskandidat pries die einfache Tagesordnung für ihre Ambivalenz; es handele sich um einen willkommenen Ausweg aus der „unfruchtbar geworden[en]“ Debatte.419 Für deren Fort­ setzung hielt Eduard Simson eine lange und vielbeachtete Rede. Der angesehene Liberale und ehemalige Präsident der Frankfurter Nationalversammlung leitete aus dem maßgeblichen § 52 Abs. 2 GO-Pr2K 1849420 ab, dass man nicht mehr auf die Sache selbst eingehen dürfe. Obwohl er die „Gefahr“ dieser Auslegung beschwor, „daß die Majorität dieses Hauses wirklich dazu bestimmt werden könnte“, die Opposition „fortan mundtodt zu machen“, beschränkte sich der Königsberger Rechts­wissenschaftler auf die „Frage, ob nach den formellen Vorgängen, die in der Adreßfrage das Haus […] bis auf die gegenwärtige Stunde beschäftigt[en…], es in der Ordnung wäre, diese Diskussion […] in ihrem Fortgange zu ersticken“. Die Debatte bis zur Unterrichtung der Kammer aufzuschieben, wies er zurück, weil diese „Maxime“ der Regierung eine Verschiebung „ad graecas calendas“ ermögliche. Überhaupt könne die Kammer nicht zur einfachen Tagesordnung übergehen, „ohne ihre Pflicht gegen Se. Majestät den König, gegen die Regierung Sr. Majestät, gegen das Volk und gegen sich selbst auf das stärkste zu verletzen“.421 Schließlich sei es geradezu die Pflicht der Abgeordneten, die Regierung wissen lassen, „ob dieses Haus […] noch mir ihr gehen [wolle…], noch mit ihr gehen“ könne.422 Nach diesem Appell ging die Kammer in namentlicher Abstimmung mit 146 zu 142 Stimmen knapp über den Bericht der Adresskommission und die gestellten Verbesserungsvorschläge zur einfachen Tagesordnung über, obwohl doch sämtliche Fraktionen mit Ausnahme der Kreuzzeitungspartei die neue Richtung der­ Regierungspolitik ablehnten.423 Nach dieser kapitalen Abstimmungsniederlage trugen sich u. a. Georg Beseler, Max Duncker und Eduard Simson mit Mandatsverzichtsgedanken.424 Rudolf Haym sprach gar davon, man habe versuchen wollen, „die Kammer durch Massenaustritt 418

Vgl. M. Duncker, Bericht, 1851, S. 8; L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 452 f.; N. N., Gegen­ wart IX, 1854, S. 528 (553). 419 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 83. 420 „§. 53.[GO-Pr2K 1849] Der Antrag auf Vertagung oder auf den Schluß der Debatte bedarf der Unterstützung von dreißig Mitgliedern. Wenn solche erfolgt, so wird die Rednerliste verlesen, und demnächst ohne weitere Motivirung des Antrages und ohne Diskussion über denselben abgestimmt. Der Antrag auf einfache Tagesordnung kann zu jeder Zeit gestellt werden, und bedarf keiner Unterstützung. Nachdem ein Redner für und ein Redner gegen denselben gehört worden, erfolgt darüber der Beschluß der Versammlung. Im Laufe derselben Diskussion darf der einmal verworfene Antrag auf Tagesordnung nicht wiederholt werden. Ueber Anträge der Regierung kann nicht zur Tagesordnung übergegangen werden. Die Anträge auf motivirte Tagesordnung sind vor den übrigen Amendements zur Abstimmung zu bringen.“ 421 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 84. 422 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 85. 423 N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (552). 424 G. Beseler, Erlebtes, 1884, S. 104.

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[zu] vernichten“. Nur um das Feld dem Ministerium nicht kampflos zu überlassen, nahmen die Liberalen von derartigen Schritten Abstand.425 b) Der Antrag Vincke zur Lage des Landes Auf den Tag einen Monat nach dem katastrophalen 7.  Januar 1851 nahmen Georg v. Vincke und 15 Mitstreiter den Kampf mit der Regierung und der Kammermehrheit wieder auf. In Anwesenheit des Ministerpräsidenten sowie der Minister August v. der Heydt (Handel), Rudolf v. Rabe (Finanzen), Karl Otto v. ­Raumer (Kultus) und Ferdinand v. Westphalen (Inneres) stellten sie den Antrag, „einen Ausschuß von 28 Mitgliedern zur Untersuchung der Lage des Landes zu ernennen“; die Verlesung der provokanten Motion war von „Bewegung auf der Rechten“ begleitet.426 Bei dieser informationsrechtlichen Forderung handelte es sich dem mutmaßlich von Max Duncker verfassten „Bericht der Minorität der Zweiten Kammer“ zufolge um einen weiteren Versuch der Opposition, „der unheilvollen Politik des Herrn von Manteuffel Einhalt zu thun“.427 Tatsächlich zielte der Antrag der Alt­liberalen, die Klassenwahlrecht, Regierungsagitation und demokratische Wahl­ enthaltung auf die äußerste linke Seite des Hauses verschlagen hatten, unverhohlen auf eine Generalabrechnung mit dem Ministerium und seiner Politik. Damit war die Funktion des parlamentarischen Untersuchungsrechts als Kampfmittel der Opposition gegen die Regierung, aber auch gegen die indolente Volksvertretungsmehrheit endgültig im konstitutionellen Preußen angekommen. Die Antragsmotive ließen am Bestehen einer „äußere[n] und innere[n] Krise vom allerbedenklichsten Umfange“ keinen Zweifel: Nach dem Scheitern des Erfurter Unionsprojekts, klagte der Liberale Vincke, der das Heil Preußens im „engsten und aufrichtigsten Anschlusse an Deutschland“ sah,428 dass sich nicht allein eine „Wiederherstellung der früheren Bundesgewalt“, sondern eine „Schmälerung des preußischen Einflusses“ und „Gefährdung des Zollvereins“ abzeichne. Aus Baden und Kurhessen habe man sich zurückgezogen, das schleswig-holsteinische Heer werde mit preußischer Hilfe aufgelöst. „Österreichische Truppen, seit den Zeiten des dreißigjährigen Krieges in Norddeutschland nicht gesehen, [fassten…] festen Fuß im Norden“. Diesen Niederlagen zum Trotz dauerten die materiellen Lasten der Mobilmachung fort. Obwohl man der Regierung im März 1850 einen Kredit von 18 Mio. Talern „für außerordentliche Militairzwecke“ – gemeint waren die wegen Olmütz nutzlosen Rüstungen429 – unter der Bedingung gewährt habe, 425

B. v. Simson, E. v. Simson, 1900, S. 270; R. Haym, M. Duncker, 1891, S. 137 (Zitat). VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 159. 427 M. Duncker, Bericht, 1851, S. 9. Zur Frage der Urheberschaft vgl. R. Haym, M. Duncker, 1891, S. 134. 428 Nach H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (11) zitiert aus dem Ministerprogramm Vinckes vom Ende November 1848. 429 Vgl. M. Duncker, Bericht, 1851, S. 4; A. Bernstein, Geschichte II, 1882, S. 10, 11. 426

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dass den Kammern „sofort bei ihrer nächsten Zusammenkunft Rechenschaft“ gegeben und ein Beschluss „über die Fortdauer dieses Kredits“ herbeigeführt werde,430 tätige das Ministerium fortwährend Einnahmen und Ausgaben ohne Bewilligung und fordere eine „Vermehrung der unverzinslichen Staatsschuld um 10 Millionen“. Zusätzliche innenpolitische Molesten bestünden in Form der „über Gebühr verzögerte[n] Einführung der Gemeinde-Ordnung“, einer „Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit durch willkürliche Ausweisungen“ – möglicherweise eine Anspielung auf das Schicksal des oppositionellen Redakteurs der „Constitutionellen Zeitung“ Rudolf Haym431 – und der „Verkümmerung der Preßfreiheit“. Die Liberalen stützten also ihre Untersuchungsforderung auf dieselben Gründe und dasselbe Misstrauen, ja sie verfolgten offenbar dieselbe vage Hoffnung, jetzt mit der Forderung: „Weg mit diesem Ministerium!“ ernst machen zu können, wie zuvor in der Adressdebatte.432 Nachdem der Antragsteller mit der Regierungspolitik ins Gericht gegangen war, führte er für seine Motion den „heilige[n] Beruf der Kammer [ins Feld], bei Zeiten alle Kräfte aufzuwenden, um den Staat vor solchem Unheil zu bewahren“. Eine Erfüllung dieser Pflicht setze detaillierte Aufschlüsse über die „mit dem Auslande gepflogenen Verhandlungen voraus, welche der Adreß-Kommission von der Regierung bekanntlich verweigert“ worden seien.433 Geboten sei auch eine gründliche „Einsicht in den Finanz-­Zustand des Staates“. Die für diese Aufgaben unerlässlichen Informationen könnten „nur durch umfassende Erörterung in einer auf Grund des Artikel 82 der Verfassung von der Kammer gewählten besonderen Kommission beschafft werden“.434 Deutlicher ließ sich die politische Kontrollfunktion des parlamentarischen Selbstinformationsrechts nicht umschreiben; die Antragsteller machten von Art.  82 PrVerf  1850 nach dem Muster eines modernen Untersuchungsrechts Gebrauch. Ziel der Attacke war nichts Geringeres als der Sturz des missliebigen Ministeriums. Indem sich die Untersuchungsforderung auch als Reaktion auf die Auskunftsverweigerung der Regierung in der Adresskommission darstellte, zeigte das Selbstinformationsrecht gewissermaßen seine  – gemessen an früheren konstitutionellen Formen – „neuen“ Zähne. Trotzdem scheiterte auch dieser Minderheitsvorstoß, wie nicht anders zu erwarten, an der Kammermehrheit, die den Antrag nach einer kurzen Beratung für gut einen Monat in die Abteilungen verwies.435 Auf die Forderung der Antragsteller, im Interesse einer Beschleunigung das flexiblere Kommissionsverfahren einzuschlagen, erwiderte der frühere konservative Staatsminister Ernst v. Bodelschwingh, ein Parteiführer des rechten Zentrums sowie­ 430

s. das Gesetz, betreffend den außerordentlichen Geldbedarf der Militär-Verwaltung für das Jahr 1850, so wie die Beschaffung der zur Deckung desselben erforderlichen Geldmittel, vom 7. März 1850, PrGS. S. 173. 431 N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (543) (Zitat); R. Haym, Erinnerungen, 1902, S. 201 ff., 208 ff. 432 Zur Motivkontinuität H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (51). 433 Dazu, als Manuskript gedruckt, M. Duncker, Bericht, 1851, S. 5 f. 434 VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 55, S. 375. 435 M. Duncker, Bericht, 1851, S. 9.

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Vetter und politischer Gegner des Antragstellers Georg v. Vincke, dass „es sich […] um einen Antrag von einer Wichtigkeit [handele…], wie kaum ein anderer in dieser hohen Kammer vorgekommen sein möchte“. Angesichts dessen sei es „wünschenswerth […], daß der Totalität der hohen Kammer […] Veranlassung gegeben werde, sich vollständig zu überzeugen, ehe die Sache ins Leben“ trete.436 Die Gegner des unbequemen Antrag erkannten also vordergründig seine grundlegende Wichtigkeit an, um den Konflikt mit Hilfe dieser rhetorischen Finesse in Wahrheit erst einmal vertagen zu können. c) Abteilungsvorberatungen Dem Bericht der Zentralabteilung zufolge hatten sich die Abteilungen „sämmtlich“ und teils „mit großer Stimmenmehrheit“ „gegen den Antrag ausgesprochen“. Verschiedentlich wurde im Hinblick auf den Wortlaut des Art. 82 PrVerf 1850 hervorgehoben, dass die „Lage des Landes“ überhaupt „keine Thatsache“ wäre, „sondern vielmehr ein Begriff, ein Urtheil, welches sich zwar auf eine Reihe von Thatsachen gründen könne, keineswegs aber unmittelbar aus denselben hervorgehe, sondern durch Combinationen und Vergleichungen nach individueller Anschauung gebildet werden“ müsse; eine solche „Aufgabe“ lasse sich freilich „nicht unter die Bestimmungen des §. 82 subsumiren“. Der damit angedeutete Einwand, dass sich die Kammer nicht zum Richter über das Staatsministerium aufwerfen dürfe, sollte noch öfter wiederkehren. Auf diesen rabulistischen Einwand folgte der Hinweis, dass sich verschiedene der genannten „inneren Angelegenheiten“ zudem bereits „erledigt“ hätten, „theils ihre Erledigung in dem durch die Geschäftsordnung vorgezeichneten Wege angebahnt“ wäre. Darüber hinaus wäre die auswärtige Politik kein „Gegenstand der regelmäßigen Thätigkeit der Kammer“ – insbesondere mit diesem Votum folgte die Kommission offensichtlich Regierungswünschen.437 Dem Untersuchungsantrag wurde weiterhin entgegengehalten, dass die Kammermehrheit in der Adressdebatte „durch den Uebergang zur Tagesordnung ihre Ansicht dahin kundgegeben [habe], daß sie von einer solchen Kritik unter den gegebenen Verhältnissen kein dem Lande ersprießliches Resultat erwarte“. Das Ministerium werde „so wenig jetzt wie damals im Stande und Willens sein“, über die „schwebenden Verhandlungen“ Auskunft zu erteilen. Selbst wenn man den politischen Standpunkt der Antragsteller teile, müsse man keineswegs mit der Forderung einer Untersuchung übereinstimmen. Immerhin wäre kein Beschwerdepunkt denkbar, „dessen Aufklärung und Erledigung nicht in dem durch die Geschäfts-Ordnung vorgezeichneten Wege  – durch Interpellation oder Antrag  – zu erzielen sei“. Dagegen müssten die übrigen parlamentarischen Geschäfte unter der „Bildung einer Kommission mit einem unübersehbaren Arbeitsfelde“ leiden. 436

VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 160. Vgl. H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 380 f. zur Ablehnung parlamentarischer Teilhabe oder diesbezüglicher Auskünfte. 437

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Überdies würde schon ihre Niedersetzung und „mehr noch der Fortgang ihrer Arbeiten“ für schädliche Aufregung sorgen, das „Vertrauen auf die Regirung schwächen“ und sich letzten Endes „lähmend auf Verkehr und Gewerbe“ auswirken. Überraschenderweise wurde in der Kommission auch die These angesprochen, „daß eine Untersuchung der Lage des Landes nichts Anderes als die Ermittelung eines Konglomerates einzelner Thatsachen“ sei, so dass von einem unzulässigen Urteil keine Rede sein könne. Überhaupt lasse sich ein umfassendes Bild nicht mit Hilfe der üblichen parlamentarischen Mittel, sondern bloß durch eine Untersuchungskommission gewinnen. Die politische Stoßrichtung verdeutlichte der Hinweis, dass die notorische „Disharmonie“ mit der Kammer die Regierung schwäche, ja die Nation demoralisiere. Anstatt diese Krisis zu „verschleiern“, müsse die Volksvertretung sie öffentlich machen, „damit die Nothwendigkeit herbeigeführt werde, die Harmonie zwischen der Regierung und den Kammern durch eines der dazu in der Verfassung gebotenen Mittel herzustellen“. Über diese Anspielung auf die Alternative einer Kammerauflösung oder Regierungsumbildung ging die Zentralabteilung mit der Parole hinweg, dass die „Behauptung eines prinzipiellen Zwiespalts“ bloß ein „unerwiesenes Axiom“ wäre. Letztendlich wurde einstimmig die Empfehlung an das Plenum beschlossen, „über den Antrag des Abgeordneten von Vincke und Genossen, die Niedersetzung eines Ausschusses zur Untersuchung der Lage des Landes betreffend, zur Tagesordnung über[zu]gehen“.438 d) Plenarberatung und Beschluss Am 8. März 1851 betonte Berichterstatter Ernst v. Bodelschwingh ein weiteres Mal, „daß es im Interesse der Kammer und des Landes nicht rathsam [wäre…], auf die Thatsachen, welche in den Motiven des Antrages entwickelt [würden…], näher einzugehen; daß es vielmehr im Interesse der Kammer und des Landes liege, die Debatte über einen Antrag nicht unnöthig zu verlängern, dessen Urtheil […] im voraus gefällt“ wäre.439 Selbst der fraktionslose, grundsätzlich der Linken nahestehende440 Abgeordnete Winzler konzedierte den Antragstellern zwar patriotische Motive, wendete gegen ihre Forderung aber ein, dass man die Zweite Kammer, den „Vermittler zwischen der Regirung und dem Volke“, nicht „in eine Art von Anklagesenat in gewissen und ungewissen Angelegenheiten“ verwandeln dürfe. Schließlich nützten Beschuldigungen gegenüber der Regierung nichts, „sondern [legten…] nur, wahr oder unwahr, die Schwächen und Fehler derselben bloß“. Statt aber die „Wunden [des…] Vaterlandes […] auf[zu]decken“, forderte der Lübbe­ nauer Kaufmann, „mit der alten kühnen Preußentreue“ für die „Wohlfahrt“ des 438 Bericht des Central-Ausschusses über den Antrag des Abgeordneten von Vincke und Genossen, die Bildung eines Ausschusses zur Untersuchung der Lage des Landes betreffend (VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 56, S. 377 f.). 439 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 491. 440 Vgl. G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 256 in Fn. 178.

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Landes „kräftig [zu] handeln und nicht die Zeit und Kräfte der Kammer in einem Kampfe gegen […] jetzt noch unbestimmte Befürchtungen [zu] zersplittern“.441 Obwohl er betonte, dass die Mehrheiten angesichts der Vorberatungsergebnisse in den Abteilungen schon feststünden, ergriff Georg v. Vincke das Wort, weil sich die Aufgabe der Kammer nicht darin erschöpfe, „durch Majoritäten irgend welche Beschlüsse zu fassen“, sondern „jedes Mitglied berufen und verpflichtet [sei…], seine Anschauung […] kundzugeben“. Nach diesem Bekenntnis zu der Gesamtverantwortung jedes einzelnen Abgeordneten folgte das parlamentarische Credo, dass alles, was in der Volksvertretung zur Sprache komme, ein „Echo“, ja seinen „Widerhall“ in den weitesten Bevölkerungskreisen finde.442 In diesem Votum für die grundsätzliche Bedeutung öffentlicher Debatten schimmerte auch – wie schon in Friedrich Harkorts Äußerung in der Bankenfrage – das Verständnis der Kammer als „Forum der Nation“ durch.443 „[F]ormelle Bedenken“, „daß es sich […] nicht um Thatsachen, sondern nur um ein Urtheil, um einen Begriff handele“, so dass Art. 82 PrVerf 1850 nicht eingreife, wies der altliberale Freiherr als „schon dem Sprachgebrauche nach nicht begründet“ zurück: Unter einer „Lage“ verstehe man einen „thatsächlichen Zustand, der allerdings aus dem Komplexus verschiedener Thatsachen zusammengesetzt“ sein und das „Urtheil in mehrfacher Hinsicht beschäftigen [könne…], einmal, um diesen thatsächlichen Zustand festzustellen, dann ferner, um sich darüber zu äußern, ob er erfreulich oder nicht erwünscht [sei…], und, wenn Letzteres der Fall, die Mittel zur Abhülfe vorzuschlagen“. In diesem Sinne fordere „eben so jede andere Thatsache, welche die Kammer durch einen Ausschuß zur Untersuchung vor ihr Forum“ ziehe, ein „Urtheil“ der Ab­ geordneten heraus. Die vermeintlich unzulässige Untersuchung zur Lage des Landes unterscheide sich folglich von anderen Fällen „wohl durch den größeren­ Umfang der Aufgabe, aber nicht im Begriff“. Nachdem er sich mit diesem noch häufig wiederholten Einwand auseinandergesetzt hatte, trug Georg v. Vincke ein überraschend modernes Argument für die Forderung einer außenpolitischen Untersuchung vor, indem er auf den Einwand, dass die Regierung über die aktuelle „auswärtige Politik“ keine Mitteilungen machen könne, entgegnete, „daß eine Menge Verhandlungen, […] über welche vollständig ins Klare zu kommen, das Land wesentlich interessirt [sei…], völlig ab­ geschlossen“ wären. Die damit tangierte temporale Demarkationslinie trennt heute den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung von den Gefilden parlamentarischer Kontrolle.444 Ergänzend wendete Georg v. Vincke ein, dass die Regierung „noch im vorigen Jahre“ über „schwebende Verhandlungen insofern Mittheilun 441

VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 491. VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 491 f. 443 Vgl. 5. Teil 3. Kap. B. I. 1. a) bb) und c). 444 Dazu M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 40; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 48 ff. und teils krit. M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 27 sowie zum Verbot ständiger Untersuchungsausschüsse N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 57 ff. 442

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

gen“ gemacht habe, „als sie den Kammern den Plan, die Absicht ihres Strebens, namentlich in der deutschen Frage, zu wiederholtenmalen […] klar vorgelegt und zu erkennen gegeben“ habe. Soweit die „Kammer verfassungsmäßig berufen [wäre], über Alles von dem Ministerium Auskunft zu verlangen“, sei es überdies keineswegs ausgemacht, dass die Krone im Weigerungsfall auf ein parlamentarisches Ersuchen hin nicht für die gewünschte Information sorgen werde. Sorgen, dass die Kommission andere Ausschüsse behindern könne, die sich bereits mit Teilaspekten beschäftigten, wies der Freiherr als „vollständiges Mißverständniß“ zurück. Weil das „gesammte Verhalten und Verfahren der Regierung Sr. Majestät, sei es in der inneren, sei es in der äußeren Politik, ein zusammenhängendes System“ bilde, könne keine Prüfung einzelner Elemente, sondern ausschließlich eine Untersuchung des Ganzen offen legen, „ob das System nützlich oder verderblich“ sei. In diesem Sinne sei die Adressdebatte ergebnislos verlaufen, weil sich – obgleich substantielle Kritik an der Regierung angeklungen sei – letztlich eine knappe Mehrheit dagegen ausgesprochen habe. Ebenso habe man in den Debatten über die Einkommensteuer oder „die zu bewilligenden Fonds für das auswärtige Ministerium“ jegliche Kritik mit dem Hinweis im Keim erstickt, dass die preußische „Großmacht“ die Gelder ungeachtet der Politik des konkreten Ministeriums benötige.445 Anscheinend setzte der Antragsteller also größere Hoffnungen in das abstrakte Untersuchungsrecht, dessen Inanspruchnahme keine konkrete Entscheidung zu Lasten der Regierung bzw. der staatlichen Interessen des preußischen Staates bedeutete. Indem Georg v. Vincke dann zu ausführlicherer Regierungsschelte anhob, trat der in unseren Tagen unbestrittene politische Kontrollcharakter des parlamentarischen Untersuchungsrechts bereits in dem Ringen um die Einsetzung einer Kommission deutlich zutage. Im Einzelnen warf der westfälische Liberale dem Ministerium Wortbruch in der deutschen Frage vor, kritisierte die Entwicklung in Schleswig-Holstein mit Blick auf die preußische „Ehre“, verwies auf das österreichische Militär im Norden, das nicht nur die Hansestädte und Hannover als die „natürlichsten Verbündeten“ Preußens bedrohe, sondern sich mit der dänischen Armee vereinigen könne. In Kurhessen habe Preußen zunächst für die Stände, die Richter- und Beamtenschaft Partei ergriffen, dann aber die „Execution […] geduldet“ und auch noch einen „Kommissar zur Unterstützung“ abgestellt.446 Jetzt sei in den „öffentlichen Blättern“ von einer Militärkonvention der Habsburger mit Hessen die Rede, wodurch im Südwesten eine analoge Entwicklung wie im Norden drohe. Angesichts dieser dramatischen Umstände gehe das Interesse der Kammer dahin, „in dem Ausschusse […] ausführliche Mittheilungen […] zu erlangen“, „da jetzt wieder ein neuer Versuch seit einigen Monaten in Dresden gemacht [werde…], haltbare Zustände in Deutschland herbeizuführen“. Nur so lasse sich erfahren, ob „Gesammt-Oesterreich mit seinen 40 Millionen Menschen“ Teil des 445

VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 492. VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 492 f.

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Deutschen Bundes werden solle, dem Zollverein durch einen mitteleuropäischen Handelsverein Gefahr drohe und die vollständige Wiederbelebung des Bundestages oder gar eine noch schlimmere Liaison bevorstehe. In allen diesen Fragen könne die Kammer, „wenn es die schwebenden Verhandlungen“ zuließen, durch eine Untersuchung Klarheit schaffen. Der typische Anspruch eines modernen parlamentarischen Kontrollrechts schien in der Feststellung durch, dass das Land das Recht habe, „was seine Verfassung, seinen Handel, seine Macht, seine politische Stellung [betreffe…], vollständige Auskunft zu verlangen“. Mit der Bemerkung, dass jedenfalls „wenigstens dem Urtheile dieses Ausschusses das unterliegen [müsse], was […] bereits abgeschlossen […] und […] bei der früheren Adreß-Debatte schon berührt worden“ sei – namentlich „das Verfahren der Regierung den ihr verbündeten Fürsten […] der Union gegenüber“,447 – brachte der Freiherr noch einmal das bis heute relevante zeitliche Abgrenzungskriterium in Stellung. Für die Kammer reklamierte Georg v. Vincke außerdem eine Art allgemeinpolitisches Mandat, das dann zum Fundament des Untersuchungsrechts wurde: Weil der Fortbestand des Staates von der „Achtung vor der Regierung“ und dem „Gemeinsinn“ des Volkes abhänge, sei es nicht nur eine der „wichtigsten und dringendsten Aufgaben jeder Gesetzgebung, […] die Lage der unteren Volksklassen zu verbessern“, sondern ebenfalls die „dringendste Pflicht des Hauses“, „diesen Gefahren, diesen Besorgnissen gegenüber“ schon „bei Zeiten Rath zu schaffen und aus allen Kräften […] dahin zu wirken, daß eine solche Krise nicht eintrete“. Zu guter Letzt biete die Untersuchung dem Ministerium die Gelegenheit, „sich vor diesem Hause vollständig äußern und rechtfertigen zu können“. Spitz erklärte Georg v. Vincke, dass „keinem Manne in einer solchen hohen Stellung etwas erwünschter sein [könne…], als seine Handlungsweise offen und klar vor der Nation darzulegen und zu vertheidigen“.448 Die Hoffnungen auf ministerielle Diskussionsbereitschaft erfüllten sich nicht. Vielmehr wich Ministerpräsident Otto v. Manteuffel mit der fadenscheinigen Begründung, dass er „weder der Hohen Kammer, noch dem Lande ein solches Schauspiel zumuthen“ wolle, den gegen ihn geführten Angriff mit gleicher Münze zu vergelten, jeder Auseinandersetzung aus. Gegen den Antrag brachte der konservative Politiker schlicht vor, „daß der von dem Herrn Antragsteller vorgeschlagene Weg nicht geeignet [wäre…], einen für die Hohe Kammer und das Land ersprießlichen Zweck zu erreichen“. Unter Hinweis auf eine Äußerung Vinckes in einer gut zwei Jahre zurückliegenden Adressdebatte, dass in England keine Beratung über die gesamte Regierungspolitik stattfinde, weil man dort „einmal […] zu praktisch, dann zu stolz“ wäre, „ein Sünden-Register [der…] Vergangenheit bloßzulegen“, mahnte der konservative Ministerpräsident die Abgeordneten, „die parlamentarische Frei 447

VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 494. VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 495.

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heit nicht dazu zu benutzen, die Lage des preußischen Staats schlimmer darzustellen, als sie wirklich [wäre…] und […] selbst im Auslande aufgefaßt“ werde. Die Stärke des Landes liege gerade darin, „daß Preußen nicht im Innern zerspalten und zerklüftet“ sei.449 Gegen eine öffentliche Debatte über die Lage des Landes brachte der Ministerpräsident also nichts mehr als patriotische Ressentiments vor. Obwohl Zentralabteilungsreferent Ernst v. Bodelschwingh „leider bekennen [musste…], in Bezug auf die angeführten Thatsachen mit dem geehrten Vorredner“, gemeint war der Antragsteller, „vielfältig übereinzustimmen“, konnte er „keinesweges anerkennen, daß es nützlich, daß es nothwendig gewesen [wäre…], eine solche Debatte in das Haus zu bringen; noch weniger, daß es nützlich und räthlich [sein könne…], eine Kommission zu berufen, welche eigens die Bestimmung [habe…], dergleichen Debatten zu vervielfältigen“. Der konservative Politiker versuchte die Argumente seines liberalen Vetters mit zwei rhetorischen Fragen zu entkräften: „Glauben Sie“, fragte er die Abgeordneten, „daß es im wahren Interesse Preußens liegen kann, wenn von dieser Tribüne der Satz aufgestellt wird: daß wir nicht mehr eine Großmacht seien, weil von den […] Bedingungen, unter welchen wir darauf Anspruch machen könnten, in diesem Augenblicke keine vorhanden sei?“ Die zweite Frage, „ob [man…] nicht [die…] Auffassung [teile…], daß die Rede des geehrten Antragstellers unter Allen, welche in den Räumen dieses Hauses anwesend [seien…], denen am besten gefallen [habe…], welche keine Preußen [wären…]?“, appellierte ähnlich wie die Einwände des Regierungschefs an einen platten Patriotismus.450 Ungeachtet der Schwäche vieler Gegenargumente wurde der Kommissionsantrag, zur einfachen Tagesordnung überzugehen, mit einer noch überwältigenderen Mehrheit als die vergleichbare Forderung in der Adressdebatte mit 228 zu 41 Stimmen angenommen.451 Erneut vereitelte das Plenum aus freien Stücken eine Auseinandersetzung mit dem Gouvernement. e) Bewertung Das Scheitern dieses bemerkenswerten Untersuchungsantrags scheint das verbreitete Urteil zu bestätigen, dass Art. 82 PrVerf 1850 bestenfalls einen geringen Wert gehabt hätte. Nimmt man aber bloß das Ausbleiben eines greifbaren Erfolges in den Blick, verkennt man den politischen Eigenwert, den sowohl der Einsetzungsantrag als auch die kurze Debatte hatten. Bei genauerer Betrachtung bietet die Angelegenheit unter enquête- und untersuchungsrechtlichem Blickwinkel einen bemerkenswerten Ausblick auf moderne Interessenkonstellationen und parlamentarische Befugnisse. 449

VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 496. VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 497. 451 VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 499. 450

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Georg v. Vinckes Forderungen beruhten eindeutig auf dem für jeden Parlamentarismus fundamentalen Kontrollanspruch der Volksvertretung gegenüber der Regierung.452 Art. 82 PrVerf 1850 wurde für die liberale Minderheitsopposition neben dem Adressrecht zu einem weiteren Vehikel, um die politische Auseinandersetzung mit dem Ministerium Manteuffel aufzunehmen.453 In diesem Sinne schob Max Duncker in einer kleinen Schrift die Begründung nach, dass die Antragsteller zwar „nach dem Verhalten der Majorität, welche durch ihr Eintreten für das Ministerium die Verantwortlichkeit […] mit übernommen hatte“, keineswegs darauf rechnen konnten, „der unheilvollen Politik des Herrn von Manteuffel Einhalt zu thun“; weil es „nicht minder Pflicht gegen das Land [gewesen sei], alle […] zu Gebote stehenden Mittel zu erschöpfen“, habe man „beschlossen[,] von dem Rechte Gebrauch zu machen, welches die Verfassung den Kammern einräumt“.454 Anders als in den bisherigen und kommenden Enquêten sollte das parlamentarische Selbstinformationsrecht also keineswegs in erster Linie der Sachverhaltsermittlung dienen; vielmehr bedeutete es für die Antragsteller ein genuin politisches Mittel für den Kampf gegen das Ministerium. Diesem Bauplan folgt heute Art. 44 GG. Ein weiterer moderner Aspekt ist die in der zitierten Anmerkung Max Dunckers anklingende Öffentlichkeitswirkung jeder parlamentarischen Untersuchung, die in Georg v. Vinckes Überlegungen zur Rolle der Kammer und dem „Widerhall“ ihrer Debatten in der Bevölkerung nochmals deutlicher zutage tritt. Die öffentliche Meinung spielte für die Liberalen offensichtlich eine vergleichbare Rolle wie für die extreme Linke in der Märzrevolution: Das kritische Publikum war das einzige Mittel, um einen gewissen Druck auf die Regierung auszuüben. Das konstitutionelle Staatsrecht erkannte diesen Zusammenhang und den Stellenwert der öffentlichen Meinung auch durchaus an, indem es mit der Alternative einer mit Neuwahlen verbundenen Kammerauflösung einer- und eines Revirements des Ministeriums im parlamentarischen Sinne andererseits zwei Instrumente bereitstellte, um einen schwelenden Konflikt zwischen Regierung und Volksvertretung aufzulösen. Dasselbe Vertrauen in den „Richterstuhl der öffentlichen Meinung“, auf dessen Kraft die liberale Opposition im Frühjahr 1851 setzte, liegt heute Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG zugrunde. In das Bild einer auf dem „Forum der Nation“ öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung fügt sich Herbert Kaltheuners Feststellung ein, dass – zumal der Antrag angesichts mehrfach erprobter Mehrheiten keine Aussicht auf Erfolg besaß – die Einsetzungsdebatte „in den Augen der Liberalen ein Gewinn“ gewesen sein

452 In diesem Sinne urteilte H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (51 f.), der Antrag Vincke sei ein „Versuch [gewesen], den Schwerpunkt des Staates in das Parlament zu legen, zum mindesten […] ein Festhalten an der Forderung, daß die Kammer über das Ministerium zu richten habe“. 453 Vgl. W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 56; H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (48 ff.). 454 M. Duncker, Bericht, 1851, S. 9 (Hervorhebung nur hier).

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muss.455 Zwar war der Untersuchungsantrag zweifellos auch eine Reaktion auf die ministerielle Auskunftsverweigerung in der Adressdebatte. Trotzdem beabsichtigte die Opposition in erster Linie, die Mehrheitsentscheidung in der Adressdebatte, über den Richtungsstreit um die künftige preußische Politik ohne große Redeschlacht hinwegzugehen, wenigstens ein Stück weit zu konterkarieren. Der Antrag Vincke schuf der Opposition auf jeden Fall Raum für eine große öffentliche Rede zur Lage der Nation als Ersatz für die ihr im Dezember vorenthaltene Debatte. In diesem Sinne charakterisierte der Fortschrittspolitiker Louis Constanz Berger den Antrag als Ausdruck der liberalen Entschlossenheit, „sich von der Mehrheit keinen Maulkorb anlegen und die Wähler nicht in Schlaf lullen zu lassen“.456 In der „Gegenwart“ wertete ein anonymer Autor den Vorstoß „eigentlich nur [als…] Provocation zu einer Adreßdebatte“. „Denn Weiteres [wäre…] der Kammer am Ende nicht zu thun übrig [geblieben], selbst wenn sie den Antrag [gebilligt hätte…], als eine Adresse an die Krone zu richten“.457 Dieses an sich zutreffende Bild ist gleichwohl schief: Indem es die Möglichkeiten der Kammer auf eine Adresse verkürzt, wird der politische Wert einer Untersuchung, des abschließenden Berichts an das Plenum und der dann ggf. folgenden kritischen Debatte gewissermaßen ausgeblendet. Dass Art.  82 PrVerf  1850 aufgrund dieser Mechanismen nicht bloß ein Papiertiger war, zeigt die Einschätzung in Regierungskreisen, dass der potentielle öffentliche Widerhall parlamentarischer Kritik die einzige wirkliche Gefahr einer oppositionellen Kammer war.458 Unzweifelhaft erteilte die überwältigende Mehrheit der Kammer dem ersten konstitutionellen Versuch, das parlamentarische Selbstinformationsrecht des Art. 82 PrVerf 1850 nach der Art eines „echten“ Untersuchungsrechts für eine umfassende Abrechnung mit dem Ministerium zu nutzen, eine Abfuhr. Dass es der Rechten aber schon mit der Verweisung des Antrags in die Abteilungen gelungen wäre, dem Vorstoß jeden Wind aus den Segeln zu nehmen, überzeugt nicht:459 Allen Verzögerungen durch das damit eingeschlagene schwerfällige Verfahren zum Trotz kam es einen Monat später im Plenum zur Debatte. In diesem Zeitpunkt dauerte die Session noch gut zwei Monate460 und hätte so – den politischen Willen der Kammermehrheit unterstellt – durchaus zu unbequemen Nachfragen und Requisitionen an die Adresse der Regierung und auch selbst zu eigenen „Untersuchungen“ Gelegenheit geboten. Der vernichtende Schlag gelang der gouverne­ mentalen Seite erst, als die Kammermehrheit erneut zur einfachen Tagesordnung überging und damit jede weitere Debatte abschnitt. 455

H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (52). L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 453. 457 N. N., Gegenwart IX, 1854, S. 528 (563). 458 Dazu H. v. Poschinger (Hg.), O. v. Manteuffel I, 1901, S. 382. 459 So aber G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S.  362 f. s.  sonst M. Duncker, Bericht, 1851, S. 9 sowie zur Beratung in den Abteilungen den Bericht des Central-Ausschusses über den Antrag des Abgeordneten von Vincke und Genossen, die Bildung eines Ausschusses zur Untersuchung der Lage des Landes betreffend, VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 56, S. 377. 460 Die Session wurde am 9. Mai 1851 geschlossen. Vgl. VerhPr2K II/2 (1850/51). 456

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Gleichzeitig verdeutlichte die Angelegenheit, dass Regierungskontrolle selbst schon im monarchischen Konstitutionalismus deutscher Prägung ein Minderheitenrecht erforderlich machte. Im Sommer 1862 trug man dieser Erkenntnis durch eine Novelle des Interpellationsrechts in der Geschäftsordnung Rechnung, die im Anschluss an die Antwort eine Aussprache zuließ.461 Das Scheitern des Antrags Vincke beruhte nicht auf Winkelzügen der Regierung; dem liberalen Vorstoß wurden schlicht die parlamentarischen Mehrheiten zum Verhängnis. An diesen Verhältnissen hatte die Regierung freilich einen nicht unerheblichen Anteil: 1849 konnten die wenigen Liberalen, die überhaupt angetreten waren, in den durch Klassenwahlrecht und massive Wahlagitation verzerrten Juliwahlen bloß rund 60 der 350 Mandate erringen. Eine absolute Mehrheit von 158 Sitzen war der inhomogenen Rechten in den Schoß gefallen.462 Trotz dieses vernichtenden Wahlausgangs bewies schon die Adressdebatte, in der das Zentrum BodelschwinghGeppert kurzfristig unentschieden zwischen Misstrauensvotum oder Resignation schwankte, dass eine absolute ministerielle Vormachtstellung in der Kammer alles andere als selbstverständlich war. An der Frage, wie nach der außenpolitischen Niederlage von Olmütz weiter zu verfahren war, schieden sich schlicht die Geister. Vor diesem Hintergrund gehört die Annahme, die Regierung habe in der Reak­ tionsära unangenehme Enquêten oder Untersuchungen vereiteln können, ins Reich der Sagen. Kein allmächtiges Ministerium, sondern eine Kammermehrheit legte den ersten Untersuchungsantrag einer oppositionellen Minderheit ad acta. Zu dem vernichtenden Abstimmungsergebnis von beinahe 85 v. H. gegen eine parlamentarische Untersuchung müssen auch Parlamentarier außerhalb der streng konservativen Phalanx beigetragen haben. Zu dem politischen Entschluss, das Ministerium in dieser Frage zu unterstützen, dürften von Sorgen vor einer ufer­losen Untersuchung bis hin zu patriotischen Überlegungen die unterschiedlichsten Gründe beigetragen haben. Eine erhebliche Rolle fiel sicherlich auch rechtlichen Bedenken zu, die auf einer Linie mit der gouvernemental favorisierten, restriktiv-­unpolitischen Interpretation des Art. 82 PrVerf 1850 lagen, dass den Kammern nicht mehr als eine schlichte Erhebungsbefugnis zustehen sollte. Der bei dieser Gelegenheit anscheinend erstmals erhobene Einwand, jedes wertende Urteil über die festgestellten Tatsachen wäre unzulässig, hatte eine große Karriere vor sich: Noch 1909 sah der Greifswalder Professor Eduard Hubrich „lediglich die Herbeischaffung und Sichtung tatsächlichen Materials behufs informatorischer Kenntnisnahme des Plenums“ als alleinige „Aufgabe“ der Untersuchungskommissionen an.463 Weitere Bedenken dürften auf die sprachlich nahezu unbegrenzte Fassung des Untersuchungsantrags zurückzuführen sein. Selbst aus heutiger Perspektive ist die allgemeine Forderung einer „Untersuchung der Lage des Landes“ in bedenklichem Maße 461

Zur Entwicklung s. A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 118 f., 121 f. Vgl. H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte III2 2006, S.  200 f. Zur Oktroyierung des Klassenwahlrechts und der Billigung durch die Kammern E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 49 ff.; M. Kotulla, VerfGesch, 2007, Rn. 1814 ff.; ders., Verfassungswerk, 2008, S. 23, 25. 463 E. Hubrich, PrStaatsR, 1909, S. 218. 462

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unbestimmt.464 Obwohl insoweit sowohl die Antragsmotive als auch die vorangegangenen Auseinandersetzungen mit der Regierung eine Interpretationshilfe hätten sein können, wurde in der Zentralabteilung die Sorge laut, dass eine „nach dem Antrage niederzusetzende Untersuchungs-Kommission ihre Ermittelungen“ voraussichtlich nicht auf die in den Antragsmotiven angesprochenen Beschwerdepunkte „zu beschränken“ habe. Auch fürchtete man Friktionen mit der Tätigkeit anderer Gremien oder ganz allgemein eine Behinderung der parlamentarischen Arbeit.465 Im Ergebnis verdient der Antrag Vincke als erster Versuch einer Generalabrechnung mit dem Gouvernement aufgrund des Untersuchungsrechts eher einen Ehrenplatz in der Geschichte des parlamentarischen Selbstinformationsrechts als Geringschätzung. Die bei dieser Gelegenheit entwickelten Argumente und Positionen sollten Art.  82 PrVerf  1850 Zeit seines normativen Daseins begleiten. Das Scheitern des oppositionellen Antrags an der Kammermehrheit verdeutlichte schon zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie nötig die Ausgestaltung des Selbstinformationsrechts als Minderheitenrecht war, wenn es eine wirkungsvolle parlamentarische Regierungskontrolle ermöglichen sollte. 2. Die Verfolgung der religiösen Dissidenten (1852) Einen weiteren Versuch parlamentarischer Regierungskontrolle provozierte das harte Vorgehen gegen die frei- und die nationalreligiösen Bewegungen. a) Vorgeschichte Anfänglich wurden diese „Dissidenten“ von den Behörden geduldet oder ­sogar unterstützt, bis sich ihre Lage nach der Märzrevolution zusehends verschlechterte. Dem Deutschkatholizismus wurde sicherlich sein Spiritus Rector, der wegen scharfer Kritik an der Zurschaustellung des Heiligen Rocks in Trier exkommunizierte Johannes Ronge, zum Verhängnis. Der ehemalige Kaplan, der den Höhepunkt seines politischen Wirkens als einer der Wortführer der Linken im Frankfurter Vorparlament erreichte, suchte in und vor der Revolution offen die Nähe von Radikalen und Demokraten. 1882 berichtete Peter Reichensperger in seinen Erinnerungen von dem „eigenen Geständnisse“ Robert Blums, er habe „den Ronge’schen Deutsch-Katholizismus unbehelligt von der sympathisirenden Polizei und Censur dazu [benutzt…], das Volk sozialpolitisch zu erregen und an sich selbst zu fesseln“.466 464

Allg. zur Bestimmtheit M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 33; P. J. Glauben, in: ders./ Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 6 Rn. 8 ff.; B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 104 ff. 465 Vgl. VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr.  56, S.  377 f. Ähnl. W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 56. 466 P. Reichensperger, Erlebnisse, 1882, S.  35. Zum Ganzen E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 265 ff. und F. Fischer, Preußen, 1876, S. 280 f.

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Den entscheidenden Schlag führte Innenminister Ferdinand v. Westphalen mit einem geheimen Ministerial-Zirkular vom 29. September 1851, demzufolge die dissidentischen Gemeinden keine „Religionsgesellschaften, als vielmehr politische, den Umsturz der bürgerlichen und socialen Ordnung fördernde Vereine“ seien. Die Behörden wurden direkt angewiesen, die Gemeinden nicht mehr zu unterstützen, und an ihre „unabweisbare Pflicht“ erinnert, den Dissidenten „mit allen gesetzlichen Mitteln entgegenzutreten“. Etwa eingegangene rechtliche Verpflichtungen entbehrten „überall da der rechtlichen Grundlage, wo die fraglichen Gemeinschaften niemals in den Besitz von Corporationsrechten gelangt“ seien. Sollten sie im Einzelfall doch rechtsfähig sein, böten die Vorschriften der Städte- und der Gemeindeordnung „die erforderlichen Anhaltspunkte dar, um die Nichtausführung dieser Beschlüsse zu bewirken“.467 Aufgrund der Prämisse, es handele sich um politische Vereinigungen, wurde auf die dissidentischen Gemeinschaften das restriktive Vereins- und Versammlungsrecht angewendet: Sie waren verpflichtet, „Statuten [ihres…] Vereins binnen drei Tagen nach dessen Errichtung“ der „Ortspolizei-Behörde zur Kenntnißnahme einzureichen“ und nichtöffentliche Zusammenkünfte anzuzeigen; öffentliche Versammlungen waren genehmigungspflichtig. Die Ortspolizeibehörden durften jede Zusammenkunft überwachen und sogar auflösen. Das Grundrecht des Art.  22 PrVerf 1850, eigene Unterrichtsanstalten zu errichten und Unterricht zu erteilen, wurde den Dissidenten vorenthalten, die „Mittel zur religiösen Erbauung und gottesdienstlicher Handlungen“ wurden ihnen entzogen, ihre Prediger aus den Städten ausgewiesen. Besonders schwer wog die Nichteinführung der in Art. 19 PrVerf 1850 versprochenen Zivilehe, weil die Eheschließung mit Angehörigen anerkannter Konfessionen damit schwierig oder unmöglich wurde.468 Hinter allen diesen „Scheerereien, Verbote[n], Verfolgungen“ vermutete der ehemalige Diplomat und Publizist Karl August Varnhagen v. Ense zu Recht den Zweck, die Dissidenten „unter langsamen Qualen verkommen“ zu lassen.469 b) Erste Kammer aa) Der Antrag Lette-Forstner Unter dem 21. Januar 1852 forderte Adolph Lette gemeinsam mit dem Oberstleutnant a.  D. Alexander v. Forstner eine „besondere Kommission zur Untersu­ chung der mit den Grundsätzen der Artikel 12., 19. und 22. der Verfassungs-Urkunde 467

Abdruck bei F. Kampe, Deutschkatholizismus, 1860, S. 331 f. s. die Verordnung über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Mißbrauchs des Versammlungs- und Vereinigungsrechtes, vom 29. Juni 1849 (PrGS. 221). Zum Ganzen F. Kampe, Deutschkatholizismus, 1860, S. 270 sowie zu Maßnahmen gegen Gemeinden und Beschwerden L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S. 120 in den Anm. (Zitat). 469 L. Assing (Hg.), Tagebücher IX, 1868, S. 155. 468

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nicht in Einklang stehenden […] Regierungs-Maaßregeln, in Betreff der dissiden­ tischen, insbesondere der freien und der deutsch-katholischen Gemeinden“.470 Deutlicher als mit diesem Antrag, der bereits recht unverhohlen einen Verfassungswidrigkeitsvorwurf erhob, ließ sich die Regierungskritik- und -kontroll­funktion des parlamentarischen Untersuchungsrechts kaum artikulieren. In den umfangreichen Antragsmotiven dominierten materielle Fragen der Religionsfreiheit und weltanschaulichen Neutralität sowie eine deutliche Schelte der Politik zu Lasten der Dissidenten. Verschiedene Monita hatte der Freiherr v. Forstner in einer kleinen Schrift bereits Mitte August des Vorjahres als Verfassungsverletzungen angeprangert und, um Preußen „vor neuen politischen Stürmen [zu] bewahren“, die „vollständige, baldige, redliche und offene Durchführung der beschworenen Verf.-Urk., ihrem Geiste gemäß“, verlangt.471 Zur Begründung ihres Einsetzungsantrags stützten sich die Antragsteller auf häufige „Beschwerden der freien sowie der deutsch- oder christ-katholischen Gemeinden über die Maaßregeln der Regierung“, die mittlerweile „einen allgemeineren und dabei feindlicheren Charakter angenommen“ hätten. Wie bei früheren Enquêten gingen die Antragsteller über die bloße Forderung einer Tatsachenermittlung hinaus und verlangten zusätzlich, „jenen Beschwerden, wie ihren Ur­ sachen und ihrer Abhülfe die ernsteste Aufmerksamkeit und eine gründliche Prüfung zu widmen, je nach deren Ergebniß aber auch die Mittel zu erwägen, durch welche denselben im Vereine mit der Regierung und durch diese Abhülfe zu verschaffen“ sei. Als das dazu geeignete Mittel qualifizierten die Antragsteller eine „auf Grund des Art.  82. der Verfassungs-Urkunde ernannte besondere Kommission“. Zeitlos modern wirkt die Einschränkung, dass sich die „Kammer blos mit den Grundsätzen des Staatsrechts und deren Anwendung auf die neuen dissidentischen Reli­gions-Gemeinschaften“ zu beschäftigen habe; „religiöse Anschauungen und Ueberzeugungen“ der Dissidenten kämen „nur soweit in Betracht, als es in Frage [stehe…], ob deren Lehren und Bekenntnisse ausdrücklich Ge- oder Verbots-­Gesetzen entgegenliefen und […] den Strafgesetzen verfielen“. Jede inhaltliche Qualitäts- oder Kompatibilitätskontrolle mit dem Christentum etc. liege demgegenüber außerhalb der „Gränzen des staatsrechtlichen Gebiets“.472 bb) Der Kommissionsbericht vom 21. Februar 1852 Am 26. Januar 1852 entschied die Kammer gegen den Vorschlag ihres Präsidenten, der den Antrag an einen bestehenden Ausschuss überweisen wollte, eine besondere Kommission von 15 Mitgliedern zu wählen.473 Über die Zusammensetzung dieser Spezialkommission sollte der zweite Antragsteller v. Forstner später klagen, 470

SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 65, S. 1 (Hervorhebung nur hier). A. v. Forstner, ConstVerf, 1851, S. 9 ff. 472 SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 65, S. 3 f. 473 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 156 f. 471

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dass „[k]eine einzige von den 14 Petitionen […] in der Kommission auch nur vorgetragen worden [sei]; keine der vielen Klagen, die [die…] Antragsteller noch einreichen wollten, [sei…] nur entgegengenommen worden“. Stattdessen habe man über die Motion entschieden, „nachdem etwa 2 Mitglieder von der Rechten, 2 von der Linken ([die…] Antragsteller) und die 2 Regierungs-Kommissarien sie besprochen“ hätten.474 Immerhin erhielten die Antragsteller Gelegenheit, näher zu erläutern, „daß […] die beantragte Untersuchungs-Kommission dazu bestimmt sei, sich der Erörterung der in der Motivirung aufgestellten Thatsachen zu unterziehen, und ihre Erheblichkeit, so wie das Verhältniß derselben zur Gesetzgebung ins Auge zu fassen, um der Kammer ein Gutachten insbesondere darüber abzugeben, welche Stellung die Regierung […] eingenommen [und…] in wie weit dieselbe hierbei innerhalb der Schranken des Gesetzes und der Verfassung sich gehalten“ habe. Neben dieser retrospektiven Regierungskontrolle am Maßstab der Verfassungsurkunde, aber auch unter politischem Blickwinkel sollte geprüft werden, „welche Aufgabe die Gesetzgebung und Verwaltung habe, um für die Zukunft den Klagen über direkte oder indirekte Beschränkung der Religions-Freiheit vorzubeugen“. Nach weiteren Vorwürfen gegen das Ministerium, das mit seiner Politik, statt berechtigten Beschwerden abzuhelfen, „Mißmuth und Unzufriedenheit“ in einer das „Vaterland und seine Rechtsordnung“ gefährdenden Weise steigere,475 hoben die Antragsteller noch einmal die Notwendigkeit hervor, „die zu Grunde liegenden That­ sachen durch eine besondere Untersuchungs-Kommission näher ins Auge fassen zu lassen, damit dieselbe das Ergebniß mit einem Gutachten der Kammer vorlegen könne“. Auf diesen Grundlagen sollten ggf. schließlich die erforderlichen Schritte folgen, um den Klagen „im Verein mit der Regierung“ abzuhelfen.476 Trotz dieses bescheidenen Ölzweigs, der durch die Forderung gleichberechtigter Mitsprache eher eine Provokation darstellte, sprachen die Regierungskommissare – Presseberichten zufolge handelte es sich um den Geheimen Regierungsrat im Ministerium des Innern Jacob Scherer und den Regierungsrat im Kultusministerium Carl Wilhelm Ludwig Julius Bindewald477  – der Kammer kategorisch das Recht ab, überhaupt eine Kommission zur „Untersuchung von Regierungs-­ Maaßregeln“ einzusetzen. Zur Begründung folgte die zweifelhafte These, dass Art. 82 PrVerf 1850, wie die Revisionsberatungen gezeigt hätten, ausschließlich eine „Feststellung von Thatsachen“ gestatte. Die Antragsteller zeigten sich aber über den Sachverhalt „gar nicht im Unklaren“, sondern versuchten lediglich, die „Thatsachen, soweit sich darin das Verfahren der Regierung gegen die dissidentischen Gemeinden darstelle, einer Kritik zu unterwerfen“. Ein solches „Gutachten“ über die Regierungsarbeit oder „Vorschläge zur Abänderung“ ließen sich nicht auf 474

VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 814. SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 1 f. (Hervorhebung nur hier). 476 SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 3. 477 Allgemeine Zeitung, Nr. 51, vom 20. Februar 1852, S. 804. 475

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Art. 82 PrVerf 1850 stützen, dessen Grenzen man penibel einzuhalten habe, weil jede parlamentarische Untersuchung „eine außerordentliche, den gewöhnlichen Gang zur Aufklärung von Thatsachen verlassende Maaßnahme von großer Wichtigkeit sei“. Andernfalls könne leicht der falsche Eindruck entstehen, als wäre die Volksvertretung dazu befugt, „über die Maaßregeln der Verwaltung ein förmliches Untersuchungs-Verfahren einzuleiten, in welchem die Kammer demnächst über die Regierung zu Gericht sitzen“ solle. Ein derartiges Verfahren wäre verfassungsrechtlich „völlig unstatthaft“; Art. 82 PrVerf 1850 biete „nicht einmal einen Schein […] solcher Befugnisse“.478 Neben diesen bloßen Behauptungen, die den Revisionsberatungen Hohn sprachen, setzten sich die Regierungskommissarien mit den sachlichen Vorwürfen der Antragsteller überhaupt nicht auseinander, sondern verwiesen lediglich darauf, dass viele Tatsachen „noch gar nicht zur Kognition der höchsten Verwaltungs-Behörde gekommen“ seien; dieser Einwand sollte wohl die Subsidiarität einer parlamentarischen Befassung mit den betreffenden Bittschriften begründen. Die Regierungsseite fuhr fort, dass „viel allgemeinere und lautere Klagen“ im Land nicht über die angeblichen Schikanen, sondern im Gegenteil „darüber erhoben [würden…], daß man das Treiben dieser Gemeinden […] dulde“, obwohl sie einen „wahren Heerd der Zersetzung aller Kirchen- und SchulVerhältnisse“ darstellten. Zu guter Letzt schoben die Regierungskommissare die Verantwortung für die angeprangerten Unterlassungssünden den Abgeordneten zu: Wenn die Kammer für die Zivilehe etc. legislativen Handlungsbedarf sehe, „sei es ihre Sache, die Initiative zu ergreifen“.479 In der zentralen Frage, „ob der Art. 82. der Verfassungs-Urkunde der Kammer ein Recht gebe, eine Untersuchungs-Kommission in der beantragten Weise zu ernennen“, schloss sich die Kommissionsmehrheit dieser restriktiven Stellungnahme an. Statt einer „Untersuchung von Regierungsmaaßregeln“ dürfe „eine solche Kommission […] nur die Aufgabe haben, Thatsachen festzustellen, nicht aber, […] das ganze System der Staats-Verwaltung in Bezug auf die Behandlung der dissidentischen Gemeinden einer Untersuchung zu unterwerfen, und darüber ein Gutachten der Kammer vorzulegen, um ein Urtheil der letzteren herbeizuführen. Kein Artikel der Verfassungs-Urkunde gebe der Kammer das Recht, in dieser Art über die Staats-Verwaltung zu Gericht zu sitzen“ oder „zu diesem Behufe zur Instruktion des Verfahrens480 478 SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 3 f. Dementsprechend ist bei H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 367 zu lesen, dass eine „richterliche Funktion […] in keinem deutschen Staate den jetzt bestehenden Ständeversammlungen beigelegt“ wäre. 479 SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 4. 480 Der Begriff stammt aus dem preußischen Prozessrecht: Der Instruktionsrichter hatte den maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln, um das Urteil vorzubereiten. Nach der Allgemeinen Gerichtsordnung vom 4. Februar 1815 galt nicht die gemeinrechtliche Verhandlungsmaxime, sondern der Richter hatte von Amts wegen die objektive Wahrheit zu ermitteln (vgl. §§ 1 ff. Pr­ Allg­GO 1815). – Über die Amtsermittlung, die § 8 Pr­Allg­GO 1815 als „Instruktion des Pro­ zesses“ bezeichnete, heißt es bei A. v. Daniels, Civilrechtspflege I, 1839, S.  414 ff.: „Die Prozeß­instruktion hat zunächst den Zweck: die Materialien herbeizuschaffen, aus welchen die Kenntniß des Sachverhältnisses geschöpft wird. In dieser Beziehung gehört zu derselben:

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eine Kommission einzusetzen“.481 Art. 82 PrVerf 1850 beschränke die Befugnisse der Kammer „unzweideutig“ auf die Beschaffung der „Information, die man für nöthig gefunden“ habe, sowie auf den „bestimmten Zweck, zu welchem diese Information gesucht werde“. Aus diesen Prämissen zog die Mehrheit die informa­tionsrechtlich fatale Schlussfolgerung, dass jede Untersuchung „immer einen besonderen Gegenstand, sei es eine Regierungs-Vorlage, oder einen Antrag voraus[setze], welcher der Kammer zur Berathung resp. Beschließung vorliege, und in Bezug auf welchen die Kammer zu ihrer Information [einer…] Aufklärung über Thatsachen vor der Entscheidung bedürfe“. Möglicherweise mit Rücksicht auf die spontanen Sozial­enquêten der vergangenen Jahre schränkte man die faktische Selbstentmachtung wieder ein Stück weit ein, dass, „wenn ein Antrag auf Abhülfe eines Nothstandes vorläge, […] es allerdings Bedürfniß sein [könne], vorher die darauf bezüglichen Thatsachen festzustellen“. Im Allgemeinen könne die Kammer dagegen „[o]hne einen solchen Zusammenhang mit bestimmten Gegenständen, über welche Beschluß zu fassen sei, […] nicht einmal ein Recht haben, Thatsachen feststellen zu lassen“. Da nach dem Antrag „aber die Thatsachen, die man untersuchen wolle, selbst Zweck sein“ sollten, könne „zu solchen Verfahren […] in den Befugnissen der Kammer kein Grund gefunden werden. Ueberdies habe auch die Kammer keine Zeit, ohne jenen Zweck sich auf Untersuchung der Thatsachen einzulassen, zumal wenn sie, wie hier, nicht genau spezialisirt und in ihrer Entwickelung in dem bestimmten Instanzenzuge näher nachgewiesen worden, so daß nicht ohne die größte Mühe sich ein Urtheil darüber bilden lasse“.482 Diese Interpretation von Art. 82 PrVerf 1850 war gleich doppelt restriktiv: Einerseits sollte das Selbstinformationsrecht gegenüber konkreten Beratungsgegenständen akzessorisch sein; andererseits wurde die unbestreitbare Aufgabe der Versammlung, über die Einhaltung der Verfassung zu wachen, für das Untersuchungsrecht faktisch nahezu ausgeblendet.

1. die Sammlung der Erklärungen und Nachrichten, welche erforderlich sind, um die Anträge der Parteien mit dem Streitverhältnisse, wie sich dasselbe nach ihren gegenseitigen Behauptungen darstellt, und beide mit den thatsächlichen Voraussetzungen der zur Anwendung zu bringenden Rechtssätze vergleichen zu können und 2. die Gewinnung der Mittel, durch welche die Gewißheit erlangt wird: daß die in den Verhandlungen aufgestellten Thatsachen in der Wirklichkeit auch so beschaffen seyen, wie sie der Beurtheilung zur Grundlage dienen müssen.“ – C. J. A. Mittermaier, Prozess I, 1822, S. 72 f., notierte dazu: „Als nun am Ende des vorigen Jahrhunderts in Preußen ein neues Verfahren gegründet wurde, nach welchem in der Voraussetzung persönlicher Erscheinung der Partheien bei Gericht, und mit der Absicht die Advokatenherrschaft zu beschränken, die Richtergewalt ausgedehnt, und der Richter von Amtswegen Wahrheit aufzusuchen schuldig erklärt wurde, ohne daß er sich an die von den Partheien angegebenen Mittel zur Erforschung schlechterdings binden müßte, – da erhielt die Untersuchung des obersten Grundsatzes des deutschen Prozesses eine neue Richtung. Da der preußische Prozeß selbst seine neue Maxime die Inquisitionsmethode nannte, so bildete sich nun, da man im deutschen Prozesse eine entgegengesetzte richterliche Thätigkeit wahrzunehmen glaubte, auch eine als Gegensatz bezeichnete Maxime des gemeinen Prozesses aus, welche man Verhandlungsmaxime nannte.“ 481 SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 4. 482 SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 5.

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Nur „von einer Seite“ wurde diesen Beschränkungsversuchen, die in Schrifttum und Praxis zu dauerhaften Begleitern des preußischen Enquête- und Untersuchungsrechts werden sollten,483 entgegengehalten, dass in den Antragsmotiven „ein bestimmter Zweck, weshalb zur Untersuchung der in Rede stehenden Thatsachen eine Kommission beantragt sei, allerdings […] angegeben“ werde. Schwerer wog der entstehungsgeschichtlich richtige Einwand, dass Art. 82 PrVerf 1850 weder einen äußeren Anlass der genannten Art voraussetze noch darauf beschränkt sei, „lediglich die nackten Thatsachen ins Auge zu fassen […], und sich jedes Ur­ theils über ihre rechtlichen Beziehungen [zu] enthalten“. Vielmehr sei jede Kommission, die „zur Untersuchung von Thatsachen niedergesetzt“ werde, grundsätzlich auch dazu berufen, „über das Resultat ein rechtliches Gutachten abzugeben“. Wie so oft wurde auf England verwiesen, wo „dergleichen Untersuchungs-Kommissionen als Kontrole der Verwaltung des Ministeriums“ eingesetzt würden. Provokant musste die Aufforderung wirken, etwaige Zweifel „fallen [zu] lassen, wo es sich um die Sicherstellung so wichtiger, heiliger Interessen des Volks handele, und kein anderer Weg mehr übrig bleibe, […] da ein Gesetz, welches die Anklage der Minister regele, noch nicht gegeben sei“.484 Ganz in diesem Sinne hatte Alexander v. Forstner in seiner kleinen Schrift vom August 1851 klargestellt, dass „jenes Fehlen doch keineswegs eine moralische Verantwortung, so wenig als eine derartige Anklage wider die Minister aus[schließe]“, und angekündigt, das Forum der Öffentlichkeit anzurufen.485 In den Kommissionsberatungen stellte einer der Antragsteller klar, dass, „wenn ein Gesetz wegen Verantwortlichkeit der Minister bestände, [man…] diesen Weg der Anklage beschritten“ hätte. Da der Kammer aber derzeit „nichts weiter übrig [bleibe…], als ihre Meinung auszusprechen“ – eine Anspielung auf Resolutionsrecht und Missbilligungsbeschluss –, müsse man, „um ein solches Aussprechen vorzubereiten“, eine Kommission einsetzen, „welche die Verhältnisse […] erst näher untersuchen solle“.486 Indem die Kommissionsmehrheit die These aufstellte, dass ein solches „Surrogat der Minister-Anklage“ verfassungsrechtlich „in keiner Art durch […] Artikel 82. der Verfassungs-Urkunde gerechtfertigt“ wäre,487 stellte sie die selbständige Kontrollfunktion des parlamentarischen Untersuchungsrechts in Frage. Sicherlich um des Schreckbildes einer auf diesem Wege initiierten Teilparlamentarisierung der Regierungsverhältnisse willen wies man den Vergleich mit England zurück, „weil das Parlament dort administrative Befugnisse habe“.488 Überdies beschied die Mehrheit die Antragsteller, dass eine Untersuchungskommission in der Dissidentenfrage entbehrlich wäre, soweit der Sachverhalt „zur Kognition des Ministeriums gediehen“ sei; anscheinend hielt man das Untersuchungsrecht gegenüber 483

Zum Schrifttum s. 5. Teil 2. Kap. B. SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 5. 485 Vgl. A. v. Forstner, ConstVerf, 1851, S. 12 f. 486 SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 9. 487 SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 9 f. 488 SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 5. 484

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interpellationsartigen Auskünften für subsidiär. Als unklar betrachtete die Kommissionsmehrheit nur noch die Wertungsfrage, ob Gesetz oder Verfassung verletzt worden seien oder nicht, die aber einer Untersuchungskommission ohnehin verschlossen wäre. Von Tatsachen, die „noch nicht Gegenstand einer Beschwerde bei den Königl. Ministerien gewesen“ seien, gegen die also der „ordentliche Instanzenzug der Beschwerde noch offen[stehe]“, brauche die Kammer überhaupt keine „Notiz zu nehmen“. Ungeachtet der Bedenken der Antragsteller, dass „alle Beschwerden bei den Ministerien […] ohne Erfolg geblieben seien“ und sich „kein Beamter […] solche Bedrückungen der Dissidenten“ ohne Rückhalt bei der Regierung „herausnehmen“ könne, beharrte man auf der vermeintlichen Subsidiarität parlamentarischer Schritte.489 Die bereits erhobenen Rügen wurden als „materiell nicht […] begründet“ abgetan, die Antragsteller in der Frage der Zivilehe darauf verwiesen, die „Abhülfe“ der Regierung zu überlassen, anderen Beschwerden gegenüber aber selbst die „Initiative in Bezug auf diese Gesetze zu ergreifen“.490 Weil „Artikel 82. der Verfassungs-Urkunde die Ernennung einer UntersuchungsKommission in der beantragten Weise nicht rechtfertige“ und „in den aufgestellten Thatsachen kein hinreichender Anlaß […] zu finden“ wäre, sprach sich die Kommission mit elf gegen drei Stimmen gegen den Untersuchungsantrag aus.491 Mit diesem vernichtenden Votum, dass die Presse mit dem Urteil kommentierte, dass „[d]er Antrag […] von der Commission als nicht verfassungsmäßig angenommen worden“ wäre,492 ging die erste Runde für die Etablierung einer parlamentarischen Regierungskontrolle in Preußen verloren. cc) Plenarberatung und Abstimmung Im Plenum übernahm der Posener Oberregierungsrat Klee die Begründung des Kommissionsantrags. Der Berichterstatter war Doktor beider Rechte und renommierter kirchenrechtlicher Publizist. Neben seiner Sachkunde spiegelte seine Wahl die politischen Mehrheitsverhältnisse in der Kommission wider, stand der Dirigent der Regierungsabteilung für Kirchen- und Schulwesen doch fest auf dem Boden des „conservativ[en] Princip[s]“, nahm in religiösen Fragen „warmen Antheil an der pietistisch gefärbten Gegenströmung gegen den Rationalismus“493 und dürfte damit kaum ein Freund der freien Gemeinden gewesen sein. Tatsächlich eröffnete Emil Wilhelm Klee seine Philippika gegen den Antrag mit der These, dass die „Worte des Artikels 82 der Verfassungs-Urkunde […] zu klar gegen [das…] Recht [sprächen], eine Untersuchungs-Kommission in Betreff der Regierungsmaßregeln gegen die Dissidenten einzusetzen“, als dass „in dieser Beziehung noch ein be 489

SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 6 (Hervorhebung nur hier). SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 7 ff. 491 SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 125, S. 10. 492 Allgemeine Zeitung, Nr. 51, vom 20. Februar 1852, S. 804. 493 Mejer, ADB XVI, 1882, S. 68. 490

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gründeter Zweifel obwalten“ könne. Nach ausführlichen Darlegungen zur Sache kam er neben diesem formalen Einwand zu dem Schluss, dass „in keiner Beziehung der Vorwurf einer verfassungswidrigen Beschränkung der Religionsfreiheit bisher dargethan“ wäre, so dass man „auch aus diesen materiellen Gründen nur empfehlen [könne], nach dem Antrage der Kommission den Antrag der Abgeordneten Lette und von Forstner abzulehnen“.494 Gegen den Antrag sprach sich auch der Vizepräsident der Ersten Kammer­ Theodor Brüggemann aus. Zwar konzedierte der gemäßigte Rechte, der selbst der Spezialkommission angehört hatte, dass die Fassung des Art. 82 PrVerf 1850 es vollkommen der „Praxis überlassen [habe…], die Anwendung dieses Artikels selbst in den einzelnen Fällen näher festzustellen“. Aber obwohl die Kammer grundsätzlich befugt sei, „[w]enn […] für irgend einen von ihr zu erreichenden Zweck die genaue Feststellung von Thatsachen nothwendig [wäre…], zur Ermittelung und Festsetzung solcher Thatsachen eine Kommission niederzusetzen“, bedeute doch der ausdrückliche Zusatz „behufs ihrer Information“, „daß diese Information […] für irgend einen ihr vorliegenden Antrag oder von ihr behandelten Gegenstand nothwendig [sein müsse…]; denn ohne eine solche Bedeutung würden diese Worte entweder keinen Sinn haben oder überflüssig sein“. Aufgrund dieser restriktiven Interpretation konstatierte der gouvernementale Abgeordnete schon deswegen einen Verstoß des Antrags gegen Art. 82 PrVerf 1850, dass statt von einer Untersuchung von Tatsachen von einer Untersuchung bestimmter Regierungsmaßregeln die Rede wäre. Überdies beabsichtigten die Antragsteller überhaupt nicht zu „ermitteln, ob jene Maßregeln verfassungs- und gesetzwidrig seien“, sondern verlangten eine „Untersuchung der mit den Grundsätzen der Artikel 12, 19 und 22 […] nicht im Einklange stehenden Maßregeln“.495 Der Geheime Regierungsrat Brüggemann, der sich während des Kölner Mischehenstreits in den 1830er Jahren durch verschiedene „Vertrauensaufträge“ der Regierung verdient gemacht hatte,496 betonte weiter, dass die Kommission den Antrag, weil doch „sehr leicht“ eine Art. 82 PrVerf 1850 gemäße Fassung möglich gewesen wäre, nicht allein aus formellen Gründen abgelehnt, sondern auch seine materiellen Grundlagen widerlegt habe. Lediglich in der Ehefrage erkannte der Katholik eine ausfüllungsbedürftige Lücke an.497 Zu guter Letzt bezog er in der Sache dadurch deutlich Position, dass er die Staatsregierung, soweit die freien Gemeinden „politische Tenden 494

VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 793 f. VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 803 (Hervorhebungen nur hier). 496 F. Pecht, ADB III, 1876, S. 408. 497 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 803 ff. Im Einzelnen führte Brüggemann aus, dass der persönliche und vergeltende Gott in den Katechismen der freien Gemeinden als „Erzeugniß des dichterischen und philosophischen Gedankens der Menschheit“ durch den „menschliche[n] Geist [als…] das höchste auf Erden“ ersetzt werde. „Der Glaube an die Erbsünde, an die übernatürliche Wirkung der Sakramente, an die Rechtfertigung durch Jesu Tod, an die Göttlichkeit Christi, an die Wunder der Bibel [sei…] baarer Aberglaube“. „Jede Religion“ verletze für die Dissidenten die Humanität, ja sei „unwahr“, „weil sie in der Abhängigkeit von Gott [bestehe…] und also der menschlichen Selbstständigkeit, d. h. der menschlichen Natur“ widerspreche. 495

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zen“ verfolgten, ausdrücklich dazu aufforderte, der drohenden „Vernichtung des Staates […] entgegenzuwirken“.498 Deutlicher ließ sich der diametrale Gegensatz zu den Zielen der Antragsteller nicht auf den Punkt bringen. Regierungskommissar Jacob Scherer erklärte rundheraus, dass sich die Regierung dem Antrag „in dieser Form nur entgegenstellen“ könne. Offenbar verlangten die Antragsteller „etwas ganz Anderes“, als Art. 82 PrVerf 1850 den Kammern zugestehe. Ihr Antrag bezwecke keine „Untersuchung von Thatsachen zur Information der Kammer“, sondern eine „Beurtheilung“ bzw. „sofortige Verurtheilung“ des Regierungsverhaltens. Zu allem Überfluss sei das kondemnierende „Urtheil über die Gesetzwidrigkeit dieser Maßregeln bereits in dem Tenor des Antrages selbst ausgesprochen“. Zum „materiellen Inhalt“ ergriff er für die „Regierung mit Freuden die Gelegenheit, um sich über ihr Verhalten, den freien Gemeinden gegenüber, […] aus[zu] sprechen“. Weil jene Gesellschaften nicht religiöser Art seien, sondern politische Ziele verfolgten, hielt er sämtliche Maßnahmen für gerechtfertigt. Als Beleg für seinen Verdacht führte der promovierte Jurist und Geheime Regierungsrat im Ministerium des Innern politische Äußerungen Johannes Ronges sowie von Vertretern einzelner Gemeinden an.499 Während sich Innenminister Ferdinand v. Westphalen auf eine Verteidigung seines nach Ludwig v. Rönnes Urteil rechtswidrigen500 Vorjahresreskripts zur Behandlung der Dissidenten beschränkte, weil seit Jahren Hinweise vorlägen, „daß […] die revolutionaire Gesinnung sich unter den Deckmantel religiöser Verbindungen geflüchtet“ habe,501 erklärte Kultusminister Karl Otto v. Raumer die beantragte Untersuchung namens der Staatsregierung „für unstatthaft, für unverein­ bar mit den Bestimmungen der Verfassungs-Urkunde“. Er stützte dieses Verdikt ebenfalls auf die Annahme, dass der „Zweck jenes Antrages […] dahin[gehe], einen großen wichtigen Theil der Verwaltung, welche nach den Bestimmungen der Verfassungs-Urkunde ausschließlich der Regierung [zustehe…], einer Revision zu unterwerfen, Thatsachen festzustellen, das Verfahren der Behörden und die Grundsätze, die sie befolg[t]en, zu prüfen, Beschlüsse der Kammer in dieser Beziehung 498

VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 807. VerhPr1K II/2 (1851/52), S.  808 ff. In einer tatsächlichen Berichtigung bestritt Adolph Lette Verbindungen Ronges mit den Deutsch-Katholischen, stellte jede Vereinigung der Gemeinden in Abrede und betonte, dass die zitierten Katechismen keinesfalls verbindlich seien. Auf diese Replik, die teils über den geschäftsordnungsmäßigen Rahmen hinausging, erwiderte der Regierungskommissar, dass Ronge im Mai 1850 von den Deutschkatholiken „zum korrespondirenden Mitgliede ernannt worden“ sei. Außerdem zitierte er u. a. aus einem Polizeibericht über eine Versammlung in Stettin, in der über „Menschenrechte“ gepredigt werden sollte: Der Saal sei ausschließlich mit Darstellungen „aufreizenden und revolutionairen Inhalts“ dekoriert gewesen, darunter die Erschießung Robert Blums, „Waldeck im Kerker“ etc. Außerdem sei eine „ganze Bibliothek“ gefunden worden, „natürlich in derselben Art wie die Bilder“ (S. 811 f.). 500 L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S. 119 in Anm. 1 a) beurteilt das „(amtlich nicht veröffent­ lichte) Cirk.-Reskr. des Min. des Inn. v. 29. Sept. 1851 [als…] weder mit den Bestimmungen des Vereins-Gesetzes, noch mit dem Art. 12 der Verf.-Urk. vereinbar“. 501 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 822. 499

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vorzubereiten – und alles das, ohne daß irgend einer der Fälle [vorliege…], welche nach der Verfassungs-Urkunde eine Kompetenz der hohen Kammer begründen könnten“. Ein entsprechender Kammerbeschluss werde deswegen nur „Verwirrung und Stockung in alle Theile der betreffenden Verwaltung“ bringen. Parlamentarische Kontrollbemühungen sprach er jede Bedeutung und Verbindlichkeit ab, indem eine parlamentarische Untersuchung „ohne jeden praktischen Erfolg“ sein müsse, weil die Regierung nach der Verfassung allein „das Recht und noch vielmehr die Pflicht [habe…], auch fernerhin nach den Grundsätzen zu verfahren, die sie nach reiflicher, gewissenhafter Erwägung in der Sache für die richtigen“ halte. Tatsächlich dürfte diese Sichtweise dem konstitutionellen Staatsrecht entsprochen haben, das für solche Konflikte noch keine neutrale Instanz nach der Art einer modernen Verfassungsgerichtsbarkeit kannte, sondern die Letztentscheidung zwangsläufig dem König überließ. Weil die Regierung aber im Kampf gegen die Irrlehre auf die Unterstützung der Kammer baue, forderte der konservative Minister die Abgeordneten als ersten Akt in diesem Schauspiel dazu auf, sowohl den ursprünglichen Antrag als auch ein vermittelndes Amendement zu verwerfen; andernfalls müsse in der Öffentlichkeit der „Eindruck“ entstehen, dass „die Erste Kammer […] eine lebhafte Sympathie für die freien Gemeinden“ hege, weil niemand annehmen werde, dass das Haus „auf ganz ungewöhnliche, mit den Bestimmungen der Verfassungs-Urkunde unvereinbare Weise  [!], eine Untersuchungs-­Kommis­ sion nieder[setze], blos um angebliche, durch nichts nachgewiesene Versehen oder Ausschreitungen einzelner Polizei-Behörden zu prüfen“. Schließlich wäre allgemein bekannt, dass „es auch gesetzliche Wege“ gebe, sich bei den höheren Behörden zu beschweren oder die Sache vor die Volksvertretung zu bringen.502 Mit reichlich Kreide in der Stimme versicherte der wegen seiner oppositionellen Haltung später aus dem Landesökonomiekollegium entfernte Adolph Lette, wie weit man doch davon entfernt wäre, „durch diese oder ähnliche Anträge dem Gouvernement irgendwie Schwierigkeiten zu bereiten, oder in irgend eine oppositionelle Stellung […] zu treten“. Trotzdem könne er aufgrund seiner langjährigen Richtertätigkeit nicht anders, als „Recht und Gesetz überall zu vertreten, ohne Scheu und Furcht nach oben wie nach unten“. Er beschwor patriotische Gefühle, erinnerte an Friedrichs II. Credo, „daß […] ein Jeder nach seiner Façon selig werden könne“, und gab sich überzeugt, dass das „hohe Haus“ dem Antrag beitreten werde, wenn es nur erkenne, „in welchem Umfange und wie […] methodisch mit den Unterdrückungs-Maßregeln gegen die freien und christ-katholischen Gemeinden“ vorgegangen werde.503 Der Regierung hielt der engagierte Sozialpolitiker vor, durch ihr Vorgehen gegen die Dissidenten eine Kabinettsordre von 1845, das zwei Jahre jüngere Toleranzedikt sowie das Allgemeine Landsrecht von 1794 zu verletzen.504 Anfang der 1850er Jahre 502

VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 824 f. VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 795. 504 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 795 f. 503

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habe der Innenminister gegen Art. 12 PrVerf 1850505 verstoßen, als er sämtlichen Dissidentengruppen den religiösen Charakter abgesprochen und ihnen das Schandmal „politische[r], auf den Umsturz der bürgerlichen und sozialen Ordnung hinzielende[r] Vereine“ aufgedrückt habe. Weiter habe das Gouvernement die Behörden „förmlich aufgefordert“, den Freikirchen „mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten“, ja selbst ihnen fest versprochene „Unterstützungen sofort zurückzuziehen“. Dass man das Vorgehen der Unterbehörden höheren Orts goutiere, stelle das Ministerium durch Reskripte und die Tatsache unter Beweis, dass es in keinem Fall gegen eine ungerechtfertigte oder rechtswidrige Maßnahme eingeschritten sei.506 Die Schikane richte sich aber keineswegs bloß gegen die Gemeinden, sondern auch gegen Einzelne: So habe man unter Missachtung des Rechts langjährigen Lehrern den Privatunterricht verboten, Wahlmännern das Wahlrecht zu den Provinzial­ständen genommen, selbst Nacht- und Feldwächter bedroht, Beamte „versetzt und zurückgesetzt“, Privathäuser und Wohnungen willkürlich durchsucht und Prediger allein ihres Bekenntnisses wegen aus der Stadt gewiesen.507 Nach diesen Anklagen erinnerte Adolph Lette das Ministerium an das Versprechen, die Zivilehe einzuführen, damit nicht „um dieser Lücke der Gesetzgebung willen die Gewissensfreiheit der Preußischen Unterthanen verletzt werde“.508 Nach diesen Vorhaltungen beteuerte der liberale Politiker nochmals, dass es ihm keineswegs darum gehe, „eine Minister-Anklage in nuce vorzubringen, oder ein Surrogat […] der Kammer vorzuschlagen, noch […] den Herrn Ministern einen Rath zu geben“. Der Zweck des Antrags sei allein eine „loyale und gewissenhafte Ausübung der bestehenden Gesetze und der Verfassung“. Als „etwas auf dem Kothurn einhergehende Phrase“ kanzelte Adolph Lette das von der Kommission gemalte „Schreckbild“ ab, dass die Kammer „förmlich zu Gericht sitzen [solle…] über das Ministerium“. Durch derartige Übertreibungen dürfe man sich „nicht abhalten“ lassen, von dem „verfassungsmäßigen Rechte aus dem Art. 82 Gebrauch zu machen“.509 Trotz der Spitze gegen die Regierung, „daß es auf eine […] Entscheidung [im Verwaltungsweg] über dergleichen einzelne Thatsachen und Beschwerden gar nicht erst [ankomme…], um die wahre Quelle von allen diesen Maßregeln zu erkennen“,510 betonte Adolph Lette, dass der Antrag lediglich d­ arauf abziele, dass einerseits die Tatsachen untersucht würden und sich das Gouvernement andererseits zu den Vorgängen äußere. Stelle sich dann heraus, dass die Klagen bloß ministeriell missbilligte „Mißgriffe“ der „untergeordneten Behörden“ 505 „Artikel  12. Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Religionsgesellschaften (Art. 30. und 31.) und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsausübung wird gewährleistet. Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekenntnisse. Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen.“ 506 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 797 ff. 507 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 801 f. 508 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 802 f. 509 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 796. Ähnl. noch einmal S. 803. 510 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 796 f.

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beträfen, werde sich die Öffentlichkeit beruhigen. Weiterhin hätten die Kammern nach einer Untersuchung „im Vereine mit der Regierung diejenigen Maßregeln zu erwägen und zu erörtern, die geeignet [seien…], um diesen vielfachen Be­ drückungen und Beschwerden einer so großen Masse von Unterthanen […] Abhülfe zu schaffen“. Gegenüber der These, seine Forderungen fänden in Art. 82 PrVerf 1850 keinen Halt, verwies der Jurist Lette auf die beanstandungslos durchgeführten Sozialenquêten sowie die Bankenenquête. Bei diesen Gelegenheiten habe man ebenfalls keineswegs versucht, irgendeine „Neugier zu befriedigen“, sondern durchaus beabsichtigt, „an die untersuchten und geprüften Thatsachen Maßregeln und Vorschläge anzuknüpfen, um den Beschwerden abzuhelfen“.511 Co-Antragsteller Alexander v. Forstner hob in seinem Schlusswort die außergewöhnliche Wichtigkeit der in ganz Deutschland beachteten Angelegenheit hervor, von der „mehr als 50,000 Mitbürger“ betroffen seien. Obwohl es am Ende die Juristen auszumachen hätten, „ob das Formelle des Antrags dem Art. 82 gemäß sei oder nicht“, führte es der liberale Baron gewissermaßen als Indiz für die Verfassungsmäßigkeit der Untersuchungsforderung an, dass zwischenzeitlich eine „Zahl namhafter Abgeordneten der Zweiten Kammer“ den Vorstoß „buchstäblich […] aufgenommen und ihn auch zu dem ihrigen gemacht [habe…]; jene Herren hätten doch wohl Zeit genug gehabt, zu prüfen: ob das Recht der Kammer […] außer Zweifel“ stehe.512 Nach weiteren Anklagen gegen das rechtswidrige Regierungshandeln riet der linke Politiker, der die „monarchisch-constitutionelle Verfassung“ dem berühmten Bonmot Winston Churchills ähnlich „keineswegs [als] die beste Staatsform, welche sich theoretisch ersinnen und practisch ausführen“ lasse, wohl „[a]ber [als…] beste unter den gegenwärtig möglichen für Deutschland“ charak­ terisiert hatte,513 den Protagonisten der beanstandeten Politik, „es nicht zur Abstimmung kommen“ zu lassen, sondern selbst den einzigen Schritt zu verlangen, der sie „vor dem Volke“ rechtfertigen könne: Die Minister sollten sich, wenn sie ihren Überzeugungen gemäß gehandelt hätten, vor der „größtmöglichen Oeffentlichkeit“ verteidigen, weil sie nur auf diesem Wege einen „moralischen Triumph“ davontragen könnten. Gehe die Kammer zur Tagesordnung über, wären die Minister unwiderruflich „verurtheilt“.514 Diese These bezog sich sicherlich auf den Antrag und seine öffentliche Begründung in der Kammer. Obwohl der Mitbegründer der Wochenblattpartei August v. Bethmann-Hollweg zunächst „einen tiefen Abscheu sowohl als ein tiefes Mitleiden mit den Verirrungen“ der Dissidenten bekundete, unterbreitete er der Kammer doch einen vermittelnden Vorschlag. Zunächst aber stellte der spätere Kultusminister der „Neuen Ära“ richtig, dass es in der Debatte nicht um religiöse Standpunkte, sondern allein 511

VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 803. VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 813. 513 A. v. Forstner, Grundzüge, 1849, S. 2 (Zitat); ders., ConstVerf, 1851, S. 8 f. und ferner S. 4 ff. 514 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 814 ff., 818. 512

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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um die jedem Untertanen zustehende Gerechtigkeit gehe. Gegenüber dem ursprünglichen Antrag kritisierte der habilitierte Römischrechtler, dass es gemessen an Art. 82 PrVerf 1850 unzulässig wäre, eine „Kommission zur Untersuchung der Regierungsmaßregeln in Bezug auf die Dissidenten“ zu bilden, um „auf Grund dieser Untersuchung ein Urtheil zu fällen“. Ebenso widersprach der 1840 nobilitierte Politiker, der dem pietistischen Kreis um den früheren Kronprinzen angehört hatte und im Jahr nach der Thronbesteigung in den Staatsrat berufen worden war, der Kommissionsmehrheit, dass eine Untersuchung bloß auf eine Regierungsvorlage oder einen Sachantrag hin zulässig wäre. Er kritisierte die „Behandlung“ der Sache in der Spezialkommission, die man „nicht für eine unparteiische, auf Gerechtigkeit beruhende erkennen“ könne, weil sie sich „ganz auf die Mittheilungen […] der Regierung“ gestützt habe (!), die ihrerseits von der „allgemeine[n] Vermuthung“ ausgehe, „daß alle diese angeblich religiösen Gesellschaften politischer Natur seien, und […] den Gegenbeweis von jeder einzelnen“ verlange. Am Beispiel einer Gemeinschaft in Frankfurt an der Oder, die unter „kleinlichen und für jedes Gefühl verletzenden polizeilichen Quälereien“ zu leiden habe, exemplifizierte der Großvater des späteren Reichskanzlers, „daß durch die Behandlungsweise der Regierung wirklich Unrecht“ geschehe. In der Sache trug er schließlich auf die motivierte Tagesordnung an und begründete diese Forderung einerseits mit der „Erwägung, daß Zweifel obwal[te]ten, ob der Kammer […] die Befugniß zustehe, […] eine Kommission zu ernennen“. Andererseits seien „bei dieser Gelegenheit Thatsachen zur Sprache gekommen, die es zweifelhaft [machten…], ob die Regierungs-Behörden überall nach den Gesetzen und mit der zarten Rücksicht verfahren [seien…], welche die verfassungsmäßig verbürgte Gewissens- und Religions-Freiheit“ verlange. Deswegen forderte er die Kammer auf, ihre „Erwartung“ zum Ausdruck zu bringen, „daß die StaatsRegierung die Verhältnisse der Dissidenten-Gemeinden einer gründlichen Untersuchung unterwerfen, dabei auch die von den Antragstellern angeführten That­ sachen berücksichtigen und je nach dem thatsächlichen Befund im Einzelnen ihnen volle Gerechtigkeit widerfahren lassen werde“.515 Mit diesem Vorstoß versuchte der auf dem Boden des Konstitutionalismus stehende Liberalkonservative das Kunststück, einerseits die Befugnisse der Kammer bzw. die Grundrechte der Dissidenten zu verteidigen, ohne andererseits die Regierung zu desavouieren oder auch „nur“ einer allgemeinen parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen.516 Angesichts dieser Zielsetzungen nimmt es wenig wunder, dass Berichterstatter Klee diesem Vermittlungsversuch widersprach: Neben Kritik an der Position Bethmann-Hollwegs betonte der Posener Oberregierungsrat, dass es nach der „jetzigen Debatte“ ohnehin keiner Aufforderung an das Gouvernement mehr bedürfe, „die Verhältnisse der Dissidenten einer gründlichen Untersuchung [zu] unterwerfen“. Darüber hinaus sei die „Motivirung […] unangemessen, weil sie einen Zweifel durchblicken [lasse…], als ob es der Staatsregierung in der höchsten Instanz an dem ernsten Willen fehle, 515

VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 807 f. s. den Text des Antrags S. 794 f. Zur politischen Ausrichtung der „Wochenblatt-Partei“ s. E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 178 ff.

516

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diesen Leuten volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“.517 Irgendeine Form von Regierungskritik war der Seite der Kammer, die Klee vertrat, offensichtlich alles andere als willkommen. Einen weiteren Vermittlungsversuch unternahm der Chef-Präsident des Appel­ lationsgerichts zu Naumburg Gustav Wilhelm Kisker. Der kurzzeitige Justizminister im Staatsministerium Pfuel regte an, die Worte: „mit den Grundsätzen der Art.  12, 19 und 22 der Verfassungs-Urkunde nicht in Einklang stehenden“, aus dem Antrag zu streichen. Seiner Auffassung nach schien dieser Passus tatsächlich mit der Absicht „im Widerspruch zu stehen“, eine Kommission niederzusetzen, „um Material zu gewinnen zur ferneren Beurtheilung dieser Angelegenheit und um weitere Beschlüsse der Kammer vorzubereiten“.518 Beide Antragsteller erklärten sich mit dieser Abänderung einverstanden.519 Abschließend konstatierte Berichterstatter Emil Wilhelm Klee, dass die Antragsteller in der „Frage der Kompetenz der Kammer zur Einsetzung der beantragten Untersuchungskommission“ keine neuen Gesichtspunkte vorgebracht hätten. Ihre Forderung wäre deswegen schon durch den Kommissionsbericht widerlegt. Statt entsprechend Art. 82 PrVerf 1850 „zur Information“ der Kammer „Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen“ einzusetzen, wollten sie „ein ganzes Regierungs-System der Untersuchung unterworfen wissen, damit die Kammer ein Ur­ theil fälle, ob dadurch Gesetze und die Verfassung verletzt seien“.520 In der Abstimmung folgte die Kammer mit einer deutlichen Mehrheit von 72 zu 42 Stimmen bei zwei Enthaltungen dem Kommissionsantrag.521 dd) Bewertung Damit war der Versuch der Antragsteller, das Selbstinformationsrecht der Kammer für die verfassungsrechtliche und politische Regierungskontrolle zu instrumentalisieren, gescheitert; vielmehr hatte die Kammermehrheit versucht, Art. 82 517

VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 823. VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 820. 519 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 821. Friedrich Julius Stahl wendete ein, „daß die Herren Antragsteller jetzt noch Aenderungen ihres Antrages [vornähmen…], nachdem bereits die ganze Debatte geschlossen worden“ sei. Lediglich einer „Theilung der Frage [stehe…] nichts im Wege“. Nachdem der Antragsteller v. Forstner erklärt hatte, dass die „Berufung auf die drei­ Artikel der Verfassungs-Urkunde […] höchstens nur als ein Irrthum anzusehen sein“ könne, die „Sache […] aber im Wesentlichen ganz dieselbe“ bleibe, wenn man diesen Passus streiche, und Präsident v. Rittberg hinzugefügt hatte, dass den Antragstellern, die „den ganzen Antrag zurücknehmen“ könnten, auch eine „theilweise Zurücknahme gestattet werden“ müsse, zog Stahl seinen Einwand zurück. Dagegen hielt der Abgeordnete v. Seydlitz daran fest, dass eine Teilrücknahme den Antragscharakter ändern könne. Eine Teilung der Fragen könne dieselbe Wirkung haben (S. 822). 520 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 823. 521 VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 826 ff. 518

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PrVerf  1850 die Zielrichtung eines Untersuchungsrechts vollständig abzusprechen. Diese Facette der Dissidentenangelegenheit war ein notwendiges Nachspiel der Verfassungsrevision, in der es der Ersten Kammer statt der Streichung bloß gelungen war, den kontroversen Artikel sprachlich zu entschärfen. c) Zweite Kammer Auch in der Zweiten Kammer versuchten die Liberalen, das harte Vorgehen der Regierung gegen die Dissidenten einer parlamentarischen Kontrolle zu unterwerfen. aa) Antrag Dyhrn Am 13.  März 1852 wurde über den Antrag des linken Altliberalen Konrad v. Dyhrn beraten, „eine besondere Kommission zur Untersuchung der mit den Grundsätzen der Art. 12, 19, 22 der Verfassung nicht in Einklang stehenden Regierungs-Maßregeln in Betreff der dissidentischen (freien und deutsch-katholischen) Gemeinden zu ernennen“. Die parlamentarische Kontrolle sollte sich also, wie es schon in der ersten Kammer beantragt worden war, an den verfassungsrechtlichen Maßstäben der Religionsfreiheit (Art.  12 PrVerf  1850), der Freiheit der Unterrichtsanstalten sowie der Unterrichtserteilung (Art. 22 PrVerf 1850) und zu guter Letzt dem Versprechen der Zivilehe orientieren (Art. 19 PrVerf 1850). Unmissverständlich charakterisierte der liberale Kammerpräsident Maximilian v. Schwerin das Antragsziel dahin, „eine Kommission zu ernennen, welche die Verfassungsmäßigkeit einer Regierungs-Maßregel untersuchen soll[te]“.522 (1) Abteilungsberatungen Obwohl der Antrag im eher umständlichen Abteilungsverfahren vorberaten wurde,523 ging es anfangs zügig voran und der „Central-Ausschuß für die Dissidenten-Angelegenheiten“ konnte bereits zwei Wochen später einberufen werden.524 Dem Bericht dieses Gremiums zufolge war bloß eine der sieben Abteilungen der Untersuchungsforderung „unbedingt beigetreten“. Zwei Sektionen befürworteten eine Streichung des impliziten Vorwurfs, die Regierungsmaßnahmen stünden „mit den Grundsätzen der Artikel 12., 19. und 22. der Verfassungs-Urkunde nicht in Einklang“. Vier Abteilungen lehnten jede Untersuchung kategorisch ab.525 Inhaltlich stellten sich die Vorberatungen weitgehend als Neuauflage des Ringens 522

VerhPr2K II/3 (1851/52), S. 735. VerhPr2K II/3 (1851/52), S. 735 f. 524 Vgl. VerhPr2K II/3 (1851/52), S. 977. 525 SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 2 f. 523

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in der Ersten Kammer dar: Die Gegner des Antrags hielten die geforderte Untersuchung für „formell“ unzulässig, weil Art.  82 PrVerf  1850 den Kammern kein Recht einräume, „über Regierungsmaßregeln, nach deren vorhergegangener Untersuchung, zu Gericht zu sitzen und eine Kritik der Exekutive auszuüben“. Die Verfassung ermächtige die Kammern lediglich dazu, „zur Feststellung von Thatsachen eine Kommission zu ernennen, keineswegs jedoch sich zur Kritik dieser Thatsachen herbeizulassen. Ueberdies sei das der Kammer im Artikel 82. […] eingeräumte Recht nur mit der allergrößesten Vorsicht zur Anwendung zu bringen“. Die konkrete Angelegenheit gebe zudem keinen ausreichenden Anlass zur Anwendung dieses extremen Mittels, weil bislang bloß „in einzelnen Fällen“ durch „sehr untergeordnete Organe“ gegen die Dissidenten eingeschritten worden wäre. Damit obliege es vorerst den Betroffenen selbst, „sich mit ihren Beschwerden an die vorgesetzten Instanzen und eventuell […] an die Kammern zu wenden“. Ähnlich, wie heute nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG für Verfassungsbeschwerden die Rechtswegerschöpfung erforderlich ist, verlangte die Mehrheit, dass sich die Volksvertretung erst nach der Erschöpfung des behördlichen Instanzenzuges mit der Frage auseinandersetze, ob „dergleichen Gesuche der Staats-Regierung zur Berücksichtigung oder auch zur Abhülfe zu überweisen, oder gar die Initiative zur gesetzlichen Regelung der Verhältnisse der Dissidenten zu ergreifen“ seien. Materiell wurde gegen den Antrag vorgebracht, dass das Gouvernement zu Recht gegen die in Wahrheit politischen Gemeinschaften einschreite; soweit die Staatsregierung aber „lediglich ihrer Pflicht genügt [habe, …] zieme es nicht, dergleichen Verfahren zur Prüfung zu ziehen“.526 Die Untersuchungsbefürworter konzedierten zwar, „daß die Worte des Antrages vielleicht anders […] und besser hätten gewählt werden können“, stellten aber richtig, dass dies nichts daran ändere, dass die Kammer „nach dem Art. 82. der Verfassung ganz unzweifelhaft“ eine Kommission „zur Feststellung von Thatsachen ernennen dürfe“. Die „Maaßregeln der Regierung gegen die Dissidenten“ seien im Sinne dieser Vorschrift „eben auch Thatsachen“. In der Feststellung, dass die Kammer als „Hüterin der Verfassung“ auch über die Frage zu entscheiden habe, „ob dergleichen zu Thatsachen gewordene Maaßregeln der Regierung der Verfassung entsprächen oder nicht“, manifestierte sich derselbe parlamentarische Kontrollanspruch, der heute dem modernen Art. 44 GG zugrunde liegt. Zur Verteidigung des Untersuchungsantrags fuhren seine Befürworter fort, dass andernfalls eine „Anzahl von Kammer-Mitgliedern“, gemeint waren wohl die Antragsteller, „weniger Recht […] als Privat-Personen“ habe, deren „Petitionen […] geprüft werden müssten“. Wieder folgte das provokante Argument, dass es die Regierung eigentlich begrüßen müsse, „die Meinung der Kammern zu kennen“, weil es „in ihrem eigenen Interesse liege, sich in Uebereinstimmung mit den Kammern zu befinden“ oder doch „mindestens […] deren Ansicht […] mit berücksichtigen zu können“.527 526

SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 3 f. SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 4.

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Mit der Annahme, dass es geradezu eine „Pflicht der Kammer [sei], dafür Sorge zu tragen, daß etwa vorgefallene polizeiliche Plackereien abgestellt würden“, weil die schlechte Behandlung der Dissidenten „in manchen Gegenden des Landes eine regierungsfeindliche Stimmung in das Leben gerufen“ habe, knüpften die Befürworter nicht nur an die parlamentarische Aufgabe zur Verteidigung der Verfassung, sondern auch an das Selbstverständnis der Vereinbarungsversammlung an, die eine Beruhigung der aufgewühlten Stimmung in der Schweidnitzer Angelegenheit ebenfalls für ihre Aufgabe gehalten hatte.528 Gegenüber der politischen Mahnung, „daß von dem Artikel 82 […] nur mit Vorsicht Gebrauch gemacht werden“ dürfe, verwiesen die Befürworter ein weiteres Mal darauf, dass „das Verfahren gegen die Dissidenten im ganzen Lande ein großes Aufsehen erregt habe“.529 Die modernen temporalen Grenzen des parlamentarischen Untersuchungsrechts, das sich „grundsätzlich nur auf bereits abgeschlossene Vorgänge“ beschränken soll,530 klangen in der Überlegung an, dass man die „Sache […] gewissermaßen als abgeschlossen zu betrachten“ habe, wenn man die ausdrücklichen Erklärungen der Regierungsseite über ihre Haltung berücksichtige.531 Materiell verwiesen die Befürworter zwar in erster Linie auf das Grundrecht der Religionsfreiheit, verlangten dann aber für den Fall, dass die dissidentischen Gemeinden politische Vereine sein sollten, die Kontrolle, ob die Behörden „weiter gegangen [seien], als solches nach den bestehenden Gesetzen […] gegen politische Versammlungen zulässig“ wäre. Auf eine „Prüfung der religiösen Ansichten“ dürfe man sich jedenfalls nicht einlassen.532 (2) Beratungen im Zentralausschuss Der Streit setzte sich, wie nicht anders zu erwarten, im Zentralausschuss fort. Trotzdem stimmten überraschenderweise letztlich doch sämtliche Mitglieder für eine Untersuchung. Obwohl die Antragsteller anders als in der Ersten Kammer nicht in die Streichung der vermeintlich verletzten Verfassungsartikel eingewilligt hatten, legte der Zentralausschuss seinen Beratungen neben der ursprünglichen eine entsprechend modifizierte Antragsfassung zugrunde. Für diesen Schritt, der wohl auch aus heutiger Sicht keinen unzulässigen Abänderungsversuch darstellte,533 berief man sich auf das entsprechende Verfahren in der Bank- und Geldangelegenheit (Antrag Harkort).534 528

s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 3. a), b) und 4. b). SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 5. 530 BVerfGE 67, 100 (139) und dazu C. Waldhoff, in: ders./Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, § 1 Rn. 22 ff. 531 SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 5 f. 532 SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 4 f. 533 Vgl. BVerfGE 49, 70 (86 ff.) und M. Schröder, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 46 Rn. 22. 534 SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S.  7. Zum Antrag Harkort und entsprechenden­ Enquête- und Untersuchungsbemühungen s. 5. Teil 3. Kap. B. I. 1. 529

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Die Gegner einer Untersuchung bestritten deren Zweckmäßigkeit und Notwendigkeit  – modern gesprochen: das Untersuchungsinteresse  – und überhaupt die Legitimation entsprechender parlamentarischer Erhebungen. Demgegenüber ging der Zentralausschuss „mit Beiseitesetzen aller und jeder kirchlichen Beziehungen, aus dem ganz allein festgehaltenen Standpunkte des innern politischen Interes­ se[s]“ von einer großen „Wichtigkeit der Sache“ aus: Einerseits sei die „Aufregung der Gemüther nach den beiden entgegengesetzten Richtungen des Auffassens der Sache […] unleugbar vorhanden“. Andererseits sei ein böswilliger politischer Missbrauch der Angelegenheit nicht zu verhindern, „so lange die thatsächlichen Data, auf deren Grund die Staats-Regierung gegen die Dissidenten [einschreite…], sowie die Art und die Grenzen dieses Einschreitens von ihr nicht veröffentlicht würden. Angesichts dessen liege die geforderte Untersuchung  – so war es auch in der Ersten Kammer angeklungen – „in dem wahren Interesse der Staats-Regierung“, um allen „Entstellungen, Vorspiegelungen und Verläumdungen“ den B ­ oden zu entziehen.535 Der Zentralausschuss betonte, dass man „[i]n keiner Weise“ von den „meisten speziellen faktischen Behauptungen beider Theile“ überzeugt sei; die tatsächlichen Verhältnisse bedürften deswegen „wenigstens großentheils einer nähern gründlichen Ermittelung“, um der Kammer ein zutreffendes Bild zu gewähren.536 Neben dem faktischen Informationsinteresse der Kammer führte man also, entsprechenden Überlegungen in der Schweidnitzer Angelegenheit wiederum vergleichbar,537 die beruhigende Wirkung einer parlamentarischen Untersuchung auf die öffentliche Meinung ins Feld. Den Antrag selbst interpretierte der Zentralausschuss so, dass eine „Prüfung von ‚Maaßregeln‘“ bezweckt werde, die, „da diese nur das Ergebniß von auf Thatsachen gegründeten Schlüssen sein könn[t]en, in sich das Begehren des Prüfens […] der Wahrheit der Thatsachen; […] der Richtigkeit der aus ihnen gezogenen Schlüsse [sowie…] der Gesetzlichkeit der auf diese Schlüsse gegründeten Maaßregeln“ einschließe. Wegen Art. 82 PrVerf 1850 wurde die „Kompetenz hinsichts der Thatsachen“, freilich begrenzt auf bloße Ermittlung ohne anschließende Bewertung des Sachverhalts, selbst von den vier Abteilungen nicht angezweifelt, die sich „unbedingt gegen den […] Antrag ausgesprochen“ hatten. Ebenso wenig stellte die Staatsregierung diese offenkundige Befugnis in Abrede, der sie aber „eine engere als die in der Zweiten Kammer bei einem dem vorliegenden durchaus ähnlichen Fall beanspruchte Deutung“ beizulegen versuchte.538 Bei dem allegierten Präzedenzfall dürfte es sich um eine der früheren Enquêten gehandelt haben. – Gegen das damit angesprochene vermeintliche Verbot, die ermittelten Tatsachen auch zu bewerten, wendete der Zentralausschuss ein, dass mit der bloßen „Prüfung der Sachlage der einzelnen Thatsachen […] im Sinne des bloßen Konstatierens des Vorgefallenen“ für die Erledigung des Antrags nicht mehr als eine „rein that 535

SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 7. SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 8. 537 s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 3. a), b) und 4. b). 538 SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 8 f. 536

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sächliche Grundlage gewonnen“ wäre. Soweit der Antrag auf ein „Untersuchen der auf die Thatsachen gegründeten ‚Maaßregeln‘ der Regierung gegen die dissidentischen Gemeinden“ ausgehe, müsse die „Kommission […] weiter vorschreiten, und […] prüfen, ob die Schlüsse, welche die Staats-Regierung aus den Thatsachen gezogen, richtig, und […] die in Folge […] genommenen Maaßregeln gesetzlich und der Sache entsprechend“ wären.539 Unausgesprochen knüpften diese Überlegungen an das Wächteramt der Kammern für die Verfassung an, das bereits in den Abteilungsberatungen eine Rolle gespielt hatte. Eine derartige Regierungskontrollkompetenz lehnten die Untersuchungsgegner kategorisch ab. Das argumentative Fundament waren die seit Jahren schwelenden „Gewaltenteilungssorgen“, dieses Mal im Gewand von Bedenken, dass es „mit einer richtigen Abgrenzung der Funktionen der einzelnen Staatsgewalten“ inkompatibel wäre und der parlamentarischen „Stellung zuwider[laufe]“, wenn man die „Kammer über die Staats-Regierung zu Gericht sitzen lassen“ wolle. Dieser Kritik schloss sich der Regierungskommissar „entschiedenst“ an. Während den Kammern ausschließlich die Befugnis zustehe, „Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“, laufe die beantragte Untersuchung auf ein unzu­ lässiges „Surrogat für eine Minister-Anklage“ hinaus.540 Solche Verdächtigungen eines parlamentarischen Kompetenzexzesses wies die Zentralausschussmehrheit zurück, weil es „einfach nur um Ermitteln und Feststellung des Thatsächlichen und bezüglich auf die Maaßregeln […] eben nur um ihren faktischen Bestand und ihren Zusammenhang mit den primitiven Thatsachen“ gehe. Streiche man die delikate „Bezugnahme auf die Art. 12., 19., 22.“ aus dem Antrag, handele es sich „keinen Falls um Einnehmen einer Stellung der Kammer über die Königliche Staats-­Regierung, sondern nur um eine Funktion der Kammer zur Seite derselben“; schließlich könne die Volksvertretung „nur eine Erklärung darüber abgeben: ob sie die Schlüsse, welche die Königliche Staats-Regierung auf die That­sachen gebaut, auch ihrerseits aus denselben [ziehe…] oder andere daraus“ folgere. Obwohl die beschwichtigende Bemerkung folgte, dass eine „bloß auf ein faktisches Verhältniß hinauslaufende Erklärung“ „selbst jedem Privaten unbenommen“ wäre,541 hatte die Kammer eine akkurate Beschreibung der Funktionsweise der parlamentarischen Regierungskontrolle abgeliefert. Derart auf verlorenem Posten ging die Staatsregierung zu ersten Drohungen über und gab den Abgeordneten „zu bedenken: wie eine Kommission der Kammer eine solche Untersuchung wohl in Ausführung würde bringen können, ohne hierbei die Mitwirkung der Verwaltungs-Behörden in Anspruch zu nehmen, oder sie denselben im Wesentlichen zu überlassen“. Nach diesem milden Vorgeschmack auf die entschiedene Obstruktion des Ministeriums Bismarck in den 1860er Jahren beteuerte der Regierungskommissar, dass man gegenüber Petitionen „in allen 539

SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 9. SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 9. 541 SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 11. 540

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Fällen bereitwillig Aufschluß“ geben werde. Auf dieses grundsätzliche Plädoyer für einzelfallbezogene interpellationsartige Auskunftsformen, die wahrscheinlich zum Versanden der ganzen Dissidentenangelegenheit in mehr oder minder belanglosen Einzelheiten geführt, aber keinen größeren Überblick ermöglicht haben würden, folgte die Mahnung, wie nutzlos eine parlamentarische Untersuchung wäre; anders war die lakonische Feststellung nicht zu verstehen, dass es dem „Ermessen der Regierung überlassen bleiben“ müsse, „einen auf Abhülfe der Beschwerde lautenden Beschluß der Kammer nicht [zu] berücksichtigen“; nicht anders verhalte es sich mit „einem Ausspruche einer Untersuchungs-Kommission […], denn die Kammer habe ja keine Macht, ihrem Anspruche Geltung zu verschaffen“. Erneut folgten Versprechungen, bei weniger kontrollaffinen Informationsinstrumenten zu kooperieren. So habe der Ministerpräsident schon in anderem Zusammenhang die Bereitschaft der Regierung signalisiert, bei jeder sich im Gesetzgebungsverfahren oder durch Petitionen „darbietenden Gelegenheit, ihr Verfahren, ihre Auffassung, ihre Gründe darzulegen“. Ziele ein Antrag aber ausschließlich darauf ab, dass die Kammer das „Verfahren eines Ministers Sr. Majestät für ein ungesetzliches ­erkläre, daß sie über die Verwaltungs-Maaßregeln der Regierung eine Anklage erhebe, die Untersuchung führe und ein Urtheil fälle“, wozu ihr die Verfassungsurkunde kein Recht gebe, fühle sich die Regierung zu einer „gewissenhafte[n] Beobachtung der Verfassung“ verpflichtet und werde „von jeder Betheiligung an einer Berathung über die materielle Seite solcher Anträge [sich…] fern […] halten“. Der letzte Hinweis bedeutete einen totalen Boykott jeder sachlichen Auseinandersetzung über eine kontroverse politische Frage. In der abschließenden Bemerkung, dass man in einem solchen Verhalten nur einen „Versuch erkennen [könne…], die verfassungsmäßige Kompetenz zu überschreiten“, schwang sicherlich eine zusätzliche Drohung an die Adresse der Kammer mit.542 Der Zentralausschuss nahm die ministerielle Vorlage auf und begrüßte es ausdrücklich, „daß, sofern die Kammer nur Aufklärungen und Mittheilungen über Thatsachen und Aufschlüsse über die auf dieselben gegründeten Maaßregeln [begehre…], die Staats-Regierung dergleichen nicht versagen, also die Kammer mit vollständiger faktischer und juridischer Information versehen wolle“. Es sei im staatlichen Interesse wünschenswert, dass Kammer und Regierung übereinstimmende Positionen einnähmen. Soweit man hierzu „außer der Kenntniß der Thatsachen auch genaue Kenntniß der von der Königlichen Staats-Regierung aus den Thatsachen entnommenen Folgerungen“ benötige, müsse man „von dem angeführten Versprechen des Herrn Minister-Präsidenten Gebrauch machen“. Folglich sei bloß noch zu entscheiden, ob man zu diesem Zweck eine parlamentarische Kommission niedersetzen oder auf Interpellationen bauen wolle.543 Das ministerielle Junktim für jede Kooperationsbereitschaft, also den Verzicht auf eine provokante Untersuchungskommission, blendeten die Abgeordneten bei dieser Alternative aus. 542

SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 10 f. SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 11 f.

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Trotzdem wendete ein Ausschussmitglied „Zweckmäßigkeits-Gründe“ gegen eine besondere Kommission ein. Der konkrete Antrag laufe dem Anliegen der Antragsteller zuwider, weil sich Beschwerden Einzelner weit besser im Petitionsverfahren abhelfen lasse. Demgegenüber leide unter einer allgemeinen Untersuchung wahrscheinlich nicht bloß die „Gründlichkeit“, sondern das „vielfache Unrecht, welches sich Anhänger des Dissidententhums an verschiedenen Orten [hätten…] zu Schulden kommen [lassen, könne allzu leicht…], zum Nachtheil der Beschwerdeführer ausschlagen“. Eine „Ermittelung des allgemeinen Systems der Regierung durch Zusammenstellung des zerstreuten Materials“ sei nach ihrem Eingeständnis, gegen die Dissidenten tatsächlich vorzugehen, „überflüssig“. Zu guter Letzt stehe der Aufwand einer Untersuchung in keinem Verhältnis zu ihrem wahrscheinlichen Nutzen: Man werde „das ganze Gebiet des Dissidententhums in’s Auge zu fassen, durch Abhörung von Zeugen das Für und Wider genau zu ermitteln, die stattgehabten gerichtlichen Untersuchungen sowohl als das auf administrativem Wege Verhandelte zu prüfen, überhaupt die fraglichen Verhältnisse in allen ihren Verzweigungen klar zu stellen“ haben. Ausnahmsweise kam das englische Parlament als abschreckendes Beispiel zum Zuge, indem der Abgeordnete davor warnte, dass seine „Untersuchungs-Kommissionen […] der schwerfälligste Apparat [wären], den man nur aufstellen könne“.544 Die Untersuchungsbefürworter widersprachen, dass es wegen der „Wichtigkeit des Gegenstandes und Zweckes“ auf den „Umfang der […] nöthigen Arbeit“ nicht ankomme. Außerdem habe die „Staats-Regierung über die an sie gelangten Fälle bereits so gründliche Ermittelungen […] vorgenommen, um aus den Akten die Sachlage vollständig übersehen zu können“. Gegen einen Versuch, die Sache allein durch Interpellationen aufzuklären, wendete die Ausschussmehrheit ein, dass dieser „Weg […] immer den Schein eines Gegenübertretens des Interpellanten und des Interpellaten mit sich“ führe. Eine solche Konfrontation stehe indessen überhaupt nicht in Rede, weil die geforderte Kommission lediglich ein „intermediaires Organ“ zur „Kommunikation“ mit der Staatsregierung sein solle. In dem entsprechenden Antrag „liege […] keinerlei Aggression, sondern nur die Initiative für eine solche Kommunikation“, wie sie der Ministerpräsident doch selbst angeboten habe. Eine sinnvolle Verhandlung der Regierung mit dem „Plenum [wäre…], wie von selbst einleuchte, der Natur der Sache und der Geschäfts-Ordnung nach“ ausgeschlossen. Vielmehr sei für den „umfänglich[en]“ Gegenstand ebenso wie im Fall der preußischen Kreditinstitute eine „besondere Kommission […] nothwendig“.545 Alles in allem bewertete der Zentralausschuss eine besondere „Kommission als das formell geeignetste, durch Präcedenzien als angemessen anerkannte; in der Stellung der Kammer zu der Staats-Regierung jedes Anmaßen und Uebergreifen […] vermeidende Mittel“, um unter Vermeidung jedes bösen Scheins „von der durch den Herrn Minister-Präsidenten ausgesprochenen Zusage […] Gebrauch zu machen“. 544

SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 13. SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 14 f.

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In der Abstimmung sprachen sich dennoch drei der sieben Ausschussmitglieder für den unveränderten Antrag Dyhrn aus, obwohl dieser den Vorwurf der Verfassungsverletzung implizierte. Die durch Streichung dieses Passus entschärfte Fassung reüssierte mit dem umgekehrten Stimmenverhältnis. Den ursprünglichen Abteilungsvota zum Trotz sprachen sich damit sämtliche Abteilungsvertreter für eine Untersuchungskommission aus.546 Der Zentralausschuss empfahl dem Plenum unter dem 19. Mai 1852, also ausgerechnet an dem Tag, an dem die Session geschlossen wurde,547 „in Gemäßheit des Artikels 82. der Verfassung eine besondere Kommission zu Untersuchung der Regierungsmaaßregeln in Betreff der dissidentischen, (insbesondere der freien, deutsch- und christ-­katholischen) Gemeinden zu ernennen“, und an diese sämtliche Petitionen „als Material abzugeben“.548 (3) Kammerschließung und Bewertung Im Plenum konnte über die Angelegenheit wegen der Schließung der Kammer nicht mehr beraten werden. Den Grund für die vorzeitige Beendigung ihrer Sitzungsperiode hatte das Scheitern der durch Friedrich Wilhelm  IV. gewünschten Transformation der Ersten Kammer in ein Herrenhaus gegeben. Von einer Auflösung der Zweiten Kammer wurde abgesehen, „um sie nicht unnötig aufzuwerten“.549 Auf diese Weise ließ sich der öffentliche politische Konflikt vermeiden. – Die Dissidentenangelegenheit wurde damit ebenfalls vertagt. Obwohl es in den Abteilungsberatungen den Anschein hatte, dass es um eine schlichte Vorberatungskommission gehe, stellte die Heranziehung von Art.  82 PrVerf  1850 doch klar, dass die Einsetzung einer Untersuchungskommission beabsichtigt war. Anders als die Erste Kammer hatte der Zentralausschuss der Zweiten Kammer sich also trotz der zunächst ablehnenden Voten der Einzelabteilungen zu der Empfehlung einer Kontrollenquête durchgerungen. bb) Antrag Brämer Im Frühjahr 1853 versuchten Carl Albrecht Brämer und 25 weitere Abgeordnete – unter ihnen Friedrich Harkort und Adolph Lette –, die Forderung, „[i]n Gemäßheit des Art. 82 der Verfassung eine besondere Kommission zur Untersuchung der Regierungs-Maßregeln in Betreff der dissidentischen, insbesondere der freien, der deutsch- und christkatholischen Gemeinden zu ernennen“, wiederaufzunehmen. Zur Begründung beriefen sich die Antragsteller einerseits auf die „fortwäh 546

SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 15 f. Vgl. VerhPr2K II/3 (1851/52), S. 1475, 1494. 548 SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 16. 549 s. die Sitzung des Kronrats am 14. Mai 1852, Acta Borussica IV/1, 2003, S. 239 und dazu G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 255 ff., 295 f. 547

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rend bedrängte, unsichere Lage der genannten Gemeinden“ sowie die „große Zahl von Beschwerden […] in der vorigen Sitzungs-Periode“ und andererseits auf die entsprechende Empfehlung des Zentralausschusses vom 19. Mai 1852.550 Offenkundig war die Kammer diesem Anliegen nach den Neuwahlen vom November 1852 weitaus weniger gewogen. In der Vorberatung sprachen sich sämtliche Abteilungen gegen die Untersuchungsforderung aus. Der Zentralausschuss behandelte die Sache am 7. April 1853 in Gegenwart des Ministers der geistlichen Angelegenheiten v. Raumer sowie des Regierungskommissars Scherer.551 Anders als im Vorjahr schloss sich die Ausschussmehrheit dieses Mal dem gouvernementalen Standpunkt an, „daß der Artikel 82. […] die Niedersetzung von Kammer-Kommissionen zur Untersuchung von Regierungs-Maaßregeln, wie die Antragsteller woll[t]en, überhaupt nicht gestatte“. Selbst eine „Kommission zur Untersuchung von Thatsachen“, die ausschließlich der „Information“ der Kammer diene, lehnte man als „nicht rathsam“ ab: Einerseits hätten die Antragsteller die „Thatsachen […] wenig […] spezifizirt“, andererseits könne die etwa erforderliche „Information füglich auf anderem, – kürzerem und weniger Aufsehen erregendem, – Wege, z. B. […] substantiirter Beschwerden oder durch Einsicht von Akten, erlangt werden“. Anders als diese interpellationsartigen Alternativen könne die „ungewöhnliche Maaßregel der Ernennung einer Kammer-Kommission dieser Art“ den falschen Eindruck hinterlassen, „als hege die Kammer besondere Sympathien für die Dissidenten“. Dem früheren Votum hielt man den „entgegengesetzte[n] Beschluß der vorjährigen Ersten Kammer“ entgegen. Nach einer „allgemeine[n] Besprechung des Gegenstandes […], in welcher von der einen Seite Rechtsverletzungen [zu Lasten] der Dissidenten […] angeführt, von der anderen aber […] die Grundsätze, nach welchen die Angelegenheit behandelt [werde…], vertheidigt, auch auf die Rechtsverletzungen hingewiesen [worden wäre…], welche namentlich die Evangelische Kirche […] erlitten habe“, beschloss der Zentralausschuss mit zehn gegen zwei Stimmen, dem Plenum die „Ablehnung des Antrags […] zu empfehlen.“552 d) Zwischenergebnis Dem Disput um eine parlamentarische Aufarbeitung der Dissidentenfrage lag neben der offenkundigen politischen Auseinandersetzung in dieser Frage ein weit grundsätzlicheres Ringen um parlamentarische Kontrolle und Mitsprache zugrunde. Wie sonst nur noch der Antrag Vincke bot das Schicksal der religiösen Dissidenten beiden Kammern Anlass und Gelegenheit zu grundsätzlichen Auseinandersetzungen über das parlamentarische Untersuchungsrecht. Obwohl der offen­kundige Versuch, Art. 82 PrVerf 1850 gegen einen Teil des Reaktions­systems 550

SlgDrsPr2K III/1 (1852/53), No. 156. SlgDrsPr2K III/1 (1852/53), No. 269, S. 1. 552 SlgDrsPr2K III/1 (1852/53), No. 269, S.  2 f. Zur Konstituierung der Zentralabteilung s. VerPr2K III/1 (1852/53), S. 681. 551

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als Instrument parlamentarischer Regierungskontrolle zu etablieren, letztlich in beiden Kammern scheiterte, darf man seine politische Dimension und informa­ tionsrechtliche Bedeutung keinesfalls unterschätzen. Einerseits ist der Schauplatz des ersten Aktes besonders bemerkenswert; dass ein derartig kritischer Antrag überhaupt in der Ersten Kammer gestellt werden konnte, ist der Tatsache zu verdanken, dass sie noch eine Wahlkammer und nicht das ernannte Herrenhaus späterer Jahre war. Wie das liberale Bürgertum den Kontrollversuch in der Ersten Kammer aufnahm, illustrieren die Erinnerungen Karl August Varnhagen v. E ­ nses, der unter dem 15. März 1852 in sein Tagebuch notierte, dass „Lette sehr tapfer und auch Forstner und Bethmann-Hollweg leidlich gut wider die Verfolgung der Deutschkatholiken gesprochen [hätten]; die im Namen der Regierung auftretenden Sprecher Brüggemann und Scheerer recht niederträchtig, Gerlach seiner Gewohnheit gemäß als scheußlich fanatischer Pfaff“. Trotzdem sei die „Abstimmung […] natürlich gegen die Verfolgten“ ausgegangen.553 Über die abschließende Debatte vom 19. März 1852 vertraute der 1785 geborene Schriftsteller seinem Diarium an, dass der „elende Minister von Raumer […] die Kammer mit einer Blumenlese aus Schriften und selbst Privatbriefen von Deutschkatholiken bewirthet [habe], um zu zeigen, daß man diese unterdrücken müsse“. Die Methoden der Regierung qualifizierte der ehemalige Diplomat als „unredliches, treuloses Verfahren, das man vor dreißig Jahren gegen die Demagogenumtriebe angewendet, und sich dadurch so verächtlich als lächerlich gemacht“ habe.554 Dass das Ministerium die Angelegenheit ernst nahm und ihre politische, aber auch enquête- und untersuchungsrechtliche Brisanz erkannte, belegte die Konfiskation verschiedener Zeitungen.555 Nachdem eine ganze Nummer des „Preußischen Wochenblatts“ diesem Schicksal verfallen war, stellte ein anonymer Autor im „Deutschen Museum“ die rhetorische Frage, was denn „so Staats- und Christenthum-Gefährliches in dem Artikel gestanden“ habe? Man habe eingeräumt, „daß viele der deutsch-katholischen und freien Gemeinden unter religiösem Deckmantel revolutionäre Zwecke verfolgten“, so dass „deshalb der Regierung das Recht und die Pflicht zu[kämen], diese Gemeinden zu beaufsichtigen und zu unterdrücken“. Allein in der Forderung, „daß die Unterdrückung nicht, wie geschehen, durch eine allgemeine Circularverordnung ohne Unterschied der Person angeordnet [werde], sondern daß nur die wirklich Schuldigen getroffen“ würden, sowie in dem „Beispiel der freien Gemeinde der doch in so hohem Grade loyalen Stadt Frankfurt an der Oder“, „wie […] eine durchaus apolitische Religionsgesellschaft durch die in der Rüstkammer der Polizei so zahlreich vorhandenen Marterwerkzeuge zu Tode gequält [worden] sei“, habe sich Kritik geäußert.556 Dies war just ein Beispiel, das August v. ­Bethmann-Hollweg in der Kammer angeführt hatte. Die Regierung war also offenkundig äußerst ängstlich darum bemüht, das Dissidententum möglichst geräuschlos auszumerzen. An 553

L. Assing (Hg.), Tagebücher IX, 1868, S. 117 (Hervorhebung nur hier). L. Assing (Hg.), Tagebücher IX, 1868, S. 124. 555 Vgl. L. Assing (Hg.), Tagebücher IX, 1868, S. 128 über die „Konstitutionelle Zeitung“. 556 N. N., Dt. Museum 2/1, 1852, S. 636. 554

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dem Scheitern dieses Versuches hatte auch die Zweite Kammer Anteil. Die Untersuchungsforderung des Grafen Dyhrn zielte nach dem Vorbild aus der Schwesterkammer auf eine politische Auseinandersetzung über die möglicherweise mit Verfassung und Gesetzen unvereinbare Behandlung der Dissidenten ab. Dass man für die Untersuchungsforderung auf die Öffentlichkeit setzte, zeigte sich schon daran, dass ihre Befürworter – ähnlich wie die Vereinbarungsversammlung in der­ Schweidnitzer Angelegenheit – eine potentielle Beruhigung der öffentlichen Meinung als ein Motiv anführten. Dass sich die Zweite Kammer im Folgejahr nicht mehr für die wiederaufgenommene Untersuchungsforderung erwärmen konnte, lag an den Novemberwahlen von 1852. Im Interesse einer konservativen Verfassungsrevisionspolitik hatte sich die Regierung passende Mehrheiten u. a. durch reaktionäre Wahlreskripte an Ober- sowie Regierungspräsidenten und Landräte, Einschüchterungen, Manipulationen des Wahlkreiszuschnitts und der Wahlorte sowie mit einer Berufung verlässlicher Wahlkommissare maßgeschneidert. Insbesondere eine Einschüchterung des politischen Beamtentums war die natürliche Folge dieser Politik. Nach den Wahlen gehörten von den insgesamt rund 350 Abgeordneten 217 dem konserva­ tiven Lager an.557 Mag diese Zahl auch übertrieben sein, andere sprechen von 196 konservativen bzw. unbedingt ministeriellen Abgeordneten,558 erklärt ihre unbestreitbare Übermacht doch die schroffe Ablehnung des Antrags Brämer und die überraschende Beschneidung des Untersuchungsrechts in der Begründung dieser Entscheidung. Vor diesem Hintergrund hatten die Antragsteller der ersten beiden Motionen trotz des vordergründigen Scheiterns allein durch die Untersuchungsdebatten Einiges erreicht: An erster Stelle hatte der Oberstleutnant a.  D. v. Forstner sein im August 1851 publiziertes Versprechen wahr gemacht, die Regierung zur „moralische[n] Verantwortung“ zu ziehen.559 Durch die öffentlichen Debatten beider Kammern sowie ihre Protokollveröffentlichungen und die begleitende Presseberichterstattung war die Dissidentenverfolgung zum öffentlichen Thema geworden. Obwohl es in dieser Frage nicht zu einer parlamentarischen Kontrollenquête kam, hatte das Untersuchungsrecht einen Teil seiner Funktion als Kampfmittel in der öffentlichen Auseinandersetzung mit der Regierung gleichwohl erfüllt. Freilich dauerte es trotz dieses minimalen Erfolges noch bis zum Ende des Ministeriums Manteuffel-Westphalen, bevor Innenminister Eduard v. Flottwell Ende Februar 1859 erklärte, dass die polizeiliche Überwachung künftig soweit möglich beschränkt werde, und noch gut ein Jahr später folgte der Minister der geistlichen Angelegenheiten v. Bethmann-Hollweg diesem Vorbild.560 557 G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 317 ff. s. auch H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (59 ff.) mit Zitaten aus den Verhandlungen. 558 H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (62). 559 A. v. Forstner, ConstVerf, 1851, S. 12 f. 560 L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S. 119 in Anm. 1 a).

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Neben dieser politischen Dimension verdienen die Kammerberatungen unter dem Blickwinkel der Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung Beachtung. In beiden Kammern versuchten die Antragsteller, eine moderne Missstands- und Kontrollenquête auf der Grundlage des Art. 82 PrVerf 1850 zu initiieren, um eine umstrittene Facette der reaktionären Innenpolitik am Maßstab der Verfassung und des einfachen Rechts einer parlamentarischen Überprüfung zu unterziehen. Funktional knüpften Adolph Lette und Alexander v. Forstner an den kritischen Antrag Vincke zur Lage des Landes aus dem Vorjahr an. Ihre Absicht, die offizielle Linie der Regierungspolitik sowie die daran anknüpfenden Verwaltungsmaßnahmen parlamentarisch zu untersuchen, um ggf. gegenüber Rechts- oder Verfassungsverletzungen zu remonstrieren, entspricht dem Muster einer modernen politischen Kontrollenquête. Die Erklärungen der Antragsteller in der Vorberatungskommission der Ersten Kammer, dass man auf den Antrag verzichtet haben würde, wenn die Ministeranklage durchführbar wäre, lässt an den Motiven keinen Zweifel. Auch die Regierung verstand die Untersuchungsforderung als verkapptes „Sur­ rogat“ für dieses mit voller Absicht niemals umgesetzte Recht. Die zeitlich wie inhaltlich folgenden Vorstöße in der Zweiten Kammer ließen sich kaum anders deuten; das Ringen um das Recht zur parlamentarischen Regierungskontrolle hatte eingesetzt. Die in beiden Kammern erhobenen Untersuchungsforderungen mussten der Regierung und ihren parlamentarischen Vasallen als provokanter Angriff auf ihren staatsrechtlichen Kosmos erscheinen, der eine massive Reaktion verlangte. In den Augen der gouvernementalen Seite beschwor die vermeintliche Anmaßung, über das Handeln der Regierung zu Gericht sitzen zu wollen, den Alpdruck eines teilparlamentarisierten Regimes oder auch schon das nebulöse Konventsgespenst selbst herauf. Entsprechend vehement fiel die Abwehr aus und die Untersuchungsgegner entwickelten bzw. vertieften bei dieser Gelegenheit verschiedene Argumentationsmuster, die bis zum Ende der Monarchie immer wieder gegen ein Selbstinformationsrecht der Kammern erhoben werden sollten. Neben den üblichen „Gewaltenteilungseinwand“ trat die kategorische These, dass die Kammer überhaupt kein „förmliches Untersuchungs-Verfahren“ über Verwaltungsmaßnahmen durchführen dürfe. Wie schon dem Antrag Vincke wurde den Forderungen in der Dissidentenfrage entgegengehalten, dass sich eine parlamentarische Untersuchung allein auf Tatsachen erstrecken dürfe. Indem die gouvernementale Seite insistierte, dass weder konkrete Regierungsmaßregeln noch das zugrundeliegende politische System Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift wären, sprach sie den Kammern kategorisch jedes Recht zur Kontrolle der Regierungspolitik und Verwaltungspraxis ab. Aus der vermeintlichen Beschränkung auf die reine Sachver­ haltsermittlung sollte für die Kommissionen außerdem ein Verbot folgen, die eige­ nen Erhebungsergebnisse selbständig zu bewerten. Gegen die Kontrollfunktion des Selbstinformationsrechts richtete sich ebenfalls die These, dass Art. 82 PrVerf 1850 nicht als „Surrogat für eine Minister-Anklage“ missbraucht werden dürfe. Neu war der Versuch, aus den Worten „behufs ihrer Information“ das Gebot ab-

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zuleiten, dass sich eine parlamentarische Untersuchung ausschließlich auf Gegenstände beziehen dürfe, mit denen die Abgeordneten bereits durch eine Regierungsproposition, eine Vorlage der anderen Kammer oder einen konkreten Antrag aus den eigenen Reihen befasst wären. Bei einer solchen Interpretation des Art.  82 PrVerf 1850 wäre jede selbständige Enquête oder Untersuchung, die dazu diente, vor der Entscheidung über weitere Schritte zunächst eine informationelle Basis zu schaffen, vollkommen ausgeschlossen gewesen. Das parlamentarische Selbstinformationsrecht wäre zu einem eher unpolitischen und streng akzessorischen Vorbereitungsinstrument ohnedies anstehender Entscheidungen verkümmert, das sich weder als Kampfmittel in der politischen Auseinandersetzung mit der Regierung noch als Vehikel eigener Initiativen geeignet hätte.  – Die Untersuchungsbefürworter qualifizierten die zurückliegenden Regierungs- und Verwaltungsentscheidungen dagegen als untersuchungsfähige Tatsachen. Die Befugnis zur Bewertung des ermittelten Sachverhalts begründeten sie pragmatisch damit, dass ohne dieses selbstverständliche Recht für die Erledigung des Antrags durch die bloß zulässige schlichte „Prüfung der Sachlage […] im Sinne des bloßen Konstatierens des Vorgefallenen“ nicht viel gewonnen wäre. Eigentlich handelte es sich dabei nicht um ein rechtliches Argument, sondern um den Versuch, die Bestimmung der Reichweite des Art. 82 PrVerf 1850 letztendlich den Kammern zuzuschreiben. Während sich in der Ersten Kammer von Anfang an die regierungsnahen Untersuchungskritiker durchsetzen konnten, zeigte sich die liberalere Zusammensetzung der Zweiten Kammer in dem einstimmigen Zentralabteilungsvotum für den – freilich sprachlich entschärften – Untersuchungsantrag; die Streichung des impliziten Vorwurfs einer Verfassungsverletzung war sicherlich Voraussetzung der Einigung. Eine weitere Erleichterung dürften die diffusen Vorstellungen von den Aufgaben und Befugnissen einer solchen Kommission gewesen sein; verschiedenen Mitgliedern der Zentralabteilung schwebte offenkundig keine „echte“ Untersuchungskommission, sondern ein Gremium vor, das sich mit der Regierung in Verbindung setzen, Auskünfte und Unterlagen einholen und dieses Material gemeinsam mit Petitionen und Beschwerden auswerten sollte. In dieses Bild fügen sich auch der Vorschlag, sämtliche Petitionen an die Kommission „als Material abzugeben“, und insbesondere die Forderung, nach der Kooperationsofferte des Ministerpräsidenten ein „intermediaires Organ“ zur „Kommunikation“ zu schaffen. Mutmaßlich wollte man das Gouvernement mit diesem Schachzug vor der Drohkulisse eines vermeintlichen Wortbruchs zur Mitwirkung nötigen; zur Not blieb der Kammer mit Art.  82 PrVerf  1850 immer noch die Möglichkeit zu eigenen Ermittlungen. Dieselbe politische Stoßrichtung, das Ministerium vor der ­Öffentlichkeit bloßzustellen, verfolgten sicherlich auch die scheinheiligen Aufforderungen von Seiten der Untersuchungsbefürworter an die Minister, die vermeintlich günstige Gelegenheit zu ergreifen, um ihre Sicht der Dinge im Rahmen einer parlamentarischen Untersuchung öffentlich zu erläutern und verteidigen. Indem die in der Debatte angeklungenen Einschränkungen nicht in die Empfehlung an das Plenum aufgenommen wurden, sondern im Gegenteil Art.  82

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PrVerf 1850 ausdrücklich als Grundlage zitiert wurde, befürwortete der Zentralausschuss relativ offen die Einsetzung einer Untersuchungskommission als Forum der politischen Auseinandersetzung. Wie die Sache im Plenum der Zweiten Kammer ausgegangen wäre, lässt sich wegen ihrer Schließung nicht mit Sicherheit sagen. Unabhängig davon zeigen die Beratungen, dass ein Teil der Abgeordneten eine moderne Interpretation von Art.  82 PrVerf  1850 befürwortete, die das Selbstinformationsrecht als Instrument zu Regierungskontrolle und Kritik in Stellung brachte. Einen Ausblick auf die kommende Verhärtung der Fronten zwischen Regierung und Volksvertretung, wenn es um diese Funktionen und den ihnen zugrundeliegenden parlamentarischen Kontrollanspruch ging, bot die Mahnung des Regierungskommissars, dass die Kammer für eine Untersuchung auf die Kooperation der Behörden angewiesen sein werde. Was diese Warnung wirklich bedeutete, sollte erst die Obstruktion des Ministeriums Bismarck gegenüber der Wahlmanipulationsuntersuchung des­ preußischen Abgeordnetenhauses zeigen. Zu guter Letzt sind auch die Positionen zum Verhältnis des parlamentarischen Selbstinformationsrechts und der verschiedenen Auskunftsmöglichkeiten interessant. Während die gouvernementale Seite versuchte, die Angelegenheit in inter­ pellationsartige Bahnen zu lenken, um der Regierung damit die Herrschaft über den Informationsfluss zu erhalten, charakterisierte der Zentralausschuss der Zweiten Kammer die Einsetzung einer Untersuchungskommission im krassen Gegensatz dazu als milderes Mittel, weil eine Interpellation „immer den Schein eines Gegenübertretens“ an sich habe. Neben diesem möglicherweise vorgeschobenen Argument kam der wichtigere Gedanke zur Sprache, dass zwangsläufig punktuelle Interpellationen kein Gesamtbild liefern könnten. Freilich zeigte diese Klarstellung den politischen Kontrollanspruch der Abgeordneten und damit die Brisanz der Alternative. Ein weiteres Plädoyer für ein selbständiges Untersuchungsrecht war gewissermaßen August v. Bethmann-Hollweg zu verdanken, obwohl er in der Sache für die motivierte Tagesordnung eintrat. Indem der Anführer der Wochenblattpartei aber simultan monierte, dass man sich in der Kommission allein auf Informationen der Regierung verlassen habe, trat er doch ein Stück weit für die Selbstinformation der Kammer ein, obwohl er das entsprechende Recht vordergründig in Zweifel zog. 3. Wahlmanipulationen (1855) Als Wendepunkt in der preußischen Untersuchungsrechtspraxis gilt im Schrifttum häufig, dass die Volksvertretung seit den 1870er Jahren keine Enquêten oder Untersuchungen mehr angestrengt, sondern die Regierung um Erhebungen ersuchte habe.561 Dass ein solcher Schritt aber durchaus auch der Regierungskon 561

s. zum Forschungsstand 1. Teil B. und die Nachw. in Fn. 26.

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trolle dienen konnte, bewies Maximilian Graf Schwerin nach den massiv beeinflussten Wahlen von 1855: Der vorpommersche Altliberale erhob die prima facie paradoxe Forderung, die Regierung möge potentielle Verfassungsverletzungen durch das Gouvernement selbst untersuchen.562 Bei genauerer Betrachtung knüpfte dieser Antrag konsequent an die ostentativen Aufforderungen an die Regierungsseite in der Dissidentenfrage oder im Streit um die Lage des Landes an, die sich in der Kammer als „Forum der Nation“ bietende Gelegenheit zu nutzen, um sich öffentlich zu rechtfertigen. a) Vorspiel: Wahlprüfungen in der Zweiten Kammer Anders als bei früheren Urnengängen setzte „[g]anz systematisch und im allergrößten Maßstabe […] der Druck der Regierung erst bei den Wahlen von 1855 ein, aus denen die berüchtigte Landratskammer hervorging“ (Hellmut v. Gerlach): Um die liberalen Elemente in der Beamtenschaft zur Räson zu bringen, wies Innenminister Ferdinand v. Westphalen die Regierungspräsidenten an, disziplinarisch gegen jeden vorzugehen, der oppositionell wählte. Ein Staatsdiener habe allenfalls das Recht, sich der Wahl zu enthalten. Wer aber unbedingt oppositionell wählen wolle, müsse eben den Dienst quittieren. Flankiert wurde diese Einschüchterung des öffentlichen Dienstes durch Repressionen gegen Private und die liberale Presse. Zu guter Letzt manipulierte die Regierung die Wahlkreiseinteilung, um bekannte oppositionelle Mehrheiten zu zerschlagen.563 Den Erfolg dieser Bemühungen fasste der Kreuzzeitungspolitiker Moritz v. Blanckenburg so zusammen, dass die „Fraction der eigentlichen Linken, […] mit der allerdings die übrige getreue Opposition Sr. Majestät sich identifizirt [habe, von…] 120 Mitglieder[n] auf 20 reduzirt“ worden sei.564 Tatsächlich hatten Manipulation, Agitation und Einschüchterung dem Ministerium eine sichere Dreiviertelmehrheit beschert. Obgleich die versprengte liberale Opposition Unterstützung bisweilen von der katholischen Fraktion erhielt, gab in der Landratskammer die Reaktion den Ton an.565 In der Zweiten Kammer wurden die systematischen Wahlbeeinflussungen Anfang Dezember 1855 aus Anlass der Legitimationsprüfungen zum Gegenstand eines öffentlichen Disputs. Während der Altliberale Maximilian v. Schwerin die 562 Zu den Novemberwahlen von 1855 s. L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 522; H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 (94). 563 H. v. Gerlach, Wahlrecht, 1908, S. 40 ff. mit wörtlichen Auszügen aus Erlassen und Parla­ mentsdebatten. Ausführlich G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 415 ff. s. ferner die Rede des Grafen Schwerin mit weiteren Beispielen, die Verteidigung des Innenministers v. Westphalen mit Wiedergabe des Wahlreskripts, weitere Redebeiträge, teils mit Erläuterungen, sowie desgleichen bei Fortsetzung der Debatte (VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 12 ff., 19 ff.) oder aus der zweiten Beratung des Antrags Schwerin die Rede Peter Reichenspergers (S. 322 f.) und zu Wahlbezirksmanipulationen Kurt v. Bardelebens (S. 327 ff.). 564 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 333. 565 A. Bernstein, Geschichte II, 1882, S. 208 ff.

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„ungesetzliche und unverfassungsmäßige“ Beeinträchtigung der „Wahlfreiheit“ anklagte, verteidigte Innenminister Ferdinand v. Westphalen sein Wahlreskript mit der kühnen These, dass, weil die Verfassung bloß freie Wahlen verlange, es unbedenklich wäre, den Beamten im Vorfeld deutlich in Erinnerung zu rufen, in welchem „besonders verpflichtenden Verhältniß zu Sr. Majestät dem Könige und seiner Regierung“ sie stünden.566 Nach einer hitzigen Debatte, die sich bis in die nächste Sitzung hinzog, erkannte die Kammermehrheit die konkrete Wahl, an der sich dieser Streit entzündet hatte, letztendlich an.567 b) Der Antrag Schwerin Unter dem 9.  Dezember 1855 beantragten Graf Schwerin und rund 90 weitere Abgeordnete verschiedener Oppositionsfraktionen,568 mit einer Resolution die „Erwartung [auszusprechen…], daß […] das Staats-Ministerium eine Untersuchung darüber eintreten lasse, inwieweit durch Organe der Regierungsgewalt eine, die Freiheit der letzten Abgeordnetenwahlen beeinträchtigende Einwirkung geübt worden“ sei. „[V]on dem Resultate [sollte…] dem Hause der Abgeordneten Mittheilung gemacht“ werden. Zur Begründung dieses ungewöhnlichen Antrags verwiesen die Antragsteller auf die öffentlichen Wahlprüfungsdebatten, die die „vielfach verbreitete Ueberzeugung bestärken müß[t]en, daß die Freiheit der Wahlen durch verschiedene Maßnahmen und Erlasse der Behörden, so wie durch ungebührliche amtliche Einwirkungen und Bedrohungen beeinträchtigt worden“ sei. Vor diesem Hintergrund verlange das „verfassungsmäßige Recht des Landes und die Würde der Landesvertretung […] eine gewissenhafte Untersuchung […], damit einestheils der Umfang des Uebels erkannt, anderentheils der Wiederkehr desselben vorgebeugt werde.“569 c) Kommissions- und Plenarberatungen Am 17. Dezember 1855 unterbreitete der von der siegreichen Rechten anstelle des Grafen Schwerin durchgesetzte570 Kammerpräsident Botho Graf zu EulenburgWicken dem Plenum den Wunsch der Antragsteller, zur Vorberatung eine besondere Kommission zu wählen. Nach kurzem Zwist über den Vorschlag Ludwig Emil Mathis’, in jeder Abteilung drei Abgeordnete wählen zu lassen, damit die rechte Seite des Hauses im Interesse der Sache und ohne Gefährdung ihrer Mehrheit die Wahl je eines linken Vertreters zulassen könne, damit der „Widerspruch der Mei 566

VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 12 ff. VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 26. 568 Zu den Kräfteverhältnissen s. L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 522. 569 VerhPr2K IV/1 (1855/56), Nr. 21, S. 63. 570 L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 522. 567

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nungen [nicht] erst bei der Plenar-Debatte hervortrete“, wurde beschlossen, lediglich 14 Kommissionsmitglieder in den sieben Abteilungen wählen zu lassen.571 Die Zeit war für einen solchen Vorgeschmack auf den heute geltenden Spiegelbildlichkeitsgrundsatz, der relativ ähnlich begründet wird, noch nicht reif.572 Stattdessen erwiesen sich die Sorgen des Abgeordneten Mathis als berechtigt, indem – wie Graf Schwerin monierte – von über 90 Antragstellern nicht einer in die Kommission gewählt wurde. Entsprechend ihrer Zusammensetzung „aus 14 Mitgliedern der rechten Seite“, „1 Regierungs-Präsidenten, 3 Landräthen, 2 Staatsanwälten, 3 Kreisrichtern und 5 Rittergutsbesitzern“ habe sich die Kommission ausschließlich darum bemüht, den Antrag „auf die bequemste Weise todtzuschlagen“.573 Ganz im Sinne dieser liberalen Klage schloss der Kommissionsbericht aus der Feder des konservativen Hallenser Staatsanwalts Ludwig August Wilhelm Heise mit der Empfehlung, „über den Antrag des Grafen Schwerin und Genossen […] zur einfachen Tagesordnung überzugehen“. Den Antragstellern hielt man vor, „keinerlei thatsächliche Momente“ geliefert, ja sogar die „Ausführung spezieller Thatsachen“ ausdrücklich verweigert zu haben.574 Überdies würden jetzt gegenüber dem ursprünglichen Petitum grundverschiedene Forderungen erhoben: Während zunächst bloß von einer Untersuchung gegen untergeordnete „Organe der Regierungsgewalt“ durch das Gouvernement selbst die Rede gewesen wäre, verlangten die Antragsteller jetzt eine „Untersuchung durch das Haus der Abgeordneten“ und gegen das Staatsministerium. Tatsächlich hatte Graf Schwerin lediglich erklärt, „daß nach seiner eigenen Auffassung sich nicht sowohl die Organe der Regierungsgewalt als das Staats-Ministerium selbst ungesetzliche und ungerechtfertigte Eingriffe in die Wahlfreiheit erlaubt habe“ und deswegen „vor Allem“ eine „politische Untersuchung“ gefordert, „ob und inwieweit das Staats-Ministerium hierbei die Gesetze des Landes verletzt“ habe. Weiter bedauerte der Antragsteller, dass sich das Ministerium in „Ermangelung eines Gesetzes über Verantwortlichkeit der Minister“ nicht „wegen seiner Handlungsweise direkt zur Verantwortung […] ziehen“ lasse. Weil zudem die „Stellung eines Antrags auf Ernennung einer Kommission zur Untersuchung der thatsächlichen Verhältnisse – wie sie der Artikel 82 der Verfassungs-Urkunde [zulasse –…] nicht zweckmäßig“ sei, de facto hatte ein solcher Vorstoß gegen die parlamentarischen Mehrheiten keine Aussicht auf Erfolg, könne man ausschließlich versuchen, „durch eine Verhandlung im Plenum des Hauses das Ministerium von der Ungesetzlichkeit seines Verfahrens zu überzeugen, und sofern dies nicht [gelänge…], an die öffentliche Meinung zu­ appelliren und dadurch für die Zukunft ähnlichen Mißständen vorzubeugen.“575 Die vermeintliche Untersuchungsforderung, die der Berichterstatter dem Antrag-

571

VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 66 f. Vgl. dazu BVerfGE 112, 118 (133); BVerfGE 80, 188 (222). 573 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 362. 574 VerhPr2K IV/1 (1855/56), Nr. 22, S. 64, 66. 575 VerhPr2K IV/1 (1855/56), Nr. 22, S. 64. 572

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steller vorwarf, bezog sich also offenkundig auf die Erzwingung einer Plenar­ beratung über den ursprünglichen Antrag.576 Die prima facie paradoxe Aufforderung des Gouvernements, die Wahlbeeinflussungen selbst zu untersuchen, war lediglich das Vehikel des eigentlichen politischen Ziels, die skandalösen Vorgänge zumindest in aller Öffentlichkeit anzuprangern. Der Antrag Schwerin reihte sich damit in die anderen Versuche der Opposition ein, das Ministerium neben Interpellationen auch mit Motionen anzugreifen; nicht der utopische Beschluss des Resolutionsantrags durch die konservative Kammermehrheit, den die Regierung ohnehin ignoriert haben würde, sondern die politisch wirksame öffentliche Auseinandersetzung war das Ziel der Antragsteller. Auf diese Provokation war der Antrag auf die einfache Tagesordnung die passende Reaktion der Gegenseite, um die Opposition selbst noch um diesen Erfolg zu bringen.577 Der Kommissionsbericht unterschlug diese Details geflissentlich, konzedierte den Antragstellern zwar das „Recht auf Einbringung eines solchen Antrags“, hob aber simultan hervor, dass die „oppositionelle Partei […] in constitutionellen Staaten“ in „politisch erregten Zeiten“ stets versuche, „durch Einbringung eines Antrags auf politische Untersuchung der Maßnahmen der Regierung ihrer Ansicht Geltung zu verschaffen“. Weil man aber die „Einigkeit zwischen Regierung und Volk“ bloß aus den „durchgreifendsten Gründen“ in Frage stellen dürfe, riet die Kommission der Kammer zu „großer Vorsicht“. In der Sache stellte man sich auf die Seite des Gouvernements, verteidigte das vermeintliche Recht, Einfluss auf das Stimmverhalten der Beamten auszuüben, ja hielt das Ministerium geradezu für verpflichtet, „die öffentliche Stimmung in ihrer Ursprünglichkeit und Reinheit vor der Irreleitung durch das Parteitreiben zu bewahren“.578 Die Wahlkreiseinteilung wurde um des „berechtigten Wunsches auf Erreichung konservativer und gouvernementaler Wahlen“ willen verteidigt, den Polizeibehörden attestierte man, dass sie bei der Unterdrückung der politischen Presse nur die „Pflichten i­ hres Amtes besonders gewissenhaft“ erfüllt hätten.579 Offenkundig machte dieser alles andere als unparteiische Bericht, der die Manipulationen unverfroren einräumte, aber als gerechtfertigte Notwendigkeiten verteidigte, auf eines der Kommissionsmitglieder einen bleibenden Eindruck: Gemeint ist der spätere Ministerpräsident Otto v. ­Bismarck, der, wenngleich mit geringerem Erfolg, dem „Vorbild“ von 1855 auf dem Höhepunkt des Verfassungskonfliktes bei den Wahlen von 1863 folgte und damit den Anlass für eine der bedeutendsten politischen Untersuchungen des 19. Jahrhunderts lieferte.580 576 Erst in der Plenarberatung reklamierte Graf Schwerin, dass der Kommissionsbericht seine „Erklärung ungenau und schief wiedergegeben“ habe;. „keineswegs [habe er] den Antrag dahin modifizirt, daß statt einer Untersuchung durch das Staats-Ministerium eine Untersuchung durch das Haus der Abgeordneten verlangt“ wäre (VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 362). 577 Zur geschäftsordnungsmäßigen Behandlung derartiger Anträge vgl. 5. Teil 3. Kap. B. II. 1. a). 578 VerhPr2K IV/1 (1855/56), Nr. 22, S. 64 f. 579 VerhPr2K IV/1 (1855/56), Nr. 22, S. 66. Vgl. H. v. Gerlach, Wahlrecht, 1908, S. 24 f. 580 Zur Wahlmanipualtionsuntersuchung s. 5. Teil 3. Kap. C.

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Zu Beginn der Plenarberatung wiederholte Kommissionsberichterstatter Ludwig August Wilhelm Heise die Vorwürfe gegen die Antragsteller, dass sie „thatsächliche Momente nicht angegeben [hätten], woraus sich eine Beeinträchtigung der Wahlfreiheit“ ergeben könne, und ebenso wenig den Nachweis erbracht hätten, dass ein „eklatanter Fall“ vorliege, der den drastischen Schritt einer Untersuchung rechtfertige. Auch in der Sache, also der Bewertung der Wahlbeeinflussungen, wollte man den „Deductionen des Herrn Grafen Schwerin nicht folgen“.581 Als erster Verteidiger der Untersuchungsforderung ergriff Peter Reichensperger das Wort. Zwar erkannte der rheinische Richter grundsätzlich ein Recht der Regierung an, „nicht mit verschränkten Armen dem Wahlkampfe“ zuzuschauen. „Verfassungsrecht“ und „Sittlichkeit“ seien aber verletzt, wenn „gegen Einzelne oder gar gegen ganze Kategorien der Bevölkerung Drohungen ausgesprochen [würden…], welche […] mit dem verfassungsmäßigen Prinzip der Wahlen absolut unverträglich“ seien.582 Eine Untersuchung sei deswegen, obschon die Kammer die einzelnen Wahlen anerkannt habe, „unerläßlich“, weil jeder Manipulationsversuch ein „Eingriff in das wesentlichste und nothwendigste Recht der Wähler und der Landes-­Vertretung“ sei.583 Habe man das Ansehen der Landesvertretung erst einmal beschädigt, könne „sie bei künftigen aufgeregten Zeiten […] nur zu leicht den Dienst versagen“, so dass nur noch die „sogenannte ultima ratio regis – die Sprache der Kanonen –“ bleibe.584 Zu guter Letzt warnte der katholische Politiker die Konservativen, die seit dem Scheitern von 1848 schlummernde Öffentlichkeit „mit armseligen Liliputanerbanden […] fesseln“ zu wollen; es könne „sehr gut sein“, dass man künftig, „wenn der Erwachende mit Vertrauen auf diese Landesvertretung [blicke…] und Niemand das Wort Wahlcorruption aussprechen“ dürfe, die Vorteile erkennen werde. Zur Beseitigung jedes bösen Scheins reiche eine Son­ dierung der Vorwürfe durch die Regierung aus, der es gemeinsam mit der konservativen Abgeordnetenmehrheit am Herzen liegen müsse, jeden Verdacht zu zerstreuen. Verspreche eine solche Untersuchung auch kein „vollkommen genügendes Resultat“, werde doch das „Rechtsprinzip gewahrt“, ja einer „Wiederkehr des Unrechts wenigstens auf moralischem Wege vorgebeugt“.585 Auf einer vergleichbaren Linie erläuterte Graf Schwerin seine Forderung dahin, dass „der Kern der Frage nicht in den Handlungen der Unterbeamten, sondern in den Handlungen der Minister liege“. Das Ministerium solle „nochmals […] die Handlungen der einzelnen Minister und der unteren Organe der Regierung“ hinterfragen und der Kammer anschließend „von dem Resultate […] Mittheilung“ machen. So informiert werde die Volksvertretung „auf Grund des Art. 81 eine Adresse an Se. Majestät den König beschließen können, eine Beschwerde über das Staats-Ministerium enthaltend“. Ebenso gut könne das Parlament, „wenn es dazu Veranlassung [finde, …] 581

VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 320 f. VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 323 (Hervorhebung nur hier). 583 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 321. 584 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 325. 585 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 326. 582

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nach Art. 82 eine Kommission ernennen, um die Thatsachen noch näher festzustellen, oder nach Art. 61 der Verfassung sich zunächst die Frage vorlegen, ob schon jetzt ein Antrag auf Anklage der Minister, deren Verantwortlichkeit in der Verfassung ausgesprochen [werde…], gestellt werden könne“, obwohl kein Ausführungsgesetz existiere. Diente das intrikate Ersuchen an das Ministerium nach diesen Erläuterungen vordergründig auch dazu, der Kammer – gewissermaßen als milderes Mittel gegenüber einer Kommission nach Art. 82 PrVerf 1850 – die erforderlichen Informationen für weitere Schritte zu verschaffen, war die öffentliche Debatte über den Antrag doch der eigentliche Sinn und Zweck des in der Sache völlig aussichtslosen Vorstoßes. Schließlich konnten die Antragsteller kaum auf die Mitwirkung der gouvernementalen Kammermehrheit oder das Wohlwollen des Ministeriums hoffen. Die in den Wahlen ausschlaggebende öffentliche Meinung ließ sich dagegen sehr wohl möglicherweise beeinflussen, indem man dem Publikum die Vorwürfe und Verdachtsmomente gegen Regierung und Konservative vorführte. Aus taktischen Erwägungen forderte Graf Schwerin den politischen Gegner trotzdem dazu auf, wegen des erheblichen Schadens, den die „Autorität der Regierungsgewalt“ und das Vertrauen in die Landesvertretung durch „Furcht, Einschüchterungen, Bedrohung und Versprechung“ erlitten hätten, der Untersuchungsforderung beizutreten.586 Ebenso typisch, wie diese Reden für die Antragsteller waren, äußerte sich Otto Friedrich v. Zedlitz-Leipe für ihre Gegner. Das Bekenntnis des Wartenberger Landrats, dass der Innenminister bereits bei den Wahlprüfungen „solche Mittheilungen gemacht [habe], daß ein Jeder, der sich überhaupt überzeugen [wolle…], wohl überzeugt sein [müsse…], daß die Behörden auch in dieser Wahlangelegenheit nichts weiter, als ihre Schuldigkeit gethan [hätten…], und dies mit möglichster Rücksichtnahme, wie dies immer geschehen“ würde, rief nicht von ungefähr „Heiterkeit“ auf der linken Seite des Hauses hervor. Den Antragstellern hielt der Konservative vor, dass sie dem „Wohle des Landes“ zuwider „abermals Gelegenheit […] erhalten [wollten], in bereits gewohnter Weise gegen die Behörden sich auszusprechen und diese zu verdächtigen“. Am Besten sei der Antrag, „der stark an das Rebellionsjahr 1848“ erinnere, mit der Annahme des Kommissionsvorschlags zu „vernichten“.587 Der konservative Jurist und Rittergutsbesitzer Moritz v. Blanckenburg charakterisierte den Antrag als „Taktik“ der Liberalen, um eine kapitale Wahlschlappe „vor dem Lande zu verdecken“.588 In einer durchsichtigen Retourkutsche warfen der Bunzlauer Staatsanwalt Leonhard v. Prittwitz und der Sozialkonservative Hermann Wagener den Oppositionsparteien ihrerseits Beeinflussungsversuche gegenüber konservativen Wahlmännern vor.589 Prittwitz dankte den Ministern gar, „daß sie endlich einmal die Lage der Beamten zur Regierung in Hinsicht auf die Wahlen klar gestellt“ und damit den Beamtenstand geschützt hät 586

VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 362 f. VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 327. 588 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 331. 589 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 351 f., 353. 587

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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ten. In bemerkenswerter Offenheit spannte der Konservative einen Bogen von der Verfassungsoktroyierung von 1848 zu den Wahlmanipulationen des Jahres 1855, indem „in jenem Jahre, das jeder gute Preuße nur mit Trauer“ nenne, die Rettung des Vaterlandes „nur mit ähnlichen energischen Mitteln möglich“ gewesen wäre.590 Auf die „sittliche Entrüstung“ der Antragsteller entgegnete der Regierungskommissar und Geheime Regierungsrat Ludwig Hahn, dass das Staatsministerium „mit voller sittlicher Unbefangenheit und klarer sittlicher Ueberzeugung an die Wahlen herangegangen“ wäre.591 Außerdem warf der ehemalige Lehrer den Antragstellern vor, dass sie der Regierung in der Kommission nicht ermöglicht hätten, „diejenigen Thatsachen beizubringen, welche wirklich dazu dienen könnten, das Land der zunächst herbeigeführten Beunruhigung gegenüber zu beruhigen“. Die „verhältnismäßig so geringe Anzahl zum Theil sehr leichter Ausschreitungen“ rechtfertige es keineswegs, mit einer Untersuchungsforderung „große Beunruhigung in das Land [zu] werfen“.592 In der Sache schalt er die „theoretische“ Forderung, dass sich in den Wahlen die öffentliche Meinung unbeeinflusst äußere, als ideelles Trugbild; angesichts der politischen Unmündigkeit der „Masse der Bevölkerung“ habe die Regierung die „an und für sich loyale Meinung des Volkes“ vor den „Irrungen des Parteiwesens“ und den „Vorspiegelungen der oppositionellen Parteien“ in Schutz zu nehmen.593 Die Vorstellung des Grafen Schwerin, dass die Beamten dieselben staatsbürgerlichen Rechte wie jeder Preuße hätten, hielt er für den „Ruin der preußischen Staatsverwaltung“.594 In dasselbe Horn blies Innenminister Ferdinand v. Westphalen, indem er betonte, dass die Regierung bei den Wahlen bloß „innerhalb der Grenzen der Verfassungs-Urkunde“ dafür Sorge getragen habe, „daß […] die wahre öffentliche Meinung des Landes zum Ausdruck kommen“ könne. Offen gestand der konservative Politiker ein, dass man „da, wo oppositionelle Parteien auf eine entschiedene Weise der Regierung bisher […] entgegengetreten [seien, sich bemüht habe…], die Wahlbezirke so zusammenzulegen, daß auch die andere, die wahrhaft nationale Ansicht zur Geltung kommen könne“. Die Antragsteller hätten der Verfassungsurkunde zuwider, die der Kammer das Recht gebe, „durch Kommission über Thatsachen Information einzuziehen“, die „Gelegenheit“, die Vorberatungen über ihren Antrag entsprechend zu nutzen, verstreichen lassen. Gleichwohl versicherte der Innenminister, dass es die „Pflicht der Exekutive [wäre,  …] aus eigenem Pflichtgefühl die beschwerenden Thatsachen zu untersuchen“, und bot der Gegenseite an, sich voller „Vertrauen“ mit etwaigen Verdachtsgründen an die „Behörden des Vaterlandes“ zu wenden. Das Plenum forderte er dazu auf, „zur einfachen Tagesordnung überzugehen“, „damit der Geist, der dieses Haus [belebe…], klar und entschieden“ hervortrete.595 590

VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 347 f. VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 339. 592 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 344. 593 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 339 ff. 594 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 342. 595 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 354 (Hervorhebung nur hier). 591

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Nicht zu Unrecht hielt Julius Karl August v. Hennig dem Minister vor, dass er den Antrag nach diesen Beteuerungen ebenso gut habe unterstützen können. Der Linke mutmaßte, dass v. Westphalen in Wahrheit bloß verhindern wolle, „daß die Resultate der Untersuchung zu Tage“ kämen oder er sich eingestehen müsse, „der intellektuelle Urheber aller dieser Ueberschreitungen“ zu sein.596 Politisch entsprach diese Einschätzung nicht der Lage, weil der Innenminister ohne Not und mit schlimmstenfalls geringem Schaden für das Ansehen der Regierung eine Untersuchung ankündigen konnte, um die vermeintlich zu Unrecht aufgewühlten Gemüter mit dieser Geste zu beruhigen, während ein entsprechender Kammerbeschluss nur als Misstrauensvotum bewertet werden konnte. Obwohl noch 17 Abgeordnete, u. a. der Mitbegründer der Kreuzzeitung, der konservative Anführer Ludwig v. Gerlach, in die Rednerliste eingeschrieben waren, wurde der Schluss der Debatte beschlossen.597 Berichterstatter Heise versuchte das Kommissionsvotum mit der „Praxis des Hauses“ zu untermauern, sich einer Beschwerde erst dann anzunehmen, wenn feststehe, „daß in dem geordneten Instanzenwege eine Abhülfe […] nicht zu erzielen“ sei. In diesem Sinne hätten sich die Antragsteller zunächst an die Behörden wenden müssen, bevor sie ihr Anliegen in das Haus einbrächten, „damit dasselbe mit seiner Autorität dem Ministerium gegenübertrete“.598 Darauf wurde der Kommissionsantrag in namentlicher Abstimmung mit 203 gegen 92 Stimmen angenommen.599 d) Zwischenergebnis Erscheint der Antrag Schwerin prima facie als informationsrechtlicher Bruch mit den oppositionellen Vorstößen in der Dissidentenangelegenheit oder mit dem Antrag Vincke zur Lage des Landes, entpuppt er sich bei genauerer Betrachtung als deren konsequente Fortschreibung. Nachdem es bei diesen Gelegenheiten offenkundig geworden war, dass die Opposition als Minderheit mit dem Mehrheitsrecht des Art. 82 PrVerf 1850 nichts ausrichten konnte, wechselte sie ihre Taktik: Anstelle einer weiteren aussichtslosen Untersuchungsforderung, deren Scheitern das Enquête- und Untersuchungsrecht hätte beschädigen können,600 zwang sie das Ministerium mit einem aussichtslosen Untersuchungsersuchen dazu, vor den Augen der Öffentlichkeit Farbe zu bekennen und sich zu den gravierenden Vorwürfen zu äußern. In Wahrheit war der Antrag Schwerin also bestenfalls vordergründig auf die Anregung einer Regierungsuntersuchung gerichtet, setzte bloß scheinbar auf Verfassungstreue und Einsichtsfähigkeit des Ministeriums ­Manteuffel. Gewisser 596

VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 355. VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 356. 598 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 366. 599 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 366 ff., 368. 600 s. Max v. Forckenbeck zu möglicherweise vergleichbaren Sorgen aus Anlass der Wahlmanipulationsuntersuchung von 1863/64 (VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 171). 597

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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maßen war wortwörtlich der Weg das Ziel: Indem die inhomogene Opposition aus altliberalen und linken, katholischen und gemäßigt konservativen und polnischen Volksvertretern601 mit ihrer unorthodoxen Forderung erfolglos gegen das unbezwingbare Bollwerk der Kammermehrheit anstürmte, machte sie das Plenum zum öffentlichen Kampfplatz. Zwar obsiegten Rechte und Regierung in der Abstimmung. Ein derartiger Sieg war aber eines Königs von Epirus würdig, indem sich Mehrheit und Regierung von der Opposition dazu verleiten ließen, sich öffentlich gegen freie Wahlen und damit letzten Endes gegen die Grundfesten des konstitutionellen Systems selbst auszusprechen. In diesem Sinne bekannte sich etwa ­Moritz v. Blanckenburg freimütig zu dem reaktionären Prinzip „Autorität, nicht Majorität“602 und das Ministerium ließ sich gar dazu hinreißen, seine Machenschaften nicht nur coram publico einzugestehen, sondern im selben Atemzug als gerechtfertigt, ja um des Staatswohls notwendig hinzustellen. Der scheinbar paradoxe Antrag, die Staatsregierung aufzufordern, den gegen sie erhobenen Vorwürfen nachzugehen, ist also keineswegs ein Vorbote der kommenden Verfassungspraxis, Enquêten nicht selbst zu veranstalten, sondern die Regierung um ihre Durchführung zu ersuchen: Während die Ersuchen späterer Jahre ernsthafte Bitten waren, hatte sich der Sinn und Zweck des Antrags Schwerin mit der öffentlichen Debatte erschöpft. Daran ändert es wegen der parlamentarischen Mehrheiten nichts, dass der Antragsteller – wie es Max Weber später formulierte603 – dem Ministerium mit der „Rute“ des Art. 82 PrVerf 1850 drohte. Die Antragsteller kehrten mit ihren Forderungen also ebenso wenig zu nutzlosen vormärzlichen Informationsformen zurück, wie sie z. B. den kurhessischen Landständen anstelle eines Selbstinformationsrechts zur Verfügung standen.604 Kurioserweise trägt ausgerechnet dieser prima facie erfolglose Versuch, die Regierung mit Hilfe informationeller Mittel zur Rechenschaft zu ziehen, zur Entwicklung mindestens der Grundlagen des modernen parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts bei. So legt das Untersuchungsersuchen des Grafen Schwerin die Bedeutung der Öffentlichkeit jeder politischen Auseinandersetzung offen, die sich heute in Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG widerspiegelt. Die historischen Kombattanten schätzten die entsprechende Wirkungskraft der Debatte freilich höchst unterschiedlich ein: Während Moritz v. Blanckenburg erklärte, dass man den langwie 601 Für die polnischen Abgeordneten erklärte der Gutsbesitzer Joseph v. Morawski, dass sie sich dem Vorstoß angeschlossen hätten, weil ohnehin die Absicht bestanden habe, gegen die Wahlmanipulationen im Großherzogtum Posen, insbesondere die willkürliche Wahlkreiseintei­ lung, Beschwerde einzulegen und eine „Untersuchung der von der Verwaltung getroffenen Maßnahmen“ zu verlangen (VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 348 f.). 602 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 331. In vergleichbarer Weise betonte der rechte Bunzlauer Staatsanwalt Leonhard v. Prittwitz, dass der Unterschied zwischen den Konservativen und dem Antragsteller darin bestehe, „daß er [glaube…], Recht zu thun, wenn er die Regierung, von deren guten Absichten er doch, wie er so oft gesagt, überzeugt ist, stets angreift, wo er kann, während wir der Ansicht sind, die Regierung nur da angreifen zu dürfen, wo wir müssen“ (S. 346). 603 W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 274. 604 Zu deren erfolglosem Ringen um Auskunft s. 2. Teil 2. Kap. 3.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

rigen Vorträgen der Opposition „mit der angestrengtesten Aufmerksamkeit kaum [habe] folgen“ können und die stenographischen Berichte voraussichtlich überhaupt nicht gelesen würden,605 bekannte sich Peter Reichensperger zu der Notwendigkeit, das freie Wahlrecht als Grundlage der Volksvertretung öffentlich zu verteidigen, um jeden Zweifel an ihrer Legitimität zu unterbinden.606 Der Linke Julius Karl August v. Hennig erklärte, dass die Antragsteller ihr Pulver nicht in der Kommission verschossen hätten, damit das „ganze Land Kenntniß nähme von diesen Thaten“, die andernfalls „in der Kommission […] begraben“ worden wären.607 So betrachtet erreichten die Antragsteller allein schon mit der öffentlichen Debatte ihr Hauptziel, die unsauberen politischen Machenschaften des politischen Gegners bloßzustellen.608 In diesem Sinne äußerte sich Friedrich Harkort bei anderer Gelegenheit allgemein, dass, möge der Antrag „auch niedergestimmt werden, […] schon genug gewonnen [sei], wenn [man…] nur die Sünden der Reaction von dieser Tribüne herab dem Lande verkünden […] und den Leuten draußen zeigen [könne], daß [man…] stets bei der Spritze“ sei. In vergleichbarer Weise urteilte der Fortschrittspolitiker Louis Constanz Berger Jahre später, „daß die Verhandlung sich in Wirklichkeit zu einem bedeutenden Siege der Opposition [gestaltet…] und die Stimmung in den […] Volksmassen allmählich [begonnen habe,] umzuschlagen“.609 1882 ging Aaron Bernstein in seiner „Revolutions- und Reaktions-­ Geschichte“ den einen entscheidenden Schritt weiter, dass ungeachtet der Abstimmungsniederlage die „Thatsachen, welche von der Minorität dargelegt worden [seien, …] in der Zeit der neuen Aera stark dazu beigetragen [hätten], dem verrotteten Regierungssystem ein schnelles Ende zu machen“.610 Der Vorstoß Schwerins weist also trotz des grundsätzlichen Unterschiedes, dass keine parlamentarische Untersuchung auf der Grundlage des Art. 82 PrVerf 1850 beantragt wurde, erhebliche funktionelle Parallelitäten mit dem Antrag Vincke oder den Vorstößen in der Dissidentenangelegenheit auf. Statt auf das Enquête- und Untersuchungsrecht zu bauen, schlugen die Antragsteller dieses Mal den Weg eines vorgeschobenen interpellationsartigen Ersuchens ein, um die politischen Verfehlungen des Gouvernements und seiner parlamentarischen Parteigänger vor dem Forum der öffentlichen Meinung anzuklagen. Der Antrag Schwerin ist kein Menetekel für ein informationsrechtliches Einknicken der Volksvertretung gegenüber 605

VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 331. Vgl. VerhPr2K IV/1 (1855/56), S.  322, 325, 326 f. Außerdem forderte der katholische Poli­tiker die Abgeordneten unter stürmischem Beifall links und Murren rechts dazu auf, „durch [den…] heutigen Beschluß dem Lande und […] der Staatsregierung [zu zeigen], daß [sie…] eine reine und freie Landesvertretung haben woll[t]en, oder keine!“ 607 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 355. 608 Die Hoffnung des Berichterstatters Ludwig August Wilhelm Heise, dass die öffentliche Debatte das „Tendenziöse des Antrags […] klar dargestellt“ und das „Interesse der konservativen Partei dadurch erheblich gefördert“ habe (VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 364), dürfte allzu optimistisch gewesen sein. 609 L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 523 mit Zitat Harkorts. 610 A. Bernstein, Geschichte II, 1882, S. 213. 606

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dem Staatsministerium. Dass man auf einen Untersuchungsantrag verzichtete, lag ausschließlich an den ungünstigen politischen Mehrheiten in der Kammer. Als sich der Wind in der Konfliktszeit der 1860er Jahre zugunsten der Liberalen gedreht hatte, beschränkte sich die mehrheitsoppositionelle Kammer nicht mehr darauf, von der Regierung eine Überprüfung der gegen sie erhobenen Wahlvorwürfe zu verlangen, sondern setzte gegen den Widerstand des vermeintlich allmächtigen Ministeriums Bismarck eine eigene Untersuchung ins Werk. Der Vorstoß von 1855 erscheint aufgrund seines Ansatzes, öffentliche Anklagen gegen die gouvernementalen Wahlmachinationen zu erheben, als das unmittelbare Präludium zu dieser beeindruckenden Kontrolluntersuchung auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts, die diesen Aspekt mit parlamentarischen Beweiserhebungen kombinierte.611 4. Bewertung der Untersuchungs- und Kontrollversuche Die Parlamentspraxis der 1850er Jahren wird einerseits von oppositionellen Versuchen, Art. 82 PrVerf 1850 als modernes parlamentarisches Untersuchungsrecht zu positionieren, und andererseits von gouvernementalen Abwehrbemühungen, „im Bereich des parlamentarischen Enquete-Rechts […] für eine restriktive Usual-Interpretation“ zu sorgen, die jedes „Zu-Gericht-Sitzen“ über das Ministerium ausschließen sollte (Günther Grünthal), bestimmt.612 Die politisch brisanten Untersuchungsforderungen zum Schicksal der Dissidenten oder der maroden Lage des Landes wurden von parlamentarischen Mehrheiten niedergestimmt. Dass der gouvernementalen Seite trotzdem kein absoluter Sieg gelang und die Regierung wohl den Widerstand der Kammern fürchtete, sollte sie grundsätzlich Hand an das Enquête- und Untersuchungsrecht legen, zeigte sich in der Tatsache, dass sich unter den neun Verfassungsänderungen zwischen 1852 und 1857 kein Angriff auf dieses Recht findet.613 Möglicherweise waren aber komplementäre Sorgen der liberalen Minderheitsopposition vor einem solchen Schritt dafür ausschlaggebend, zwischenzeitlich statt auf das ohnehin nicht durchsetzbare Enquête- und Untersuchungsrecht auf andere Mechanismen zu setzen. Wie sehr man sich dabei der Bedeutung der öffentlichen Meinung bewusst war, verdeutlichen die Versuche, Art. 82 PrVerf 1850 im Kampf gegen das Ministerium Manteuffel zu instrumentalisieren. Das seltsame Untersuchungsersuchen des Grafen Schwerin fügt sich ebenfalls bruchlos in dieses Bild. Der Grund für das Scheitern der Untersuchungsanträge oder der aus taktischen Rücksichten abgeschwächten Forderung, die Regierung zur Überprüfung ihres eigenen Handelns aufzufordern, ist rasch ausgemacht: Es fehlten schlicht die er 611

s. dazu unten 5. Teil 3. Kap. C. So G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 363 aufgrund des Verlaufs der Dissidentenangelegenheit in der Ersten Kammer. 613 Zu diesen Verfassungsänderungen s. E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 161 mit einer Übersicht in Fn. 17 bzw. die Aufstellung bei M. Kotulla, Verfassungswerk, 2008, S. 28. 612

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

forderlichen parlamentarischen Mehrheiten, um eine politische Kontrollenquête zu initiieren. Dass die Regierung durch die Oktroyierung des Klassenwahlrechts, die massiven Wahlmachenschaften und die Intimidation weiter Wählerkreise an dieser politischen Ausgangslage bedeutenden Anteil hatte, ändert nichts an dem genuin parlamentarischen Ursprung dieser Niederlagen. Ungeachtet dessen war selbst das Scheitern an den gouvernementalen Mehrheiten für die weitere Entwicklung des Enquête- und Untersuchungsrechts fruchtbar, illustrierte es doch schon früh die Notwendigkeit, das parlamentarische Selbstinformationsrecht, sollte es als Kontrollinstrument in den unterschiedlichsten Mehrheitskonstellationen tauglich sein und bleiben, als Minderheitenrecht auszugestalten. Die entsprechende Schluss­ folgerung zog Max Weber im letzten Kriegsjahr 1917.614

III. Die Reaktionszeit und die weitere Entwicklung Eine enquête- und untersuchungsrechtliche Bilanz der häufig vernachlässigten615 Zeit von 1850 bis 1858 fällt durchwachsen aus. Einerseits veranstaltete die Zweite Kammer nur zu Bankensystem und Geldverkehr eine auf Art. 82 PrVerf 1850 gestützte Enquête (Antrag Harkort), die diesen Namen aber bei genauerer Betrachtung der beschränkten Untersuchungsmethoden kaum verdient. Drei Versuche in den Kammern, mit Hilfe dieses Artikels politisch brisante Streitthemen oder gleich das ganze „System der Regierung“ einer Kontrollenquête zu unterwerfen, scheiterten am Widerstand der gemäßigten bzw. gouvernementalen Mehrheiten. Ungeachtet dieses ernüchternden Bildes trifft Herbert Kaltheuners Feststellung, dass zwar die „siegreichen Kräfte der Reaktion […] die Zeit derart [beherrschten…], daß die opponierenden, deren Wirken kein Erfolg nach außen beschieden war“, kaum Beachtung fanden, die „Kämpfe dieser beiden Richtungen“ aber trotzdem „von großer Bedeutung“ für die weitere Entwicklung waren, auch für das Enquête- und Untersuchungsrecht zu:616 Einerseits wurde das junge Institut dadurch fortentwickelt, dass das Initiativrecht der Kammer in der Bankenfrage mit Art. 82 PrVerf  1850 gemeinsam zur Begründung eines Enquêteantrags herangezogen wurde. Offenkundig schwebte den Abgeordneten das Bild einer Sachstands- oder Gesetzesenquête vor, auch wenn die Durchführung letzten Endes enttäuschend blieb. Mit der Verbindung des Rechts zur Gesetzesinitiative und der Befugnis zur „Untersuchung von Thatsachen“ wurde der modernen Korollartheorie der Weg bereitet, indem die Reichweite des formellen Untersuchungsrechts an die materielle Mitwirkungsbefugnis der Kammern auf dem Feld der Legislative gebunden wurde. Andererseits gewinnt die zweite Facette des parlamentarischen Selbstinformationsrechts, die politische Untersuchung gegen den politischen Gegner, in den 614

s. zu Webers Konzept 7. Teil 1. Kap. C. Ausnahmen sind etwa G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982 oder H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 ff. 616 H. Kaltheuner, ZVGA 48 (1927), 1 f. 615

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Anträgen zu der Unterdrückung der Dissidenten oder in dem Generalabrechnungsversuch Georg v. Vinckes mit Otto v. Manteuffels Politik deutliche Konturen. Die Liberalen versuchten also, der politischen Kehrtwende in der Reaktionsära zum Trotz an die in der Vereinbarungsversammlung begründete Informationspraxis anzuknüpfen. Dabei wurden wie schon 1848 beide Aspekte eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts deutlich: einerseits seine sachlichere Informations- und andererseits seine genuin politische Untersuchungsfunktion. Dass es den gouvernementalen Kräften vorläufig noch gelang, eine restriktive Interpretation des Art. 82 PrVerf 1850 durchzusetzen,617 wurde bereits angesprochen. Wie wenig sich selbst die an sich regierungstreue Erste Kammer trotzdem kategorisch verbieten ließ, für das Ministerium peinliche Fragen mit Hilfe außerparlamentarischer Dritter näher in Augenschein zu nehmen, belegen die Beratun­gen des bis in konservative Kreise hinein umstrittenen Pressgesetzes. Bemerkenswert ist, dass sich die Kammer bei den Anhörungen von Vertretern der betroffenen Kreise nicht auf den auch für solche Zwecke maßgeschneiderten Art. 82 PrVerf 1850 berief. Stattdessen griff man auf eine der Versammlung vermeintlich von Natur aus zustehende ungeschriebene Enquêtebefugnis zurück, die den heute in der Geschäftsordnung des Bundestages vorgesehenen „Sachverständigenhearings“ ebenso ähnlich war wie dem „natürlichen Enquêterecht“ des Reichstags. In der Zweiten Kammer wurden die Ministerialkommissare wenigstens mit unangenehmen Fragen traktiert. Mit der Ablehnung der oktroyierten Presseverordnung vom Juni 1850 ließ die Volksvertretung darauf gewissermaßen ein kleines Misstrauensvotum folgen. Die Mehrheit war offenkundig nicht mit dem Versuch des Ministeriums einverstanden, das Pressewesen durch Oktroyierung und Notverordnung an der Volksvertretung vorbei zu regulieren. Regierungskritische Töne schwangen auch in den beiden Wirtschaftsenquêten zur Lage des Bankwesens und des Geldverkehrs mit; angesichts dessen nimmt es wenig wunder, dass die Regierung bereits den Einsetzungsbeschluss explizit als unberechtigten „Ausdruck des Mißtrauens“ missbilligte.618 Trotz Dreiklassenwahlrechts und Wahlmanipulationen kann also keine Rede davon sein, dass die Regierung jeden kritischen Ton hätte unterbinden können. Vielmehr zeigten die entsprechenden Untertöne bei der Behandlung des Pressgesetzes oder in der Bankenfrage, dass jede selbständige Sachverhaltsermittlung durch die Volksvertretung mit einem politischen Risiko für das Gouvernement verbunden ist; der genuin politische Charakter des Enquête- und Untersuchungsrechts wird deutlich. Ließen sich direkte Forderungen parlamentarischer Kontrollenquêten noch nicht in den 1850er Jahren durchsetzen, wurden in den Debatten doch wenigstens die entsprechenden Grundlagen gelegt. Die Ernte dieser Bemühungen wurde 1863/64 während des preußischen Verfassungskonflikts eingebracht. Sollte 617 So G. Grünthal, Parlamentarismus, 1982, S. 363 wegen des Ausgangs der Dissidentenangelegenheit in der Ersten Kammer. 618 VerhPr2K II/2 (1850/51), Nr. 129, S. 965.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

das politische Untersuchungsrecht bei dieser Gelegenheit in der Zweiten Kammer seinen Zenit erreichen, spielte die andere Kammer für die informationsrechtliche Entwicklung anscheinend keine Rolle mehr, nachdem man sie 1853/1854 zum Herrenhaus umgestaltet hatte. Diese Tatsache bestätigt die Vermutung, dass die Existenz einer gewählten repräsentativen Volksvertretung eine unabdingbare Voraussetzung für das Enquête- und Untersuchungsrecht ist.619

C. Verfassungskonflikt und Wahlbeeinflussung (1863–64) Die brisanteste Untersuchung veranstaltete die preußische Volksvertretung auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts zu den Wahlmanipulationen vom November 1863, die dem „Vorbild“ des Jahres 1855 in nichts nachstanden. Obwohl sich die scheinbar harmlose Kompromissvorschrift620 des Art.  82 PrVerf  1850 zweifellos in dieser politischen Schlacht zum Jahreswechsel 1863/64 ihren imposanten Ruf als „Kampfparagraph gegen die Regierung“621 erworben hat, ist die Wahlmanipulationsuntersuchung bis heute das Opfer eines der hartnäckigsten Fehlurteile in der Geschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts: Allgemein werden dieser Kontrollenquête faktischer Erfolg wie politische Bedeutung abgesprochen, weil es der vermeintlich übermächtigen Regierung Bismarck gelungen sein soll, die missliebigen parlamentarischen Aufklärungsbemühungen durch systematische Obstruktion zu torpedieren.622 Dabei hat die heutige Geringschätzung gewissermaßen Tradition: Am 8.  Dezember 1863 unkte der Fortschrittspolitiker Leopold v. Hoverbeck, dass sich die Schwierigkeiten der Kommission von Anfang an hätten vorhersehen lassen; die Geschichte werde über die parlamentarischen Anstrengungen einst urteilen: „Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus“.623

I. Vorgeschichte: Der Heeres-, Budget- und Verfassungskonflikt Mit der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch den Prinzen v. Preußen, der seinem gesundheitlich gezeichneten Bruder Friedrich Wilhelm  IV. zunächst als Stellvertreter, dann als Prinzregent und nach dem Tod des Königs als Wilhelm I. auf 619

s. 2. Teil 1. Kap. D. In diesem Sinne äußerte sich Benedikt Waldeck in VerhNdtRT I/1868, S. 261. 621 So der deutsch-freisinnige Reichstagsabgeordnete K. Schrader im Reichstag in VerhRT VIII/1 (1890/92) S. 3290. 622 s. 5. Teil 3. Kap. C. III. 623 L. Parisius, L. v. Hoverbeck II/1, 1898, S.  193. Hoverbeck prophezeite weiter, dass es „immerhin eine hübsche Sammlung werden [würde], denn die Schamlosigkeit der Beeinflussungen [gehe…] wirklich ins Unglaubliche!“ 620

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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dem Thron folgte, atmete der Liberalismus Frühlingsluft. Zwar stand der neue Herrscher eindeutig in der preußischen Militärtradition, ja war als „Kartätschenprinz“ in der Märzrevolution das Feindbild par excellence. Mit den Jahren trat dieses negative Bild durch das Bekenntnis zum Konstitutionalismus und der Sympathie für die liberalkonservative „Wochenblattpartei“ in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund. Schon einen Monat nach der Übernahme der Regierungsgewalt ersetzte Wilhelm I. das Kabinett Manteuffel, das in den vergangen Jahren zum Symbol der Reaktion geworden war, durch das Staatsministerium des Katholiken Karl Anton Fürst v. Hohenzollern-Sigmaringen.624 1. Armeereform und Verfassungskonflikt Als das neue Gouvernement 1858 bei den Wahlen auf Manipulation und Be­ einflussung verzichtete, zogen nur 47 Konservative in die Volksvertretung ein. Die Liberalen errangen dagegen mit 151 Mandaten einen beeindruckenden Sieg. Aber obwohl mit den 44 Abgeordneten der „Wochenblattpartei“ zunächst eine gemäßigt gouvernementale Mehrheit bestand, führten Wilhelms  I. militärpolitische Ambitionen doch wieder zum Konflikt. Kern der 1858 angekündigten und im Frühjahr 1860 begonnenen Militärreorganisation waren eine Erhöhung der Präsenzstärke auf 200.000 Mann und die Verlängerung der Dienstzeit auf drei Jahre. Die jüngeren Landwehrjahrgänge sollten der Linie zugeschlagen und ihre Anführer aus Reserve- und Berufsoffizieren rekrutiert werden. Zur Finanzierung dieser Maßnahmen veranschlagte die Regierung 9,5 Millionen Taler. Obwohl diese Vorschläge ausgerechnet an das 1848 erkämpfte liberale Kleinod der Volksbewaffnung Hand anlegten, wurde die dreijährige Dienstzeit zum eigentlichen Stein des Anstoßes. Vorerst konnten offene Feindseligkeiten noch vermieden werden, indem die Regierung ihre Wehrvorlage zurückzog und das Abgeordnetenhaus im Gegenzug ein Provisorium bewilligte, das dann aber von der Krone dazu verwendet wurde, vollendete Tatsachen zu schaffen. Nach den Dezemberwahlen von 1861, in denen die Konfliktparteien – die neu gegründete Fortschrittspartei und das Linke Zentrum – auf Kosten von Altliberalen und Konservativen erhebliche Gewinne verbuchen konnten, verhärteten sich die Fronten weiter. Obwohl die entschiedene Opposition noch keine Mehrheit hatte, forderte das Abgeordnetenhaus detaillierte Etatvorlagen, um jede verdeckte Finanzierung der umstrittenen Heeresreform zu verhindern. Auf diesen Affront reagierte Wilhelm I. im März 1862 mit der Auflösung der Volksvertretung und einem konservativen Revirement des Ministeriums. Die Anfang Mai 1862 veranstalteten Neuwahlen brachten der Regierung, dem Kassandraruf Robert v. Mohls von 1837 gehorchend, dass eine Auflösung dem

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H. Schulze, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 293 (324).

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Gouvernement nur dann politische Erleichterung verschaffen konnte, „wenn nicht eine Versammlung von demselben oder vielleicht einem noch schlimmeren Geiste neu gewählt“ wurde,625 keineswegs die ersehnten Mehrheiten: Während Altliberale und Konservative weitere Verluste verkraften mussten, gewannen die Oppositionsparteien rund zwei Drittel der Mandate. Ermöglicht wurde dieser Erdrutschsieg ausgerechnet durch das Dreiklassenwahlrecht, indem das tendenziell liberale Großbürgertum unter den Sachgesetzen der steuerfixierten Wahlrechtsarithmetik den erzkonservativen „Junkern“ zunehmend ihren Rang als einflussreichste Gesellschaftsschicht ablief. Statt auf einen radikalen Konfrontationskurs einzuschwenken, signalisierte die oppositionelle Kammermehrheit der Regierung zunächst die Bereitschaft, den­ Militäretat gegen das Quidproquo einer zweijährigen Dienstzeit anzunehmen. Während Kriegsminister Albrecht v. Roon einem Kompromiss nicht ablehnend gegenüberstand, wies der Monarch brüsk jedes Zugeständnis zurück. Der Heeresund Budgetstreit eskalierte zum vermeintlichen Probierstein einer Parlamentarisierung um den Preis des Niedergangs der Monarchie. Im September 1862 berief Wilhelm I., der sich mit in die Öffentlichkeit sickernden626 Abdikationsgedanken trug, Otto v. Bismarck zum Ministerpräsidenten. Als die Haushaltsvorlage scheiterte, beendete Bismarck den Staatsnotstand im Oktober 1862 durch sein „budgetloses Regiment“.627 625

R. v. Mohl, Ministerverantwortlichkeit, 1837, S. 9 f. Bekräftigt findet sich diese Position in R. v. Mohl, Encyclopädie, 1859, S. 367: „[S]o bleibt zunächst nur das unsichere und ungenügende Mittel einer Auflösung und Neuwahl der Volksvertretung als gesetzlicher Versuch zur Wiederherstellung der Einhelligkeit“. Als Alternative empfiehlt der Staatsrechtler die „allseitige Anerkennung und aufrichtige Handhabung des parlamentarischen Systemes, nämlich der Wahl des Ministeriums im Sinne der Mehrheit der Volksvertretung“. – Auch die Eckdaten des preußischen Machtkampfes hatte der Staatsrechtler v. Mohl allgemein schon 1837 vorhergesehen, insbesondere in Frage gestellt, „ob es einer richtigen Idee des Staatsrechts [entspreche…], daß ein Dualismus gesetzlich begründet, ein positives und ein negatives Recht mit Angriffsund Vertheidigungs-Waffen versehen einander gegenüber gestellt“ würden, und „ob diese Gegeneinandersetzung würklich ein bleibender Zustand seyn“ werde oder „die Volksvertreter […] die […] königliche Macht der parlamentarischen Allmacht unterwerfen […] oder ob die im Anfange unzweifelhaft größere Gewalt der Regirung sich wenigstens in der Hauptsache als übermächtig erhalten und die Befugnisse der Volksvertreter auch der Würkung nach auf ein Recht der Bitte beschränken“ könne; aus einem Konflikt mit der Regierung könne „im äußersten Falle Verweigerung der Steuern und der Gesetze hervorgehen“ (S.  10 f.). Selbst die Nutzlosigkeit dieses Schrittes gegenüber einer „zur völligen Verfassungs-Verletzung entschlossene[n] und mit der nöthigen Kraft ausgerüstete[n] Regirung“, die dann schlicht „auch hinsichtlich der Abgaben die Verfassung verletzt“, erkannte er (S. 4 f., 10 f., 13). In der zweiten Auflage von 1872 wird R. v. Mohls Kritik noch deutlicher (S. 362 f.). 626 Albrecht v. Stosch berichtete Ende September 1862, dass die „Gerüchte vom Zurück­treten des Königs […] immer lebhafter“ geworden wären. s. U. v. Stosch (Hg.), A. v. Stosch, 1904, S. 52. 627 Zu den Hintergründen der Auflösung D. C. Umbach, Parlamentsauflösung, 1989, S. 173 ff. und zum Ganzen mit unterschiedlichem Akzent W. Pierson, PrGesch II5 1889, S. 275 ff., 284 ff.; H.  v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S.  198 ff.; W. Becker, HistJb 100 (1980), 257 (257 ff.); H. Schulze, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 293 (324 ff.); W. Siemann, Staatenbund, 1995,

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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2. Die Beeinflussung der Oktoberwahlen 1863 Die kurze Session der Zweiten Kammer von Mitte Januar bis Ende Mai 1863 wurde nach einem Misstrauensvotum geschlossen.628 Den Ausgang der Oktoberwahlen, die durch eine Auflösungsverfügung vom September erforderlich geworden waren,629 überließ die Regierung nicht mehr dem Zufall, sondern setzte im großen Stil auf Beeinflussung, Einschüchterung und Manipulation: Gastwirten wurde verboten, oppositionelle Wahlversammlungen in ihren Lokalen zu gestatten. Die Militärverwaltung boykottierte mit der Opposition liebäugelnde Kaufleute und Gewerbetreibende. Domänenpächter wurden mit Kündigung bedroht und Gutsbesitzer schüchterten ihre abhängigen Bauern ein.630 Zur Grundlage zahlreicher Drangsale und Repressalien gegen sämtliche Beamtenklassen wurde ein durch Innenminister Friedrich Albert Graf zu Eulenburg unter dem 24. September 1863 verbreiteter „Circular-Erlaß“ zum „Verhalten der Beamten bei den Wahlen zum Abgeordneten-Hause“, mit dem die Regierungspräsidenten ermahnt wurden, diejenigen ihrer Untergebenen, bei denen sich eine „laxe Auffassung der Pflichten gegen ihren Königlichen Herrn eingeschlichen“ habe, in „eindringlichster Weise“ an die „Bedeutung ihres Diensteides“ zu erinnern. Gegen Staatsdiener, die in „Verkennung ihrer Obliegenheiten“ eine oppositionelle Haltung einnähmen, sei jedes disziplinarrechtliche Mittel recht.631 Aufgrund dieses und analoger Erlasse der anderen Minister632 reichte die Liste der eingeschüchterten Beamten bis zu Förstern, Ärzten und Tierärzten, Fischmeistern, Feldmessern, Geistlichen und Kassenbeamten hinab.633 Um das Gewicht dieser Drohungen, die nach zeitgenössischem Urteil den Machinationen der Ära Manteuffel in nichts nachstanden,634 richtig einzuordnen, muss man sich die eigentümlichen Modalitäten des preußischen Wahlrechts vergegenwärtigen: Indem die Stimmabgabe mündlich zu Protokoll des staatlichen Wahl-

S. 407 ff.; T. Nipperdey, DtGesch 1800–1866, 1998, S. 749 ff.; H. A. Winkler, Westen I, 2000, S. 151 ff.; R. Paetau, in: Acta Borussica V, 2001, S. 10 ff.; E. Fehrenbach, Verfassungsstaat2 2007, S. 62 f.; O. Pflanze, Bismarck I, 2008, S. 171 ff. und speziell zu Entwicklung und Streit um die Landwehr D. Walter, Heeresreformen, 2003, S. 325 ff., S. 337 ff. zu den Positionen in der Dienstzeitfrage sowie S. 362 ff. zum Offizierskorps der Landwehr. Zu den Wahlergebnissen in der Konfliktszeit s. ferner H. v. Gerlach, Wahlrecht, 1908, S. 224. 628 H. Schulze, in: HdbPrGesch II, 1992, S. 293 (332 f.). 629 Vgl. L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 591, 594. 630 Vgl. O. Pflanze, Bismarck I, 2008, S. 209 ff., 219; H. v. Gerlach, Wahlrecht, 1908, S. 69 ff. 631 PrMinBl XXIV (1863), Nr. 143, S. 190 f.; Abdruck auch in dem zweiten Kommissionsbericht, VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 604. 632 Etwa betonte der Kultusminister, dass „[d]ie in dieser Allerhöchsten Ordre enthaltene Mahnung und die in dem gedachten Erlaß des Herrn Ministers des Innern daran geknüpften weiteren Betrachtungen […] selbstverständlich auch auf die öffentlich angestellten Lehrer aller Grade ihre volle Anwendung“ finde (VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 606). 633 Vgl. H. v. Gerlach, Wahlrecht, 1908, S. 60 ff.; N. N., PrJb 12 (1863), S. 392 (397 f.). 634 N. N., PrJb 12 (1863), S. 392 (401); H. v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 218 f.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

kommissars, also häufig eines königlichen Landrats,635 erfolgte, der seinerseits durch ein Ministerialreskript auf Linie gebracht worden war, mutierte die abstrakte Sanktionsdrohung zur Gewissheit. Noch nach den Wahlen waren Einschüchterungen und Bestrafungen von Beamten und Richtern, die für die Opposition eingetreten waren, an der Tagesordnung.636 So schätzte der Kreisrichter Ludolf Parisius, der selbst unter den politischen Opfern war, dass die Zahl der verfolgten Beamten „sicher mehr als tausend“ betragen habe.637 Allen „Bemühungen“ zum Trotz blieb der erhoffte Wahlsieg aus; der kümmerliche Erfolg des Gouvernements beschränkte sich „auf ein Paar Dutzend conservativer Abgeordneter“.638 Während die oppositionellen Parteien wieder über eine starke Mehrheit verfügten, stagnierten die Konservativen bei etwa 10 v.  H. der Sitze.639 Damit war die politische Ausgangslage äußerst günstig, um eine erweiterte Neuauflage des Antrags Schwerin in den Formen des Art.  82 PrVerf  1850 auf den Weg zu bringen und das Ministerium Bismarck als Feind des Konstitutionalismus bloßzustellen.

II. Die Untersuchung der Wahlmanipulationen 1. Einsetzung der Untersuchungskommission Tatsächlich häuften sich schon seit der zweiten Sitzung des Abgeordnetenhauses am 11.  November 1863 Nachrichten und Klagen über übelste konservative Machenschaften in den Wahlen. Obwohl sich das Abgeordnetenhaus vorerst auf die üblichen Legitimationsprüfungen beschränkte, kamen bereits bei dieser Gelegenheit viele Einzelheiten ans Licht der Öffentlichkeit.

635 Vgl. die Verordnung vom 30. Mai 1849 (PrGS. S. 205). Zum Ganzen L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S. 259 ff. 636 Wie wenig Wirkung diese desperaten Anstrengungen letztendlich hatten, verdeutlicht der Bericht des fortschrittlichen Kreisrichters Ludolf Parisius: Im Kreis Salzwedel hatte der Wahlkommissar und königliche Landrat versucht, durch ein Schreiben an sämtliche Orts­ schulzen Einfluss auf den Wahlausgang zu nehmen. Trotz der einschüchternden Forderung, „eingedenk des Eides der Treue, den sie Sr. Majestät dem Könige geleistet, ihr politisches Verhalten hiermit in Einklang [zu] setzen“, um disziplinarischen Schritten zu entgehen, erhielten die oppositionellen Kandidaten 112 von 143 Stimmen (VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 22 f.). 637 Vgl. T. Ormond, Richterwürde, 1994, S. 36, 37; H. v. Gerlach, Wahlrecht, 1908, S. 75. 638 N. N., PrJb 12 (1863), S. 392 (401). 639 Vgl. D. C. Umbach, Parlamentsauflösung, 1989, S. 179 f. und in Fn. 184. Ausführlichere Statistik bei J. Schlumbohm, Verfassungskonflikt, 1970, S. 89 ff.: Es ist von 141 (Fortschrittspartei), 106 (linkes Zentrum) bzw. 26 Sitzen (Polen) die Rede.

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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a) Der Untersuchungsantrag Nach der Konstituierung der Kammer beantragten der Fortschrittspolitiker Hermann Schulze-Delitzsch und der linke Zentrumsabgeordnete Albert v. ­Carlowitz unter dem 19.  November 1863 gemeinsam mit über 90 weiteren Abgeordneten, dass „[b]ehufs der Information des Hauses wegen der bei den letzten Wahlen der Abgeordneten vorgekommenen gesetzwidrigen Beeinflussung der Wähler und Verkümmerung der verfassungsmäßigen Wahlfreiheit Preußischer Staatsbürger […], in Gemäßheit Artikel 82. der Verfassung eine Kommission zur Untersuchung der Thatsachen eingesetzt und derselben aufgegeben [werde], die geeigneten Ermittelungen vorzunehmen und dem Hause Bericht darüber zu erstatten“. Zur Begründung dieses spektakulären Antrags, das Verhalten des Ministeriums nach modernen Maßstäben einer politischen Kontrollenquête zu unterziehen, verwiesen die Antragsteller bloß lakonisch auf die „bei der Legitimationsprüfung zur Sprache gekommenen Thatsachen“.640 Vergleicht man dieses Petitum mit den Stellungnahmen und Entscheidungen in der Ersten Kammer in der Dissidentenangelegenheit oder in der Zweiten Kammer aus Anlass der Lage des Landes, wird das Ausmaß des politischen Wandels seit der Ära Manteuffel rasch offensichtlich: Der Antrag war das perfekte Gegenteil der Anstrengungen der Mehrheiten in beiden Kammern, jede Form von Regierungskontrolle zu verbieten und Art. 82 PrVerf 1850 mit dem Verbot, Regierungsmaßnahmen zu untersuchen, die ermittelten Tatsachen zu bewerten oder überhaupt eigene Untersuchungen ohne vorherige königliche Proposition oder einen Sachantrag aus den eigenen Reihen anzustellen, auf ein unpolitisches Enquêterecht zu reduzieren. Das parlamentarische Selbstinformationsrecht hatte allen Bemühungen der Reaktion zum Trotz wieder zu seiner eigenen Bestimmung, der Regierungskontrolle und Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner, zurückgefunden. b) Der Referentenbericht Vier Tage nach dieser Kampfansage an das Ministerium und die gouvernementale Kammerminderheit forderte der Antragsteller Schulze-Delitzsch die „Schlussberathung im Hause“. Nachdem Hans v. Gottberg das Einverständnis der Konservativen signalisiert und eine „sehr große Mehrheit“ dieses Prozedere beschlossen hatte, wählte der fraktionslose Präsident Wilhelm Grabow die Oppositionspolitiker Reinold Aßmann (Linkes Zentrum) und Max v. Forckenbeck (Fortschrittspartei) als Referenten aus.641 Diese Berichterstatter modifizierten den ursprünglichen Antrag, so dass statt einer Verkümmerung der Wahlfreiheit nun die des Wahlrechts untersucht und im Hin 640

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 10, S. 23. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 117 f.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

blick auf die „tagtäglich“ einlaufenden „Nachrichten und Beschwerden über Verfolgungen“ auch die Repressalien nach den Wahlen in die Untersuchung einbezogen werden sollten. Um angesichts der „großen Reichhaltigkeit des Materials“ ggf. eine „Theilung in Subcommissionen“ zu ermöglichen, forderten die Referenten, in den Abteilungen je drei, also insgesamt 21 Kommissionsmitglieder zu wählen.642 In seinem Bericht führte Hauptreferent Reinold Aßmann das Plenum am 28. November 1863 ausführlich in die Entstehung des Untersuchungsrechts in Preußen ein und ließ „Präcedenzfälle“ von den erfolglosen Anträgen zur Lage des Landes sowie in der Dissidentenangelegenheit über die Bankenenquête bis zu einer un­ erledigten Forderung hin Revue passieren. U. a. kam ein Gesetzentwurf aus der vergangenen Session zu Diäten, Reise- sowie den Stellvertretungskosten der Be­ amten zur Sprache  – die Regierung hatte versucht, das passive Wahlrecht der Staatsdiener durch die Überbürdung der Vertretungskosten auszuhöhlen –,643 dessen Ergänzung um Auslagenerstattung bei aufgrund von Art. 82 PrVerf 1850 vor Ort veranstalteten Untersuchungen gefordert worden war.644 Aufgrund des damit ausgebreiteten „Material[s]“ wies der Liegnitzer Kreisgerichtsrat die in der Re­ aktionszeit anlässlich des Streits um die Dissidentenangelegenheit aufgestellte These645 zurück, „daß das Haus mit dem betreffenden Gegenstande bereits auf Veranlassung einer Regierungsvorlage oder eines Antrags befaßt“ sein müsse. Wegen Art. 82 PrVerf 1850 hielt er es im Gegenteil für „unzweifelhaft“, dass die Niedersetzung eines Ausschusses ebenso statthaft sei, „um thatsächliches Material für einen erst zu stellenden Antrag, eine erst zu fassende Resolution zu sammeln“.646 Korreferent Max v. Forckenbeck konstatierte bloß, dass dem „ersten Kriterium des Art. 82. genügt“ sei, weil „zuvörderst eine Kommission zur Information des Hauses verlangt“ werde.647 Obwohl die Referenten die Frage der Untersuchungsbefugnis des Hauses rasch im parlamentarischen Sinne erledigt hatten, sollte die Antithese, dass jede Enquête oder Untersuchung einen vorherigen Sachantrag aus der Mitte der Kammer oder eine Regierungsproposition voraussetze, dessen tat­ 642 Der Vorschlag lautete, „behufs der Information des Hauses wegen der bei den letzten Wahlen der Abgeordneten vorgekommenen gesetzwidrigen Beeinflussung und noch fortdauernden Verfolgung der Wähler und Verkümmerung des verfassungsmäßigen Wahlrechts und der Wahlfreiheit Preußischer Staatsbürger, in Gemäßheit des Art.  82. der Verfassungs-Urkunde […] eine Kommission von 21 Mitgliedern zur Untersuchung der Thatsachen einzusetzen und derselben aufzugeben, die geeigneten Ermittelungen vorzunehmen und dem Hause Bericht zu erstatten“ (VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S.  164). Zur Begründung der Abweichungen s. S. 169. 643 Vgl. T. Ormond, Richterwürde, 1994, S. 41. Verschiedene Gerichte erster und zweiter Instanz konterkarierten diesen Schachzug, indem sie Abgeordnetenklagen gegen den Fiskus auf „Nachzahlung der Stellvertretungskosten“ stattgaben. Das Obertribunal beendete diesen Spuk. s. dazu T. Ormond, a. a. O., S. 40 f. Über ein Beispiel aus Düsseldorf berichtet H. Schulthess, Geschichtskalender 1864, 1865, S. 165. 644 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 165 ff. 645 s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. b) bb) und cc) sowie zum zeitgenössischen Schrifttum 2. Kap. B. I. 646 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 167. 647 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 169 f.

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sächlicher Vorbereitung er diene, wenigstens im Schrifttum bis zum Ende der Mo­ narchie vertreten werden.648 Als gewisser Vorgeschmack auf das heute erforderliche öffentliche Untersu­ chungsinteresse649 lässt sich Reinold Aßmanns Überlegung deuten, dass, weil die bisherige Praxis von „Art. 82. nur in sehr seltenen Fällen, nur zu besonders erheblichen Zwecken Gebrauch gemacht“ habe, „zu untersuchen [wäre…], ob der von den Herren Antragstellern angegebene Zweck wirklich ein erheblicher sei und ob zur Erreichung dieses Zwecks die Niedersetzung einer Kommission auf Grund des Art. 82. das geeignete Mittel“ darstelle. Nach dieser Steilvorlage in eigener Sache stellte der linke Zentrumspolitiker das klare „Landes-Interesse“ heraus, den „demoralisirenden Folgen“ von Rechtsbruch und Wahlmanipulationen entgegenzutreten, die „im ganzen Lande als dem Rechte, als der Sittlichkeit widersprechend verdammt“ würden. Angesichts von Ereignissen, die das „Land in einer bedenklichen Aufregung gegen die Staatsgewalt“ hielten, leiste es geradezu der Revolution Vorschub, wenn man die Obrigkeit ungestört gewähren lasse. In dieser „schlimmen Landeskalamität“ hielt der Jurist Aßmann die außerordentliche Maßnahme einer parlamentarischen Untersuchung für gerechtfertigt. Es gebe auch kein zweckmäßigeres Mittel, um die legitimen Ziele der Antragsteller zu erreichen, weil allein „eine umfassende, nur eine zusammenhängende Untersuchung aller Thatsachen“, nicht eine „stückweise […] Vorführung“ aus Anlass einzelner Wahlprüfungen oder Petitionen, „das ganze System der Vergewaltigungen enthüllen“ könne. Mög­ licherweise war die Feststellung, dass man die Untersuchung der Agitationen nicht der Regierung überlassen könne, weil „sie selbst handelnde Partei“ sei und sich „gegen die Landesvertretung in Scene gesetzt“ habe, eine Anspielung auf den erfolglosen Antrag Schwerin vom Ende 1855.650 Korreferent Max v. Forckenbeck hielt eine Untersuchungskommission ebenfalls für das gebotene Mittel. Seine eigenen rhetorischen Fragen und Zweifel, ob es angesichts des schon schwelenden Konflikts überhaupt ratsam wäre, weitere Querelen zu riskieren und die Gefahr einzugehen, „daß wiederum ein Verfassungs-­Paragraph, wie so viele andere, als ein leeres weißes Stück Papier sich herausstelle“, ja mit einer Untersuchung „den ersten Schritt zu thun, während man doch den letzten Schritt, eine Anklage, bei den gegenwärtigen Verfassungs-Verhältnissen nicht thun“ könne, beantwortete der Mitgründer der Fortschrittspartei mit der Pflicht der Volksvertretung, nun „alles dasjenige zu thun, was die Gefahr abwenden“ könne, nachdem die Regierung „an das Wahlrecht und die Wahlfreiheit die Axt gelegt“ habe. Ganz im Sinne des modernen Untersuchungsrechts hielt er die Einsetzung einer Untersuchungskommission dadurch für angezeigt, dass „[s]chon die Feststellung der Thatsachen“ dem Lande die „Größe 648

Zu Art. 82 PrVerf 1850 im zeitgenössischen Schrifttum s. 5. Teil 2. Kap. B. s. dazu P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 11 ff. und 8. Teil 4. Kap. A. III. 650 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 167 ff. 649

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der Gefahr“ vor Augen führen und seine „Energie wachrufen [werde], durch alle verfassungsmäßigen Mittel der Gefahr vorzubeugen“.651 Wahrscheinlich waren diese Selbstvergewisserungen keineswegs ausschließlich für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern sollten ebenso etwaige Zweifel in den eigenen Reihen, wie sie beispielsweise Leopold v. Hoverbeck hegte, zerstreuen.652 Reinold Aßmann widersprach auch der zweiten beschränkenden These aus den 1850er Jahren, dass sich eine Untersuchungskommission „nothwendig nur auf das Sammeln von Thatsachen zu beschränken“ habe. Im Gegenteil hielt er ein­ derartiges Gremium wegen Art.  82 PrVerf  1850 für „mindestens“ dazu befugt, „aus diesen Thatsachen Folgerungen zu ziehen und diese Folgerungen dem Hause in Gestalt eines Antrages oder dergleichen zu unterbreiten“. Im Hinblick auf die Untersuchungsbefugnisse vertrat er ein überaus modernes Konzept, das einem „echten“ Enquête- und Untersuchungsrecht gerecht wird:653 Eine Untersuchungskommission müsse mit allen erforderlichen Instrumenten ausgestattet sein, „um die ihr übertragenen Ermittelungen vorzunehmen, also namentlich Vernehmung von Personen, sowohl am Sitze des Landtages, als auch außerhalb desselben, unmittelbarer Verkehr nicht allein mit der Staats-Regierung, sondern auch mit den derselben untergeordneten Staats- und Kommunal-Behörden“.654 Mit diesen Überlegungen schob der Referent nonchalant konservative Kerndesiderate beiseite, dass entsprechende Befugnisse wegen des „monarchischen Prinzips“ ausschließlich Regierung und Behörden zustehen könnten. Tatsächlich wurde noch nach der Wahlmanipulationsuntersuchung vertreten, dass, weil die „Kammern nur mit den Ministern in direkter Verbindung“ stehen dürften, die preußischen „Commissionen zur Untersuchung von Thatsachen […] nur durch die Minister Aufklärungen von anderen Personen sich […] verschaffen“ könnten (Eugen Huhn).655 Demgegenüber knüpfte Reinold Aßmann mit der Forderung, dass sich die Kommission sogar vor Ort ein Bild verschaffen können müsse,  – unausgesprochen  – an die­ Schweidnitzer Untersuchung der revolutionären Vereinbarungsversammlung an.656 Von einer „Präzisirung der Kompetenz der Kommission, ihrer einzelnen Befugnisse“, sah der Referent gleichwohl ab, weil es dafür „an einem genügend festen Grunde“ fehle; angesichts dessen nütze es nichts, einen Beschluss zu fassen, den die Gegenseite dann in Frage stelle. Mit dem Hinweis, dass es „[i]n der Natur der Sache und im eigenen Interesse der Staatsregierung [liege…], der Thätigkeit der Kommission keinerlei Hindernisse in den Weg zu setzen“, weil man „offenbar das Schlimmste“ vermute, „wo eine Auskunft etwa verweigert“ werde, folgte eine gewisse Drohung an die Adresse des Ministeriums; etwas Übleres als die „Genera 651

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 171. Vgl. L. Parisius, L. v. Hoverbeck II/1, 1898, S. 193 zu Leopold v. Hoverbecks Bedenken gegen eine Untersuchung. 653 s. 1. Teil C. 654 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 167. 655 E. Huhn, StaatsR V, 1863, S. 436. 656 Zu der Schweidnitzer Untersuchung s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 652

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lisirung“ der bekannten Einzelfälle, lasse sich schließlich kaum zutage fördern.657 Auch der Rechtsanwalt Max v. Forckenbeck wollte es der Kommission überlassen, „die geeigneten Mittel zur Untersuchung von Thatsachen anzuwenden“, qualifizierte es dann aber als nach den angeführten „Präcedenzfällen“ „unzweifelhaft“, dass die Kommission „direkt Beweise aufnehmen“ könne. Obwohl die Verfassungsurkunde der „Staats-Regierung überhaupt die Exekutive“ zugestehe, behalte sie den Kammern trotzdem in Art. 81 PrVerf 1850 das Recht vor, „über eingehende Beschwerden von den Ministern Auskunft [zu] verlangen“, und verleihe ihnen überdies durch Art. 82 PrVerf 1850 das „ganz besondere Recht […], eine Kommission zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“.658 c) Plenarberatungen und Einsetzungsbeschluss In der folgenden Einsetzungsdebatte spielte Art. 82 PrVerf 1850 trotz dieser verfassungsrechtlichen Ausführungen eine erstaunlich geringe Rolle. Anstelle rechtlicher Argumente prallten  – wie schon 1855  – die verschiedenen „Weltanschauungen“ der Parteien über gouvernementale Wahlbeeinflussungen aufeinander: Während der Kreuzzeitungspolitiker Moritz v. Blanckenburg von einer „Pflicht der Regierung“ sprach, „Schutz gegen die Irrungen des Parteiwesens zu geben“, um unter keinen Umstände zuzulassen, „daß die Landesvertretung gefälscht [werde…] durch die Leidenschaft und Terrorisirung der Parteien“,659 ging Hermann SchulzeDelitzsch zunächst davon aus, dass die Wahlbeeinflussungen „den ganzen Verfassungskampf zu dem unmittelbaren Bewußtsein des ganzen Preußischen Volkes“ gebracht hätten, steigerte seine Vorhaltungen aber darauf noch dahin, dass der „Konflikt der Regierung mit diesem Hause“ durch die „Schädigung des Urrechts aller Preußischer Wähler“ jetzt zu einem „Konflikt der Regierung mit dem Volke selbst“ geworden sei. Staatsrechtlich akkurat gestand er der Regierung zwar grundsätzlich das „Recht der Appellation […] an das Volk selbst“ im Wege der Kammer­auflösung zu; ebenso zutreffend war aber die weitere Überlegung, dass das Ministerium, indem es mit „wiederholten Auflösungen […] wegen einer und derselben Differenz“ das „Gesammtvotum der Wähler“ missachte, nur noch formal an die Wähler appelliere, aber in „der Sache an sich selbst!“660 Die Konservativen provozierte der Fortschrittspolitiker zusätzlich mit dem Zuruf, es müsse doch „ein eignes schönes Gefühl sein, durch eine Beeinflussung[, …] durch Benutzung von Peitsche und Zuckerbrod [, …] einen Sitz […] im Hause einzunehmen“.661 657

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 169. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 170. 659 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 173 ff. (Hervorhebung nur hier). Außerdem verwies der Konservative darauf, dass die Linke „im Jahre 1848 […] beantragt [habe], daß die Offiziere der Armee, wenn sie glaubten, nicht mehr mit der jetzigen Staatseinrichtung in Harmonie zu sein, ihren Abschied zu nehmen hätten“. 660 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 185. 661 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 186. 658

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aa) Zweckmäßigkeit einer parlamentarischen Untersuchung In der Sache wurde insbesondere über die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit einer parlamentarischen Untersuchung gestritten. Neben Peter Reichenspergers Zweifeln, ob man für diesen Schritt auf die Dankbarkeit der Staatsdiener hoffen dürfe, für die das Resultat, dass die „unteren Beamtenklassen […] prosti­ tuirt“ worden wären, „nicht erfreulich“ sein werde – von einer öffentlichen Untersuchung der „Bedrohungen, […] Verwarnungen, […] Zurücksetzungen, […] Maßregelungen“ erwartete der Berliner Obertribunalsrat, mehr „Sorge und Angst“ in den betroffenen Kreisen hervorzurufen, als alle Maßnahmen der Regierung es vermocht hätten662 –, kamen das Verhältnis zu den Wahlprüfungen, die Möglichkeit einer Strafanzeige wegen der Wahlmanipulationen sowie die faktisch schlechten Aussichten zur Sprache, das Ministerium durch weitere Enthüllungen zu stürzen. Ablehnend äußerte sich ausgerechnet der frühere Innenminister der „Neuen Ära“ Maximilian v. Schwerin, weil man durch die Wahlprüfungen „in vollkommen ausreichendem Maße“ unterrichtet wäre. Statt den grundlegenden Budgetund Verfassungskonflikt zu lösen, müsse die Niedersetzung einer parlamentarischen Kommission „denselben […] verschärfen“ und eine ungesunde „Aufregung in das Land […] tragen“. Die Ungültigerklärung einer Wahl hielt der Altliberale für ein „viel wirksameres Mittel“ zur Missbilligung der Machinationen.663 Diesen Überlegungen pflichtete auch der frühere Handelsminister August v. der Heydt bei.664 Der katholische Politiker Peter Reichensperger, der dem Enquête- und Untersuchungsrecht schon in der Vereinbarungsversammlung kritisch gegenüber­ gestanden hatte,665 stimmte in diesen altliberalen Sang mit ein und riet der Kammer von einer eigenen Untersuchung ab. Besser werde man sich „mit dem Resultate der heutigen Debatte […] begnügen und der Ueberzeugung Raum […] geben, daß das, was [man…] auf dem Wege des Antrages erreichen [wolle…], nur durch die Debatte erreicht werden“ könne. Dagegen werde der offenkundig erwünschte „Erfolg der Erwärmung“ der Gemüter mit der Annahme des Antrags „wiederum aus den Händen gegeben“.666 Die mehrfach geäußerte These, dass eine parlamentarische Untersuchung bestenfalls nutzlos und überflüssig wäre, machte sich der Innenminister Graf Eulenburg nur zu gern zu eigen; weiterhin warf er der Versammlung vor, dass sie sich ihr Urteil ohnedies längst gebildet habe.667 Der Antragsteller Hermann Schulze-Delitzsch, der 1848 der Schweidnitzer Untersuchungsdeputation der Vereinbarungsversammlung angehört hatte,668 hielt einer

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VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 180. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 172. 664 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 181. 665 s. 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. d) bb) und 3. zu Peter Reichenspergers Vorentwurf. 666 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 178 f. und nochmals S. 180. 667 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 178. 668 s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 4. a). 663

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parlamentarischen Untersuchung zugute, dass sie mehr einbringe „als ein bloßes beiläufiges Zurkenntnißkommen dieser und jener Thatsachen, bei einzelnen, auf andere Zwecke hinzielenden Diskussionen“. Ähnlich, wie es ausdrücklich anlässlich des Antrags Vincke zur Lage des Landes vertreten worden war, lehnte Hermann Schulze-Delitzsch eine punktuelle und eher interpellationsartige Aufarbeitung also im Interesse einer zusammenhängenden Untersuchung ab.669 Zur Erläuterung seiner Position, dass es um eine „Vervollständigung der Thatsachen“ gehe, setzte er hinzu, dass „damit eben aus diesem vollständigen und übersichtlich geordneten­ Material begründete Anträge an das Haus gestellt“, „je nach dem Befund der Regierung gegenüber vertreten und dem Lande gegenüber geltend gemacht werden“ könnten. Mit „bloßen Wahl-Kassationen“, in denen das Abgeordnetenhaus lediglich seine „Rechte […] in Bezug auf bereits vorgekommene Unregelmäßigkeiten“ wahre, sei „die Sache wahrhaftig nicht vorbei“. In diesem Sinne ziele der Antrag „nicht allein auf die Vergangenheit“, sondern „zugleich mit auf die Zukunft“.670 – Ernst Wachler (Linkes Zentrum), der sich in der ersten Revisionskammer für die Beibehaltung des Art.  81 PrVerf  1848 stark gemacht hatte,671 dementierte ebenfalls: Man sei „weit davon entfernt, jetzt schon ein […] Urtheil aussprechen zu können“. Erst wenn man „die Preßverordnung, die Wahlerlasse der Herren Minister, die Drohungen […], das persönliche Agitiren der regierungstreuen Beamten, die Verfolgungen der oppositionellen Beamten, das Dulden aller Ausschreitungen der konser­vativen Presse und der konservativen Beamten“ gemeinsam betrachte, lasse sich über einzelne Fakten hinaus ein „vollständiges System“ einer „geordnete[n] Beeinflussung“ erahnen, dessen vollständige Offenlegung Hauptaufgabe der Untersuchungskommission sein müsse.672 Der Fortschrittspolitiker Hermann Becker ergänzte noch, dass das „drastische Mittel“ einer Wahlkassation bloß dort helfen könne, wo die „Agitation vollen Erfolg gehabt“ habe, während mit einer Untersuchungskommission „vorzugsweise […] künftigen Agitationen vorzubeugen“ sei.673 Man schrieb der öffentlichen Bloßstellung also offenkundig eine reinigende Wirkung zu. Interessante Überlegungen wurden ebenfalls zu den politischen Folgen einer Untersuchung angestellt. So pochte Referent Reinold Aßmann in seinem Schlusswort erneut auf die Wichtigkeit, „daß das Haus die Summe dieser Beeinflussungen und dieser Gesetzwidrigkeiten konstatire“. Die Öffentlichkeit erwarte von der Kammer einen entsprechenden Schritt, der „allein der Schwere des Unrechts“ gerecht werde. In der Feststellung, dass es die unabdingbare Voraussetzung eines derartigen Beschlusses sei, dass die „Thatsachen gesammelt und vollständig“ vorlägen, klang der dienende Charakter des Untersuchungsrechts gegenüber den übrigen Kompetenzen der Kammer – hier ihres Resolutionsrechts – an. Zu Recht stellte 669

s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 1. c). VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 184 f. 671 s. 5. Teil 2. Kap. A. II. 2. b). 672 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 172 f. 673 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 181. 670

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Reinold Aßmann zur Abgrenzung des Untersuchungsrechts von den anderen Möglichkeiten des Abgeordnetenhauses klar, dass die „einzelnen Wahlprüfungen“ „niemals Veranlassung [geben könnten…], in einem Gesammtbeschlusse sich […] auszusprechen“.674 Mit diesen Überlegungen stand für die Regierung außer einer unangenehmen Untersuchung noch die unverhohlene Drohung mit einem Miss­ billigungsbeschluss bzw. Misstrauensvotum im Raum. Peter Reichensperger hielt den Antrag dagegen bloß dann für sinnvoll, wenn man hoffen könne, „daß sein Erfolg die Staats-Regierung etwa zum Rücktritt bestimmen [könne…], wenn nämlich die Resultate […] gegen die Intentionen der Staats-Regierung sprächen“. Mit dieser Überlegung schlug er gewissermaßen einen Bogen von Art. 82 PrVerf 1850 zu dem demokratischen Desiderat effektiver Regierungskontrolle, ja zu einer maßvollen Parlamentarisierung der preußischen Politik, beschied entsprechende Hoffnungen dann aber als „zu naive Erwartung“. Statt das konkrete Staatsministerium zu desavouieren, füge man allenfalls dem abstrakten Institut der Regierung Schaden zu. Nebenbei drohe ein parlamentarischer Ansehensverlust, weil es doch dem Publikum als etwas sehr „Gehässiges“ vorkommen müsse, ohne jeden Nutzen „einseitige Aeußerungen und Urtheile der Parteigenossen zu konstatiren“.675 August v. der Heydt fügte zu diesen Sorgen noch hinzu, dass die Untersuchung keineswegs „für die Achtung, für die Ehre und für den Beruf der Beamten im ganzen Lande nützlich“ sei.676 Der politisch links stehende Mediziner und Forscher Rudolf Virchow stellte im Gegensatz dazu die „ganz heilsame Wirkung“ einer Untersuchung in den Vordergrund: Man dürfe hoffen, mit einem solchen Schritt das „Gefühl der Pflicht“ in Urwählern, Beamten, ja sogar in „Mitgliedern der konservativen Partei“ oder des Staatsministeriums wachzurufen. Nur nach diesem Rezept werde Preußen aus der „schweren Krisis nicht blos in dem Sinne geheilt hervorgehen, daß [man…] wieder in den alten Zustand eines regelmäßigen liberalen Regiments [zurückkehren…], sondern […] in ein wirkliches, ausgebildetes Verfassungsleben über­ gehen“ könne; der „gegenwärtige Weg [führe] zum Verderben“.677 Auch der Fortschrittspolitiker Hermann Becker widersprach Peter Reichenspergers Sorgen, weil man nicht allein berücksichtigen dürfe, „daß auf die jetzige Staats-Regierung [die…] Untersuchungen vielleicht gar keine Wirkung“ hätten, sondern auch an die Wähler und Beamten denken müsse, „die zu Agitationen für dieses Ministerium sich hingegeben“ hätten. Zu guter Letzt sei das beschädigte „Ansehen der Regierung“ durch eine „Untersuchung der Agitationsmittel“ möglicherweise wiederzustellen, indem man der „Wiederkehr dieser Agitation einen Riegel“ vorschiebe.678 Peter Reichensperger riet dem Plenum unbeirrt, jeden Verdacht straf 674

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 188 f. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 180. 676 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 182. 677 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 177. 678 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 181. 675

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barer679 Wahlbeeinflussungen „entschieden auszusprechen und die gerichtliche Untersuchung gegen die betreffenden Beamten zu beantragen“. Vereitele die Regierung die Strafverfolgung, diene das der oppositionellen Sache weitaus besser als die geforderte Untersuchung.680 Zur Überzeugung Ernst Wachlers, des späteren Vorsitzenden der Untersuchungskommission, hatte die Kammer im Gegenteil überhaupt keine andere Wahl, „als nach Feststellung der Thatsachen doch irgendwie das auszusprechen, was [man…] auf Grund der Gesetze und Verfassung von dem Verhalten der betreffenden Regierungsbeamten“ halte. Nur durch eine parlamentarische Resolution könne ein „solches Urtheil […] erlangt werden“. Um gegen den Widerstand der Regierung „durch Verfolgung vor Gericht die Miß­ bräuche […] zu konstatiren und die gesetzliche Strafe herbeizuführen“, fehlten dem Abgeordnetenhaus schlicht die Mittel. Solange der „Rechtsweg verschränkt“ und die Volksvertretung „nicht einmal im Stande [sei…], eine Minister-Anklage zu erheben“, könne man nur durch ein parlamentarisches Urteil, „welches in der öffentlichen Meinung seinen Wiederhall finden [werde…], das System und die Personen […] verdammen“. Diese „einzige Gerechtigkeit“, auf die die Kammer hoffen dürfe, sei von der „Kommission vorzubereiten“.681 Noch deutlicher als seine Parteifreunde widersprach Hermann Becker dem Abgeordneten Reichensperger, dass „kaum Jemand große Lust“ zu einer Strafanzeige verspüren könne, „so lange der oberste Staatsanwalt der Herr Graf zur Lippe“682 und die gängige „Theorie von der Verantwortlichkeit der Minister […] in Kraft“ sei. Indem der promovierte Jurist, der nach dem Kölner Kommunistenprozess aus dem Staatsdienst entlassen worden war, unter diesen Auspizien eine parlamentarische Untersuchung befürwortete, kam deren Ersatzfunktion gegenüber dem bis zum Ende der Monarchie unerfüllten Verfassungsversprechen der Ministeranklage zum Vorschein.683 679

Die maßgeblichen Vorschriften des Strafgesetzbuchs für die Preußischen Staaten vom 14. April 1851 (PrGS. S. 101) lauteten: „§. 84. Wer auf die im §. 83. angegebene Weise [scil. durch Gewalt oder Bedrohung mit der Verübung eines Verbrechens oder Vergehens] Staatsangehörige verhindert oder zu verhindern sucht, in Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte zu wählen oder zu stimmen, soll mit Gefängniß nicht unter Einem Jahre bestraft werden. §. 85. Wer, mit der Sammlung der Wahl- oder Stimmzettel oder Zeichen beauftragt, vorsätzlich die rechtmäßige Anzahl derselben vermehrt oder vermindert, oder einen Zettel oder ein Zeichen verfälscht oder vertauscht, oder auf die Zettel derjenigen Personen, die nicht schreiben können, andere als die angegebenen Namen schreibt, ingleichen wer, bei einer Wahlhandlung mit der Führung der Wahlgeschäfte beauftragt, so ist die Strafe Gefängniß von drei Monaten bis zu zwei Jahren. In beiden Fällen ist zugleich auf zeitige Untersagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte zu erkennen. §. 86. Wer eine Wahlstimme kauft oder verkauft, wird mit Gefängniß von drei Monaten bis zu zwei Jahren bestraft; auch kann gegen denselben auf zeitige Untersagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ 680 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 179 f. 681 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 172 f. 682 Gemeint war der später wegen seines harten Vorgehens gegen Carl Twesten bei den Nationalliberalen in Ungnade gefallene und deswegen durch Bismarck entlassene Justizminister­ Leopold Graf zur Lippe. Zur Entlassungsaffäre s. R. Paetau, in: Acta Borussica VI/1, 2004, S. 33 f. und 5. Teil 3. Kap. E. VII. 2. b). 683 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 181 (Hervorhebung nur hier).

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Bemerkenswerterweise spielte trotz der klaren Absicht der parlamentarischen Regierungskontrolle eines zu allem Überfluss potentiell strafbaren Verhaltens von Regierungsmitgliedern und Beamten das sonst so oft bemühte Argument, eine parlamentarische Untersuchung solcher Sachverhalte könne die Autorität der Gerichte untergraben, in der Debatte keine nennenswerte Rolle.684 In der Weimarer Republik sollten entsprechende Bedenken noch einmal wiederkehren.685 Die strikte Verweigerungshaltung, die das Ministerium Bismarck gegenüber der Wahlmanipulationsuntersuchung an den Tag legen sollte, zeichnete sich in Innenminister Friedrich Albert zu Eulenburgs unumwundener Ankündigung ab, dass man „unmöglich verlangen [könne], daß diese Kommission, die gegen den Willen der Regierung eingesetzt [werde…], sich eines breiten Entgegenkommens […] erfreuen“ könne. Er warnte die Abgeordneten, fürchtete um das Ansehen des Hauses, wenn man nicht mehr zustande bringe „als ein Denunziations-Büreau“.686 – Wenig später setzte das Ministerium diese noch relativ verhaltene Drohung rigoros in die Tat um: Die Regierungen vor Ort wurden dazu angewiesen, „sämmtlichen mittelbaren und unmittelbaren Staatsbeamten die Weisung durch Regierungs-Präsi­ dial­verfügung [zu erteilen…], Requisitionen irgend welcher Art der sogenannten Untersuchungs-Kommission […] keinerlei Folge zu geben“.687 Überdies mussten Behörden und Beamte von jedem parlamentarischen Ersuchen Mitteilung machen.688 Diese offen konfrontative Obstruktionspolitik quittierte das Abgeordnetenhaus mit einem Missbilligungsbeschluss.689 Ungeachtet der Drohungen des Innenministers, deren Realisierung der Fortschrittspolitiker Hermann Adolf Immermann 1865 zutreffend als den „Versuch“ charakterisierte, „die Einsetzung [der…] Untersuchungs-Kommission zu paralysiren, ihren Funktionen entgegenzutreten, sie vollständig lahm und brach zu legen, ihr die Informationsmittel zu entziehen, überhaupt [den parlamentarischen…] Beschluß zunichte zu machen, und seinen Zweck zu vereiteln“,690 zog die liberale Abgeordnetenhausmehrheit die Erfolgsaussichten und Zweckmäßigkeit ihres Kontrollvorhabens nicht in Zweifel: Während sich der Referent Reinold Aßmann in seinen Schlussbemerkungen bloß über die Ankündigungen des Innenministers wun 684

s. 3. Teil 2. Kap. D. II. 2. a), III. 2.c) und IV. 3. b). Zum Verhältnis von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und Justiz s. 7.  Teil 3. Kap. B. III. 686 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 178. 687 Vgl. VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 1002 (Hervorhebung nur hier). Sicherlich zu Recht urteilte der Fortschrittspolitiker Hermann Adolf Immermann, dass es sich um eine despektierliche Bezeichnung handele. 688 SlgDrsPrAbgH VIII/2 (1865), Nr. 213, S. 2. s. zu weiteren Weisungen auf Beschluss des Staatsministeriums VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 555 f. Die Provinzial-Correspondenz, No. 23, vom 2. Dezember 1863 berichtete, dass nach dem Willen des Innenministeriums „keine Behörde, kein Beamter dem Beginnen des Hauses Vorschub leisten“ werde und jeder Preuße aufgefordert sei, es den Staatsdienern gleich zu tun. 689 s. 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. e). 690 VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 1019. 685

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dern konnte, da es doch „im eigenen Interesse der Regierung [liegen müsse, …] der Kommission keinerlei Schwierigkeiten entgegenzusetzen“ – andernfalls werde man im Lande das „Allerschlimmste“ unterstellen,691 setzte Hermann Schulze-Delitzsch ganz auf Konfrontation: Der Fortschrittspolitiker äußerte sich zuversichtlich, dass man selbst dann, wenn die Staatsregierung der Kommission ihre Unterstützung versagen sollte, die man „wohl nach dem Gesetz beanspruchen“ könne, im „ganzen Lande“ den „Aufforderungen zur Bereicherung dieses schätzbaren Materials freudig nachkommen“ werde. Vor diesem Hintergrund kündigte er an, dass es gewissermaßen sogar ein politischer Sieg für die Opposition sein werde, „wenn man etwa wohlbegründeten, mit hinreichenden Thatsachen und Beweisen unterstützten Anträgen […] keine Folge“ gebe, indem die „Königliche Staats-Regierung öffentlich vor aller Welt in die Mitschuld ihrer Beamten eintreten“ würde.692 Wie realistisch diese Hoffnungen des Antragstellers auf gesellschaftliches Engagement waren, sollte sich in der Untersuchung zeigen: Trotz der entschiedenen Haltung der Regierung gelang es der Kommission, aus allgemein zugänglichen Quellen, durch Zeugenaussagen und selbst durch Vernehmungsersuchen an verschiedene Gerichte ein „reichhaltiges und interessantes Material“ (Gustav Lewinstein) zusammenzutragen und in ihrem Abschlussbericht vor den Augen der Öffentlichkeit auszubreiten.693 Die Befürworter einer Untersuchungskommission beabsichtigten also offenkun­ dig eine relativ moderne Kontrollenquête gegen die Regierung. Ihre Überlegungen zu den Erfolgsaussichten einer solchen parlamentarischen Intervention untermauern das über die Praxis in der Ära Manteuffel gefällte Urteil, dass es der liberalen Opposition bei ihren von vorneherein aussichtslosen Kontrollversuchen mit Hilfe von Art.  82 PrVerf  1850 um die öffentliche Bloßstellung des Ministeriums und des politischen Gegners in den parlamentarischen Reihen ging. Nachdem sich die Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Opposition gedreht hatten, kam als Zusatzgewinn eine „echte“ Untersuchung gegen das Ministerium und seine Unterstützer in Reichweite. bb) Verfassungsrechtliche Überlegungen Neben Zweckmäßigkeitserwägungen stützte ein Teil der Redner seine Bedenken gegen eine Untersuchung direkt auf Art. 82 PrVerf 1850. Ein bekanntes Monitum brachte, „wenn auch freilich mit schwacher Hoffnung“, wieder Peter Reichensper­ ger vor, indem er zu bedenken gab, dass der Wert des Art. 82 PrVerf 1850, der den Kammern eine „Befugniß direkter Einwirkung“ gewähre, „in der Wirklichkeit durch die rechte Benutzung […], durch das Interesse, durch das Bedürfniß [bedingt wäre], welches in dem einzelnen Falle […] befriedigt werden soll[e]“. Nach Johann Caspar Bluntschli sei der „Zweck dieses Rechtes […] kein anderer, als der, Prüfun­ 691

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 189. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 185. 693 G. Lewinstein, Volksvertretung, 1866, S. 30 f. 692

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gen anzuordnen, um allgemeine Zustände und Bedürfnisse näher zu erkunden und darauf hin gesetzgeberische oder andere, in die Kompetenz des gesetzgebenden Körpers gehörige Maßregeln einzuleiten“. Eine derartige Entscheidungsvorbereitung komme aber, nachdem die Wahlprüfungen vollendet wären und keine weite­ ren Schritte geplant würden, nicht mehr in Betracht. Mit diesem Einwand charakterisierte der spätere Mitbegründer der Zentrumspartei das parlamentarische Untersuchungsrecht – seinem modernen Zuschnitt nach der Korollartheorie nicht unähnlich – als Hilfsrecht, um der Versammlung die für die Ausübung bestimmter Kompetenzen notwendigen Informationen zu verschaffen; in dieses Bild fügt sich Peter Reichenspergers Staunen, dass man nicht „von diesem Rechte des Art. 82. gleich bei den Wahluntersuchungen Gebrauch gemacht“ habe.694 Der selbständige Kontrollaspekt, der heute den Charakter des Art. 44 GG wesentlich mitprägt, wurde damit ebenso unterschlagen wie die 1855 durch den Freiherrn v. Vincke angesprochene Möglichkeit, dass die Kammer aufgrund der in einer Untersuchung erlangten Informationen über eine Adresse oder Missbilligungsresolution beschließen könnte. Genau besehen ähnelten Peter Reichenspergers Überlegungen ein Stück weit auch der These aus der Dissidentenangelegenheit, dass die Kammer kein selbständiges Untersuchungsrecht, sondern lediglich die Befugnis habe, sich über einen aus anderem Anlass gegebenen Beratungsgegenstand zu informieren. Dem fügten andere Untersuchungsgegner als weitere Facette hinzu, dass nur ein in Umrissen bekannter Tatsachenkomplex näher untersucht werden dürfe. Auf dieser Linie betonte Innenminister zu Eulenburg, dass in Art. 82 PrVerf 1850 „nicht vom Sammeln der Thatsachen[, …] sondern von Untersuchung derselben“ die Rede wäre. Für Schwierigkeiten, denen sich eine Untersuchung voraussichtlich gegenübersehe, die „nicht ganz im Sinne der Verfassung beschlossen und geführt“ werde, verwies der Konservative auf „Beispiele aus anderen Staaten, aus deren Verfassungs-­ Urkunden dieser Artikel übernommen“ sei. Allein in England, wo das Parlament „gewisse administrative Befugnisse“ habe, hielt er eine Untersuchungskommission für denkbar, ohne „mit anderen Körperschaften in Kollision“ zu kommen. In den 1830er Jahren sei dagegen selbst in Belgien eine Kommission „zu Nichts gelangt“, obwohl man sie gesetzlich ermächtigt habe, „den Verwaltungsbehörden gegenüber eine gewisse amtliche Befugniß durch Zeugenvernehmung und dergleichen auszuüben“. Ganz auf der Linie des klassischen „Gewaltenteilungseinwands“ auf der Basis des „monarchischen Prinzips“, konstatierte der Innenminister zu guter Letzt, dass die geforderte Untersuchung in Preußen unweigerlich „mit den administrativen oder gerichtlichen Behörden in eine Kollision“ geraten müsse.695 Vergleichbare Bedenken erhob der Abgeordnete v. der Heydt. Wie der Innenminister zog der Bankier und Unternehmer, der sich den Konservativen nach den Oktoberwahlen angeschlossen hatte,696 in Zweifel, „[o]b nun das hohe Haus die Befugniß habe, nicht 694

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 179. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 185. 696 Vgl. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 182. 695

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nur für die weitere Untersuchung der angeregten Thatsachen eine Kommission niederzusetzen, sondern auch zur Ermittelung von Thatsachen“. Gegen eine solche „Ausdehnung des §. 82.“ führte er den vermeintlich eindeutigen Normtext ins Feld, der „ausdrücklich nur von einer Untersuchung […], nicht von einer Ermittelung“ spreche. Der ehemalige Handelsminister, der sein Amt im Mai 1862 verloren hatte, hob hervor, dass angesichts dieses Unterschieds die beanspruchte „Befugniß wohl dem Hause nicht zustehen dürfte“. Die linke Seite quittierte diese reichlich rabulistischen Überlegungen mit „Heiterkeit“.697 Tatsächlich lag diesem Beschränkungsversuch ein kaum durchzuhaltendes Begriffsverständnis zugrunde: Wie sollte sich schließlich eine „Untersuchung“ von einer „Ermittlung“ abgrenzen lassen, wenn der Sachkomplex allenfalls in groben Zügen bekannt war und sich deswegen die Richtung der Untersuchung nicht genau bestimmen ließ? Überraschend lakonisch fiel der Widerstand gegen das von den Befürwortern unterstellte Recht der Untersuchungskommissionen aus, unmittelbar mit Dritten oder untergeordneten Behörden in Verbindung zu treten oder Zeugen zu vernehmen: August v. der Heydt bemühte das klassische, aus dem „monarchischen Prinzip“ abgeleitete Argument, dass „in die der Staats-Regierung allein zustehende Exekutive eingegriffen“ werde, wenn „insbesondere von den der Staats-Regierung untergeordneten Beamten direkte Information eingezogen“ würde, obgleich diese „nur ihrem Vorgesetzten Rechenschaft geben“ dürften. Erst „durch die Staats-­ Regierung [könne…] das hohe Haus alle Rechenschaft“ erhalten.698 Eine solche Forderung, zu den archaischen Informationsmodi des Vormärz zurückzukehren, war schon angesichts der früheren Untersuchungspraxis der konstitutionellen Kammern aussichtslos. Relevanter als dieser anachronistische Versuch, das Untersuchungsrecht im Auslegungswege auszuhöhlen, erscheint Peter Reichenspergers Warnung, dass, weil für Dritte „unzweifelhaft“ kein „Zwang zum Erscheinen vor der Kommission“ bestehe, ausschließlich „Freiwillige erscheinen [würden], also nur Diejenigen, welche eine Denunziation anbringen woll[t]en“; solche Personen böten aber „nach den Bestimmungen der Gerichts-Ordnung selbst nicht die Garantie“, dass man die Wahrheit höre. Diese Gewissheit liege „in allen öffentlichen und Privatverhältnissen […] nur in der eidlichen Vernehmung von Zeugen“; lege ein Gericht trotzdem „auf eine nicht eidliche Aussage eines Zeugen Gewicht[, werde…] sein Ur­theil vom OberTribunale kassirt“. Tatsächlich war nach den §§ 203 ff. Teil I Tit. 10 Pr­Allg­GO 1815 grundsätzlich jeder Zeuge zu vereidigen und § 332 Pr­KrimO 1805 bestimmte ausdrücklich, dass „[j]ede Zeugenaussage  […], wenn sie als Beweismittel dienen soll[te], eidlich bestärkt werden“ musste. Der Richter Reichensperger fuhr fort, dass das „oberste Tribunal der öffentlichen Meinung“ über einen Spruch des Hauses, „der sich auf die Aussagen von so einseitigen Volontairs [stütze…], die vor [der…] Kommission schon mit einem ausgesprochenen Parteicharakter [erschienen…] und 697

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 181 f. (Hervorhebung nur hier). VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 182.

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keine formelle Garantie der Wahrhaftigkeit“ böten, kaum milder urteilen werde als das Berliner Rechtsmittelgericht über die unteren Instanzen.699 Gegenüber diesen Unkenrufen verteidigte der promovierte Jurist und Fortschrittspolitiker Hermann Becker die Notwendigkeit von Zeugenvernehmungen, seien sie nun eidlich oder nicht, mit der „Menge Beschwerden in Privat­briefen und auf ähnlichem Wege“ aus dem westfälischen Wahlkreis Arnsberg-­Lippstadt-Brilon, die aber, weil „die mit der Agitation beauftragten Beamten dahin instruirt [gewesen seien, …] sich bei dieser Arbeit vor aller Schreiberei in Acht [zu] nehmen“, nicht „durch irgend welche Schriftstücke“ untermauert würden. Den Wert freiwilliger Zeugen­vernehmungen sah er darin, dass man, sofern „unbescholtene Leute in einer faßlichen Form [erklärten…], sie bezeugten das und das, und sie seien bereit, dieses ihr Zeugniß zu beeiden“, doch annehmen dürfe, „daß die Aussage wahr sei“.700 Eine möglichst weite Fassung der Ausschussbefugnisse befürwortete Hermann Schulze-Delitzsch: Zwar konzedierte der Jurist den Kritikern einer Untersuchungskommission, dass ihre Befugnisse „im Einzelnen […] in der Verfassung freilich nicht angegeben“ seien. Es verstehe sich aber von selbst, dass eine „Kommission zur Untersuchung von Thatsachen […] diese festzustellen befugt sein [müsse], mit allen geeigneten Mitteln, wenn sie ihrem Zweck genügen soll[e]“. Weil die Kammer kein Urteil fälle, hielt er die durch Peter Reichensperger angemahnte Vereidigung für keineswegs erforderlich. Es handele sich um ein bloßes „Informativ-Verfahren, auf welches [man…] Anträge unter Umständen auf strafrechtliche Verfolgung gründen [könne], wo dann die Vereidung später“ folge. Für die Glaubwürdigkeit freiwilliger Zeugen führte der Kreisrichter ins Feld, dass sie der „großen Partei an[gehörten], die Unabhängigkeit und Rechtsgefühl“ besitze. Zudem hätten „solche Leute“, die sich „freiwillig der Regierung gegenüber meld[et]en und der Gefahr aussetz[t]en, sich dieser mißliebig zu machen und gemaßregelt zu werden, […] eher die Präsumtion der höchsten Glaubwürdigkeit für sich“.701 Die gouvernementalen Versuche, die in der Ära Manteuffel durchgesetzten Beschränkungen des Enquête- und Untersuchungsrechts der liberalen Mehrheitsopposition aufzuzwingen, waren in der Konfliktskammer genauso aussichtslos wie die liberalen Kontrollversuche in jener Zeit. Das „Gewaltenteilungsargument“ hatte ebenso wie die These von der sakrosankten Allein-Exekutive des Monarchen ausgedient. Stattdessen dominierte im Abgeordnetenhaus eine nach Zielsetzung, Zuschnitt und Befugnissen moderne Interpretation des Art. 82 PrVerf 1850 als „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht.

699

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 180. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 181. 701 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 185. 700

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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cc) Beschlussfassung Noch vor der Abstimmung erhob der Konservative Moritz v. Blanckenburg die zahnlose Drohung, dass man nicht nur gegen den Antrag stimmen, sondern sich im Fall der Einsetzung einer Kommission nicht an der Wahl ihrer Mitglieder beteiligen werde.702 Angesichts der parlamentarischen Mehrheiten hatte diese Ankündigung nicht mehr Gewicht als das Trauben-Dementi des schlauen Fuchses von Äsop; den Konservativen ging es ersichtlich nicht um eine ohnehin unmögliche Verhinderung einer Untersuchung, sondern um einen publikumswirksamen Versuch zur Delegitimierung der Untersuchungskommission. Die „große Majorität“ beschloss von diesen Ränken unbeirrt, „behufs der Information des Hauses wegen der bei den letzten Wahlen der Abgeordneten vorgekommenen gesetzwidrigen Beeinflussung und noch fortdauernden Verfolgung der Wähler und Verkümmerung des verfassungsmäßigen Wahlrechts und der Wahlfreiheit Preußischer Staatsbürger, in Gemäßheit des Art. 82. der Verfassungs-Urkunde […], eine Kommission von 21 Mitgliedern zur Untersuchung der Thatsachen einzusetzen und derselben aufzugeben, die geeigneten Ermittelungen vorzunehmen und dem Hause Bericht darüber zu erstatten.“703 Für das umständliche Amendement des Paulskirchenveteranen Emil Senff, „die Kommission durch Zettelwahl im Hause und nicht in den Abtheilungen zu ernennen“, fand sich keine Mehrheit,704 obwohl Art. 82 PrVerf 1850 nach Rudolf ­Virchows Überzeugung „die hier in Frage stehende Kommission über alle die­jenigen Kom­ missionen hinaus[hob], welche in der Geschäfts-Ordnung des Hauses sonst vorgeschrieben“ waren, so dass „eine höhere, gleichsam feierlichere Form […] als […] bei der gewöhnlichen Art der Wahl“ als durchaus angemessen erschien. Der angeregte Wahlmodus sei ebenfalls dazu geeignet, „aus allen Provinzen einmal eine regelmäßige Vertretung herzustellen und dann aus gewissen Provinzen, wo die Wahlbeeinflussungen bekanntermaßen sich besonders gehäuft [hätten…], eine etwas größere Zahl von Mitgliedern zu bestimmen“.705 Trotzdem sah Referent Reinold Aßmann „keine Veranlassung“, „die Kommission nicht, wie bisher geschehen, durch die Abtheilungen, sondern durch das Haus wählen zu lassen“; in den Abteilungen seien Abgeordnete von überallher präsent, so „daß man nicht der geringsten Schwierigkeit [begegnen werde…], Mitglieder aus jeder Provinz zu finden“.706

702

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 173. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 190. 704 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 190. Präsident Grabow hatte das Amendement dem Plenum erst vor Eröffnung der Diskussion verlesen (S. 171). 705 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 177. 706 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 189. 703

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

d) Die Kommissionszusammensetzung Drei Tage nach diesem Einsetzungsbeschluss unterrichtete der Kammerpräsident das Plenum von der Konstituierung der Kommission.707 Dieses Mal hatten die Abteilungen, wie es frühere konservative Mehrheiten vorexerziert hatten, ausschließlich oppositionelle Abgeordnete gewählt: Die Fortschrittspartei entsandte zwölf Vertreter in die Untersuchungskommission. Acht Mitglieder gehörten dem Linken Zentrum an. Außerdem hatte man einen polnischen Abgeordneten gewählt. Bei der Auswahl der Kommissionsmitglieder hatte man neben der Parteistellung offenkundig auch auf die berufliche Qualifikation geachtet: Den Vorsitz übernahm der dem linken Zentrum angehörige Breslauer Kreisgerichtsdirektor Ernst­ Wachler. Schriftführer wurde der Fortschrittspolitiker und Gardelegener Kreisrichter Ludolf Parisius, den das Obertribunal später seines politischen Engagements wegen aus dem Amt entfernte.708 Unter den übrigen 18 Kommissionsmitgliedern befanden sich acht weitere Richter, ein Kammergerichtsassessor, ein Staats- sowie zwei Rechtsanwälte. Rechnet man zu diesen 15 praktischen Juristen noch den Gutsbesitzer Franz Joseph Hubert Bresgen hinzu, der ein Studium der Rechtswissenschaften absolviert hatte, belief sich der Anteil der entsprechend vorgebildeten Mitglieder auf beinahe drei Viertel.709 2. Die Arbeit der Kommission Die „XII. Kommission zur Untersuchung der Thatsachen bezüglich der bei den letzten Wahlen der Abgeordneten vorgekommenen gesetzwidrigen Beeinflussungen der Wähler“ nahm ihre Tätigkeit am 7. Dezember 1863 auf. Der erste Zwischenbericht, der sich vornehmlich mit verfassungsrechtlichen Fragen auseinandersetzte, folgte schon gut fünf Wochen später unter dem 14. Januar 1864. 707

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 203. Vgl. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 637. 709 Neben diesen Juristen befanden sich unter den 21 Kommissionsmitgliedern ein Prediger sowie ein freier Journalist und Schriftsteller. Im Einzelnen handelte es sich um die Abgeordneten Lothar Bassenge, Kreisrichter, Linkes Centrum; Friedrich Georg Bering, Kreisgerichtsrat, Linkes Centrum; Bertram, Kreisrichter, Linkes Centrum; Franz Joseph Hubert Bresgen, Gutsbesitzer und Jurist, Fortschritt; Chomse, Kreisrichter, Fortschritt; Dr. jur. Gustav Wilhelm Eberty, Stadtgerichtsrat, Fortschritt; Otto Forstmann, Kreisrichter, Fortschritt; Dr. phil. Julius Frese (Minden), Journalist, Fortschritt; Carl Julius Larz, Kreisgerichtsdirektor, Fortschritt; Karl Wilhelm Laßwitz, Kaufmann, Fabrikbesitzer, Fortschritt; Ludolf Parisius (Gardelegen), Kreisrichter, Fortschritt; Pietzker, Justizrat, Rechtsanwalt, Fortschritt; Friedrich Wilhelm Julius Pilaski, Kreisgerichtsrat, Pole; Ferdinand Richter, Prediger, Linkes Centrum; Heinrich Runge, Stadtrat a.D., Fortschritt; Schollmeyer, Kreisrichter, Linkes Centrum; Hugo Schroeder, Staatsanwalt, Linkes Centrum; Gustav Hermann Adolf Schulz (Herford), Kreisgerichtsdirektor, Linkes Centrum; Emil Senff, Rechtsanwalt, Fortschritt; Ernst Wachler, Kreisgerichtsdirektor, Linkes Centrum; Wächter, Kaufmann, Fortschritt. Zu den Mitgliedern s. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 203 bzw. B. Haunfelder, BioHdbPrAbgH, 1994 zu den biographischen Daten. 708

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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a) Vorüberlegungen zu den Untersuchungsbefugnissen Der Widerstand, den die Regierung bei der Einsetzung geleistet und gegen die Untersuchung angekündigt hatte, macht es verständlich, dass sich die Kommission zunächst mit Verve ihrer eigenen verfassungsrechtlichen Stellung und ihren Befugnissen widmete.710 Die deutsche Parlamentsgeschichte verdankt diesen Grundsatzüberlegungen wohl die erste „offizielle“ Charakterisierung eines modernen politischen Untersuchungsrechts. In der Kompetenzabgrenzungsfrage, in der die Kommission wegen der „Natur des ihr ertheilten Auftrages“ und des Widerspruchs der Staatsregierung „zunächst die verfassungsmäßige Stellung […] nach der Seite der Wahrung der Rechte des Hauses“ und sodann unter dem Blickwinkel einer „gewissenhaften Einhaltung“ der „scharfen und feinen Grenze“ der „vollziehenden Staatsgewalt gegenüber“ prüfen musste, wurde Art. 82 PrVerf 1850 mit dem Prädikat einer Ausnahme von der Regel des Art. 45 PrVerf 1850 geschmückt, dass die vollziehende Gewalt allein dem Könige zustehe. Nach dieser informationsrechtlichen Teilabsage an das „monarchische Prinzip“, das auch Carl Theodor Welcker in seiner Denkschrift über den preußischen Konflikt für den Badischen Landtag bekämpfte,711 konstatierte die Wahlmanipulationskommission, dass zwar das Plenum „selbst Thatsachen nicht untersuchen“ dürfe; das Abgeordnetenhaus könne aber, obgleich ein solcher Schritt an sich „in den Bereich der vollziehenden Gewalt“ gehöre, „die Untersuchung von Thatsachen zu seiner Information einer Kommission […] übertragen“. Dieses parlamentarische Gremium trete dann „in die Reihe der staatlichen UntersuchungsKommissionen ein, [werde…] Staats-Behörde und [übe…] alle einer staatlichen Untersuchungs-Behörde zustehenden Rechte aus“.712 Diese „Behörden-These“ sollte noch in der Weimarer Staatsrechtslehre zur Überwindung des vermeintlichen Gewaltenteilungsproblems wiederkehren.713 Über den Zuschnitt ihrer „exekutiven“ Untersuchungsbefugnisse räsonierte die Kommission, dass „Thatsachen [zu] untersuchen“ dem Wortsinn nach bedeute, zu „ergründen, ermitteln, ob sich irgend Etwas zugetragen habe“. Auf diese profane Feststellung folgte ein unbenanntes Allegat auf die Regel des § 89 EinlALR 1794, dass die Gesetze demjenigen, dem sie ein Recht einräumen, auch die Mittel geben, um es tatsächlich auszuüben: Analog dazu leitete die Untersuchungskommis­sion aus dem unbewiesenen Axiom, dass derjenige, der etwas „untersuchen soll[e, …] auch Beweis erheben können“ müsse, den Rechtssatz ab, dass jede nach Art. 82 PrVerf 1850 ernannte Kommission das Recht habe, „jedes gesetzliche Beweismittel zur Anwendung zu bringen“. Peter Reichenspergers Bedenken aus der Einsetzungsdebatte, dass niemand auch nur dazu verpflichtet wäre, überhaupt vor einer 710

Vgl. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 550. C. T. Welcker, Verfassungskampf, 1863, S. 14 f. und Anm. *. 712 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 551. 713 s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 2. d). 711

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

parlamentarischen Untersuchungskommission zu erscheinen, schlug man in den Wind und deduzierte selbstbewusst „[a]us der Natur des Staates“, dass – hier wirkte offenkundig die Charakterisierung als „Behörde“ nach – „jeder Staatsbürger verpflichtet [wäre…], durch Mittheilung dessen, was er von Thatsachen [wisse…], dem Staate zu dienen“. Affirmativ wurde auf die bestehenden Gesetze verwiesen, die es als „Ausfluß der allgemeinen Bürgerpflicht“ behandelten, „Zeugniß abzulegen“ und „Urkunden vorzulegen“; Staatsbeamte wären „ihrem Begriffe und der ausdrücklichen Vorschrift der Preußischen Gesetze gemäß doppelt verpflichtet zu erfüllen, was jedem Staatsbürger“ obliege. Weil jedem Recht des Einen eine Pflicht des Anderen entspreche, folge „aus dem Rechte der Kommission zur Er­ hebung des Beweises die Pflicht jedes Staatsbürgers und jedes Beamten, seine thatsächliche Wissenschaft der Kommission zur Verfügung zu stellen“. Mit diesen Deduktionen ging man über den von der Vereinbarungsversammlung in Art.  73 „Charte Waldeck“ beabsichtigten Zuschnitt des parlamentarischen Selbstinfor­ mationsrechts noch hinaus; Pflicht und Zwang waren damals keine Themen. Nach der Einsetzungsdebatte war wohl der politische Hintergedanke maßgebend, den Kritikern einer parlamentarischen Untersuchung den Wind aus den Segeln zu nehmen, dass die Kommission bloß unglaubwürdige freiwillige Denunzianten hören könne. Aus diesen von ihr allein aufgrund von Art. 82 PrVerf 1850 aufgestellten Prämissen leitete die Kommission weiterhin die Befugnis ab, „Zeugen und Sachverständige nicht nur selbst [zu] vernehmen, sondern […] auch, wie dies jeder anderen Untersuchungs-Behörde [zustehe…], jede andere zur Untersuchung gesetzlich geeignete Behörde um solche Vernehmung [zu] ersuchen“. Neben diesem Requisitionsrecht sollte die Kommission – einem modernen Auskunfts- und Aktenvorlagerecht ähnlich – „Auskunft über thatsächliche Fragen ihres Ressorts von jeder Behörde und jedem Beamten, in Vertretung des persönlichen Zeugnisses, verlangen und Urkunden vorgelegt fordern“ können. Insoweit stelle Art. 82 PrVerf 1850 über Art.  81 PrVerf  1850 hinaus, der die Minister lediglich dazu verpflichte, „Auskunft über Beschwerden zu ertheilen“, eine Ausnahme von dem Prinzip des „Art. 45. in Beziehung auf die vollziehende Gewalt“ dar. Zu guter Letzt sollten selbst die Minister, die „unzweifelhaft Beamte“ und „hinsichtlich der Ertheilung von Auskunft nicht eximirt“ wären, nicht „über thatsächliche Fragen, welche in den Kreis der Geschäftsthätigkeit der Kommission [fielen…], Auskunft […] verweigern“ dürfen.714 Ihre Stellung näherte sich in diesen Allmachtsphantasien schon dem heutigen Zeugenvernehmungsrecht der Untersuchungsausschüsse gegenüber amtierenden Regierungsmitgliedern an, das unbestreitbar ein Ausdruck eines parlamentarischen Regiments ist. Diese radikalen Forderungen, die nicht bloß ein vollkommenes modernes Untersuchungsrecht, sondern en passant die parlamentarische Ministerverantwortlich­ keit propagierten, versuchte die XII.  Kommission in dreifacher Hinsicht zu un 714

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 551.

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termauern: An erster Stelle stand ein Vergleich mit dem „Verfahren in anderen Verfassungs-Staaten“, für den aus einer Übersetzung von Thomas Erskine Mays berühmtem Traktat über das Englische Parlament, dem die Befugnis zur eidlichen Zeugenvernehmung zustehe, zitiert und dann Art. 40 BelgVerf 1831 angeführt wurde, der gleichermaßen für die revolutionäre „Charte Waldeck“ und den Kompromissoktroi Pate gestanden hatte.715 Schließlich wies die Kommission auf Art. 65 der Verfassung des Großherzogtums Luxemburg vom 9. Juli 1848716 sowie auf Art. 90 des niederländischen Grundgesetzes vom Oktober 1848717 hin, der das Nähere einem Gesetzesvorbehalt unterstellte. Auf diesen Rechtsvergleich folgte ein Abriss der „Geschichte der Entstehung der vorliegenden Verfassungs-Bestimmung“. Obwohl die Beratungen des Verfassungs­ ausschusses in der aufgelösten Nationalversammlung für die Interpretation des einseitig gegebenen Art. 82 PrVerf 1850 eigentlich bedeutungslos waren, konstatierte man, „daß die[se] Kommission die Frage, ob die künftige Untersuchungs-Kommis­ sion befugt sein solle, Behörden ohne Vermittelung des Staats-Ministeriums zu requiriren, ausdrücklich bejaht“ habe. Anscheinend sollte mit der Feststellung, dass die oktroyierte Verfassungsurkunde den Entwurf mit Art. 81 PrVerf 1848 in nur leicht abgewandelter Fassung übernommen habe, eine Brücke von den Bera­ tungen des Revolutionsjahres bis hin zum geltenden Recht geschlagen werden.718 An­gesichts der vollkommen differenten staatsrechtlichen Ausgangslage, in der einerseits der Verfassungsausschuss der Vereinbarungsversammlung seinen Entwurf entwickelt und andererseits das Staatsministerium die oktroyierte Verfassung geschaffen hatten, war dieses Unterfangen durchaus anfechtbar. Demgegenüber berief sich die Kommission zu Recht auf die 1849 unwidersprochene These des Revisionsausschusses in der Zweiten Kammer, dass man auf ausdrückliche Unter 715

s. dazu 5. Teil 2. Kap. A. I. 2. „Art.  65.  La Chambre  a le droit d’enquête. A cet effet elle peut nommer des commissions, chargées de s’entourer officiellement de renseignements dans l’intervalle des sessions.“ „Art. 65. Die Kammer hat das Recht der Untersuchung. Zu diesem Zwecke kann sie Commissionen ernennen, welche befugt sind, während der Zwischenzeit der Sessionen auf amtlichem Wege Erkundigungen einzuziehen.“ (Verordnungs- und Verwaltungsblatt des Großherzog­thums Luxemburg 1848, S. 389). 717 „Art. 90. De Tweede Kamer heeft het regt van onderzoek (enquête), te regelen door de wet.“ (Staatsblad van het Koningrijk der Nederlanden 1848, No. 44, 73). 718 Der Bericht hob – wohl zur Begründung, dass jede „künftige Untersuchungs-Kommission befugt sein solle, Behörden ohne Vermittelung des Staats-Ministeriums zu requiriren“ – aus der Entstehungsgeschichte der „Charte Waldeck“ hervor, dass der Reichensperger’sche Vorschlag, dass jede Kammer lediglich „das Recht [habe], Kommissionen zur Untersuchung thatsächlicher Verhältnisse mit dem Auftrage zu ernennen, durch Vermittelung des Staats-Ministeriums die betreffenden Behörden zur Erledigung der an sie gelangenden Aufträge zu requiriren“, im Verfassungsausschuss gegenüber dem Antrag des Abgeordneten Maetzke durchgefallen sei, dass „jede Kammer […] die Befugniß [habe,] Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten, eidliche Zeugenvernehmungen vorzunehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren“. s. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 551 f. (Hervorhebung nur hier). 716

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

suchungsbefugnisse im Verfassungstext verzichten könne, weil Art. 81 PrVerf 1848 eine stillschweigende Regelung enthalte.719 Zu guter Letzt verwies die Kommission auf die „bisherige Praxis des Abgeordnetenhauses“, insbesondere die Sozialenquête zur Lage der Weber und Spinner von 1849, die „ohne prinzipiellen Widerspruch der Staats-Regierung“ beschlossen worden sei, die Sachstandsenquête zum Banken- und Geldwesen, die in beiden Kammern erfolglosen politischen Untersuchungsforderungen in der Dissidentenfrage sowie den Anfang der 1850er Jahre gescheiterten Antrag Georg v. Vinckes, die politische Gesamtsituation Preußens parlamentarischer Kontrolle zu unterwerfen. Aus diesen alles andere als homogenen Beispielen destillierte der Wahlmanipulationsausschuss das Präzedens, „daß Kommissionen, welche mit Rücksicht auf Art. 82. bereits in Thätigkeit gewesen [seien…], Beweis zu erheben unter Zugeständniß der Staats-Regierung geübt, Sachverständige vernommen und nicht nur von den Ministern, sondern auch von dem Landes-Oekonomie-Kollegium ohne Vermittelung eines Ministers, Auskunft über Thatsachen verlangt und erhalten“ hätten.720 Das Ministerium beteiligte sich zunächst nicht an den Beratungen. Erst als die Kommission damit drohte, dem Plenum vorzuschlagen, die ministerielle Obstruktion als Verfassungsbruch zu verurteilen, ordnete man einen Kommissar zu ihren Sitzungen ab.721 Dieser betonte, dass die gemäß „Art. 82. […] niedergesetzte Untersuchungs-Kommission [keine] weitergehende[n] Befugnisse […] als jede andere zur Vorbereitung einer Beschlußnahme des Hauses ernannte Kommission“ haben könne. Die folgende Annahme, dass die Verfassungsurkunde einem solchen Gremium „in keiner Weise und mit keinem Worte besondere Vorrechte“ gewähre und ihm „namentlich […] nicht die Eigenschaft einer Behörde“ beilege, legte endlich den Sinn des gegenüber Art. 73 „Charte Waldeck“ kupierten Wortlauts offen; die ebenso alles wie nichts sagende Fassung von Art. 82 PrVerf 1850 ermöglichte durchaus eine solche Interpretation im Sinne einer belanglosen Vorberatungskommission ohne eigene Befugnisse. Nahe lag diese Deutung freilich keineswegs. Der Regierungskommissar fuhr fort, dass keine Kommission für sich mehr Rechte als das Plenum in Anspruch nehmen könne, dem Art. 81 PrVerf 1850 jeden „unmittelbare[n] Verkehr mit Privatpersonen“ untersage. Nach der verkappten Evokation des „monarchischen Prinzips“, dass die „Landesvertretung […] überhaupt lediglich solche Befugnisse und Thätigkeiten ausüben [dürfe], welche ihr durch die Verfassung ausdrücklich beigelegt seien“, verkündete der Kommissar die Bereitschaft der Regierung, nach dem Buchstaben der Verfassung – gemeint war der antiquierte Art. 81 PrVerf 1850 – „über […] einzelne Beschwerden auf Verlangen die erforderliche Auskunft zu gewähren“. In gleichermaßen überkommene Schemata fügte sich die beiläufige Bemerkung, dass man, weil „direkte Requisitionen“ „mit Umgehung der Minister“ als „verfassungswidrig an[zu]sehen“ wären, den „Verwaltungs-­ 719

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 552. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 552 f. 721 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 555. 720

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Behörden die Weisung ertheilt [habe…], derartigen Requisitionen keine Folge zu geben“;722 ebenso wenig werde man sich zu einer „Vermittelung von Requisitionen […] zur Erledigung durch untergeordnete Behörden“ hergeben.723 Die Kommission entgegnete auf diese Vorhaltungen zu Recht, dass sich ihre Befugnisse nicht aus der Geschäftsordnung, sondern unmittelbar aus der Verfassung ergäben. Anders als „geschäftsordnungsmäßige Kommissionen“, die ausschließlich „künftige Beschlüsse vorzuberathen hätten“, hielt sie sich für „dazu bestimmt […], zur Information des Hauses für dasselbe zu hören und zu sehen, in das Leben einzutreten und Alles zu thun, was die Erreichung des Zweckes erfordere, ohne […] oder doch nicht ausschließlich durch Vermittelung der Staats-Regierung die Wahrheit zu ermitteln“. Nach diesen verkappten Drohungen an die Adresse des Ministeriums, den Wahlmanipulationen mit oder ohne seine Mitwirkung auf den Grund zu gehen, kamen die Abgeordneten zu dem Schluss, dass sich aus Art. 81 PrVerf 1850 – von dem Art. 82 PrVerf 1850 ohnehin eine Ausnahme mache – kein Verbot des Verkehrs mit Dritten ableiten lasse.724 Die Kommission schrieb Art. 82 PrVerf 1850 also unmittelbare Befugnisse zu, die einem modernen Enquête- und Untersuchungsrecht vollständig entsprachen. Dass diese provokanten Überlegungen ministerielle Abwehrreflexe provozieren mussten, überrascht schon angesichts des Urteils des Tübinger Staats- und Kirchenrechtlers Friedrich Thudichum von 1890 nicht, dass der parlamentarische­ Anspruch, „Minister und andere Staatsbeamte, sowie Privatpersonen vor sich zu laden oder durch die Gerichte vernehmen zu lassen“, ein „sehr wesentliches Mittel zur Herbeiführung der parlamentarischen Parteiregierung“ sei.725 Die progressiven Gedanken und Schlussfolgerungen der Untersuchungskommission spiegelten deutlich den Einfluss der Fortschrittspartei und des Linken Zentrums wider, die in der Tat das Ziel einer Liberalisierung der Verfassungsverhältnisse mit echter Ministerverantwortlichkeit verfolgten.726 Unter ihrer Ägide schmiedete man aus dem in der bisherigen Praxis relativ harmlosen informationsrechtlichen Instrument des Art. 82 PrVerf 1850, der wie Art. 81 PrVerf 1848 bisher – allen kritischen Anflügen zum Trotz – bloß zur Vorbereitung gesetzgeberischer oder sozialpolitischer Maßnahmen gedient hatte, den vielzitierten „Kampfparagraph[en] gegen die 722

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 555 f. s. dazu 5. Teil 3. Kap. C. II. 1. c) aa). VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 557 f.: Nachdem bereits „drei Ressort-Minister, über Thatsachen um Auskunft ersucht, letztere verweigert und auf die ihnen ohne Zweifel von den verschiedenen Regierungs-Präsidenten eingereichten an dieselben von der Kommission erlassenen Requisitionen auf deren Erledigung Bezügliches kundbarer Weise nichts veranlaßt [hätten, sei…] mithin anzunehmen  […], daß alle weiteren Schritte die Sache nicht fördern und nur die dem Hause der Abgeordneten vielleicht nur knapp noch zuzumessende Zeit seiner Thätig­keit absorbiren würden“. 724 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 557. 725 F. Thudichum, Kämpfe II, 1890, S. 6. Eine „Ladung“ der Minister vor die Kommission stand freilich nicht in Rede; außerdem bezog sich die zitierte Äußerung auf die Eisenbahnenquête. 726 Zur Fortschrittspartei s. H.  Schulze, in: HdbPrGesch II, 1992, S.  293 (329) sowie T. Nipperdey, DtGesch 1800–1866, 1998, S. 755 und 724 ff. zu anderen liberalen Gruppen. 723

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Regierung“.727 Die unterschiedslose Aufzählung von „Präzedenzfällen“ aus der konstitutionellen Praxis seit 1849, die die gescheiterten Kontrollversuche gleichberechtigt neben die tatsächlich veranstalteten Sachstands- und Sozialenquêten stellte, diente dazu, die für die Sachstandserhebung unwidersprochenen Befugnisse auf die kontroversen politischen Untersuchungen zu übertragen. Das Ab­ geordnetenhaus eiferte damit dem revolutionären, von Demokratie, vermeintlicher Volkssouveränität und Parlamentarismus getragenen Beispiel der preußischen Vereinbarungsversammlung nach, die in der Schweidnitzer Angelegenheit ohne jede rechtliche Grundlage erfolgreich entsprechende Befugnisse beansprucht hatte.728 Der erste Bericht des Wahlmanipulationsausschusses, der sicherlich auch so rasch erstattet wurde, um im Interesse der öffentlichen Meinungspflege etwaigen Regierungsmaßnahmen zuvorzukommen, illustrierte im Ergebnis eindrucksvoll, wie wenig sich das Abgeordnetenhaus, entsprechende Mehrheiten vorausgesetzt, in der Auslegung des Art. 82 PrVerf 1850 ministeriell bevormunden ließ. Damit ist die These, die vermeintlich allmächtige Regierung Bismarck habe die Volksvertretung nach ihrem Willen von parlamentarischen Untersuchungen abhalten können, ein Stück weit durch die Geschichte selbst demontiert. b) Öffentliche Aufrufe und Ersuchen an Minister und Behörden Im zweiten Teil des Berichts unterrichtete die Kommission das Plenum über die ersten Schritte zur Aufklärung der Wahlmachinationen und prangerte die obstruktive Haltung des Ministeriums und der nachgeordneten Stellen an. Ergänzt wurde das Referat von 12 insgesamt gut dreiseitigen Anlagen, die von einem Pamphlet der Konservativen über unbeantwortete Requisitionen der Kommission an Minis­ ter und Regierungspräsidien, Reskripte oder Verfügungen vorzulegen, bis hin zu den wenigen ablehnenden Antworten reichten.729 Der Rest der Befragten hatte die gouvernementale Position, dass man nicht mit der parlamentarischen Untersuchungskommission kooperieren dürfe, dahin auf die Spitze getrieben, dass man die Ersuchen schlicht ignorierte. Zunächst hatte die Kommission eine öffentliche Bekanntmachung über ihre Einsetzung und die Aufnahme ihrer Tätigkeit verbunden mit der Aufforderung beschlossen, „Mittheilungen […] an das Haus der Abgeordneten oder unmittelbar an den Herrn Vorsitzenden zu richten“. Obwohl diese Erklärung nicht durch den Vorsitzenden der Kommission, sondern „Behufs ihrer Legitimation“ durch den Kammerpräsidenten ausgefertigt worden war, weigerte sich die Redaktion des Staatsanzeigers, „diese Bekanntmachung in dem amtlichen Theile […] ohne besondere 727

s. zu Karl Schraders entsprechender Qualifikation VerhRT VIII/1 (1890/92) S. 3290. s. dazu 3. Teil 2. Kap. D. IV. 729 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 558 ff. 728

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Anweisung der vorgesetzten Behörde“ abzudrucken. Eine Remonstration des Präsidenten Grabow gegenüber dem Staatsministerium blieb fruchtlos.730 Wie sehr sich die konservative Kammerminderheit trotz ihrer Kooperationsverweigerung der Brisanz der Angelegenheit bewusst war, belegt die Publikation eines Gegenpamphlets in der Kreuzzeitung, das „jeden geschäftlichen Verkehr“ mit der vermeintlich verfassungswidrigen Kommission zurückwies. Um trotzdem „jede einseitige Behandlung der fraglichen Angelegenheit zu verhindern“, mit anderen Worten also: kräftig im gouvernementalen Sinne zu agitieren, kündigten die Konservativen eine eigene Kommission an und forderten sämtliche „politischen Gesinnungsgenossen“ dazu auf, „alle in den Geschäftskreis der obengedachten Kommission einschlagenden Mittheilungen baldgefälligst an eines der […] Vorstandsmitglieder gelangen zu lassen“. Die Wahlmanipulationskommission des Abgeordnetenhauses verurteilte diese Bekanntmachung ihrerseits als unzulässigen „öffentlich verkündete[n] Tadel“ eines Mehrheitsbeschlusses unter Missachtung der „Grundsätze parlamentarischer Ordnung und Schicklichkeit“.731 Neben diesem Aufruf an das Publikum erließ die Kommission verschiedene Ersuchen an Minister und Behörden. Nach Hinweisen, dass der Handels- und der Kultusminister ebenfalls Wahlreskripte erlassen hatten, „beschloß die Kommission[,] die beiden Herren […] um Mittheilung dieser Verfügungen zu ersuchen“. Ein weiteres Auskunftsersuchen wegen einer Verfügung, „daß die Militair-­Urwähler einer Garnison unter 750 Mann möglichst nur einem Civil-Wahlbezirk zugetheilt werden soll[t]en“, richtete man an den Innenminister.732 Zunächst reagierte das Staatsministerium auf keine dieser Anfragen, obwohl es am 9. Januar 1864 über sie beraten hatte.733 Man entsendete nicht einmal einen Kommissar zu den Kommissionssitzungen.734 Statt einer sachlichen Auskunft eröffneten die drei ersuchten Minister schließlich dem Kommissionsvorsitzenden schriftlich lediglich, „daß die gewünsch-

730

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 553. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 553 f., 559. 732 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 554. 733 Vgl. Acta Borussica V, 2001, Nr. 319, S. 212 f. und in Fn. 1. Näheres ist dem knappen Protokoll nicht zu entnehmen. 734 W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 57 f. zuwider dürfte es keine „Weigerung der Minister“ gegeben haben, „vor diesem Untersuchungsausschuß auszusagen“. In dem Bericht der XII. Kommission ist bloß davon die Rede, dass „[d]ie Herren Minister […] den Schreiben vom 14., 15. und 16. v. Mts. gegenüber anfangs Stillschweigen [beobachteten], da auch, obwohl dem Staats-Ministerium von jeder Sitzung der Kommission und der Tages-Ordnung stets Mittheilung gemacht ward, in der Kommission selbst kein Ministerial-Kommissarius erschien“. Aus der weiteren Schilderung, insbesondere den ministeriellen Antwortschreiben, geht hervor, dass es um Anfragen auf amtliche Auskunft über die Wahlerlasse ging (Vgl. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 555). Tatsächlich bestand nach der Verfassung auch keineswegs eine Verpflichtung der Minister, vor einer Kommission des Abgeordnetenhauses zu erscheinen. Gemäß Art. 60 Abs. 2 PrVerf 1850 verfügte – anders als nach Art. 43 Abs. 1 GG – lediglich das Plenum über das Zitierrecht. Komplementär dazu hatten die Minister kein verfassungs-, sondern bloß ein geschäftsordnungsmäßiges Recht, an Kommissionsberatungen teilzunehmen. 731

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ten Mittheilungen nicht erfolgen“ könnten, weil man sich „weder für verpflichtet […] noch veranlaßt“ halte, die „gewünschte amtliche Auskunft zu ertheilen“.735 Das Ministerium Bismarck versuchte die unangenehme Angelegenheit also als verfassungswidrig hinzustellen, auf dieser Basis mit Nichtachtung zu strafen und letztendlich in der Hoffnung auf bessere Tage auszusitzen. Um keinen Deut kooperationsbereiter verhielten sich die nachgeordneten Regierungen, an die sich die Kommission unter dem 14. Dezember 1864 ohne Vermittlung des Ministeriums „um amtliche Auskunft“ wendete, „ob […] aus Anlaß des […] auf das Verhalten der Beamten bei den Wahlen bezüglichen Reskriptes allgemeine Verfügungen an die Behörden oder Beamten des dortigen Departements erlassen“ worden seien; ggf. wurde „um Einsendung einer Abschrift der fraglichen Verfügungen“ gebeten.736 Zumeist verliefen diese Ersuchen im Sande. Nur der Regierungspräsident zu Marienwerder und ehemalige Präsident des Abgeordnetenhauses in der Reaktionszeit Botho Graf zu Eulenburg-Wicken erklärte unumwunden, „daß er sich nicht veranlaßt sehe, über amtliche Erlasse in Folge des Reskripts des Herrn Ministers des Innern […] Auskunft zu ertheilen, da er weder zum Hause der Abgeordneten, noch zu dessen zwölfter Kommission in irgend einem Disziplinarverhältnisse stehe“. Ebenso deutlich sprach sich das Präsidium des Ostpreußischen Tribunals, das die Kommission wegen der Kündigung des Justiz­ subalternbeamten Gesecus um eine „Abschrift“ des „Vorstellens“ des Betroffenen gegenüber der Staatsanwaltschaft ersucht hatte, gegen jede Kooperation aus. Statt der gewünschten Information erhielt der Kommissionsvorsitzende Ernst Wachler ein „Schreiben des Präsidii des Ostpreußischen Tribunals“, „daß [man…] die Befugniß einer Kommission des Hauses der Abgeordneten – die Mittheilung eines zum Ressort des Präsidii gehörigen Schriftstücks durch unmittelbare Korrespondenz zu erfordern – nicht anerkennen“ könne, weil die Kommission nicht „unter Genehmigung der Königlichen Staats-Regierung mit einer solchen Befugniß ausgestattet wäre“. Auch „Art. 82. der Verfassungs-Urkunde [lege…] den darin gedachten Untersuchungs-Kommissionen die Kompetenz zu einem unmittelbaren Schriftwechsel mit den Königlichen Behörden nicht bei“. Wegen „Art. 81. [sei…] jede Auskunft über eingehende Beschwerden [ausschließlich…] von dem betreffenden Königlichen Staats-Minister zu verlangen“. Die Kommission griff darauf­ hin auf eine von dem Beschwerdeführer selbst gefertigte Abschrift zurück, weil „nicht anzunehmen [wäre], daß derselbe sich erlauben würde, in der dem Hause der Abgeordneten eingereichten Beschwerde, welche seine Reaktivirung zum­ Zwecke [habe…], Unrichtigkeiten vorzutragen“.737 – Sowohl der Verwandte des Innenministers zu Eulenburg als auch das Gericht stützten sich offenkundig auf die „klassischen“ pseudo-gewaltenteilungsrechtlichen Bedenken, dass die Kammer nicht über exekutive Organe „zu Gericht sitzen“ dürfe. Zugleich wärmten sie den

735

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 555. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, Anl. F., S. 555. 737 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 625 f. (Hervorhebung nur hier). 736

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auf die Art. 45 und 81 PrVerf 1850 gestützten schalen Einwand auf, dass sich keine parlamentarische Kommission unmittelbar an nachgeordnete Stellen wenden dürfe und versuchten damit letzten Endes, das „monarchische Prinzip“ gegen die vermeintliche Zumutung einer parlamentarischen Regierungskontrolle zu verteidigen. Zur weiteren Blamage des Ministeriums gingen der Kommission „aus fast allen Theilen des Landes […] Mittheilungen darüber [zu…], daß die RegierungsPräsidien auf Grund höherer Anordnung die ihnen unmittelbar oder mittelbar untergebenen Beamten angewiesen hätten, an sie von der Kommission gerichteten Zuschriften keinerlei Folge selbstständig zu geben, dieselben vielmehr dem Präsidium zur weiteren Veranlassung zu übersenden“.738 Während die gezielten Ersuchen an staatliche Stellen also fruchtlos blieben, war dem öffentlichen Aufruf der Kommission offenbar mehr Glück beschieden. c) Allgemeine Quellen, Mitteilungen und Urkunden Unter dem 19. Januar 1864 folgte fünf Tage nach dem ersten Referat ein weite­ rer 53-seitiger (!) Bericht, der für die Entwicklung des parlamentarischen Enquêteund Untersuchungsrechts u. a. wegen seiner detaillierten Einblicke in die Vorgehensweise der Kommission von größtem Interesse ist. Diesem Dokument zufolge, über das im Plenum nicht mehr beraten werden konnte, hatte man zunächst auf eine „Menge von Thatsachen der bezeichneten Art“ zurückgegriffen, die einzelne Abgeordnete in den Wahlprüfungsverhandlungen entweder „aus eigener Kenntniß oder in Folge von Mittheilungen“ angeführt hatten. Einerseits hatte sich die Kommission bemüht, „die bereits vorgebrachten oder angedeuteten Tatsachen [zu] sammeln […], die Ursachen und den Zusammenhang derselben genauer zu ermitteln“, neben dieser Detailarbeit, die schon eine erste, zur Überzeugung von Regierung und Konservativen unzulässige Wertung verlangt hatte, aber andererseits ebenfalls das größere Ziel in Angriff genommen, „auf den letzten Grund dieser Thatsachen – auf die Erlasse der Königlichen Minister zurück[zu]­gehen und den Nachweis [zu] versuchen, wie durch diese die einzelnen That­sachen hervorgerufen wären“.739 Die Untersuchung beschränkte sich also keineswegs auf das schlichte Sammeln von Tatsachen, sondern diente – wie bereits angedeutet – auch dazu, aus etwaigen Erkenntnissen weitergehende Schlüsse zu ziehen. Der in den 1850er Jahren von der gouvernementalen Seite unternommene Versuch, das parlamentarische Selbstinformationsrecht auf das bloße Zusammenklauben von Informationen zu beschränken,740 war damit offenkundig gescheitert. Zugleich verdeutlichte die Kommission die Stoßrichtung der Untersuchung: Es ging um eine politische Auseinandersetzung mit der Regierung, um Kontrolle und Kritik des

738

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 554 f. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 603 f. 740 Vgl. dazu etwa 5. Teil 2. Kap. B. I., 3. Kap. B. II. 2. c) aa) (2) und d). 739

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Ministeriums und seiner Untergebenen. In diesem Sinne machte ein detailliertes Sündenregister des Staatsministeriums, einzelner Minister und Regierungspräsidenten unter der provokativ groß gesetzten Überschrift „Gesetzwidrige Wahlbeeinflussung durch die oberen Behörden“ einen Großteil des Berichts aus.741 Einer der Hauptvorwürfe gegen die Regierung beruhte auf der Verurteilung verschiedener Reskripte an die nachgeordneten Behörden, mit deren Hilfe die Minister versucht hatten, die Wahlen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Als einer der Hauptschuldigen für die massiven Einschüchterungsversuche gegenüber der Beamtenschaft galt von Anfang an Innenminister Friedrich Albert zu Eulenburg; die Untersuchungskommission hielt weitere Ermittlungen zu seinem berüchtigten Wahlerlass für überflüssig und unterstellte stattdessen, „da das Reskript amtlich in dem Staats-Anzeiger publizirt worden“ war, schlicht die „Zufertigung an sämmtliche Königliche Regierungs-Präsidenten“.742 Auf dieser Grundlage dienten der Erlass, „die in demselben aufgestellten politischen Grundsätze“ und die „politischen Maßregeln jener Zeit überhaupt“ als eindeutige Indizien dafür, „daß die Königliche Staats-Regierung […] nach den verschiedensten Seiten hin und nach einem bewußten Plane bemüht gewesen [sei…], die Opposition im Lande überhaupt und ganz besonders in dem Beamtenstande […] zu brechen“.743 Das berechtigte Misstrauen der Parlamentarier ging so weit, dass man, obwohl die Minister der Finanzen, des Handels und der landwirtschaftlichen Angelegenheiten Wahlreskripte weder publiziert hatten noch Abschriften vorlagen, „nach den in die Oeffentlichkeit gedrungenen Mittheilungen“ analoge Verfügungen unterstellte.744 Weil der Minister der geistlichen Angelegenheiten und des Unterrichts Heinrich v. Mühler einem parlamentarischen Ersuchen um eine „beglaubigte Abschrift“ nicht nachgekommen war, griff die Kommission auf eine „ihr auf zuverlässigem Wege zugegangen[e]“ Kopie zurück, für deren „Richtigkeit“ inhaltliche Gründe angeführt wurden;745 möglicherweise diente die vage Quellenangabe dazu, einen oppositionellen Informanten zu schützen. Wie nicht anders zu erwarten, hatte sich die gouvernementale Intimidation nicht auf Zivilbeamte beschränkt. Vielmehr hatte eine Allerhöchste Ordre des Kriegsministers bestimmt, „daß Offiziere und Mannschaften […] keinesfalls in dienst 741

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 604 ff. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 606. 743 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 605 f. 744 So hätten „in der Abtheilung für Forsten und Domainen die oberen Beamten auf die unteren Beamten im Sinne des Reskripts vom 24. September gewirkt“. Aus dem Handelsministerium sei „offiziös berichtet worden, daß im Anschluß an den Cirkular-Erlaß des Ministers des Innern […] entsprechende Weisungen an die Beamten der Bau-, Post-, Eisenbahn- und Berg-Verwaltung ergangen“ seien. Aus dem Landwirtschaftsministerium heiße es, „daß an die General-Kommissionen ein ministerieller Wahl-Erlaß gelangt [und…] unter die Mitglieder des Kollegiums vertheilt worden“ sei (VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 606 f.). 745 Wie der Erlass des Ministers Eulenburg forderte das Papier, die „oppositionelle Stellung eines Lehrers“ nicht zu dulden, sondern „durch die Strenge der Disziplin zu brechen“ (VerhPr­ AbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 606). 742

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licher Form zur Ausübung des Wahlrechts veranlaßt werden soll[t]en“;746 zur Überzeugung der Kommission hatte die Anordnung zur Folge, dass die Militärpersonen „bei den letzten Wahlen von ihrem Wahlrechte fast nirgends Gebrauch gemacht“ hatten. Den wahren Hintergrund der vermeintlich royalistischen „Wahlenthaltung“ brachte schließlich der im Plenum besprochene Fall eines Soldaten ans Licht, der sein „Mandat zum Wahlmann“ wegen einer „Verfügung seiner vorgesetzten Militairbehörde“, „er [solle sich] als Militair […] der Betheiligung an den Wahlen überhaupt enthalten“, niedergelegt hatte. Ganz auf dieser Linie hatte eine „offiziöse Zeitung des Ministeriums“ jede „Betheiligung der Armee an den Wahlen […] als unvereinbar mit dem Geiste militairischer Subordination“ diskreditiert.747 Freilich stand Wehrpflichtigen schon wegen der Altersgrenze von 25 Jahren in aller Regel kein aktives Wahlrecht zu.748 Von den Erlassen verschiedener Regierungspräsidenten nahm die Kommission durch die „öffentlichen Blätter“ oder „auf anderen glaubwürdigen Wegen“ Kenntnis. Weil dem Versuch, „durch Requisition an die Königlichen Regierungs-Präsi­ denten diejenigen Erlasse zu ermitteln, welche ihr nicht in glaubwürdigen Publikationen bekannt geworden waren“, kein Erfolg beschieden war, übernahm sie diese unautorisierten Quellen in ihren Bericht.749 Genaue Angaben zur Herkunft dieser Informationen fehlten – möglicherweise zum Schutz von Informanten – auch dieses Mal. In der Sache urteilte die Kommission aufgrund dieses Materials, dass die Erlasse der übrigen Ministerien hinter dem Reskript des Innenministers nicht zurückblieben, sondern teils sogar noch darüber hinausgingen.750 Hinweise auf das Fehlverhalten nachgeordneter Stellen schöpfte man aus ver­ schiedensten Quellen:751 Etwa stützte sich die Kommission für Einschüchterungsversuche im Vorfeld der Wahlen ebenso wie für nachträgliche Disziplinarmaßregeln auf verbürgte Nachrichten ungenannter Provenienz, Erklärungen „in beglaubigter Form“ oder Schreiben der betroffenen Staatsdiener, „Wahlakten und […] Originalschreiben des Landraths“, eine „Original-Verfügung“ sowie das Statut eines liberalen Wahlvereins, das Anlass zu Sanktionen gegeben hatte.752 Die Bemühungen des Landrats von Salzwedel, seine Untergebenen durch disziplinarische Drohungen von jeder Unterstützung der Fortschrittspartei abzuschrecken, 746 Nach W. v. Roon, v. Roon II, 1892, S. 142 schätzte sein Vater die „Rücksicht, daß die Armee aus disziplinären Gründen unter allen Umständen den gefährlichen Wahlagitationen entrückt werden müsse“, höher ein als einen „relativ unerhebliche[n] Ausfall an regierungsfreundlichen Stimmen“. 747 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 607. 748 Vgl. D. Walter, Heeresreformen, 2003, S. 330. Zum Wahlverbot für die Soldaten s. das Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes, vom 31. Mai 1869 (BGBl. S. 145 und dazu M. v. Seydel, RVerf2 1897, S. 194. 749 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 607. 750 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 612 f. mit näheren Bewertungen. 751 Zum Rückgriff auf die Wahlprüfungen bzw. Mitteilungen von Abgeordneten s. VerhPr­AbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 616, 619. 752 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 614 f.

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wurde mit Hilfe von zwei Zirkularschreiben belegt.753 Zur Überzeugung der Kommission hatte der Landrat Graf v. der Schulenburg „auf die Wahlen durch ein an die Schulzen des Kreises gerichtetes gedrucktes Rundschreiben […] ungesetzlich eingewirkt. Dasselbe [lag…] in einem […] unter der Rubrik ‚Königliche Dienstsache‘ auf die Post gegebenen Exemplar vor“. Dass die versendeten Kopien nicht handschriftlich vervielfältigt, sondern gedruckt worden waren, dürfte auf eine größere „Auflage“ schließen lassen. – Im Kreis Saarbrücken hatte der Landrat v. Gaer­ten zwei von den Liberalen als Wahlmänner nominierte Bürgermeister schriftlich einbestellt und dann ermahnt, „daß, wenn [s]ie in [i]hrem Amt bleiben woll[t]en, [sie…] die Verfügungen des Ministers befolgen müss[t]en“. Den „Bericht des Bürgermeisters Kracher […] nebst dem Originalschreiben des Landraths“ steuerte Rudolf Virchow bei. In einem Aachener Wahlbezirk hatte ein Bürgermeister den Wahlmännern eröffnet, „daß die Wiederwahl der früheren Herrn Abgeordneten Baur und Simson höhern Orts nicht gebilligt […] und der frühere Minister Herr v. d. Heydt als Abgeordneter in Vorschlag gebracht“ werde; der Abgeordnete Baur bestätigte der Kommission die Übereinstimmung ihrer Kopie mit der „ihm vorgelegenen Urschrift des Cirkulars“.754 Die zur Überzeugung der Ab­geordneten „zuverlässigen Mittheilungen“ über „gesetzwidrige Wahlbeeinflussung“ der Regierung zu Stralsund gegenüber verschiedenen Domänenpächtern stammten wieder aus ungenannter Quelle. „Nachrichten von anderer Seite“, die noch einer „näheren Feststellung“ unterlägen, legten die „Vermuthung [nahe], daß auch in­ anderen Landestheilen die Domainen-Pächter mit […] Mahnungen und Verwarnungen bedacht worden“ waren.755 Neben Nachrichten von Beeinflussungen im Vorfeld des Urnengangs häuften sich Klagen über „[g]esetzwidrige Verfolgungen nach den Wahlen“.756 So wurde gegen einen ostpreußischen Ortsvorsteher, der sich ein „lediglich zur Wahlbeeinflussung gedrucktes Schriftstück zu verbreiten [geweigert], und […] dasselbe an das Rentamt zurück[gesandt]“ hatte, „wegen bewiesener Renitenz […] eine Disziplinarstrafe von 2 Rthlr.“ verhängt. Festgestellt wurde dieser „Thatbestand […] durch die anliegend abgedruckten beglaubigten Urkunden“.757 Aus den „öffentlichen Blättern“ entnahm die Kommission, dass der Tribunalsvizepräsident v. Goßler die „noch nicht angestellten Beamten des Königlichen Stadtgerichts wegen ihrer Wahlen im Sinne der Fortschrittspartei“ durch den Stadtgerichtsdirektor hatte „verantwortlich vernehmen“ lassen. Die „etatsmäßigen Beamten“ hatte man befragt, „ob sie bei der Stimmabgabe nicht mißverstanden worden seien“. Verifiziert wurde diese bezeichnende „Mittheilung“ durch zwei Entlassungsverfügungen, die der Abgeordnete v. Forckenbeck im Plenum verlesen hatte.758 Im schlesischen Re 753

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 621. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 623. 755 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 613. 756 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 624 ff. 757 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 627. 758 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 624. 754

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gierungsbezirk Liegnitz wurden mehrere Gerichtsbeamte nicht nur disziplinarisch verfolgt, sondern dadurch schikaniert, dass man sie „bei schlechter Jahreszeit und schlechten Wegen meilenweite Reisen zum Sitz des Landraths-Amtes“ unternehmen ließ, statt ihnen die verfügten Maßnahmen in schriftlicher Form „christlich zukommen zu lassen“. Der Kommission waren diese Sachverhalte auf unterschiedliche Weise zur Kenntnis gelangt: Vier Gerichtsschulzen hatten ihr in einem „durch einen Rechtsanwalt und Notar beglaubigten und legalisirten Schreiben“ angezeigt, wie es ­ihnen ergangen war, und sich bereit erklärt, „ihre Angaben eidlich zu erhärten“. Von anderen Fällen, dass Ortsrichter, Gerichtsmänner und Gerichtsschulzen aus unterschiedlichen Kreisen „auf den betreffenden Landraths-Aemtern erscheinen [mussten…] und […] wegen ihrer Abstimmung als Wahlmänner verwarnt“ wurden, hatte die liberale National-Zeitung berichtet. Eine „besondere Ermittelung“­ erschien der Kommission in diesen Fällen überflüssig, „da jenen Mittheilungen nirgend widersprochen“ wurde.759 Dass ein Schulze wegen der Unterzeichnung eines liberalen Wahlaufrufs sein Amt verloren hatte, war ebenfalls durch einen Zeitungsabdruck des Aufrufs sowie durch die „Original-Verfügungen des Landraths“ erwiesen.760 Wegen eines anderen liberalen Wahlaufrufs hatte die Königliche Regierung zu Oppeln einen Erbscholtiseibesitzer, drei Schulzen und zwei Erbschulzen „wegen Verletzung ihrer Dienstpflicht und wegen unwürdigen Verhaltens, unter Zurlastlegung der Untersuchungskosten“, entlassen. Von einem Betroffenen erhielt die Kommission eine „Ausfertigung des Regierungs-Beschlusses“. Angesichts der Tatsache, dass der so geahndete Aufruf „weder in irgend einer Beziehung gegen das Strafgesetz, noch gegen die besonderen, den Bestraften als mittelbaren Staatsbeamten obliegenden Pflichten“ verstieß, fällte die Untersuchungskommission das vernichtende Verdikt, „daß die Preußischen Staats-Verwaltungsbehörden […] bei der imperialistischen Anschauungsweise des Französischen Präfektenthums angelangt“ seien.761 Ebenfalls für die Unterzeichnung eines Wahlpamphlets wurden im Regierungsbezirk Stralsund der „Gymnasial-Direktor Nizze […], ein 75jähriger Greis, welcher die Befreiungskriege mitgemacht, auch Mitglied der National-Versammlung in Frankfurt a. M. gewesen“,762 sowie die Professoren v. Gruber und Schultz durch das Königliche Provinzialschulkollegium nach Stettin zitiert und dort „bei Vermeidung der Disziplinar-Untersuchung auf Amtsentsetzung vor einer gleichen

759

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 628. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 624. Aus den „Original-Verfügungen“ ergaben sich noch andere Repressalien gegenüber Staatsdienern, die trotz Wahlreskripten liberal gewählt hatten: so etwa die Aufforderung an den Kreis-Chirurgus Dr. Rosenstock, sich über die Beweggründe seiner Wahl zu äußern, oder die Entlassung des Akademie-Arztes Dr. Senftleben, der auf eine Denunziation des Akademie-Direktors hin, er besitze und verteile liberale Schriften, noch vor der Wahl entlassen worden war (VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 626 f.). 761 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 630. 762 Der 1788 geborene Ernst Nizze hatte als Secondelieutnant Lützows Freikorps angehört, sich in der Frankfurter Nationalversammlung als Abgeordneter für Stralsund der Casino-Fraktion angeschlossen und Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser gewählt. s. dazu H. Best/W. Weege, Bio­ Hdb­FNV, 1996, S. 252. 760

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Betheiligung in Zukunft verwarnt“. In diesen „aus den öffentlichen Blättern entnommenen Thatsachen“, die im Plenum unwidersprochen „in Gegenwart des Unterrichts-Ministers“ vorgetragen worden waren, fand die Kommission „eine gesetzwidrige Verfügung resp. eine Verkümmerung des freien Wahlrechts“. Besonderen Anstoß erregte, „daß man einen so alten und verdienten Mann bei dieser Jahreszeit gezwungen [hatte], die weite Reise nach Stettin auf seine Kosten zu machen, blos um einen Verweis persönlich in Empfang zu nehmen“.763 Der Abgeordnete Aegerter lieferte ein Originalreskript der Regierung zu Breslau ein, mit dem man ihm „‚einen ernsten Verweis‘ wegen offenkundig erwiesenen Ungehorsams [erteilt hatte; …] er [hatte] dem Regierungs-Präsidial-Erlaß […] entgegen […] nicht nur konservativen Wahlen entgegengewirkt, sondern auch als Wahlmann ‚regierungsfeindlichen Kandidaten‘ seine Stimme gegeben“. Aus dem Regierungsbezirk Breslau erreichte die Kommission „[v]on dem Abgeordneten Hoffmann (Ohlau) […] eine von dem Lehrer Zimbal […] an das Haus der Abgeordneten gerichtete Darstellung vom 28. Dezember 1863“: Der „Königliche Landrath v. Prittwitz [hatte…] elf Elementarschullehrern […] eine Regierungsverfügung eröffnet […], nach welcher sie wegen ihrer Stimmabgabe bei den Urwahlen beschuldigt [wurden…], den Eid der Treue gegen Se. Majestät den König verletzt zu haben. In Zukunft würde bei ähnlichem Verhalten mit Disziplinarmaßregeln […] vorgeschritten werden.“ Zur Validität der Quelle hieß es, dass der „Verfasser des genannten Schriftstücks […], nach der Versicherung eines Mitgliedes der Kommission, so wie des Abgeordneten Hoffmann, ein glaubwürdiger Mann“ sei. „[A]ußerdem [stimme…] der Inhalt des Schriftstücks mit den Nachrichten in öffentlichen Blättern über diese ungesetzliche Wahlbeeinflussung überein.“764 Angesichts der erdrückenden Fülle an Beispielen resümierte die Kommission, dass es „keiner weiteren Ausführung“ bedürfe, was von der „Versicherung des Herrn Ministers des Innern, es solle Niemand wegen seiner Stimmabgabe verfolgt werden, zu halten sei“.765 Wie vergiftet die politische Stimmung tatsächlich war, zeigte der Fall des Akademiearztes Dr. Senftleben, der vor den Wahlen nach einer Denunziation, liberale Schriften zu besitzen, mit fadenscheiniger Begründung entlassen worden war. Der Denunziant, Direktor der Akademie und, wie der Bericht nicht vergaß, „beiläufig“ zu erwähnen, Bruder des konservativen Abgeordneten Hermann Wagener, hatte bei einer Behandlung um etwas „Lektüre“ gebeten – und die ihm überlassenen Schriften dann zur Anzeige gebracht. Obwohl der Vorgang nicht eigentlich zu ihrem Auftrag passte, nahm die Kommission diesen perfiden Vertrauensbruch in ihren Bericht auf, der zu Genüge illustriere, mit welchen Mitteln die Staatsregierung versuche, „die Anhänger der liberalen Partei durch persönliche Nachtheile zu zwingen […], ihre wahre Gesinnung zu verläugnen“.766 763

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 639. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 635. 765 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 628. 766 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 626. 764

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Die Kommission nutzte also sämtliche verfügbaren Informationsquellen, griff auf Zeitungsberichte, amtliche Bekanntmachungen und Mitteilungen von Betroffenen, Abgeordneten oder Dritten zurück. Alle Versuche, wie bei früheren Gelegenheiten Auskünfte von der Regierung oder nachgeordneten Stellen einzuholen, scheiterten am kategorischen Widerstand des Staatsministeriums Bismarck. Unter dem Blickwinkel der Untersuchungsrechtsentwicklung zeigte sich, dass eine parlamentarische Kommission durchaus dazu in der Lage war, eine Untersuchung ohne Vermittlung durch exekutive Stellen anzustellen. Bei dieser Gelegenheit wurde ein weiteres Mal überdeutlich, wie wichtig unmittelbare informationsrechtliche Befugnisse für das Abgeordnetenhaus in einer Auseinandersetzung mit der Regierung waren. Außerdem ließ sich die Kommission bezogen auf die Reichweite des Untersuchungsrechts nicht bevormunden: Früheren Mahnungen zum Trotz,767 Art. 82 PrVerf 1850 gebe der Kammer bloß das Recht, Tatsachen zu sammeln, nicht aber die Ergebnisse zu bewerten oder über Regierung und Verwaltung zu Gericht zu sitzen, beschränkte man sich keineswegs auf die bloße Tatsachenbeschaffung für das Plenum, sondern „untersuchte“ vielmehr die aufgedeckten Machinationen in dem Sinne, dass Ermittlungsergebnisse gewürdigt, weitergehende Schlüsse gezogen und verschiedene Vorfälle zu guter Letzt als Verfassungsverletzungen „verurteilt“ wurden. In diesem Sinne war der Untersuchungsbericht keine wertungsfreie Zusammenstellung von Sachverhalten, sondern eindeutig eine Vorlage für ein Misstrauensvotum gegen die in diesen Tagen alles andere als populäre Regierung Bismarck.768 Durch die Publikation in den Parlamentsdrucksachen fanden Tatsachen und Anklagen ihren Weg in die Öffentlichkeit und trugen damit zur Erhitzung der Gemüter sowie zur gesellschaftlichen Lagerbildung bei. d) Zeugenvernehmungen Den bedeutendsten Beitrag zur Fortentwicklung von Art.  82 PrVerf  1850 zu einem „echten“ Untersuchungsrecht leisteten die Zeugenvernehmungen der Kommission, die man teils nach dem Vorbild der Schweidnitzer Untersuchungsdeputation von 1848 selbst durchführte, teils durch ersuchte Gerichte erledigen ließ. aa) Selbständige Vernehmungen durch die Kommission So entschieden die Abgeordneten, „[z]u ihrer Information“ über das Vorgehen des Landrats v. Gayl, der „besonders die Schulzen und andere Kommunal-Beamten […] zu konservativen Wahlen zu bestimmen versucht“ hatte, „einen Schulzen und Leh 767

s. etwa 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. b) bb), cc) und c) aa) (1). Zur Lage des Ministeriums s. E. Kolb, Bismarck, 2009, S. 55, 58 f. oder zeitgenössisch L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 594. Zitate aus altliberaler und Fortschrittspresse bei W. Müller, Bismarck, 1881, S. 68 f. 768

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rer persönlich zu vernehmen“, „um durch Zeugen den Beweis für ungesetzliche Wahlbeeinflussungen zu führen“. Darauf wurden der Lehrer Emil Bergemann aus Steglitz und der Schulze Johann Stoof aus Glasow drei Tage vor dem Vernehmungstermin „vorgeladen“; beide Auskunftspersonen kamen dieser Ladung trotz der ministeriellen Weisung, nicht mit dem Abgeordnetenhaus zu kooperieren, nach und machten „vor der versammelten Kommission ihre Aussagen mit der Versicherung, dieselben eidlich bekräftigen zu wollen“. Das Protokoll vom 9. Januar 1864 gibt näheren Aufschluss über das Vorgehen des Kommissionsvorsitzenden und Breslauer Kreisgerichtsdirektors Ernst ­Wachler: Nachdem er die Zeugen „zur Wahrheit vermahnt, und mit dem Gegenstande ihrer Vernehmung bekannt gemacht“ hatte, wurden sie „einzeln“ vernommen. Den Aussagen zur Sache gingen Erklärungen zu Person, Alter und Konfession voraus. Auf die „allgemeinen Zeugenfragen“ sowie die „übrigen Glaubwürdigkeitsfragen“ folgte eine zusammenhängende und anscheinend weitgehend wörtlich aufgezeichnete Schilderung. Abschließend beteuerten die Zeugen, ihre Aussagen „auf Erfordern“ beeiden zu wollen. Die Vernehmungsprotokolle schlossen mit dem Vermerk „v. g. v.“ und der Unterschrift des Zeugen.769 Auch den Oberlehrer Dr. phil. Heinrich Schneider, der seine Stelle am Königlichen Gymnasium zu Brieg verloren hatte, „weil er einen von der liberalen Partei ausgegangenen Wahlaufruf mit unterzeichnet hatte“, beschloss man, persönlich zu vernehmen. Zu diesem Zweck wurde ein „Termin […] vor der versammelten Kommission angesetzt“ und der Zeuge – anscheinend wieder unmittelbar und ohne Vermittlung staatlicher Stellen  – „zu seiner Vernehmung vorgeladen“. Aus dem ausführlichen Protokoll des Schriftführers und Kreisrichters Ludolf Parisius geht hervor, dass Ernst Wachler auch diesen Zeugen „zur Wahrheit vermahnt[e] und mit dem Gegenstande seiner Vernehmung bekannt“ machte. Wieder folgten auf die persönlichen Angaben die „allgemeinen Glaubwürdigkeitsfragen“, bevor sich der Oberlehrer Schneider zur Sache einließ. Außerdem legte er, unter „dem Beding der späteren Zurückgabe“, ein Protokoll über seine verantwortliche Vernehmung durch den Direktor Guttmann sowie einen „Bescheid des Königlichen Povinzial-Schulkollegiums“ vor. „Durch den Spezial-Referenten [Karl Wilhelm] Laßwitz wurde dem Zeugen die bei den Akten befindliche Druckschrift“, ein Wahlaufruf, präsentiert, den dieser als Stein des Anstoßes identifizierte. Desgleichen wurde ihm „[d]as an den Stadtrath Wechmann gerichtete, bei den Akten befindliche Reskript vom 24. Oktober 1863 […] vorgelegt“, durch das diesem ebenfalls ein Verweis erteilt worden war. „Auf Befragen erklärte [der] Zeuge noch“, dass auch verschiedene Gerichtsschulzen „wiederholentlich verwarnt“ worden waren; ein anderer, der den Aufruf unterzeichnet hatte, war „abgesetzt“ worden. Nach der Erklärung des Zeugen, „auf Erfordern den Zeugeneid abzuleisten“, endete das Vernehmungsprotokoll mit dem Vermerk „[v]orgelegt, genehmigt, vollzogen“ sowie den Unterschriften des Zeugen, des Kommissionsvorsitzenden und 769

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 620 f.

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des Schriftführers. Die Kommission ging auf dieser Grundlage von einem „hervorragenden Fall gesetzwidriger Beeinträchtigung der Wahlfreiheit“ aus und fällte damit erneut ein Werturteil über die erhobenen Tatsachen.770 In vergleichbarer Weise wurde ein weiterer Zeuge zu einem Berliner Sach­ verhalt vernommen. Der als Hilfsaufseher in einer Stadtvogtei-Gefangenenanstalt beschäftigte Landwehrunteroffizier Eduard Ludwig hatte laut seines Zeugnisses gekündigt, „weil [er geglaubt habe…], der höherer Stelle und unter Hinweis auf den von ihnen geleisteten Eid den Beamten ertheilten Weisung, ihre Stimmen als Urwähler nur solchen Personen zu geben, von denen die Regierung Sr. Majestät des Königs eine Unterstützung zu gewärtigen habe, nach seiner politischen Ansicht und Ueberzeugung eine Folge nicht geben zu können“. „Die Kommission beschloß die Vernehmung des Entlassenen, besonders um Auskunft zu erhalten, wie es sich mit der Angabe verhalte, daß die Entlassung […] auf seinen eigenen Antrag erfolgt sei“. – Aus dem Vernehmungsprotokoll geht hervor, dass die Kommission Eduard Ludwig „zu seiner Vernehmung vorgeladen“ hatte. Wieder wurde der Zeuge „von dem Vorsitzenden zur Wahrheit vermahnt und mit dem Gegenstande seiner Vernehmung bekannt gemacht“, erklärte sich anschließend zur Person, berichtete, „gegenwärtig Hülfsdiener bei der Stadtverordneten-Versammlung“ zu sein, und „vernein[t]e die sonstigen allgemeinen Glaubwürdigkeitsfragen“. Nach der Vernehmung erklärte er sich „auf Erfordern bereit[,] den Zeugeneid zu leisten“. Das Protokoll endete mit dem bekannten Vermerk „v. g. v.“ und den Unterschriften. – Aufgrund der Aussage urteilte die Kommission, dass Eduard Ludwig zwar „auf […] eigenen Antrag“ entlassen, er dazu aber „durch die Zumuthungen veranlaßt worden [sei], welche seine vorgesetzte Dienstbehörde bei der Ausübung seines Wahlrechts an ihn gerichtet“ habe. Bei dieser Verurteilung eines Einzel­falles blieben die Abgeordneten aber nicht stehen, sondern qualifizierten den Vorfall als evidentes Beispiel, „welche Wirkungen der Wahlerlaß des Ministers des Innern hervorgebracht“ habe.771 Bei diesen Zeugenvernehmungen orientierte sich die Kommission wie schon die Schweidnitzer Untersuchungsdeputation der revolutionären Vereinbarungsversammlung772 an den Regeln des preußischen Prozessrechts: § 309 Pr­KrimO 1805 gestattete eine „Zeugenvernehmung […] in jedem Zeitpunkte der Untersuchung […], sobald der Richter die begründete Hoffnung hat[te], dadurch der Wahrheit näher zu kommen“. Gemäß § 317 Pr­KrimO 1805 war jeder Zeuge vor seiner Vernehmung „ernstlich“ zu erinnern, „auf alles, worüber er gefragt“ werden sollte, „die reine Wahrheit nach seiner besten Wissenschaft anzugeben“; entsprechend verfuhr man bei der Wahlmanipulationsuntersuchung. Auch lenkte der Kommissionsvorsitzende analog § 319 Pr­KrimO 1805 die „Vernehmung […] zuvörderst auf die persönlichen Umstände der Zeugen“ und die allgemeinen Glaubwürdigkeitsfragen, 770

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 636 ff. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 639 f. 772 s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 4. b) und 5. 771

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forderte anschließend die im Gesetz vorgesehene „umständliche und zusammenhängende Erzählung der Thatsache“, ließ die Aussagen „getreu und vollständig, auch so viel als möglich mit des Zeugen eigenen Worten in der ersten Person“ aufnehmen und befragte diesen schließlich im Sinne von § 330 Pr­KrimO 1805, „ob das, was niedergeschrieben [worden war…], wirklich seine Aussage und Meinung sei“. Ganz ähnliche Regelungen sahen die §§ 188 ff. Teil I Tit. 10 Pr­Allg­GO 1815 für den Zivilprozess vor. Keine Anwendung konnten – Peter Reichensperger hatte hierauf in der Einsetzungsdebatte hingewiesen – die Vorschriften über Pflicht und Zwang finden,773 obwohl die Kommission im Vorfeld versucht hatte, die Pflicht jedes Staatsbürgers und der Beamten „[a]us der Natur des Staates“ abzuleiten.774 Es scheint trotz dieses engagierten Vorstoßes unbestritten gewesen zu sein, dass keine Vereidigung in Betracht kam. Als blasses Substitut versicherten die Zeugen jeweils ihre Bereitschaft, ihre Aussagen auf „Erfordern“ zu beeiden; freilich konnte die Untersuchungskommission dieses Versprechen von Rechts wegen nicht einfordern, weil ihr schlicht die erforderliche Kompetenz fehlte. bb) Gerichtliche Vernehmungen auf Ersuchen Das Abgeordnetenhaus hörte nicht nur selbst Zeugen, sondern requirierte auch auswärtige Gerichte um Vernehmungen. Es war nicht die erste Gelegenheit, bei der die Volksvertretung im weitesten Sinne zur „Ermittlung“ eines Sachverhalts auf gerichtliche Hilfe zurückgriff. Unter weniger brisanten Umständen veranlasste das Abgeordnetenhaus im Frühjahr 1862 über die Wahl des Freigärtners R ­ ygulla im sechsten Oppelner Bezirk sowie über die Nachwahl des Gegenkandidaten, des Landrats Stanislaus v. Seherr-Thoß, zunächst eine Untersuchung durch den Wahlkommissar Landrat v. Richthofen, ob der Fürst v. Pleß, ein einflussreicher Großgrundbesitzer, versucht habe, die Wahlen zu beeinflussen. Weil der ersuchte Freiherr anstelle der in den Wahlprotesten angeführten Zeugen andere Personen und den beschuldigten Fürsten selbst befragt hatte, forderte die sechste Abteilung eine weitere „Untersuchung durch eidliche Vernehmung der vorgeschlagenen Zeugen durch die Richter“. Obwohl der Abteilungsberichterstatter, Kreisrichter Otto ­Forstmann, protestierte, dass „[f]ür eine solche Art und Weise der Untersu­ chung […] in diesem Hause kein Präcedenzfall vor[liege]“, drehte sich die Debatte 773 § 311 Pr­KrimO 1805 bestimmte, dass „[j]edermann im Staate, ohne Unterschied des Standes, […] schuldig [sei], sich als Zeuge vernehmen zu lassen, und nach Aufforderung des untersuchenden Richters zu erscheinen, wenn er auch einem andern persönlichen Gerichtsstande unterworfen“ wäre. § 310 Pr­KrimO 1805 gestattete überdies die Bestrafung säumiger Zeugen „durch Auflegung der Kosten des dadurch vereitelten Termins, oder durch Ordnungsstrafen“. Die Gerichtsordnung von 1815 sah neben einer „Gefängniß- oder Geldstrafe“, um den widerspenstigen Zeugen „zur Erfüllung dieser Bürgerpflicht anzuhalten“ (§ 184 Pr­Allg­GO  1815), einen umfangreichen Schadenersatzanspruch der unterlegenen Partei vor, zu deren Gunsten unterstellt werden sollte, dass der Zeuge „dasjenige wirklich ausgesagt habe, worüber sein Zeugniß von der Partei verlangt worden“ sei (§ 186 Pr­Allg­GO 1815). 774 s. 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. a).

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fast ausschließlich um die Gültigkeit der Wahl.775 Zu der „Berechtigung“ des Abgeordnetenhauses, „die eidliche Vernehmung von Zeugen durch eine richterliche Person zu verlangen“, nahm nur Franz Rudolf Wachsmuth Stellung. Der Kreisgerichtsrat führte den allgemeinen Grundsatz ins Feld, dass „[w]er das größere Recht [besitze…] unstreitig auch das geringere“ habe; gegenüber der unstreitigen Befugnis der Kammer, gemäß Art. 82 PrVerf 1850 eine „Commission zur Untersuchung dieser Thatsachen niederzusetzen“, sei es das in diesem Sinne „geringere Recht“, – wie überhaupt in der Verwaltung üblich – „die Thatsachen durch eine richterliche Person untersuchen zu lassen“.776 Tatsächlich fasste das Plenum den Beschluss, „daß die vorgedachten Zeugen eidlich durch den Richter vernommen werden soll[t]en“. Anschließend wurde die Requisition auf Veranlassung des Präsidenten des Abgeordnetenhauses Wilhelm Grabow „durch Vermittlung des Herrn Ministers des Innern“ bewirkt.777 Mitte April 1863 wurde die Wahl, nachdem Berichterstatter Otto Forstmann die eidlichen Zeugenaussagen vor dem Kreisgericht zu Pleß verlesen hatte, „mit großer Majorität für ungültig erklärt“.778 In ähnlicher Weise hatte das Plenum auch dieses Mal in den Wahlprüfungen, die der Manipulationsuntersuchung vorausgegangen waren, wegen einer „Reihe erheblicher Unregelmäßigkeiten“ im Regierungsbezirk Oppeln „Ermittelungen umfassender Art“ verlangt. U. a. hatte ein Landrat gegenüber einer „armen Gemeinde“ für den Fall der Wahl oppositioneller Wahlmänner mit „pekuniäre[n] Nachtheile[n]“ gedroht. Angesichts des Widerstands des Staatsministeriums gegen jede Aufklärung entschied die Untersuchungskommission, ohne Umschweife „Beweis durch Vernehmung von Zeugen zu erheben“. Auf ihre unmittelbare779 „Requisition“ vernahm das Königliche Kreisgericht zu Falkenberg am Sylvestertag 1863 den königlichen Rittmeister a. D. Reuß sowie den Wirtschaftsinspektor und Polizeiverwalter Rischer. Anders als 1862 blieben die Zeugen unbeeidet. Die Kommission urteilte aufgrund der in dem Bericht teils wörtlich wiedergegebenen Aussagen, die beide Zeugen „auf Erfordern […] beschwören“ wollten, dass der Landrat nicht nur „ganz direkte gesetzwidrige Wahlbeeinflussung und Verkümmerung des jedem Preußen verfassungsmäßig zustehenden freien Wahlrechtes“ versucht, sondern ein Verhalten an den Tag gelegt hatte, das „füglich zum Gegenstand einer Kriminal-Untersuchung […] gemacht werden müßte“.780 775

VerhPrAbgH VII/2 (1863), S. 140 ff. VerhPrAbgH VII/2 (1863), S. 145. 777 VerhPrAbgH VII/2 (1863), S. 146 (Hervorhebung nur hier). 778 VerhPrAbgH VII/2 (1863), S. 835, 843. 779 In diesem Sinne erklärte der linke Zentrumspolitiker und Breslauer Kreisgerichtsdirektor Ernst Wachler aus Anlass der Laubaner Petitionen, dass die Kommission nach dem Koopera­ tionsverbot des Innenministers versucht habe, „dennoch zur erforderlichen Information [zu] kommen“. „[N]achdem auch noch auf besondere Anfrage der Herr Vertreter des Staats-Ministerii erklärt [habe…], das Staatsministerium sei nicht bereit, […] Requisitionen […] an die betreffenden Behörden zu befördern“, habe man „unmittelbare Requisitionen […] erlassen“ müssen, denen die „Gerichtsbehörden in den meisten Fällen entsprochen“ hätten (VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 1004). 780 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 617 f. 776

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Von einem Abgeordneten aus dem Wahlkreis Görlitz-Lauban erfuhr die Kommission von einem Beeinflussungsversuch durch den Oberregierungsrat v. ­Wegern, der in der niederschlesischen Stadt Lauban, dem heutigen Lubań, den Magistratsmitgliedern mit Disziplinarmaßnahmen gedroht hatte, sollten die Wahlen nicht „im regierungsfreundlichen Sinne“ ausfallen oder es gar zur „Wiederwahl der früheren Abgeordneten“ kommen. Über diesen Sachverhalt wurden auf Ersuchen der Untersuchungskommission die unbesoldeten Ratsherren Böttcher, Schirach und Adolph Weinert durch das Königliche Kreisgericht vernommen. Aufgrund der „übereinstimmenden, wenngleich nicht beeideten Zeugnisse von drei geachteten, durch das Vertrauen ihrer Mitbürger zu Magistrats-Mitgliedern gewählten Männern“ hielt die Kommission eine „gesetzwidrige Wahlbeeinflussung, eine Verkümmerung des Jedem, auch dem mittelbaren Staatsbeamten zustehenden freien Wahlrechts“ für erwiesen.781 Für die vernommenen Magistratsmitglieder hatte diese Kooperationsbereitschaft noch ein Nachspiel: Im Frühjahr 1865 befasste sich das Abgeordnetenhaus mit Beschwerden der Zeugen Schirach und Weinert, die u. a. dazu verantwortlich vernommen worden waren, ob ihnen die Verfügung der Regierung vom 18. Oktober 1863, „worin dieselbe untersagt [habe], der Requisition der UntersuchungsKommission des Hauses der Abgeordneten Folge zu leisten“, nicht bekannt gewesen wäre; andernfalls sollten sie sich erklären, warum sie dieser zuwidergehandelt hätten. Bemerkenswert ist, dass sich die Laubaner Magistratsmitglieder zu ihrer Verteidigung auf die §§ 183 f. Teil I Tit. 10 Pr­Allg­GO 1815 beriefen, die als Beugemittel gegen widerspenstige Zeugen Geldstrafen vorsahen.782 Die Königliche Regierung zu Liegnitz erwiderte auf diesen Einwand, dass die „genannten Ratsherren zwar gehalten [gewesen seien…], der Seitens des Gerichts an sie ergangenen Vorladung an sich Folge zu geben“; „auf der anderen Seite [habe] selbstverständlich ihre Amtspflicht geboten, angesichts des ergangenen Verbots und unter Berufung auf dasselbe in dem Termine jede Auslassung über die ihnen […] vorgelegten Fragen zu verweigern, auch von ihrer Vorladung dem Magistrat zur weiteren Berichterstattung [an die Regierung] Anzeige zu machen“. Weil sie „unter völliger Nichtbeachtung der ihnen gewordenen amtlichen Weisungen ihre Aussage dem Richter zu Protokoll gegeben“ hätten, wurde ihnen „für diese Pflichtwidrigkeit ein strenger Verweis ertheilt“.783 Gegen diese Verfügung, durch die sie „in ‚ihren Rechten und Pflichten‘ beeinträchtigt“ würden, remonstrierten die Betroffenen an die König­ liche Regierung. Sie beriefen sich darauf, „daß nach §. 312. Tit. II. der KriminalOrdnung das […] Königliche Kreisgericht Recht und Mittel [gehabt habe, sie…] zu genügenden Auslassungen über jenen Vorfall zu zwingen“. Beiläufig führten die drei Zeugen ausgerechnet die Entscheidung des Obertribunals gegen den Redakteur Otto Hagen an, der als Zeuge in Beugehaft genommen worden war, weil er sich geweigert hatte, die Quelle eines in der Insterburger Zeitung erschienenen 781

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 618 f. SlgDrsPrAbgH VIII/2 (1865), Nr. 57, S. 16. 783 SlgDrsPrAbgH VIII/2 (1865), Nr. 57, S. 17. 782

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Beitrags über militärische Angelegenheiten zu offenbaren; der frappierend an die 100 Jahre jüngere Spiegel-Affäre erinnernde Vorfall wurde zur Machtprobe im Zeichen der Pressefreiheit.784 Das Gesuch der drei Ratsherrn an das Abgeordnetenhaus endete mit dem provozierenden Bekenntnis, dass ihnen „nicht gegenwärtig [gewesen wäre], daß die hohe Königliche Regierung vermöchte, [sie…] gegen die bestehenden Gesetze und Verfügungen der Gerichtsbehörden in Schutz zu nehmen“.785 Dass sich andere potentielle Zeugen den Wünschen der Regierung beugten, zeigt ein anderer Fall: Im Regierungsbezirk Liegnitz hatte der Landrat v. Grävenitz den 73-jährigen Magistratsdiener Carl Caspar einbestellt und ihm wegen seiner Stimmabgabe in den Urwahlen „sehr bittere Verweise“ erteilt. „Obwohl diese Thatsache auf Grund einer brieflichen Mittheilung eines sehr zuverlässigen Wahlmannes von dem Herrn Abgeordneten Großmann zur Kenntniß der Kommission gebracht worden war, […] requirirte [man…] unterm 16. Dezember 1863 die Königliche Kreisgerichts-Kommission zu Schmiedeberg um diese Vernehmung“. Der Zeuge Caspar erschien zwar vor Gericht, „erklärte jedoch“ – wie von den Laubaner Magistratsmitgliedern erwartet –, dass er „jede Auslassung über den Gegenstand der Requisition der Untersuchungs-Kommission […] verweigern [müsse], weil [er…], gleich allen übrigen hiesigen städtischen Beamten durch Reskript der Königlichen Re­ gierung zu Liegnitz angewiesen worden [sei…], jede Auskunft auf dergleichen Requisitionen abzulehnen“. Die Untersuchungskommission nahm „von weiteren Ermittelungen Abstand“, wertete diese Einlassung aber als „indirekte Bestätigung“ für die „offenbare gesetzwidrige Verfolgung eines Urwählers“. Die Abgeordneten hielten das getane Unrecht für „um so schreiender“, weil man „einen alten […] Vete­ranen“ der Völkerschlacht gezwungen habe, „in schlechter Jahreszeit einen Weg von zwei Meilen zu machen“.786 Wie in ihrem Vorbericht angekündigt, berühmte sich die Kommission eines Requisitionsrechts gegenüber den Gerichten, das sie unmittelbar aus Art. 82 PrVerf 1850 bzw. ihrer Stellung als „Staats-Behörde und […] Untersuchungs-Behörde“787 ableitete. Auf diesem Fundament orientierte man sich erneut an den geltenden Gesetzen: § 315 Pr­KrimO 1805 gestattete Vernehmungen „anderweit zu bewirken“, wenn sie wegen Krankheit, Altersschwäche, großer Entfernung oder aus anderen zwingenden Gründen nicht durch das jeweilige Gericht selbst erfolgen konnten; 784 s. den kurzen Bericht und Spendenaufruf im Beiblatt der National-Zeitung, Nr. 340, vom 25. Juli 1862. Abdruck der Beschwerde an das Obertribunal im Beiblatt, Nr. 498, vom 25. Oktober 1862. 785 Trotz dieser Einwendungen blieb es bei dem Verweis (SlgDrsPrAbgH VIII/2 (1865), Nr. 57, S. 18 f.). Das Abgeordnetenhaus nahm die Sache 1865 im zweiten Anlauf zum Anlass, nicht nur die Aufhebung der Diziplinarverfügung zu verlangen, sondern auch die Weisung des Ministeriums Bismarck, nicht mit der Untersuchungskommission zusammenzuarbeiten, als Verletzung des Art. 82 PrVerf 1850 zu brandmarken. s. SlgDrsPrAbgH VIII/2 (1865), Nr. 57, S. 14 ff., die Debatten vom 6. April und 14. Juni 1865 sowie den Beschluss, VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S.1002 ff., 1017 ff. und VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 2167 ff. 786 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 629. 787 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 551.

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„in diesen Fällen [war…] das Vernehmungsprotokoll bei dem mündlichen Verfahren vorzulesen“.788 Dementsprechend ließen die §§ 216 ff. Teil  I Tit.  10 Pr­Allg­ GO 1815 die Requisition anderer Gerichte als Ausnahme von dem Grundsatz zu, „daß die in einer Sache vorgeschlagenen Zeugen sich vor dem Deputirten, welcher die ganze Instruktion789 besorgt[e], persönlich [zu] stellen“ hatten. Ein entsprechendes Ersuchen kam gemäß § 217 Teil I Tit. 10 Pr­Allg­GO 1815 in Betracht, „[w]enn […] ein auswärtiger Zeuge, wegen allzu weiter Entfernung oder persönlicher Ehehaften790, sich vor dem instruirenden Gerichte zu stellen verhindert wäre“. Dass verschiedene Gerichte den Ersuchen der Untersuchungskommission trotz des ministeriellen Widerstands Folge leisteten, beweist, wie nahe Teile der Richterschaft der liberalen Opposition standen. Mit ihren erfolgreichen Requisitionen betrat die Kommission selbst gegenüber der eindruckvollen Schweidnitzer Untersuchung der Vereinbarungsversammlung enquête- und untersuchungsrechtliches Neuland. Zum ersten Mal in der Geschichte des parlamentarischen Selbstinformationsrechts kamen Anflüge von Pflicht und Zwang ins Spiel. Indem sich die offenkundig oppositionellen ­Laubaner Ratsherren gegenüber der Königlichen Regierung zu Liegnitz auf ihre straf­bewehrte Zeugenpflicht nach der Kriminalordnung beriefen, schrieben sie den im Auftrag der Kommission tätigen Gerichten gewissermaßen schon Befugnisse zu, wie sie positiv-rechtlich zum ersten Mal in Art.  34 Satz  3 RVerf  1919 niedergelegt werden sollten. Ganz in diesem Sinne urteilte der Land- und Stadtgerichtsrat und Fortschrittspolitiker Hermann Adolf Immermann 1865 in der Debatte über die Laubaner Petitionen, „daß [die…] Bestimmungen der Kriminal-Ordnung Platz [gegriffen hätten…], da der Untersuchungsrichter des Kreisgerichts […] in Funktion“ getreten sei; weil andernfalls die Allgemeine Gerichtsordnung eingegriffen hätte, stehe die „Verpflichtung“ der Zeugen Schirach und Weinert, „sich vernehmen zu lassen“, jedenfalls „ganz unwiderleglich“ fest.791 Selbst die Königliche Regierung zu Liegnitz erkannte die Autorität der Gerichte ein Stück weit an, indem sie den Laubaner Magistratsmitgliedern zugestand, dass sie der Vorladung an sich Folge leisten mussten. Das Widersinnige des trotzdem erhobenen Vorwurfs, dass sie dann aber pflichtwidrig nicht geschwiegen hätten, brachten die Beschwerde­führer treffend auf den Punkt. Ungeachtet dessen ähnelte die Position der Regierung etwas der heutigen Rechtslage, dass ein Beamter zwar vor einem Untersuchungsausschuss erscheinen muss, ohne Aussagegenehmigung aber keine Angaben machen darf.792 788 Entsprechend weite Auslegung des dem Wortlaut nach engeren § 315 Pr­KrimO 1805 bei A. Frantz, PrStPr2 1855, S. 85 f. Die Vorschrift selbst lautete: „Dem vernünftigen Ermessen des Richters wird es überlassen, in wie fern Personen, die als Zeugen vernommen werden sollen, wegen ihres hohen Ranges, wegen Alters oder Krankheit mit der Erscheinung vor dem Inquirenten zu verschonen, und in ihren Behausungen abzuhören sind.“ 789 Zu dem genuin prozessrechtlichen Begriff der „Instruktion“ s. Fn. 480. 790 Persönliche Verhinderungsgründe wie Krankheit etc. 791 VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 1048. 792 s. dazu M. Roßbach, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, § 20 Rn. 22 sowie C. v. Cossel, a. a. O., § 23 Rn. 3, 24.

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e) Missbilligung der Regierungsobstruktion Als die vage Drohung des Innenministers Friedrich Albert zu Eulenburg, „daß diese Kommission, die gegen den Willen der Regierung eingesetzt [worden sei…], sich [k]eines breiten Entgegenkommens […] erfreuen“ werde,793 rigoros in die Tat umgesetzt wurde, holte die Untersuchungskommission zum parlamentarischen Gegenschlag aus: Weil nicht einmal ein Regierungskommissar zu den Beratungen abgeordnet wurde, kam die Forderung auf, es durch eine Plenarresolution als „verfassungswidrig“ zu verurteilen, „wenn verschiedene Ressort-Minister nicht nur selbst es abgelehnt [hätten…], den Requisitionen der […] auf Grund des Art. 82. der Verfassung eingesetzten Kommission Folge zu leisten, sondern auch an die ihnen untergeordneten Behörden und Beamten die Weisung erlassen [hätten…], sich der Erledigung an sie ergehender Aufforderungen […] zu enthalten“. Eine besondere Provokation des Ministeriums Bismarck musste es bedeuten, dass weiterhin ausgesprochen werden sollte, dass „[s]olche gegen den Inhalt der Verfassung von der Staats-Regierung an ihre untergebenen Behörden und Beamten ergan­ genen Weisungen […] für die Letzteren, welche die Verfassung gewissenhaft zu beobachten eidlich angelobt [hätten …], rechtsunverbindlich“ wären.794 Eine derartige parlamentarische Kassation einer ministeriellen Anordnung wäre auf eine direkte Einmischung in die Exekutive und damit auf eine ungeheure Kampfansage an das Gouvernement hinausgelaufen. In konservativen Kreisen mussten solche Forderungen ernsthafte Sorgen vor einem parlamentarischen Regiment bzw. einer Konventsherrschaft wecken. Staatsstreichgedanken lagen in einer solchen Lage nicht mehr fern. Nach dieser öffentlichkeitswirksamen Drohung ließ sich das Ministerium endlich dazu herab, einen Vertreter in die Kommissionsverhandlungen zu entsenden, der freimütig erklärte, dass die Regierung nicht nur mit der Weigerung einzelner Minister „einverstanden“ sei, sondern ausdrücklich beschlossen habe, „daß die Verwaltungs-Behörden und Beamte den Requisitionen der Kommission selbstständig keine Folge geben soll[t]en“.795 Ebenso wenig sei man zu einer „Vermitte­ lung von Requisitionen“ bereit. Die Kommissionsbefugnisse radizierte der Regierungskommissar auf den für gewöhnliche Vorberatungskommissionen gültigen Kreis.796 Abschließend warnte er die Abgeordneten davor, die umstrittenen Weisungen als „rechtsunverbindlich“ zu brandmarken, weil allein das Ministerium die Verfassungsmäßigkeit seiner Weisungen zu beurteilen habe. Das Abgeordnetenhaus nehme besser „von einer Erklärung Abstand  […], in welcher die Tendenz 793

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 178. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 555. 795 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 555. H. Schulthess, Geschichtskalender 1864, 1865, S. 159 berichtet, dass ein Regierungskommissar Anfang Januar 1864 offen erklärte, dass „das Verbot der einzelnen Minister an die […] Beamteten, den Requisitionen des Ausschusses keine Folge zu geben, […] auf einem Beschlusse des Gesammtministeriums“ beruhe. 796 Vgl. 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. e). 794

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zum Umsturz der bestehenden Staats-Ordnung enthalten sei“. Freilich befürchte man von einem derartigen parlamentarischen Verdikt ohnehin keine „bedenkliche praktische Wirkung“ auf Beamte oder Behörden.797 Ungeachtet dieser ministeriellen Einschüchterungsversuche verteidigte die Kommission ihre besondere Stellung und Befugnis. Für das Recht des Abgeordne­ tenhauses, in einer Resolution „seine Meinung über die Rechtsverbindlichkeit ministerieller Anordnungen auszusprechen“, zog sie die Befugnis heran, „sogar die Rechtsgültigkeit königlicher Verordnungen nach Art. 106. der Verfassung [zu] prüfen“.798 Trotz verschiedener Bedenken, dass die Beamten, da sie „zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet“ seien, nicht zur „Prüfung der Rechtsverbindlichkeit von höheren Behörden erlassener Verfügungen“ imstande wären, kristallisierte sich der Resolutionsantrag heraus, dass die „im Einverständnisse mit dem Staats-­Minis­ te­rium erfolgte Weigerung des Ministers des Innern, des Ministers für Handel und des Ministers für geistliche Angelegenheiten, den Requisitionen der Kommission […] zu entsprechen, […] Art. 82. der Verfassungs-Urkunde“ verletze.799 Die durch den Regierungskommissar gezogene „rote Linie“, sich keinesfalls über die Rechtsverbindlichkeit der Ministerialreskripte auszusprechen, blieb also unversehrt. Wenigstens behielt man sich das Recht vor, das Staatsministerium „wegen Verfassungs-Verletzung in Anklagezustand“ zu versetzen, weil es „zum Ungehorsam gegen die rechtmäßigen Anforderungen der […] laut Art. 82. […] eingesetzten Untersuchungs-Kommission“ aufgerufen habe.800 Obwohl es sich bei dieser Forderung um eine zahnlose Drohung handelte – zu Recht war moniert worden, „daß vor dem Erlasse der näheren Bestimmungen […] eine Minister-Anklage […] sich von selbst ausschließe“,801 – unterbreitete die Kommission dem Plenum damit einen eindeutigen Missbilligungsantrag bzw. ein Misstrauensvotum. f) Zwischenergebnis Dem verbreiteten Verdikt zuwider, das Ministerium Bismarck habe jede eingehende Untersuchung seiner Wahlmachinationen vereiteln können,802 gelang es dem Abgeordnetenhaus, Licht in die skandalösen Vorgänge bei den Oktoberwahlen zu bringen. Zu diesem Zweck beschränkte sich die von der liberalen Mehrheitsopposition eingesetzte Untersuchungskommission nicht auf althergebrachte Mittel wie form 797

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 556. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 557. 799 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 558. 800 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 556. 801 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 90, S. 558. Ohne Ausführungsgesetz besaß eine Verfassungsnorm über die Ministerverantwortlichkeit nach H. Zoepfl, StaatsR2 1841, S. 170 keine „practische Bedeutung“. s. auch H. A. Zachariä, StaatsR I2 1853, S. 274 f. und Anm. 8. 802 s. 5. Teil 3. Kap. C. III. 1. 798

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lose Anfragen, Interpellationen oder Anträge. Unbeeindruckt von gouvernementalen Einwänden und Obstruktion griffen die Abgeordneten auf allgemein verfügbares Material zurück, informierten sich durch Angaben aus ihrer Mitte, aus Zuschriften Betroffener oder durchgestochenen Verwaltungsunterlagen, vernahmen eigenständig Zeugen oder requirierten die Gerichte zu entsprechenden Diensten. Nimmt man die erfolglosen Ersuchen an die Ministerien oder nachgeordnete Stellen hinzu, schöpfte die Kommission im wesentlichen den gesamten Kanon heutiger Untersuchungsmittel aus. Während die Beweisaufnahme durch Urkunden und andere sächliche Beweismittel formlos vonstatten ging, orientierte man sich bei Zeugenvernehmungen und Requisitionen an den Regeln des geltenden Prozessrechts. Zum ersten Mal in der deutschen Parlamentsgeschichte berühmte sich eine parlamentarische Kommission damit eines modernen politischen Untersuchungsrechts auf verfassungsrechtlicher Grundlage – und hatte mit diesem ungeheuren Unterfangen Erfolg. Das parlamentarische Selbstbewusstsein des Abgeordnetenhauses spiegelt sich in dem einleitenden Zitat des Abgeordneten Richard Eduard John aus der Laubaner Petitionsdebatte wider, dass die Kammer „nach der Verfassungs-Urkunde durch Art. 82. das Recht [erhalten habe], in jeder Beziehung die Staats-Regierung zu kontrolliren darüber, ob sie den Gesetzen gemäß“ regiere.803 Indem die Kommission nicht bei einer Sammlung unbewerteter Tatsachen stehen blieb, sondern Zusammenhänge herstellte und das sich bietende Bild der ministeriellen Wahlmanipulationstaktik ausdrücklich als verfassungswidrig verurteilte, brach sie mit der restriktiven Interpretation, die gouvernementale Kammermehrheiten dem Art. 82 PrVerf 1850 in der Ära Manteuffel angetan hatten. Auf diese Weise verschmolz das in früheren Tagen eher sachbezogene parlamentarische Selbstinformationsrecht mit dem Wächteramt der konstitutionellen Volksvertretung zu einem „echten“ Untersuchungsrecht moderner Prägung. Die aus heutiger Sicht desperaten Bemühungen des Staatsministeriums, die Kommissionsbefugnisse mit Hilfe der Art. 45 und 81 PrVerf 1850 nach älterem Schema zu beschränken, scheiterten kapital. Versuche, die Publikation des blamablen Untersuchungsberichts zu verhindern, wurden gar nicht erst unternommen. Grundlage des parlamentarischen Erfolges waren das moderne Selbstverständnis des mehrheitsoppositionellen Abgeordnetenhauses als „Hüter der Verfassung“ sowie sein Rückhalt in der politischen Bevölkerung. Vollkommen zu Recht urteilte der Fortschrittspolitiker Louis Constanz Berger später, dass „[n]iemals, weder vor noch nach dem Konflikt, […] eine Preußische Volksvertretung sich gleichen Vertrauens der Wählerschaft rühmen [konnte], wie jene in der höchsten Gluthitze [des…] Verfassungskampfes; niemals war die Einmütigkeit zwischen beiden inniger als während jener merkwürdigen Zeit“.804 Bezogen auf die Wahlmanipula­tions­ untersuchung zeigte sich die Richtigkeit dieser These an der mutigen Unterstüt 803

VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 1022. L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 561.

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zung der parlamentarischen Aufklärungsbemühungen durch Informanten, Zeugen und die Richter, die den Requisitionen der Kommission Folge leisteten. Mit diesem Engagement für das Wahlrecht ging ein erhebliches Risiko politischer Repressalien einher. 3. Plenardebatte und Missbilligungsbeschluss In seiner letzten Sitzung vor der plötzlichen Schließung der Session kam das Abgeordnetenhaus am 25. Januar 1864 gerade noch dazu, den ersten Vorbericht der Untersuchungskommission zu beraten. Für die Regierung war es sicherlich ein böses Omen, dass die Abgeordneten, bevor sie sich mit der kontroversen Auslegung des Art. 82 PrVerf 1850 und dem brisanten Missbilligungsantrag befassten, in namentlicher Abstimmung den Gesetzentwurf über die Wehrpflicht abgelehnt und den Beschluss des Herrenhauses, das in der Volksvertretung durchgefallene Budget gleichwohl anzunehmen, als „null und nichtig“ verurteilt hatten. Zu allem Überfluss wurde gegenüber dem Staatsministerium wegen des budgetlosen Regiments der Vorwurf des „offenen Verfassungsbruches“ laut. Die Regierung beantwortete diese Kampfansagen noch am selben Tag mit der erwähnten Ses­ sionsschließung. Nach der entsprechenden Eröffnung durch Innenminister Graf zu Eulenburg konstatierte Präsident Wilhelm Grabow unter dem Bravo der Versammlung ungerührt, dass bis zu der Schlusssitzung beider Kammern um 3 Uhr nachmittags noch genügend Zeit bleibe, um die Tagesordnung zu erledigen.805 Darauf referierte Berichterstatter Emil Senff über den ersten Bericht der Wahlmanipulationskommission und forderte, dem „sehr milden, sehr gemäßigten, […] außerordentlich beschnittenen und rücksichtsvollen“ Resolutionsantrag – gemeint war die provokante Missbilligung der Obstruktion – „ohne weitere Diskussion“ und „in möglichster Einigkeit zuzustimmen“.806 Wie nicht anders zu erwarten, sprach sich der Innenminister gegen den aus seiner Sicht „nicht […] so rücksichtsvoll[en]“ Kommissionsantrag aus. Mutmaßungen, die Regierung wolle „irgendwie That­ sachen […] den Augen der Welt, der Oeffentlichkeit […] entziehen“, wies er brüsk zurück und warf dem Abgeordnetenhaus seinerseits vor, „daß die Untersuchung, wie die Kommission sie einzuleiten versucht [habe…], nicht die verfassungsmäßige Aufgabe der Kommission sein könne“. Darüber hinaus habe die Volksvertretung die „allgemeinen Prinzipien [verletzt], unter denen Gewalten überhaupt neben einander bestehen könn[t]en“; schließlich könne sich aus Art. 82 PrVerf 1850 unter keinen Umständen irgendein Recht ergeben, „in die exekutive Gewalt einzugreifen“. Der konservative Politiker verurteilte insbesondere die Requisitionsversuche der Kommission als „so sehr gegen alle Begriffe von Beamten-Hierarchie, gegen alle Grundpfeiler [des…] staatlichen Lebens“, dass der Regierung gar keine Wahl ge 805

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 931, 938. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 938 f.

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blieben wäre.807 Um die Untersuchungskommission weiter zu delegitimieren, verwies Innenminister Eulenburg auf Belgien, „welches in seiner Verfassungs-Urkunde fast wörtlich denselben Paragraphen“ habe. Erst im Januar habe man eine „Kommission […] eingesetzt […], um Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen […] zu untersuchen“. Statt wie in Preußen auf allgemeine Behauptungen eine Kommission niederzusetzen, „welche das Material erst zusammenbringen soll[e], um hinterher dem Hause Bericht zu erstatten“, habe man ein Gesetz erlassen, das die „Kommission für diesen bestimmten Zweck“ ermächtige, „Zeugen zu vernehmen, Requisitionen zu erlassen“, um ihr die Rechte zu verleihen, „wie solche der Präsident eines ­Assisen­hofes“ habe.808 Hermann Schulze-Delitzsch zahlte dem Innenminister in gleicher Münze heim, dass man „leider in jeder Beziehung zugeben“ müsse, „daß […] der Belgische Konstitutionalismus […] ein ganz anderer sei“. Dem Vorwurf einer unzulässigen Ausforschungskommission aufs Geratewohl hielt er die Unmenge an Wahlbeschwerden entgegen; überdies habe das Ministerium in den Legitimationsprüfungen keine „besondere Bereitwilligkeit“ an den Tag gelegt, die Wahlumstände seiner parlamentarischen „Stützen“ aufzuklären.809 Der Innenminister erwiderte auf diesen Vertuschungsvorwurf, dass es bloß durch „Zweifel“ der Königlichen Regierung zu Potsdam zu Verzögerungen gekommen wäre.810 Nach dem Schluss der Debatte wurde der Kommissionsantrag mit „großer Majorität“ angenommen. Zum Ende der Session ergriff Präsident Grabow die Gelegenheit zur Abrechnung mit dem Gouvernement und mahnte Konservative wie Regierung, dass die Öffentlichkeit sehr wohl wisse, durch wessen Schuld der schwelende Verfassungskonflikt „trotz dreimaliger Neuwahl“ noch nicht beigelegt wäre. Statt den „dringend gebotene[n] Ausbau der Verfassung durch das Ministerverantwortlichkeits-Gesetz, durch Ge­mein­de-, Kreis- und Provinzial-Ordnung, das Unterrichts-Gesetz, die Gewerbe-Ordnung“ voranzutreiben, sei mit dem Ende der „Neuen Ära“ die „Reaktion wieder aufgetreten“, um den „Absolutismus zum Erben des Scheinkonstitutionalismus“ zu machen. Nach dem delikaten Appell an die „Liebe des verfassungstreuen Volkes zu seinem […] verfassungsmäßigen ­Könige“ und die „beschworene Verfassung“ wurde die Sitzung mit einem dreimaligen Hoch auf Preußen, seine „heilig gehaltene Verfassung“ und das „verfassungsgetreue Preußische Volk!“ beendet.811

807

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 939 f. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 940. 809 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 940 f. 810 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S.  941. Der Innenminister erklärte weiter, dass er die Regierung angewiesen habe, „sofort das dortige Gericht zu requiriren, um durch einen richterlichen Beamten die Vernehmung vornehmen zu lassen“. Auch habe er sie „zugleich […] angewiesen, sich streng innerhalb derjenigen Fragen zu halten, welche das Haus gestellt [habe…], da eine förmliche Untersuchung weder beantragt [sei…] noch eine solche auf das ganze Wahlverfahren gerichtet werden sollte“. Zu guter Letzt habe er die „Beschleunigung der Angelegenheit anempfohlen, habe aber bis zu diesem Augenblick noch keinen Bericht“. 811 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 941 f. 808

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III. Einordnung in die Geschichte des Untersuchungsrechts 1. Die bisherige Würdigung der Wahlmanipulationsuntersuchung Im Schrifttum wird die Wahlmanipulationsuntersuchung bis heute überwiegend unterschätzt. Schon 1864 urteilte der süddeutsche Historiker Eugen Huhn, dass das Abgeordnetenhaus zwar eine „Kommission zur Kenntnißnahme unerlaubter Wahlbeherrschung“ aufgestellt habe, der „aber die Regierung […] jeden Beistand und alle Mitwirkung der Beamten [versagt habe…], ohne welche überhaupt nicht viel zu erzielen“ gewesen wäre.812 Vor rund 100 Jahren würdigte Egon Zweig die „letzte Ausübung des parlamentarischen Enqueterechts“ als Anlass „zu einer gründlichen Erörterung der Streitfragen […], die sich an Art. 82 knüpf[t]en, […] aber heut und wohl für absehbare Zeit der Aktualität entbehr[t]en“.813 Wie wenig der Wiener Jurist von der Wahlmanipulationsuntersuchung hielt, drückte sein pauschales Urteil aus, dass es dem Ministerium Bismarck stets in derartig perfektem Maße gelungen wäre, parlamentarische Untersuchungsversuche zu unterdrücken, dass sich im Norddeutschen Bund und Kaiserreich die „Note einer gewissen Enquete­müdigkeit“ durchgesetzt habe. Die „faktische Leistung“ und „praktische Bedeutung“ des Art. 82 PrVerf 1850 schätzte er als „sehr dürftig“ ein;814 dem parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrecht attestierte er überhaupt, „daß [es…] im deutschen Boden nicht Wurzel fassen konnte“.815 Die unbestreitbaren Erfolge der Wahlmanipulationsuntersuchung, die erheblichen Befugnisse, die das Abgeordnetenhaus in Anspruch genommen hatte, oder die Fortschritte, die es in der Zuspitzung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts zu einem wirkungsvollen Kontrollinstrument errungen hatte, blieben gänzlich unerwähnt. Zwölf Jahre später stellte Karl Heck u. a. mit Blick auf die „Untersuchungskommission zur Prüfung des Verhaltens der Behörden in Wahlangelegenheiten“ fest, „daß […] der preußische Landtag gegenüber der mächtigeren Regierung sein verfassungsmäßig zugesichertes Recht nicht durchzusetzen“ vermocht habe. Vielmehr habe das Ministerium eine „Auslegung des Art. 82“ durchsetzen können, „die den Kammern die selbständige Untersuchungsbefugnis tatsächlich vollkommen entzog[en] und sie gänzlich vom Willen der Regierung abhängig“ gemacht habe.816 Nach weiteren sechs Jahren urteilte der Gießener Doktorand Josef Kahn über das Enquête- und Untersuchungsrecht der preußischen Kammern, dass es der Regierung stets „meisterhaft“ gelungen wäre, 812 Ebenso unterstellte E. Huhn, StaatsR V, 1863, S. 436, 501, dass man „[b]ei der Abfassung der Verfassung […] gar nicht an eine derartige Kommission, sondern blos an solche zur Informirung über gewerbliche, Handels- und Zollverhältnisse gedacht“ habe. Allg. hielt er die Kammern nach frühkonstitutionellem Klischee für bloß befugt, „mit den Ministern in direkter Verbindung“ zu stehen. 813 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (286 f.). Ähnl. F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 31. 814 So auch H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 456 mit Hinweis auf A. Plate, GOPrAbgH, 1903, S. 93, auf den diese Annahme wohl zurückgeht. 815 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (286, 293, 298). 816 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 10 f.

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„dieses Institut zur vollständigen Bedeutungslosigkeit herabzudrücken“.817 In den folgenden Jahren schlossen sich noch verschiedene Autoren dieser Einschätzung an.818 1960 kam dann der Politikwissenschaftler Winfried Steffani zu dem fatalen Schluss, dass es 1863/64 „[n]ach kaum vierzehnjähriger Untersuchungspraxis unter Art. 82 […] so weit [gewesen wäre], daß die im preußischen Verfassungskonflikt unter Bismarck übermächtig gewordene Regierung dem Parlament jegliches wirksame Untersuchungsrecht überhaupt streitig machen“ konnte; letzten Endes habe sie das „Untersuchungsrecht dieses Hauses jeglicher faktischen Wirksamkeit beraubt“. Sämtliche parlamentarischen Proteste seien ohne Echo schlicht verhallt. Ohne jede „Möglichkeit […], dem Widerstand der übermächtigen Staatsregierung wirksam zu begegnen“, habe die Volksvertretung „hinfort auf eine eigenständige Untersuchungspraxis verzichten“ müssen.819 Gut 45 Jahre später schloss sich eine weitere Doktorandin der verbreiteten Deutung an, dass „Bismarck […] die Wahl­ enquete des Preußischen Abgeordnetenhauses 1863/64 im Keim“ erstickt habe.820 Die bislang differenzierteste Auseinandersetzung stammt von Johannes Masing, der in der Wahlmanipulationsuntersuchung die „entscheidende Auseinandersetzung um echte Ermittlungsbefugnisse“ sieht. Selbst als das Staatsministerium ihr unmittelbare „Ermittlungsbefugnisse“ abgesprochen und „Behörden und Beamte an[gewiesen habe], direkten Requisitionen […] keine Folge zu leisten“, habe die Untersuchungskommission ihre Arbeit fortgesetzt, „[m]it Hilfe einiger Kreis­ gerichte […] sogar auch förmlich [!] Bürger und Beamte als Zeugen vernommen“ und einen „eindrucksvollen – wenngleich nach eigenen Angaben nicht erschöpfenden – Bericht über die Wahlmanipulationen der Regierung“ angefertigt. Trotzdem wären dem Parlament von der Regierung „nachwirkend seine Grenzen angezeigt“ worden, weil man den „vernommenen Beamten“ keinen Schutz gegen Disziplinarmaßnahmen habe bieten können. „Mit der Verweigerung selbst durchsetzbarer Befugnisse“ habe das Staatsministerium dem Typus der „Kontrollenquete“ somit letzten Endes doch das „Wasser abgegraben“.821 Da jede Kontrollenquête letzten Endes ein Risiko bedeutet habe, „ergebnislos politische Energie zu binden und gar das Parlament zu desavouieren“, habe man in der Norddeutschen Bundesverfassung gleich ganz auf das Selbstinformationsrecht verzichtet.822

817

J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S. 4. Vgl. A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 18 f., der sich aber S. 22 f. eine weite Auslegung von Art. 82 PrVerf 1850 zu eigen macht. Pauschaler urteilte H. Kaufhold, Untersuchungsverfahren, 1928, S. 1, das „parlamentarische Enquêterecht“ sei nicht „[z]ur Auswirkung“ gekommen, „weil es an den gesetzlichen Verfahrensvorschriften“ gefehlt habe. s. ferner J. Hatschek/ P. Kurtzig, DtPrStaatsR II2 1930, S. 688. 819 W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 56 ff.; ders., in: Kluxen (Hg.), Parlamentarismus5 1980, S. 249 (257) und im Anschluss daran R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S. 23. 820 S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 45 f. 821 Vgl. auch J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 14 zum Nichtgebrauch von Zwangsmitteln. 822 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 34 f. 818

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2. Politische Brisanz und Wirkung Ein Grund dieser verbreiteten Geringschätzung der Ereignisse zum Jahreswechsel 1863/64 dürfte es sein, dass augenscheinlich weder die Untersuchung noch der Missbilligungsbeschluss greifbare politische Folgen hatten: Das Ministerium­ Bismarck wurde nicht gestürzt und keiner der für die Manipulationen etc. verantwortlichen Minister strauchelte über die Affäre. Stattdessen verloren die Konfliktparteien in den folgenden Wahlen ihrerseits den alles entscheidenden Rückhalt in der Bevölkerung. Aus heutiger Perspektive scheinen die Untersuchungsanstrengungen des Abgeordnetenhauses deswegen bestenfalls wirkungslos verpufft zu sein. Aber wird eine solche retrospektive Bewertung wirklich der innenpolitischen Lage in den 1860er Jahren vor dem Hintergrund des konstitutionellen Staatsrechts gerecht? Diese suggestive Frage, die natürlich zu verneinen ist, macht einmal mehr die Krux des hermeneutischen Zirkels deutlich. Die damalige Bedeutung der Wahluntersuchung lässt sich nicht rückblickend an modernen, durch Demokratie und Parlamentarismus geprägten Maßstäben messen. Vielmehr muss man sich einerseits die aufgeheizte Stimmung während des Verfassungskonflikts und andererseits die historische verfassungsrechtliche Lage vergegenwärtigen. Nicht nur der altgediente Liberale Carl Theodor Welcker warf dem preußischen König und seinen Ratgebern vor, durch budgetloses Regiment und wiederholte Auflösungen wenn schon nicht dem Buchstaben, so doch dem Geist der Verfassung, ja dem Konstitutionalismus selbst Gewalt anzutun.823 Vor diesem Hintergrund mussten die Wahlmanipulationen den schlimmsten Befürchtungen Vorschub leisten, dass die Regierung darauf aus sein könnte, die Verfassungsurkunde zu einem unwirksamen Blatt Papier zu makulieren. In diesem Sinne diagnostizierte der Land- und Stadtgerichtsrat und Fortschrittspolitiker Hermann Adolf­ Immermann 1865, dass eine „Revolution von oben“ im Gange sei. Das Verhalten der Regierung sah er als „ganz eklatante[n] Beweis“ für diese Sorge an, indem die „Verfassung und klare Landesgesetze“ missachtet oder offen gebrochen würden.824 823

Vgl. C. T. Welcker, Verfassungskampf, 1863, S. 10 f. Ebenso konstatierte der Fortschrittspolitiker Schulze-Delitzsch, dass die Regierung mit der Auflösung über ein „Recht der Appella­ tion von der Meinung der Volksvertretung an das Volk selbst“ verfüge. Dagegen missachteten die „wiederholten Auflösungen […] wegen einer und derselben Differenz“ das „Gesammtvotum der Wähler“ (VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 185 f.). Entsprechende, scharfe Kritik bei R. Prutz, Dt. Museum 13/2 (1863), S. 863 oder Dt. Museum 14/1, S. 177 (181). H. V. v. Unruh, Erfahrungen, 1851, S. 138 hatte schon im Frühjahr 1849 aus Anlass des Verhältnisses der Zweiten Kammer und des Ministeriums Brandenburg-Manteuffel geurteilt, dass das „constitutionelle System […] nun einmal keine andere Basis [habe], als die Majorität und […] deshalb gebieterisch [fordere…], daß Minister, welche dieselbe nicht mehr [besäßen, ausschieden…], oder die Kammer auflös[t]en und zur Neuwahl [schritten. Geschehe…] keines von beiden, so [liege…] das nach beiden Seiten hin gefährliche und widerliche Experiment vor, eine leer gewordene Staatsform mit anderem, ihr fremden Inhalt zu füllen.“ 824 VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 1048.

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Eduard Lasker sprach rückblickend von einem „Verfassungskampf im alten Stil, indem mit dem Wegfall der jährlichen Vereinbarung des Staatshaushalts, mit der Führung der Verwaltung und Bestreitung der Ausgaben ohne hierfür bewilligte Geldmittel, die Verfassung ihres wichtigsten praktischen Inhalts beraubt“ worden sei. In dieser Situation hielt er es für unausweichlich, „daß die Fortsetzung dieser Praxis im Laufe der Zeit mit einem Gewaltstreich […] und zwar mit der förmlichen Aufhebung des Repräsentativsystems enden“ musste.825 Eine Verkümmerung des Wahlrechts, seine systematische Aushöhlung durch Beeinflussung und Einschüchterung erschien liberalen und linken Zeitgenossen zweifelsfrei als Vorbote von Schlimmerem. Für die monarchische und altkonservative Gegenseite mussten die Mitspracheforderungen des oppositionellen Abgeordnetenhauses andererseits das Ende der Monarchie heraufbeschwören. Hermann Wagener charakterisierte das „Streben [der…] Wahlkammer nach parlamentarischer Regierung, d. h. das Bestreben, das preußische Königtum […] zur Nullität zu reduzieren und auf dem Wege dorthin zugleich alle jene Institutionen zu zerstören welche bis dahin die festen Grund­ säulen des preußischen Königtums gewesen“, „[a]ls Wesen der Krisis“.826 Wie ernst die gouvernementale bzw. konservative Seite die Untersuchungskommission auch im Kontext dieses Existenzkonflikts nahm, legt ein Artikel in der offiziösen „Provinzial-Correspondenz“ vom Anfang Dezember 1863 nahe. Das alles andere als unparteiische Blatt warf den „Demokraten [sic!] im Abgeordnetenhause“ unter der Überschrift „Eine merkwürdige Kommission“ vor, „in einem Augenblicke, wo ganz Europa auf [Preußen blicke…], nur bemüht [zu sein], neue Keime des Zwiespalts und gegenseitiger Erbitterung ins Volk zu werfen“. Der polemische Artikel schloss mit der Kampfansage, dass, „[w]ie der Minister des Innern im voraus gesagt [habe, …] keine Behörde, kein Beamter dem Beginnen des Hauses Vorschub leisten [werde]. Nicht minder [müsse…] jeder Einzelne im Volke wissen, daß jene sogenannte Untersuchungs-Kommission nicht im Geringsten Macht [habe…], ihn wider seinen Willen vorzuladen und zu vernehmen“.827 Tatsächlich hatte sich der „Herr Minister des Innern“ mit den Worten des Abgeordneten Bassenge „veranlaßt [gefühlt,  …] gegen diesen Schlag des Abgeordnetenhauses einen Gegenschlag zu führen“.828 Gegenüber dem Untersuchungsversuch der Kammer sollte kein Zentimeter monarchischen Bodens preisgegeben werden. In diesem größeren Kontext mussten die vermeintlichen Anmaßungen der Untersuchungskommission, insbesondere die selbständige Ladung und Vernehmung von Zeugen oder die Requisition von Gerichten ohne Vermittlung des Ministeriums, mindestens als Einbruch in vormals sakrosankte monarchisch-exekutive Bastionen gelten, ja als geradezu revolutionärer Auftakt einer Parlamentsherrschaft erscheinen.

825

W. Cahn (Hg.), Laskers Nachlass I, 1902, S. 31 f. Abdruck bei W. Saile, H. Wagener, 1958, S. 138. 827 Provinzial-Correspondenz, No. 23, vom 2. Dezember 1863. 828 VerhPrAbgH VIII/2 (1865), 1865, S. 1003. 826

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Stehen demokratische Gelüste der Opposition auch keineswegs außer Zweifel,829 ging es den Konfliktparteien durch die Bank wenigstens unzweifelhaft um einen Ausbau bzw. um eine Festigung des parlamentarischen Einflusses auf die Bildung und die Politik der Regierung.830 Auf entsprechende Tendenzen deuten neben dem Budgetkampf auch die Forderung eines Ministeranklagegesetzes oder der Kompromissvorschlag in der Schleswig-Holstein-Krise hin, Militärmittel im Gegenzug für einen bestimmten außenpolitischen Kurs zu gewähren.831 Ganz in diesem Sinne attestierte der liberale Veteran Carl Theodor Welcker den preußischen Abgeordneten, „nur ihre heiligste beschworene Pflicht“ zu tun, wenn sie „blos nach dem Buchstaben und Sinn“ der Verfassungsurkunde „alle ihre Rechte so gebrauchten, […] daß […] volks- und verfassungsfeindliche Minister nicht ernannt und in verderblicher Weise in Wirksamkeit bleiben möchten“.832 Der preußische Staat war in der ersten Hälfte der 1860er Jahre an einer Wegscheide angekommen; der linke Publizist Heinrich Bernhard Oppenheim brachte die anstehende Entscheidung „in dem Bewußtsein Aller [auf] die einfache Alternative: Absolutismus oder parlamentarische Regierung“.833 Vor diesem Passepartout erscheint eine Kontrollenquête als willkommenes Werkzeug der parlamentarischen Mehrheitsopposition, mit dessen Hilfe sich der fundamentale Vorwurf eines fatalen „Scheinkonstitutionalismus“ an die Adresse des Ministeriums Bismarck anhand der skandalösen Wahlmanipulationen exemplifizieren ließ, um den politischen Gegner coram publico bloßzustellen. Das Untersuchungsergebnis deutete darauf hin, dass es die Regierung und ihre konservativen Bundesgenossen auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts nicht mehr „nur“ auf die verfassungsmäßige Stellung des Abgeordnetenhauses abgesehen hatten, sondern versuchten, in Gestalt des Wahlrechts Hand an das konstitutionelle System und an die Verfassungsordnung selbst zu legen. Der entsprechende Beweis für diesen Vorwurf, den man mit der Untersuchung erbringen wollte, zielte geradewegs auf den Kern der umkämpften Machtfragen. In diesem Sinne räsonierte Heinrich Bernhard Oppenheim bloß Tage vor dem Einsetzungsbeschluss über den Sinn und Zweck einer Untersuchung, dass es „trotz der gesicherten liberalen Majoritäten […] für die öffentliche Sittlichkeit, mehr noch als für die staatsbürgerliche Berechtigung, von der äußersten Wichtigkeit [sei], die Wahlfreiheit, das Fundament des ganzen Rechtsstaates, nicht blos in dem Gewissen der höchsten, sondern in dem Ehr- und Rechtsgefühl auch der niederen Beamten zu befestigen und den Geringsten zur Noth durch seine eigene Ehre vor Anfechtungen sicherzustellen“.834 829

Krit. R. Wahl, in: Müßig (Hg.), Konstitutionalismus, 2006, S. 197 (212 f.) m. w. N. in Fn. 51. Zu gewissen Parlamentarisierungsbemühungen der Konfliktsparteien s. D. C. Umbach, Parlamentsauflösung, 1989, S. 167 und E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 298 f. 831 Vgl. H. Schulthess, Geschichtskalender 1863, 1864, S. 122, 124, 125, 126 (Verantwortlichkeit), 147, 148 f. (Adresse wegen Schleswig-Holstein und Wilhelms I. Antwort). 832 C. T. Welcker, Verfassungskampf, 1863, S. 19. 833 H. B. Oppenheim, DtJbPolLit 10 (1864), S. 245. 834 H. B. Oppenheim, DtJbPolLit 9, (1863), S. 494 (504). 830

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Im krassen Gegensatz zu diesem politischen Stellenwert der Untersuchung standen die bloß geringen Erwartungen verschiedener Zeitgenossen. So prophezeite­ Robert Prutz im Dezember 1863, dass man den Einsetzungsbeschluss als „eine bloße Trophäe, ein bloßes Denkzeichen“ für einen kleinen parlamentarischen Sieg ansehen müsse, weil das Gouvernement „jedem derartigen Versuche […] mit einem einfachen Verbote entgegentreten [könne], durch welches den Beamten untersagt [werde…], der Commission […] irgendwelche Auskunft zu ertheilen“. Da „weder die Commission noch das Abgeordnetenhaus selbst die geringste Macht in Händen [hätten…], diese Auskunft zu erzwingen, so würde der ganze Vorgang nur […] aufs neue […] zeigen, wie machtlos […] die Volksvertretung“ in Wahrheit wäre.835 Ähnliche Bedenken hegte der Fortschrittspolitiker Leopold v. Hoverbeck; „immerhin“ versprach er sich von der Untersuchung eine „hübsche Sammlung“, weil die „Schamlosigkeit der Beeinflussungen […] wirklich ins Unglaubliche“ gehe.836 Trotz dieser Unkenrufe, die das heutige Urteil zu bestätigen scheinen, konnte die Wahluntersuchung durch ihre Erfolge überraschen. Die Kommission selbst schätzte ihre Leistung realistisch dahin ein, dass sich das Plenum „[a]us den bereits ermittelten und Behufs der Information hinlänglich erwiesenen Thatsachen  […] informiren [könne], daß […] eine gesetzwidrige Beeinflussung der Beamten […] stattgefunden [habe, …] nicht wenige Wähler, welche in einem dienstlichen Verhältnisse [stünden…], verfolgt worden [seien…] und die Verfolgung noch [fortdauere…], und daß […] das verfassungsmäßige Wahlrecht und die Wahlfreiheit Preußischer Staatsbürger auf alle Weise durch die Maßregeln der Königlichen Staats-Regierung verkümmert worden“ seien.837 Wenn die Kommission scheinbar klein bei gab, dass sie nicht sämtliche Machinationen, Drohungen, Beeinträchtigungen und sonstigen Machenschaften habe offenlegen können, diente diese scheinbare Resignation in Wahrheit einer weiteren Diskreditierung des politischen Gegners, der weitaus mehr als jetzt bekannt auf dem Kerbholz haben musste. Tatsächlich wurden die unbestreitbaren parlamentarischen Erfolge auch zeitgenössisch keineswegs bloß kleingeredet: Der Fortschrittspolitiker Ludolf ­Parisius, der an der Untersuchung selbst teilgenommen hatte, urteilte 1878, dass die Kommission, „trotzdem die Regierung ihr nach Kräften Hindernisse in den Weg [geworfen habe…], eine große Menge Gesetzesverletzungen thatsächlich“ festgestellt habe.838 Welche Aufmerksamkeit die Sache im Land erregte, belegt neben zahlreichen beifälligen Zuschriften eine mutige Beschwerde des Berliner Magistrats an den Oberpräsidenten, mit der man sich gegen die Anweisung verwahrte, nur ja nicht mit dem Wahluntersuchungsausschuss zu kooperieren.839 1866 räumte­ Gustav Lewinstein der Wahlenquête 1866 einen Platz unter den „hervorragenden Momente[n] aus den drei letzten Sessionen des Abgeordnetenhauses“ ein; der 835

R. Prutz, Dt. Museum 13/2 (1863), S. 863 (867 f.). L. Parisius, L. v. Hoverbeck II/1, 1898, S. 193. 837 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 95, S. 655 f. 838 L. Parisius, Parteien, 1878, S. 70. 839 H. Schulthess, Geschichtskalender 1864, 1865, S. 160. 836

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oppositionelle Autor fuhr anerkennend fort, dass die Untersuchungskommission „trotz [aller…] Schwierigkeiten […] ein reichhaltiges und interessantes Material über die zu behandelnde Materie“ beschafft habe, obwohl die Regierung den Beamten „verboten“ habe, ihre Anfragen zu beantworten. Die „Enthüllungen“ hätten in Form der parlamentarischen Berichte „die allgemeinste Verbreitung im Lande“ gefunden.840 Ein Jahr früher lobte ein anonymer Autor in Brockhaus’ Monatsschrift, dass die „wichtigsten Thatsachen […] ermittelt“ worden seien, obgleich die „feudale Presse […] über diesen Antrag [gewütet], und die Regierung […] ihre Beamten an[ge]wiesen [habe], der Commission des Abgeordnetenhauses keine Auskunft zu ertheilen“.841 1908 sprach Hellmut v. Gerlach dann anerkennend von einer „riesige[n] Materialsammlung“, deren Existenz dem „Umstande zu verdanken [sei…], daß die fortschrittliche Mehrheit des Abgeordnetenhauses trotz des wilden Widerstandes der Regierung und der Konservativen einen Untersuchungsausschuß mit dem Rechte der Zeugenvernehmung eingesetzt“ habe. Noch fünf Jahre vor Egon Zweigs einflussreicher Abwertung der Kommissionsarbeit legte es v. Gerlach jedem Interessierten, der „die Früchte des preußischen Wahlrechts ganz auskosten [wollte, nahe…] diesen Bericht in extenso zu sich [zu] nehmen“.842 Allen Aufklärungserfolgen zum Trotz glückte es der Opposition nicht, das verhasste Staatsministerium zu stürzen. Ungeachtet dieses Misserfolges greift das heute verbreitete Urteil, die Wahlmanipulationsuntersuchung sei am übermächtigen Bismarck gescheitert und habe keine handfesten Erfolge erzielt, zu kurz. Unzweifelhaft war es bereits mehr als ein Achtungserfolg, dass das oppositionelle Abgeordnetenhaus erfolgreich eine unbequeme Untersuchung gegen den Widerstand der Regierung durchführen konnte. Die zusammengetragenen Informationen waren imposant und ließen keinen Zweifel an der Richtigkeit der Vorwürfe gegen den politischen Gegner. Alles in allem konnte die Kommission ihren Untersuchungsauftrag trotz der Kürze der ihr zur Verfügung stehenden Zeit und des rauen Windes, der ihr aus dem Ministerium entgegenblies, in niemals zuvor dagewesener Weise erfüllen. Statt an den informationsrechtlichen Klippen Schiffbruch zu erleiden, die das Ministerium aufzurichten versucht hatte, wurden zahlreiche Fälle übler Machinationen und Repressalien aufgeklärt und den Beteiligten ein beschämendes Zeugnis ausgestellt. Tatsächlich wurden etliche Persönlichkeiten, u. a. Landräte, höhere Beamte, vermeintliche Honoratioren und Vertreter des Adels, die sich zu Einschüchterungen oder Manipulationen hergegeben hatten, namentlich bloßgestellt. Hatte die parlamentarische Seite also auch keinen unmittelbar greifbaren Sieg über das Ministerium errungen, wie ihn ein Misstrauensvotum mit Amtsverlust heute bedeuten würde, leistete die Untersuchung doch einen poten­ tiell wichtigen Beitrag zu der politischen Auseinandersetzung. Welche handfesteren Erfolge über diese Bloßstellung und Blamage des politischen Gegners hinaus eine parlamentarische Untersuchung in der damaligen Zeit hätte erbringen sollen, 840

Zum Ganzen G. Lewinstein, Volksvertretung, 1866, S. 27, 30 f. N. N., Unsere Zeit n. F. 1 (1865), S. 688. 842 Vgl. H. v. Gerlach, Wahlrecht, 1908, S. 75 und E. Zweig, ZfP 1913, 265 (285 f.). 841

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ist vor dem Hintergrund des konstitutionellen Staatsrechts unerfindlich. Insbesondere lag ein parlamentarischer Sturz der Regierung, wie ihn Art. 54 RVerf 1919 gut 55 Jahre später vorsah, noch außer Reichweite, hingen die Minister doch wegen Art. 45 Satz 2 PrVerf 1850 ausschließlich von der Gunst des Königs ab; eine rechtliche Pflicht zum Rücktritt bestand selbst nach einem direkten Misstrauensvotum nicht. Die einzige „Macht“, auf die sich das Abgeordnetenhaus stützen konnte, war, ganz wie es der Linke Carl d’Ester in revolutionären Tagen zutreffend beschrieben hatte, die „öffentliche Meinung“.843 Eine oppositionelle Kammer konnte also bloß darauf hoffen, den Monarchen durch öffentlichen Druck zur Entlassung eines missliebigen Ministeriums zu bewegen. Tatsächlich saß Bismarck in diesen Tagen keineswegs so fest im Sattel,844 wie das gern gezeichnete Bild des übermächtigen Ministerpräsidenten, der die Wahlmanipulationsuntersuchung de facto vereiteln konnte, suggeriert. Dass die Mehrheitsopposition die blamablen Untersuchungsergebnisse nicht besser ausnutzen oder eine faktische Parlamentarisierung Preußens vorantreiben konnte, lässt sich nicht dem konstitutionellen Untersuchungsrecht anlasten. Die oft kolportierte Nutzlosigkeit oder Schwäche des Art. 82 PrVerf 1850 war ebenso wenig ausschlaggebend wie die vermeintliche Geringfügigkeit seiner Früchte. Zum Zünglein an der Waage wurde schlicht der außenpolitisch induzierte Stimmungsumschwung im Innern. Seit Dezember 1863 verblasste der Verfassungskonflikt zunehmend im grellen Schein der Ereignisse auf dem schleswig-holsteinischen Schauplatz; die Auseinandersetzung mit Dänemark und die nationalen Fragen nahmen das Interesse der preußischen Öffentlichkeit gefangen.845 Obwohl der Verfassungskonflikt auf der innenpolitischen Bühne zunächst in aller Schärfe fortgesetzt wurde, war doch die Gunst des Augenblicks verflogen. À la longue bestätigten die militärischen und außenpolitischen Erfolge von 1864, 1866 und 1867 nachträglich die ursprünglich umstrittene Heeresreorganisation und führten damit zu einer fatalen Spaltung der Opposition. Die Nationalliberalen gingen aus einem Schisma der Fortschrittspartei als neue politische Kraft hervor, die dem Credo „Einheit vor Freiheit“ huldigte, Otto v. Bismarck Indemnität gewährte und künftig die Politik des späteren Reichsgründers bei verschiedenen Gelegenheiten mittrug.846 843

s. zur Lage der Vereinbarungsversammlung C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 11. Zur Situation des Ministeriums vgl. E. Kolb, Bismarck, 2009, S. 55, 58 f. oder L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 594. 845 Vgl. M. Kotulla, VerfGesch, 2007, Rn. 1894 oder zeitgenössisch L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 594. s. auch etwa H. B. Oppenheim, DtJbPolLit 10 (1864), S. 378 ff., der in seinem politischen Monatsbericht vom 22.  Februar 1864 der Schließung der Landtagssession bloß eine kurze Notiz widmete (S.  392). Die „politischen Korrespondenzen“ in den Preußischen Jahrbüchern, die der Paulskirchenveteran und spätere nationalliberale Abgeordnete Rudolf Haym als leitender Redakteur besorgte, wurden Anfang 1864 fast ausschließlich von den sich überstürzenden außenpolitischen Ereignissen beherrscht. Davor standen Verfassungskonflikt, Kammer­auflösungen und Wahlmanipulationen im Fokus. Vgl. N. N., PrJb 13 (1864), S. 90 ff. (8. Januar), 207 ff. (3. Februar), 431 ff. (Anfang April), 544 ff. (1. Mai), 661 ff. (Ende Mai). 846 Aus zeitgenössischer Sicht W. Cahn (Hg.), Laskers Nachlass I, 1902, S. 38 ff. 844

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Die verbreitete enquête- und untersuchungsrechtliche, aber auch allgemeine Geringschätzung der Vorgänge zum Jahreswechsel 1863/64 ist also keineswegs berechtigt. Sie ähnelt zudem der häufigen Negativwahrnehmung moderner Unter­ su­chungen. Der These, dass heutige „Untersuchungsausschüsse meist keine greifbaren Ergebnisse“ hätten, ist Wolfgang Zeh zu Recht mit dem Argument entgegengetreten, dass es sich eben nicht „um Gerichtsverfahren [handele], an deren Ende ein eindeutiger Schuld- oder Freispruch stehen müßte“; ebenso wenig lasse sich von einer „Kontrolle ‚der‘ Regierung oder Verwaltung durch ‚das‘ Parlament“ sprechen. Unterhalb der Schwelle wahrnehmbarer Erfolge führe „häufig schon die Einsetzung des Ausschusses, ja schon die Ankündigung oder die Wahrscheinlichkeit der Einsetzung zu personellen, organisatorischen und politischen Konsequenzen“; während oder nach einer Untersuchung würden Fehler korrigiert, so dass dem politischen „Untersuchungsverfahren […] ungeachtet aller Mängel im Detail eine beachtliche Wirksamkeit […] attestiert werden“ müsse.847 Nicht anders hätte es sich voraussichtlich ohne Bismarcks innenpolitische Entlastung durch außenpolitische Erfolge mit den Leistungen der Wahlmanipulationsuntersuchung verhalten. Das zusammengetragene Material diente Oppositionellen wie Hellmut v. Gerlach noch bis in das 20. Jahrhundert hinein als politische Munition gegen das preußische Herrschaftssystem. 3. Bedeutung für die Untersuchungsrechtsentwicklung Die damit in politischer Hinsicht rehabilitierte Wahlmanipulationsuntersuchung ist auch für die Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung von größerer Bedeutung als bisher angenommen. Bei genauerer Betrachtung lässt sich sagen, dass sich in ihr das Musterbild einer – unter den Sachgesetzen des Parlamentarismus schließlich der Minderheit anvertrauten – Kontrollenquête verwirklichte. Deutlich wird dieser Fortschritt im Vergleich mit den gescheiterten Untersuchungsversuchen in der Dissidentenangelegenheit oder zur Lage des Landes, die von den jeweiligen gouvernementalen Mehrheiten noch im Einsetzungsstadium abgewürgt wurden. Wie sehr sich der politische Wind gedreht hatte, verdeutlicht die Gegenüberstellung der damaligen parlamentarischen Voten mit den Stellungnahmen in der Wahlmanipulationsangelegenheit. Indem Art. 82 PrVerf 1850 zum Jahreswechsel 1863/64 als politisches Kampfinstrument reüssierte, warf unter den eigenartigen Bedingungen des Konstitutionalismus, die eine klare Volksvertretungsmajorität zur Opposition gegenüber dem königlichen Regiment verdammten, die erstmals in der Weimarer Verfassung verankerte Qualität des parlamentarischen Selbstinformationsrechts als minoritäres Kontrollmittel einen Schatten voraus. Erst als sich im Zuge des Verfassungskonflikts eine Mehrheitsopposition herausgebildet hatte, mutierte der bisher bloß für 847

W. Zeh, in: HdbStR III3 2005, § 53 Rn. 81.

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Enquêten dienende Art. 82 PrVerf 1850 gleichsam über Nacht zu dem sprichwörtlichen „Kampfparagraph[en] gegen die Regierung“.848 Die hohe Kontinuität der preußischen Entwicklung zeigt sich in der Wahlmani­ pulationsuntersuchung wie in einem Brennglas: Für diese beeindruckende Kontroll­ enquête hatten die gescheiterten Regierungskontrollversuche des Antrags Vincke oder anlässlich der Dissidentenpolitik des Ministeriums Manteuffel gemeinsam mit den tatsächlich durchgeführten Sozial- und Wirtschaftsenquêten etc. den theoretischen Boden bereitet. Der Erfolg der ersten politischen Kontrollenquête wurde von derselben Großwetterlage getragen wie die Unterstützung der Konfliktparteien in den Wahllokalen, die den Verfassungsstreit überhaupt erst ermöglicht hatte. Auch insoweit bestand eine gewisse Parallele mit der rund 15 Jahre zurückliegenden Revolutionszeit, als sich die Vereinbarungsversammlung in der Schweidnitzer Angelegenheit ein Untersuchungsrecht vergleichbaren Zuschnitts ohne jede normative Grundlage zugeeignet hatte.849 Damals hatte die Regierung aus Furcht vor der revolutionären Bewegung nicht opponiert. Die dieses Mal unternommenen Obstruktionsversuche scheiterten wenigstens partiell an der politischen Grundstimmung weiter Teile der Gesellschaft. So erweiterte die Wahlmanipulationsuntersuchung den nachkonstitutionellen Kanon der Enquête- und Untersuchungstypen aufgrund von Art. 82 PrVerf 1850 de facto erstmals über Sachstandserhebungen hinaus auf die Regierungskontrolle und legte damit den Grundstein für das moderne politische Untersuchungsrecht. Zu dieser Entwicklung, durch die der politische Kontrollcharakter des Mehrheitsrechts aus Art. 82 PrVerf 1850 zum Durchbruch kam, konnte es erst im Verfassungskonflikt kommen, als eine oppositionelle Majorität das Abgeordnetenhaus beherrschte. Unter den Sachgesetzen des Konstitutionalismus und des ihm eigenen Dualismus entsprach dieser Mechanismus dem intendierten Regelfall: Die Kammer sollte das Land gegenüber dem Herrscher und der von ihm abhängigen Regierung vertreten. Erst wenn eine parlamentarische Mehrheit in die Opposition ging, konnte es zum Konflikt kommen. Erst dann bestand politischer Einigungsbedarf. Nur unter diesen Voraussetzungen waren politische Kampfmittel erforderlich. Als diese Schwelle mit dem Wechsel zu Demokratie, Volkssouveränität und Parlamentarismus niedriger angelegt wurde und die Frontlinie der politischen Auseinandersetzung die Volksvertretung selbst in zwei Lager teilte, war es gewissermaßen eine logische Schlussfolgerung, das parlamentarische Selbstinformationsrecht als Kontrollmittel weiterhin der jetzt freilich in die Minderheit geratenen Opposition anzuvertrauen. Angesichts dessen kann die Wahlmanipulationsuntersuchung als frühes Klischee einer modernen oppositionellen Kontrollenquête gelten. Ebenso wegweisend waren die Untersuchungsmethoden der Kommission. Angesichts der Notlage, dass das Ministerium von Anfang an auf einen konsequen 848

So der Deutsch-Freisinnige K. Schrader, VerhRT VIII/1 (1890/92) S. 3290. s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. zu der Schweidnitzer Untersuchung.

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ten Obstruktionskurs einschwenkte, deduzierten die Abgeordneten einerseits aus dem offenen Wortlaut des Art. 82 PrVerf 1850 und andererseits aus den sachlichen Notwendigkeiten dieses Rechts weitgehende Befugnisse. Neben einem Requisitionsrecht gegenüber Gerichten und Behörden, dem eine Pflicht der ersuchten Stelle entsprechen sollte, sollten auch die Staatsbürger und Beamten verpflichtet sein, auf Verlangen „Zeugniß abzulegen“ oder „Urkunden vorzulegen“. Das in Preußen und dem deutschen Ausland850 bisher geübte Recht, freiwillige Zeugen bzw. Sachverständige zu vernehmen, mutierte mit einem Mal zu modernen Beweiserhebungsbefugnissen, wie sie heute demokratischen Volksvertretungen zustehen. Indem sie sich von einer Vermittlung des Staatsministeriums lossagte, die ohnehin ausgeblieben wäre, befreite sich die Untersuchungskommission vollständig von­ älteren konstitutionellen Fesseln. Dass etliche Zeugen ihren Ladungen folgten, auch aussagten und selbst verschiedene Gerichte Requisitionen nachkamen, ist der politischen Stimmung im Lande zu verdanken. Die Durchführung der Zeugenvernehmung wurde forensischen Praktikern übertragen, die sich bei dieser Aufgabe – wie die Untersuchungsdeputation in der Schweidnitzer Affäre anno 1848 – an den Vorgaben des preußischen Prozessverfahrensrechts orientierten. Bei dieser Pseudo-Antizipation der modernen Verweisungen auf das Strafprozessrecht gaben die politischen Akteure einerseits dem nachvollziehbaren Wunsch nach, sich bei ihren neuen Aufgaben an Bekanntem zu orientieren. Außerdem wird den erfahrenen Richtern bewusst gewesen sein, in welchem Maß der Beweiswert einer Zeugenaussage von den richtigen Formen und Verfahren abhing. Die Wichtigkeit der Sache dürfte ihren Teil zur Gestaltung des Verfahrens beigetragen ­haben. Ungeachtet solcher Überlegungen bot die Untersuchung der Wahlmanipulationen ebenso wie die Aufarbeitung des Zwischenfalls in der schlesischen Festung Schweidnitz Anschauungsmaterial für die Notwendigkeit entsprechender Formen, deren Anerkennung erst im August 1919 in Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 folgte. Das Taktieren des Ministeriums Bismarck erscheint aus heutiger Sicht skan­ dalös. Das gilt einmal für die Beeinflussungsversuche gegenüber liberalen Beamten, bei deren Bewertung man aber nicht vergessen sollte, dass auch schon in der Bundesrepublik Deutschland gegen „radikale“ Beamte eingeschritten wurde.851 In den Augen eines königstreuen Konservativen, für den schon die Verfassung von 1850 ein kaum erträgliches Übel war, erschienen die liberalen Einflussnahmeversuche in den 1860er Jahren sicherlich nicht weniger umstürzlerisch als die linken Umtriebe, auf die die Bundesregierung Anfang der 1970er Jahre mit dem Radikalenerlass reagierte. – Für das Enquête- und Untersuchungsrecht von Interesse ist die Weisung verschiedener Minister an die nachgeordneten Behörden, dem Abgeordnetenhaus die innerbehördlichen Wahlreskripte vorzuenthalten. Der Versuch, (vermeintlich) interne Vorgänge vor einer parlamentarischen Kontrolle zu verbergen, ähnelt  – bei äußerlicher Betrachtung  – dem heutigen Ringen um einen 850

s. zu Württemberg und Bayern s. 4. Teil. Vgl. BVerfGE 39, 334 ff.

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3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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gouvernementalen Arkanbereich. In den benachbarten Dunstkreis von Amtsverschwiegenheit und Aussagegenehmigung gehört die Laubaner Disziplinarsache, mit der sich das Abgeordnetenhaus 1865 befasste. In den Beratungen über die Beschwerden der gemaßregelten Magistratsmitglieder qualifizierte Hermann Becker, ein promovierter Jurist, der nach dem Kölner Kommunistenprozess 1852 aus dem Staatsdienst entlassen wurde und seither als Schriftsteller und in der Wirtschaft tätig war,852 das disziplinarische Vorgehen als „große Anmaßung der Regierung“. Mit seiner Forderung, gegen den Versuch des Ministeriums, die „Richter, welche der Requisition des Abgeordnetenhauses Folge geleistet [hätten…], zu rekti­fiziren“, „Widerspruch [zu] erheben“,853 rückte der Fortschrittspolitiker das Untersuchungsrecht gegenüber Amtsdisziplin und Amtsgeheimnis in den Vordergrund. In diesem Sinne hatte sein Parteifreund Hermann Adolf Immermann betont, dass keine der Ausnahmeregeln der Allgemeinen Gerichts- und der Kriminalordnung eingreife, „wo ein […] Zeuge seine Vernehmung ablehnen“ könne. Folglich habe keine Bestimmung Innenminister Eulenburg das Recht gegeben, „diesen Beamten [zu] verbieten […], sich zu Protokoll vernehmen zu lassen“.854 Auf § 313 PrKrimO 1805, der für landesherrliche Beamte von der Zeugenpflicht eine Ausnahme machte, wenn Fragen „Umstände“ betrafen, „deren Bekanntwerden dem Staate nachtheilig sein“ konnte, ging der linksliberale Land- und Stadtgerichtsrat nicht ein. Gleichwohl wurde bei dieser Gelegenheit die Notwendigkeit sichtbar, auch die Aussage von Beamten vor parlamentarischen Untersuchungsgremien zu regeln. In der Sache qualifizierte das Abgeordnetenhaus unter dem Präsidium Hans Viktor v. Unruhs, der selbst wegen seiner politischen Tätigkeit unter Repressalien zu leiden hatte,855 die Disziplinarverfügungen gegen die Laubaner Magistratsmitglieder als „ungerechtfertigt“. Die „in Folge Staats-Ministerial-­ Beschlusses ergangene Anweisung des Ministers des Innern an die mittelbaren und unmittelbaren Staats-Beamten, den Requisitionen der Untersuchungs-Kommission des Hauses der Abgeordneten keinerlei Folge zu geben“, verurteilte das Haus erneut als Verletzung von Art. 82 PrVerf 1850.856 Es mag Zufall gewesen sein, dass diese Beschlüsse am 14. Juni 1865, also ausgerechnet dem 17. Jahrestag des Zeughaussturmes gefasst wurden. Die Tatsache, dass es nach dem fulminanten Auftakt der ersten konstitutionellen Kontrollenquête in Preußen nicht zu weiteren Anwendungsfällen dieses Instruments gekommen ist, scheint bloß vordergründig die verbreitete Vermutung zu bestätigen, dass das Abgeordnetenhaus, vom Verlauf der Angelegenheit enttäuscht, von weiteren Enquêten oder Untersuchungen in den Folgejahren Abstand genommen habe. Tatsächlich liegt es weder an der vermeintlichen Übermacht der Regierung Bismarck noch an einer Frustration der Kammer, sondern schlicht an den 852

B. Haunfelder, BioHdbPrAbgH, 1994, S. 89. VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 1020. 854 VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 1018. 855 Vgl. H. v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 135 ff. und passim. 856 VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 2168. 853

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

politischen Mehrheitsverhältnissen, dass es nicht zu einer Fortsetzung oder Vertiefung der untersuchungsrechtlichen Ansätze von 1863/64 kam. Allerdings sollte sich das Abgeordnetenhaus mit den Worten Louis Constanz Bergers niemals wieder des „gleichen Vertrauens der Wählerschaft“ erfreuen, „wie […] in der höchsten Gluthitze seines Verfassungskampfes“.857 Die Singularität am Jahreswechsel 1863/64, dass eine verhältnismäßig homogene oppositionelle Kammermehrheit existierte, wiederholte sich in den folgenden Jahren nicht mehr. Stattdessen setzten die militärischen Erfolge im Norden die Opposition unter Druck, bestätigte doch das Kriegsglück gegen Dänemark nachträglich die militärische Reorganisationspolitik.858 Nach dem Sieg über Österreich kippte die politische Stimmung noch weiter um. In den Wahlen am Tag von Königgrätz schmolz die Mehrheit von Fortschrittspartei und linkem Zentrum auf 148 Mitglieder. Im Lauf der Jahre verhinderten dann interparteiliche Gegensätze die erneute Bildung einer handlungsfähigen Mehrheitsopposition. In dieser Konstellation konnte der preußische Ministerpräsident Otto v. Bismarck von Fall zu Fall wechselnde Mehrheiten hinter sich scharen. Sein Nachfolger Bernhard Fürst v. Bülow beschrieb diese bemerkenswerte politische Fähigkeit 1916 folgendermaßen: „Er hielt die Führung so eisern in seiner Hand, daß niemals die Gefahr bestand, sie könnte durch den Einfluß, den er einer jeweilig vorgefundenen Mehrheit einräumte, auch nur zu einem kleinen Teil auf das Parlament übergehen. Vor allen Dingen dachte er gar nicht daran, den Willen einer Mehrheit dann gelten zu lassen, wenn er ihn mit seinem Willen nicht vereinbar fand. Er machte sich vorhandene Mehrheiten zunutze, ließ sich aber nicht von ihnen benutzen. Gerade Bismarck verstand es meisterhaft, sich oppositioneller Mehrheitsbildungen zu entledigen und sich selbst Mehrheiten zu schaffen, die sich den Zielen seiner Politik fügten.“859

Nach den erfolgreichen Waffengängen von 1866 und 1871 folgte das rechts­ liberale Bürgertum dem Ministerpräsidenten, Bundes- bzw. Reichskanzler, akzeptierte den angebotenen Ölzweig in Form der Indemnitätsvorlage, verschob Parlamentarisierungsforderungen auf unbekannte Tage, leitete so die Spaltung der Opposition ein und schuf damit die Grundlagen für den autoritativen Herrschaftsstil der kommenden Jahrzehnte.860 Auf dem Umweg über die Wahllokale wurden so letzten Endes auch die innenpolitischen Fragen durch „Eisen und Blut“ entschieden.861

857

L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 561. O. Pflanze, Bismarck I, 2008, S. 280. 859 B. v. Bülow, Politik, 1916, S. 215. 860 Vgl. H. A. Winkler, Liberalismus, 1979, S. 16, 20 ff., 24 ff., 32 ff.; H. Schulze, in: HdbPr­ Gesch II, 1992, S. 293 (347 ff.); K. E. Born, in: HdbPrGesch III, 2001, S. 15 (76 ff.); O. Pflanze, Bismarck I, 2008, S. 669, 676. 861 Abdruck der berüchtigten Rede vor dem Budgetausschuss bei J. Schlumbohm, Verfassungskonflikt, 1970, S. 24 (25). 858

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D. Schutzmaßnahmen gegen die Lohnpfändung (1865) Einen gewissen Vorgeschmack auf die spätere Praxis, Enquêten nicht selbst zu veranstalten, sondern der Regierung zu überlassen, bot sich Mitte März 1865 anlässlich eines Antrags Hermann Wageners, eines sozialkonservativen Politikers und langjährigen Weggefährten Otto v. Bismarcks,862 und 22 weiterer Abgeordneter, die verlangten, „die Königliche Staats-Regierung zur baldmöglichsten Vorlegung eines Gesetz-Entwurfes, betreffend die Beschränkung der gerichtlichen Beschlagnahme der Arbeitslöhne im Wege des Arrests und der Exekution aufzufordern“.863 Als geistiger Urheber dieser Forderung, durch die u. a. verhindert werden sollte, dass den verschuldeten Arbeitern „die Nahrungsquelle entzogen und dem Gläubiger zugleich das Mittel zur Befriedigung geraubt“ werde, offenbarte sich in der Debatte der ehemalige Handelsminister August v. der Heydt.864 Nach rund zwei Monaten erstattete der Fortschrittspolitiker Eduard Lasker, der acht Jahre später ausgerechnet zum „Ankläger“ Wageners im Eisenbahngründerskandal werden sollte, den Vorbericht: Die XVIII.  Kommission hatte u. a. über einen Gesetzentwurf beraten, durch den die Vollstreckung auf eine Quote beschränkt bzw. für „Luxuskäufe“ mit der Konsequenz „gänzlich ausgeschlossen werden“ sollte, dass insoweit kein Kredit mehr zu haben wäre.865 Für den Fall, dass dieser Vorschlag „wegen nicht genügender Vorbereitung des Stoffes“ durchfallen sollte, empfahl die Kommission dem Haus, „auf Grund des Art. 82. der Verfassung behufs seiner Information eine Kommission zur Untersuchung aller einschlagenden Verhältnisse zu ernennen“. Für diesen „eventuellen Antrag“ war ein „Mitglied lebhaft ein[getreten]“, weil die „Kommission […] nicht [wisse], wie es thatsächlich stehe und die Staats-Regierung […] den wahren Stand durch ihre Behörden nicht ermitteln“ könne. Ein anderer Abgeordneter hielt zwar ebenfalls die „bisherigen Ermittelungen noch nicht für erschöpfend“, befürwortete aber keine parlamentarische Sachstandsenquête, sondern forderte, „um den Ergebnissen einer erneuerten Untersuchung in keiner Weise vorzugreifen“, „den ­Antrag […] der Königlichen Staats-Regierung mit dem Ersuchen zu überweisen, die gesetzliche Regelung der in Rede stehenden Verhältnisse herbeizuführen“.866 Diesen Standpunkt machte sich die Kommission unter dem Vorsitz Benedikt ­Waldecks zu eigen und schlug dem Plenum vor, „die Königliche Staats-Regierung zur baldmöglichsten Vorlegung eines Gesetz-Entwurfes, betreffend die Unzulässigkeit, beziehungsweise die Beschränkung der […] Beschlagnahme der Arbeits- und Dienstlöhne – aufzufordern“.867 862

Vgl. W. Saile, H. Wagener, 1958 und H. J. Schoeps, Preußen2 1957, S. 250 ff. VerhPrAbgH VIII/2 (1865), Nr. 93, S. 793. 864 Vgl. dessen eigene Aussage in VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 2026. 865 VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 1794 ff. 866 VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 1801. 867 VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 1803 f. 863

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Die in der Kommission vernachlässigte Enquêteforderung kam am 10. Juni 1865 im Plenum noch einmal kurz zur Sprache. Gegen den Kommissionsantrag warnte Otto Michaelis die Abgeordneten eindringlich, die Regierung „ohne Weiteres […] aufzufordern, einen, die und die Frage umfassenden Gesetz-Entwurf einzubringen“. Bedauernd fügte der volkswirtschaftliche Redakteur der Nationalzeitung hinzu, „daß dieses Haus […] in der Lage sein [könnte], selbst die Vorbereitungen zu einem solchen Gesetz-Entwurf zu treffen“ und „eine Kommission zur Untersuchung der Thatsachen […] einzusetzen“, wenn die „Antragsteller die Angelegenheit bei Beginn der Session in Anregung gebracht hätten“. Schließlich müssten die „thatsächlichen Verhältnisse“, deren Kenntnis für die Lösung einer Frage notwendig sei, zunächst vollständig in „Wissenschaft und Erfahrung“ durchgekämpft sein, bevor man „gesetzgeberische Maßregeln“ fordern könne. Sarkastisch fügte er hinzu, dass man die Staatsregierung andernfalls ebenso gut auffordern könne, „einen Gesetz-Entwurf vorzulegen, der die sociale Frage“ löse.868 Gegenüber diesem Grundsatzplädoyer für das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht, das allerdings die Krux knapper Zeit in den Vordergrund rückte, stellte der Berliner Kommerzienrat Leonor Reichenheim in Abrede, „daß man zunächst eine Untersuchung nach Art. 82. der Verfassung nöthig habe“. Die Sache sei „nicht allein jetzt, sondern früher erwogen“ und „von vielen Seiten […] in Betracht gezogen worden“. Etwaige „Fehler der Gesetzgebung“ hätten sich schon „vollständig klar herausgestellt“. Auch werde die Landesvertretung noch Gelegenheit haben, sich „vollständig auszusprechen“, sobald ihr ein Gesetzentwurf unterbreitet werde.869 Entgegen Adolph Lettes Antrag auf motivierte Tagesordnung wurde der Kommissionsantrag schließlich „mit sehr wenigen Ausnahmen, fast einstimmig ange­ nommen“.870 Weitergehende Enquêteforderungen wurden, indem man mit dieser Petition der Regierung die Gesetzesinitiative überließ, nicht erhoben. Wenigstens kam es anlässlich der Debatte zu einer Kritik an den bisherigen Regierungs­ enquêten, indem der ehemalige Handelsminister August v. der Heydt monierte, „daß der Justiz-Minister sich nicht veranlaßt gesehen [habe…], von den Rheinischen Gerichten überhaupt Berichte einzufordern“; in ihrem Bezirk bestand die Möglichkeit, mit Rücksicht auf die Lage eines Schuldners Zahlungsfristen zu bestimmen oder der „Vollstreckung des gerichtlichen Verfahrens Anstand [zu] geben“.871 Der linke Zentrumsabgeordnete August Hermann Ziegert, promovierter Jurist und Regierungsrat, der sich gegen gesetzgeberische Maßnahmen aussprach, kritisierte weiterhin, dass bei Regierungsenquêten die „Interessenten in einer gewissen organisirten Form […] mit ihren Wünschen nicht zugezogen“, sondern „nur organisirte Behörden über ihre Aeußerung befragt“ würden.872 Freilich änderten diese Monita nichts daran, dass man die Sache aus der Hand gegeben hatte. 868

VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 2032 f. VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 2033. 870 VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 2038. 871 VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 2026. 872 VerhPrAbgH VIII/2 (1865), S. 2025. 869

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Indem die Volksvertretung die Vorbereitung eines Gesetzes nicht selbst in die Hand nahm, sondern mit einer Resolution der Regierung ans Herz legte, verzichtete sie konkludent auf die Ausübung ihres Enquêterechts. Maßgeblich waren neben der Einsicht, dass die Vorbereitung dieses Gesetzes besser in die Hände des Ministeriums gelegt werde, zeitliche Gründe in Gestalt des nahen Sessionsendes. Ein Menetekel für irgendeine „Enquetemüdigkeit“ der Abgeordneten873 ist dieser Vorgang nicht.

E. Gründerskandal und Eisenbahnwesen (1872–73) Das von der preußischen Praxis gezeichnete Bild zeigt in der Regel eine übermächtige Regierung, die missliebige Enquêten oder Untersuchungen des Abgeordnetenhauses nach Gutdünken vereiteln kann.874 Als Fanal für den Niedergang des parlamentarischen Untersuchungsrechts gilt verbreitet das vermeintliche Ein­knicken des Abgeordnetenhauses im Eisenbahngründerskandal: Obwohl ursprünglich eine parlamentarische Kommission gefordert wurde, um den Machenschaften der Gründer auf den Grund zu gehen, begnügte sich die Volksvertretung schließlich damit, sich mit zwei Mitgliedern an einer königlichen Untersuchungskommission zu beteiligen. Gut 40 Jahre nach diesen Vorfällen prägte Egon Zweig das Urteil, dass es sich um eine parlamentarische Niederlage gehandelt habe, in der bereits die Ära Bismarck mit der ihr „eigentümliche[n] Einengung der parlamentarischen Wirkungssphäre“ ihren Schatten vorausgeworfen habe.875 Häufig werden die Erfolge der Eisenbahnuntersuchung dazu passend kleingeredet oder das treibende Engagement Eduard Laskers auf persönlichen Ehrgeiz und parteipolitische Taktik reduziert.876 Erste Zweifel an dieser Interpretation weckt das zumeist unterschlagene Detail, dass der Nationalliberale Eduard Lasker nicht nur seinen eigenen Antrag zurückzog, sondern voll auf die Linie der parlamentarischen Mehrheit einschwenkte. Es finden sich auch durchaus positivere oder anerkennende zeitgenössische Stimmen, die mit dieser politischen Stimmungslage übereinstimmen. So stützte z. B. der Deutsch-Freisinnige Karl Schrader sein Plädoyer für die Aufnahme einer ent­ sprechenden Vorschrift in die Reichsverfassung 1891 ausgerechnet auf die aus seiner Sicht formidable preußische Eisenbahnenquête.877 Bemerkenswert ist auch Hermann Wageners Urteil, der in seinen Erinnerungen 1884 klagte, dass das von der 873 Vgl. allg. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (298) und W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 65. 874 Vgl. 5. Teil 1. Kap. 875 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (285 f.). 876 Vgl. J. Borchart, Eisenbahnkönig, 1991, S. 175 ff.; R. v. Bruch, in: Schultz (Hg.), Prozesse, 2001, S. 250 (254). Krit. D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 170 f. und in Fn. 96. 877 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3290.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Regierung niedergesetzte Gremium in Wahrheit eine „parlamentarische [!] Unter­ suchungs-Commission“ gewesen wäre, ihr „eigentlicher Präsident und Geschäftsführer der Dr. Lasker“.878

I. Vorgeschichte Nach der innenpolitischen Entspannung infolge außenpolitischer Erfolge mauserten sich die Nationalliberalen zu einer wesentlichen Stütze der Regierung; B ­ ismarck entlohnte sie für ihre Vasallentreue mit einer wirtschaftsliberalen Politik.879 Die politische Konsolidierung wurde von einem dramatischen Wirtschaftsaufschwung begleitet. Mit der Gründung des Norddeutschen Bundes brach eine Hochkonjunkturphase an, die Ende 1870 durch die Reichsgründung und die Erwartung der französischen Reparationsmilliarden noch befeuert wurde. Begünstigt durch eine umstrittene Liberalisierung des Aktienrechts – u. a. wurde durch das Gesetz, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften, vom 11. Juni 1870880 der im Allgemeinen Handelsgesetzbuch von 1861 vorgesehene Konzessionsund Genehmigungszwang beseitigt –, rollte zwischen 1871 und 1873 eine wahre Gründungswelle von rund 900 neuen Gesellschaften über Preußen hinweg.881 Rund 2,9 Milliarden Mark wurden investiert.882 1873 wurde dieser Boom infolge der weltwirtschaftlichen Entwicklung von einer mehrere Jahre dauernden Depressionsphase abgelöst, in deren Verlauf die Aktienkurse mehr als Vierfünftel ihres Wertes ein­ büßten. Zum Ende des Folgejahres befand sich ein Fünftel der Neugründungen in Konkurs oder Liquidation.883 Namenspatron des zum Synonym unlauterer Geschäftspraktiken gewordenen „Systems Strousberg“ war der 1823 geborene Geschäftsmann Bethel Henry Strousberg, der in nur einem Dezennium aus kleinen Verhältnissen zum Multimillionär und Herrscher über einen gigantischen Montan- und Eisenbahnkonzern aufgestiegen war. Die Mittel für seine verzweigten Unternehmungen beschaffte sich der anfangs gefeierte „Eisenbahnkönig“ bei zahllosen Anlegern unterschiedlichster 878

H. Wagener, Erlebtes, 1884, S. 57. M. Lange, in: Benz (Hg.), Antisemitismus IV, 2011, S. 57. 880 BGBl. S. 375. 881 K. E. Born, in: HdbPrGesch III, 2001, S. 15 (88); G. A. Craig, DtGesch, 1989, S. 81 f.; A. Laufs, E. Lasker, 1984, S. 67 sowie H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte III2 2006, S. 97 f., der die Bedeutung der Reparationszahlungen deutlich relativiert. Zur Entwicklung des Aktienrechts s. insbesondere W. Treue, WirtGesch, 1984, S.  497 f. und C. Schubel, Handelsgesellschaften, 2003, S. 280 ff., 286 f. und zu Art. 208 Abs. 1 HGB bzw. der Aufhebung BGBl. 1869, S. 404; 1870, S. 375. Schon zuvor hatte Art. 249 den „Landesgesetzen […] vorbehalten, zu bestimmen, daß es der staatlichen Genehmigung zur Errichtung von Aktiengesellschaften […] nicht bedarf“. 882 M. Lange, in: Benz (Hg.), Antisemitismus IV, 2011, S. 57. 883 K. E. Born, in: HdbPrGesch III, 2001, S. 15 (89); A. Laufs, E. Lasker, 1984, S. 67; R. v. Bruch, in: Schultz (Hg.), Prozesse, 2001, S. 250. Zu Ausgang und Verlauf der Krise s. H. Blum, Reich, 1893, S. 159 f. 879

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monetärer Potenz und sozialer Provenienz. Lieferanten und Subunternehmer wurden nicht bar, sondern mit erheblichen Abschlägen in Aktien bezahlt. Virtuos verschob Strousberg sein Kapital zwischen verschiedenen Unternehmungen – immer mit dem Risiko eines verheerenden Dominoeffekts im Falle einer plötzlichen Krise. Seine für Deutschland neue Art des Wirtschaftens fand rasch skrupellose Nachahmer: Eisenbahnkonzessionen wurden mit unlauteren Mitteln beschafft und mit erheblichen Gewinnen weiterveräußert. Geschäftemacher verschleuderten scheinbar vorteilhafte Wertpapiere unter ihrem Nennwert, der mit der Wahrheit nichts zu schaffen hatte. Als die Finanzblase schließlich platzte, verloren nicht nur die großen „Geldmänner“, sondern auch zahllose Kleinanleger ihr gesamtes Vermögen.884 Die folgende Krise zog sich bis in die 1890er hin.885

II. Erste Anklagen im Abgeordnetenhaus Mitte Januar 1873 nutzte der Berliner Publizist und Rechtsanwalt Eduard­ Lasker die Eisenbahnanleihedebatte, um verschiedene Missstände noch Monate vor dem eigentlichen Zusammenbruch anzuprangern.886 Nach allgemeiner Schelte am „System Strousberg“ unternahm der Nationalliberale einen Schlag mit seinem „schwersten Geschütz“ (Siegfried v. Kardorff), der ihm den dauerhaften Groll Otto v. Bismarcks einbringen sollte:887 Eduard Lasker beschuldigte einen hohen preußischen Beamten, sich „nicht weniger als drei Konzessionen zu Eisenbahn-Bauten“ verschafft und mindestens eine mit Gewinn weiterverkauft zu haben. Weil dieser Geschäftemacher „im Besitz einer der bedeutendsten Stellen als erster Rath im Staats-Ministerium“ sei, ja „unmittelbar […] Sr. Majestät dem Könige Vortrag zu halten“ habe, fürchtete der nationalliberale Politiker ein „schlimmes Schlaglicht auf das amtliche Leben“.888 Der „Angeklagte“ war Hermann Wagener, ein sozialkonservativer Politiker und enger Vertrauter Bismarcks, der auf Fürsprache des konservativen Parteiführers Ludwig v. Gerlach bis 1854 die Kreuzzeitung geleitet hatte. Mit Unterbrechungen hatte er zwischen 1853 und 1867 der Zweiten Kammer angehört, war seither Reichstagsmitglied und avancierte schließlich am Heiligen Abend 1872 auf Drängen Otto v. Bismarcks zum Ersten Vortragenden Rat.889 Schon 884

H. Kiesewetter, Industrielle Revolution, 2004, S. 84 ff.; R. Roth, in: Benz (Hg.), Antisemi­ tismus IV, 2011, S. 402 ff. 885 M. Lange, in: Benz (Hg.), Antisemitismus IV, 2011, S. 57 f. 886 Zu ersten Informationen Laskers sowie seinem Misstrauen gegenüber Aktiengesellschaften und Banken s. J. F. Harris, Study, 1984, S. 92 f.; D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 165 f. Zu der Debatte und der weiteren Entwicklung W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 26 ff. und ferner H. Blum, Reich, 1893, S. 162. 887 Vgl. S. v. Kardorff, W. v. Kardorff, 1936, S. 95; H. Albrecht, in: Gall/Lappenküper (Hg.), Mitarbeiter, 2009, S. 17 (38); J. F. Harris, Study, 1984, S. 95. 888 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 537 f. 889 s. zu Hermann Wageners sozialpolitischer Ausrichtung und Rolle W. Saile, H. Wagener, 1958 und H. J. Schoeps, Preußen2 1957, S. 250 ff.; H. Albrecht, in: Gall/Lappenküper (Hg.), Mitarbeiter, 2009, S. 17 (36) (Ernennung).

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diese Personalie sicherte dem Angriff ein „ungeheures Aufsehen“.890 Wie persönlich Bismarck die Attacke auf einen langjährigen Vertrauten nahm, angeblich den „einzig brauchbaren unter allen Räten“,891 den der Kreuzzeitungsredakteur Theodor Fontane als eine „Art Nebensonne“ des Reichsgründers charakterisierte,892 offenbart die Anekdote, dass Bismarck Lasker bei einem parlamentarischen Diner auf dessen Attacken angesprochen habe. „Als Lasker sich entschuldigte, er habe ihn ja gar nicht angegriffen, [soll…] Bismarck zornig [erwidert haben]: ‚Aber Sie haben so nahe bei mir vorbeigeschossen, daß Sie mich auf ein haar getroffen hätten“.893 Kaum weniger brisant waren Vorwürfe von Geschäftemacherei gegen zwei Mitglieder des preußischen Hochadels, die konservativen Herrenhausmitglieder Calixt Prinz Biron v. Curland und Wilhelm Fürst zu Putbus.894 Auch die Regierung blieb nicht ungeschoren: Dem Handelsminister v. Itzenplitz legte der National­ liberale zur Last, „Konzessionen nach Gunst und Ungunst vertheilt“, ja die „Kala­ mität unter dem Namen Strousberg“ überhaupt erst groß gezogen zu haben.895 Während sich einflussreiche Personen und Persönlichkeiten „lebhafter Protektion erfreu[t]en“, würden seriöse Anträge „ohne eine definitive Entscheidung“ auf Jahre verzögert. Auch habe man einer großen Eisenbahngesellschaft eine „Subvention“ von „500,000 Thlr. à fonds perdu“ offeriert. Dieselbe Gesellschaft habe dann, nachdem die Konkurrenz die Strecke für „eine weit geringere Subvention […] bauen“ wollte, „ohne jede Subvention“ akzeptiert. Das Handelsministerium lasse folglich „in Beziehung auf das Konzessionswesen“ jede „Vorsicht und Umsicht“ vermissen, die erforderlich wären, „damit die Staats-Verwaltung über jeden Verdacht erhaben sei“. Darüber hinaus häuften sich Klagen aus dem Publikum über eine „nicht genügende Aufsicht über den Betrieb der Bahnen“.896 Die Verteidigung des Handelsministers fiel gemessen an diesen Vorwürfen, die offenkundig darauf berechnet waren, ihn vor der Öffentlichkeit unmöglich zu machen und so aus dem Amt zu drängen,897 bemerkenswert zurückhaltend aus: Nach einer wenig überzeugenden Apologie der bisherigen Vergabepraxis bestritt­ Heinrich v. Itzenplitz schlicht, „nach Gunst und Persönlichkeiten [zu] verfahren“. 890

R. v. Bruch, in: Schultz (Hg.), Prozesse, 2001, S. 250 (253). Vgl. W. Saile, H.  Wagener, 1958, S.  118 sowie zu ähnl. Äußerungen K. E. Born, in: HdbPrGesch III, 2001, S. 15 (90) und O. Pflanze, Bismarck I, 2008, S. 731. 892 W. Keitel (Hg.), Fontane Werke IV, 1973, S. 430. Zur Person Wageners H. Albrecht, in: Gall/Lappenküper (Hg.), Mitarbeiter, 2009, S. 17 ff.; H. J. Schoeps, Preußen2 1957, S. 246 ff. Zur „Kreuzzeitung“ als Kampfinstrument s. G. Schuster, HdbDtGesch II7 1931, S. 448 (468). 893 s. S. v. Kardorff, W. v. Kardorff, 1936, S. 96 (Zitate) und den weitgehend gleichen Bericht bei H. v. Poschinger, Parlamentarier I2 1894, S. 69. s. ferner F. Stern, Gold, 2008, S. 345; J. Borchart, Eisenbahnkönig, 1991, S. 172 f. oder W. Saile, H. Wagener, 1958, S. 115. 894 Vgl. J. Borchart, Eisenbahnkönig, 1991, S. 173; D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 165 f. und S. v. Kardorff, W. v. Kardorff, 1936, S. 95. 895 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 537. 896 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 538 f. 897 J. Borchart, Eisenbahnkönig, 1991, S. 173. 891

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Zu allem Überfluss dankte er seinem Ankläger für dessen Vorwürfe, weil sie es ihm ermöglichten, sich „offen […] aus[zu]sprechen“.898 Zu Recht urteilte der nationalliberale Historiker Hans Blum 1893, dass es sich nicht einmal um einen „Scheinversuch der Rechtfertigung“ gehandelt habe.899 Nach einer kurzen Beratung wurde die Sitzung abgebrochen.900 Am folgenden Tag, dem 15.  Januar 1873, verkündete der Fortschrittspolitiker Louis Constanz Berger, dass die „Beschwerden und Anklagen gegen das Ministerium“ ebenso wie die übrigen Enthüllungen „verdientermaßen im ganzen Lande große Beachtung“ gefunden hätten.901 Dem Handelsminister warf der Gussstahlfabrikant aus dem Ruhrgebiet vor, er habe sich „wohl gehütet, auf die bestimmten Anklagen […] zu erwidern“, obwohl dies „im Interesse der Autorität der Königlichen Staats-­ Regierung“ gelegen habe. Nicht nur die Landesvertretung habe das „Recht, eine derartige Antwort zu verlangen“, sondern ebenso das „Volk, welches […] zu Hunderttausenden die Rede des Herrn Abgeordneten Lasker“ lese.902 Der Nationalliberale Robert v. Benda wies die Eisenbahnanleihe in einer Schärfe, die allein auf eine Demission abzielen konnte, ausdrücklich wegen der Inkompetenz des Handelsministers zurück.903 Erneut war die Gegenwehr des bedrängten Grafen ­Itzenplitz nicht überzeugend; profunder hatte zuvor Ministerialdirektor Theodor Weishaupt für die bisherige Praxis Front gemacht.904

898

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 539 ff. H. Blum, Reich, 1893, S. 161. R. W. Dill, E. Lasker, 1956, S. 101 spricht von einem „stotternd vorgebrachten und inhaltslosen Rechtfertigungsversuch“ des „völlig vernichtete[n] Handelsminister[s]“. 900 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 546 f. 901 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 568. Zum Aufsehen, das die Gründerrede erregte, vgl. A. Laufs, E. Lasker, 1984, S. 68, 69; J. F. Harris, Study, 1984, S. 93 f. 902 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 572 f. 903 Robert v. Benda hielt die geplanten Maßnahmen für potentiell „sehr segensreich“, fürchtete aber, dass sie „in der Hand eines unselbstständigen, schwachen, dem Drucke der FinanzVerwaltung zugänglichen Mannes, einer Verwaltung, die gegenüber der […] Macht der Privatkonsortien nicht auf feste sichere Grundsätze sich [stelle…], die unheilvollste Wirkung thun“ könnten (VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 577 f.). 904 Heinrich v. Itzenplitz machte sich Theodor Weishaupts Ausführungen teils zu eigen. Prinzipienlosigkeit wies er von sich, weil er „sehr genau“ wisse, was sein Prinzip sei: „Die großen Bahnen soll[e] der Staat bauen, und die Nebenbahnen soll[t]en von den Provinzen gebaut werden“. Die Konzessionsvergabe an Wagener und verschiedene Hochadelige sei nicht zu beanstanden, weil ihre Beteiligung allein keinen ausreichenden Anlass gebe, „den Bau einer nützlichen Bahn [zu] verweigern“. Als Leitlinie seines Handelns bezeichnete Graf Itzenplitz, „dem Lande so viele Bahnen zu schaffen, wie irgend möglich“. Gleichwohl befürwortete er, das Konzessionswesen auf das Reich zu übertragen; dieses Amt sei ein „dornenvoller Pfad: auf der einen Seite das Interesse derjenigen, die die Bahn haben woll[t]en, und auf der andern Seite der drohende Schwindel, der nicht so leicht zu vermeiden“ wäre (VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 578 ff.). 899

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III. Die „Gründerrede“ vom 7. Februar 1873 Kurz darauf kam es durch einen misslungenen Verteidigungsversuch des Ministerpräsidenten Albrecht v. Roon zur Eskalation. 1. Vorspiel: Albrecht v. Roons „Schutzschrift“ In einem Schreiben an den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, das am 7. Februar 1873 im Plenum verlesen wurde, wies der Kriegsminister der Konfliktszeit, der Ende 1872 auf Bismarcks Drängen provisorisch die Rolle des Regierungschefs übernommen hatte, sämtliche Vorwürfe gegen Hermann Wagener zurück und unterstellte Eduard Lasker im Gegenzug unlautere Motive. Zu dieser folgenschweren Attacke hatte sich der greise Generalfeldmarschall sicherlich durch die prekäre politische Situation hinreißen lassen: Im Abgeordnetenhaus wurden öffentlich Forderungen nach Rechenschaft, Änderung der Eisenbahnpolitik und Maßnahmen gegen den Ersten Vortragenden Rat erhoben. Die in den Protokollen, im selbständigen Druck und in der Presse verbreitete Rede Eduard Laskers erregte, obgleich dieser genau besehen nur Andeutungen und Verdachtsmomente vorgebracht hatte, die öffentliche Meinung.905 Im Einzelnen warf ihm Albrecht v. Roon vor, dass er – anders als gegenüber anderen  – an den vermeintlich substanzlosen Anschuldigungen gegen H ­ ermann­ Wage­ner noch nach einer „offiziösen Berichtigung der Norddeutschen Allgemei­ nen Zeitung“ festgehalten habe.906 Verständlicherweise löste dieser Hinweis auf das notorische „Kanzlerblatt“, das nicht nur die „Richtung der konservativen Partei“ vertrat, sondern sich dem preußischen Staatsministerium „als Hauptorgan für seine 905 Nicht ganz zu Unrecht urteilte B. H.  Strousberg, Wirken3 1876, S.  104: „Abgesehen von den Bemerkungen über die Art, wie hohe Beamte durch ihren Einfluss bei Concessionsbewerbungen bevorzugt worden waren, einigen Beleidigungen ohne Begründung gegen mich und einer Kritik über das Geschäftsgebahren der Herren Wag[e]ner, Schuster und Consorten, enthielt die erwähnte Rede nur schwülstige, leere Redensarten, nichts Belehrendes, nichts Praktisches und keine Andeutung, die irgend wie hätte nutzbringend sein können.“ Zu selbständiger und Publikation „in allen Zeitungen“ s. A. Laufs, E. Lasker, 1984, S. 69. 906 Tatsächlich hatte Eduard Lasker am 22.  Januar 1873 nur von einem Schreiben des Prinzen Biron an den Präsidenten des Hauses berichtet, in dem jener sich beklagte, dass er „noch keine Erstattung“ für seine Auslagen erhalten habe, und den Präsidenten außerdem ersuchte, „zur Kenntniß des Hohen Hauses […] zu bringen, daß [er…] niemals irgend eine Eisenbahn-Konzession verkauft, noch mit einer solchen Handel getrieben habe.“ ­Eduard Lasker behielt sich „[i]n allen übrigen Punkten“ vor, „die Angelegenheit weiter zu verfolgen“ (VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 730). Auf die Vorhaltung des Ministerpräsidenten erwiderte der Nationalliberale am 7. Februar 1873, er habe nichts zurückgenommen, sondern bloß aus Höflichkeit klargestellt, dass der Prinz „keine Abfindung bekommen“ habe. Freilich sei ihm eine solche „in Höhe von 100,000 Thlr. Actien zugesichert“ worden und – nach eigenem Bekunden – „auf Grund eines schwindelhaften Einwandes“ nicht gewährt worden (S. 935).

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offiziösen Mitteilungen“ zur Verfügung stellte,907 derart heftige „Heiterkeit“ unter den Abgeordneten aus, dass die Weiterverlesung des Schreibens erst durch die „Glocke des Präsidenten“ ermöglicht wurde. Im Folgenden gab der Ministerpräsident als „oberste[r] Vertreter des Preußischen Beamtenthums“ eine ihm möglicherweise durch diesen eingeflüsterte Ehrenerklärung zugunsten Hermann ­Wageners ab:908 Von „Begünstigung“ oder „Amtsmißbrauch“ könne keine Rede sein, weil die Konzession nicht Wagener, sondern einer Aktiengesellschaft erteilt worden wäre. Außerdem habe dieser, obwohl Beamten ein Engagement „an derartigen Unternehmungen“ keineswegs untersagt sei, „die Erlaubniß seines damaligen Chefs ausdrücklich erbeten und […] erhalten“.909 Über den Grund des „Irr­thum[s]“, er habe noch weitere Konzessionen erhalten, spekulierte Graf Roon unter „Unruhe“ und dem „Oho!“ der linken Seite des Hauses, „daß eine hiesige große Firma, zu welcher Herr Lasker als Rechts-Anwalt Beziehungen haben soll[e, …] sich […] um den rentabelsten Theil, besonders beworben“ habe. Nach diesem Verstrickungsvorwurf schloss das Schreiben mit der Kampfansage, dass es die Regierung nie versäumen werde, alle „Beschuldigungen nach Kräften aufzuhellen“, sich aber ebenso dazu verpflichtet fühle, „die Beamten […] dann öffentlich in Schutz zu nehmen, wenn sie […] in ihrer Integrität unter Umständen angegriffen [würden…], welche den Schutz durch den Strafrichter“ ausschlössen.910 Obwohl der Ministerpräsident die persönlichen Verdächtigungen gegen Eduard Lasker, von deren Unrichtigkeit er sich zwischenzeitlich überzeugt hatte, sofort widerrief,911 zwangen sie den nationalliberalen Politiker doch zu dem berühmten Gegenschlag in Gestalt der „Gründerrede“.912 Schon deswegen traf der Politische Korrespondent der liberalen Preußischen Jahrbücher voll ins Schwarze, dass der „Brief, worin der Ministerpräsident die Vertheidigung des angeschuldigten Beamten vorwegnahm, […] nach Form und Inhalt ein Mißgriff“ war, weil die „Regierung, statt eine sorgsame Prüfung des Sachverhaltes vorzunehmen, ohne Weiteres 907 Meyers Lexikon XIV, 1908, S. 752. Zu Stellung und Regierungsnähe der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung s. I. Fischer-Frauendienst, Pressepolitik, 1963, S. 52, 54 f., 59 f. R. W. Dill, E. Lasker, 1956, S. 99 vermutet, dass die betreffenden Artikel aus Wageners Feder stammten. 908 So R. W. Dill, E. Lasker, 1956, S. 97. 909 Zu Bismarcks Kenntnis von und Billigung der Beteiligung W. Saile, H. Wagener, 1958, S. 116. 910 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 933 f. 911 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 934. Der Ministerpräsident „bedauer[t]e daher, daß [er sich…] durch einen Irrthum habe verleiten lassen, eine Aeußerung dem Briefe einzuverleiben, die besser unterblieben wäre“. 912 Zunächst betonte Lasker, dass er mit diesem Passus, der nach „Auffassung des Hauses als eine Insinuation gegen [seine…] Ehre gerichtet“ gewesen sei, überhaupt nichts anfangen könne: Er habe nicht nur „nie mit irgend einer Firma über irgendeine Eisenbahn […] je in [seinem…] Leben ein Wort gesprochen“ und mehr noch sein „ganzes Leben darauf eingerichtet, daß jeder [seiner…] Schritte die öffentliche Prüfung in Beziehung auf Geldangelegenheiten bestehen [könne, ja…] Alles zurückgewiesen […], was nicht allein in direkten Widerspruch, sondern überhaupt in irgend eine Konkurrenz mit [seiner…] öffentlichen Thätigkeit [habe] treten können“ (VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 934).

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die Unbegründetheit der Anklage voraussetzt[e] und gar die Insinuation, wodurch der Hauptangeklagte den Credit des Anklägers zu bemängeln sucht[e], sich zu eigen macht[e]“.913 2. Anklagen und Untersuchungsforderungen Zur Vorbereitung dieses zweiten Vorstoßes hatte sich Eduard Lasker, dem sein Parteifreund Forckenbeck das harsche ministerielle Schreiben vorab überlassen hatte, mit Hilfe eines politischen Verbündeten, des Reichstagsabgeordneten und ehemaligen Bankiers Ludwig Bamberger, unter erheblichem Einsatz aus allgemein zugänglichen amtlichen Quellen, ihm zugetragenen Akten und anderen Schriftstücken sowie Auskünften sachkundiger Dritter akribisch über das „Gründerunwesen“ im Allgemeinen und das Geschäftsgebaren Hermann Wageners im Besonderen informiert.914 In der „Gründerrede“ warf er dem Konservativen weiterhin den Handel mit mindestens einer Konzession vor. Die Aktiengesellschaft, die der Ministerpräsident zur Verteidigung Wageners als Konzessionsadressatin ins Spiel gebracht hatte, habe bloß als Strohmann fungiert.915 Bei ihrer Gründung sei man nach dem „System Strousberg“ verfahren, indem Scheinzeichnungen von beinahe 7,4 Millionen lediglich Einzahlungen von gerade 460.000 Talern gegenübergestanden hätten. Anschließend habe man versucht, diesbezüglich „den Handels-Minister zu hintergehen“ und den Handelsrichter in strafbarer Weise zu täuschen. Obgleich die Gesellschaft ihre Wertpapiere mit einem „Wucherabzug ohne Gleichen“ verkauft habe, hätten die mit dem Bau beauftragten „Unternehmer […] sie als Vollzahlung nach dem Nennwerth“ akzeptieren müssen.916 Schon jetzt forderte Eduard ­Lasker eine Untersuchung zu einzelnen nebulösen Vertragspassagen; insbesondere ein Abzug von 300.000 Talern für bestimmte Streckenabschnitte war ihm „unerklärlich“.917 Das Ehrenzeugnis, Ministerpräsident Roon und Amtsvorgänger Bismarck hätten sich in der fraglichen Zeit „in dem Dienste des Vaterlandes“ in Frankreich aufgehalten, so dass sie von jeder Verantwortlichkeit für das Treiben ihres „höchsten Beamten in der Heimath“ freizusprechen wären,918 hatte unter dem Blickwinkel ihrer politischen Verantwortlichkeit einen äußerst faden Beigeschmack.919 913

N. N., PrJb 31 (1873), S. 203 (208). Vgl. J. F. Harris, Study, 1984, S. 93. 915 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 937 f. 916 Hermann Wagener habe zwar im Oktober 1871 selbst anerkannt, „daß die Aktien nicht voll gezeichnet“, „die 10 pCt. nicht eingezahlt“ gewesen seien, zuvor aber im Februar ent­ sprechende „Angaben beim Handelsrichter gemacht“, obwohl „unrichtige Angaben vor dem Handelsrichter mit einer Strafe bis zu 3 Monaten Gefängniß bedroht“ seien (VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 942). s. auch S. 940 ff. 917 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 941 f. 918 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 940. 919 R. Schuder, E. Lasker, 2008, S. 125 spricht von einem „Hauch an Ironie“. 914

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Nach dieser Abrechnung mit dem in weiten Kreisen unbeliebten Hermann Wagener, die Presseberichten zufolge mit allgemeiner Genugtuung aufgenommen wurde,920 wendete sich Eduard Lasker dem „System Strousberg“ zu, durch das Strecken „viel theurer gebaut“, das „Gesetz über die Eisenbahnsteuer […] umgangen“ und der Staat mit Hilfe des Handelsministeriums „um einen Theil der Steuer geprellt“ worden seien. Indem eine blühende Schwindelwirtschaft der „Volkswirthschaft im Großen“ schade, hätten Strousberg und Konsorten „unendliches Unglück über zahlreiche preußische und deutsche Bürger gebracht“. Durch die „ungeheuren Summen“, die dabei im Spiel gewesen seien, reiche die „Korruption“ mittlerweile „bis in die höchsten Schichten hinauf“. Zum Nachteil der Allgemeinheit litten Bahnbau, Beförderung und Sicherheit. Die unsauberen Machenschaften des „Systemmachers“ hätten nicht nur dem „deutsche[n] Name[n] im Auslande einen Makel“ aufgedrückt, sondern der Geschäftskultur überhaupt geschadet; mittlerweile seien die „meisten angesehenen Firmen der großen Geldmänner kleine Strousbergs“. Der „Unterschied zwischen legitimem Gewinn und illegitimem Gewinn, zwischen legitimem Unternehmen und schwindelhaftem Unternehmen [sei] so weit verwischt, daß im ganzen Lande Unternehmer […] in denselben Kessel der Ver­ur­thei­lung hineingeworfen“ würden.921 Im Grunde erschöpften sich diese Vorhaltungen wieder in Verdächtigungen und Pauschalierungen, für die Eduard Lasker, anders als gegen die von ihm vorgeführten konservativen Politiker, handfeste Beweise schuldig blieb. Möglicherweise klagte Bethel Henry Strousberg in seinen Erinnerungen nicht zu unrecht, dass „Gründerthum, Actienschwindel, Speculations-Manie, Finanz-Krisen, Con­ces­sions­unfug, Verschleude­ rung des Actien­capitals, theurer und schlechter Bau, Dis­cre­di­tirung eines wichtigen Industriezweiges, Demoralisation des Publicums u. s. w. […] Ausdrücke und Begriffe“ gewesen wären, die man ihm „statt jeder näheren Begründung“ vorgehalten habe.922

920 So hieß es in der Berliner Gerichts-Zeitung, No. 18, vom 13. Februar 1873, S. 2: „Die Genugthuung über das Gericht, welches Herrn Wagener jetzt ereilt hat, ist allgemein. Es wird daran erinnert, wie es Herr Wagener war, welcher u. a. einen vertraulichen Privatbrief des jetzigen Abgeordneten für Lignitz, Geheimen Regierungsrath Jacobi, nachdem er sich auf ziemlich unschöne Weise in Besitz dieses Schriftstückes gesetzt hatte, worin ein abweisendes Urtheil über die verfassungswidrigen Preß-Ordonanzen ausgesprochen war, an das Staats-Ministerium ablieferte und dadurch den Geheimen Rath Jacobi aus seiner Stellung als vortragender Rath im Ministerium des Innern beseitigte.“ Es handelte sich wohl um den 1816 geborenen Ludwig­ Jacobi, der die besagte Stelle zwischen 1860 und 1863 innegehabt hatte. 921 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 943 ff. 922 B. H. Strousberg, Wirken3 1876, S. 5. Tatsächlich wird es den damaligen ökonomischen und wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen nicht gerecht, das ausländischen Mustern folgende „System Strousberg“, einen Generalentrepreneur mit Aktien zu bezahlen, ausschließlich zu verdammen. Stattdessen war es wohl die einzige Möglichkeit, um die preußische Eisenbahnpolitik der „freien Konkurrenz“, bei der private Eisenbahnunternehmer neben staatlichen Vorhabenträgern tätig werden sollten, in die Tat umzusetzen. s. dazu D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 157 ff. und J. Borchart, Eisenbahnkönig, 1991, S. 177 f. mit einem Zitat des Chefs der Eisenbahnabteilung Theodor Weishaupt.

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Eduard Lasker ließ mit dem Vorwurf, dass der Handelsminister der Misere durch „Begünstigung“ Strousbergs Vorschub geleistet und selbst jetzt noch „fünf bedeutende Konzessionen auf Grund desselben Systems an Strousberg gegeben“ habe, massive Regierungsschelte folgen. Heinrich v. Itzenplitz habe sich sehenden Auges „an der Umgehung des Gesetzes“ beteiligt und „von vornherein übermäßige Kostenanschläge und ein viel zu großes Aktien-Kapital […] in dem Bewußtsein [akzeptiert], daß […] für die […] Kosten der Herstellung Aktien scheinbar zum Nominalwerthe angegeben […], in Wahrheit aber ein viel geringer[er] Werth verrechnet und nur dem wahren Werth entsprechend geleistet“ werden sollte. Aufgrund seines Credos, Eisenbahnen um jeden Preis zu bauen, habe der Handelsminister ein „wenig Rinaldo Rinaldini gespielt“; die literarischen Abenteuer dieses fiktiven ­ chwager C ­ hristian August Räuberhauptmanns hatte Johann Wolfgang v. Goethes S Vulpius Ende des 18. Jahrhunderts publiziert. Außerdem legte Eduard Lasker der Staatsregierung  – „mindestens als moralische Urheberin“  – eine gewisse Mitverantwortung für die „mannigfachen Machinationen“ zur Last.923 Die offizielle Eisenbahnpolitik, die auf eine „offenkundige Umgehung des Gesetzes“ baue, verteufelte er als schlichtweg „unausstehlich“. Statt hinderliche Vorschriften zu missachten, müssten die Minister „innerhalb der Regierung darauf hinwirken, daß die Gesetze […] umgeändert“ würden.924 Weitere Vorwürfe betrafen die Bevorzugung zwielichtiger Personen, während man Kommunen, Kreisen und anderen seriösen Antragstellern Konzessionen verweigere oder eine Entscheidung unerträglich hinauszögere.925 Vielerorts sei der „Eisenbahnbetrieb“ auf das „Aeußerste in Verwirrung“, obwohl die Regierung durch das Eisenbahngesetz zum Einschreiten berechtigt und verpflichtet sei.926 Gegen die Ministerialbeamten erhob Eduard ­Lasker bloß den „Vorwurf  […], daß sie der Leitung des Geschäftes nicht gewachsen“ seien; Korruption sei in ihren Reihen nicht zu vermuten.927 Gegen Ende seiner fast dreistündigen Rede928 kündigte der nationalliberale Politiker einen „Antrag auf Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung der Thatsachen“ an. Zugleich äußerte er die Hoffnung, „daß die Königliche Staats-Regierung, soweit dies thunlich [sei, an der Aufklärung…] mitwirken“ werde. Einen Eingriff in ihre „Autorität“ beabsichtige er nicht; insbesondere solle das „Benehmen des Herrn Wagener als Beamter gar nicht“, sondern „nur insoweit beurtheilt [werden…], als wenn er ein Privatmann wäre“. Die disziplinarische Seite müsse das Ministerium dann „selbst beurtheilen“.929 923

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 943. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 950. 925 „[Ü]ber diesen Theil der Verwaltung“ verlangte Lasker „noch Aufschlüsse“ durch den Handelsminister und untermauerte diese Forderung damit, dass „nicht ohne Anschein des guten Grundes Unzufriedenheit im Lande“ herrsche, wenn derart mit zweierlei Maß gemessen werde (VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 949). 926 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 950. 927 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 947 f. 928 W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 27. 929 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 950. 924

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Nach dieser Anklage erklärte der Ministerpräsident, „daß [er…] viel Neues erfahren“ und „freilich den Brief […] nicht geschrieben, jedenfalls nicht so abgefaßt“ haben würde, sofern er sämtliche Überzeugungen des Vorredners teilen würde. Nach einem angesichts dieser Vorbehalte verfrühten „Bravo!“ der Versammlung stellte Albrecht v. Roon ausdrücklich richtig, dass dies „keineswegs der Fall“ sei.930 Eher bedeutungslos, beinahe larmoyant ließ sich Graf Itzenplitz ein, der lediglich beteuerte, dass man es nun einmal nicht jedem recht machen könne. Nach einer Schilderung des Verwaltungsverfahrens versuchte er sich damit zu exkulpieren, dass ihn die Verabredungen „zwischen den Herren, die die Geldgeschäfte mach[t]en“, „ja gar nichts an[gingen]“.931 3. Rückschlüsse auf Eduard Laskers Absichten Zieht man nach der „Gründerrede“, die Bismarck – den Erinnerungen Robert Lucius v. Ballhausens zufolge – „zu wenig sachlich und zu aggressiv persönlich“ fand,932 ein vorläufiges Resümee, schwebte Eduard Lasker eine umfassende parlamentarische Untersuchung vor, die Elemente einer Skandal-, Kontroll-, Gesetzgebungs- und möglicherweise einer Kollegialenquête vereinen sollte. So ging es in der politisch brisanten Causa Wagener u. a. um verdächtige, zumindest unverständliche und ggf. missbräuchliche kautelarische Details.933 Ein aufklärungsbedürftiges Skandalon waren aus der Sicht Laskers die dubiosen Geschäftspraktiken der „Unternehmer“.934 Ebenfalls privatem Fehlverhalten galt die Erstreckung der Untersuchungsforderung auf die Unternehmungen, „bei welchen der Prinz Biron und der Fürst Putbus neben den Abenteurern betheiligt“ gewesen sein sollten.935 Auch den jeder Skandalenquête immanenten Aspekt, die Öffentlichkeit mit einer Untersuchung coram publico zu beruhigen, sprach der nationalliberale Politiker an.936 Außerdem sollte das Handelsministerium nach dem Muster einer Kontrollenquête für die bisherigen Verwaltungsfehler an den Pranger kommen. Soweit sich an 930

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 951. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 951 f. 932 R. Lucius, Bismarck1–3 1920, S.  28. Außerdem soll Bismarck es als „nicht loyal und­ unerlaubt“ bezeichnet haben, „eine solche Anklagerede zu halten über Privatpersonen und­ Verhältnisse, wo eine Entgegnung und Verteidigung nicht möglich sei“. 933 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 942. 934 Vgl. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S.  945 f.: Insbesondere ein nicht direkt genanntes Großprojekt, anhand dessen er dargestellt hatte, „wie die Geschäfte unter Schein und Verstellung sich abwickeln“ ließen, schien „in besonderem Maße“ zu verdienen, „untersucht zu werden […], weil sehr bedeutende fremde und hiesige Firmen dabei betheiligt [wären…], und das Publicum ein Interesse daran [habe…], daß die richtigen Namen genannt und nicht Namen Anderer vermuthet“ würden. 935 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 946 f. 936 Er forderte die Abgeordneten auf, „vor dem ganzen Lande dar[zu]thun, daß in den entscheidenden Körperschaften noch nicht die Tendenzen überhand [nähmen…], welche derartige Zustände im Lande möglich mach[t]en“ (VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 950). 931

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die parlamentarischen Untersuchungen gesetzgeberische Schritte knüpfen sollten, zeigten sich Züge einer Sachstands- oder Legislativenquête; dieser Zweck stand etwa für die Alternative des Staatsbahn- oder des gemischten Systems im Raum. Außerdem forderte Eduard Lasker, „Material“ zu der Frage zu „sammeln“, „ob denn nicht auch die gesetzlichen Bestimmungen einen Theil der Schuld“ trügen, „Lücken in den Gesetzen“ entweder den „Verkehr zu sehr eineng[t]en“ oder eine „Umgehung des Gesetzes“ zu leicht machten. Auch hing die Entscheidung, ob die Eisenbahnanleihe „von 120 Millionen bewilligt werden [könne, zu seiner Überzeugung…] nach der jetzigen Sachlage für viele Mitglieder von dem Ergebniß der Untersuchung ab“.937 Bloß sublim klang ein kollegialischer Aspekt an, indem Eduard Lasker auf Enthüllungsdrohungen der Gegenseite gegenüber seinen politischen Freunden erwiderte: „dann hinaus mit ihnen!“, sofern sich „in die Reihe der anständigen Männer […] Solche eingeschlichen [haben sollten…], die nicht in diesem Kreise sich zu bewegen verdien[t]en“.938 Gewisse Schlussfolgerungen über die „Beweismittel“, die dem nationalliberalen Politiker vorschwebten, gestatten die Quellen, auf die er sich selbst zur Vorbereitung seiner „Gründerrede“ gestützt hatte; schließlich war dieser parlamentarische Auftritt gewissermaßen die Ouvertüre der avisierten Untersuchung. Eine nicht zu unterschätzende Rolle sollten demnach offizielle Akten spielen: Für die Strohmannsrolle der Aktiengesellschaft berief sich Eduard Lasker auf einen Schriftsatz Hermann Wageners, in dem dieser sich selbst „als persönlicher Konzessionair“ bezeichnet hatte; das heikle Schriftstück gehörte zu den Gerichtsakten eines Rechtsstreits zwischen Wagener und seinen Partnern und war als Bestandteil der Beiakten zum Handelsregister öffentlich zugänglich.939 Bei den Akten befand sich ebenfalls eine „Bescheinigung“ des Handelsministers über angebliche Einzahlungen.940 Neben diesen und anderen Urkunden kamen private Schriftstücke zur Sprache: So hatte Eduard Lasker seine These, dass sich die Strousberg’schen Praktiken durchgesetzt hätten, mit dem „Formular eines wirklich abgeschlossenen Vertrages“ untermauert.941 Hinweise auf Aktienschwindel und Wucher entnahm Eduard Lasker Briefen von Subunternehmern, die sich der schlechten Zahlungsmoral der Hauptunternehmer wegen hilfesuchend an ihn gewendet hatten.942 Über die Benachteiligung solider Antragsteller hatten sich verschiedene Bürgermeister beschwert. Weitere Berichte stammten von Abgeordneten sowie aus einem „Zeitungsblatt“.943 Die wohl wichtigste Quelle waren Mitteilungen informierter, sachkundiger und betroffener Personen. Ausgerechnet ein Parteifreund Hermann Wageners hatte 937

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 950. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 945. 939 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 937 f. 940 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 942. 941 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 945. 942 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 943. 943 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 948 f. 938

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Eduard Lasker Informationen zugespielt und sich für ihre Richtigkeit verbürgt.944 Auch über eine „Geldabfindung“ an den bedrängten Konservativen hatte sich ein Ab­geordneter „unter schriftlicher Bescheinigung seiner Verantwortlichkeit“ und „zum Gebrauch vor dem Hause“ geäußert.945 Die mutmaßlich anrüchigen Nebenvertragsklauseln, deren Bedeutung Eduard Lasker u. a. durch die Untersuchung klären wollte, waren ihm durch Zeugenaussagen bekannt und durch den „amtlichen Bericht eines Beamten der Gesellschaft bestätigt“.946 Dass der ausbedungene Abzug von 300.000 Talern bis Ende 1872 noch nicht erfolgt war, war ebenfalls „durch Zeugenbeweis […] vorbehaltlich des Eides“ festgestellt.947 Über verdächtige Unternehmungen des Prinzen Biron oder des Fürsten Putbus existierte die „Darstellung“ eines informierten Mannes, „der sich erboten [hatte…], eidliches Zeugniß abzulegen“.948 Dem Vorwurf an den Handelsminister, nicht konsequent genug durchzugreifen, lag u. a. der „Brief“ eines „bedeutenden Kenner[s] des Eisenbahnwesens“ zu Grunde;949 wahrscheinlich könnte man im damals üblichen Sinn von einem „Sachverständigen“ sprechen. Trotz des insoweit entmutigenden Präzedenzfalls der Wahluntersuchung von 1863/64, als die Regierung Bismarck Behörden und Beamten explizit verboten hatte, mit der Untersuchungskommission des Abgeordnetenhauses zu kooperieren, hoffte Eduard Lasker dieses Mal, dass „die bei Weitem überwiegend große Mehrzahl [des…] Beamtenstandes“ weder „aus falscher Scham“ schweigen noch die „Untersuchung und Klarlegung von Dingen unter­drücken“ werde.950 Zu guter Letzt sollten „Personen, welche [man…] der Umgehung des Gesetzes“ zeihe, zu Wort kommen, „was in ihrem Sinne sie [dazu] gezwungen“ habe.951 Grosso modo hatte Eduard Lasker auf nahezu dieselben „Beweismittel“ wie das Abgeordnetenhaus bei früheren Gelegenheiten zurückgegriffen. Auskunftsersuchen an offizielle Stellen, die in der folgenden Untersuchung offenkundig eine Rolle spielen sollten, hatte er bei seiner „privaten“ Vorbereitung auf den parlamentarischen Schlagabtausch freilich noch nicht gestellt. Ungeachtet dessen ging es offenkundig um eine „echte“ Enquête bzw. Untersuchung im Sinne parlamentarischer Selbstinformation.

944 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 936. Der Berliner Gerichts-Zeitung, No. 17, vom 11. Februar 1873, S. 2 zufolge soll es sich um den Rittergutsbesitzer Heinrich Leonhardt v. ArnimHeinrichsdorf gehandelt haben. 945 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 936. 946 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 941 f. 947 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 942. 948 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 946. 949 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 950. 950 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 936 f. 951 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 950.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

IV. Das Ringen um die Untersuchung 1. Eduard Laskers Untersuchungsantrag Am nächsten Tag, dem 8. Februar 1873, beantragte Eduard Lasker gemeinsam mit etwa 110 Mitstreitern, „in Gemäßheit des Artikel 82 der Verfassungs-­ Urkunde eine Untersuchung derjenigen Thatsachen zu veranlassen, welche geeignet [seien…], Informationen darüber zu gewähren[, …] in welchem Maaße die Seitens der Staats-Verwaltung bei Ertheilung von Eisenbahn-Konzessionen den Unternehmern auferlegten Nachweisungen und Bürgschaften thatsächlich die Erfüllung derjenigen Zwecke gesichert [hätten…], welche die […] Gesetze und allgemeinen Verwaltungsnormen, insbesondere Behufs authentischer Feststellung und Beschaffung des Herstellungs-Kapitals zu erreichen beabsichtig[t]en“. Weiterhin sollte aufgeklärt werden, „ob und in welchem Maaße die Verträge und Vorgänge bei der Ausführung der Bauprojekte mit den gesetzlichen Vorschriften, allgemeinen Verwaltungsnormen und den Nachweisungen der Unternehmer thatsächlich übereingestimmt“ hätten.952 Das primäre Erkenntnisinteresse richtete sich also auf die Regierungs- und Exekutivtätigkeit sowie die bestehenden gesetzlichen Vorschriften. Erst die zweite Forderung zielte im Sinne einer privatgerichteten Skandalenquête auf die dubiosen Geschäftspraktiken, die Eduard Lasker am Vortag angeprangert hatte. Obwohl die ausdrückliche Bezugnahme auf Art.  82 PrVerf  1850 keinen Zweifel daran ließ, dass es den Antragstellern um eine parlamentarische Untersuchung ging, ebneten sie mit ihrer Aufforderung, „die Königliche Staats-Regierung zur Mitwirkung bei dieser Untersuchung einzuladen“,953 dem Gouvernement möglicherweise ungewollt den Weg, um die ganze Sache ohne allzu großes Risiko öffentlicher Kritik unter seine Fittiche zu nehmen. 2. Die Königliche Botschaft Eduard Laskers Forderungen, über die Albrecht v. Roons Sohn Waldemar in den Denkwürdigkeiten seines Vaters räsonierte, es habe sich um den „radikalsten, auf Parlamentsherrschaft gerichteten Gelüsten entsprechende[n] Antrag“ überhaupt gehandelt,954 gaben der Regierung gemeinsam mit dem ungeheuren öffentlichen Echo955 Anlass zu Besorgnis und Intervention: Schon am 9./10. Februar 1873 zeigte sich Wilhelm  I. gegenüber dem Ministerpräsidenten besorgt, „daß das Haus eine Kommission erwählen soll[e], um die Untersuchung über die aufgestellten Fragen vorzunehmen über Verhalten der Staatsregierung“; er be 952

SlgDrsPrAbgH XI/3 (1872/73), Nr. 160. SlgDrsPrAbgH XI/3 (1872/73), Nr. 160 (Hervorhebung nur hier). 954 W. v. Roon, v. Roon III5 1905, S. 348. 955 W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 28. 953

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fürchtete ein gefährliches „Präcedens“, das „zu des Hauses Entscheidung führen soll[e], Königliche Beamte wohl gar zu verurteilen, was doch nur die Gerichte könn[t]en“. Der Monarch verlangte eine Expertise, „ob der Laskersche Antrag zurückgewiesen werden“ könne; jedenfalls habe das Ministerium durch eine eigene „Untersuchung seinerseits der Lasker-Enthüllungen […] die Unstatthaftigkeit derselben festzustellen“. Unter Hinweis auf einen Ratschlag Bismarcks forderte der König den Ministerpräsidenten ausdrücklich dazu auf, „gleichzeitig die Initiative [zu…] nehmen […] und eine Kommission dieserhalb ein[zu]setzen, unter Vorsitz eines Ministers und Zuziehung von Kronsyndici“; Albrecht v. Roons in der Kammer erhobene Forderung, „audiatur et altera pars“, müsse „vor einer Königlichen Kommission und nicht vor einer Parlamentskommission“ verwirklicht werden. Als Konzession, die, wie der deutsch-freisinnige Reichstagsabgeordnete Karl Schrader 1891 zweifellos zu Recht vermutete,956 sowohl dem Selbstinformationsrecht des Art. 82 PrVerf 1850 als auch der öffentlichen Erregung über die Angelegenheit geschuldet war, sollten Mitglieder beider Häuser an der Untersuchung beteiligt werden. Den unglücklichen Handelsminister warnte der König, „sein­ jetziges Abgehen“ müsse zur Überzeugung Bismarcks „als Schuldbekenntnis erscheinen“; besser solle „er auf Untersuchung selbst dringen“.957 Diesem strategischen Konzept entsprechend eröffnete Ministerpräsident ­Albrecht v. Roon dem Abgeordnetenhaus am 14. Februar 1873, dass der König die Niedersetzung einer „Spezial-Untersuchungs-Kommission“ beschlossen habe, um aufzuklären, „ob und in wie weit die einschlägigen Gesetze und die geltenden Verwaltungsnormen die Erfüllung der bei Ertheilung von Eisenbahn-Konzessionen beabsichtigten Zwecke zu sichern und das Publikum gegen Täuschungen und Beeinträchtigungen zu schützen geeignet“ seien. Auch solle diese Behörde eruieren, „welche Aenderungen in der Gesetzgebung und Verwaltungspraxis erforderlich [wären…], um vorhandenen Uebel­ständen und Mißbräuchen thunlichst abzuhelfen“. Dieser Auftrag sollte der unausweichlichen Enquête zweifellos die im Abgeordnetenhaus aufgesetzte Spitze gegen die Regierung nehmen. Zu ­allem Überfluss sollte die „Spezial-Kommission“ aus dem Präsidenten der Seehandlung William Günther als Vorsitzendem sowie „aus zwei [königlich…] zu ernennenden Justiz- und zwei Verwaltungs-Beamten“ bestehen. Abgeordneten- und Herren­ haus wurden lediglich dazu aufgefordert, „ihrerseits je zwei Mitglieder zu erwählen“, so dass die Regierungsseite immer dominierte. Nach getaner Arbeit sollten der „Landes-Vertretung seiner Zeit die bezüglichen Kommissions-Berichte zugehen“.958 Unterzeichnet hatten diese Botschaft der König, Ministerpräsident­ Albrecht v. Roon, der durch die Protektion Wageners involvierte Außenminister Otto v. Bismarck und die anderen Minister einschließlich des bedrängten Grafen

956

VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3290. E. Berner, Wilhelm I.1–3 1906, Nr. 520, S. 290 f. Gekürzter Bericht auch bei W. v. Roon, v. Roon III5 1905, S. 348 f. 958 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1031. 957

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v. ­Itzenplitz,959 der sich so der königlichen Forderung beugte, die Aufklärung in eigener Sache außenwirksam zu unterstützen. 3. Die Untersuchungsdebatte Mitte Februar 1873 Tags darauf versammelte sich das Abgeordnetenhaus am Sonnabend zu einer außerordentlichen Sitzung. Auf der Tagesordnung standen die „Berathung und Beschlußfassung […] in Veranlassung der Königlichen Botschaft“, über den ­Antrag Lasker und das Amendement des Zentrumspolitikers Hermann v. Mallinckrodt, „[z]unächst eine Kommission von 14 Mitgliedern zu wählen und dieser […] den Antrag des Abgeordneten Lasker zur Prüfung, insbesondere zur eventuellen concreten Bezeichnung derjenigen Thatsachen zu überweisen, bezüglich welcher demnächst die Niedersetzung einer Untersuchungs-Kommission nach Maßgabe des Art. 82 der Verfassungs-Urkunde zu beschließen sein“ werde.960 Das Ministerium war außer durch den Ministerpräsidenten Roon und den beschuldigten Handelsminister durch Innenminister Friedrich zu Eulenburg, Justizminister Adolf Leonhardt und Kultusminister Adalbert Falk vertreten.961 a) Inhaltliche Erwartungen gegenüber einer Untersuchung Angesichts der Erfahrungen von 1863/64 nimmt es wenig wunder, dass Eduard Lasker zur Eröffnung lobend anerkannte, dass die Regierungsspitze offenbar „ganz dieselben Ziele“ wie das Abgeordnetenhaus verfolge.962 Selbstredend überging er trotzdem nicht das naheliegende Motiv, einen „parlamentarischen Vorgang abzuwenden, der sonst unabwendbar gewesen wäre“, billigte ungeachtet dessen aber das Grundanliegen, „über die angeregten Mißstände“, die „Mängel der Gesetzgebung“, die „Beschädigungen“ des „wirthschaftliche[n] Leben[s]“ sowie „zugleich auch über Mißbrauch der Verwaltung“ (!) eine Untersuchung anzustellen.963 Selbst der Berliner Arzt Wilhelm Löwe (Fortschrittspartei), der eine gemischte­ Enquête grundsätzlich ablehnte,964 begrüßte die Königliche Botschaft ausdrücklich, 959 SlgDrsPrAbgH XI/3 (1872/73), Nr. 179. Neben den Genannten handelte es sich um Friedrich Graf zu Eulenburg (Innenminister), Adolf Leonhardt (Justizminister), Otto Camphausen (Finanzminister), Adalbert Falk (Kultusminister), Georg Kameke (Stellv. Kriegsminister) und Otto Graf v. Königsmarck (Landwirtschaftsminister). 960 Der Vorschlag ging von Präsident Max v. Forckenbeck aus. Erster Tagesordnungspunkt war ein „Beschluß […] in Veranlassung der eingebrachten Allerhöchsten Botschaft“ „in Verbindung mit dem […] Antrag auf Einsetzung einer Untersuchungs-Kommission aus dem Hause“. s. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1032 und 1041 zum Beschluss der Tagesordnung. Zum Amendement Mallinckrodt s. SlgDrsPrAbgH XI/3 (1872/73), Nr. 177. 961 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1043. 962 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1043. 963 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1044. 964 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1056.

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weil sie – „über dem Streite der Parteien stehend“ – die Missstände anerkenne und ihre Beseitigung fordere.965 Insgesamt hatte der Vorstoß der Regierung die Stimmung kippen lassen: Mit Ausnahme der Deutschen Fortschrittspartei verlangten sämtliche Fraktionen die Unterstützung der königlichen Kommission; den Antragstellern wurde nahegelegt, ihre Motion zurückzuziehen.966 Bevor Eduard Lasker auf diese Forderungen einging, weil „die Sache […] jederzeit über die Form“ gehe, stellte er gewisse Bedingungen. Zunächst erkannte der nationalliberale Politiker an, dass die Königliche Botschaft eine „wirklich weite und rückhaltlose Anerkennung einer allgemeinen über die angeregten Gegenstände zu führenden Untersuchung“ enthalte. Die anstehende Untersuchung müsse „über den Mißbrauch der Verwaltung, über die Unzulänglichkeit der Gesetze, über die Täuschungen, welche mit den Konzessionen und mit den Bau­bedingungen getrieben [worden seien…], über das Unheil, welches […] in das Land gebracht [werde…], über die gänzlich unzulängliche Weise der Verwaltung des Konzessionswesens“ geführt werden. Man werde anhand von „einzelnen Beispielen“ nachzuweisen haben, dass ein „schwindelhaftes, gegen die Gesetze gerichtetes“ Verfahren „in ein vollständiges[, …] von der Regierung anerkanntes VerwaltungsSystem gebracht worden“ sei. Schlussendlich gehe es um die Frage, „wie nahe die Gefahr schon […] an die amtlichen Kreise und vielleicht auch an die Pforten der Landesvertretung“ herangetreten sei.967 Im Gegensatz zu der Königlichen Botschaft, mit deren Hilfe die unvermeidliche Enquête auf etwaige Mängel der Gesetzgebung, gewissermaßen also auf ein Feld gelenkt werden sollte, auf welchem dem Parlament mindestens eine Mitverantwortung zugefallen wäre, insistierte Eduard Lasker auf einer Kontrolluntersuchung gegenüber Regierungs- und Verwaltungsstellen, indem er die Vorwürfe gegenüber dem Handelsminister erneuerte, dass er Konzessionen mit „Prinzipienlosigkeit“, ja „Willkür“ an Geschäftemacher und Spekulanten verteilt und zugleich solide Bewerbungen ignoriert habe.968 Die Kritik gipfelte in der Feststellung, dass „[s]eit Jahren […] das nahezu schwerste technische Departement im preußischen Ministerium […] ohne zureichende Kenntniß der Thatsachen und ohne Beherrschung des Materials“ verwaltet werde. Bereite dieser Vorwurf auch dem „Menschen […] in keiner Weise Unehre“, müsse sich doch jeder künftige Amtsinhaber 965

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1055. s. etwa die Erwartung des Konservativen Albert v. Wedell-Vehlingsdorff, E. Lasker werde „nach den Erklärungen der Königlichen Staats-Regierung Veranlassung nehmen […], seinen Antrag zurückzuziehen“ (VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1051). Der Zentrumspolitiker A. Reichensperger erklärte darüber hinaus, dass „die große Majorität des Hauses, wenn nicht das ganze Haus, sich auf die Grundlage der Königlichen Botschaft zu stellen gesonnen“ sei. Sei der Antrag beseitigt, falle „selbstredend“ auch das Amendement des Zentrums (S. 1053, 1055). Der konservative Landrat und Rittergutsbesitzer Wilhelm v. Rauchhaupt betonte, dass er nur das Wort ergreife, weil der Antrag noch nicht zurückgezogen sei (S. 1058). 967 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1046. 968 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1048 f. 966

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

„genau prüfe[n], wie weit er in der That die Zugänglichkeit zur Verwaltung dieses schweren Amtes mit sich bringe“.969 Die erneute Philippika gegen Heinrich v. Itzenplitz blieb nicht ohne Widerspruch: Unter Beifall von rechts betonte August Reichensperger, dass man „einstweilen den wiederholten Angriffen […] nicht sekundiren“ könne, weil selbst diejenigen, „die scheinbar wenigstens ihn von seinem Posten wegschieben woll[t]en“ (!), dem Handelsminister attestierten, ein „ehrlicher Mann“ zu sein. Anders als es heutigen Vorstellungen politischer Verantwortung entspräche, betonte der Zentrumspolitiker, es verstehe sich von selbst, dass ein Minister „unmöglich jedes Detail im voraus […] selbst anordnen und demnächst kontroliren“ könne. Die „Verteidigung“ durch den Handelsminister selbst fiel demgegenüber zum wiederholten Male keineswegs überzeugend aus: Er weigerte sich, auf die neuen Vorwürfe einzugehen, beteuerte bloß, dass die Dinge sich bei vollständiger Sachverhaltskenntnis anders darstellten. Unter dem Blickwinkel der Ministerverantwortlichkeit war die Ankündigung beachtlich, dass er die Konsequenzen ziehen werde, wenn die Untersuchung persönliche Fehler aus „Unwissenheit oder Unvollkommenheit“ ergeben sollte. Der Minister offenbarte dem Plenum, dass er nur deswegen noch nicht zurückgetreten sei, um nicht „selbstsüchtig […] während der Schlacht“ seinen Platz zu räumen oder gar den Eindruck eines schlechten Gewissens zu hinterlassen.970 Ungeachtet dessen würdigte das Schrifttum seine Demission nach Abschluss der Untersuchung als einen der wenigen Fälle nach der Revolutionszeit, „[d]aß […] in Folge parlamentarischer Anklagen ein Minister zur Niederlegung seines Amtes sich genöthigt sah“.971 Unterschiedlich wurde die Rolle der Beamtenschaft eingeschätzt: Während Eduard Lasker den Mitarbeitern des Handelsministeriums schon in der „Gründerrede“ attestiert hatte, sie seien keineswegs der „Charakterschwäche bis zur Korruption“ verdächtig, sondern schlicht unfähig,972 forderte er die Regierung in der Causa Wagener dazu auf, sich „unverzüglich“ darüber klar zu werden, „ob ein Beamter, der so gehandelt [habe…], in seinem amtlichen Verhältniß erhalten werden könne“; eine parlamentarische Untersuchung dieser Frage lehnte Eduard Lasker ab.973 Anders als der konservative pommersche Rittergutsbesitzer Albert v. Wedell-­ Vehlingsdorff, der den preußischen Beamtenstand als „Vorbild unwandelbarer Treue anspruchsloser Pflichterfüllung“ und den „Stolz jedes Preußen“ feierte,974 wollte der Fortschrittspolitiker Wilhelm Löwe, die Rolle der „Beamtenschaft“ in die Untersuchung miteinbeziehen.975 Dürfe die Kommission auch nicht dazu missbraucht werden, „gegen das ganze Beamtenthum zu kämpfen“, so sei es doch „um 969

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1049. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1055. 971 W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 31. 972 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 947 f. 973 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1048. 974 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1052. 975 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1056. 970

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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die sittliche Reinigung desselben zu thun“.976 Überraschende Schützenhilfe leistete dieser Forderung der Neukonservative Wilhelm v. Rauchhaupt, der aber die Hoffnung hegte, dass schon durch die „Unparteilichkeit und Strenge“ der regierungsnominierten Kommissionsmitglieder die „faulen Früchte aus dem preußischen Beamtenthum ausgeschieden […] und […] die Korruption […] im Grunde vernichtet“ würden.977 August Reichensperger verlangte, „vor Allem dahin zu wirken, daß bei der Anstellung und Ueberwachung der Beamten größtmögliche Sorgfalt [herrsche…], daß nicht nach Parteitendenzen, nach Gunst, nach diesen oder jenen äußeren Rücksichten bei Anstellung und Beförderung derselben gehandelt [werde…], daß man vielmehr vor Allem den Charakter, das Leben, die Prinzipien des Aspiranten in Betracht“ ziehe.978 Dass ausgerechnet ein Zentrumspolitiker auf moderne Prinzipien der Bestenauslese pochte, dürfte auf die Zurücksetzung katholischer Bewerber in der Folge des Kulturkampfes zurückzuführen sein. Während August Reichensperger der modernen Wirtschaftsgesetzgebung allgemein eine „Einschläferung und das Irreführen der Gewissen“ vorwarf,979 holte Albert v. Wedell-Vehlingsdorff zu einem kräftigen Schlag gegen den Liberalismus aus: Anders als die Konservativen, die sich „auf dem Boden eines mühe­vollen, wenig lohnenden, aber reellen Erwerbs beweg[t]en“, wandele die „Neuzeit in der Sucht des schnellen, mühelosen Erwerbes auf sehr bedenklichen Wegen“. Der Pommersche Rittergutsbesitzer tadelte die moderne „Neigung[,] sich von der persönlichen Verantwortung zurückzuziehen und […] hinter Actien-Unternehmungen zu decken“, als „beklagenswerthe Erscheinung“. Auch an den üblen Folgen des „allgemeinen Drängens nach schrankenloser Freiheit“ habe die „moderne Gesetzgebung einen sehr wesentlichen Antheil“, indem man versucht habe, die „bestehenden Schranken gegen den Mißbrauch schnell zu beseitigen, ohne die Garantien für den wohlthätigen Gebrauch der Freiheit zu schaffen“. Gegenüber dem Antrag Lasker, der nur darauf gerichtet wäre, „wie weit in der Vergangenheit die gesetzlichen Schranken innegehalten“ worden wären, ziele die Königliche Botschaft auf die wichtige Frage, „wie weit die bestehenden Gesetze […] dem Publikum den nöthigen Schutz […] gewähren“ könnten. Tatsächlich sei ernstlich zu erwägen, ob die „bestehenden Gesetze […] Aenderungen nöthig“ hätten, um „dem wirklichen Uebel an die Wurzel zu kommen“.980 Mit seinen Forderungen schlug sich der Konservative nicht nur auf die Seite der bedrängten Regierung, sondern griff simultan das wirtschaftsliberale Grundcredo der Nationalliberalen an.981 Auch der Neukonservative v. Rauchhaupt forderte, das für die „Aenderung der Gesetzgebung“ er 976

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1057. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1059. 978 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1055. 979 Ursächlich seien einerseits die „Aufhebung der Wucher-Gesetze“ und andererseits die „sonstigen ‚liberalen‘ Gesetze[n]“, die „eine Erschütterung des religiösen und moralischen Bewußtseins im Volke“ zur Folge hätten (VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1054). 980 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1052. 981 Zu deren wirtschaftspolitischer Ausrichtung s. G. A. Craig, DtGesch, 1989, S. 67; J. F. Harris, Study, 1984, S. 93, 96 sowie 94 zur Kritik am wirtschaftsliberalen Kurs der Nationalliberalen. 977

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

forderliche Material zu beschaffen. Dem politischen Gegner warf der Landrat des Kreises Delitzsch vor, er habe „noch die Aktiennovelle hinzugefügt“, nachdem das „System Strousberg seine bitteren Früchte“ bereits getragen habe. Die Neuregelung habe „ganz klar und nothwendig, namentlich auf dem Gebiete des Eisenbahnwesens, zu den allergrößten Schäden führen“ müssen.982 Auch Wilhelm Löwe verlangte gesetzgeberische Schritte. Keinesfalls dürfe man sich über bestehende Mängel bloß unterrichten, sondern müsse Möglichkeiten, „wie ihnen abgeholfen und wie die Zukunft gebessert werden“ könne, miteinbeziehen. Um den „Geschäftsgang [eines…] wichtigen Zweige[s] der öffentlichen industriellen Thätigkeit mit dem öffentlichen Gewissen und mit den guten alten Traditionen [des…] Handelsstandes wieder in Uebereinstimmung“ zu bringen, brauche es neue Einrichtungen oder Gesetze. Die Kommission dürfe sich deswegen nicht auf das Spezielle beschränken, sondern müsse den „Zweig des Uebels, der aus dem Aktienwesen im Allgemeinen [hervorgehe…], in den Kreis ihrer Betrachtungen […] ziehen“. Zu guter Letzt nutzte Wilhelm Löwe die günstige Gelegenheit, um das „Genossenschaftswesen nach Schulze-Delitsch“ als Alternative zu den fatalen Aktiengesellschaften anzupreisen.983 August Reichensperger brachte mit der Presse einen weiteren „Verdächtigen“ ins Spiel. Zwar hätten die Zeitungen dieses Mal das „öffentliche Gewissen“ wachgerufen. Früher hätten sie sich aber „nur zu oft“ gebrauchen lassen, um eben dieses „öffentliche Gewissen einzuschläfern“, „dem Unrechte Vorschub zu leisten, und die Schäden zu verdecken“. Redaktionen seien geschmiert worden, um mit dafür zu sorgen, dass der „leichtgläubige, gutmüthige Spießbürger seine ersparten Groschen den großen Gründern zu Füßen“ lege.984 Mit der Mahnung, dass „sowohl die theilweise zugeständlich offiziöse Presse, als auch die nach dem allgemeinen Urtheil des Publikums officieusement alimentirte Presse, überaus thätig [seien…], um dasjenige niederzuhalten, was nicht grade in das augenblickliche Regierungssystem“ passe, ja man zu Recht im vergangenen November die Pressesubventionen bei „Besprechung des sogenannten Welfenfonds“ beanstandet habe, machte der Zentrumspolitiker gegen die Methoden der Regierung im Kulturkampf mobil.985 Tatsächlich waren verschiedene Zeitungen dem Reichskanzler gegen direkte Zahlungen zu Diensten.986 Darüber hinaus wurden finanzschwache konservative Blätter durch Gründungshilfen und laufende Mittel aus dem beschlagnahmten hannoveranischen Vermögen unterstützt, um etwa die horrenden Kautionen aufzubringen, die das Pressgesetz von 1850 vorsah.987 Unterstützung, es existierten wirklich „Uebelstände in der Presse“, leistete Wilhelm Löwe, nahm aber die 982

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1059. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1056 f. 984 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1053 f. 985 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1053. Zur Pressebeeinflussung mit Welfenfondsmitteln s. G. A. Craig, DtGesch, 1989, S. 71 sowie I. Fischer-Frauendienst, Pressepolitik, 1963, S. 69. 986 Vgl. G. A. Craig, DtGesch, 1989, S. 71. 987 s. I. Fischer-Frauendienst, Pressepolitik, 1963, S. 68 ff. 983

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politische Presse in Schutz, weil sich „bei den großen Zeitungen der verschiedensten Parteien ehrliche Leute […] an der Spitze der Redaktionen“ fänden. Trotzdem könnten die Zeitungen „mehr und mehr in den Kreis der Aktienunternehmung gezogen“ werden und „mit dem Wegfall der Besitzer andre Verhältnisse“ eintreten.988 Sämtliche Parteien versuchten also, die geforderte Untersuchung über den eigentlichen Anlass hinaus politisch auszuschlachten. Während teils das Ideal des Staatseisenbahnsystems propagiert wurde, wendete sich die katholische Seite gegen Pressemanipulationen, Welfenfonds und die Vergabe öffentlicher Dienst­ posten nach anderen als objektiven Kriterien. Die Konservativen nutzten die günstige Gelegenheit, um mit dem Liberalismus, seinen wirtschaftlichen Grundsätzen und dem vermeintlichen Irrglauben an die individuelle Freiheit als Quell allen Übels abzurechnen. Eine allgemeine Grundsatzdebatte über ethische Grundwerte schwebte anscheinend auch Eduard Lasker vor, indem es ihm „[v]ielleicht […] eine gute Fügung“ zu sein schien, „daß [man…] gerade im jetzigen Zeitpunkt zu dieser Mahnung [komme…], weil gar Viele, mit Recht begeistert über die großen Erfolge des nationalen Aufraffens, allzusehr den Erfolg und auch den materiellen Erfolg über den sittlichen Inhalt zu stellen verführt sein könn[t]en“.989 Zu guter Letzt forderte Albrecht v. Roon nach dem Motto, „Man soll niemand ungehört verdammen!“, Gerechtigkeit für die angegriffenen Beamten und Honoratioren und betonte, dass die Dinge dem „beredten Vortrag“ zum Trotz ein „anderes Gesicht“ erhalten würden, wenn erst die „Akten vervollständigt“ würden; zu diesem Zweck könne die Spezialkommission das erforderliche Material liefern.990 Wie die übrigen Seiten setzte die Regierung also für ihre politischen Ziele ebenfalls auf eine – von ihr dominierte – Untersuchung. b) Parlamentarische vs. Regierungsuntersuchung Ein für die Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung zentraler Diskus­ sionspunkt bestand in der Alternative einer parlamentarischen oder einer gouvernementalen Untersuchung. Selbst Eduard Lasker als die insoweit treibende Kraft erkannte an, dass eine „parlamentarische Untersuchung“ keineswegs „an sich nach allen Richtungen hin die größten Vortheile darbiete“. Auf der Habenseite verbuchte er die „Herrschaft“ des Abgeordnetenhauses „über das Material und […] über die Wege“, „welche zu einer völlig aufklärenden Untersuchung führen“ könnten. Weil eine parlamentarische Kommission als „Theil des Hauses“ verpflichtet wäre, „den Beschlüssen desselben Folge zu geben“, könne ihr das Plenum eine „Direktive“ mit auf den Weg geben, „in welcher Weise [sie…] die Untersu­ chung leiten soll[e]“; bei späteren Zweifeln könne sich die Kommission „an ihre Machtgeber […] wenden und […] eine weitere Direktive fordern“. Angesichts der­ 988

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1056. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1049. 990 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1050. 989

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

damaligen Ausgestaltung des Enquête- und Untersuchungsrechts als Mehrheitsinstrument waren diese heute alles andere als selbstverständlichen Deduktionen berechtigt.991  – Einen weiteren Vorteil sah Eduard Lasker darin, dass man den „verschiedenen Fähigkeiten dieses Hauses vollen Ausdruck […] geben“ könne, eine Möglichkeit, die „naturgemäß in der Wahl zweier Personen“ zu einer königlichen Kommission allenfalls „sehr eingeschränkt“ gegeben wäre. Zu guter Letzt zeichne sich ein parlamentarisches Gremium durch „größere Elastizität“ gegenüber „irgend eine[r] anderweitig eingesetzte[n] Behörde“ aus.992 Als Nachteil erkannte der Nationalliberale klar die nach der Wahlmanipula­ tions­untersuchung keineswegs fernliegende Gefahr, dass die Staatsregierung ihre Kooperation verweigern könne. Zwar stellte er in Anlehnung an diesen Präzedenzfall die These auf, dass „verfassungsmäßig die Behörden des Landes und insbesondere die Richter wohl dazu befugt, vielleicht sogar angehalten [seien], einer solchen parlamentarischen Kommission Auskunft zu geben“. Ebenso beschwor er das Trauma der gouvernementalen Seite, dass zum Jahreswechsel 1863/64 „thatsächlich eine große Zahl von Richtern den Requisitionen der Kommission nachgekommen [sei…], obschon die Regierung damals sich ausdrücklich gegen die Kommission erklärt“ habe. Trotz dieser verklausulierten Drohungen an die Adresse des Ministeriums konzedierte Eduard Lasker, „daß [man…] mög­ licherweise vor einer staatsrechtlichen Streitfrage“ stehe, durch die eine „Untersuchung […] an vielen Punkten eine Unterbrechung erleiden“ könne. Beschönigend war wohl die Feststellung, dass „[a]uch […] in Bezug auf die Kompetenz, welche eine solche parlamentarische Kommission einzelnen Personen gegenüber [besitze…], manches Hinderniß und manche Streitfrage möglich“ wäre.993 Für das konservative Lager widersprach Albert v. Wedell-Vehlingsdorff einer „Ausnutzung der verfassungsmäßigen Rechte“ der Kammer im konkreten Fall, weil man keinesfalls „mit Erfolg und mit Nachdruck“ auf Art.  82 PrVerf  1850 zurückgreifen, sondern allenfalls „sowohl die Autorität der Staats-Regierung als auch das Ansehen der Landes-Vertretung schädigen“ könne. Angesichts der Ankündigung des Ministerpräsidenten, dass jede „Mitwirkung“ an einer parlamentarischen Aufarbeitung nach der Königlichen Botschaft ausgeschlossen wäre, stehe man vor der Alternative, sich an der Regierungsuntersuchung zu beteiligen oder sie zu boykottieren.994 Gewaltenteilungsrechtliche Bedenken meldete ­Wilhelm v. Rauchhaupt an. Unter dem „Oho!“ und „Widerspruch links“ hob der neukonservative Landrat hervor, dass das Recht, „bei einer parlamentarischen Untersuchungs-Kommission alle diejenigen Befugnisse zu üben, die ein Gerichtshof“ habe, „verfassungsmäßig keineswegs unstreitig“ sei. Das Abgeordnetenhaus sei eben „kein englisches Parlament“, das die „Qualität eines Gerichtshofes“ habe, 991 Zur Weisungsfreiheit der Untersuchungsausschüsse gegenüber dem Bundestagsplenum s. B. Pieroth, in: Jarass/ders., GG13 2014, Art. 44 Rn. 3. 992 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1044. 993 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1044. 994 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1050 f.

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und infolgedessen „nicht berechtigt, Zeugen zu zitiren“. Zumindest bestehe die Gefahr, dass die Regierung einer parlamentarischen Untersuchung „ihren Arm versagen“ könne. Zu dieser „staatsrechtlich doch sehr bestritten[en]“ Frage legte der Redner den Abgeordneten ausgerechnet Ludwig v. Rönnes Preußisches Staatsrecht ans Herz, obwohl dieser Art. 82 PrVerf 1850 im liberalen Sinne gerade extensiv auslegte.995 Außerdem erinnerte Wilhelm v. Rauchhaupt die Antragsteller, dass sich Eduard Lasker in den Norddeutschen Verfassungsberatungen ebenso wie Carl Twesten gegen die Aufnahme einer vergleichbaren Vorschrift ausgesprochen habe, weil „praktische Resultate durch parlamentarische Untersuchungs-Kommissionen so selten erzielt würden“. Dagegen habe man den „Weg, den die Königliche Staats-Regierung jetzt betreten [habe, …], mit Freuden [zu] begrüßen“. Während königliche Kommissionen in England häufig neben parlamentarischen Gremien eingesetzt würden, sei eine „gemeinschaftliche Kommission“, „in der Vertreter des Parlamentes mit den Vertretern der Krone gemeinsam wirk[t]en“, für „Preußen […] gewiß staatsrechtlich richtiger“.996 Obwohl dieses Bedenken nicht ausdrücklich angesprochen wurde, kamen damit der „Gewaltenteilungseinwand“ oder mit anderen Worten: informationsrechtliche Vorbehalte aufgrund des „monarchischen Prinzips“ wieder einmal zu ihrem vermeintlichen Recht. Eduard Lasker gestand einer gemischten Kommission zu, dass sich sämtliche Hürden „unter Mitwirkung der Regierung […] leicht beseitigen“ ließen.997 Jedenfalls sei einer der „wesentlichen Vortheile“, dass die Regierung einem derartigen Gremium „gewiß alle Befugnisse zu Gebote stellen [werde], welche sie im Verwaltungswege einzuräumen im Stande“ sei. So könne sie „auch zur Vernehmung der Zeugen die Wege bahnen, [werde…] von den Behörden und auch von den Gerichten, soweit sie auf diese einzuwirken [imstande sei…], jede von der Kommission gewünschte Theilnahme fordern, […] das Vereidigungsrecht den Mitgliedern der Kommission verschaffen, unmittelbar oder durch die Mithülfe anderer Behörden“. Zu guter Letzt könne das Ministerium, sollten die Instrumente, „welche die Verwaltung […] einzuräumen“ vermöge, an ihre Grenzen stoßen, „mit den anderen gesetzgebenden Faktoren zusammenwirken, um die fehlenden Befugnisse der Kommission zu verschaffen“.998 Nach diesen Überlegungen hielt es Eduard Lasker für politisch vorteilhaft, wenn „das Abgeordnetenhaus und die Regierung gemeinsam wirkten und auch nicht 995 s. L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S. 323 ff. zu eigenständigen Ermittlungsbefugnissen einschließlich der Requisition der Behörden und der Vernehmung von Zeugen. 996 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1058. 997 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1044. 998 Etwas blauäugig erscheint die Begründung: „Denn, wer zum Ziele gelangen soll, dem muß man die Mittel gewähren, und es hätte keinen Sinn, eine Untersuchungs-Kommission einzusetzen und ihre Untersuchung dadurch zu lähmen, daß ihre Befugnisse nicht zureichen“. Wenn nur der Anfang gemacht sei, würden „dieselben drei gesetzgebenden Faktoren, die in der feierlichsten Weise zur Einsetzung der Untersuchungs-Kommission“ zusammengewirkt hätten, die erforderlichen Maßnahmen treffen (VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1045).

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

der Schein hervorgerufen [werde…], als ob hier ein Zwiespalt der Meinungen oder Absichten obwalte, als ob auf irgend einer Seite eine Verdunkelung angestrebt werde oder ein geringes Interesse für die Klarstellung der Thatsachen vorhanden sei“. Er lobte die „große Bedeutung des ersten Falles“, in dem die Volksvertretung „zur Untersuchung über Verwaltungsakte eingeladen [werde…], durch Wahl Seitens beider Häuser des Landtages an einer Königlichen Kommission Theil zu nehmen“. Gegen den dem konstitutionellen Regiment eigenen Dualismus richtete sich die Spitze, endlich komme das politische „Leben […] aus den starren und durchaus nicht zutreffenden Regeln einer systematischen und […] an vielen Punkten geistlosen Abgrenzung zwischen Verwaltung und Gesetzgebung“ heraus, indem zum „ersten Male“ anerkannt werde, dass es „Lagen [geben könne], in denen zum Wohle des Landes […] die mitwirkende Theilnahme der Volks-Vertretung an Geschäften der Verwaltung“ erforderlich sei. Abschließend versuchte Eduard­ Lasker mit der Mutmaßung, dass die Regierung mit diesem Schritt versuche, „zu ihrer eigenen Autorität noch die andere Autorität hinzuzufügen, welche vor dem tief erregten […] Volke in der Mitwirkung seiner gewählten Vertreter“ liege, das politische Gewicht der Landesvertretung geltend zu machen.999 Über dieser be­ mühten Evokation parlamentarischer Kontrollteilhabe vergaß er nicht, dass die Vertreter der Kammern zwar „neben der Regierung […] über das Ergebniß der Untersuchung selbstständig und aus ihrer eigenen Person Bericht abzustatten“ hätten, mit ihrer Wahl in die Kommission aber doch aus dem jeweiligen Haus des Landtages ausschieden und fortan „selbstständig unter eigener Verantwortlichkeit“ handelten. Die Volksvertretung höre das „Ergebniß erst, nachdem die Untersuchung abgeschlossen“ sei.1000 Anders als der Nationalliberale Lasker stellte der Fortschrittspolitiker Löwe in Abrede, dass eine gemischte Kommission die notwendigen „Garantien für volle Erledigung der vorliegenden Aufgaben [biete…], wie [man…] sie bei einer so großen, umfassenden, tiefgehenden, theils Personenfragen, theils Fragen der Vergangenheit, theils Vorbereitungen für die Zukunft betreffenden Aufgabe fordern“ müsse. Den Einwand, dass die Kammer zur Not anschließend noch eigene Maßnahmen ergreifen könne, wies er zurück, weil man „gerade heute nur an dem Punkte [stehe], einen wirksamen Beschluß in der Sache fassen zu können“. Habe sich die öffentliche Meinung erst einmal beruhigt, trete eine „Gleichgültigkeit ein, die es sehr schwer [mache…], die Sache ernstlich wieder vorzunehmen“.1001 Passend zu der heutigen Deutung, dass die Regierung eine parlamentarische Untersuchung vereitelt habe, warf Wilhelm Löwe dem Ministerium vor, dass es ein­ seitig eine gemischte Kommission angeordnet habe, statt mit der Kammer zuvor „in Rücksprache […] zu treten über die Kompetenzen, […] die Instruktionen […] und über die Art der Zusammenstellung“ dieses Gremiums.1002 999

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1044 f. (Hervorhebung nur hier). VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1046. 1001 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1056. 1002 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1057. 1000

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c) Bürgschaften für den Erfolg der gemischten Untersuchung Aus seinen Bedenken hinsichtlich einer gemischten Kommission leitete Eduard Lasker verschiedene Forderungen ab, um sicherzustellen, dass der von ihm beab­ sichtigte Untersuchungszweck trotz der schwachen Parlamentsbeteiligung erreicht werden könne. Würden ausreichende „Garantien“ gewährt, wollte er nicht auf der „Form der parlamentarischen Untersuchung“ bestehen.1003 Die Volksvertretung sollte sich an der Kommission „durch Wahl Seitens beider Häuser des Landtages“ beteiligen.1004 Tatsächlich beanspruchte die Staatsregierung nicht das Recht, die parlamentarischen Kandidaten zu bestätigen; tatsächlich wurden – anders als 1913, als die Reichsregierung Karl Liebknecht von der Teilnahme an der Rüstungsenquete aus eben diesem Grunde ausgeschlossen hatte,1005 – gegen Eduard Laskers Wahl keine Bedenken erhoben, obwohl er die Sache ins Rollen gebracht hatte und gewissermaßen als Ankläger aufgetreten war. Zutreffend erkannte der Nationalliberale als leitenden Gedanken hinter diesem Entgegenkommen den Wunsch, die aufgewühlte Öffentlichkeit nicht noch weiter zu beunruhigen, sondern eher zu besänftigen.1006 Außerdem hätte die Regierung andernfalls riskiert, dass das Abgeordnetenhaus eine eigene Untersuchung beschlossen hätte, ohne dass sie diesen Schritt hätte verhindern können. Kritik unterlagen die gouvernementalen Mehrheitsverhältnisse innerhalb der Kommission: Außer dem Vorsitzenden wurden von der Regierung zwei weitere Kommissionsmitglieder ernannt; zwei weitere Sitze gingen an das Herrenhaus, das erst im vorigen November durch einen Pairsschub auf Linie gebracht worden war. Wilhelm Löwe unkte über diese Kommissionsmitglieder, dass sie zur „Kritik der Regierung“ voraussichtlich „nicht besonders geneigt“ sein würden.1007 In dem Umstand, dass bloß zwei Vertreter des Abgeordnetenhauses in die Kommission gewählt werden sollten, diagnostizierte der Berliner Arzt einen den „Erfolg ihrer Arbeiten gefährden[den]“, „fundamentalen Mangel“;1008 ein derartiges Gremium werde weder zur „sittliche[n] Reinigung“ des Beamtentums taugen, noch „der Aufregung und den Ansprüchen […] in den weitesten Kreisen [des…] Volkes“ genügen. Beschwichtigungsversuche des Gouvernements, bei der Auswahl der Kommissionsmitglieder werde äußerste Vorsicht walten, wischte der Fortschrittspolitiker vom Tisch, weil Hermann Wagener durch dasselbe Vertrauen bis in höchste Staatsämter aufgestiegen sei; vor einem Personalirrtum dieser Größenordnung sei man bloß gefeit, „sobald eine größere Zahl von Vertretern aufgestellt wäre“. Das weitere Monitum, die „beschränkte Zahl der parlamentarischen Mit-

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VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1046. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1044 (Hervorhebung nur hier). 1005 s. 6. Teil 3. Kap B. IV. 3. 1006 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1045. 1007 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1057. 1008 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1056. 1004

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glieder“ wäre wegen des „außerordentlich große[n] Umfang[s]“ des zu untersuchenden Materials „besonders bedenklich“, dürfte der Sorge entsprungen sein, dass das Ministerium Bedeutsames in einer Flut von Trivialität versenken könnte. Tatsächlich verfuhr die Reichsregierung bei den Enquêten zu Rüstungen und Kriegsgewinnen mehr als 40 Jahre später in genau dieser Weise.1009 – Weiter kritisierte der Fortschrittspolitiker Löwe, dass es der parteipolitischen Komplexität der Volksvertretung keinesfalls gerecht werde, „mit Einem von dieser Seite und Einem von jener Seite […] Alles vertreten“ zu wollen. Stattdessen bedeute eine Beschränkung auf nur zwei parlamentarische Mitglieder „eine gewisse Gewaltsamkeit bei der Wahl“.1010 Dieser partielle Vorgriff auf den modernen Grundsatz der Spiegelbildlichkeit drang 1873 freilich noch nicht durch.1011 Angesichts der gouvernementalen Übermacht machte Eduard Lasker eine überraschend moderne Stellung der Kommissionsmitglieder zum Junktim seines Einverständnisses: Es sollte „selbst dem Einzelnen […] möglich sein […], mit seiner Stimme durchzudringen und überall Klarheit hineinzutragen, selbst wenn […] die Mehrheit [glaube, es könne…] die Durchforschung des einen oder anderen Gebietes vermieden werden“.1012 Insbesondere sollten die Untersuchungsforderungen einzelner Kommissionsmitglieder nicht von einem Mehrheitsbeschluss ab­hängen. Man dürfe nicht an ein „Kollegium denke[n], welches mit Stimmenmehrheit […] und routinemäßig [entscheide…], über das, was untersucht und über die Art, wie untersucht werden soll[e]“. Statt eine dogmatische Begründung für seine neuartige Forderung zu liefern, die für ein kollegiales Gremium das Mehrheitsprinzip desavouierte, um es durch ein Minderheitsprinzip zu ersetzen, verwies der nationalliberale Politiker schlicht auf die „Natur der Sache“. Ganz im Sinne dieses Minderheitenschutzes in eigener Sache  – als das voraussichtlich kritischste der parlamentarischen Kommissionsmitglieder sah er sich zwangsläufig einer gouvernementalen Majorität gegenüber –, verlangte Eduard Lasker weiter, dass jeder Einzelne auch über die „Beweismittel“ mitbestimmen könne. Statt „nach Art eines Gerichtshofes durch Stimmenmehrheit“ zu verfahren, müsse die Kommission jeden „Zeuge[n], welcher von dem einzelnen Mitgliede über einen bestimmten Beweisgegenstand genannt [werde…], wirklich“ hören. Anders als es bei den Gerichten in den „altländischen Provinzen“ üblich wäre, wo der „Vorsitzende allein […] mit den Zeugen und den berufenen Personen“ rede, müsse „jedem einzelnen Mitgliede das Fragerecht zustehen und zwar in seiner eigenen Person und nicht durch

1009

s. 6. Teil 3. Kap. B. IV. 5. und V. 3. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1057. 1011 Dazu BVerfGE 106, 253 (262) (Besetzung des Vermittlungsausschusses). Zur Sprache kamen derartige Forderungen im September 1866 bei den Beratungen über eine Änderung der Geschäftsordnung zur Wahl der Kommissionsmitglieder. Damals kritisierte der Berichterstatter Graf Schwerin die allein parteipolitisch-taktische Auswahl der Kommissionsmitglieder als einen der „Uebelstände“ der Wahl in den Abteilungen (VerhPrAbgH IX/1 (1866/67), S. 348 ff.). 1012 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1044. 1010

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den Mund des Vorsitzenden“. Missbrauchssorgen gegenüber diesen ausgedehnten Minderheitenrechten wollte er durch „Bürgschaften in den Personen“, die in die Kommission entsendet würden, entkräften; kein Kommissionsmitglied dürfe die „Wahrheit“ einem missbräuchlichen Erfolg unterordnen.1013 Im Kontext einer (auch) parlamentarischen Untersuchung boten diese Forderungen einen gewissen Vorgeschmack auf den Charakter des Selbstinformationsrechts als Minderheitenrecht, aus dem das BVerfG erst beinahe 130 Jahre später vergleichbare Anforderungen ableiten sollte.1014 Ministerpräsident Albrecht v. Roon lenkte ein, dass „natürlicherweise“ die „Mitwirkung jedes einzelnen Kommissions-Mitgliedes“ unbeschränkt sein müsse, weil man in der delikaten Angelegenheit „mit der größten Sorgfalt und Unparteilichkeit zu verfahren“ habe. Da aber seines Wissens nach die „einzelnen Beisitzer des Gerichts an der Zeugenvernehmung persönlich theilnehmen könn[t]en und keines ‚Mundstücks‘ bedürf[t]en“, sollten „die Befugnisse der Mitglieder, die Befugniß der Kommission, […] durch einfache Verweisung auf das Gerichtsverfahren zu präzisiren“ sein; damit brachte der Ministerpräsident erstmalig eine Verweisung auf die Prozessordnungen ins Spiel. Eduard Laskers Sorgen, kritische Stimmen könnten in der Kommission majorisiert werden, gelobte der Ministerpräsident, durch die Auswahl der Kommissionsmitglieder zu entkräften. Sein zweifelhafter Beschwichtigungsversuch, die Unterlegenen könnten „Zwistigkeiten“, „ob diese oder jene Maßregel noch zu ergreifen, diese oder jene Person noch zu vernehmen sei, ob man dieses oder jenes Beweismaterial noch herbeischaffen möchte u. s. w.“, jedenfalls im Protokoll dokumentieren, rief „Unruhe links“ hervor.1015 Anscheinend wollte der Ministerpräsident also doch das Mehrheitsprinzip gelten lassen oder die Leitung der Untersuchung dem königlich ernannten Vorsitzenden anvertrauen. Der Neukonservative Wilhelm v. Rauchhaupt ging ebenfalls davon aus, dass es, weil die „Kommission kein Gerichtshof“, sondern eine „Untersuchungs-Kommission“ sei, unmöglich wäre, „irgend Jemand mit seinen Anträgen, mit seinen Fragen nicht zu Worte kommen zu lassen“. Der dem „Hause später vorzulegende Kommissions-Bericht“ garantiere, „daß Alles, also Anträge, Diskussionen u. s. w. darin enthalten [wäre…], was von den einzelnen Mitgliedern berührt“ worden sei.1016 Der seit den frühen 1840ern hauptsächlich in Köln tätige Richter August Reichen­sperger erwiderte auf die Forderung, „daß jedes einzelne Mitglied die Zeugen fragen, selbstständig vorübergehend gewissermaßen die Instruktion in die Hand nehmen“ könne  – der Begriff wurde hier spezifisch prozessualistisch gebraucht1017  – dass nach seiner Erfahrung auch „jeder Richter, wenn er nur eben das Wort von dem Vor 1013

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1045 f. s. BVerfGE 105, 197 und dazu 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. 1015 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1050 (Hervorhebung nur hier). 1016 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1058 f. 1017 Nach den §§ 1 ff. Pr­Allg­GO 1815 galt nicht die gemeinrechtliche Verhandlungsmaxime, sondern der Richter hatte von Amts wegen die objektive Wahrheit zu ermitteln. s.  dazu in Fn. 480. 1014

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sitzenden [verlange…], selbstständige Fragen stellen, überhaupt inquiriren“ dürfe. Nichts anderes werde nach der Zusicherung des Ministerpräsidenten für die Kommissionsmitglieder gelten. Dagegen dürfe keinesfalls jeder Einzelne das Recht erhalten, „selbstständig Zeugen vorzuladen, überhaupt nach außen hin die Instruktion in die Hand zu nehmen“, weil sonst die „Einheit des Verfahrens“ in Frage gestellt werde. Dem Unterliegenden bleibe „immer noch der Rekurs, sei es an die Kammer, sei es an die Staats-Regierung“.1018 Trotz dieser Einwände war man sich offenkundig grosso modo im Interesse einer wahrhaft umfassenden Aufklärung über die Notwendigkeit einer Frühform des Minderheitenschutzes einig. d) Die Macht der öffentlichen Meinung Die Schlagkraft des modernen Untersuchungsrechts liegt neben den robusten strafprozessanalogen Befugnissen in der Beweiserhebungsöffentlichkeit, die jedes pikante Detail zur Kenntnis des Publikums bringt. Auch der Eisenbahn­skandal stieß in der erregten Öffentlichkeit auf breites Interesse:1019 Vom Großherzogtum Hessen bis nach Wien berichteten Zeitungen über die preußische Affäre; selbst die New York Times widmete ihr eine kurze Notiz.1020 Vor dem Hintergrund dieses 1018

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1053 (Hervorhebung nur hier). Vgl. den Hinweis des Fortschrittspolitikers Berger, VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 568. 1020 Zur öffentlichen Resonanz s. etwa A. Laufs, E. Lasker, 1984, S. 68, 69; J. F. Harris, Study, 1984, S. 93 f. Die Berliner Gerichts-Zeitung, No. 19, vom 15. Februar 1873, S. 3 berichtete ausführlich und mit Kommentaren über „Die parlamentarische  [!] Untersuchungs-Commission“. Im Großherzogtum Hessen war auf der Titelseite der Wormser Zeitung vom 9. Februar 1873 – also mit nur zwei Tagen „Verspätung“ – eine kurze Zusammenfassung des Schreibens Roons und der Gründerrede zu lesen. Weitere zwei Tage später folgte ein Bericht über die Vorgänge vom 8. Februar 1873, den Untersuchungsantrag und die folgende Debatte. Am 14. Februar 1873 widmete man sich einem Artikel der Provinzial-Correpondenz. Einem Bericht über die Königliche Botschaft fügte die Wormser Zeitung vom 16. Februar 1873 eine Stellungnahme der Nationalzeitung bei, dass, „ohne den Beschlüssen des Abgeordnetenhauses vorzugreifen und ohne im Namen einer Fraction zu sprechen, […] durch die Botschaft den Lasker’schen Anträgen der Boden entzogen sei, sowie daß die Annahme der letzteren und eine auf Grund hiervon gewählte Commission keinen entsprechenden Erfolg haben werde. Wenn die durch die Botschaft niedergesetzte Commission ihre Sache ernst nehme, dürfte sie im großen Ganzen auch erreichen, was die Lasker’schen Anträge bezwecken.“ Den gesamten redaktionellen Teil der ersten Seite nahmen schließlich am 18. Februar 1873 die Beratungen über Antrag und Botschaft, ein Kommentar aus der Spener’schen Zeitung sowie die Mitteilung der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung ein, „daß ihr so eben, kurz vor Schluß der Redaction, die Replik des Geh. Rathes Wagener auf die Anschuldigungen Laskers zugehe; der Abdruck des umfangreichen Elaborates sei in der heutigen Nummer nicht mehr möglich und werde in der nächsten Nummer erfolgen“ (Wormser Zeitung, No. 34, 35, 38, 40 und 41, vom 9., 11., 14., 16. und 18.  Februar 1873).  – Aus Wien s. Die Presse, No. 39, vom 9.  Februar 1873, S.  3 zu Roons Schreiben und Laskers Gründerrede. Drei Tage später folgte in No. 42, vom 12. Februar 1873, S. 4 ein Kommentar, der Wageners Situation und den Schaden betraf, den er Albrecht v. Roon mit dem Schreiben zugefügt habe: „Wenn er aus der Disciplinar-Untersuchung, die gegen ihn eingeleitet wird, glücklich herauskommen will, so muß Herr Wagener die Lasker’sche Rede […] Punkt für Punkt widerlegen. Andernfalls ist es um ihn geschehen, und Herr Wagener muß 1019

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Rauschens im Blätterwald konstatierte Eduard Lasker, dass „Zuschriften […] aus den verschiedensten Theilen Deutschlands“ zeigten, wie sehr seine Enthüllungen „das Gewissen des deutschen Volkes […] erweck[t]en“, ja auf wie außer­gewöhn­ lichen „Wiederhall“ sie stießen.1021 Durch seinen Appell, mit vereinten Kräften zu verhindern, dass der schädliche „Zustand der Aufregung […] permanent“ werde, warf er das Gewicht der öffentlichen Meinung in die Waagschale. Nur durch eine ehrliche Untersuchung, „bei der Regierung und Volks-Vertretung zusammen wirk[t]en“, könne die gefährliche Aufregung in ruhige „Theilnahme an den öffentlichen Verhältnissen“ verwandelt werden.1022 Wenn es aber „denjenigen, über welche die Untersuchung geführt werden soll[e, gelinge, …] zu entschlüpfen“, drohten dem nationalen „Gewissen“ schwere Nachteile; „heilloser Schaden“ lasse sich nur verhindern, indem „Jedermann […] überzeugt [werden könne…], daß mit der Fackel bis in die letzten Winkel hinein geleuchtet“ werde.1023 Eduard ­Lasker versuchte mit diesen Überlegungen, die öffentliche Meinung als Droh­ kulisse aufzubauen, um das Gewicht seiner Forderungen an die Durchführung der Untersuchung zu erhöhen. Den damit ausgespielten Zorn des Publikums hatte das Gouvernement schon während des Verfassungskonflikts zu spüren bekommen. Auch die bereits zitierte Äußerung Wilhelm Löwes, dass die Volksvertretung „gerade heute nur an dem Punkte [stehe], einen wirksamen Beschluß […] fassen zu können“, weil ihr die „öffentliche Meinung sehr günstig“ gesonnen sei,1024 offenbart, wie sehr sich die regierungskritischen Abgeordneten dieses einzigen, von Carl d’Ester 1848 akkurat beschriebenen Machtfaktors der Volksvertretung bewußt waren.1025 Das von der Gegenseite teils erhobene Bedenken, eine Untersuchung könne nichts als schädliche „Aufregung“ hervorbringen, „Schäden […] namentlich der in sehr weitem Stile erwerbenden Gesellschaft“ bloßstellen und die „ohnehin unzufriedenen der unteren Erwerbsschichten“ in Rage versetzen, wies Eduard Lasker ebenso zurück wie Sorgen, es könnten „vor dem Auslande“ Peinlichkeiten „bloßgelegt“ werden.1026 Der Fortschrittspolitiker Wilhelm Löwe widersprach solchen Sorgen als der Würde des Hauses unangemessen und forderte die Abgeordneten auf, „nie nach[zu]lassen […], die Selbstkritik zu üben“.1027 gewärtig sein, daß der Disciplinar-Richter die Acten an den Criminalrichter abgibt. In sein Amt […] kommt Wagener so wie so nicht mehr, denn er hat seine amtliche Stellung benützt, um durch Unwahrheiten, die er in das Roon’sche Schreiben an Forckenbeck einschmuggelte, den Minister-­Präsidenten auf das Gröblichste bloßzustellen […]. Da gibt es nur Eine Remedur: Wagener muß aus dem Staatsministerium herausgebracht werden“. s. ferner die kurze Notiz in der New York Times vom 16. Februar 1873. 1021 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1043. Zur öffentlichen Stimmung und der Verbreitung von Laskers Rede s. W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 28. 1022 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1049. 1023 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1046. 1024 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1056. 1025 C. d’Ester, Demokratie, 1849, S. 11. 1026 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1049. 1027 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1055 f.

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4. Antragsrücknahme und Wahl der Kommissionsmitglieder Nach der Königlichen Botschaft war die ursprüngliche Forderung einer parla­ mentarischen Untersuchung angesichts der Mehrheitsverhältnisse und Stimmung im Abgeordnetenhaus nicht mehr durchsetzbar: Nationalliberale und Fortschrittspartei verfügten über 123 bzw. 46 Sitze. Die polnische Fraktion besaß 19, das Zentrum 58 Mandate. Die Konservativen nahmen 114, die Freikonservativen 35 und die Altliberalen 11 Sitze ein.1028 Als der Zentrumspolitiker August Reichensperger – ebenso wie Redner anderer Fraktionen – Eduard Lasker dazu aufgefordert hatte, „seinen Antrag zurück[zu]ziehen“, weil „die große Majorität des Hauses, wenn nicht das ganze Haus, sich auf die Grundlage der Königlichen Botschaft zu stellen gesonnen“ sei, war die Angelegenheit erledigt. Zur Begründung seines Ratschlages hatte der katholische Politiker hervorgehoben, dass der Ministerpräsident die „Desiderate“ Laskers „in Beziehung auf das Verfahren der einzusetzenden Kommission […] im Großen und Ganzen […] als begründet und realisirbar erklärt“ habe.1029 In dieser ausweglosen Lage folgte Eduard Lasker den Geboten politischer Klugheit, als er einlenkte, seinen „Antrag […] zu Gunsten der Botschaft“ zurückzog und damit den Weg für eine Beteiligung an der königlichen Kommission freimachte.1030 5. Bewertung der Debatte Verbreitet heißt es, das Abgeordnetenhaus habe vor dem Staatsministerium kapituliert und damit das Ende der ohnehin kaum nennenswerten preußischen­ Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte besiegelt. Die in diesen Überlegungen mitschwingende Grundannahme, die Volksvertretung habe resigniert, ist durch die auf die „Gründerrede“ folgenden Debatten widerlegt. Im Übrigen lässt sich die Niedersetzung einer Spezialkommission keinesfalls als meisterhafter Coup d’Etat bewerten. Aufgrund ihres „Oberaufsichtsrechts“1031 war die Krone zu diesem Schritt unzweifelhaft berechtigt; Art. 82 PrVerf 1850 konnte und sollte kein parlamentarisches Untersuchungsmonopol begründen. Dass König und Ministerium auf das letztendliche Ergebnis der parlamentarischen Beratungen spekuliert hatten, ändert daran nichts. Als das Abgeordnetenhaus vor der Wahl stand, sich entweder auf eine gemischte Kommission einzulassen oder wie 1863/64 den beschwerlichen Weg einer Konfliktuntersuchung gegen den Widerstand der Regierung einzuschlagen, entschied sich die Mehrheit für die einfachere Alterna 1028

s. B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, S. 287. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1053. Zu anderen Rednern s. die Nachw. in Fn. 966. 1030 Vor der Abstimmung kündigte er an, diese Wahl nach den Vorschriften des § 7 GO-PrAbgH über die Wahl des Kammerpräsidenten durchzuführen, wie sie bei der Wahl der Staatsschuldenkommission zur Anwendung komme. Der Beschluss, sich an der Spezialkommission zu be­ teiligen, war fast einstimmig (VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1059 f.). 1031 Allg. 2. Teil 1. Kap. C. I. 2. 1029

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tive. Dass die Abgeordneten aus Furcht vor dem Widerstand des Ministeriums von einer parlamentarischen Aufarbeitung abgesehen hätten, entspricht vor dem historischen Hintergrund der Wahlmanipulationsuntersuchung nicht den politischen Realitäten. Das endgültige Urteil, ob der eingeschlagene Weg unter das Kaudinische Joch einer parlamentarischen Niederlage oder in das Elysium einer umfassenden Aufarbeitung führte, lässt sich erst aufgrund einer Untersuchung der Kommissionsarbeit fällen. Für die Entwicklung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts ist die Debatte ungeachtet ihres Ausgangs von Bedeutung. Schließlich kamen zahlreiche Gesichtspunkte zur Sprache, die das moderne Enquête- und Untersuchungsrecht bis heute prägen. Das ist einmal für seine Funktionen bzw. Subtypen der Fall, die sich in der Untersuchungsforderung und den an sie geknüpften Erwartungen widerspiegelten. Nichts anderes gilt für die Informationsquellen, auf die Eduard­ Lasker bei der Vorbereitung seiner „Gründerrede“ zurückgegriffen hatte und deren Ausschöpfung er der beantragten parlamentarischen Untersuchungskommission ans Herz legen wollte: Mit öffentlichen Akten, privaten Unterlagen, Zeugenaussagen und Sachverständigenvernehmungen sollte ein Großteil des modernen Beweismittelkanons zum Tragen kommen. Selbst als schon feststand, dass es bloß zu einer gemischten Untersuchung kommen würde, gab es noch bemerkenswerte Überlegungen. Das gilt etwa für die minderheitsrechtlichen Forderungen eines individuellen Beweisantrags- und Fragerechts, die den Überlegungen des BVerfG zur Stellung der Fraktionen im Ausschuss von 2002 ähneln.1032 Außerdem brachte die Regierungsseite zum ersten Mal den später erfolgreichen Gedanken ins Spiel, eine (auch) parlamentarische Untersuchungskommission durch Verweisung auf die Prozessordnungen mit den erforderlichen Befugnissen auszustatten. Ebenso wurde die grundlegende Bedeutung der in Art. 34 Abs. 1 Satz 2 RVerf 1919 oder Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG verbrieften Öffentlichkeit erkannt und ihr Gewicht in der Debatte gezielt eingesetzt. Die Befrachtung der Einsetzungsfrage mit anderen parteipolitischen Anliegen gestattete einen Ausblick auf das entsprechende Taktieren im Deutschen Bundestag; vor allem wurde so der genuin politische Charakter des parlamentarischen Selbstinformationsrechts deutlich. Im Februar 1873 wurden also schon zahlreiche Pflöcke für das moderne Enquête- und Untersuchungsrecht eingeschlagen. Eine andere Frage ist, ob und wie sich die tatsächliche Arbeit der gemischten Untersuchungskommission und ihre Ergebnisse in das Bild einfügen, dass die parlamentarische Beteiligung an der königlichen Kommission keine parlamentarische Kapitulationserklärung, sondern ein Kooperationsangebot an die Adresse der Regierung war.

1032 s. BVerfGE 105, 197 ff. und auch L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 27; P. J. Glauben, a. a. O., § 19 Rn. 12, 15.

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V. Tätigkeit und Ergebnisse der Spezialkommission Mit klarer politischer Zielsetzung beschönigte Waldemar v. Roon in den Denkwürdigkeiten aus dem Leben seines Vaters die Wahrheit dahin, dass der den „radikalsten, auf Parlamentsherrschaft gerichteten Gelüsten entsprechende Antrag“ Lasker „gebührendermaßen zurückgewiesen“ worden wäre. Zu diesem politischen Grundtenor passend kam der Sohn des Ministerpräsidenten dieser Tage zu dem vernichtenden Verdikt, dass die Arbeit der „königliche[n] Spezialkommission“, obwohl sie die Aufgabe gehabt habe, „die zur Sprache gebrachten angeblichen Mißstände genau zu untersuchen“, „so gut wie ergebnislos [ge]blieben“ wäre.1033 Der Deutsch-Freisinnige Karl Schrader gab 1891 die diametrale Bewertung ab, dass wegen des parlamentarischen Einflusses die „Kommission besser zusammengesetzt gewesen [sei] als bei anderen Enqueten“; das Damoklesschwert des Art. 82 PrVerf 1850 habe das Ministerium dazu „genöthigt […], in die Kommission Mitglieder des Landtags zu berufen, unter anderen auch den Antragsteller, Herrn Dr. Lasker, und auch bei der Auswahl der zu vernehmenden Personen nach anderen Prinzipien zu verfahren als bisher“.1034 1. Die Zusammensetzung der Kommission Drei Tage nach der grundlegenden Entscheidung, sich an einer königlichen Untersuchung zu beteiligen, wählte das Abgeordnetenhaus Eduard Lasker mit 196 von 301 Stimmen, die offensichtlich nicht nur von Fortschrittspartei und Nationalliberalen stammen konnten, in die Kommission. Für den Konservativen Albert v. Wedell-Vehlingsdorff oder den Zentrumspolitiker Hermann v. Mallinckrodt sprachen sich bloß je rund 50 Abgeordnete aus. Als zweites parlamentarisches Kommissionsmitglied setzte sich der neukonservative Landrat und Vizepräsident des Abgeordnetenhauses Georg v. Köller mit 175 von 283 gültigen Stimmen durch.1035 Das Herrenhaus entsandte einen altliberalen Parlamentsveteranen: Der Greifswalder Staats- und Kameralwissenschaftler Eduard Baumstark hatte schon der Berliner Nationalversammlung, der Ersten Kammer, dem Erfurter Staatenhaus und dem konstituierenden Reichstag angehört – und sich dort für das auch interpellationsartige Petitions- anstelle des Enquête- und Untersuchungsrechts stark gemacht.1036 Der zweite Kandidat war der konservative Rittergutsbesitzer Alfred v. Tettau-Tolks, der zwischen 1855 und 1861 sowie 1863 dem Abgeordnetenhaus angehört hatte. Die Regierung ernannte William Günther zum Kommissionsvorsitzenden, einen Juristen und Wirklichen Geheimen Oberfinanzrat, der seit April 1870 Präsident der 1033

W. v. Roon, v. Roon III5 1905, S. 348 f. VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3290. 1035 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1063 f. 1036 VerhNdtRT 1867, S. 443 f. 1034

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Seehandlung, Ende November 1872 in das Herrenhaus berufen und im April 1873 zum Oberpräsidenten der Provinz Posen befördert worden war.1037 Königlich ernannt wurden ebenfalls der Geheime Justizrat Otto Julius Hertz, ein Richter, der 1871 in das Justizministerium gewechselt war, der Kammergerichtsrat Hermann Körte, der zunächst als Rechtsanwalt und seit 1870 als Richter gearbeitet hatte, ab September 1873 als Geheimer Regierungsrat und Vortragender Rat im Reichseisenbahnamt tätig sein und später dessen Präsidenten Albert Maybach „beerben“ sollte,1038 der Geheime Finanzrat Hermann Schomer sowie Heinrich Achenbach; als dieser im März 1873 zum Unterstaatssekretär avancierte, rückte der altliberale Geheime Oberregierungsrat Wilhelm Wohlers nach.1039 Nach Eduard Laskers Urteil waren damit „Mitglieder der verschiedensten wirthschaftlichen Anschauungen“ in der Kommission vertreten.1040 2. Methoden und Befugnisse Die von der Regierung verfügte Geschäftsinstruktion hatte William Günther im Februar 1873 ausgearbeitet. Eine im Herrenhaus erhobene Forderung, die Spezialkommission durch Gesetz mit den Befugnissen eines Gerichtshofs auszustatten, fand keine Zustimmung.1041 So tat die Kommission ab dem 25. Februar 1873 in insgesamt 56 Sitzungen ihre Arbeit ohne zwangsbewehrte Ermittlungs­ befugnisse.1042 a) Urkunden, Akten und Zeugen 26 Eisenbahnen wurden näher untersucht. Die Ergebnisse füllten rund 150 Druckspalten, wobei die Darstellungsbreite zwischen wenigen Absätzen und etlichen Seiten variierte. Nach eigenem Bekunden hatte man „nicht blos die […] speziell erwähnten, sondern allgemein diejenigen Eisenbahnen zum Gegenstande […] gemacht […], welche nach [den] öffentlichen Verhandlungen oder sonstiger Anregung oder nach den Ergebnissen eigener Erörterungen für die Aufgabe […] ein sachliches Interesse darzubieten schienen“.1043 1037

H. v. Poschinger, Bundesrat I, 1897, S. 50 ff. H. v. Poschinger, Bundesrat III, 1898, S. 402 ff. und S. 402 in Anm. 1. 1039 Acta Borussica VI/1, 2004, Nr. 395, S. 309. 1040 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S.  198. Zur Kommissionszusammensetzung s. W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 29 f. sowie SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 193 (Unterschriften). 1041 Acta Borussica VI/1, 2004, Nr. 390, S. 305 f. 1042 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 3. Dagegen urteilte H. Blum, Reich, 1893, S. 162 wohl zu Unrecht, dass „[v]or diesem königlichen Untersuchungsausschuß […] jeder, auch jede Behörde, unweigerlich [habe] den verlangten Aufschluß geben“ müssen. 1043 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 154 f. 1038

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Die Kommission stützte sich auf Informationsquellen verschiedenster Art und Provenienz: Die Verwaltung wurde um mündliche Auskünfte und schriftliche Vorlagen, u. a. die „im Handelsministerium gefertigten Nachweisungen der in den Jahren 1862 bis 1872 eingegangenen Bewerbungen um Ertheilung der Erlaubniß zu den Vorarbeiten und um Konzessionen“, angegangen.1044 Auch sonst wurden Regierungsakten, insbesondere die „Akten des Handelsministeriums bezüglich verschiedener Eisenbahnen einer Durchsicht unterworfen“.1045 Eine „umfassende Zeugenvernehmung [fand] über die thatsächlichen Verhältnisse verschiedener Eisenbahnunternehmungen“ statt und wurde durch die „Einholung dabei zur Sprache gekommener Urkunden“ ergänzt.1046 Die Vernehmungen wurden bis auf­ wenige Ausnahmen „vor der Kommission selbst“ durchgeführt, „überall ohne Vereidigung“ und – mangels belastbarer Befugnisse – auf freiwilliger Grundlage.1047 Wie effizient die Kommission gleichwohl an der wirtschaftlichen Wunde operierte, verdeutlicht beispielhaft der rund 19 Druckspalten starke Bericht über die „Pommersche Centralbahn“;1048 das betreffende Projekt, dem wegen der Beteiligung Hermann Wageners besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde, hatte im Abgeordnetenhaus gewissermaßen den Stein ins Rollen gebracht.1049 Ein Vergleich der Vorwürfe aus dem Februar 1873 mit den Untersuchungen und Ergebnissen der Spezialkommission zeichnet ein anderes Bild als das einer staatlichen Vertuschungskommission: Im Abgeordnetenhaus hatte Eduard Lasker an der Gesellschaftsgründung die Vereinbarung des Statuts kurz vor der Novelle vom 11. Juni 1870 moniert. Mit diesem Trick hätten sich die Gründer von einer fingierten Generalversammlung 44.000 Taler zuschanzen lassen. Dass die Gesellschaft erst auf Intervention des Handelsministers und gegen den Widerspruch des Handelsrichters eingetragen worden sei, quittierte das Abgeordnetenhaus seinerzeit mit „Hört! Hört!“- und „Pfui! Pfui!“-Zurufen. Weiterhin sollten die Gründer ihre in „Effekten“ geleistete Kaution durch Aktienverkäufe unter Nennwert zu Lasten der Gesellschaft ausgelöst und dadurch finanziellen Schaden in Höhe von 190.000 Talern sowie weiteren 13.000 Talern p. a. verursacht haben. Das Geschäftsgebaren der „Pommerschen Centraleisenbahngesellschaft“ entsprach nach dem Urteil des Abgeordneten Lasker dem „schlimme[n] System Strousberg“, indem der Löwenanteil der Aktien bloß zum Schein gezeichnet und nur ein verschwindender Anteil tatsächlich eingezahlt worden seien. Über diese Fakten habe man den Handelsrichter bei der Eintragung in strafbarer Weise getäuscht. Allen Beteuerungen zum Trotz, es werde nicht „in Generalentreprise“, sondern „in Regie“ gebaut, habe 1044

SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 154 f. s. SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 3 sowie die Nachw. am Rand der S. 59, 62, 64, 156 etc. 1046 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 3. s. zu Zeugenaussagen insbesondere S. 10, 11, 58, 59, 81, 82, 84 f., 106, 107, 120, 123, 148, 149 bzw. zu Akten und Unterlagen S. 60, 61, 63, 76, 81, 82, 83, 87, 106, 115, 116, 124, 136, 144, 156. 1047 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 4. 1048 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 4 ff. 1049 Vgl. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 538, 937 ff. 1045

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man die Arbeiten schließlich an zwei Generalunternehmer vergeben, die nicht bar, sondern in Aktien bezahlt worden seien. Um diese Modalitäten zu verschleiern, sei ein Strohmann damit beauftragt worden, Aktien zu kaufen und gegen Unkosten und Provision bei den Unternehmern abzuliefern. In einem geheimen Nebenvertrag hätten sich die Generalunternehmer einen Nachlass von 300.000 Talern gefallen lassen müssen. Über den Sinn und Zweck dieser Klausel war sich Eduard ­Lasker unklar, über die Missbräuchlichkeit sicher. Dem Geheimrat Wagener warf er im Plenum vor, seine zunächst noch mit Rechtsmitteln verteidigte Stellung im Verwaltungsrat schließlich gegen die Hälfte der „Abfindung von 40,000 Thlrn.“ sowie eine Befreiung von ungünstigen Zeichnungen aufgegeben zu haben.1050  – Die Kommission konnte durch Zeugenaussagen, Akten und Urkunden zu sämtlichen dieser Punkte ausführliche Informationen beschaffen.1051 Dabei scheute man weder peinliche Details noch persönliche Bloßstellungen. Die Darstellung reichte unter Nennung von Namen und Fakten von der „[a]llgemeine[n] Beschreibung der Entwicklung des Vorhabens“ über die „Zeichnung des Aktien-Kapitals“ bis hin zu den „Einzahlungen auf die Aktien und Verausgabung derselben“, behandelte „Bauverträge“ und „Verwaltung“ der Gesellschaft und beleuchtete zu guter Letzt die „Bauausführung“. Breiten Raum beanspruchten zwei Verzeichnisse von Zeichnungen auf Stammprioritäts- und Stammaktien, die Namen, Stand und Wohnort der Zeichner offenbarten; anscheinend handelte es sich um Teile der „Bescheinigung“, die Hermann Wagener und der Bankdirektor Schuster zur Vorlage an den Handelsrichter ausgestellt hatten.1052 Zur Aufklärung der undurchsichtigen Verhältnisse hatte die Kommission Beteiligte und „Beamte“ der Gesellschaft vernommen. Unter diesen Zeugen war auch ein „Ingenieur Weißenborn, welcher mit dem Aufbringen der Zeichnungen […] von Wagener und Schuster beauftragt sein“ wollte.1053 Der Zeuge Pelckmann war mit der „Einziehung der restirenden Ratenzahlungen“ betraut.1054 Sonst wurden noch der Gesellschaftsrendant ­Dessin,1055 ein Baumeister Behmer1056 sowie der Bankdirektor Oder, das dritte Mitglied des Gründungskomitees, vernommen.1057 An Unterlagen hatte man u. a. die Strafakten gegen einen Bauunternehmer, notarielle Verhandlungen zwischen den Generalunternehmern Ritscher und Klimitz und dem Maurermeister Bolle herangezogen, der bei der Zahlung in Aktien als Strohmann fungiert hatte.1058 Der Nebenvertrag über den Verzicht von 300.000 Talern, auf den Eduard Lasker besonderen Wert gelegt hatte, konnte nicht beschafft werden. Stattdessen vernahm die Kommission verschiedene Zeugen, deren Aussagen aber widersprüchlich 1050

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 937 bis 943. SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 4 ff. 1052 Vgl. Text und Unterschriften, SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 23 ff., 54. 1053 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 10. 1054 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 12. 1055 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 11. 1056 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 17. 1057 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 7, 17. 1058 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 15. 1051

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blieben.1059 Auch zum Streit zwischen den Gründern fanden Vernehmungen statt. Das Fehlen belastbarer Befugnisse wurde bei dieser Gelegenheit mindestens zweimal spürbar: „Ueber die Vorgänge, welche die Verständigung […] bezüglich der […] Differenzen herbeigeführt“ hatten, erklärte der Zeuge Oder, „keine Auskunft geben zu wollen“.1060 Ebenso weigerte er sich, über die Umstände der Befreiung Hermann Wageners und seines Bruders von den Zeichnungen auszusagen.1061 Obwohl die Spezialkommission nicht über die erforderlichen Mittel verfügte, um eine Aussage notfalls zu erzwingen, blieb die Aufarbeitung nicht wesentlich hinter Eduard Laskers Anklagen zurück; jedenfalls hätte eine parlamentarische Untersuchung aufgrund von Art. 82 PrVerf 1850 keine intensivere Auf­arbeitung gestattet. In derselben Weise wie die Machenschaften Hermann Wageners konnten die Geschäfte des Fürsten Putbus und des Prinzen Biron näher untersucht werden.1062 b) Die Anhörung von Beamten des Handelsministeriums Dem Verfahren bei einer modernen Kontrollenquête kamen auch die Anhörungen von „Kommissarien des Handelsministeriums Behufs Darlegung der bisherigen allgemeinen Verwaltungsgrundsätze und deren Anwendung im Spezialfalle“1063 nahe. Ministerialdirektor Theodor Weishaupt stand über die bisherige Verwaltungspraxis in der 4. bis 7. Sitzung Rede und Antwort. Dem Chef der Eisenbahnabteilung sekundierte der Geheime Regierungsrat Hermann Duddenhausen.1064 Grundlage der Befragung war ein umfangreicher Fragenkatalog von den Grundsätzen für die Erlaubnis der Vorarbeiten, der Auswahl unter mehreren Konkurrenten oder den Vorwirkungen dieser Genehmigung über entsprechende Fragen zu der Konzessionserteilung, der Konkurrenz privater und staatlicher Gesuche bis hin zu der staatlichen Aufsicht über die Gesellschaftsgründung oder die „Solidität der an der Spitze eines beabsichtigten Eisenbahnunternehmens stehenden Personen“. Ein guter Teil  der Fragen zielte direkt auf das „System Strousberg“ ab. Insbesondere die Frage II. 12., ob das Generalunternehmertum früher amtlich gestattet und dann nicht mehr zugelassen worden sei, welche Motive dafür maßgeblich gewesen seien und in welchen Fällen man die Generalentreprise gestattet habe, trug Eduard Laskers Mitverantwortungsvorwürfen an die Adresse des Handelsministeriums Rechnung. Unterschwelliger war der Bezug der Frage, „[n]ach welchen Grundsätzen […] unter mehreren Eisenbahnkonzessionsbewerbern über 1059

SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 16 f. SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 20. 1061 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 21. Über die Umstände einer weiteren Teil­ verweigerung eines Zeugen berichtete E. Lasker 1876 (VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 888). 1062 Vgl. J. F. Harris, Study, 1984, S. 95. 1063 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 3. 1064 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 6 ff. 1060

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den Vorzug entschieden“ werde, zu dem im Plenum geäußerten Verdacht willkürlicher Bevorzugung hochgestellter Personen vor soliden Bewerbern. Gleich mehrere Punkte betrafen die Finanzierungsmodalitäten der Eisenbahnaktiengesellschaften bzw. deren staatliche Kontrolle (II. 8 bis 11). Zu guter Letzt (II. 15) ging es darum, ob Preußen bereits „mit dem Reiche wegen Uebernahme des Eisenbahnkonzessionswesens verhandelt“ habe.1065 Wie in der Einsetzungsdebatte gefordert und versprochen, konnten alle Kommissionsmitglieder ungehindert Fragen stellen und die Antworten der Auskunftspersonen kommentieren. Wie nicht anders zu erwarten, machte Eduard Lasker am häufigsten von diesem Recht Gebrauch: Während sich Präsident Günther sowie die Kommissionsmitglieder Hertz, Köller, Körte, Schomer und v. Tettau lediglich ein- oder zweimal in die Diskussion einschalteten und es der Beamte ­Heinrich Achenbach immerhin auf gut ein Dutzend Wortmeldungen brachte, ergriff der Abgeordnete Lasker in den vier Sitzungen beinahe 30 Mal das Wort.1066 Teilweise­ entwickelte sich ein regelrechter Dialog mit der jeweiligen Auskunftsperson. c) Sachverständigenanhörungen Zu guter Letzt griff die Spezialkommission auf die „gutachtliche Beantwortung“ eines ganzen Fragenkataloges zu dem „gesammte[n] Eisenbahnkonzes­sionswesen in seinen einzelnen Stadien und Beziehungen“ zurück.1067 Auf diesem Wege wurde eine Enquête veranstaltet, um Material für Verbesserungsvorschläge für das Eisenbahn- und Aktienrecht zu sammeln. Die Auswahl der Sachverständigen erfolgte, späteren Erklärungen Eduard Laskers zufolge, so, „daß sämmtliche in Betracht kommenden Berufe vertreten“ sein sollten. Man habe „Bankiers, einen Fabrikanten, Verwalter von Privatbahnen, Verwalter von Staatsbahnen, Vertreter der Eisenbahngesellschaften, Vertreter der Regierung“ geladen, um „nach jeder Richtung hin […] volle Gleichheit und volles Licht herbeizuführen“. Der den Sachverständigen unterbreitete umfangreiche Fragenkatalog, der in die zwei Blöcke der Genehmigung von Vorarbeiten und der eigentlichen Konzessionserteilung zerfiel,1068 dürfte Forderungen des nationalliberalen Politikers geschuldet gewesen sein:1069 Die Einzelfragen betrafen das Rechtsregime für die Genehmigungs- bzw. Konzessionserteilung, die in der Praxis tatsächlich beachteten Grundsätze, einzelne Verfahrensfragen wie die Offenlegung von Konkurrenzgesuchen, dann die Prinzipien für die Auswahl unter verschiedenen Bewerbern, die Beteiligung des Staatsministeriums an der Konzessionserteilung, das Verfahren, wenn der Staatsfiskus mit privaten Bewerbern konkurrierte, die Prüfung der „Solidität der an der Spitze eines 1065

SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), Anl. F. zu No. 11, S. 5 f. Vgl. SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, Anl. H. S. 6 bis 44. 1067 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 3. 1068 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), Anl. F. zu No. 11, S. 5. 1069 SlgDrsPrAbgH XI/3 (1872/73), Nr. 160. 1066

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beabsichtigten Eisenbahnunternehmens stehenden Personen“, die Kontrolle des Gesellschaftsvertrags, der Sicherstellung des Grundkapitals und der Finanzierung – insbesondere der Einzahlung von 10 v. H. auf die Aktien –, deren Ausgabe nach Vollzahlung sowie die Überwachung der Bauausführung. Auf das „System Strousberg“ zielten zu guter Letzt verschiedene Fragen zur Generalentreprise.1070 Die Sachverständigen hatten teilweise schon mit Strousberg zu schaffen gehabt oder auch politisch Stellung bezogen; überdies waren sie allesamt durch berufliche Erfahrung oder Stellung ausgewiesen: Ein Sachverständiger war der Geheime Kommerzienrat Robert Wilhelm Adolph Warschauer, der 1849 gemeinsam mit einem Kompagnon ein bekanntes Berliner Bankhaus gegründet hatte, das sich zu einem der hervorragendsten preußischen Institute entwickelte.1071 Wahrscheinlich stellte der erfahrene Finanzmann, der sich in wirtschaftlichen Dingen und Aktiengeschäften bestens auskannte, sein Licht unter den Scheffel, als er um Nachsicht bat, weil er sich „nicht gerade vielfach […] mit Eisenbahngesellschaften beschäftigt“, ja „niemals um Eisenbahnkonzessionen beworben oder […] eingehend mit der Angelegenheit beschäftigt“ und nicht einmal „einen Voranschlag für Eisenbahnbau in der Hand gehabt“ habe.1072 Der zweite Sachverständige war der 1801 geborene Emil Hermann Hartwich. Der Wirkliche Geheime Oberregierungsrat a. D. hatte – wie Hans Viktor v. Unruh, der ebenfalls als Sachverständiger fungierte, – als Wasserbauinspektor angefangen. 1845 leitete er einen Eisenbahnbau und trat 1849 als Vortragender Rat für das Eisenbahnwesen in das Handelsministerium ein. 1856 verließ er den Staatsdienst und leitete die Erweiterung der Rheinischen Eisenbahn. Im Jahr 1872 übernahm der Eisenbahningenieur, der auch als Fachautor in Erscheinung getreten war, die Leitung der Deutschen Eisenbahn­ gesellschaft.1073 Der Eisenbahndirektor und Geheime Regierungsrat Koch hatte nach eigener Erklärung „seit vielen Jahren das Eisenbahnwesen und in [seiner…] früheren Thätigkeit im Handelsministerium namentlich auch die Verwaltung der Privat- und Staatsbahnen und die Ansichten kennen gelernt, die zu verschiedenen Zeiten maßgebend“ waren.1074 Der Geheime Oberfinanzrat a. D. Friedrich Scheele fungierte, seit er 1869 im Dissens mit Finanzminister v. der Heydt aus dem preußischen Staatsdienst geschieden war, als Vorsitzender des Verwaltungsrats der von David Hansemann ins Leben gerufenen Diskontogesellschaft.1075 Im Juni 1873 wurde dem ehemaligen Direktor der Berlin-Anhalter Bahn die Leitung des Reichseisenbahnamtes angetragen. Ein Jahr später schied er wieder aus dieser Stellung aus.1076 Der Sachverständige Albert Maybach war 1853 in den Eisen 1070

SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), Anl. F. zu No. 11, S. 6. H. May, MittVerBerlGesch 1992, 107 f. 1072 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), Anl. H. zu No. 11, S. 43. 1073 Meyers Lexikon VIII6 1907, S. 846 f. 1074 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), Anl. H. zu No. 11, S. 322. 1075 Vgl. L. C. Berger, F. Harkort4 1902, S. 481 und zur Diskontogesellschaft A. Bergengrün, D. Hansemann, 1901, S. 665 ff. 1076 H. v. Poschinger, Bundesrat III, 1898, S. 6 ff. und S. 6 in Anm. 1. 1071

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bahnverwaltungsdienst eingetreten, hatte dann die Direktion der Ostbahn erhalten und nach der preußischen Annexion des Königreichs die hannoverschen Staatsbahnen geleitet. Nach Scheeles Rücktritt wurde er zweiter Präsident des Reichseisenbahnamtes.1077 Der dritte Vertreter der staatlichen Eisenbahnverwaltung unter den Sachverständigen war Ministerialdirektor Theodor Weishaupt, der dem Ausschuss so zum zweiten Male Rede und Antwort stand. Bei dem sachverständigen Bau­direktor Pleßner dürfte es sich um den 1824 geborenen Ferdinand Pleßner gehandelt haben, der sich u. a. durch Schriften zum „Veranschlagen der Eisenbahnen nebst Preis-Ermittelungen“ und der „Herstellung billiger Lokal- und Nebenbahnen“ hervorgetan hatte; 1843 hatte er an Vermessungsvorarbeiten teilgenommen und besaß insoweit die erforderliche Sachkunde.1078 Der Geheime Kommerzienrat Gustav Mevissen, 1884 nobilitiert, war ein äußerst umtriebiger Unternehmer, Industrieller und Wirtschaftspolitiker. Außer im Garngroßhandel hatte er geschäftliche Erfahrungen durch eine Beteiligung an der liberalen Rheinischen Zeitung, an einer bereits in den 1840ern gegründeten Rückversicherungs-Aktiengesellschaft und mit anderen Unternehmungen gesammelt. Mit 29 Jahren wurde Mevissen Präsident der Rheinischen Eisenbahngesellschaft. Schon früh hatte er gegen anfänglichen Widerstand der Regierung für seine Geschäfte von Banken bis hin zu Bergbau und Stahlproduktion auf die Rechtsform der Aktiengesellschaft gesetzt.1079 Der als Sachverständige vernommene Regierungsrat v. Unruh war der preußische Parlamentsveteran aus Revolution und Abgeordnetenhaus. 1829 war Hans Viktor v. Unruh, obwohl sein Herz stärker für den Eisenbahnbau schlug, als Wasserbauinspektor in den preußischen Staatsdienst eingetreten. Später engagierte er sich für die oberschlesische Eisenbahn und unternahm 1837 zur Vorbereitung eisenbahntechnischer Vorarbeiten eine „Entdeckungsreise auf Eisenbahnen“ durch Sachsen, Süddeutschland, Belgien und Holland. Mitte der 1840er Jahre wechselte er in die Privatwirtschaft und übernahm den Bau oder Umbau verschiedener Bahnen. Nach eigener Aussage erlebte er dabei auch Aktienspekulation und Betrug. Anfang der 1850er Jahre wechselte der in Ungnade gefallene Eisenbahner ins Gasfach. An seiner politischen Vorgeschichte scheiterte 1856 auch die Übernahme eines umfangreichen Eisenbahnprojekts in Österreich-Ungarn. Erst später kehrte Hans ­Viktor v. Unruh zur Eisenbahn zurück und übernahm, nach anfänglicher Förderung später doch wieder von der Regierung schikaniert, die Leitung einer Berliner Aktiengesellschaft für die Fabrikation von Eisenbahnbedarf.1080 Von der Zuverlässigkeit der Unternehmungen Bethel Henry Strousbergs hatte der Liberale schon in den 1860er Jahren keine gute Meinung.1081 Der nationalliberale Reichstagsabgeordnete Ludwig Bamberger war durch die Leitung eines großen Bankhauses 1077

H. v. Poschinger, Bundesrat III, 1898, S. 16 ff. und S. 16 in Anm. 1. s. F. Pleßner, Notizen, 1853 sowie ders., Herstellung, 1870. Zur Person M. Berbig, ADB LIII, 1907, S. 75 f. 1079 K. v. Eyll, NDB XVII, 1994, S. 277 ff. 1080 H. v. Poschinger (Hg.), H. V. v. Unruh, 1895, S. 34, 40, 46 f., 48 f., 50 f., 68 ff., 75, 170 ff., 175 ff., 179, 184 f., 189 ff. 1081 P. Nathan (Hg.), L. Bamberger, 1899, S. 526. 1078

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qualifiziert.1082 Obwohl er seinen Parteifreund Lasker bei der Vorbereitung der „Gründerrede“ unterstützt und damit eigentlich Position bezogen hatte,1083 wurde auch er als Sachverständiger berufen. Bamberger hatte in der Zeit seines Pariser Exils zwischen 1853 und 1866 Erfahrungen mit betrügerischen Gründungen sammeln müssen. Mit dem aufstrebenden Eisenbahntycoon Strousberg kam der Liberale bereits in den 1860er Jahren in Kontakt, als dem Pariser Bankhaus, für das er in leitender Funktion tätig war, die Beteiligung an einer Bahnlinie des „Systemmachers“ angeboten wurde. Aufgrund einer schlechten Auskunft Hans Viktor v. Unruhs über die „Vertrauenswürdigkeit“ Strousbergs, aber auch aus eigener Überzeugung hatte Bamberger von einem Engagement abgeraten.1084 Wie schon bei der Anhörung der Regierungsvertreter konnte jedes Kommissionsmitglied auch in den Sachverständigenvernehmungen ungehindert Fragen stellen und Bemerkungen anbringen. In welchem Maße diese Forderung ­Eduard Laskers aus der „Einsetzungsdebatte“ erfüllt wurde, ja wie weit gewissermaßen Hermann Wageners Vorwurf ins Schwarze traf, dass in Wahrheit nicht ­William Günther, sondern Eduard Lasker der heimliche Kommissionspräsident gewesen wäre,1085 offenbart eine statistische Lesart der Sitzungsprotokolle: In sieben Anhörungssitzungen zwischen dem 17.  und dem 24.  April 1873, im Druck etwa 370 Spalten, ergriff Eduard Lasker deutlich über 500 Mal (!) das Wort. Präsident William Günther brachte es bloß auf rund 40 Beiträge. Das zweitaktivste Mitglied der Spezialkommission war das Herrenhausmitglied Alfred v. Tettau-Tolks, der in die Beratungen etwa 50 Mal eingriff. Heinrich Achenbach rangierte mit ca. 40 Meldungen an dritter Stelle. Der ebenfalls königlich ernannte Geheime Justizrat Otto Julius Hertz meldete sich nicht einmal 20, der neukonservative Vizepräsident des Abgeordnetenhauses Georg v. Köller lediglich rund zehn Mal zu Wort. Bloß vereinzelt beteiligten sich Eduard Baumstark (Herrenhaus) und der königlich ernannte Geheime Finanzrat Hermann Schomer aktiv in den Sachverständigen­ anhörungen.1086 Angesichts der maßgeblichen Rolle, die der Abgeordnete Lasker in der Kommission spielen konnte, kann von einer Vereitelung oder Behinderung der Untersuchung durch den königlich ernannten Vorsitzenden, die übrigen ernannten Kommissionsmitglieder oder die gouvernementale Kommissionsmehrheit keine Rede sein. In den Protokollen findet sich auch nicht ein Beispiel für einen Versuch­ William Günthers, unangenehme Fragen Eduard Laskers zu unterdrücken oder seine Schlussfolgerungen anzuzweifeln.

1082

Zur Person Bambergers s. T. Heuss, NDB I, 1953, S. 572 ff. J. F. Harris, Study, 1984, S. 93. 1084 P. Nathan (Hg.), L. Bamberger, 1899, S. 525 ff. 1085 H. Wagener, Erlebtes, 1884, S. 57. 1086 Vgl. SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, Anl. H. S. 43 bis 412. 1083

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3. Regierungskritik und Reformvorschläge Der Bericht enthielt sich keineswegs jeder Kritik an den bestehenden Gesetzen oder der Regierung. Stattdessen fand die Spezialkommission in der bisherigen Entscheidungspraxis zu den Vorarbeiten ausdrücklich einen „Mißstand“, indem „ernstlichen Bewerbungen und an sich nützlichen Unternehmungen thatsächlich die Ausführung unmöglich gemacht […] oder doch nachtheilige Verzögerungen oder Schwierigkeiten bereitet“ worden wären. Die „in großer Zahl“ verfügten Ablehnungen ließen teilweise jede Begründung vermissen, teils stütze sich das Ministerium auf die „politischen und finanziellen Verhältnisse“ oder verneine die „Bedürfniß- oder […] Rentabilitätsfrage“. Andere Gesuche seien zurückgewiesen worden, weil bereits Konkurrenten eine Erlaubnis erhalten hätten oder einer staatlichen bzw. mit Staatsgarantie gebauten Bahn andernfalls eine „unzulässige Konkurrenz“ gedroht habe. Jedenfalls habe der Entscheidungspraxis kein „bestimmter, allgemein leitender Grundsatz“ zugrunde gelegen. Den Vorwurf einer missbräuchlichen „Bevorzugung einzelner Personen“ wies die Kommission zwar ausdrücklich zurück, betonte aber, dass „doch der Glaube daran bei einem solchen Verfahren nur allzu leicht angeregt [werde] und […] im Publikum notorisch auch wirklich bestanden“ habe.1087 Die faktische Übung, dass die Durchführung von Vorarbeiten quasi ein Anrecht auf die Konzession gewähre, wurde ebenfalls beanstandet.1088 Indem die Vorarbeiten häufig ihren Zweck verfehlt hätten, den konkreten Finanzbedarf klar zu ermitteln, hätten sie weiterhin den „weitesten Spielraum“ zu Manipulationen gelassen.1089 Um die bestehenden Mängel abzustellen, forderte die Spezialkommission klare Regelungen und befürwortete die „Aufstellung und Veröffentlichung eines umfassenden Eisenbahnplans“. Den ridikülen Einwand der Verwaltung, entsprechende Planungen existierten seit 1869, wenngleich nicht schriftlich fixiert (!), wies die Kommission zurück. Statt den erforderlichen Plan allein dem Ministerium zu überlassen, befürwortete das königlich eingesetzte Gremium eine Stärkung der parlamentarischen Beteiligung und verwendete sich damit für eine gewisse Parlamentarisierung des Eisenbahnwesens. Eine „Mitwirkung der Landesvertretung [sei…] sowohl im Hinblick auf die mit dem Plane zusammenhängenden und auf künftige Geldbewilligungen, als auch deshalb zu empfehlen, weil erst durch die öffentliche Beurtheilung die möglichste Klarlegung der maßgebenden Verhältnisse erreicht werden“ könne. Eine zweite Änderungsforderung richtete sich auf die „Zulassung möglichst freier Konkurrenz zu den Vorarbeiten“.1090 Mit der Konzessionspraxis des Handelsministeriums ging die Kommission als in „mehrfacher Beziehung […] der Abänderung bedürftig“ keineswegs nachsich 1087

SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 156 f. SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 160 f. 1089 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 161. 1090 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 157 f. 1088

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tig ins Gericht.1091 Als „größere Garantie für objektive Berücksichtigung und Beurtheilung aller Verhältnisse“ sollten sämtliche Bewerbungen künftig dem Reich mitzuteilen, zu veröffentlichen und die Kreis- und Provinzialbehörden sowie die regionalen Vertretungen zu beteiligen sein. Das gesammelte Material sollte zur Begutachtung einer „kollegialisch organisirten Verwaltungsbehörde“ unterbreitet werden.1092 Außerdem sollte diese Stelle „allgemeine Normativbestimmungen für die Konzessionsbedingungen“ aufstellen, die u. a. für die spätere Übernahme der Bahnen durch den Staat vorzusorgen hätten.1093 Statt Konzessionen entsprechend der bisherigen Praxis nach der „Priorität des Konzessionsgesuches“ zu vergeben, sei künftig danach zu entscheiden, welche Bewerbung den „allgemeinen Verkehrsinteressen“ am Besten genüge und die „größte Garantie für vollständige Solidität“ gewähre.1094 Wie für die Vorarbeiten müsse insoweit das Prinzip freier Konkurrenz gelten.1095 Dass die Verwaltung in der Vergangenheit vor der Konzessionserteilung die Vorlegung des Gesellschaftsstatuts und eines Nachweises über die Kapitalsicherung gefordert habe, kritisierte die Kommission als der „Finanzirung nachtheilig“, indem potentielle Anleger durch eine lange Bindungsdauer bei ungewissem Erfolg abgeschreckt würden. Besser werde die beabsichtigte Finanzierung künftig bloß im Konzessionsantrag skizziert. Der Nachweis könne dann nach der Konzessionserteilung erbracht werden.1096 Wirtschaftspolitisch stand die Kommission auf dem Boden der Gesellschaftsrechtsnovelle vom Juni 1870, die den früheren Versuch, „das Publikum und die Gesellschaftsgläubiger gegen Schwindel und Unsolidität zu schützen“, zugunsten privater Vorsicht und Selbstverantwortung aufgegeben habe.1097 Trotz dieses liberalen Bekenntnisses verlangte man eine staatliche Kontrolle der Finanzierung, um volkswirtschaftliche Schäden und Nachteile durch auf halbem Wege gescheiterte Projekte zu vermeiden.1098 Eine Minderheit wollte auf jede Kontrolle verzichten, trat also modern gesprochen für die vollständige Deregulierung ein, weil jede Überwachung zwangsläufig defizitär sein müsse, aber trotzdem „jede freie Bewegung der Gesellschaft“ behindere.1099 Zu guter Letzt forderte die Kommission eine Subventionierung von Lokalbahnen, „wenn sich für ihre Herstellung ein reges Interesse von Kommunalverbänden“ zeige.1100 Umfangreiche Reformforderungen, um künftig Missbrauch und Schwindel vorzubeugen, betrafen das Recht der Eisenbahnaktiengesellschaften. So verlangte die 1091

SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 162. SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 163. 1093 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 168. 1094 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 163. 1095 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 164. 1096 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 165. 1097 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 165. 1098 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 166. 1099 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 167. 1100 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 168 f. 1092

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Kommissionsmehrheit, dass vor der Eintragung der Gesellschaft die „Beschaffung des Anlagekapitals vollständig gesichert“ sein müsse.1101 In der Vergangenheit habe häufig bloß eine ungenügende, formelle Prüfung stattgefunden, obwohl die Verwaltung einen Kapitalnachweis gefordert und Einsicht in die Aktienzeichnungen genommen habe, „um […] offenbarem Schwindel vor[zu]beugen“. Man habe aber keineswegs immer „auf […] Beseitigung der […] erkannten […] Bedenken und Mängel gedrungen“, sondern sich zu einer „thatsächliche[n] Kontrole der […] Einzahlungen“ weder für verpflichtet noch berechtigt gehalten. Infolge dieser Praxis seien bei keinem Privateisenbahnbau der letzten 10 Jahre die Bestimmungen über die Einzahlung des Aktienkapitals vollständig eingehalten worden. Sämtliche Versuche der Verwaltung, einer „Umgehung des Gesetzes“ entgegenzutreten, seien nach eigenem Bekunden gescheitert.1102 Während die Kommissionsmehrheit Gesetzesänderungen und Modifikationen der „Verwaltungsmaßregeln“ forderte, plädierte die Minderheit auf eine Abschaffung der vermeintlich übermäßigen „Beschränkung der durch die volkswirthschaftlichen Interessen geforderten Vertragsfreiheit“. Die gesetzlichen Vorgaben machten es nahezu unmöglich, das notwendige Kapital aufzubringen. Die allgemeine Verbreitung eines Verkaufs von „Aktien unter pari“ und ihrer teilweisen Übernahme durch die Unternehmer, gewissermaßen also des „Systems Strousberg“ (!), belege die „Unentbehrlichkeit“ dieser Methoden.1103 Im Gegensatz dazu hielt es eine eher wirtschaftsdarwinistisch eingestellte Mehrheit für nur natürlich, dass durch die notwendigen Regelungen „berechtigte industrielle Unternehmen von […] unberechtigten“ geschieden würden. Dass in der Praxis „abweichende Erscheinungen hervorgetreten“ seien, führten sie darauf zurück, „daß in einzelnen Fällen dem Wunsche, möglichst viele Eisenbahnen gebaut zu sehen, eine über das zulässige Maaß hinausgehende Berücksichtigung zu Theil geworden“ sei. Neben dieser Schelte des Handelsministers, der nach exakt diesem Dogma verfahren war, monierte die Mehrheit, dass für eine wirkungsvolle „Ueberwachung der gesetzlichen Bestimmungen“ bisher keine „ausreichende[n] Vorschriften“ bestünden und die „bestehenden nicht streng genug gehandhabt“ würden.1104 Trotzdem wollte man der Legislative freistellen, eine „Verausgabung von Aktien unter pari“ zu gestatten, wenn die solide Durchführung des Unternehmens nicht gefährdet, Transparenz gewahrt und ausreichender Schutz gegen Willkür und Täuschung gegeben würden. In jedem Fall sollten gleichlautende Aktien aber auch nur zu einem einheitlichen Kurs abgegeben werden dürfen. Der tatsächliche Emissionskurs müsse bei der Verwaltung angemeldet, veröffentlicht und auf jede Aktie neben dem Nominalwert aufgedruckt werden. Zugleich hielt die Mehrheit an der Regel fest, dass jede Aktie auf mindestens 100 Taler ausgefertigt werden müsse. Wohl zu Recht monierte die Minderheit, dass eine Aktienausgabe unter Nennwert bei diesen Modalitäten bedeutungslos wäre. Schließlich fiel durch die stren 1101

SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 169. SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 170. 1103 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 172 ff. 1104 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 174. 1102

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gen Vorgaben jede Möglichkeit fort, bei der Gewinnverteilung gezielt Vorteile zu vergeben. Die Mehrheit hielt diesen Bedenken den Verkehrsschutz und verschiedene Sachverständigenäußerungen entgegen. Könne das Instrument in dieser Form nicht in der Praxis Fuß fassen, beweise sein Scheitern bloß, dass es in der Vergangenheit allein zur „Täuschung des Publikums“ gedient habe.1105 Der Verwaltung schrieb die Kommissionsmehrheit ins Pflichtenheft, künftig stärker auf die vorgeschriebenen Einzahlungen von 10 v. H. zu achten.1106 Weitere gesetzgeberische Forderungen bestanden u. a. darin, das Verhältnis zwischen Gründern und Gesellschaften zu regeln, damit sich die Gründer durch Scheinzeichnungen und andere Manipulationen keine Vorteile mehr auf Kosten der Gesellschaft und der Öffentlichkeit verschaffen könnten. Angesichts dessen seien gesetzgeberische Maßnahmen „im Interesse der Moral“ und „zur Sicherung der Solidität des Unternehmens“ unabdingbar.1107 Obwohl der Feldzug gegen das „System Strousberg“ der Ausgangspunkt der Untersuchung gewesen war, attestierte die Kommission der „Generalentreprise“ auch zahlreiche Vorteile. Ein allgemeines Verbot hielt man deswegen nicht für empfehlenswert. Der Verwaltung wurde vorgeworfen, „bisher in Bezug auf die Generalentreprise nicht nach festen Grundsätzen verfahren“ zu sein, dieses Geschäftsmodell „bei einzelnen Unternehmungen als erfahrungsmäßig nachtheilig verworfen, bei anderen dagegen zugelassen“ zu haben, obwohl der schädliche „Zusammenhang mit der Beschaffung des Baukapitals“ bekannt gewesen sei. Die Kommission forderte deshalb ein Verbot der „Bezahlung mit Aktien“ sowie eine „scharfe Sonderung der Finanzgeschäfte und der Bauverträge“ und zielte damit letzten Endes doch wieder auf den Nerv des verdächtigten „Systems“.1108 Andere Reformvorschläge richteten sich auf die gesellschaftsrechtliche Verfassung der Organe, die in der Vergangenheit ihre Kontrollfunktionen nicht hätten wahrnehmen können oder sogar von den Gründern missbraucht worden seien. Neben Klagemöglichkeiten einzelner oder einer Aktionärsminderheit verlangte die Kommission eine Bestellung besonderer „Revisoren“, die mit Gesellschaftsorganen nicht in Verbindung stehen dürften und ebenfalls die Gerichte anrufen können sollten.1109 Umfassende Forderungen erhob die Kommission zu den künftigen „Pflichten und Befugnisse[n] der Aufsicht über das Unternehmen“, die von der Kapitalbeschaffung über die Bauphase bis hin zum Betrieb der Eisenbahnen und einer verkehrsgerechten Tarifgestaltung reichen sollten.1110 Beanstandet wurde, dass derzeit das „gesammte Eisenbahnwesen zum Ressort des Handelsministers“ gehöre.1111 In den zahlreichen Befugnissen kämen „widerstreitende Interessen zum Austrag“. So 1105

SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 175 ff. SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 179. 1107 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 179 ff. 1108 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 182. 1109 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 182 ff. 1110 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 185 f. 1111 SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 187. 1106

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hätten in der Vergangenheit „insbesondere die Privateisenbahnen unter einer Parteistellung zu leiden [gehabt…], über welche die Organe der Regierungsgewalt erhaben sein müss[t]en, von welcher aber die Eisenbahnverwaltung nach Lage der Sache sich nicht los machen“ könne. Nicht nur die Sachverständigen, sondern auch Regierungsvertreter hätten die „Vereinigung der im Prinzip nicht überall zusammenpassenden Befugnisse in derselben Hand als einen Nach­theil […] bezeichnet“. Nach dieser Kritik an den bestehenden gesetzlichen und unternehmerischen Verhältnissen, aber auch an der Verwaltungspraxis unter Minister Itzenplitz empfahl die Kommission, „vor Allem die fiskalische Verwaltung der Eisenbahnen von der Wahrnehmung der Regierungsbefugnisse für das gesammte Konzessionsverfahren und die gesammte Aufsicht ressortmäßig zu trennen“; schließlich müsse „[v]on der Staatsgewalt […] die Möglichkeit auch nur eines […] Verdachts auf das Sorgfältigste ferngehalten werden“, dass „bei diskretionären Entscheidungen die Wahrnehmung anvertrauter Interessen einen Einfluß“ gewinnen könne. Künftig müsse die „Verantwortlichkeit für die fiskalischen Interessen der Eisenbahnverwaltung von der Verantwortlichkeit für die Ausübung jener Regierungsbefugnisse völlig geschieden, und dies durch Sonderung der zuständigen Organe zum Ausdruck gebracht“ werden. Zu guter Letzt stellte sich die Kommission in den Dienst des „allseitig ihr entgegengetretenen Wunsche[s], daß die höchste Aufsicht über das Eisenbahnwesen für ganz Deutschland auf Organe des Reichs übertragen werde“.1112 4. Zwischenergebnis Gemessen an den Kommissionsergebnissen oder den Einflussmöglichkeiten der einzelnen Kommissionsmitglieder, allen voran Eduard Laskers, der die Dinge im Abgeordnetenhaus auch ins Rollen gebracht hatte, lässt sich kaum sagen, dass die Regierung die Aufarbeitung der unangenehmen Angelegenheit vereiteln oder peinliche Feststellungen unterdrücken konnte: Von der Spezialkommission wurden zahlreiche Fakten zusammengetragen, die ein bedenkliches Licht auf die Praxis der königlichen Eisenbahnverwaltung bzw. des Handelsministeriums ebenso wie auf das Geschäftsgebaren der privaten Unternehmer warfen. Aus den gewonnenen Erkenntnissen leitete man zahlreiche Reformforderungen gegenüber Gesetzgebung und Verwaltungspraxis ab. Dabei hielt man die Exekutive keineswegs von jedem Vorwurf frei. An diesem Befund änderte auch die 1876 gegen Arbeit und Bericht der Spezialkommission erhobene konservative oder die Kritik des Zentrums nichts. Freilich traf trotzdem das Monitum Eduard Laskers zu, dass die Regierung das Abgeordnetenhaus „politisch durch einen klugen Akt […] gezwungen“ habe, von seinem Untersuchungsrecht, „gegen welches die Regierung von jeher neidisch und wachsam“ gewesen sei, bei dieser Gelegenheit keinen „Gebrauch 1112

SlgDrsPrAbgH XII/1 (1873/74), No. 11, S. 188.

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zu machen“.1113 Eine vernichtende Niederlage war mit der Einsetzung der Spezialkommission für die Volksvertretung gleichwohl nicht verbunden; dafür waren die Aufarbeitungserfolge dieser gemeinsamen Untersuchung einfach viel zu sichtbar und greifbar. Welche weitergehenden Aufklärungsmöglichkeiten eine parlamentarische Untersuchung gebracht haben sollte, lässt sich nicht erkennen.

VI. Epilog: Das Ringen um die Beratung des Berichts (1876) Am 23.  Februar 1876 motivierte der 1861 nobilitierte Rittergutsbesitzer v. Denzin, ein führendes Mitglied der konservativen Fraktion,1114 den Antrag, endlich über den Bericht der Spezialkommission zu beraten. Nach der Aufregung, die Eduard Laskers „Gründerrede“ vor drei Jahren verursacht hatte, hielt er es für überfällig, „dem Lande endlich eine Beruhigung hierüber zu geben“. Auch sei die „Gesetzgebung über das Konzessionswesen […] den jetzigen Zeitverhältnissen anzupassen“. Dazu, zur Förderung der „Lokal- und Sekundär-Bahnen durch […] Staatsprämien“ und zur Ausgabe von „Aktien auch unter pari, aber unter bestimmten Bedingungen“, biete der „zweite Theil des Berichts“ nicht bloß „vollständige Veranlassung“, sondern auch „sehr schätzbare Vorschläge“.1115 Die folgende Debatte, in der die Linke den Wirtschaftsliberalismus verteidigte, während die Rechte versuchte, Boden für eine konservativere Politik gut zu machen, war von wirtschafts- und parteipolitischen Motiven bestimmt und zeigte damit einmal mehr die genuin politische Seite jeder Enquête. Obwohl sich der Fortschrittspolitiker Eugen Richter gegen das „Pathos“ der Begründung wendete, die durch den Abgeordneten v. Denzin besonders hervorgehobenen Reformvorschläge als „weniger werthvollen Theil des Berichtes“ bezeichnete, gegenüber legislatorischen Desideraten auf die Reichsgesetzgebungskompetenz für das Aktienrecht verwies und sich  – wie nicht anders zu erwarten – für die bisherige Wirtschaftspolitik stark machte, befürwortete er letzten Endes doch den Antrag, um der ungerechtfertigten Verleumdung gegen Eduard Lasker und die Liberalen entgegenzutreten, die nach der Untersuchung im Zuge der Krise aufgekommen war. Als Urheber der Agitationen beschuldigte der Fortschrittspolitiker „Schutzzöllner, […] Sozialdemokraten und […] Agrarier“, die u. a. behaupteten, dass der Kommissionsbericht verheimlicht werden solle.1116 1113

VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 888. Vgl. B. Mann, BioHdbPrAbgH, 1988, S. 105, 443. 1115 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 193. 1116 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S.  194 ff. Ein Beispiel sozialdemokratischer Anklagen findet sich in dem von A. Bebel verfassten Bericht N. N., Sozialdemokratie, 1909, S. 59 f., der ein „Verzeichnis derjenigen […] bekannten Reichstags- und Landtagsabgeordneten [enthält], welche hervorragend als Direktoren, Aufsichts- oder Verwaltungsräte von Aktiengesellschaften bekannt geworden sind“. 1114

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Eduard Lasker bestätigte den Verdacht seines Vorredners, dass er die traurige Sache habe ruhen lassen, um keinen parteipolitischen Verdacht zu erregen. Jetzt aber missdeute das Publikum diesen „Akt der Entsagung“ als Vertuschungsversuch. Vorwürfe, er habe den Zusammenbruch überhaupt erst herbeigeredet, dann aber in der Untersuchung ungerechtfertigte Rücksichten auf politische Freunde genommen, wies der nationalliberale Politiker zurück und widersprach der Annahme des Konservativen v. Denzin, dass die Untersuchungskommission „kein Material für eine kriminalrechtliche oder disziplinarische Untersuchung“ gefunden habe. Anders als seine Vorredner hielt Eduard Lasker den Bericht „nach beiden Richtungen hin“ für nützlich, indem die „Fehler des vergangenen Eisenbahnsystems und der Eisenbahnpolitik“ die „thatsächlichen Grundlagen“ für Reformvorschläge lieferten. Um keine neuen Vertuschungsgerüchte zu schüren, dürfe auch der „persönliche Theil“ nicht fortgelassen werden.1117 Trotzdem dürfe man in der gegenwärtigen Lage „nicht ziellos Anklage auf Anklage […] reihen“, sondern müsse die „Fehler der Vergangenheit […] zu Gegenständen der Belehrung […] machen“.1118 Der Nationalliberale Gustav Lipke nannte als Motiv für die Beratung des Berichts die „Anerkennung der Verdienste des Abgeordneten Lasker“. Ähnlich, wie heute teilweise privatgerichtete Untersuchungen und Enquêten abgelehnt werden,1119 wendete sich der Berliner Rechtsanwalt gegen öffentliche Anklagen gegen Privatleute, indem er die These aufstellte, dass „außer den acht Namen der Herren Minister“ „von dieser Tribüne als Gegenstand des Angriffes in der Regel keine Namen genannt werden“ dürften.1120 Während er die wegen der Reichsgesetzgebungskompetenz aussichtslosen Forderungen der Gegenseite als vorgeschoben abqualifizierte, um „gegen das jetzige Ministerium […] aufzutreten“, verteidigte er die wirtschaftsliberalen Grundsätze seiner Partei und warnte den politischen Gegner vor verbalen Entgleisungen wie im Reichstag, „wo ein konservatives Mitglied der Centrumfraktion, allerdings unter Protest derselben“, behauptet habe, „daß jeder rasche bürgerliche Erwerb den Verdacht der Unredlichkeit gegen sich habe“. Auf keinen Fall dürfe man in dieser Weise „jeden, […] der nicht etwa ein schönes Gut ererbt oder eine reiche Frau geheiratet [habe, …] verdächtigen“, ohne den „Unternehmungsgeist“ zu lähmen und gleichzeitig die „Muthlosigkeit“ zu fördern.1121 Der selbst durch Heirat zu Geld gekommene1122 Kölner Bauunternehmer ­Peter Joseph Roeckerath verlangte, die einmal angefangene Angelegenheit „möglichst bald zu Ende zu bringen“. Eduard Lasker warf der rheinische Zentrumspolitiker vor, in seinen „Enthüllungsreden […] ausschließlich konservative Namen ge 1117 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 198 f. Nicht zu Unrecht dürfte A. Bebel in N. N., Sozialdemokratie, 1909, S. 55 f. politische Motive des „Klassenstaates“ hinter dem Ausbleiben von Strafverfolgung vermutet haben. 1118 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 200. 1119 s. 8. Teil 4. Kap. A. II. 2. 1120 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 200. 1121 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 201. 1122 C. Bachem, Roeckerath, 1906, S. 16 f. und passim zum politischen Werdegang.

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nannt“ zu haben, obwohl die „Gründungen des Dr. Strousberg viel mißlicher und schlimmer“ gewesen wären. Auch billige es das Zentrum, dessen Mitglieder „als Reichsfeinde im Lande verschrieen“ seien, nicht, dass der „einflußreichste Mann des Landes“ – Bismarck dürfte gemeint gewesen sein – „mit Männern Verbindungen [unterhalte…], die in dieser Weise kompromittirt“ wären. Zu guter Letzt erhob Roeckerath nebulöse Anklagen gegen David Hansemann. Die frühere Konzessionierungspraxis, die erst Strousberg, dann aber den Hochadel begünstigt habe, qualifizierte er als Nährboden von Missbrauchsspekulationen, betonte aber „zum Ruhm des Preußischen Beamtenstandes“, „daß in dem ganzen Untersuchungsbericht trotz all der faulen Geschichten [keine…] Beispiele von Beamtenbestechungen“ vorkämen.1123 Robert v. Benda verlangte, Vorurteilen und Verdächtigungen ein Ende zu­ machen, die nur das „Land aufreg[t]en und schädig[t]en“. Mutmaßungen gegen David Hansemann wies der Nationalliberale zurück. Überhaupt kreidete er die Spekula­tionskrise der 1870er Jahre nicht Einzelnen, sondern einer „allgemeine[n] Krankheit der ganzen Nation“ an, begünstigt durch den Handelsminister und Teile des Abgeordnetenhauses. Die „schwere Schuld“ des Grafen Itzenplitz bedeute nicht zwangsläufig, dass das ganze „Beamtenthum infizirt“ wäre. Aus den Reihen der Gründer seien die Betrüger und gleichermaßen „diejenigen, welche einen ehrenwerthen amtlichen oder adligen Namen für Geld verkauft [hätten…], ohne Mühe und ohne etwas dabei zu riskiren“, „unnachsichtlich“ zu verfolgen. Von einer Beratung des Berichts erhoffte der Jurist, dass nicht länger „legitime […] und […] unentbehrliche Spekulation“, jeder „Erwerb“ oder der große „Verkehr des Geldmarktes“ grundlos angeprangert würden. Statt dieser „Art der Selbstzerfleischung“ sei eine sachliche „Diskussion […] unter Mitwirkung aller Parteien“ geboten, um Klarheit zu schaffen und zur „Gesundung“ der „Wohlstands-Interessen“ beizutragen.1124 Für die Antragsteller übernahm der Konservative v. Below-Saleske das Schlusswort.1125 Obwohl er Eduard Lasker zugute hielt, dass er bei seinen Angriffen nicht von dem „verwerfliche[n] Prinzip“ ausgegangen sei, „eine Partei zu brandmarken“, warf er diesem doch ein „unglückliches Mißgeschick“ vor, weil er „aus der Fülle des Lebens […] nur einige konservative Namen herausgegriffen“ habe.1126 Eduard Lasker erwiderte, dass er „nicht eine […] Beschwerde […] zurückgehalten“ habe; das abschließende Urteil, ob die Dominanz konservativer Namen „in einem tragischen Geschick oder in den Thatsachen begründet“ sei, überließ er großmütig dem „Hause […], je nachdem es entweder mystische Gründe oder welt-

1123

VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 202 f. VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 203 f. In dasselbe Horn blies der nationalliberale Fabrikbesitzer Fritz Kalle, der sich von der Beratung des Berichts erhoffte, dass dem „Geschäftsmann“ endlich wieder „allgemeine Achtung“ zuteil werde. 1125 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 204. 1126 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 205. 1124

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liche Gründe für wahrscheinlicher“ halte.1127 – Der Abgeordnete v. Below-Saleske teilte nicht die Ansicht, dass bloß Verfehlungen von Abgeordneten zur Sprache kommen sollten, sondern hielt mit „Rücksicht auf Verdächtigungen und Verleumdungen, die seit geraumer Zeit das Volk beunruhig[t]en“, eine Ausweitung für geboten. Demgegenüber habe der Abgeordnete Richter aus „Mangel an Sympathie […] für die Agrarier“ diese „außerhalb des Hauses stehende Gruppe von Interessenten“ angegriffen, obwohl sie keine „Verdächtigungen ausgestreut“ hätten. Als Ziel des Vorstoßes bezeichnete v. Below eine „Revision gewisser Bestimmungen des Aktiengesetzes“: Während das „Eisenbahnkonzessionswesen eigentlich ein harmloses Kind“ sei, qualifizierte er das Aktiengesetz als eine „Leiter, auf der jeder Eigennützige in verbotene Räume steigen [könne…], um sich aus Mitteln zu bereichern, die ihm nicht gebühr[t]en“. Indem sich „Legalität und Moralität […] nicht mehr“ deckten, sei es geradezu „verdammungswürdig“.1128 Nach dieser stark politisierten Debatte wurde der Antrag Denzin, „den […] Bericht der Spezialkommission zur Untersuchung des Eisenbahnkonzessionswesens […] baldigst, jedenfalls aber noch in dieser Session zur Berathung zu ziehen“, mit „große[r] Mehrheit des Hauses“ angenommen.1129 Trotzdem wurde die Angelegenheit erst durch einen fraktionsübergreifenden Antrag vom 28. März 1876 der ehemaligen parlamentarischen Vertreter in der Spezialkommission, des Nationalliberalen Lasker und des Freikonservativen Georg v. Köller, sowie von 153 weiteren Abgeordneten der Fortschrittspartei, der Nationalliberalen und der Neu- und Freikonservativen erledigt. Wie es heute nach parlamentarischen Untersuchungen üblich ist, sollte das Abgeordnetenhaus „von dem Bericht der Spezialkommission […], von den in demselben dargestellten Mißständen und den hieran sich anschließenden Vorschlägen Kenntniß“ nehmen. Außerdem sollte es mit einer Resolution die „Erwartung aussprechen, daß die Königliche Staatsregierung darauf Bedacht nehmen werde, den Mißständen, welche bei dem Privateisenbahnbau wahrgenommen und in Folge von Scheinmanipulationen und Umgehungen des Gesetzes ermöglicht worden [seien…], mit den Mitteln der den Staatsbehörden anvertrauten Konzessionsbefugniß und Aufsicht über den Eisenbahnbau entgegenzutreten“. „[V]on weiteren Beschlüssen“ sollte das Plenum „mit Rücksicht darauf, daß die von der Königlichen Staatsregierung eingebrachten und angekündigten Gesetzesvorlagen die Erörterung der in dem Bericht dargelegten Gesichtspunkte in Aussicht stell[t]en, zur Zeit Abstand […] nehmen“. Mit Blick auf das in die Kritik geratene Aktienwesen wollte man die Staatsregierung auffordern, im Reich auf eine Reform „im Sinne […] eines besseren Schutzes aller im öffentlichen Interesse gegebenen Gesetzesvorschriften“ hinzuwirken.1130

1127

VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 206. VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 205. 1129 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 206. 1130 VerhPrAbgH XII/3 (1876), Nr. 141, S. 954. 1128

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Die Debatte vom 29. März 1876, nach der eine „große Mehrheit“ für den Antrag stimmte,1131 stand ganz im Schatten der Reichseisenbahnfrage und des Vorstoßes zur Übertragung sämtlicher Staatsbahnen auf das Reich.1132 Als erster Redner führte der Mitantragsteller und Neukonservative Georg v. Köller das „lebhafte Interesse“ an der Sache auf die Sensationslust des Publikums zurück.1133 Als Ursachen des Debakels klagte der Rittergutsbesitzer nicht einzelne Personen, sondern die allgemeine „Spekulationswuth“, den Wunsch nach „mühelosen Gewinn[en]“ und den allgemeinen „Drang nach Eisenbahnen“ an. Obwohl das Abgeordnetenhaus an dieser verderblichen Entwicklung nicht unschuldig wäre, kreidete er dem Aktienrecht die Hauptverantwortung an. So sei die Aufhebung des Konzessionszwangs zwar ein „volkswirthschaftlich völlig richtiger“ Schritt gewesen, bei dem man aber versäumt habe, andere Kontrollmechanismen einzuführen.1134 Gegenüber diesen Mängeln bleibe dem Abgeordnetenhaus nur eine Aufforderung an die Regierung übrig.1135 Nach einer Rechtfertigung der Spezialkommission, die durch Kritik des Konservativen Eduard v. Tempelhoff notwendig geworden war, wendete sich Eduard Lasker ausführlich den Gebrechen des preußischen Eisenbahnwesens zu.1136 Im Sinne einer „ethische[n] Klärung“ verlange der Resolutionsentwurf von der Regierung, „mit den Hilfsmitteln, die ihr durch das Konzessionswesen und durch das Aufsichtsrecht über die Eisenbahnen gegeben [seien…], dafür zu sorgen, daß in Zukunft nicht ferner durch Scheinverträge und falsche Angaben gegen den ausdrücklichen Sinn des Gesetzes verfahren werde“. Der zweite Antragsteil sei erforderlich, weil auch das „jetzige Aktiengesetz unzulänglich [sei…], den wirthschaftlichen Segen der freien Gestaltung dieser Gesellschaften zu sichern und das Land gegen unermeßlichen Schaden zu schützen“. Einen „Theil der Mißstände“ schrieb Eduard Lasker der Gesetzgebung zu, klagte aber als Wurzel des Übels nicht erst das Gesetz von 1870, sondern schon das ältere Handelsgesetzbuch an, das noch auf dem Glauben beruhe, „die Freiheit heile sich durch sich selbst“. Nach dieser Philippika gegen wirtschaftsliberale Positionen, die ihm den Widerspruch der Fortschrittspartei zuzog, betonte der nationalliberale Politiker, dass man in dem Antrag „nur diejenigen Punkte“ berücksichtigt habe, „über welche ein Streit im Hause nicht zu vermuthen sei“. Die letzten Antragspassagen erläuterte er so, „daß 1131

VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 915. In diesem Sinne urteilte W. Müller, Geschichte X, 1877, S. 27 f., dass „[b]ei weitem das größte Aufsehen […] die Debatte über die Eisenbahnfrage“ gemacht habe – freilich „nicht die Debatte vom 29. März über den Bericht der Specialkommission“. Vielmehr sei der „Gegenstand, welcher die Aufmerksamkeit des ganzen Kontinents erregte, […] das von Bismarck entworfene Projekt, das Eisenbahnwesen an das Deutsche Reich zu bringen“, gewesen. Vgl. aus der Debatte über den Antrag Lasker/Köller VerhPrAbgH XII/3 (1876), S.  885 (Köller), 896 (Lasker). 1133 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 881. 1134 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 882 f. 1135 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 885. 1136 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 888 ff. 1132

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die Reform des Aktienwesens nicht […] bis zum Zustandekommen des Deutschen Civilgesetzbuches“ aufgeschoben werden dürfe.1137 Die weitere Debatte kreiste einerseits um den Bericht der Spezialkommission, deren Arbeit außer den Altkonservativen auch das Zentrum als unausgewogen, unvollständig und parteiisch kritisierte;1138 zum anderen nutzten diese Oppositionsparteien die Gelegenheit zu einer Generalabrechnung mit der Wirtschaftspolitik und Gesetzgebung der liberalen Ära,1139 der sie mindestens eine erhebliche Teilschuld an Gründerkrach und Depression zur Last legten.1140 Eduard Laskers Parteinahme für das Staatsbahnprojekt und eine stärkere Regulierung von Aktienwesen und Geldmärkten, mit denen sich der Nationalliberale dem rechten Flügel seiner Partei anschloss,1141 rief zur Verteidigung der bisherigen Laisser-faire-Politik die Fortschrittspartei auf den Plan.1142 Trotzdem stand der Wirtschaftsliberalismus schon auf verlorenem Posten: Durch Gründerkrach und anhaltende Depression geläutert, kehrte Otto v. Bismarck dem bisherigen Kurs den Rücken.1143 Der konservative „Umschwung der staatlichen Wirtschafts- und Innenpolitik“ (Gerhard Ritter) führte Ende der 1870er Jahre zum Bruch mit den Liberalen, deren Ära unwiederbringlich vorüber war.1144 Unterstützt von den im Juli 1876 neuorganisierten Deutschkonservativen und gegen Ende der 1870er Jahre auch durch das Zentrum folgte der Übergang zu Schutzzoll-, staatlicher Interventions- und Regulierungspolitik.1145 Nicht grundlos charakterisierte der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Ludwig Frank den Politikwechsel also als „aus der Katzenjammerstimmung des eben überwundenen Gründerskandals“ geboren.1146 Vor diesem politischen Hintergrund wird deutlich, dass die Debatte um den Kommissionsbericht von den Parteien als Vehikel benutzt wurde, um die wirtschaftspolitischen Streitfragen anzuschneiden. Für die Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung ist die förmliche Zurkenntnisnahme des Berichts, mit der Untersuchungsverfahren bis heute in der Regel abgeschlossen werden, bemerkenswert.

1137

VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 896 f. s. die Rede Theodor Schroeders in VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 909 ff. 1139 Laut G. A. Ritter, Parteien, 1985, S. 19 waren Kernpunkte der Wirtschaftspolitik in der liberalen Ära, „daß im Interesse des Handels, der Banken und wesentlicher Teile der Industrie die bisherigen Schranken freier wirtschaftlicher Betätigung beseitigt wurden“. s. allg. zum wirtschaftliberalen Credo „Handelsfreiheit, Zollfreiheit, Freihandel“ L. Bergsträsser, Parteien10 1960, S. 48. 1140 s. G. Schuster, HdbDtGesch II7 1931, S. 448 (469) zur Gegnerschaft der Altkonservativen gegen die liberale Wirtschaftspolitik nach der Reichsgründung. s. für das Zentrum G. A. Ritter, Parteien, 1985, S. 16, 51. 1141 Zur nationalliberalen Spaltung in Freihändler (Linke) und Schutzzöllner (Rechte) und der Sezession von 1880 s. G. Schuster, HdbDtGesch II7 1931, S. 448 (459, 462 in Anm. 5). 1142 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 906 ff. 1143 E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1043. 1144 G. A. Ritter, Parteien, 1985, S. 19 f. 1145 G. Schuster, HdbDtGesch II7 1931, S. 448 (469, 478). 1146 L. Frank, Parteien, 1911, S. 14. 1138

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VII. Einordnung in die Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte 1. Bewertung im Schrifttum Das juristische Schrifttum deutet die Eisenbahnangelegenheit seit langem als entscheidenden Wendepunkt, ab dem das Abgeordnetenhaus seine Machtlosigkeit gegenüber dem Ministerium eingesehen und fortan von eigenen Enquêten und Untersuchungen Abstand genommen habe.1147 Von Anfang an wurden Eduard Lasker unlautere Motive unterstellt; zeitgenössische Verdächtigungen, er wäre immer „kleinlauter“ geworden, als die Untersuchung eine Verstrickung seiner „Partei-, Stammes- und Glaubensgenossen“ erwiesen habe (Waldemar Graf v. Roon),1148 desavouiert ihr antisemitischer Charakter.1149 Parteipolitische Rücksichten wurden außerdem dahinter vermutet, dass der Bericht nicht auf die Tagesordnung kam; die absurdesten Vorwürfe gingen von einer fingierten Affäre aus, um die Börsenkurse zu manipulieren.1150 Auch moderne Autoren sprechen Eduard Lasker seriöse Beweggründe ab. So interpretierte Joachim Borchart das Engagement des nationalliberalen Politikers ausschließlich „im Lichte seines Ehrgeizes“, „sich als nationalliberaler Streiter gegenüber einer, wie er glauben machen wollte, zur Korruption neigenden konservativen Schicht herauszustellen“. Die Anklagen gegen das Wirtschaftssystem des Eisenbahnkönigs bewertete der Strousberg-Biograph als in einem Maße unbegründet, dass die Kommission weder die Generalentreprise noch den Verkauf von Aktien unter pari verboten, sondern bloß moderate Auflagen gefordert habe.1151 Diesem Urteil schloss sich Rüdiger v. Bruch mit der These an, der Kommissionsbericht wäre für das „System Strousberg“ ein „erwiesener Freispruch, nicht ein Freispruch mangels Beweisen“ gewesen.1152 Ende der 1980er Jahre mutmaßte der ostdeutsche Historiker Manfred Ohlson, dass E ­ duard Laskers Enthüllungen in erster Linie parteipolitischen Interessen gedient hätten.1153 Diese Geringschätzung der Eisenbahnenquête, ihrer Erfolge und der Motive ihres Initiators stehen mit den historischen Tatsachen allenfalls teilweise im Einklang.

1147

s. 1. Teil B. und die Nachw. in Fn. 26. W. v. Roon, v. Roon III5 1905, S. 350. 1149 Vgl. A. Laufs, E. Lasker, 1984, S. 73, J. F. Harris, Study, 1984, S. 94 im Hinblick auf Otto Glagaus Schriften in der Gartenlaube und R. W. Dill, E. Lasker, 1956, S. 107 ff. zu „ÄraArtikeln“ etc. Zum Aufkommen „antisemitischer Tendenzen in der Publizistik“ überhaupt vgl. K. E. Born, in: HdbPrGesch III, 2001, S. 15 (91) und M. Lange, in: Benz (Hg.), Antisemitismus IV, 2011, S. 57 (58 f.) zur Ausschlachtung des Gründerkrachs. 1150 Dazu R. W. Dill, E. Lasker, 1956, S. 105 f. 1151 s. J. Borchart, Eisenbahnkönig, 1991, S. 175 ff. 1152 R. v. Bruch, in: Schultz (Hg.), Prozesse, 2001, S. 250 (254). Zu Recht krit. D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 170 f. und in Fn. 96. 1153 M. Ohlson, Strousberg, 1987, S. 256 ff. 1148

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2. Der „Ertrag“ der Eisenbahn- und Gründerangelegenheit a) Ein „Sieg“ der Regierung? Vordergründig könnte man den Eindruck gewinnen, dass Eduard Laskers Vorstoß zur Untersuchung des Eisenbahn- und Gründerskandals mit der Rücknahme des Untersuchungsantrags und der parlamentarischen Beteiligung an der königlichen Spezialkommission gescheitert ist, so dass Waldemar v. Roon scheinbar nicht ohne Grund frohlockte, dass das Abgeordnetenhaus diesen „radikalsten, auf Parlamentsherrschaft gerichteten Gelüsten entsprechenden Antrag“ „gebührendermaßen zurückgewiesen“ habe.1154 Alternativ scheint sich die modernere und parlamentsfreundlichere These zu bestätigen, dass die Volksvertretung überhaupt keine Chance gehabt habe, ihr Selbstinformationsrecht gegen das übermächtige Ministerium zu behaupten.1155 Tatsächlich wurden im Abgeordnetenhaus Zweifel an der Durchschlagskraft einer parlamentarischen Untersuchung laut und selbst Eduard Lasker räumte ein, dass man im Hinblick auf die Mitwirkungspflichten der Behörden und Gerichte „möglicherweise vor einer staatsrechtlichen Streitfrage“ stehe. Angesichts des voraussichtlichen Widerstands der Regierung, für den man über abschreckendes Anschauungsmaterial aus den 1860er Jahren verfügte, musste eine gemeinsame Untersuchung attraktiv erscheinen. In den liberalen Preußischen Jahrbüchern war sogar zu lesen, dass sich der Untersuchungszweck auf diesem Weg besser als durch eine parlamentarische Untersuchungskommission erreichen lasse, deren „Befugnisse […] weder durch den Wortlaut der Verfassung noch [durch die…] staatsrechtliche Praxis festgestellt“ wären. Indem eine parlamentarische Kommission „sowohl bezüglich der Beschaffung des Untersuchungsmaterials als der Erbringung der Beweise […] lediglich auf die ihr freiwillig von Privaten zur Verfügung gestellten Mittel angewiesen“ wäre, könne sie niemals über die „Autorität […] einer von der Regierung in Gemeinschaft mit beiden Häusern des Parlamentes eingesetzten Commission“ verfügen.1156 Diesen Vorteilen stellten kritischere Blätter den potentiell störenden Einfluss der Regierung gegenüber.1157 Trotz solcher Bedenken erschien den Zeitgenossen die Beteiligung an einer ernst gemeinten Regierungsuntersuchung erfolgversprechender als die Veranstaltung einer parlamentarischen Enquête und Untersuchung. In diesem Sinne wurde es zunächst öffentlich begrüßt, dass sich Parlament und Regierung endlich Hand in Hand dazu aufmachten, das undurchsichtige Gründer-Dickicht zu lichten.1158

1154

W. v. Roon, v. Roon III5 1905, S. 348. Vgl. 1. Teil B., 5. Teil 1. Kap. und 3. Kap. C. III. 1. 1156 N. N., PrJb 31 (1873), S. 203 (209). 1157 Zu Vertuschungssorgen in der Presse s. W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 30. 1158 Vgl. N. N., PrJb 31 (1873), S. 203 (208 f.). 1155

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Von der „Vereitelung“ einer Untersuchung durch das Staatsministerium kann aber auch in der Sache keine Rede sein: Schließlich zog Eduard Lasker seinen Antrag gerade nicht auf gouvernementalen Druck hin zurück; ausschlaggebend war vielmehr die Gewissheit, für einen Einsetzungsbeschluss keine Mehrheit unter den Abgeordneten zu finden. Wie schon die Untersuchungsanträge zur Lage des Landes oder in der Dissidentenfrage scheiterte auch Eduard Laskers Vorstoß zu einer parlamentarischen Aufarbeitung des Eisenbahngründerskandals schlicht an den Mehrheitsverhältnissen im Abgeordnetenhaus. Aber obwohl die Untersuchung mit dieser Entscheidung dem Wunsch des­ Monarchen gemäß in Regierungshand blieb und Friedrich Thudichum resümierte, dass es durch Bismarcks „staatsmännischen Blick [gelungen wäre…], die Schwierigkeit aus dem Weg zu räumen“,1159 waren die Verdachtsmomente und unbequemen Fragen keineswegs vom Tisch.1160 Eduard Lasker urteilte kritisch, dass es das Gouvernement durch seinen „klugen Gegenzug“ erreicht habe, dass weder „das ganze Parlament wenigstens als Zuhörer [habe…] theilnehmen“ noch die Presse zeitnah berichten können, so dass es ein „Nachtheil“ gewesen sei, dass die „Last auf wenigen Mitgliedern“ gelegen habe und die „Oeffentlichkeit nicht in dem erwünschten Maße betheiligt“, „ja […] die Untersuchung gewissermaßen geheim behandelt“ worden sei. „[V]iele Dinge, welche erörtert und klargestellt worden [seien, würden…] in dem Berichte gar nicht mitgetheilt“; die Regierung habe so das „Bestreben nach vollster und unmittelbarer Oeffentlichkeit […] durchkreuzt“.1161 Ferner seien die Ermittlungen teilweise hinter den ursprünglichen Forderungen zurückgeblieben. Tatsächlich hatte Eduard Lasker „ausdrücklich“ dagegen „protestiert  […], daß vor abgeschlossener vollständiger Untersuchung die Kommission überhaupt ihre Thätigkeit“ beende. Dieser „Protest, der schriftlich sich bei den Akten“ befand,1162 betraf die Bahnbauten Hannover-Altenbeken und Löhne-Vienenburg. Die Kommission hatte in Detailfragen nicht weiter nachgeforscht, weil das zugrundeliegende Muster ohnehin bekannt war und verschiedene Zeugen die Aussage verweigerten.1163 Verschiedene linke Zeitungen fürchteten sogar, dass die Regierungsseite die Affäre vollständig vertuschen könnte.1164 Wie unbegründet derartige Sorgen waren, dokumentiert der umfangreiche Untersuchungsbericht, der wenig Rücksicht auf gouvernementale Befindlichkeiten nahm. Bei aller Kritik verteidigte auch Eduard Lasker die Kommission grundsätzlich, weil sie, „wie bei der Prüfung der einzelnen Unternehmungen, so auch in ihrem Gesammtverfahren völlig objektiv und planmäßig zu Werke gegangen“ 1159

F. Thudichum, Kämpfe II, 1890, S. 6. Zu entsprechenden Überlegungen und Beratungen s. E. Berner, Wilhelm I.1–3 1906, Nr. 520, S. 290 f. sowie kürzer W. v. Roon, v. Roon III5 1905, S. 348 f. 1161 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 888. 1162 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 198. 1163 s. die Hinweise des Konservativen Eduard v. Tempelhoff in der Debatte über die Beratung des Berichts und E. Laskers Erläuterungen (VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 886, 888). 1164 Zu Sorgen der „radikalen Blätter“ vgl. W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 30. 1160

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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sei.1165 Indem „viele Beamte in der Kommission mitgewirkt [hätten…] und die Regierung mit der größten Bereitwilligkeit jedes […] geforderte Material und jede gewünschte Auskunft gegeben“ habe, sei „kein Schatten von Dunkelheit geblieben“.1166 Entsprechende Erfolge wären bei einer parlamentarischen Untersuchung eher unwahrscheinlich gewesen. Auch mit dem Kommissionsbericht zeigte sich Eduard Lasker dem Grunde nach zufrieden, indem er diesem Werk attestierte, „alle […] Angelegenheiten mit einwandsfreier Unparteilichkeit und in einer objektiv kühlen Sprachweise“ zu referieren.1167 Seine gleichwohl geäußerte Kritik dürfte wenigstens teilweise parteipolitische Gründe gehabt haben. Tatsächlich gibt es keine Anhaltspunkte von Vertuschung oder Beschönigung. Die Spezialkommission sprach den Handelsminister keineswegs vollständig von sämtlichen Vorwürfen frei.1168 Obwohl eines der erheblichsten Verdachtsmomente, die (korrupte?) „Bevorzugung einzelner Personen“, zurückgewiesen wurde, blieb doch eine ausführliche Schelte der konfusen ministeriellen Entscheidungspraxis sowie eines gravierenden Aufsichtsversagens gegenüber den Gründern übrig. Forderungen, die Kammern an der Aufstellung des Eisenbahnplans zu beteiligen und die fiskalische Sorge für die Eisenbahnverwaltung und für die Genehmigung neuer Vorhaben nicht länger dem Handelsministerium zu überlassen, sprechen Bände. Außerdem ging die Kommission mit Schwächen der preußischen Gesetzgebung ins Gericht und befürwortete eine Hochzonung des Eisenbahnwesens auf das Reich. Diese Erfolge Eduard Laskers erkannten die Zeitgenossen – mit Ausnahme der Konservativen – auch durchaus an.1169 Überhaupt fanden sich in dem Bericht der Spezialkommission die Vorwürfe grosso modo bestätigt, was nicht nur Parteifreunde, sondern auch politische Gegner wie der Sozialdemokrat August­ Bebel anerkannten, obwohl er Eduard Lasker für sein Engagement als „Miniatur-­ Robespierre“ verspottete.1170

1165

VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 891. VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 888 f. 1167 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 891 f. 1168 s. in diesem Sinne aber W. v. Roon, v. Roon III5 1905, S. 350 („durchaus vorwurfsfrei“). 1169 So heißt es etwa in N. N., Eisenbahnpolitik, 1876, S. 35, dass der Bericht der Spezialuntersuchungskommission „nicht nur eine aktenmäßige Darlegung des Verfahrens bei der Conzessionsertheilung für eine große Anzahl preußischer Eisenbahnen“ enthalten, sondern „auch die Mißstände, welche hierbei hervorgetreten [waren…], in klarer und übersichtlicher Weise zusammen[gestellt], und […] Vorschläge [entwickelt habe], durch welche Mittel diesen Mißständen für die Zukunft vorzubeugen“ sei. Die positiven Stellungnahmen A. Bebels und K. Schraders, VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3288 f., 3290 wurden schon angesprochen. Im allg. Sinne wertete N. N., PrJb 31 (1873), S. 203 (208 f.) die Tatsache, dass die Regierung auf die Untersuchungsforderung eingegangen sei, trotz Kritik an verschiedenen Aspekten ihres Verhaltens als Indiz für die „Gesundheit“ der preußischen „Zustände“. 1170 R. Paetau, in: Acta Borussica VI/1, 2004, S. 40 urteilt, die Kommission habe den „Kern der Aussagen Laskers“ bestätigt. s. ebenso den Parteifreund Laskers und Berliner Rechtsanwalt Gustav Lipke, VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 201 sowie A. Bebels Bewertung in N. N., Sozial­ demokratie, 1909, S. 55 und 57 (Zitat). 1166

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So betrachtet erscheint die Einsetzung einer Spezialkommission unter parlamentarischer Beteiligung vielmehr als partieller Erfolg des nationalliberalen Politikers, zumal sich die Regierung Roon der Sache ohne die öffentlichen Attacken im Abgeordnetenhaus wohl nicht in dieser Weise angenommen hätte. So paradox es klingen mag: Ausgerechnet die Tatsache, dass sich das Staatsministerium anscheinend unter dem Eindruck der blamablen Wahlmanipulationsuntersuchung, die selbst Totalverweigerung und Obstruktion nicht hatten vereiteln können, genötigt sah, keinesfalls eine erneute parlamentarische Investigation zu dulden, verdeutlicht den Stellenwert des Art. 82 PrVerf 1850 als parlamentarisches Machtmittel. Gemeinsam mit dem Druck der Öffentlichkeit, die zu Beginn für Eduard Laskers Sache Partei ergriff,1171 nötigte die Existenz dieser informationsrechtlichen Bestimmung das Staatsministerium zu einer gewissen Kompromissbereitschaft gegenüber der Volksvertretung; wegen des allen Widerständen zum Trotz probaten Untersuchungsrechts ließ sich die Affäre nicht einfach unter den Teppich kehren. Noch aus dem zeitlichen Abstand der 1890er Jahre hoben der Sozialdemokrat August Bebel und der Deutsch-Freisinnige Karl Schrader im Reichstag übereinstimmend diese Bedeutung des Art. 82 PrVerf 1850 für das Gelingen der Eisenbahnuntersuchung hervor.1172 Der Erfolg, den das Ministerium Roon mit dem Versuch, „der Abstimmung über [den…] Antrag Lasker zuvorzukommen“,1173 für sich verbuchen konnte, erschöpfte sich darin, dass über die Eisenbahnverwaltung und das Eisenbahnwesen eine Spezialkommission unter königlicher statt unter parlamentarischer Regie zu Gericht saß, an der bloß je zwei Mitglieder des Herren- und des Hauses der Abgeordneten beteiligt waren. In der Sache tat dieser Umstand der Aufarbeitung keinen Abbruch. Die Eisenbahnangelegenheit ist also nicht das vielzitierte Zeichen parlamenta­ rischer Schwäche oder gouvernementaler Übermacht. Das Ausmaß, in dem die Spezialkommission unter Eduard Laskers Mitregie die Regierung in die Enge treiben konnte, verdeutlichte im Gegenteil und im Vergleich mit dem Antrag Schwerin von 1855, gouvernementalen Wahlmachinationen durch eine Regierungskommission nachzugehen, der vollkommen erfolglos geblieben war,1174 wie sehr das Ab­ geordnetenhaus seinen politischen Einfluss in den vergangenen 18 Jahren hatte steigern können.

1171 Zu öffentlicher Meinung und Verbreitung der Rede im Druck vgl. W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 28. Eine bei Franz Duncker verlegte Publikation von „Lasker’s Rede“ erreichte im selben Jahr mindestens fünf Auflagen! s. auch A. Laufs, E. Lasker, 1984, S. 69; J. F. Harris, Study, 1984, S. 93 oder R. W. Dill, E. Lasker, 1956, S. 101. 1172 Zum Verfassungsänderungsantrag Auer s. 6. Teil 2. Kap. B. III. 1. b). 1173 C. Schubel, Handelsgesellschaften, 2003, S. 338. 1174 s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 3.

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b) Eduard Laskers Erfolgsbilanz Zu den verschiedenen Erfolgen, die Eduard Lasker in der Eisenbahnangelegen­ heit über die Papierform hinaus für sich verbuchen konnte, gehört an erster Stelle der „Sturz“ Hermann Wageners und des Handelsministers Heinrich v. Itzenplitz.1175 Nationalliberale Parteifreunde rühmten sich schon in den 1870er Jahren, den Handelsminister aus dem Amt gedrängt zu haben.1176 Zwar wurde der amtsmüde Minister nach Abschluss der Untersuchung auf eigenen Wunsch entlassen.1177 Besser als der Eindruck eines freiwilligen Rückzugs wird aber Wilhelm Müllers Urteil der Wirklichkeit gerecht, dass der Handelsminister „in Folge parlamentarischer Anklagen […] zur Niederlegung seines Amtes sich genöthigt“ gesehen habe.1178 Hinter den Kulissen dürfte auch Bismarck eine Rolle gespielt haben.1179 Einen „Präzedenzfall“ für einen solchen pseudoparlamentarischen Ministersturz hatte es 1866/67 gegeben, als der Justizminister Graf Lippe bei den Nationalliberalen für sein hartes Vorgehen gegen Carl Twesten in Ungnade gefallen war und nach einem ebenfalls durch Eduard Lasker initiierten Misstrauensvotum demissionierte.1180 Zuvor hatte sich der Konservative mit Bismarck überworfen. Dass er für die Nationalliberalen zur „persona non grata“ wurde, bedeutete für den preußischen Ministerpräsidenten, dass er die „schwierigen Justizreformen in 1175

s. etwa M. Ohlson, Strousberg, 1987, S. 256. s. aus der Debatte über den Antrag Denzin die Äußerungen der Nationalliberalen Gustav Lipke und Robert v. Benda, VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 201, 204. 1177 Vgl. W. v. Roon, v. Roon III5 1905, S. 348 f., 350. 1178 Vgl. W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 31 mit der nicht ganz zutreffenden Feststellung, dies wäre „seit Beginn der konstitutionellen Aera Preußens nicht vorgekommen“. 1179 Ein ähnl. Urteil fällt R. Paetau, in: Acta Borussica VI/1, 2004, S.  40 über die Affäre: „Seitdem war der Handelsminister nicht mehr zu halten und namentlich Bismarck forcierte seinen Rücktritt“. Laut R. Lucius, Bismarck1–3 1920, S. 29 äußerte der Reichskanzler, der kein Freund des Handelsministers war, nach der „Gründerrede“ in kleinem Kreise, dass „[g]egen Itzenplitz wegen Unfähigkeit […] ein Angriff gerechtfertigt sein“ möge. 1180 R. Paetau, in: Acta Borussica VI/1, 2004, S. 33 f.; R. W. Dill, E. Lasker, 1956, S. 10 ff. Der Antrag Lasker vom 20. November 1867 war auf ein „Gesetz, betreffend die Deklaration des Artikels 84. der Verfassungs-Urkunde“ gerichtet. Der „Normtext“ sollte lauten: „Wir Wilhelm von Gottes Gnaden, König von Preußen etc. verordnen unter Zustimmung der beiden Häuser des Landtages, was folgt: In Gemäßheit des Artikels 84. der Verfassungs-Urkunde […] darf kein Mitglied des Landtages wegen seiner Abstimmung, oder wegen der in Ausübung seines Berufes gethanen Aeußerungen gerichtlich oder disciplinarisch verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung desjenigen Hauses, zu welchem es als Mitglied gehört, zur Verantwortung gezogen werden“ (SlgDrsPrAbgH X/1 (1867/68), No. 5). Das Abgeordnetenhaus beschloss am 2. Dezember 1867 mit 188 zu 174 Stimmen die Vorberatung des Antrags. Auf Vorschlag des Präsidenten sollte die Sache noch einmal nach 21 Tagen zur Sprache kommen. Am 8. Januar 1868 wurde der Beschluss dann mit 174 zu 144 Stimmen bestätigt (VerhPrAbgH X/1 (1867/68), S. 154 ff., 701 ff.). Gesetzeskraft erlangte der Vorstoß wegen der Ablehnung durch das Herrenhauses nicht. s. zu der gesamten Affäre T. Cohn, in: JbGeschJuden IV, 1869, S. 1 (96 ff.). – Selbst in Süddeutschland, etwa in der Augsburger Allgemeine Zeitung, Nr. 342, vom 8. Dezember 1867, S. 5463, wurde über die Angelegenheit berichtet. s. ferner den „Bericht“ über die Ereignisse in der Provinzial-Correpondenz, No. 49, vom 4. Dezember 1867 und den Abdruck der Entlassungsordre in No. 51, vom 11. Dezember 1867. 1176

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Preußen und dem Bund“ mit diesem Minister keinesfalls „zügig und möglichst reibungslos“ durch das Parlament bringen konnte (Rainer Paetau).1181 Bethel Henry Strousberg urteilte also wenigstens teilweise zu Recht, dass Eduard Lasker, wenn er „nicht gerade Minister-Macher [war, …] Minister gestürzt“ habe.1182 Aus heutiger Perspektive ist man trotzdem versucht, den parlamentarischen Einfluss herunterzuspielen, weil nach der Verfassung allein der Monarch über das Schicksal „seiner“ Minister zu entscheiden hatte. Tatsächlich ist es aber unter der Herrschaft des Grundgesetzes kaum besser um die Möglichkeiten des Bundestages bestellt, einzelne Minister aus dem Amt zu entfernen; der Bundeskanzler hat gleichsam einen schwachen Abglanz monarchischer Macht ererbt, indem er gemäß Art. 64 Abs. 1 GG allein für das Schicksal „seiner“ Minister verantwortlich ist. Erst mit einem konstruktiven Misstrauensvotum gegen den Regierungschef, in dieser Chance liegt der Kern der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, kann die Volksvertretungsmehrheit ihren Willen erzwingen. Unterhalb dieser Schwelle, die eine ausgewachsene Regierungskrise voraussetzt, lässt sich der scheinbar „freiwillige“ Rücktritt eines einzelnen Minister ebenfalls bloß durch die Macht der öffentlichen Meinung erzwingen.1183 Die Gefahr, bei den nächsten Wahlen Stimmen einzubüßen, wird den Bundeskanzler in der Regel dazu veranlassen, ein in parlamentarische Ungnade gefallenes Kabinettsmitglied zu diesem Schritt anzuhalten. Einen ersten Vorgeschmack auf diese faktische Macht parlamentarischer Enthüllungen und öffentlicher Entrüstung bietet der Rückzug des preußischen Handelsministers. Hinzu kommt, dass die preußische Regierung durchaus auf Volksvertretung angewiesen war. Das galt für die Steuer- bzw. Budget­bewilligung ebenso wie für die Gesetzgebung. Hatte Otto v. Bismarck in den 1860er Jahren noch am Abgeordnetenhaus vorbeiregieren können, hing die „innere Reichsgründung“ endgültig von der Kooperationsbereitschaft des Abgeordnetenhauses und des Reichstags ab.1184 Ein anderes Politikfeld, auf dem Bismarck parlamentarischer Unterstützung bedurfte, war der mit dem Zentrum ausgefochtene Kulturkampf.1185 Eine dauerhafte Fehde mit einer der beiden an Einfluss gewinnenden Volksvertretungen konnte sich der preußische Ministerpräsident und Reichskanzler wegen einer Personalie nicht gut leisten. So konnte das Schicksal eines königlichen Ministers, obwohl er formal allein dem Monarchen verantwortlich war, mit dem Verlust des parlamentarischen Vertrauens durchaus besiegelt sein. Auch Hermann Wagener ging alles andere als unbeschädigt aus der Affäre hervor. Waldemar v. Roons Behauptung, „[b]ei näherer Prüfung der Lasker’schen Anklagen [habe sich…] nicht einmal eine Veranlassung [gefunden], um […] eine 1181

R. Paetau, in: Acta Borussica VI/1, 2004, S. 33 f.; O. Pflanze, Bismarck I, 2008, S. 415. B. H. Strousberg, Wirken3 1876, S. 97. 1183 Vgl. J. Ipsen, Mitte, 2009, S.  13 ff. zu bisherigen Rücktritten sowie M. Kloepfer, in: HdbStR III3 2005, § 42 Rn. 18 f. zur „Kontrollfunktion“ der öffentlichen Meinung. 1184 Zu den „riesigen Integrationsaufgaben“ Preußens s. R. Paetau, in: Acta Borussica VI/1, 2004, S. 10. 1185 E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1043. 1182

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Disziplinaruntersuchung auch nur einzuleiten“,1186 stammt aus dem Reich der politischen Legenden: In Wahrheit erhielt der Konservative einen dienstlichen „Verweis“, also eine mittelschwere Ordnungsstrafe zwischen „Warnung“ und „Geldbuße“.1187 Hermann Wagener nahm u. a. diesen Tadel zum Anlass, aus dem Amt zu scheiden.1188 Vordergründung quittierte er den Dienst zwar freiwillig und mit Pension. Faktisch hätte sich der vielgehasste Vortragende Rat nach der Affäre aber auch kaum länger halten lassen.1189 In diesem Sinne hatte auch Ministerpräsident Albrecht v. Roon die „im dienstlichen Interesse gewissenhaft begründete Überzeugung gewonnen  […], daß Wagener in seiner Beteiligung an finanziellen Operationen etwas weiter gegangen [sei…], als für einen so hochgestellten und einflußreichen Beamten angemessen [erscheine…]; und daß man ihn daher nicht halten dürfe“.1190 Der vermeintlich „freiwillige“ Abgang geht also in Wahrheit ebenfalls auf das Konto von Eduard Laskers parlamentarischen „Enthüllungen“.1191 Die Fokussierung der Affäre auf den sozialkonservativen Politiker bis hin zu seiner Demission war sicherlich auch eine Spitze gegen seinen Mentor Bismarck.1192 Hermann Wagener trafen die zivilrechtlichen Folgen seines unglücklichen wirtschaftlichen Engagements nochmals härter als der Amtsverlust; mit der Ver­urteilung zu dem horrenden Schadenersatz von über 1,6 Mio. Mark stürzte er ins wirtschaftliche Nichts.1193 Joachim Borchart hat in neuerer Zeit die These aufgestellt, dass Eduard Laskers Anklagen gegen das „System Strousberg“ so unbegründet gewesen wären, dass die Kommission seine zentralen Elemente nicht verboten, sondern nur moderate 1186

W. v. Roon, v. Roon III5 1905, S. 349. Zu Disziplinarmaßnahmen gegen nichtrichterliche Beamte vgl. Heinrich A. Mascher, Staatsdienst, 1863, S. 169 f. 1188 H. Wagener, Erlebtes, 1884, S. 57. s. W. Saile, H. Wagener, 1958, S. 118 f. mit Abdruck des Entlassungsgesuchs (S.  149) sowie einer Notiz Bismarcks zur Sorge Wageners, künftig „ungerecht und feindlich behandelt“ zu werden, worauf er es nicht „ankommen lassen“ wolle (S. 157 f.). Zur Pensionierung s. das Regest der Sitzung vom 26. Juni 1873, Acta Borussica VI/1, 2004, Nr. 407, S. 337: „Wagener/Itzenplitz-Affäre. Mitteilung, daß H. Wagener mit Pension in den Ruhestand versetzt und ihm wegen seines außerdienstlichen Verhaltens ein dienstlicher Verweis erteilt worden ist“. Insoweit berichtet K. E. Born, in: HdbPrGesch III, 2001, S. 15 (90) dagegen, Ministerpräsident Roon habe ein „Disziplinarverfahren gegen Wagener eröffnen [lassen], das mit dessen Dienstentlassung ohne Pension endete“. 1189 In diesem Sinne äußerte sich laut S. v. Kardorff, W. v. Kardorff, 1936, S. 96 f. der Danziger Regierungspräsident Gustav v. Diest gegenüber Bismarck, der zornig widersprach. 1190 W. v. Roon, v. Roon III5 1905, S. 349 f. 1191 Ähnl. Bewertung bei S. v. Kardorff, W. v. Kardorff, 1936, S. 96; H. Klomfass, Staatsbahnsystem, 1901, S. 41. 1192 R. Paetau, in: Acta Borussica VI/1, 2004, S. 40. 1193 Vgl. H. Wagener, Erlebtes, 1884, S.  60 f.; S.  v. Kardorff, W. v. Kardorff, 1936, S.  34; H. J. Schoeps, Preußen2 1957, S. 248; R. W. Dill, E. Lasker, 1956, S. 103; F. Stern, Gold, 2008, S. 345; H. Albrecht, in: Gall/Lappenküper (Hg.), Mitarbeiter, 2009, S. 17 (38). Wahrscheinlich nahm E. Lasker, VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 897 auf Wageners Schicksal Bezug, als er von einer Verurteilung von „Gründern“ der Pommerschen Centralbahn zu Schadenersatz berichtete, „weil sie unter Scheinmanövern die Aktien unter pari verkauft“ hatten. 1187

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Modifikationen gefordert habe.1194 Von Petitessen kann indessen keine Rede sein: Die Spezialkommission wendete sich vehement gegen eine Entlohnung der Generalunternehmer in Aktien und wollte einen Verkauf unter pari bloß unter der vernichtenden Maßgabe gestatten, dass einheitlich bezeichnete Aktien vollständig offen zu einem einheitlichen Kurs ausgegeben werden durften. Zu Recht hieß es aus der Kommissionsmitte, dass dieses Modell kaum Anklang finden werde. Damit dürfte Hans Blums Urteil zutreffen, dass sich die Spezialkommission weitgehend­ Eduard Laskers aktienrechtlichen Forderungen angeschlossen habe,1195 auch wenn der Nationalliberale selbst noch gegen diese eingeschränkte Variante remonstrierte.1196 Diese rechtspolitischen Vorschläge blieben auch keineswegs folgenlos, obwohl sie erst in den 1880er Jahren auf Reichsebene Gehör fanden.1197 Eine frühzeitigere Umsetzung der aktienrechtlichen Forderungen war der preußischen Gesetzgebung aufgrund der Reichskompetenz überhaupt nicht möglich. Im Mai 1873 wurde in Preußen dagegen mit einem Gesetz auf die Causa Wagener reagiert, das die „Betheiligung der Staatsbeamten bei der Verwaltung von Erwerbsgesellschaften“ einschränkte und im Fall finanzieller Vorteile untersagte.1198 Schon zum 1. März 1873 wurde das Eisenbahnkonzessionswesen vom Handelsministerium auf das Staatsministerium übertragen und Heinrich Achenbach als Unterstaatssekretär berufen.1199 Auf die Kritik an den bestehenden Verwaltungsstrukturen folgte also rasch eine institutionelle Entflechtung. Im Sommer bahnte sich dann mit der Errichtung des Reichseisenbahnamtes, das die Aufsicht über das Eisenbahnwesen führen, „für die Ausführung der in der Reichsverfassung enthaltenen Bestimmungen, sowie der sonstigen […] Gesetze und verfassungs 1194 s. J. Borchart, Eisenbahnkönig, 1991, S. 175. Ihm folgend spricht R. v. Bruch, in: Schultz (Hg.), Prozesse, 2001, S. 250 (254) davon, der Kommissionsbericht sei ein „erwiesener Freispruch, nicht ein Freispruch mangels Beweisen“ für das „System Strousberg“ gewesen. 1195 H. Blum, Reich, 1893, S. 164. 1196 s. die Aussage E. Laskers in der Debatte über den Antrag Denzin, VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 200. 1197 Dazu sowie der Bedeutung von E. Laskers Interventionen in Abgeordnetenhaus und Reichstag vgl. C. Schubel, Handelsgesellschaften, 2003, S. 338 ff., 353 ff.; A. Laufs, E. Lasker, 1984, S. 71 ff. und J. F. Harris, Study, 1984, S. 94 f. 1198 W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 32; F. Thudichum, Kämpfe II, 1890, S. 7. Dazu auch K. E. Born, in: HdbPrGesch III, 2001, S. 15 (90) sowie J. F. Harris, Study, 1984, S. 94 f. Die maßgeblichen Vorschriften des Gesetzes, betreffend die Betheiligung der Staatsbeamten bei der Gründung und Verwaltung von Aktien-, Kommandit- und Bergwerks-Gesellschaften, vom 10. Juni 1874 (PrGS. S. 244) lauteten: „§. 1. Unmittelbare Staatsbeamte dürfen ohne Genehmigung des vorgesetzten Ressortministers nicht Mitglieder des Vorstands-, Aufsichts- oder Verwaltungrathes von Aktien-, Kommandit- oder Bergwerks-Gesellschaften sein, und nicht in Komités zur Gründung solcher Gesellschaften eintreten. Eine solche Mitgliedschaft ist gänzlich verboten, wenn dieselbe mittelbar oder unmittelbar mit einer Remuneration oder mit einem anderen Vermögensvortheile verbunden ist. Jedoch können die vor der Publikation dieses Gesetzes bereits ertheilten Genehmigungen, sofern sich aus der Benutzung derselben keine Unzuträglichkeiten ergeben haben, bis zum 1. Januar 1876 in Kraft belassen werden.“ 1199 Vgl. W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 30. F. Thudichum, Kämpfe II, 1890, S. 7 wertet diese Maßnahmen als Ausdruck des „ernstlichen Willen[s], Uebelständen abzuhelfen“.

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mäßigen Vorschriften Sorge […] tragen“ und allgemein auf Beseitigung der „hervortretenden Mängel und Mißstände“ hinwirken sollte,1200 eine zentralstaatliche Lösung an; im Reichstag hatte der Abgeordnete Eduard Lasker Anteil an der Errichtung dieser Behörde.1201 Überhaupt nahm die preußische Regierung verschiedene Kommissionsvorschläge auf und arbeitete verstärkt auf das auch durch Eduard Lasker favorisierte1202 Staatsbahnsystem hin.1203 Ende der 1870er Jahre wurde der Wechsel dann vollzogen.1204 Akuter Handlungsbedarf bestand indessen nicht, weil seit dem Ausbruch der Wirtschaftskrise keine weiteren Eisenbahnkonzessionen beantragt worden waren.1205 Auch allgemeinpolitisch trug die Gründerangelegenheit zunächst Früchte, indem die Nationalliberalen in den Reichstags- und Abgeordnetenhauswahlen von 1874 –, mutmaßlich auch wegen Eduard Laskers Popularität – hervorragende Ergebnisse verbuchen konnten.1206 Als im Oktober 1873 die erste öffentliche Aufregung verflogen und man „an der Börse […] längst zur Tagesordnung übergegangen“ war (Manfred Ohlson),1207 bestätigte das Eintreffen der Krise in Deutschland Eduard Laskers Sorgen aus dem Frühjahr aber derartig grell, dass der folgende „Krach“ seine Erfolge in der öffentlichen Wahrnehmung partiell überstrahlte.1208 Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Entwicklung zu dem heute verbreiteten Negativurteil mit beigetragen hat; einmal mehr wurde gewissermaßen der Überbringer einer üblen Nachricht für die Katastrophe mitverantwortlich gemacht. Ungeachtet dieser nachträglichen Wahrnehmungsveränderung hatte Eduard Laskers Rede alles andere als einen „Sturm im Wasserglas“ zur Folge.1209 Eine kleine Schlappe erlitt der nationalliberale Politiker lediglich dadurch, dass gegen seinen Protest nicht in jedem Fall sämtliche Details ermittelt wurden,1210 eine weitere gemeinsam mit Georg v. Köller, als die Spezialuntersuchungskommission gegen ihr Votum entschied, dass „unter gewissen Umständen Aktien unter pari 1200 s. das Gesetz, betreffend die Errichtung eines Reichs-Eisenbahn-Amtes (RGBl. S. 164), sowie W. Müller, Geschichte VII, 1874, S. 46 ff. 1201 Vgl. D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 170 f., 180 ff. oder zeitgenössisch N. N., Eisenbahnpolitik, 1876, S. 37 ff. 1202 J. F. Harris, Study, 1984, S. 95. 1203 D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 171, 172 ff. 1204 Zu Entwicklung des „Eisenbahnwesen[s] in Preußen“ s. E. Richter, PolABC8 1896, S. 125. 1205 D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 170. 1206 J. F. Harris, Study, 1984, S. 94 und ferner K. E. Born, in: HdbPrGesch III, 2001, S. 15 (90). 1207 M. Ohlson, Strousberg, 1987, S. 267. 1208 Vgl. J. F. Harris, Study, 1984, S. 93: „The effect of Lasker’s speech was partially obscured by the major financial depression that struck Germany, most of Europe, and the United States in the autumn of 1873.“ 1209 D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 170 weist auf Änderungen der preußischen Eisenbahnpolitik im „Schatten der Reichseisenbahndebatte“ hin, die teils auf das Staatsbahnsystem hingearbeitet hätten. 1210 Vgl. VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 198 und S. 886, 888 die Äußerungen Eduard v. Tempelhoffs und E. Laskers Erläuterungen.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

aus[ge]geben“ werden dürften.1211 Diese „Niederlagen“ waren aber nicht der Tatsache geschuldet, dass statt einer parlamentarischen eine regierungsgeführte Spezialkommission mit der Untersuchung beauftragt worden war. Die beiden Abgeordneten hätten ebenso gut in einem parlamentarischen Gremium unterliegen können. Wie bei einer parlamentarischen Untersuchung bot sich ihnen im Frühjahr 1876 außerdem noch einmal die Gelegenheit, ihre unterlegene Position im Plenum zur Abstimmung zu stellen.1212 Bezogen auf die Aufarbeitung des Eisenbahn- und Gründerskandals überwiegt also entgegen der heute üblichen Bewertungen alles in allem die Erfolgsbilanz zugunsten der Spezialkommission und Eduard Laskers, der in der königlich veranstalteten Untersuchung eine maßgebliche Rolle spielen konnte. c) Die Schwäche der Kommissionsbefugnisse Als Schwächen der königlichen Spezialkommission kritisierte Eduard Lasker neben der eingeschränkten Öffentlichkeit der Untersuchung insbesondere das Fehlen robuster Befugnisse. Weil die Spezialkommission „an zahlreichen […] Stellen […] mit dem schlechten Willen der Zeugen zu kämpfen“ gehabt habe, der teils „unüberwunden“ geblieben sei, hielt er es für einen „Fehler, daß der Kommission nicht das Recht gegeben [worden sei…], Zeugen zum Aussagen zu zwingen“; die Auskunftspersonen seien „alle blos freiwillig erschienen und […] keinem andern, als einem moralischen Zwang unterworfen“ gewesen.1213 Die Hoffnungen, die ursprünglich gerade in die Befugnisausstattung einer Spezialkommission gesetzt worden waren, hatten sich also allen gouvernementalen Beteuerungen zum Trotz nicht erfüllt; stattdessen war man gewissermaßen auf dem Niveau einer parlamentarischen Untersuchungskommission stehengeblieben. Obwohl ein Taktieren der Regierung insoweit naheliegt, die mit diesem Versäumnis möglicherweise verschiedene Enthüllungen verhinderte, handelte es sich trotzdem nicht um einen spezifischen Nachteil der gewählten Verfahrensform. d) Ausblicke auf moderne Selbstinformationsrechte Selbst wenn die hier bestrittene These richtig wäre, dass die preußische Regierung mit der Niedersetzung einer Spezialkommission zur Verhinderung einer parlamentarischen Untersuchung einen richtungweisenden Sieg auf dem Weg zur totalen Marginalisierung des Art. 82 PrVerf 1850 errungen hätte,1214 sind die Debatten aus dem Frühjahr 1873 für die Entwicklung dieses Rechts von Bedeutung. 1211

E. Lasker und Georg v. Köller, VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 200 und 884. Vgl. die Begründung des Antrags durch v. Köller in VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 884 f. 1213 VerhPrAbgH XII/3 (1876), S. 888 und weitere Kritik S. 889. 1214 s. 1. Teil B. und die Nachw. in Fn. 26. 1212

3. Kap.: Schlaglichter der preußischen Enquêterechtsgeschichte

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Eduard Laskers Untersuchungsforderung knüpfte klar an die frühere Praxis einschließlich der erfolglosen Vorstöße zur Lage des Landes oder des Schicksals der Dissidenten sowie an die Enquêten und Untersuchungen in der revolutionären Vereinbarungsversammlung an. Sein Antrag barg, wie es Friedrich Thudichum 1890 formulierte, die „ernste Gefahr […] der Aufwärmung eines alten Streitpunktes aus der Konfliktszeit“, indem es um das 1863/64 bestrittene Recht einer parlamentarischen Untersuchungskommission ging, „Minister und andere Staatsbeamte, sowie Privatpersonen vor sich zu laden oder durch die Gerichte vernehmen zu lassen“. Zutreffend vermutete der Tübinger Staats- und Kirchenrechtler Thudichum, „daß Fürst Bismarck […] solchen Ansprüchen [keineswegs…] weniger Widerstand entgegensetzen werde als ehemals“. Schließlich seien – in dieser Überlegung schien der heutige Stellenwert des Untersuchungsrechts durch – solche Kommissionen „ein sehr wesentliches Mittel zur Herbeiführung der parlamentarischen Parteiregierung“.1215 Das Abgeordnetenhaus wich dem damit drohenden Konflikt aus, indem es sich für den von der Regierung angebotenen Ausweg einer gemeinsamen Untersuchung entschied. Trotzdem finden sich in den vorausgehenden Debatten geradezu prophetische Denkansätze und Überlegungen. Das gilt einmal für den Katalog an „Beweismitteln“, die Eduard Lasker bereits bei der Vorbereitung seiner Philippika verwendet hatte. Mit seinen Anforderungen an die Rechte der einzelnen Kommissionsmitglieder, die er zum Junktim einer gemischten Untersuchung machte, antizipierte der nationalliberale Politiker außerdem ein Stück weit die heutige Stellung der Antragsminderheit im parlamentarischen Untersuchungsverfahren.1216 Die strafprozessrechtsanalogen Beweiserhebungsbefugnisse, die Art.  34 Abs.  3 Hs.  1 RVerf 1919 und Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG vorsehen, warfen mit der 1873 noch enttäuschten Hoffnung ihren Schatten voraus, dass der Spezialkommission zwangsbewehrte Ermittlungsbefugnisse und das Recht zur eidlichen Zeugenvernehmung zustehen würden; Albrecht v. Roons Idee, die Kommissionsbefugnisse „durch einfache Verweisung auf das Gerichtsverfahren zu präzisiren“, fügt sich bruchlos in dieses Bild. Auf der parlamentarischen Seite hatten wahrscheinlich die Erfahrungen in der Wahlmanipulationsuntersuchung für entsprechende Forderungen Pate gestanden. Auch die für das heutige Untersuchungsrecht so wichtige Macht der öffentlichen Meinung klang überdeutlich in den Debatten an. Das Enquête- und Untersuchungsrecht offenbarte außerdem seinen genuin politischen Charakter. 3. Fazit Die parlamentarischen Debatten sind voll von „Hinweisen“ auf die spätere Entwicklung; Forderungen nach belastbaren Befugnissen und einer robusten Stellung der Minderheit in einem Untersuchungsgremium sollten Jahrzehnte später zu­ 1215

F. Thudichum, Kämpfe II, 1890, S. 6. s. dazu unten 8. Teil 4. Kap. D. III. 3.

1216

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Ehren kommen. Schon deswegen verdienen die „Eisenbahndebatten“ einen Platz in der Entwicklungsgeschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts. Darüber hinaus konnte Eduard Lasker, obwohl doch die von ihm verlangte parlamentarische Untersuchung von der vermeintlich übermächtigen Regierung „vereitelt“ worden war, mit seiner „Gründerrede“, der Einsetzung einer Spezialkommission, deren Untersuchung sowie der Publikation ihrer Ergebnisse einerseits sowie dem Abgang Hermann Wageners und des Handelsministers andererseits zwei bedeutende politische Erfolge verbuchen.1217 Die von ihm erhobenen Vorwürfe gegen Aktienschwindel und volkswirtschaftliche Fehlentwicklungen wurden durch die Untersuchung der königlichen Kommission zu einem großen Teil  bestätigt. Von einer Vertuschungskommission kann deswegen keine Rede sein. Sein aktien- und gesellschaftsrechtliches Programm verfolgte der national­ liberale Politiker nicht im Abgeordnetenhaus, sondern – ohne Beschränkung auf das Eisenbahnwesen – im Reichstag weiter.1218 Die Einsetzungsdebatte, die Niedersetzung der Spezialkommission oder ihre Untersuchungstätigkeit können also keinesfalls als Zeichen einer totalen parlamentarischen Niederlage gelten. Wie sehr die Untersuchung und ihre Erfolge dem Abgeordnetenhaus zugerechnet wurden, illustrieren die bis in das 20. Jahrhundert hinein anzutreffenden Darstellungen, es habe sich um eine parlamenta­ rische Untersuchungskommission gehandelt.1219

4. Kapitel

Die Bedeutung der preußischen Entwicklung Die preußische Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte ist  – anders als seit 1913 überwiegend angenommenen1220 – keine Geschichte fortdauernder parlamentarischer Missgeschicke und Niederlagen gegenüber der Regierung.

1217

Vgl. D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 170; A. Laufs, E. Lasker, 1984, S. 73. s. nur C. Schubel, Handelsgesellschaften, 2003, S. 338 f., 339 ff. 1219 Mit ironischem Unterton H.  Wagener, Erlebtes, 1884, S.  57. s.  dagegen Berliner Gerichts-Zeitung, No. 19, vom 15. Februar 1873, S. 3 („Die parlamentarische [!] Untersuchungs-­ Commission“) oder H. Klomfass, Staatsbahnsystem, 1901, S. 40: „erreichte der Abgeordnete Lasker […] in seiner berühmten Rede in der Verhandlung des Preussischen Abgeordnetenhauses vom 14. Jan. […] eine Untersuchung der Missstände […] durch Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission“ (Hervorhebung nur hier). S. 41 folgt dann: „Die auf ­Laskers Antrag aus Vertretern der Regierung, wie den beiden Häusern des Landtags niedergesetzte Spezialuntersuchungskommission ermittelte […] die völlige Richtigkeit der Laskerschen Enthüllungen.“ 1891 hob A. Bebel den bedeutenden und einzigen Fall hervor, in dem „von dem § 82 Gebrauch gemacht worden“ sei (VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3288 f.). 1220 Vgl. 5. Teil 1. Kap. 1218

4. Kap.: Die Bedeutung der preußischen Entwicklung

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A. Normative Entwicklungen von Art. 73 „Charte Waldeck“ zu Art. 82 PrVerf 1850 Bei der Oktroyierung der Verfassungsurkunde versuchte die Regierung, das­ Enquête- und Untersuchungsrecht gegenüber der Fassung des Verfassungsausschusses zu entschärfen. Anders lassen sich die Streichung der ausdrücklichen Befugnis, „unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren“, aus dem Wortlaut des Art. 73 „Charte Waldeck“ und der Zusatz „Behufs ihrer Information“ nicht erklären. Trotzdem reichte Anfang Dezember 1848 der reaktionäre Mut nicht dazu aus, diese links­ liberalen Forderungen entsprechende Befugnis vollständig zu beseitigen. Auch in den Verfassungsrevisionsverhandlungen konnte sich das Enquête- und Untersuchungsrecht behaupten. In der Zweiten Kammer entnahm die Mehrheit der Verfassungskommission dem dürren Wortlaut sogar das „unzweifelhaft[e]“ Recht, „Zeugen und Sachverständige zu vernehmen“.1221 Widerspruch gegen diese Interpretation, die an die revolutionäre Vereinbarungsversammlung anknüpfte, ein selbständiges Enquête- und Untersuchungsrecht anerkannte und die künftigen Kammern damit von früheren konstitutionellen Fesseln ausschließlicher Fremdinformation befreite, blieb auch im Plenum aus.1222 Auf diese Weise konterkarierte die Kammer wenigstens teilweise die Anstrengungen des Ministeriums bei der Oktroyierung. Nach dieser Vorentscheidung konnte die Erste Kammer keine Streichung mehr erreichen, weil Abänderungen der Dezemberverfassung „auf dem Wege der Gesetzgebung“, wie sie Art. 112 Abs. 1 PrVerf 1848 für die Revision verlangte, gemäß Art. 60 PrVerf 1848 die „Uebereinstimmung des Königs und beider Kammern“ voraussetzten. Der Vorschlag des Zentralausschusses der Ersten Kammer, Art. 81 PrVerf 1848 ersatzlos zu streichen, war also von vornherein zum Scheitern verurteilt. Im Plenum verteidigte der Liberale Ernst Wachler dann das „unabweislich[e]“ Recht als „Grundlage für [eine…] eigene Geschäftsführung“ der Kammern. Sein Verweis auf Ministeranklage und Immunitätsrecht deutete neben dieser Evokation der eher sachbezogenen Enquêtefunktion auch eine mehr politische Untersuchungsfunktion von Art. 81 PrVerf 1848 an.1223 Freilich durch Berichterstatter Eduard Baumstark mit der Einschränkung versehen, „daß man bei der Bestimmung […] in dieser Allgemeinheit sich vollkommen beruhigen und das Weitere […] der ferneren Entwickelung im praktischen Leben überlassen“ könne, hielt die Erste Kammer schließlich ebenfalls an Art. 81 PrVerf 1848 fest.1224 Vor dem Hintergrund der Revisionsberatungen bietet Art. 82 PrVerf 1850 das Bild eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts modernen Zuschnitts, das den Kammern eigenständige und von Regierung und Verwaltung unabhängige­ 1221

VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 800. VerhPr2K II/1 (1849/50), S. 910. 1223 VerhPr1K I (1849/50), S. 1637. 1224 VerhPr1K I (1849/50), S. 1637 f. 1222

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Enquêten und Untersuchungen ermöglichen sollte. Der Erfolg der Regierung, das Enquête- und Untersuchungsrecht mit den Änderungen der oktroyierten Verfassung gegenüber dem revolutionären Entwurf der „Charte Waldeck“ zu entschärfen, war augenscheinlich nicht sicher. Der ebenso gut alles wie nichts sagende Wortlaut von Art. 81 PrVerf 1848 bzw. Art. 82 PrVerf 1850 schien sowohl eine restriktive Auslegung, die allenfalls eine schwächliche Vorberatungskommission getragen hätte, als auch eine extensive Interpretation im Sinne eines relativ robusten Selbstinformationsrechts zu gestatten. Die Geschicke des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts hingen in Preußen damit fortan vom Spiel der politischen Kräfte ab.

B. Das preußische Beispiel als quantité négligeable? Indem es nur wenige Enquêten und Untersuchungen aufgrund von Art.  81 PrVerf  1848 oder 82 PrVerf  1850 gegeben hat, scheint die Parlamentsstatistik den Stimmen Recht zu geben, die der preußischen Parlamentspraxis bestenfalls eine marginale Rolle zubilligen. Die politische Bedeutung eines Rechts lässt sich aber nicht ausschließlich anhand der Fälle bemessen, in denen es tatsächlich ausgeübt wird. Gerade für Kontrollrechte, um deren Ausübung vor den Augen der Öffentlichkeit gestritten wird, gilt oftmals die profane Weisheit, dass der Weg das eigentliche Ziel sein kann. In den Reichstagsberatungen über die Norddeutsche Bundesverfassung führte Benedikt Waldeck etwas verklausuliert die vergleichbare Überlegung für die Aufnahme dieses Rechts ins Feld, dass der „augenblickliche und materielle Erfolg des parlamentarischen wie des öffentlichen Lebens“ weit weniger bedeute „als dieses parlamentarische Leben in seinen Functionen selbst“.1225 In diesem Sinne instrumentalisierte die liberale Opposition einen Einsetzungsantrag gemäß Art. 82 PrVerf 1850 zu Beginn der Ära Manteuffel, um eine öffentliche Aussprache über die Politik des Ministeriums zu erzwingen. Mit der Debatte, dem Schlagabtausch von Rede und Gegenrede und durch die damit verbundene Nötigung des politischen Gegners, vor den Augen der Nation „zur Lage des Landes“ Farbe zu bekennen, hatten die Antragsteller ihre Nahziele erreicht, obwohl die gouvernementale Kammermehrheit eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Übergang zur einfachen Tagesordnung unterband. Ähnlich verhielt es sich mit den verschiedenen anderen, vordergründig vollständig erfolglosen Anläufen in der Ersten wie in der Zweiten Kammer, die möglicherweise ver­ fassungswidrige Behandlung der Dissidenten parlamentarischer Kontrolle zu unterwerfen. Obwohl letztendlich keine Untersuchungen beschlossen wurden, was an innerparlamentarischen Widerständen und keineswegs an äußeren Einflüssen lag, wurde trotzdem das Profil des Selbstinformationsrechts als Instrument der politischen Auseinandersetzung geschärft und damit ein wesentlicher Beitrag zu 1225

VerhNdtRT I/1868, S. 262.

4. Kap.: Die Bedeutung der preußischen Entwicklung

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der Entwicklung des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts geleistet.1226 Es wäre also verfehlt, den politischen Stellenwert von Art. 81 PrVerf 1848 und Art. 82 PrVerf 1850 allein nach der Zahl der tatsächlich durchgeführten Enquêten und Untersuchungen zu bemessen. Auch die verschiedenen Gelegenheiten, bei denen sich die preußische Opposition auf diesen Artikel berief, um die Regierung und die sie stützende Parlamentsmehrheit öffentlichkeitswirksam in Bedrängnis zu bringen, verdienen Aufmerksamkeit. Das gilt nicht bloß um ihrer politischen Bedeutung willen. Seit den 1850er Jahren wurden in den kontroversen Debatten, in denen Rechte und Linke um die im Kosmos des „monarchischen Prinzips“ intrikate Selbstinformationsbefugnis rangen, teils bis auf unsere Tage fortwirkende Gedanken entwickelt und wesentliche Weichen für die weitere Entwicklung gestellt. Unter dem Blickwinkel eines von vormärzlichen Fesseln freien Selbstinformationsrechts verdienen weiterhin auch diejenigen Fälle Beachtung, in denen die Kammern eigene Erhebungen veranstalteten, ohne sich (ausdrücklich?) auf Art. 81 PrVerf 1848 oder Art. 82 PrVerf 1850 zu berufen. Zu denken ist etwa an die Enquêten zur Lage der Spinner und Weber oder an die Sachverständigenanhörungen der Ersten Kammer über den kontroversen Pressgesetzentwurf des Ministeriums. Gerade dieses letzte Beispiel zum Auftakt der reaktionären Ära Manteuffel zeigt, dass die Kammern trotz des Klassenwahlrechts keineswegs jeden Schritt des Ministeriums kritiklos mitgingen und durchaus ein Selbstinformationsrecht als Vehi­kel ihres Widerstandswillens nutzten.1227 Bei einer in diese beiden Richtungen erweiterten Zählweise kommt man auf mehr als eine Handvoll relevanter Anwendungsbeispiele. Die preußischen Kammern veranstalteten zwischen 1849 und 1873 sechs Enquêten und Untersuchungen. Beantragt wurden acht weitere Kommissionen. Bezieht man in die Rechnung noch die Vereinbarungsversammlung mit ein, an deren revolutionäre Tätigkeit die konstitutionellen Kammern erkennbar anknüpften, kommen drei weitere Enquêten und Untersuchungen sowie mindestens ein bemerkenswerter Antrag hinzu. 14 bzw. 18 Fälle in bloß 25 Jahren, in denen das formelle Recht des Art.  82 PrVerf  1850 bzw. sein informeller Vorläufer eine parlamentarische Rolle spielten, desavouieren das Verdikt als verfassungsgeschichtliche quantité négligeable schon rein numerisch, zumal in den Protokollen und Drucksachen des preußischen Landtags und der Vereinbarungsversammlung noch weitere Beispiele schlummern könnten, die dem Schrifttum – wie auch die Schweidnitzer Untersuchung oder der Antrag Reichensperger in der Revolutionszeit – bislang vollständig entgangen zu sein scheinen.

1226

s. 5. Teil 3. Kap. B. II. s. 5. Teil 3. Kap. B. I. 2. zum Pressgesetz.

1227

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

C. Ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht In der Dichotomie des parlamentarischen Selbstinformationsrechts gedacht,1228 lassen sich drei Verfahren und sechs Anträge der mehr politischeren Untersuchungs- sowie sechs Verfahren und vier Anträge der eher auf die Erhebung eines Sachstands fixierten Enquêtefunktion zuordnen. Wie bereits ausgeführt,1229 dominierte in der Märzrevolutionszeit die politische Untersuchungsfunktion, nachdem sich die Vereinbarungsversammlung grundsätzlich das Recht beigelegt hatte, einen Sachverhalt näher in Augenschein zu nehmen. Nur zum Schicksal der Spinner und Weber wurde eine Sachstandsenquête initiiert, die möglicherweise aber zu einer Abrechnung mit der Wirtschafts-, Handels- und Gesellschaftspolitik der vergangenen Jahre geführt hätte, wenn sie vor der Auflösung der Vereinbarungsversammlung noch abgeschlossen worden und es zu einer Plenarberatung gekommen wäre. Mit dem Einsetzen der Reaktion wendete sich dann das Blatt: 1849 und in den 1850er Jahren kam es zu fünf Enquêten bzw. Sachverständigenanhörungen. Drei Anträge, Sachverhalte zu ermitteln, blieben erfolglos. Politische Untersuchungen wurden in der Reaktionszeit nicht veranstaltet. Vier entsprechende Anträge scheiterten in der Zweiten Kammer an der Ablehnung der parlamentarischen Mehrheit. Die Bedeutung, die man dem Untersuchungsrecht gleichwohl beimaß, zeigt sich in den wiederholten Anträgen zu politisch brisanten Fragen.1230 Die einzige hochpolitische Untersuchung, die über ein Fehlverhalten der Regierung bzw. ihr nahestehender Gesellschaftskreise nach der Revolution veranstaltet wurde, ist die heute überwiegend geringgeachtete Wahlmanipulationsuntersu­ chung zum Jahreswechsel 1863/64. Auf dem Höhepunkt des Verfassungskonflikts gelang es dem Abgeordnetenhaus, gegen den erklärten Widerstand des Ministeriums Bismarck wenigstens einem Teil  der zahllosen Gerüchte schamloser Manipulationen, Beeinflussungen und Repressalien im Kontext der Oktoberwahlen auf den Grund zu gehen. Das im modernen Schrifttum verbreitete Urteil, der übermächtige Ministerpräsident habe die unbequeme Kontrollenquête mit der Weisung an Beamte und Behörden, nicht mit der „sogenannten UntersuchungsKommission“ zu kooperieren, vollständig oder doch weitgehend vereiteln können, wird den historischen Tatsachen nicht gerecht: Übermächtig war Bismarck in diesen Tagen nicht; trotz seiner Entschlossenheit, den Konflikt bis zum Ende durchzufechten, war es alles andere als sicher, dass er sich im Amt halten konnte. Vor allem gelang es der Kommission, trotz massiver ministerieller Obstruktion ebenso beachtliches wie für das Ministerium und seine Unterstützer peinliches Material zusammenzutragen. Ermöglicht wurde dieser beachtliche Erfolg für das parlamentarische Untersuchungsrecht durch den Wandel der politischen Mehrheitsverhältnisse, der sich unter der Herrschaft des Klassenwahlrechts durch die 1228

Vgl. 1. Teil C. s. 3. Teil 2. Kap. D. 1230 s. 5. Teil 3. Kap. A. und B. 1229

4. Kap.: Die Bedeutung der preußischen Entwicklung

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Dominanz des wirtschaftlich erfolgreichen liberalen Großbürgertum vollzogen hatte. Erstmals seit 1849 gab es in der Zweiten Kammer wieder eine oppositionelle Mehrheit. Damit war die einzige echte Hürde für parlamentarische Untersuchungen gefallen. Der Einsetzungsantrag von Hermann Schulze-Delitzsch und Albert v. Carlowitz, dessen offensichtliches Ziel eine Desavouierung des Ministeriums Bismarck durch die Aufdeckung seiner verfassungsfeindlichen Gesinnung war, wurde mit überwältigender Mehrheit angenommen.1231 Kurze Zeit später kippte die politische Stimmung mit den militärischen Er­folgen von Düppel, Königgrätz und Sedan und der Gründung des Norddeutschen Bundes wieder. Auf der Basis grundsätzlicher Kooperationsbereitschaft vieler Abgeordneter mit dem Gouvernement scheiterte 1873 anscheinend die letzte „große“ Untersuchungsforderung erneut an der Kammermehrheit. Zuvor hatte die Regierung eine königliche Spezialkommission zur Untersuchung des Eisenbahnwesens eingesetzt und beide Häuser des Landtags dazu aufgefordert, sich an der Untersuchung mit aus ihrer Mitte frei gewählten Vertretern zu beteiligen. Angesichts der breiten parlamentarischen Unterstützung für diese königliche Offerte, die ein verzweifelter Versuch war, die Kontrolle zu behalten, blieb dem nationalliberalen Politiker Eduard Lasker nichts anders als ein Einlenken übrig. Hätte er auf einer „eigenen“ Untersuchung bestanden, hätte er zwangsläufig Schiffbruch erlitten. Trotzdem wurde die Affäre Wagener-Itzenplitz & Co. keineswegs unter königlicher Regie vertuscht: Sowohl der Vortragende Rat Hermann Wagener als auch Handelsminister Heinrich v. Itzenplitz mussten ihren Abschied nehmen. Die Spezialkommission ging Eduard Laskers Vorwürfen zum großen Teil auf den Grund und erstattete einen ausführlichen Bericht, der weder mit Kritik noch mit den Namen der „Sünder“ hinter dem Berg hielt. Diese Philippika gegen Handelsministerium, Großunternehmer und Teile des Hochadels wurde schließlich sogar veröffentlicht. Aus der Sicht der Regierung dürfte der vermeintliche Erfolg einem Pyrrhussieg weit näher gekommen sein als einer Niederwerfung des parlamentarischen Gegners. Wenigstens ließ sich der Gesichtsverlust vermeiden, dass ein parlamentarisches Gremium über königliche Beamte und Minister zu Gericht saß. In der Sache hatte der Parlamentarier Lasker mit seiner Gründerrede eine gemischte Untersuchung angestoßen, die  – auf parlamentarische Formen bezogen – vor allem Elemente einer Kontroll-, Skandal- und Sachstandsenquête miteinander kombinierte. Die beachtlichen Aufklärungserfolge blieben keinesfalls hinter den Möglichkeiten einer parlamentarischen Enquête oder Untersuchung zurück.1232

1231

s. 5. Teil 3. Kap. C. s. 5. Teil 3. Kap. E.

1232

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

D. Gründe für die „untersuchungsrechtliche Abstinenz“ Sucht man nach Gründen für das Scheitern der verschiedenen politischen Untersuchungsforderungen in den 1850er Jahren, heißt es üblicherweise, dass es die Regierung stets virtuos verstanden habe, die Ausübung des parlamenta­rischen Selbstinformationsrechts zu verhindern.1233 In Wahrheit liegen die Ursachen nicht in einem Übergewicht des Ministeriums Manteuffel oder der Regierung Bismarck, die manchen Tag alles andere als fest im Sattel saßen, sondern in der Ausgestaltung des Art. 82 PrVerf 1850 als Mehrheitsrecht. So wurde dem ersten parlamentarischen Untersuchungsversuch zur Lage des Landes schlicht die Indolenz der überwiegenden Zahl der Volksvertreter zum Verhängnis. Später fanden sich dann gouvernementale Mehrheiten zusammen, die wenig auf ein parlamentarisches Selbstinformationsrecht hielten, ja diesem vom Boden des „monarchischen Prinzips“ aus feindlich gegenüberstanden. Unter diesen politischen Rahmenbedingungen hatten, solange das Enquête- und Untersuchungsrecht noch kein Minderheitenrecht war, nur vermeintlich unpolitische Sachstandserhebungen zu weithin anerkannten Missständen und Krisen eine Realisierungschance. Trotzdem verliefen selbst vordergründig unpolitische Enquêten keineswegs vollständig konfliktfrei. Mehr als einmal musste das Ministerium vor den Augen der Öffentlichkeit Vorwürfe und Kritik ertragen. Auch in der Eisenbahnangelegenheit, die üblicherweise als informationsrechtlicher Wendepunkt und Niederlage qualifiziert wird,1234 standen die Mehrheitsverhältnisse innerhalb des Abgeordnetenhauses einer parlamentarischen Aufarbeitung entgegen. Überwiegend zogen die Abgeordneten eine gemeinsame Untersuchung unter gouvernementaler Regie der beschwerlichen Alternative einer parlamentarischen Konfliktenquête vor. Die verbreitete These, dass die übermächtigen preußischen Regierungen jede missliebige Untersuchung erfolgreich vereitelt oder doch wenigstens nahezu paralysiert hätten, gehört damit ins Reich der Fabeln. Zwar mühten verschiedene Staatsministerien sich seit 1849 nach Kräften, jede parlamentarische Selbstinformation, die zu öffentlicher Regierungskritik hätte führen können, zu verhindern. Den Ausschlag gab nicht der Wille der Regierung, sondern die jeweilige politische Mehrheit in den Kammern, die sich mehr oder weniger bereitwillig vor den ministeriellen Karren spannen ließ. Dass das Klassenwahlrecht diese Majoritäten erzeugt hatte, gehört als strukturelles demokratisches Defizit des preußischen Konstitutionalismus nicht hierher. Wie sich im Verfassungskonflikt zeigen sollte, war es ohnehin kein verlässlicher Garant für maßgeschneiderte gouvernementale Mehrheiten. Damit bleibt letzten Endes von der imposanten These, dass die verschiedenen Staatsministerien die Kammer in ihrem gesamten Wirkungskreis bis hin zu ihrer Informationstätigkeit beherrscht hätten, nicht mehr als die profane Feststellung übrig, dass im deutschen Konstitutionalismus nicht das Parlament, sondern die Regierung das zentrale Organ war. 1233

s. 5. Teil 1. Kap. s. 5. Teil 1. Kap. und 3. Kap. E. VII.

1234

4. Kap.: Die Bedeutung der preußischen Entwicklung

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Angesichts dessen sind neue Interpretationen erforderlich, um zu erklären, dass das Abgeordnetenhaus nach 1873 keinen Gebrauch mehr von Art. 82 PrVerf 1850 machte. Blickt man auf die Eisenbahnangelegenheit, geben wieder die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse eine Antwort. Schon nach dem deutschen Krieg machten zahlreiche Abgeordnete der früheren Konfliktparteien mit Bismarck ihren Frieden. In den folgenden Jahren konnte der Reichsgründer mit wechselnden Mehrheiten regieren. Fundamentalopposition versprach in dieser Lage keinen Vorteil. In Sachfragen war es politisch sinnvoller, im konkreten Einzelfall auf die Regierung zuzugehen, da jedes Gesetz wie jede andere Maßnahme ohnehin eine Einigung erforderte. Eine handlungsfähige Fronde gegen die Regierung, die ein Interesse an einer politischen Kontroll- oder Missstandsenquête hätte haben können, konnte sich unter diesen politischen Bedingungen nicht mehr bilden. Zu guter Letzt hatte die Eisenbahnenquête unter Beweis gestellt, dass selbst die gemischte Untersuchung durch eine königliche Kommission zu durchaus brauchbaren Ergebnissen kommen konnte und selbst eine gewisse Kontrolle ermöglichte. Für eine zahlenmäßig unterlegene Opposition lohnte es sich auch aus anderen Gründen nicht mehr, einen aussichtslosen Untersuchungsantrag einzubringen: Im Sommer 1862 baute das Abgeordnetenhaus das Interpellationsrecht als Instrument der politischen Auseinandersetzung mit einer größeren Geschäftsordnungsnovelle (Simson/Forckenbeck) aus; abweichend vom bisherigen Recht wurde im Anschluss an die Beantwortung einer Anfrage eine Aussprache zugelassen. Obwohl ein weitergehender Antrag, etwa dem Ministerium das Misstrauen auszusprechen, bei dieser Gelegenheit nicht gestellt werden durfte, blieb es den Abgeordneten doch wenigstens unbenommen, „den Gegenstand in Form eines [selbständigen!] Antrages weiter zu verfolgen“.1235 Anders als in den 1850ern war ein nicht erfolgversprechender Untersuchungsantrag also keineswegs mehr zwangsläufig die erste Wahl, um eine öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzung zu erzwingen. Das versatilere Interpellationsrecht, das ebenfalls einen informationsrechtlichen Einschlag hatte, lief dem schwerfälligeren Enquête- und Untersuchungsrecht in dieser Hinsicht schlicht den Rang ab.

E. Reichweite der Enquête- und Untersuchungsbefugnisse Das Ministerium Brandenburg-Manteuffel hatte bei der Oktroyierung versucht, das Enquête- und Untersuchungsrecht gegenüber der „Charte Waldeck“ zu beschneiden. Später bemühte sich die gouvernementale Seite, eine restriktive Interpretation des Art.  82 PrVerf  1850 durchzusetzen. In der konstitutionellen Anfangszeit waren diese Anstrengungen durchaus von Erfolg gekrönt, indem sich die Zweite Kammer ebenso wie ihre Ausschüsse in der Auslegungsfrage auf die Seite der Regierung schlugen. Politische Untersuchungen von „Regierungs­maßregeln“ 1235

Zur Entwicklung s. A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 118 f., 121 f.

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

galten schlichtweg als unzulässig. Gegen den Antrag Vincke wurde neben der Kompetenzordnung die These ins Spiel gebracht, dass die Regierungspolitik überhaupt keine „Tatsache“ im Sinne von Art. 82 PrVerf 1850 wäre. Erlaubt sein sollten bloß Enquêten zur Entscheidungsvorbereitung, sofern die Kammer bereits durch eine königliche Proposition oder einen Antrag aus ihrer Mitte mit dem konkreten Gegenstand befasst war. Mit einem solchen Recht ließ sich keine Regierungskontrolle veranstalten; ebenso wenig war eine initiative Sachstandserhebung möglich, um über die Notwendigkeit legislativer oder anderer Schritte zu beraten. Nach erfolglosen Anläufen in beiden Kammern, trotzdem die offizielle Behandlung der Dissidenten zu untersuchen, überwand man diese Restriktionen erst in den 1860er Jahren während des Verfassungskonflikts; die Wahlmanipulationsuntersuchung richtete sich gezielt gegen das skandalöse Verhalten der Regierung. Obwohl mit dem Wortlaut des Art. 81 PrVerf 1848 jeder Anflug unmittelbarer Beweiserhebungsbefugnisse, wie ihn Art.  73 „Charte Waldeck“ noch geboten hatte, verschwunden war, nahmen sich beide Kammern bei verschiedenen Gelegenheiten das Recht, außenstehende Dritte als Auskunftspersonen vorzuladen und zu vernehmen sowie schriftliche Stellungnahmen und Gutachten einzuholen. Erste Beispiele für eine solche Selbstinformationspraxis, mit der sich die Kammern vom Auskunftstropf der Regierung befreiten, boten die Enquêten über das Schicksal der Spinner und Weber sowie zur Lage des preußischen Bankwesens und Geldverkehrs bzw. die Sachverständigenanhörung, die die Erste Kammer über das umstrittene Pressgesetz veranstaltete. Weiterhin wurden Auskünfte und Stellungnahmen der Ministerien, Gerichte, nachgeordneten Behörden oder halbstaatlichen Einrichtungen bzw. Interessenvertretungen eingeholt. Das bemerkenswerteste Kapitel selbständiger Untersuchungsbefugnisse ist der Wahlmanipulationsuntersuchung von 1863/64 zu verdanken. Diese über Beeinflussungsversuche und Repressionen im Kontext der Oktoberwahlen veranstaltete Kontrollenquête steht insoweit auf derselben Stufe wie die Schweidnitzer Untersuchung von 1848: Zeugen wurden unmittelbar vorgeladen und vernommen. Erneut orientierten sich die Abgeordneten an den preußischen Prozessordnungen und knüpften damit an das revolutionäre Vorbild der Vereinbarungsversammlung an.1236 Selbst das Recht, Gerichte um Zeugenvernehmungen zu ersuchen, nahm man trotz der Weisung des Staatsministeriums Bismarck an sämtliche Behörden und Beamte, keinesfalls mit der Untersuchungskommission zu kooperieren, erfolgreich in Anspruch. Im Vorfeld hatten sich die Abgeordneten ihrer Befugnisse selbst versichert und aus dem Verfassungsauftrag zur „Untersuchung von Thatsachen“ abgeleitet, dass eine entsprechende Kommission auch mit ausreichenden Befugnissen ausgestattet sein müsse, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Aus diesem Axiom, das dem Rechtsgedanken des § 89 EinlALR 1794 nachempfunden war, dass die Gesetze demjenigen, dem sie ein Recht einräumen, auch die zu seiner Ausübung erforderlichen Mittel geben, leitete die Untersuchungs­kommission u. a. 1236

Zu der Schweidnitzer Untersuchung s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 4. b) und 5.

4. Kap.: Die Bedeutung der preußischen Entwicklung

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eine umfassende Pflicht privater Dritter und selbst der Staatsbeamten ab, Zeugnis zu geben und Urkunden vorzulegen; Behörden und Gerichte sollten verbunden sein, Kommissionsersuchen Folge zu leisten. In Teilen des Schrifttums konnte diese Parlamentspraxis reüssieren. Verschiedene Autoren bestätigten das von der Volksvertretung beanspruchte Recht, sich durch Untersuchungskommissionen auch gegen den Willen der Staatsregierung ebenso selbständig wie unmittelbar zu informieren. Andere schlugen sich auf die Seite des Ministeriums oder besetzten vermittelnde Positionen.

F. Bedeutung für die Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte Die preußische Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte verdient alles in allem also eine Rehabilitation. Das bisherige Urteil, es handele sich um eine vernachlässigenswerte Größe, wird Ausmaß und Bedeutung der parlamentarischen Praxis und der teils auf hohem theoretischem Niveau geführten Auseinandersetzungen nicht gerecht. Tatsächlich gingen die Befugnisse der Kammern deutlich über die interpellationsartigen Fremdinformationsrechte der vormärzlichen Ständeversammlungen hinaus. Dem preußischen Konstitutionalismus sind zudem die ersten postrevolutionär-konstitutionellen Beispiele für sachbezogene Enquêten und politische Untersuchungen zu verdanken. In den Jahren zwischen 1849 und 1873 wurden zahlreiche Weichen für die weitere Entwicklung gestellt. Neben der groben Richtung in Gestalt bis heute gängiger Enquête- und Untersuchungstypen finden sich selbst „Feinheiten“ grosso modo vorgezeichnet wie etwa die Befugnisse und Methoden moderner Untersuchungsausschüsse. Pflicht, Zwang und der heute vergessene Zeugeneid wurden als Essentialia einer wirkungsvollen Selbstinformationstätigkeit erkannt und verschiedentlich eingefordert. Im Schrifttum kamen schon beschränkte strafprozessuale Analogien zur Sprache. In der Praxis konnten solche Konstruktionen freilich noch nicht reüssieren. Sieht man genauer hin, weisen die erfolglosen Untersuchungsversuche ebenso wie die veranstalteten Kontrollenquêten den Weg zu einem informationsrechtlichen Kampfinstrument der oppositionellen Minderheiten gegen die von der Mehrheit getragene Regierung. Von Anfang an und selbst durch die erfolglosen Untersuchungsanträge kam es in der Ära Manteuffel zu einer unübersehbaren Politisierung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts, dessen Charakter als Kontrollinstrument sich in den Anträgen zur Lage des Landes oder der Unter­ drückung der Dissidenten deutlich widerspiegelte. Das Scheitern dieser Kontrollversuche an den parlamentarischen Mehrheiten verdeutlichte die Notwendigkeit eines Minderheitenrechts. Erste Anklänge wurden freilich erst in der Eisenbahnangelegenheit laut, als Eduard Lasker verlangte, dass in der königlichen Spezialkommission jedes Mitglied Beweise beantragen und ihre tatsächliche Erhebung verlangen können müsse. Mit einem Körnchen Salz hat das BVerfG im April 2002

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5. Teil: Preußen (1849–1873) 

Art. 44 GG entsprechende Befugnisse entnommen.1237 Die Schlagkraft des Selbstinformationsrechts als Mittel der Regierungskontrolle und politischen Auseinandersetzung zeigte sich vollends in der Wahlmanipulationsuntersuchung. Gewissermaßen manifestierte sich in ihr das Musterbild einer der Opposition anvertrauten Kontrollenquête. War das oppositionelle Wächteramt in der Zeit des Konstitutionalismus durch den ihm eigenen Dualismus der Kammermehrheit anvertraut, musste der staatsrechtliche Paradigmenwechsel zu Volkssouveränität, Demokratie und Parlamentarismus mit einiger Wahrscheinlichkeit zur Etablierung eines entsprechenden Minderheitenrechts führen. Der Beitrag des preußischen Paradigmas zu der Entwicklung des Enquête- und Untersuchungsrechts von einem ersten Selbstinformationsrecht hin zu einem modernen Kontroll- und Informationsinstrument geht weit über das bisher anerkannte Maß hinaus.

1237

s. 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. a).

6. Teil

Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) „Der entsprechende Paragraph in der preußischen Verfassung war wesentlich gedacht als ein Kampfparagraph gegen die­ Regierung.“ Karl Schrader (im Reichstag 1891)1

1. Kapitel

Die Jahre von 1867–1918 als verlorene Periode? Das einleitende Zitat des Deutsch-Freisinnigen Karl Schrader steht wie ein­ enquête- und untersuchungsrechtliches Menetekel über der Verfassungsgeschichte des Norddeutschen Bundes und des Kaiserreichs. Tatsächlich dürften die Wahlmanipulationsuntersuchung, die Art. 82 PrVerf 1850 den Namen eines „Kampfparagraphen“ eingetragen hatte, und später auch die Eisenbahnenquête im Bewusstsein der politischen Akteure ihre Spuren hinterlassen haben. 1867 und 1870/71 gelang Otto v. Bismarck dann die Gründung bzw. die Erweiterung des deutschen Bundesstaates; in diesen und den folgenden Jahren konnte er mit wechselnden parlamentarischen Mehrheiten regieren. Für einen „Kampfparagraphen gegen die Regierung“ war in dieser Konstellation weder aus parlamentarischer noch aus Regierungssicht Raum. Tatsächlich veranstaltete nicht der Reichstag, sondern die Regierung Enquêten, teils mit parlamentarischer Beteiligung und gelegentlich aufgrund eines speziellen Gesetzes. Insoweit steht die bundesstaatliche Periode von 1867 bis 1918 in dem Ruf, nichts Nennenswertes zu der Entwicklungsgeschichte des parlamentarischen Selbstinformationsrechts beigetragen zu haben. Trotzdem geht auch dieses Mal das verbreitete Verdikt zu weit, das gouvernementale Übergewicht habe jedes „parlamentarische Interesse an diesen Untersuchungen erstickt“; „Themen und Impetus“ seien wie die „Initiative“ allein von der Regierung ausgegangen (Johannes Masing).2 Bei einem allein auf die „sichtbaren Erfolge“ oder auf die Erwartung eines spektakulären Aufbegehrens der Reichstagsmehrheit fixierten Blick geraten die Vorstöße der parlamentarischen Linken, entsprechende Befugnisse in der Bundes- bzw. Reichsverfassung zu verankern, 1

VerhRT VIII/1 (1890/92) S. 3290. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 13.

2

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

zu Unrecht in den Hintergrund: Von einer „Enquetemüdigkeit“3 ist aber insoweit nichts zu spüren. Die Bedeutung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts als Instrument sowohl zur Sachstandsermittlung als auch zur Aufarbeitung von Skandalen bzw. zur Regierungskontrolle war den Antragstellern vollkommen bewusst. In den Debatten knüpften beide Seiten ersichtlich an frühere Auseinandersetzungen an. Neu waren in den Verfassungsberatungen die Vorbehalte aufgrund der bundesstaatlichen Struktur des Reiches. Für die Entwicklungsgeschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts ist nicht nur der parlamentarische Einsatz für entsprechende verfassungsrechtliche Befugnisse von Interesse. Auch die Erfahrungen, die die Volksvertreter mit regierungsgeleiteten Enquêten sammeln konnten, mit ihren Schwächen, Fehlern, aber auch Erfolgen, bildeten nach dem Zusammenbruch der Monarchie gemeinsam mit dem preußischen Paradigma das Fundament für Art. 34 RVerf 1919; das halbe Säkulum von der Gründung des Norddeutschen Bundes bis zum Ende des Kaiserreichs ist auch unter diesem Blickwinkel die unmittelbare Vorgeschichte der ersten deutschen Republik. Darüber hinaus ist die Praxis des Kaiserreichs sogar für eine Überraschung gut: Die unter parlamentarischer Beteiligung veranstalteten Regierungsenquêten blieben keineswegs bei einer eher unpolitischen Sachstandsaufarbeitung oder Gesetzesvorbereitung stehen. Stattdessen ging es um intrikate Fragen der Wirtschaftspolitik, der sozialen Verhältnisse oder Bismarcks steuerpolitischer Wünsche. Darüber hinaus betrafen diese Enquêten in Gestalt der Misswirtschaft der afrikanischen Landgesellschaften, des suspekten Gebarens der Schwerindustrie und Rüstungskonzerne oder der staatlichen Beschaffungsverwaltung bzw. der obszönen Kriegsgewinne Missstände und Skandale, die eine breite Öffentlichkeit erregten. Gerade die beiden letztgenannten Beispiele illustrieren, dass selbst regierungskritische Themen, die eigentlich für eine parlamentarische Untersuchung prädestiniert gewesen wären, durch gemischte Kommissionen behandelt wurden. Freilich blieben die Erfolge dieses Mal überschaubarer als bei der Eisenbahnenquête; die negativen Erfahrungen bei diesen Gelegenheiten mussten den Wunsch nach einem parlamentarischen Selbstinformationsrecht wieder wecken.

3 So aber E. Zweig, ZfP 1913, 265 (298) und zust. W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 65.

2. Kap.: Schlaglichter der Verfassungsentwicklung

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2. Kapitel

Schlaglichter der Verfassungsentwicklung A. Norddeutscher Bund (1867–71) Mit dem Scheitern der Märzrevolution ging die Initiative in der deutschen Frage auf die Regierungen über. 1866 fiel die Entscheidung mit dem Sieg über Österreich zugunsten einer kleindeutschen Antwort. Mitte August 1866 verbanden sich zwölf norddeutsche Staaten sowie Bremen, Hamburg und Lübeck mit dem Sieger.4

I. Verfassungsberatungen (1867) Die Grundlage des Norddeutschen Bundes wurde ein unter Otto v. Bismarcks Ägide ausgearbeiteter Verfassungsentwurf, der anders als die Paulskirchen-, die Erfurter Unions- oder die preußische Verfassung kein parlamentarisches Selbstinformationsrecht kannte, sondern bloß – wahrscheinlich aber auch mit informationsrechtlichen Hintergedanken  – ein Zutritts- und Rederecht der Regierungen vorsah.5 Eine knappe Woche, nachdem dieser Entwurf Anfang Februar 1867 das Plazet der Regierungsvertreter erhalten hatte,6 folgten die Wahlen zum konstituierenden Reichstag, der zum Monatsende zusammentrat. Der Urnengang hatte den beiden konservativen Parteien etwa ein Drittel und den Alt- (9,1 v. H.) und Nationalliberalen (26,9 v.  H.) sowie der Deutschen Fortschrittspartei (6,4 v.  H.) rund 47 v. H. der Mandate beschert. Einige katholische und Linksliberale schlossen sich zur „Freien Vereinigung“ zusammen (4,7 v. H.), die nicht geschlossen abstimmte, sondern sich bloß zu den Vorarbeiten vereinigte.7 Mehrheitlich protestantische Abgeordnete, aber auch einige Katholiken nahmen als „Bundesstaatlich-konstitutionelle Vereinigung“ 6 v. H. der Reichstagssitze ein. Der Rest ging an die Fraktionen

4

Art.  2 des Vertrages bestimmte, dass die „Zwecke des Bündnisses […] definitiv durch eine Bundes-Verfassung auf der Basis der Preußischen Grundzüge vom 10. Juni 1866 sichergestellt werden [sollten], unter Mitwirkung eines gemeinschaftlich zu berufenden Parlaments“. s. dazu T. Schieder, HdbDtGesch XV16 1999, S. 644 f. sowie P. Laband, StaatsR I5 1911, S. 16. Abdruck der Depesche des stellvertretenden Ministers der auswärtigen Angelegenheiten Baron v. Werther an die Königlichen Vertreter bei den norddeutschen Regierungen vom 4. August 1866, sowie des Bündnisvertrages zwischen Preußen und den norddeutschen Regierungen vom 18. August 1866 bei L. Hahn (Hg.), Politik, 1868, S. 462 ff. 5 Vgl. die „[u]nmaßgebliche[n] Ansichten über Bundesverfassung“ von O. v. Bismarck, Werke VI3 1929, Nr. 616, S. 168 ff., den „Entwurf der Verfassung des Norddeutschen Bundes“, Nr. 629, S. 187 ff. oder Max Dunckers Vorentwurf bei H. Triepel, in: FS O. Gierke, 1911, S. 589 (631 ff.). Ein anfangs vorgesehenes Zitierrecht wurde fallengelassen. 6 F. v. Holtzendorff/E. Bezold, Materialien RVerf I, 1872, S. 71. 7 K. E. Pollmann, Parlamentarismus, 1985, S. 169 f.

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

der Polen (4,4 v. H.), Dänen (0,7 v. H.) und Fraktionslose.8 – Anfang März 1867 brachte Bismarck den Verfassungsentwurf in den Reichstag ein und mahnte die Abgeordneten zur Eile, um das Einigungswerk noch vor dem Ablauf der Bündnisverträge zu vollenden.9 Wohl im Beschleunigungsinteresse wurde die Vorlage nicht in Abteilungen oder Kommissionen, sondern im Plenum vorberaten.10 In der Generaldebatte forderte der Nationalliberale Eduard Lasker, der sich im Vorjahr von der Fortschrittspartei losgesagt und die Indemnitätsvorlage mitgetragen hatte,11 die Einführung der Regierungsverantwortlichkeit, damit die „Exekutive sorgfältig getrennt sei von der gesetzgebenden Gewalt“. Überhaupt müsse man die Volksvertretung gegenüber dem Regierungsentwurf, der bloß auf das „matte Recht der Theilnahme an der Gesetzgebung“ setze, mit „auskömmlichen Befugnissen“ ausstatten, „damit der Reichstag eine geachtete Versammlung“ werden könne.12 Konkretere Forderungen, ein „Recht der Adresse, der Petition, der Beschwerde, der Erhebung von Thatsachen und der Anklage der Minister“ in die Verfassung aufzunehmen, erhob die Fraktion der Linken um den Weimarer Abgeordneten Carl Ausfeld,13 unter denen sich auch Frankfurter Veteranen wie der mittlerweile als Mediziner praktizierende Franz Wigard, Wilhelm Schaffrath oder Max Simon befanden.14 Noch bevor über dieses Amendement, das „offenbar darauf berechnet [war], den Reichstag mit dem überlieferten konstitutionellen Rüstzeug zur wirksamen Geltendmachung einer politischen Verantwortlichkeit der Reichsexekutive auszustatten“ (Egon Zweig),15 beraten werden konnte, zogen es die Antragsteller wieder zurück.16 In der Spezialdebatte nahm Eduard Lasker die Forderung eines Adress-, Interpellations-, Beschwerde- und Petitionsrechts auf. Über diese für den Konstitutiona­ 8

Wahlergebnisse bei B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, S. 288 Tab. A6. Zu den Fraktionen s. K. E. Pollmann, Parlamentarismus, 1985, S. 161 ff. 9 Zur Einbringung s. VerhNdtRT 1867, S.  41 f. sowie den Entwurf in VerhNdtRT 1867, Nr. 10, S. 11 ff. Bismarck verwies auf den Ablauf des Bündnisses am 18. August des folgenden Jahres sowie auf Zustimmungsvorbehalte verschiedener Landtage. 10 Demgegenüber hatten sich der frühere Oldenburgische Landtagspräsident Arnold Kitz ebenso wie der ehemalige Vorsitzende der preußischen Verfassungskommission Benedikt Wal­ deck erfolglos für das Kommissionsverfahren ausgesprochen (VerhNdtRT 1867, S. 66 ff., 71). s. dazu auch § 15 der Geschäftsordnung: „Die Gesetzes-Vorlagen der Regierung […], sowie die Anträge der Mitglieder werden für die Schlußbe­ra­thung in Kommissionen vorbereitet. Das Haus kann beschließen, die Vorbe­ra­thung, anstatt in einer Kommission, im ganzen Hause vorzunehmen, oder ohne jede besondere Vorbe­ra­thung in die Schluß­be­ra­thung einzutreten.“ (Abdruck in G. Hirth, Parlaments-Almanach2 1867, S. 123). s. zur Entstehung der Verfassung auch E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 647 ff. 11 Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 351 ff. 12 VerhNdtRT 1867, S. 126. 13 Vgl. L. Parisius, L. v. Hoverbeck II/2, 1900, S. 137 f. 14 Abdruck des Antrags in VerhNdtRT 1867, Nr. 26, S. 48 (Hervorhebung nur hier). 15 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (294). Gegner habe der Vorschlag außerdem wegen des „geringen Effekt[s]“ des Untersuchungsrechts in Preußen gefunden. 16 Vgl. die Mitteilungen des Präsidenten in VerhNdtRT 1867, S. 443.

2. Kap.: Schlaglichter der Verfassungsentwicklung

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lismus typischen Kontrollbefugnisse hinaus, die es dem künftigen Reichstag auch nach Winfried Steffanis Einschätzung ermöglichen sollten, die „politische Verantwortlichkeit der Bundesexekutive wirksam geltend [zu] machen“,17 forderte er das Recht des Plenums, „Thatsachen durch Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen und anderer Auskunftspersonen zu erheben und in gleicher Weise Commissionen mit der Erhebung von Thatsachen zu beauftragen“.18 Dieser Antrag folgte, indem er nicht allein ein Enquête- und Untersuchungsrecht der Kommissionen, sondern auch des Plenums selbst betraf,19 möglicherweise englischen Vorbildern.20 Die Kommissionsbefugnisse waren eine Reaktion auf die Schwächen des Art. 82 PrVerf 1850, über dessen Wortlaut der Antrag deutlich hinausging.21 Gegen diese Vorschläge wendete der fraktionslose Greifswalder Staats- und Kameralwissenschaftler Eduard Baumstark ein, dass man angesichts der „Ge­sinnung des Hauses nach verschiedenen Parteien“ die Annahmechancen des überaus wichtigen Petitionsrechts riskiere – die Überweisung einer Beschwerde an das Ministerium galt als scharfe Form der Exekutivkritik und wirkungsvolles Kontrollinstrument22 –, wenn man es mit anderen Forderungen vermische. Der altliberale Veteran der preußischen Vereinbarungsversammlung, des Erfurter Staatenhauses und der preußischen Kammern klagte, dass das Untersuchungsrecht 1848 in der Berliner Verfassungskommission einen „sehr heißen Kampf“ hervorgerufen habe, dem keine ausreichenden Erfolge gegenüberstünden. Seine wirkungsvolle Ausgestaltung verlange, dass man dem Parlament die erforderlichen Befugnisse angedeihen lasse. Vor allem aber hielt er eine Enquête des Reichstages im künftigen Bundesstaat für „eigentlich unausführbar“.23 Das damit anklingende föderale Bedenken, das Ende Februar 1849 von Preußen und 26 weiteren Staaten gegen das Enquête- und Untersuchungsrecht der Frankfurter Reichsverfassung erhoben worden war,24 untermauerte der konservative Aachener Landgerichtspräsident Jacob Scherer, der als Regierungskommissar in den preußischen Kammern gegen das Untersuchungsrecht aufgetreten war,25 damit, dass dem künftigen Reichstag kein einheitliches Ministerium, sondern der aus den einzelstaatlichen Regierungen kompilierte Bundesrat gegenüberstehen werde.26 Während ein parlamentarisches Untersuchungsrecht, von dem ohne­ 17

W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 61. VerhNdtRT 1867, Nr. 17 zu Art. 23 Nr. 3 lit. b., S. 43. 19 Vgl. F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 34. 20 Vgl. T. E. May, Treatise, 1844, S. 239; J. Hatschek, EnglStaatsR I, 1905, S. 422. 21 Vgl. F. Thudichum, VerfassungsR, 1870, S. 214: „in wirksamerer Gestalt als die Preußischen Kammern es thatsächlich besitzen“. 22 Dazu P. Laband, StaatsR I5 1911, S. 305 f. Zur Funktion der Petition ferner s. H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 442 ff. oder R. v. Mohl, WürttStaatsR I2 1840, S. 691 f. 23 VerhNdtRT 1867, S. 443 f. 24 s. 3. Teil 1. Kap. A. IV. 2. 25 s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. b) bb) und cc). 26 Weil es „sehr schwierig [werden könne…], wenn über die Beantwortung einer Adresse oder Interpellation erst der Bundesrath schlüssig werden“ müsse, riet Scherer – statt das Amen­ 18

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

hin nur „sehr geringe Erfolge“ zu erwarten wären, allenfalls in Einzelstaaten oder für omnipotente Parlamente tauge, setze das Recht, „über jede beliebige Thatsache Zeugen- und Sachverständigen-Vernehmung zu veranlassen“, den künftigen Reichstag einem permanenten Risiko unnötiger Kompetenzexzesse und Konflikte aus. Unterschwellig schwang hier das überkommene „Gewaltenteilungsargument“ mit. – Jacob Scherer fuhr fort, dass das Parlament zu eigenen Ermittlungen außerstande sei, wenn ihm die Regierungen die Auskunft verweigerten; als unbenannte Reminiszenz an die Wahlmanipulationsuntersuchung hob der konservative Politiker hervor, dass die Angewiesenheit der Volksvertretung auf staatliche Beamte zwangsläufig zu Reibereien führe. Kurzum: Da die Durchschlagskraft parlamentarischer Enquêten üblicherweise hinter den in sie gesetzten Erwartungen zurückbleibe, werde durch ein solches Recht lediglich „viel Staub aufgerührt“, aber „weiter nichts damit erzielt“.27 Selbst der Liberale Georg v. Vincke teilte die Auffassung, dass ein Enquêterecht zwar in den Einzelstaaten angemessen, für den künftigen Reichstag dagegen ohne großen Nutzen wäre. Thematisch würden den Reichstag „vom allgemeinen Standpunkte nur auswärtige und Militär-Angelegenheiten beschäftigen“, die sich aber nicht für eine Enquête eigneten. Für die übrigen Geschäftszweige sei „durch die Zerspaltung der Exekutive in verschiedenen Ausschüssen schon von selbst die Sache auf einen ganz andern Standpunkt gebracht“, so dass auf ein Enquêterecht „wenig Gewicht“ zu legen wäre.28 Obwohl insbesondere die konservativen Thesen, dass ein Enquête- und Untersuchungsrecht ohne Pflicht und Zwang oder die Unterstützung der Regierung nicht viel wert wäre, zum Jahreswechsel 1863/64 widerlegt worden waren, fiel der Antrag Lasker in der Abstimmung durch.29 Die Mehrheit entschied sich für das Recht des Reichstags, „an ihn gerichtete Petitionen dem Bundesrathe resp. Bundes-Kanzler zu überweisen“.30 Kurze Zeit später erhielt die Verfassung des Norddeutschen Bundes am 16. April 1867 den Segen des Reichstags und der Regierungsbevollmächtigten,31 ohne dass in ihr parlamentarische Befugnisse nach dem Vorbild des § 99 RVerf 1849 oder des dement anzunehmen – „abzuwarten, ob, wenn wirklich eine Veranlassung dem Reichstage [vor­ liege…], innerhalb seiner Competenz eine Adresse an das Bundespräsidium zu richten oder eine Interpellation zu stellen, […] man ihm das streitig machen“ werde (VerhNdtRT 1867, S. 445). 27 VerhNdtRT 1867, S. 445 f. 28 VerhNdtRT 1867, S.  447 f. Gegen das Adressrecht wendete der Freiherr ein, dass der Reichstag „es hier doch nicht mit einer einzelnen Regierung, sondern […] mit den verbündeten Regierungen zu thun“ habe. Das Interpellationsrecht wollte er nicht in die Verfassung aufnehmen, weil es „des Reichstages nicht würdig [wäre…], sich erst durch die Verfassung eine Befugniß beizulegen, die sich wirklich von selbst versteht“. 29 VerhNdtRT 1867, S. 448 f., 450. 30 s. VerhNdtRT 1867, S. 451. 31 Der Reichstag nahm den Verfassungsentwurf am 16. April 1867 mit 230 zu 53 Stimmen an (VerhNdtRT 1867, S. 729). Diesem Beispiel folgte am selben Tag die Konferenz der Regierungsbevollmächtigten. Nachdem die Reichsverfassung auch die Länderparlamente passiert hatte, wurde sie im Bundesgesetzblatt publiziert. Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 667.

2. Kap.: Schlaglichter der Verfassungsentwicklung

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Art. 82 PrVerf 1850 einen Platz gefunden hätten. Dass der Entwurf überhaupt wenig abgeändert worden war, lastete der Fortschrittspolitiker Ludolf Parisius rückblickend der „Nachgiebigkeit der Nationalliberalen der neuen preußischen Provinzen Hannover und Hessen-Nassau gegen Bismarcks Forderungen“ an.32

II. Der Verfassungsänderungsantrag Peter Adolph Reinckes (1868) Nach gut einem Jahr unternahm der Sozialdemokrat Peter Adolph Reincke mit Unterstützung der Fortschrittspartei erneut einen erfolglosen Versuch, weiter­ gehende parlamentarische Befugnis in der Reichsverfassung zu verankern.33 Ein neuer Art.  23a sollte dem Reichstag teils in Anlehnung an,34 teils über Art. 82 PrVerf 1850 hinaus35 die Befugnis verleihen, „Behufs seiner Information Commissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“. Um dem Hauptgebrechen des preußischen Vorbildes zu begegnen, das die Aufklärung der Wahlmanipulationen in den 1860er Jahren behindert hatte und in den Verfassungsberatungen des Vorjahres dem Amendement Eduard Laskers zum Verhängnis geworden war, sollten die Behörden „gehalten“ sein, „diesen Commissionen bei der Ausübung ihrer Amtspflicht, innerhalb der Grenzen ihres Commissoriums, die geforderte Unterstützung zu gewähren“.36 In milderer Form wurden damit Forderungen aus der „Charte Waldeck“ wiederaufgegriffen.37 Weiterhin antizipierte die Limitierung auf den behördlichen Geschäftsauftrag gewissermaßen die Schranken der Rechts- und Amtshilfe in Art. 34 RVerf 1919 und Art. 44 Abs. 3 GG. In der Debatte hob der Antragsteller Reincke es als „principielles Motiv“ hervor, „einigermaßen“ Waffengleichheit zwischen den beiden gesetzgebenden Faktoren herzustellen. Bislang müsse sich der Reichstag „petitionirend“ an die Regierung wenden, um „irgendwie eine Thatsache [zu] ermitteln“, und sei, solange kein Gesetz dem Bundesrat vorschreibe, „ob und in welcher Frist“ er die parlamentarische Bitte zu erledigen habe, „mehr oder weniger von dessen Wohlwollen abhängig“. Überdies sehe man das Resultat „nothwendiger Weise nur durch die Brille 32

L. Parisius, L. v. Hoverbeck II/2, 1900, S. 140. Unter den Antragstellern befanden sich die Paulskirchenveteranen Benedikt Waldeck, Wilhelm Michael Schaffrath und Franz Wigard. Ansonsten handelte es sich um Heinrich Runge, Dagobert Böckel, Adolf Hermann Wilhelm Hagen, Hermann Schulze-Delitzsch, der seine Erfahrungen mit dem Enquête- und Untersuchungsrecht in der preußischen Vereinbarungsversammlung und der Konfliktkammer gesammelt hatte, Franz Gustav Duncker, Johann Joseph Fühling, Wilhelm Löwe, Gustav Reinhold Richter, Otto Rohland, Moritz Wiggers und Leopold v. Hoverbeck. Für Paul Zurmühlen gibt G. Hirth, Parlaments-Almanach7 1868 keine Parteizugehörigkeit an, Carl v. Kleinsorgen gehörte zur freien Vereinigung. 34 VerhNdtRT I/1868, S. 259. 35 Vgl. F. Thudichum, VerfassungsR, 1870, S. 214. 36 s. den Antrag in VerhNdtRT I/1868, Nr. 33 sowie Nr. 75 mit dem Referentenantrag. 37 Vgl. 3. Teil 2. Kap. C. II. 1. 33

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

der betreffenden Beamten“.38 Mit dieser Mängelliste hatte der Sozialdemokrat die Schwächen der gewöhnlich interpellationsartigen Informationsinstrumente des Konstitutionalismus treffend charakterisiert. Der materielle Teil  seiner Beweggründe wurde klarer, als er betonte, dass jede gesetzgeberische Antwort auf die „soziale Frage“ eine umfassende „Ermittelung der Lage der arbeitenden Klassen im großen Ganzen“ voraussetze.39 Ähnliche Motive führte der Abgeordnete der Sächsischen Volkspartei Reinhold Schraps an, der hervorhob, dass die Volksvertretung „ihrer eigenen Organe“ bedürfe, namentlich wenn die Berichte, die ihr andernfalls „von Untergebenen der Regierung in deren Auftrage gegeben“ würden, „nicht frei von Färbung“ seien. Zur Entstehung des Antrages berichtete der gemeinsam mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht in den Reichstag eingezogene Sozialdemokrat, dass man die unrealisierbare Forderung, „regelmäßig Bericht […] über die Lage der arbeitenden Klassen“ durch eine „ständige Commission“ zu erhalten, fallengelassen und, um jede „Scheu“ zu zerstreuen, „die parlamentarischen Befugnisse des Reichstages zu vermehren“, die Entwurfsfassung dem Art. 82 PrVerf 1850 angenähert habe. Zu guter Letzt polemisierte Reinhold Schraps, dass er gleichwohl gegen den Antrag stimmen wolle, um dem Publikum die Nutzlosigkeit der derzeitigen Verfassung vorzuführen.40 Anfang Juni 1868 sprach sich Ausschussreferent Ernst Engel gegen den Antrag aus. Zwar konzedierte der nationalliberale Abgeordnete und Direktor des statistischen Büros zu Berlin, dass die Verfassung insoweit möglicherweise lückenhaft erscheine. Andererseits sei ein Enquête- und Untersuchungsrecht in Wahrheit „nicht so viel werth […], wie man gewöhnlich“ meine. Schwerer als die aus den Verfassungsberatungen bekannte Marginalisierung wog der klassische „Gewaltenteilungseinwand“, der in dem Bedenken anklang, dass ein nach englischem Vorbild konstruiertes Recht, „Ausschüsse zu ernennen, Zeugen vorzufordern, selbst […] durch den sergeant of arms vor die Barre schleppen zu lassen“, „unstreitig und unzweifelhaft“ Exekutive und „Justiz-Verwaltung“ tangiere.41 Selbst in Bel 38 VerhNdtRT I/1868, S.  263 f. Zur Illustration führte P. A. Reincke zwei Vorfälle aus den Wahlprüfungen an: Zu der beanstandeten Wahl Friedrich Leopold Devens’ habe man den Bundesrat vergeblich ersucht, „auf richterlichem Wege die nöthigen Ermittelungen anzustellen.“ In einem anderen Fall waren die Wahlakten vom September erst im folgenden Juni eingelaufen. 39 VerhNdtRT I/1868, S. 264 ff. Nach allg. Klage betonte der Sozial­demokrat, dass „Freiheit im Sinne der Gesellschaft […] eben die durch das Gesetz beschränkte Willkür [sei], und es […] Aufgabe der Gesetzgebung [sei], die Grenze zu finden, bis zu welcher hin die ‚persönliche‘ Willkür beschränkt werden [müsse…], um die Freiheit herzustellen“. 40 VerhNdtRT I/1868, S. 259 f. 41 VerhNdtRT I/1868, S. 258. Zuvor stand der Antrag am 28. Mai 1868 auf der Tagesordnung. P. A. Reincke verlangte aber, die Beschlussfähigkeit zu prüfen, damit sein „Antrag nicht vom Zufall abhängig“ sei. Obgleich der Vizepräsident betonte, dass die Beschlussfähigkeit nicht schon bei der Beratung, „sondern erst bei der Abstimmung“ geprüft werde, wurde die Vertagung auf Antrag E. Laskers unter dem Präsidium E. Simsons beschlossen (VerhNdtRT I/1868, S. 228, 267).

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gien – Art. 40 BelgVerf 1831 sah ein Enquête- und Untersuchungsrecht mit den Worten, „chaque Chambre a le droit d’enquête“ bzw. „elke Kamer heeft het recht van onderzoek“, vor – habe man erkennen müssen, dass es zu einem „Einbruch in die Beamten-Hierarchie“ komme, wenn Staatsdiener „über ihre Vorgesetzten hinweg, dem Parlamente über deren Handlungen irgend etwas auszusagen“ hätten. Das sachlich, geographisch und zeitlich nähere Beispiel preußischer Richter und Beamter, denen im Verfassungskonflikt verboten worden war, mit dem Wahlmanipulationsuntersuchungsausschuss zu kooperieren, berührte der Berichterstatter wohlweislich nicht. Im Hinblick auf die Kommissionsbefugnisse stellte er in Abrede, dass in Deutschland, „wie es in England der Fall [sei…], selbst Minister gezwungen werden könnten, vor einer solchen Untersuchungs-Commission zu erscheinen“. Nach diesem staatsrechtlich zutreffenden Bekenntnis zu der parlamentarischen Unverantwortlichkeit der Exekutive42 betonte der Nationalliberale, dass eine Untersuchungskommission ohne das Recht, „jeden Beamten irgend einer Behörde abzuhören“, allenfalls einen „sehr beschränkt[en]“ Nutzen haben könne. Weil die verbündeten Regierungen weitergehenden Befugnissen niemals ihren Segen geben würden, sei es unverantwortlich, das junge Verfassungswerk dieses „winzigen und beschränkten Rechtes wegen“ erstmalig abzuändern. Mit der Empfehlung an den Reichstag, im geeigneten Falle besser „einen concreten zur Zeit wichtigen Gegenstand heraus[zu]greife[n]“ und von den Regierungen „die Ernennung einer Untersuchungs-Commission ad hoc“ zu erbitten,43 knüpfte Ernst Engel gewissermaßen an die Eisenbahnenquête an und antizipierte zugleich die spätere Parlamentspraxis. Dem ablehnenden Votum schloss sich  – wie nicht anders zu erwarten  – der Präsident des Bundeskanzleramts an. Das föderale Bedenken brachte Rudolph v. Delbrück mit der Bemerkung, dass jeder Hinweis auf die preußische Verfassungsurkunde den „großen Unterschied“ zwischen der „Wirksamkeit solcher Commissionen“ in einem Einheits- und in einem Bundesstaat verkenne, erneut ins Spiel. Den Abgeordneten riet er, „den Antrag abzulehnen“.44 In der weiteren Debatte votierten auch andere Nationalliberale wie Ernst Engel gegen den Antrag, obwohl ihr Parteifreund Lasker im Vorjahr ähnliche Forderungen erhoben hatte. So klagte der Mitbegründer der Partei Carl Twesten, die Ver 42

Vgl. W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 64. VerhNdtRT I/1868, S. 259. Rein parlamentarische Untersuchungen hätten „oft einseitige Zusammenstellungen von Thatsachen“ hervorgebracht, so dass selbst in England die „Regierung noch immer ihr Recht geübt [habe], in besonders wichtigen Fällen nicht blind auf die von den ‚parlamentarischen‘ Untersuchungs-Commissionen ermittelten Thatsachen zu bauen, sondern auch noch eine ‚Königliche‘ Untersuchungs-Commission einzusetzen“. 44 VerhNdtRT I/1868, S.  260. B. Waldeck hielt es für keinen ausreichenden Ablehnungsgrund, wenn lediglich unklar sei, „welchen Zweck“ eine Vorschrift künftig „in den Territorien des Norddeutschen Bundes jetzt erreichen soll[e]“ (S. 262). R. v. Delbrücks Einwand, die preußischen Untersuchungen seien von der Regierung angestellt worden, widersprach R. Schraps unter Hinweis auf L. v. Rönnes Staatsrecht (S. 263). 43

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suche des preußischen Abgeordnetenhauses, die Wahlumtriebe aufzuklären, seien „ziemlich resultatlos“ (!) verlaufen. Die Volksvertretung habe lediglich eine Untersuchungskommission ernennen, ihr aber nicht den „gehörigen Nachdruck“ geben können. Ein wirkungsvolles Enquête- und Untersuchungsrecht fordere über den Antrag Reincke hinaus eine „förmliche Verpflichtung“ der Behörden, „Acten zur Disposition zu stellen und auf Requisitionen Auskunft zu geben“. Ebenso sei das Recht notwendig, „Zeugen vorzuladen und zu vernehmen“. Ohne derartige Befugnisse werde sich bloß das Schicksal der Wahlmanipulationskommission von 1863/64 wiederholen, sobald die Regierung einer Untersuchung „Hindernisse in den Weg“ lege. Nach diesen politisch-taktischen Überlegungen, die der historischen Leistung der Kommission keineswegs gerecht wurden, erhob Carl Twesten ebenfalls bundesstaatliche Bedenken. Eine Annahme des Antrags lasse nach den Äußerungen der Regierung ohnehin kein positives Resultat, sondern nur Schaden für die parlamentarische Autorität erwarten.45 Eduard Lasker forderte sogar, sich mit dem Antrag überhaupt nicht näher zu befassen, weil andernfalls parlamentarischer Ansehensverlust und die Vergeudung der Session mit einer „Anzahl theoretischer Voten“ drohten. Eine Befugnis, die „während einer achtzehnjährigen Verfassungsperiode in Preußen sich bereits als wenig praktisch bewiesen“ habe, könne weder diese Nachteile noch den Streit mit den verbündeten Regierungen aufwiegen.46 Dass er in der Eisenbahnangelegenheit nicht einmal drei Jahre später auf den gescholtenen Art. 82 PrVerf 1850 zurückgreifen sollte, lässt auch hinter dieser Ablehnung taktische Motive vermuten. Moderater als die Nationalliberalen äußerte sich Leopold v. Hoverbeck. Der Mitbegründer der Fortschrittspartei, der seinerzeit die Chancen der Wahlmanipulationsuntersuchung kritisch beurteilt hatte,47 trat jetzt grundsätzlich für das­ Enquête- und Untersuchungsrecht ein. Dem Reichstag riet er davon ab, eine Entscheidung mit Rücksicht auf die mutmaßlich ablehnende Haltung der Regierungen zu treffen, weil man sich andernfalls jeder Initiativmöglichkeit begebe. Ungeachtet dessen lasse sich einer „übelwollenden Regierung gegenüber“ mit dem beantragten Recht ebenso wie mit Art. 82 PrVerf 1848 entsprechenden Befugnissen „wenig erreichen“. Wie Carl Twesten forderte er als Voraussetzung weitergehende Befugnisse, das Recht, „Zeugen ab[zu]hören“ und die Pflicht der Behörden, den Kommissionen „dabei behilflich“ zu sein. Ein provokanter Seitenhieb auf die preußische Staatspraxis war die Hoffnung des studierten Juristen Hoverbeck, dass die „Zeit vorbei“ sei, in der die Regierung „alle künstlichen Mittel angewendet [habe…], um selbst die natürliche Consequenz eines Artikels der Verfassung zu vermeiden oder zu nichte zu machen“.48 45

VerhNdtRT I/1868, S. 260 f. VerhNdtRT I/1868, S. 262. 47 L. v. Hoverbeck hatte im Dezember 1863 gegen die Wahlmanipulationsuntersuchung eingewendet, dass sie mangels belastbarer Befugnisse keinen großen Ertrag erbringen werde (L. Parisius, L. v. Hoverbeck II/1, 1898, S. 192 f.). 48 s. v. Hoverbeck in VerhNdtRT I/1868, S. 263. 46

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Widerspruch gegen die Behauptung, Art.  82 PrVerf  1850 habe sich als wirkungs- und bedeutungslos erwiesen, erhob ein „Zeuge aus den Jugendtagen des preußischen Konstitutionalismus“:49 Obwohl Benedikt Waldeck betonte, „nicht gar zu großes Gewicht auf diesen Antrag und seine praktischen Folgen“ zu legen, qualifizierte der ehemalige Vorsitzende der Verfassungskommission der preußischen Vereinbarungsversammlung die erhobenen Bedenken als nicht ausreichend, um den Antrag abzulehnen. Alles in allem sei „kein Grund vorhanden“, „einen solchen Artikel, der schon ursprünglich hätte in der Verfassung stehen sollen“, nicht zu schaffen. Ob man derzeit wisse, „welchen Zweck“ die Vorschrift konkret „in den Territorien des Norddeutschen Bundes jetzt erreichen soll[e]“, spiele keine Rolle. Der preußische Landtag verfüge bereits über das betreffende Recht, bei dem es sich, zumal „aus einer Art von Compromiß hervorgegangen“, um das „Unverfänglichste“ handele, „was in Ansehung derartiger Rechte existiren“ könne. Zu Recht attestierte der altgediente Linke der Wahlmanipulationsuntersuchung von 1863/64 im Gegensatz zu nationalliberalen Stimmen, dass durch sie „ein gewiß nicht unerheblicher Beitrag, ein erhebliches Material zur Geschichte des sogenannten Preußischen Konflikts geliefert“ worden sei. Im Sinne eines Primats des abstrakten Prinzips vor dem konkreten Nutzen betonte er schließlich, dass der „augenblickliche und materielle Erfolg des parlamentarischen wie des öffentlichen Lebens“ weit weniger bedeute „als dieses parlamentarische Leben in seinen Functionen selbst“.50 Für den Engel’schen Vorschlag gemeinsamer Parlaments- und Regierungs­ enquêten führte Carl Twesten demgegenüber ins Feld, dass in England gerade diejenigen Untersuchungen besonders erfolgreich wären, die „in voller Uebereinstimmung mit der Regierung“ veranstaltet würden: Weil die „Majorität des Unterhauses und die Regierung übereinstimm[t]en“, erschienen selbst Minister „ohne jedes Bedenken“, gingen den Kommissionen mit Ratschlägen zur Hand und ließen sich „über alle einschlagenden Materien auf das Weitläufigste“ aus. Auch im Norddeutschen Bund würden gemeinsame Kommissionen ihren Aufgaben ohne „große Schwierigkeiten“ gewachsen sein, wenn sie nur mit ausreichenden Befugnissen ausgestattet wären. Freilich lösten „Requisitionen einer parlamentarischen Commission an die Beamten“ in „büreaukratischen Kreisen“ Sorgen vor einer „Vermischung der parlamentarischen Befugnisse und der Executive“ oder „Unordnung in der Bureaukratie“ aus.51 Während der Antragsteller Peter Adolph Reincke darauf lapidar erwiderte, dass, „[w]er nichts zu fürchten“ habe, „die Karten öffnen“ könne; „die starken Spiele [würden…] bekanntlich gespielt, die Karten auf dem Tisch“,52 setzte Eduard­ Lasker mit der These, dass der Reichstag auch ohne ausdrückliche Ermächtigung 49

E. Zweig, ZfP 1913, 265 (296). VerhNdtRT I/1868, S. 261 f. 51 VerhNdtRT I/1868, S. 261. 52 VerhNdtRT I/1868, S. 264. 50

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Enquête- und Untersuchungskommissionen niedersetzen könne, den propagierten gemeinsamen Enquêten einen Kontrapunkt entgegen. Für ein ungeschriebenes Enquêterecht führte der Nationalliberale die Verfassungsberatungen vom letzten Sommer an, in denen „beinahe Einverständniß“ geherrscht habe, „daß die Einsetzung von Commissionen jedem Parlament schon als natürliches Recht zustehe und nur die Frage entstehen könne, wie dieses Recht wirksam zu machen sei“.53 Nach diesem Versuch, en passant ein nach dem Vorbild der revolutionären Parlamente zugeschnittenes Enquête- und Untersuchungsrecht mit freiwilligen Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen zu etablieren, widersprach Eduard Lasker dem gängigen konservativen Einwand, dass der Reichstag so „in irgend einer Weise in die Executive eingreife“. Überhaupt sei die „Conflictlehre“, die dem Parlament, „so oft [es…] über das Debattiren und Beschließen hinausgehen“ wolle, zurufe: „Halt, hier beginnt das Reich der Executive“, eine Erfindung der rechten Seite des Hauses. Weil der Reichstag einerseits schon über Ansätze des beanspruchten Rechts verfüge, man aber andererseits zur Kräftigung des Bundes jeden Konflikt mit den Regierungen vermeiden müsse, sei der Antrag vorerst abzulehnen.54 Der damit in die Diskussion eingeführten These eines „natürlichen“ Enquêterechts stimmte auch Benedikt Waldeck zu.55 Nach dieser Debatte, in der teilweise alte Positionen aus der Frankfurter Nationalversammlung aufgewärmt, vor allem aber die bis heute herrschenden Legenden von der beinahe vollständigen Nutzlosigkeit des Art. 82 PrVerf 1850 verfestigt worden waren, scheiterte der Antrag Reincke im Plenum.56

III. Einordnung in die Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte Die ersten Beratungen über die Aufnahme eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts in die Norddeutsche Bundesverfassung hatten bis zum Ende des Kaiserreichs gleichsam Modellcharakter. Insbesondere nahm Ernst Engel mit seinem Vorschlag, der Reichstag solle im Einzelfall eine gemeinsame Untersuchung von den Regierungen erbitten,57 die spätere Praxis vorweg. Schenkt man den Gegnern eines Enquête- und Untersuchungsrechts Glauben, beruhte ihre Ablehnung  – abgesehen von föderalen und gewaltenteilungsrechtlichen Bedenken – eher auf der Sorge, die verbündeten Regierungen könnten diese Forderung zurückweisen, als auf Ressentiments gegen das geforderte Recht. Das zweite „Argument“, eine derartige Befugnis wäre viel zu unbedeutend, um ihret 53

VerhNdtRT I/1868, S. 262 (Hervorhebung nur hier). VerhNdtRT I/1868, S. 263. 55 VerhNdtRT I/1868, S. 261. 56 VerhNdtRT I/1868, S. 267. 57 VerhNdtRT I/1868, S. 259. 54

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wegen die Verfassung anzutasten oder den Konflikt mit den Regierungen zu riskieren, sollte mindestens bis in die 1890er Jahre wiederkehren. Auch die vermeintlich vielfältigen Informationsmöglichkeiten aus Regierungs- oder gesellschaftlichen Quellen wurden entsprechenden parlamentarischen Desideraten noch in späteren Jahren entgegengehalten.58 Angesichts dieser papierenen Gründe resümierte Winfried Steffani, dass über den Verfassungsberatungen ein „deutlicher Schatten tiefer Resignation“ gelegen habe.59 Neben dieser Deutung, die wieder dem Bild parlamentarischer Machtlosigkeit gegenüber den Regierungen entspricht, das üblicherweise für Preußen gezeichnet wird, bietet sich angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Reichstag auch eine andere Interpretation an: Weder die Konservativen noch die Vertreter der rechten Mitte waren ausgemachte Freunde einer intensiven Sozialpolitik. Gerade auf diesem Feld sahen die Befürworter eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts aber dessen Schwerpunkt. Deutlich genug erklärte Reinhold Schraps (Sächsische Volkspartei) 1868, dass es um die „Lage der arbeitenden Klassen“ ging.60 Ein „eigenes“ Enquête- und Untersuchungsrecht des Parlaments war in diesen Fragen, die auch die Wirtschaftspolitik tangierten, bloß erstrebenswert, wenn ein grundsätzlicher Dissens zwischen Reichsleitung und Reichstag bestand. In diesem Sinne war ein Instrument zur politischen Auseinandersetzung ebenfalls nur erforderlich, wenn man mit Konflikten rechnete oder sich auf diese vorbereiten wollte. Die absolute Mehrheit von Nationalliberalen, Freikonservativen und Altliberalen war aber gerade nicht auf eine Auseinandersetzung mit Reichskanzler und Regierungen aus.61 Für die Nationalliberalen erklärt die enge Verbindung, die sie mit dem Reichsgründer in den ersten Jahren eingingen, die dann nur noch auf den ersten Blick überraschende Ablehnung des in den Verfassungsberatungen propagierten Selbstinformationsrechts. Aus denselben politischen Gründen schätzte Carl Twesten wahrscheinlich die Bedeutung der Wahlmanipulationsuntersuchung geringer ein als der Linke Benedikt Waldeck; diese Kontrollenquête war ein Teil des preußischen Verfassungskonflikts, den die Nationalliberalen mit der Bismarck gewährten Indemnität begraben hatten. – Auch von den Konservativen war für den Antrag Reincke keine Sympathie zu erwarten. Für sie war die bloße Vorstellung, der Reichstag könne vermeintlich exekutive Untersuchungsmaßnahmen vornehmen, eine Sturmdrohung auf die monarchische Bastille, ja das Umsturzfanal zur parlamentarischen Monarchie oder Schlimmerem.62 Jede 58 s. aus den 1890er Jahren die Einwände des Zentrumspolitikers C. Bachem gegen den Antrag Auer in VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3291 f., 3295. 59 W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 62 f. 60 VerhNdtRT I/1868, S. 259 f. 61 Zum Verhältnis der Parteien zu Bismarck vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 37 ff., 65, 138 f. 62 Der Deutschkonservative Otto Curt Gottlob v. Manteuffel widersprach dem Antrag, das Enquête- und Untersuchungsrecht in Art. 23a RVerf 1871 n. F. zu verankern, weil so ein „Theil der Exekutive auf den Reichstag […] übertragen“ werde (VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3293). Vgl. ferner E. Zweigs, ZfP 1913, 265 (297) Interpretation des Antrags von 1891.

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Abhängigkeit der Regierung von der Volksvertretung war ihnen suspekt. Parla­ mentarische Selbstinformationsrechte waren aber von Anfang an, das hatte die preußische Praxis erwiesen, immer auch Kontrollrechte. So war es 1848 gewesen und in diesem Sinne konstatierte Julius Hatschek noch 1915, dass „parlamentarische Untersuchungskommissionen (sogenannte Enquêten) […] in ihrem Wesen nur der Geltendmachung der parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit dienen“ könnten.63 Kurz zuvor hatte Egon Zweig ein starkes Enquête- und Untersuchungsrecht als „Ausstrahlung und Symptom“ der Parlamentsherrschaft und als „Gradmesser für Stärke und Lagerung der […] wirksamen politischen Spannungsverhältnisse“ charakterisiert.64 Dass ein Selbstinformationsrecht aus „tiefer Resignation“ nicht in die Bundes­ verfassung aufgenommen wurde, lässt sich also nicht behaupten. Allem Anschein nach vermisste die Mehrheit der Norddeutschen Reichstagsabgeordneten derartige Befugnisse einfach nicht, sondern schätzte das mit der Befugnis, Beschwerden an die Regierung zu überweisen, verbundene Petitionsrecht als vollkommen ausreichend ein. Ob die Volksvertretung außerstande gewesen wäre, den Regierungen eine Bestimmung nach dem Vorbild des Art. 82 PrVerf 1850 abzutrotzen, steht angesichts anderer parlamentarischer Änderungen gegenüber dem Regierungs­entwurf65 keineswegs fest. Nicht zu Unrecht konstatierte der Linksliberale Benedikt Waldeck in der Beratung, dass das Parlament nichts davon „abhalten [könne…], einen solchen Artikel […] in die Verfassung des Norddeutschen Bundes aufzunehmen“, wenn es nur „wirklich eine parlamentarische Verfassung [sic!] gegenüber einem verantwortlichen Ministerium“ wünsche.66 Eine ausreichende Mehrheit für einen solchen Vorstoß fand sich aber eben nicht. Mit Eduard Laskers Scheitern in den Verfassungsberatungen war damit die einzige reelle Chance zur Verankerung dieses Rechts passé. Anders als dieser nationalliberale Versuch hatte der von links unterstützte Vorstoß des Sozialdemokraten Peter Adolph Reincke von Anfang an keine Chance gegen die Reichstagsmehrheit. Beide Debatten geben auch ein Stück weit Auskunft über den Sinn und Zweck, den seine Befürworter dem Enquête- und Untersuchungsrecht zusprachen. Einerseits wollte man der Volksvertretung eine eigenständige Information ermöglichen, um sie von ihrer Abhängigkeit gegenüber den Regierungen zu emanzipieren. Andererseits war die „soziale Frage“ ebenso dringend wie ungelöst und konnte zur Überzeugung der Linken bloß mit Hilfe parlamentarischer Enquêten beantwortet werden. Bedenkt man, wie ausgiebig sich die preußische Vereinbarungsversammlung und die späteren Kammern mit der prekären Lage der Weber und Spinner beschäftigt haben, oder die Bemühungen in der Paulskirche um das Schicksal der 63

J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 228. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (274, 269). 65 Zu denken ist etwa an die Lex Bennigsen. s. dazu D. Willoweit, VerfGesch7 2013, § 34 Rn. 11 sowie zu weiteren, durch das Parlament erreichten Änderungen M. Kotulla, VerfGesch, 2007, Rn. 1930. 66 VerhNdtRT I/1868, S. 261 (Hervorhebung nur hier). 64

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Arbeiterklasse, wird deutlich, dass das parlamentarische Enquêterecht von Anfang an sozialpolitische Impulse erhielt. Obwohl die Enquêtefunktion klar dominierte, hat sublim auch der Gedanke parlamentarischer Regierungs- und Verwaltungskontrolle eine Rolle gespielt. Es ist trotz ihrer erklärten Motive unwahrscheinlich, dass die sozialdemokratischen Antragsteller nicht wenigstens die preußische Wahlmanipulationsuntersuchung vor Augen hatten, die in der Debatte bloß von einem Gegner des Enquête- und Untersuchungsrechts ausdrücklich angesprochen wurde. Andeutungen sind vor diesem Passepartout in den Forderungen weitgehender Kommissionsbefugnisse zu sehen, die die Schwäche des Art. 82 PrVerf 1850 gerade überwinden sollten. Wurde eine ausdrückliche Regelung auch überwiegend abgelehnt, propagierten mit Benedikt Waldeck (Linke)  und Eduard Lasker (Nationalliberale)  zwei Redner unterschiedlicher Couleur das „natürliche Enquêterecht“. Diese These, die auf freiwillige Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen hinauslief und den Reichstag trotz aller Schwächen von den Fesseln ausschließlicher Fremdinformation befreit hätte, erkannten in den folgenden Jahrzehnten wenigstens Teile des Schrifttums an.67 Sie knüpfte an die revolutionäre Praxis des Paulskirchenparlaments und der preußischen Vereinbarungsversammlung an, die sich aufgrund ihres plebiszitären Mandats vergleichbare Befugnisse ohne normative Ermächtigung genommen hatten. Dass diese Vorbilder im Reichstag unerwähnt blieben, ist aber nicht weiter erstaunlich. Schließlich ließ sich mit Reminiszenzen an den demo­ kratischen Umsturzversuch der Märzrevolution schlecht um die Sympathie der Regierungen buhlen. In den Norddeutschen Verfassungsberatungen wurden außerdem die maßgeblichen Weichen für die künftige Staatspraxis gestellt. Das Enquête- und Untersuchungsrecht sollte auch künftig keinen Eingang in das Verfassungsrecht des deutschen Bundesstaates finden. Verschiedene Versuche scheiterten an den parlamentarischen Mehrheiten, die nicht auf einen Konflikt aus waren, sondern sich hinter den Reichskanzler stellten. Aus vergleichbaren Gründen hatte das Untersuchungsrecht des Art. 82 PrVerf 1850 in Preußen nicht stärker reüssieren können. In der Praxis sollte sich letzten Endes das von Berichterstatter Engel vorgeschlagene Modell gemeinsamer Enquêten unter Regierungsägide durchsetzen. Das „natürliche Enquêterecht“ des Reichstages konnte demgegenüber nur im Schrifttum, nicht aber in der Parlamentswirklichkeit bestehen.

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Etwa M. v. Seydel, RVerf2 1897, S. 203; ders., AnGVS 1880, 352 (358). Abl. A. Arndt, StaatsR, 1901, S. 148: Der Reichstag müsse, „wenn er z. B., um über die Gültigkeit einer Wahl beschließen zu können, Erhebungen für nothwendig [erachte,  …] um deren Vornahme oder Veranlassung die Reichsregierung ersuchen“. Widersprüchlich dagegen E. Bloch, StaatsR4 1900, S. 25 und 135: „eventuell auch das Recht der Enquête“ – „Ein Recht zur Untersuchung von Thatsachen (enquête) hat der Reichstag nicht“.

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B. Kaiserreich (1871–1918) Wie der Norddeutsche Bundesstaat ging auch das um Süddeutschland erweiterte Kaiserreich aus einer kriegerischen Auseinandersetzung hervor. Der Sieg über Napoleon  III. beseitigte nicht nur den französischen Widerstand gegen die deutsche Einigung, sondern brachte auch das unter antiborussischen Ressen­ timents verschüttete Nationalbewusstsein wieder zum Vorschein.68

I. Entstehung der Reichsverfassung Im November 1870 akzeptierten Baden und Hessen auf den Versailler Konferenzen einen erweiterten Bund, dessen Verfassung dem norddeutschen Einigungswerk entsprechen sollte.69 Bis Monatsende traten dieser Koalition auch Württemberg und Bayern bei. Die Verfassung des neuen Deutschen Bundes70 konnte zum 1. Januar 1871 in Kraft treten. Wenig später wurden Otto v. Bismarcks Bemühungen mit der Umbenennung zum Deutschen Reich und der Kaiserproklamation Wilhelms I. gekrönt. Die Regierungen präsentierten dem im März gewählten Reichstag eine redigierte Fassung des Einigungswerks, der gegenüber sich die parlamentarische Revisionsarbeit auf eine redaktionelle Zusammenfassung und Überarbeitung des aus der Norddeutschen Bundesverfassung und den Bündnisverträgen kompilierten Werks beschränkte. Am 16. April 1871 wurde die Verfassung des Deutschen Reiches verkündet.71

II. Verfassungsrechtliche Informations- und Kritikinstrumente Obwohl das Kaiserreich eine „eigene Phase eines monarchisch dominierten Verfassungssystems“ darstellte, das gegenüber dem bisherigen Konstitutionalismus modernere Repräsentativgedanken integrierte (Rainer Wahl),72 blieb der Reichstag doch auf öffentlich zugängliche Informationen, Auskünfte der Regierungen oder private Kenntnisse seiner Mitglieder angewiesen. Ein Enquête- und Untersuchungsrecht fand in der Reichsverfassung bis zum Ende der Monarchie keinen Platz. 68

Dazu E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 702 ff. sowie T. Schieder, HdbDtGesch XV16 1999, S. 191 ff., 200 ff. 69 Vgl. die in Reims verfasste Denkschrift R. v. Delbrücks vom 13.  September 1870 bei W. Stolze, in: PrJb 197 (1924), 1 (3, 4, 9); T. Schieder, HdbDtGesch XV16 1999, S. 203, 207. 70 BGBl. 1870, 627. 71 s. mit Unterschieden E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 735 ff., 742 ff., 756 ff.; T. Nipperdey, DtGesch 1866–1918 II, 1998, S. 75 ff.; T. Schieder, HdbDtGesch XV16 1999, S. 207 und K. E. Born, HdbDtGesch XVI16 1999, S. 12 ff. 72 Vgl. R. Wahl, in: Müßig (Hg.), Konstitutionalismus, 2006, S. 197 (223 f.).

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Ein „klassisches“ Instrument in neuem Gewand war das Recht jedes Bundesratsmitgliedes einschließlich des preußischen Vertreters, Reichskanzlers und Bundesratsvorsitzenden, „im Reichstage zu erscheinen und […] daselbst auf Verlangen jederzeit gehört [zu] werden, um die Ansichten seiner Regierung zu vertreten“. Dass dieses Zutritts- und Rederecht auch bestand, wenn die betreffenden Auffassungen „von der Majorität des Bundesrathes nicht adoptirt worden“ waren, spiegelt den föderalen Charakter des Kaiserreichs wider (Art. 9 Abs. 1 RVerf 1871). § 40 GO-RT 1871 erstreckte das Rederecht auf die zur Vertretung der Bundesratsmitglieder abgeordneten Kommissarien sowie – mit gewissen Einschränkungen – auch auf die Assistenten.73 – Die Anwesenheit eines Äußerungsberechtigten gab den Abgeordneten wie schon in den Einzelstaaten die Gelegenheit, im Zusammenhang mit einem konkreten Verhandlungsgegenstand jenseits des schwerfälligeren Interpellationsrechts formlose Fragen zu stellen.74 Eine Antwortpflicht bestand für die Regierungsvertreter nicht; es entsprach aber dem Sinn und Zweck des Art. 9 Abs. 1 RVerf 1871, wenn sie dem Reichstag im Vorfeld einer Entscheidung Rede und Antwort standen.75 Ein „Mittel der Kontrolle der Reichsverwaltung“ bot das in Art. 23 RVerf 1871 verankerte Petitionsrecht. Das Recht des Reichstags, „an ihn gerichtete Petitionen dem Bundestrathe resp. Reichskanzler zu überweisen“, galt Paul Laband als Möglichkeit, „Verletzungen der Gesetze seitens der Reichsverwaltung oder der Staatsbehörden auf dem den Einzelstaaten überlassenen Gebiete […] zu rügen und tatsächliche Uebelstände oder Mängel, welche Abhilfe erforder[te]n, in amtlicher Weise zu erörtern“. Obwohl ihr Votum keineswegs verbindlich sei, erhalte die Volksvertretung so „gewissermaßen die Stellung eines öffentlich-rechtlichen Rüge­gerichts den Verwaltungsbehörden gegenüber“.76 Mit analogen Erwägungen hatte der konstituierende Norddeutsche Reichstag das Petitions- dem Enquête- und Untersuchungsrecht in den Verfassungsberatungen vorgezogen.77 Nähere Regelungen enthielt die Geschäftsordnung vom 21.  März 1871. Eingehende Bittschriften überwies der Reichstagspräsident an die Petitionskommission. Wurde das Sachgebiet einer anderen Kommission tangiert, konnte der Präsident die Eingabe dieser zukommen lassen (§ 26 Abs. 1 GO-RT 1871). Gemäß § 26 Abs. 2 GO-RT 1871 wurde das Plenum wöchentlich durch tabellarische Zusammenstellungen über die Petitionen informiert. Nur wenn es die Petitionskommission oder 15 Abgeordnete beantragten, kam eine Bittschrift vor das Plenum

73 „§ 40. Die Mitglieder des Bundesraths und die zu ihrer Vertretung abgeordneten Commissairen müssen auf ihr Verlangen zu jeder Zeit gehört werden. Auch den Assistenten muß auf Verlangen der Mitglieder des Bundesraths oder ihrer Vertreter das Wort ertheilt werden.“ 74 P. Laband, StaatsR I5 1911, S. 307; ders., DJZ 1909, Sp. 677 (678 f.). 75 Vgl. F. Thudichum, VerfassungsR, 1870, S. 194 in Anm. 2 und zu dem entsprechenden Art. 60 PrVerf 1850 L. v. Rönne, PrStaatsR I/22 1864, S. 338 in Anm. 1 a). 76 P. Laband, StaatsR I5 1911, S. 305 f. 77 s. 6. Teil 2. Kap. A. I.

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

(§ 26 Abs. 3 GO-RT 1871). Andernfalls verlangte § 28 Abs. 6 GO-RT 1871 lediglich einen „Bescheid des Reichstages“. In der Reichstagspraxis bildeten sich für die Erledigung der Petitionen sechs Hauptkategorien heraus: Eingaben konnten zur Berücksichtigung, Erwägung, Kenntnisnahme oder als Material an den Bundesrat oder den Reichskanzler überwiesen werden. Überdies bestand die Möglichkeit, eine Bittschrift durch anderweitigen Beschluss mitzuerledigen oder zur einfachen bzw. motivierten Tages­ordnung überzugehen.78 Während die motivierte Variante dem Reichstag Gelegenheit zur Regierungsschelte bot, wollte die Volksvertretung bei einer zur Berücksichtigung überwiesenen Petition, wie es der Abgeordnete der Fortschrittlichen Volkspartei Georg Gothein formulierte, ihre „Wünsche voll erfüllt sehen“.79 Aber weder der Bundesrat noch der Reichskanzler mussten überhaupt in der Sache entscheiden oder sich dem Reichstag gegenüber erklären. Wenigstens durfte wegen Art. 23 RVerf 1871 die Entgegennahme einer Petition nicht verweigert werden.80 Gemäß Art. 7 Nr. 1 RVerf 1871 hatte der Bundesrat seinerseits über die Reichstagsbeschlüsse zu beschließen. Die verbündeten Regierungen galten trotzdem nicht als dazu verpflichtet, die Volksvertretung von ihrer Entscheidung zu unterrichten.81 Am 12. Juni 1872 richtete „[f]ast ausnahmslos das ganze Haus“, einem Antrag aus den Reihen der Liberalen Reichspartei, der Nationalliberalen sowie der Fortschrittlichen Volkspartei folgend, „[a]n den Reichskanzler das Ersuchen […], dem Reichstage die von dem Bundesrathe gefaßten Entschließungen auf die von dem Reichstage beschlossenen Gesetzentwürfe und Anträge spätestens bei Beginn der nächsten Session in schriftlicher Form mitzutheilen“. Antragsteller Karl Gustav Ackermann (Liberale Reichspartei) begründete diesen Vorstoß einerseits damit, dass der Reichstag in jeder Session Gesetzentwürfe beschließe oder Petitionen an die Regierung überweise, ohne offiziell zu erfahren, ob und wie sich der Bundesrat entschieden habe. Nach der altdeutschen Verfassung hätten sich die Stände dagegen „bei dem künftigen Landtag in die Hauptsache nicht eher [einlassen müssen…], bis […] die Gravamina des vorigen Landtags ihre volle Erledigung gefunden“ hätten. Dieses Recht sei auch in Sachsen, Bayern, Oldenburg, Braunschweig und einigen kleineren Ländern noch immer anerkannt.82 In der Debatte unterstützte der württembergische Bevollmächtige Hermann v. Mittnacht diesen „Antrag, der […] einem entschiedenen Bedürfniß Ausdruck“ gebe und hoffentlich in den kommenden Bundesratsverhandlungen „Beachtung und Erledigung finden“ werde.83 Tatsächlich unterrichtete Reichskanzler Otto v. Bismarck den Reichstags­ präsidenten Eduard Simson unter dem 14. März 1873 schriftlich darüber, „daß der 78

Dazu K. Perels, ReichstagsR,1903, S. 67 f. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6449. 80 M. v. Seydel, RVerf2 1897, S. 203; ders., AnGVS 1880, 352 (358). 81 K. Perels, ReichstagsR,1903, S. 68. 82 VerhRT I/3 (1872), S. 931 f., 934. 83 VerhRT I/3 (1872), S. 934. 79

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Bundesrath beschlossen [habe…], dem Wunsche des Reichstages wegen Mittheilung der von dem Bundesrath gefaßten Entschließungen auf die von dem Reichstage beschlossenen Gesetz-Entwürfe und Anträge zu entsprechen“; beigefügt war eine „Uebersicht der vom Bundesrath gefaßten Entschließungen auf Beschlüsse des Reichstags aus der Session von 1872“.84 Der Reichstag beschloss am 11. November 1874, dass diese Übersichten künftig gedruckt und verteilt werden sollten (§ 31a GO-RT n. F.). Die Geschäftsordnungskommission erhoffte sich davon, „den Verkehr zwischen beiden Körperschaften zu erleichtern, vereinzelten Anfragen und Interpellationen vorzubeugen und dadurch die Plenarverhandlungen und die dem Reichstage zugemessene Zeit auf Gegenstände von allgemeinerem Interesse zu konzentriren“.85 Grundlage dieser Informationspraxis war mit Kurt Perels’ Worten allein die „rein einseitige Erklärung“ des Bundesrats, den Reichstag künftig regelmäßig in Kenntnis zu setzen, „die jederzeit ebenso einseitig zurückgenommen werden“ konnte.86 Dem Reichstag standen bei der Prüfung der „Legitimationen seiner Mitglieder“ (Art. 27 Satz 1 RVerf 1871) keine selbständigen oder unmittelbaren Ermittlungsbefugnisse zu. Stattdessen wurden zunächst sämtliche Wahlverhandlungen zu einer Vorprüfung an die Abteilungen verlost. Zweifelten mindestens zehn Abteilungsmitglieder die Gültigkeit einer Wahl an oder lag ein rechtzeitiger Protest vor, wurde die Sache zur Berichterstattung an die Wahlprüfungskommission überwiesen (vgl. §§ 3 ff. GO-RT  1871).87 Obwohl dieser Kommission „quasi-richterliche Funktionen“ und ein „gewisses Enqueterecht“ zugeschrieben wurden, konnte sie diese Befugnis, deren interpellationsartiger Charakter sich in diesen Modalitäten offenbarte, nur „unter Vermittlung des Reichsamts des Innern durch die Gerichte und Verwaltungsbehörden“ ausüben (Erich Kaufmann).88 Das im Frühjahr 1862 erstmals durch das preußische Abgeordnetenhaus in Anspruch genommene Recht, die Gerichte unmittelbar um Zeugenvernehmungen zu ersuchen,89 stand dem Reichstag offenbar nicht zu; die Möglichkeiten seiner Kommission beschränkten sich auf Requisitionen. Mit den Worten des Nationalliberalen Ludwig Bamberger stand die „deutsche Rechtspraxis“ der englischen und französischen darin nach, dass man „in zweifelhaften Fällen nicht die Thatsachen durch Commissionen untersuchen 84

VerhRT I/4 (1873), Nr. 14, S. 60. VerhRT II/1 (1874), Nr. 66, S. 247. 86 K. Perels, ReichstagsR,1903, S. 68 f. Zum Verfahren s. auch J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 80 f. und ferner M. v. Seydel, AnGVS 1880, S. 352, S. 352 (430 f.). 87 Vgl. dazu P. Zorn, StaatsR I2 1895, S. 228 ff. 88 E. Kaufmann, Untersuchungsausschuss, 1920, S. 30. Ähnl. A. Arndt, DJZ 1917, Sp. 537 (539), der weder die Befugnis anerkannte, „Erhebungen […] unmittelbar vor[zu]nehmen noch [zu] veranlassen, noch Zeugen [zu] vernehmen, noch Aufträge an Verwaltungs- oder Gerichtsbehörden [zu] erteilen, noch Akten ein[zu]fordern“, und M. v. Seydel, RVerf2 1897, S. 208, der den Reichstag nur für berechtigt hielt, „durch den Reichskanzler die betheiligte Staatsregierung um Vornahme von Erhebungen ersuchen [zu] lassen“. 89 s. 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. d) bb). 85

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

[lassen könne…], welche aus den Abgeordneten gebildet oder zum mindesten von denselben geleitet [würden…]. Wo dergleichen Ermittlungen nöthig [seien, richte…] vielmehr der Reichstag ein Ersuchen an den Reichskanzler“, der „sich zur Feststellung der Thatsachen wieder der einzelnen Landesbehörden“ bediene. In dieser Schwäche des Reichstags gegenüber ausländischen Parlamenten zeigten sich zur Überzeugung Bambergers die „Spuren minder vollkommener Ebenbürtigkeit Angesichts der andern überkommenen Staatsgewalten“. Auch hielt er es für bedenklich, dass die „Untersuchungen wegen unterlaufener Unregelmäßigkeiten von den Regierungsbehörden der einzelnen Staaten vorgenommen würden“; weil die „mit der Untersuchung Betrauten einigermaßen Partei zu sein pfleg[t]en“, führten die „Beanstandungen von Wahlen so äußerst selten zu Etwas“.90 Die Richtigkeit dieser Vermutungen zeigte sich z. B. in den fast vollkommen fruchtlosen Bemühungen des kurhessischen Landtags um Informationen, der ebenfalls ausschließlich über interpellationsartige Auskunftsrechte verfügte.91 Julius Hatschek führte den misslichen Requisitionsmodus zu Recht auf die „Auffassung der älteren konstitutionellen Doktrin“ zurück, jeden „direkten Verkehr zwischen Parlament […] und Gerichten und Verwaltungsbehörden“ in „Ablehnung französischer Konventspraktiken“ (!) zu unterbinden. Weil es sich trotz der Vermittlung durch den Reichskanzler nicht um eine Verwaltungssache handele, stehe es nicht im Ermessen der Behörden und Gerichte, ob und wie sie einer Requisition Folge leisteten.92 Als zulässige Beweismittel erkannte der Göttinger Staatsrechtler Urkunden, Augenschein, eidliche und einfache Zeugenvernehmung an.93 Zur Aktenvorlage sollten weder Gerichts- noch Verwaltungsbehörden verpflichtet sein.94 Während der Münchener Staatsrechtler Max v. Seydel, den Wolfgang Durner als antiparlamentarischen Monarchisten einschätzt,95 jeden „reichsgesetzlichen Zeugniszwang“ zurückwies,96 leitete Hatschek aus Art. 27 Abs.  1 Satz  1 RVerf  1871 die Pflicht der Zeugen ab, auf eine gerichtliche Ladung zu erscheinen und eidlich oder uneidlich auszusagen. Für die Durchführung der Vernehmungen verwies er auf prozessrechtliche Analogien oder die Rechtshilferegeln.97 90

L. Bamberger, JbGVwRpflDtR 1 a. F. (1871), 159 (161 f.). s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. 92 J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S.  536 f. Am 30.  November 1900 stützte das OLG Naumburg (Abdruck in VerhRT X/2 (1900/02), Nr.  169, S.  1103) die Pflicht, Requisitionen Folge zu leisten, auf Art. 27 RVerf 1871 und § 38 Pr­VO­Aufh­Priv­Ger 1849, der die Gerichte verpflichte, „durch die Verwaltungsbehörde vermittelten Ersuchen nachzukommen“. Der entsprechende Passus lautete: „die Verwaltungsbehörden sind […] ferner befugt, in Angelegenheiten ihres Ressorts den Justiz-Unterbehörden Anweisungen zu ertheilen, und sie zu deren Be­ folgung anzuhalten“. 93 J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 534 ff. 94 J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 541. 95 W. Durner, Antiparlamentarismus, 1997, S. 63. 96 M. v. Seydel, RVerf2 1897, S. 208. 97 J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 538 f. für das Zivilprozessrecht. 91

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Der Reichstag verfügte also wenigstens für die Legitimationsprüfungen über ein weitgehendes Requisitionsrecht.98 Diese Befugnisse lassen sich aber nicht als Ausdruck eines allgemeineren Selbstinformationsrechts deuten, sondern sind ausschließlich der Spezialvorschrift des Art. 27 Satz 1 RVerf 1871 geschuldet.

III. Sozialdemokratische Forderungen (1890 bis 1912) Die lange Zurückhaltung des Reichstags in der Frage eines Selbstinformationsrechts war politischen Rücksichten der parlamentarischen Majoritäten zu verdanken. Es war also bloß eine Frage der Zeit oder besser: entsprechender Mehrheitsverhältnisse, bis entsprechende Forderungen wieder erhoben werden würden. 1. Der Vorstoß von 1890/91 Im Frühjahr 1890 war die Zeit für einen neuerlichen Anlauf reif. Dieses Mal wurden die sozialdemokratischen Forderungen nicht ohne praktisches Anschauungsmaterial gestellt. Vielmehr hatten die Regierungen in den vergangenen Jahren verschiedene Wirtschafts- und Sozialenquêten veranstaltet, so dass die Parlamentarier über dieses Instrument, über seine Vorzüge und seine Schwächen informiert waren. a) Die innenpolitische Lage im Frühjahr 1890 Um den Jahreswechsel 1889/90 hatte sich die innenpolitische Lage grundlegend gewandelt: Mit seiner unnachgiebigen Haltung in der Frage des Sozialisten­ gesetzes hatte Bismarck dessen unbefristete Verlängerung verspielt. Außerdem büßte er seine seit 1887 bestehende Machtbasis, das „Kartell“ der beiden konservativen und der Nationalliberalen Partei ein. Mit dem jungen Kaiser kam es über die Sozialpolitik zum Streit. Der Fürst lehnte die Forderungen des Monarchen, den Arbeitsschutz zu verbessern und eine internationale Konferenz zur Lage der Arbeiterschaft einzuberufen, aus Sorge ab, dass solche Ankündigungen Wasser auf die Mühlen der Linken gießen könnten. Das Amt des preußischen Handelsministers legte er nieder, behandelte die Angelegenheit dilatorisch und präsentierte als Reichskanzler schließlich absichtlich derart drastisch erweiterte Vorschläge, dass andere durch die unerfüllbaren Hoffnungen in die undankbare Oppositionsrolle gedrängt wurden.

98

Ausführlich T. Klein, „Gültig – ungültig“, 2003.

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Anfang des Monats wurden die sozialpolitischen „Februar-Erlasse“ Wilhelms II. publiziert,99 am Monatsende der Reichstag neu gewählt. Obwohl die Sozialdemokraten auf bloß 35 Sitze kamen, bescherten Gewinne des Zentrums und der Freisinnigen der früheren Opposition eine Mehrheit von 207 Sitzen. Die ehemaligen „Kartellparteien“ stürzten von 220 auf 135 Mandate ab. Eine Fortsetzung der bisherigen Politik war mit diesem Wahlausgang unmöglich. Mit Hilfe des sozialistischen Gespensts und vorgeschobener sozialpolitischer Zugeständnisse erreichte Bismarck die vorläufige Zustimmung des Kaisers zu einem antiparlamentarischen Programm. Als Wilhelm II. dem harten innenpolitischen Kurs sein Plazet aber wieder entzog, warb Bismarck Mitte März ohne Wissen seines Herrn um die Unterstützung des Zentrums. Der übergangene Kaiser sah darin und in einer Weisung Bismarcks an Reichsstaatssekretäre und preußische Minister, ihn vor Immediatvorträgen zu unterrichten, einen Vertrauensbruch. Infolge des Streits ging – wie es die englische Zeitschrift „Punch“ karikierte – der bisherige Lotse der deutschen Politik von Bord.100 Sein Nachfolger am Ruder der deutschen Fregatte, der General Leo Caprivi, steuerte bald einen „Neuen Kurs“. Repressive Ausnahmemaßregeln einschließlich der Sozialistengesetze lehnte er ab, versuchte, die Arbeiterschaft durch sozialpolitische Maßnahmen zu gewinnen, und ging, statt allein auf Konservative und Rechtsliberale zu bauen, auf Zentrum und Linksliberale zu.101 Mitte April verkündete er vor dem preußischen Abgeordnetenhaus, im Sinne einer Politik der Aussöhnung und Kooperation künftig „das Gute [zu] nehmen, von wo und durch wen es auch kommt“.102 Obwohl die Sozialdemokratie nach wie vor kein potentieller Partner war, drohten ihr wenigstens keine neuen Repressionsgesetze.

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Der Kaiser lud die europäischen Regierungen zu einer „internationalen Verständigung“, wie man den „Bedürfnissen und Wünschen der Arbeiter“ Rechnung tragen könne, nach Berlin ein. Die preußischen Minister forderte er zum „Ausbau der Arbeiter-Versicherungsgesetzgebung“ und der „Vorschriften der Gewerbeordnung über die Verhältnisse der Fabrikarbeiter“ auf. Schließlich sei es „eine der Aufgaben der Staatsgewalt […], die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu regeln, daß die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die wirthschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche Gleichberechtigung gewahrt“ blieben. Im Interesse des sozialen Friedens verlangte der Kaiser eine Frühform der Arbeitnehmermitbestimmung, um den Arbeitern einen „freie[n] und friedliche[n] Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden zu ermöglichen und den Staatsbehörden Gelegenheit zu geben, sich über die Verhältnisse der Arbeiter fortlaufend zu unterrichten und mit den letzten Fühlung zu behalten“. Abdruck der Februar-Erlasse in Neueste Mittheilungen 1890, No. 12. 100 s. mit unterschiedlichem Akzent zu Sozialistengesetz, Sozialpolitik und Entlassungskrise E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 202 ff.; O. Pflanze, Bismarck II, 2008, S. 593 ff. sowie ferner K. E. Born, HdbDtGesch XVI16 1999, S. 167 ff. und R. Lucius, Bismarck1–3 1920, S.  507 ff. Wahlergebnisse bei B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, S.  290 f., Tab. A8. 101 E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S.  247 ff.; K. E. Born, HdbDtGesch XVI16 1999, S. 176 ff. sowie mit Blick auf Preußen ders., in: HdbPrGesch III, 2001, S. 15 (115 ff.) und ferner H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte III2 2006, S. 1005 f. 102 Zitiert nach K. E. Born, in: HdbPrGesch III, 2001, S. 15 (115).

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b) Der Antrag Auer Zu Beginn dieses relativen Tauwetters beantragte die sozialdemokratische Fraktion Mitte Mai, dem Reichstag in der Verfassung das Recht beizulegen, „behufs seiner Information Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“, die „berechtigt [sein sollten], Zeugen und Sachverständige – auch eidlich – zu vernehmen und überhaupt alle diejenigen Erhebungen zu veranstalten, die sie zur Klarstellung der Thatsachen für nöthig erachte[te]n“. Wie 1868 sollten die „Behörden […] gehalten [sein], diesen Kommissionen bei der Ausübung ihrer Amtspflicht innerhalb der Grenzen ihrer Aufgaben die geforderte Unterstützung zu gewähren“. Neu war, dass die Kommissionsmitglieder „für ihre Zeitversäumnisse und Auslagen Entschädigung“ erhalten sollten.103 Diese Forderung hing mit dem allgemeinen Ringen um Diäten zusammen, die den Reichstagsabgeordneten noch bis 1906 vorenthalten wurden.104 Über frühere Initiativen ging der Vorstoß außerdem mit detaillierten Befugnissen einschließlich eidlicher Vernehmungen hinaus. Nach eigenem Bekunden hatten sich die Antragsteller „diejenigen Einwendungen zu Nutze“ gemacht, die im Norddeutschen Reichstag gegen das vermeintlich wirkungslose Recht vorgebracht worden waren.105 Zugleich dürften die negativen Erfahrungen mit den Regierungsenquêten der vergangenen Jahre eine Rolle gespielt haben. Z. B. war die Tabakenquête u. a. mangels echter Mitwirkungspflichten sowie Zwang und Strafe hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben.106 c) Plenarberatungen Erst mehr als anderthalb Jahre später wurde der Antrag im Plenum beraten. Am 9. Dezember 1891 betonte August Bebel, dass man bloß eine im nationalen wie ausländischen Vergleich klaffende „Lücke in der Verfassung“ schließen wolle. 103

s. VerhRT VIII/1 (1890/91), Nr. 39. Diese Diätenlosigkeit, die nach Bismarcks Willen eine „Kompensation des allgemein gleichen Wahlrechts“ sein sollte, nach P. Labands Ansicht aber für einen „sehr schlechte[n] Besuch der Plenarsitzungen und die chronische Beschlussunfähigkeit“ verantwortlich war, wurde „nach langem Widerstreben der Bundesregierungen“ erst im Mai 1906 durch ein Gesetz be­ endet, das den Abgeordneten eine „‚Entschädigung nach Massgabe des Gesetzes‘ gewährt[e]“. s. dazu P. Laband, JÖR 1 (1907), 1 (24). 105 Weiter betonte A. Bebel, dass sich die nationalliberalen Führer E. Lasker, C. Twesten und Friedrich Wilhelm August Grumbrecht damals „unter voller Anerkennung der Nothwendigkeit einer solchen Bestimmung“ nur aus Rücksicht auf die Ablehnung durch den Bundesrat und Sorge vor einer Verfassungsänderung gegen den Antrag ausgesprochen hätten (VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3289). Zu den Anträgen Lasker (1867) und Reincke (1868) s. 6. Teil 2. Kap. A. I. und II. 106 Schon in den parlamentarischen Beratungen unkte R. Lucius, dass die Enquête „ziemlich wirkungslos“ verlaufen werde (VerhRT III/2 (1878), S.  1483 f.). Tatsächlich klagte das Gouvernement im Nachhinein in der Begründung des Tabaksteuergesetzes, dass „[m]angel[s] jeden Zwangsrechts gegen die Betheiligten“ eine „Vervollständigung“ des Materials unmöglich gewesen wäre (VerhRT IV/2 (1879), Nr. 136, S. 1190). 104

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

Auf den obligaten Hinweis auf englische Verhältnisse ließ der Mitbegründer der Sozial­demokratie die Mahnung folgen, dass sich die Volksvertretung in der anbrechenden „Periode der sozialen Gesetzgebung“ in informationsrechtlicher Hinsicht nicht auf Ersuchen an den Bundesrat beschränken dürfe, „zur besseren Beurtheilung der thatsächlichen Verhältnisse Enqueten über die soziale Lage bestimmter Arbeiterkategorien vorzunehmen“. Der Reichstag müsse im Gegenteil das Recht erhalten, sich durch ein „kontradiktorisches Verfahren bei der Vernehmung  […] nach allen Richtungen hin“ selbst zu unterrichten, „die vorgeladenen Personen zeugeneidlich zu vernehmen“, ja „zu zwingen, ein solches Zeugniß abzugeben“.107 Dass es nicht allein um die soziale Gesetzgebung ging, lässt die Tatsache vermuten, dass sich die Sozialdemokratie verschiedenen, seit Bismarcks Abgang unternommenen Reformversuchen verweigert hatte.108 Tatsächlich deutete August Bebel verhalten an, dass das geforderte Recht später auch politischeren Zwecken dienen werde, ja sogar „einmal Dinge in den Kreis parlamentarischer Erörterung“ gezogen werden könnten, „die nicht so allgemeiner Natur [seien…], wie soziale, ökonomische und ähnliche Fragen, die also mehr politischer Natur und von einer größeren Tragweite“ wären. Gleichwohl, wiegelte der Sozialdemokrat ab, gehe von dem Antrag derzeit keine Gefahr aus, „die Regierung durch Einführung eines […] sogenannten parlamentarischen Regiments in ihrer Machtvollkommenheit [zu] schädigen“, weil die dazu erforderliche Reichstagsmehrheit augenblicklich nicht in Sicht wäre.109 – Zuvor hatte der Sozialdemokrat die Andeutung auf die Regierungskontrollfunktion des geforderten Selbstinformationsrechts gewagt, dass nach dem Scheitern des Ankaufs der Zentralbahn in der Schweiz beantragt worden sei, „durch eine Kommission des Nationalraths Sachverständige vor ihr Forum laden zu lassen“, um sich „über die Bedeutung der Einwendungen gegen die von Seiten des [Schweizer] Bundesraths eingegangenen Verpflichtungen“ zu unterrichten. Eine provokante Anspielung auf eine Regierungskontrollfunktion des Selbstinformationsrechts lag in dem Resümee, dass der deutsche Reichstag jeden Augenblick in eine vergleichbare Lage kommen könne.110 August Bebel begründete also sowohl das Enquête- als auch das Untersuchungsrecht in Anknüpfung an die materiellen Befugnisse des Reichstags und griff damit gewissermaßen der „Korollartheorie“ vor. Der Deutsch-Freisinnige Karl Schrader, der nicht dem streng-oppositionellen, sondern dem nationalliberal-sezessionistischen Flügel der Partei angehörte,111 beschränkte sein Plädoyer auf die Erfordernisse der sozialen Gesetzgebung: Die Volksvertretung benötige eine „erweiterte Kompetenz […] nicht zu dem Zweck, die Regierung irgendwie zu bekämpfen“, sondern um „mit besserer Sachkenntniß 107

VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3288. Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1220 f. 109 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3289, 3296. 110 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3289. 111 Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 80 f. 108

2. Kap.: Schlaglichter der Verfassungsentwicklung

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zu entscheiden“.112 In diesem Sinne pries er es als „in hohem Grade wünschenswerth“, „wenn der Reichstag besser in den Stand gesetzt [werde…], aus eigener Sachkenntniß sich zu entscheiden“. Wohl um sich nicht dem Einwand auszusetzen, dass entsprechende Vorstöße schon in früheren Jahren abgelehnt worden waren, beteuerte er, dass für „fachliche Untersuchungen, namentlich auf sozialem Gebiete“, bei Gründung des Norddeutschen Bundes noch „sehr viel weniger Veranlassung“ bestanden habe.113 Mit August Bebels Mahnung, eine ganze Reihe anderer Probleme wäre „mit viel weniger Zeitaufwand“ und „viel größerer Gründlichkeit“ erledigt worden, wenn der Reichstag schon über das geforderte Recht verfügt habe, ging Karl Schrader ebenfalls wieder konform. Während der Sozialdemokrat aber auf die Ausgestaltung der Getreidezölle verwies, für die ein „Ur­ theil der Sachverständigen und Praktiker […] weit wichtiger“ gewesen wäre als „alle die theoretischen Erörterungen und Erklärungen“ der Reichstagsabgeordneten,114 führte der Deutsch-Freisinnige den gewerberechtlichen Befähigungsnachweis ins Feld.115 Insoweit hielt August Bebel eine Tatsachenermittlung aber im Gegenteil für unmöglich, weil sich über die potentiellen Auswirkungen einer neuartigen Maßregel „nur Meinungen feststellen“ ließen. Über die Nützlich- oder Schädlichkeit bestimmter Zölle sei demgegenüber eine Enquête denkbar.116 Wie der Sozialdemokrat Bebel, der für das geplante „Vorgehen gegen gewisse Börsenmanipulationen“ orakelte, „daß in der Mitte dieses Hauses ungemein wenig Abgeordnete […] mit voller Sachkenntniß über eine so überaus schwierige Frage […] urtheilen“ könnten; besser werde man sich durch eidliche Sachverständige „nach allen Seiten hin über die Natur dieses Geschäfts“ unterrichten117  – tatsächlich setzte die Regierung wenig später eine Börsenenquêtekommission ein, in die auch eine Handvoll Reichstagsabgeordneter berufen wurde118  –, verlangte der Linksliberale Schrader eine Lösung „unter Mitwirkung aller […] Richtungen des Parlaments“ und „unter vollkommener Freigabe der Heranziehung von Zeugen und Sachverständigen“, damit die Entscheidung des Reichstags auch „nach außen hin begründet erscheinen“ könne. Fänden die Verhandlungen öffentlich statt und würden anschließend auch gedruckt, könne sich jedermann umfassend unterrichten. Überdies fordere man „fortwährend die Kritik des Publikums“ heraus und fördere auf diesem Wege „immer neues sachliches Material“ zutage.119 Der Zentrumspolitiker Carl Bachem versetzte den sozialdemokratischen und freisinnigen Hoffnungen den Dämpfer, dass zahlreiche Gesetze selbst im Falle einer Verfassungsänderung ohne dieses Mittel, das „wichtigen Veranlassungen“ 112

VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3290. VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3289 f. 114 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3288. 115 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3290 f. 116 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3295 (Hervorhebung nur hier). 117 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3288 f. 118 s. dazu 6. Teil 3. Kap. B. I. 119 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3290 f. 113

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

vorzubehalten wäre, „gemacht werden“ müssten.120 Sogar in England sei die „Blüte­zeit“ der Enquêtekommissionen passé. Für den deutschen Reichstag war ein Untersuchungsrecht zur Überzeugung des promovierten Rechtsanwalts nicht von großem Nutzen, weil sich die Volksvertretung anders als in früheren Tagen, als man sich nur schwer habe „über die Verhältnisse im ganzen Lande […] informiren“ können, mittlerweile primär „durch die Arbeit der Regierung“ unterrichte. Überdies könnten die Abgeordneten unmittelbar bei ihren Wählern oder in „solchen Kreisen, welche sich in einer Noth befinden“, erkundigen. Zu guter Letzt unterstützten zahlreiche Vereine und die Presse die „Information des Parlaments“.121 Diese Argumentationslinie, die Bedeutung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts zu marginalisieren, war keineswegs neu, sondern spätestens seit den Norddeutschen Verfassungsberatungen bekannt. Gegenüber dieser Position, die private Kontakte der Abgeordneten einem parlamentarischen Recht vorzog, hielt August Bebel daran fest, dass „insbesondere auf wirthschaftlichem Gebiet, auf ökonomischem Gebiet, auf dem Gebiet der sozialen Gesetzgebung, auf dem jetzt schon die Reichsregierung veranlaßt [worden sei…], Enqueten anzustellen, Untersuchungen nothwendig“ wären. Möge sich die allgemeine Informationslage auch gebessert haben, könne der Reichstag doch nicht auf ein eigenes Enquêterecht verzichten, weil man Gesetze „über Dinge“ machen müsse, „die alles das an Komplizirtheit und Bedeutung weit hinter sich [ließen…], was vor 40 und 50 Jahren […] in Frage“ gekommen wäre.122 Der nationalliberale Erlangener Professor Heinrich v. Marquardsen hielt dem Zentrumspolitiker Bachem entgegen, dass es sehr wohl „um ein Mittel [gehe, …] die Informationen eines gesetzgebenden Körpers […] zu verbessern“ – möge seine Bedeutung auch nicht so groß sein wie vor fünf oder sechs Jahrzehnten. In England lieferten parlamentarische Kommissionen immer noch „sehr werthvolles Material“. Der Forderung, dem Reichstag das Recht zu geben, „sich selber zu helfen und Informationen einzuziehen, welche er zur wirklichen und vollen Ausübung seiner Befugnisse“ benötige, lasse sich eine ausländische Praxis ohnehin nicht entgegenhalten.123 Auf hartnäckigen Widerstand stieß der Verfassungsänderungsantrag auf der rechten Seite des Hauses: Trotz der „unglaublich friedlich[en]“ Erklärung August Bebels wähnten der Deutschkonservative Otto Curt Gottlob v. Manteuffel, der Sohn des preußischen Ministerpräsidenten der Reaktionsära, und seine „politischen Freunde“ einen „ersten Versuch“, um einen „Theil der Exekutive auf den Reichstag zu übertragen“.124 Diesem Vorwurf, der wieder die klassische alte Vari-

120

VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3295. VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3291 f. 122 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3296. 123 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3293. 124 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3293. 121

2. Kap.: Schlaglichter der Verfassungsentwicklung

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ante des „Gewaltenteilungsarguments“ aufwärmte, die in Wahrheit auf dem „monarchischen Prinzip“ basierte, trat nicht nur der deutsch-freisinnige Abgeordnete Karl Schrader entgegen, der die Abneigung der Regierung gegen eine entsprechende Bestimmung darauf zurückführte, dass Art. 82 PrVerf 1850 ein regelrechter „Kampfparagraph gegen die Regierung“ gewesen wäre, sondern sogar der Zentrumspolitiker Bachem und der Nationalliberale Heinrich v. Marquardsen ironisierten, dass die Einführung des beantragten Rechts schwerlich den „Charakter des ganzen deutschen Verfassungswesens ändern“ werde.125 Außerdem brachte Karl Schrader den Gedanken gemeinsamer Enquêten erneut zur Sprache, den der Nationalliberale Ernst Engel vor mehr als 20 Jahren in den Norddeutschen Verfassungsberatungen angesprochen hatte.126 Für ein parlamentarisches Enquêterecht führte der ehemalige Eisenbahndirektor Schrader an, dass die preußische Eisenbahnenquête gerade deswegen „ein gutes Resultat ergeben“ habe, weil das Abgeordnetenhaus selbst über diese Befugnis verfügt habe und die Regierung so genötigt gewesen wäre, „in die Kommission Mitglieder des Landtags zu berufen […] und auch bei der Auswahl der zu vernehmenden Personen nach anderen Prinzipien zu verfahren als bisher“. Den offenbar von Carl Bachem favorisierten reinen Regierungsenquêten hielt er das Versagen der Zuckerenquête durch ihre Nichtöffentlichkeit und eine Auswahl untauglicher Zeugen entgegen. Für die Regierungsseite sei es gegenüber dem Schreckgespenst reiner Parlamentsenquêten eine „Erleichterung des Eingehens auf den Antrag“, wenn der Reichstag Enquêtekommissionen künftig mit dem Bundesrat gemeinsam berufen wolle; wahrscheinlich war dieser Hinweis auf die preußische Eisenbahnenquête alles andere als glücklich, hatte sich das Staatsministerium doch nur widerstrebend zu einer Untersuchung herabgelassen.127 Weiter verwies Karl Schrader darauf, dass die erfolgreichsten Erhebungen in England „von der Regierung unter Mitwirkung des Parlaments“ veranstaltet würden. Abschließend betonte der Deutsch-Frei­ sinnige ungeachtet seines Appells an die Regierungen, dem Parlament endlich die erforderlichen Mittel zu gewähren, um Entscheidungen „mit voller Sachkenntniß“ zu treffen, dass andernfalls kein „verfassungsmäßiges Bedenken“ bestehe, einer Reichstagskommission im Einzelfall die Vernehmung freiwilliger Sachverständiger zu gestatten.128 Mutmaßlich war diese Mahnung eine verkappte Drohung an die Adresse der Regierungen. Auf den politisch-taktischen Einwand Carl Bachems, jede Verfassungsänderung berge die Gefahr, dass auch an die fundamentalsten Grundsätze, etwa das all 125 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3290. Karl Schrader betonte weiter, dass es nicht um exekutive oder judikative Befugnisse für den Reichstag gehe, sondern um sein Recht, „sich zu informiren“, um „die ihm verfassungsmäßig zugewiesenen Befugnisse auszuüben“ (VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3294). s. zu Carl Bachem und zu Heinrich v. Marquardsen VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3295 und 3293. 126 VerhNdtRT I/1868, S. 259. 127 s. 5. Teil 3. Kap. E. IV. 2. 128 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3290 f.

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gemeine Wahlrecht, Hand gelegt werden könne,129 erwiderte Karl Schrader, dass für das geforderte Selbstinformationsrecht ein „gewöhnliches Gesetz neben der Verfassung“ ausreiche, ja „der Reichstag […] durch seine Geschäftsordnung sich diese Befugnisse gebe[n]“ könne, wenn er keine „obrigkeitliche Gewalt ausüben“ oder „Zeugen und Sachverständige […] vereidigen oder zum Erscheinen […] zwingen“ wolle.130 Mit der wiederholten Drohung, dass man sich die gewünschte Befugnis, wenngleich in schwächerer Form, notfalls selbst beilegen werde, griff der Jurist den Gedanken auf, den Eduard Lasker unter der Firma eines „natürlichen Rechts“ des Parlaments 1868 ins Spiel gebracht hatte.131 Während Carl Bachem – in konstitutionellen Klischees gefangen – auf einer abschließenden Fixierung sämtlicher parlamentarischer Rechte insistierte,132 nahm August Bebel die These auf, „daß der Reichstag gegenwärtig ohne eine Verfassungsbestimmung das Recht habe, Sachverständige zu laden, um von ihnen Auskunft zu erhalten“. Kritisch bewertete der Sozialdemokrat, ob überhaupt jemand zum Erscheinen bereit wäre, wenn das Parlament nicht über Zwangsmittel verfüge. Jedenfalls könne man niemanden ohne Entschädigung vorladen und ihm zumuten, z. B. aus dem Rheinland oder aus den Ostprovinzen auf eigene Kosten anzureisen.133 d) Scheitern durch Diskontinuität Nach diesem aufschlussreichen Vorgeplänkel kam der Auer’sche Antrag nicht mehr auf die Tagesordnung und verfiel der Diskontinuität.134 Unterstellt, es wäre zu einer Abstimmung gekommen, hätte ein Bündnis der Sozialdemokraten und Deutsch-Freisinnigen selbst in dem Fall ihrer Unterstützung durch die Nationalliberalen, aus deren Reihen sich Heinrich v. Marquardsen wohlwollend geäußert hatte, keineswegs ausgereicht: Gemeinsam stellten diese drei Fraktionen nur ein gutes Drittel der Abgeordneten. Demgegenüber verfügten die Deutschkonservativen (73), die in ihrem „Tivoli-Programm“ wenig später die ausdrückliche Feind-

129 Weiter hieß es, dass die Reichsverfassung im „ewigen Wechsel der Verhältnisse und Anschauungen“ unangetastet bleiben müsse, damit nicht „in weiteren Kreisen des Volkes“ das Gefühl aufkeime, dass man sie „von heute auf morgen abändern“ könne wie jedes beliebige Gesetz (VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3292). Später betonte C. Bachem, sich „gar nicht davor [zu] fürchten, nach der einen oder anderen Richtung hin einer Erweiterung der Befugnisse des Reichstag zuzustimmen, wenn sie sachlich berechtigt“ sei. Dann müsse es aber gleichermaßen erlaubt sein, „in demselben Moment eine Erweiterung der Befugnisse des Bundesraths und anderer Faktoren anzustreben“ (S. 3295). 130 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3294. 131 s. 6.  Teil 2.  Kap. A. II. Den Rechtscharakter einer derartigen Befugnis verneinte etwa F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 38 f. 132 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3294. 133 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3295. 134 s. den Hinweis des Präsidenten Albert v. Levetzow in VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3297 sowie K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 11.

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schaft gegen „jeden Versuch, die Monarchie zugunsten eines parlamentarischen Regimentes zu beschränken“, bekunden sollten,135 die Deutsche Reichspartei (20) und das Zentrum (106), das sich zwar sozialpolitische Forderungen auf die Fahnen geschrieben hatte,136 das Enquête- und Untersuchungsrecht aber trotzdem ablehnte, über eine knappe Mehrheit von insgesamt 199 Mandaten. Mit der Zustimmung der Regierungen war ohnehin nicht zu rechnen. Das Ausscheren des Zentrums aus der Oppositionsphalanx beruhte auf seiner temporären Annäherung an Reichskanzler Caprivi, der in der Schulpolitik und mit der Ernennung Robert v. Zedlitz-Trützschlers zum preußischen Kultusminister einen Ausgleich mit dem politischen Katholizismus versuchte.137 Darüber hinaus waren die Anhänger des Zentrums schon früher nicht als Advokaten des Enquêteund Untersuchungsrechts aufgefallen. Obwohl der Entwurf zu Art.  73 „Charte Waldeck“ ausgerechnet von Peter Reichensperger stammte, passte ein parlamentarisches Selbstinformationsrecht nicht in ihr eher konservatives Staatsverständnis.138 Demgemäß hatte der katholische Politiker das Recht der Kammern 1848 auf die Befugnis beschränken wollen, „durch Vermittelung des Staats-Ministeriums die betreffenden Behörden zur Erledigung der an sie gelangenden Aufträge zu requiriren“.139 Wie in früheren Zeiten vermied die Reichstagsmehrheit jede weitere Debatte über den kontroversen Antrag, so dass seine Befürworter nicht einmal mehr die Möglichkeit erhielten, für das intrikate Recht öffentlich zu werben. 2. Die Anträge von 1907 und 1912 15 Jahre später unternahmen die Sozialdemokraten einen weiteren Anlauf: Unter fünfzehn Anträgen, die neben arbeits- und gewerbe-, sozial-, straf- sowie haftungsrechtlichen Forderungen auch verschiedene Verfassungsänderungen betrafen, fand sich der Entwurf eines Gesetzes, betreffend die Einsetzung von Reichstags-Kommissionen zur Untersuchung von Tatsachen, der wieder die For-

135 s. W. Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 1960, S. 79 des Programms von 1892. In ihrem Gründungsaufruf von 1876 (S. 68) legten die Deutschkonservativen „auf politischem Gebiete entscheidendes Gewicht auf die monarchischen Grundlagen [des…] Staatslebens und eine kräftige, obrigkeitliche Gewalt“. 136 s. schon Nr. 7 des Essener Programms vom 30. Juni 1870: „Beseitigung der sozialen Mißstände und Förderung aller Interessen des Arbeiterstandes durch eine gesunde christliche Gesetzgebung.“ (W. Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 1960, S.  216), und das Programm der Zentrumsfraktion im Reichstag vom März 1871: „Das moralische und materielle Wohl aller Volksklassen ist nach Kräften zu fördern“ (S. 221 f.). 137 Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 56, 889 ff. 138 Zur staatskonservativen Ausrichtung des Zentrums s. E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 51 f. 139 K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 78 (Hervorhebung nur hier).

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derung eines Art. 23a enthielt.140 Eine interessante Fußnote ist, dass dieser Antrag im Gesamtregister der Reichstagsverhandlungen nicht unter dem Stichwort „Enquête“, sondern unter „parlamentarische Kontrollkommission“ zu finden ist. Erfolg hatte man auch dieses Mal nicht: Der Antrag blieb im Plenum unbehandelt.141 Dasselbe Schicksal teilten die gleichlautenden Verfassungsänderungsanträge von 1907 und 1912.142 Die Sozialdemokratie verfügte nicht über ausreichendes poli­ tisches Gewicht, um eine Verfassungsänderung oder auch nur die parlamentarische Behandlung ihrer Anträge zu erzwingen. Durch erhebliche Wahlgewinne kam sie 1903 zwar auf rund 32 v. H. der Stimmen, erhielt aber aufgrund des Wahlrechts bloß 81 Mandate. Selbst als die Sozialdemokraten 1912 mit 110 Abgeordneten die stärkste Fraktion stellten, verfügten sie nicht über eine Mehrheit.143 3. Zwischenergebnis Egon Zweig urteilte rückblickend über den Antrag von 1891, dass es, „[a]b­ gesehen von dem taktischen Zweck, […] ein parlamentarisches Regime vorzu­ bereiten“, „in erster Linie“ darum gegangen sei, „den Reichstag in die Lage [zu] versetzen, durch Personen aus seiner Mitte an den Erhebungen über die soziale Lage bestimmter Bevölkerungsgruppen teilzunehmen und mit größerer Sachkenntnis und Gewissenhaftigkeit […] sein Votum abzugeben“. Der Wiener Jurist wähnte in der Debatte die „Note einer gewissen Enquetemüdigkeit“ zu finden, indem sich die „Redner verschiedener Parteien […] einig [gewesen wären], daß die Tragweite des parlamentarischen Untersuchungsrechtes geringer […] als fünfzig oder sechzig Jahre früher“ wäre. Der Reichstag habe deswegen auch in der Folgezeit auf ein Enquêterecht „verzichtet, in der Praxis jedoch sein Auskunftsbedürfnis […] realisiert, indem er mittels Gesetzes die Bildung einer Untersuchungskommission verfügte.“144 Richtig ist der erste Teil  dieser Analyse, indem es den Antragstellern um ein Enquêterecht ging, das dem Reichstag eine aktivere Rolle in der vermeint 140

Übereinstimmend mit dem Antrag aus der VIII.  Legislaturperiode sollte der Reichstag das Recht erhalten, „behufs seiner Information Kommission zur Untersuchung v. Tatsachen zu ernennen. Diese Kommissionen [sollten…] berechtigt [sein], Zeugen und Sachverständige – auch eidlich – zu vernehmen und überhaupt alle diejenigen Erhebungen zu veranstalten, die sie zur Klarstellung der Tatsachen für nötig erachte[te]n. Die Behörden [sollten…] gehalten [sein], diesen Kommissionen bei Ausübung ihrer Amtspflicht innerhalb der Grenzen ihrer Aufgaben die geforderte Unterstützung zu gewähren.“ Abschließend sah dieser Entwurf eine Entschädigung der Kommissionsmitglieder „für ihre Zeitversäumnisse und Auslagen“ vor, „deren Höhe reichsgesetzlich festgestellt“ werden sollte (VerhRT XI/2 (1905/06), Nr. 94, S. 1799 f.). 141 Vgl. das Register in VerhRT XI/2 (1905/06), S. 4461. 142 s. VerhRT XII/1 (1907/09), Nrn. 103, 104 S. 759 sowie das Register S. 9745 und VerhRT XIII/1 (1912/14), S. Nr. 76, S. 148 und das Register S. 9655 unter V. 143 s. zu den Wahlergebnissen T. Nipperdey, DtGesch 1866–1918 II, 1998, S. 522. 144 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (297 f.).

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lich an­brechenden Periode der Sozialgesetzgebung ermöglichen sollte. Trotzdem schwang in diesem Petitum aber wie bei früheren Gelegenheiten – zu denken ist z. B. an die Enquêten in der Ära Manteuffel145 – ein gutes Maß an Misstrauen gegen die Regierungen mit, auf deren Informationen man sich andernfalls hätte verlassen können. Die Vorbereitung eines parlamentarischen Regiments, die Egon Zweig als „taktischen Zweck“ des Antrags qualifizierte, deutet die zweite Funktion des parlamentarischen Selbstinformationsrechts in Gestalt politischer Kontrolluntersuchungen an. Freilich wäre es von einem solchen Instrument politischer Regierungskontrolle hin zu einem parlamentarischen Regierungssystem noch ein weiter Weg gewesen, obwohl ein Selbstinformationsrecht, mit dessen Hilfe sich die Regierungen öffentlich bloßstellen ließen, immerhin ein erster Schritt zu mehr parlamentarischer Mitsprache sein konnte. Auch der zweite Teil von Egon Zweigs Bewertung der Debatten, dass sich im Reichstag „Enquetemüdigkeit“ breit gemacht habe, scheint sich vordergründig kaum von der Hand weisen zu lassen. Anscheinend war die Mehrheit dazu bereit, sich weiterhin mit Regierungsauskünften etc. zu begnügen. Tatsächlich war die Reichsregierung in späteren Jahren verschiedentlich bemüht, die Volksvertreter durch gezielte Informationen für ihre Politik zu gewinnen.146 Angesichts dieses Anfluges eines kooperativeren Regierungsstils verspürte man anscheinend keinen dringenden Bedarf an einem „eigenen“ Enquête- und Untersuchungsrecht. Der eigentliche Grund für diese Enthaltsamkeit war aber wiederum, dass die Befürworter dieses Rechts nicht über die erforderliche Kraft verfügten, um seine verfassungsrechtliche Verankerung im Reichstag durchzusetzen. Ein Grund war die Fragmentierung der Opposition, deren „Mitglieder“ sich bestenfalls in der Ablehnung der Regierungspolitik einig waren. Das galt nicht nur für Sachfragen, sondern auch für das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht. Vorbehaltlose Befürworter waren bloß in den Reihen der Linksliberalen und der Sozialdemokratie zu finden. Dass die Nationalliberalen einer Forderung beschränkte Schützenhilfe leisteten, die sie in früheren Tagen als vollkommen nutzlos oder schädlich bekämpft hatten, ist ihrem Machtverlust zu verdanken. Vom Zentrum und den Konservativen Parteien war keine Unterstützung zu erwarten. Aber selbst wenn sich eine Reichstagsmehrheit für das Enquête- und Untersuchungsrecht zusammengefunden hätte, wäre mit Widerstand des Bundesrats zu rechnen gewesen, in dem wegen Art. 78 Abs. 1 RVerf 1871 schon die preußischen Vertreter über ein Vetorecht gegenüber Verfassungsänderungen verfügten. Die Zeichen standen also für die Aufnahme eines Selbstinformationsrechts alles andere als günstig. Ungeachtet dessen dürften die Vorstöße der Sozialdemokratie nicht vorgetäuscht gewesen sein, sondern tatsächlichen Wünschen entsprochen haben. 1890 bestand mit dem Beginn des „Neuen Kurses“, dem Ende der Sozialistengesetze und dem Beginn der Arbeiterschutzgesetzgebung unter Reichskanzler Caprivi eine geringe 145

s. 5. Teil 3. Kap. B. I. So für die Kolonialpolitik M. Grohmann, Exotische Verf., 2001, S. 157 ff.

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Hoffnung auf gouvernementales Entgegenkommen. Auch waren die Jahre von 1907 bis 1912 Phasen der Sozialgesetzgebung; die Dringlichkeit der zunehmend unabweisbaren Arbeiterfrage zeigte sich im Frühjahr 1912 in den Ruhrarbeiterstreiks.147 Die Sozialdemokratie versuchte also, die soziale Problematik und diesbezügliche Gesetzgebungstendenzen in den Dienst der alten linken Forderung eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts zu stellen. Vor dem Hintergrund der politischen Mehrheitsverhältnisse dürften die Verfassungsänderungsanträge dennoch auch auf eine öffentliche Wirkung hin berechnet gewesen sein. In diesem Sinne konstatierte Eduard Lasker in den 1870er Jahren zur Entwicklung des parlamentarischen Stils im Allgemeinen, dass man angefangen habe, „in den Parlamenten zu diskutieren, nicht um in diesen Versammlungen etwas zu erreichen, sondern um auf die Hörer draußen zu wirken und so für die Partei des Redners Stimmung zu machen“. Die Politik habe immer mehr die „Wählerschaft ins Auge [gefaßt…] und, vom Parlament aus, in Bearbeitung“ genommen.148 Eine derartige taktische Rücksichtnahme auf die Meinung des Publikums erklärt andererseits auch, warum die verschiedenen sozialdemokratischen Vorstöße nicht ausdrücklich zurückgewiesen, sondern durch stille „Nichtbehandlung“ erledigt wurden.

IV. Das Geschäftsordnungsrecht des Reichstags Verschiedene Instrumente, die ebenso einer Information wie der politischen Auseinandersetzung der Volksvertretung mit dem Gouvernement dienen konnten, sah die Geschäftsordnung vom 21. März 1871 vor. Ihre Wurzeln führten auf das autonome Recht des preußischen Abgeordnetenhauses zurück, das wiederum durch die Berliner und Frankfurter Nationalversammlung sowie die belgische Zweite Kammer beeinflusst war.149 1. Interpellation und Anfragen Das wichtigste Informationsinstrument, das auch der Kritik und Kontrolle bzw. der öffentlichkeitswirksamen Auseinandersetzung mit den Regierungen diente, war das parlamentarische Fragerecht. 147

E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S.  248, 1220, 1244 ff., 1249 ff.; T. Nipperdey, DtGesch 1866–1918 II, 1998, S. 699 ff., 727. 148 W. Cahn (Hg.), Laskers Nachlass I, 1902, S. 90 f. 149 Am 25. Februar 1867 übernahm der verfassungsberatende Reichstag das preußische Reglement mit verschiedenen, überwiegend redaktionellen Maßgaben. Anfang März 1867 erklärte der Reichstagspräsident nach dem Scheitern des Versuchs, eine Geschäftsordnung zu entwerfen, die ursprüngliche „Vorläufigkeit“ für obsolet. Wesentliche Änderungen folgten im Juni 1868 für das Vorberatungsverfahren. 1912 wurde das Interpellationsrecht reformiert und die „kleinen Anfragen“ wurden eingeführt. s.  zur Entwicklung J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 62 ff.

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a) Die Funktionen des Interpellationsrechts Während Georg Meyer das Interpellationsrecht ebenso neutral und allgemein wie zeitlos dahin charakterisierte, dass sich die Abgeordneten mit seiner Hilfe „diejenige Auskunft verschaffen [könnten…], welche für die Ausübung ihrer Funktionen erforderlich“ sei,150 schrieb der Straßburger Staatsrechtler Paul ­Laband dem Interpellationsrecht gleich drei Funktionen zu: Einmal erhalte „die Volksvertretung und infolge der Oeffentlichkeit ihrer Verhandlungen das ganze Volk über wichtige Vorgänge des inneren Staatslebens, über Pläne der Regierung für die Zukunft, über Vorbereitung wichtiger Gesetze und über auswärtige Verhältnisse eine authentische und offizielle Aufklärung und Information“. Die „Diskussion [könne…] zugleich eine Kritik der Regierung enthalten und zu ihrer Kontrolle dienen“.151 Ebenso gut könne sich das Gouvernement auf eine „bestellte Interpellation“ hin „öffentlich über eine Angelegenheit, namentlich der auswärtigen Politik, […] äußern und über gewisse Verhältnisse, Absichten […] usw. eine Erklärung [abgeben…], deren eigentlicher Destinatär nicht das Parlament, sondern ein Dritter, insbesondere eine auswärtige Regierung“ sei.152 Zu guter Letzt sei das Interpellationsrecht ein Obstruktionsmittel der Opposition gegenüber der parlamentarischen Mehrheit, mit dessen Hilfe eine starke Minderheitsfraktion den „Fortgang der parlamentarischen Geschäfte, die Erledigung einer von ihr bekämpften Gesetzesvorlage usw. […] hemmen“ könne, ohne dass sich dieser „Mißbrauch“ unterbinden lasse.153 Das Interpellationsrecht war nach dieser Interpretation für die Volksvertretung oder ihre Minderheiten noch vor einer Informationsmöglichkeit ein politisches Mittel, um mit der Regierung oder dem parteipolitischen Gegner einen öffentlichen Streit vom Zaun zu brechen. Angesichts dessen urteilte der Abgeordnete der Fortschrittlichen Volkspartei Wilhelm Loewe-Calbe treffend, dass der „Charakter der Interpellation, der ihr im parlamentarischen Leben beiwohnen soll[e]“, „mit der bloßen Nachfrage: ist denn das oder das geschehen? […] gemißbraucht“ werde, weil dieses Instrument für „solche Punkte [maßgeschneidert sei…], bei denen eine schnelle Herbeiführung eines Meinungsausdruckes über irgend eine Angelegenheit im Hause nothwendig“ sei.154 b) Das ursprüngliche Interpellationsrecht des Reichstags § 30 GO-RT 1871 gestaltete die Interpellation als Minderheitsrecht aus, sah aber zum „Schutz der Geschäftsökonomie“ (Paul Laband) ein Quorum von 30 Abge-

150

G. Meyer, DtStaatsR5 1899, S. 267 f. P. Laband, DJZ 1909, Sp. 677 (678). 152 P. Laband, DJZ 1909, Sp.  677 (679). Zu „bestellten Interpellationen“ s. A. Gröber in VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 1656. 153 P. Laband, DJZ 1909, Sp. 677 (679 f.). 154 VerhRT I/3 (1872), S. 934. 151

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ordneten vor.155 Anfragen an den Bundesrat waren dem Reichstagspräsidenten „bestimmt formulirt“ zu übergeben, der sie dem Reichskanzler abschriftlich mitteilte und diesen aufforderte, sich in der nächsten Sitzung zu erklären, „ob und wann er die Interpellation beantworten werde“. Weil das Interpellationsrecht nicht verfassungsrechtlich abgesichert war, korrespondierte dem Fragerecht auch im 20. Jahrhundert noch keine Antwortpflicht.156 Allenfalls konnten politische Erwägungen die Reichsregierung dazu nötigen, „die Interpellation zu beantworten oder wenigstens die Ablehnung der Beantwortung zu begründen“.157 Ließ sich der Reichskanzler auf eine Beantwortung ein, konnte der Interpellant seine Anfrage ausführen. Andernfalls unterblieb die „formelle Begründung“.158 Auf die Antwort oder ihre Ablehnung folgte auf Antrag von 50 Abgeordneten eine „sofortige Besprechung des Gegenstandes“. Weitere Anträge, sei es in der Sache oder auf Missbilligung, waren unzulässig. Den Abgeordneten stand es frei, den Gegenstand in Form eines selbständigen Antrags weiterzuverfolgen (§ 31 GO-RT  1871). Diese Regelungen entsprachen der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses in der Fassung von 1862.159 c) Die Geschäftsordnungsnovelle von 1912 Im Mai 1912 wurde das parlamentarische Interpellationsrecht novelliert, mit Sicherungen gegen obstruktive Minderheiten versehen, und  – nach vielfachem ausländischem Vorbild160 – um die neue Form der „Anfragen“ erweitert.161 Zuvor hatten Vertreter der Sozialdemokraten und der Freisinnigen Volkspartei schon im November 1908 versucht, „die Geschäftsordnung des Reichstags einer durchgrei-

155 P. Laband, StaatsR I5 1911, S. 308 und ähnl. F. Thudichum, VerfassungsR, 1870, S. 213. Krit. gegenüber einem Quorum J. Hatschek, InterpellationsR, 1909, S. 155 f. 156 Vgl. P. Laband, StaatsR I5 1911, S. 307; ders., DJZ 1909, Sp. 677 (679) und Sp. 680, der sich auch de lege ferenda gegen eine Antwortpflicht aussprach, weil diese, „namentlich wenn die Interpellation auswärtige Angelegenheiten [betreffe…], Nachteile für das Reich und eine Verlegenheit für die Regierung zur Folge haben“ könne. Ferner sei „ihre praktische Bedeutung […] problematisch, denn der Minister [könne…] nicht verhindert werden, eine ausweichende, unbestimmte, mehrdeutige Antwort zu geben, mit vielen Worten nichts zu sagen“. s.  auch F. Thudichum, VerfassungsR, 1870, S. 213; M. v. Seydel, RVerf2 1897, S. 203; ders., AnGVS 1880, 352 (430); G. Meyer, DtStaatsR5 1899, S. 400; K. Perels, ReichstagsR,1903, S. 65 sowie J. Hatschek, InterpellationsR, 1909, S. 161 ff. auch zu einer „Reaktionspflicht“. 157 P. Laband, DJZ 1909, Sp. 677 (679). Ähnl. äußerte sich C. J. A. Mittermaier, in: Rotteck/ Welcker (Hg.), Staatslexikon VI3 1862, S.  422, der hoffte, dass den Interpellierten „eigenes Interesse […] oft antreiben [werde,] zu antworten, damit nicht sein Schweigen als Zugeständnis oder als Schwäche ausgelegt werde“. 158 K. Perels, ReichstagsR,1903, S. 66. 159 s. zu der Novelle Simson/Forckenbeck 5. Teil 4. Kap. D. 160 Berichterstatter Gröber sprach von Frankreich, Italien, Spanien, Belgien Holland und Portugal (VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 1654). 161 Vgl. den Kommissionsbericht in VerhRT XIII/1 (1912/14), Nr. 367, S. 309 ff.

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fenden Reform zu unterziehen“.162 Ihre Forderungen wurden gemeinsam mit anderen Anträgen Anfang Dezember 1908 der Geschäftsordnungskommission überwiesen.163 Auf Bitte dieses Gremiums publizierte der Posener Staatsrechtler Julius Hatschek vorab rechtsvergleichende Überlegungen zu Interpellationsrecht und Ministerverantwortlichkeit.164 Trotzdem wurde die Angelegenheit zunächst nicht weiterverfolgt.165 Die gut dreieinhalb Jahre später folgende Geschäftsordnungsnovelle führte in § 31a GO-RT  1912 das Recht jedes einzelnen Abgeordneten ein,166 schriftliche „Anfragen an den Reichskanzler [zu] stellen“, die „sich auf die Bezeichnung der Tatsachen, über welche Auskunft gewünscht [werde…], beschränken“ mussten, mit anderen Worten also insbesondere keine politische Kritik enthalten durften. Der Präsident übermittelte dem Reichskanzler diese Anfragen und nahm sie auf die Tagesordnung. Nach § 31b GO-RT  1912 durfte dienstags und donnerstags die erste Sitzungsstunde „auf die Anfragen verwendet werden“, die in der „Reihenfolge des Verzeichnisses […] aufgerufen“ und durch den jeweiligen Fragesteller verlesen wurden. Eine Debatte über die Antwort des Reichskanzlers war ebenso unzulässig wie die Stellung eines Antrags zur Sache. Der Fragesteller konnte aber zur „Ergänzung oder Berichtigung der Anfrage […] das Wort verlangen“. Anfragen, die nicht an dem festgesetzten Termin erledigt wurden, waren nur zu berücksichtigen, wenn der Fragesteller „ihre Erledigung in der nächsten für Anfragen vorgesehenen Sitzung“ vor dem Schluss schriftlich verlangte. Gemäß § 31c GO-RT 1912 konnte er sich aber auch „jederzeit […] mit einer schriftlichen Antwort begnüge[n]“. Selbst dieses relativ zahme Fragerecht war heftig umstritten. Noch vor der Debatte kündigten die Regierungen an, sich nicht an den Verhandlungen zu beteiligen, weil der Reichstag „seine Geschäftsordnung allein zu regeln“ habe. Dieser taktische Boykott sollte jeden Anschein verhindern, dass man sich rechtlich binden (lassen?) wollte. In diesem Sinne betonte der Staatsminister und Staatssekretär des Innern Clemens Delbrück unter dem Bravo der Rechten, „daß die Geschäftsordnung einseitiges Recht nur für den Reichstag und seine Mitglieder“ schaffen könne. Eine mit der „Beschränkung der verfassungsmäßigen Rechte des Kaisers, der verbündeten Regierungen und des Reichskanzlers“ verbundene „Erweiterung der verfassungsmäßigen Rechte des Reichstags“ hielt er  – zu Recht  – für ausgeschlossen. Trotzdem erkläre sich der Reichskanzler grundsätzlich dazu bereit, kurze Anfragen künftig „unter Wahrung des Rechtes der Ablehnung im einzel-

162

s. VerhRT XII/1 (1907/09), Nr. 1039, S. 5832, Nr. 1064, S. 6025 (Zitat). VerhRT XII/1 (1907/09), S. 5939, 5975. 164 J. Hatschek, InterpellationsR, 1909 mit Abdruck des Anschreibens Junck. 165 Die Änderungsanträge der Kommission blieben zunächst unerledigt. s. aus dem Sach- und Sprechregister für die I. Session der 12.  Legislaturperiode, VerhRT XII/1 (1907/09), B. Geschäftsführung und Geschäftsordnung, Nr. 8, S. 9747. 166 Vgl. A. Gröber, VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 1656. 163

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nen Falle“ beantworten zu lassen, sofern „ihr Gegenstand zur verfassungsmäßigen Kompetenz des Reichs [gehöre…] und nicht ein schwebendes Gerichts-, Verwaltungs- oder Disziplinarverfahren“ betreffe.167 Auch aus parlamentarischen Reihen regte sich Widerstand. Der Deutschkonservative Hermann Kreth beschwor die Gefahr, „daß die Rechte des Reichstags auf Kosten der Autorität der Regierung erweitert werden“ könnten, wenn man von der Regierung verlange, „an zwei Tagen der Woche […] zu erscheinen […] und außerhalb der Tagesordnung Rede und Antwort zu stehen“. Eine derartige „Verschiebung der Verhältnisse“ setze eine Verfassungsänderung voraus. Wohl im Sinne der Vereinbarungslehre fuhr Hermann Kreth fort, dass man die Regierungen zuvor wenigstens habe an den Kommissionsberatungen beteiligen müssen.168 Sarkastisch titulierte der Regierungsrat a. D. die „Kleinen Anfragen“ als potentielle „Bereicherung [des…] parlamentarischen Wesens“, indem man endlich „mit dem leichteren Grade der parlamentarischen Tortur“ beginnen könne: Künftig sei es möglich, „irrige Meldungen der Presse […] frühzeitig aufzuklären“. Die Regierung könne „Ereignisse öffentlich […] erörtern, die [die…] Beziehungen zu den anderen Staaten“ beträfen. „Richtig ausgestaltet und […] ausgeübt“ erhoffte sich der Konservative eine „handliche Form für den Gedankenaustausch des Reichstags mit der Regierung“. Geradezu prophetisch ist seine Sorge, dass künftig „alle Kleinigkeiten, die im Wahlkreise eine gewisse Bedeutung [hätten…], alle diese Lokalschmerzen […] vorgebracht werden könnten“. Um einen „Wettlauf“ der Abgeordneten zu verhindern, forderte er, dass „Gegenstände von allgemeiner Bedeutung“ tangiert sein müssten.169 Außerdem nahm der Abgeordnete Delbrücks Forderungen auf, das Fragerecht auf die „Zuständigkeit des Reichs“ und auf Anfragen zu beschränken, die kein „schwebendes Gerichts-, Verwaltungs- oder Disziplinarverfahren“ beträfen.170 Gegenüber diesen Sorgen beschwichtigte der Sozialdemokrat Georg Ledebour, dass bloß die Form der „Kleinen Anfragen“ neu sei.171 An der „Einschränkung des Fragerechts auf den Fragesteller“ kritisierte er nicht zu Unrecht, dass man faktisch einer „bestimmten Partei“ für die Sitzung das „Fragemonopol“ einräume. Sämtliche anderen Parteien würden damit gezwungen, ähnliche Fragen anzumelden oder später zu stellen. Seine Forderung, eine derartige Frageninflation zu vermeiden, indem man jedem Abgeordneten eine Ergänzung gestatte, wurde trotzdem nicht aufgenommen.172 Neben dem Anfragerecht blieb auch das Interpellationsrecht erhalten; es wurde aber teilweise neugefasst: Formal waren Interpellationen, denen „kurze Erwägungsgründe beigefügt werden“ konnten, künftig an den Reichskanzler zu richten (§ 32 Abs. 1 GO-RT 1912). Das Procedere blieb bis auf die Neuerung gleich, dass 167

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 1653 f. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 1659. 169 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 1660. 170 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 1661. 171 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 1657. 172 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 1658. 168

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die Interpellationen auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung zu nehmen waren (§ 32 Abs. 2 GO-RT 1912). § 33 Abs. 1 Satz 2 GO-RT 1912 sah eine sofortige Besprechung auf Antrag von mindestens 50 anwesenden Mitgliedern nicht mehr ausschließlich nach der Beantwortung oder ihrer Ablehnung, sondern ebenfalls dann vor, wenn der Reichskanzler schlicht schwieg. Eine Debatte konnte gemäß § 33 Abs.  2 GO-RT  1912 weiterhin zugelassen werden, wenn der Reichskanzler für die Beantwortung keinen oder einen Zeitpunkt in mehr als zwei Wochen nannte. Sollte eine Unzahl an Anfragen die „ordnungsgemäße Erledigung der Geschäfte des Reichstags“ unmöglich machen, konnte das Plenum die „Verhandlungen über Interpellationen auf einen bestimmten wöchentlichen Sitzungstag beschränken“ (§ 33b GO-RT 1912). Mit Julius Hatscheks Worten wollte man mit dieser Regelung die „Majorität vor einer obstruierenden Tätigkeit der Minorität mittelst Interpellationen“ schützen“.173 Die anderen Modifikationen dienten ersichtlich dazu, die Sache auch im Falle einer dilatorischen Behandlung oder vollständigen Obstruktion durch den Kanzler im Plenum zügig zur Sprache bringen zu können. Das Interpellationsrecht verlor damit einen Teil seiner Informationsfunktion und wurde mehr zu einem Mittel politischer Auseinandersetzung. Die interessanteste Neuerung war das Recht von 30 anwesenden Abgeordneten, anlässlich der Besprechung die „Feststellung“ zu beantragen, dass die Behandlung der betreffenden Angelegenheit durch den Reichskanzler der „Anschauung des Reichstags“ entspreche oder nicht. Auf Antrag desselben Quorums war die Beschlussfassung auf die nächste Sitzung zu vertagen. Dieses Moratorium ge­ stattete es sämtlichen Parteien, vor der Abstimmung ihre parlamentarischen Kräfte zu mobilisieren, damit ein Vertrauensvotum oder Missbilligungsbeschluss nicht von zufälligen Mehrheiten abhing. „Andere Anträge zur Sache“ blieben unzulässig (§ 33a GO-RT 1912). Mit dieser Neuerung nahm der Reichstag das allgemeine, ungeschriebene Resolutionsrecht in seine Geschäftsordnung auf, das schon dem Zollparlament und dem preußischen Abgeordnetenhaus zugestanden hatte. Es ermöglichte den Abgeordneten nicht nur, „Wünschen und Anschauungen gegenüber dem Bundesrat oder dem Reichskanzler […] Ausdruck zu geben“,174 sondern mutierte – mit dem Interpellationsrecht kombiniert – zu einem öffentlichkeitswirksamen Mittel parlamentarischer Regierungskontrolle. Dieses „Recht der motivierten Tagesordnung im Anschluß an die Interpellation“ kompensierte ein Stück weit den Mangel an Regierungsverantwortlichkeit, der den deutschen Spätkonstitutionalismus prägte.175 Zum Verhältnis beider Frageinstitute erläuterte der Berichterstatter der Geschäftsordnungskommission Adolf Gröber (Zentrum), der 1909 in der württembergischen Zweiten Kammer einen umfangreichen Bericht über die Geschäfts­ 173

In diesem Sinne J. Hatschek, InterpellationsR, 1909, S. 151. G. Meyer, DtStaatsR5 1899, S. 400. Zum preußischen Abgeordnetenhaus s. L. v. Rönne, PrStaatsR I/12 1864, S. 366 in Anm. 4 sowie ders., PrStaatsR I/22 1864, S. 318 in Anm. 4. 175 Vgl. J. Hatschek, InterpellationsR, 1909, S. 148 f., 159 f.

174

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

ordnungsrevision erstattet hatte,176 dass „die Anfragen […] Auskunft über Tatsachen herbeiführen [sollten], ohne daß darüber eine Besprechung und vollends eine Beschlußfassung erfolgen“ könne. Dagegen sei „bei der Interpellation das Wesentliche gerade die Besprechung und Zurredestellung der Regierung“. Gegenüber diesem konfliktträchtigen Instrument hatten die Anfragen den Vorzug einer „Vereinfachung des Apparats, um über eine Tatsache Auskunft zu erhalten“.177 2. Das Adressrecht Der Reichstag behielt in seiner Geschäftsordnung auch das Adressrecht als die „klassische“ Möglichkeit früher Ständeversammlungen bei, um sich mit Wünschen an das Gouvernement zu wenden oder gegenüber der Regierung zu remonstrieren. § 64 GO-RT 1871 regelte das Verfahren bei Adressentwürfen an den Kaiser in Anlehnung an die Behandlung „bei allen anderen Anträgen“. Die Vorberatungskommissionen wurden aus dem Präsidenten oder Vizepräsidenten sowie 21 in den Abteilungen gewählten Abgeordneten gebildet. Lag noch kein Entwurf vor, präsentierte eine Kommission dem Reichstag ihren Vorschlag – abweichend von der allgemeinen Regel „ohne weiteren Bericht“. Weil das Adressrecht nicht in der Reichsverfassung verankert war, war der Kaiser nicht verpflichtet, eine Adresse entgegenzunehmen, geschweige denn sie zu beantworten.178 3. Die Reichstagskommissionen Wie im preußischen Abgeordnetenhaus oblag die Vorberatung der parlamentarischen Beratungsgegenstände auch im Reichstag den Kommissionen. Zu diesem Zweck gestattete § 24 GO-RT  1871 („können“) einerseits die Bildung von sechs „besondere[n] Commissionen“ für „die Geschäfts-Ordnung, die eingehenden Peti­tionen, den Handel und die Gewerbe, die Finanzen und Zölle, das Justizwesen [und…] den Bundeshaushalts-Etat“; andererseits konnte der „Reichstag für einzelne Angelegenheiten die Bildung besonderer Commissionen beschließen“. Für Bundesratsvorlagen und Anträge aus der Mitte des Reichstags, die von mindestens 15 Mitgliedern unterstützt werden mussten (§ 20 GO-RT  1871), sahen die §§ 15 ff. GO-RT  1871 ein einheitliches Verfahren vor. Gesetzentwürfe wurden schon seit 1868 in drei Beratungen behandelt. Die erste Lesung diente einer „allgemeine[n] Diskussion über die Grundsätze des Entwurfs“. Abänderungsvorschläge waren vor dem „Schluß der ersten Berathung“ unzulässig. Im Anschluss 176

BeilWürtt2K 1909 CV, Beil. 372. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 1655. In vergleichbarer Weise charakterisierte J. Hatschek, InterpellationsR, 1909, S. 139 ff., 145 ff., 148 ff. das Interpellationsrecht schon 1909 als Kontrollinstrument und Mittel zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung. 178 P. Laband, StaatsR I5 1911, S. 308; G. Meyer, DtStaatsR5 1899, S. 400. 177

2. Kap.: Schlaglichter der Verfassungsentwicklung

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konnte das Plenum eine Kommission mit der weiteren Vorberatung betrauen (§ 16 GO-RT 1871). Überhaupt hatte der Reichstag nach dem Schluss der ersten Lesung „in jedem Stadium der folgenden Berathung“ das Recht, den Gesetzentwurf vor dem Beginn der Abstimmung ganz oder teilweise an eine Kommission zu verweisen (§ 19 GO-RT 1871). In der zweiten Lesung wurde einzeln über jeden Artikel beraten und Beschluss gefasst. Um die Minderheit zu Wort kommen zu lassen, bestand in dieser Phase kein Unterstützungsquorum für Abänderungsvorschläge.179 Fiel der vollständige Entwurf in der zweiten Lesung durch, fand keine weitere Beratung statt (§ 17 GO-RT 1871). Andernfalls stellte der Präsident gemeinsam mit den Schriftführern die bisherigen Beschlüsse für die dritte Lesung zusammen (§ 17 Abs. 4 und 5 GO-RT 1871). Amendements bedurften jetzt einer Unterstützung durch 30 Mitglieder. Beraten wurde zunächst wieder über die „Grundsätze des Entwurfs“ und dann über die einzelnen Bestimmungen. Zum Schluss wurde „über die Annahme oder Ablehnung des Gesetz-Entwurfs abgestimmt“ (§ 18 GO-RT  1871). Motionen aus der Mitte des Reichstags, die keine Gesetzentwürfe betrafen, brauchten bloß einmal beraten zu werden (§ 21 GORT 1871). Für Anträge des Bundesrates galt dies nur, wenn das abgekürzte Verfahren mit seiner Zustimmung ausdrücklich beschlossen wurde (§ 23 GO-RT 1871). Der preußischen Parlamentspraxis entlehnte man außerdem das Institut der „freien Kommission“, obwohl die Geschäftsordnung des Reichstages keine entsprechenden Regelungen vorsah. Diese Ausschüsse hielten sich in ihren Beratungen – anders als die übrigen Kommissionen – nicht streng an die für das Plenum geltenden Regeln. Indem sie weder die Zahl der Lesungen noch die Beschränkungen des Rederechts beachten mussten, eigneten sie sich für einfachere und vertraulichere Debatten. Die Mitglieder wurden nicht gewählt, sondern mit Genehmigung des Hauses durch den Präsidenten ernannt. – Anfangs zogen die „freien Kommissionen“ nähere Informationen über einzelne Haushaltsabschnitte ein oder verhandelten mit Vertretern der Regierungen. Weil sie keine geschäftsordnungsrechtliche Grundlage besaßen, stand ihnen nicht das Recht zu, dem Plenum mit ihrem Bericht einen Antrag zu unterbreiten. Später kamen freie Kommissionen auch bei Gesetzesberatungen oder zur Informationsbeschaffung von der Regierung in auswärtigen Angelegenheiten zum Zuge. Als sich im 20. Jahrhundert die Auffassung durchsetzte, dass die vertraulich tagenden Kommissionen von der Geschäftsordnung des Plenums abweichen dürften, wurde dieses Institut überflüssig.180

179 Zur Begründung hieß es, „daß es sich um möglichst sorgfältige Vorbereitung endgiltiger Beschlüsse und als […] ein Mittel hierzu um den Schutz der Minorität bei der Einbringung und Vertretung von Anträgen handele“. s. dazu den Bericht der Geschäfts-Ordnungs-Commission über die Anträge der Abgeordneten: 1. Twesten und Lasker (Nr. 14), 2. Bähr (Nr. 18), 3. Duncker und Genossen (Nr. 19A), 4. Runge und Genossen (Nr. 19B), 5. Heubner und Genossen (Nr. 19C), und Grafen zu Münster (Nr. 19D) in VerhNdtRT I/1868, Nr. 55, S. 177. 180 Zum Ganzen s. J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 234 ff. m. w. N. aus der Praxis.

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

V. Zwischenergebnis Ein Enquête- und Untersuchungsrecht des Reichstags wurde bis zum Ende der Monarchie nicht in der Reichsverfassung festgeschrieben. Grund dafür war einmal die voraussichtliche Ablehnung durch die verbündeten Regierungen, deren Zustimmung im Bundesrat gemäß Art. 78 Abs. 1 RVerf 1871 Conditio sine qua non einer Verfassungsänderung war. Vor allem aber scheiterten die verschiedenen linken Vorstöße, in einem Art. 23a RVerf 1871 ein relativ robustes parlamenta­ risches Selbstinformationsrecht zu verankern, an den parlamentarischen Mehrheiten. Konservative und Zentrum waren keine Freunde derartiger Befugnisse. Die Einstellung der Nationalliberalen changierte je nachdem, ob sie sich in der Opposition befanden oder die Politik der Regierung unterstützten. Ihr politisches Taktieren führte bei den verschiedenen Gelegenheiten, bei denen über eine entsprechende Verfassungsänderung beraten wurde, zu grundverschiedenen Voten über Sinn, Zweck, Stoßrichtung und Durchschlagkraft des parlamentarischen Selbstinformationsrechts. Das Schrifttum nahm die negativen Einschätzungen aus den Verfassungsberatungen und Änderungsdebatten, die bestens mit dem negativen Urteil über Art. 82 PrVerf 1850 kompatibel waren, bereitwillig auf. Ebenso wenig wie sein „großer Bruder“ in die Verfassung aufgenommen wurde, fand das „natürliche Enquêterecht“, also die Befugnis, freiwillige Zeugen und Sachverständige zu vernehmen, Eingang in die Geschäftsordnung. Obwohl derartige Befugnisse im Schrifttum diskutiert wurden, hat der Reichstag – soweit ersichtlich  – niemals auf sie zurückgegriffen.181 Im Norddeutschen Bund und Kaiserreich baute der Reichstag deswegen auf andere Instrumente, um sich zu informieren oder mit der Regierung ins Gericht zu gehen. Insbesondere die Aufnahme der „Kleinen Anfrage“ in die Geschäftsordnung und die Aufwertung des Interpellationsrechts im Jahre 1912, durch die das relativ harmlose parlamentarische Fragerecht mit der Befugnis zum Missbilligungsbeschluss verknüpft wurde, dienten – mit unterschiedlichem Gewicht – diesen beiden Zielsetzungen.

3. Kapitel

Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich A. Die Phase der Regierungsenquêten (1873 bis 1890) Ohne parlamentarisches Enquête- und Untersuchungsrecht wurden mehr oder minder ausgedehnte Sachstandserhebungen durch die Regierungen veranstaltet, wenn es galt, umfangreiche legislative Projekte vorzubereiten. Als repräsentative Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit können die Regierungsenquêten zur 181 Der sozialdemokratische Vorstoß anlässlich der Rüstungsenquête scheiterte. S.  6.  Teil 3. Kap. B. IV.

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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Frauen- und Kinder- (1873 bis 1877) sowie zur Sonn- und Festtagsarbeit (1885 bis 1887), die Erhebungen über die Eisenbahngütertarife (1875) und die Sachverständigenanhörungen zur Vorbereitung eines Patentgesetzentwurfs (1876) bzw. die Tabak­enquête (1878) dienen.

I. Sozialenquêten 1. Lage der Arbeiterschaft (1873 bis 1877) Waren es in den Tagen der Märzrevolution die heimgewerbetreibenden Weber und Spinner, deren schweres Elend näher untersucht und gelindert werden sollte, rückte mit dem Fortschreiten der Industrialisierung zunehmend die Arbeiterschaft in den Fokus des Interesses. Zwischen 1848 und der Reichsgründung wuchs allein in Preußen der Anteil der Beschäftigten in Industrie und Bergbau auf beinahe 31 v. H. an. Die prekäre Lage des Industrieproletariats war durch Wohnungsnot und Mietwucher, allgemein schlechte Lebensbedingungen und das Fehlen jeglicher sozialer Absicherung geprägt; selbst Frauen und Kinder mussten unter obszönen Bedingungen mit zum Familienunterhalt beitragen.182 a) Sonn- und Feiertagsarbeit Vor diesem Hintergrund nahm der Reichstag im Frühjahr 1873 verschiedene Bittschriften zum Anlass, um die Regierungen zu einer Sozialenquête aufzufordern. Unter dem 25. April 1873 berichtete die Petitionskommission u. a. von dem Gesuch eines ostdeutschen Pastors, der unter dem Eindruck der „Gräuel unter der Herrschaft der Kommune in Paris“ und einer „Zunahme der Strikes und andere[r] Uebelstände“ verlangte, an den „heiligen Tagen“ sämtliche Arbeit, aber auch alle „mit der Ehre Gottes und der christlichen Volkssitte und Volkswohlfahrt unvereinbare öffentliche Lustbarkeiten“ zu verbieten. Mehr Gewicht als diesem Plädoyer für den „puritanischen Sonntag“ maß die Petitionskommission einer „mit Tausenden von Unterschriften bedeckt[en]“ Bittschrift auf „Verbesserung der Gesetzgebung zum Schutze der arbeitenden Klasse“ bei.183 Damit sich die Volksvertretung aber der Frage, „‚wie sieht’s im Lande aus, und welche Uebelstände des physischen, des geistigen, des sittlichen Lebens sind erkennbar als Folgen einer etwanigen gewohnheitsmäßigen Ueberlastung der gewerblichen Arbeiter?‘“, überhaupt gründlich annehmen könne,184 verlangte die 182

H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte III2 2006, S. 141 ff. VerhRT I/4 (1873), Nr. 60, S. 351 f. 184 So die Empfehlung des Referenten, der in der Kommission anregte, die Petitionen mit dem Ersuchen an den Reichskanzler zu überweisen, „diejenigen Erhebungen, welche für Beurtheilung der Angemessenheit und Nothwendigkeit eines gesetzlichen Schutzes der im gewerblichen Betriebe beschäftigten Arbeiter, namentlich der Frauen und Minderjährigen, gegen 183

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

Kommission, die „Petitionen dem Reichskanzler mit dem Ersuchen zu überweisen, […] diejenigen Erhebungen, welche für Beurtheilung der Angemessenheit und Nothwendigkeit eines gesetzlichen Schutzes der in den Fabriken beschäftigten Frauen und Minderjährigen gegen sonntägliche Arbeit, sowie gegen übermäßige Beschäftigung an den Werktagen erforderlich [seien…], zu veranlassen und deren Ergebnisse dem Reichstage mitzutheilen“.185 Ende April 1873 sprach sich die „große Majorität des Hauses“ trotz Meinungsverschiedenheiten, wie der sozialen Frage am Besten zu begegnen sei,186 für den Kommissionsantrag aus.187 Allein Moritz Mohl, mittlerweile als freier wirtschaftswissenschaftlicher und politischer Schriftsteller tätig, sprach sich gegen eine Untersuchung aus  – einmal, um die Politik nicht dem Pietismus auszuliefern, zum anderen, weil weder Notwendigkeit noch Recht bestünden, um in die Arbeitsverhältnisse einzugreifen. Eine „allgemeine Enquete über alle Gebiete des Gewerbewesens“ lehnte er als regelrechtes „Monstrum“ ab, das kein Mensch bewältigen könne.188 Diesen Einwand verwarf Franz Gustav Duncker; der Fortschrittspolitiker, dessen „Augenmerk“ laut Georg Hirths Parlamentsalmanach „von früh an auf die Verbesserung der Lage der arbeitenden Classen […] gerichtet“ war,189 hielt entsprechende Sorgen für unbegründet, wenn man die Enquête nur dem Antrag gemäß auf eine „ganz specielle, eng begrenzte Frage“ limitiere.190 Demgegenüber wollte der gemäßigte Konservative Otto v. Helldorff die Erhebung auf sämtliche Arbeiterklassen ausdehnen, weil Verbesserungen zugunsten von Minderjährigen und Frauen jeden angingen. Statt dem Reichstag lediglich die Enquêteergebnisse zu präsentieren, sollten die Regierungen schon erwägen, wie man „zur Abhülfe allgemein verbreiteter Mißstände“ vorgehen könne. Von einer Erhebung, die nicht „auf dem gewöhnlichen büreaukratischen Wege“ einer „Berichterstattung der Unterbehörde“ vor sich gehe, versprach sich der konservative Politiker heilsame Nebenwirkungen für die Verwaltung, die keineswegs über die „volle Kenntniß“ der „technischen Verhältnisse und des Gewerbebetriebs“ verfüge. Im Interesse einer dauerhaften Besserung schlug er eine permanente „Beobachtung“ der Lage durch „ständige Organe“ vor.191 sonntägliche Arbeit, sowie gegen übermäßige Beschäftigung an den Werktagen erforderlich [seien…], zu veranlassen“ und auf dieser Grundlage dann zu entscheiden, ob gesetzgeberische Schritte erforderlich seien (VerhRT I/4 (1873), Nr. 60, S. 354, 356). 185 s. dazu VerhRT I/4 (1873), Nr. 60, S. 357. 186 s. dazu T. Nipperdey, DtGesch 1866–1918 I, 1998, S. 335 ff. 187 VerhRT I/4 (1873), S. 405. 188 VerhRT I/4 (1873), S. 399 ff. 189 G. Hirth, Parlaments-Almanach9 1871, S. 177. 190 VerhRT I/4 (1873), S. 402. 191 VerhRT I/4 (1873), S. 396 f. Passend dazu erklärte R. v. Delbrück, dass die preußische Regierung selbst angeregt habe, „eine Enquete zu veranstalten, […] weil in Beziehung auf diese sehr vielseitige und sehr von lokalen Verhältnissen beeinflußte Frage lediglich aus der schriftlichen Vernehmung der betheiligten Provinzialbehörden schwerlich ein allseitig genügendes Material zu erheben“ sei (VerhRT I/4 (1873), S. 398 f.).

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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Diesen Gedanken griff der Nationalliberale Egmont Websky auf und forderte den Präsidenten des Reichskanzleramtes auf, „einen eigenen Reichsbeamten lediglich für diesen Zweck […] zu bestimmen, ihn zu veranlassen, zunächst in die Fabrikdistrikte zu gehen, um die Verhältnisse genau kennen zu lernen, […] die Fragestellung genau zu machen und sich dann die Persönlichkeiten zu suchen, die aus dem ganzen Reiche ihm die Antworten auf diese Fragestellung geben könn[t]en“. Dem Unternehmer Websky schwebte eine dauerhafte Institution, ein „bleibendes Amt“ vor; eine bloß „vorübergehende Kenntnißnahme aller einschlagenden Fragen“ hielt er weder für die „Fortsetzung der Gesetzgebung“ noch für die Aufsicht über ihre Ausführung für ausreichend.192 Namens der Fortschritts­ partei propagierte Franz Gustav Duncker den dritten Weg einer gemischten Kommission „aus Beamten, aus Sachverständigen, aus Arbeitnehmern und Arbeitgebern“. Statt „neuer bureaukratischer Organe“ sollten paritätisch besetzte „lokale Organisationen“ die „jetzt sich feindlich gegenüberstehenden Klassen der Gesellschaft wieder dauernd in lebendige Berührung […] bringen“. Längerfristig dachte der Berliner Buchhändler auch an „Einigungsämter“ für die „Lohnfrage“.193 Forderungen, die soziale Frage nach dem Vorbild der revolutionären Parlamente in Frankfurt am Main oder Berlin selbst zu untersuchen, wurden nicht erhoben. Zwar erwähnte der Zentrumspolitiker August Reichensperger, dass „grade diese Materie […] dazu angethan“ sei, eine „parlamentarische Enquêtekommission“ nach englischem Vorbild „in’s Leben zu rufen“, verwarf diesen Schritt aber wegen der Erfahrungen namentlich des Abgeordnetenhauses. Trotzdem ermutigte der Kölner Appellationsgerichtsrat und Paulskirchenveteran den Reichstag grundsätzlich dazu, sich „allmählich auf diesen Weg, den die Engländer […] mit so großem Erfolg betreten [hätten, …] zu begeben“. An den konkreten Anträgen, die sich auf „dilatorische Maßregeln“ beschränkten, kritisierte er, dass „Hannibal vor den Thoren“ stehe, „[w]ährend die Parlamente deliberir[t]en“. Statt mehr und mehr Material zusammenzukarren, das den Reichstag „am Ende ersticken und erdrücken“ werde, müsse „so schnell als möglich“ gehandelt werden, um der Probleme Herr zu werden.194 b) Frauen- und Kinderarbeit Aufgrund einer preußischen Vorlage aus dem Sommer 1873 befasste sich der Bundesratsausschuss für Handel und Verkehr mit dem Schutz der in Fabriken arbeitenden Frauen und Minderjährigen. Der Ausschuss sprach sich dafür aus, „daß, der Resolution des Reichstags […] entsprechend, zur Erörterung der Frage […] Erhebungen angestellt“ würden. Das Reichskanzleramt sollte zunächst aufgrund der preußischen Vorlage „nach etwaiger Zuziehung von Sachverständigen, im 192

VerhRT I/4 (1873), S. 399. VerhRT I/4 (1873), S. 402 f. 194 VerhRT I/4 (1873), S. 397. 193

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

Benehmen mit dem Ausschuß für Handel und Verkehr ein Programm [aufstellen…] und den Bundesregierungen“ mitteilen. Den Einzelstaaten sollte dann die Durchführung der Enquête „durch die ihnen geeignet erscheinenden Organe“ überlassen bleiben. Die „Resultate [sollten…] dem Reichskanzler-Amt in übersichtlicher Zusammenstellung“ übermittelt werden. Anschließend wollte man über die Notwendigkeit einer „weitere[n] Enquête durch mündliche Abhörung Sach­ verständiger“ entscheiden. Der Bundesrat nahm diesen Antrag Ende Januar 1874 an, ersuchte den Reichskanzler um die Ausarbeitung eines Arbeitsprogramms und forderte die Regierungen zur schleunigen Durchführung auf.195 Im Frühjahr 1876 kam die Sache wieder auf die Tagesordnung. In der Zwischenzeit war im gesamten Reichsgebiet mit Ausnahme Elsass-Lothringens, in dem die Gewerbeordnung nicht eingeführt worden war, eine breit angelegte Enquête veranstaltet worden.196 Die Ergebnisse hatten die Bundesregierungen zur Vorberatung über die Notwendigkeit gesetzgeberischer Schritte an den Handels- und Verkehrsausschuss übermittelt. Am 27. April 1876 forderte das Bundesratsplenum die Bundesregierungen zu Vorschlägen auf. Von einer mündlichen Enquête sah man demgegenüber „vorerst“ ab.197 – Noch einmal rund ein Jahr später und damit gut vier Jahre nach der Reichstagsresolution präsentierte der Reichskanzler der Volksvertretung Anfang März 1877 ein Exemplar der „Ergebnisse der für die Frauen- und Kinderarbeit in den Fabriken auf Beschluß des Bundesraths angestellten Erhebungen“. Das Parlament ließ die umfangreiche Drucksache von 116 Quartseiten auf eigene Kosten vervielfältigen. Bei dieser Erhebung auf Ersuchen des Reichstags waren die Regierungen nicht stehengeblieben: Otto v. Bismarck legte dem Reichstag eine weitere gut 140 Quartseiten starke Schrift über die „Ergebnisse der über die Verhältnisse der Lehrlinge, Gesellen und Fabrikarbeiter auf Beschluß des Bundesraths angestellten Erhebungen“ vor,198 zu deren Durchführung verschiedene Petitionen Anlass gegeben hatten.199 Aufgrund eines Bundesratsbeschlusses vom Februar 1875 waren an 559 Orten „Sachverständige“ vernommen worden. Bei diesen handelte es sich ganz überwiegend um Vertreter aus dem „Stande der Arbeitgeber (Fabrikbesitzer und Meister) oder der Arbeitnehmer (Fabrikarbeiter und Gesellen) und zwar unter Berücksichtigung der verschiedenen, in dem gewerblichen Leben vertretenen Richtungen“. Insgesamt sollen rund 4.000 Arbeitgeber und 2.000 Arbeitnehmer angehört worden sein.200

195

H. v. Poschinger, Bundesrat III, 1898, S. 97 f. O. Pflanze, Bismarck II, 2008, S. 33; H. v. Poschinger, Bundesrat III, 1898, S. 217. 197 H. v. Poschinger, Bundesrat III, 1898, S. 217. 198 s. zum Ganzen VerhRT III/1 (1877), S. 21 f. 199 Vgl. O. Pflanze, Bismarck II, 2008, S. 33. 200 Zum Verfahren im Bundesrat, der Durchführung der Enquête und ihren Ergebnissen s. H. v. Poschinger, Bundesrat III, 1898, S. 95 f., 289. 196

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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c) Bewertung Auswirkungen der Erhebungen, deren erklärter Zweck es war, den Reform­ bedarf der Reichsgewerbeordnung abzuklären, ließen vorerst auf sich warten. Erst Mitte Juli 1878 wurde die in ihren Grundzügen noch aus den 1850er Jahren stammende Reichsgewerbeordnung novelliert.201 U. a. wurden das Sonn- und Festtagsarbeitsverbot verschärft, Schutzvorschriften für Minderjährige und Wöchnerinnen geschaffen und der Arbeiterschutz von den Fabriken auf andere Gewerbebetriebe erstreckt. Fortan konnte der Bundesrat den Einsatz von Arbeiterinnen oder jugendlichen Arbeitern in Gesundheit oder Sittlichkeit gefährdenden Betrieben ebenso wie die Frauennachtarbeit untersagen.202 Zur Überwachung wurde eine staatliche Fabrikinspektion gegründet.203 Weitergehende präventionsorientierte Arbeiterschutzvorschriften verhinderte Otto v. Bismarck aus Sorge um die „Fähigkeit des Arbeitgebers zur Lohnzahlung“ und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie.204 Ohnehin beschränkte sich „Sozialpolitik“ für den Reichsgründer eher auf Versicherungssysteme, um den Sozialdemokraten die Unterstützung abzu­kaufen, als in präventivem Arbeiterschutz.205 Bis zum Ende seiner Kanzlerschaft blieb es bei diesen Änderungen.206 Auch ungeachtet dieser mediokren Erfolge ließ die lange Dauer, bis der Reichstag die gewünschten Informationen von den Regierungen erhielt, die Abgeordneten das Fehlen eines „eigenen“ Enquêterechts spüren. Ein weiterer Nachteil bestand zweifelsohne darin, dass man keinerlei Einfluss auf den Zuschnitt und die Durchführung der Enquête nehmen konnte. Andererseits wecken ihre Ausdehnung und der Umfang des gewonnenen Materials Zweifel, dass die Volksvertretung zur Bewältigung einer derartigen Aufgabe überhaupt in der Lage gewesen wäre. Das gilt insbesondere für die Befragung von 6.000 Personen, die nur von Regierung und Behörden bewältigt werden konnte. Diese Eckdaten machen es verständlich, dass die Reichstagsmehrheit bei allen Nachteilen, die das Fehlen eigener Befugnisse mit sich brachte, nicht auf einem parlamentarischen Selbstinformationsrecht beharrte. 201

s. das Gesetz, betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung, vom 17. Juli 1878 (RGBl. S. 199) und dazu E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1205 f. sowie zu Politik und Sturz Delbrücks O. Pflanze, Bismarck II, 2008, S. 59 ff. und W. Treue, WirtGesch, 1984, S. 489 f., 604 ff. 202 s. zu den in den ersten Jahren ergangenen Schutzerweiterungen und -be­schränkungen, Meyers Lexikon XIX4 1892, S. 33 sowie A. Andersen, ASozG 31 (1991), 61 (73). 203 s. dazu R. Richardi, in: ders./Wlotzke (Hg.), MünchHdbArbR2 2000, § 2 Rn.  22 sowie zu Bismarcks Erfahrungen mit diesem Instrument und dem Gang des Gesetzgebungsverfahrens W. Ayaß, VSSW 89 (2002), 400 (405 ff.) und O. Pflanze, Bismarck II, 2008, S. 36 f. 204 Vgl. A. Andersen, ASozG 31 (1991), 61 (70 f.); W. Ayaß, VSSW 89 (2002), 400 ff., 411 f.; O. Pflanze, Bismarck II, 2008, S. 34 ff., 423 sowie – für 1881 – E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1206 f. 205 Dazu W. Ayaß, VSSW 89 (2002), 400 ff. 206 Zum Arbeitsrecht in der Ära Bismarck s. E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1204 ff.

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

2. Sonn- und Festtagsarbeit (1885 bis 1887) Obwohl Otto v. Bismarck ein vehementer Gegner des Sonn- und Feiertagsarbeitsverbots war,207 ja jede Beschränkung der Freiheit des Familienoberhaupts, „seine und der Seinigen Arbeitskräfte nach eigenem Ermessen zu verwerten“, als verwerflichen „Arbeiterzwang“ abqualifizierte,208 veranlasste er Anfang Juli 1885 eine Enquête über die Sonn- und Festtagsarbeit und die Möglichkeiten ihrer Beschränkung.209 War dieser Schritt auch nicht durch eine förmliche Reichstagsresolution angestoßen, besaß er doch einen parlamentarischen Hintergrund, indem arbeitnehmerfreundliche Kräfte in den konservativen Parteien Ende 1884 konkrete Anträge zur Sonntagsruhe und anderen Arbeiterschutzfragen in den Reichstag eingebracht hatten.210 Der Reichskanzler wendete sich Mitte Januar 1885 vor allem gegen die „Unmöglichkeit eines Normalarbeitstages“. Ob und welche Industrien zum Lohnausgleich bereit und imstande seien, wollte er durch „Enqueten“ ermitteln lassen. Zugleich warnte er, dass der „industrielle Arbeiter“ diese Maßnahmen als erster zu spüren bekomme, „weil ihm die Henne, die ihm die Eier [lege, sterbe…] oder ausgeschlachtet“ werde.211 Nach dieser ersten Debatte wurde die Sache an eine Kommission verwiesen.212  – Am 9.  Mai 1885 kam neben dem Kommissionsantrag, den Sonn- und Feiertagsschutz in § 105a RGewO zu verbessern,213 der an die Bemerkung des Reichskanzlers angelehnte Antrag des Nationalliberalen Friedrich August Buhl zur Sprache, hilfsweise „[d]ie verbündeten Regierungen zu ersuchen, […] unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen der Arbeiter sowohl wie der Arbeitgeber […] Erhebungen darüber anzuordnen“, ob Sonn- und Festtags-, Nacht- und gewerbliche Kinderarbeit verboten und die Arbeitszeit beschränkt werden könnten.214 Der Reichskanzler wies den Kommissionsantrag als unannehmbar zurück, befürwortete aber die Enquêteforderung als „unentbehrlich“ zur Klärung der „große[n] Frage“, ob den Arbeitern mit einer „zwangsweisen Sonntagsfeier“, die sie einen Teil ihres Einkommens koste, wirklich gedient wäre. Zur Notwendigkeit von Erhebungen erklärte Bismarck freimütig, dass die Regierung über die verlangte „Zirkelquadratur“ auch nicht mehr wisse als die Volksvertretung.215 Als der Bundesrat im Juli die Initiative zu einer Enquête ergriff, blieb der Buhl’sche Re­ solutionsantrag unerledigt.216 207

W. Ayaß, VSSW 89 (2002), 400 (416 ff.). Zitiert nach O. v. Bismarck, Gedanken, 1951, S. 535. s. dazu W. Ayaß, VSSW 89 (2002), 400 ff., 425. 209 RAI (Hg.), Ergebnisse I, 1887, S. IX. 210 E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1207 f. 211 VerhRT VI/1 (1884/85), S. 631. 212 VerhRT VI/1 (1884/85), S. 667. 213 VerhRT VI/1 (1884/85), Nr. 374, S. 1902. s. zum Schicksal dieser Initiative E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1207. 214 VerhRT VI/1 (1884/85), Nr. 375, S. 1912. 215 VerhRT VI/1 (1884/85), S. 2675 ff. 216 Vgl. Generalregister 1867–1895, S. 115. 208

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Zwei Jahre später präsentierte die Regierung dem Reichstag über 1.000-seitige Zahlenwerke nebst einer Zusammenfassung von 87 Seiten.217 Bei der Durchführung der Enquête hatte die Reichsregierung abgesehen von einem Frage­bogen, mit dessen Hilfe Daten über die Industriezweige erhoben werden sollten, in denen überhaupt an Sonn- und Festtagen gearbeitet wurde, die „Mittel und Wege der Untersuchung“ nominell den Einzelstaaten überlassen. In einem Schreiben hatte der Reichskanzler dem Projekt gleichwohl verschiedene „Wünsche“ mit auf den Weg gegeben:218 Den Regierungen wurde nahegelegt, „die vorhandenen Organe des Gewerbs- und Handelsstandes (Gewerbe- und Handelskammern, Innungen und sonstige Handwerkerverbände), sowie freie Vereine von Industriellen zu hören“. Im Interesse eines „unbefangenen und unbeeinflußten Urtheils“ sollten die Arbeiter durch die „dem Arbeiterstande angehörigen Mitglieder[n]“ der Krankenkassenvorstände angehört werden. Mit der „Vergütung für Reisekosten und Zeitversäumniß“ der Auskunftspersonen griff das Schreiben ein Problem auf, das schon die Frankfurter Reichsversammlung beschäftigt hatte und das auch in späteren Reichstagsberatungen über das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht eine Rolle spielen sollte.219  – Zur Vorbereitung sollte den Befragten eine Anweisung der Königlichen Regierung zu Düsseldorf vom 24.  Juni 1884 zur Kenntnis gebracht werden. Das Papier, mit dem eine Polizeiverordnung von 1853 konkretisiert worden war, gestattete Ausnahmen vom Sonntagsarbeitsverbot „aus technischen Rücksichten oder aus anderen Gründen von überwiegender Wichtigkeit“.220 Über diese Vorgaben hinaus blieben Organisation und Durchführung der Enquête tatsächlich den Einzelstaaten überlassen. In der Konsequenz fielen Zuständigkeiten und Verfahren alles andere als einheitlich aus: Teils wurden die Ministerien, teils andere staatliche Behörden oder die Handels- und Gewerbekammern mit den Erhebungen betraut. Nur in Hamburg setzte man eine besondere Kommission nieder. In welchen Gewerben die Frage überhaupt eine Rolle spielte, wurde durch Auskünfte der Gewerbetreibenden ermittelt. Man versuchte, die Auskunftsbereitschaft der Wirtschaft dadurch zu steigern, dass keine Befreiungen für solche Industriezweige möglich sein sollten, in denen die Sonn- und Festtagsarbeit den Auskünften nach keine Rolle spielte. Die eigentlichen Erhebungen erfolgten durch Fragebögen und mündliche Erörterungen, wobei die befragten Arbeiter, um ihnen Gelegenheit zur Vorbereitung zu geben, vorab über den Untersuchungsgegenstand informiert wurden. In der Regel wurden sie – dem Wunsch des Reichskanz-

217

s. RAI (Hg.), Ergebnisse I–III, 1887 sowie den Generalbericht über die Erhebungsergebnisse in VerhRT VII/2 (1887/88), Nr. 4. 218 Abdruck des Schreibens in RAI (Hg.), Ergebnisse I, 1887, S. IX f. S. W. Ayaß, VSSW 89 (2002), 400 (418) zu Bismarcks wiederholter Einflussnahme auf die Untersuchung. 219 Zu Überlegungen zur Kostenübernahme in der Paulskirche s. 3. Teil 3. Kap. B. I. 2. f), II. 1. c) bb) (3) sowie für den Reichstag 6. Teil 2. Kap. B. III. 1. c). Durch diese Modalitäten wurde dem Abschlussbericht zufolge die „mündliche Vernehmung der Arbeiter“ tatsächlich „erleichtert“ (VerhRT VII/2 (1887/88), Nr. 4, S. 3). 220 Abdruck in VerhRT VII/2 (1887/88), Nr. 4, Anl. I, S. 79.

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leramtes gemäß – von den „dem Arbeiterstande angehörenden Mitglieder[n] der Krankenkassen“ vernommen. In Preußen, Sachsen, Hessen und Württemberg wurden darüber hinaus freie Arbeitervereinigungen angehört. Um unbefangene und unbeeinflusste Auskünfte zu erhalten, durften in Württemberg „die Ortsvorsteher bei ihren Vorschlägen nicht die Arbeitgeber zu Rathe“ ziehen.221 Die Ergebnisqualität fiel sehr unterschiedlich aus. Während Besitzer größerer Industrieanlagen ihre „schriftlichen Aeußerungen“ häufig „mit ersichtlicher Sorgfalt“ ausgearbeitet hatten, ließ eine „nicht unerhebliche Zahl der Fragebogen“ auf ein „nur mangelhaftes Verständniß“ der „gestellten Fragen“ schließen. Teils deutete überdies eine „lückenhafte und oberflächliche Beantwortung“ auf einen Mangel an Interesse hin. Vielen Arbeitern und Kleingewerbetreibenden fehlte außerdem „offenbar […] die Fähigkeit, die Tragweite der gestellten Fragen zu bemessen oder diese so zu beantworten. Teilweise forderten auch die Enquêtefragen Ungenauigkeiten geradezu heraus, ja selbst über zentrale Begriffe herrschte baby­ lonische Verwirrung, indem etwa nur die Fortsetzung der regulären Wochenarbeit, bei Schichtarbeit allein der Tagschicht, nicht aber Reparaturen oder Reinigungen als „Sonntagsarbeit“ angesehen wurden. Negativ hatten sich zu allem Überfluss ferner die föderalen Unterschiede in der Handhabung und Dokumentation ausgewirkt; verlässliche Daten konnten so bloß für die preußischen Regierungsbezirke ermittelt werden.222 Zum Leidwesen der Reichsbeamten hatten nur die Hälfte der 24 Bundesstaaten und 24 von 36 preußischen Provinzen die Erhebungsergebnisse zusammengestellt und nach Gewerbszweigen geordnet, so dass ein Großteil dieser aufwendigen Arbeit – von mehr als 30.000 (!) Schriftstücken war die Rede – im Reichsamt des Innern erledigt werden musste. Weitere Arbeit verursachten zahlreiche allgemeine Stellungnahmen unterschiedlichster Provenienz,223 zusätzliche Schwierigkeiten die stark differierende Qualität der Auskünfte. Weil man allein in Berlin rund 48.000 Fragebögen verteilt hatte, war an eine „Ergänzung der schriftlichen Befragungen durch mündliche Erläuterungen“ nicht zu

221

VerhRT VII/2 (1887/88), Nr. 4, S. 2 f. VerhRT VII/2 (1887/88), Nr. 4, S. 3 f. 223 RAI (Hg.), Ergebnisse I, 1887, S. X: „Zu diesem Zweck waren ausgefüllte Fragebogen und Protokolle, mündliche Erörterungen mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Berichte und Aeußerungen von Behörden, Körperschaften und Vereinen verschiedenster Art, oftmals ausführlichsten Inhalts, insgesammt nicht weniger als 30 438 Schriftstücke zu verarbeiten.“ Laut VerhRT VII/2 (1887/88), Nr. 4, S. 3 zerfiel das dem Reichsamt des Innern zugeleitete Material in drei Kategorien: Teils wurde eine anhand des Fragebogens geordnete Gesamtdarstellung eingesendet. Die zweite Gruppe lieferte keinen einheitlichen Gesamtbericht, sondern mehrere Berichte der Unterbehörden etc. Für die dritte Gruppe war „das aus den Erhebungen erwachsene Material in seinem ursprünglichen Zustande und nur zum Theil unter Beifügung einzelner für kleinere Bezirke oder einzelne Verbände zusammengestellter Ergebnisse eingesandt worden. Die Bewältigung dieses überaus umfangreichen, häufig auch der systematischen Anordnung entbehrenden Materials mußte zwar die Zusammenstellung der Ergebnisse für das Reich in erheblicher Weise verzögern, bot aber andererseits einen werthvollen Einblick in die außerordentliche Verschiedenheit der zu ermittelnden Verhältnisse“. 222

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denken. Trotz dieser Schwächen der Enquête sprach sich der Reichstag Anfang März 1888 mit großer Mehrheit für Beschränkungen der Sonntagsarbeit aus, nachdem ihm die statistischen Untersuchungsergebnisse zugeleitet worden waren. Der Enquête zur Sonn- und Festtagsarbeit lag anders als der früheren Sozialenquête kein Ersuchen des Reichstags zugrunde. Die Volksvertretung hatte dem Reichskanzler aber mit der Forderung des Nationalliberalen Buhl gewissermaßen eine Anregung gegeben. Sinn und Zweck der Untersuchung war von Bismarcks Standpunkt aus, die Unmöglichkeit eines weitergehenden Arbeiterschutzes nachzuweisen, weil er nach wie vor eine duale Politik aus Sozialistengesetz und Sozialversicherung bevorzugte.224 Nichtsdestotrotz handelte es sich wenigstens äußerlich um eine typische Sachstandsenquête zur Vorbereitung weiterer Schritte. Auch die Methoden waren dieselben wie bei früheren Enquêten. Erneut überschritt der Umfang der Befragungen zudem das Maß dessen, was ein Parlament leisten konnte. Von den Methoden her waren die Differenzen freilich nicht so groß. Obwohl es sich um eine exekutive Enquête handelte, setzte man gegenüber mangelnder Kooperationsbereitschaft der befragten Unternehmer nicht auf Pflicht und Zwang, sondern auf die „sanfte“ Drohung, dass Ausnahmen von einem Sonn- und Feiertagsarbeitsverbot nur in den Gewerbezweigen in Frage kämen, in denen nach Auskunft der Betroffenen überhaupt an diesen Tagen gearbeitet wurde. 3. Einordnung der Sozialenquêten Die Parlamentarier wollten sich mit ihrer Enquêteforderung zur Frauen- und Kinderarbeit umfassend über die Sachlage informieren, bevor sie an eine Reform gingen. Der nationalliberale Leipziger Landwirtschaftsprofessor Karl Joseph Eugen Birnbaum stellte als Berichterstatter der Petitionskommission ausdrücklich die Notwendigkeit heraus, „daß zur Erörterung aller derartigen Fragen das nöthige Material erst beschafft werde[n müsse], daß also die Statistik die Vorarbeit zu machen habe“.225 Der Konservative Otto v. Helldorff blies in dasselbe Horn, indem er konstatierte, dass in Deutschland zur „Beurtheilung der Arbeiterfrage“ überhaupt erst die „festen Grundlagen“ durch eine „umfassende Enquete“ geschaffen werden müssten. Derzeit stamme dagegen alles Material noch aus dem Ausland.226 Funktional sollte das Ersuchen an die Adresse der Regierungen also eine parlamentarische Sachstandsenquête ersetzen. Freilich verbanden die Befürworter je nach politischem Standort die unterschiedlichsten Erwartungen mit einer Erhebung. Nichts anderes gilt für die durch den Bundesrat initiierte Untersuchung zur Sonn- und Feiertagsarbeit.

224

Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1207 f. Dazu sowie vergleichbaren Überlegungen s. A. Reichensperger in VerhRT I/4 (1873), S. 395 f., 397. 226 VerhRT I/4 (1873), S. 396 f. 225

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In der Art ihrer Durchführung unterschieden sich die von der Regierung veranstalteten Sozialenquêten nicht grundlegend von denen der preußischen Nationalversammlung oder der Kammern, die ebenfalls schon auf Fragebögen und Anhörungen von Sachverständigen gebaut hatten. In früheren Jahrzehnten hatte man im Ausland, aber auch im Inland verschiedene vergleichbare statistische Erhebungen durchgeführt.227 Auch die Schwächen dieser Methode, die sich auch schon in der Berliner Vereinbarungsversammlung gezeigt hatten, waren keineswegs ungewöhnlich: 1892 urteilte der Privatdozent Max Weber anlässlich einer Enquête des Vereins für Sozialpolitik zur Lage der Landarbeiter, dass es „das Schicksal aller Fragebogen [sei], daß diejenigen, welche sie nicht formuliert [hätten…], noch mehr und anderes zu fragen wünsch[t]en, daß denjenigen, welche gefragt [würden…], die Hälfte der Fragen überflüssig [erscheine…], und daß endlich, – man [könne…] in der Fassung noch so vorsichtig sein, – ein Teil der Berichterstatter die Fragen“ missverstehe.228 Die Regierungsenquêten lieferten dem Reichstag also über das zutage geförderte Material hinaus gewisse Einblicke in die Schwierigkeiten und Probleme, die sich bei einer derart umfangreichen Erhebung ergeben konnten. – In ihrem Umfang gingen die Bemühungen unter Regierungsregie naturgemäß über Alles hinaus, was ein Parlament damals leisten konnte. Mög­ licherweise ließ dieser Aspekt die Mehrheit der Abgeordneten ein Selbstinformationsrecht nicht vermissen; eine derartige Einstellung könnte für das Scheitern der verschiedenen linken Versuche, entsprechende parlamentarische Befugnisse in der Reichsverfassung zu verankern, verantwortlich sein. Obwohl die Regierungsenquêten vordergründig zur Vorbereitung weiterer Schritte dienten, ließen Veränderungen noch bis zur Thronbesteigung Wilhelms II. auf sich warten. Vorerst gelang es Otto v. Bismarck, seinen Kurs von Zuckerbrot und Peitsche fortzusetzen: Die Sozialdemokratie wurde mit dem bis 1890 mehrfach verlängerten Sozialistengesetz und anderen Ausnahmemaßregeln bekämpft,229 während der Reichskanzler gleichzeitig mit sozialversicherungsrechtlichen Wohltaten um ihre Klientel warb.230 Präventiver Arbeiterschutz, Arbeitszeitbeschränkungen oder Unfallverhütung gehörten nicht zu Bismarcks Programm, 227

s. etwa J. Fallati, ZGStW 1846, 724 ff. M. Weber, Landarbeiter, 1892, S. 767. 229 RGBl. 1878, S. 351. Das Gesetz vom 21. Oktober 1878 sah Vereinsverbote (§ 1), Maßnahmen gegen Genossenschaften, Hilfskassen und selbständige Kassenvereine (§§ 2 f.) von der behördlichen Überwachung (§ 4) bis hin zum Verbot (§§ 5 ff.) mit der Folge der Vermögensbeschlagnahme und Liquidation des Vereins (§ 7), Versammlungsauflösungen (§§ 9 f.), Verbote von Druckschriften (§§ 11 ff.) und Beitragssammelungen (§ 16), Strafen für Zuwiderhandlungen (§§ 17 ff.) sowie Aufenthaltsbeschränkungen (§ 22), Gewerbeuntersagungen etc. (§§ 23 f.) vor. Gemäß § 28 konnten für Bezirke und Ortschaften Versammlungen unter Genehmigungsvorbehalt gestellt, die Verbreitung von Druckschriften auf öffentlichen Wegen, Straßen, Plätzen etc. verboten, Gefährdern der Aufenthalt versagt und Verkauf, Einfuhr, Besitz und das Tragen von Waffen beschränkt werden. 230 Dazu O. Pflanze, Bismarck II, 2008, S. 118 ff., 399 ff.; T. Nipperdey, DtGesch 1866–1918 I, 1998, S. 337 f. 228

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der auf gesetzliche Unfallversicherung und Haftpflichtgesetz, also auf Entschädigung und Schadenersatz setzte. Wie ungenügend diese Politik war, zeigte sich Ende der 1880er Jahre in Massenstreiks und den Wahlerfolgen der Sozialdemokraten, die ein Motiv für Wilhelms II. sozialpolitische Kehrtwende vom Februar 1890 lieferten.231

II. Wirtschaftsenquêten 1. Eisenbahntarife (1875) Eine weitere bezeichnende Regierungsenquête stand in Gestalt der Eisenbahntarife mit der Hauptschlagader der industriellen Revolution im Zusammenhang. a) Vorgeschichte: Entwicklung des Eisenbahntarifwesens Im 19.  Jahrhundert entpuppte sich die Eisenbahn als beispiellose „Erfolgsstory“. Zwischen 1850 und dem Krisenjahr 1873 wurde das Streckennetz vervierfacht. Der Gütertransport verzeichnete Zuwächse um 1.000 v.  H.232 Seiner eminenten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung entsprechend widmeten die Verfassungen von 1868 und 1871 dem Eisenbahnwesen je einen eigenen Abschnitt. Obwohl Art. 45 RVerf 1871 dem Reich nicht nur die „Kontrole über das Tarifwesen“ einräumte, sondern selbst materielle Vorgaben enthielt, entwickelte sich durch den Wildwuchs der Entgelte bis Mitte der 1870er Jahre ein regelrechter Dschungel von weit über 1.000 unterschiedlichen Tarifen.233 Ein anderes Ärgernis, unter dem nicht nur der Gutsbesitzer Otto v. Bismarck litt, war die Privilegierung

231

Vgl. A. Andersen, ASozG 31 (1991), 61 (65 ff.); W. Ayaß, VSSW 89 (2002), 400 (409 ff.) sowie O. Pflanze, Bismarck II, 2008, S. 34 ff., 423. Abdruck der Februar-Erlasse in Neueste Mittheilungen 1890, No. 12. Ein erster Erfolg der neuen politischen Ausrichtung war die als „Arbeiterschutzgesetz“ apostrophierte Gewerberechtsnovelle durch das Gesetz, betreffend Abänderung der Gewerbeordnung, vom 1. Juni 1891 (RGBl. S. 261). s. zum Ganzen R. ­Richardi, in: ders./Wlotzke (Hg.), MünchHdbArbR2 2000, § 2 Rn.  22 ff. sowie zeitgenössisch zum „Arbeiterschutzgesetz“ Meyers Lexikon XIX4 1892, S.  34 ff. oder die Kommentierung von E. Rabe, GewO, 1892, S. 106 ff. 232 Vgl. H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte III2 2006, S. 68 f. sowie O. v. Mühlenfels, in: v. Röll (Hg.), EnzykEisenbahn III2 1912, S. 286 ff. 233 Während H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte III2 2006, S.  68 von an die 1.500 Tarifen spricht, geht W. Treue, HdbDtGesch XVII11 1999, S. 219 von immerhin 1.357 Tarifen aus. In der Petitionskommission wurde die Reformbedürftigkeit des Tarifwesens damit begründet, dass „Ende 1873 […] außer den 57 Lokaltarifen mit 5–10 Klassen, 571 Verbandtarife mit einer nicht minder großen Anzahl von Klassen [bestünden…], und sich niemand leicht aus diesem Tarif-Chaos herauszufinden vermöge“. s. dazu VerhRT II/2 (1874/75), Nr. 94, S. 882 und zum Eisenbahntarifwesen Ulrich, in: v. Röll (Hg.), EnzykEisenbahn V2 1914, S. 454 ff.

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der Langstreckentransporte, die mittelbar ausländische Güter begünstigte.234 Während der zweiten Weltwirtschaftskrise genehmigte der Bundesrat dann auch noch auf Drängen zahlreicher Eisenbahnverwaltungen vorläufig eine „mäßige […] Erhöhung“ um im Mittel 20 v. H. Obwohl diese Entscheidung mit der Bedingung verknüpft war, dass „spätestens mit dem 1.  Januar 1875 das […] vom ReichsEisenbahn-Amt […] empfohlene […] Tarifsystem in seinen Grundzügen zur Einführung gelange“, ließ Widerstand aus Industrie und Landwirtschaft nicht lange auf sich warten.235 b) Parlamentarische Vorgeschichte Unter der Fülle von Bittschriften, die den Reichstag in dieser Angelegenheit erreichten,236 befand sich ein Ersuchen des Clubs der Landwirte zu Frankfurt am Main, den Reichskanzler aufzufordern, „eine Kommission von je 5 Mitgliedern der Landwirthschaft, der Industrie  – und des Handels  – mit Hinzuziehung von 5 Eisenbahnbeamten als nicht stimmberechtigten Beiräthen, – einzuberufen“, um „das von dem Reichs-Eisenbahnamte resp. vom Bundesrathe projektirte Eisenbahntarif-System einer genauen Prüfung zu unterwerfen, resp. geeignete Vorschläge zur Verbesserung […] zu machen.“237 Dieses Petitum erinnert ein wenig an die unwirschen Forderungen der Kaufmannschaften von Stettin und Stolpe, die Frankfurter Nationalversammlung solle Vertreter aus den betroffenen Kreisen zur „Ermittlung der Interessen der Schifffahrt, Industrie und des Handels der Ostseehäfen“ einladen, um an den „Berathungen und Discussionen des volkswirthschaftlichen Ausschusses […] mit gleicher Stimmberechtigung“ teilzunehmen.238 Standen 1848 parlamentarisch-legitimatorische Bedenken einer Beteiligung Dritter 234

O. Pflanze, Bismarck II, 2008, S. 183 ff. Etwa monierte der Club der Landwirte zu Frankfurt am Main in einer Petition, dass die „von inländischem Kapital erbauten, zum Theil vom Staate mit Zinsgarantie versehenen Eisenbahnen auswärtige landwirthschaftliche Produkte zum Selbstkostenpreise transportir[t]en“, während die inländischen, „eventuell an der Zinsgarantie in hervorragendem Maße betheiligten Landwirthe“ diese „Frachtvortheile“ nicht erhielten und auch noch einer „Tariferhöhung unterworfen werden sollten“ (VerhRT II/2 (1874/75), Nr. 94, S. 878 f.). 235 Vgl. D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 184 und zu den Bundesratsberatungen H. v. ­Poschin­ ger, Bundesrat III, 1898, S. 147 ff. 236 s. den Bericht der Petitionskommission, VerhRT II/2 (1874/75), Nr. 94, S. 878. Verschiedene Bittschriften richteten sich – ohne Enquêteforderungen – ausschließlich gegen die Tariferhöhungen. Bitten, dass „sich der Reichstag dahin verwenden [möge], daß vom 1. Januar 1875 an nicht nur die den Eisenbahnen bis dahin gewährte Erlaubniß, die Tarife um 20 Prozent zu erhöhen, fernerhin entzogen werde, sondern auch dahin zu wirken, daß von dem genannten Zeitpunkt an die Eisenbahnen verpflichtet [würden,] sich bei den Tarifsätzen nach dem Art. 45 der Reichsverfassung zu richten und daß […] gleiche Eisenbahntarife für den inneren Verkehr zur Geltung“ kämen, stützten sie auf den zitierten Artikel (VerhRT II/2 (1874/75), S. 1118 f.). 237 s. VerhRT II/2 (1874/75), Nr. 94, S. 878 f. sowie zu der Begründung der Petition Fn. 234. 238 Vgl. den Ausschussbericht bei Wigard, VerhFNV, S. 2678 f. und dazu 3. Teil 1. Kap. B. II. 1. c) bb) (6).

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entgegen, hätte die Regierung durchaus Wirtschaftsvertreter in eine solche Kommission berufen können. Die Petition antizipierte gewissermaßen ein Stück weit die kommende Regierungspraxis, gemischte Enquêten unter Beteiligung von Abgeordneten, aber eben auch Interessenvertretern durchzuführen. – Die Bittschrift eines bergbaulichen Interessenvereins im Oberbergamtsbezirk Dortmund richtete sich ebenfalls auf eine Enquête, war aber auf eine Anhörung der Interessenten beschränkt.239 In der Petitionskommission bewertete der Berichterstatter das „Tarif-Chaos“ als dringend reformbedürftig. Um die „ganze Angelegenheit […] zweckmäßig […] durch ein Reichsgesetz zu ordnen“, hielt er die „Einberufung einer […] Delegirten-Versammlung zur Prüfung und Begutachtung dieser, sowie aller damit zusammenhängenden Fragen“ für empfehlenswert. Namentlich habe man die „Nothwendigkeit […] einer Tariferhöhung“ zu untersuchen. Darauf erklärte der Präsident des Reichseisenbahnamtes Albert Maybach, dass er den Bundesrat ersuchen wolle, die definitive Entscheidung aufzuschieben, bis eine „umfassende Enquête unter Zuziehung von Vertretern des Handelsstandes, der Industrie und auch der Landwirthschaft, wie der Eisenbahnen“ veranstaltet worden sei. Obwohl er versuchte, die umstrittenen Erhöhungen mit schlechten Betriebsergebnissen zu rechtfertigen,240 kam die Frage auf, ob Bundesrat und Reichseisenbahnamt gegen das Gebot des Art. 45 RVerf 1871, eine „möglichste Gleichmäßigkeit und Herabsetzung der Tarife“ herbei- und „zunächst thunlichst“ den „Einpfennig-Tarif“ einzuführen, verstoßen hätten. Weil in der Kommission keine Einigkeit erzielt wurde, ob der unklare Artikel überhaupt materielle Vorgaben statuiere,241 blieb diese Chance parlamentarischer Regierungskontrolle ungenutzt. Wie es Louis Constanz Berger (Deutsche Fortschrittspartei) ausdrückte, ließ sich aus einem „Verfassungsartikel von solch elastischem Wortlaut“ eben kein „klares Recht machen“, um die „Reichsregierung einer Verfassungsverletzung an[zu]klagen“.242 Die Kommission kam stattdessen zu dem Schluss, „die Petitionen […] dem Herrn Reichskanzler mit der Aufforderung zu überweisen: die Frage der Eisenbahn-Tarifreform einer eingehenden Prüfung und Begutachtung durch Delegirte der Landwirthschaft, – des Handels, – der Industrie, – und der Eisenbahn-Verwaltungen unterziehen zu lassen“.243 Der Kommissionsvorschlag richtete sich also 239 Nachdem die Güterfrachtsätze aufgrund des Bundesratsbeschlusses erhöht worden seien, müsse „Seitens der Aufsichtsbehörden unter Zuziehung von Interessenten eine sorgfältige Erhebung darüber veranstaltet werde[n]“, ob ein „verständiges Maß eingehalten worden“ sei, und namentlich bei den Gütern, für welche Art. 45 RVerf 1871 den „Einpfennig-Tarif pro Centner und Meile“ vorsehe, „die wirthschaftlichen Interessen des Landes die gebührende Berücksichtigung gefunden“ hätten (VerhRT II/2 (1874/75), Nr. 94, S. 879). 240 VerhRT II/2 (1874/75), Nr. 94, S. 882 ff. 241 Zu dieser auch wissenschaftlich umstrittenen Frage vgl. M. v. Seydel, RVerf2 1897, S. 276 ff. m. w. N. aus dem Schrifttum. 242 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1117 ff. 243 VerhRT VIII/1 (1890/92), Nr. 94, S. 884 sowie VerhRT II/2 (1874/75), S. 1118 f.

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auf einen „runden Tisch“ bzw. eine Expertenkommission, wie sie die Politik auch heute noch zu komplizierten Themen gerne einberuft. Abgeordnete jeder Couleur brachten für die Plenarberatung in den verschiedensten Koalitionen Verbesserungsanträge ein. Obwohl Forderungen einer parlamentarischen Enquête ausblieben, reichte das Spektrum doch von der Beteiligung von Abgeordneten an einer gemischten Kommission bis zu einer „reinen“ Regierungsuntersuchung. Andere Vorschläge befassten sich u. a. mit der Stellung der hinzuzuziehenden Interessentenkreise oder den Kommissionsbefugnissen.244 244 Der konservative Wilhelm v. Minnigerode regte an, „statt der Worte: und Begutachtung durch Delegirte, zu setzen: auf Grund der Gutachten von Delegirten“ – und unterstrich so die Kompetenz der „niederzusetzenden Behörde“, die er sich „wesentlich in Gestalt des Reichseisenbahnamtes“ dachte. Gegenüber den zuzuziehenden Interessenten aus „Handel, Industrie, Eisenbahnen und auch […] Landwirthschaft“, die „direkt aufgeführt“ werden müssten, um Ungerechtigkeiten zu vermeiden, wollte der Majoratsherr und Rittergutsbesitzer jeden Eindruck vermeiden, „als ob den Herren irgend ein Votum zustehen soll[e]“ (VerhRT II/2 (1874/75), S. 1119, 1129). – Nicht die Bedeutung der Regierung, sondern des Parlaments hoben der Fortschrittspolitiker L. C. Berger, der laut G. Hirth, Parlaments-Almanach10 1874, S. 158 „vorzugsweise im Berg-, Hütten- und Eisenbahnwesen“ tätig war, sein Parteifreund Wilhelm LoeweCalbe und der Nationalliberale H. V. v. Unruh hervor: Sie forderten, „[d]ie Petitionen […] dem Herrn Reichskanzler mit der Aufforderung zu überweisen: die Frage der Eisenbahn-Tarif­ reform einer eingehenden Prüfung und Begutachtung durch eine aus Mitgliedern des Bundesraths und des Reichstags gleichmäßig gebildete Kommission, welche zur Vernehmung von Sachverständigen und Interessenten der Landwirthschaft, des Handels, der Industrie und der Eisenbahn-Verwaltungen befugt sein [müsse…], unterziehen zu lassen“ (Nr. 134 I., S. 984). Der Rittergutsbesitzer Karl v. Saucken-Tarputschen (Fortschrittspartei) ergänzte das Ersuchen, „das Resultat dem Reichstage bei seinem nächsten Zusammentritt vorzulegen“ (Nr.  170, S. 1120). Demgegenüber wollte der nationalliberale Schriftsteller Heinrich Bernhard Oppenheim die Worte, „aus Mitgliedern des Bundesraths und des Reichstags gebildeten“, weglassen (Nr. 205, S. 1264), sodass die Untersuchung allein der Regierung zugestanden hätte, aber die Vernehmungsbefugnisse erhalten geblieben wären. Ohne einen solchen Zusatz verlangten die Nationalliberalen R. v. Benda, Johannes Miquél, Otto Elben, Heinrich Rickert und Melchior Stenglein gemeinsam mit dem Freikonservativen Eduard Georg v. Bethusy-Huc sowie den Zentrumspolitikern Max v. Soden, Christoph Ernst Friedrich v. Forcade de Biaix und dem Steinfurter Landrat und kaiserlichen Kammerherrn Ignatz v. Landsberg, „[d]ie Petitionen […] dem Herrn Reichskanzler mit der Aufforderung zu überweisen, die Eisenbahntariffrage einer erneuten und eingehenden Enquête durch eine zu diesem Zwecke zu berufende Kommission zu unterwerfen“. Auch sie wollten, dass dem Reichstag „von dem Ergebnisse derselben […] bei seinem nächsten Zusammentritt Mittheilung zu machen“ sei (Nr. 198, S. 1235). Die breiteste Unterstützung über die Parteigrenzen hinweg erfuhr der Vorschlag des Fortschrittspolitikers Julius Kisker, der gemeinsam mit über 40 Parteifreunden und Vertretern der Fortschrittlichen Volkspartei, der Deutschen Reichspartei, der Nationalliberalen und des Zentrums beantragte, „[d]ie Petitionen […] dem Herrn Reichskanzler mit der Aufforderung zu überweisen: die Frage einer Eisenbahntarif-Reform einer nochmaligen eingehenden Prüfung unterziehen zu lassen, und dabei auch […] in’s Auge zu fassen[, …] inwieweit durch den Rückgang der Preise der Betriebs-Materialien und der Löhne resp. der gesammten Betriebskosten diejenigen Grundlagen verändert sind, welche in der ersten Denkschrift des Reichs-Eisenbahnamts zur Motivirung des Aufschlags von 20 pCt. gedient haben[, bzw…]. ob die Verminderung der Rentabilität der Eisenbahnen nicht wohl eben so sehr in der theils nicht rationellen Organisation derselben und in Fehlern der Verwaltung zu suchen sei, als in zu geringer Höhe der Tarife“. Außerdem

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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Die Debatte vom 20. Januar 1875 stand ganz im Zeichen der materiellen Tariffragen und des umstrittenen Art. 45 RVerf 1871. Als erster Redner ergriff der Präsident des Reichseisenbahnamtes Albert Maybach nach dem Ausschussbericht das Wort und wies zur Rechtfertigung der Tarifpolitik erneut auf gravierende Gewinneinbrüche hin, die den „Kredit der Eisenbahnunternehmungen entgegen dem öffentlichen Interesse zu sehr geschmälert“ hätten. Weil eine erste Erhebung nichts Definitives ergeben habe, müssten die provisorischen Erhöhungen fortbestehen und eine weitere „Enquete veranstaltet werden […], unter Zuziehung von Vertretern des Handels, der Industrie, der Landwirthschaft und der Eisenbahnverwaltungen“.245 Das künftige Vorgehen skizzierte Albert Maybach, ohne sich endgültig festzulegen, grundsätzlich so, „daß man unter Zuziehung von Sachverständigen, die aber nicht zu zahlreich sein dürf[t]en, einen Fragebogen [entwerfe…], welcher die einzelnen Punkte genau [spezialisiere…], über welche man eine thatsächliche Auskunft oder ein Sentiment von den betreffenden Sachverständigen“ wünsche. Ob eine „mündliche Ergänzung der abgegebenen Gutachten […] oder gar eine Diskussion“ erforderlich sein würden, könne erst der „Verlauf der Sache“ zeigen.246 Zur Überzeugung des Fortschrittspolitikers Louis Constanz Berger kam es ganz entscheidend darauf an, „in welcher Weise die Enquete […] ausgeführt werden soll[te]“. Für seine Forderung, wie in der preußischen Eisenbahnuntersuchung Parlamentsmitglieder zu beteiligen, berief er sich auf die englische Praxis, „für alle wichtigen Gegenstände“ eine „spezifisch parlamentarische Untersuchungs­ kommission“ zu bilden, die „Sachverständige aus allen Reihen der Bevölkerung“ vernehme. Solange der Reichstag über keine derartigen Befugnisse verfüge, sei der preußische Weg einzuschlagen.247 Ein Grund für diese Forderung dürfte gewesen sein, dass sich die Kommission dann nach preußischem Vorbild hätte als Forum für Kontrolle und Kritik des Gouvernements instrumentalisieren lassen; dafür spricht, dass eine mögliche Verletzung von Art. 45 RVerf 1871 bereits in der Petitionskommission angesprochen worden war. – Weiter befürwortete der Abgeordnete Berger eine kleine Kommission „aus wenigen sachkundigen Mitgliedern“, zu der Bundesrat und Reichstag je drei Mitglieder, Reichskanzler oder Kaiser den sollten „Deligirte des Handels, der Industrie, der Landwirthschaft und der Eisenbahn-Verwaltungen zuzuziehen, und bis zur Erledigung dieser Angelegenheit den Eisenbahnen nur ein kurzes Provisorium zu gewähren [sein], für welches die ergangenen Bestimmungen in Kraft bleiben“ könnten (Nr. 146, S. 1016). In der Plenardebatte begründete J. Kisker diese Forderungen damit, dass er der „Enquetekommission“ über den Kommissionsantrag hinaus eine „gewisse Direktive geben“ wolle. Es sei „nothwendig, auf das allergenaueste zu untersuchen, inwiefern diese Betriebsunkosten sich gegen den Zeitpunkt, von dem die Agitation zur Erhöhung der Tarife ausging, geändert“ hätten. Auch solle „namentlich […] zu untersuchen sein der Standpunkt gegen die ausländische Konkurrenz, insofern namentlich in England, auch in Holland noch billiger gefahren [werde…], als in Deutschland“ (S. 1132 f.). 245 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1120 f. 246 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1127 f. 247 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1126.

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Vorsitzenden beisteuern sollten. Eine parlamentarische Teilnahme hielt der Wittener Gussstahlfabrikant für geboten, weil eine reine Regierungskommission das Tarifproblem nicht „vom grünen Tische her“ lösen könne und das Reichseisenbahnamt anscheinend seine gerade erst ein Jahr alte Meinung schon wieder umgestoßen habe.248 Dem Vorschlag der Petitionskommission, die „EisenbahnTarifreform einer eingehenden Prüfung und Begutachtung durch Delegirte der Landwirthschaft, – des Handels, – der Industrie, – und der Eisenbahn-Verwaltungen [zu] unterziehen“,249 hielt er dagegen vor, dass man auf diesem Wege bloß ein „bedauerliches Interessenparlament“ zustande bringen werde.250 Gegen jede Teilnahme des Reichstags sprach sich dagegen der Präsident der gescholtenen Behörde aus, weil im Reich keine „ausdrückliche verfassungsmäßige Bestimmung“ nach dem Vorbild des Art.  82 PrVerf  1850 existiere.251 Dem widersprach Eduard Lasker, dass man im konstituierenden Norddeutschen Reichstag bloß deswegen „unter Anerkennung der damaligen Regierung“ auf eine ausdrückliche Regelung verzichtet habe, weil das Enquêterecht eine „selbst­ verständliche Befugniß des Parlaments“ wäre.252 Trotz dieses Plädoyers für das „natürliche Enquête­recht“ der Volksvertretung zog Louis Constanz Berger seinen Vorschlag angesichts des gouvernementalen Widerstands zurück und schloss sich dem Amendement des Nationalliberalen Robert v. Benda „für eine gründliche Enquete“ ohne ausdrückliche Bezeichnung der hinzuzuziehenden Personen an.253 Die Konservativen befürworteten, wie nicht anders zu erwarten, ohnehin eine reine Regierungsenquête. Wilhelm v. Minnigerode zufolge konnte es angesichts der Wichtigkeit und Kompliziertheit der Tariffrage nur darum gehen, „in welcher Weise […] die Enquete zu Stande“ komme“. Die Vorschläge der Petitionskommission zog er dem Antrag Benda vor, dem die „wünschenswerthe Spezialisierung der zuzuziehenden Interessengruppen“ fehle.254 Nach dem Schluss der Debatte verteidigte auch Berichterstatter Adalbert Freiherr Nordeck zur Rabenau (Liberale 248 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1127. Weiter betonte L. C. Berger dass „ebensowenig […] die Diätenfrage dabei zur Sprache [käme]. Wenn nur wenige Mitglieder in diese Kommission deputirt [würden…], so [würden…] die Sitzungen derselben wohl nur vier bis sechs Wochen dauern, und zu einer angemessenen Entschädigung der aus dem Reichstage zu entsendenden Deputirten für diese Frist [habe…] das Reichskanzleramt in seinem Dispositionsfonds hin­ reichende Mittel“. 249 Vgl. VerhRT VIII/1 (1890/92), Nr. 94, S. 884. 250 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1126. 251 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1127 f. 252 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1130. 253 Dieses ging dahin, „die Eisenbahntariffrage einer erneuten und eingehenden Enquête durch eine zu diesem Zwecke zu berufende Kommission zu unterwerfen“, von deren Ergebnissen „dem Reichstag bei seinem nächsten Zusammentritt Mittheilung zu machen“ sei. Zu den Amendements vgl. Fn. 244. Darauf zog auch Heinrich Bernhard Oppenheim sein Unteramendement zurück, betonte aber, dass er es nicht „aus denjenigen Gründen, welche der Herr Präsident des Reichseisenbahnamtes gegen die Betheiligung von Bundesraths- und Reichstagsmitgliedern vorgetragen“ habe, gestellt habe (VerhRT II/2 (1874/75), S. 1134). 254 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1129.

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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Reichspartei) den „präziseren“ Kommissionsantrag. Bedenken, ein solches Komitee könne sich parlamentarisch gerieren, wies er zurück. Im Übrigen habe der Präsident des Reichseisenbahnamtes bereits angekündigt, wie weiter zu verfahren sei.255 Trotzdem entschied sich die Reichstagsmehrheit für das Amendement Benda, „die Petitionen […] dem Herrn Reichskanzler mit der Aufforderung zu überweisen, die Eisenbahntariffrage einer erneuten und eingehenden Enquête durch eine zu diesem Zwecke zu berufende Kommission zu unterwerfen und von dem Ergebnisse derselben dem Reichstage bei seinem nächsten Zusammentritt Mittheilung zu machen“.256 Diese Resolution richtete sich auf eine Enquête zur Vorbereitung einer Tarifreform. Der Kommissionsvorschlag, die Interessenvertreter stärker einzubinden – Berichterstatter Nordeck zur Rabenau hatte davon gesprochen, dass die Kommission dort „nach Recht und Billigkeit [zu vermitteln haben werde…], wo die volkswirthschaftlichen Interessen widerstreb[t]en“,257 – konnte nicht reüssieren. c) Enquête und Reformtarif Am 13.  Februar 1875 ersuchte der Bundesrat den Reichskanzler trotzdem, „nach vorgängiger Vernehmung von Sachverständigen aus den Kreisen des Handelsstandes, der Industrie, der Landwirtschaft und der Eisenbahnverwaltung, dem Bundesrat Vorschläge über ein einheitliches Frachttarifsystem für die deutschen Eisenbahnen zur Beschlußnahme vorzulegen“. Bismarck forderte darauf die Regierungen von Preußen, Sachsen, Württemberg, Elsass-Lothringen und der Hansestädte auf, ihrerseits Mitglieder für die Enquêtekommission zu benennen; auf Preußen sollten vier, auf die anderen Staaten jeweils eines der acht Kommissionsmitglieder entfallen. Die übrigen Bundesstaaten durften bloß die von der Kommission vernommenen Sachverständigen aus Industrie, Landwirtschaft, Handel und den Eisenbahnverwaltungen nominieren. Bemerkenswert ist, dass der Reichskanzler insoweit auch die „Wahl von Reichstagsabgeordneten […] als wünschenswert bezeichnet[e]“. – Die Kommission nahm ihre Arbeit Ende Mai auf, konnte aber keine Einigung über das künftige Tarifsystem erreichen. Darauf legte der Reichskanzler die Enquêteergebnisse Mitte Januar 1876 dem Bundesrat vor. Im Mai nahm das Reichseisenbahnamt Stellung und verlangte, die provisorische Frachterhöhung von 1874 rückgängig zu machen und die Grundlagen für eine Vereinheitlichung im Gesetzgebungs- oder Vereinbarungswege zu schaffen.258 Im Sommer 1876 wurde auf der Dresdener Generalkonferenz der Eisenbahnverwaltungen 255

VerhRT II/2 (1874/75), S. 1134. VerhRT II/2 (1874/75), S. 1135. Zuvor wurde der Vorschlag Karl v. Saucken-Tarputschens angenommen, dem Reichstag die Resultate vorzulegen. 257 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1118. 258 H. v. Poschinger, Bundesrat III, 1898, S. 247 f. 256

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dann endlich ein einheitliches Tarifsystem vereinbart. Aber obwohl der Reformtarif vom Februar 1877 tatsächlich zu einer gewissen Vereinheitlichung führte,259 war bis zum Ende der 1870er Jahre wieder ein undurchsichtiger Zustand mit zahlreichen allgemeinen und Spezialtarifen erreicht, auf den das Reich dieses Mal im Gesetzgebungsweg reagierte.260 d) Bewertung Auch in der Eisenbahntariffrage richtete der Reichstag eine parlamentarische Resolution an den Bundesrat, um eine exekutive Sachstandsenquête zu erreichen. Dass es sich um eine „Krücke“ handelte, weil der Reichstag nicht über ein „eigenes“ Enquêterecht verfügte, sprach der Fortschrittspolitiker Louis Constanz Berger offen an und forderte zum Ausgleich eine parlamentarische Beteiligung nach dem zwei Jahre älteren preußischen Vorbild. Die Reichstagsmehrheit stellte sich nicht hinter diesen Wunsch, sondern votierte für das nationalliberale ­Amendement, das sich auf die Überweisung der Petitionen an den Reichskanzler und eine allgemeine Enquêteforderung beschränkte und der Regierung damit jeden Spielraum ließ. Symptomatisch war die Äußerung des nationalliberalen Münchener Rechtsanwalts Melchior Stenglein, dass zwar eine „neue eingehende Enquete“ geboten sei, er aber auf ihren Modus wenig Gewicht lege. Der Verwaltungsrat der Bayerischen Ostbahnen hielt es für eine „untergeordnete Frage“, ob „Vertreter des Reichstages hinzugezogen [würden…] oder allein Sachverständige, die das Reichseisenbahnamt [bestimme, oder…] mehr oder minder Vertreter einzelner Interessen“. In jedem Fall werde eine Enquête das Reich „auf den […] leider verlassenen richtigen Weg wieder zurückführen und ein einheitliches Tarifsystem und einfache klare Tarifsätze als nothwendig darstellen“.261 – Erneut scheiterte ein Versuch, der Volksvertretung mit Hilfe informationsrechtlicher Mittel eine stärkere Rolle zu verschaffen, an den parlamentarischen Mehrheiten, die eher zu einem Entgegenkommen gegenüber der Regierung bereit waren. Mit der Ablehnung des Kommissionsantrags sprach sich der Reichstag überdies gegen eine direkte Be­ teiligung der wirtschaftlichen Interessenten aus und stärkte damit ebenfalls die Stellung der Regierungen.

259 D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 185 f.; O. v. Mühlenfels, in: v. Röll (Hg.), EnzykEisenbahn III2 1912, S. 286 (294); Ulrich, in: v. Röll (Hg.), EnzykEisenbahn V2 1914, S. 454 (473); H. v. Poschinger, Bundesrat III, 1898, S. 324 ff. 260 Vgl. D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S.  186; F. Ulrich, Eisenbahntarifwesen, 1886, S. 288 f. 261 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1132.

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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2. Die Patentenquête (1876) Eine weitere wirtschaftspolitische Enquête wurde zum Patentschutz veranstaltet. Am 10.  Mai 1872 beschloss eine „große Majorität“ des Reichstags, dem Reichskanzler verschiedene Petitionen „mit dem Ersuchen zu überweisen, über die Erfindungspatente baldmöglichst eine einheitliche Gesetzgebung herbeizuführen“.262 Konkrete materielle Desiderate wurden bei dieser Gelegenheit ebenso wenig erhoben wie eine Enquêteforderung. Erst rund vier Jahre später entschied der Bundesrat Ende April 1876 auf Antrag der preußischen Regierung, „daß Behufs der Erörterung derjenigen Verhältnisse, welche bei der gesetzlichen Regelung des Patentwesens in Betracht zu ziehen [seien…], eine Enquête stattfinden solle“. Zur Durchführung sollten „einzelne, zur Beurtheilung jener Verhältnisse besonders geeignete Persönlichkeiten nach vorgängiger schriftlicher Mittheilung der hauptsächlichen Fragepunkte durch den Bun­des­raths­aus­schuß für Handel und Verkehr, unter Zuziehung von Kommissarien des Reichskanzler-Amts, mündlich vernommen“ werden. Darauf wurden zwischen dem 29. August und dem 2. September 1876 insgesamt 22 von den Regierungen ausgewählte Sachverständige angehört.263 Verglichen mit den bisherigen Beispielen war die Patentenquête außergewöhnlich erfolgreich: Schon am 24. Februar 1877 brachte Reichskanzler Otto v. Bismarck einen Gesetzentwurf in den Reichstag ein, der Anfang Mai angenommen wurde.264 Ähnlich verfuhr man gut neun Jahre später bei der Revision dieses Gesetzes. Im Juni 1886 beantragte der Reichskanzler beim Bundesrat eine weitere Enquête. Anlass waren verschiedene Änderungswünsche des Vereins deutscher Ingenieure und des Vereins zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands und ihr „Antrag“, „diese Vorschläge, sofern sie nicht ohne weiteres für geeignet erachtet würden, […] in einer Versammlung von Sachverständigen unter amtlicher Leitung prüfen zu lassen“. Das Patentamt hatte nach einer Vorprüfung die Aspekte ausgewählt, „welche als geeignet bezeichnet werden könn[t]en, den Gegenstand einer Beratung von Sachverständigen zu bilden“, und auch „noch einige weitere Punkte aufgestellt, bezüglich deren es wünschenswert [wäre], sie in den Kreis dieser Erörterungen zu ziehen“. Der Bundesrat akzeptierte das ihm präsentierte Enquêteprogramm.265 262

VerhRT I/3 (1872), S. 304 ff., 308. s. dazu und zur Vorgeschichte der Enquête R. Klostermann, in: ArchHandWechsR 35 (1877), 11 (37 f.) sowie S. 92 ff. den Abdruck der Protokolle über „Verlauf und Ergebniß der Be­ra­thungen der behufs einer gesetzlichen Regelung des Patentwesens Seitens des Reichskanzleramtes zusammengetretenen Sachverständigen-Commission“. Vgl. ferner H. v. Poschinger, Bundesrat III, 1898, S. 291. 264 s. den Gesetzentwurf in VerhRT III/1 (1877), Nr.  8, S.  12 ff., den Kommissionsbericht, Nr. 144, S. 395 ff., die Beschlüsse in zweiter Beratung, Nr. 201, S. 546 ff. sowie die dritte Beratung S. 1011 ff. und die Annahme mit „sehr erhebliche[r] Majorität“, S. 1014. 265 H. v. Poschinger, Bundesrat V, 1901, S. 228. 263

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Ihrem Grundmuster nach unterschieden sich die Erhebungen zum Patentrecht nicht von den bisherigen Regierungsenquêten zur Vorbereitung anderer Reformen. 3. Die Tabakenquête (1878) Das interessanteste Beispiel einer gesetzesvorbereitenden Enquête ist einem Bundesratsvorstoß als Auftakt zur Reichsfinanzreform zu verdanken.266 a) Vorgeschichte: Bismarcks Reichsfinanzreformpläne Otto v. Bismarck beabsichtigte, das Kaiserreich aus der unglücklichen Lage als „Kostgänger der Einzelstaaten“ zu befreien. Seit seiner Gründung verfügte das Reich nicht über ausreichende eigene Finanzquellen, sondern war auf die zunehmend als ungerecht kritisierte und nach Köpfen statt steuerlicher Leistungsfähigkeit bemessene Matrikularumlage der Bundesstaaten angewiesen. Ein 1870 noch zu Zeiten des Norddeutschen Bundes unternommener Finanzreformversuch war im Reichstag gescheitert. Danach hatten die französischen Reparationsmilliarden das Problem, das in der Finanzkrise nach Hochspekulation und Gründerkrach dringender als zuvor wieder auf die Tagesordnung kam, für kurze Zeit in den Hintergrund treten lassen. Als Ausweg aus der Misere und zugleich als Mittel, um die lästige Mitsprache des Reichstags bei der Matrikularumlage auszuschalten, favorisierte Otto v. Bismarck ein Tabakmonopol. Während eine simple Steuererhöhung noch mehrheitsfähig gewesen wäre, stieß diese Forderung auf breiten Widerstand. Im Frühjahr 1878 war das Scheitern deswegen absehbar, als Bismarck den Tabaksteuerentwurf als „Durchgangspunkt“ zur Staatsregie desavouierte.267

266

Vgl. J. Pierstorff, in: JbNöStat 33 (1879), 232 (254). s. VerhRT III/2 (1878), S. 143 (Äußerungen Bismarcks); E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1046 f. sowie zur Entwurfsentstehung im Bundesrat H. v. Poschinger, Bundesrat III, 1898, S. 443 ff., der von einer „Geneigtheit für das Tabakmonopol“ bei Württemberg, Hessen und Sachsen berichtet. Abdruck des Gesetzentwurfs in VerhRT III/2 (1878), Nr. 20, S. 360 ff. In den Motiven hieß es, dass die Reichseinnahmen aus Zöllen und Verbrauchssteuern, der Wechselstempelsteuer sowie den Post-, Telegraphen-, Eisenbahn- und Banküberschüssen seit 1872 gegenüber einer Ausgabensteigerung von über 100 Millionen Mark um nur 29 Millionen angestiegen seien. Eine Deckung aus Matrikularbeiträgen komme nicht in Frage. Während Einzelstaaten, Kommunen, Kreis- und Provinzialverbände auf direkte Steuern angewiesen seien, deren Erhöhung für die Bevölkerung drückender sei, könne sich das Reich „auf dem Gebiete der Verbrauchssteuern, auf welchem eine stärkere Anspannung der Steuerkraft am leichtesten ertragen werden [könne, …] reichere Einnahmequellen in umfassender Weise […] schaffen“.

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3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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b) Die Entstehung des Enquêtegesetzes In den Augen vieler Abgeordneter versündigte sich der Reichskanzler mit seinem Plan, über den Zwischenschritt von Steuererhöhungen sukzessiv auf ein Monopol hinzuarbeiten, sowohl gegen freihändlerische als auch konstitutionelle Glaubenssätze. Am 22.  Februar 1878 erwiderte der preußische Finanzminister Otto Camphausen, der selbst kein Monopolbefürworter war und über diesen Widerspruch stolpern sollte,268 auf Vorhaltungen im Reichstag, dass die Regierungen in Wahrheit auf die Tabakregie zusteuerten, dass in diesem Fall doch zunächst der „Erlaß eines Gesetzes“ notwendig wäre, um die Regierungen überhaupt dazu zu ermächtigen, „eine statistische Aufnahme der vorhandenen Fabrikationsanstalten vorzunehmen“. Nur auf dieser Grundlage lasse sich Gewissheit über die Entschädigungen und die zur technischen Durchführung des Monopols notwendigen Mittel schaffen.269 aa) Regierungsentwurf vom 8. April 1878 Tatsächlich unterbreitete Otto v. Bismarck dem Bundesrat nach diesem Vorspiel Mitte März 1878 den „Entwurf eines Gesetzes, betreffend statistische Erhebungen über die Tabakfabrikation und den Tabakhandel, und die Feststellung eines Nachtrags zum Reichshaushaltsetat für das Jahr 1878/79, nebst Motiven“. Nach Beratung in den Bundesratsausschüssen mit verschiedenen Modifikationen angenommen, wurde diese Vorlage dem Reichstag unter dem 8. April 1878 präsentiert.270 Gewissermaßen folgte die Reichsregierung mit der Vorlage eines Enquêtegesetzentwurfs einer Anregung Eduard Laskers aus der preußischen Eisenbahn- und Gründerdebatte: 1873 hatte es der Nationalliberale als Vorteil einer regierungsgeleiteten Enquête angesehen, dass das Gouvernement der Kommission schon im Verwaltungswege auskömmliche Befugnisse einräumen könne; sollten diese im Einzelfall gleichwohl nicht genügen, könne die Regierung „mit den anderen gesetzgebenden Faktoren zusammenwirken, um die fehlenden Befugnisse der Kommission zu verschaffen“.271 Nach dem Scheitern der Steuerreform dürfte Bismarck über die eigentliche Ermächtigung hinaus mit dem Entwurf noch den doppelten Zweck verfolgt haben, durch umfassende statistische Erhebungen einerseits sowohl einer großen Tabaksteuerreform als auch der Einführung des Staatsmonopols den Weg zu ebnen. Andererseits konnte der Enquêtegesetzentwurf als Lakmustest für die parlamentarischen Mehrheiten dienen.

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E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1046 f.; R. Paetau, in: Acta Borussica VI/1, 2004, S. 35, 28. 269 VerhRT III/2 (1878), S. 141. 270 Vgl. H. v. Poschinger, Bundesrat III, 1898, S. 445 ff. 271 Vgl. VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1044 f.

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Am 22.  Februar 1878 hatte der preußische Finanzminister Otto Camphausen „zur Beantwortung“ der mit einem Tabakmonopol verbundenen „strengen Fragen“ ein Gesetz gefordert, weil ohne gesetzlichen Zwang nicht auf verlässliche Auskünfte der Betroffenen zu hoffen sei.272 Der Gesetzentwurf trug diesem Gedanken Rechnung, indem acht Paragraphen neben zwangs- und strafbewehrten Auskunftsund Mitwirkungspflichten ein behördliches Inspektionsrecht „[z]um Zweck der Prüfung der Richtigkeit der gemachten Angaben […] sowie zur Vervollständigung der statistischen Erhebung“ statuierten, um sicherzustellen, dass den „statistische[n] Erhebungen“ über die „Tabackfabrikation und den Handel mit Taback und Tabackfabrikaten“ nicht jede Unterstützung versagt werde.273 In der Entwurfsbegründung hieß es salomonisch, dass zur Vorbereitung der allgemein befürworteten stärkeren Tabakbesteuerung, sei es nun durch die „Einführung des Tabackmonopols“ oder einer „Fabrikatsteuer“, „neue und vollständigere statistische Grundlagen […] unerläßlich“ wären. Weil die Befragten „zur Wahrung vermeintlicher Privatinteressen“ in die Versuchung kommen könnten, unrichtige Angaben zu machen, hielt es der Bundesrat für geboten, durch die Annahme des Gesetzentwurfs „nicht nur den betreffenden Gewerbetreibenden die Verpflichtung zur Er­ theilung wahrheitsgemäßer Auskunft aufzuerlegen, sondern auch die Möglichkeit einer amtlichen Prüfung […] sicher zu stellen“.274 Die Regierungen verlangten also in der Tabaksteuerfrage eine gesetzliche Ermächtigung, um eine zwangsbewehrte Sachstandsenquête durchführen zu können; von freiwilligen Erhebungen erwarteten sie keine ausreichende Gewähr für valide Informationen. Aufgrund der vergleichbaren Interessenlage, hier das staatliche Informationsinteresse, dort die Belange der betroffenen Unternehmer und Privaten, war diese Erkenntnis auch für das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht von Bedeutung. Es nimmt wenig wunder, dass entsprechende Forderungen nach robusten Befugnissen nicht nur in früheren Tagen erhoben worden waren, sondern mit den sozialdemokratischen Verfassungsänderungsvorstößen der 1890er Jahre wiederkehren sollten. bb) Die parlamentarische Beratung des Tabakenquêtegesetzes (1) Amendements Für die Plenarberatung wurden verschiedene Verbesserungsvorschläge zu dem Regierungsentwurf gestellt: Während sich die Nationalliberalen auf die Abänderung zweier Paragraphen beschränkten, um unter Beteiligung von Sachverständigen über sämtliche Etappen des Tabakgeschäfts einschließlich des Anbaus umfas 272

VerhRT III/2 (1878), S. 141. Dem Gesetzestitel war hinzugefügt: „betreffend statistische Erhebungen über die Tabackfabrikation und den Tabackhandel“. 274 VerhRT III/2 (1878), Nr. 159, S. 1060 ff. 273

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sende statt bloß statistische Erhebungen zu veranstalten,275 forderte die Deutsche Reichspartei umfangreiche Entschärfungen und Präzisierungen der Mitwirkungspflichten, Zwangsmaßnahmen und Strafen (Antrag Schmid-Lucius).276 Der letztendlich erfolgreiche Vorschlag, zwar die Enquête auszudehnen, dafür aber Mitwirkungspflichten, Zwangsbefugnisse und Strafen fallen zu lassen, stammte von dem Nationalliberalen Franz August Schenk v. Stauffenberg,277 der sich Ende August 1880 mit 27 weiteren „Sezessionisten“ von der Partei lossagen und zu Freihandel und Konstitutionalismus bekennen sollte.278 (2) Das Ringen um die Enquête und ihren Zuschnitt In den Reichstagsberatungen charakterisierte Carl Joseph v. Schmid (Deutsche Reichspartei) die geforderten Erhebungen als den „Gesetzgebungszweck vorbereitende, nicht bloß akademische, sondern ernsthaft praktische Studien“279 – modern gesprochen also als Sachstands- und Gesetzgebungsenquête. Eine Woche früher hatte der Präsident des Reichskanzleramtes Karl Hofmann die Enquête ebenfalls als vor der Herkulesaufgabe einer Steuerreform notwendige Maßnahme herausgestellt.280 Um etwaige parlamentarische Sorgen zu zerstreuen, hatte der ehemalige hessische Ministerpräsident, der den Freihandelsbefürworter Delbrück ersetzt hatte, weiterhin betont, dass bislang noch keine Entscheidung für ein Monopol oder ein anderes Besteuerungssystem gefallen wäre. Die Regierung ersuche die Volksvertretung schlicht um die Mittel, um „auf Grundlage einer vollständigen, umfassenden, mit gesetzlicher Autorität veranstalteten Untersuchung der Verhältnisse“ eine sachgerechte Entscheidung vorzubereiten. Ausdrücklich versicherte der preußische Staatsminister, dass sich der Reichstag durch die Annahme der Vorlage keineswegs verpflichte, demnächst „diese oder jene Form der Besteuerung […] gut zu heißen“.281 Diesen Beteuerungen zum Trotz monierten der Zentrumspolitiker Burghard v. Schorlemer-Alst und die Nationalliberalen Rudolph v. Bennigsen und Franz August v. Stauffenberg, dass der Gesetzentwurf auf das Monopol abziele.282 Anders als die Nationalliberalen, die bloß der Staatsregie, nicht aber einer Steuererhöhung unversöhnlich gegenüberstanden, lehnte Schorlemer-Alst jede von der parlamentarischen Zustimmung unabhängige Finanzquelle rundheraus ab, weil der Reichstag andernfalls „ohne jede Kompensation“ das „einzige effektive konstitutionelle 275

VerhRT III/2 (1878), Nr. 248, S. 1558. VerhRT III/2 (1878), Nr. 237, S. 1528. 277 VerhRT III/2 (1878), Nr. 248, S. 1558. 278 E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 68 f. 279 VerhRT III/2 (1878), S. 1356. 280 VerhRT III/2 (1878), S. 1224. 281 VerhRT III/2 (1878), S. 1204. 282 VerhRT III/2 (1878), S. 1205, 1209, 1231. 276

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Recht“ aufgebe.283 Das Tabakmonopol dämonisierte der Volkswirtschaftler, der seit 1863 dem Landes-Ökonomie-Kollegium angehörte, als „gefährliches Präzedens“. Im Hinblick auf das katastrophale ostdeutsche Wirtschaftsmodell nach dem Zweiten Weltkrieg war seine Sorge, dass der Staat seine Hand künftig auf sämtliche Güter legen könne, bis „alles nur Staatseigenthum [wäre…] mit dem Rechte des einzelnen auf Lohn für die von ihm geleistete Arbeit“, geradezu prophetisch.284 – Der Anführer der oppositionellen Fortschrittspartei Eugen Richter sprach sich gegen jede finanzpolitische Veränderung aus. Eine Enquête hielt er deswegen für überflüssig, die beantragten Kosten von 200.000 Mark für verschwendet, die verursachte Unruhe für ungerechtfertigt.285 In der Frage des konkreten Enquêtezuschnitts spiegelten die Stellungnahmen teils die politischen Präferenzen in der Finanzreformfrage wider: Die Regierung beabsichtigte eine Zweiteilung der Enquête, „nämlich einmal in die örtlichen Erhebungen des statistischen Materials“ und „zweitens in die sachverständige Sichtung und Beurtheilung dieses Materials zum Zweck der Gesetzgebung“.286 Vor dem Hintergrund, dass rein statistische Angaben ebenso gut für das Monopol genutzt werden konnten, indem man Daten über die voraussichtlichen Entschädigungssummen sammelte, äußerte der Nationalliberale Ferdinand Scipio die Sorge, dass die Erhebungen bei einer Betonung des Lokalen eher in Richtung der „statistischen Momente“ als der wichtigeren „allgemeinen Fragen“ verlaufen könnten.287 Eine ausgedehntere Enquête, die in die Einzelheiten des Tabakgeschäfts einging, Abläufe und Wirtschaftsströme herausarbeitete und analysierte, versprach eine Offenlegung der denkbaren Ansatzpunkte für eine Tabaksteuerreform. Aus diesem Grund propagierte Rudolph v. Bennigsen eine „unbefangene und gründliche Untersuchung“ der „Tabakverhältnisse“ überhaupt nach dem Vorbild franzö­sischer Enquêten in den 1830er Jahren. Auf diesem Wege sei zu eruieren, „welche Steuer­ form angesichts der […] bestehenden Verhältnisse überhaupt zulässig“ bzw. „in welchem Umfang […] eine Steuererhöhung erträglich“ sei und „welches finanzielle Ergebniß“ sie erbringen könne. Die für die Betroffenen „vexatorischen Bestimmungen“ der Regierungsvorlage über Pflicht, Zwang und Strafen wollte der ehemalige Staatsanwalt ersatzlos streichen.288 Sein Parteifreund Stauffenberg sekundierte gegen statistische Untersuchungen. Anstelle der Regierungsvorlage forderte er einen „einfachen Gesetzentwurf“, „welcher der Regierung die Mittel an die Hand [gebe, um…] eine Enquete […] über die Verhältnisse des Tabakbaus, der

283

VerhRT III/2 (1878), S. 1205 f. VerhRT III/2 (1878), S. 1207. 285 VerhRT III/2 (1878), S.  1217 f. Zu E. Richter und Fortschrittspartei s. E. R. Huber,­ DtVerfGesch IV2 1982, S. 75 ff. 286 s. die Äußerung des Präsidenten des Reichskanzleramtes Karl Hofmann, VerhRT III/2 (1878), S. 1358 sowie S. 1370, 1857 f. die Vorschläge und Ausführungen C. J. v. Schmids (Deutsche Reichspartei) sowie § 2 seines Amendements (Nr. 237, S. 1528). 287 VerhRT III/2 (1878), S. 1370. 288 VerhRT III/2 (1878), S. 1209, 1211 f. 284

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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Tabakfabrikation und des Tabakhandels“ zu veranstalten.289 Während Carl Joseph v. Schmid (Deutsche Reichspartei) auch für eine ergebnisoffene Erhebung eintrat, die ebenso den Tabakanbau einbeziehe wie die Staatsregie,290 verteidigte der Konservative Hans Hugo v. Kleist-Retzow den Regierungsentwurf. Trotzdem favorisierte der ehemalige Oberpräsident der Rheinprovinz eine Enquête, die sich „gleichzeitig auf das Monopol und auf hohe Steuer“ richte. Interessant ist die Überlegung, dass die befragten Unternehmer andernfalls in Versuchung kämen, die „Dinge gering an[zu]geben“, wenn es ausschließlich um eine Steuer gehe, die entschädigungsfähigen Werte aber zu hoch zu beziffern, wenn man sie mit einem Monopol konfrontiere.291 Diesen Gedanken griff zu Recht auch der gemäßigte Konservative Otto v. Helldorff auf:292 Zwischen Scylla und Charybdis ist eben schlecht zu taktieren. Die Fortschrittspartei brachte, wie schon für die Eisenbahntarife, erneut eine parlamentarische Enquêtebeteiligung und damit wenigstens einen schwachen Abglanz einer parlamentarischen Selbstinformationsmöglichkeit ins Spiel. Eugen Richter erwartete eine tendenziöse Erhebung, wenn die Besteuerungsform in den Vordergrund gestellt werde, von der man sich die höchste Steuer verspreche. Da zudem bei den bisherigen Regierungserhebungen, abgesehen von dem „Re­sultat, […] wie man Enqueten nicht machen soll[e]“, „sehr wenig herausgekommen“ sei, forderte der Jurist eine starke „parlamentarische Betheiligung“. Man dürfe aber nicht, so war die preußische Regierung 1873 bei der Eisenbahn- und Gründer­enquête verfahren,293 bloß einzelne Abgeordnete einbeziehen, sondern müsse sämtliche politischen Standpunkte berücksichtigen. Ähnlich wie es Eduard Lasker damals verlangt hatte,294 forderte Eugen Richter jetzt als „gewisse Bürgschaft“ für die Ergebnisqualität, dass jedes Kommissionsmitglied Fragen stellen oder die Hinzuziehung von Sachverständigen verlangen könne. Bei einer reinen Regierungsenquête, fürchtete er, werde mit der Regierung, die im Steuerrecht „mehr Partei“ als anderswo sei, gleichsam der „Kauflustige“ beauftragt, „unparteiisch zu schätzen, was das Grundstück werth“ sei. Mehr Vertrauen brachte der Fortschrittspolitiker dem Gouvernement nur bei rein statistischen Zählungen entgegen.295 Eugen Richter schwebte also eine maßgebliche Rolle der Volksvertretung vor; möglicherweise orientierte er sich insoweit an englischen Vorbildern. Seine zweite Forderung, jedem Kommissionsmitglied weitgehende Rechte einzuräumen, erhob der Oppositionspolitiker sicherlich in eigener Sache und antizipierte so ein Stück weit – wie schon Eduard Lasker in der Eisenbahn- und Gründerangelegenheit – die moderne Ausrichtung des Enquête- und Untersuchungsrechts als Minderheitenrecht.296 289

VerhRT III/2 (1878), S. 1232. VerhRT III/2 (1878), S. 1356 f. 291 VerhRT III/2 (1878), S. 1226 f. 292 VerhRT III/2 (1878), S. 1366 f. 293 Vgl. D. Ziegler, Eisenbahnen, 1996, S. 167. 294 Vgl. 5. Teil 3. Kap. E. IV. 3. c). 295 VerhRT III/2 (1878), S. 1364 f. 296 s. dazu 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. 290

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(3) Die Sachverständigenfrage Einigen Raum nahm die Sachverständigenfrage ein. Um welche Art von Auskunftspersonen es ging, offenbarte der Vorschlag des promovierten kurhessischen Justizrats Richard Harnier, der den Staatsdienst in der zweiten Ära Hassenpflug quittiert hatte,297 einerseits Beamte, andererseits „sachkundige Fachmänner […] außerhalb der Beamtenkreise“ hinzuzuziehen.298 Trotz dieser Forderung seines Parteifreundes führte der Nationalliberale Rudolph v. Bennigsen den Erfolg der französischen Erhebungen der 1830er Jahre maßgeblich darauf zurück, dass man – anders als es die Regierungen jetzt beabsichtigten – großen Wert auf die „Abhörung von wirklichen Sachverständigen“ gelegt habe. In Frankreich habe man die Enquêtefragen „nicht bloß einzelnen Geschäftsleuten, sondern […] einer großen Menge von Personen zugeschickt, namentlich aber auch einer großen Anzahl von landwirthschaftlichen Vereinen und Handelskammern“. Neben dieser schriftlichen Erhebung sei eine „große Zahl von sachverständigen Personen […] aus den verschiedensten Lebenskreisen, Beamte, Gelehrte, frühere Konsuln von Ländern, in denen große Tabakindustrie und Tabakbau vorhanden [sei…], Geschäftsleute aus allen Kreisen, die sich irgendwie mit der Tabakfabrikation, dem Tabakbau und Tabakhandel beschäftig[t]en“, angehört worden. Gerade diese „mündliche Abhörung“ habe die „statistischen Aufnahmen und Zusammenstellungen der Antworten“ in einer „sehr interessanten Weise vervollständigt“.299 Während sich der Konservative Hans Hugo v. Kleist-Retzow damit zufrieden gab, dass es den Regierungen aufgrund des Gesetzentwurfs selbstverständlich möglich wäre, Sachverständige zu hören; schließlich gehe die Vorlage dahin, „einen wirklichen Eingriff machen zu können in die Verhältnisse des ­Privatmanns“,300 hielt es der ehemalige Staatsanwalt Bennigsen für notwendig, „Sachverständige aus dem Interessentenkreis vor die Enquetekommission“ zu fordern, um im „Kreuzverhör die Verhältnisse klar[zu]stellen“.301 Der Freiherr v. Stauffenberg wollte gar die „Regierung ganz bestimmt durch das Gesetz dazu […] veranlassen“302 und Robert Lucius (Deutsche Reichspartei) verlangte, Sachverständige schon zu den „ersten vorzunehmenden Erhebungen“ hinzuzuziehen.303 In der nächsten Beratung ­ ichard Harnier diese Fordenahmen die Nationalliberalen Ferdinand Scipio und R rung auf und verlangten, Sachverständige in sämtlichen Enquête­stadien, die Planung eingeschlossen, zu beteiligen.304

297

Vgl. G. Hirth, Parlaments-Almanach12 1877, S. 164. VerhRT III/2 (1878), S. 1362. 299 VerhRT III/2 (1878), S. 1211 (Hervorhebung nur hier). 300 VerhRT III/2 (1878), S. 1227. 301 VerhRT III/2 (1878), S. 1211 f. 302 VerhRT III/2 (1878), S. 1233. 303 VerhRT III/2 (1878), S. 1215. 304 VerhRT III/2 (1878), S. 1362, 1370. 298

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Diese eindeutigen parlamentarischen Signale nahm der Präsident des Reichskanzleramtes für eine Ankündigung zum Anlass, dass der Bundesrat bereit sei, schon „bei den Bestimmungen“ über die Enquête „Sachverständige“ anzuhören.305 In einer früheren Beratung hatte er eine „ausgedehntere Untersuchung, eine Enquete, die auch Sachverständige [heranziehe…], welche nicht gerade zu den Interessenten gehör[t]en“, bloß „keineswegs ausgeschlossen“, aber schon erklärt, dass die Regierungen gern zu einer Verständigung mit dem Reichstag über die „Art und Weise der Enquete und über die einzelnen Bestimmungen“ bereit seien.306 Zwischen der ersten und der zweiten Beratung brachten die beiden Abgeordneten der Deutschen Reichspartei Robert Lucius und Carl Joseph v. Schmid ein Amendement in den Reichstag ein, das u. a. Bedeutung und Stellung der Sach­ verständigen stärken sollte. An erster Stelle sollte die Kommission „vom Bundesrath unter Zuziehung von Sachverständigen“ berufen werden. Die „Bezirkskommissionen“ für die „örtlichen Erhebungen“ sollten „aus einem Beamten als Vorstand und zwei sachkundigen Mitgliedern“ gebildet werden.307 In der zweiten Lesung gab der Stuttgarter Oberfinanzrat v. Schmid zu bedenken, dass man allein „mit der bloßen Anhörung von Sachverständigen, namentlich aus den betheiligten Kreisen“, noch kein „sicheres positives Resultat“ garantieren könne. Generell hielt er die „Quelle der betheiligten Kreise“ für etwas „trübe“, zumal im Kreise der Interessenten ein eklatanter „Mangel an Kenntniß über die entscheidenden Enquetefragen“ hervorgetreten sei.308 Eugen Richter (Fortschrittspartei) ging soweit, dass man bloß versuche, der Enquête ohne echte Garantien ein „Relief“ aufzu­drücken, damit sie diesen Namen überhaupt verdiene. Weil sich „für jede Ansicht […] Sachverständige bringen“ ließen, wollte er auf die Art der Befragung und die Unvoreingenommenheit der Befragenden größeren Wert legen. Etwaige Sachverständige dürften deswegen „nicht bloß als reine Interessenten“, sondern müssten „unter einer gewissen Verantwortung“ vernommen werden.309 In der Sachverständigenfrage ging es der Mehrheit der Redner also keinesfalls um gelehrte Stellungnahmen aus der Wissenschaft. Vielmehr wollten sie die betroffenen Kreise zu Wort kommen lassen, um Regierung und Parlament über den Sachverhalt in Kenntnis zu setzen und – möglicherweise auch – ihre wirtschaftlichen Interessen einzubringen. (4) Mitwirkungspflichten, Zwang und Strafe Besonders umstritten waren die Mitwirkungspflichten, Zwangsbefugnisse und Strafvorschriften: Konkret sah die Regierungsvorlage Auskünfte der Fabrikanten und Händler über ihre „Betriebs- und Lagerräume“, die „vorhandenen Betriebs 305

VerhRT III/2 (1878), S. 1371. VerhRT III/2 (1878), S. 1230. 307 s. das Amendement in VerhRT III/2 (1878), Nr. 237, S. 1528. 308 VerhRT III/2 (1878), S. 1357. 309 VerhRT III/2 (1878), S. 1364 f. 306

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maschinen und Geräthschaften“, Personal, „Menge, Art und Preise der vorhandenen Tabacke und Tabackfabrikate“, des in den drei letzten Jahren „verarbeiteten Tabacks und der daraus hergestellten Fabrikate“ oder der 1877 umgesetzten Rauchwaren vor. „Zum Zwecke der Prüfung der Richtigkeit der gemachten Angaben […] sowie zur Vervollständigung der statistischen Erhebung [sollten…] die Tabackfabrikanten und Tabackhändler den […] Beamten und Kommissarien den Zutritt zu den Betriebs- und Lagerräumen, die Inaugenscheinnahme der Vorräthe […] sowie die Einsicht der Geschäftsbücher […] gestatten“. Eine Verletzung dieser Mitwirkungspflichten wollte man mit einer „Geldstrafe bis zu fünfhundert Mark“, bei deren Uneinbringlichkeit mit einer Freiheitsstrafe ahnden. Als Zwangsmittel sah der Entwurf überdies „Geldstrafen bis zu dreihundert Mark“ vor.310 Der Präsident des Reichskanzleramtes Hofmann rechtfertigte diese Befugnisse damit, dass sich zwar mit einer „freiwilligen Vernehmung von sachverständigen Interessenten“ möglicherweise ein „recht schätzbares Material gewinnen“ lasse, man aber jedenfalls mit größerer „Vollständigkeit und Zuverlässigkeit“ „zum Ziele“ komme, wenn den „Interessenten“ gesetzliche Pflichten auferlegt würden.311 Frei nach dem Motto, der Zweck heiligt die Mittel, verteidigte der Konservative Hans Hugo v. Kleist-Retzow den Regierungsentwurf damit gegen Vorwürfe, es handele sich um ein ganz ungewöhnliches „Eindringen in die Privatverhältnisse“, dass sich ohne valide Informationen weder Steuererhöhungen noch ein Monopol realisieren ließen.312 Anders als der konservative Oberpräsident  a. D. nahm der ehemalige Staatsanwalt v. Bennigsen Anstoß an den „vexatorischen Bestimmungen“ der Vorlage.313 Obschon erzwingbare Aussagen über die „Geschäftsverhältnisse“ zur Vorbereitung eines Monopols nützlich sein könnten, dürfe kein „Fabrikant“ verpflichtet werden, sich „seinem Konkurrenten gegenüber“ über die „intimsten Verhältnisse seines Geschäftsbetriebs“ zu äußern. Genau diese Folge hätten aber die geplanten Erhebungen, weil „Art und Weise der Verwendung und Vermischung der verschiedenen Sorten“ gerade den „Vortheil der einzelnen Fabrikanten“ ausmachten. Der Regierungsentwurf gefährde also die Existenz „ganzer Geschäftsbranchen“.314 Sein Parteifreund Stauffenberg zeichnete das Schreckbild eines „System[s…] der Spionage, […] des Vernehmens des Geschäftspersonals“ – kurzum: eines „Hineinlangen[s] des Untersuchungsrichters in den unbescholtenen Geschäftsbetrieb“.315 Während Hans Hugo v. Kleist-Retzow auf „Einsicht der Bücher“ bestand, „wenn die Verhältnisse genau und wahrheitsgetreu ermittelt werden

310

Vgl. den Entwurf in VerhRT III/2 (1878), Nr. 159, S. 1060 ff. oder die Synopse mit den Reichstagsbeschlüssen Nr. 253, S. 1571 ff. 311 VerhRT III/2 (1878), S. 1205. 312 Aus diesem Grund befürwortete der konservative Politiker das Monopol, weil jede Besteuerung Anlass zur Verfälschung des Tabaks gebe, die „nachher infolge gerade unserer Steuer immer erneute Eingriffe“ erfordern werde (VerhRT III/2 (1878), S. 1226 f.). 313 VerhRT III/2 (1878), S. 1209. 314 VerhRT III/2 (1878), S. 1210 f. 315 VerhRT III/2 (1878), S. 1232.

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soll[t]en“,316 verwarf Robert Lucius (Deutsche Reichspartei) diese Forderung als „außerordentlich lästiges Eindringen“, das „entweder ganz zu beseitigen“ oder doch auf Fälle zu „beschränken“ sei, „wo man […] dolus anzunehmen“ habe. Ansonsten kritisierte der Rittergutsbesitzer und promovierte Mediziner die „überflüssige[n] Detaillierungen“, die den Fabrikanten „gar nicht“ oder „wenigstens nicht […] ohne außerordentlich peinliche Offenlegung ihrer Verhältnisse“ möglich seien. Zu seiner Überzeugung waren die Erhebungen „auf summarische Angaben“ zu beschränken.317 Indem der Zentrumspolitiker v. Schorlemer-Alst beanstandete, dass die Enquête einschließlich der Zwangs- und Strafmaßnahmen ausschließlich dem „weisen Ermessen“ des Reichskanzlers überlassen sei,318 monierte er einen Bestimmtheitsmangel und forderte wohl auch parlamentarische Mitsprache für staatliche Eingriffsakte. Trotz dieses parlamentarischen Gegenwindes blieb der Präsident des Reichskanzleramtes Hofmann dabei, dass sich das benötigte Material „in vollständig ausreichender und zuverlässiger Weise“ nur „auf Grund einer gesetzlichen Verpflichtung“ beschaffen lasse.319 Carl Joseph v. Schmid pries als Alternative sein gemeinsam mit Robert Lucius eingebrachtes Amendement an, das auf über­f lüssige Belästigungen der Gewerbetreibenden verzichte, wenn sich die benötigten Informationen aus öffentlichen Urkunden, Registern oder durch Sachverständigenvernehmungen gewinnen ließen. Die von der Regierung geforderten Auskünfte seien demgegenüber dem einen „Gewerbetreibenden nicht möglich“, „dem anderen aber außerordentlich lästig und für seine Kredit- und Erwerbsverhältnisse schädlich“.320 Schon früher hatte der Stuttgarter Oberfinanzrat den Standpunkt verteidigt, dass keine gesetzesvorbereitende Enquête „empfindlich […] in die speziellen wirthschaftlichen Verhältnisse, namentlich nicht in die Geschäftsgeheimnisse der Gewerbetreibenden“ eingreifen dürfe.321 Ganz auf dieser Linie beschränke sich der Verbesserungsvorschlag auf „wahrheitsgemäße Angaben“ über „Zahl und Art des beschäftigten Hülfs- und Arbeiterpersonals“, die „Menge der […] hergestellten“ und „umgesetzten Tabacke und Tabackfabrikate“ sowie – für bestimmte Jahre – den erzielten Umsatz. Vor Ort sollten den Bezirkserhebungskommissionen „Zutritt zu den Betriebs- und Lagerräumen“ und die „Inaugenscheinnahme der Vorräthe an Taback und Tabackfabrikaten“ zustehen. Eine „Vorlage der Geschäftsbücher“ komme nur in Betracht, wenn „Angaben verweigert oder unzweifelhaft unrichtige Angaben“ gemacht würden. Zur Erzwingung setzte das Amendement auf „Geldstrafen bis zu 300 M.“.322 Während sich der Regierungsvertreter Hofmann ge 316

VerhRT III/2 (1878), S. 1227. VerhRT III/2 (1878), S.  1215 f. Diesen Kritikpunkten sollte das Amendement abhelfen (Nr. 237, S. 1528). 318 VerhRT III/2 (1878), S. 1207. 319 VerhRT III/2 (1878), S. 1370 f. 320 VerhRT III/2 (1878), S. 1372 f. Abdruck des Amendements (Nr. 237) S. 1528. 321 VerhRT III/2 (1878), S. 1356. 322 VerhRT III/2 (1878), Nr. 237, S. 1528. 317

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genüber diesen immer noch weitgehenden Forderungen aufgeschlossen zeigte,323 blieben die Nationalliberalen bei der konsequenten Ablehnung jeglicher Verpflichtungs-, Zwangs- und Strafvorschrift. Zur Untermauerung der These, dass ein „gutes Resultat“ schlicht die „Zuziehung von sachverständigen Fachmännern“ voraussetze, verwies Richard Harnier auf die Baumwollen- und die Eisenenquête.324 In der Abstimmung setzte sich letzten Endes die sämtliche Pflichten und Befugnisse ablehnende Auffassung durch.325 (5) Schutz von Geschäftsgeheimnissen In den Beratungen kamen auch schon archaische Datenschutzwünsche und Forderungen zum Schutz des Betriebsgeheimnisses auf. Für die teilnehmenden Beamten hielt Hans Hugo v. Kleist-Retzow insoweit ihre Verpflichtung zum Still­schweigen durch den Amtseid für ausreichend. Die „Kommissarien“ der beteiligten Kreise wollte er dazu eidlich anhalten.326 Das Amendement Schmid-­ Lucius sah darüber hinaus vor, sämtliche „Kommissionsmitglieder […] eidlich zu verpflichten, über die bei der Erhebung zu ihrer Kenntniß gelangenden Angelegenheiten der Gewerbetreibenden Amtsverschwiegenheit zu beobachten“.327 Der National­liberale Ferdinand Scipio erkannte zwar das Geheimhaltungsbedürfnis an, unterstützte aber nicht den Vorschlag der Reichspartei, sondern forderte die Regierungen bloß dazu auf, der „selbstverständlichen“ Notwendigkeit Rechnung zu tragen.328 Tatsächlich konzedierte der Präsident des Reichskanzleramtes Karl Hofmann, dass „individuelle Verhältnisse, die irgendwie zum Nachtheil der Interessenten gereichen könnten, wenn man sie [publiziere…], der Öffentlichkeit entzogen bleiben“ müssten. Zu diesem Zweck könne man das Material für den Reichstag „in der Art der statistischen Nachweisungen summarisch“ aufbereiten.329 Die avisierte Lösung ähnelte heutigen Gepflogenheiten, nicht auf eine Information des Parlaments zu verzichten, sondern einem legitimen Schutzbedürfnis privater oder betrieblicher Geheimnisse auf anderem Wege Rechnung zu tragen.330

323 Seiner Ansicht nach reichten die entschärften Vorschläge der Deutschen Reichspartei ebenfalls aus, „damit der Zweck des Gesetzes zu erreichen“ sei (VerhRT III/2 (1878), S. 1370 f.). 324 VerhRT III/2 (1878), S. 1362. 325 s. die Synopse in VerhRT III/2 (1878), Nr. 253, S. 1571 ff. 326 VerhRT III/2 (1878), S. 1227. 327 VerhRT III/2 (1878), Nr. 237, S. 1528 f. 328 VerhRT III/2 (1878), S. 1370. 329 VerhRT III/2 (1878), S. 1371. 330 Vgl. P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 11 Rn. 7, 11.

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cc) Beschluss Ironischerweise konnten sich die verbündeten Regierungen im Reichstag ebenso wenig mit ihren Enquêterechtswünschen durchsetzen wie die parlamentarische Linke. Unter dem Vorbehalt, dass nicht auf die „unbedingt nothwendig[en]“ „örtlichen Erhebungen“ verzichtet werde, erklärte sich der Präsident des Reichskanzleramts Karl Hofmann schließlich mit dem nationalliberalen Vorschlag einverstanden,331 ein von jeder Pflicht-, Zwangs- und Strafvorschrift entkleidetes, aber auf eine ausgedehntere Enquête gerichtetes Gesetz zu schaffen. Das Amendement Schmid-Lucius wurde zurückgezogen.332 Der Reichstag beschloss bloß die §§ 1 und 10 des Regierungsentwurfs in der entschärften Fassung des Amendements Stauffenberg. Jeglicher Hinweis auf eine „statistische“ Erhebung wurde gemeinsam mit Mitwirkungspflichten, Zwang und Strafen über Bord geworfen.333 c) Durchführung der Enquête und weitere Entwicklung § 1 Tabak­EnqG  1878 bestimmte damit lakonisch, dass „[ü]ber den Tabackbau, die Tabackfabrikation und den Handel mit Taback und Tabackfabrikaten im Reich […] unter Zuziehung von Sachverständigen nach Maßgabe der vom Bundesrath festzustellenden und bekannt zu machenden Bestimmungen Erhebungen veranstaltet werden [sollten], deren Resultat dem Reichstag mitzutheilen“ sei. Zur Finanzierung sah der zweite Paragraph des Gesetzes vom 26. Juni 1878 vor, „[i]n den Reichshaushalts-Etat für das Etatsjahr 1878/79 […] unter Kapitel 1a der einmaligen Ausgaben als Titel 12 einzustellen: Kosten der Aufnahme von Er­ hebungen über den Tabackbau, die Tabackfabrikation und den Tabackhandel […] 200.000 Mark“. Keine zwei Wochen nach Inkrafttreten dieses Gesetzes setzte der Bundesrat Anfang Juli 1878 eine elfköpfige Tabakenquêtekommission aus Beamten verschiedener Bundesstaaten, des Reichs und aus „Sachverständigen“ nieder. Allgemeine statistische Angaben wurden durch örtliche Erhebungen von 25  Bezirkskommissionen ergänzt. Zwar waren die Fragen nach zeitgenössischem Urteil auf die Vorbereitung eines Monopols fixiert; die Kommission behandelte aber dennoch auch das Für und Wider der verschiedenen Steuerformen. Im Übrigen bemühte man

331

VerhRT III/2 (1878), S. 1358. Ergänzend forderte der preußische Staats- und Finanzminister Hobrecht die Abgeordneten dazu auf, die Regierungsvorlage, „vielleicht mit wenigen Modifikationen, wie sie von Herrn von Schmid gemacht worden sind“, oder auch nur – wie durch v. Stauffenberg vorgeschlagen – den § 1 anzunehmen. In jedem Fall werde die Enquête „nicht ohne Erfolg“ bleiben. Selbst auf freiwilliger Basis werde „wenigstens ein sehr großer Theil der Beteiligten wahrheitsgetreue und vollständige Angaben machen“, so dass „ein sehr werthvolles Material zu erlangen“ wäre (S. 1361). 332 VerhRT III/2 (1878), Nr. 237, S. 1528. 333 s. VerhRT III/2 (1878), Nr. 248, S. 1558 und die Beschlüsse S. 1367 ff. und 1486.

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sich, den Bedenken des Reichstags gegen den früheren Tabaksteuerentwurf Rechnung zu tragen.334 Zwei Monate nach dem Bericht der Kommission an den Bundesrat präsentierte der Reichskanzler die Ergebnisse auch der Volksvertretung.335 Zwischenzeitlich hatte sich das politische Blatt gewendet: Der nationalliberale Versuch, die politische Lage auszunutzen, war nach hinten losgegangen. Rudolph v. Bennigsens Unnachgiebigkeit ließ Bismarck endgültig von seinem Werben Abstand nehmen. Als sich mit dem Pontifikat Leos XIII. die Chance für eine Annäherung an das Zentrum bot, kam es zum endgültigen Bruch. Der Reichskanzler nutzte zwei Attentatsversuche auf den Kaiser zur Auflösung des Reichstages. Die damit erzwungenen Neuwahlen bescherten den Konservativen (116 Sitze) erhebliche Gewinne auf Kosten der liberalen Parteien (138 Sitze). Durch den Schulterschluss der gestärkten Konservativen mit dem Zentrum (94 Mandate) in der „Volkswirtschaftlichen Vereinigung“ war ein wirtschaftspolitischer Kurswechsel und eine Reichsfinanzpolitik in Bismarcks Sinne in greifbarer Nähe.336 Kurze Zeit später wurden Schutzzölle eingeführt und u. a. ein neues Tabaksteuergesetz337 beschlossen. Trotz dieser Erfolge konnte Bismarck im Ringen um finanzielle Autarkie des Reiches keinen vollständigen Sieg erringen. Die Beschaffung der parlamentarischen Mehrheit ließ sich das Zentrum mit der Franckenstein’schen Klausel entgelten und konterkarierte damit ein Stück weit die finanzpolitischen Reformpläne des Reichskanzlers. In der Folge blieben dem Reich von den neuen Finanzströmen aus Schutzzöllen und Tabaksteuer lediglich 130 Millionen Mark p. a., während der „Rest“ den Einzelstaaten zufiel. Das Kaiserreich blieb deswegen für seinen Finanzbedarf, der sich bereits im Etatjahr 1879 auf rund 406 Millionen Mark belief, weiterhin in erheblichem Umfang von der Matrikularumlage abhängig.338 Ein weiterer Vorstoß Bismarcks auf das Tabakmonopol erlitt Mitte Juni 1882 eine vernichtende Niederlage mit 43 gegen 277 Stimmen. Selbst den Bundesrat hatte die Vorlage nur knapp passiert.339

334

J. Pierstorff, in: JbNöStat 33 (1879), 232 (257 ff.). Vgl. VerhRT IV/2 (1879), Nr. 32, S. 395. 336 Zu Attentaten und Wahlen s. D. Willoweit, VerfGesch7 2013, § 35 Rn. 12 f. s. zum Ganzen ausführlich aus zeitgenössischer Sicht W. Cahn (Hg.), Laskers Nachlass I, 1902, S. 55 ff. und mit unterschiedlichem Schwerpunkt auch E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1044 ff., 1068 ff.; K. E. Born, HdbDtGesch XVI16 1999, S. 131 ff.; ders., in: HdbPrGesch III, 2001, S. 15 (93 ff.); W. Treue, HdbDtGesch XVII11 1999, S. 248 ff.; O. Pflanze, Bismarck II, 2008, S. 38 ff., 51 ff., 56, 105 ff. Wahlergebnisse bei KStatA (Hg.), StatJbDtR 19 (1898), S. 148. 337 Gesetz, betreffend die Besteuerung des Tabacks, vom 16. Juli 1879 (RGBl. S. 245). 338 Zum Ganzen K. E. Born, HdbDtGesch XVI16 1999, S.  136 ff. Zur Rolle des Zentrums und der Franckensteinschen Klausel E. R. Huber, DtVerfGesch III3 1988, S. 950 ff. und ferner G. A. Ritter, Parteien, 1985, S. 21. 339 s. ausführlich von Bismarcks Entwurf bis hin zum Scheitern der Bundesratsvorlage im Reichstag H. v. Poschinger, Bundesrat V, 1901, S. 94 ff. sowie zur politischen Einschätzung E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 1070 f. 335

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4. Einordnung der Tabakenquête Die Tabaksteuerepisode gehört zu den missverstandensten Aspekten der Enquêteund Untersuchungsrechtsgeschichte. Bis heute dient sie immer wieder als Beleg für die These, dass der Reichstag auf eine „ausdrückliche Festlegung eines Enquete­ rechts“ in der Reichsverfassung zwar „verzichtet, in der Praxis jedoch sein Auskunftsbedürfnis […] realisiert [habe], indem er mittels Gesetzes die Bildung einer Untersuchungskommission verfügte“ (Egon Zweig).340 Überhaupt wird die Einsetzung durch Gesetz zum Regelfall stilisiert,341 obwohl die Mehrzahl der Enquêten in Wahrheit, bestenfalls durch den Reichstag angeregt, dann aber vom Bundesrat beschlossen und veranstaltet wurde. Der offenbare Zweck des Bundesratsvorstoßes in der Tabaksteuerfrage bestand in der Durchführung einer zwangsbewehrten Sachstandsenquête, um eine Reform vorzubereiten. Möglicherweise wünschte Bismarck überdies einen Stimmungstest zum parlamentarischen Widerstand gegen das Tabakmonopol. Mit einer statistischen Erhebung ließ sich insoweit der voraussichtliche Aufwand eruieren. Angesichts dessen standen die Aussichten des Gesetzes von vornherein schlecht. Die inhomogene Reichstagsmehrheit lehnte die Staatsregie aus unterschiedlichen Gründen ab. Entsprechend eindeutig fiel das Votum der Volksvertretung aus: Die Enquête wurde auf sämtliche Umstände und Verhältnisse der Tabakwirtschaft erweitert, damit sich die gewonnenen Daten auch für eine Steuerreform eigneten. Die Streichung sämtlicher Vorschriften über Pflicht, Zwang und Strafe aus dem Gesetzentwurf schwächte zusätzlich die Ziele der Regierung. Schon in den parlamentarischen Beratungen bezeichnete Robert Lucius das beschlossene Gesetz unverblümt als voraussichtlich „ziemlich wirkungslos“.342 Nach der Durchführung der Enquête klagte die Regierung, das gesammelte statistische Material sei ausgerechnet in den Beziehungen lückenhaft, „welche bei der Einführung des Tabackmonopols [!] von der schwerwiegendsten Bedeutung“ wären. Eine „Vervollständigung“

340

„Wegbereitend“ E. Zweig, ZfP 1913, 265 (298), ähnl. H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 1 und ferner F. Warmuth, StGH, 1920, S. 21 oder A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 29 f. Schwächer K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 11: „wenn eine Enquete zu legislativen Zwecken nicht zu umgehen war, so wurde ähnlich wie in Preußen regelmäßig durch Spezial­ gesetz eine besondere Kommission geschaffen, die nach Erledigung ihrer Aufgaben wieder auseinanderging und ihre Kompetenz aus dem Sondergesetz und nicht aus einer allgemeinen Zuständigkeit des Reichstags ableitete“; ebenso H. Bockmann, UntersuchungsR, 2010, S. 38 und ähnl. J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S. 4 oder H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 457 mit Fn. 17. Zutreffend dagegen J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 13 und mit teils unrichtiger Begründung ferner J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR II2 1930, S. 690. 341 Etwa K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  11; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S.  29 f.; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 457; H. Bockmann, UntersuchungsR, 2010, S. 38 oder M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 2 und ferner wohl auch M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 3; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 12. 342 VerhRT III/2 (1878), S. 1483 f.

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

habe der „Mangel jeden Zwangsrechts gegen die Betheiligten“ verhindert.343 Der Reichstag hatte sich also keineswegs den Wünschen des vermeintlich übermächtigen Bismarck gefügt, sondern sich dessen finanzverfassungsrechtlichen „Umsturzversuchen“ erfolgreich widersetzt. Daran änderten auch die Parlamentsauflösung und der anschließende handelspolitische Kurswechsel nichts. Trotzdem ist das Tabakenquêtegesetz von 1878 für die Entwicklung des Enquête- und Untersuchungsrechts von Interesse, indem die Reichsregierung die heute teils bestrittene344 Notwendigkeit robuster Befugnisse für eine erfolgreiche Sachstandserhebung ausdrücklich anerkannte. Die beantragte Regelung der Auskunfts- und Mitwirkungspflichten der Betroffenen bzw. flankierende Zwangsund Strafvorschriften war durchaus modern. Entsprechende Forderungen sollten ab den 1890er Jahren von den Sozialdemokraten für das parlamentarische Selbstinformationsrecht wiederholt werden. Wie diese Bemühungen scheiterte auch der Regierungsvorstoß im Reichstag. Das Gesetz wurde gegenüber dem Entwurf derartig verstümmelt, dass es nicht mehr über die Gewährung der erforderlichen Finanzmittel hinausging. Wenigstens wurden in den Debatten verschiedene interessante Aspekte wie Minderheitenrechte in einer Erhebungskommission oder der Schutz des Betriebsgeheimnisses tangiert. Alles in allem ist die Tabakenquête also „bloß“ ein weiteres Beispiel für eine Regierungsenquête. Von ihren sozial- oder wirtschaftspolitischen Vorgängerinnen unterschied sie sich vor allem dadurch, dass die Initiative dieses Mal ausschließlich von der Regierung ausging und auf parlamentarischen Widerstand stieß. Als Beleg für die immer wieder anzutreffende These, das Parlament habe durch Spezialgesetz von Fall zu Fall eine Untersuchungskommission eingesetzt, taugt sie nicht.

III. Bewertung der Phase reiner Regierungsenquêten Die wenigen Beispiele aus der Staatspraxis des Kaiserreichs geben einen Einblick in das damalige Regierungsenquêtewesen, nach dessen Bauplan noch verschiedene andere Erhebungen veranstaltet wurden.345

343

s. die Gesetzesbegründung in VerhRT IV/2 (1879), Nr. 136, S. 1190. Zu heutigen Versuchen, Art. 44 GG auf die Regierungs- und Verwaltungskontrolle zu beschränken, s. 8. Teil 4. Kap. A. II. 345 Vgl. zur Lage der Landarbeiter O. Pflanze, Bismarck II, 2008, S. 33 f.: Federführend war das Landwirtschaftsministerium. Auf Bismarcks ausdrücklichen Wunsch nahmen neben Beamten zwei Gutsbesitzer als sachverständige Dritte an den Beratungen teil. s. auch die Zusammenstellung von Enquêten bei K. Borchardt/C. Meyer-Stoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 177 in Fn. 9. 344

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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1. Sachstandsermittlungen ohne Kontrollcharakter Offensichtlich dienten die reinen Regierungsenquêten der ersten Jahrzehnte ausschließlich zur Erhebung statistischen oder auch profunderen Materials, um weitere Maßnahmen vorzubereiten. Ohne parlamentarische Beteiligung blieb jeder Anflug von Kontrolle und Kritik, wie er sich in den Sachstandserhebungen des Abgeordnetenhauses bisweilen gezeigt hatte, bei diesen reinen Regierungs­ veranstaltungen selbstverständlich aus. 2. Keine unmittelbare Parlamentsbeteiligung Dass sich nicht alle Fraktionen des Reichstags widerspruchslos in dieses Schicksal fügten, zeigen die linken Forderungen substantieller parlamentarischer Enquêtebeteiligung, die wenigstens in der Eisenbahntarif- und der Tabaksteuerfrage erhoben wurden. Für entsprechende Desiderate mag neben dem Selbstinformationsinteresse der Abgeordneten der Wunsch eine Rolle gespielt haben, die jeweilige Kommission nach dem Muster der preußischen Eisenbahnenquête auch als Forum einer politischen Auseinandersetzung bzw. Kontrolle der Regierung zu nutzen. Soweit anlässlich der Eisenbahntarife eine mögliche Verletzung von Art. 45 RVerf 1871 angesprochen wurde, liegt es angesichts des preußischen Vorbilds von 1873 nahe, dass die Fortschrittspartei auch deswegen über eine Teilnahme von Abgeordneten räsonierte. Durchsetzen ließen sich entsprechende Forderungen zum damaligen Zeitpunkt weder gegenüber dem Plenum noch dem Bundesrat. Stattdessen wurden Abgeordnete allenfalls als Auskunftspersonen vor eine Kommission geladen. Die im Schrifttum im Anschluss an Egon Zweigs erratische Analyse als Beispiel dafür angeführte Tabakenquête, dass der Reichstag zwar auf ein ausdrückliches Enquêterecht „verzichtet, in der Praxis jedoch sein Auskunftsbedürfnis […] realisiert [habe], indem er mittels Gesetzes die Bildung einer Untersuchungskommission verfügte“,346 war ebenfalls eine Regierungsuntersuchung ohne parlamentarische Beteiligung. Mit ihrer Hilfe lässt sich die These, dass es im Kaiserreich „zur Bildung von parlamentarischen [!] Untersuchungskommissionen aufgrund eines jeweils besonderen Gesetzesbeschlusses“ gekommen wäre, nicht untermauern.347 Ebenso wenig hatte sich das Enquête- und Untersuchungsrecht „zu einer Art Verfassungsgewohnheitsrecht verfestigt[, so…] daß selbst unter der Reichsverfassung von 1871, die das parlamentarische Untersuchungsrecht nicht ausdrücklich vorsah, im Reichstag zahlreiche Untersuchungsverfahren erfolgreich durchgeführt“ worden wären.348 Stattdessen folgte die Staatspraxis älteren kon­stitutionellen Thesen, wie sie Karl v. Rotteck dahin formuliert hatte, dass der 346

E. Zweig, ZfP 1913, 265 (297 f.). H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 1. Ohne Bezugnahme auf die Tabakenquête F. Warmuth, StGH, 1920, S. 21. 348 H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 44 Rn. 2 (Hervorhebung nur hier). 347

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Landesvertretung jede eigene „Untersuchungsgewalt“ abgehe, die Regierung ihr aber „nichts verheimlichen [dürfe…], sondern alle zur Darstellung der Lage des Staates und der von den Ständen zu vertretenden Interessen nöthigen Weisungen, Aufklärungen, Aktenstücke, Urkunden u. s. w. auf Verlangen vorlegen [müsse…], und daß auf ihre Aufforderungen die nöthigen Untersuchungen von Seite der Regierung zu veranstalten“ wären.349 Dass selbst die Reichstagsmehrheit linksliberalen Forderungen, Abgeordnete an der Eisenbahntarif- oder der Tabakenquête zu beteiligen, alles andere als aufgeschlossen gegenüberstand, war u. a. denselben Ressentiments zu verdanken, mit denen auch das parlamentarische Selbstinformationsrecht zu kämpfen hatte. Symptomatisch ist der offen ausgesprochene Einwand des Präsidenten des Reichseisenbahnamtes Maybach, dass auf Reichsebene keine mit Art. 82 PrVerf 1850 vergleichbare Regelung existiere.350 Ohne ausdrückliches Enquête- und Untersuchungsrecht unterlag selbst die Berufung von Abgeordneten in eine Regierungskommission also (vorgeschobenen?) verfassungsrechtlichen Zweifeln, deren Grundlage letzten Endes diffuse Gewaltenteilungssorgen gewesen sein dürften. Das preußische Beispiel von 1873 erscheint vor diesem Hintergrund als wegen Art. 82 PrVerf 1850 ausnahmsweise zulässige Interorgankooperation. Weitere Ressentiments dürften parteipolitischer Natur gewesen sein, indem die Parteien, die grundsätzlich auf eine (künftige) Kooperation mit dem Reichskanzler bauten, wenig Interesse an konfliktträchtigen parlamentarischen Mitwirkungsgelüsten verspürt haben dürften. In der ersten Phase des Kaiserreichs wurden sämtliche Enquêten ohne jeglichen parlamentarischen Einfluss auf ihre Durchführung veranstaltet. Anders als in Preußen, Bayern oder Württemberg hat es nicht einmal einen beschränkten Anflug von Selbstinformation gegeben. 3. Enquêteersuchen und Fremdinformation Statt die Verankerung eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts in der Verfassung zu erkämpfen oder wenigstens das vermeintlich „natürliche Recht“ in Anspruch zu nehmen, freiwillige Zeugen und Sachverständige zu vernehmen, beschränkte sich der Reichstag auf Ersuchen an die Regierungen, Erhebungen über bestimmte Sachverhalte anzustellen. Diese Praxis ähnelte nicht nur äußerlich den seit dem Vormärz bekannten Formen; die Volksvertretung hatte im Reichskonstitutionalismus der 1870er Jahre auch materiell genauso wenig Einfluss darauf, ob, wann, wie und unter welchem Vorzeichen die Regierung einem Ersuchen Folge 349 K. v. Rotteck, VernunftR II2 1840, S. 256 und ähnl. C. v. Kaltenborn, ConstVerfR, 1863, S. 89. Insoweit stellte E. Zweig, ZfP 1913, 265 (273 ff.) das vermeintliche Untersuchungsrecht des § 91 StGG SWE 1816 zu Unrecht der zurückhaltenden Position Rottecks gegenüber, weil sich beide in Wahrheit entsprachen. 350 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1127 f.

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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leistete, wie die Landtage in den Einzelstaaten. Nicht einmal eine Auskunft über den Stand der Bundesratsverhandlungen, über das geplante Vorgehen oder über etwaige Fortschritte einer Erhebungskommission konnte der Reichstag für sich beanspruchen. Indem die Regierungen die uneingeschränkte Herrschaft über die Durchführung der Enquêten besaßen, verfügten sie zwangsläufig auch über den ersten Zugriff auf die ermittelten Informationen. Anstelle ungefilterter Erkenntnisse, die für die Abgeordneten aber aufgrund ihrer Fülle in der Regel ohnehin wertlos gewesen wären, wurden dem Reichstag zusammenfassende und interpretierende Berichte vorgelegt. An der damit verbundenen gouvernementalen Deutungshoheit änderten auch die teils mehrtausendseitigen statistischen Anlagen nichts. Abhilfe hätte allenfalls die von den Linksliberalen verschiedentlich geforderte Parlamentsbeteiligung in sämtlichen Stadien einer Enquête von der Vorbereitung über die Durchführung bis zu der Erstellung des Berichts ermöglicht. Dass der Bundesrat dem Reichstag ausgerechnet auf die Tabakenquête scheinbar größeren Einfluss zugestehen wollte, war möglicherweise ein taktisches Manöver. Einerseits ging es „lediglich“ um die Untersuchungsbefugnisse, die der königlichen Kommission und ihren Ermittlungsorganen zustehen sollten. Andererseits spielte Otto v. Bismarck mit diesem Schachzug, das Parlament um robuste Erhebungsbefugnisse zu ersuchen, der parlamentarischen Seite und den Parteien in der drängenden Reichsfinanzreformfrage – das bisherige System wurde als zunehmend ungerecht empfunden – gewissermaßen den „Schwarzen Peter“ zu. Ein weiteres Kalkül mag gewesen sein, die politischen Fronten durch einen kontroversen Gesetzentwurf eindeutig zu klären. Ein echter Einfluss auf die anstehende Enquête, der das verbreitete Urteil gerechtfertigt hätte, dass der Reichstag sein Informationsbedürfnis auf gesetzgeberischem Wege habe befriedigen können, war mit dem Gesetzentwurf der Regierung nicht verbunden. 4. „Enquêtemüdigkeit“? Der Reichstag begehrte nicht gegen diese informationsrechtliche Entmachtung auf. Weder versuchte die Volksvertretung, sich unabhängig von den Regierungen mit Hilfe ihres „natürlichen Rechts“ zu informieren, noch eine „echte“ Beteiligung nach dem Vorbild der preußischen Eisenbahnenquête einzufordern. Ohne wenigstens relativ unmittelbaren Informationszugang blieben die regierungskritischen Kräfte weiter auf das Interpellationsrecht angewiesen, um sich mit der Regierungspolitik auseinanderzusetzen. Angesichts dieses Grundbefundes fand Egon Zweig spätestens in den Beratungen über den sozialdemokratischen Verfassungsänderungsantrag von 1890 die „Note einer gewissen Enquetemüdigkeit“, die letztendlich zum Verzicht auf das Enquêterecht geführt habe.351 Dem ersten Anschein zum Trotz trifft diese Diagnose 351

E. Zweig, ZfP 1913, 265 (297 f.).

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

nicht vollständig zu: Bedenkt man etwa das parlamentarische Vorgehen in der sozialen Frage, drängt sich zwar der Eindruck auf, dass der Reichstag gegenüber der Regierung „aufgegeben“ habe. Zieht man aber den Umfang der veranstalteten Erhebungen mit mehreren 10.000 Fragebögen bzw. der Anhörung von rund 4.000 Arbeitgebern und 2.000 Arbeitnehmern ins Kalkül, wird deutlich, dass der Reichstag eine solche Herkulesaufgabe aus eigner Kraft überhaupt nicht stemmen konnte. In dieser Hinsicht waren die Erfahrungen mit den Sozialenquêten der preußischen Vereinbarungsversammlung oder der konstitutionellen Kammern kaum dazu geeignet, parlamentarische Selbstinformationsgelüste zu wecken. Freilich hinterlässt es einen faden Beigeschmack, dass der Reichstag nicht einmal Beteiligungsforderungen erhoben hat. Dieses Versäumnis holte die linksliberale Opposition dann anlässlich der Eisenbahntarife und der Tabaksteuerfrage nach. Anders als auf dem sozialen Sektor, auf dem wenigstens über das Elend der betroffenen Kreise weitgehend Einigkeit herrschte, ging es dieses Mal um hochkontroverse Themen: In der Eisenbahntariffrage unterlagen die durch das Reichseisenbahnamt genehmigten Erhöhungen verfassungsrechtlichen Bedenken. In der Tabaksteuerangelegenheit drohte zur Überzeugung liberaler Kreise in Gestalt des Monopols eine Entmachtung des Reichstags. Außerdem widersprach eine Staatsregie den wirtschaftsliberalen Ansichten weiter Kreise. Anders als die Sozial­enquêten boten sich beide Gelegenheiten förmlich dazu an, die Regierung im Rahmen einer Enquête zu kontrollieren oder Kritik an ihren Maßnahmen zu üben. Während die heute geringgeschätzte preußische Eisenbahnenquête kritischen Zeitgenossen als Vorbild vor Augen gestanden haben dürfte, hatte die Reichstagsmehrheit, die grundsätzlich zu einer Kooperation mit dem Reichsgründer bereit war, an einer informatorischen Konfrontation kein Interesse. Für verschiedene Kräfte, die jede Beteiligung des Parlaments an der Exekutive aus dogmatischen Gründen ablehnten, ging es außerdem ums Prinzip. Welche Motive aber für die Mehrheit auch ausschlaggebend waren; „Enquêtemüdigkeit“ gehörte nicht dazu. 5. Sensibilisierung für Eingriffs- und Geheimnisschutzfragen Eine interessante Fußnote betrifft die durch die Tabakenquête aufgeworfenen Eingriffs- und Geheimnisschutzfragen. 1873 hatte es Eduard Lasker im preußischen Abgeordnetenhaus als Vorteil einer Regierungsenquête anerkannt, dass sich sämtliche Hürden „unter Mitwirkung der Regierung […] leicht beseitigen“ ließen. Das Staatsministerium könne eine königliche Kommission mit allen erforderlichen Befugnissen einschließlich einer Requisition der Behörden oder einer eidlichen Zeugenvernehmung ausstaffieren.352 Vom Bestehen derartiger exekutiver Befugnisse ohne besondere gesetzliche Ermächtigung scheint die Reichsregierung im Fall der Tabakenquête nicht ausgegangen zu sein. Ungeachtet möglicher tak­tischer Hintergedanken ging der Bundesrat anscheinend davon aus, dass die 352

VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1044 f.

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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mit der geplanten Erhebung einhergehenden Eingriffe gegenüber Fabrikanten und Händlern eine besondere gesetzliche Ermächtigung erforderlich machten. Im Parlament dominierten dann einerseits Bedenken gegen die „vexatorischen Bestimmungen“ über Mitwirkungspflichten, Zwang und Strafe und andererseits Sorgen um den Schutz der Betriebsgeheimnisse der Tabakfabrikanten. Insgesamt waren die Beratungen von einer hohen Sensibilität gegenüber den Eingriffswirkungen der künftigen Enquête geprägt. Auf parlamentarischer Seite mögen insoweit auch Abwehrreflexe gegen das durch Bismarck präferierte Tabakmonopol eine Rolle gespielt haben. Obwohl die Regierungen anders als die Volksvertretung grundsätzlich über exekutive Mittel zur Veranstaltung einer Enquête verfügten, nahmen sie diese doch keineswegs als unbeschränkt wahr. Wie wenig schlagkräftig ihre Möglichkeiten ohne Spezialgesetz waren, unterstrich die Klage, dass eine erfolgreichere Enquête „bei dem Mangel jeden Zwangsrechts gegen die Betheiligten nicht möglich“ gewesen sei.353 Vergleicht man die Tabakenquête mit der preußischen Wahlmanipulationsuntersuchung, scheint eine Pflicht zur wahrheitsgemäßen Aussage bloß gegenüber den Gerichten bestanden zu haben. Wie wenig die Regierungen von einer freiwilligen Enquête unter den wirtschaftlich Betroffenen erwarteten, verdeutlichen ihre Befugniswünsche gegenüber dem Reichstag. Indem die Volksvertretung das Enquêtegesetz aber ohne Pflicht, Zwang und Strafen beschloss, veranschlagte es die Belastungswirkung hoheitlicher Informationseingriffe und die Bedeutung des Geschäftsgeheimnisses anscheinend höher als das gubernative Enquête­interesse. Analog dazu wird der Anwendungsbereich des modernen Art. 44 GG teilweise auf politische Untersuchungen beschränkt, während Enquêten mit Pflicht und Zwang als unzulässig gelten.354 6. Zwischenergebnis Die frühe Staatspraxis des Deutschen Reiches schloss sich gewissermaßen der Mehrheitsentscheidung aus den norddeutschen Verfassungsberatungen an. 1867/68 hatte sich grundsätzlich die Auffassung durchgesetzt, dass ein Enquêteund Untersuchungsrecht gegenüber dem Petitionsrecht wenig wert wäre; etwa erforderliche Informationen könne sich die Volksvertretung leicht auf anderem Weg verschaffen. Diesem Votum folgend, hegte die Reichstagsmehrheit auch in den kommenden Jahren anscheinend keinen Wunsch nach Selbstinformationsmöglichkeiten bzw. einer aktiven Teilnahme an den Regierungsenquêten. Statt linksliberalen Forderungen Gehör zu schenken, bahnte sich im Reichstag das spätere informationsrechtliche Kooperationsverhältnis mit der Regierung an, indem der Bundesrat verschiedene Enquêten auf parlamentarische Veranlassung hin veranstaltete. 353

VerhRT IV/2 (1879), Nr. 136, S. 1190. s. dazu 8. Teil 4. Kap. A. II. 2.

354

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B. Eine „atavistische Evolution“: Gemeinsame und gemischte Enquêten Auf dem Höhepunkt der wechselseitigen politischen Abhängigkeiten kam es zu gemeinsamen Enquêten, deren verschiedene Facetten sich – verglichen mit der bisherigen Reichspraxis und gemessen an der preußischen Eisenbahnenquête  – sowohl als Fort- als auch als Rückschritt darstellen.

I. Die Börsen-Enquete-Kommission (1892–93) Mitte Februar 1892 setzte Reichskanzler Leo v. Caprivi nach massiven Beschwerden aus der Wirtschaft und wiederholten parlamentarischen Forderungen eine „Börsen-Enquete-Kommission“ ein; unter den ursprünglich 23 Mitgliedern befanden sich auch sieben Reichstagsabgeordnete, von denen vier gleichzeitig dem preußischen Abgeordnetenhaus angehörten.355 Obwohl das Schrifttum die Börsen- neben der Tabakenquête für die These heranzieht, dass der Reichstag sein „Auskunftsbedürfnis aus[geübt habe], indem er jeweilig [habe] durch Gesetz eine Untersuchungskommission aufstellen“ lassen,356 war ihre Durchführung weder einem Gesetz noch dem Reichstag, sondern einem Erlass des Reichskanzlers vom 16. Februar 1892 zu verdanken.357 1. Vorgeschichte: Neue Finanzkrisen nach 1873 Schon Ende 1887 hatte die Kreuzzeitung eine „gründliche, unter Aufsicht der Staatsbehörde vorgenommene Enquete“ angemahnt, die der „Gesetzgebung zur Richtschnur dienen“ könne.358 Kurz darauf forderte ein landwirtschaftlicher Verein aus Sachsen den Reichstag in einer Bittschrift dazu auf, „eine eingehende Prüfung der Mißstände an der Berliner Produktenbörse durch die hohe Reichsregierung [zu] veranlassen und für deren Abstellung auf gesetzgeberischem Wege Sorge [zu] tragen“. U. a. monierten die Petenten, dass die „Preisbildung der gangbarsten Brot- und Futterfrüchte […] widernatürlich beeinflußt“ und etwa minderwertige „Getreidequalitäten […] noch als lieferfähig zugelassen“ würden.359 Anfang März 1888 beschloss die Kommission die Empfehlung an den Reichstag, „die Petition dem Herrn Reichskanzler zur Erwägung zu überweisen, ob aus Anlaß 355

BerBörsEK 1893, S. 1 f. s. nur F. Warmuth, StGH, 1920, S.  21 oder H.  Rechenberg, BK  GG (1977/78), Art.  44 Rn.  1 und wohl auch K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  11 oder H.  Bockmann, UntersuchungsR, 2010, S. 38. 357 BerBörsEK 1893, S. 1. Zur Vorgeschichte J. C. Meier, BörsenG, 1992,, S. 89 ff. 358 Zitiert nach K. Borchardt/C. Meyer-Stoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 176. 359 VerhRT VII/2 (1887/88), Nr. 185, S. 808. 356

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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der […] vielfach […] zur Sprache gebrachten Mißstände eine Enquete […] vorzunehmen sei, und eventuell, ob eine reichsgesetzliche Regelung […] sich empfehlen möchte“.360 Im Plenum kam die Sache anscheinend nicht zur Sprache. Vier Jahre später geriet das Börsenwesen durch verschiedene Skandale in den Fokus des öffentlichen Interesses: Im April 1891 wurde der Bankier Paul Polke unter dem Verdacht verhaftet, Kurse manipuliert und Kunden betrogen zu haben. Im Sommer wurden Betrügereien mit russischen Devisen und den Getreidekursen bekannt. Später kam durch ein Gerichtsverfahren ans Licht, dass sich die Presse zu Manipulationen hergegeben hatte. Für weitere Aufregung sorgten konjunkturelle Schwankungen. Im Herbst kollabierten verschiedene angesehene Banken.361 Zum Schock der Öffentlichkeit trug sicherlich auch bei, dass man gerade erst die „Nachwehen des Jahres 1873“ überwunden zu haben glaubte.362 Unter dem 19.  November 1891 beantragten Zentrum, Deutsche Reichspartei und Deutschkonservative vor diesem Hintergrund, „die verbündeten Regierungen zu ersuchen[, …] noch im Laufe der gegenwärtigen Session eine Gesetzes­vorlage zu machen, in welcher dem Mißbrauch des Zeitgeschäftes als Spielgeschäft sowohl an der Börse, wie andernwärts, […] durch eingreifende Bestimmungen auf dem Gebiete des Strafrechts und des bürgerlichen Rechts entgegengetreten“ werde. Als Motiv gaben die Antragsteller an, dass die „Börsen und der Geschäftsverkehr an denselben einer wirksamen staatlichen Aufsicht unterstellt und dadurch ihren wahren Aufgaben für Handel und Verkehr erhalten werden“ sollten.363 Der Antrag wurde von 189 Abgeordneten unterstützt.364 Am nächsten Tag folgte ein nationalliberaler, von 19 Unterstützern getragener Minderheitsantrag, der im freihändlerischen Sinne lediglich eine Gesetzesinitiative forderte, um der „Veruntreuung anvertrauter Depots und dem Börsenspiele sowohl an den Produkten-, als auch an der Effektenbörse“ entgegenzutreten. „[R]eine[n] Differenzgeschäfte[n]“ wollte man die rechtliche Anerkennung versagen und die „Frage der Verschärfung der gesetzlichen Bestimmungen über den Konkurs einer eingehenden Prüfung“ unterziehen.365 Auch diese Anträge blieben unerledigt.366

360

VerhRT VII/2 (1887/88), Nr. 185, S. 814. Zum Ganzen J. C. Meier, BörsenG, 1992, S.  93 ff.; K. Borchardt/C. Meyer-Stoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 177 ff. und E. Richter, PolABC8 1896, S. 66. 362 Vgl. F. J. Pfleger, in: ders./L. Gschwindt, Börsenreform I, 1896, S. 1. 363 VerhRT VIII/1 (1890/92), Nr. 528, S. 2860. 364 J. C. Meier, BörsenG, 1992, S. 98. 365 VerhRT VIII/1 (1890/92), Nr. 531, S. 2866. 366 E. Richter, PolABC8 1896, S. 67; F. J. Pfleger, in: ders./L. Gschwindt, Börsenreform I, 1896, S. 2. 361

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2. Die Einsetzung der Börsenenquêtekommission Statt der Volksvertretung beriet am 29. November 1891 das preußische Staatsministerium aus Anlass der parlamentarischen Vorstöße und eines Erlasses Wilhelms II. über die Sache. Auf Vorschlag des Handelsministers Hans v. Berlepsch wurde – auch zur Beruhigung des Publikums – beschlossen, zunächst eine Kommission aus Sachverständigen beider handelspolitischer Richtungen einzuberufen, um den Zuständen an den deutschen Wertpapier- und Warenbörsen näher auf den Grund zu gehen.367 Um einem Übergewicht der Wirtschaftsvertreter vorzubeugen und zugleich Vertreter der politischen Parteien mit der Frage vertraut zu machen, regte Handelsminister Berlepsch Anfang März an, auch vier Parlamentarier – einen Deutschkonservativen sowie je einen Abgeordneten des Zentrums, der Nationalliberalen und der Freisinnigen – in die Kommission zu berufen.368 Mit der Niedersetzung dieser „Börsen-Enquete-Kommission“, die schließlich durch einen Erlass des Reichskanzlers v. Caprivi im Februar 1892 unter der formellen Regie des Reiches erfolgte, war die schwierige Reformfrage erst einmal vertagt.369 Für die informationsrechtliche Entwicklung auf der Reichsebene bedeutete die Enquête dagegen ein Novum, weil entgegen früheren Bedenken erstmals Abgeordnete als Kommissionsmitglieder hinzugezogen wurden. 3. Kommissionszusammensetzung In die Kommission wurden Fachleute aus dem Bankwesen – Vorsitzender war der Präsident des Reichsbankdirektoriums Richard Koch –, Vertreter aus Handel und Gewerbe, des Grundbesitzes, der Wissenschaft sowie verschiedene Staatsbeamte aus unterschiedlichen Ressorts berufen.370 Nachträglich folgte mit dem Senatspräsidenten am Reichsgericht Heinrich Wiener noch ein hochrangiger juristischer Praktiker. Die Nominierungen erfolgten durch die Länder, in denen sich Börsen befanden, durch das Reichsjustizamt sowie durch verschiedene preußische Ministerien; andere Kommissionsmitglieder, u. a. den Kommissionsvorsitzenden, bestimmte das Reichsamt des Innern. Bei späteren Nachberufungen wurden Wünsche der Kommission und des Deutschen Landwirtschaftsrats berücksichtigt.371 Neben diesen Mitgliedern wurden sieben Reichstagsabgeordnete, von denen vier ebenfalls dem Abgeordnetenhaus angehörten, in die Kommission berufen.372 Der auf preußischen Vorschlag ernannte Abgeordnete Karl Gamp (Reichspartei), 367 Abdruck des Sitzungsregests in Acta Borussica VIII/1, 2004, S. 96. s. ferner die Reden des Staatssekretärs des Innern Karl Heinrich v. Boetticher und des Kommissionsvorsitzenden­ Richard Koch am 6. April 1892 (ProtBörsEK 1893, S. 3). 368 J. C. Meier, BörsenG, 1992, S. 113. 369 K. Borchardt/C. Meyer-Stoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 178 f. 370 F. J. Pfleger, in: ders./L. Gschwindt, Börsenreform I, 1896, S. 2 f. 371 K. Borchardt/C. Meyer-Stoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 191 f. 372 BerBörsEK 1893, S. 1 f.

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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vortragender Rat im Handelsministerium, der sowohl dort als auch im Reichsamt des Innern das Börsenreferat leitete und dafür mitverantwortlich gewesen sein dürfte, dass man sich der Sache annahm,373 wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden ernannt.374 4. Vorgehen der Kommission Die Kommissionsberatungen wurden am 6. April 1892 durch den Staatssekretär des Innern und preußischen Staatsminister ohne Portefeuille Karl Heinrich v. Boet­ticher eröffnet.375 „Zweck und Ziel der Kommission“ charakterisierte der Kommissionsvorsitzende Koch so, dass „zu untersuchen [sei], wo die Schäden und Mängel ihren eigentlichen Sitz hätten, und, wenn möglich, Heilmittel zu bezeichnen“.376 Tatsächlich befasste man sich in 93 Sitzungen mit Fragen der Börsenorganisation und des Handels mit Papieren und Termingütern.377 a) Geschäftsordnung und Öffentlichkeit In der ersten Sitzung wurde ohne Debatte die Geschäftsordnung festgestellt.378 Der Vorsitzende terminierte und leitete die Sitzungen, durfte sich aber auch „an der Diskussion beteiligen“. Auf ihr Verlangen erteilte er den Mitgliedern das Wort. Anträge waren schriftlich einzureichen. Ein Protokoll wurde über den „Gang der Berathung im Allgemeinen“ sowie die „gestellten Anträge und […] gefaßten Beschlüsse[n]“ aufgenommen. Die Kommissionsverhandlungen waren nicht nur nichtöffentlich; ausdrücklich durfte „[k]einer der Betheiligten […] über deren Inhalt Mittheilungen in die Presse gelangen lassen, so lange nicht das Gegentheil beschlossen“ war. Über die Frage einer „etwaige[n] Veröffentlichung der Verhandlungsergebnisse“ kam es in der dritten Sitzung zu einer längeren Debatte. Schließlich wurde es dem „Vorsitzenden [überlassen…], von Zeit zu Zeit im Reichs- und Staatsanzeiger einen Bericht über das äußere Fortschreiten der Arbeiten der Kommission zu veröffentlichen“. Von „weiteren Publikationen über den Inhalt der Verhandlungen selbst“ wurde abgesehen.379 Später wurde gerade diese Nichtöffentlichkeit der Beratungen als „schwerer Verstoß gegen die Technik der Enquete“ kritisiert, weil man mit dieser Entscheidung eine Gelegenheit zur Beruhigung und Information des Publikums versäumt 373

J. C. Meier, BörsenG, 1992, S. 89. K. Borchardt/C. Meyer-Stoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 191. 375 ProtBörsEK 1893, S. 3. 376 ProtBörsEK 1893, S. 4. 377 E. Richter, PolABC8 1896, S. 67. 378 ProtBörsEK 1893, S. 4. Abdruck der Geschäftsordnung S. 11 f. 379 ProtBörsEK 1893, S. 35. 374

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

habe. Eine öffentliche Debatte habe demgegenüber zu Kritik, Ergänzung oder Berichtigung der Ergebnisse durch das interessierte Publikum beitragen können.380 Von anderer Seite wurden im Gegensatz dazu Befürchtungen laut, dass eine vollständige Transparenz hätte ebenso gut dazu führen können, dass die „Sachverständigen“ aus der Wirtschaft nicht in derselben Weise ausgesagt hätten.381 b) Sachverständigenauswahl In der Reichsbank wurde eine Vorschlagsliste mit Sachverständigen ausge­ arbeitet;382 die eigentliche Auswahl blieb der Kommission überlassen.383 Teilweise wurden Personen geladen, die selbst „um [ihre…] Vernehmung nachgesucht“ hatten.384 Andere wurden auf ihr Ersuchen von der Vernehmung entbunden;385 möglicherweise spielte für manchen die Enttäuschung eine Rolle, dass er nicht als Kommissionsmitglied berufen worden war.386 Gehört wurden mehr als 100 Sachverständige aus dem Bankwesen, Getreidehandel, der Mühlenindustrie, dem Handel mit Spiritus, Zucker, Kaffe, Öl, Petroleum, Salpeter, Wolle, Baumwolle etc. sowie aus der Landwirtschaft, der Textil-, Eisen- und Montanindustrie. Nachträglich wurde beschlossen, zusätzlich Makler der Produktenbörse, Konkursverwalter, gerichtliche Bücherrevisoren, juristische Praktiker und Pressevertreter anzuhören.387 Ein Antrag des Grafen Arnim, auch Geschädigte zu Wort kommen zu lassen, wurde „einstweilen abgelehnt, jedoch mit dem Vorbehalt, zur geeigneten Zeit auf denselben zurückzukommen“.388 In ihrer neunten Sitzung erklärte die Kommission „ihre Bereitwilligkeit […], von Korporationen, Vereinen und Einzelnen, denen bestimmte Erfahrungen zur Seite [stünden…], Petitionen, insbesondere Vorschläge zur Abstellung etwa vorhandener Mißstände entgegenzunehmen“. Ein 380 F. J. Pfleger, in: ders./L. Gschwindt, Börsenreform I, 1896, S.  12 ff.; K. Borchardt/ C. Meyer-Stoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 180. Schon im Frühjahr 1865 gehörte es in der Verfassungsreformdiskussion der württembergischen Kammer der Abgeordneten zu den Forderungen, dass öffentliche Enquêten veranstaltet werden könnten. S. 4. Teil 1. Kap. D. 381 J. C. Meier, BörsenG, 1992, S. 120 f. 382 J. C. Meier, BörsenG, 1992, S. 117. 383 s. ProtBörsEK 1893, S. 3 sowie die zweite Sitzung (S. 25) und die dabei ausgewählten Sachverständigen (S. 27 ff.) Verschiedentlich fanden noch Änderungen oder Erweiterungen der Liste statt (S. 35 f., 48, 51, 55, 56, 64, 67). 384 ProtBörsEK 1893, S. 55. 385 ProtBörsEK 1893, S. 67. 386 So die These von J. C. Meier, BörsenG, 1992, S. 114 zur Weigerung des börsenkritischen Adolph Wagner. 387 s. das Verzeichnis der über die Verhältnisse des Börsenverkehrs abzuhörenden Sach­ verständigen (ProtBörsEK  1893, S.  27 ff.), die Zusammenfassung der Kommissionsarbeit (S. 67 und BerBörsEK 1893, S. 3) sowie zu Nachbenennungen die Nachw. in Fn. 383. 388 ProtBörsEK 1893, S. 38. Der Antrag wurde wie ein entsprechender Vorschlag v. Huenes, zu dessen Gunsten v. Arnim seine Forderung zurückgezogen hatte, nicht wieder aufgenommen. s. dazu F. J. Pfleger, in: ders./L. Gschwindt, Börsenreform I, 1896, S. 5.

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entsprechendes Publikandum im Reichsanzeiger wurde dem Vorsitzenden aufgetragen.389 Tatsächlich liefen in der Folgezeit Mitteilungen ein, von denen aber bloß wenige Eingang in den Bericht fanden.390 c) Durchführung der Anhörungen Die Grundlage der Sachverständigenanhörungen war ein im preußischen Handelsministerium von Karl Gamp und Richard Koch entworfener und in der ersten Kommissionssitzung revidierter Fragebogen.391 Über die Vorbereitung der Vernehmungen und die eigentliche „Befragung“ bestimmte die Geschäftsordnung, „daß zunächst dem Sachverständigen überlassen [werden sollte…], über alle oder über einzelne Fragen des ihm ganz oder auszugsweise mitzutheilenden Fragebogens zu sprechen“. Im Anschluss daran sollte der Vorsitzende „weitere Fragen“ stellen. Nur „auf Verlangen“ war einzelnen Mitgliedern die Stellung von Fragen „zu gestatten“. Die parlamentarischen Mitglieder hatten also wenigstens theoretisch eine Möglichkeit, auf die Enquête Einfluss zu nehmen. – In ihrer dritten Sitzung entschied die Kommission, dass die „Vernehmung […] grundsätzlich in der Art erfolgen“ sollte, dass die „auf denselben Tag geladenen Experten gemeinsam“ vernommen wurden; nur „auf Wunsch [sollten…] Einzelvernehmungen stattfinden“.392 Obwohl in der Regel vier bis sechs Sachverständige gleich­zeitig vernommen wurden und es nur eine Einzelvernehmung gab, kam es nicht zu der an sich naheliegenden Konfrontation der Vertreter verschiedener Berufs- oder Interessengruppen in der Form eines „Kreuzverhörs“.393 d) Schriftliches Material Außer auf das umfangreiche Material der Sachverständigenvernehmungen griff die Kommission auf „mit […] Hülfe des Auswärtigen Amts [eingezogene] authentische Nachrichten über die in den einzelnen Bundesstaaten und an den wichtigsten ausländischen Plätzen bestehenden […] gesetzlichen Vorschriften, Statuten und Handelsgebräuche“, die bereits angesprochenen „Eingaben Geschädigter“, „schriftliche Gutachten“ sowie auf eine „Reihe statistischer Arbeiten“ zurück, die verschiedene „Handelsvertretungen“ auf Ersuchen angefertigt hatten. Außerdem 389

ProtBörsEK  1893, S.  49. Vgl. die erfolglose Remonstration des Grafen Arnim in der 15. Sitzung gegen die Aufruffassung des Vorsitzenden (ProtBörsEK 1893, S. 51). 390 F. J. Pfleger, in: ders./L. Gschwindt, Börsenreform I, 1896, S. 7. 391 K. Borchardt/C. Meyer-Stoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 181 und S. 197 in Fn. 14. Abdruck des Entwurfs, der überarbeiteten Fassung sowie des Kurzprotokolls in ProtBörsEK 1893, S. 4 ff., 13 ff., 19 ff. 392 ProtBörsEK 1893, S. 35. 393 F. J. Pfleger, in: ders./L. Gschwindt, Börsenreform I, 1896, S. 7; K. Borchardt/C. MeyerStoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 181.

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widmete man sich dem „Studium zahlreicher Prozeßakten über einschlagende Rechtsfälle, welche von den […] Gerichten erbeten“ wurden; Senatspräsident Wiener verfasste eine „Darstellung der Rechtsprechung des Reichsgerichts betreffend das Differenzgeschäft“.394 e) Kommissionsbericht und weitere Entwicklung Mitte Oktober 1892 begann die Börsenenquêtekommission mit der Vorberatung des Berichts,395 der Mitte November fertiggestellt wurde. Neben diesem 190 Druckspalten starken Dokument wurden Anlagenbände von rund 5.500 Seiten vorgelegt.396 Zweieinhalb Jahre später flossen u. a. diese Vorarbeiten in das Börsengesetz vom 22. Juni 1896397 ein.398 5. Zwischenergebnis Die Börsenenquêtekommission war – anders als die wesentlich durch Eduard Lasker beeinflusste preußische Eisenbahnenquête – trotz der Beteiligung von sieben Reichstagsmitgliedern nicht im Ansatz eine parlamentarische Veranstaltung. Das zeigte sich schon daran, dass das Herrenhausmitglied Richard Koch und der Abgeordnete Karl Gamp im preußischen Staatsdienst standen und in dieser Eigenschaft den Fragebogen für die Enquête entworfen hatten. Karl Gamp gehörte nicht einmal zu den von Handelsminister Berlepsch benannten Abgeordneten, sondern wurde wegen seiner beruflichen Position in die Kommission berufen.399 Vor allem wurden die Abgeordneten, anders als es bei anderen Gelegenheiten der Fall sein sollte, nicht von der Volksvertretung gewählt. Eine Aufforderung der Reichsregierung an den Reichstag, sich an der Enquête zu beteiligen, wie sie 1873 als Ausweg gedient hatte, um eine parlamentarische Untersuchung des Gründungsskandals zu verhindern, hatte es nicht gegeben. Trotzdem markierte diese Enquête, berücksichtigt man die spätere Parlamentsbeteiligungspraxis, gewissermaßen eine kleine Zeitenwende.400 Es liegt nahe, dass die Regierung mit der Zuziehung von Abgeordneten versuchte, parlamentarischen Forderungen entgegenzukommen. Schließlich hatten sowohl August Bebel als auch Karl Schrader in der Debatte über den 394

BerBörsEK 1893, S. 3 f. F. J. Pfleger, in: ders./L. Gschwindt, Börsenreform I, 1896, S. 7 f. 396 K. Borchardt/C. Meyer-Stoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 181. 397 RGBl. S. 157. 398 Vgl. J. C. Meier, BörsenG, 1992, S. 254 ff. mit Vergleich von Kommissionsempfehlungen und Regierungsentwurf. 399 J. C. Meier, BörsenG, 1992, S. 112, 113. 400 Bei mindestens einer weiteren Gelegenheit wurde der Reichstag aufgefordert, sich durch die Wahl von Abgeordneten an einer Erhebung zu beteiligen. S. J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 188. 395

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Antrag Auer die Börsenfrage als ein Feld genannt, auf dem eine Enquête zur Information der Parlamentarier dringend erforderlich wäre.401 Mit ihrem Entgegenkommen beugte die Reichsregierung parlamentarischen Selbstinformationsgelüsten ein Stück weit vor und behielt gleichzeitig die Kontrolle über die Enquête. Ende 1895 warf der Münchener außerordentliche Professor der Finanzwissenschaft, Statistik und Nationalökonomie Walther Lotz der Kommission vor, sie habe es „unterlassen, einen eingehenden Bericht über die thatsächlichen Ergebnisse der Sachverständigenvernehmungen auszuarbeiten“, und sich auf einen „Motivenbericht für ihr gesetzgeberisches Reformprogramm“ beschränkt. Angesichts dieses Versäumnisses komme nun der Wissenschaft die Aufgabe zu, das „Ergebnis der Sachverständigenvernehmung […] im Zusammenhang“ darzustellen“, um die Reformvorschläge dann anhand der Ergebnisse zu überprüfen.402 Ein Wissenschaftler, der diesem Ruf folgte, war der Privatdozent Max Weber, der das immense Material unter Berücksichtigung des Schrifttums für die interessierte Öffentlichkeit mit einer Aufsatzserie in der „Zeitschrift für das Gesammte Handelsrecht“ aufbereitete.403 Bei dieser Gelegenheit kam er nach den Landarbeiterenquêten der Sozialvereine zum zweiten Mal mit dieser Form der Informationsbeschaffung in nähere Berührung; es liegt auf der Hand, dass diese Erfahrungen seinen weg­ weisenden Enquête- und Untersuchungsrechtsentwurf beeinflussen sollten.404 Als „Mangel“ empfand Weber die Fixierung auf einen Fragebogen, der ver­ hindert habe, „mehr auf die konkreten Details […] ein[zu]gehen“. Dass der Vorsitzende gezwungen gewesen sei, „mit jedem Sachverständigen annähernd alle Fragen durchzugehen“, habe zu „endlose[n] Wiederholungen“ geführt. Oft habe man die Sachverständigen zudem „etwas zu sehr als Gutachter und zu wenig als Auskunftspersonen über Thatsachen behandelt“. Den nicht „kontradiktorischen Charakter“ der Vernehmungen, dass sich also keine kontroverse Debatte unter den Kommissionsmitgliedern oder mit den Sachverständigen entwickeln, sondern bloß Fragen gestellt werden konnten, fand Max Weber bedauerlich. Die verbreitete Kritik an der Nichtöffentlichkeit der Zeugenvernehmungen teilte er nicht. Andernfalls hätten die Aussagen „wahrscheinlich […] einerseits einen befangenen Charakter, oft den einer Rede ‚aus dem Fenster‘ an sich getragen“ und „vieles“ wäre mög­ licherweise „gar nicht gesagt worden“. Dennoch kritisierte er die Öffentlichkeitsarbeit der Kommission, weil „vielleicht in fortlaufenden Preßerörterungen ein das Detail weiter ausbauendes Thatsachenmaterial [habe] aufgestapelt“ werden können. Für „[n]icht einzusehen“ hielt er, dass man die Protokolle nicht nach dem Abschluss der Vernehmungen veröffentlicht habe; nur so wären sie vollständig

401

s. 6. Teil 2. Kap. B. III. 1. c). Walther Lotz, in: F. J. Pfleger/L. Gschwindt, Börsenreform I, 1896, S. V f. (Vorwort). 403 s. K. Borchardt/C. Meyer-Stoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 175 sowie S. 183 ff. zur Entstehung dieser Beiträge und zu Webers Arbeiten J. C. Meier, BörsenG, 1992, S. 223 ff.: „zweifellos die interessanteste und gehaltvollste Bearbeitung der Ergebnisse“. 404 s. zu Max Webers Konzeption 7. Teil 1. Kap. C. 402

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

„gelesen worden“. Dagegen dominiere nun der „kaum einen oberflächlichen Eindruck bietende Bericht“.405 Die Börsenenquête bot also reiches Anschauungsmaterial für die Stärken und Schwächen derartiger Erhebungen, auf das Max Weber 1917 bei der Konzeption eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts zurückgegriffen haben dürfte. Insbesondere verdeutlichte sie die Schwäche eines allzu statischen Verfahrens, das keine kontroverse Auseinandersetzung innerhalb der Kommission oder mit den Auskunftspersonen ermöglichte, bzw. die Nachteile einer nichtöffentlichen Enquête.

II. Deutsch-südwestafrikanische Landgesellschaften (1905–1906) Eine „echte“ gemischte Untersuchung unter Regierungsleitung, die sogar Ansätze von Exekutivkontrolle einschloss und unter Beteiligung gewählter Volks­ vertreter durchgeführt wurde, betraf das Kolonialwesen. 1. Einleitung: Kolonialskandale und „Hottentottenwahlen“ Nach der Jahrhundertwende verblasste der vormals helle Schein des in den 1880er und 1890er Jahren enthusiastisch begrüßten „Platzes an der Sonne“ zusehends. Das teils grausame Willkürregiment deutscher Statthalter ergab gemeinsam mit der systematischen Entrechtung der Eingeborenen eine explosive Mischung, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts in blutigen Aufständen entlud. Die Blutrünstigkeit und die horrenden Kosten des folgenden Kolonialkrieges von rund 400 Mio. Mark, denen keine nennenswerten wirtschaftlichen Vorteile gegenüberstanden, führten gemeinsam mit Korruptionsvorwürfen gegen die Schutzgebietsverwaltungen zu heftigen parlamentarischen Auseinandersetzungen.406 Versuche des Reichskanzlers Bernhard v. Bülow, die Lage durch die Berufung des liberalen Bankiers Bernhard Dernburg zum Kolonialdirektor zu entschärfen, scheiterten. Stattdessen schworen Matthias Erzberger und Hermann Roeren weite Teile der Zentrumsfraktion gegen den Willen der Parteiführung auf die Ablehnung des südwestafrikanischen Nachtragsetats ein, der tatsächlich Mitte Dezember 1906 mit neun Stimmen an einer Koalition von Abgeordneten des Zentrums, der Sozial­ demokratie und der nationalen Minderheitsparteien scheiterte. Bülow urteilte später, „daß das Zentrum […] in Überspannung fraktioneller Machtansprüche mit Hilfe der Sozialdemokratie auf die Regierung einen unzulässigen Druck ausüben“ 405

Max Weber, in: Borchardt/Meyer-Stoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 204 f. s. zum Ganzen H. Gründer, GeschKolonien5 2004, S. 85 f., 117 ff., 139 f., 149 ff., 241 f. sowie S. 63 ff. zur Stellung der Parteien in der Kolonialfrage; ferner E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 614 und zeitgenössisch O. Hammann, Kaiser, 1919, S. 8 ff. zum innerdeutschen Streit. 406

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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wollte; zur Charakterisierung des folgenden Konflikts gebrauchte der Konservative die Metapher eines „reinigenden Gewitter[s]“.407 Tatsächlich folgten auf eine Reichstagsauflösung die – von August Bebel so getauften408 – „Hottentottenwahlen“, aus denen als neue parlamentarische Macht der „Bülow-Block“ hervorging. Fortan verfügte eine ungewöhnliche Koalition konservativer bis hin zu linksliberalen Kräften, die den Wahlkampf vor der Drohkulisse eines Schulterschlusses der „Reichsfeinde“ aus Zentrum und Sozialdemokratie bestritten hatte, über eine sichere Mehrheit. Das Zentrum, das nach dem Ende des „Neuen Kurses“ zur entscheidenden parlamentarischen Kraft geworden war, trat trotz Mandatszugewinnen den Gang in die Opposition an, weil es seine Rolle als Zünglein an der Waage durch erhebliche sozialdemokratische Verluste ein­ gebüßt hatte.409 2. Die Reichstagsforderung einer Untersuchungskommission Noch vor der Zuspitzung der Ereignisse kamen in den Haushaltsberatungen Untersuchungsforderungen gegenüber den Land- und Bergwerksgesellschaften für das Südwestafrikanische Schutzgebiet zur Sprache. Auslöser war eine „[v]ertragsmäßige Entschädigung“ der Deutschen Kolonialgesellschaft von 100.000 Mark dafür, dass sie auf ihren Anteil an den Gebühren- und Abgabeneinnahmen der Bergverwaltung, der ihr 1889 für die Einrichtung von Bergbehörde und Schutztruppe sowie zur Ablösung des Bergregals zugesprochen worden war, verzichtet hatte.410 a) Beratungen in der Budgetkommission Zunächst wurden in der Budgetkommission Zweifel laut, ob die Gesellschaften ihrer Pflicht zur Entwicklung der Schutzgebiete nachkämen. Mitte Februar 1905 folgte die Forderung, den „Reichskanzler zu ersuchen, zur Prüfung der Rechte und Pflichten und der bisherigen Tätigkeit der Land- und Bergwerksgesellschaften in Südwestafrika eine Kommission zu berufen, zu welcher vom Reichstage zu wählende Mitglieder des Reichstags und koloniale Sachverständige zuzuziehen“ seien. Der Bericht dieser gemischten Untersuchungskommission sollte den „gesetzgebenden Körperschaften mit Vorschlägen zur Beseitigung etwaiger Mißstände“ 407

B. v. Bülow, Politik, 1916, S. 223. O. Hammann, Kaiser, 1919, S. 21. 409 Zum Ganzen T. Nipperdey, DtGesch 1866–1918 II, 1998, S. 728 ff.; E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 58 f., 293 f. oder K. E. Born, HdbDtGesch XVI16 1999, S. 238 f. und aus zeitgenössischer Sicht O. Hammann, Kaiser, 1919, S.  8 ff., S.  12 f. (Ernennung Dernburgs), 17 ff. Speziell zu den Wahlen und ihrer Vorgeschichte s. W. Becker, HistJb 106 (1986), 59 ff. 410 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1353. 408

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übermittelt werden.411 Während die Mehrheit der Budgetkommission auf Forderungen zu den Kommissionsbefugnissen verzichtete und sich damit begnügte, wenn in diesem Gremium „alle größeren Fraktionen […] vertreten“ wären, gingen die Sozialdemokraten aufs Ganze, knüpften unausgesprochen an Eugen Richters Überlegungen aus der Tabakenquêtedebatte412 an und verlangten, die Kommission – der „parlamentarischen Gepflogenheit in England“ entsprechend – paritätisch aus „Mitgliedern des Bundesrats“ und „einer gleichen Anzahl“ von Abgeordneten zu bilden; würden die Kommissionsmitglieder allein von der Regierung ausgewählt, bestehe „keine Garantie“ für eine Vertretung sämtlicher Parteien. Weiter forderten die Sozialdemokraten für die Untersuchungskommission das Recht zur „zeugeneidlichen Vernehmung von Interessenten und Sachverständigen“. Gegenüber diesen Forderungen regten sich Bedenken, „die englischen Verhältnisse ohne weiteres auf Deutschland zu übertragen“. Dieser Einwand ging schon wegen des preußischen Präzedenzfalls von 1873 fehl, zumal der Konservative Wilhelm v. Rauchhaupt damals eine „gemeinschaftliche Kommission“, „in der Vertreter des Parlamentes mit den Vertretern der Krone gemeinsam wirk[t]en“, als die gegenüber der englischen Praxis, königliche und parlamentarische Gremien nebeneinander einzusetzen, für „Preußen […] staatsrechtlich richtiger[e]“ Variante bezeichnet hatte.413  – Berechtigter war die Sorge, dass zu einer „zeugeneidlichen Vernehmung von Interessenten und Sachverständigen“ ein „besonderes Gesetz“ erforderlich sei.414 U. a. derartige Bedenken hatten in der Tabaksteuerfrage zur Vorlage eines Enquêtegesetzentwurfs geführt. b) Plenarberatung und Resolution Gut einen Monat später unterbreitete der führende Zentrumspolitiker Franz Ludwig Prinz v. Arenberg dem Plenum das Untersuchungsersuchen der Budgetkommission. Der Geschäftsführende Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft415 betonte, dass es nach den teils schweren Anschuldigungen notwendig wäre, „die Angelegenheit unparteiisch zu prüfen und den Vertretern der Gesellschaft Gelegenheit zu geben, sich vor einer Kommission über deren Geschäftsführung auszusprechen“. Eine „zeugeneidliche Vernehmung“ hielt er gleichwohl für entbehrlich, weil es niemand wagen würde, bei der eigenen „Verteidigung zu […] ganz nutzlosen leicht zu widerlegenden Lügen [zu] greifen“. Ebenso wenig legte er auf das arithmetische Verhältnis von Regierungs- und Volksvertretern Wert, solange in der „Informationskommission“ höchstens „Geschäftsordnungsbeschlüsse“ gefasst würden und ihr der Kolonialdirektor das „nötige Material“ ver 411 s. den Bericht der Kommission für den Reichshaushalts-Etat in VerhRT XI/1 (1903/05), Nr. 615, S. 3628. 412 Vgl. 6. Teil 3. Kap. A. II. 3. b) bb) (2). 413 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1058. 414 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1354. 415 E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 55 in Fn. 45.

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schaffe.416 Für den Kommissionsantrag sprachen sich auch der nationalliberale Geheime Regierungsrat und Professor der Staatswissenschaften Hermann Paasche, der den Reichstag zugleich ermahnte, die „Tätigkeit der Gesellschaften nicht von vornherein [zu] verurteilen“, und für die Reichspartei Otto Arendt aus, der ebenfalls das Interesse der Gesellschaften daran hervorhob, dass die „schweren Anschuldigungen“ einmal „gründlich, umfassend und objektiv“ geprüft würden. In der Kommission müssten deswegen die „Beteiligten gehört“ werden; „Rede und Gegenrede“ seien notwendig, um sicherzustellen, „daß die Wahrheit wirklich zu tage“ trete. Außer den Fehlern der Vergangenheit werde man zu untersuchen haben, „was für die Zukunft geschehen [könne…], um die etwa vorhandenen Mißstände abzustellen“.417 Die über den Kommissionsantrag hinausgehenden sozialdemokratischen Anforderungen an Zusammensetzung und Befugnisausstattung der Kommission erläuterte der spätere USPD-Vorsitzende Georg Ledebour dahin, dass man nur auf diesem Wege „volle Bürgschaft“ habe, „daß diese Kommission wirklich in alle Winkel hineinleuchten“ könne. Der „Anzahl Leute, die auf einfache Anfragen […] ausweichend antwor[te]ten“, könne man „unter Zeugeneid“ „gerade die wichtigsten Auskünfte abzwacken“. Weil sich mit dem Kommissionsantrag „immerhin wenigstens etwas“ erreichen lasse, stellte der Sozialdemokrat dessen Unterstützung in Aussicht, sollten seine weitergehenden Forderungen scheitern.418 Ähnlich äußerte sich Hermann Müller (Freisinnige Volkspartei), der den Reichstag weiterhin dazu aufforderte, sobald sich die Kommission ohne das Recht, „Zeugen zwangsweise in kontradiktorischen Verfahren zu vernehmen“, als „Be­schönigungskommission“ entpuppe, nicht zu zögern, „noch einmal eine Kommission einzusetzen, dann aber eine mit erweiterten Kompetenzen und mit gesicherten Garantien zur Förderung der Wahrheit, eine Kommission, die völlig in den Stand gesetzt [sei…], Klarheit zu schaffen“.419 Die konkrete Formulierung war wohl einer prätentiösen Überschätzung des parlamentarischen Einflusses geschuldet. Als Versuch, dem parlamentarischen Vorstoß den Wind aus den Segeln zu nehmen, prangerte der Deutschsoziale Wilhelm Lattmann an, dass der Reichskanzler dem Reichstag vor der Beratung des Kommissionsantrags eine „Denkschrift über die im südwestafrikanischen Schutzgebiete tätigen Land- und Minen-Gesellschaften“ vorgelegt hatte.420 Mit diesem in der Presse publikumswirksam angekündigten Schritt versuche man, die Untersuchungsforderung der Volksvertretung als 416

VerhRT XI/1 (1903/05), S. 5393 (Hervorhebung nur hier). VerhRT XI/1 (1903/05), S. 5400 f. 418 VerhRT XI/1 (1903/05), S.  5399. G. Ledebour forderte, „daß die Untersuchungskommission nicht nur in Betracht [ziehen solle…], inwieweit die Kolonialgesellschaften die euro­ päischen Ansiedlungen gefördert oder gehemmt“ hätten, sondern „auch das Interesse der Eingeborenen wahrzunehmen“ habe, denen sämtliche Ländereien unter „Ausnutzung ihrer absoluten Rechtsunkenntnis“ fortgenommen worden waren (S. 5400). 419 VerhRT XI/1 (1903/05), S. 5402 (Hervorhebung nur hier). 420 VerhRT XI/1 (1903/05), Nr. 683, S. 3899. 417

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entbehrlich hinzustellen. Dem „tüchtig zu Gunsten der Gesellschaften“ tendenziösen Pamphlet zum Trotz, das an einer „Fülle von Fehlern und Mängeln“ erkennen lasse, wie sehr die Kolonialverwaltung den Reichstag „als eine sehr harmlose Gesellschaft“ ansehe, müsse man „in dunkle Punkte einmal mit dem Seziermesser der Kritik hineinleuchten“.421 Beteuerungen des Direktors der Kolonialabteilung Oskar Stuebel, man habe keineswegs beabsichtigt, „die in Aussicht genommenen Kommissionsberatungen hinfällig“ zu machen, halfen wenig. Wenigstens schenkte ihm der für den Protest gegen die Kolonialpolitik neben Hermann Roeren führende Zentrumspolitiker Matthias Erzberger Glauben, weil er eine Veröffentlichung der Denkschrift angesichts der „Unmenge von Material“ ohne jahrelange Vorarbeit für unmöglich hielt.422 Bedenken gegen die verlangte Kommissionszusammensetzung äußerte der Deutschkonservative Karl Friedrich v. Richthofen-Damsdorf. Obwohl er mit der Mehrheit übereinstimmte, dass die „Frage der Land- und Bergwerksgesellschaften“ des „gründlichsten und sorgfältigsten Studiums“ bedürfe, ließ er offen, „[o]b eine derartige parlamentarische [!] Untersuchungskommission – eine Sache, gegen welche [er…] im Prinzip [sei…]  – der richtige Weg“ wäre.423 Anscheinend äußerten sich hier klassische konservative Bedenken gegen einen vermeintlichen parlamentarischen Kompetenzexzess, wie sie die Enquête- und Untersuchungsrechtsdiskussion im 19. Jahrhundert beherrscht hatten. Ungeachtet der sporadischen Bedenken und linken Änderungswünsche wurde dem Kommissionsantrag entsprechend mit großer Mehrheit beschlossen,424 „den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, zur Prüfung der Rechte und Pflichten und der bisherigen Tätigkeit der Land- und Bergwerksgesellschaften in Südwestafrika eine Kommission zu berufen, zu welcher vom Reichstage zu wählende Mitglieder des Reichstags und koloniale Sachverständige zuzuziehen“ seien. Den Bericht dieses Gremiums sollte der Reichskanzler nach dem Abschluss dieser Untersuchung den „gesetzgebenden Körperschaften“, also Reichstag und Bundesrat, „mit Vor­ schlägen zur Beseitigung etwaiger Mißstände“ mitteilen.425 Obwohl sich der Reichstag entsprechenden konservativen Bedenken zuwider keines parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts berühmte, beanspruchte die Volksvertretung in ihrem Ersuchen doch einerseits eine neuartige informationsrechtliche Mitsprache und andererseits mit der Forderung unmittelbarer Enquêtebeteiligung ein Stück weit Selbstinformation. Es ist eine kuriose Fußnote der Angelegenheit, dass der Vorschlag einer gemischten Untersuchungskommission gewissermaßen ein Spiegelbild der königlichen Botschaft von 1873 war, mit der die preußische Regierung damals versucht hatte, eine parlamenta­ 421

VerhRT XI/1 (1903/05), S. 5394. VerhRT XI/1 (1903/05), S. 5398. 423 VerhRT XI/1 (1903/05), S. 5383 (Hervorhebung nur hier). 424 VerhRT XI/1 (1903/05), S. 5402. 425 Antragstext im Bericht des Prinzen Arenberg in VerhRT XI/1 (1903/05), S. 5393. 422

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rische Untersuchung des Eisenbahn- und Gründerskandals zu verhindern. Möglicherweise lag in dieser Reminiszenz eine konkludente Drohung an das Gouverne­ ment, dass man sich der Sache andernfalls auch ohne verfassungsrechtliche Grundlage selbst annehmen werde. 3. Einsetzung und Tätigkeit der Land- und Bergwerkskommission Diese parlamentarische Aufforderung konnte die Regierung Bülow auch aus politi­schen Gründen kaum ignorieren. Schließlich besetzte das „federführende“ Zentrum mit 100 Sitzen eine „Schlüsselstellung“. Auch Nationalliberale und Konservative, die gemeinsam über deutlich mehr als 100 Mandate verfügten, hatten sich für eine gemischte Untersuchung stark gemacht. Anders als in früheren Zeiten hatte sich, durch den Kaiser missbilligt, mit der Zeit eine Art „parlamentarische Nebenregierung“ dieser gouvernementalen Mitte-Rechts- und Zentrums-Koalition herausgebildet; vor den parlamentarischen Beratungen nahm die Reichsregierung formlos mit den wichtigsten Parteiführern Kontakt auf, um einen Kompromiss auszuhandeln.426 In dieser Lage blieb statt einer brüsken Ablehnung alten Stils bloß eine dilatorische Behandlung der Sache bzw. der Versuch, die Untersuchung inhaltlich zu beeinflussen und in eine andere Richtung umzulenken.  – Tatsächlich zog sich die Einsetzung noch bis Anfang des Folgejahres hin. Wenn auch die Ergebnisse der unter dem Vorsitz hoher Kolonialbeamter tagenden Landund Bergwerkskommission letztendlich – wie es der Freisinnige Hermann ­Müller vorausgesehen hatte  – zu wünschen übrig ließen, verdient ihre Tätigkeit doch einen näheren Blick; immerhin nahmen erstmals durch das Parlament selbst gewählte Reichstagsabgeordnete an einer Untersuchung teil, die einem eventuellen Fehlverhalten privater Dritter bzw. einem (Teil-)Versagen öffentlicher Stellen nachgehen sollte. Parallelen mit der preußischen Eisenbahn- und Gründerenquête lassen sich auch insoweit nicht übersehen. Der Regierung schwante sicherlich nichts Gutes. a) Konstituierung Unter dem 10. Januar 1906, also erst sieben Monate nach der Resolution, teilte der zwischenzeitlich in den Fürstenstand erhobene Reichskanzler Bülow der Volksvertretung mit, dass man acht koloniale Sachverständige zu Kommissionsmitgliedern ernannt habe.427 Es handelte sich um den Präsidenten der Deutschen 426

s. allg. T. Nipperdey, DtGesch 1866–1918 II, 1998, S. 726 ff. und E. R. Huber, ­DtVerfGesch IV2 1982, S. 290 ff. sowie S. 34, 57. 427 s. die Mitteilung des Reichstagspräsidenten vom 13. Januar 1906, VerhRT XI/2 (1905/06), S. 517 sowie das Schreiben (Nr. 161, S. 2499).

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Kolonialgesellschaft Johann Albrecht Herzog zu Mecklenburg, den Münchener Staatsrechtler und „Kolonialenthusiasten“ Karl v. Stengel, der zu den frühesten und beständigsten kolonialrechtlichen Autoren zählte,428 den Jenenser Staatswissenschaftler Günther Kurt Anton, einen Kreisassessor Gerstenhauer aus Meiningen, den Stuttgarter Oberlandesgerichtsrat Erwin Rupp, der sich u. a. 1904 mit der Schrift „Soll und Haben in Deutsch-Südwest-Afrika“ hervorgetan hatte, Rudolf v. Bennigsen, Sohn des 1902 verstorbenen nationalliberalen Politikers und erster Gouverneur Neuguineas, den Vizepräsidenten des preußischen Abgeordnetenhauses, promovierten Juristen und Zentrumspolitiker Felix Porsch sowie den Berliner Rechtsanwalt Christian v. Bornhaupt. Darüber hinaus kündigte der Reichskanzler an, nach dem Gebot der Billigkeit auch Vertreter der Gesellschaften zu Wort kommen lassen zu wollen.429 Später wurden zu den Beratungen noch vier Beamte der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, des Reichsschatz- und des Reichs­justizamtes abgeordnet, die ebenso wenig wie die Vertreter der Gesellschaften oder der Kommissionsvorsitzende Mitgliedschaft und Stimmrecht besaßen.430 Am 19. Januar 1906 stellte der Reichstag der Aufforderung des Reichskanzlers gemäß die Zahl der parlamentarischen Kommissionsmitglieder auf 14 fest, wahrscheinlich, „weil diese Zahl den 7 Abtheilungen im Reichstag am aller­besten“ entsprach.431 Die entsprechenden Wahlen in den Sektionen folgten drei Tage später.432 Von den elf Reichstagsfraktionen kamen acht zum Zuge; Fraktionslose, ElsassLothringer oder Hannoveraner erhielten ebenso wenig einen Kommissionssitz wie die immerhin 16 Mitglieder starke Polenfraktion, die Deutsche Reform- oder die Deutsche Volkspartei. Das mit 99 Mitgliedern und vier Hospitanten stärkste Zentrum war mit vier Vertretern präsent. Auf die mit 78 Sitzen zweitstärksten Sozialdemokraten entfielen lediglich zwei Mitglieder. Gleiches galt für die Deutschkonservativen (50 Mitglieder, zwei Hospitanten) und die auf 49 Mitglieder und zwei Hospitanten zusammengeschmolzenen Nationalliberalen. Je ein Abgeordneter wurde aus der Freisinnigen Volkspartei (18 Mitglieder, ein Hospitant), der Reichspartei (17 Mitglieder, fünf Hospitanten), der Wirtschaftlichen (13 Mitglieder, ein Hospitant) und der Freisinnigen Vereinigung (acht Mitglieder, zwei Hospitanten) gewählt.433 Sieht man von der Nichtberücksichtigung der kleineren Parteien und 428 s. M. Grohmann, Exotische Verf., 2001, S. 91 und den Überblick über das kolonialrechtliche Œuvre C. v. Stengels (S. 96 ff.). 429 Vgl. VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1356. Im Einzelnen handelte es sich um Vertreter der Deutschen Kolonialgesellschaft für Südwestafrika, South West Africa Company, Siedlungsgesellschaft für Südwestafrika, South African Territories, Hanseatischen Land-, Minen- und Handelsgesellschaft, Kaoko-Land- und Minengesellschaft, Otavi-Minen- und Eisenbahngesellschaft sowie der Gibeon-Schürf- und Handelsgesellschaft. 430 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1356. 431 So Präsident Max v. Forckenbeck am 12.  April 1878 für eine Deputation zum Kieler Kriegshafen (VerhRT III/2 (1878), S. 943). Vgl. J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 185. Zu Aufforderung und Beschluss s. VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1355, Nr. 161, S. 2499. 432 Vgl. VerhRT XI/2 (1905/06), S. 666, 731 f. 433 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1355.

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der Diskriminierung der Sozialdemokraten ab, die über 22 v. H. der repräsentierten Mandate verfügten, lässt sich durchaus von einer Orientierung an der parlamentarischen Zusammensetzung sprechen. Dass selbst oppositionelle Parteien zum Zuge kamen, geht wohl darauf zurück, dass die Verteilung der Kommissionsmandate dem Seniorenkonvent überlassen war und man schon im 19. Jahrhundert damit begonnen hatte, auf die Minderheiten Rücksicht zu nehmen.434 Eine spiegelbildliche Abbildung der realen Mehrheitsverhältnisse oder eine Berücksichtigung sämtlicher Parteien gehörte freilich trotz dieser Anflüge von Minderheitenschutz noch nicht zum Standard. b) Vorsitz Die Leitung der Kommissionssitzungen oblag weder einem parlamentarischen oder sachverständigen Mitglied noch einem gewählten Vorsitzenden, sondern einem Vertreter der Kolonialverwaltung ohne Sitz und Stimme. Als erster trat Ernst Erbprinz zu Hohenlohe-Langenburg dieses Amt an. Auf den in Kolonialdingen unbewanderten Verwandten Wilhelms II., der Oskar Stuebel im November 1905 abgelöst hatte und schon im September 1906 wieder zurücktrat,435 folgte der zum Linksliberalismus neigende Kolonialdirektor und spätere Staatssekretär Bernhard Dernburg, ein Bankdirektor mit jüdischen Wurzeln, den der Pressechef des Auswärtigen Amtes Otto Hammann als „energischen Kaufmann“ charakterisierte, in den man Hoffnungen gesetzt habe, „die koloniale Mißwirtschaft zu beseitigen und der Kolonialabteilung in Berlin einen neuen praktischen Geist beizubringen“.436 Zuletzt übernahm den Kommissionsvorsitz der ehemalige Gouverneur DeutschSüdwestafrikas Friedrich v. Lindequist, der konservative Unterstaatssekretär des 1907 gegründeten Reichskolonialamts, der sein Amt Anfang November 1911 aus Protest gegen das deutsch-französische Marokkoabkommen niederlegte.437 c) Ein „Arbeitsplan“ und vorbereitende juristische Gutachten In der ersten Kommissionssitzung wurde aufgrund von Vorschlägen der Kolonialverwaltung ein Arbeitsplan beraten. Dieser zählte die Gesellschaften auf, die „Gegenstand der Prüfung“ sein sollten, und bezeichnete „Gesichtspunkte“ der Untersuchung. Sowohl für einzelne als auch für Gruppen von Gesellschaften sollten je ein Referent und Korreferent bestellt werden, deren Berichte im Kommissionsplenum als Beratungsgrundlage dienen sollten.438 Später wurden noch besondere 434

J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 176 ff., 185. Vgl. M. Grohmann, Exotische Verf., 2001, S. 155. 436 O. Hammann, Kaiser, 1919, S. 12 f. 437 Zum Ganzen M. Grohmann, Exotische Verf., 2001, S. 156, 187. 438 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1356. 435

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Referate über das Verhältnis der Gesellschaften untereinander beschlossen.439 Keinen Erfolg hatte der Antrag, eine Subkommission von vier Mitgliedern niederzusetzen, um das Material vorläufig zu sichten, ggf. zu vervollständigen und für die Referenten und das Plenum aufzubereiten. Von der Kommissionsmehrheit wurde beschlossen, Referenten und Korreferenten durch den Vorsitzenden zu einer „Konferenz“ einzuberufen, „um grundsätzliche Fragen zu erörtern und die Gleichmäßigkeit und Übersichtlichkeit der Berichte zu sichern“. In einer Sitzung der 12 Referenten einigte man sich, dass die Hauptreferenten ihre Berichte den Korreferenten überlassen sollten, weil zwei selbständige Berichte für „reines Tatsachenmaterial“ überflüssig wären. Den Abschlussbericht sollte ein aus den Reihen der Kommission gewählter Berichterstatter vorbereiten, die endgültige Feststellung durch das Plenum beschlossen werden.440 In den Beratungen über den Arbeitsplan aus der Mitte der Kommission erhobene Forderungen, Wirkungskreis oder Befugnisse zu erweitern, blieben erfolglos. U. a. wurde „zur Erweiterung des Arbeitsplanes beantragt“, den „konzessionierten Unternehmern […] aufzuerlegen“, ihre Arbeitsgebiete einschließlich der bereits bekannten Besiedelungen zu kartieren, detaillierte Gewinn- und Verlustrechnungen sowie Bilanzen seit Gründung vorzulegen und einen „kurzen Übersichtsbericht“ über die Finanzierung und die finanziellen Ergebnisse der bisherigen Tätigkeit zu fertigen.441 Nach einer „längere[n] Debatte“ über die Vorlage der Geschäftsbücher, die von „einigen Vertretern der Gesellschaften zuerst zurückgewiesen“ wurde, kam man schließlich zu der Formel, „daß die Gesellschaften den Referenten all das Material, das dieselben wünschten, zugänglich machen“ würden. Ein formeller Beschluss wurde anscheinend nicht gefasst.442 Jeder Versuch, den Gesellschaften durch einen einfachen Kommissionsbeschluss Mit­ wirkungspflichten aufzuerlegen, wäre ohne gesetzliche Ermächtigung wohl auch zum Scheitern verurteilt gewesen. Außerdem wurde angeregt, durch den Freiherrn v. Stengel oder einen anderen Staatsrechtslehrer ein „juristisches Referat“ über die „Voraussetzungen der Konzessionserteilung und Konzessionsentziehung“ anfertigen zu lassen.443 Von anderer Seite wurde ein Gutachten des Reichsjustizamtes gefordert. Gegen diesen Vorschlag wurden nicht allein aus den Reihen der Kommissionsmitglieder Bedenken laut, sondern zwei Regierungskommissare hielten eine Äußerung des Reichs­ justizamtes für „staatsrechtlich“ unmöglich, indem die Stellung dieser Behörde als „Stellvertreter des Reichskanzlers“ zu einem Widerspruch führen könne, wenn dieser später zu dem Schlussbericht der Kommission Stellung nehmen wolle. Von anderer Seite wurde ein Gutachten des Reichsjustizamtes, weil dieses gewisser­ maßen als Partei (!) erscheine, abgelehnt. 439

VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1358. VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1357 f. 441 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1357 f. 442 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1358. 443 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1358 f. 440

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Ende Februar 1907 gab Karl v. Stengel unaufgefordert ein Rechtsgutachten ab, das mit einer Ausnahme zur Formnichtigkeit der Konzessionen kam. Im Übrigen könne das Reich „private Rechte“ ohne Entschädigung „im Wege der Gesetzgebung“ aufheben oder ändern. Auf Nachfrage der Kolonialverwaltung kam das Reichsjustizamt Anfang April 1907 zu dem gegenteiligen Ergebnis: Ein Eingriff verbiete sich gegenüber den englischen Gesellschaften schon aus außenpolitischen Gründen. Gesetzliche Maßnahmen kämen gegenüber wohlerworbenen Rechten nur bei grobem Missbrauch in Betracht. Dass sich die Kolonialverwaltung ein Einschreiten vorbehalten habe, sei nicht anzunehmen. Ebenso wenig könnten zivilrechtliche Analogien weiterhelfen.444 Während sich nach dieser für die Kommission vernichtenden Expertise in ihren Reihen teils Resignation breitmachte, „daß […] es keinen Zweck habe, in den Untersuchungen über die Gesellschaften fortzufahren“, forderten andere Mitglieder eine Feststellung, in welchem Maße die „einzelnen Gesellschaften gegen die Interessen des Schutzgebietes gefehlt“ hätten. Ebenso habe man zu untersuchen, wie in den Kolonien künftig verfahren werden solle. Zur Begründung dieser Durchhalteparole hieß es, dass das Juristische für die Kommissionsarbeit keineswegs den Ausschlag gebe, sondern „politische Gesichtspunkte […] mitbestimmend“ seien. Nach dem Gutachten des Reichsjustizamtes komme freilich bloß noch eine Verständigung mit den Gesellschaften oder ihre „zweckentsprechende Besteuerung“ in Frage. Dieser Position schloss sich der Kommissionsvorsitzende Dernburg an, der von einem Gegengutachten abriet – „höre man einen Juristen, so könne man ebenso leicht einen anderen hören“. Nach diesen klischeehaften „Warnungen“ beschloss die Kommission mit großer Mehrheit, „die Anhörung des Kammergerichtsrats Meyer über die Rechtsfrage der Eingeborenen bis auf weiteres zu vertagen“. Außerdem wurde einstimmig entschieden, das missliche „Gutachten des Reichs-Justizamts streng vertraulich zu behandeln, die Kolonialabteilung zu ersuchen, der Kommission die Grundzüge für ein allgemein gültiges Enteignungsverfahren […] zur Begutachtung mitzu­teilen, die noch ausstehenden Referate und Korreferate einzufordern und durch weitere Verhandlungen [mit den Gesellschaften…] festzustellen, inwiefern dieselben zu einer Abänderung ihrer Konzessionen bereit“ wären. Über die Ergebnisse sollte im Herbst beraten werden.445 Anders als in der Börsenenquête setzte sich die Exekutive dieses Mal für die Öffentlichkeit der Untersuchung ein, indem die Kolonialverwaltung vorschlug, sämtliche Verhandlungen stenographisch aufzunehmen und nach jeder einzelnen Sitzung der Öffentlichkeit zu übergeben. Bis auf eine „kurze Notiz über den Verlauf der Sitzung für die Presse“, die der Vorsitzende zu veranlassen habe, sollten die Verhandlungen bis zu ihrer Veröffentlichung vertraulich sein.446 Gegenüber die 444

VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1359 f. VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1361. 446 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1357. 445

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sem Vorschlag wurde einerseits die Widersprüchlichkeit von Publikation und Vertraulichkeit gerügt, andererseits eine kurze Mitteilung des Vorsitzenden abgelehnt. Während manchem eine Veröffentlichung als „nicht erforderlich“ erschien, wurde von anderer Seite betont, „daß die ganze Verhandlung nicht den Zweck habe, nur die Abgeordneten zu informieren“. Verschiedene Kommissionsmitglieder hielten der vollen Öffentlichkeit den alten447 Einwand entgegen, dass unter den Augen des Publikums die Sachlichkeit der Verhandlungen leiden könne. Zudem könnten „Angriffe auf einzelne Persönlichkeiten oder Gesellschaften“ ebenso wenig „ohne weiteres publiziert werden“ wie Überlegungen „über die kolonialpolitischen Verhältnisse anderer Staaten“. Als Kompromiss sollten die stenographischen Aufzeichnungen schließlich in der Kolonialabteilung aufbewahrt und erst „im Anschluß an den Gesamtbericht“ über ihre Veröffentlichung entschieden werden.448 Möglicherweise wollte die Kolonialverwaltung mit ihrer Forderung das Gewicht der öffentlichen Meinung nutzen, um Druck auf die Gesellschaften, mit denen neben der Kommissionsarbeit parallel um eine Einigung gerungen wurde, ausüben zu können; wie es die Volksvertretungen schon in der Revolutionszeit versucht hatten, bemühte sich jetzt die Exekutive darum, das Publikum zur Durchsetzung seiner Zwecke zu instrumentalisieren.449 4. Beratungen, Ergebnisse und Abschlussbericht In der weiteren Behandlung der unbequemen Sache setzte sich unter der Ägide der kaiserlichen Beamten die zögerliche Haltung der Regierung bei der Ein­setzung fort: In der 11. Legislaturperiode tagte die Kommission lediglich am 10. Februar, 23. März, 3. und 10. Dezember 1906.450 An diesem schleppenden Gang änderte auch Matthias Erzbergers ironische Mahnung vom Ende November 1906 nichts, dass man bei diesem „Schnellzugstempo“ wohl „ungefähr im Jahre 1925“ auf erste Resultate hoffen dürfe.451 Nach der Reichstagsauflösung fand die erste Sitzung der neu konstituierten Kommission am 6. Mai 1907 statt. Weitere Sitzungen folgten am 25. Februar 1908 und mehr als ein Jahr später am 19. März sowie am 27. November 1909.452

447 Ende 1820 hatte die Ständeversammlung von Sachsen-Weimar-Eisenach Bedenken gegen die durch den Großherzog gewünschte Öffentlichkeit erhoben. Ausschlaggebend war u. a., dass man, „[j]e kleiner der Staat, je kleiner die Anzahl der Abgeordneten in dem Landtage [seien], desto mehr […] die Nachtheile öffentlicher Verhandlungen – fremden Einfluß aus den nächsten Umgebungen, Abhängigkeit, Befangenheit, zu großes Uebergewicht eines einzigen beredten Sprechers – zu fürchten“ habe. Vgl. die Erklärung vom 20. Dezember 1820 (RegBl SWE 1821, Beil. zu No. 2, S. 18) und dazu C. W. Schweitzer, ÖffR SWE I, 1825, S. 106 f. 448 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1357. 449 Vgl. die Stellungnahme des Kommissionsvorsitzenden in Fn. 454. 450 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1355. 451 VerhRT XI/2 (1905/06), S. 4037. 452 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1356.

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Im Kielwasser dieser über einen dreieinhalbjährigen Zeitraum verstreuten acht Beratungen handelte die Kolonialverwaltung mit den Landgesellschaften Vereinbarungen aus, in denen sich diese zur Erschließung verpflichteten, aber die Veräußerung dem Gouvernement überließen. Die Bergwerksgesellschaften verzichteten auf ihren Abgabenanteil und unterwarfen sich einer neuen Bergverordnung. Die Verwaltungskosten sollten neu aufgeteilt und weitere Steuern eingeführt werden. Eine Konzession wurde „wegen der dauernden Untätigkeit der Gesellschaft“ als erloschen einkassiert.453 Trotz dieser Erfolge blieb es keineswegs unbestritten, dass die Regierung, wie es der Kommissionsvorsitzende sehen wollte, unter dem Eindruck der Kommissionsarbeit etwas erreicht habe.454 Die verschiedenen Positionen  – während die Regierungsseite den Kommissionszweck im Großen und Ganzen als erfüllt ansah, forderte ein Teil der Kommissionsmitglieder weitergehende Einschnitte gegenüber den Gesellschaften, – prallten in der Abschlusssitzung vom 27. November 1909 in den Anträgen aufeinander.455 Auch beschwerten sich verschiedene Mitglieder „über die Verweigerung der Einsichtnahme in die Akten respektive das Gutachten des Reichs-Justizamtes“.456 Ein Abgeordneter beschuldigte den Kommissionsvorsitzenden sogar, „immer darauf hingearbeitet [zu haben], die Kommission zurückzudrängen“.457 In den Schlussanträgen folgte die Mehrheit nicht dem beschönigenden Regierungsvotum, sondern fasste einstimmig den kritischeren Beschluss, dass keine „endgültige Lösung der Gesellschaftsfrage“ herbeigeführt worden sei, man aber wenigstens verschiedene Erfolge „auf Grund der vorstehenden Abmachungen, der Verwirkung des Landes der Eingeborenen infolge des Aufstandes und der Diamantenfunde sowie der sich an sie schließenden Verhandlungen […] erreicht“ habe.458 Diesen Kommissionsbericht leitete Bernhard Dernburg dem Reichstag unter dem 20. Januar 1910 in Vertretung des Reichskanzlers zu.459 453

s. dazu VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1361 ff., 1374 ff. Er resümierte, es sei gelungen, einen „sehr kaputten Stiefel“ zu flicken – ein neues Paar habe sich freilich nicht anfertigen lassen. Kommissionsaufgabe seien keineswegs „Zwecke des Hasses und des Neides oder des Kampfes gegen das Kapital“ gewesen, sondern eine Verbesserung der Situation in den Schutzgebieten. Deswegen habe man den Verhandlungsweg ein­ geschlagen, statt „irgend jemand [zu] depossedieren“. Die Kommissionstätigkeit sei äußerst nützlich gewesen, weil unter dem Eindruck, „daß der Staat eventuell auch Machtmittel besäße und in Anwendung bringen könne, […] die Abkommen alle getroffen worden“ seien (VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1394 f.). 455 Zur Position der Kolonialverwaltung sowie dem auf stärkere Abschöpfung gerichteten Gegenantrag s. VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1393 f. und 1396. 456 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr.  196, S.  1399: „Wäre der Herr Vorsitzende mit [dem Gut­ achten…] an die Gesellschaften herangetreten: – wenn Ihr nicht wollt, ich kann auch anders –, die Gesellschaften würden vermutlich einen heilsamen Schrecken bekommen und mehr zugestanden haben.“ 457 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1399. 458 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1406 f. 459 VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1353. 454

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5. Bewertung Umstände, Arbeit und Ergebnisse der Südwestafrikanischen Land- und Bergwerkskommission spiegeln die Eigenheiten des damaligen politischen Systems wider: Obwohl der Reichstag jetzt über ausreichendes politisches Gewicht verfügte, um der Regierung eine unbequeme Untersuchung abzutrotzen, hatte es diese weiterhin in der Hand, die Einsetzung der Kommission hinauszuzögern und ihre Bemühungen wenigstens teils durch eine dilatorische Geschäftsbehandlung ins Leere laufen zu lassen. Der unbestreitbare Charakter des wenigstens unter massiver parlamentarischer Beteiligung niedergesetzten Gremiums als Regierungskommission zeigte sich u. a. auch in dem Fortbestand der Untersuchungskommission nach Reichstagsauflösung und Neuwahlen. Statt dem Diskontinuitätsgedanken zu folgen, ersetzte der Reichstag schlicht die parlamentarischen Kommissionsmitglieder. Die Sitzverteilung blieb unverändert, einige Mitgliedschaften wurden bestätigt.460 Das personelle Gewicht, das sich der Reichstag in der Land- und Bergwerkskommission verschaffen konnte, verdient besondere Erwähnung: Acht regierungsnominierten Kommissionsmitgliedern stand eine Mehrheit von 14 Abgeordneten gegenüber. Dass das Gouvernement bereit war, derart viele Parlamentarier zu beteiligen, dürfte einerseits auf das Verhältnis der Regierung Bülow zu den politischen Parteien zurückgehen.461 Andererseits hatte sie sich mit dem Kommissionsvorsitz ein wirkungsvolles „Steuerungsinstrument“ vorbehalten, das es ihr ermöglichte, die Sache in acht Sitzungen abzutun, während Referenten und Korreferenten in der Zwischenzeit im Stillen arbeiteten. Überhaupt führten der beherrschende Einfluss der Regierung auf die Kommission und ihre Macht, dem Verfahren seinen Gang zu lassen oder es nach Belieben auszubremsen, den Zeitgenossen die Notwendigkeit eines eigenen parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts einigermaßen drastisch vor Augen. So warf Max Weber dem Zentrum Ende 1906 mit anderem Akzent vor, es habe den „Scheinkonstitutionalismus gefördert und gestützt“, indem es den Kolonialetat abgelehnt und „nicht die Controlle der Colonialverwaltung durch den Reichstag (etwa in Form der […] parlamentarischen Enquete [sic!]) zur Bedingung der Annahme“ gemacht habe.462 Gegenüber diesem alten konservativen Schreckbild, das als Auftakt einer Parlamentarisierung galt, waren die von einer gemischten Untersuchung ausgehenden Gefahren für die Regierung überschaubar, indem die Kommissionsbefugnisse so beschränkt blieben wie bei früheren Enquêten. Mitwirkungspflichten bestanden ebenso wenig wie Zwangsmittel, um die Landund Bergwerksunternehmen zu irgendeinem Entgegenkommen zu veranlassen. Ausweislich der recht detaillierten Einzelberichte muss es gleichwohl zu einer ge 460

VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1356. s. allg. T. Nipperdey, DtGesch 1866–1918 II, 1998, S. 726 ff. 462 Abdruck des Briefs an Friedrich Naumann bei M. R. Lepsius/W. J. Mommsen (Hg.), MWG II/5, 1990, S. 201 ff. (Hervorhebungen im Original). 461

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wissen Kooperation gekommen sein. Hier hatte sicherlich das Damoklesschwert einer „Enteignung“ positiv gewirkt. Die faktische Schwäche der Kommissionsbefugnisse kam den offenkundigen Regierungsabsichten, einerseits die Ermittlungen auszubremsen, andererseits die Existenz der Kommission den Gesellschaften gegenüber zu einer Drohkulisse aufzubauschen, um sie zu Zugeständnissen zu bewegen,463 zweifellos entgegen. Eine Befugniserweiterung in Richtung Pflicht, Zwang und Strafe wäre aber auch nicht ohne Weiteres möglich gewesen: Der schon im Reichstag gescheiterte sozialdemokratische Antrag, der Kommission das Recht zur „zeugeneidlichen Vernehmung von Interessenten und Sachverständigen“ einzuräumen, hätte den Rahmen einer parlamentarischen Resolution gesprengt. Ebenso wenig hätte die Regierung die Spezialkommission entsprechend ausstaffieren können. Vielmehr wäre ein „besonderes Gesetz“ erforderlich gewesen.464 Diese richtige Erkenntnis lag gut ein Vierteljahrhundert früher dem Regierungsentwurf für ein Tabakenquêtegesetz zugrunde und sollte 1913 in der Debatte über die Rüstungsenquête, dieses Mal von den Sozialdemokraten vorgetragen, wiederkehren.465 Bei dieser Gelegenheit bestätigte Paul Laband die hier vertretene These, dass „[w]eder eine vom Reichstag eingesetzte, noch eine vom Kaiser oder Reichskanzler berufene Kommission […] das Recht zur [zwangsweisen!] Vernehmung oder Vereidigung von Zeugen“ habe.466 Unter dem Blickwinkel der Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung ist die Land- und Bergwerkskommission allen Schwierigkeiten und bloß mediokren Aufklärungserfolgen zum Trotz als das erste Beispiel einer gemischten Kommission auf Initiative und unter wesentlicher Beteiligung der Volksvertretung und damit als ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zu einem parlamentarischen Selbstinformationsrecht von Bedeutung. Selbst eine derart in ihren Möglichkeiten beschränkte Untersuchung wäre in früheren Jahrzehnten undenkbar gewesen. Schließlich nahmen parlamentarisch ausgewählte Abgeordnete an einer Untersuchung teil, die nicht nur von konservativer Seite als partiell unzulässige exekutive Tätigkeit wahrgenommen wurde, sondern neben den Gesellschaften eben auch die bisherige Tätigkeit der Kolonialverwaltung auf den Prüfstand stellte. Es ist bemerkenswert, dass sich die Regierung nicht einmal ein Bestätigungsrecht für die parlamentarischen Mitglieder vorbehalten, sondern mit ihrer Auswahl gleichzeitig ihre Legitimation dem Reichstag überlassen hatte. Aufgrund des nume­rischen Übergewichts konnten die Abgeordneten die Regierungsvertreter majorisieren und Beschlüsse durchsetzen. Damit ging die Landkommission noch über das Vorbild der preußischen Eisenbahnenquête hinaus, in der den vier parlamentarischen Mitgliedern bei weitem kein derartiger Einfluss zugekommen war; in diesen Umständen dürfte der konservative Widerspruch begründet gewesen sein. Die 463

Vgl. in Fn. 454. VerhRT XII/2 (1909/10), Nr. 196, S. 1354. 465 s. die Äußerungen G. Ledebours, VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5046 und ferner S. 5045. 466 P. Laband, DJZ 1913, Sp. 604 (606). 464

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südwestafrikanische Untersuchung unterschied sich zudem durch ihren investigativen Kontrollcharakter deutlich von der Börsenenquête aus den 1890er Jahren, die der Vorbereitung einer gesetzlichen Regelung gedient hatte. Der Kontrollaspekt war auf der Reichsebene überhaupt ein informationsrechtliches Novum und knüpfte, obwohl eine Art. 82 PrVerf 1850 vergleichbare verfassungsrechtliche Grundlage fehlte, wiederum an die preußische Eisenbahnenquête an. So ist es aus damaliger Sicht nur natürlich, dass die südwestafrikanische Land­ enquête im Ringen um die umstrittene Untersuchung von Korruptions-, Bestechungs- und anderen Vorwürfen gegen Schwerindustrie und Militärverwaltung noch eine Rolle spielen sollte; bei dieser noch weitaus peinlicheren Gelegenheit versuchte die Reichsregierung, ihre wenigen Zugeständnisse an den Reichstag aus der Landkommission wieder zurückzunehmen.467

III. Untersuchung zur Lage der Polen (1908) Politisch brisanter als die Forderung des Reichstages, potentiellen Missständen in den afrikanischen Schutzgebieten nachzugehen, fiel eine Resolution von 1908 aus, mit der die Volksvertretung eine gemeinsame Enquête zur Lage der polnischen Bevölkerung in Preußen und dem Reich verlangte. Diese Kampfansage gegenüber der Regierungspolitik zielte eindeutig auf Untersuchung, Kontrolle und Kritik und nahm damit deutlich den Hauptimpetus des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts vorweg. 1. Vorgeschichte: Antipolenpolitik in Reich und Preußen Schon die Vereinbarungsversammlung sah sich 1848 dazu veranlasst, eine „Untersuchung“ der Lage im „Großherzogthum Posen“ zu veranstalten.468 Seit dem Revolutionsjahr schlingerte der offizielle Kurs zwischen den Extremen einer „großzügigen Versöhnungspolitik“ und einer „härteren Assimilationspolitik“ (Ernst Rudolf Huber). Mit der Aufnahme einer aggressiven Antipolenpolitik unter dem preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzler Bernhard v. Bülow wurde das Parlament zum Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen zwischen Polen, Zentrum, Freisinnigen und Sozialdemokratie auf der einen und den gouverne­mentalen bzw. propreußischen Fraktionen auf der anderen Seite.469

467

s. 6. Teil 3. Kap. B. IV. 2. und 3. s. 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. 469 Vgl. E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 480 ff., 494 ff., 504 ff. und allg. zur Lage der Polen T. Nipperdey, DtGesch 1866–1918 II, 1998, S. 266 ff. 468

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2. Der Antrag Brandys, Plenardebatte und Resolution Unter dem 21. März 1908 beantragte der oberschlesische Pfarrer Paul ­Brandys mit Unterstützung seiner Fraktion und von über 20 Zentrumsabgeordneten, „den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, in dem Gesetzentwurf zur Feststellung des Reichshaushalts-Etats für das Jahr 1909 eine entsprechende Summe anzufordern zur Bestreitung der Kosten einer aus Mitgliedern der verbündeten Regierungen und des Reichstags zusammengesetzten Enquete-Kommission behufs Untersuchung der politischen Verhältnisse der polnischen Bevölkerung im Deutschen Reiche“.470 Diese hochpolitische Enquêteforderung musste gouvernementale, konservative und nationale Abwehrreflexe provozieren. So ist es nicht verwunderlich, dass der Deutschkonservative Hans Otto v. Gersdorff drei Tage später monierte, „daß der Reichstag keine Veranlassung und auch kein Recht dazu [habe…], sich in diese rein preußische Angelegenheit einzumischen“.471 Auf föderale Bedenken berief sich auch der Nationalliberale Anton Eugen Beck.472 Der polnische Abgeordnete Sigismund v. Dziembowski-Pomian verteidigte dagegen die Zulässigkeit der „Einsetzung einer Enquetekommission nach der Reichsverfassung“ gegen diese Angriffe, weil „wiederholt Enqueten veranstaltet worden [seien] auf verschiedenen Gebieten“. Ressentiments gegenüber dem vermeintlichen (?) „Eingriff in innere preußische Angelegenheiten“ hielt der promovierte Rechtsanwalt bei dem Königlichen Oberlandesgericht in Posen für „absolut unrichtig“, weil der Reichskanzler im preußischen Abgeordnetenhaus selbst erklärt habe, dass die Lage in den östlichen Provinzen „nicht bloß“ eine „Gefahr für den Bundesstaat Preußen“, sondern „für das ganze Deutsche Reich“ bedeute;473 überdies veranlasse Preußen das Reich zu belastenden Ausnahmeregelungen gegen die polnische Bevölkerung. Zur Abwehr existenzbedrohender Gefahren bestehe aber eine „recht weitgreifende Kompetenz des Reichs“ – insoweit berief sich der polnische Katholik ausgerechnet auf Heinrich Albert Zachariäs Stellungnahme zu der „Frage der Reichskompetenz gegenüber dem Unfehlbarkeitsdogma“. Fernerhin bemühte er das immer wiederkehrende Argument, auf das Max Weber 1917 mit der provokanten Formel von der „dilettantischen Dummheit“ des Reichstags hinweisen sollte,474 dass die Abgeordneten, obwohl der Reichstag „zur Entscheidung über hochbedeutsame politische Fragen“ berufen sei, nicht über die „nötigen Grundlagen für die Beurteilung der Sachlage“ verfügten. Die Informationen, die der Volksvertretung von der Staatsregierung überlassen würden, hielt der Abgeordnete in der Angelegenheit für ungenügend: Zeitungsausschnitte würden tendenziös 470

VerhRT XII/1 (1907/09), Nr. 799 S. 4717. VerhRT XII/1 (1907/09), S. 4255. 472 VerhRT XII/1 (1907/09), S. 4259. 473 VerhRT XII/1 (1907/09), S. 4274. 474 s. dazu 7. Teil. 1. Kap. C. 471

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gewählt und die amtlichen Berichte könnten „keine objektiven Materialien“ liefern, solange die Beamtenschaft vor Ort „Vorteile […] aus der preußischen Antipolenpolitik“ ziehe.475 Vor allem mit der Unterstützung des Zentrums (104 Mandate), das im katholischen Polen seine Felle schwinden sah, wurde der Resolutionsantrag der polnischen Fraktion (20 Mitglieder) mit 158 zu 147 Stimmen bei zwei Enthaltungen und einer ungültigen Stimme angenommen.476 Die restlichen „Ja“-Stimmen dürften aus den Reihen der Sozialdemokraten (43 Sitze) oder anderer regionaler Parteien gestammt haben. Es handelte sich also insgesamt um vermeintliche „Reichsfeinde“,477 die auch schon bei früheren Gelegenheiten für die polnische Sache Partei ergriffen hatten.478 3. Bewertung Grundsätzlich ähnelte die Debatte über den Resolutionsantrag den bisherigen Beratungen im Kontext des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts: Zwar hatte das überstrapazierte Gewaltenteilungsargument, mit dem sich jede Untersuchung von Tatsachen als judikatives oder exekutives Vorrecht von der Volksvertretung fernhalten ließ, gegenüber regierungsgeführten Enquêten einen Teil seiner Glaubwürdigkeit verloren. An seiner Stelle beriefen sich die Untersuchungsgegner jetzt – immerhin grundsätzlich mit besserem Recht – auf die föderale Grundstruktur des Reiches, die den konservativen und nationalliberalen Gegnern einer polenfreundlichen Politik Munition für die Ablehnung des Antrags liefern sollte.479 Aber auch diese Argumentation war keineswegs neu, sondern unter preußischer Führung schon in der Märzrevolution von 27 Einzelstaaten gegen den Entwurf eines Enquête- und Untersuchungsrechts für die Frankfurter Reichsverfassung ins Feld geführt worden;480 keine 20 Jahre später waren entsprechende Überlegungen im Norddeutschen Reichstag in den Verfassungsberatungen wiedergekehrt.481 Im Kern blieb der Einwand, dass dem (Reichs-)Parlament schlicht die Kontrollkompetenz fehle, von dieser staatsrechtlichen Lautverschiebung erstaunlich unberührt. Gegen die (gesamt-)staatliche demokratische Legitimation einer Volksvertretung wurde letztlich wieder der monarchische Legitimitätsanspruch ins Feld geführt. Daran ändert es nichts, dass vergleichbare Überlegungen heute das

475

VerhRT XII/1 (1907/09), S. 4275. VerhRT XII/1 (1907/09), S. 4331 f. sowie die Zusammenstellung S. 4362 ff. 477 A. S. Kotowski, PolFraktion, 2007, S. 43 in Fn. 9. 478 s. zu den Wahlergebnissen KStatA (Hg.), StatJbDtR 19 (1898), S.  268 sowie zur Lage der Polen während der Reichskanzlerschaft Bernhard v. Bülows und dem Verhältnis zu Sozial­ demokratie und Zentrum A. S. Kotowski, PolFraktion, 2007, S. 143 ff. 479 Zu Konservativen und Nationalliberalen s. A. S. Kotowski, PolFraktion, 2007, S. 5. 480 s. 3. Teil 1. Kap. A. IV. 2. 481 s. 6. Teil 2. Kap. A. I. und II. 476

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Enquête- und Untersuchungsrecht des Deutschen Bundestages limitieren.482 – Die Untersuchungsbefürworter führten ebenfalls „klassische“ Argumente an, indem sie sich auf die Notwendigkeit vorbereitender Informationen für eine sachgerechte Aufgabenerfüllung durch die Volksvertretung stützten. Für die Entwicklung des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts ist die Resolution dadurch von Interesse, dass der Reichstag überdeutlich einen parlamentarischen Kontrollanspruch gegenüber der Regierung artikulierte. Zwar beschränkte man sich auf die mildere Form eines Ersuchens um die Niedersetzung einer gemeinsamen Kommission. Die Eindeutigkeit der politischen Stoßrichtung litt darunter aber in keiner Weise. Gewisse Vorbilder lieferte die preußische Staatspraxis: In ihrer regierungskritischen Grundtendenz ähnelte die Motion dem Antrag Schwerin vom 9. Dezember 1855, die preußische Regierung möge zur Aufklärung der gouvernementalen Wahlumtriebe tätig werden.483 In der Eisenbahnfrage hatte das Abgeordnetenhaus die Forderung einer gemeinsamen Kommission zur Untersuchung potentieller Verfehlungen in Regierung und Verwaltung sowie der mutmaßlichen Korruption der Wirtschaft erfolgreicher erhoben.484 Gegenüber den Präzedenzfällen aus dem Reichstag, insbesondere der Landkommission, stellte der Antrag Brandys eine deutliche Zuspitzung des Kontrollgedankens dar, indem er auf ein hybrides Gebilde aus Reichstagsmitgliedern und Regierungsvertretern abzielte, das der parlamentarischen Seite eine Kontrolle und Kritik des Gouverne­ ments ermöglichen sollte. Notdürftig bemäntelt wurde diese parlamentarische Anmaßung mit der formalen Einkleidung in eine Sachstandsenquête. Handfeste Resultate zeitigte dieser Vorstoß freilich nicht, da die Regierung das Ersuchen der Volksvertretung – wie nicht anders zu erwarten – schlicht ignorierte. Es ist insoweit aber auch kaum anzunehmen, dass die Resolution mit ernsten Hoffnungen verbunden war. Ähnlich wie z. B. auch den Altliberalen um Georg v. Vincke, die im preußischen Abgeordnetenhaus offenkundig ohne jede Erfolgschance eine Untersuchung der Olmützer Regierungspolitik des Ministeriums Manteuffel beantragt hatten,485 ging es den Antragstellern allein um den politisch-moralischen Sieg, die Angelegenheit vor den Augen der Öffentlichkeit auszubreiten und den Regierungskurs im Reichstag anzuklagen. Anders als in den 1850er Jahren konnte man für diesen Schritt immerhin dieses Mal eine parlamentarische Mehrheit demonstrieren und damit darauf hoffen, den politischen Druck auf das Gouvernement zu erhöhen.

482 s. zu den föderalen Grenzen des Untersuchungsrechts für den Bundestag J. v. Achenbach, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. D sowie im Hinblick auf das Untersuchungsrecht der Landtage T. Linke, a. a. O., Vorbem. F Rn. 6. 483 s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 3. 484 s. 5. Teil 3. Kap. E. 485 s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 1.

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IV. Die Rüstungsenquête (1913) Das bedeutendste Beispiel einer gemischten Untersuchung stammt aus dem letzten Vorkriegsjahr. Die parlamentarische Kontrollforderung zielte auf die zwielichtige Liaison der Militärverwaltung mit der Rüstungsindustrie. 1. Vorgeschichte Den politischen Hintergrund bildete die größte Militärvorlage seit der Reichsgründung: Am Vorabend der europäischen Katastrophe forderte die Regierung eine Aufstockung des aktiven Heeres um gut ein Fünftel, die horrende Kosten von über einer Milliarde Mark verursachen würde. Verkompliziert wurde die politische Lage durch den spektakulären Vorjahreswahlerfolg der Sozialdemokraten. Zugewinne von 67 Mandaten machten die jetzt 110 Abgeordnete starke Fraktion, wie Thomas Nipperdey es formulierte, von einer „Außenseiterminderheit […] zu einem kaum mehr zu übergehenden Faktor aller künftigen parlamentarischen Konstellationen“. Obwohl nicht mehr an robuste gouvernementale Mehrheiten zu denken war, mündete die Unfähigkeit der Oppositionsparteien, eine handlungsfähige Koalition zu bilden, in das Paradoxon einer „stabilen Krise“. Trotzdem wurde die Heeresvorlage, wenngleich gegenüber den Regierungsplänen modifiziert, angenommen.486 Vor den parlamentarischen Auseinandersetzungen über die Vorlage hatte Karl Liebknecht Anfang November 1912 aus einer anonymen Quelle – es handelte sich um den im September entlassenen Direktor des Berliner Krupp-Büros  – Kenntnis von Korruption, Bestechung und anderen Missständen in Schwerindustrie und Militärverwaltung erhalten.487 Der Sozialdemokrat unterrichtete zunächst vertraulich Kriegsminister Josias v. Heeringen; als dieser sich aber nach Kräften bemühte, die Affäre herunterzuspielen,488 stilisierte Karl Liebknecht die Vorgänge am 19. April 1913 in einer Reichstagsrede zu einem Ärgernis hoch, das deutlich über ein „Panama“ hinausgehe.489 Diese Anspielung zielte auf den bis dato größten Korruptions- und Bestechungsskandal, in den u. a. französische Regierungsund Parlamentsmitglieder sowie weitere Kreise des öffentlichen Lebens verstrickt waren.490 Ungeachtet der Tatsache, dass parlamentarische Kritik und der Vorwurf 486 T. Nipperdey, DtGesch 1866–1918 II, 1998, S.  747, 748, 753 f. (Zitate); H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte III2 2006, S.  1014 ff., 1113.; E. R. Huber, DtVerfGesch IV2 1982, S. 323 ff. 487 Ausführlich F. Bösch, HZ 281 (2005), 337 ff., 354. 488 M. Epkenhans, Flottenrüstung, 1991, S. 366. 489 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 4926. Ein „Panama“ war ein von französischen Ereignissen abgeleitetes Synonym für den Verdacht einer „Beteiligung einzelner Abgeordneter an schimpflichen oder unsauberen Geschäften“. s. die Erläuterung Oskar Cohns, VerhWeimNV, Nr. 391, S. 265. 490 F. Bösch, HZ 281 (2005), 337 (338 f.) und Fn. 8.

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rechtswidrigen Verhaltens als etwas Anstößiges empfunden wurden,491 herrschte unter allen Reichstagsfraktionen mit Ausnahme der Konservativen im Grunde Einigkeit, dass angesichts der großen finanziellen Opfer, die dem Volk mit der Heeresvorlage abverlangt würden, eine eingehende Untersuchung geboten war. Neben den erhobenen Vorwürfen sprachen auch die seit Längerem schwelenden Verstaatlichungsforderungen gegenüber der Rüstungsindustrie für eine eingehende Beschäftigung mit dem militärisch-industriellen Komplex.492 2. Das Ringen um die Rüstungsenquête a) Der Kommissionsantrag und das sozialdemokratische Amendement Vor diesem Hintergrund schlug die Budgetkommission dem Plenum vor, „den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, zur Prüfung der gesamten Rüstungslieferungen […] eine Kommission zu berufen, zu welcher vom Reichstag zu wählende Mit­ glieder des Reichstags und Sachverständige zuzuziehen“ sein sollten. Nach Abschluss der Untersuchung sollte der „Bericht […] den gesetzgebenden Körperschaften mit Vorschlägen zur Beseitigung etwaiger Mißstände mitzuteilen“ sein.493 Den Sozialdemokraten ging dieser Antrag, der bekannten Mustern folgte, nicht weit genug. Statt eines Enquêteersuchens an den Reichskanzler forderten sie, „zur Prüfung der gesamten Rüstungslieferungen“ durch den Reichstag494 „eine Kommission von 21 Mitgliedern einzusetzen“. Grundlage dieser revolutionären Forderung könnte das „natürliche Enquêterecht“ gewesen sein, das in den ersten 491 Eine aus heutiger Sicht kuriose Begebenheit aus dem Vorfeld der Enquêtedebatte verdeutlicht, wie wenig Regierungsschelte den Abgeordneten gestattet war: Als Karl Liebknecht von politischem „Boykott“ und „Terrorismus“ der Militärverwaltung sprach, weil das Militär einen Milchlieferanten nur deswegen zurückgewiesen habe, weil sein Vater Sozialdemokrat sei, verbat sich der preußische Kriegsminister Josias v. Heeringen, „daß der Militärverwaltung ein gesetzwidriges Verhalten nachgesagt“ werde. Als der Sozialdemokrat Liebknecht darauf betonte, dass dieses Vorgehen in der Tat „gesetzwidrig“ gewesen sei, rügte ihn der nationalliberale Reichstagsvizepräsident Hermann Paasche für dieses Adjektiv (VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5038 f.). Der heute keineswegs ungewöhnliche Vorwurf gegenüber der Regierung, sie habe gegen ein Gesetz verstoßen, war im Kaiserreich also als unparlamentarisch verpönt. 492 M. Epkenhans, Flottenrüstung, 1991, S. 366 f. 493 VerhRT XIII/1 (1912/14), Nr. 945 unter II., S. 1390 f. 494 Insoweit war der Wortlaut des Amendements alles andere als eindeutig: Der Resolu­ tionsantrag der Budgetkommission sollte folgendermaßen modifiziert werden: „Der Reichstag wolle beschließen: die von der Kommission vorgeschlagene Resolution wie folgt zu fassen: 1. zur Prüfung der gesamten Rüstungslieferungen für Reichsheer und Reichsmarine eine Kommission von 21 Mitgliedern niederzusetzen“ (s. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5045 und den Wortlaut Nr. 949, S. 1397). Damit blieb aber der Anfang des Resolutionsantrags, der von einem Ersuchen an den Reichskanzler handelte, unverändert. Dass in Wahrheit eine parlamentarische Untersuchungskommission beabsichtigt war, zeigte sich erst in den Beratungen.

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Jahrzehnten durch die parlamentarischen Beratungen gegeistert war.495 Die erforderlichen Befugnisse wollten die Antragsteller diesem Gremium durch ein besonderes Gesetz verschaffen. Zu diesem Zweck beantragten sie, den Reichskanzler zu ersuchen, „dem Reichstag unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch den der […] Kommission diejenigen Rechte eingeräumt werden [sollten], die den ordentlichen Gerichten für die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen sowie für die Anordnung der Durchsuchung und der Beschlagnahme“ zustünden. Mit einem Hilfsamendement für den wahrscheinlichen Fall, dass der Hauptantrag scheitern sollte, verlangten sie, dass die durch den Reichskanzler zu berufende Kommission „zu zwei Dritteln aus Reichstagsmitgliedern bestehen“ müsse.496 Der promovierte Mannheimer Rechtsanwalt Ludwig Frank erläuterte diese Forderungen dahin, dass die Kommission im Publikum nur Vertrauen finden könne, wenn „sie mindestens in der Mehrheit […] aus Vertretern des Volkes zusammengesetzt [sei…], nicht aber aus Vertretern der Regierung“. Durch den Modus der Sitzvergabe wollte er weiterhin gewährleisten, „daß die Kommission ein Bild der im Reichstage vorhandenen Fraktionsstärken“ gab.497 Ungeachtet der bloß auf die Beruhigung des Publikums abstellenden Begründung war unmissverständlich, dass der Antrag auf eine Machtprobe abzielte. Die Sozialdemokraten stellten in einer die Gemüter erregenden Frage die Bereitschaft des Reichstags auf die Probe, sich nach dem Vorbild der revolutionären Parlamente des 19. Jahrhunderts ein Selbstinformationsrecht zur Regierungskontrolle anzueignen. Das Ersuchen an den Reichskanzler zielte demgegenüber eher auf eine Bloßstellung der Regierung, indem sich diese, wenn sie die Forderung der Sozialdemokraten ablehnte, in den Augen der Öffentlichkeit zugleich gegen eine Aufarbeitung der mutmaßlichen Korruption und Skandale entschied. Gleichzeitig war die an das Beispiel des Regierungsentwurfs für ein Tabakenquêtegesetz angelehnte Forderung eine Provokation des Bundesrats, indem er der Volksvertretung die Hand zu seiner eigenen Teilentmachtung reichen sollte. Zu guter Letzt begegnete man mit dem Postulat robuster Untersuchungsbefugnisse früheren Einwänden gegen ein vermeintlich schwächliches und deswegen nutzloses Enquête- und Untersuchungsrecht.498 b) Parlamentarische vs. Regierungsuntersuchung Der Sozialdemokrat Georg Ledebour betonte in der Beratung über den Kommissionsantrag und das Amendement am 23. April 1913, dass „die Zwecke dieser Untersuchung vollauf nur erfüllt werden könn[t]en, wenn das Parlament selber die 495

s. 6. Teil 2. Kap. A. II., B. III. 1. c) und V. VerhRT XIII/1 (1912/14), Nr. 951, S. 1397 f. 497 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5053. 498 s. aus den Norddeutschen Verfassungsberatungen 6. Teil 2. Kap. A. I. und II. 496

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ganze Gestaltung der Untersuchung […] in die Hand“ bekomme. Schließlich sei die Regierung für die bestehenden Missstände „mindestens durch Unterlassungssünden“ mitverantwortlich und damit andernfalls „bis zu einem gewissen Grade Partei“ und „Richter in eigener Sache“. Auch sprächen die Erfahrungen mit anderen Enquêten dagegen, ihr „vollkommen freie Hand bei Besetzung der Kommission zu lassen“: In „ihrer Naivität“ habe die Regierung in die südwestafrikanische Bergwerks- und Landkommission als Kommissionsmitglied ausgerechnet den Teilhaber einer der Gesellschaften berufen, deren Machenschaften untersucht werden sollten. Zur Untermauerung seiner Forderungen verwies Georg Ledebour nicht auf Gelegenheiten, in denen die Regierung den Reichstag bislang an Enquêten oder Untersuchungen beteiligt hatte, sondern auf die „englischen Enquetekommissionen“. Dem Vorschlag der Budgetkommission attestierte er, die „große Gefahr“ heraufzubeschwören, dass die Kommission die Vertuschung der Missstände zu ihrer Hauptaufgabe mache.499 Während auch der Münchener Oberlandesgerichtsrat Ernst Müller (Fortschrittliche Volkspartei), der Sozialdemokrat Ludwig Frank und selbst der Nationalliberale Hermann Paasche betonten, dass ausschließlich eine parlamentarische­ Enquête über ausreichenden Rückhalt in der öffentlichen Meinung verfügen werde, um das brisante Thema anzugehen,500 plädierte Matthias Erzberger (Zentrum) für das probate Gegenmodell einer Regierungskommission unter parlamentarischer Beteiligung. Gegenüber der Budgetkommission, der es für eine solche Herkulesaufgabe schlicht an Zeit fehle, habe ein solches Gremium den Vorteil, dass es auch außerhalb der Reichstagssessionen tagen könne. Dem sozialdemokratischen Amendement auf Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission hielt der Zentrumspolitiker das aus den Norddeutschen Verfassungsberatungen bekannte „Argument“ entgegen, dass eine Annahme durch den Reichstag angesichts der ablehnenden Haltung der verbündeten Regierungen wenig nütze. Im Gegensatz zu einem parlamentarischen Alleingang könne der Kommissionsantrag auf Bildung einer gemischten Kommission „unter Berücksichtigung […] aller Parteien des Hauses“ möglicherweise tatsächlich etwas „Gutes leisten“.501

499

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5045 f. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5051 f., 5053 bzw. S. 5059. Freilich verwahrte sich der Stellvertreter des Reichskanzlers Delbrück S. 5056 dagegen, „daß man im Volke zur Regierung und ihren Vertretern nicht das Vertrauen habe, daß eine von ihr einberufene Kommission unparteiisch und mit absoluter Zuverlässigkeit arbeiten“ werde. 501 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5050. Im Einzelnen betonte M. Erzberger, dass der Antrag „wohl eine Mehrheit bekommen [könne], aber die Kommission [werde…] überhaupt nicht eingesetzt werden, der Gesetzentwurf [werde…] auch nicht eingebracht werden, und an die materielle Prüfung der Dinge [werde man…] nicht herankommen“. 500

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c) Verfassungsrechtliche Fragen Neben der Alternative einer parlamentarischen oder gemischten Enquête drehte sich die Diskussion auch um verfassungsrechtliche Fragen. aa) Unzulässigkeit parlamentarischer Mitwirkung Vom Boden bekannter Vorbehalte aus bestritt der Staatssekretär des Innern Clemens Delbrück die Verfassungsmäßigkeit beider Anträge: Während die sozialdemokratische Forderung, „eine parlamentarische Kommission zur Untersuchung und Feststellung tatsächlicher Verhältnisse niederzusetzen“, nicht auf einem Art. 82 PrVerf 1850 vergleichbaren Fundament stehe, widerspreche der geforderte Gesetzentwurf den „verfassungsmäßigen Grundlagen“ des Deutschen Reichs, weil „[d]ie eidliche Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen […] nicht Sache parlamentarischer Körperschaften, sondern Sache der Exekutive bezw. der Gerichte“ sei; selbst jenseits solcher Bedenken verbiete sich jedwede parlamentarische Einmischung des Reichstags in die ausführende Gewalt, die im Wesent­lichen den Einzelstaaten überlassen sei.502 Im 20. Jahrhundert kehrte damit das an alte Ressentiments aufgrund des „monarchischen Prinzips“ erinnernde Gewaltenteilungsargument gemeinsam mit verwandten föderalen Bedenken, die dem parlamentarischen Selbstinformationsrecht im vergangenen Säkulum entgegengehalten worden waren, letzten Endes wieder. Geringere Bedenken hegte der konservative Innenpolitiker gegenüber dem Antrag der Budgetkommission, obgleich er eine parlamentarische Wahl der Kommissionsmitglieder – dieser Modus hatte der Regierung noch vor wenigen Jahren bei der südwestafrikanischen Landkommission kein Kopfzerbrechen bereitet – als mit den Befugnissen des Reichskanzlers unvereinbar qualifizierte. Entgegen solchen Sorgen unterbreitete Clemens Delbrück dem Reichstag gewissermaßen ein Kompromissangebot: Der Reichskanzler wünsche ebenfalls, über die Beschaffung des Kriegsmaterials bzw. das beste Vorgehen in diesen Dingen „in weitem Umfange Sachverständige zu hören“. Er wäre überdies „gern bereit, sich dabei der Sachkunde von Mitgliedern dieses Hauses zu bedienen“, bei deren Auswahl sich auch „Wünsche der Parteien“ „berücksichtigen“ ließen.503 Unmissverständlich nahm der Regierungsvertreter Delbrück trotz dieses Ölzweigs das Recht zur endgültigen „Berufung der Mitglieder für den Herrn Reichskanzler in Anspruch […], weil es sich eben um eine Verwaltungsmaßnahme und nicht um die Ausübung eines parlamentarischen Rechts“ handele.504 Dass die Untersuchung unter kaiserlicher Ägide stattfinden sollte, hatte also seinen Preis, indem die Regierung dem Reichstag lediglich das vage Versprechen offerierte, 502

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5047. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5047. 504 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5053. 503

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unter nicht näher konkretisierter parlamentarischer Beteiligung eine Kommission zu berufen. Jede Verpflichtung, den „Wünsche[n] der Parteien“ Folge zu leisten, erteilte sie mit dem schwächlichen Berücksichtigungsversprechen eine konkludente Absage und behielt sich damit unausgesprochen das Recht zur Ablehnung missliebiger Kandidaten vor. Die Regierungen gingen damit hinter ihr Entgegenkommen aus dem Jahr 1905 zurück; damals hatte der Reichstag die parlamentarischen Mitglieder zu der Südwestafrikanischen Land- und Berg­werks­kom­mis­ sion ohne gouvernementalen Widerstand benannt. Bei der Rüstungs­enquête, die gewisse strukturelle Ähnlichkeiten mit der preußischen Eisenbahn­enquête aufwies, wollte die Regierung offensichtlich nichts dem parteipolitischen Zufall überlassen; die Neuauflage einer derartig kritischen Untersuchung, wie sie unter­ Eduard ­Laskers Einfluss 1873 erfolgt war, wollte man mit dem letzten Wort in der Kommissionsbesetzungsfrage wohl verhindern. Nicht zu Unrecht quittierten die Sozialdemokraten die angeblichen Zugeständnisse deswegen mit dem Zwischenruf: „Eine Vertuschungskommission!“505 Ludwig Frank trat dem „unhaltbaren Standpunkt“ und „schweren Vorwurf“ der Regierung entgegen, „daß die Anträge verfassungswidrig seien“. Es war ihm unbegreiflich, wie der Regierungsvertreter nach den „Vorlesungen für staatswissenschaftliche Fortbildung“ verschiedener Vorredner noch annehmen könne, dass „eine Kommission, die den Auftrag [habe…], gewisse Vorgänge zu prüfen, […] einen Akt der Exekutive“ vornehmen solle. Ähnlich wie es bereits 1848 in der Auseinandersetzung um die Untersuchung der Verhältnisse in Posen angeklungen war,506 hob der sozialdemokratische Jurist zu Recht hervor, dass eine Kontrollkommission keine Exekutive ausübe, sondern nur dazu diene, „auf dem Boden der gegebenen Verfassungsrechte des Reichstags das Kontrollrecht“ wahrzunehmen. Zur Niedersetzung einer Kommission sei der Reichstag zudem unbestreitbar durch die Verfassung berechtigt.507 Namens der Fortschrittlichen Volkspartei bezeichnete es der Münchener Oberlandesgerichtsrat Ernst Müller als „sonnenklar“, dass es nicht um einen „Eingriff in die Exekutive“, sondern lediglich um die Ausübung des parlamentarischen Kontroll- und Budgetrechts gehe.508 Die Regierungsposition verteidigte dagegen der Deutschkonservative Kuno Graf v. Westarp, der sowohl die Vorschläge der Sozialdemokraten als auch den Resolutionsentwurf der Budgetkommission rundheraus ablehnte. Dem sozialdemokratischen Amendement, das er, wie er später ausdrücklich eingestand, zunächst dahin missverstanden hatte, dass kein Gesetzentwurf, sondern eine parlamentarische Ermächtigung der Kommission beantragt werde, kreidete er einen

505

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5047. s. 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. d) bb). 507 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5053. 508 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5052. 506

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verfassungs­widrigen Übergriff in die Exekutive an.509 Den Antrag der Budgetkommission verurteilte der preußische Oberverwaltungsgerichtsrat ebenfalls, weil die Volksvertretung weder „eine außerhalb des Reichstags stehende, von der Regierung einzuberufende Kommission bilden“ noch einzelne Mitglieder zu einer solchen wählen könne. Von Verfassungs wegen bleibe die Zusammenberufung einer solchen Kommission immer das ausschließliche Recht des Reichskanzlers, der keineswegs dazu verpflichtet wäre, die etwa im Reichstag „gewählten Mitglieder auch einzuberufen“.510  – Dieser konservativen Position leistete Paul Laband Mitte Mai 1913 in der „Deutschen Juristenzeitung“ publizistische Schützenhilfe. Unter dem bemerkenswerten Titel „Parlamentarische Untersuchungs-Kommissionen“ verkündete der Straßburger Staatsrechtler, dass der Reichstag zwar „aus seinen Mitgliedern Kommissionen für jeden zu seiner Zuständigkeit gehörenden Gegenstand […] bilden“ könne, aber „nicht berechtigt [wäre…], eine Kommission einzusetzen, welche ganz oder zum Teil aus anderen Personen als aus Reichstagsmitgliedern, namentlich auch aus Mitgliedern der obersten Reichsbehörden oder Sachverständigen“ bestehe. Insoweit habe ausschließlich der Kaiser oder der Reichskanzler das Recht, „Mitglieder der Kommission zu ernennen“. Dem Reichstag stehe nicht bloß „kein Mitwirkungsrecht“ zu; es gehe vielmehr geradewegs „über die im Organismus des Reichs ihm zustehende staatsrechtliche Stellung“ hinaus, „wenn ihm eine solche Mitwirkung eingeräumt“ werde. Daran ändere auch ein Gesuch an den Reichskanzler nichts, „eine Kommission zur Prüfung einer gewissen Angelegenheit, z. B. der Rüstungslieferungen […], zu berufen“. Die Volksvertretung könne lediglich eine „Bitte“ oder einen „Wunsch“ vortragen; auch in diesem Fall stehe es aber „im freien Ermessen der Regierung, inwieweit sie diesen Ansichten […] Rechnung tragen“ wolle.511 Den Deutschkonservativen bereitete selbst noch die Regierungsofferte einer gemeinsamen Untersuchung Kopfzerbrechen: Graf Westarp richtete, sich gegen jedes „Präjudiz nach irgendeiner Richtung“ im Fall einer Annahme des Vorschlages verwahrend, an den Reichskanzler den „grundsätzlichen Wunsch“, dahin „Fürsorge“ zu tragen, dass die Kommission nicht die Reichstagskompetenzen überschreite – gemeint waren das Recht zur „etatsrechtlichen und rechnungsmäßigen“ sowie zur „Kontrolle“ der „Zweckmäßigkeit“ von Ausgaben512 – oder sich gar in das exekutive Geschäft der Vergabe und „Durchführung der Rüstungslieferungen“ einmische.513 509 Graf Westarp erklärte, dass er, „weil [er…] nicht gründlich genug gelesen hatte“, angenommen habe, „daß der sozialdemokratische Antrag verlange, es sollten Zeugen und Sachverständige vernommen werden, während er tatsächlich [verlange…], es soll[e] ein Gesetzentwurf eingebracht werden, wonach Zeugen und Sachverständige vernommen werden könn[t]en“; ein „Antrag […], einen solchen Gesetzentwurf herbeizuführen, [sei…] keine Verfassungsverletzung“ (VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5055). 510 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5055. 511 P. Laband, DJZ 1913, Sp. 604 ff. 512 Dass Graf Westarp die Zweckmäßigkeit außen vor gelassen hatte, verlängerte die Debatte unnötig. Vgl. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5049 (Erzberger), 5051 (Paasche), 5055 (Graf Westarp). 513 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5048.

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Wie er auf eine Replik Clemens Delbrücks hin klarstellte, richteten sich diese Sorgen nicht gegen den Kompromissvorschlag an sich, „sondern daß der Anlaß dazu […] in den allgemeinen Erfahrungen bestand[en habe], die man mit solchen ersten Schritten oft zu machen“ pflege.514 Während sich Erich Mertin (Deutsche Reichspartei) diesen Ressentiments nicht nur ausdrücklich anschloss, sondern weiterhin zu bedenken gab, dass eine „Kommission mit künstlich konstruierten Befugnissen“ entbehrlich wäre, weil die Korruptionsvorwürfe schon dem „ordentlichen Gericht“ vorlägen, rückten dem Gewaltenteilungsargument in der strikten konservativen Lesart außer den Sozialdemokraten auch Abgeordnete anderer Parteien und selbst der Staatssekretär des Innern zu Leibe: Clemens Delbrück verteidigte seinen Kompromissvorschlag damit, dass ein Gremium, das kein Reichstagsausschuss, sondern eine „Kommission von Vertretern der beteiligten Ressorts“ sei, zu der Sachverständige und sachkundige Abgeordnete hinzugezogen würden, keinesfalls „in irgendeiner Weise in die Exekutive […] einzugreifen“, sondern lediglich „zusammen mit der Regierung die etwa in Betracht kommenden Fragen [zu] prüfen und gewisse Zweifel auf[zu]klären“ habe.515 Auch er knüpfte damit unausgesprochen an Argumente aus der Posener Debatte von 1848 an. bb) Bedeutung des Präzedenzfalls von 1905 Der Berichterstatter der Budgetkommission Matthias Erzberger zog zur Rechtfertigung des Kommissionsantrags das acht Jahre ältere Beispiel der „Landkommission in Südwestafrika“ heran: nach dem Vorbild dieses Präzedenzfalls stehe der Vorschlag der Budgetkommission „vollständig auf dem Boden“, den damals sämtliche „Parteien des Hauses ohne jeden Widerspruch und ohne verfassungsmäßige Bedenken betreten“ hätten.516 Durch die wörtliche Übereinstimmung des Kommissionsantrags mit der Resolution von 1905, mit der die Regierungen doch einverstanden gewesen wären,517 hielt der Zentrumspolitiker „verfassungsmäßige Bedenken“ gleichsam für präkludiert.518 Sein Parteifreund, der Frankfurter Oberlandesgerichtspräsident Peter Spahn, stellte sogar die These auf, dass sich der Bundesrat durch seine damalige Beteiligung „an dem verfassungswidrigen Vorgehen“ dem entsprechenden Verfahren ein für alle Mal unterworfen habe.519 Auch der 514

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5055. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5048. 516 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5049. 517 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5048 und bereits S. 5045. 518 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5050. 519 VerhRT XIII/1 (1912/14), S.  5054. Gegenüber dieser Haltung kritisierte es Felix Waldstein (Fortschrittliche Volkspartei) als „etwas bedenklich, bei einem Antrag, der eine so große prinzipielle Bedeutung neben der augenblicklichen praktischen [habe…], nur aus praktischen Gründen eine Entscheidung zu treffen.“ Weil es „um das Bekenntnis zu einem Prinzip“ gehe, sei Stellung zu nehmen (VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5056). Zu den Parallelen aus den Verfassungsberatungen des Norddeutschen Bundes und der Debatte über den Antrag Reincke s. 6. Teil 2. Kap. A. I. und II. 515

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Nationalliberale Hermann Paasche wies auf den unbeanstandeten Präzedenzfall hin; ob die Landkommission, der er seinerzeit selbst angehört hatte,520 allerdings „viel erreicht“ habe, hielt der ehemalige Professor der Staatswissenschaften für „eine andere Frage“.521 Der Sache nach beriefen sich sämtliche dieser Redner, wenngleich nicht ausdrücklich, wohl auf entsprechendes Verfassungsgewohnheitsrecht, dessen Möglichkeit im staatsrechtlichen Schrifttum des Kaiserreichs auch – teils in Anknüpfung an eine ältere Untersuchung Georg Friedrich Puchtas aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – prinzipiell anerkannt wurde.522

520

Zur Zusammensetzung s. 6. Teil 3. Kap. B. II. 3. a). VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5051. 522 G. F. Puchta, Gewohnheitsrecht II, 1837, S. 225 ff. ging von der Observantia Imperii des alten Reichsstaatsrechts aus. Im Kaiserreich erklärte G. Meyer, DtStaatsR5 1899, S. 47, dass „[e]ine Bildung von Rechtssätzen in der Form gewohnheitsrechtlicher Erzeugung […] auf dem Gebiete des Staatsrechts ebensogut wie auf dem des Privatrechtes vorkommen [könne…]. Auch das Bestehen einer Verfassungsurkunde [stehe…] Gewohnheitsrecht nicht entgegen, die Bestimmungen derselben könn[t]en durch Gewohnheitsrecht abgeändert werden.“ Freilich folgte gleich die Einschränkung, dass es „Änderungen [gebe…], welche ihrem Wesen nach nicht auf dem Wege gewohnheitsrechtlicher Bildung vor sich gehen könn[t]en, weil zu ihrer Durchführung ein bewusster äusserer Akt notwendig“ sei. Dabei handele es sich um „Änderungen der Verfassungsform“, mit denen „stets ein Wechsel in der Person des Trägers der Staatsgewalt verbunden [sei], der nicht allmählich innerhalb eines längeren Zeitraumes, sondern in einem bestimmten Momente stattfinden“ müsse. Ein wenig resignierend fiel das abschließende Urteil aus, dass „da, wo eine gesetzlich genau geregelte Staatsorganisation [bestehe…] und die staatlichen Organe über der Aufrechterhaltung des geltenden Rechtes ängstlich wach[t]en, nur ein geringer Raum für die Bildung von Gewohnheitsrecht übrig bleiben“ werde.  – Entsprechend urteilte C. F. v. Gerber, Grundzüge, 1865, S. 13 f. und Anm. 6 über Verfassungsgewohnheitsrecht, dass die Verfassungsurkunde „ergänzt, selbst abgeändert werden“ könne, „insoweit es sich nicht um jene höchsten Principien [handele…], welche dem Einflusse der fortschreitenden Rechtsbildung im Staate überhaupt entrückt sein soll[t]en“. Welche dies seien, belehrte eine Anmerkung, lasse „sich freilich nicht allgemein, oft nicht einmal vom Standpunkte einer bestimmten Verfassung aus sagen“. Lediglich die „Extreme […] nach beiden Richtungen“ seien „klar“, eine „Reihe von Mittelpunkten“ dagegen „zweifelhaft“. – P. Laband, StaatsR II5 1911, S. 75 und Anm. 1 betonte, dass „[a]us dem Begriff des Gesetzes [folge…], daß im Prinzip dem Gewohnheitsrecht derogatische Kraft nicht [zukomme…]. So lange der Staat seinen Befehl, daß ein gewisser Rechtssatz gelten soll[e], aufrecht [erhalte…], könn[t]en die Untertanen und Behörden diesen Befehl nicht unbeachtet lassen und noch weniger ihn durch Nichtbefolgung aufheben“. An der Übertragbarkeit dieser Thesen für das einfache auf das Verfassungsrecht bestehen angesichts der Erläuterung, „daß das Gesetz eine Betätigung der staatlichen Herrschaft [wäre…], der gegenüber die ‚nichtorganisierte Rechtsgemeinschaft‘ nicht befugt [sei…], im Wege der Gewohnheit einen entgegengesetzten Willen zu rechtlichen Anerkennung zu bringen“, immerhin gewisse Zweifel. Verstärkt werden sie durch C. F. v. Gerbers Erkenntnis, dass die „Uebung staatsrechtlicher Sätze, in der sich die entscheidende Rechtsüberzeugung [auspräge, …] vorzugsweise in Handlungen desjenigen Personenkreises [bestünden…], der in der Sphäre der fraglichen Rechtssätze ausschliesslich oder hauptsächlich zur Thätigkeit be­rufen“ sei – „namentlich Uebungshandlungen des Monarchen, der Stände und der Vertreter der Regierung“ (S. 14 f. und Anm. 7). Demgegenüber war M. v. Seydel, RVerf2 1897, S. 118 der Auffassung, „daß kein Gewohnheitsrecht die Kraft [habe…], an der Reichsverfassung etwas zu ändern oder ihr etwas hinzuzufügen. Dem [stehe…] Artikel 78 entgegen“, der bestimmte, dass „Veränderungen der Verfassung […] im Wege der Gesetzgebung“ erfolgten. 521

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Den unausgesprochenen Selbstbindungsthesen zu ihren Lasten trat der promovierte Jurist Delbrück für die verbündeten Regierungen entgegen, weil eine „einzelne Handlung, die mit den Grundsätzen der Verfassung in Widerspruch [stehe, …] noch nicht eine Abänderung der Verfassung“ begründen könne. Vielmehr wäre es nach wie vor „den verbündeten Regierungen überlassen […], auch heute noch Bedenken geltend zu machen, die in einem Vorgehen nach dem Muster des Jahres 1905“ lägen.523 Diesem grundsätzlichen Einwand zum Trotz sollte die vermeintliche normative Kraft der 1905 gesetzten Fakten noch einmal anlässlich der Zurückweisung Karl Liebknechts als Kommissionsmitglied eine Rolle spielen. cc) Ein „konkludenter“524 Verfassungsänderungsantrag Statt an den seiner Überzeugung nach „nicht maßgebend[en]“ Vorgang von 1905 anzuknüpfen, interpretierte der Münchener Oberlandesgerichtsrat Ernst Müller (Fortschrittliche Volkspartei) das sozialdemokratische Amendement als Verfassungsänderungsantrag „in der Richtung der bewährten [!] preußischen Verfassung“. Unter beistimmenden Zwischenrufen der Sozialdemokraten deutete der promovierte Jurist das von ihm unterstützte Petitum so, „daß die Herren eine allgemeine Bildung von Enqueteausschüssen mein[t]en, nicht bloß eine solche ad hoc für diese Prüfung von Rüstungslieferungen“.525 Diese Überlegungen konnten sich eigentlich bloß auf die Aufforderung an den Reichskanzler beziehen, einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen, weil der Antrag, der Reichstag möge selbst eine Kommission niedersetzen, gerade ebenso wenig auf einen legislativen Akt abzielte wie über den Einzelfall hinauswies. In der „Verfassungsfrage an sich“ betonte Georg Ledebour, dass den Sozialdemokraten das Recht zustehe, „einen solchen Gesetzentwurf zu verlangen, gleichviel ob seine Durchführung eine Verfassungsänderung notwendig [mache…] oder nicht“. Schließlich könne man die Reichsverfassung jederzeit abändern, da auf „gewisse Erschwerungen der Verfassungsänderung“ in Art.  78 RVerf  1871 verzichtet worden sei. Dieser „von der Regierung eingeführt[e]“ Status quo mache es möglich, „jederzeit die Verfassung durch eine einfache Gesetzgebung zu ändern, selbst wenn es den Herren von der Regierung unbequem sein sollte“.526 Noch weiter ging Felix Waldstein (Fortschrittliche Volkspartei), indem er konstatierte, dass sich die sozialdemokratische Forderung, der Kommission qua Gesetz „gewisse richterliche Befugnisse zu übertragen“, nicht davon unterscheide, andere Verwaltungsstellen entsprechend auszustatten. Eine solche „Fortbildung“ der „Verfassungszustände“ vollziehe sich „nicht auf dem Weg einer Verfassungsänderung,

523

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5052. So – ablehnend – Graf Westarp in VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5054. 525 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5052 (Hervorhebung nur hier). 526 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5057. 524

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sondern auf dem Weg der gemeinen Gesetzgebung“. Insoweit handele es sich lediglich um einen „Unterschied im Ausdruck“.527 Auf konservativer und Regierungsseite stieß diese Vorstellung, dass die Verfassung abgeändert werden solle, auf obligatorischen Widerstand: Während Erich Mertin (Deutsche Reichspartei) den „Herren Sozialdemokraten“ vorwarf, einerseits der Rechten vorzuhalten, dass sie „an der Verfassung, besonders auch am Reichstagswahlrecht rütteln“ wolle, andererseits aber eigene Verfassungsänderungswünsche erhöben,528 trat Clemens Delbrück einer solchen Umdeutung des sozialdemokratischen Petitums direkt entgegen. Mit der nach damaligen Maßstäben gewagten These, dass jede Modifikation der Reichsverfassung eine ausdrückliche Abänderung des Verfassungswortlauts erfordere, bestritt er kurzerhand den staatsrechtlichen Tatsachen zuwider die Zulässigkeit einer einfachgesetzlichen Verfassungsdurchbrechung.529 Abschließend betonte der Staatssekretär des Innern, dass unter den verbündeten Regierungen „wenig Neigung“ herrschen könne, „einer Änderung der Verfassung dahin zuzustimmen, daß in Zukunft derartige parlamentarische Untersuchungskommissionen […] nach englischem Muster eingeführt würden“.530 Angesichts des Widerspruchsquorums von nur 14 Bundesratsstimmen, mit dem Art.  78 Abs.  1 RVerf  1871 schon Preußen allein eine Blockadeposition einräumte, taten sich damit unüberwindbare Hürden auf. Eine ausdrückliche Plenarentscheidung über die Streitfrage, ob der Antrag auf Verfassungsänderung gerichtet sei, blieb aus, indem das sozialdemokratische Amendement in der Abstimmung dem Kommissionsantrag unterlag. dd) Eine ungeschriebene Einsetzungsbefugnis? Der Streit über das Recht des Reichstags, eine Untersuchungskommission niederzusetzen, ging trotzdem noch weiter. Ludwig Frank beantwortete seine eigene 527 Konkret bezog er sich auf die Konsuln des Deutschen Reiches (VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5056). 528 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5058. 529 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5052. Eine vorherige Änderung der Verfassung vor dem Erlass eines abw. Gesetzes hielt E. Hiersemenzel, NdtBVerf, 1867, S. 35 und 214 für erforderlich, obgleich er resignierte, dass man voraussichtlich Gesetze, „welche der Bundes-Verfassung widerstreiten, unter Beobachtung des Art. 78 promulgiren [werde], ohne erst die Verfassung direkt zu ändern“. Dann werde „schließlich […] Niemand mehr wissen, was noch ein gültiger, von der gewöhnlichen Gesetzgebung des Bundes zu respektirender Verfassungssatz“ sei (Art. 4 Anm. 3 a. E.). M. v. Seydel, RVerf2 1897, S. 413 f., 418 f. hielt eine ausdrückliche Änderung für wünschenswert, aber für keineswegs zwingend. Ebenso lehnte P. Laband, StaatsR II5 1911, S.  39 die „Durchlöcherung der Verfassungssätze durch gelegentliche Spezialgesetze“ vom rechtspolitischen Standpunkt aus ab. 1899 konstatierte G. Meyer, DtStaatsR5 1899, S. 528 und Anm. 3, dass Verfassungsdurchbrechungen als gewohnheitsrechtlich anerkannt gelten müssten. „Einwendungen“ seien zwar „prinzipiell durchaus begründet“, hätten aber „gegenüber der konstanten Praxis ihre Bedeutung verloren“. 530 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5052.

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rhetorische Frage, ob „der Reichstag nur genau die Rechte“ habe, „die ihm ausschließlich in der Verfassung übertragen“ würden, so, dass nicht „jeder Schritt“, den das Parlament „in Ausübung seines verfassungsmäßigen Kontrollrechts“ gehen wolle, „ausdrücklich“ geregelt sein müsse. In diesem Sinne bewege sich auch die Einsetzungsforderung auf dem Boden des geltenden Rechts, weil es der Volksvertretung durch die Verfassung gerade „nicht verboten“ sei, Kommissionen einzusetzen.531 Felix Waldstein (Fortschrittliche Volkspartei) behauptete sogar, dass „Einstimmigkeit“ darüber herrsche, „daß der Reichstag die Befugnis [habe…], eine Kommission einzusetzen, um eine Kontrollbefugnis auszuüben hinsichtlich derjenigen Gegenstände, welche zur Diskussion“ stünden.532 Der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger verteidigte den Antrag mit der These, dass jede Kommission das Recht habe, „eine Subkommission aus ihren eigenen Reihen oder aus anderen Mitgliedern zu ernennen und sie mit der Durcharbeitung ganz bestimmter Materien und Aufträge zu betrauen“.533 Sein Parteifreund Peter Spahn leitete aus dem Schweigen der Reichsverfassung ab, dass dem Reichstag nicht das Recht abgesprochen werden könne, den Reichskanzler um die Einberufung einer Kommission zu ersuchen, in die auch Parlamentarier gewählt würden.534 Diese Thesen stießen auf den Widerspruch der Regierungen: Zwar konzedierte Clemens Delbrück dem Reichstag das Recht, „durch [die…] Budgetkommission, durch Subkommissionen, durch besondere parlamentarische Kommissionen so viel zu verhandeln und so viel zu beschließen, wie [ihm…] zur Ausübung [seines…] verfassungsmäßigen Rechts auf dem Gebiete des Etatwesens irgendwie notwendig und nützlich“ erscheine. Bei der Niedersetzung einer gemischten Kommission, „in der Mitglieder der verbündeten Regierungen sowie andere dem Parlament nicht angehörende Mitglieder sitzen soll[t]en“, gehe es aber gerade nicht um die „Ausübung des Budgetrechts des Reichstags, sondern um eine reine Verwaltungsmaßregel“, die dem Reichskanzler vorbehalten sei.535  – Es ist bemerkenswert, dass sich dieser Teil der Auseinandersetzung also anscheinend nur auf die Zusammensetzung der Kommission, nicht aber auf das eigentlich brisantere Untersuchungsrecht gegenüber Exekutive und Dritten bezog. Diese erstaunliche Verstümmelung der Debatte hing wahrscheinlich mit der Vorstellung zusammen, dass eine gemeinsame Kommission unter Ägide der Reichsregierung das Junktim für die Kontrollbefugnis wäre. Die mit dem überkommenen „monarchischen Prinzip“ unverträgliche These, dass die Befugnisse des Parlaments nicht samt und sonders in der Verfassung fixiert sein müssten, forderte konservativen Widerstand heraus. Graf Westarp nahm den Fehdehandschuh auf und versuchte, antiquierten Kompetenzverteilungsregeln 531

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5053. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5055 f. 533 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5049. 534 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5054. 535 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5052 f. 532

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à la Art. 57 WSA 1820 neues Leben einzuhauchen: Auf seine suggestive Frage, worauf der Sozialdemokrat Frank „die Rechte des Reichstags anders stützen [wolle…] als auf die Verfassung“, hatte der Deutschkonservative als Antwort eine weitere und dieses Mal pejorative Frage parat: „vielleicht auf sein Machtbedürfnis?“ Gegenüber entsprechenden parlamentarischen Gelüsten hielt er – ganz auf dem Boden des „monarchischen Prinzips“ – fest, dass die „Staatsgewalt als solche“ immer noch von den verbündeten Regierungen ausgehe, während die Volksvertretung bloß soweit „zur Mitwirkung an dieser Staatsgewalt“ berufen wäre, wie die Verfassung dies „ganz ausdrücklich“ bestimme. In vermeintlich „vollem Einvernehmen mit der gesamten staatsrechtlichen Wissenschaft“ existierte für den Konservativen sonst „keinerlei Recht des Reichstags“.536 In der damit angeschnittenen intrikaten Frage, ob es ungeschriebene Reichstagskompetenzen geben könne, ging die Parlamentsmehrheit mit ihrem Votum für den Kommissionsantrag jeder Festlegung aus dem Weg; demgegenüber gab es selbst im konservativen staatsrechtlichen Schrifttum Stimmen, die dem Reichstag auch ohne besondere Ermächtigung gestatten wollten, freiwillige Zeugen und Sachverständige durch eine Kommission anzuhören.537 ee) Untersuchungsbefugnisse Der letzte durch die sozialdemokratischen Anträge ausgelöste Disput drehte sich um die Kommissionsbefugnisse, indem der promovierte Mannheimer Rechtsanwalt Ludwig Frank das von seiner Partei geforderte Recht zur Zeugenvernehmung als „notwendige Fortbildung des Verfassungsrechts“ charakterisierte; andernfalls habe die Kommission ohne jede Möglichkeit, „irgendwelche Personen über die Vorgeschichte der Dokumente zu vernehmen“, „einfach nur das Material zu prüfen“, das ihr von der Regierung überlassen werde.538 Im Kontext dieser treffenden Charakterisierung früherer „Untersuchungs“-Befugnisse, wie sie etwa der überschätzte § 91 StGG SWE 1816 vorgesehen hatte, kam das „natürliche Enquêterecht“, das in früheren Debatten angesprochen worden war und selbst im konservativen Schrifttum reüssieren konnte,539 nicht zur Sprache. Selbst der Zentrumspolitiker Peter Spahn berichtete, dass man ihn „von hochstehender juristischer Seite“ dazu angehalten habe, „doch darauf hinzuwirken, daß dieser Kommission richterliche Befugnisse zur eidlichen Zeugenvernehmung, Beschlagnahme, Durchsuchung übertragen [würden, …] damit das Mißtrauen aus der Bevölkerung herauskomme, welches durch eine Kommission, die diese Befugnisse nicht habe, nicht beseitigt werden“ könne.540 Gemeinsam mit dem Hauptantrag der Sozial­ 536

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5054. s. dazu die Nachw. in Fn. 67. 538 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5053. 539 s. 6. Teil 2. Kap. A. II., B. III. 1. c) und die Nachw. in Fn. 67. 540 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5054. 537

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demokraten unterlagen aber auch diese Forderungen, die interessanterweise auf einer Linie mit dem Enquêtegesetzentwurf der Regierung in der Tabaksteuerfrage lagen,541 dem Kommissionsantrag. d) Gefährdung von Betriebsgeheimnissen Mehr am Rande kam in der Debatte über die Ablehnung Karl Liebknechts als Kommissionsmitglied ein bis heute aktueller Aspekt zur Sprache, der den Reichstag bereits anlässlich der Tabakenquête beschäftigt hatte: Der Nationalliberale ­Eugen Schiffer sah wegen Liebknechts bisherigen Aufdeckungsbemühungen eine Gefahr, dass das Ausland das Vertrauen in den Wirtschaftsstandort einbüßen könne; mit anderen Worten werde der „gesunde, ehrliche, reelle Geschäftsverkehr“ es „nicht vertragen“, dass Eigentumsverhältnisse, Absatzwege, Bezugsbedingungen, Rohstoffquellen, Preiskonjunktur und sämtliche industriellen, technischen, kaufmännischen Geheimnisse aufgedeckt werden müssten.542 Eine messbare Rolle spielte dieser Einwand, der neben volkswirtschaftlichen auch grundrechtliche Geheimhaltungsinteressen betraf, freilich nicht. e) Die Reichstagsresolution vom 23. April 1913 Statt dem sozialdemokratischen Amendement einer parlamentarischen Untersuchungskommission oder dem Hilfsantrag, die Kommission „zu zwei Dritteln aus Reichstagsmitgliedern“ zu bilden – dieses Verhältnis entsprach etwa dem der Landkommission – und die Mandate „nach den für Beratungskommissionen maßgebenden Grundsätzen auf die Fraktionen“ zu verteilen, folgte die Reichstagsmehrheit dem Vorschlag der Budgetkommission. Die Volksvertretung begnügte sich also mit einem Ersuchen an den Reichskanzler, eine Kommission „zur Prüfung der gesamten Rüstungslieferungen für Reichsheer und Marine“ zu berufen; neben dieser relativ zahmen Forderung wurde aber auch beschlossen, zu dieser Kommission „vom Reichstag zu wählende Mitglieder des Reichstags und Sachverständige zuzuziehen“. Der abschließende Bericht sollte den gesetzgebenden Körperschaften nebst etwaigen Remedurvorschlägen vorgelegt werden.543 541

s. 6. Teil 3. Kap. A. II. 3. b) aa). VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6448. 543 Die Sozialdemokraten begründeten ihre Forderungen so, dass die Kommission nur Vertrauen finden könne, wenn „sie mindestens in der Mehrheit […] aus Vertretern des Volkes zusammengesetzt [sei…], nicht aber aus Vertretern der Regierung“. Die Sitzvergabe sollte nach Ansicht der Antragsteller sicherstellen, „daß die Kommission ein Bild der im Reichstage vorhandenen Fraktionsstärken geben“ werde. Das Abstimmungsergebnis über diesen Punkt war „zweifelhaft“, so dass der Präsident „um die Gegenprobe“ bat (VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5060). s. zur Antragstellung die Mitteilung des Vizepräsidenten Heinrich Dove S. 5047. Zitate aus der Begründung durch L. Frank in VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5053. – s. auch die 542

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3. Der Streit um die Kommissionszusammensetzung a) Auswahl der parlamentarischen Mitglieder Die nichtparlamentarischen Kommissionsmitglieder entnahm die Regierung aus Kreisen der Industrie, Banken und Schifffahrt, Kommunen, Hochschulen und der preußischen bzw. Reichsregierung.544 Auch die parlamentarischen Kommissionsmitglieder wurden nicht – wie für die Deutsch-südwestafrikanische Kom­mission – von den Fraktionen frei nominiert. Stattdessen trat der Staatssekretär des Innern Clemens Delbrück mit Personalvorschlägen an die Vorsitzenden heran. Indem er als Leitlinie für diese Personalvorschläge die „Rücksicht auf die ihnen innewohnende Sachkunde“ bezeichnete und betonte, dass er primär versucht habe, „erfahrene Mitglieder der Budgetkommission und insbesondere die Referenten der einzelnen Fraktionen für die Etats der Heeresverwaltung und Marine zu gewinnen“, deutete er eine Charakterisierung der Kommission als Gremium zur Beratung des Reichskanzlers an. Dennoch hätten verschiedene Fraktionen die „Vorschläge“ nicht „ohne weiteres akzeptiert“, so dass „Verhandlungen stattgefunden“ hätten.545 Trotzdem behielt sich die Regierung für die endgültige Berufung in die Kommission, wie es Clemens Delbrück im April angekündigt hatte, ein Letzt­ entscheidungsrecht vor. Auf dieser Grundlage wurde ausgerechnet die sozialdemokratische Nominierung Karl Liebknechts zurückgewiesen. Nach dem Versuch, eine parlamentarische Untersuchung durchzusetzen, scheiterten damit auch noch die Bemühungen der Sozialdemokratie, über die Wahl der parlamentarischen Mitglieder einen gewissen parlamentarischen Einfluss sicherzustellen. Mitte November 1913 erläuterte Clemens Delbrück die Position der Regierung in der Eröffnungssitzung der „Kommission zur Prüfung der Rüstungslieferungen“ dahin, dass die Resolution dem Reichskanzler „Anlaß gegeben [habe], verfassungsmäßige Bedenken zu äußern, insofern er es nicht für zulässig erachtete, daß in diese Kommission seitens des Reichstags Abgeordnete mit bindender Wirkung […] gewählt würden“. Zwar sei man dem Reichstag entgegengekommen, „[i]n diese Kommission […] eine entsprechende Zahl von Mitgliedern des Reichstag [zu] berufen, wobei die Wünsche der Parteien [hätten] Berücksichtigung finden“ sollen. Unbeschadet dessen habe sich der „Reichskanzler […] diese Kommission gedacht als eine KomDrucksachen in VerhRT XIII/1 (1912/14), Nr. 945 unter II., S. 1390 f., Nr. 949, S. 1397 sowie Nr. 951, S. 1397 f. und die Abstimmung S. 5060 f. Über beide Fragen des sozialdemokratischen Antrags Nr. 949 wurde auf Forderung der Antragsteller (S. 5045) getrennt abgestimmt. Vor der Abstimmung korrigierte A. Bebel den Antrag dahin, dass er nicht mehr als Amendement des Kommissionsvorschlags, sondern als selbständiger Antrag erschien. Damit sollte wohl die von dem Abgeordneten der Fortschrittlichen Volkspartei Felix Waldstein (S. 5056) angeregte parallele Annahme des Kommissions- und des sozialdemokratischen Vorschlags ermöglicht werden. 544 Vgl. die Übersicht in Sten­Ber­RüstK 1913, S. III ff. sowie M. Epkenhans, Flottenrüstung, 1991, S. 374. 545 Sten­Ber­RüstK 1913, S. 3.

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mission, die er zu seiner eigenen Beratung […] und nach seinem freien Ermessen“ berufe.546 Während er sich mit den übrigen Reichstagsfraktionen „ohne alle Mühe verständigt“ habe, hätten sich die Sozialdemokraten gesträubt. Mit der definitiven Entscheidung, anstelle des von der Regierung vorgeschlagenen Abgeordneten Südekum ausgerechnet Karl Liebknecht in die Kommission zu berufen, habe ihn die Fraktion in eine „überaus schwierige Lage“ gebracht: Er habe „nicht mehr einem Wunsche der Fraktion gegenüber[gestanden], den zu berücksichtigen [er sich…] bereit erklärt hatte, sondern […] einer Forderung, die dahin [gegangen sei…], daß der Herr Reichskanzler auf seine freie Entschließung bezüglich der Zusammensetzung der Kommission verzichten und sich dem Beschlusse der sozialdemokratischen Fraktion unterwerfen“ solle. Ein Nachgeben in dieser Frage wäre aus den genannten Gründen deswegen unmöglich gewesen.547 b) Die sozialdemokratische Interpellation Als Vehikel, um diese grundsätzliche Streitfrage ins Reichstagsplenum und damit vor die Augen der Öffentlichkeit zu bringen, diente gut einen Monat nach der Kommissionseröffnung eine Interpellation, „[w]eshalb […] entgegen der Zusicherung des Herrn Staatssekretärs des Innern […], daß […] die Wünsche der Parteien bei Besetzung der Kommission […] Berücksichtigung finden soll[t]en, der von der sozialdemokratischen Fraktion bestimmte Abgeordnete Dr. Liebknecht nicht als Mitglied in die Kommission berufen worden“ sei?548 Am 12. Dezember 1913 erwiderte der interpellierte Clemens Delbrück, dass er im April ausdrücklich bloß erklärt habe, „daß der Herr Reichskanzler zwar bereit sei, über die Auswahl der zu berufenden Abgeordneten mit den Fraktionen in Verbindung zu treten, […] daß er aber weder dem Reichstag noch gar einer einzelnen Fraktion […] einen entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung der Kommission einräumen könne“. Während man sich mit den übrigen Fraktionen „in Ruhe über das Für und Wider der einzelnen Persönlichkeiten unterhalten“ habe, wären die Sozialdemokraten nicht von der strittigen Personalie abgerückt. Der Abgeordnete Liebknecht sei aber für eine Mitarbeit in der Kommission, die „unbefangen und unbeeinflußt ihre Beschlüsse […] fassen“ solle, dadurch disqualifiziert, dass er im Vorfeld „in einer sehr prononcierten Weise als Ankläger aufgetreten“ wäre. Als Konsequenz könne der Berliner Rechtsanwalt ebenso wenig wie die bei den zu untersuchenden Rüstungslieferungen irgendwie beteiligten Personen als Kommissionsmitglied berufen werden. Gegen seine Anhörung als Sachverständiger bestünden hingegen keine Bedenken.549

546

Sten­Ber­RüstK 1913, S. 1. Sten­Ber­RüstK 1913, S. 3 (Hervorhebung nur hier). 548 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6438. 549 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6444 f. 547

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Hinter der Monstranz der Unparteilichkeit schien in dieser Begründung allzu deutlich das politische Anliegen der Regierung durch, in einer ohnehin heiklen Angelegenheit einen notorisch scharfen Kritiker aus dem linken Lager kaltzustellen. Für diese Interpretation spricht auch, dass der Zentrumspolitiker Erzberger, der der Rüstungsindustrie kaum versöhnlicher gegenüberstand als sein sozialdemokratisches Gegenüber, in die Kommission berufen wurde. Dem polemischen Vergleich und konkludenten Versprechen des Staatssekretärs des Inneren zuwider wurden tatsächlich sogar Vertreter der Finanzwelt, der Industrie oder der Schifffahrtsgesellschaften, die über enge Beziehungen zur Rüstungsindustrie verfügten, berücksichtigt.550 An dieser Stelle wurde die konstitutionelle Schwäche jedes Versuchs der Volksvertretung, eine Aufklärung skandalöser Sachverhalte zu veranlassen, solange sie nicht über ein Selbstinformationsrecht verfügte, sondern auf die Kooperation der Reichsregierung angewiesen war, überdeutlich. Die Streitigkeit um die Personalie Liebknecht erscheint angesichts der dilatorischen Kommissionsleitungspraxis und der „Erfolge“ dieses glücklosen Gremiums als bezeichnendes Omen. c) Eine Wahl der parlamentarischen Mitglieder? Auch für die Sozialdemokraten stand die personelle Querele wohl nicht im Vordergrund. Georg Ledebour begründete die Interpellation vielmehr mit der Benachteiligung seiner Fraktion, betonte aber zugleich ihr Anliegen, „im Interesse des ganzen Reichstags diesen bureaukratischen Übergriff, der auf die Beseitigung eines bereits vom Reichstage ausgeübten und notwendigen Rechts [hinauslaufe…], zurückzuweisen.“551 Das vermeintlich verletzte Recht versuchte er aus dem Präzedenzfall der südwestafrikanischen Landkommission abzuleiten, in dem es die Regierung dem Reichstag überlassen habe, „definitiv“ über Anzahl und Auswahl der parlamentarischen Kommissionsmitglieder zu entscheiden.552 Das indiskutable Angebot der Regierungsseite, Karl Liebknecht als Sachverständigen zu hören, wies Georg Ledebour entschieden zurück, weil es im „Belieben der Regierung stehe, inwieweit sie den Sachverständigen überhaupt mitreden lassen“ wolle.553 Überhaupt war ihm um die „Verteidigung“ eines parlamentarischen Rechts zu tun, für das man sich auf ein „Versprechen der Reichsregierung“ und die „Praxis der Volksvertretung“ stützen könne.554 Anscheinend gingen die Sozialdemokraten aber von einer stillschweigenden Verfassungsänderung bzw. der Bildung von Verfassungsgewohnheitsrecht oder 550

Vgl. M. Epkenhans, Flottenrüstung, 1991, S. 371 f. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6438 (Hervorhebung nur hier). 552 VerhRT XIII/1 (1912/14), S.  6439: Der „allerschlagendste Beweis“ sei die schriftliche Aufforderung des Reichskanzlers Bülow an den Reichstag. 553 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6441. 554 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6443. 551

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von einer Art Interorganvereinbarung bzw. einseitig-verpflichtender Zusage des Staatssekretärs des Innern aus. Wie nicht anders zu erwarten, wies Clemens­ Delbrück dies alles zurück: Wie im April betonte der Staatssekretär im Reichsamt des Innern jetzt wieder, dass kein singulärer Einzelfall, bei dem aus „Zweckmäßigkeitsgründen“ in bestimmter Weise verfahren worden sei, neues „Recht des Reichstags“ schaffen könne. Ebenso wenig habe er irgendeine verbindliche Zusage abgegeben, sondern nur die Bereitschaft des Reichskanzler signalisiert, „über die Auswahl der zu berufenden Abgeordneten mit den Fraktionen in Verbindung zu treten“. Kurzum: Die Bildung gemischter Kommissionen stehe mangels abweichender Bestimmungen im „freien Ermessen“ des Reichskanzlers.555 Die sozialdemokratischen Thesen stießen auch in den parlamentarischen Reihen auf taube Ohren. Der Nationalliberale Eugen Schiffer sprach sich in dieser „Rechtsfrage zu Gunsten des Staatssekretärs des Innern und des Herrn Reichskanzlers“ aus. Zugleich ging er aber dadurch gewissermaßen auf Distanz zu der Regierung, dass er die drei rhetorischen Fragen offen ließ, „[o]b es besonders praktisch [wäre…], den Herrn Abgeordneten Dr. Liebknecht aus der Kommission auszuschalten; ob insbesondere der Ausweg, ihn als Sachverständigen zu attachieren, ein sehr glücklicher [wäre, und…] ob die Erledigung der Geschäfte nach innen und nach außen durch diese Maßregel gewonnen“ habe? Die frühere Aussage C ­ lemens Delbrücks interpretierte er so, dass der Reichskanzler die parlamenta­rischen Kommissionsmitglieder nicht „aus freiestem Ermessen, ohne jede Fühlung mit dem Reichstag“ ernennen und Vorschläge der Fraktionen ausschließlich aus „sachlichen Gründen“ zurückweisen werde.556 Diese Annahme lief der ausdrücklichen Feststellung des Staatssekretärs in der vertraulich tagenden Rüstungslieferungskommission, dass der Reichskanzler dieses Gremium „zu seiner eigenen Beratung […] und nach seinem freien Ermessen“ einberufen habe, freilich diametral entgegen.557 Auch Georg Gothein (Fortschrittliche Volkspartei) wollte aus dem „Vorgang bezüglich der Kolonialkommission“ kein dauerhaftes parlamentarisches Recht deduzieren. Dagegen folgerte der Breslauer Bergrat aber aus dem eher fernliegenden Vergleich der Regierungszusage mit der Reichstagspraxis in Petitionsangelegenheiten, dass der konkrete Wortlaut „entschieden die Auffassung [habe] erwecken“ müssen, die parlamentarischen Mitglieder würden den Wünschen der einzelnen Fraktionen gemäß ernannt; schließlich wolle der Reichstag seine „Wünsche voll erfüllt sehen“, wenn er eine Petition an die Regierungen „zur Berücksichtigung“ überweise.558 Ungeachtet dessen strafte er das Verhalten der Regierung als jedenfalls politisch unklug ab, weil der Ausschluss Liebknechts den Sozialdemokraten die „angenehme Situation“ beschere, die Untersuchungsergebnisse später­ kritisieren zu können, weil „man die Leute, die das Zeug [dazu gehabt hätten…], 555

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6444. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6446. 557 Sten­Ber­RüstK 1913, S. 1. 558 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6449. 556

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etwas herauszubringen, nicht hereingelassen“ habe. Im Ausland errege die Regierung nur den Eindruck, dass man „sich gefürchtet [habe], den Herrn Liebknecht hereinzuberufen“.559 d) Die Totalverweigerung der Sozialdemokraten Nach der trotz dieser öffentlichen Regierungskritik aus verschiedenen Lagern unabweisbaren Niederlage in der Personal- und Wahlrechtsfrage weigerte sich die sozialdemokratische Fraktion, überhaupt an der Enquête teilzunehmen. Der spätere Vorsitzende der Unabhängigen Sozialdemokraten Georg Ledebour begründete den Boykott damit, dass man parteiintern schon bei früherer Gelegenheit beschlossen habe, dass kein Mitglied einer unmittelbaren Aufforderung der Regierungen folgen dürfe.560 Mit dieser Linie konform lehnte Gustav Noske den ihm angetragenen Kommissionssitz ab, weil „jedes Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion es sich verbitten“ müsse, durch das Gouvernement „als sozialdemokratischer Musterknabe“ bevorzugt und „in Gegensatz zu seinen Parteigenossen gebracht“ zu werden.561 So spielten die Sozialdemokraten letztendlich der Regierung in die Hände, die diese personelle Entwicklung im Interesse ruhiger Kommissions­ verhandlungen sicherlich goutierte.562 4. Aufgabe und Zielsetzung der Kommission In der Debatte über Karl Liebknechts Ablehnung wurden beiläufig die diametralen Auffassungen über den Sinn und Zweck der Untersuchung deutlich. Der Staatssekretär des Innern Clemens Delbrück charakterisierte die Kommission  – wie er es deutlicher schon bei der Eröffnung getan hatte563 – als Instrument, um „unbefangen“ und „unbeeinflußt“ einen „Komplex von überwiegend wirtschaftlichen Fragen“ zu erörtern. Obwohl die Auftragsvergabe durch Heeres- und Marineverwaltung bereits wiederholt diskutiert worden sei, solle sie „jetzt aber auf einer breiteren, mehr grundsätzlichen Grundlage, als dies in der Budgetkommission möglich wäre, verhandelt werden“. Um eine Einigung mit den Sozialdemokraten habe sich die Regierung bemüht, nicht, weil man ohne sie nicht arbeiten könne, „sondern mit Rücksicht auf die Arbeiten der Budgetkommission, der ja 559

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6450. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6440. 561 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6456. 562 M. Epkenhans, Flottenrüstung, 1991, S. 372. C. Delbrück äußerte sich in der Kommission süffisant, „daß die Entschiedenheit, Unbefangenheit und Unparteilichkeit, mit der [die Kommission…] an [ihre…] Aufgabe herantreten [könne], nicht dadurch beeinträchtigt [werde…], daß der Herr Abgeordnete Liebknecht und der Herr Abgeordnete Noske nicht teilnehmen“ würden (Sten­Ber­RüstK 1913, S. 4). 563 Sten­Ber­RüstK 1913, S. 1  f. 560

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die Verhandlungen der Kommission in erster Linie als Grundlage ihrer Erörterungen über den Heer- und Marineetat dienen soll[t]en“.564 Zum Schutz der Judikative hob er noch hervor, dass die Rüstungslieferungskommission selbstverständlich keine mit der Verfassung unvereinbare „Revision des gerichtlichen Verfahrens im Kruppprozeß vornehmen“ solle. Soweit zwangsläufig „Fragen wie die kaufmännische Spionage, das Schmiergeldunwesen und dergleichen“, zur Sprache kämen, sollten sie „mit kühler Nüchternheit und minder temperamentvoll“ erörtert werden.565 In der Eröffnungssitzung der Rüstungslieferungskommission vor gut einem Monat hatte Delbrück als Vorsitzender noch deutlicher betont, dass zwar der „Ausgangspunkt der Beschlüsse der Budgetkommission und des Reichstags […] die Vorwürfe gewesen [seien], die der Abgeordnete Liebknecht gegen die Firma Krupp und damit im Zusammenhange gegen Beamte des Kriegsministeriums erhoben [habe…]. Gleichwohl [sei es…] ausgeschlossen, daß diese Anklagen etwa den Mittelpunkt der Erörterungen [der…] Kommission bilden sollten“. Die Kommission dürfe im Gegenteil wegen der „verfassungsmäßigen Stellung [der…] Gerichte“ nicht „etwa das gerichtliche Verfahren, das zur Verurteilung der Schuldigen vor zwei verschiedenen Gerichten geführt“ habe, überprüfen, erweitern oder kontrollieren. Die Resolution tangiere diesen Einzelfall aber auch gar nicht. Den Daseinszweck der Kommission sah der konservative Innenpolitiker in einer „sachverständigen Prüfung“ von „mancherlei Fragen über das Verfahren bei [den…] Rüstungslieferungen“ „auf wissenschaftlicher und praktischer Grundlage“.566 Als Kontrapunkt gegenüber dieser beinahe unpolitischen Interpretation, die auf eine recht harmlose Enquête im Interesse einer reibungsloseren Budget­ bewilligung hinauslief, Volksvertretung und Öffentlichkeit jedoch keine tieferen Einblicke in die Arkana des Rüstungswesens gewährte, hob der Sozialdemokrat Noske hervor, dass man die Kommission gerade zu den Vorwürfen gefordert habe, dass es die Regierung „mindestens durch Unterlassungssünden […] ermöglicht [habe…], das Reich in gewisser Beziehung bei Ausführung der Rüstungsaufträge zu schädigen“.567 Für den späteren Weimarer Reichswehrminister bestand die Aufgabe der Kommission deswegen neben der Überprüfung des Gebarens der Rüstungsindustrie auch in der Kontrolle des Regierungshandelns. Sein Parteifreund Georg Ledebour gab der Untersuchung mit seiner Kritik der Gründe, aus denen die Regierung Karl Liebknecht abgewiesen hatte, ein deutlich politischeres Gepräge, das an einen modernen parlamentarischen Untersuchungsausschuss erinnert: Das bisherige Engagement seines Parteifreundes sei weder ein „rechtlicher“ noch ein „moralischer Hinderungsgrund“, sondern „einfach eine Empfehlung“ für seine Mitgliedschaft. Während ein Richter unter entsprechenden Umständen unzweifelhaft ausgeschlossen wäre, gehörten in eine Untersuchungskommission doch „gerade diejenigen Leute hinein, die am besten über die Sache Bescheid“ wüss 564

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6444 f. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6445. 566 Sten­Ber­RüstK 1913, S. 1. 567 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6456. 565

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ten.568 Welche politische Funktion die Fortschrittliche Volkspartei der Untersuchung zugedachte, zeigt Georg Gotheins Forderung, die Kommission nicht ausschließlich „hinter verschlossenen Türen“ tagen zu lassen. Der „wesentliche Inhalt der Verhandlungen“ sei nicht nur dem Reichstag mitzuteilen, sondern auch zu veröffentlichen, weil die „Öffentlichkeit […] das Recht [habe], darüber Klarheit zu gewinnen, ob es [im…] Staats- wie [im…] Wirtschaftsleben mit rechten Dingen“ zugehe.569 Die Untersuchung hätte so zu einer Abrechnung mit den Missständen im Rüstungswesen vor dem „Forum der Nation“ gedient. Passend dazu kritisierte der Fortschrittspolitiker den geringen Nutzen der bisherigen gemischten oder Regierungsenquêten und bevorzugte eine parlamentarische Untersuchung.570 Eine regierungsfreundlichere Position besetzte der nationalliberale Oberverwaltungsgerichtsrat Eugen Schiffer, der die „unbefangene, unvoreingenommene Untersuchung“, die zumindest „über die Zustände in [der…] Rüstungsindustrie, und vielleicht darüber hinaus“ angestellt werden müsse, mit der „untersuchungsrichterliche[n] Tätigkeit“ verglich.571 5. Die Tätigkeit der Rüstungskommission Noch vor dem ersten Zusammentreten der Kommission erlitten die Aufklärungsbemühungen des Reichstags in Gestalt einer Verzögerung von gut einem halben Jahr eine weitere Schlappe. Von Karl Liebknecht interpelliert, erklärte der Unterstaatssekretär im Reichsamt des Innern Max Richter Ende Juni 1913, dass der Reichskanzler den Staatssekretär des Innern mit den Vorbereitungen beauftragt und diesem auch die Leitung der Verhandlungen übertragen habe. Obwohl man überdies mit den Fraktionen in Kontakt getreten sei, lasse sich „voraussichtlich erst nach Ablauf der Sommerurlaubszeit“ mit dem Zusammentreten der Kommission rechnen.572 Tatsächlich zog es sich bis Mitte November hin, bis der April-­Resolution Rechnung getragen wurde. In der Debatte über Karl Liebknechts Ausschluss rügte Gustav Noske diesen Umstand zu Recht als Indiz dafür, wie wenig die Regierung die parlamentarischen Wünsche achte.573 Bei Kriegsausbruch stellte die Rüstungslieferungskommission ihre Tätigkeit schon wieder faktisch ein; zwischen November 1913 und Juni 1914 hatte sie zuvor lediglich drei zweitätige Sitzungen gehalten.574 568

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6441. VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6450. 570 VerhRT XIII/1 (1912/14), S.  6449. Dagegen führte der Wirkliche Geheime Oberregierungsrat und Fideikommissbesitzer Karl v. Gamp-Massaunen (Reichspartei) für die bisherigen Enquêten den Fall der „Syndikate“ an, gegen die nach der Untersuchung „alle Anklagen […] im Reichstag verstummt“ seien (S. 6451). 571 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6447. 572 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5831. 573 VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6452. 574 M. Epkenhans, Flottenrüstung, 1991, S. 374. 569

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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Als weiteres Menetekel für das Ausbleiben jedes Erfolges erwies sich die Charakterisierung der Kommissionsaufgabe durch ihren Vorsitzenden Staatssekretär Delbrück als eher unpolitische Enquête über die bestehenden Zustände: Um zu verhindern, dass sich die auch mit Parlamentariern besetzte Kommission in einem klassischen monarchischen Reservatbereich allzu breit machen konnte, mühte sich die Regierung nach Kräften, ihre Arbeit auf „Grundsätze für Beschaffung von Waffen und Munition“ zu beschränken. Jede Einmischung in Beschaffungsmaßnahmen sollte demgegenüber verhindert werden.575 So mussten die Kommissionsmitglieder, statt sich über verdächtige Fälle zu informieren, „historisch-kritische Vorträge“ über das Vergabewesen über sich ergehen lassen.576 Nach den milden Gerichtsurteilen in der Krupp-Affäre traten die bürgerlichen Parteien dann auch noch den Rückzug von der zuvor mit den Sozialdemokraten gemeinsam gegen die Rüstungsindustrie verteidigten Front an. Es wurden sogar Zweifel laut, ob man möglicherweise vorschnell Anschuldigungen erhoben und zu weitgehende Schlussfolgerungen gezogen habe.577 Damit war das Schicksal der Rüstungsuntersuchung endgültig besiegelt. Als Negativbeispiel, wie sich eine auf breiter parlamentarischer Grundlage geforderte Untersuchung nullifizieren ließ, machte die Rüstungslieferungskommission wenige Jahre später noch einmal Schule: Karl Helfferich verfuhr als Vorsitzender einer Kommission zur Untersuchung der obszönen Kriegsgewinne mit gutem Erfolg nach demselben Muster.578 6. Bewertung Die Rüstungsenquête steht am Scheideweg von Spätkonstitutionalismus und unterschwelligen Parlamentarisierungsbemühungen des Reichstags, die bei Regie­ rung und Konservativen massive Ängste ausgelöst zu haben scheinen. In den Beratungen über den Vorschlag der Kommission und den ersten „echten“ Einsetzungsantrag in der Geschichte des Reichstags prallten alte Positionen – wie in einem Brennglas fokussiert – noch einmal aufeinander. a) Der Untersuchungsstreit als staatstheoretischer Grundsatzkonflikt Die Deutschkonservativen traten in den Redebeiträgen des Grafen Westarp gleichsam den Rückzug in den Vormärz an. Das von ihnen favorisierte staatsrechtliche Modell, dass sämtliche Staatsgewalt von den verbündeten Regierungen ausgehe 575

M. Epkenhans, Flottenrüstung, 1991, S. 368 f. M. Epkenhans, Flottenrüstung, 1991, S. 374 f. 577 M. Epkenhans, Flottenrüstung, 1991, S. 373. 578 s. 6. Teil 3. Kap. B. V. 576

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und der Reichstag bloß zu einer punktuellen Mitwirkung berufen wäre, beruhte auf einem mit Hilfe der föderalen Reichsstruktur notdürftig modernisierten Abklatsch des „monarchischen Prinzips“. Von diesem antiquierten Fundament aus musste schon die Wahl der parlamentarischen Kommissionsmitglieder einer gemischten Kommission durch den Reichstag als Eingriff in exekutive Domänen erscheinen. Selbst das Staatsraisonargument aus den Anfangstagen des preußischen Konstitutionalismus zog Graf Westarp aus der „historischen Mottenkiste“, indem er betonte, dass weder „unliebsame Machenschaften“ enthüllt noch ein Licht in „irgendein tiefes Dunkel geheimnisvoller und verwerflicher Maßregeln und Institutionen“ hineingetragen werden könne, sondern die Untersuchung bloß „materiell unberechtigte Waffen“ zu „verhetzender Agitation“ in die Hände außerparlamentarischer Elemente spielen werde;579 vor gut einem halben Säkulum hatten Regierung und Konservative vergleichbare Überlegungen in den preußischen Kammern gegen den Antrag Vincke vorgebracht.580 Die Sozialdemokraten stützten ihren Antrag, eine parlamentarische Untersuchungskommission einzusetzen, demgegenüber mit dem „natürlichen Enquêterecht“ ab, das, obwohl es auch in den Norddeutschen Verfassungsberatungen berührt worden war,581 bei dieser Gelegenheit anscheinend erstmals im Reichstag zu Ehren kam. Genau besehen versuchte man, es damit der revolutionären Frankfurter National- und der Berliner Vereinbarungsversammlung gleichzutun, die ebenfalls nicht über ein geschriebenes Enquête- und Untersuchungsrecht verfügt, aber trotzdem eigene Erhebungen veranstaltet hatten. 1848 waren das parlamenta­rische Selbstverständnis der Abgeordneten und die Legitimität der Versammlungen die einzige Grundlage;582 ähnliche, wenngleich weniger revolutionäre Überlegungen waren wohl auch für die Sozialdemokraten ausschlaggebend. Außerdem stützten sie die prinzipielle Befugnis des Reichstags, eine Kommission zur Kontrolle der Rüstungswirtschaft und des staatlichen Beschaffungswesens niederzusetzen, auf ein generalisiertes parlamentarisches Kontrollrecht. Indem das Informationsrecht als Annex – oder mit anderen Worten als Korollar – dieser materiellen Kompetenz erscheint, ist die Begründung geradezu zeitlos. Alles in allem basierte der Antrag Albrecht auf einem gegenüber dem vormärzlichen Konstitutionalismus des Grafen Westarp moderneren Staatsverständnis und einer parlamentsfreundlichen Sichtweise, die an das in der Staatspraxis anerkannte Adressrecht sowie an das Petitions- und das Beschwerderecht aus Art. 23 RVerf 1871 anknüpfte. Die zweite Forderung, die parlamentarische Untersuchungskommission mit Hilfe eines speziellen Gesetzes kompetenziell zu ertüchtigen, rezipierte Gedanken aus dem Dunstkreis des preußischen Eisenbahnskandals von 1873 oder des Regierungs­ entwurfs eines Tabakenquêtegesetzes von 1878.583 579

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5048. s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 1. d). 581 s. 6. Teil 2. Kap. A. II., B. III. 1. c). 582 s. 3. Teil. 4. Kap. C. 583 s. 5. Teil 3. Kap. E. IV. 3. c) und 6. Teil 3. Kap. A. II. 3. b) aa) und bb) (4). 580

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Von der ideologischen Vorfrage, ob man der antiquierten Staatstheorie des Grafen Westarp oder einem moderneren Verständnis folgte, das ungeschriebene Parlamentsbefugnisse akzeptieren konnte, hing ebenfalls ab, ob als Grundlage für eidliche Vernehmungen ein einfaches Gesetz ausreichte oder eine Verfassungsänderung geboten war. Ein schlichter Parlamentsbeschluss genügte unbestreitbar damals ebenso wenig wie heute: Da aber die Reichsverfassung kein ausdrückliches Verbot einer unmittelbaren Kontaktaufnahme des Reichstags oder seiner Ausschüsse mit privaten Dritten oder nachgeordneten staatlichen Stellen enthielt, war zwar kein Gesetz dazu erforderlich, vermeintlich ausschließlich der Exekutive zustehende Befugnisse auf den Reichstag zu übertragen; es war aber unverzichtbar, um potentielle Auskunftspersonen zur Kooperation zu verpflichten und die Kommission mit den qualifizierten Eingriffsrechten auszustatten, „die den ordentlichen Gerichten für die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen sowie für die Anordnung der Durchsuchung und der Beschlagnahme“ zustanden. Freilich unterlag eine solche Deutung der Verhältnisse selbst in der Weimarer Republik noch Zweifeln. Der vorl StGH hielt es 1921 für gewaltenteilungsrechtlich unzulässig, ein parlamentarisches Untersuchungsrecht mit verbindlicher Requisitionsbefugnis und eidlichen Vernehmungsrechten allein durch einfaches Gesetz zu schaffen.584 – Der Anspruch des Reichstags, die parlamentarischen Kommissionsmitglieder selbst zu nominieren, wurde ebenfalls von Gewaltenteilungsressentiments unterspült. Trotz des singulären Präzedenzfalles von 1905, der noch kein Gewohnheitsrecht hervorgebracht hatte, zog die Regierung dieses Recht in Zweifel, weil die Niedersetzung einer gemischten Spezialkommission zwangsläufig ein Akt der Exekutive und damit dem Reichskanzler vorbehalten wäre. Die Konservativen stempelten darüber hinaus schon jede bloße Beteiligung von Abgeordneten an einem derartigen Gremium zum verfassungswidrigen Sündenfall. Mit der Ablehnung der sozialdemokratischen Anträge sprach sich der Reichstag gegen ein parlamentarisches Selbstinformationsrecht oder einen maßgeblichen Einfluss des Reichstags auf die geforderte Kommission aus. Entweder lehnte die Mehrheit der Abgeordneten parlamentarische Untersuchungen aus staatsrechtlichen oder politischen Gründen grundsätzlich ab oder sie scheute wenigstens die Auseinandersetzung mit den Regierungen. Die „Beweiskraft“ dieser Plenarentscheidung für die von Egon Zweig fünf Jahre später wahrgenommene „Note einer gewissen Enquetemüdigkeit“585 wird dennoch dadurch relativiert, dass eine Reichstagskommission, die ohne robuste Untersuchungsbefugnisse hätte auskommen müssen, ohnehin nicht hätte informatorisch in Rüstungsindustrie und militärisches Beschaffungswesen eindringen können. Der nach Clemens Delbrücks Ankündigungen sichere Konflikt mit der Reichsregierung wäre somit leichtfertig und ohne konkreten Nutzen vom Zaun gebrochen worden. Die Ablehnung der Anträge folgte also wie bei früheren Gelegenheiten wieder den Regeln politischer Klugheit. 584

Vgl. vorl StGH, RGZ 102, 425 (430). E. Zweig, ZfP 1913, 265 (297 f.).

585

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Genau betrachtet korrespondierte der Doppelniederlage der Sozialdemokraten außerdem keineswegs ein perfekter Regierungssieg: Die Parlamentsmehrheit ließ mit dem Ersuchen, unter parlamentarischer Beteiligung eine Untersuchungskommission einzusetzen, nicht nur ihre Muskeln spielen. Indem sie den Vorbehalt der Regierung ignorierte und an dem Passus festhielt, dass zu der Kommission auch „vom Reichstag zu wählende Mitglieder des Reichstags […] zuzuziehen“ seien, widersprach die Volksvertretung einem allzu antiquierten Staatsverständnis. Zugleich versuchten die Abgeordneten, das Bemühen der Regierung Bülow in die Schranken zu weisen, noch hinter die Zugeständnisse von 1905 zurückzugehen. Die letztendlich von einer breiten Mehrheit getragene Resolution konnte die auf die Kooperationsbereitschaft der bürgerlichen Parteien angewiesene Reichsleitung nicht gut ignorieren. Die tatsächliche Niedersetzung einer gemischten Kommission unter parlamentarischer Beteiligung, die im Zusammenhang mit der preußischen Eisenbahnenquête von 1873 gegenüber der Alternative einer parlamentarischen Untersuchung als Erfolg der Regierung erscheinen konnte, ist auf der Reichsebene, auf der es keine mit Art.  82 PrVerf  1850 vergleichbare Regelung gab, ein kleiner parlamentarischer Triumph. Freilich kündigte sich gouvernementaler Widerstand noch während der Debatte an, indem Clemens Delbrück die abschließende Bestimmung auch der parlamentarischen Kommissionsmitglieder dem Reichskanzler vorbehielt. Diesen im Vergleich mit der südwestafrikanischen Landangelegenheit restriktiveren Kurs dürften Sorgen ausgelöst haben, das Reich könne schon mit dem schwachen Zugeständnis einer Regierungskommission unter parlamentarischer Beteiligung auf die schiefe Bahn zur Parlamentarisierung kommen.586 Wurden die Mitglieder aus den Reihen des Reichstags dagegen abschließend durch den Reichskanzler ausgewählt und ernannt, schieden sie für ihre Tätigkeit in der Kommission gewissermaßen aus dem Parlament aus und waren „nur“ noch Mitglieder einer exekutiven Kommission. b) Parlamentarische Wahl vs. exekutive Ernennung Mit der Ablehnung Karl Liebknechts folgte die Regierungsseite ein Stück weit der konservativen Staatsauffassung des Grafen Westarp. In diesem Koordinatensystem war die Rücksprache mit den Fraktionen bloßes Entgegenkommen. Die Beanspruchung der eigentlichen Entscheidung für den Reichskanzler als Inhaber der vollziehenden Gewalt wurde dem gängigen Gewaltenteilungsvorbehalt früherer Jahrzehnte gerecht. Trotzdem trifft die sozialdemokratische Annahme, dass die Reichsregierung so parlamentarische Rechte verletzt habe, nicht zu. Die Kommission wurde aus eigenem Recht von der Regierung eingesetzt, so dass der Reichstag nicht einmal beanspruchen konnte, an der Untersuchung überhaupt beteiligt zu werden. Unter 586

Vgl. diesbezügliche Sorgen des Grafen Westarp in VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5055.

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dieser Prämisse kam der Volksvertretung erst recht kein Anspruch darauf zu, irgendwelche Kommissionsmitglieder abschließend zu bestimmen. Verfassungsgewohnheitsrecht hatte das singuläre Beispiel der südwestafrikanischen Kommission nicht hervorgebracht. Auch sonst war die Regierung Bülow nicht dazu verpflichtet, die parlamentarischen Wünsche zu befolgen: Das kooperative Instrument einer Interorganvereinbarung war dem Staatsrecht der Kaiserzeit noch fremd; überdies hatte der Staatssekretär des Innern in der Debatte ausreichend verdeutlicht, dass sich der Reichskanzler die endgültige Entscheidung vorbehielt. Selbst die vermittelnde Auffassung des Nationalliberalen Schiffer, die Regierung könne einen parlamentarischen Vorschlag nicht „aus freiestem Ermessen“, sondern bloß aus „sachlichen Gründen“ zurückweisen,587 hatte keine verfassungsrechtliche Grundlage. So war es, wie Vertreter der Fortschrittlichen Volkspartei oder der Nationalliberalen in der Debatte monierten, von der Regierung lediglich politisch unklug, Karl Liebknecht von der Kommission fernzuhalten. Dem Reichstag führte das Bestätigungsrecht des Reichskanzlers einmal mehr die eigene informationsrechtliche Schwäche vor Augen; ohne eigenes Selbstinformationsrecht nach dem Muster des Art. 82 PrVerf 1850 war das Parlament nicht einmal Herr über die aus seinen Reihen rekrutierten Teilnehmer einer gemischten Enquêtekommission. In diesem Sinne konnte die Regierung die Sozialdemokratie auch bei der Zuteilung der Kommissionssitze benachteiligen und sprach ihr, obgleich es sich mit 110 Mitgliedern um die stärkste Fraktion handelte, ebenso wie den kleineren Fraktionen bloß zwei Sitze zu.588 c) Die Vereitelung einer Aufklärung durch die Regierung Der Antrag der Budgetkommission war in seiner Zielrichtung mehrdeutig und bot das Einfallstor für eine Umwidmung der geforderten politischen Untersuchung zu einer harmlosen Enquête. Selbst das sozialdemokratische Amendement wurde kein Stück deutlicher, sondern beschränkte sich auf eine „Prüfung der gesamten Rüstungslieferungen für Reichsheer und Reichsmarine“. Von den Anklagen und Verdachtsmomenten gegen konkrete Rüstungskonzerne oder staatliche Stellen, die den Ausschlag für diese Forderungen gegeben hatten, gab es in beiden Anträgen keine Spur mehr. Erst in den parlamentarischen Beratungen wurde diese Stoßrichtung deutlich, indem von der Budget- und Kontrollkompetenz des Reichstags die Rede war. Eine starke parlamentarische Beteiligung sollte dafür sorgen, dass 587

VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6446. Dazu Kritik Gustav Noskes (VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 6458). Bemäntelt wurde die Diskriminierung mit dem Wunsch einer möglichst objektiven und gewissenhaften Enquête. Gegen den Vorschlag, „daß die Zusammensetzung der Kommission der Fraktionsstärke entsprechen solle“, hieß es in der Aprildebatte aus den Reihen der Abgeordneten, dass die Untersuchung eine „gewisse sachverständige Erfahrung“ verlange und „von allen parteipolitischen Gesichtspunkten befreit sein“ müsse. s. die Äußerung Erich Mertins (S. 5058). 588

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die Reichsexekutive nicht als „Richter in eigener Sache“ über eine potentielle Mitschuld urteilen konnte. Auch trauten die Abgeordneten einer reinen Regierungskommission keine Beruhigung der erregten Öffentlichkeit zu, sondern forderten zu diesem Zweck wenigstens eine starke parlamentarische Beteiligung. Es ging also eindeutig um eine Missstands- und Kontrollenquête. In dieselbe Richtung deuteten auch die ausgedehnten, an die „Rechte“ der „ordentlichen Gerichte“ angelehnten Befugnisforderungen. Zwar scheiterte in Gestalt der sozialdemokratischen Amendements gleichzeitig der letzte Vorkriegsversuch, ein parlamentarisches Untersuchungsrecht zu etablieren; unabhängig davon musste selbst die auf Antrag der Budgetkommission gefasste zahme Reichstagsresolution der gouvernementalen Seite ein Dorn im Auge sein, indem der Reichstag versuchte, „nicht nur bei der Bewilligung, sondern auch bei der Beschaffung von Rüstungsgütern ein kontrollierendes Wort mitzureden“ (Wolfram Wette).589 Gegenüber dem aus heutiger Perspektive verhaltenen Vorstoß auf eine gewisse Parlamentarisierung hin wurden in preußischen Militärkreisen Sorgen laut, dass man der Volksvertretung mit der Niedersetzung der Rüstungslieferungskommission ein weitergehendes Kontrollrecht eingeräumt habe, als ihr nach der Reichsverfassung zustehe.590 Dieses Zugeständnis an die Reichstagsmehrheit, die die Enquêteresolution über die Fraktionsgrenzen hinweg durchgesetzt hatte,591 war entgegen solchen konservativen Unkenrufen keine Kapitulation vor dem Parlament: In der Kommission instrumentalisierte die Regierung ihre Verfahrensherrschaft dazu, den vermeintlichen parlamentarischen Triumph in einen Pyrrhussieg zu verwandeln; die Kommission konnte nicht in das Allerheiligste von Rüstungsindustrie und Militärverwaltung vordringen, sondern wurde mit theoretischen und wenig interessanten Informationen abgespeist. Nach nur drei zweitägigen Sitzungen fand das Projekt dann ein vorzeitiges Ende. In der Form hatte die Regierungsseite sich den parlamentarischen Wünschen also öffentlichkeitswirksam gebeugt, um das aufgebrachte Publikum durch einen Anschein von Kontrolle zu beruhigen; in der Sache war die Regierung hart geblieben und hatte den Mitsprachewünschen des Reichstags keinen Millimeter nachgegeben. d) Zwischenergebnis Die Einsetzungsforderungen der Budgetkommission und der Sozialdemo­kratie standen in mehrfacher Hinsicht in der Tradition der parlamentarischen Kontrollforderungen seit den 1850er Jahren. Beabsichtigt war neben der Aufklärung des Industrieskandals Krupp und Konsorten eine Kontrolle der Regierung und der militärischen Beschaffungsverwaltung. Insoweit bestanden deutliche Parallelen zu der preußischen Eisenbahnenquête. Damals hatte Ministerpräsident Albrecht v. 589

W. Wette, MGM 36 (1984), 31 (33). M. Epkenhans, Flottenrüstung, 1991, S. 368. 591 Vgl. M. Epkenhans, Flottenrüstung, 1991, S. 366 f. 590

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Roon den Gedanken ins Spiel gebracht, die Befugnisse der königlichen Spezial­ kommission durch „einfache Verweisung auf das Gerichtsverfahren“ zu regeln. Diesen Vorschlag hatte die Reichsregierung fünf Jahre später gewissermaßen für die Tabakenquête aufgewärmt. Angesichts der Skandale in Schwerindustrie und Beschaffungswesen griffen ihn jetzt die Sozialdemokraten auf. Neu war dieses Mal, dass sie sich für die Einsetzung einer parlamentarischen Kommission stark machten und insoweit zur Begründung auf ein ungeschriebenes Recht des Reichstags stützten. Das sozialdemokratische Amendement, die Untersuchungsforderungen der Budgetkommission, die Niedersetzung einer gemischten Kommission, ja der üble Verlauf der gesamten Angelegenheiten wiesen entweder als Vorbilder oder abschreckendes Beispiel dem modernen parlamentarischen Selbstinformationsrecht den Weg. Indem es der Regierung gelang, unter ihrer Regie die von einer breiten Reichstagsmehrheit geforderte Untersuchung trotz parlamentarischer Beteiligung weitgehend ins Leere laufen zu lassen, wurde die Notwendigkeit eines Enquête- und Untersuchungsrechts der Volksvertretung überdeutlich. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Max Webers Arbeiten aus dem Herbst 1917 durch diese letzte Vorkriegserfahrung beeinflusst waren.592

V. Die Vertragskommission (1916–1918) Bevor in der Weimarer Republik das erste Kapitel einer „neuen Zeit“ des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts aufgeschlagen werden sollte, kam es Mitte des Krieges zu einer weiteren regierungsgeleiteten Untersuchung im Dunstkreis von Rüstungsindustrie und Beschaffungswesen, die erneut die bittere Notwendigkeit eines wirkungsvollen Selbstinformationsrechts des Reichstags illustrierte. 1. Vorgeschichte: Kriegsgewinnlerei und Kontrollforderungen Angesichts der stetigen Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zivilbevölkerung, die unter der Geldentwertung und einem Mangel selbst elementarster Güter des täglichen Lebens litt, wurde die „Kriegsgewinnlerei“ der Rüstungslieferanten, die von der Reichsregierung nahezu unbehelligt exzessive Profite einfuhren, zum Symbol unerträglicher Verteilungsungerechtigkeit.593 Ein halbherziger Versuch, mit einer Kriegsgewinnsteuer wenigstens einen Teil  abzuschöpfen, wurde zum Rohrkrepierer.594 592

s. zu Max Webers Enquête- und Untersuchungsrechtskonzeption 7. Teil 1. Kap. C. Vgl. W. Wette, MGM 36 (1984), 31 (32 ff.); T. Nipperdey, DtGesch 1866–1918 II, 1998, S.  787 ff.; B. Buschmann, Unternehmenspolitik, 1998, S.  121 sowie H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte IV3 2008, S. 52 f. zu den Kriegsprofiten. 594 H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte IV3 2008, S. 65 f.; W. Wette, MGM 36 (1984), 31 (33 f.). 593

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

Im Sommer 1916 verlangte Kuno v. Westarp in den Beratungen über das Kriegskontrollgesetz595 eine rudimentäre parlamentarische Kontrolle der militärischen Beschaffungen: Künftig sollten der Volksvertretung „Abschriften von Verträgen oder Auszügen aus solchen“ vorgelegt werden müssen, die „Behörden oder Kriegsgesellschaften […] zu Lasten der Reichskasse über Leistungen oder Lieferungen für Kriegszwecke“ abgeschlossen hätten.596 Zur Begründung erklärte der Deutschkonservative, dass die „Verhältnisse der Kriegslieferungen und der Kriegsverträge“ darauf zu untersuchen seien, „ob nicht – ohne daß man daraus besondere Vorwürfe gegen die Behörden [konstruieren könne…]  – in der ungeheuer schnellen und schwierigen Entwicklung namentlich der ersten Kriegsmonate Gewinne gemacht worden [seien, …] die im ganzen Volke eine große Erregung“ hervorgerufen hätten.597 Sein Parteifreund Eugen Heinrich v. Brockhausen ergänzte, „daß das deutsche Volk wohl verlangen [könne…], daß in einer eingehenden, ohne Rücksicht auf die Person stattfindenden Untersuchung festgestellt [werde…], in welcher Weise die Mittel des Deutschen Reichs“ ausgegeben würden. Eilig beteuerte der Konservative, dass der Antrag weder ein „Mißtrauensvotum“ noch ein Plädoyer für das parlamentarische System wäre.598 – Der auf den ersten Blick verblüffende Vorstoß, der immerhin einer parlamentarischen Kontrolle das Wort redete, erklärt sich aus dem deutschkonservativen Programm: Schon der Gründungsaufruf von 1876 bevorzugte eine „geordnete wirtschaftliche Freiheit“ gegenüber einer „schrankenlosen Freiheit nach liberaler Theorie […] im Erwerbs- und Verkehrsleben“; geplant war u. a. eine „schrittweise Beseitigung der Bevorzugungen des großen Geldkapitals“.599 Das „Tivoli-Programm“ von 1892 drängte auf ein „wirksames Einschreiten der Staatsgewalt gegen jede gemeinschädliche Erwerbstätigkeit“ sowie auf „Sparsamkeit bei allen öffentlichen Ausgaben in Reich 595

Als die Überforderung der Exekutive mit der Rechnungslegung im Laufe des Krieges immer deutlicher wurde, unterbreiteten die Regierungen dem Reichstag Ende Mai 1916 folgenden Gesetzentwurf: „§ 1 Der Rechnungshof wird ermächtigt, für die Rechnungslegung über Einnahmen und Ausgaben des Reichs und der Schutzgebiete bis zum Schlusse des Rechnungsjahres, in dem der Krieg beendet wird, Erleichterungen anzuordnen oder auch von der Legung einzelner Rechnungen ganz abzusehen. Der Rechnungshof wird ferner ermächtigt, die Prüfung der Rechnungen über diese Einnahmen und Ausgaben nach seinem Ermessen zu beschränken oder sie an seiner Stelle einzelnen Mitgliedern des Rechnungshofes oder den Verwaltungsbehörden zu übertragen und hierbei eine vereinfachte Prüfung zu gestatten. Auch kann die Mitwirkung von kaufmännischen oder anderen Sachverständigen bei der Rechnungsprüfung zugelassen werden. § 2 Dem Bundesrat und dem Reichstag ist alljährlich eine vom Rechnungshof aufgestellte Übersicht über die von ihm gemäß § 1 getroffenen Maßnahmen vorzu­legen.“ (VerhRT XIII/2 (1914/18), Nr. 331). Der Sozialdemokrat G. Noske hielt es für „praktisch unmöglich, in der üblichen Form das Rechnungswesen im Kriege zu erledigen“. Der Regierungsantrag nehme deswegen zu Recht die Reichstagsforderung einer „wesentliche[n] Vereinfachung im Rechnungswesen“ auf (S. 1472). s. auch W. Wette, MGM 36 (1984), 31 (32 ff.). 596 VerhRT XIII/2 (1914/18), Nr. 378, S. 795. Ausnahmen sollten freilich bestehen, sofern ausnahmsweise „aus militärischen Rücksichten“ Geheimhaltung „geboten“ sei. 597 VerhRT XIII/2 (1914/18), S. 1472. 598 VerhRT XIII/2 (1914/18), S. 1582 f. 599 W. Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 1960, S. 68 unter Nr. 5.

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und Staat […] zur Erhaltung der wirtschaftlichen Wohlfahrt und der Steuerkraft des Volkes“.600 Mit diesen Grundsätzen war eine Duldung der Kriegsgewinne inkompatibel. Der Staatssekretär des Innern Karl Helfferich befürchtete von dem deutsch­ konservativen Antrag eine „nicht unbedenkliche Verschiebung der Kompetenzen des Rechnungshofes und des Parlaments“. Er beziehe sich nicht auf die beratene Gesetzesvorlage, sondern betrete „ganz anderen Boden“, indem er das „Verhältnis des Parlaments zu den Verträgen“ tangiere, die von der Exekutive abgeschlossen würden. Sorgen der Antragsteller, dass die Rechnungshofskontrolle zu spät kommen könne, hielt er entgegen, dass der Gesetzentwurf gerade Beschleunigungsmöglichkeiten vorsehe. Im Übrigen wäre die Forderung auch überhaupt unnötig, weil die Regierung bisher jedem Verlangen, Verträge vorzulegen, auch entsprochen habe.601 2. Kommissionsantrag und Reichstagsbeschluss Die Rechnungskommission, an die der Antrag überwiesen wurde, schlug dem Plenum am folgenden Tag eine Resolution nach den Vorbildern der südwestafrikanischen bzw. der Rüstungslieferungs-Angelegenheit vor: Der Reichskanzler sollte ersucht werden, „zur Prüfung von Verträgen, welche Behörden oder Kriegsgesellschaften seit Kriegsbeginn zu Lasten der Reichskasse über Leistungen oder Lieferungen für Kriegszwecke geschlossen [hätten…], eine Kommission zu be­rufen, zu welcher vom Reichstag zu wählende Mitglieder des Reichstags und Sachverständige zuzuziehen“ seien. Abschließend sollte der Kommissionsbericht den „gesetzgebenden Körperschaften mit Vorschlägen zur Beseitigung etwaiger Mißstände“ unterbreitet werden.602 Am 7.  Juni 1916 hob der Kommissionsberichterstatter und spätere Weimarer Reichswehrminister Gustav Noske hervor, dass man dem „Grundgedanken“ des Grafen Westarp zwar „einmütig“ beistimme. Gleichwohl hielt der vehemente Kritiker der Rüstungsindustrie den Antrag für ungeeignet: Einerseits könne ihn der Bundesrat als schlichtes Amendement zu dem ursprünglichen Gesetzentwurf einfach ablehnen. Andererseits werde die Rechnungskommission angesichts der „Riesenbeträge“, die der Krieg verschlinge, Jahre brauchen, um auch nur einen „Bruchteil“ der ihr angesonnenen Aufgaben zu erledigen. So könne dem Reichstag bestenfalls „geraume Zeit nach der Beendigung des Krieges […] eine auch dann noch summarische Abrechnung über mindestens 50 Milliarden Mark Ausgaben vorgelegt werden“. Weil mit der Nachprüfung „so rasch wie nur irgend möglich“ begonnen werden müsse, sei die Niedersetzung einer „Kommission ungefähr nach 600

W. Mommsen (Hg.), Parteiprogramme, 1960, S. 79 unter Nr. 5 und 8. VerhRT XIII/2 (1914/18), S. 1471 f. 602 VerhRT XIII/2 (1914/18), Nr. 394, S. 843. 601

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dem Muster der noch bestehenden Rüstungskommission“ ratsam. „[I]hre früheren staatsrechtlichen Bedenken“ habe die Regierung mit der Berufung dieses Gremiums „zum größten Teile […] selbst preisgegeben“. Als Warnung an die Adresse des Gouvernements hatte die Rechnungskommission zudem betont, dass es einen „sehr üblen Eindruck“ machen werde, wenn man die „Nachprüfung der Lieferungsverträge“ ablehne. Nachdem die Regierung beteuert hatte, „daß die Kontrolle der Volksvertretung nicht nur als notwendig, sondern auch als nützlich von ihr anerkannt werde“, beschloss die Kommission einstimmig die „Verschmelzung des konservativen Antrags mit der in der Kommission eingebrachten Resolution“.603 In der Plenardebatte legte Staatssekretär Karl Helfferich verständlicherweise Wert auf die Äußerung des deutschkonservativen Abgeordneten v. Brockhausen, dass „nicht beabsichtigt sei, mit dieser Resolution irgendwie die Grenzen der Befugnisse von Regierung und Parlament zu verschieben“. Im Gegenzug versicherte er die Volksvertretung, „daß die verbündeten Regierungen in keiner Weise beabsichtig[t]en, irgendwie das Recht der parlamentarischen Kontrolle und das Recht der parlamentarischen Kritik gegenüber […] der geschäftlichen Durchführung des Krieges zu beschränken oder zu beeinträchtigen“, obwohl es ohnehin in „den zahlreichen Geschäften […] nichts zu verstecken und nichts zu verbergen“ gebe. Während er eine gemischte Kommission grundsätzlich akzeptierte, weil „die außergewöhnlichen Zeiten […] außerordentliche Wege rechtfertig[t]en“, meldete der rechte Staats- und Finanzwissenschaftler Bedenken an, „daß man sich die Konstituierung, die Art des Arbeitens der Kommission ähnlich denke wie in der Rüstungskommission“: Dort habe es sich „nur um die Prüfung von Grundsätzen“ und um Vorschläge gehandelt, nach denen künftig zu verfahren sei, während es hier um „nachträgliche Kritik“ und „Kontrolle einer unabsehbaren Menge von einzelnen Geschäften und Verträgen“ gehe. Es sei nicht nur zweifelhaft, ob eine Kommission dieser Herkulesaufgabe gewachsen sei; vor allem dürften weder „Rechnungslegung“ und „Rechnungsprüfung durch den Rechnungshof“ noch die „Durchführung des Krieges irgendwie durch Arbeiten der Kontrolle und der­ Kritik“ beeinträchtigt werden.604 Nachdem Graf Westarp seinen Antrag zurückgezogen hatte,605 um dem Kommissionsantrag Platz zu machen,606 wurde die Resolution nach diesen kryptischen Versprechungen und Mahnungen mit großer Mehrheit angenommen.607

603

VerhRT XIII/2 (1914/18), S. 1581 f. VerhRT XIII/2 (1914/18), S. 1583. 605 VerhRT XIII/2 (1914/18), S. 1584. 606 Vgl. v. Brockhausens Ankündigung, dass die Deutschkonservativen den Kommissionsantrag unterstützen würden, VerhRT XIII/2 (1914/18), S. 1582 f. 607 VerhRT XIII/2 (1914/18), S. 1584. 604

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3. Einsetzung und Tätigkeit der Kommission Obwohl die Regierung – wohl aus Sorge um die öffentliche Meinung – die Notwendigkeit von Überprüfung und Kontrolle pro forma anerkannt hatte,608 verzögerte sie die Durchführung des Beschlusses. Ende September interpellierte der Sozialdemokrat Josef Simon Reichskanzler Theobald v. Bethmann-Hollweg, ob er überhaupt bereit wäre, „die vom Reichstag einmütig geforderte und vom Herrn Staatssekretär Dr. Helfferich […] grundsätzlich zugesagte Kommission zur Prüfung von Verträgen über Kriegslieferungen bald zu berufen“.609 Der Kommission, die ihre Arbeit trotz des parlamentarischen Drängens erst im Winter aufnahm, gehörten schließlich 13 Abgeordnete an, die sich in mancher Sitzung der bis zu dreifachen (!) Übermacht von Regierungs- und Behördenvertretern gegenübersahen.610 Private Sachverständige wurden nicht berufen. Den Vorsitz führte Karl Helfferich, Staatssekretär des Innern und mit Hans-Ulrich Wehlers Worten „ein unverfroren begünstigender Verfechter der Industrieinteressen“.611 Unter seiner Leitung kam es zu keiner wirkungsvollen Untersuchungstätigkeit. Stattdessen wurde der verhaltene Resolutionswortlaut dem parlamentarischen Kontrollwunsch wie schon bei der Rüstungslieferungsenquête zum Verhängnis: Karl Helfferich beschränkte die Tätigkeit der Kommission, formell am Buchstaben des Resolutionstextes klebend, auf eine Darstellung der Lieferungsverträge, die seit Kriegsbeginn abgeschlossen worden waren.612 Entsprechend dieser restriktiven Interpretation, dass die Resolution auf einen „möglichst gründlichen Einblick in die Lieferungsverträge und die Lieferungsgeschäfte“ gerichtet gewesen wäre,613 musste die Kommission allgemeine Vorträge über die bisherigen Grundsätze bei den Rüstungsbeschaffungen über sich ergehen lassen. Verschiedene Rüstungsbetriebe wurden besichtigt; Aufschluss über unsaubere Machenschaften oder „Kriegsgewinnlerei“ waren von solchen und ähnlichen Maßnahmen nicht zu erwarten. Ein Recht zur eidlichen Vernehmung von Zeugen oder Sachverständigen, das insoweit Aufschluss hätte bringen können, stand der Kommission nicht zu. Allenfalls ermöglichten Nachfragen an die 608

W. Wette, MGM 36 (1984), 31 (34). VerhRT XIII/2 (1914/18), Nr. 408, S. 850. 610 W. Wette, MGM 36 (1984), 31 (34 f.): Für die Sozialdemokraten nahmen G. Noske, Wilhelm Dittmann und Hermann Krätzig teil, für das Zentrum Richard Müller und Johann Sophian Richter, für die Nationalliberalen Friedrich List und Julius Heinrich Zimmermann, für die Fortschrittliche Volkspartei Eugen Haehnle und Hermann Leube sowie für die Konservativen Martin Schiele und Luitpold Weinböck. Selbst ein Abgeordneter der polnischen Fraktion, der Rechtsanwalt und Notar Adalbert v. Trampezynski, wurde beteiligt. Die Deutsche Reformpartei war durch Ludwig Werner vertreten. 611 H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte IV3 2008, S.  53 (Zitat); B. Buschmann, Unter­ nehmenspolitik, 1998, S. 122. 612 B. Buschmann, Unternehmenspolitik, 1998, S. 122 f. 613 Vgl. ferner B. Buschmann, Unternehmenspolitik, 1998, S. 122 f. und H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte IV3 2008, S. 53 f. 609

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

Referenten einen genaueren Einblick in die „untersuchten“ Vorgänge. Verschiedene Abgeordnete folgten Gustav Noskes Vorbild, „durch persönliches Aktenstudium bei der Heeres- und Marineverwaltung die Verträge zu prüfen“ (Wolfram Wette).614 Trotz dieses persönlichen Engagements ermöglichte es die Kommissionsleitung den Unternehmen, brisante Informationen und Interna zu verschleiern. So beschränkte sich die Kommissionsarbeit auf einen allgemeinen Überblick über das Beschaffungswesen.615 Am 26.  September 1917 nutzte Gustav Noske einen anderen Anlass, um im Reichstag das bisherige Vorgehen der Vertragsprüfungskommission zu kritisieren. Die parlamentarischen Mitglieder sprach er von jeder Verantwortung für die „nur recht bescheidene[n] Erwartungen“ frei, die man in die Kommission setzen dürfe, weil das „Tempo ihrer Arbeiten“ vom Vorsitzenden abhänge. Bei der bisherigen Tagungspraxis sei es aber „vollständig ausgeschlossen, daß dem Reichstag noch während des Krieges ein Bericht mit Vorschlägen zur Beseitigung von Mißständen zugehen“ könne. Eine „wirkliche Kontrolle“ hielt der Sozialdemokrat nur dann für möglich, wenn „mit größter Beschleunigung“ eine „parlamentarische Kommission mit dem Rechte eidlicher Zeugenvernehmung […] eingesetzt“ werde.­ Wilhelm Dittmann (USPD), selbst Kommissionsmitglied, klagte, dass man „über die Vorarbeiten für die eigentlichen Arbeiten noch nicht einmal hinausgekommen“ sei. Der Reichsregierung warf er vor, dass die Kommission aufgrund ihrer Leitung „im wesentlichen nur eine Kulisse“ sei, mit der „man nach außen hin den Eindruck erwecken [wolle…], als [bestünde…] eine parlamentarische Kontrolle über die Kriegslieferungen“. Durch den Reichstag müsse, vielleicht wie von Gustav Noske vorgeschlagen, auf anderem Wege „Remedur geschaffen“ werden.616 Für die Fortschrittliche Volkspartei stimmte der Ulmer Rechtsanwalt Eugen Haehnle in diesen Chor mit ein. Der bisherige Misserfolg der Untersuchung mache deutlich, „daß mit Grund von der Linken dieses Hauses früher immer wieder das Enquête-Recht der eidlichen Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen für den Reichstag in Anspruch genommen worden“ sei. Wenn nicht endlich eine „parlamentarische Kommission mit dem Recht der eidlichen Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen“ diese Dinge aufkläre, sondern die bisherige Kommission unter der Regie der Regierung „vielleicht zwei bis drei Sitzungen im Jahre“ abhalte, werde ein Bericht noch mehr als zehn Jahre auf sich warten lassen.617 – Trotz dieser Mahnrufe blieb es bei der bisherigen Vorgehensweise. Statt profunde Fakten preiszu­ geben oder peinliche Erörterungen zuzulassen, lenkte die Regierung die Kommissionsverhandlungen auf unverfänglichere Gefilde.618 Zu allem Überfluss wurde die Vertraulichkeit der Kommissionsberatungen angeordnet, so dass keinerlei Infor­ 614

W. Wette, MGM 36 (1984), 31 (35, 36, 37 f., 41) sowie S. 36 ff. zur Rolle G. Noskes. Ausführlich W. Wette, MGM 36 (1984), 31 (34 ff.). Ferner B. Buschmann, Unternehmenspolitik, 1998, S. 122 f. und H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte IV3 2008, S. 53 f. 616 VerhRT XIII/2 (1914/18), S. 3623. 617 VerhRT XIII/2 (1914/18), S. 3624. 618 B. Buschmann, Unternehmenspolitik, 1998, S. 123 ff. 615

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mationen über das skandalöse Gebaren der Rüstungsindustrie oder das Versagen der Militärverwaltung an die Öffentlichkeit dringen konnten.619 Insgesamt tagte die Kommission 14 Mal. Die erste Sitzung fand am 19. Dezember 1916 und damit mehr als sechs Monate nach dem Reichstagsbeschluss statt. Als kritische Fragen einer teilweisen Verstaatlichung der Rüstungsindustrie aufkamen, um den „großkapitalistischen Vampyrgesellschaften das Handwerk zu legen“, die es nach Wilhelm Dittmanns Urteil „ganz offensichtlich darauf abgesehen [hatten…], systematisch einen dauernden Raubzug auf die Reichskasse zu er­öffnen“, zog Karl Helfferich die Notbremse und vertagte die Kommission bis Mitte 1917. Nach der mehrmonatigen Zwangspause empfahl der Sozialdemokrat Gustav Noske, das von seinem Parteifreund angerissene Problem bis nach Kriegsende zurückzustellen. Mitte Februar 1918 beendete die Kommission ihre wenig fruchtbare Tätigkeit.620 Wie nicht anders zu erwarten, konnte die Kommission der ihr übertragenen Aufgabe, existierende Missstände aufzudecken und wirkungsvolle Maßregeln für die Zukunft zu entwickeln, in keiner Hinsicht gerecht werden. Über Offenlegungspflichten der Konzerne hatten sich die Kommissionsmitglieder ebenso wenig einigen können wie über zwangsbewehrte Kontrollmöglichkeiten. Es dominierte – wie in der Diskussion des Tabakenquêtegesetzes – eine liberale Sicht. Beratungen über wirtschaftliche Strukturfragen hatte man verhindert, vertiefte Diskussionen über die innenpolitischen Seiten der Kriegsgewinne unterbunden. Wenigstens hatte die Kommission durch einzelne ihrer Mitglieder, die sich selbständig Einblick in staatliche Unterlagen etc. verschafften, einen gewissen Überblick über das Beschaffungswesen gewonnen. Einige Fälle überzogener Gewinne konnten festgestellt, aber nicht sanktioniert werden. Immerhin hatte man den Nachweis dafür erbracht, dass die angeprangerten Missstände bis hin zu unanständigen Kriegsgewinnen wirklich existierten. Die Regierung erklärte die Beratungen und Ergebnisse aber zur Geheimsache und behielt sie einem handverlesenen Personenkreis vor. An die in der Resolution verlangte Übermittlung an den Reichstag war nicht zu denken. Das Scheitern der Kommission dokumentierte der Schlussbericht aus Gustav Noskes Feder. Statt mit konkreten Verbesserungsvorschlägen, wie der „Kriegsgewinnlerei“ ein Ende zu machen wäre, schloss er mit dem Eingeständnis, dass „nicht gesagt werden [könne], was im einzelnen zu tun“ sei. Immerhin folgte die Feststellung, dass das „allgemeine fiskalische Interesse […] Deutschland zwingen [werde], große wirtschaftliche Umgestaltungen bald in die Wege zu leiten“. Alles in allem erschöpfte sich der Ertrag der Vertragskommission letztendlich in der bitteren Erkenntnis, dass skandalöse Kriegsgewinne auf Kosten der öffentlichen Kassen keine Einzelfälle waren und Gustav Noske verkündete im Reichstag das

619

W. Wette, MGM 36 (1984), 31 (35). W. Wette, MGM 36 (1984), 31 (35, 38 ff.) mit Zitat S. 38 sowie B. Buschmann, Unternehmenspolitik, 1998, S. 122. 620

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vernichtende Verdikt, dass es überhaupt „kein Gebiet der Beschaffung von Ausrüstung und Bewaffnung [gebe…], auf dem nicht eine Bewucherung des Reiches stattgefunden [habe…] oder doch versucht worden“ sei.621 4. Bewertung Trotz des weitgehenden Scheiterns der parlamentarischen Aufklärungsforderungen sind Einsetzung und Arbeit der Vertragskommission für die Entwicklung des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts von Bedeutung. An erster Stelle erhob der Reichstag gegenüber der Regierung seine Kontrollforderungen noch deutlicher als in der südwestafrikanischen Angelegenheit oder hinsichtlich der Rüstungslieferungen. Diese politische Dimension des Resolu­ tionsantrags war den Mitgliedern der Rechnungskommission auch bewußt: Der Sozialdemokrat Gustav Noske berichtete später von Erörterungen, ob ein derartiger Antrag „als ein Ausfluß des Mißtrauens gegenüber der Regierung zu bewerten“ wäre. Während sich ein Teil  der Kommissionsmitglieder davon distanziert habe, hätten andere das „Mißtrauen gegenüber der Regierung“ als „selbstverständliche Pflicht der Volksvertreter“ charakterisiert.622 Der parlamentarische Kontrollanspruch gegenüber Administration und Gouvernement, der das Wesen des modernen Enquete- und Untersuchungsrechts primär ausmacht, trat deutlich zutage und musste in der vertrakten Situation, dass eine parlamentarisch initiierte Exekutivkontrolle ausgerechnet unter Leitung der Regierung erfolgen sollte, letzten Endes in entsprechende Forderungen münden. Obwohl sich die Linken in der Vertragskommission redlich bemühten, das Paradoxon einer regierungsgeführten Regierungskontrolle ins Werk zu setzen, konnte diese Quadratur des Kreises unter der Leitung Karl Helfferichs nicht gelingen. Das ganze Ausmaß der Misere zeigt sich in der Anekdote, dass, als Gustav Noske nach der Überprüfung einer dilettan­ tischen Gewehrfabrik verlangte, die für den „himmelschreienden Skandal“ verantwortlichen Offiziere und Beamten zur Rechenschaft zu ziehen, das Militär postwendend lamentierte, dass die Heeresverwaltung „in einer Weise angegriffen worden [wäre], wie es bisher noch nicht der Fall gewesen“ sei.623 Der Regierung war eine Untersuchung des militärischen Beschaffungswesens unter parlamentarischer Beteiligung entgegen ihrer vordergründigen Zustimmung durchaus unwillkommen. Obwohl es galt, jeden Anflug von Parlamentarisierung abzuwehren, sah man sich offensichtlich dazu außerstande, die parlamentarische Kontrollforderung vollständig zurückzuweisen. Zu groß war in der ohnehin prekären Lage das Risikopotential der öffentlichen Meinung; der Widerspruch zwischen dem starrsinnigen Durchhaltewillen der militärischen Führung und den Bedürf 621

Zitiert nach W. Wette, MGM 36 (1984), 31 (42). VerhRT XIII/2 (1914/18), S. 1581. 623 W. Wette, MGM 36 (1984), 31 (41 f.) mit Zitat eines Obersts v. Wrisberg. 622

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nissen der Soldaten und der Zivilbevölkerung führte letzten Endes im November 1918 die Revolution herbei. Trotz der sich zuspitzenden Lage versuchte die Regierung dennoch, die korrupte Kriegswirtschaft zu schützen, und taktierte in Form der Kommissionsbesetzung, der sporadischen Terminierungspraxis und den Beschränkungen der Kommissionsarbeit auf möglichst unverfängliche und unwesentliche allgemeine Betrachtungen, um vermeintlichen Schaden durch einen zu großen Einfluss der Volksvertreter abzuwenden. Wie nicht anders zu erwarten, provozierten diese offensichtlichen gouverne­ mentalen Vertuschungsversuche parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrechtsforderungen. Die parlamentarische Kritik und die entsprechenden Forderungen bestätigen damit die hier vertretene These, dass den Zeitgenossen die Notwendigkeit eines kontrollaffinen Selbstinformationsrechts durch das wiederholte Scheitern aller kooperativen Aufklärungsbemühungen drastisch vor Augen geführt wurde. Die informationsrechtlich miserable Staatspraxis des Kaiserreichs leistete damit als abschreckendes Negativbeispiel ihren Beitrag zu der Aufnahme entsprechender Befugnisse in die Weimarer Reichsverfassung.

VI. Zwischenergebnis Die Regierungsenquêten der zweiten Phase unterscheiden sich durch die parlamentarische Beteiligung an den betreffenden Kommissionen schon rein äußerlich von früheren Untersuchungen. Für die Entwicklung des Enquête- und Untersuchungsrechts wichtiger ist, dass der politische Untersuchungsgedanke mit ihnen Einzug in die Verfassungspraxis hielt, der in den stärker sachorientierten Enquêten der ersten Jahrzehnte noch keine besondere Rolle gespielt hatte.

1. Regierungsgeführte Missstands- und Kontrollenquêten Diese neue Stoßrichtung manifestierte sich etwa in der südwestafrikanischen Land- und Bergwerkskommission. Auf sie folgten, durch das partielle gouvernementale Entgegenkommen in dieser Sache angespornt, die beiden ebenso kritischen Rüstungsenquêten. Angesichts der bescheidenen praktischen Erfolge, die diesen Kommissionen aufgrund der Verhandlungsleitung der Regierungen be­ schieden waren, fand die eigentliche Neuerung in Gestalt der Erwartungen und Hoffnungen statt, die der Reichstag mit diesen Enquêten verband; ging es in der Arbeiterfrage, bei den Eisenbahntarifen, dem Patentschutz oder der Tabaksteuer noch um eine sachbezogene Vorbereitung gesetzgeberischer Schritte, stand jetzt ein anderer Anspruch im Vordergrund: Einerseits wollten die Abgeordneten bestimmte Missstände in Industrie und Wirtschaft ans Licht der Öffentlichkeit bringen, andererseits den Verantwortungsanteil staatlicher Stellen aufdecken. Gegenüber diesem Untersuchungs- und Kontrollanliegen trat die vorbereitende

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Enquêtefunktion in den Hintergrund. Besonders deutlich wurde dieser politische Anspruch in der erfolglosen Resolution zur Lage der Polen im Deutschen Reich. Wie nicht anders zu erwarten, strafte die Reichsregierung diesen Kontroll- und Mitspracheversuch des Reichstages durch Missachtung. Aber auch in den anderen Fällen wurde die Praxis den Erwartungen keinesfalls gerecht: Allen äußerlichen Ähnlichkeiten zum Trotz konnte der Reichstag nicht an die Erfolge anknüpfen, die Eduard Lasker in der preußischen Eisenbahnenquête errungen hatte. Während die Südwestafrikanische Kommission noch gewisse Aufklärungserfolge verbuchen konnte, scheiterten beide Versuche kläglich, die Regierungen durch parlamentarische Ersuchen zu einer Untersuchung des militärisch-industriellen Dickichts zu veranlassen, dessen korrupte Misswirtschaft (auch) in den Verantwortungsbereich des Gouvernements fiel. Mehr als publikumswirksame, aber materiell morsche Zugeständnisse ließ sich die Reichsregierung nicht abtrotzen: Sie setzte auf parlamentarischen Druck hin zwar besondere Kommissionen unter Beteiligung von Abgeordneten nieder, verhinderte dann aber jede substantielle Aufarbeitung. Echte Untersuchungserfolge, wie sie die preußische Eisenbahnenquête durchaus erzielt hatte, konnte der kaiserliche Reichstag ohne eine mit Art.  82 PrVerf  1850 vergleichbare normative „Drohung“ eigener Enquêten und Untersuchungen nicht erzwingen.

2. Parlamentsbeteiligung Wie bereits angedeutet, wurden Abgeordnete an verschiedenen Regierungsenquêten beteiligt. Den Auftakt zu dieser Praxis, mit der das Reich nach rund 20-jähriger Verspätung zu der preußischen Eisenbahnenquête aufschloss, bildete die Börsenenquête; die Anknüpfung an das preußische Vorbild von 1873 rechtfertigt es, von einer rückwärtsgewandten Fortentwicklung zu sprechen. Gewaltenteilungsrechtliche Bedenken blieben 1892 aus jeder politischen Richtung aus, weil die Initiative zu einer gemischten Enquête von der Reichsregierung unter Leo v. Caprivi ausging. Möglicherweise durch diesen Präzendenzfall angespornt, verlangte der Reichstag  – anders als bei den sachbezogeneren Enquêten früherer Jahrzehnte  – eine unmittelbare Beteiligung an den Untersuchungen zu den Südwestafrikanischen Land- und Bergwerksgesellschaften oder den Skandalen im Rüstungs- und Beschaffungswesen. Während der Regierung also Erhebungen über wirtschaftliche oder soziale Fragen anvertraut wurden, manifestierte sich ein gewisses Misstrauen, sobald es um politisch kontroverse Fragen ging. Anschauungsmaterial für eine relativ erfolgreiche parlamentarische Beteiligung an einer Regierungskommission bot die preußische Eisenbahn- und Gründer­ angelegenheit. Als direktes Vorbild taugte die entsprechende Enquête jedoch deswegen nicht, weil auf der Reichsebene eine mit Art. 82 PrVerf 1850 vergleichbare normative Grundlage für eine Mitwirkung von Parlamentariern an einer außengerichteten Untersuchung fehlte. Diese argumentative Lücke füllte eigentlich die

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Börsenenquête; zu größerer Bekanntheit kam die Südwestafrikanische Land- und Bergwerkskommission, auf die sich der Reichstag für seine Forderungen in der Rüstungsangelegenheit berief. Tatsächlich war die Regierung Bülow dem Reichstag in dieser Angelegenheit relativ weit entgegengekommen: Man ging nicht nur auf sein Enquêteersuchen ein, sondern überließ dem Parlament auch die Bestimmung der Anzahl sowie die Auswahl der parlamentarischen Kommissionsmitglieder. Sieben Jahre später ruderte das Gouvernement, möglicherweise von der eigenen Courage überrascht, anlässlich der Rüstungslieferungen wieder hinter diese rote Linie zurück. Indem der exekutive Charakter der Kommission betont und das endgültige Bestätigungsrecht für sämtliche Mitglieder dem Reichskanzler vorbehalten wurden, stutzte die Regierung die Beteiligung des Reichstags wieder auf ein konstitutionell erträgliches Maß zurück. Ausgerechnet der sozialdemokratische Kandidat Karl Liebknecht, der die ganze Sache ins Rollen gebracht hatte, wurde abgelehnt. Das Entgegenkommen gegenüber parlamentarischen Wünschen schwand also in dem Maße, in dem sich eine Untersuchung gegen staatliche Stellen oder Interessen richtete. Dass Querelen über die Kommissionsmitgliedschaften bei der zweiten Rüstungsenquête von 1916 trotzdem ausblieben, obwohl die Vertragskommission eine verschärfte Neuauflage der vorherigen Untersuchung war, dürfte der prekären politischen Lage im Weltkrieg zu verdanken sein; die Reste des brüchigen Burgfriedens wogen schwerer als der Wunsch, kritische Abgeordnete auszuschließen.624 Für die preußische Eisenbahnenquête geistert (zu Unrecht!) eine Qualifikation als parlamentarische Untersuchung durch das Schrifttum.625 Trotzdem stellt sich die Frage, welche staatsrechtliche Bedeutung einer Beteiligung von Reichstagsabgeordneten zukam. Tatsächlich erhielten die jeweiligen Kommissionen selbst durch die Mitgliedschaft frei gewählter Abgeordneter keinen (auch) parlamentarischen Charakter; es handelte sich nach wie vor um reine Regierungsveranstaltungen. Insoweit war ihre konservative Charakterisierung durch den Staatssekretär des Innern Delbrück als Gremium zur Beratung des Reichskanzlers möglicherweise nicht in der öffentlichen Wahrnehmung zutreffend, wohl aber in staatsrechtlichen Kategorien akkurat. Dass sich die Regierung in der Frage der Kommissionsbesetzung das letzte Wort vorbehielt und besonders kritische Abgeordnete ablehnte, war deswegen zwar politisch unklug, vom verfassungsrechtlichen Standpunkt aus dagegen nicht zu beanstanden. Ebenso wenig unterlag es kompetenziellen oder sonstigen Bedenken, wenn die Reichsregierung  – wie in der Börsenfrage  – Abgeordnete aus freien Stücken zu einer Enquête hinzuzog oder die Auswahl der parlamentarischen Kommissionsmitglieder – wie in der Südwestafrikanischen Angelegenheit geschehen  – den Reichstagsfraktionen überließ; beide Vorgehensweisen waren zweifellos von der exekutiven Verfahrensautonomie des

624

s. Fn. 610 zu den in die Kommission berufenen Abgeordneten. Vgl. 5. Teil 3. Kap. E. VII. 3.

625

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Reichskanzlers gedeckt. Die Abgeordneten wurden dann nicht als Volksvertreter mit exekutiven Aufgaben betraut, sondern als sachkundige Mitglieder in ein kaiser­ licher Gremium berufen. Die jeweilige Kommission wurde damit ggf. zu einem informellen politischen Scharnier zwischen Reichskanzler, Bundesrat und Reichstag, um einen Sachverhalt aus verschiedenen Blickwinkeln in Augenschein zu nehmen und gleichzeitig die Positionen der maßgeblichen politischen Kräfte zu sondieren. 3. Gründe für das gouvernementale Entgegenkommen Sucht man nach Gründen für das vordergründige Entgegenkommen der Regierung bei verschiedenen Gelegenheiten, stößt man rasch zu den politischen Wurzeln vor: In der südwestafrikanischen Landangelegenheit beruhte die Kompromissbereitschaft einerseits auf den heftigen parlamentarischen Angriffen gegen das Kolonialregime; andererseits trug man der breiten öffentlichen Anteilnahme an Misswirtschaft, Krieg und Misshandlungen der einheimischen Bevölkerung in den Schutzgebieten Rechnung; zu allem Überfluss war die Kommissionsarbeit der Regierung in ihren Verhandlungen mit den Gesellschaften als Druckmittel von Nutzen. Ein Stück weit ähnlich lagen die Dinge im Hinblick auf die öffentliche Meinung gegenüber Rüstungslieferungen und Kriegsgewinnen: Wieder konnte sich das Gouvernement den mit dem „Gewicht der Straße“ beschwerten Untersuchungsforderungen des Reichstags nicht entziehen. Schließlich war man für die Gesetzgebung und den Haushaltsetat auf die Kooperation der Volksvertretung angewiesen. Gemäß Art. 72 RVerf 1871 entschied der Reichstag außerdem gemeinsam mit dem Bundesrat über die Entlastung des Reichskanzlers. Obwohl die Verweigerung als „einseitige Behauptung“ ohne rechtliche Konsequenz galt, war sie doch „politisch sehr unangenehm“.626 Konsequenterweise ging die Enquêteforderung zu den Land- und Bergwerksgesellschaften aus den Haushaltsberatungen hervor. Das kolonialkritische Zentrum dokumentierte seinen Unmut später durch die Ablehnung eines Nachtragsetats. Beide Rüstungsskandale tangierten ebenfalls Haushalts­ fragen und damit die Kernkompetenz des Reichstags. Die Volksvertretung war also keineswegs so machtlos, wie nach dem preußischen Verfassungskonflikt häufig angenommen wurde, sondern verfügte durchaus über verfassungsrechtliche Instrumente, um sich politisches Gewicht zu verschaffen. Wie wenig effektiv selbst dieser Hebel letzten Endes sein konnte, solange die Regierung über ein informationsrechtliches Monopol verfügte, bewiesen alle drei Missstands- und Kontrollenquêten. Anders als das preußische Gouvernement in der Eisenbahn- und Gründerfrage ließ die Reichsregierung keine wirkungsvolle Untersuchung zu. Die wenigen Kommissionssitzungen fanden sporadisch 626

M. v. Seydel, RVerf2 1897, S. 398 f.

3. Kap.: Die Enquêtepraxis im Deutschen Reich

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und mit mehrmonatigen Unterbrechungen statt. Die Regierung missbrauchte die Verfahrens­leitung von Fall zu Fall dazu, die Agenda auf Belanglosigkeiten und Allgemeinplätze umzuleiten. Wirkungsvolle Untersuchungsbefugnisse, wie sie der Bundesrat zur Vorbereitung des Tabakmonopols selbst gefordert hatte, blieben den Kommissionen wohlweislich vorenthalten. Der graduell bessere Verlauf der Untersuchung über die koloniale Misswirtschaft beruhte darauf, dass der Druck, den die Landkommission auf die Gesellschaften ausübte, der Regierung zupass kam. Im Gegensatz dazu war der parlamentarische Versuch, Rüstungsindustrie und militärisches Beschaffungswesen zu durchleuchten, in Friedenszeiten bestenfalls lästig, in der ohnehin angespannten innenpolitischen Situation des Weltkriegs aber geradezu gefährlich; entsprechend miserabel verliefen die Untersuchungen und fielen ihre Ergebnisse aus. Anders als in der Börsenenquête, zu der die Reichsregierung die Abgeordneten wohl tatsächlich im Interesse der künftigen Beratungen hingezogen hatte, diente ihre Beteiligung an den folgenden Kommissionen eigenen politischen Zielen des Gouvernements. Trotz äußerlicher Ähnlichkeiten kamen die Regierungsenquêten nicht an das große preußische Vorbild von 1873 heran; anders als „Eduard Laskers“ Eisenbahnenquête waren sie gegenüber den aufzuklärenden Missständen nicht mehr als „Weiße Salbe“. Zwar gab die Regierung den parlamentarischen Enquêteersuchen vordergründig nach, um Volksvertretung und Öffentlichkeit zu beruhigen; im Hintergrund hintertrieb und konterkarierte sie dann aber jeden parlamentarischen Aufarbeitungswunsch nach Kräften. Die einzige positive Ausnahme blieb die Börsenenquête in den 1890er Jahren.

C. Zwischenergebnis Parlamentarische Enquêten oder Untersuchungen hat es entgegen vereinzelter anderslautender Thesen im Norddeutschen Bund und Kaiserreich anscheinend nicht gegeben. Der Reichstag beschränkte sich auf Ersuchen an Reichskanzler oder Bundesrat, die aus seiner Sicht erforderlichen Erhebungen durchzuführen. Thematisch wurden beide Seiten des modernen parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts berührt. Dabei wurden Sachstandsenquêten in der Regel ohne parlamentarische Beteiligung durchgeführt; eine Ausnahme stellte im Interesse der Gesetzgebung die Börsenenquête dar. Später forderte der Reichstag bei verschiedenen Gelegenheiten die Regierungen zu gemeinsamen Missstands- und Kontrolluntersuchungen auf, ohne dass die daraufhin eingesetzten Kommissionen substantielle Erfolge erzielt hätten. Ungeachtet dieses Scheiterns artikulierte sich so neben dem parlamentarischen Kontrollanspruch ein gewisses Selbstinforma­ tionsbedürfnis des Reichstags, der auf sein Drängen hin mit Abgeordneten an den kaiserlichen Kommissionen beteiligt wurde.

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

4. Kapitel

Die Bedeutung der Zeit von 1867–1918 A. Instruktive Verfassungsänderungsversuche Obwohl das Enquête- und Untersuchungsrecht keinen Eingang in die Norddeutsche Bundes- oder die spätere Reichsverfassung fand, wurden von Anfang an entsprechende Forderungen laut. Eduard Lasker knüpfte 1867 mit dem Antrag, dem Plenum das Recht einzuräumen, „Thatsachen durch Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen und anderer Auskunftspersonen zu erheben“, erkennbar an das englische Paradigma an.627 Für die Befugnis, „in gleicher Weise Commissionen mit der Erhebung von Thatsachen zu beauftragen“, könnten auch Art. 82 PrVerf 1850 oder der glücklose Art. 73 „Charte Waldeck“ als Vorbilder gedient haben. Der sozialdemokratische Vorstoß aus dem Folgejahr war eindeutig durch die preußische Verfassungsurkunde beeinflusst, indem sich der Antrag, dem Reichstag das Recht einzuräumen, „Behufs seiner Information Commissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“, erkennbar an ihrem Wortlaut orientierte. Die über die entsprechende preußische Vorschrift hinausgehende Kooperationspflicht der Behörden, die der Antrag weiter vorsah, lässt sich als Reaktion auf die Obstruktion des Ministeriums Bismarck gegen die Wahlmanipulationsuntersuchung von 1863/64 deuten. Ungeachtet dieser Fragen knüpften die verfassungspolitischen Forderungen der Jahre 1867 und 1868 jedenfalls an die informationsrechtliche Entwicklung seit der Märzrevolution an. Beide Anträge waren von dem Wunsch getragen, den Reichstag mit „auskömmlichen Befugnissen“ auszustaffieren, damit er zu einer „geachtete[n] Versammlung“ werden könnte (Eduard Lasker);628 Peter Adolph Reincke spitzte den Wert eines Selbstinformationsrechts dahin zu, dass das Parlament andernfalls vom „Wohlwollen“ des Bundesrates abhänge. – Tatsächlich fand sich der Reichstag von Verfassungs wegen in keiner besseren Lage als die Ständeversammlungen in den Einzelstaaten wieder, die ausschließlich auf interpellationsartige Ersuchen und schwächliche Auskunftsrechte angewiesen waren. Wie wenig sich mit solchen Fremdinformationsinstrumenten ausrichten ließ, hatte die traurige kurhessische Geschichte in den 1830er Jahren unter Beweis gestellt.629 Trotzdem scheiterten sämtliche Vorstöße, ein Enquête- und Untersuchungsrecht in der Bundes- oder Reichsverfassung zu verankern, nicht erst am Widerstand der Regierungen, sondern bereits an den parlamentarischen Mehrheiten.630 Ursache 627

Vgl. T. E. May, Treatise, 1844, S. 239; J. Hatschek, EnglStaatsR I, 1905, S. 422. VerhNdtRT 1867, S. 126. 629 s. 2. Teil 2. Kap. II. 3. 630 Zur Haltung der Reichstagsmehrheit vgl. E.-W. Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 2006, S.  300, demzufolge die Parlamentarisierung des Reichs nur ausgeblieben sei, weil die parlamentarische Mehrheit sie aus ideologischen Gründen abgelehnt habe. 628

4. Kap.: Die Bedeutung der Zeit von 1867–1918

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waren einmal föderale Sorgen, zum anderen Erwartungen, dass die verbündeten Regierungen einem solchen Antrag niemals ihren Segen geben würden. 1867/68 kam in den auch politisch instrumentalisierten Verfassungsberatungen das bis heute verbreitete Vorurteil zum Zuge, dass das Selbstinformationsrecht in Preußen wenig wert gewesen wäre; der Nationalliberale Twesten diffamierte sogar die de facto eher erfolgreiche Wahlmanipulationsuntersuchung von 1863/64 als „ziemlich resultatlos“. Von diesem Ausgangspunkt aus, der die Tatsachen verdrehte, ließ sich argumentieren, dass das vermeintlich geringe Recht keinen Streit mit den Regierungen wert wäre. Ausschlaggebend waren parteipolitische Motive: Wer die sozialdemokratischen Ziele nicht teilte, wusste mit einem Enquêterecht zur Vorbereitung sozialpolitischer Gesetze bestenfalls nichts anzufangen. Für die Befürworter einer politischen Kooperation mit dem Reichsgründer mussten konfliktträchtige Reichstagsbefugnisse konterproduktiv erscheinen. Trotz der erkennbaren Absichten hinter dieser tendenziösen Marginalisierung hält sich das entsprechende Urteil bis heute.631 In den Beratungen spielten neben zeitlosen föderalen Bedenken, denen heute vom Boden der Korollartheorie aus Rechnung getragen wird, auch geradezu „klassische“ Pseudo-Gewaltenteilungssorgen, wie sie parlamentarischen Informations­ begehren seit dem Frühkonstitutionalismus entgegengehalten worden waren, mit anderen Worten also: das „monarchische Prinzip“ in seiner informationsrechtlichen Ausprägung eine Rolle. Jacob Scherer brachte in der Warnung, dass das verlangte Recht den Reichstag zu Kompetenzexzessen verleiten und in Konflikte mit der Regierung führen werde, die konservativen Ressentiments auf den Punkt. Überhaupt war der Rechten aufgrund ihrer Staatsauffassung jeder Anflug von Selbstinformation bis hin zu einer autonomen Wahl der parlamentarischen Kommissionsmitglieder durch den Reichstag suspekt. Die Argumente der Untersuchungsrechtsgegner verdeutlichten, wie sehr die Ressentiments gegen ein parlamentarisches Selbstinformationsrecht in antiquierten Verfassungsvorstellungen verwurzelt waren, die ihrerseits auf dem „monarchischen Prinzip“ und der aus diesem abgeleiteten Alleinexekutive des Staatsoberhauptes beruhten. Selbst im Kaiserreich wurden diese Thesen, die zu Beginn der 1820er Jahre auf den Karlsbader und Wiener Konferenzen festgezurrt worden waren, von der Verfassungswirklichkeit überholt. Mit dem staatsrechtlichen Umbruch zum Ende des Weltkriegs mussten sie ipso iure fallen. Im Norddeutschen Bund und Kaiserreich bildete der Antrag Reincke den Auftakt einer längeren Reihe von Versuchen, das Enquête- und Untersuchungsrecht trotz konservativen wie gouvernementalen Gegenwinds in der Reichsverfassung zu verankern. Ein weiterer Vorstoß folgte 1890: Nachdem Wilhelm II. die Ära der Sozialgesetzgebung ausgerufen hatte, drangen die Sozialdemokraten folgerichtig auf ein Recht des Reichstags, „behufs seiner Information Kommissionen zur Un­ eugen tersuchung von Thatsachen zu ernennen“, die „berechtigt [sein sollten], Z und Sachverständige – auch eidlich – zu vernehmen und überhaupt alle diejenigen Erhebungen zu veranstalten, die sie zur Klarstellung der Thatsachen für nöthig er 631

s. 5. Teil 1. Kap.

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

achte[te]n“; die „Behörden“ sollten „gehalten“ sein, ihnen „bei der Ausübung ihrer Amtspflicht innerhalb der Grenzen ihrer Aufgaben die geforderte Unterstützung zu gewähren“.632 Diese Initiative ging über frühere Anträge hinaus und genügte bereits modernen Standards. Die Aufnahme weitergehender Befugnisse in den Forderungskanon war eine direkte Reaktion auf die „Einwendungen“, die einem vermeintlich allzu schwachen Enquête- und Untersuchungsrecht nach dem Vorbild des Art. 82 PrVerf 1850 in den Jahren 1867/68 entgegengehalten worden waren. Möglicherweise reagierten die Antragsteller außerdem auf die negativen Erfahrungen mit vergangenen Regierungsenquêten bzw. auf die gouvernementalen Tabakenquêteforderungen. Den Verfassungsänderungsvorschlag begründeten seine Befürworter mit seinem voraussichtlichen legislatorischen Nutzen eines Selbstinformationsrechts in sozialen und wirtschaftspolitischen Fragen. Trotzdem konnten sich die Gegner eines Enquête- und Untersuchungsrecht einstweilen noch durchsetzen, obwohl ihr Widerstand nicht mehr für eine ausdrückliche Ablehnung ausreichte; stattdessen wich die Mehrheit einer Entscheidung über den Antrag Auer ebenso wie über seine Neuauflagen von 1907 oder 1912 aus. Nach verschiedenen erfolglosen Anläufen änderten die Sozialdemokraten 1913 ihre Strategie und versuchten anlässlich der skandalösen Verhältnisse in Rüstungsindustrie und militärischem Beschaffungswesen, ohne Verfassungsänderung zum Ziel zu kommen. Sie verlangten eine parlamentarische Untersuchungskommission, der sie auskömmliche Befugnisse durch ein einfaches Gesetz verschaffen wollten. Mit diesem Vorschlag knüpften sie, indem lediglich für die Befugnisse ein besonderes Gesetz vorgesehen war, gewissermaßen an den Gedanken eines „natürlichen Enquêterechts“ als eines ungeschriebenen Rechts der Volksvertretungen an, freiwillige Zeugen und Sachverständige vorzuladen und zu vernehmen. Obwohl die Antragsteller außerdem sicherlich zu Recht betonten, dass die Bevölkerung keiner Regierungskommission vertrauen werde, weil das Gouvernement an der Misere mitschuldig sei, unterlagen sie erneut im Reichstag. Statt eine eigene Untersuchung zu versuchen, forderte die Mehrheit die Regierung lediglich dazu auf, unter Zuziehung von Abgeordneten eine Kommission niederzusetzen, um die Angelegenheit in Augenschein zu nehmen. Trotz des Scheiterns aller informationsrechtlichen Reformvorstöße sind der Verfassungsdiskussion zwischen 1867 und 1918 verschiedene fortwirkende Beiträge zu verdanken: Einmal sollte das Enquête- und Untersuchungsrecht gegenüber Art. 82 PrVerf 1850 mit robusten Befugnissen ertüchtigt werden; entsprechende Forderungen wurden mit Art. 34 Abs. 2 und 3 RVerf 1919 und später dann Art. 44 Abs. 2 und 3 GG realisiert. Das zweite fortwirkende Moment ist das „natürliche Enquêterecht“ der Volksvertretung, das einerseits sicherlich die Aufnahme einer ausdrücklichen Bestimmung in die Weimarer Reichsverfassung erleichterte und andererseits bis heute in den öffentlichen Anhörungssitzungen der Bundestagsausschüsse fortlebt. Selbst der unter Regierungsägide untaugliche Ansatz, im Inter 632

s. VerhRT VIII/1 (1890/91), Nr. 39.

4. Kap.: Die Bedeutung der Zeit von 1867–1918

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esse einer umfassenden Aufarbeitung gemischte Kommissionen zu ernennen, hat sich in Form der Enquêtekommissionen des Bundestages mit geändertem Vorzeichen halten können. Die beiden letztgenannten Institute sind nicht ausdrücklich in der Verfassung verankert, sondern nach dem Grundmuster eines „natürlichen Parlamentsrechts“ ausschließlich in der Geschäftsordnung geregelt.

B. Rudimentäre parlamentarisch induzierte Enquête- und Untersuchungspraxis Trotz der Ablehnung aller entsprechenden Anträge durch den Reichstag kann von einer allgemeinen „Enquêtemüdigkeit“ keine Rede sein. Das gilt einmal im Hinblick auf die gescheiterten informationsrechtlichen Vorstöße der Minderheiten. Zum anderen ersuchte die Volksvertretungsmehrheit die verbündeten Regierungen und den Reichskanzler verschiedentlich darum, etwa erforderliche Informationen durch gemischte Kommissionen unter parlamentarischer Beteiligung zu erheben. Damit knüpfte man an den Vorschlag des Nationalliberalen Ernst ­Engel aus den 1860er Jahren an; der Direktor des statistischen Büros zu Berlin hatte den Abgeordneten statt zu einer Verfassungsänderung dazu geraten, „einen concreten zur Zeit wichtigen Gegenstand heraus[zu]greife[n]“, um von den Regierungen „die Ernennung einer Untersuchungs-Commission ad hoc“ zu er­bitten. Resignation gegenüber der Regierungsmacht dürfte für das zurückhaltende Vorgehen des Reichstags nicht den Ausschlag gegeben haben. Vielmehr fehlte es durch den prinzipiellen Konsens einer Mehrheit mit der Politik des Reichsgründers an einem wichtigen Motor parlamentarischer Enquêterechtsforderungen. In dieser Lage konnte sich die linke Reichstagsminderheit mit ihren Vorstellungen nicht behaupten. Außerdem hätten umfangreiche Sozialenquêten – das hatte man 1848 in der Vereinbarungsversammlung gesehen – die Leistungsfähigkeit des Parlaments schlicht überfordert.633 Umgekehrt erteilte die Reichstagsmehrheit einem Regierungsvorstoß, mit Hilfe eines Enquêtegesetzes Klarheit in der Tabaksteuerfrage zu schaffen, eine Abfuhr; dieses Mal trug die parlamentarische Fronde gegen Bismarcks Reichsfinanzreformpläne, deren Mitglieder Eingriffe in die wirtschaftliche Freiheit der Tabakunternehmer ebenso wie einen Einflussverlust des Reichstags ablehnten, den Sieg davon. Dass der Reichstag nicht dadurch an „resignativer Enquêtemüdigkeit“ erkrankt war, dass die Versuche früherer Tage, allen anderen voran die preußische Wahlmanipulationsuntersuchung oder die Eisenbahnenquête, an der vermeintlichen Übermacht der Regierungen gescheitert waren, beweisen seine wiederholten Forderungen, durch eine Hinzuziehung von Abgeordneten unmittelbar an den kaiserlichen Enquête- und Untersuchungskommissionen beteiligt zu werden. Eine solche Mitwirkung versprach der parlamenta 633 Vgl. H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E22) zur (vermeintlichen) Unfähigkeit des Bundestags zu einer „umfassenden und komplizierten Enquête“ aus „sachlichen, personellen und zeitlichen Gründen“.

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

rischen Seite nicht nur einen minimalen Einfluss bzw. eine gewisse Aufsicht über die Arbeit dieser Gremien, sondern  – keineswegs zuletzt  – einen Abglanz eines Selbstinformationsrechts, indem wenigstens einige Abgeordnete an den Erhebungen unmittelbar teilnehmen konnten. Thematisch standen die Enquêten der ersten Jahre ganz im Zeichen von Sachstandserhebungen; Regierungskritik und Kontrolle kamen allenfalls beiläufig zur Sprache, wie z. B. im Vorfeld der Eisenbahntarifenquête, standen aber keineswegs im Vordergrund. Nach dem ebenso unpolitischen Vorspiel der Börsenenquête, zu der die Regierungen aus eigenem Antrieb Abgeordnete hinzugezogen hatten, versuchte der Reichstag seit 1905 mehrfach – vermutlich durch diesen Präzedenzfall und die preußische Eisenbahnenquête ermutigt –, verschiedenen Missständen durch das paradoxe Mittel einer von den Regierungen unter parlamentarischer Mitwirkung veranstalteten Missstands- oder Kontrollenquête auf den Grund zu gehen. Im Zuge dieser Entwicklung ist seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine deutliche Politisierung der Enquêteresolutionen zu verzeichnen: In der südwestafrikanischen Angelegenheit (1905/06) schwang eine gewisse Spitze mit, indem den Regierungen Versäumnisse gegenüber den Bergwerks- und Landgesellschaften zur Last gelegt wurden. Standen das Gouvernement und regierungsnahe Kreise auch nicht im Zentrum der Kritik, ging es doch um eine gewisse Mitschuld an der kolonialen Misswirtschaft. An Deutlichkeit kaum zu überbieten fiel 1908 der freilich vollkommen folgenlose Antrag gegen die antipolnische Diskriminierungspolitik aus. Weniger drastisch, aber gleichwohl deutlich brachte der Reichstag den Regierungskontrollaspekt im letzten Vorkriegsjahr zum Ausdruck, indem er auf Veranlassung Karl Liebknechts eine Untersuchungskommission zum Rüstungs- und Beschaffungswesen forderte. Obwohl sich der äußerlich zahme Antrag der Budgetkommission auf eine „Prüfung der gesamten Rüstungslieferungen“ beschränkte, drohte neben blamablen Enthüllungen ein parlamentarisches Hineinregieren in vormals militärische Domänen. – 1916 richtete sich eine weitere Enquêteresolution unmittelbar gegen die (staatliche)  Misswirtschaft bei der Beschaffung von Waffen und Munition etc. sowie die schamlosen Kriegsgewinne. Die durch den Reichstag angestoßenen Enquêten beschränkten sich also keineswegs, wie Johannes Masing annimmt, auf schlichte Sachstandserhebungen über „problematische Wirtschaftsverhältnisse“ bzw. zur „Sozial- und Wirtschaftspolitik“, die „[m]it parlamentarischen Untersuchungsausschüssen […] nichts zu tun“ gehabt hätten;634 vielmehr sollte die Tätigkeit der durch die Regierungen eingesetzten Kommissionen nach dem Willen der Reichstagsmehrheit ein politisches Untersuchungsrecht offenkundig substituieren. Mit der zunehmenden Politisierung der Enquêtegegenstände beschränkte sich der Reichstag anders als in den vorausgegangenen Wirtschafts- und Sozial­enquêten nicht mehr auf das bloße Ersuchen an die Regierung, überhaupt Erhebungen zu veranstalten, sondern trat selbstbewusst mit handfesten Beteiligungsforderungen 634

J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 13.

4. Kap.: Die Bedeutung der Zeit von 1867–1918

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auf. Das parlamentarische Informations- und Kontrollinteresse sollte also nicht mehr ausschließlich in interpellationsartigen Formen befriedigt werden, indem man die Regierungen um eine Enquête und die anschließende Weitergabe der Informationen ersuchte; im Gegensatz zu diesen antiquierten Formen verlangte der Reichstag mit seiner unmittelbaren Beteiligung gewissermaßen einen Abglanz eines Selbstinformationsrechts. Es ist kein Wunder, dass die Regierungen sich diesen Bestrebungen widersetzten. Da sich der Reichstag aus parteipolitischen Gründen nicht seines „natürlichen Rechts“ besann, freiwillige Enquête- und Untersuchungen zu veranstalten, blieb es unter der Verfahrensherrschaft der Regierungen bei dem traurigen Befund, der sich mit einem Bonmot Philipp Scheidemanns treffend dahin zusammenfassen lässt, dass „eine Resolution alles andere, nur nichts Resolutes“ war.635 Ungeachtet dessen lässt sich an der Evolution von den ersten schlichten Enquêteersuchen bis zu den mit Beteiligungswünschen verbundenen Forderungen späterer Tage der steigende Anspruch und wachsende Einfluss der Volksvertretung ablesen.

C. Negative Vorbildwirkungen Obwohl die Zeit des Norddeutschen Bundes und des Kaiserreichs kein direktes Anschauungsmaterial für ein Selbstinformationsrecht liefert, bieten die verschiedenen Verfassungsänderungsvorstöße, ihr Scheitern und die überwiegend enttäuschenden Regierungs- und gemischten Enquêten doch das negative Passepartout, vor dem das Enquête- und Untersuchungsrecht als Instrument zu parlamentarischer Information und Kontrolle mehr und mehr Gestalt annahm.636 In diesem Sinne bietet die Verfassungs- und Reformdiskussion zunehmend moderne Vorschläge bis hin zu einem Recht des Reichstags, „behufs seiner Information Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“, um „Zeugen und Sachverständige – auch eidlich – zu vernehmen und überhaupt alle diejenigen Erhebungen zu veranstalten, die sie zur Klarstellung der Thatsachen für nöthig erachte[te]n“. Heutigen Mitwirkungs- und Amtshilfepflichten ähnlich sollten die „Behörden […] gehalten [sein], diesen Kommissionen bei der Ausübung ihrer Amtspflicht innerhalb der Grenzen ihrer Aufgaben die geforderte Unterstützung zu gewähren“. Die evolutionäre Entwicklung von den ersten informationsrechtlichen Anfängen in Art. 82 PrVerf 1850, der noch ohne Befugnisregelungen auskommen musste, bis zu diesen modernen Forderungen, die bis auf den teils hypertrophen Minderheitenschutz unserer Tage vollkommen dem Klischee eines 635

Zitat aus der Sitzung vom 28. Juni 1913, VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5900. Bemerkenswert ist, dass es trotzdem in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland zu einer Renaissance der Praxis kam, die Regierung um die Einberufung von Sachverständigenkommissionen zu ersuchen, die H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E23 ff.) kritisierte und zum Anlass nahm, das Instrument der Enquêtekommissionen zu fordern. Seine Empfehlung, dieses Recht der Minderheit vorzuenthalten (S. E27), konnte im Bundestag nicht reüssieren. 636

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6. Teil: Norddeutscher Bund und Kaiserreich (1867–1918) 

modernen Enquête- und Untersuchungsrechts entsprachen, wurde von den „negativen Vorbildern“ der Regierungsenquêten begleitet und – so paradox es klingen mag – befruchtet: Soweit das Scheitern von Sachstands- oder Kontrollenquêten mit dem Widerstand der befragten Kreise zusammenhing, dem die gemischten Enquêtekommissionen nichts entgegenzusetzen hatten, waren robustere Beweiserhebungsbefugnisse eine logische Konsequenz. Gouvernementale Obstruktionsund Vertuschungsversuche gegenüber verschiedenen Aufklärungsforderungen verdeutlichten die Notwendigkeit eines größeren parlamentarischen Einflusses; von Beteiligungsforderungen gegenüber Regierungsenquêten ist es zu einem Selbstinformationsrecht bloß noch ein relativ kleiner Schritt. Gelegentlich der Beteiligungsforderungen des Reichstages kamen sogar schon Anflüge eines relativ modernen Minderheitenschutzes auf. So wurde teils verlangt, die Kommissionssitze nicht nach dem freien politischen Willen der Mehrheit, sondern dem Stärkeverhältnis der Fraktionen entsprechend zu verteilen. Im Kontext der Tabaksteuer verlangte der Fortschrittspolitiker Eugen Richter nach modernem Muster für jedes Kommissionsmitglied das Recht, Fragen zu stellen oder die Anhörung eines Sachverständigen zu verlangen.

D. Fazit Die Jahre des Norddeutschen Bundes und Kaiserreichs sind für die moderne Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung deshalb keineswegs verloren. Zwar enthielten die Verfassungen von 1867 und 1871 keine unmittelbaren Vorbilder eines solchen Rechts. Dafür legte die Hinhalte-, Verhinderungs- und Vertuschungstaktik der Regierung die krassen Schwächen der bisherigen interpellationsartigen Instrumente, gemeint ist ihre moderne Variante in Form eines Enquête- und Untersuchungsersuchens an die Regierungen, so schonungslos offen, dass der Staats­ praxis dieser Jahre eine Art „negative Vorbildwirkung“ zukam. Eugen Richter brachte dieses Faktum lakonisch auf den Punkt, dass die Regierungskommissionen vor allem dafür Anschauungsmaterial geliefert hätten, „wie man Enqueten nicht machen soll“.637 Das gouvernementale Taktieren hatte eine Verdichtung der parlamentarischen Versuche zur Folge, ein parlamentarisches Selbstinformationsrecht verfassungsrechtlich zu verankern. Diese Vorgänge sollten auch auf das interessierte Publikum nicht ohne Wirkung bleiben, wie Max Webers Enquêterechtskonzept von 1917 beweist: Sein Vorschlag trug, wenngleich nicht unter ausdrücklicher Benennung, den aufgezeigten Nachteilen und Schwächen der bisherigen Praxis Rechnung. Auf diesem Umweg stießen die gescheiterten Verfassungsreformvorhaben zusammen mit den mäßig erfolgreichen gemeinsamen Enquêten und Untersuchungen und im Verein mit der halbherzigen bis widerwilligen „Kooperation“ durch die Reichsregierung letztendlich die Entwicklung an, die nach dem Kriegsende in das parlamentarische Selbstinformationsrecht des Art. 34 RVerf 1919 münden sollte. 637

So in der Tabak-Debatte, VerhRT III/2 (1878), S. 1364.

7. Teil

Der Schritt in die Moderne (1917–1932) „Wir Parlamentarier  – das wollen wir doch festhalten  – sind gewohnt, bestimmte politische Vorgänge einseitig unter einem bestimmten Gesichtswinkel zu betrachten.“ Fritz Warmuth (DNVP) in der 84. Sitzung der Weimarer Nationalversammlung am 20. August 19191

1. Kapitel

Parlamentarisierungsversuche im Weltkrieg (1917) A. Einleitung: Kriegspech und Verfassungsreform Der endgültige Schritt in die enquête- und untersuchungsrechtliche Moderne vollzog sich mit dem Übergang zur Weimarer Republik. Als gedankliches Geburtsjahr des modernen parlamentarischen Selbstinformationsrechts kann das Kriegsjahr 1917 gelten. Anlass zu den unabhängig voneinander durch Hugo Preuß und Max Weber entwickelten Konzepten gaben die Verfassungsreformüberlegungen des Reichstags und der Obersten Heeresleitung. Während das Militär nach einem Mitschuldigen für die sich abzeichnende Katastrophe suchte, versuchte die Volksvertretung an die zu Kriegsbeginn abgebrochene Reformdiskussion anzuknüpfen und setzte Ende März 1917 mit überwältigender Mehrheit einen Ausschuss zur „Prüfung verfassungsrechtlicher Fragen, insbesondere der Zusammensetzung der Volksvertretung und ihres Verhältnisses zur Regierung“ ein.2

B. Hugo Preuß’ Reformvorschläge für die Oberste Heeresleitung Im Sommer 1917 entwarf der spätere „Vater“ der Weimarer Reichsverfassung Hugo Preuß, damals noch nicht in höhere Staatsämter aufgestiegen, sondern als Professor an der Berliner Handelshochschule tätig,3 auf Vermittlung Richard 1

VerhWeimNV, S. 2701. VerhRT XIII/2 (1914/18), S. 2932 f. sowie Nr. 730 S. 1402 und Nr. 735 S. 1406. 3 Vgl. L. Albertin, in: ders./Müller (Hg.), H. Preuß Schriften I, 2007, S. 1 (62). 2

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

Wittings Verfassungsänderungsvorschläge für die OHL.4 Eckpunkte der Anfang Juli vollendeten Denkschrift waren die parlamentarische Verantwortlichkeit der Reichsregierung sowie eine Transformation des Bundesrates in ein repräsentatives Organ mit freiem Mandat und Immunität der Mitglieder.5 Eine vollständige Parlamentarisierung, die ohnehin nicht durchsetzbar gewesen wäre, forderte der Liberale nicht, hoffte aber im Stillen, dass seine Vorschläge die Entwicklung zu einer modernen konstitutionellen Monarchie nach westeuropäischen Standards anstoßen könnten.6 Teil seiner Arbeiten war u. a. ein Art. 27a RVerf 1871, der dem Reichstag und dem dann einer zweiten Kammer ähnlichen Reichsrat die Befugnis einräumen sollte, einzeln oder gemeinschaftlich „Kommissionen zur Untersuchung von Tat­ sachen zu ernennen mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen, die Reichs- und Staatsbehörden zu requirieren, deren Akten einzusehen; auch öffentlich kontradiktorisch zu verhandeln“. Ausgangspunkt war das Bekenntnis, dass „Enquetekommissionen […] ein für das Parlament unentbehrliches Mittel [seien], den wirklichen Tatbestand kennen zu lernen und seine Gestaltung praktisch zu beeinflussen“. Wie so oft folgte ein Hinweis auf England, wo derartige Gremien „eines der wertvollsten und praktisch wichtigsten Institute“ seien.7 Sucht man nach inländischen Vorbildern, zeigen sich frappierende Ähnlichkeiten mit der revolutionären „Charte Waldeck“: Hugo Preuß hatte den Entwurf von 1848, der den Kammern die „Befugnis [zugestand], Commissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren“, an die Erfordernisse des föderalen Reichsgefüges angepasst, mäßig im Wortlaut modifiziert und um ein Akteneinsichtsrecht erweitert. Die wesentlichsten Änderungen waren die an das englische Vorbild angelehnten gemeinsamen Enquêten und die schon früher erhobene Forderung einer öffentlichen und kontradiktorischen Verhandlung.8 Im Gegensatz zu dieser Forderung hatten die Kommissionen des preußischen Abgeordnetenhauses, der allgemeinen Geschäftsordnungsregel für das Ausschussverfahren folgend,9 stets nichtöffentlich getagt. Die erfolglosen Bemühungen der letzten Jahrzehnte, ein 4

Dazu L. Albertin, in: ders./Müller (Hg.), H. Preuß Schriften I, 2007, S. 1 (53 ff., 56 f.). s. H. Preuß, Staat, 1926, S. 310, 312 f., 315 insbesondere zur parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit, die die Minister von „bloß gehorchenden Beamten zum selbständigen Staatsmann“ machen könne. 6 L. Albertin, in: ders./Müller (Hg.), H. Preuß Schriften I, 2007, S. 1 (57). 7 H. Preuß, Staat, 1926, S. 320. 8 Vgl. A. Bebels mündliche Begründung des Verfassungsänderungsantrags Auer (VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3288) oder Hermann Müllers (Freisinnige Volkspartei) Äußerung im Kontext der südwestafrikanischen Landgesellschaften: „Zeugen zwangsweise in kontradiktorischen Verfahren zu vernehmen“ (VerhRT XI/1 (1903/05), S.  5402). Zum Streit um die Verhandlungsöffentlichkeit des Volkswirtschaftlichen Ausschusses der Paulskirchenversammlung, um – wie in England – Kenntnisse weiterer Kreise zu erschließen, s. 3. Teil 1. Kap. B. I. 2. e). 9 A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 106 Anm. 47. 5

1. Kap.: Parlamentarisierungsversuche im Weltkrieg (1917)

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Selbstinformationsrecht in der Reichsverfassung zu verankern, waren ebenfalls als Vorbilder erkennbar. Praktische Bedeutung wurde dieser Denkschrift nicht zuteil; nach dem durch die Heeresleitung erzwungenen Wechsel in der Reichsführung verschwand sie lautlos in der Versenkung.10

C. Max Webers Enquête- und Untersuchungsrechtskonzeption Zu mehr Bekanntheit brachte es der vorerst ebenso wirkungslose Entwurf Max Webers, der aufgrund seiner Arbeiten von 1917 als „geistiger Vater“ des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts gilt.11 Der Kern seiner für Conrad Haußmann, einen einflussreichen Politiker der Fortschrittlichen Volkspartei und Mitglied des Verfassungsausschusses, erarbeiteten Parlamentarisierungsvorschläge war die Vereinbarkeit von Reichstagsmandat und Bundesratsmitgliedschaft. Indem die Reichsleitung künftig gewissermaßen aus dem Reichstag hervorwachsen sollte, hätte sich das exekutive Führungspersonal zunächst parlamentarische Sporen verdienen müssen. Die wichtigere Folge wäre eine „Besetzung politischer Amtsstellen durch Vertrauensleute des Parlaments“ gewesen, um damit den Zusammenhalt von Reichstag und Regierung – mit anderen Worten also wohl ein parlamentarisches Regiment  – sicherzustellen.12 Das zweite zentrale Desiderat, das Max Weber dem Schreckgespenst eines kontrollfreien Beamtentums bereits früher entgegengesetzt und Ende 1908, wenngleich weniger elaboriert, in einem Brief an den befreundeten Friedrich Naumann erhoben hatte,13 war ein Enquête- und Untersuchungsrecht der Volksvertretung.14

10

L. Albertin, in: ders./Müller (Hg.), H. Preuß Schriften I, 2007, S. 1 (57). W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S.  71 ff.; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 44. 12 W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 278, 280 f. 13 Vgl. G. Schöllgen, M. Weber, 1998, S. 115 ff. sowie 125 ff. zu diesem Topos von W ­ ebers Bürokratiekritik bzw. der Vorgeschichte des Entwurfs. Zu Kontakten mit F. Naumann und den Freisinnigen s. W. J. Mommsen, Politik3 2004, S. 147 ff. In Webers Schreiben hieß es: „Sollte es nicht unbedingt geraten sein, dem Reichstag das Enquêterecht zu verschaffen, also § 1. Der Reichstag ist berechtigt, Kommissionen mit dem Rechte gemeinsamer Tagung auch zwischen den Sessionen einzusetzen und sie zu ermächtigen, über Tatbestände, welche der Gesetzgebung oder Beaufsichtigung des Reiches unterliegen, Erhebungen zu veranstalten, durch soweit nötig eidliche (oder wenn man dies der Justiz überlassen will) eidesstattliche Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen vor der Kommission. § 2. Die Wahl der Kommission erfolgt derart, daß jede Gruppe von je 40 Mitgliedern 1 Mitglied zu ernennen hat. § 3. Von der Kommission müssen alle Zeugen und Sachverständigen gehört und über alle Fragen vernommen werden, welche eine Minderheit von 1/4 der Mitglieder verlangt.“ (Abdruck bei W.  J. ­Mommsen, S. 163 f. in Fn. 59). 14 Vgl. W. J. Mommsen, Politik3 2004, S. 186 ff. 11

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

I. Allgemeine Begründung Im Sommer 1917 präsentierte und vertiefte Weber sein gedankliches Modell in einer vielbeachteten Artikelserie für die „Frankfurter Zeitung“.15 In der gut ein Jahr später unter dem Titel „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“ selbständig publizierten Fassung tritt deutlich die Vorstellung zutage, dass der Reichstag, sollte man ihm das Enquête- und Untersuchungsrecht vorenthalten, zur „Unkenntnis“, ja „verfassungsmäßig zur dilettantischen Dummheit“ verurteilt wäre. Seine gegenwärtige Rolle erschöpfe sich deswegen in einer hemmenden, hindernden und in diesem Sinne „negativen Politik“ – gemeint war die für den deutschen Konstitutionalismus typische defensiv-machtbegrenzende Funktion der Landes- bzw. Volksvertretungen gegenüber der monarchischen Regierung.16 Von der „äußerlich ziemlich unscheinbare[n] Änderung, welche durch eine […] fortlaufende Kontrolle und Mitarbeit der Parlamentsausschüsse mit und gegenüber der Verwaltung“ bewirkt werden könne, versprach sich der Heidelberger Soziologe die „Vorbedingung aller weiteren Reformen im Sinne einer Steigerung der positiven Leistungen des Parlaments als Staatsorgan“. Nur durch ein Enquête- und Untersuchungsrecht könne die Volksvertretung zu einem politischen Gegengewicht der Bürokratie werden.17 Eine wirkungsvolle Teilparlamentarisierung der Regierungsverhältnisse, die ein Ausweg aus der innenpolitischen Krise sein könne, setze deswegen unabdingbar voraus, dass die bisherige Kontrollfreiheit beendet werde und künftig das Beamtentum sein exekutives Herrschaftswissen mit dem Parlament teilen müsse.18 Max Weber trieb mit diesen Forderungen die wenige Jahre zuvor durch Egon Zweig publizierte Erkenntnis auf die Spitze, dass ein parlamentarisches Selbstinformationsrecht ein metaphorischer „Gradmesser für Stärke und Lagerung der in einem Staat wirksamen politischen Spannungsverhältnisse“ ist, indem sich „[i]n seinen Schicksalen […] gleichsam mikroskopisch der Entwicklungsgang der parlamentarischen Macht“ widerspiegelt.19

15 Vgl. W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 171 ff., 424 f.; G. Schöllgen, M. Weber, 1998, S. 129. Der Beitrag „Verwaltungsöffentlichkeit und politische Verantwortung“ hatte die Präventivzensur des Blattes zur Folge. 16 Vgl. U. Di Fabio, Rechtsschutz, 1988, S. 37. 17 Abdruck etwa bei W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 432 ff. s. insbesondere II. Beamtenherrschaft und politisches Führertum (S. 450 ff.) sowie III. Verwaltungsöffentlichkeit und Auslese der politischen Führer (S. 486 ff., 488 und 490). Zu diesen Überlegungen zum Enquêterecht s. auch W. J. Mommsen, Politik3 2004, S. 182 ff., 358. 18 s. dazu Webers Schrift „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“ (zitiert nach W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 486 ff.) sowie W. J. Mommsen, Politik3 2004, S. 176 ff., insbesondere S. 182 ff. und S. 186 ff. zur „Parlamentarisierung als Mittel zur Überwindung der politischen Führungskrise des Reiches“. 19 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (269).

1. Kap.: Parlamentarisierungsversuche im Weltkrieg (1917)

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II. Gesetzentwürfe Diese theoretischen Überlegungen münzte Max Weber auch in einen konkreten Verfassungsänderungsvorschlag sowie einen Gesetzentwurf um. 1. Verankerung in Art. 23 RVerf 1871 In Art. 23 RVerf 1871 sollte ein Recht des Reichstags aufgenommen werden, „besondere Erhebungskommissionen“ einzusetzen, um „unter Anwendung des Zeugniszwanges Zeugen und Sachverständige vorzuladen, eidlich zu vernehmen, Schriftstücke einzufordern und einzusehen und Augenschein aufzunehmen“. Schon die normative Verortung in diesem Artikel deutete eine gewisse Kontinuität mit den bisherigen Forderungen aus der Mitte des Reichstags an.20 Der 1913 durch Egon Zweig entworfenen Blaupause der Korollartheorie21 entsprechend sollte sich dieses Enquête- und Untersuchungsrecht auf sämtliche „Angelegenheiten und Fragen“ erstrecken, „welche verfassungsmäßig der Gesetzgebung oder Beaufsichtigung des Reiches“ unterlagen, bereits „Gegenstand der Tätigkeit seiner Organe“ waren oder es „nach gesetzlichen Bestimmungen oder Verwaltungs­vorschriften“ werden konnten. Nach dem Muster einer Sachstandsenquête bzw. dem unbenannten Vorbild des § 24 GO-FNV 1848 folgend sollte der Reichstag seinen „zur Vorberatung von Gesetzentwürfen“ eingesetzten Kommissionen das „Recht der Er­ hebung“ übertragen können.22 Diese Vorschläge begründete Weber mit der wachsenden „Bedeutung und Macht der ‚Bürokratie‘ des fachgeschulten Beamtentums“, die einmal auf seiner „technischen Unentbehrlichkeit“ für die moderne Verwaltung, andererseits aber auf einer „weitgehenden Unkontrollierbarkeit“ beruhe. Weil „bloße [?] Parlamentsrechte“ gegenüber der „überlegene[n] Sachkunde der Beamten“ und ihrer dienstlichen „Kenntnis der Umstände des konkreten Falles“ zwangsläufig „verpuff[t]en“, setzte der Heidelberger Soziologe die „Publizität der Verwaltung“ als „wichtigste Forderung aller Verwaltungskontrolle“ dem mit „starkem Korpsgeist“ gehüteten „Dienstwissen“ entgegen. Selbst Informationen, die wegen „erheblicher politischer oder berechtigter privater Interessen“ grundsätzlich geheim zu halten wären, habe die Exekutive – das ist bis heute der Ausgangspunkt von Art. 44 GG23 – künf 20

s. 6. Teil 2. Kap. A. I. und III. s. E. Zweig, ZfP 1913, 265 ff. und dazu 7. Teil 3. Kap. A. I. Nicht ohne Grund vermutet G. Hübinger, in: Hanke/Mommsen (Hg.), Herrschaftssoziologie, 2001, S.  101 (112), dass M. Weber diesen vier Jahren zuvor erschienenen Beitrag benutzt haben könnte. 22 s. dazu sowie zu weiteren Gesetzentwürfen W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 262, 268 ff., 278 ff. 23 Zur gemeinsamen Verantwortung von Bundesregierung und Bundestag für das staatliche Wohl, so dass dem Bundestag geheimhaltungsbedürftige Informationen nicht generell vorenthalten werden dürfen, s. BVerfGE 67, 100 (135 f.). 21

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

tig mit ihrem parlamentarischen Kontrolleur zu teilen. Max Weber erhoffte sich von einem starken parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrecht, dass schon die bloße Möglichkeit, dieses schwere Geschütz tatsächlich aufzufahren, „heilsam“ auf eine „freiwillige Auskunftserteilung“ der Exekutive auf „Anfragen und Interpellationen“ wirken werde. Knapp klang ebenfalls der Gedanke an, dass ein derartiges Recht „bei richtiger Ausgestaltung“ ein „wirksames Schutzmittel“ der parlamentarischen Minderheiten sein könne.24 2. Der Gesetzentwurf über die Erhebungskommissionen des Reichstags Flankiert wurde dieser Verfassungsänderungsvorschlag von einem 16 Paragraphen starken Entwurf zu einem „Gesetz betr. die mit dem Recht der Erhebung ausgestatteten Kommissionen des Reichstags“.25 Gleich im ersten Paragraphen folgte die Innovation, die die politische Physiognomie des Enquête- und Untersuchungsrechts bis heute prägt: Erstmals in der deutschen Parlamentsgeschichte sollte das Einsetzungsrecht der Mehrheit auf Antrag einer Minderheit zur Pflicht mutieren. Das bloß erforderliche Viertel-Quorum sollte jeden Anschein vermeiden, dass es künftig „zufällige“ Majoritäten in der Hand hätten, alle ihnen „passend scheinenden Feststellungen zu treffen“, oder „sich selbst und die unter ihrem Einfluß stattfindende Verwaltung der Kontrolle und Kritik zu entziehen“. Konsequenterweise wollte Max Weber der Einsetzungsminderheit einen „Anspruch auf einen ihrer Zahl entsprechenden Anteil an der Mitgliedschaft der Kommission“ geben, der „durch selbständige Bezeichnung der ihrer Zahl entsprechenden Mitglieder aus ihrer Mitte“ realisiert werden sollte (§ 4).26 Bedenklich erscheint es aus verfassungsrechtlicher Perspektive, dass die Durchbrechung des demokratischen Mehrheitsprinzips nicht in der Reichsverfassung, sondern ausschließlich in einem Ausführungsgesetz geregelt werden sollte.27 24

W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 274. Seine Entstehung dürfte dem „einzige[n] rein sachlich erhebliche[n] Einwurf“ zu verdanken sein, dass der Reichstag andernfalls „kraft seiner Geschäftsordnungsautonomie die Art der Ausübung des Enqueterechts ganz nach seinem souveränen Belieben […] gestalten, in Zeiten politischer Leidenschaft also vielleicht in einer Art, welche jede Garantie für ein dem Staatsinteresse nicht zuwiderlaufendes und die Objektivität sicherndes Verfahren vermissen lassen könnte“. Ein „besonderes Reichsgesetz [sei…] unter deutschen Verhältnissen sachgemäß, da […] nicht, wie in England, die Regierung ein Ausschuß des Parlaments [sei…] und durch die gegenseitige Rücksichtnahme der beiden […] sich in der Macht abwechselnden Parteien die Innehaltung sachlich gebotener Schranken und Gepflogenheiten garantiert“ werde (Abdruck bei W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 275). 26 W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 275 sowie S. 269. 27 Der vorlStGH, AÖR n. F. 4 (1922), 210 (214, 218) kassierte deswegen eine Bremer­ Regelung. 25

1. Kap.: Parlamentarisierungsversuche im Weltkrieg (1917)

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Mit relativ detaillierten Regelungen rückte Max Weber auch den Kommissionsbefugnissen, also der 1908 erkannten Achillesferse des Art.  82 PrVerf  1850 zu Leibe.28 Einen Teil der Gewaltenteilungseinwände, denen selbständige parlamentarische Beweiserhebungsbefugnisse bisher ausgesetzt gewesen waren, umging der Heidelberger Professor, indem Zeugen und Sachverständige „durch Ersuchen des zuständigen Amtsgerichts seitens des Vorsitzenden der Kommission unter den in der Strafprozeßordnung vorgeschriebenen Strafandrohungen“, Beamte grundsätzlich „in gleicher Art“, aber „durch ihre höchste vorgesetzte Dienststelle geladen“ werden sollten.29 Auch die neuen Untersuchungskommissionen sollten sich also in bestimmten Fällen an die Ministerien wenden müssen. Das Privileg, dass „Mitglieder regierender deutscher Dynastien […] nicht vorgeladen werden“ könnten (§ 5), entsprach dem strafprozessualen „Vorbild“ in § 71 StPO 1877. Der Parlamentarisierungstendenz von Webers Vorschlägen dürfte es zu danken sein, dass sich keine Entsprechung für § 49 StPO 1877 fand, der die Vernehmung des Reichskanzlers, der Landesminister und anderer hoher Beamter an ihrem Amtssitz oder jeweiligen Aufenthaltsort vorsah. Die Zeugenbefragung wollte der Jurist Weber in die Hände des Ausschuss­ vorsitzenden und dessen Stellvertreters legen. Direkte Fragen einzelner Mitglieder sollten nach Ermessen zugelassen werden. Im Übrigen sollte der Vorsitzende „gehalten [sein], jede Frage zu stellen, deren Beantwortung ein Mitglied der Kommission verlangt[e]“ (§ 6). Obwohl Max Weber der „Durchbrechung des Dienstgeheimnisses“ – selbst gegen die „heftigste Gegnerschaft des Beamtentums und der Parteien der Rechten“ – die allergrößte Bedeutung beimaß, weil sich dieser „Prärogative“ des Beamtentums nicht durch parlamentarische Sachverständigenvernehmungen beikommen lasse, sah sein Entwurf doch auch Einschränkungen vor: So regelten die §§ 7 und 8 die Verweigerung der Antwort durch einen Staatsdiener sowie die Geheimhaltung seiner Aussage, stellten aber gleichzeitig klar, dass sich das „Recht der Einvernahme […] auch und gerade auf die dienstliche Tätigkeit“ erstrecke. Konkret sollten Reichs- und einzelstaatliche Beamte eine Antwort „wegen Gefährdung der militärischen Sicherheit und Machtstellung“ oder „wichtiger außenpolitischer Interessen des Reichs oder seiner freundschaftlichen Beziehungen zu anderen Staaten“ verweigern dürfen (§ 7 A). Aus föderalen Gründen sollte keine Antwortpflicht bestehen, sofern das Reich für den Untersuchungsgegenstand nicht über die 28

In diesem Sinne klagte Weber Friedrich Naumann schon nach der Daily-TelegraphAffäre, dass der „preuß Landtag […] dies unter Umständen fundamental wichtige Recht, Art. 82 der preuß Verfassung [schon habe], aber verstümmelt: im Gegensatz zum englischen Parlament [könne…] er die Zeugen usw. nicht selbst vernehmen“ (Abdruck bei W. J. Mommsen, Politik3 2004, 163 f. in Fn. 59). 29 Vgl. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (323) zum österreichischen Recht: „Der Beamte muß nicht vor dem Ausschuß erscheinen, weil es der Ausschuß will, sondern weil es die Regierung befiehlt, und die Regierung muß befehlen, weil es das Gesetz will.“ Mit dieser Überlegung rechtfertigte Zweig außerdem, dass Privatpersonen nicht vor den Ausschüssen erscheinen müssten.

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

Gesetzgebungs- oder Exekutivkompetenz verfügte. Außerdem sollte jeder Beamte eine Aussage von ihrer Geheimhaltung abhängig machen dürfen, wenn dies der „höchste[n] Dienststelle“ zufolge durch wichtige gliedstaatliche oder Reichsinteressen geboten war (§ 8). Die von Max Weber beabsichtigte Durchbrechung des Dienstgeheimnisses sollte also keineswegs zur vollständigen Verwaltungstransparenz führen, wie sie die moderne Informationsfreiheitsbewegung befürwortet, sondern lediglich den exekutiven Wissensvorsprung vor dem Parlament verkürzen. Ungeachtet dessen stärkte Webers Konzeption im direkten Vergleich mit dem vagen § 53 StPO 1877, der ausreichen ließ, „wenn die Ablegung des Zeugnisses dem Wohle des Reichs oder eines Bundesstaates Nachtheil bereiten würde“, die Aussagepflicht der Beamten im Interesse des parlamentarischen Untersuchungsrechts. Analog zu der Begründung des Minderheitsrechts stellte der letzte Satz von § 7 B, dass die Indemnität des Art. 30 RVerf 1871 einer „Befragung eines Abgeordneten durch die Kommission“ nicht entgegenstehe, klar, dass „anstelle der kontrollfreien Beamtenherrschaft im Staat [k]eine kontrollfreie Majoritätsherrschaft im Parlament eingeführt“ werden sollte.30 Allgemein sollten sich Zeugen für eine Weigerung nur auf die Gefahr eigener oder der Strafverfolgung naher Angehöriger bzw. des Ehegatten berufen können (§ 7 B). Diese Einschränkungen der Aussagepflicht waren gegenüber den strafprozessrechtsanalogen Zwangsbefugnissen der Untersuchungskommissionen (§ 5 Satz 1) geboten: Gemäß § 54 StPO 1877 konnte jeder Zeuge ebenfalls im Strafverfahren die „Auskunft auf solche Fragen ver­ weigern, deren Beantwortung ihm selbst oder einem [nahen…] Angehörigen die Gefahr strafrechtlicher Verfolgung zuziehen würde“. Keine Entsprechung hatten dagegen die strafprozessualen Weigerungsrechte der Geistlichen, Rechtsanwälte und Ärzte gefunden (§ 52 StPO 1877). Für betriebliche Informationen, deren Bekanntwerden berechtigte Interessen gefährden konnte, sah § 9 ebenso wie für rein persönliche Verhältnisse lediglich einen Geheimhaltungsanspruch vor. Eine weitergehende Übernahme der zivilprozessualen  (!) Weigerungsgründe hielt Max Weber für entbehrlich, „wenn die Geheimhaltungspflicht der Kommissionsmitglieder […] durch Strafbarkeit sichergestellt“ werde. Zu diesem Zweck sah sein Entwurf in § 15 eine besondere Strafvorschrift vor: „Mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und bei erschwerenden Umständen mit Verlust der Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter und der Wahlfähigkeit zu öffentlichen Körperschaften“ sollte bestraft werden, wer „Tatsachen, die, wie er wußte, in einer nach diesem Gesetz gebildeten Kommission zur Sprache gekommen […] und nach § 7–11 und 14 geheim zu halten waren, vorsätzlich“ weitergab. Selbst die fahrlässige Weitergabe sollte mit einer „Gefängnisstrafe bis zu 3 Monaten“ bedroht werden. Abgeordnete sollten sich nicht auf die Indemnität berufen können; der folgende Paragraph sah eine Verfolgung von Amts wegen vor und verpflichtete den Reichstagspräsidenten auf Wunsch eines Reichstagsviertels zum „Strafantrag“. Eine Verfahrenseinstellung sollte nur auf den mit Dreiviertelmehrheit beschlossenen Vor 30

Vgl. W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 277.

1. Kap.: Parlamentarisierungsversuche im Weltkrieg (1917)

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schlag einer unter Berücksichtigung der Minderheit gebildeten parlamentarischen Kommission zulässig sein.31 Nach dem Abschluss der Enquête oder Untersuchung sollten die Kommissionen auf Verlangen eines Viertels ihrer Mitglieder, also einer dem Einsetzungsquorum entsprechenden Kommissionsminderheit, dem Plenum Bericht erstatten; ein Neben­bericht der Minorität sollte dem Hauptbericht ggf. beizufügen sein (§ 14). Mit dieser Möglichkeit wich der Entwurf von der Geschäftsordnung des Reichstages ab.32 Die Einsetzungsminderheit hätte mit einer solchen Regelung die Gewissheit erhalten, dass die untersuchten Vorgänge und Tatsachen auch wirklich an die Öffentlichkeit kamen. Die nachträgliche Publizität war notwendig, weil Max Webers konkreter Vorschlag – anders als Hugo Preuß’ Konzept – keine Untersuchungsöffentlichkeit vorsah und die Ausschussverhandlungen nach der Geschäftsordnung nichtöffentlich gewesen wären.33

III. Ein historischer Einordnungsversuch Obwohl sich Max Weber unbestreitbar als Architekt des modernen Enquêteund Untersuchungsrechts verdient gemacht hat, glückte ihm dieser Schöpfungsakt keineswegs in einem staatsrechtrechtlichen oder geistesgeschichtlichen Vakuum. Vielmehr finden sich für verschiedene der Bauelemente, aus denen er das theoretische Fundament seiner Forderungen von 1917 zusammensetzte, erkennbare Vorläufer in Politik, Publizistik und Wissenschaft des 19. bzw. des frühen 20. Jahrhunderts. Angesichts von Max Webers Biographie ist es überaus wahrscheinlich, dass er diese mehr oder minder konkreten Vorbilder bzw. die zugrundeliegenden zeitgenössischen Auffassungen und Einflüsse tatsächlich kannte und auch verarbeitet hat. 1. „Vorläufer“ der Bürokratiekritik Das gilt in erster Linie für die fundamentale Skepsis gegenüber jeder Beamtenherrschaft. Schließlich finden sich bereits im frühen 19. Jahrhundert Kritiker einer scheinbar allmächtigen Bürokratie, zu deren prominentesten Vertretern der Freiherr v. Stein und Theodor v. Schön gehörten.

31 Neben diesem Vorschlag ließ M. Weber es dahingestellt, „ob vielleicht statt dessen eine Vereidigung der Kommissionsmitglieder und alsdann die Übertragung der Strafbarkeit des Bruches des Amtsgeheimnisses in irgendeiner Form zweckmäßig“ erscheine (W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 276 f.). 32 Vgl. J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 232. 33 s. allg. zur Nichtöffentlichkeit J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 237 sowie zur Öffentlichkeit in der Schrift von 1918 etwa G. A. Wolf, Strafjustiz, 2004, S. 41.

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

a) Karl vom und zum Stein und Theodor v. Schön Der Reichsfreiherr vom und zum Stein klagte dem Freiherrn v. Gagern im ­August 1821 sein Leid, „daß [Preußen…] von besoldeten Buchgelehrten, interessenlosen ohne Eigenthum seyenden Büralisten regiert“ werde. Kern der vielzitierten Philippika war die These, dass die Beamtenschaft nicht in der Gesellschaft verwurzelt wäre, sondern eine eigene „Schreiberkaste“ bilde.34 Als Heilmittel gegen dieses Übel galt dem preußischen Reformer eine Stärkung des Bürgertums durch die neue Städteordnung und – in homöopathischer Verdünnung – durch Landstände.35 Kurz nach der erfolglosen Verfassungspetition der ost- und westpreußischen Landstände auf dem Huldigungslandtag von 1840 entwickelte der preußische Staatsminister und Oberpräsident Theodor v. Schön, ein früherer Mitarbeiter Steins, in einer nicht zur Publikation bestimmten Denkschrift den Vorschlag, dass dem Beamtenapparat in Form von „Generalständen“ das politische Gewicht des aufgeklärten Bürgertums gegenübergestellt werden könnte. Eine „ständische Repräsentation“ gebe dem Monarchen „für die Würdigkeit und Tüchtigkeit seiner Beamten unfehlbar den besten, vielleicht den einzigen, bleibend wirksamen Prüfstein. Wer vor die Stände zu treten [habe…], wer Rechenschaft über seine Verwaltung vor ihnen ablegen [müsse, könne…] nicht unwissend und kopflos sein; böser Wille [werde…] schnell zu Schanden […]. Um so sicherer [könne…] der Souverain darauf vertrauen, daß er stets zum rechten Amte den rechten Mann gewählt habe; und was für ihn und für den Staat ein unschätzbares Glück [sei…]: im öffentlichen Leben der ständischen Repräsentation [fänden…] alle Kabalen und alle Polizeikünste stets ein schnelles Ende“.36 Sowohl für Stein als auch für Schön, der als Alterspräsident 1848 die ersten Sitzungen der Vereinbarungsversammlung leitete, war die Kontrolle des ehedem kontrollfreien Beamtentums (auch) mit Hilfe der neuständischen Repräsentatividee ein integraler Bestandteil ihrer Reformüberlegungen.37 b) Radikale Autoren Angesichts der Konjunktur, die die Bürokratie- und Beamtenkritik seit den 1840er Jahren hatte, reüssierten die Thesen der beiden preußischen Staatsmänner rasch im liberalen wie im radikalen Schrifttum.38 1844 stimmte etwa der radikale 34

H. v. Gagern, Briefe, 1833, S. 90 f. Zum Ganzen s. H. Duchhardt, Reformer, 2010, S. 28 f., 42 ff. 36 s. die ohne Wissen des Autors durch Georg Fein publizierte Schrift T. v. Schöns, Woher, 1842, S. 9 und passim (Hervorhebung nur hier). s. E. R. Huber, DtVerfGesch II3 1988, S. 486 f. zu der Bitte der Provinzialstände, ihrer Ablehnung durch Friedrich Wilhelm IV., der Entstehung und Publikation der Schrift sowie den tragischen Folgen für den Verfasser. 37 C. Dipper, in: Langewische (Hg.), Liberalismus, 1988, S. 172 (178). 38 T. Nipperdey, DtGesch 1800–1866, 1998, S. 325 f.; H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte II4 2005, S. 303 ff. 35

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preußische Justizjurist Friedrich Arnold Steinmann, der mehr für seine Heine-Fälschungen als sein eigenes Œuvre in Erinnerung geblieben ist, mit einer anonymen Hetzschrift gegen das „Beamtenvolk im Volke“ in diesen Chor scharf mit ein, kolportierte in verletzender Form die Überlegungen des Freiherrn v. Stein, spitzte sie aber auch in geradezu prophetischer Weise auf die Amtsverschwiegenheit zu, die Max Weber beinahe ein Dreivierteljahrhundert später in den Mittelpunkt seiner Überlegungen rücken sollte. Nach schmähenden Metaphern39 attestierte Steinmann der Beamtenschaft, „[o]hne Patriotismus, unbekümmert um Nationalität, ohne Heimathssehnsucht […] nur ein Lebensmotto: Ubi bene, ibi patria!“ zu kennen.40 Zu seiner Überzeugung ging ihre Bevorzugung gegenüber dem gemeinen Volk deutlich „aus der in ganz Deutschland den Beamten befohlenen Amtsverschwiegenheit hervor, welche sie eidlich angeloben müss[t]en“; jede „Ueber­ tretung“ dieser goldenen Regel werde mit „Amtsentsetzung“ bestraft.41 Das in der „Verschwiegenheit der Beamten“ anklingende Regierungsbedürfnis, „geheimnißvoll“ zu verfahren, mit anderen Worten also die deutsche Arkantradition, wertete der radikale Autor als untrügliches Indiz dafür, dass „bestehende und bekannte Gesetze“ nicht „nach vorausbestimmten Regeln angewendet würden“. Frei nach den Rezepten Steins, dessen Beamtenkritik er teils wörtlich übernahm, verordnete Steinmann gegen die „Krankheit eines selbstsüchtigen, nach oben hin sclavischen, nach unten hin despotischen Beamtenstandes“ eine Stärkung der Gemeinden und der individuellen Freiheit.42 Für ein „durchgreifendere[s] Mittel“ hielt er die „freie Presse“, mit deren Hilfe die „Gewissenlosigkeit der Mehrzahl durch die moralische Kraft der Bessern allmählig besiegt werden“ könne.43 Kam in Steinmanns Überlegungen auch nicht der repräsentative Gedanke zu Ehren, spielte damit doch wenigstens die Macht der öffentlichen Meinung gegenüber der verstohlenen Büroherrschaft eine relevante Rolle. Anfang der 1840er Jahre veröffentlichte der radikale Publizist Karl Heinzen eine über 300-seitige Philippika. Der spätere Vordenker des politischen Terrorismus war in den 1820er Jahren von der Universität Bonn verwiesen worden, hatte dann in der holländischen Fremdenlegion gedient, anschließend in Preußen seinen Wehrdienst abgeleistet und war schließlich einige Jahre als Steuerbeamter tätig. Nach der Publikation seines Pamphlets über „Die Preußische Büreaukratie“ nach Brüssel geflohen, überwarf er sich dort mit den Kommunisten, ging in die Schweiz, kehrte in der Märzrevolution aber von einer Vortragsreise in den Vereinigten Staaten in die Heimat zurück und nahm an den badischen Aufständen 39

U. a. urteilte F. A. Steinmann, Bureaukratie, 1844, S.  7 f., dass das Beamtentum eine „Schlange, eine Natter [wäre], die das Volk an seinem Busen groß gesäugt [habe…] zu seinem Verderben, eine giftige Viper, die seine Pflegerin allmählig [vergifte…], ein Ungeheuer, das das Gedeihen des Landes und die Wohlfahrt des Volkes nach und nach [verschlinge…], und bei längerer Dauer ganz“ vernichte. 40 F. A. Steinmann, Bureaukratie, 1844, S. 13. 41 F. A. Steinmann, Bureaukratie, 1844, S. 29 ff. 42 F. A. Steinmann, Bureaukratie, 1844, S. 26 f. 43 F. A. Steinmann, Bureaukratie, 1844, S. 27 f.

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

teil. Nach dem endgültigen Scheitern der Revolution emigrierte Karl Heinzen nach Amerika.44 Seine Bürokratiekritik verband er mit der Forderung einer Repräsentativ­ verfassung, die in Volkssouveränität und Republik übergehen müsse. Ein „Repräsentativstaat ohne Volkssouveränetät“ war für den Demokraten „bloß ein absoluter Staat mit einem Rechtskleid behängt, das bei der ersten besten Gelegenheit wieder abgelegt“ werden könne. Weil das Volk in Wahrheit den Staat ausmache, ihn finanziere und verteidige, brandmarkte er die politische Entmündigung als widernatürliches Unrecht. Den Monarchen hielt er für verpflichtet, „den Gesammtwillen des Volks, wie sich derselbe durch gesetzliche Organe [ausspreche…], zu befolgen“.45 „Hauptgrundlagen“ einer richtigen Verfassung waren für Heinzen die extrem linksliberalen Essentialia eines konstitutionellen Rechtsstaats: das „Recht, bei verfassungswidrigen Handlungen der Regierung den Gehorsam zu versagen, die Steuern jährlich zu bewilligen oder zu verweigern, Initiative bei der Gesetzgebung, strenge Ministerverantwortlichkeit, Sicherung der persönlichen Freiheit, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit der unabhängigen Justiz, Schwurgerichte, strenge Gleichheit vor dem Gesetz in jeder Beziehung, Preßfreiheit“.46 Obwohl vor seinem „Vernunft- und Rechtsgefühl“ eigentlich nur die „republikanische Staatsform“ bestehen konnte, beschränkte er sich, „weil Deutschland für die Republik nicht reif“ wäre, auf die Forderung einer wahrhaft konstitutionellen Monarchie.47 Die monarchische „Büreaukratie“, die ein „Zuviel der Beamten und ihrer Wirksamkeit, das Mißbräuchliche und Schlechte der Beamten- und Büreauherrschaft“ bedeute, hielt er vor diesem Hintergrund für das „Werkzeug eines rechtswidrigen Prinzips“;48 „selbst dem unbeschränkten Herrscher“ wachse dieses Ungetüm „mitunter über den Kopf“.49 Infolgedessen herrsche in Preußen statt des Königs de facto eine Oligarchie, in der „[j]eder Minister […] ein Monarch für sich“ wäre.50 Als die „widerrechtlichste Gewalt und das unnatürlichste politische Produkt der Welt“ müsse diese Bürokratie von Natur aus „eifersüchtig auf Wahrung und Ausdehnung ihrer Gewalt bedacht, der Volksentwickelung und allem wahren Fortschritt feind, mithin der Volksvertretung wie der Presse, der freien Kommunalverwaltung wie jeder Selbstverwaltung des Volks entgegen und beständig auf Vermehrung der Mittel zur Fesselung und Abhängigmachung des Volks gerichtet sein“ und deswegen jedem königlichen Zugeständnis widersprechen.51 44

Vgl. H. Hirsch, NDB VIII, 1969, S. 452 f.; F. Brümmer, ADB L, 1905, S. 157 f. s. K. Heinzen, Büreaukratie, 1845, S. 80 ff. und 13: „Der Staat besteht aus dem Volk, aus nichts Anderm […]. Vernunft- und rechtgemäß ist also die Selbstregierung des Volks Regel, und alle Regierung, die außerhalb des Volks steht, Ausnahme.“ 46 K. Heinzen, Büreaukratie, 1845, S. 85. 47 K. Heinzen, Büreaukratie, 1845, S. 87 in Anm. *. 48 K. Heinzen, Büreaukratie, 1845, S. 13 f., 19. 49 K. Heinzen, Büreaukratie, 1845, S. 19. 50 K. Heinzen, Büreaukratie, 1845, S. 21. 51 K. Heinzen, Büreaukratie, 1845, S. 19. 45

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Während Friedrich Wilhelm  III. „nach den Eingebungen seiner Redlichkeit und seines Pflichtgefühls“ sein Verfassungsversprechen habe einlösen wollen, habe die Bürokratie seinen Wortbruch herbeigeführt, weil „ihre Todesstunde und die Geburtsstunde einer Volksrepräsentation“ zwangsläufig zusammenfielen. Deutlich klang in Überlegungen, dass die „Rechenschaft, welche eine wahre Volksvertretung von der Staatsverwaltung [fordere, …] nur das Recht, die Gewissenhaftigkeit und die Fähigkeit bestehen“ lasse, aber jede „Willkür, die Bevormundungskunst, die Geheimregiererei, die Mittelmäßigkeit“ rasch zuschanden werde, „sobald eine Volksvertretung mit kräftiger Hand den Vorhang von Gegenwart und Zukunft, vielleicht gar von der Vergangenheit des Staatslebens“ wegziehe,52 ähnlich wie bei Theodor v. Schön der Gedanke parlamentarischer Kontrolle an. Anders als Steinmann qualifizierte Karl Heinzen die „Amtsverschwiegenheit“ nicht als Beamtenprivileg, sondern neben den „geheimen Conduitenlisten“, die für ihn Ausdruck des „Grundsatzes der Subordination“ und des Prinzips waren, „daß nichts dem freien Willen und der freien Thätigkeit, sondern nur dem Commando und dem Zwang solle zu verdanken sein“,53 als Instrument der Unterdrückung. Mit der Erstreckung des § 357 II 20 ALR 1794, der jede gefährliche „Staatsverrätherei“ von „anvertrauten Amtsgeheimnisse[n]“ mit Amtsverlust und „nach Befinden der Umstände mit zeitiger Gefängnißstrafe“ bedrohe, „über alle zur Kenntniß der Beamten gelangende Verfügungen der Behörden“ habe sich die Bürokratie „Angstergebenheit und Stummheit“ in einem Maße gesichert, dass ihre Diener nicht einmal mehr „zu verrathen wagen würden, ob ihr Vorgesetzter mit einem Gänsekiel oder einer Stahlfeder geschrieben habe“.54 Abhilfe erhoffte Karl Heinzen – wie der Freiherr v. Stein – von einer Stärkung der kommunalen und regionalen Selbstverwaltung, einer konstitutionellen Verfassung mit „wahrer Volksvertretung“, parlamentarischer Verwaltungskontrolle und gerichtlichem Rechtsschutz statt verwaltungsinternem Beschwerdewesen sowie einer nicht länger von der Zensur gegängelten Presse, um die klandestine Bürokratenherrschaft durch das Licht der Öffentlichkeit zu vernichten.55

52

K. Heinzen, Büreaukratie, 1845, S. 24 ff., 52. K. Heinzen war keineswegs ein Gegner jeder dienstlichen Beurteilung, sondern forderte nur, dass „keine Conduitenliste eingereicht werden [dürfe], von welcher nicht der darin beurtheilte Beamte eine Abschrift“ erhalte. Zudem solle „jedem Beamten […] unter Bedingungen zu jeder Zeit die Einsicht seiner Personalakten gestattet sein“. Zu guter Letzt verlangte er „Commissionen von Beamten“, „an welche die betreffenden Personen gegen ungünstige Zeugnisse ihrer Vorgesetzten schriftlich und mündlich recurriren könn[t]en“ (K. Heinzen, Büreaukratie, 1845, S. 166 ff., 173 f.). 54 K. Heinzen, Büreaukratie, 1845, S. 175 f. 55 K. Heinzen, Büreaukratie, 1845, S. 21 f., 52 f., 67 ff., 71, 106 ff., 122 ff., 134 ff., 317 f. und passim. 53

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c) Zwischenergebnis Kern der seit den 1830er Jahren aufkommenden Bürokratiekritik, hinter der das Ansehen des Reformbeamtentums aus den ersten beiden Dezennien des 19. Jahrhunderts wegen der „alltäglichen Erfahrung polizeilicher Überwachung, bürokratischer Reglementierung und unaufhörlicher Bevormundung“ zunehmend verblasste (Reinhard Rürup), waren die Innovations- und Fortschrittsfeindlichkeit der Bürokratie, ihr Despotismus und die Hybris, mit der sie den Bürgern begegnete.56 Das Dienstgeheimnis, gedeutet als Bestreben einer Geheimwirtschaft, stand dabei mit im Vordergrund. Abhilfe sollten, darin waren sich die Kritiker von Stein bis zu den Radikalen einig, die Konstitutionalisierung und die landständische bzw. öffentliche Kontrolle durch die Pressefreiheit schaffen. Von diesen Grundpositionen aus war es zu Max Webers Überlegungen, die auf Fach- und Dienstwissen beruhende bürokratische Überlegenheit durch ein parlamentarisches Enquête- und Untersuchungsrecht zu brechen, kein allzu großer Schritt. Freilich lässt sich nicht sagen, ob Weber diese konkreten Arbeiten und Pamphlete kannte. Ungeachtet dieser spekulativen Frage, dürften die historischen Anfänge der Bürokratiekritik von Stein bis Schön dem 1864 geborenen politischen Wissenschaftler kaum fremd gewesen sein. Im Übrigen hatten sich Bedeutung und Machtstellung der Bürokratie seit dem vergangenen Jahrhundert noch ver­festigt: Allein zwischen 1875 und 1907 war das Beamtenheer auf nahezu das Dreifache angewachsen. Die Vermehrung der Staatsaufgaben war ein Grund, ein anderer der gouvernementale Versuch, „kleine“ Angestellte und ungelernte Arbeiter durch ihre Verbeamtung von der Sozialdemokratie fernzuhalten.57 So kam die von Karl Heinzen angeprangerte Funktion der Bürokratie als politisches Manipulations- und Maßregelungsinstrument, die sich im preußischen Verfassungskonflikt (1863/64) von ihrer härtesten Seite gezeigt hatte, auch in der Personalpolitik des Kaiserreichs zu Ehren. Vor diesem Hintergrund stand Max Weber mit seinen Überlegungen ersichtlich in der Tradition des 19. Jahrhunderts, indem er sich gegen freiheitsgefährdende Wirkungen der Beamtenherrschaft wendete, parlamentarische Kontrolle forderte und eindringlich davor warnte, der Bürokratie die Staatsleitung zu überlassen.58 Auch die essentielle Ablehnung des Amtsgeheimnisses als Machtmittel war historisch vorgezeichnet. Darauf, dass seine Bürokratiekritik als unangefochtenes Fundament der Enquête- und Untersuchungsrechtskonzeption in der Tradition des 19. Jahrhunderts stand, deutet auch eine durch seine Ehefrau überlieferte Anekdote hin: 1909 kritisierte Weber – historischen Vorgängern bemerkenswert ähnlich – auf einer Tagung des Vereins für Sozialpolitik in Wien die „präzis[e]“ „Menschenmaschinerie“ der 56

Mit anderem Akzent s. auch R. Rürup, Deutschland2 1992, S. 159 (Zitat), 161 und passim zur Bürokratiekritik in Deutschland und Österreich. 57 H.-U. Wehler, Gesellschaftsgeschichte II4 2005, S. 1021 ff. 58 So die Zusammenfassung bei G. Fitzi, M. Weber, 2008, S. 133 ff.

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Bürokratie, in der „[j]eder […] zu einem Rädchen […] und innerlich zunehmend darauf gestimmt [werde], sich als solches zu fühlen und sich zu fragen, ob er nicht von diesem kleinen Rädchen zu einem größeren werden“ könne. Fürchterlich war ihm der „Gedanke, daß die Welt mit nichts als jenen Rädchen, also mit lauter Menschen angefüllt wäre, die an einem kleinen Pöstchen kleb[t]en und nach einem größeren streb[t]en.“ Ähnlichkeiten mit den oben zitierten Kritikern sind unübersehbar, obwohl Max Weber, anders als jedenfalls die Radikalen, Deutschland wenigstens eine „hochmoralische Bürokratie“ attestierte – freilich hielt er sie für weit weniger effizient als ihr korruptes Pendant in den demokratischen Staaten.59 2. Praktisches Anschauungsmaterial und frühere Desiderate Über sein zentrales Anliegen, die informatorische Dominanz der Beamtenschaft gegenüber dem Parlament zu brechen, verabschiedete Max Weber keineswegs den Gedanken der Sachstandsenquête: Dieser findet sich zwar in dem Entwurf zu Art. 23 RVerf 1871 bloß untergeordnet und etwas versteckt, gleichwohl aber eindeutig in dem Einschub: „zur Vorberatung von Gesetzentwürfen“, wieder.60 Größeres Gewicht besaß in der antibürokratischen Konzeption von 1917 das politische Untersuchungsrecht. Für beide Facetten eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts und ebenso für die von Weber ausgearbeiteten Befugnisse existierten historische Vorbilder, sei es in Form revolutionärer oder oppositioneller Forderungen, sei es in Gestalt des geltenden Rechts oder tatsächlich veranstalteter Enquêten und Untersuchungen. a) Die Enquête- und Untersuchungsfunktion Ein auf den ersten Blick „harmloses“ Enquêterecht, mit dessen Hilfe Max Weber dem Reichstag gegenüber der exekutiven Staatsleitung in legislativen wie gubernativen Fragen ein größeres Gewicht verschaffen wollte, war mit ähnlichen Argumenten bereits seit dem vergangenen Jahrhundert gefordert worden. 1891 hatte August Bebel einen sozialdemokratischen Verfassungsänderungsantrag u. a. mit Vorteilen in der Gesetzesvorbereitung begründet und dabei auf die anbrechende Periode der Sozialgesetzgebung, legislativen Bedarf im Börsenwesen oder bei den Getreidezöllen sowie ganz allgemein auf ein Bedürfnis nach „Enqueten über die soziale Lage bestimmter Arbeiterkategorien“ verwiesen. Der Deutsch-Freisinnige 59

Vgl. M. Weber, Lebensbild3 1984, S. 421 ff. Freilich handelt es sich um eine Nebenrolle. Vgl. K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 13. Diesen Aspekt lassen J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 44 ff.; W. Steffani, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 49 Rn. 67 („gesetzesvorbereitende Leistungen […] weitgehend übersehen“) oder S. Schröder, ZParl 1999, 715 (718) etwas zu sehr außen vor. 60

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

Karl Schrader hatte als Thematik noch den gewerberechtlichen Befähigungsnachweis ergänzt. Es ist wahrscheinlich, dass Max Weber mit diesen Forderungen, die die Sozialdemokraten bis 1912 noch mehrfach wiederholten,61 vertraut war. Dafür spricht sein eigenes Engagement in sozialen Fragen: Erst kurze Zeit nach der ersten Reichstagsdebatte hatte er die Auswertung und Interpretation der Ergebnisse einer schriftlichen Enquête zur Lage der Landarbeiter, die der Verein für Sozialpolitik Ende 1891 und Anfang 1892 veranstaltet hatte, für die ostelbischen Gebiete übernommen.62 1892 regte Max Weber dann eine Landarbeiterenquête des Evangelisch-sozialen Kongresses an; an dem 15.000-fach (!) versendeten Fragebogen, mit dem dieses Mal Geistliche befragt wurden, hatte er mitgearbeitet.63 Zwischen 1897 und 1912 beschäftigte sich Max Weber noch mit weiteren Arbeiterenquêten; zu nennen ist insbesondere die große Untersuchung des Vereins für Sozialpolitik zu „Auslese und Anpassung (Berufswahl und Berufsschicksal) der Arbeiter in den verschiedenen Zweigen der Großindustrie“, die im September 1907 beschlossen und ab Oktober 1908 unter Berücksichtigung u. a. der Textil-, Lederwaren-, Elektro-, Maschinen-, Auto- und Steinzeugindustrie sowie des Buchdrucks veranstaltet wurde.64 Auch mit der Börse hatte sich Max Weber eingehend beschäftigt und sich u. a. kritisch zu Börsenenquête und Börsengesetz geäußert.65 Angesichts dieser Interessen liegt es nahe, dass er die sozialdemokratischen Enquêterechtsvorstöße nicht bloß kannte, sondern aufmerksam verfolgte. Die Notwendigkeit eines auf Regierungs- und Verwaltungskontrolle zugeschnittenen Untersuchungsrechts hatte sich bei den regierungsgeleiteten „Untersuchungen“ der südwestafrikanischen Minen- und Landgesellschaften (1905/06), der Rüstungsindustrie und des militärischen Beschaffungswesens (1913/16) gezeigt. Sie alle lieferten Anschauungsmaterial für die besondere Effizienz der Bürokratie, wenn es darum ging, Fehltritte oder Missstände vor Parlament und Öffentlichkeit zu verbergen. Der sowohl an kolonial- wie wirtschaftspolitischen Fragen interessierte Nationalökonom, Jurist und Soziologe Weber, der zwar nicht selbst auf der politischen Bühne stand, aber seit Jahren enge Kontakte zu einflussreichen Politikern unterhielt,66 beobachtete diese Vorgänge zweifellos genau.67 Nachweisen lässt sich das u. a. in einem Brief an Friedrich Naumann vom 14. Dezember 1906, in dem Max Weber die Reichstagsauflösung kritisierte und dem Zentrum vorwarf, dass es das „System des Scheinkonstitutionalismus gefördert und gestützt“ habe, 61

s. 6. Teil 2. Kap. B. III. D. Kaesler, M. Weber3 2003, S. 74. 63 D. Kaesler, M. Weber3 2003, S. 83 f. 64 D. Kaesler, M. Weber3 2003, S. 91 f. 65 D. Kaesler, M. Weber3 2003, S. 88. 66 Zum Verhältnis zu Friedrich Naumann u. a. s. M. Weber, Lebensbild3 1984, S. 143 f. und passim; J. Radkau, M. Weber, 2005, S. 517. 67 s. allg. zu Webers wissenschaftlichem Werdegang D. Kaesler, M. Weber3 2003, S. 17 ff. sowie W. J. Mommsen, Politik3 2004, S. 73 ff., 147 ff. zu seinem Interesse an und seinen Positionen in der Weltmacht- und Kolonialpolitik. Seinen Bruder Alfred hatte der befreundete Karl Helfferich als Ansiedlungskommissar für Deutsch-Südwestafrika vorgeschlagen. 62

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indem es – statt die „Controlle der Colonialverwaltung durch den Reichstag (etwa in Form der von der ‚Germania‘ s. Z. geforderten parlamentarischen Enquete) zur Bedingung der Annahme des Colonialetats“ zu machen  – diesen schlicht abgelehnt habe; nach diesem Versagen dürfe die „Parole“ in den kommenden Wahlen „nur lauten: gegen das Zentrum als die Partei des Scheinconstitutionalismus, […] welche nicht reale Macht der Volksvertretung gegenüber der Krone, sondern persönliche Bonbons aus den Händen der Krone [erstrebe…], und für eine […] offene […] parlamentarische Verwaltungskontrolle, welche […] den Schmutz der ‚Nebenregierungen‘ aus seinen geheimen Winkeln“ fege.68 Max Weber schwebte also schon damals vor, das ihm grundsätzlich aus der Sozialpolitik bekannte informationsrechtliche Instrument zur Stärkung des parlamentarischen Einflusses auf die Regierungskontrolle zu übertragen. Weil der Reichstag erst im Frühjahr 1905 lediglich den Reichskanzler darum ersucht hatte, eine Kommission „zur Prüfung der Rechte und Pflichten und der bisherigen Tätigkeit der Land- und Bergwerksgesellschaften in Südwestafrika […] zu berufen, zu welcher vom Reichstage zu wählende Mitglieder des Reichstags und koloniale Sachverständige zuzuziehen“ sein sollten,69 richtete sich die Kritik gegen das Zentrum zwangsläufig auch gegen diesen Schritt. Für beide Funktionen eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts boten die politischen Auseinandersetzungen im Reichstag also Anregungen und Anschauungsmaterial. Die preußische Verfassungsgeschichte bot ebenfalls ein reiches Reservoir an praktischen Beispielen. Das gilt ein weiteres Mal für beide funktionelle Seiten eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts: Sowohl die revolutionäre Vereinbarungsversammlung als auch die konstitutionellen Kammern hatten verschiedene Sozial- und Wirtschaftsenquêten veranstaltet. Mit teils deutlich hörbaren regierungskritischen Untertönen stieß die von Friedrich Harkort forcierte Banken­enquête keineswegs auf gouvernementale Gegenliebe; die Sozialenquêten zur Lage der Weber und Spinner waren mit Kritik an der preußischen Wirtschaftsund Sozialpolitik verbunden.70  – Das erste „echte“ Beispiel einer parlamentarischen Kontrollenquête war die spektakuläre Schweidnitzer Untersuchung von 1848. Kurze Zeit später versuchte Georg v. Vincke 1851, eine Generalabrechnung mit dem Ministerium Manteuffel mit Hilfe von Art. 82 PrVerf 1850 zu erzwingen. Dem potentiellen Wert dieses Artikels in der politischen Auseinandersetzung waren auch die verschiedenen Untersuchungsanträge in der Dissidentenfrage geschuldet; so kam das Enquête- und Untersuchungsrecht im Frühjahr 1852 als „Surrogat“ einer Ministeranklage ins Gespräch. Der Höhepunkt des preußischen Untersuchungsrechts war aber zweifellos nach den Wahlmanipulationen von 1863 erreicht, denen das oppositionelle Abgeordnetenhaus gegen den ausdrücklichen Willen der Regierung Bismarck mit einigem Erfolg auf den Grund ging; bei dieser 68

Abdruck bei M. R. Lepsius/W. J. Mommsen (Hg.), MWG II/5, 1990, S.  201 ff. (Hervorhebungen im Original). 69 s. 6. Teil 3. Kap. B. II. 70 s. 3. Teil 2. Kap. D. V., 5. Teil 3. Kap. A. II. und B. I.

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Gelegenheit verdiente sich der vergleichsweise zahme Art. 82 PrVerf 1850 seinen imposanten Ruf als „Kampfparagraph gegen die Regierung“.71 Selbst der vordergründig gescheiterte Antrag Schwerin von 1855 hatte Vorbildcharakter, indem das Ministerium eine letzte Gelegenheit zur Äußerung über die Wahlmachinationen erhielt, bevor die Kammer über weitere Schritte wie etwa eine parlamentarische Untersuchung entschied.72 In analoger Weise erhoffte sich Max Weber von der Existenz eines Enquête- und Untersuchungsrechts „heilsam[e]“ Vorwirkungen auf eine „freiwillige Auskunftserteilung“ seitens der Exekutive;73 in denselben Kontext gehört das prägnante Zitat, das „Enqueterecht [sei…] als gelegentliches Hilfsmittel zu gebrauchen [und biete…] im übrigen […] eine Rute, deren Vorhandensein die Verwaltungschefs [dazu veranlassen könne…], in einer Art Rede zu stehen, die seine Anwendung unnötig“ mache.74 b) Zwangsbewehrte Untersuchungsbefugnisse Als Novität gilt die Ausstattung der Untersuchungsausschüsse mit robusten Befugnissen. Trotzdem hat auch diese Neuerung einschließlich der Verweisung auf die Strafprozeßordnung einen historischen Hintergrund: Zwangsbewehrte parlamentarische Untersuchungsbefugnisse gehörten seit der Jahrhundertwende zum Standardrepertoire der sozialdemokratischen Verfassungsänderungsforderungen.75 August Bebel bemühte im Dezember 1891 das dramatische Bild, dass es an der Schwelle zu einer „Periode der sozialen Gesetzgebung“ gelte, endlich eine klaffende „Lücke in der Verfassung“ zu schließen, damit das Parlament nicht auf Enquêteersuchen an die Regierung angewiesen bleibe, sondern selbst in der Lage sei, sich „nach allen Richtungen hin [zu…] unterrichten“.76 Das von den Sozialdemokraten geforderte Enquêterecht sollte den Reichstag aus seiner passiven Stellung erlösen und zum politischen Mitgestalter in der sozialen Frage machen. Parallelen mit Max Webers Überlegungen, dass die Volksvertretung nicht länger „verfassungsmäßig zur dilettantischen Dummheit“ verdammt sein dürfe, sondern mit Hilfe eines zwangsbewehrten Selbstinformationsrechts eine aktivere Rolle einnehmen müsse, sind nicht zu übersehen. Einen Vorgeschmack auf robuste Untersuchungsbefugnisse boten neben diesen Forderungen auf der Reichsebene auch zwei Beispiele aus der preußischen Verfassungsgeschichte: Die Untersuchungsdeputation der Vereinbarungsversammlung hatte sich nach dem blutigen Schweidnitzer Zwischenfall das Recht genom 71 Zur preußischen Praxis s. 5. Teil 3. Kap. B. II. und C. Das Zitat geht auf K. Schrader zurück (VerhRT VIII/1 (1890/92) S. 3290). 72 VerhPr2K IV/1 (1855/56), S. 362. 73 W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 274. 74 W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 489. 75 s. 6. Teil 2. Kap. B. III. 76 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3288.

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men, zivile und militärische Zeugen zu vernehmen; obwohl Pflicht und Zwang freilich noch keine Rolle spielten, war es doch bemerkenswert, dass man analog strafprozessualen Regeln verfuhr. Zum Jahreswechsel 1863/64 nahm sich die Wahlmanipulationsuntersuchungskommission dasselbe Recht; außerdem gingen die Abgeordneten von einer Aussagepflicht von Bürgern und Beamten aus.77 In der Vorstellung einzelner Zeitgenossen kam noch ein potentielles Zwangsmoment hinzu, sobald die Untersuchungskommission Vernehmungen nicht selbst durchführte, sondern die Gerichte um Hilfe ersuchte.78 Selbst die von Max Weber 1917 detailliert ausgearbeiteten zwangsbewehrten Untersuchungsbefugnisse, die er als Desiderat erstmals im Kontext der Daily-Telegraph-Affäre, mit anderen Worten also der Kanzlerverantwortlichkeit erhoben hatte,79 verfügten also über verschiedene historische Vorläufer und Anregungen. c) Die Ausgestaltung als Minderheitenrecht Nichts anderes gilt für Max Webers originellste Leistung, die bis auf den heutigen Tag das moderne Enquête- und Untersuchungsrecht entscheidend prägt: die Transformation vom Mehrheits- zum Minderheitenrecht. Während Art.  82 PrVerf  1850 und sämtliche verfassungspolitischen Vorstöße auf Reichsebene das parlamentarische Selbstinformationsrecht in die Hände der jeweiligen Mehrheit legte, vertraute Art.  34 Abs.  1 Satz  1 RVerf  1919 es erstmals der oppositionellen Minorität an.80 Obwohl dieser wegweisende Gedanke zu Recht Max Weber zugeschrieben wird,81 weil die Verfassungsgeschichte kein Einsetzungsrecht der Minderheit kennt, entpuppt sich auch dieser „Schöpfungsakt“ bei genauerem Hinsehen als konsequente Fortschreibung der Erfahrungen und Entwicklungen seit den Tagen der Märzrevolution. Sowohl § 24 GO-FNV  1848 als auch sein ungeschriebenes Berliner Pendant aus der Vereinbarungsversammlung, der glücklose § 99 RVerf 1849 oder Art. 73 „Charte Waldeck“, der oktroyierte Art. 81 PrVerf 1848 und sein revidierter Nachfolger folgten vollständig dem parlamentarisch-demokratischen Mehrheitsprinzip. Die politischen Konsequenzen dieser naheliegenden Entscheidung hatten sich in der preußischen Reaktionszeit der 1850er Jahre als verheerend erwiesen, indem 77

s. 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. und d) bb). s. insoweit zu den Laubaner Petitionen 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. d) bb). 79 Abdruck des Schreibens an Friedrich Naumann bei W. J. Mommsen, Politik3 2004, 163 f. in Fn. 59. 80 Dieser Paradigmenwechsel wurde auch in der bundesrepublikanischen Literatur von Anfang an hervorgehoben. s.  etwa H.  v. Mangoldt, GG, 1953, S.  248 oder die wesentlich veränderte Zweitauflage H. v. Mangoldt/F. Klein, GG II2 1966, S. 941. 81 Vgl. M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 3; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 45 f.; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 74; G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 216 in Anm. 1; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 13. 78

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

gouvernementale oder sogar Zufallsmehrheiten jeden Kontrollversuch vereitelt hatten. Das aufsehenerregendste Beispiel war sicherlich der Antrag Vincke zur Lage des Landes, der – in das Gewand einer parlamentarischen Untersuchung gekleidet – eine Generalabrechnung mit dem Gouvernement bezweckte. Obwohl die Innen- und insbesondere die Außenpolitik des Ministeriums Manteuffel verbreitet missbilligt wurden, scheiterte der liberale Vorstoß doch an einer alles andere als homogenen Mehrheit, die ausschließlich von ihrer Indolenz der politischen Entwicklung gegenüber zusammengehalten wurde. Nicht besser erging es kurze Zeit später den Anträgen, sich parlamentarisch mit der mutmaßlich verfassungswidrigen Repressionspolitik gegenüber den religiösen Dissidenten zu befassen. Das Scheitern des provokanten Antrags Schwerin, das Ministerium zur Untersuchung seiner eigenen Wahlmanipulationen aufzufordern; im besten Fall wäre eine blamable Resolution beschlossen worden, reiht sich ebenfalls nahtlos in die Reihe der an parlamentarischen Mehrheiten gescheiterten Kontrollversuche einer oppositionellen Minderheit ein. Nicht anders verhielt es sich für Eduard Laskers Versuch, eine parlamentarische Aufarbeitung des Eisenbahn- und Gründerskandals zu erzwingen; dass es stattdessen lediglich zu einer Beteiligung an der eilig niedergesetzten königlichen Spezialkommission kam, war wiederum den politischen Mehrheiten im Abgeordnetenhaus zu verdanken.82 Dass das Enquête- und Untersuchungsrecht in Preußen nicht häufiger zum Zuge kam, lag an seiner Ausgestaltung als Mehrheitsrecht. Im Norddeutschen Bund und im Kaiserreich verhinderten die jeweiligen Reichstagsmehrheiten dagegen schon die Aufnahme entsprechender Befugnisse in die Bundes- oder Reichsverfassung; an diesem mehrheitlichen Widerwillen gegen ein Enquête- und Untersuchungsrecht war bis zum Ende des Kaiserreichs nicht zu rütteln. Sieht man von der singulären Ausnahme des preußischen Verfassungskonflikts ab, der mit der Wahlmanipulationsuntersuchung von 1863/64 gleich eines der bedeutendsten Beispiele einer politischen Kontrollenquête hervorgebracht hat, waren oppositionelle Anträge, kritisch mit Regierung und Verwaltung ins Gericht zu gehen, ausschließlich in der Märzrevolution erfolgreich. Das verbindende strukturelle Element zwischen diesen beiden Phasen war die Existenz einer handlungsfähigen Mehrheitsopposition; was unter den Sachgesetzen der parlamentarischen Demokratie ein undenkbares Paradoxon wäre, weil die Mehrheit ein Regierungsrevirement erzwingen könnte, entsprach dem regulären Konfliktschema der konstitutionellen Monarchie, indem die gesamte Landes- und Volksvertretung als planmäßiger Kontrolleur bzw. Gegenpol der monarchischen Exekutive in kontroversen Fragen konzipiert war.83 Eine Minderheitsopposition mit schlagkräftigen Befugnissen war diesem Schema demgegenüber noch völlig fremd. Wie schlagkräftig das parlamentarische Selbstinformationsrecht aber als Kontroll- und

82

s. zu diesen preußischen Beispielen 5. Teil 3. Kap. B. II. und E. s. 2. Teil 1. Kap. C. zur generellen Macht- und Kompetenzverteilung in der konstitutionellen Monarchie. 83

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Kritik­instrument in der Hand einer oppositionellen oder wenigstens politisch von der Regierung unabhängigen Mehrheit sein konnte, die zur Kontrolle exekutiver Verfehlungen und Exzesse bereit war, hatten in der Märzrevolution die Frankfurter Nationalversammlung, die preußische Vereinbarungsversammlung und in den 1860er Jahren das Abgeordnetenhaus eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Die triviale Lehre aus der konstitutionellen Verfassungsgeschichte mit dem charakteristischen Dualismus von Regierung und Ständen lautete, dass Opposition zwar Kontrolle, aber keine Zusammenarbeit ermöglicht, während gouvernementale Mehrheiten umgekehrt zur Kooperation mit der Regierung, nicht aber zu ihrer Kontrolle in der Lage sind. Wollte Max Weber ein wirkungsvolles parlamentarisches Gegengewicht gegenüber der Regierung auch in friedlichen Zeiten sicherstellen, in denen das Gouvernement prinzipiell auf die Unterstützung der Volks­ vertretungsmehrheit bauen konnte; der interorganschaftlichen Verschränkung sollte die Kompatibilität von Reichstagsmandat und Bundesratsmitgliedschaft dienen, musste er das Selbstinformationsrecht zwangsläufig wenigstens partiell den Minoritäten anvertrauen. Mit dessen „Neuerfindung“ als Minderheitenrecht setzte Max Weber den Hebel also zielsicher an der konzeptionellen Schwachstelle des bisherigen Enquête- und Untersuchungsrechts an, die es in der Vergangenheit faktisch häufig entwertet hatte. Die Ende 1906 gegenüber Friedrich Naumann geäußerte Kritik, dass es das Zentrum als Mehrheitskraft versäumt habe, parlamentarische Kontrollmechanismen in der Kolonialfrage zu etablieren, könnte damit ein Vorbote der späteren „Eingebung“ gewesen sein, das parlamentarische Enquete- und Untersuchungsrecht künftig der Minderheit anzuvertrauen.84 Der grundlegende Gedanke eines parlamentarischen Minderheitenschutzes war also keine revolutionäre Neuheit. Insoweit boten die Verfassungs- und Parlaments­ tradition und das wissenschaftliche Schrifttum Inspirationsquellen: Ein Teil der anerkannten Minderheitenrechte diente – wie z. B. das mit lediglich einem geringen Quorum versehene Interpellationsrecht – bereits seit Jahren auch als Mittel der politischen Auseinandersetzung.85 Seit langem wurden die Minoritäten außerdem bei den Kommissionssitzen berücksichtigt, um den gesamtparlamentarischen Nutzen einer Vorberatung im kleineren Kreis durch die Berücksichtigung sämtlicher Ansichten zu erhöhen; Julius Hatschek sprach 1915 insoweit von einem „Prinzip der Minoritätenvertretung“, weil die Kommissionsmitglieder abweichend von der Geschäftsordnung des Reichstages nicht in den Abteilungen gewählt, sondern kurzerhand von den Fraktionen bestimmt wurden.86 Grundsätzlicher hatte sich Georg 84

Abdruck des Briefs bei M. R. Lepsius/W. J. Mommsen (Hg.), MWG II/5, 1990, S. 201 ff. Nicht von ungefähr verband J. Hatschek 1909 das „Interpellationsrecht“ im Titel seiner Schrift mit der „modernen Ministerverantwortlichkeit“. Auch für Deutschland erscheint der a. a. O. S.  139 gebotene Bericht als charakteristisch, dass ein spanischer Abgeordneter die „Interpellation ein Recht der Minorität nannte und nicht zugeben wollte, daß Interpellationen Zeitvergeudung wären, da die Aufgabe der parlamentarischen Körperschaft nicht bloß Gesetzgebung, sondern auch Kontrolle der Verwaltung sei“. 86 J. Hatschek, ParlamentsR I, 1915, S. 229. 85

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

Jellinek, Heidelberger Fakultätskollege und „Freund“87 Max Webers, 1898 mit dem „Recht der Minoritäten“ auseinandergesetzt. Nach einer historischen Einleitung gipfelte die Arbeit in der Warnung vor einer Gewaltherrschaft parlamentarischer Mehrheiten, auf die die „moderne Gesellschaft […] in einem immer weiter vorwärts schreitenden Process der Demokratisirung“ zwangsläufig zusteuere. Weil freiwillige Rücksichtnahme kaum zu erwarten wäre, verlangte Jellinek, der „furchtbare[n] Gefahr, die der gesammten Civilisation“ von einer ungehemmten Mehrheitsherrschaft drohe, durch die ausdrückliche Anerkennung von Minderheitenrechten zu begegnen.88 Während ihm politische Vetorechte vorschwebten, hielt er ein minoritäres Recht, „etwas positiv zu schaffen“, für „unmöglich“; schließlich wäre es eine „verkehrte Welt, wollte man innerhalb einer Kammer […] das Votum der Minderheit höher werthen als [das] der Mehrheit“.89 Wahrscheinlich kannte Max Weber diese Vorarbeiten; inhaltlich liegt es nahe, dass er sie bei seinen Überlegungen berücksichtigte. Außerdem erfüllte der Heidelberger Soziologe bewusst oder unbewusst ältere Forderungen, als er sich gegen eine Wahl der Kommissionsmitglieder durch die Mehrheit aussprach. 1890 hatte der Deutsch-Freisinnige Karl Schrader in der Debatte über den Verfassungsänderungsantrag Auer gewarnt, dass man andernfalls „nichts weiter […] als eine Parteikommission“ hervorbringe und damit den „Tod einer solchen Einrichtung“ – gemeint war das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht  – besiegele.90 Analoge Überlegungen finden sich in den 1870er Jahren für die preußische Eisenbahnenquête; der Fortschrittspolitiker Wilhelm Löwe monierte, dass man bei bloß zwei parlamentarischen Kommissionsmitgliedern der parteipolitischen Komplexität des Abgeordneten­ hauses Gewalt antue.91 87 Zum eigentümlichen Verhältnis M. Webers und G. Jellineks s. J. Kersten, G. Jellinek, 2000, S. 123 ff. 88 G. Jellinek, Minoritäten, 1898, S. 7 ff., 40 ff. 89 G. Jellinek, Minoritäten, 1898, S. 38 f. Schon im 19. Jahrhundert finden sich gegenüber einer reinen Mehrheitsherrschaft krit. Stimmen. So schrieb H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 86, dass „eine Majorität […], an sich betrachtet, keine Bürgschaft für ihre Vernünftigkeit oder dafür [besitze], dass sie Recht [habe…], wenn sie Recht“ mache. R. v. Mohl, StaatsR, VölkerR, Pol. I, 1860, S. 297 konstatierte in seinem Beitrag über die parlamentarische Geschäftsordnung, dass die Ausschüsse natürlich „ihre Anträge nach Mehrheit der Stimmen festzustellen“ hätten. Trotzdem sei es „billig und zweckmässig, dass auch Minderheiten Gelegenheit erhalten, ihre abweichenden Meinungen vorzutragen“. Zehn Jahre früher hatte er noch geurteilt, dass „alle und jede Bestimmungen der Frankfurter Geschäftsordnung, durch welche irgend einer Minderzahl von Mitgliedern das Recht eingeräumt [worden sei…], auch gegen den Willen der Mehrheit entweder einen Gegenstand zur Verhandlung zu bringen, oder die Verfahrensart etc. vorzuschreiben, beseitigt werden [müssten…]. Mit diesen Bestimmungen [sei…] nur allzuoft ein knabenhafter oder ränkesüchtiger Unfug getrieben worden“. Ja es sei „geradezu unvernünftig, einer kleinen Anzahl das Recht einzuräumen, eine große Versammlung zu einer von ihr nicht für gut erachteten Geschäftsbehandlung zu zwingen.“ „Wo von dem Grundsatze abgegangen [werde…], daß die Mehrheit und nur die Mehrheit Recht [habe, höre…] jede verständige Grundlage für Versammlungen überhaupt im Staate auf“ (R. v. Mohl, DtVjS 1850/2, 1 (30 f.)). 90 VerhRT VIII/1 (1890/92), S. 3293. 91 VerhPrAbgH XI/3 (1872/73), S. 1057.

1. Kap.: Parlamentarisierungsversuche im Weltkrieg (1917)

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Georg Jellineks Sorgen vor einer demokratischen Schreckensherrschaft leiten zu einem weiteren historischen Grund für die Ausgestaltung als Minderheiten­ recht über: War es im Konstitutionalismus angesichts seiner dualistischen Macht­ konzeption noch theoretisch richtig, Kontrolle und Opposition ausschließlich in die Hände der Kammermehrheit zu legen, verlor dieses Konzept mit einer Parlamentarisierung der Regierungsverhältnisse zwangsläufig seine Grundlage; schließlich verläuft der politische Graben zwischen Opposition und Gouvernement, der im Konstitutionalismus die Staatsorgane voneinander trennte, geradewegs durch die Mitte der Volksvertretung, sobald die Regierungsbildung der parlamentarischen Mehrheit zusteht.92 Indem Max Weber mit seiner Forderung, dass Reichstags­mandat und Bundesratszugehörigkeit künftig miteinander kompatibel sein sollten, entsprechende verfassungspolitische Desiderate erhob, erscheint die Transformation des Enquête- und Untersuchungsrechts in ein Minderheitenrecht als folgerichtige Konsequenz dieser beabsichtigten staatsrechtlichen Transition. Die entsprechende Notwendigkeit zeigte sich auch deutlich in der Geschichte, indem gouvernementale Mehrheiten eine wirkungsvolle Regierungskontrolle in der Regel vereitelt hatten. In diesem Sinne führt auch Hans H.  Klein Max Webers Konzept auf dessen realistische „Einsicht in den Verlauf der politischen Frontlinien im parlamentarischen Regierungssystem“ zurück.93 Mit seiner Entscheidung für ein informationelles Minderheitenrecht nahm Max Weber also Erfahrungen und Entwicklungstendenzen aus der deutschen Verfassungsgeschichte auf und trug gleichzeitig den Anforderungen eines kommenden parlamentarischen Regierungs­ systems Rechnung; eines Blicks in das europäische Ausland bedurfte es, anders als teils angenommen, hierzu nicht.94 d) Zwischenergebnis Für die zentralen Eckpfeiler von Max Webers Enquête- und Untersuchungsrechtskonzeption lassen sich in der parlamentarischen und Verfassungsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts Vorbilder, teils sogar direkte Vorläufer oder doch wenigstens deutliche Anregungen finden. Obwohl der 1864 geborene Max Weber kein Zeitgenosse der älteren Er­eignisse war, so dass sich ebenso wenig wie für die historische Bürokratiekritik sicher behaupten lässt, dass er tatsächlich sämtliche Facetten dieser Vorgeschichte kannte, 92 Zu diesem Ergebnis kommt auch BVerfGE 49, 70 (85 f.) für das Untersuchungsrecht als Minderheitsrecht. Allg. zu dieser Entwicklung durch den Parlamentarismus s. M. Brenner, in: HdbStR III3 2005, § 44 Rn. 60 und F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 47 ff. für die Weimarer Republik. 93 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 16. 94 Vgl. aber S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 45; G. A. Wolf, Strafjustiz, 2004, S. 41 oder A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 11, die in diesem Kontext auf die englische Entwicklung hinweisen.

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

legen es sein familiärer Hintergrund, seine Studienzeit und seine parteipolitische Ausrichtung doch ein Stück weit nahe, dass er wenigstens rudimentär mit den Schlaglichtern der jüngsten Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte vertraut war: Max Weber stammte aus einem politischen Elternhaus. Sein Vater hatte als 12-jähriger die 1848er Revolution erlebt. Nachdem er seit 1862 als Stadtrat in Erfurt tätig gewesen war, wechselte Max Weber senior als besoldeter Stadtrat nach Berlin.95 Von November 1868 bis Juli 1897 gehörte der promovierte Jurist mit kurzen Unterbrechungen dem preußischen Landtag und zwischen 1872 und 1884 ebenfalls rund zehn Jahre dem Reichstag an.96 Marianne Weber charakterisierte die politische Grundhaltung ihres Schwiegervaters als nicht „demokratisch, aber entschieden liberal“. Seine Stellung im Parlament in der Nationalliberalen Partei – u. a. war er Vorstandsmitglied – brachten ihn mit den „bedeutenden und erfahrenen Politikern“ seiner Zeit in Kontakt.97 „[Z]u den Berufspflichten des Vaters“ gehörten nach den Erinnerungen seiner Schwiegertochter auch „[r]egelmäßige Einladungen der Abgeordneten“, so dass sich die „Luft des Elternhauses immer dichter mit politischen Interessen [füllte], die von den jungen Söhnen begierig eingesogen“ wurden.98 Das Umfeld, in dem Max Weber aufwuchs, schilderte seine Ehefrau so: „Im Hause verkehren teils freundschaftlich, teils bei den üblichen ‚Gesellschaften‘ die Führer der nationalliberalen Partei, der edle Bennigsen, der bewegliche Miquel, dazu andere politisch gewichtige Persönlichkeiten, u. a. der Abgeordnete Rickert, ferner Friedrich Kapp, ein demokratisch liberaler Politiker älteren Typus, […] dann der Finanzminister Hobrecht und dessen Bruder, ein dem Dezernat Webers eingefügter bedeutender Architekt, Legationsrat Aegidy, zugleich akademischer Lehrer und Amanuensis von Bismarck im Auswärtigen Amte, Julian Schmidt, der originelle Literaturhistoriker als naher Freund, ferner die Sterne am Gelehrtenhimmel: Dilthey, Goldschmidt, Sybel, Treitschke und Mommsen. […] – Die Söhne des Hauses, für die sich die näheren Freunde der Eltern, vor allem Kapp, Julian Schmidt, Aegidy lebhaft interessieren, empfangen durch diesen Verkehr vielseitige Anregungen. Schon als Halbwüchsige dürfen sie bei den Abgeordnetenessen nach Tisch die Zigarren anbieten und erhaschen von den politischen Disputen, was ihnen irgend zugänglich ist. Namentlich den beiden Aeltesten, Max und Alfred, werden dadurch früh politische Fragestellungen nahegebracht und die Eigenart des politischen Getriebes veranschaulicht. Dazu kommen die täglichen Mitteilungen des Vaters über die Vorgänge in Parlament und Fraktion und die Führer der hohen Politik, vor allem Bismarck, den die Nationalliberalen damals sehr verehren. Was der junge Max derart an werdender Weltgeschichte unmittelbar in sich aufnahm, bewahrte sein Gedächtnis noch nach 40 Jahren mit gegenwartswarmer Frische.“99

Nach dieser politischen Sozialisation studierte Max Weber ab dem Sommersemester 1882 in Heidelberg Rechtswissenschaften, Nationalökonomie, Geschichte und Philosophie und hörte auch theologische Vorlesungen. 1883 leistete er seinen 95

M. Weber, Lebensbild3 1984, S. 35. B. Mann, BioHdbPrAbgH, 1988, S. 2442 f. 97 M. Weber, Lebensbild3 1984, S. 29. 98 M. Weber, Lebensbild3 1984, S. 36, 41. 99 M. Weber, Lebensbild3 1984, S. 41 f. 96

1. Kap.: Parlamentarisierungsversuche im Weltkrieg (1917)

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Wehrdienst in Straßburg, setzte aber auch das Studium fort.100 In dieser Zeit verkehrte der junge Weber im Hause eines angeheirateten Onkels, des liberalen Historikers Hermann Baumgarten, der ein „politischer und intellektueller Mentor und Vertrauter“ (Dirk Kaesler) wurde.101 Baumgarten hatte bei Max Duncker in Halle und Friedrich Dahlmann in Bonn Vorlesungen gehört. Nach dem Examen im März 1848 übernahm er im Dezember die Redaktion der Deutschen Reichszeitung. In dieser Zeit kam Baumgarten enger mit Georg Beseler, Johann Gustav ­Droysen, Max Duncker, Georg Gottfried Gervinus, Rudolf Haym und Georg Waitz in Kontakt. Nach dem Scheitern der Revolution näherte er sich gemeinsam mit Ger­ vinus den Demokraten an. 1861 ging Hermann Baumgarten, von der neuen Ära enttäuscht, zunächst von Berlin an die TU Karlsruhe und im Frühjahr 1872 nach Straßburg. Zuvor war er mit dem Radikalliberalismus der Fortschrittspartei ins Gericht gegangen und hatte sich für die Mitwirkung am Aufbau des Nationalstaats stark gemacht.102 In späteren Jahren wendete sich Baumgarten von Bismarck wegen dessen Herrschaftsstil ab.103 Marianne Weber charakterisierte das Verhältnis ihres Mannes zu seinem Onkel so, dass der „mitteilsame, aber vereinsamte Gelehrte […] sich gegen den Neffen wie zu einem Gleichaltrigen über alle politischen Vorgänge“ ausgesprochen habe. Indem er „seine häufige Erregung über den politischen Kurs der achtziger Jahre in ihn hinein[geschüttet]“ habe, habe er den jungen Weber „[z]weifellos beeinflußt“.104 1884 nahm Max Weber sein Studium wieder in Berlin auf und beendete es schließlich in Göttingen. Zu seinen Berliner Lehrern gehörten Georg Beseler (Privatrecht), Ludwig Aegidi (Völkerrecht), Rudolph v. Gneist (deutsches und preußisches Staatsrecht) sowie Heinrich Brunner und Otto v. Gierke (deutsche Rechtsgeschichte). Außerdem hörte er Vorlesungen bei Theodor Mommsen und Heinrich v. Treitschke.105 Der junge Weber kam also durch sein Elternhaus, die politische Arbeit seines Vaters, sein eigenes Studium und den Onkel Hermann Baumgarten mit Liberalen unterschiedlicher Couleur in Kontakt. Der 75-jährige Georg Beseler, bei dem Max Weber Privatrecht hörte, kannte das parlamentarische Enquête- und Untersu­ chungsrecht noch aus eigener Anschauung aus der Frankfurter Nationalversammlung. Ein anderer akademischer Lehrer Webers, Theodor Mommsen, hatte Ende 1863 den Antrag zur Untersuchung der Wahlmachinationen mitunter­zeichnet.106 100

D. Kaesler, M. Weber3 2003, S. 14 f. D. Kaesler, M. Weber3 2003, S. 16. 102 Abdruck der Schrift von 1866 „Der deutsche Liberalismus. Eine ‚Selbstkritik‘“ bei H. Baumgarten, Aufsätze und Reden, 1894, S. 76 ff. 103 s. W. Wilhelm, ADB LV, 1910, S. 437 ff. und O. v. Stolberg-Wernigerode, NDB I, 1953, S. 658 f. und zu Baumgartens politischer Haltung M. Weber, Lebensbild3 1984, S. 86 ff.: „Baumgarten, dem sich keine neuen Wege zu politischer Mitarbeit öffneten, sah mit […] scharfsichtiger Klarheit die den neuen Zustand begleitenden Schatten. […] Dazu erfüllte ihn die Gefährdung seiner Verfassungsideale durch den Koloß Bismarck mit steigendem Miß­behagen“. 104 M. Weber, Lebensbild3 1984, S. 85. 105 D. Kaesler, M. Weber3 2003, S. 16. 106 Vgl. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr. 10, S. 23. 101

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

Durch die persönlichen Kontakte zu solchen Größen des 19. Jahrhunderts und das familiäre Umfeld ist es nicht unwahrscheinlich, dass der politisch und historisch interessierte Student der Rechtswissenschaften Weber auch Art.  82 PrVerf  1850 nicht bloß kannte, sondern ebenfalls um dessen potentiellen Wert wusste. Ein Indiz für diese These liefert ein Brief an Friedrich Naumann: Als nach der DailyTelegraph-Affäre Überlegungen zu der in Art. 17 Satz 2 RVerf 1871 versprochenen Kanzlerverantwortlichkeit grassierten, propagierte Max Weber Ende 1908, dem „Reichstag das Enquêterecht zu verschaffen“. Eckpunkte dieser Forderung waren die „soweit nötig eidliche (oder wenn man dies der Justiz überlassen will) eidesstattliche Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen vor der Kommission“, eine Wahl ihrer Mitglieder unter Berücksichtigung auch der Minderheiten sowie die Pflicht der Untersuchungskommission, „alle Zeugen und Sachverständigen“ anzuhören und über „alle Fragen“ zu vernehmen, „welche eine Minderheit von 1/4 der Mitglieder verlangt[e]“. Anlässlich dieses Vorschlags, der Minderheitenschutz und zwangsbewehrte Befugnisse bereits antizipierte, urteilte Max Weber über Art. 82 PrVerf 1850, dass der preußische „Landtag […] dies unter Umständen fundamental wichtige Recht“ eigentlich schon besitze, „aber verstümmelt“, weil er „im Gegensatz zum englischen Parlament […] die Zeugen usw. nicht selbst vernehmen“ könne.107 Obwohl dieser unzutreffende Nachsatz andeutete, dass Max Weber wenigstens zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit sämtlichen Facetten des preußischen Enquête- und Untersuchungsrechts vertraut war, steht ungeachtet solcher Details fest, dass er in politischer Hinsicht ein Kind seiner Zeit war; nichts anderes gilt für seinen Entwurf eines Enquête- und Untersuchungsrechts des Reichstags, in dem Weber Überkommenes mit künftigen Anforderungen kongenial kombinierte. Daran ändern gelegentliche Irrtümer nichts; zudem dürfte Webers durch die Wahlmanipulationsuntersuchung desavouierte Fehl­einschätzung von Art. 82 PrVerf 1850 den Entwurf der Untersuchungsbefugnisse eher positiv beeinflusst haben. 3. Bewertung Max Webers Entwurf ist also keineswegs ein geschichtsloser Neuanfang, sondern vielmehr eine konsequente Fortschreibung der enquête- und untersuchungsrechtlichen Anfänge, eine Reaktion auf die Negativerfahrungen mit den regierungsgeleiteten Erhebungen im Kaiserreich und eine Projektion auf die kommenden Anforderungen  – insbesondere einer Regierungskontrolle  – in einem parlamentarischen Staatswesen. Um nicht missverstanden zu werden: Es soll auf keinen Fall behauptet werden, dass Max Weber die oben willkürlich ausgewählten Beispiele aus der Bürokratiekritik des 19. Jahrhunderts oder die Entstehung und Entwicklung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts tatsächlich kannte oder 107

Dazu W. J. Mommsen, Politik3 2004, S.  158 ff. und in Fn.  59 (Zitat). Der Verweis auf „Art. 81, Abs. III“ zeigt, dass Weber mit dem Problem in Grundzügen vertraut war.

1. Kap.: Parlamentarisierungsversuche im Weltkrieg (1917)

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sich sogar aus ihnen bedient hat. In seiner Konzeption spiegeln sich trotzdem gewisse historische Entwicklungslinien und allgemeinpolitische Zeitströmungen unverkennbar wider, die seine Vorschläge als Teil einer erstaunlich kontinuierlichen Entwicklung erscheinen lassen. Ein politisch interessierter Zeitgenosse musste die zitierten Schriften zu allem Überfluss überhaupt nicht gelesen haben oder ein intimer Kenner der Sitzungsprotokolle der preußischen Kammern oder des Reichstags sein, um die Entwicklung der Bürokratiekritik oder des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts in ihren groben Zügen zu überblicken. Ob der politisch und historisch interessierte und gebildete Max Weber einzelne oder mehrere der aufgeführten Quellen tatsächlich kannte, spielt deswegen keine Rolle. Die kritische Sicht auf die gut geölte „Bürokratenmaschinerie“ wird Weber als allgemeiner Aspekt des zunehmend progressiven Zeitgeistes kaum fremd gewesen sein. Der zweite Grundpfeiler seiner Enquêterechtskonzeption, das Parlament mit der Erschließung eigener Informationsquellen von bestenfalls zurückhaltenden, wahrscheinlich unvollständigen und im ärgsten Fall falschen Regierungsauskünften zu emanzipieren, um ihm eine eigenständige Politik und Kontrolle der Exekutive zu ermöglichen, ist so alt wie die Forderung eines Enquête- und Untersuchungsrechts selbst. Max Weber kreierte seinen Entwurf also 1917 keineswegs im verfassungspolitischen oder geistesgeschichtlichen Vakuum.108 Er war kein genialer Schöpfer, der ohne Vorbilder oder Anregungen etwas vollkommen Neues erschaffen hätte. Stattdessen führte er am Scheideweg von Monarchie und Republik die unterschiedlichen Entwicklungslinien und Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte virtuos mit den Anforderungen der neuen Zeit zusammen und erwarb sich mit dieser Leistung zu Recht den imposanten Ruf als „geistiger Vater des Enqueterechts in Deutschland“,109 indem sein Konzept bis auf die Beweiserhebungsöffentlichkeit alle wesentlichen Strukturmerkmale antizipierte.110

IV. Epilog: Das Scheitern von Max Webers Vorschlägen Trotzdem scheiterten Max Webers Vorschläge vorerst. Obwohl er die Realisierungschancen seiner Reformpläne im kaiserlichen Deutschland durchaus realistisch einschätzte, forderte er die Politik vergeblich dazu auf, keinesfalls wegen 108 Zur historischen Verwurzelung von Webers Vorschlägen vgl. – ohne nähere Begründung – S.  Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S.  45. s. G. Hübinger, in: Hanke/Mommsen (Hg.), Herrschaftssoziologie, 2001, S. 101 (112) zu der nicht unwahrscheinlichen These, dass er auf E. Zweigs vier Jahre älteren Beitrag in der Zeitschrift für Politik zurückgegriffen haben könnte. 109 s. etwa K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  13 sowie ferner F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 73 und W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (315 in Fn. 31), die beide ein Minderheitsrecht erstmals bei M. Weber sehen, oder zuletzt B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 22 und H. Butzer, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. A Rn. 1. s. im Ansatz ähnl. wie hier C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 30. 110 S. Schröder, ZParl 1999, 715 (717).

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

der Unsicherheit, ob alles Erforderliche tatsächlich zu erreichen wäre, von der dringenden Forderung, die „Macht des Beamtentums“ endlich zu brechen, abzu­ sehen.111 Trotz dieser Mahnung, die Aufrufen aus den Verfassungsberatungen des Norddeutschen Reichstags ähnelte,112 übernahm der Verfassungsausschuss das­ Enquête- und Untersuchungsrecht nicht in seine Reformforderungen.113 In welchem Maße die alten Ressentiments gegen parlamentarische Informa­ tionsrechte fortbestanden, zeigte sich in der Beratung über das Recht des Reichstags, bei den Legitimationsprüfungen künftig „von den Staatsbehörden unmittelbar Auskunft zu verlangen und die Amtsgerichte um Zeugenvernehmungen, auch eidliche, zu ersuchen“.114 Während die Befürworter mit „praktischen Notwendigkeiten“ argumentierten und auf „Interessen der Geschäftsvereinfachung“ hinwiesen, erhob die Gegenseite u. a. das altbekannte „prinzipielle Bedenken“, dass jede Befugnis, „von den Behörden unmittelbar Auskunft zu verlangen und Zeugenvernehmungen durch direktes Ersuchen an die Amtsgerichte herbeizuführen, […] ein Ausfluß der vollziehenden Gewalt“ wäre; so betrachtet wäre der Vorschlag ein erster „Schritt zur Verwischung der Abgrenzung zwischen gesetzgebender und vollziehender Gewalt“. Föderale Bedenken gegen unmittelbare parlamentarische Nachfragen bei Landesstellen meldete der Direktor des Reichsamts des Innern Theodor Lewald an, weil die Befragung „nicht nur für den Befragten selbst mißlich[, …] sondern auch mit dem in dem betreffenden Bundesstaate geltenden öffentlichen Recht unvereinbar sein“ könne. In der Vergangenheit habe sich deswegen die „Reichsverwaltung […] aus Rücksicht vor den Hoheitsrechten der Einzelstaaten stets des unmittelbaren Verkehrs mit den nachgeordneten Landesbehörden“ enthalten. Es sei mehr als fraglich, „ob die Bundesregierungen in die Durchbrechung des bisherigen Grundsatzes einwilligen würden“. Zudem laufe der Reichstag Gefahr, seine Ersuchen „bei der Mannigfaltigkeit der einzelstaatlichen Behördenorganisationen“ an eine unzuständige Stelle zu richten oder „auf Grund einer nicht völlig zutreffenden unmittelbaren Auskunft“ zu entscheiden. Diesen konservativen Mahnungen zum Trotz hielt der Verfassungsausschuss an dem Vorschlag fest; Gewaltenteilungssorgen wies man zurück, weil der Reichstag lediglich „durch Requisition der Behörden Erhebungen veranlassen, nicht selbst Erhebungen vornehmen, z. B. nicht durch einen Ausschuß […] Zeugen vernehmen lassen“ solle.115 Mit diesen antiquierten Vorstellungen selbst von Befürwortern war das von Max Weber propagierte Selbstinformationsrecht absolut inkompatibel.

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Zu dem Gesetzentwurf W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 192, 276 f. s. 6. Teil 2. Kap. A. II. 113 s. die Berichte des Verfassungsausschusses in VerhRT XIII/2 (1914/18), Nr. 895, S. 1666 ff., Nr. 1104, S. 1870, Nr. 1125, S. 1911 sowie Nr. 1681, S. 2357 ff. 114 Vgl. VerhRT XIII/2 (1914/18), Nr. 1104 S. 1883 oder A. Arndt, DJZ 1917, Sp. 537 (539) (berichtend). 115 VerhRT XIII/2 (1914/18), Nr. 1104, S. 1878 ff. 112

2. Kap.: Parlamentarische Informationsrechte in der Republik

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Nach den Beschlüssen des Verfassungsausschusses kam die Reichsreform vorerst zum Stillstand. Erst am 26. Oktober 1918 beschloss der Reichstag in seiner letzten Sitzung etliche Verfassungsänderungen. Diese „Oktoberverfassung“ kam für einen gewaltlosen Übergang aber schon zu spät, als wenige Tage später die Novemberrevolution ausbrach.116

2. Kapitel

Parlamentarische Informationsrechte in der Republik A. Das Enquête- und Untersuchungsrecht des Art. 34 RVerf 1919 Konnten die Forderungen Max Webers auch vorerst nicht reüssieren, stellte sich der Erfolg doch nachträglich ein: Schon auf den ersten Blick trägt Art.  34 RVerf 1919, vergleicht man diese Vorschrift oberflächlich mit den Vorschlägen von 1917, seine Handschrift. Freilich lässt sich auch ein gewisser Einfluss von Hugo Preuß erkennen, der für den Regierungsentwurf zunächst als Staatssekretär des Innern und dann als Reichsinnenminister die Verantwortung trug.

I. Art. 34 RVerf 1919 im Überblick Max Webers Kernforderungen entsprechend erhielt der Reichstag in Art.  34 RVerf 1919 das Recht und auf Antrag eines Abgeordnetenfünftels die Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen, die – wie es Hugo Preuß 1917 verlangt hatte – in öffentlicher Verhandlung die von der Mehrheit oder den Antragstellern für erforderlich gehaltenen Beweise erheben sollten. Mit Zweidrittelmehrheit konnte der Ausschuss die Öffentlichkeit ausschließen. Mitgliederzahl und näheres Verfahren überließ Art. 34 Abs. 1 Satz 4 RVerf 1919 der Geschäftsordnungsautonomie des Reichstages. Der zweite Absatz verpflichtete Verwaltungsbehörden und Gerichte, Beweiserhebungsersuchen der Untersuchungsausschüsse Folge zu leisten; Behördenakten waren ihnen auf Verlangen vorzulegen. Beides hatte Hugo Preuß bereits 1917 vorgeschlagen. Für die Befugnisse der Untersuchungsausschüsse und ersuchten Behörden verwies Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 auf eine sinngemäße Anwendung der Strafprozeßordnung. Abweichend davon blieben Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis unberührt.

116

C. Gusy, WRV, 1997, S. 8 ff.

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

II. Die Entstehung von Art. 34 RVerf 1919 1. Regierungsvorarbeiten Bevor die Weimarer Nationalversammlung an das Verfassungswerk gehen konnte, musste sie dem revolutionierten Gemeinwesen – ähnlich wie das Pauls­ kirchenparlament 1848  – eine vorübergehende Ordnung geben. Mit dem Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt vom 10.  Februar 1919117 entledigte sich die Versammlung dieser Pflicht und beanspruchte zugleich die ausschließliche Kompetenz dazu, „die künftige Reichsverfassung sowie auch sonstige dringende Reichsgesetze zu beschließen“ (§ 1 Vorl­Reichs­GewG  1919). Von einer Vereinbarung mit anderen Instanzen, etwa den Gliedstaaten oder ihrer im Staatenausschuss wiedererstandenen Vertretung, war anders als vor 70 Jahren keine Rede.118 Aber obwohl § 4 Abs.  1 Satz  1 Vorl­Reichs­GewG  1919 ausdrücklich bestimmte, dass die „künftige Reichsverfassung […] von der Nationalversammlung verabschiedet“ werden sollte, liegen die Wurzeln des Weimarer Verfassungswerks keineswegs ausschließlich im parlamentarischen Raum. Maßgeblich war vielmehr ein Entwurf des Rats der Volksbeauftragten, den der liberale Berliner Verfassungsrechtler Hugo Preuß ausgearbeitet hatte. a) Vorberatungen im Reichsamt des Innern Hugo Preuß, der bis 1918 der Fortschrittlichen Volkspartei angehört und sich nach der Revolution der Deutschen Demokratischen Partei angeschlossen hatte,119 war Mitte November 1918 zum Staatssekretär des Innern avanciert;120 auf seinen Vorschlag hin wurde zunächst ein kleiner „Beirat mit den Vorarbeiten für den Entwurf einer deutschen Verfassung“ betraut.121  – Auf dieser Grundlage tagte zwischen dem 9. und dem 12. Dezember 1918 eine Kommission von 13 Mitgliedern im Reichsamt des Innern. Als Aufgabe dieses „Beirates“, der wegen der Verhinderung des Heidelberger Staatsrechtlers Gerhard Anschütz mit Ausnahme Max

117

Zu Länderkonferenz und Staatenausschuss s. G. Schulz, Demokratie I2 1987, S.  144 f., 154 ff. 118 In der einfachen Gesetzgebung besaß die Versammlung „nicht mehr die souveräne Stellung einer Konstituante“, sondern benötigte die Zustimmung des Staatenausschusses, eines nach G. Anschütz, DJZ 1919, Sp. 199 (203) „durchaus bundesratsartigen“ Elements, „zusammengesetzt aus instruierten Vertretern der Einzelstaaten“, mit dem das „Bundesratssystem zunächst provisorisch in [das…] Staatsrecht wieder eingeführt“ wurde. 119 Vgl. C. Gusy, WRV, 1997, S. 69; H. Bollmeyer, WeimNV, 2007, S. 219 f.; W. J. Mommsen (Hg.), StA MWG I/16, 1991, S. 180. 120 M. Weber war ebenfalls für diesen Posten im Gespräch. Vgl. W. J. Mommsen, Politik3 2004, S. 357 f.; G. Schulz, Demokratie I2 1987, S. 123 f. 121 s. den Vorschlag in der Kabinettssitzung vom 3. Dezember 1918, in: W. Conze/E. Matthias (Hg.), Quellen VI/2, 1969, S. 251 f. und dazu H. Bollmeyer, WeimNV, 2007, S. 221.

2. Kap.: Parlamentarische Informationsrechte in der Republik

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Webers ausschließlich aus amtlichen Vertretern bestand,122 charakterisierte Hugo Preuß eine „vertrauliche Aussprache“, um in allgemeiner Form Material für eine spätere Ausarbeitung der Verfassung zu sammeln. „Abstimmungen“ sollten nicht stattfinden, Vorentscheidungen nicht getroffen werden.123 Ähnlichkeiten mit dem Herrenchiemseer Verfassungskonvent sind unübersehbar. In den Beratungen über das als „Volkshaus“ firmierende Reichsparlament propagierte Weber erneut sein parlamentarisches Selbstinformationsmodell unter Minderheitskontrolle; Details kamen dabei nicht zur Sprache. In der Frage, ob eine Geschäftsordnungsregelung ausreiche oder ein Reichsgesetz erforderlich wäre, favorisierte er die zweite Variante, weil sich ein Kontrollrecht der Minderheit nur auf gesetzlichem Wege absichern lasse. Wie schon in den Vorarbeiten für Conrad Haußmann von 1917 fiel auch dieses Mal unter den Tisch, dass sich das demokratische Mehrheitsprinzip, soweit es Teil der Verfassung werden sollte, keineswegs mit einem einfachen Gesetz beiseite schieben ließ. U. a. dieser Mangel sollte in den Anfangsjahren der Republik einer Bremer Regelung zum Verhängnis werden.124 In den Berliner Beratungen kamen die Sachverständigen „überein, daß dem Volkshaus das Enquête-Recht verfassungsmäßig gesichert werden müsse, sowie daß das Verfahren durch ein Reichsgesetz zu regeln sei“, weil bei einer schlichten Geschäftsordnungsregelung die „Mehrheit des Volkshauses die Minderheit überstimmen“ könne.125 Bloß beiläufig tangierte Max Weber die ihm zur Kontrolle der parlamenta­ rischen Mehrheit besonders am Herzen liegende Kollegialenquête, als er auf eine Forderung von Hugo Preuß, die Abgeordnetenimmunität verfassungsrechtlich abzusichern, erwiderte, dass es für die „Enquête der Minderheiten […] eine ausschlaggebende Frage [sei], ob dadurch der parlamentarischen Verderbnis zu Leibe gegangen werden könne“. Zu seiner Überzeugung durfte es keinesfalls soweit kommen, dass die „Mitglieder des Volkshauses ein unbedingtes Zeugnisverweigerungsrecht auch bezüglich der Wahlmachenschaften besäßen, an denen sie selbst beteiligt seien“. Auf diese jedenfalls unbenannte, möglicherweise aber auch unerkannte Reminiszenz an die preußische Wahlmanipulationsuntersuchung versicherte der Staatssekretär des Innern, dass Immunität und Indemnität einer Untersuchung keine Grenzen ziehen sollten. Vielmehr schwebe ihm eine „Regelung durchaus im Sinne des englischen Rechts“ vor, „wonach derjenige, der der Vorladung des Hauses oder seines Ausschusses nicht folge, wegen Privilegienbruchs (breach of privileges) bestraft werde“.126 122

Vgl. W. J. Mommsen, Politik3 2004, S.  380. G. Anschütz publizierte seine Überlegungen zum „Aufbau der obersten Gewalten im Entwurf der deutschen Reichsverfassung“ in DJZ 1919, Sp. 199 ff. Zur personellen Zusammensetzung s. H. Bollmeyer, WeimNV, 2007, S. 221 sowie ferner C. Gusy, WRV, 1997, S. 70 f. 123 Vgl. H. Preuß’ Eröffnungsrede (W. J. Mommsen (Hg.), StA MWG I/16, 1991, S. 1). 124 Vgl. vorlStGH, AÖR n. F. 4 (1922), 210 (214, 218). 125 W. J. Mommsen (Hg.), StA MWG I/16, 1991, S. 16 (Hervorhebung nur hier). 126 W. J. Mommsen (Hg.), StA MWG I/16, 1991, S. 17.

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

Hugo Preuß’ Bitte, nach der Konferenz „mit größtmöglicher Beschleunigung Entwürfe dieser Normativbestimmungen an ihn gelangen zu lassen“,127 kam Max Weber wenig später nach.128 Wie schon 1917 stand auch dieses Mal das Enquêteund Untersuchungsrecht im Vordergrund  – wenngleich jetzt nur in Gestalt von „Garantien der Verfassungen der Freistaaten und Gemeinden“. Der Entwurf sah neben einer parlamentarisch-republikanischen Verfassungsgarantie vor, dass „jeder Minderheit von mindestens 1/5 der Mitglieder der Volksvertretung das Recht“ gesichert werde, „die Einsetzung einer Untersuchungskommission zu verlangen, in welcher sie verhältnismäßig vertreten [sein…] und das Recht eigner Fragestellung an Zeugen und Sachverständige [haben sollte…], wenn die Gesetzlichkeit oder Integrität der Verwaltung angezweifelt [würde…]. Die Untersuchungsprotokolle [sollten…] vollinhaltlich zu veröffentlichen“ sein. Analoge Garantien verlangte Max Weber auf kommunaler Ebene; hier sollte eine „Minderheit von mindestens 1/10 der Gemeindebürger oder von mindestens 1/5 der gewählten Gemeindekörperschaft“ antragsberechtigt sein. Flankieren wollte er diese Gewährleistungen mit dem Recht eines Zehntels der Landtagswahlberechtigten oder eines Landtagsfünftels zur „Anrufung des Reichs auf Grund der Behauptung, daß die […] garantierten Rechte verletzt seien“.129 b) Die Entstehung des Regierungsentwurfs vom 21. Februar 1919 Auf der Grundlage dieser Vorarbeiten entstand, vorerst noch ohne Grundrechtsteil, der erste Verfassungsentwurf vom 3. Januar 1919.130 Dieser Vorentwurf blieb für das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht deutlich hinter dem späteren Art. 34 RVerf 1919 zurück.131 Vor allem sollten Volks- und Staatenhaus nach § 47 das Recht und auf Verlangen eines Fünftels ihrer Mitglieder die Pflicht zur 127

W. J. Mommsen (Hg.), StA MWG I/16, 1991, S. 7 ff. Am 20. Dezember 1918 übersandte M. Weber Entwürfe zur „Rezeption von neu sich bildenden Staaten (‚Teilung Preußens‘)“ und die „Garantien der Verfassungen der Freistaaten und Gemeinden“ dem im Reichsamt des Innern für Verfassungsfragen zuständigen Alfred Schulze, am Weihnachtstage dann auch H. Preuß (W. J. Mommsen (Hg.), StA MWG I/16, 1991, S. 185). 129 W. J. Mommsen (Hg.), StA MWG I/16, 1991, S.  50 f. Abdruck auch bei ders., Politik3 2004, S. 386 in Fn. 88. 130 Vgl. H. Bollmeyer, WeimNV, 2007, S. 228. 131 „§ 47. Jedes Haus des Reichstags hat das Recht und auf Verlangen von einem Fünftel seiner Mitglieder die Pflicht, Ausschüsse zur Untersuchung von Tatsachen einzusetzen, wenn die Gesetzlichkeit und Lauterkeit von Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen des Reichs angezweifelt wird. Diese Ausschüsse erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten. Alle Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten. Alle behördlichen Akten sind diesen Ausschüssen auf Verlangen vorzulegen.“ Abdruck bei H. Triepel, QuellenSlg5 1931, S.  6 ff., 10 ff. Der Vorentwurf (Entwurf I) stimmte insoweit mit dem zweiten Entwurf vom 20. Januar 1919 überein. s. zu dem entsprechenden § 52 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 217. 128

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Einsetzung von „Ausschüsse[n] zur Untersuchung von Tatsachen“ nur dann haben, wenn „Gesetzlichkeit oder Lauterkeit von Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen des Reichs angezweifelt“ würden. Max Weber hatte sich also vorerst nicht mit seiner Forderung eines thematisch unbegrenzten Selbstinformationsrechts durchgesetzt.132 Stattdessen beschränkte sich der Entwurf auf ein reines politisches Untersuchungsrechts. Immerhin war Preuß Webers Konzeption in der Frage des Minderheitenrechts gefolgt und hatte, wenn auch um die Beschwerderechte kupiert, die Garantie für das Landesstaats- und Kommunalrecht übernommen.133 Das Enquêterecht des Reichstages, also das weniger politisierte Recht der Volksvertretung, sich zur Vorbereitung gesetzgeberischer Entscheidungen etc. zu informieren, hatte Hugo Preuß dagegen eindeutig fallenlassen und die von Max Weber für die reichsverfassungsrechtliche Mindestgarantie gegenüber Ländern und Gemeinden konzipierten Limitierungen kurzerhand als Vollregelungen auf die Reichsebene übertragen.134 Diese Einschränkungen wiesen das neue Informationsrecht schon auf den ersten Blick als reines Regierungs- und Exekutivkontrollinstrument der Volksvertretung aus. Stärker hätte der Gegensatz zu dem historischen „Vorbild“ des Art. 82 PrVerf 1850 nicht sein können, dem von der gouvernementalen Seite gerade diese Facette abgesprochen worden war. Gemeinsam mit dem durch das preußische Staatsministerium früher „bevorzugten“ Enquêteaspekt war auch die von Max Weber zum Schutz der Minderheit beabsichtigte Kollegialenquête unter den Tisch gefallen. Wenigstens rezipierte der Vorentwurf mit dem hypertrophierten Kontrollaspekt ebenfalls ein Hauptanliegen Webers, mit dessen Hilfe der Heidelberger Soziologe die Vorherrschaft der Bürokratie brechen wollte. Genau genommen trieb Hugo Preuß mit der Verbindung von Minderheitenrecht und ausschließlicher Regierungskontrolle die informationsrechtliche Reaktion auf die Tatsache, dass die Regierung künftig von der Volksvertretungsmehrheit getragen wurde, auf die Spitze. Wie sehr sein Ansatz in dieser radikalen Ausschließlichkeit zu kurz griff, beweist die zwangsläufige Konsequenz, dass das Parlament für alltägliche Geschäfte wieder auf alte Informationsmechanismen angewiesen sein würde. Der einzige Ausweg aus dieser Misere hätte ein freiwilliges „natürliches Enquêterecht“ sein können. Trotzdem lässt sich Hugo Preuß bloß ein scheinbarer Widerspruch mit seinen eigenen Vorschlägen von 1917 vorwerfen, in denen er ein allgemeines Enquêteund Untersuchungsrecht ohne jede thematische Einschränkung als „unentbehrliches Mittel, den wirklichen Tatbestand kennen zu lernen und seine Gestaltung praktisch zu beeinflussen“, angepriesen hatte. Die Regierungskontrollfunktion, 132 Zu weit geht deswegen S. Schröder, ZParl 1999, 715 (717 f.) in der Annahme, der Entwurf habe „deutlich die Handschrift Webers“ getragen. 133 § 12 Nr. 4 lautete: „Die Volksvertretung sowie die Vertretungskörperschaften in den Gemeinden und Gemeindeverbänden haben das Recht und auf Verlangen von einem Fünftel ihrer Mitglieder die Pflicht, Ausschüsse zur öffentlichen Untersuchung von Tatsachen einzusetzen, wenn die Gesetzlichkeit oder Lauterkeit von Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen angezweifelt wird.“ (Abdruck bei H. Triepel, QuellenSlg5 1931, S. 7, 11). 134 Vgl. W. J. Mommsen, Politik3 2004, S. 388.

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

die das Untersuchungsrecht jetzt allein ausmachen sollte, klang damals allenfalls in der Randbemerkung an, dass die „preußische Reaktionsregierung“ schon gewusst habe, „was sie tat, als sie eine entsprechende Bestimmung aus dem Verfassungsentwurf der [Frankfurter] Nationalversammlung“ entfernen wollte.135  – Diese Überlegungen standen damals unter einem vollkommen anderen Stern. Bei den Vorschlägen für die OHL hatte noch die „Ueberwindung des Obrigkeitssystems“ durch Ministerverantwortlichkeit und Parlamentarismus im Vordergrund gestanden.136 Zu diesem Zweck sollte ein als Mehrheitsrecht ausgestaltetes Enquête- und Untersuchungsrecht einen Beitrag leisten; einen radikalen Bruch mit der bestehenden Ordnung hatte Hugo Preuß bewußt vermieden.137 1919 hatten sich die Machtverhältnisse mit der Vorentscheidung für die parlamentarische Demokratie grundlegend verändert, so dass sich auf eine andere Qualität von Auskünften hoffen ließ, die der Reichstag von einer parlamentarischen Regierung – Leo Wittmayer sprach anschaulich von „Fleisch vom Fleisch, […] Blut vom Blut des Reichstags“138 – erhalten würde. Im ersten Schein der anbrechenden parlamentarischen Morgenröte hielt Hugo Preuß die enquêterechtliche Dimension angesichts dessen offenbar für unnötig. Möglicherweise wollte er aber auch einfach das Minderheitenrecht auf die Kontrollfunktion beschränken. Passend dazu propagierte er sein Konzept eines politischen Untersuchungsrechts Anfang April 1919 noch einmal im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung, um ein Ausufern der neuen parlamentarischen Befugnis zu verhindern.139 Gerichte und Verwaltungsbehörden sollte der Vorentwurf dazu verpflichten, Beweiserhebungsersuchen der Ausschüsse Folge zu leisten. „Behördenakten“, in der damaligen Diktion also auch Gerichtsakten, sollten auf Verlangen vorzulegen sein. Die spätere Verweisung auf das Strafprozessrecht, die angesichts der von Max Weber befürworteten Befugnisse durchaus nahelag, fehlte noch. Überhaupt sah der Entwurf keine unmittelbaren Zwangsbefugnisse der künftigen Untersuchungsausschüsse gegenüber Dritten vor; wahrscheinlich sollte das Requisitionsrecht gegenüber Behörden und Gerichten diese Lücke füllen; entsprechend äußerte sich in den späteren Beratungen der Geheime Regierungsrat im Reichsjustizministerium Zweigert.140 Ungeachtet dessen war der Entwurf von einem gewissen Misstrauen gegenüber dem Parlament getragen, das Max Webers Vorstellungen völlig abging. Entwurf und Denkschrift übermittelte Hugo Preuß am 11.  Januar 1919 den Volksbeauftragten, die sich drei Tage später mit der Verfassungsfrage befassten.141 Den Schwerpunkt der Beratungen, in denen nicht sämtliche Artikel systematisch 135 H. Preuß, Staat, 1926, S.  320. Abdruck der „Zusätze“ vom 1.  März 1849 bei P. Roth/ H. Merck (Hg.), QuellenSlg II, 1852, Nr. 74, S. 342 (343 f.). 136 H. Preuß, Staat, 1926, S. 296 ff., 298. 137 Vgl. L. Albertin, in: ders./Müller (Hg.), H. Preuß Schriften I, 2007, S. 1 (57). 138 L. Wittmayer, WRV, 1922, S. 320. 139 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 265. 140 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 266. 141 H. Bollmeyer, WeimNV, 2007, S. 232.

2. Kap.: Parlamentarische Informationsrechte in der Republik

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durchgesprochen, sondern bloß Einzelfragen herausgegriffen wurden, bildeten die Zukunft der Gliedstaaten, das Staatenhaus sowie Amt und Stellung des Reichspräsidenten.142 Friedrich Ebert drang außerdem auf die Aufnahme von Grundrechten in den Entwurf, von der Hugo Preuß nach den leidvollen Erfahrungen von 1848/49 abgesehen hatte.143 In der Überarbeitung schwächte er seine Neugliederungsforderungen ab,144 widmete den Grundrechten einen eigenen Abschnitt,145 reduzierte maßvoll die Macht des Reichspräsidenten und kürzte die Legislaturperiode auf drei Jahre.146 Das in diesem zweiten Entwurf mittlerweile als § 52 firmierende Untersuchungsrecht überstand die Prozedur unbeschadet.147 Auf Beschluss der Reichsleitung wurden die Regierungen zu einer „unverbindlichen Aussprache“ eingeladen.148 Auf dieser Gliedstaatenkonferenz, die mit fast 130 Teilnehmern am 25. Januar 1919 im Reichsamt des Innern stattfand, unterlagen – wie nicht anders zu erwarten – insbesondere die Neugliederungsvorstellungen scharfer Kritik. Von bayerischer Seite wurde ein Staatenausschuss gefordert, der gemeinsam mit der Regierung ein „vorläufiges Reichsgrundgesetz“ ausarbeiten und der Nationalversammlung vorlegen sollte.149 Im Anschluss an diese Beratungen wurden die föderalen Entwurfselemente abgeändert. Weitere Modifikationen folgten durch die am 12. Februar 1919 neugebildete Reichsregierung.150 Weil das ursprüngliche Staatenhaus auf Drängen der Gliedstaaten einem Reichsrat gewichen war, handelte Art. 55 Abs. 1 Entwurf III nur noch davon, dass der „Reichstag […] das Recht und auf Antrag von einem Fünftel seiner Mitglieder die Verpflichtung [haben sollte], Untersuchungsausschüsse einsetzen“. Die Beschränkung auf die Untersuchung der Gesetzlich- und Lauterkeit des exekutiven Handelns 142 Vgl. W. Conze/E. Matthias (Hg.), Quellen VI/2, 1969, S. 241 f. und zu den Umständen der Beratung H. Bollmeyer, WeimNV, 2007, S. 242 f. 143 W. Conze/E. Matthias (Hg.), Quellen VI/2, 1969, S. 242. 144 Der Vorentwurf enthielt in § 29 eine Aufzählung der „Gebiete“, die Vertreter zum Staatenhaus entsenden sollten, bis sich neue Freistaaten gebildet hätten. Diese Bestimmung indizierte die faktische Neugliederung unter Aufteilung der Einzelstaaten – insbesondere des übermächtigen Preußen. Zur Entwicklung s. G. Schulz, Demokratie I2 1987, S. 136 ff. In der National­ versammlung sprach H. Preuß diesen Punkt nochmals an (VerhWeimNV, S. 287 ff.). 145 Obgleich der Revolutionserfolg vor 70 Jahren möglicherweise in den hypertrophen Grundrechtsberatungen verspielt worden war, erklärte sich der Geheime Oberregierungsrat Alfred Schulze dazu bereit, die Grundrechte „aus der 48er Verfassung ab[zu]schreiben, soweit sie […] noch“ passten. Vgl. W. Conze/E. Matthias (Hg.), Quellen VI/2, 1969, S. 240, 247; C. Gusy, WRV, 1997, S. 71; H. Bollmeyer, WeimNV, 2007, S. 242 ff.; G. Schulz, Demokratie I2 1987, S. 136. 146 H. Bollmeyer, WeimNV, 2007, S. 245. 147 Abdruck bei H. Triepel, QuellenSlg5 1931, S. 8 und S. 14 (Entwurfs II). 148 Vgl. W. Conze/E. Matthias (Hg.), Quellen VI/2, 1969, S. 241, 243, 245 sowie S. 241 in Fn. 21 zum weiteren Verfahren. s. ferner G. Schulz, Demokratie I2 1987, S. 141 f. zum Drängen der Länder auf Beteiligung. Abdruck des Entwurfs bei H. Triepel, QuellenSlg5 1931, S. 10 ff. Der Entwurf wurde unter dem 20. Januar 1919 im Reichsanzeiger publiziert. 149 Zu der Konferenz im Reichsamt des Innern und den weiteren Verhandlungen s. H. Bollmeyer, WeimNV, 2007, S. 245 ff.; G. Schulz, Demokratie I2 1987, S. 142 ff. 150 Abdruck bei H. Triepel, QuellenSlg5 1931, S. 17 ff.

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hatte der Staatenausschuss nicht aus „prinzipiellen Gründen“, sondern wegen der „allzu unbestimmt[en]“ Formulierung gestrichen.151 Detaillierte Protokollüberlieferungen zu dieser fundamentalen Änderung, die der ursprünglichen Untersuchungsrechtskonzeption von Hugo Preuß den Rücken kehrte und wenigstens dem Wortlaut nach zu einem allgemeinen und nicht mehr zweckgebundenen Selbstinforma­ tionsrecht überging, existieren anscheinend nicht.152 Ein Grund für diesen Schritt könnte aber gewesen sein, dass so die ursprüngliche Schärfe der Formulierung fortfiel. In diesem Sinne hatte der Vorsitzende des Weimarer Verfassungsausschusses Conrad Haußmann über die engere Fassung geurteilt, dass aufgrund des Wortlauts jeder „Beschluß, eine Untersuchungskommission einzusetzen, […] einem Miß­ trauensvotum gegen die Regierung gleich, oder doch sehr nahe kommen würde“.153 Der dritte Entwurf sah vor, dass die Enquête- und Untersuchungsausschüsse „in öffentlicher Verhandlung die Beweise [erheben sollten], die sie oder die Antragsteller für erforderlich erach[te]ten“. Gemäß Art. 55 Abs. 2 sollten „Gerichte und Verwaltungsbehörden“ „verpflichtet [sein], dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten; die Akten der Behörden [waren…] ihnen auf Verlangen vorzulegen“. Während das Enquête- und Untersuchungsrecht des Reichstags so gleichsam von seinen Fesseln befreit wurde, fiel die ihre Verfassungsautonomie beeinträchtigende föderale Garantie der Intervention der Gliedstaaten zum Opfer.154 2. Beratungen im Verfassungsausschuss der Nationalversammlung Reichsinnenminister Preuß begründete den Regierungsentwurf vom 21.  Februar 1919155 drei Tage später in der Nationalversammlung. Diese überwies die Vorlage nach dreitägiger Generaldebatte einem Verfassungsausschuss von 28 Abgeordneten.156 151 VerhWeimNV, Nr.  391, S.  265. s.  ferner K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  14 oder F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 42. 152 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 46 f. und in Fn. 16. 153 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 265. 154 Dazu G. Schulz, Demokratie I2 1987, S. 167; W. J. Mommsen, Politik3 2004, S. 387. Art. 16 Entwurf III garantierte freistaatliche Landesverfassungen, das allg., gleiche, unmittelbare und geheime Verhältniswahlrecht für Frauen und Männer sowie die parlamentarische Regierungsverantwortlichkeit (Abdruck bei H. Triepel, QuellenSlg5 1931, S. 19). Die Nationalversammlung übernahm nur die kommunalen Wahlrechtsgrundsätze in die Reichsverantwortung. Vgl. W. J. Mommsen, Politik3 2004, S. 387 f. m. w. N. aus den Protokollen. 155 „Artikel 55. Der Reichstag hat das Recht und auf Antrag von einem Fünftel seiner Mitglieder die Verpflichtung, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese Ausschüsse erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten. Alle Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten; die Akten der Behörden sind ihnen auf Verlangen vorzulegen“ (Abdruck in VerhWeimNV, S. 48 ff. sowie bei H. Triepel, QuellenSlg5 1931, S. 27 ff.). 156 VerhWeimNV, S. 502.

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a) Der Antrag Cohn auf ein parlamentarisches Oberaufsichts- und Weisungsrecht In diesem Gremium kamen die parlamentarischen Kontrollrechte erstmals am 8. April 1919 zur Sprache. Den Auftakt machte die Forderung des Mitberichterstatters Oskar Cohn (USPD), dem Reichstag neben einer „Oberaufsicht“ über Verwaltung und Rechtsprechung die Befugnis einzuräumen, Regierung und Präsident „bindende Weisungen in Verwaltungssachen“ zu erteilen. Auch sollte die Volksvertretung die Vorlage der „über die Beziehungen des Reichs zu auswärtigen Staaten oder über Verwaltungssachen“ geführten „schriftlichen Verhandlungen“ verlangen können. Diese radikalen Ideen begründete der promovierte Berliner Rechtsanwalt mit dem Rang des Parlaments als „Mittelpunkt aller Organisationen des Volkes“. Während der „bisherige Reichstag […] auf dasjenige beschränkt [gewesen sei], was die Regierung ihm [habe] sagen“ wollen, müsse die Reichsregierung unter „den jetzigen Verhältnissen“ verpflichtet sein, „dem Reichstag auf Verlangen alle Akten vorzulegen“. Diese Forderungen, die sich nahtlos in die linken Vorstöße seit der Märzrevolution einreihten, bedachte Hugo Preuß mit dem zweifelhaften „Kompliment“, es sei schon „ein kleines Meisterstück […], unter dem Schein eigentlich nur deutlicher zu sagen, was in der Verfassung [stehe…], aus dem parlamentarischen Rechtsstaate die Willkürherrschaft eines Konvents zu machen“. Mit einem „Federstrich“ weiche die „Unabhängigkeit der Rechtsprechung“ einem „Revolutionstribunal“ und die Ministerverantwortlichkeit werde zur Farce, „wenn in jede einzelne Sache hineinregiert“ werden könne. Schließlich trage die Regierung solange „selbständig die Verantwortung“, wie sie „von dem Vertrauen der Mehrheit des Reichstags getragen“ sei. Werde sie „von der Mehrheit des Reichstags desavouiert“, trete sie zurück. Dieser Kritik schlossen sich der promovierte Rechtsanwalt und Notar Bruno Ablaß (DDP) sowie der Geheimrat im Reichsjustizministerium Erich Zweigert an.157 Obgleich Oskar Cohn wiederholt auf Schweizer Verfassungsverhältnisse verwies und behauptete, dass die Rechtsprechung derzeit schon unter der Aufsicht von Landesjustizverwaltungen stehe, lehnte der Verfassungsausschuss sein Petitum gegen die Stimme des Antragstellers selbst ab.158 Sieht man einmal von der Vorstellung einer parlamentarisch gegängelten Justiz ab, lag der Vorschlag trotzdem eigentlich gar nicht so fern: Während des Konstitutionalismus wurde dem Monarchen als Inhaber aller Staatsgewalt ein umfassendes „Oberaufsichtsrecht“ zugeschrieben. Diese historische Befugnis beschränkte sich nicht auf Auskunftsrechte, sondern beinhaltete ebenso Genehmigungs- wie – nach

157

VerhWeimNV, Nr. 391, S. 263 f. VerhWeimNV, Nr. 391, S. 264. Krit. äußerte sich auch das Schrifttum. Etwa urteilte F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 42, der Vorschlag habe die „verheerendsten Folgen für das Staatswohl […] nach sich ziehen können“. 158

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heutiger Diktion  – polizeiliche Eingriffsbefugnisse.159 Nach der grundlegenden Umkehrung aller Machtverhältnisse Ende 1918 und dem Wechsel von der Monarchie zur Republik ließ sich durchaus die These hören, dass diese tradierten Befugnisse jetzt dem parlamentarischen Treuhänder der Volkssouveränität zukommen müssten.160 Trotzdem standen Oskar Cohns Forderungen eindeutig in der Tradition der linken Versuche in der Frankfurter oder der preußischen Nationalversammlung, Teile der Exekutive auf das Parlament zu übertragen, um die Volksvertretung zu einem revolutionären Organ nach dem Vorbild eines Konvents oder Wohlfahrtsausschusses aufzuwerten. Eine derartige Absicht liegt angesichts des sowjetischen Beispiels und der kurzfristigen Episode der Arbeiter- und Soldatenräte in Deutschland noch um einiges näher. Tatsächlich charakterisierte der konservative Berliner Rechtswissenschaftler Erich Kaufmann den Vorstoß Cohn u. a. als einen Versuch, den Reichstag „zum russischen Sowjet“ zu machen.161 Der eigentliche Sündenfall wird aber sicherlich weniger das Aufsichts-, sondern das sachliche Weisungsrecht gegenüber Exekutive und Gerichten gewesen sein, dass die Konvents- oder Sowjetqualität des betreffenden Gremiums begründet hätte. Das „Oberaufsichtsrecht“ war vor diesem Hintergrund lediglich eine mehrdeutige Chiffre, die einerseits eine gewisse Kontinuität mit dem überwundenen Kaiserreich vorgaukeln, andererseits aber gleichzeitig als Einfallstor für die kritisch beäugten Weisungsbefugnisse dienen sollte. b) Keine Beschränkung auf Kontrolluntersuchungen In der weiteren Beratung erklärte Berichterstatter Georg Schultz (DNVP), seit 1907 Abgeordneter und zwischen 1910 und 1912 zweiter Reichstagsvizepräsident, dass der Entwurf die „im englischen parlamentarischen System vorhandenen Untersuchungsausschüsse“ als „etwas Neues für das deutsche Verfassungsleben“ einführe. Gegenüber der „unbeschränkten Vollmacht“ des Regierungsentwurfs, der „über jede Tatsache, über jedes Ereignis durch Antrag von einem Fünftel der Mitglieder des Reichstags ein[en] Untersuchungsausschuß“ zulasse, favorisierte der Geheime Justizrat die auf die Exekutivkontrolle limitierte Ursprungsfassung. Sollte sein Antrag, „in Art. 55 die Worte ‚Untersuchungsausschüsse einzusetzen‘ zu streichen und statt dessen einzufügen ‚Ausschüsse zur Untersuchung von Tatsachen einzusetzen, wenn die Gesetzlichkeit oder Lauterkeit von Regierungs- und Verwaltungsmaßnahmen des Reichs angezweifelt wird‘“, abgelehnt werden, müssten die untersuchten Tatsachen wenigstens „das öffentliche Interesse berühren“. Tatsachen hätten z. B. dann ein „Interesse für die Öffentlichkeit“, „wenn ein ‚Panama‘162 159

Zum Oberaufsichtsrecht s. 2. Teil 1. Kap. C. I. 2. Vgl. E.-W. Böckenförde, AÖR 103 (1978), 1 (9 f.). 161 E. Kaufmann, Untersuchungsausschuss, 1920, S. 20 f. 162 Als „Panama“ bezeichnete man Korruption und Nepotismus bis in höchste Kreise. s. die Erläuterung Oskar Cohns, VerhWeimNV, Nr. 391, S. 265 und in Fn. 489. 160

2. Kap.: Parlamentarische Informationsrechte in der Republik

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in Frage [komme, …] oder gewisse Mißstände in Betrieben der Bergwerke, Fabriken usw. allgemeinen Unwillen“ erregten. Ohne eine solche Beschränkung gerate „man ins Uferlose“, wenn „jede Kleinigkeit, persönliche Differenzen usw. durch Untersuchungsausschüsse auf[zu]klären“ wären.163 Wie kaum anders zu erwarten, sekundierte Reichsinnenminister Hugo Preuß dem Hauptanliegen, die von ihm favorisierte Fassung wiederherzustellen. Den Hilfsantrag verwarf er als „Tautologie“, die „nicht vor Eingriffen in private Angelegenheiten“ schützen könne, sobald das Parlament bloß darauf beharre, dass „nach seiner Meinung Dinge von öffentlichem Interesse“ berührt würden.164 Eine gewisse Beliebigkeit, was unter einem öffentlichen Untersuchungsinteresse zu verstehen ist, wird auch heute kritisiert.165 Der freisinnige Ausschussvorsitzende Conrad Haußmann, für den Max Weber 1917 seine Vorschläge ausgearbeitet hatte, hielt der engeren Fassung ebenso wie der Zentrumsmann Adolf Gröber entgegen, dass so jeder Einsetzungsbeschluss einem „Mißtrauensvotum gegen die Regierung gleich, oder doch sehr nahe“ käme. Der frühere Staatssekretär Gröber, der von 1887 an dem Reichstag und ab 1889 der württembergischen Zweiten Kammer angehört und zur Geschäftsordnungsreform berichtet hatte,166 kritisierte weiter, dass die engere Fassung angesichts der „Hauptbedeutung“ des Artikels bei der „Vorbereitung von Gesetzgebungsaktionen“ nicht „zweckmäßig“ wäre.167 Die andernfalls vernachlässigte Enquêtefunktion dürfte also eines der Motive für die Wahl der weiteren Fassung ge­wesen sein. Auch Mitberichterstatter Oskar Cohn wendete sich  – nach seinen Vorstößen ist das kaum verwunderlich  – gegen den Versuch, das künftige parlamentarische Selbstinformationsrecht noch weiter zu beschränken. Zwar konzedierte der USPD-Vertreter, dass „selbstverständlich […] nur Gegenstände von öffentlichem Interesse einer solchen Untersuchung unterstellt werden dürf[t]en“. Die bis heute kritisierte uferlose Weite dieses Kriteriums spiegelte seine Feststellung wider, dass sich der Reichstag „überhaupt nur mit Gegenständen [befassen werde], die öffentliches Interesse beanspruch[t]en“.168 In der Abstimmung fiel der Antrag Schultz schließlich durch.169 Der Verfassungsausschuss gab damit ein recht eindeutiges Votum für ein thematisch unbeschränktes parlamentarisches Selbstinformationsrecht und insbesondere das durch Adolf Gröber wieder ins Gespräch gebrachte Enquêterecht ab. 163

VerhWeimNV, Nr. 391, S. 264. VerhWeimNV, Nr. 391, S. 265. 165 Zum öffentlichen Untersuchungsinteresse s. 8. Teil 4. Kap. A. III. 166 BeilWürtt2K 1909 CV, Beil. 372. 167 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 265. 168 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 264. 169 Vgl. VerhWeimNV, Nr. 391, S. 266 und K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 14: „Diese Anträge wurden abgelehnt mit dem Hinweis darauf, daß dann die in England am besten bewährte Art der Enquete, die Gesetzgebungsenquete, überhaupt nicht in Erscheinung treten könne und jede Einsetzung eines Untersuchungsausschusses eine Spitze gegen die Regierung enthalten werde.“ 164

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c) Analoge Anwendung der Strafprozeßordnung sowie Schutz des Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnisses Angesichts der Verpflichtung aller Gerichte und Verwaltungsbehörden, „dem Ersuchen der Enquetekommissionen um Beweiserhebungen Folge zu leisten“, stellte Berichterstatter Schultz in Frage, „ob man auch das Post-, Telegraphenund Fernsprechgeheimnis antasten“ dürfe. Alternativ regte der DNVP-Abgeordnete an, „die Voraussetzungen gelten [zu] lassen […], die die Strafprozeßordnung für die Verletzung des Postgeheimnisses“ vorsehe. „[U]m dies klarzustellen“ beantragte er, „dem Abs. 2 […] folgenden Satz hinzuzufügen: ‚Die Vorschriften über die Wahrung des Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnisses werden hierdurch nicht berührt.‘“170 Der im Grundsatz bis heute gültige Passus zielte also ursprünglich nicht auf eine vollständige Unantastbarkeit dieser Grundrechte, sondern sollte die parlamentarische Eingriffschwelle lediglich dem Strafprozessrecht angleichen. Mitberichterstatter Oskar Cohn schien diese Forderung entbehrlich. Die Unberührtheit dieser Freiheiten, in die doch allein zu „kriminalistischen Zwecken“ eingegriffen werden dürfe, verstehe sich von selbst.171 In dieser Aussage wirkte sich offenkundig das bisherige Fehlen einer allgemeinen Verweisung auf den Straf­ prozess aus.172 – Zudem werde der Reichstag doch „gerade Gegenstände [zu untersuchen haben], die von einem Einzelfall [absähen…] und auf allgemein wichtige Dinge“ eingingen. Z. B. könne man bei einem „Panama  – wenn also die Beteiligung einzelner Abgeordneter an schimpflichen oder unsauberen Geschäften behauptet [werde…] –“ bloß auf den ersten Blick der Meinung sein, dass es um einen Einzelfall gehe. Der individuelle Anlass sei „eben nur der äußere Ausdruck einer großen Krankheit […], die durch den Volkskörper oder […] das Parlament im Ganzen“ gehe.173 Obwohl Reichsinnenminister Preuß betonte, dass nach Auskunft des Reichspostministeriums eine „allgemeine gesetzliche Anordnung der Amtshilfe nicht aus[reichen werde], um eine Ausnahme vom Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis zu begründen“, sondern das „Gesetz […] vielmehr ausdrücklich bestimmen [müsse], wenn es eine Durchbrechung“ wolle, wurde der von Georg Schultz beantragte Zusatz angenommen.174 Weiter warf der Berichterstatter Schultz die Frage auf, ob aus der Fassung des Regierungsentwurfs, dass die Ausschüsse Beweis erhöben, zugleich das Vereidigungsrecht folge, wollte dann aber, weil man „im Augenblick die Einzelheiten nicht alle regeln“ könne, „diese Verfahrensvorschriften der Geschäftsordnung […] 170

VerhWeimNV, Nr. 391, S. 264. VerhWeimNV, Nr. 391, S. 264 f. 172 Zum Entwurfstext s. Fn. 155. 173 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 265. 174 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 265 f. 171

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überlassen“.175 Für die Regierung betonte der Geheime Regierungsrat im Reichsjustizministerium Erich Zweigert, dass die ersuchten Gerichte nach der Entwurfsfassung Zeugen und Sachverständige nach den allgemeinen Regeln vereidigen dürften. Zweifelhaft sei das Recht zur Beeidigung bei Vernehmungen durch den Ausschuss selbst. Außerdem gab der Ministerialbeamte Erich Zweigert den „besonders wertvoll[en]“176 Hinweis auf die Lücke, dass der Ausschuss „nach der Fassung der Vorlage kein Mittel [habe], daß Erscheinen eines Zeugen zu erzwingen“, sondern „machtlos und lediglich darauf angewiesen [sei], das Gericht um die Vernehmung zu ersuchen“. Auf seine Anregung hin, „daß die Bestimmungen der Strafprozeßordnung auf die Beweisaufnahme entsprechende Anwendung“ finden sollten, um so beide Zweifel zu beseitigen, einigte sich der Verfassungsausschuss auf Antrag Adolf Gröbers (Zentrum) und Max Quarcks (SPD) auf einen ent­sprechenden Zusatz.177 Nicht zu Unrecht kritisierte Karl Heck 1925, dass diese „Formulierung des Art.  34 RV. ohne Bewußtsein ihrer vollen Tragweite geschaffen“ worden sei. Die Abgeordneten Gröber und Quarck hätten nach Bedenken Zweigerts lediglich „einen kurzen und klaren Ausdruck für das Recht […] auf Zwang und Eidesabnahme gegenüber Zeugen […] schaffen“ wollen, um eine „Ueberlastung der Verfassung mit Einzelbestimmungen [zu] vermeiden“ und diese „grundlegenden Fragen nicht der Geschäftsordnung [zu] überlassen“. Leider habe der Ausschuss den Beschluss dann „ohne große Debatte und offenbar ohne Vorstellung“ gefasst, „welche Konsequenzen“ die nebulöse Anordnung sonst noch haben werde.178 d) Herabsetzung des Quorums auf 50 Mitglieder Gegenüber der Entwurfsfassung, die ein Einsetzungsquorum von einem Fünftel der Reichstagsmitglieder vorsah, forderte Oskar Cohn (USPD) eine Herab­setzung auf 50 Abgeordnete, weil ohne diese Angleichung an das Interpellationsrecht das „Recht des Reichstags allzusehr eingeschränkt“ wäre.179 Reichsinnenminister Preuß erläuterte darauf, dass der „Artikel einer Einrichtung des englischen Parlamentsrechts nachgebildet“ sei. Beabsichtigt seien „[z]wei wesentliche Neuerungen“: erstens das „öffentliche, kontradiktorische Verfahren in der Art des Gerichtsverfahrens“ und zweitens der „Gedanke des Minoritätsschutzes“. Gerade der zweite Aspekt sei „beim parlamentarischen System von ganz besonderer Wichtigkeit, denn wenn die mit der Parlamentsmehrheit zusammengehende Regierung 175

VerhWeimNV, Nr. 391, S. 266. F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 42. 177 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 266. Künftig sollten auf „Erhebungen der Ausschüsse und der von ihnen ersuchten Behörden […] die Vorschriften der Strafprozeßordnung sinngemäße Anwendung“ finden. 178 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 54 und passim. 179 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 264. 176

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nicht eine solche Verpflichtung gegenüber der Minderheit [habe, könne diese…] in jeder Weise geknebelt werden und ohne Einfluß bleiben auf die Klarstellung wichtiger Ereignisse“. „Ob man ein Fünftel festsetzen [wolle…] oder eine andere Grenze“, sei eine Ermessensfrage. Das Quorum dürfe nur nicht so gering sein, dass „Querelen eines kleinen Kreises“ zu einer „ständige[n] Beunruhigung“ des Parlaments führen könnten. Auch der parlamentserfahrene Adolf Gröber bezweifelte, dass man „bis auf die Zahl von 50 heruntergehen soll[e]“.180 Letztlich blieb es damit bei einem Fünftel.181 e) Öffentlichkeit Breiten Raum nahm die Frage der Öffentlichkeit ein. Dabei standen Fragen des Geheim- wie des Minderheitenschutzes im Vordergrund.182 In der ersten Lesung bewertete der liberale Berichterstatter Schultz (DNVP) die Öffentlichkeit als „an sich wünschenswert“, erkannte aber auch die Notwendigkeit an, sie „einmal […] auszuschließen“. Während der frühere preußische Justizminister Peter Spahn (Zentrum) vertrat, dass der Ausschluss wie im Plenum aufgrund des Reglements zulässig wäre, betonte Hugo Preuß den „Schutz der Minderheit“ durch die Zulassung des Publikums. Eine „nähere Regelung der Geschäftsordnung“ hielt er für diskutabel, stellte aber in Abrede, dass jemals ein „überwiegendes Moment“ zum Ausschluss führen könne. Der Ausschussvorsitzende Haußmann wendete zu Recht ein, dass eine Bestimmung des Reglements nicht ausreiche, wenn die Öffentlichkeit „in der Verfassung vorgeschrieben“ sei; der Deutsch-Freisinnige empfahl deswegen, in der Verfassung die „Entscheidung der Kommission zu überlassen, sei es mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit“. Der ehemalige sächsische Justizminister Karl Rudolf Heinze (DVP) monierte, dass damit der Zweck, „der Minorität Schutz zu gewähren“, „illusorisch gemacht“ werde. Gegen jeden Öffentlichkeitsausschluss sprach sich Max Quarck (SPD) aus, weil in England gerade das Publikum dazu „aufgefordert“ wäre, „ihm etwa bekannte Tatsachen der Kommission mitzuteilen, überhaupt sich an der Untersuchung und Klarstellung zu beteiligen“. Dementsprechend würden die „Protokolle der Enquetekommissionen“ unverzüglich in der Presse veröffentlicht.183 Reichsjustizminister Preuß hielt es für „sehr schwer, in bezug auf den Ausschluß der Öffentlichkeit etwas zu bestimmen, was nicht den ganzen Zweck wieder illusorisch“ mache. Schließlich diene die „Öffentlichkeit der Beweiserhebungen“ dazu, „alle Nachrichten herauszuholen, die ein Verfahren hinter verschlossenen

180

VerhWeimNV, Nr. 391, S. 265. VerhWeimNV, Nr. 391, S. 266. 182 Vgl. S. Schröder, ZParl 1999, 715 (733 f.). 183 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 265 f. 181

2. Kap.: Parlamentarische Informationsrechte in der Republik

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Türen nicht“ zutage fördern könne. Um Sorgen der Ausschlussbefürworter zu zerstreuen, stellte der Berliner Staatsrechtler klar, dass in der Regel keine „Fragen der auswärtigen Politik“ tangiert würden. Die verbleibenden Bedenken hätten indessen hinter dem „Gesichtspunkt [zurückzutreten], daß die Beweiserhebung […] ihren größten Wert dadurch [erhalte…], daß sie in voller Öffentlichkeit vor sich“ gehe. Den Vorschlag des Zentrumspolitikers und Theologieprofessors Franz Hitze, den Ausschluss dem Reichstagsplenum vorzubehalten, hielt Hugo Preuß „aus den schon angeführten Gründen für unmöglich“.184 Zum Schluss plädierte Georg Schultz noch einmal dafür, dass die Nichtöffentlichkeit im Einzelfall möglich sein müsse. Um die Gegenseite zu beschwichtigen, wagte er die optimistische Prognose, dass „künftige Parlamente „doch mindestens dasselbe Pflichtgefühl gegenüber der Öffentlichkeit haben“ würden wie die Nationalversammlung.185 Gemeinsam mit dem Kasseler Oberbürgermeister Erich Koch (DDP)186 forderte der DNVP-Politiker, dass der „Ausschuß […] aus Gründen des öffentlichen Wohls mit einer Mehrheit von drei Vierteln seiner Mitglieder den Ausschluß der Öffentlichkeit beschließen“ könne. Angenommen wurde das rigorosere Amendement Haußmann, dass in der Öffentlichkeitsfrage den Minderheitenschutz mit einem Einstimmigkeitserfordernis auf die absolute Spitze trieb.187 In der zweiten Lesung Anfang Juni 1919 wurde diese Entscheidung revidiert. Voraus ging Karl Rudolf Heinzes (DVP) Vorschlag, den Auswärtigen Ausschuss anders als die Untersuchungsausschüsse grundsätzlich nichtöffentlich tagen zu lassen. Nur ausnahmsweise sei das Publikum durch einen „übereinstimmenden Beschluß des Ausschusses“ zuzulassen.188 Während es Franz Hitze kategorisch ablehnte, die „Vertraulichkeit zur Regel [zu] machen“, wollte Erich Koch (DDP) sämtliche „Ausschüsse selbst bestimmen [lassen], ob sie öffentlich oder vertraulich tag[t]en“. Bei dieser Gelegenheit kritisierte er den früheren Einstimmigkeitsbeschluss für die Untersuchungsausschüsse als „Fehler“, „denn der Reichstag selbst [könne…] mit Zweidrittelmehrheit für seine Verhandlungen die Öffentlichkeit ausschließen“. Seine Forderung, sich mit einem einfachen Beschluss zu

184

VerhWeimNV, Nr. 391, S. 266. VerhWeimNV, Nr. 391, S. 266. 186 Dieser hatte es als „inkonsequent“ bezeichnet, wenn „der Ausschuß nur öffentlich t­agen“ dürfe, während der Reichstag nichtöffentlich verhandeln könne (VerhWeimNV, Nr. 391, S. 265). 187 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 266. 188 Darüber hinaus bekannte der ehemalige sächsische Justizminister und DVP-Abgeordnete, er sei „kein Demokrat“, sondern stehe „grundsätzlich auf einem ganz anderen Boden“. Deswegen halte er es für „nicht angängig, daß ein Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten ständig die auswärtige Politik des Reichs“ überwache. „Durch die Verschiedenheit der Ansichten von Regierung und Ausschuß [könne Deutschland…] in den Ruf der Zweideutigkeit in der auswärtigen Politik kommen. Die auswärtige Politik [könne…] nur von einem Staatsmann ge­leitet werden, [dürfe…] aber nicht fortwährend von einem Ausschuß überwacht werden, der unmöglich in die Intimitäten der auswärtigen Politik eindringen [könne…] und dessen Mitglieder auch wechsel[t]en.“ (VerhWeimNV, Nr. 391, S. 454). 185

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begnügen,189 ging wiederum Franz Hitze zu weit, der darauf die – nach der Geschäftsordnung für das Plenum geltende – Zweidrittelmehrheit ins Spiel brachte.190 In der weiteren Beratung beleuchtete Clemens v. Delbrück (DNVP) die Gründe, die für und wider die Nichtöffentlichkeit sprechen könnten. Ein Interesse der Minderheit an der Öffentlichkeit erkannte der ehemalige Staatssekretär des Innern und Stellvertreter Bethmann-Hollwegs für den Fall an, dass eines ihrer Mitglieder öffentlich „schwer angegriffen“ worden wäre. Ein zur Aufklärung eingesetzter Ausschuss müsse dann grundsätzlich ebenfalls öffentlich verhandeln, um eine ausreichende Verteidigung zu ermöglichen. Eine „geheime Verhandlung“ setze, weil es nicht um eine Bewahrung von „Staatsgeheimnisse[n]“, sondern darum gehe, „Dinge, die bisher heimlich behandelt worden [seien…], im Interesse eines einzelnen vor der Öffentlichkeit abzuwickeln“, aber allseitiges Einverständnis voraus.191 Für den Auswärtigen Kontrollausschuss, dessen Existenz der deutschnationale Politiker kategorisch ablehnte, müsste wenigstens „das Prinzip umgekehrt die geheime Verhandlung sein“; das Publikum dürfe allenfalls einstimmig zugelassen werden. Überhaupt nahm Clemens v. Delbrück Anstoß an einer vermeintlichen „Hypertrophie der demokratischen Kautelen“, weil im parlamentarischen System ohnehin die „Minister Mitglieder der Mehrheit“ wären.192 Während der Sozialdemokrat Simon Katzenstein der Nichtöffentlichkeit des Auswärtigen Ausschusses grundsätzlich zustimmte, zur „Herstellung der Öffentlichkeit“ aber eine „einfache Mehrheit […] genügen“ lassen wollte, forderte Franz Hitze (Zentrum), dass künftig in allen Ausschüssen die Öffentlichkeit nur mit einer Zweidrittelmehrheit ausgeschlossen werden könne. Als anerkennenswerte Gründe für eine Verhandlung hinter verschlossenen Türen nannte er z. B., dass anlässlich „wirtschaftliche[r] Erhebungen über Kartelle“ „über intime Geschäftsgeheimnisse gesprochen“ werde. Ohne Ausschluss sei dann kaum auf die Wahrheit zu hoffen. Außerdem müsse man an „internationale Konkurrenzverhältnisse“ denken.193 Zu guter Letzt setzte sich der Vorschlag Hitze/Koch durch, für die Untersuchungsausschüsse die Einstimmigkeit zugunsten einer Zweidrittelmehrheit fallenzulassen. Der Auswärtige Ausschuss sollte dagegen grundsätzlich nichtöffentlich tagen, wenn das Gegenteil nicht einstimmig beschlossen wurde.194

189 Weiter betonte E. Koch, dass der „Umweg, wie er jetzt gewählt [werde…], wenn ein Ausschuß vertraulich tagen [wolle…], nämlich daß dann nicht der Vorsitzer, sondern ein Minister den Ausschuß zu einer angeblich unoffiziellen Besprechung [einlade, …] unwürdig [wäre], und [ihm…] diese Art der Regelung offen gestanden, wie eine Art Selbsttäuschung vorgekommen [sei]. Wenn es im Interesse der Sache erforderlich [wäre…], daß unter Umständen vertraulich getagt [werde…], dann [müsse…] auch ein geschäftsordnungsmäßiges Mittel dafür da sein.“ 190 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 454. 191 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 454 f. 192 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 455. 193 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 455. 194 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 455.

2. Kap.: Parlamentarische Informationsrechte in der Republik

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f) Ermächtigung des Geschäftsordnungsgebers Auf Antrag des Berichterstatters Schultz fügte der Verfassungsausschuss dem Art.  55 Abs.  1 in der ersten Lesung noch eine Ermächtigung des Reichstages hinzu, in der Geschäftsordnung das Verfahren der Untersuchungsausschüsse und die Mitgliederzahl zu regeln.195 Sachlich hatte das Enquête- und Untersuchungsrecht damit seine endgültige Gestalt gefunden; spätere Änderungen waren redaktioneller Natur.196 3. Plenarberatungen der Nationalversammlung In den Plenarberatungen spielte das Untersuchungsrecht dann keine bedeutende Rolle mehr. Ein Versuch der Unabhängigen Sozialdemokraten, das Einsetzungsquorum doch noch auf 50 Abgeordnete zu senken, scheiterte. Zur Begründung des nicht „weltumstürzenden“ Antrags hatte Rechtsanwalt Hugo Haase, der dem Reichstag – mit Unterbrechungen – seit 1897 angehört hatte und 1919 Mitglied des Rats der Volksbeauftragten gewesen war, nur ins Feld geführt, dass so das in der Geschäftsordnung ubiquitäre 50er-Quorum damit auf die Untersuchungsausschüsse übertragen werden solle. Weil zahlreiche Abgeordnete zunächst abwesend waren, musste das Abstimmungsergebnis von 166 zu 81 Stimmen im „Hammelsprung“ ermittelt werden.197

III. Zwischenergebnis In Art. 34 RVerf 1919 verwirklichten sich Wünsche und Hoffnungen aus dem 19.  Jahrhundert bzw. den letzten Jahren des Kaiserreichs: Endlich verfügte die Volksvertretung über ein wirkungsvolles, gegenüber Art. 82 PrVerf 1850 durch belastbare Befugnisse ertüchtigtes Enquête- und Untersuchungsrecht. Das klas­sische „Gewaltenteilungsargument“, das im Widerspruch zu der hier gewählten plaka-

195

VerhWeimNV, Nr. 391, S. 265, 266. In der Fassung der Ausschussbeschlüsse lautete der Entwurf: „Artikel 34. Der Reichstag hat das Recht und auf Antrag von einem Fünftel seiner Mitglieder die Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese Ausschüsse erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten. Die Öffentlichkeit kann vom Untersuchungsausschuß mit Zweidrittelmehrheit ausgeschlossen werden. Die Geschäftsordnung regelt das Verfahren des Ausschusses und bestimmt die Zahl seiner Mitglieder. Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten; die Akten der Behörden sind ihnen auf Verlangen vorzulegen. Auf die Erhebungen der Ausschüsse und der von ihnen ersuchten Behörden finden die Vorschriften der Strafprozeßordnung sinngemäße Anwendung. Die Wahrung des Brief-, Post-, Telegraphenund Fernsprechgeheimnisses bleibt hiervon unberührt.“ (VerhWeimNV, Nr. 391, S. 4 f.). 197 VerhWeimNV, S. 1290 f. 196

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tiven Bezeichnung in Wahrheit auf dem eigentümlichen Gewaltenmonismus des „monarchischen Prinzips“ beruhte, hatte mit dem Übergang zur Republik zwangsläufig seine staatsrechtliche Grundlage verloren. Der frühere Widerstand gegen ein Selbstinformationsrecht des Reichstags, dass es nicht in die Verfassungsordnung passe, war mit dem Übergang vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie überwunden. Ebenso waren grundlegende föderale Bedenken gegen jedes Untersuchungsrecht verstummt. Fortan konnte die Volksvertretung „eigene“ Beweiserhebungen ohne Mitwirkung von Regierungsstellen veranstalten. – Die Weichen für diese Entwicklung wurden nicht im Nationalversammlungsplenum, sondern im Reichsamt des Innern, auf der Staatenkonferenz und im Verfassungsausschuss gestellt. Dabei konnte Max Weber seiner bereits 1917 ausgearbeiteten Konzeption in den Vorberatungen im Reichsamt des Innern zunächst bloß im Ansatz Gehör verschaffen. Zum Durchbruch kam sein Modell eines thematisch weiten, minoritären Enquête- und Untersuchungsrechts erst im Staatenausschuss und dem Verfassungsausschuss. Auf diesen verschlungenen Pfaden prägten die Grundüberlegungen des Heidelberger Soziologen aus der Endphase des Kaiserreichs das moderne Enquête- und Untersuchungsrecht zunächst in Weimar und mit weiteren Umwegen über die Herreninsel und das Bonner Museum König bis in die Gegenwart. Eine wichtige Ausnahme stellt insoweit damals wie heute die charakteristische Untersuchungsöffentlichkeit dar, die anderer Provenienz ist. Ähnlich wie für Max Webers Überlegungen und Forderungen liegt es nahe, dass die verfassungsberatenden Organe der jungen Republik durch die historischen Erfahrungen, Entwicklungen und (Negativ-)Vorbilder der vergangenen Jahrzehnte beeinflusst worden sind. Vergleicht man Art.  34 RVerf  1919 mit dem Tableau linksliberaler und sozialdemokratischer Forderungen bis in das späte Kaiserreich, wird deutlich, dass nahezu sämtliche „Wünsche“ in Erfüllung gegangen waren; ebenso wurden ersichtlich verschiedene Schwächen von Art. 82 PrVerf 1850 berücksichtigt. Tatsächlich hatte man das Enquête- und Untersuchungsrecht, das in der preußischen Verfassungsurkunde von 1850 bloß unvollständig verbürgt gewesen war, in bewusster Abkehr von dieser unbefriedigenden Rechtslage in Art.  34 RVerf  1919 eindeutig als umfassendes und robustes Selbstinformationsrecht ausgestaltet.198 Die Mütter und Väter der Weimarer Verfassung folgten also einerseits im kaiserlichen Reichstag erhobenen Reformforderungen bzw. den Erfahrungen bei den Regierungsenquêten dieser Jahre. Andererseits hatte die preußische Praxis aller Mängel von Art. 82 PrVerf 1850 zum Trotz in außergewöhnlichen Konfliktsituation bewiesen, dass sich ein Selbstinformationsrecht nicht nur zu einer eher sach 198

Vgl. F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  80: „Allgemein stand den Schöpfern der Verfassungen [nach dem Weltkrieg…] der unleidliche Zustand vor Augen, unter dem die Enquêteausschüsse der preußischen Verfassung vor 1918 ihr Dasein hatten fristen müssen.“

2. Kap.: Parlamentarische Informationsrechte in der Republik

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bezogenen Entscheidungsvorbereitung, sondern selbst gegen vehementen Widerstand der Regierung ebenso zu Kontrolle und Kritik eignete. Denselben beiden grundsätzlichen Zielsetzungen blieb grundsätzlich auch Art. 34 RVerf 1919 nach der staatsrechtlichen Wende verpflichtet. Einem später im Verfassungs­ausschuss durch den Berichterstatter Georg Schultz (DNVP) wiederaufgewärmten Versuch des Reichsinnenministers Preuß, diese Befugnis im Vergleich mit der alten Rechtslage merkwürdig spiegelbildlich und ausschließlich auf eine Kontrolle der „Gesetzlichkeit und Lauterkeit“ der Exekutive zu beziehen, scheiterte auf der Staatenkonferenz und dann auch im Verfassungsausschuss. Obwohl die Kontrollfunktion, zwar gegenüber den ersten Entwürfen abgeschwächt, aber nach wie vor die offensichtlichste Aufgabe der künftigen Untersuchungsausschüsse war, hatte man das neue Recht nicht auf diesen Aspekt beschränkt; der vorbehaltlose Wortlaut, den schon der Staatenausschuss der engeren Fassung vorgezogen hatte, gestattete neben politischen Untersuchungen ebenfalls die von Max Weber im Interesse der Minderheit verlangten Kollegialenquêten. Möglich waren, diese Funktion hob der in Geschäftsordnungsfragen bewanderte Adolf Gröber (Zentrum) sogar als die „Hauptbedeutung“ des Artikels hervor, auch Enquêten zur „Vorbereitung von Gesetzgebungsaktionen“ und anderen parlamentarischen Sachentscheidungen.199 Neben dem Wunsch, dem Enquête- und Untersuchungsrecht seine – andernfalls schon dem Wortlaut nach – unvermeidbare Spitze gegen die Regierung zu nehmen, dürfte die Ermöglichung von Sachstands- und Gesetzgebungsenquêten den Staatenausschuss dazu bewogen haben, für die weitere Fassung einzutreten. Über die Motive hinter dem erfolglosen Versuch von Hugo Preuß, das parlamentarische Selbstinformationsrecht auf die Kontrolle der „Gesetzlichkeit und Lauterkeit“ von Verwaltung und Regierung zu limitieren, lässt sich bloß spekulieren. Möglicherweise wollte der liberale Staatsrechtler das außerordentliche Instrument einer parlamentarischen Untersuchung den besonders wichtigen und konfliktträchtigen Auseinandersetzungen der parlamentarischen Opposition mit der Regierung vorbehalten. Eine vergleichbare Forderung erhob Georg Schultz aus Sorge vor einer „unbeschränkten Vollmacht“ des Parlaments, „über jede Tatsache, über jedes Ereignis durch Antrag von einem Fünftel der Mitglieder des Reichstags ein[en] Untersuchungsausschuß“ zuzulassen. Einerseits wollte der eher liberale DNVP-Politiker vermeiden, dass sich das Parlament in Nebensächlichkeiten verzettelte. Andererseits propagierte er unausgesprochen, möglicherweise sogar unbemerkt zugleich eine Beschränkung auf die Kontrollfunktion. In vergleichbarer Weise wird auch heute noch teilweise gefordert, das parlamentarische Untersuchungsrecht – seiner scharfen Waffen wegen – auf die politische Kontrollfunk-

199

Von dieser inhaltlichen Weite gingen u. a. G. Anschütz, RVerf  191914 1933, S.  217; F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 180; J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR I2 1930, S. 695 f.; K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 8 f. oder – mit krit. Unterton – A. v. Freytagh-Loringhoven, WRV, 1924, S. 119 aus.

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tion gegenüber der Exekutive zu beschränken; allgemeine Missstands-, ja selbst Gesetzgebungsenquêten werden demgegenüber abgelehnt.200 Auch im Hinblick auf die Befugnisse, die die neuen Untersuchungsausschüsse erhielten, gab es historische Paten. Mit der Aktenvorlage- und Amtshilfepflicht der Gerichte und Behörden reagierte man – bewusst oder unbewusst – auf den Widerstand des Ministeriums Bismarck gegen die Wahlmanipulationsuntersuchung. Den Defiziten der Enquêten der Reichsregierung, die – wie vor allem bei der Tabak­ enquête201  – ohne Pflicht und Zwang hatten auskommen müssen, begegnete die Verweisung auf die Strafprozessordnung. Mit der ausdrücklichen Regelung derart weitgehender Untersuchungsbefugnisse war zudem das Hauptgebrechen des Art. 82 PrVerf 1850 passé: Der offene Wortlaut dieser Vorschrift hatte der Rechten und der Regierung als Einfallstor für ihre Versuche gedient, den nach englischem Vorbild gestalteten und dem belgischen Recht entlehnten Artikel auf unpolitische Themen und hilflose interpellationsartige Mechanismen zu beschränken. Anders als in dieser historischen Vorschrift wurde das Enquête- und Untersuchungsrecht in Art.  34 Abs.  3 RVerf  1919 durch die vielkritisierte Verweisung auf die sinngemäße Anwendung der Strafprozeßordnung mit erheblichen Beweiserhebungsbefugnissen flankiert, die – obwohl ihrem materiellen Gehalt nach schon 1917 von Max Weber angedacht – erst in den Beratungen des Verfassungsausschusses und nicht aus den Reihen der Abgeordneten, sondern von dem Geheimen Regierungsrat im Reichsjustizministerium Erich Zweigert vorgeschlagen worden war. Über das eigentliche Anliegen hinaus, Zeugenzwang und Vereidigung zu ermöglichen, erhielten die Untersuchungsausschüsse damit einen ganzen Strauß weitergehender, im Einzelnen aber teils umstrittener Befugnisse.202 Der thematisch unbeschränkte und mit robusten Befugnissen bewehrte Art. 34 RVerf  1919 wurde also den Anforderungen an ein „echtes“ Enquête- und Untersuchungsrecht im modernen Sinne in jeder Hinsicht vollkommen gerecht.203 Am deutlichsten wurde die staatsrechtliche Zeitenwende aber in der durch Max­ Weber forcierten Ausgestaltung als Minderheitenrecht; mit diesem Schachzug reagierte er einerseits auf die historische Erfahrung, dass kritische Minderheiten oft genug von gouvernementalen und selbst Zufallsmehrheiten majorisiert worden waren; andererseits trug dieses Grundprinzip den aufgrund des Übergangs von der konstitutionellen Monarchie zum demokratischen Parlamentarismus neu ge­ zogenen politischen Frontverläufen Rechnung. Damit war das Enquête- und Untersuchungsrecht vollständig in der Moderne angekommen.

200 s. nur J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 306 ff. und 8. Teil 3. Kap. A. II. 2. 201 Vgl. 6. Teil 3. Kap. A. II. 3. 202 S. Schröder, ZParl 1999, 715 (719). 203 s. 1. Teil C.

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B. Sonstige Regelungen mit informationsrechtlichen Bezügen Neben dem Enquête- und Untersuchungsrecht sahen die Weimarer Reichs­ verfassung und die Geschäftsordnung des Reichstags noch andere Instrumente im weiteren Dunstkreis von parlamentarischer Information und Kontrolle vor. Das gilt einmal für das Interpellations- und das parlamentarische Fragerecht, zum anderen aber auch für die Regelungen, die sich entweder direkt oder mittelbar auf das parlamentarische Untersuchungsverfahren bezogen.

I. Ausschüsse mit untersuchungsähnlichen Befugnissen Das Grundgesetz der jungen Republik kannte einen ständigen Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, der unabhängig von den parlamentarischen Sitzungsperioden und nach einer Reichstagsauflösung oder dem Ende der Wahl­periode tätig werden konnte. Die allgemeinen Aufgaben dieses „Zwischenausschusses“ (Gerhard Anschütz) unterschieden sich nicht grundsätzlich von denen anderer Ausschüsse: Er hatte „Beschlüsse […] vorzuberaten und vorzubereiten“ und besaß das Recht, „Feststellungen zu treffen und Erklärungen abzugeben“; „das Regieren aber [musste er…] der Regierung überlassen“. Als „Hilfsorgan“ des Reichstages durfte der Ausschuss insbesondere keine eigenständigen Kontakte zu auswärtigen Staaten unterhalten.204 Ein weiterer ständiger Ausschuss bestand zur „Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Regierung“  – eine mit den Worten des Nationalversammlungspräsidenten Constantin Fehrenbach „freundlichere Ausdrucksweise“ für die harschere Entwurfsfassung, in der von einer „Überwachung der Tätigkeit der Reichsregierung“ die Rede gewesen war.205 Vorbild dieses „Überwachungsausschusses“ waren die permanenten Ausschüsse des 19. Jahrhunderts.206 Im Hinblick auf das parlamentarische Selbstinformationsrecht waren diese Ausschüsse von Interesse, weil ihnen Art. 35 Abs. 3 RVerf 1919 pauschal die Rechte von Untersuchungsausschüssen beilegte.

II. Das autonome Recht des Reichstags Indem Art. 34 Abs. 1 Satz 4 RVerf 1919 das Plenum207 dazu ermächtigte, das „Verfahren des Ausschusses“ zu regeln sowie die „Zahl seiner Mitglieder“ zu 204

G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 224 (Zitat). VerhWeimNV, S. 1291 (Hervorhebung nur hier). 206 F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 180; O. Bühler, RVerf2 1927, S. 62. 207 Noch in der Nationalversammlung erklärte Carl Petersen (DDP) als Ausschussberichterstatter, dass Art. 34 Abs. 1 Satz 4 RVerf 1919 so auszulegen sei, dass nicht die Geschäftsordnung des Ausschusses, sondern diejenige des Reichstages gemeint wäre. Die Nationalversammlung solle die Beschlüsse des Untersuchungsausschusses deswegen „sanktionieren“ 205

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bestimmen, avancierte das autonome Reichstagsrecht zur zweiten potentiellen Rechtsquelle des Enquête- und Untersuchungsrechts. 1. Vorschriften mit Enquête- und Untersuchungsrechtsbezug a) Die Geschäftsordnung des Reichstags In ihrer ersten Sitzung übernahm die Nationalversammlung auf Vorschlag des Alterspräsidenten Wilhelm Pfannkuch (SPD) das alte Reglement der kaiserlichen Volksvertretung „einschließlich der in der Verfassung enthaltenen Bestimmungen […] unter Fortfall der Bestimmungen über die Abteilungen“.208 Diese „provisorische Geschäftsordnung“, die der erste Reichstag im Juni 1920 zunächst geringfügig modifizierte, galt schließlich bis 1922 fort.209 Ebenso wenig wie ihre Vorgängerin enthielt die folgende Geschäftsordnung vom 12. Dezember 1922210 relevante Regelungen zum Untersuchungsverfahren, obwohl der Geschäftsordnungsausschuss den erklärten Vorsatz hatte, das Reglement an die „Weimarer Verfassung“ anzupassen;211 das Plenum wurde wegen der „Geschäftsordnung für die nach Artikel 34 der Verfassung zu bildenden Untersuchungsausschüsse“ auf eine besondere Vorlage vertröstet,212 die aber niemals folgen sollte.213 Damit blieb § 53 GO-RT  1922, der das Minderheitenrecht dadurch tendenziell abschwächte, dass über keinen Einsetzungsantrag beraten werden durfte, der nicht zuvor auf die Tagesordnung gesetzt wurde, die einzige Spezialregelung. Weil spezielle Regelungen trotz des Auftrages des Art.  34 Abs.  1 Satz  4 RVerf  1919 an den Geschäftsordnungsgeber ausblieben, kamen die allgemeinen Bestimmungen über die Bildung und Zusammensetzung der Ausschüsse sowie über die Geschäftsbehandlung im Plenum zum Zuge.214 Die Untersuchungsausschüsse gehörten zu den „Sonderausschüssen“ für „einzelne Angelegenheiten“ (§ 27 GO-RT 1922). Über ihre Mitgliederzahl befand deswegen das Plenum (§ 28 Abs. 1 GO-RT 1922).215 Während die Fraktionen gemäß § 28 Abs. 2 GO-RT 1922 (VerhWeimNV, S. 3162). Zweifelnd F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 105: „wobei es im Reich […] undeutlich ist, welche Geschäftsordnung gemeint ist, die der Volksvertretung oder eine besondere des UA.“ 208 VerhWeimNV, S. 4. Diese Reichstagsstatuten datierten vom Sylvester 1918, gingen auf die Geschäftsordnung des Norddeutschen Reichstages zurück, die wiederum aus dem Reglement des preußischen Abgeordnetenhauses hervorgegangen waren. 209 Abdruck in BdRT (Hg.), HdbNV, 1919, S. 72 ff. Vgl. H. Bollmeyer, WeimNV, 2007, S. 62 f. 210 Abdruck in BdRT (Hg.), HdbRT II.  WP, 1924, S.  219 ff. Beschluss in VerhWRT  I (1920/24), S. 9278. 211 Bericht des Geschäftsordnungsausschusses in VerhWRT I (1920/24), Nr. 4411, S. 4865. 212 VerhWRT I (1920/24), Nr. 4411, S. 4865. 213 Vgl. H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 458. 214 F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 183; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 27. 215 Die Anregung, „im Hinblick auf gewisse Vorkommnisse zu bestimmen, daß die Zahl der Ausschußmitglieder eine ungerade sein müsse“, hatte in den Geschäftsordnungsberatungen nicht

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Ausschussmitglieder und Stellvertreter benannten, oblag die Berechnung des jeweils auf sie entfallenden Anteils dem Büro des Reichstags.216 Den Ausschussvorsitzenden und seinen Stellvertreter bestimmten die Ausschüsse gemäß § 30 GO-RT 1922 selbst. § 9 GO-RT 1922 galt für den „Stellenanteil der Fraktionen“, die einen „Anteil an den Stellen […] der Ausschüsse, der Ausschußvorsitzenden und ihrer Stellvertreter“ im „Verhältnis zu ihrer Mitgliederzahl“ beanspruchen konnten; Schriftführer und Berichterstatter wurden gemäß § 30 GO-RT 1922 im Ausschuss gewählt. Die Möglichkeit, mehrere Berichterstatter zu ernennen, diente den Interessen der Minderheiten.217 Gemäß § 31 Satz  1 GO-RT  1922 nahm der Antragsteller, wenn er dem Ausschuss nicht ohnehin angehörte, mit beratender Stimme an den Verhandlungen teil. Der zweite Satz  dieser Bestimmung sah für nicht näher spezifizierte Fälle auch eine Zuziehung anderer Abgeordneter vor und knüpfte damit an die Praxis des 19. Jahrhunderts an, nicht ausschussangehörige, sachkundige Volksvertreter an den Beratungen zu beteiligen. § 34 Abs. 1 Satz 2 GO-RT 1922 bestimmte darüber hinaus, dass andere Abgeordnete als Zuhörer zugelassen waren. Eine Beteiligung der Einsetzungsminderheit, die Max Weber zu Recht so vehement gefordert hatte, garantierte die Geschäftsordnung ebenso wenig wie die Verfassung. Gemäß § 32 GO-RT 1922 hatten die Ausschüsse „Ort, Zeit und Tagesordnung“ ihrer Sitzungen den „beteiligten Ministerien und dem Reichsrat mitzuteilen“. § 34 Abs. 1 GO-RT 1922 sah die Nichtöffentlichkeit der Ausschusssitzungen vor, erkannte aber ausdrücklich die „Ausnahme des in Artikel 34 der Verfassung bezeichneten Falles“ an.218 Der folgende Absatz ermächtigte die Ausschüsse darüber hinaus dazu, „für Teile ihrer Verhandlungen oder für bestimmte Mitteilungen, auch für die Berichterstattung in der Presse, die Vertraulichkeit [zu] beschließen“. Im Schrifttum wurde aus dem unbefriedigenden Zustand, dass es entgegen Art. 34 Abs. 1 Satz 4 RVerf 1919 keine speziellen Geschäftsordnungsregelungen für das parlamentarische Untersuchungsverfahren gab, teilweise abgeleitet, dass den Untersuchungsausschüssen die „Regelung ihres Verfahrens“, soweit auch anareüssiert (Bericht des Geschäftsordnungsausschusses, VerhWRT I (1920/24), Nr. 4411, S. 4866). In der Untersuchung gegen Reichsminister A. Hermes änderte der Reichstagspräsident die Mitgliederzahl später durch Verfügung. s. dazu den Bericht des 26. Ausschusses über die Untersuchung gegen den Reichsminister Dr. Hermes (VerhWRT I (1920/24), Nr.  5485, S.  6014). Für die Zulässigkeit K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 29 ohne Begründung. 216 s. Bericht des Geschäftsordnungsausschusses in VerhWRT I (1920/24), Nr. 4411, S. 4866. Zur „sinngemäßen“ (?) Anwendung dieser Vorschriften im Untersuchungsverfahren vgl. K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 11. 217 Ausschussbericht, VerhWRT I (1920/24), Nr. 4411, S. 4856 (4866). 218 Bei den Beratungen über diese Vorschrift „entspann sich [im Geschäftsordnungsausschuss] eine längere Aussprache über den Begriff der Öffentlichkeit bei den Tagungen der nach Artikel 34 und 35 der Verfassung eingesetzten Ausschüsse.“ Weil sich weder dem Verfassungswortlaut noch den Beratungsprotokollen entnehmen lasse, dass auch die Abgeordneten ausgeschlossen werden könnten, wurde diese Entscheidung dem Plenum vorbehalten (VerhWRT I (1920/24), Nr. 4411, S. 4866 f.).

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logiefähige Bestimmungen fehlten, „durch eigene Beschlüsse überlassen“ worden wäre.219 Tatsächlich sprach für eine solche Sichtweise die parlamentarische Autonomie. b) Der „Arbeitsplan“ vom 16. Oktober 1919 Unklar ist die rechtliche Bedeutung des „Arbeitsplans“, den die Nationalversammlung Mitte Oktober 1919 für den Untersuchungsausschuss zu Ausbruch, Verlängerung und Verlust des Krieges beschlossen hatte.220 Der Untersuchungsausschuss selbst hatte dem Plenum diese Vorlage mit der Begründung zur Genehmigung unterbreitet, dass Art. 34 RVerf 1919 die Regelung des näheren Ausschussverfahrens durch die Geschäftsordnung vorsehe. Ausschussberichterstatter Carl Wilhelm Petersen (DDP) verlangte in der 100. Sitzung der Nationalversammlung, dass die „Geschäftsordnung, die zur Erledigung der Arbeiten […] notwendig [sei,  …] von der Nationalversammlung als solcher bestimmt oder, wie hier ge­beten […], auf Grund des Vorschlages des parlamentarischen Untersuchungsausschusses sanktioniert“ werde. In der Beratung stellte der Vorsitzende des Verfassungsausschusses Conrad Haußmann dann die durch Reichsinnenminister Erich Koch (DDP) ausdrücklich bestätigte These auf, dass dieses Programm „materiell einen Bestandteil [der…] Geschäftsordnung [bilde…], ohne daß es formell nötig [wäre, es…] in die Geschäftsordnung des Reichstags zu übertragen“.221 Inhaltlich sah der „Arbeitsplan“ neben besonderen Vorgaben für den konkreten Fall, die sich nicht für eine Verallgemeinerung eigneten,222 auch allgemeine Ver 219

K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 27. s. VerhWeimNV, S. 3163 sowie den Arbeitsplan Nr. 1187. Abdruck auch bei W. Jellinek, JÖR 9 (1920), 4 (90 f.). 221 VerhWeimNV, S. 3162 f. 222 U. a. bestimmte der Arbeitsplan ein mehrstufiges Verfahren im Ausschussplenum und den Subkommissionen. Als erster Schritt sollte eine Arbeitsüberweisung durch das Plenum „in der Weise [erfolgen], daß entsprechend den […] Fragenkomplexen Untersuchungsausschüsse gebildet [würden…]. Die Wahl der Sachverständigen für diese Untersuchungsausschüsse [sollte ebenfalls…] durch das Plenum“ erfolgen. Daran sollte sich die „Voruntersuchung“ der Unterausschüsse anschließen. Im Interesse ihrer „Arbeitsfähigkeit“ sollten sie „thunlichst klein gehalten werden“, nicht mehr als sechs Mitglieder haben. Die Unterausschüsse sollten „Beweise durch Zeugenvernehmungen usw. […] erheben [dürfen], soweit solche Beweisaufnahmen zur Erfüllung der überwiesenen Aufgaben nötig“ waren. Abschließend hatten sie dem Ausschussplenum „unter Mitteilung des Beweismaterials“ Bericht über das „Ergebnis der Voruntersuchung“ zu erstatten. Das Hauptverfahren im Ausschussplenum diente dazu, die Teilberichte „entgegenzunehmen, auf Grund dieser Berichte, ohne an deren Vorschläge gebunden zu sein, die erforderlichen Beweisaufnahmen anzuordnen und […] durchzuführen“. Als Bericht­erstatter des Gesamtausschusses sollte in der Regel der Referent des Unterausschusses fungieren. Alle Teilberichte sollten durch das Ausschussplenum genehmigt werden. Auch die „Minderheiten“ durften ein Votum abgeben. Der Ausschuss sollte zu Teilberichten an das Reichstagsplenum berechtigt sein, „so daß es nicht des Abschlusses des ganzen Werkes [bedürfe, ehe er…] an die Nationalversammlung“ berichten könne (VerhWeimNV, Nr. 1187, S. 1219 f.). 220

2. Kap.: Parlamentarische Informationsrechte in der Republik

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fahrensregelungen vor: Der Untersuchungsausschuss sollte „verhandlungs- und beschlußfähig sein, wenn die Hälfte seiner Mitglieder auf eine ordnungsgemäße Einladung des Vorsitzenden anwesend“ war. Dem Vorsitzenden gebührte auch die Sitzungspolizei. Die Untersuchung war in „drei Geschäfte“ einzuteilen: An erster Stelle stand die „Urkunden- und Gutachtenbeschaffung (Akten, Literatur und ähnliches)“; „erforderlichenfalls“ sollten ergänzend die „Besitzer solchen Mate­ rials“ öffentlich aufgefordert werden, „es beim Ausschuß einzureichen“. Auf diese vorbereitende Materialsammlung folgte die „Beweiserhebung in öffentlicher Verhandlung mit stenographischer Niederschrift“; der Ausschuss konnte sich aber jederzeit „unter Aussetzung der Beweisaufnahme zu nichtöffentlicher Beratung zurückziehen“. Auf Mehrheitsbeschluss konnte sich der Ausschuss außerdem „an Ort und Stelle der von ihm festzustellenden Tatbestände begeben und dort Beweiserhebungen vornehmen“.  – Die Sitzungen waren „durch sichtbaren öffentlichen Anschlag am Eingang des Vernehmungsraumes und durch die Presse“ anzukündigen. Die „Auskunftspersonen“, die eine „angemessene Vergütung“ erhalten sollten – heute würde man von einer Entschädigung sprechen –, waren „unter kurzer Angabe des Gegenstandes, über den sie aussagen soll[t]en, auf einen bestimmten Tag“ zu laden. Um „mehrmalige Ladungen […] zu verschiedenen Zeiten“ zu vermeiden, sollten die Unterausschüsse entweder im Ausschussplenum oder im schriftlichen Verfahren Zeugenlisten austauschen. Die Beweiserhebungen führte der Ausschussvorsitzende oder ein Abgeordneter durch, der zum Verhandlungsleiter bestellt wurde. Jedes Ausschussmitglied besaß, wie es 1873 bei der preußischen Eisenbahnenquête der Fall gewesen und später wiederholt gefordert worden war,223 ein unbeschränktes Fragerecht. Das Protokoll sämtlicher öffentlicher Verhandlungen war „so zeitig fertig zu stellen und in Druck zu geben, daß es binnen acht Tagen der vernommenen Auskunftsperson und der Presse aller Richtungen übersandt und für den Selbstkostenpreis öffentlich verkauft werden“ konnte. – Die letzten Verfahrensschritte waren die „Beratung der Erhebungsergebnisse und Berichterstattung darüber“. Wie die Beschaffung des schriftlichen Materials sollte die Schlussberatung „in nichtöffentlicher Sitzung“ stattfinden.224 In der Folgezeit sprach ein beachtlicher Teil des Schrifttums diesen Regeln aufgrund der schon von Conrad Haußmann aufgestellten These, dass der „Arbeitsplan“ ohne förmliche Inkorporation trotzdem ein Teil der Geschäftsordnung des Reichstages geworden wäre, allgemeine Geltung zu.225 Andere Autoren verwie-

223

Zur Eisenbahnenquête s. 5. Teil 3. Kap. E. IV. 3. c) und V. 2. VerhWeimNV, Nr. 1187, S. 1220. 225 F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 105; F. Stier-Somlo, StaatsR I, 1924, S. 592; F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 183; G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 220. s. ferner J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 36 oder W. Jellinek, JÖR 9 (1920), 4 (90): Die Nationalversammlung „erhob damit den […] ‚Arbeitsplan‘ zum Bestandteil der Geschäftsordnung des Reichstags.“ A. A. etwa K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 16: die Nationalversammlung habe den Arbeitsplan ausschließlich als „Geschäftsordnung des 15. Ausschusses“ genehmigt. 224

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sen zu Recht darauf, dass der „Arbeitsplan“ in der späteren Geschäftsordnung von 1922 nicht erwähnt wurde.226 Das bisweilen vorgebrachte Argument, der Reichstag habe auch „immer stillschweigend die GO. seines Vorgängers übernommen“,227 schlägt für die spezielle Geschäftsordnung eines konkreten Ausschusses nicht. Angesichts der Tatsache, dass sich verschiedene Ausschüsse wenigstens faktisch an diesen Vorgaben orientierten,228 wurde über eine Bildung von Gewohnheitsrecht nachgedacht.229 Dieser Überlegung hielt Hans-Heinrich Lammers entgegen, dass die Nationalversammlung den „Arbeitsplan“ ausschließlich für den Kriegsschuldausschuss genehmigt habe.230 Ein ähnlicher Status, wie ihn in der Bundesrepublik Deutschland die IPA-Regeln hatten, scheidet ebenfalls aus, sowie die Geltung des Arbeitsplans nicht ausdrücklich beschlossen wurde.231 2. Sonstige Informationsinstrumente Die Geschäftsordnung enthielt noch weitere Regelungen über die Information der Abgeordneten, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Enquêteund Untersuchungsrecht standen. So waren sämtliche Reichstagsmitglieder gemäß § 6 GO-RT 1922 unter bestimmten Kautelen „berechtigt, alle Akten einzu­sehen, die sich in der Verwahrung des Reichstags oder eines Ausschusses“ befanden. Wichtiger ist, dass das Interpellationsrecht und das Recht der „Kleinen Anfragen“ beibehalten wurden (§§ 55 ff., 60 ff. GO-RT 1922). Die Interpellation als das politischere Werkzeug war nach wie vor als Minderheitenrecht ausgestaltet; erforderlich war gemäß § 55 GO-RT 1922 die Unterzeichnung durch 30 Mitglieder. An die Beantwortung schloss sich auf Antrag von 50 Abgeordneten eine Besprechung an. Lehnte die Regierung eine Antwort ab, konnte der Reichstag die Interpellation trotzdem gemäß § 58 GO-RT 1922 zur Besprechung auf die Tagesordnung setzen; die Regierung besaß damit keine Möglichkeit mehr, eine unbequeme Angelegenheit einfach auszusitzen, ohne dass das Parlament sie dafür an den öffentlichen Pranger stellte. Ein geringeres Quorum war für die Kleinen Anfragen vorgesehen, die gemäß § 60 GO-RT 1922 lediglich von 15 Mitgliedern unterstützt

226 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 459; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 16 mit dem Hinweis, dass die Volksvertretung dem Ausschuss, der aufgrund von Art. 34 RVerf 1919 gegen Reichsminister Hermes eingesetzt wurde, erneut überlassen habe, sein Verfahren selbst zu regeln; M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 332 (340). A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 48 vertrat, dass die Nationalversammlung den „Arbeitsplan“ zum Teil  ihrer Geschäftsordnung gemacht habe, dies „allerdings praktisch dadurch gegenstandslos geworden [wäre…], daß der Arbeitsplan in die neue Geschäftsordnung des Reichstages vom 12. Dezember 1922 nicht aufgenommen worden“ sei. 227 F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 105 f. (Hervorhebung nur hier). 228 Dazu H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 459. 229 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 16. 230 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 459. 231 Zu den IPA-Regeln vgl. 8. Teil 4. Kap. D. II.

2. Kap.: Parlamentarische Informationsrechte in der Republik

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sein mussten. Binnen 14 Tagen konnte die Regierung solche Anfragen schriftlich beantworten; andernfalls setzte sie der Präsident gemäß § 61 GO-RT 1922 auf die Tages­ordnung. Nach § 62 Abs. 2 GO-RT 1922 fand über die Antwort der Reichsregierung keine Besprechung statt; der Fragesteller konnte lediglich zur Ergänzung oder Berichtigung der Frage das Wort erhalten. In den §§ 67 f. GO-RT 1922 blieb ebenfalls das Instrument einer Auskunft der Reichsregierung über die Ausführung der Reichstagsbeschlüsse erhalten, das im Kaiserreich in Form von Übersichten aufgekommen war.232

C. Bewertung der parlamentarischen Informationsmöglichkeiten Mit der Weimarer Reichsverfassung war der Schritt in die informationsrechtliche Moderne getan: Erstmals verfügte ein gesamtdeutsches Parlament tatsächlich über auskömmliche Informationsmöglichkeiten einschließlich eines Selbstinformationsrechts, um von der Regierung unabhängig seine Arbeit vorzubereiten bzw. um mit dem Gouvernement oder der Verwaltung ins Gericht zu gehen. Die normative Ausstattung des Reichstags, die – jedenfalls bei konservativer Interpretation – mit den konstitutionellen Grundregeln des Kaiserreichs unvereinbar gewesen wäre, spiegelte die staatsrechtliche „Zeitenwende“233 überdeutlich wider. Galt früher jeder Versuch der Volksvertretung, die Regierungspolitik oder die Tätigkeit der nachgeordneten Bürokratie zu überprüfen, als verfassungswidrig oder mindestens als unpatriotisch, war der Gedanke einer ebenso umfassenden wie unmittelbaren parlamentarischen Kontrolle jetzt allgegenwärtig. Mit dem Ständigen Kontrollausschuss wurde dieses Recht der Volksvertretung sogar noch auf die Zeit zwischen den Sitzungsperioden, durch den Auswärtigen Ausschuss auf den vormaligen Sakralbereich internationaler Beziehungen ausgeweitet. Obwohl das Enquête- und Untersuchungsrecht des Art. 34 RVerf 1919 bereits als Minderheitenrecht eines Fünftels der Reichstagsmitglieder ausgestaltet worden war, hielt das autonome Reichstagsrecht in Anknüpfung an frühere Zeiten auch an Interpellations- und Fragerecht als weiteren minoritären Kontroll- und Informations­ mechanismen fest.

232

Vgl. 6. Teil 2. Kap. B. II. So eine Überschrift bei F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 41.

233

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

3. Kapitel

Die Vermessung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts in Wissenschaft und Praxis A. Die sachliche Reichweite des Enquête- und Untersuchungsrechts Bei dem Versuch, den Kompetenzbereich der Reichstagsuntersuchungsausschüsse gegenüber den übrigen Teilgewalten präzise abzustecken, entwickelten die Weimarer Staatsrechtslehre und Praxis zum Teil bis heute „gültige“ Positionen.234

234

Föderale Kompetenzabgrenzungsfragen, die für den prinzipiellen Durchbruch des Selbstinformationsrechts im Gewaltenteilungsgefüge von bloß untergeordnetem Interesse sind, bleiben im Folgenden grundsätzlich außen vor.  – Zu einem ersten föderalen Streit kam es aber etwa über eine Untersuchung der Zustände in den Haftanstalten, die durch einen Hungerstreik in dem preußischen Zuchthaus Lichtenburg veranlasst wurde (vgl. Vossische Zeitung, Nr. 547, 548, 550, 551 vom 20. bis 23. November 1921). Anders als in Preußen verweigerte die bayerische Regierung dem Ausschuss den Zutritt zu der Festungsstrafanstalt Niederschönenfeld, in der rund 100 Teilnehmer der bayerischen Räterepublik einsaßen. Der von Schikanen geprägte Haftalltag entsprach nicht den reichsgesetzlichen Vorgaben für die Festungsstrafe. Für zusätzlichen Unmut sorgte, dass Kurt Eisners (USPD) Mörder Anton v. Arco-Valley seine Strafe unter besseren Bedingungen auf Landsberg verbüßte. Angesichts des bayerischen Widerspruchs nahm der Ausschuss, in dem „erhebliche Meinungsverschiedenheiten über das Aufsichtsrecht des Reichs […], namentlich über seine Form und Ausdehnung“ herrschten, von der Besichtigung Abstand (vgl. VerhWRT I (1920/24), S. 5359 ff.). – Im Reichstag kam es über den Antrag von USPD und SPD, die „Reichsregierung zu ersuchen, bei der bayerischen Regierung die Genehmigung zur Besichtigung [von…] Niederschönenfeld durch den Untersuchungsausschuß […] einzuholen“, zu einer heftigen Auseinandersetzung. Die Antragsteller wiesen verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Visitation als offenkundig haltlos zurück. Das entsprechende Recht leiteten sie aus Art.  34 RVerf  1919 in Verbindung mit der Reichsaufsicht des Art.  15 RVerf 1919 ab. Als sich Reichsjustizminister Radbruch bereit erklärte, „das Ersuchen […] an Bayern zu übermitteln“, gab der bayerische Gesandte Konrad v. Preger die Erklärung ab, dass seine Regierung „aus grundsätzlichen Erwägungen nicht in der Lage [wäre], sich in eine parlamentarische Erörterung […] vor dem Reichstage einzulassen“. Der Strafvollzug sei Landessache; eine „parlamentarische Erörterung“ stehe allein dem Landtag zu (VerhWRT I (1920/24), S. 5361 ff.). – Tatsächlich war der Antrag der Linken, der nur knapp scheiterte, keineswegs unproblematisch: Zwar knüpfte die Reichsaufsicht bloß an die Gesetzgebungskompetenzen an. Die Organkompetenz aber lag bei der Reichsregierung, nicht dem Reichstag (vgl. H. Holste, Bundesstaat, 2002, S. 473, 476; C. Gusy, WRV, 1997, S. 260 f. und G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 112 f. m. w. N.). Möglicherweise bewertete das Schrifttum die parlamentarischen Forderungen also zu Recht als Kompetenzexzess (vgl. W. Rosenberg, 34.  DJT I, 1926, S.  12 f. und Andrae, DJZ 1922, Sp.  37 ff. mit gesetzesakzessorischer Aufsichtstheorie), obwohl sie von Walter Lewalds „parlamentarischem Oberaufsichtsrecht“ möglicherweise gedeckt waren. s. dazu 7. Teil 3. Kap. A. III.

3. Kap.: Die Vermessung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts

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I. Prolog: Die Korollartheorie als vorkonstitutioneller Ausgangspunkt Großen Einfluss gewann dabei die 1913 von Egon Zweig in der Zeitschrift für Politik ausformulierte „Korollartheorie“, die  – obwohl gewissermaßen vorkonstitutionell  – mit überwiegend unausgesprochenen, nichtsdestotrotz aber erheblichen Unterschieden im Detail zur Grundlage einer diffusen herrschenden Meinung avancierte.235 Der österreichische Autor charakterisierte das Enquête- und Untersuchungsrecht als „die der Volksvertretung, sei es grundgesetzlich, sei es durch ihre Geschäftsordnung eingeräumte oder auch bloß kraft Gewohnheit zukommende Befugnis, Tatsachen und Vorgänge festzustellen und zu untersuchen, deren Kenntnis zur Ausübung der parlamentarischen Funktionen erforderlich“ sei.236 Diese Einrichtung erschien ihm „als logisch oder juristisch notwendiges Korollar“, „als sachliche Vorbereitung und Ergänzung“ der parlamentarischen Aufgaben; in der Konsequenz folgte aus den (materiellen) Kompetenzen der Volksvertretung automatisch die „Zweckund Grenzbestimmung“ der (formellen) „Ermittlungsfunktion“. Auf dieser Grundlage beschrieb der österreichische Öffentlichrechtler als Subtypen des parlamentarischen Selbstinformationsrechts die Wahlenquête, die sich für die Republik mit Art.  31 RVerf  1919 grundsätzlich erledigt hatte,237 die Verwaltungsenquête, um die Voraussetzungen für eine „Überwachung des adminis­trativen Apparats von der Resolution bis hinauf zur Ministeranklage“ zu schaffen, sowie die „praktisch weitaus wichtigste und fruchtbarste Anwendung des parlamentarischen Informationsrechts“, die „Gesetzesenquete“ zur „Sammlung und Sichtung von Tatsachenmaterial“. Die steigende Bedeutung von Wirtschaftsenquêten, also der „Ermittlung ökonomischer und sozialer Sachverhalte“ und insbesondere der „Untersuchung von Arbeits- und Daseinsbedingungen der wirtschaftlich schwächsten Schichten“, interpretierte er als Indiz dafür, dass sich das Enquêterecht an den „Sorgen und Wünschen der Gesamtheit“ ausrichte.238 Obwohl die als „Korollartheorie“ bezeichneten Axiome allgemein Egon Zweig zugeschrieben werden,239 ist die grundsätzliche Charakterisierung des Enquête 235

s. 7. Teil 3. Kap. A. II. E. Zweig, ZfP 1913, 265; wörtlich im Anschluss daran W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 13. 237 Vgl. W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (288); K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  24; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  60. Demgegenüber hielt J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR I2 1930, S. 695 eine parlamentarische Untersuchung in Fällen von „Wahlkorruption in ausgedehntem Maße“ für möglich. 238 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (267 f.). 239 s. aus der Fülle des Schrifttums nur H.  Bockmann, UntersuchungsR, 2010, S.  35 f.; S.  Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S.  71 f.; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 13; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 18; H. Rechenberg, BK  GG (1977/78), Art.  44 Rn.  7; W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S.  13, 88; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 38. 236

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

und Untersuchungsrechts als parlamentarisches Hilfsrecht, das es der Volksvertretung gestattet, „die Nachrichten einzuziehen, welche zur gehörigen Erledigung einer zur Kompetenz des Hauses gehörenden Angelegenheit erforderlich sind“, schon eingedenk dieser Definition Karl Salomo Zachariäs aus dem 19. Jahrhundert offensichtlich älter.240 Ganz im Sinne ihrer limitativen Seite stellte Jacob Scherer 1867 in den Norddeutschen Reichstagsberatungen ausdrücklich fest, dass „Commissionen, die mit der Erhebung der Thatsachen betraut werden soll[t]en, […] sich […] nothwendigerweise innerhalb der Competenz des Reichstages bewegen“ müssten. Dagegen müsse eine unbeschränkte „Befugniß[,] über jede beliebige Thatsache Zeugen- und Sachverständigen-Vernehmung zu veranlassen“, den Reichstag der „größten Gefahr“ aussetzen, „fort und fort über seine Competenz hinaus[zu]greifen und dadurch unnöthigerweise Conflicte herbei[zu]führen“.241 In vergleichbarer Weise urteilte Karl v. Stengel 1894 über Art. 82 PrVerf 1850, „daß sich die Thätigkeit der fraglichen Kommissionen nur auf Gegenstände beziehen [könne…], die überhaupt in die Zuständigkeit der Volksvertretung“ fielen.242 Genau betrachtet ist die in diesen Äußerungen zum Ausdruck kommende Radizierung der formellen Befugnisse einer Volksvertretung auf den Kreis ihrer materiellen Kompetenzen eine staatsrechtliche Selbstverständlichkeit;243 in dieser kompetenzbegrenzenden Dimension ist die Korollartheorie vor dem Passepartout des dienenden Charakters jedes formellen Informationsrechts weit weniger originell als trivial. Selbst ihr ursprünglicher Impetus, das den Kammern überwiegend vorenthaltene Enquête- und Untersuchungsrecht als derart zwangsläufiges und natürliches Gegenstück ihrer unbestrittenen Mitwirkungsbefugnisse zu charakterisieren, um mit diesem rhetorischen Kunstgriff etwaige Widerstände zu überwinden, war ausschließlich im Kontext des konstitutionellen Staatsrechts revolutionär und bahnbrechend. Während dieser kompetenzbegründende Glanz mit Art.  34 RVerf 1919 vollständig verblasst war, dominierten Anleihen bei der Korollartheorie die Versuche zur sachgerechten Abgrenzung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts gegenüber den anderen Gewalten.244

II. Weimarer Spielarten der Korollartheorie Obwohl ihre eigentliche staatsrechtliche Bedeutung also von der Verfassungsentwicklung überholt worden war, fand Egon Zweigs noch zu Kaisers Zeiten entwickelte „Theorie“ in der Weimarer Republik zahlreiche Gefolgsleute. Teils modi 240

K. S. Zachariä, Vierzig Bücher III2 1839, S. 263. VerhNdtRT 1867, S. 446. 242 K. v. Stengel, PrStaatsR, 1894, S. 83. 243 Etwa bestimmte § 36 Bay­Ed­SV  1818, dass „Wünsche und Anträge der einzelnen Mit­ glieder […] nur solche Gegenstände betreffen [konnten], welche in den verfassungsmäßigen Wirkungskreis der Stände sich eignen“. 244 s. 7. Teil 3. Kap. A. II. 241

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fiziert, um Überlegungen zum Interorganverhältnis erweitert und zwischen einem weiten oder engen Verständnis schwankend, beherrschten entsprechende Gedanken das Schrifttum.245 Zwar wurde die Korollartheorie bei den literarischen Versuchen, das neue Selbstinformationsrecht zu vermessen, nicht immer ausdrücklich erwähnt. Die sachliche Nähe der Ausführungen zu dieser herrschenden Lehre rechtfertigt es aber trotzdem, sie als ihre Ausprägungen anzusehen; insoweit wirkte sich natürlich auch die Trivialität ihrer kompetenzverfassungsrechtlichen Grundlagen aus. 1923 stellte der Hallenser Staatsrechtler August Finger apodiktisch fest, dass die Untersuchungsausschüsse „nur das Material zu sammeln, die Aufklärungen herbeizuführen [hätten], welche dem Reichstag eine sachgemäße Erledigung der ihm zugewiesenen Aufgaben ermöglichen soll[e]“.246 Fritz Stier-Somlo gestand den Untersuchungsausschüssen im folgenden Jahr bloß die „Sammlung und Sichtung von Tatsachen“ zu, begrenzte ihre Tätigkeit auf eine „vorbereitende Arbeit für die gesetzgeberische und Aufsichtstätigkeit des Reichstages“ und knüpfte letzten Endes, indem er den Untersuchungsausschüssen jede „kritische Beurteilung“ untersagte, offensichtlich an zu Art.  82 PrVerf  1850 aufgestellte Thesen an.247 Fritz Poetzsch-Heffter beschränkte die Untersuchungsausschüsse 1928 ebenfalls darauf, „die verfassungsmäßigen Entschließungen des Reichstags vorzubereiten“; in diesem Sinne „dien[t]en [sie] nur der Erkenntnis und Klarstellung“, sollten dem „Reichstag seine Stellungnahme zur Vertrauensfrage […] ermöglichen und gegebenenfalls die Frage […] klären, ob die Reichsregierung zur Verantwortung zu ziehen“ wäre. Indem er konstatierte, dass ein Untersuchungsausschuss auch „für die Vorbereitung der Gesetzgebung bestimmt sein“ könne, erkannte der sächsische Ministerialdirektor neben der politischen Kontroll- wenigstens auch die Enquêtefunktion des Selbstinformationsrechts an.248 Auch ältere Gewaltenteilungsressentiments lebten in der Republik wieder auf; so begründete z. B. der erzkonservative Conrad Bornhak die Beschränkung des Untersuchungsrechts auf Legislative und Verwaltungskontrolle mit andernfalls gegenüber der Justiz bestehenden Gefahren.249 Als „Zweckbestimmung und […] Grenze ihrer Zuständigkeit“ charakterisierte Gerhard Anschütz die Aufgabe der Untersuchungsausschüsse, die parlamentarischen „Beschlüsse […] vorzubereiten“. Mit der gemein- oder römischrechtlichen Allegorie, dass der Reichstag seinen Ausschüssen „keine Rechte übertragen [könne], die er selbst nicht [besitze…], z. B. nicht die Vornahme strafprozessualer Untersuchungshandlungen oder die Entscheidung von Streitigkeiten, 245

Vgl. J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR I2 1930, S. 695; O. Bühler, RVerf2 1927, S. 62 oder A. v. Freytagh-Loringhoven, WRV, 1924, S. 119 f. Zu einer Kategorisierung s. S. Schröder, ZParl 1999, 715 (725 f.) m. w. N. 246 A. Finger, StaatsR, 1923, S. 261. 247 F. Stier-Somlo, StaatsR I, 1924, S. 591. Zu zeitgenössischen Stellungnahmen des Schrifttums zu Art. 82 PrVerf 1850 vgl. 5. Teil 2. Kap. B. 248 F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 179. 249 Zitiert nach N. N., DRiZ 1925, Sp.  456. Auch O. Bühler, RVerf2 1927, S.  62 wies auf Gefahren einer „Einmischung in die Aufgaben der ordentlichen Gerichtsbarkeit“ hin.

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welche zur Zustän­ digkeit der Gerichte gehör[t]en“,250 legte der Heidelberger Staatsrechtler zutreffend den wesentlichen Kern der Korollartheorie offen. Eine „enge“ Spielart vertrat 1932 insbesondere Adolf Arndt, der neben der Vorbereitung eines Gesetzesbeschlusses nur die parlamentarische Aufgabe anerkennen wollte, „die Aufsicht über die Regierung auszuüben. Das käme nur in Frage, wenn […] die Abstimmung über ein Vertrauens- oder Mißtrauensvotum vorbereitet werden sollte“; zum „Selbstzweck“ dürfe eine Untersuchung dagegen niemals werden.251 In diesem Sinne war der antiparlamentarisch eingestellte Monarchist und spätere Chef der NS-Reichskanzlei Hans-Heinrich Lammers ebenfalls davon überzeugt, dass eine „Untersuchung […] nie Selbstzweck sein“ dürfe, sondern „immer darauf abzielen [müsse], einen verfassungsmäßig zulässigen Beschluß der Volksvertretung vorzubereiten“.252 Während der Göttinger Gelehrte Julius Hatschek demgegenüber sibyllinisch davon sprach, dass „Untersuchungsausschüsse […] über alles, was zur Kompetenz der Legislatur [gehöre] eingesetzt werden“, könnten; bloß aus einer Fußnote ergab sich, dass ihm eine weite Interpretation vorschwebte,253 entwarf der Doktorand Karl Heck eine dezidiert parlamentsfreundliche Konzeption: Obwohl der spätere Bundesverfassungsrichter konzedierte, dass „ein genügendes Interesse an vielleicht weitgehenden Eingriffen in fremde Sphären nur innerhalb der allgemeinen Zuständigkeit des Parlaments“ bestehen könne, lehnte er doch eine Limitierung des Enquête- und Untersuchungsrechts auf den „Rahmen der Beschlußbefugnisse“ des Reichstags bzw. auf den Kanon von Gesetzes-, Verwaltungs-, Justiz- und Wahl­ enquêten als zu eng ab. Als die „oberste politische Instanz“ verfüge die Volksvertretung zu seiner Überzeugung vielmehr über das Recht, sich mit jedem beliebigen Gegenstand zu befassen, soweit keine Rechtsnormen entgegenstünden.254 Obwohl diese Thesen die Grenzen der geschriebenen Reichstagskompetenzen ein Stück weit aufsprengten, waren doch das unbestreitbare parlamentarische Selbstbefassungsrecht, das in eine Resolution münden konnte, bzw. seine Beschränkung durch in beide Dimensionen kompetenzbeschränkende „Rechtsnormen“ das Verbindungsstück zur Korollartheorie. Ganz ähnlich ging Kurt Egon v. Türcke Ende der 1920er Jahre in seiner Dissertationsschrift davon aus, dass es eine „Reihe von Angelegenheiten [gebe] – etwa die Untersuchung von Arbeits- und Daseinsbedingungen der wirtschaftlich schwächsten Schichten –, die, ohne Vorarbeiten für ein 250

G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 218; ferner C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 8. A. Arndt, AöR n. F. 22 (1932), 339 (343 ff.). 252 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 465 f. s. zur Person D. Rebentisch, NDB XIII, 1982, S. 449 f. 253 s. J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR I2 1930, S. 695, der in Anm. 2 konstatierte, W. Lewalds Auffassung entspreche der seinigen, weil er das Untersuchungsrecht auch von der Reichsgesetzgebungskompetenz abhängig sehe. Trotzdem führte er als Typen „[i]m besonderen […] Ministeranklageenqueten  […], Wahlenqueten, Verwaltungsenqueten und Gesetzesreformenqueten“ an. 254 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 39. 251

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bestimmtes Gesetz zu sein oder ohne eine Kontrolle zu bezwecken, im öffentlichen Interesse vom Parl[ament] aufgeklärt werden soll[t]en“. Ihre Anschlussfähigkeit an die Korollartheorie bewies diese Stellungnahme mit der Feststellung, dass die Untersuchungsausschüsse, weil sich die entsprechenden Gegenstände „nicht zur Behandlung im Plenum eign[et]en“, insoweit „die Arbeit des Parl[aments] unterstützen und ergänzen“ könnten.255

III. Walter Lewalds „parlamentarisches „Oberaufsichtsrecht“ Deutlich weiter ging Anfang der 1920er Jahre Walter Lewald bei dem Versuch, ein Gegenmodell zu der herrschenden Korollartheorie zu entwerfen.256 Für den späteren „Gründervater“ der Neuen Juristischen Wochenschrift257 kreiste die Kompetenzfrage um den archimedischen Punkt, ob sich Art. 34 RVerf 1919 in einer Verfahrensregel erschöpfe oder eine „materielle Zuständigkeitsnorm“ wäre.258 Relevanz maß er dieser Frage für die „politische Enquête“ zu, weil Wahlprüfungsenquêten mit Art. 31 RVerf 1919 obsolet geworden seien und die Gesetzgebungskompetenzen „naturgemäß“ das Recht zu Gesetzesenquêten beschränkten. Sowohl eine „Untersuchung der Verwaltungstätigkeit der Regierung“ als auch eine „kritische Nachprüfung der Verwaltung unter dem Gesichtspunkt ihrer Verfassungsmäßigkeit oder Zweckmäßigkeit“ hätten im Gegensatz zu der akzessorischen Legislativenquête eine in sich „selbst ruhende Bedeutung“ und ließen sich deswegen nicht auf in „funktioneller Abhängigkeit von der Tätigkeit des Parlaments selbst stehende Hilfstätigkeit[en]“ reduzieren. Ihre Zulässigkeit hänge damit davon ab, ob Art. 34 RVerf 1919 eine selbständige Ermächtigung darstelle; andernfalls beschränke sich das politische Untersuchungsrecht auf die Vorbereitung eines Misstrauensvotums (Art.  54 RVerf  1919), einer Präsidenten-, Kanzler- oder Ministeranklage (Art.  59 RVerf  1919).259 Genau besehen zielten diese Überlegungen auf eine abstrakte Verselbständigung der parlamentarischen Kontrollaufgabe ab. Auf diese Vorüberlegungen folgte mit der Feststellung, dass sich diese Kardinalfrage weder im Wege historischer noch mit einer „immanenten Sinndeutung“ eindeutig beantworten lasse, ein eigenwilliges Grundsatzplädoyer für die politische Dezision als Erkenntnismittel anstelle juristischer Auslegungsversuche: An­ gesichts der selbstgemachten interpretativen Misere konstatierte Walter Lewald, dass Art. 34 RVerf 1919 damit zwangsläufig zum „Vehikel des politischen Willens“ 255 K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  9. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (268) spricht die „Wirtschaftsenquête“ bloß im Rahmen der „Gesetzgebungsenquete“ an. 256 W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 und zuvor ders., Enquete, 1922, S. 44 ff., 56 ff. 257 Vgl. H. Weber, NJW 1990, 665 ff. 258 W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (285, 286 und passim). 259 W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (288 ff.).

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werde. In der „nicht theoretische[n], sondern praktische[n] Entscheidung“ wollte er angesichts der verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für die parlamentarische Demokratie der Bedeutungsvariante den Vorzug geben, die dem Reichstag einen „Höchstgrad der politischen Machtstellung“ verschaffe. Vor diesem Hintergrund habe Art. 34 RVerf 1919 die „Bedeutung einer selbständigen mate­riellen Zuständigkeitsnorm“, die die „Zuständigkeit des Parlaments über die durch die anderen Normen des Parlamentsrechts gezogenen Grenzen hinaus“ erweitere.260 Insbesondere folge aus dieser informationsrechtlichen „Generalkompetenzklausel“ für die „Legislative ein inhaltlich unbeschränktes Kontrollrecht gegenüber der Exekutive“.261 Zu guter Letzt deduzierte Walter Lewald aus der Beobachtung, dass die Reichsverfassung zwar augenscheinlich bloß „Spezialkompetenzen [vorsehe], in deren jeder sich eine individualisierte Aufsichtsfunktion“ manifestiere, und diesen Regelungen aber ein „übergreifendes allgemeines Prinzip“ zugrunde liege, das für seine Thesen namensgebende „Oberaufsichtsrecht“. Terminologisch knüpfte er mit diesem Begriff an die konstitutionelle Staatslehre an, die das „jus supremae inspectionis“ aus der Stellung des Monarchen als Inhaber aller Staatsgewalt abgeleitet hatte. Statt aber, wie es die Linke in den Verfassungsberatungen versucht hatte, aus dem historischen Vorbild direkte Weisungs- oder Eingriffsrechte abzuleiten,262 lehnte Walter Lewald jede „Befugnis zum Einschreiten und zur Abhilfe“ ausdrücklich ab, weil dem Reichstag ein „derartiges Exekutivrecht“ nur „durch positiven Verfassungssatz eingeräumt“ werden könne. Zu seiner Überzeugung hatte die aus dem Konstitutionalismus bekannte Verfassungsschutzfunktion der Landstände durch die staatsrechtliche Transition zur parlamentarischen Demokratie lediglich eine „Steigerung der Intensität“ zu einer „Oberaufsicht“ des Reichstages erfahren.263 Wesentliche Konsequenzen hatte diese Konzeption in erster Linie für das föderale Verhältnis. Üblicherweise wurde dem Reichstag bloß eine mittelbare Nachprüfungsmöglichkeit gegenüber den Gliedstaaten zugeschrieben, die an sein Kontrollrecht gegenüber der Reichsregierung im Hinblick auf ihre Handhabung der Reichsaufsicht gemäß Art.  15 RVerf  1919 angeseilt war.264 Im Gegensatz dazu knüpfte Walter Lewalds „Oberaufsichtsrecht“ konstruktiv nicht an die Organkompetenz aus Art.  15 RVerf  1919, sondern an die simultan begründete Verbandskompetenz des Reiches an. Gemeinsam mit der Überlegung, dass in der parlamentarischen Demokratie sämtliche Hoheitsrechte einschließlich aller exekutiven Befugnisse von der Volksvertretung als Mandatar der Volkssouveränität ausgingen, erstreckte sich die „Generalkompetenz“ des Reichstags zwangsläufig auch auf eine parlamentarische Variante dieser Reichsaufsicht. Damit stand Art. 15 260

W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (291, 292 f.). W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (301 f.). 262 Zum „Oberaufsichtsrecht“ s. 2. Teil 1. Kap. C. I. 2. m. w. N. 263 W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (293 ff.). 264 s. nur G. Anschütz, in: HdbDtStR I, 1930, S. 375; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 467 oder J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S. 26 f. 261

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RVerf 1919, der zu Walter Lewalds Überzeugung der Reichsregierung ausschließlich die exekutive Reichsaufsicht vorbehielt, einer „unmittelbare[n] Kontrolle der Landesverwaltung“ durch den Reichstag, die sich ohne Übergriff in die Exekutive auf eine reine „Beobachtungsfunktion“ beschränkte, nicht entgegen.265 Die einzige föderale Voraussetzung war wegen Art. 15 RVerf 1919, dass das Reich über die Gesetzgebungskompetenz verfügte.266 Walter Lewald legte dem Reichstag also im Wege verfassungspolitischer Dezision einerseits ein gegenständlich nahezu unbeschränktes Kontrollrecht bei, das sich andererseits auf die Verwaltungstätigkeit der Gliedstaaten erstrecken sollte.267 Nicht zu Unrecht begegneten diese Forderungen von Anfang an Kritik.268 Karl Heck hielt mit Modifikationen an der Korollartheorie fest und wendete gegen Lewalds „anregend[e]“ Thesen ein, dass ein „genügendes Interesse an vielleicht weitgehenden Eingriffen in fremde Sphären nur innerhalb der allgemeinen Zuständigkeit des Parlaments gegeben sein“ könne; ein „Untersuchungsrecht über diesen Rahmen hinaus [habe…] keinen Sinn“.269 Besonders eingehend ging der Hallenser Doktorand Franz Biedermann mit der Theorie eines „parlamentarischen Oberaufsichtsrechts“ ins Gericht. Die zugrundeliegende „Betrachtungsweise der politischen Untersuchung“ tat er als „übertrieben“ ab; indem das Parlament entweder einen „guten Stand des Gemeinwesens“ konstatiere oder Schritte zur Remedur ergreife, sei bei genauerer Betrachtung auch jede Verwaltungsenquête „auf einen Parlamentsbeschluß gerichtet“. Dass dem Reichstag einerseits die Legislative gebühre, während er die Verwaltung andererseits bloß zu kontrollieren habe, rechtfertige nicht den Schluss, dass eine Enquête das eine Mal akzessorisches Hilfsmittel, das andere Mal aber selbständige Tätigkeit wäre. Die „Auffassung, daß die einschlägigen Grundgesetzartikel nur Verfahrensnormen sein wollten“, hielt Franz Biedermann deswegen für die „vernünftigere“ Theorie. Zudem unterliege Walter Lewalds rein „politische“ Begründung gegenüber einer „staatsrechtlichen Betrachtung, die sich an die Zuständigkeitsnormen der Verfassung“ halte.270 Trotz dieser Fundamentalkritik wollte Franz Biedermann eine „Brücke zwischen Korollar­ theorie und Lewald […] schlagen“, folgerte dann aber konventionell aus dem Gewaltenteilungsprinzip, dass den „Parlamenten im wesentlichen das Gebiet der Gesetzgebung und der Regierungskontrolle“ und dem Reichstag in föderaler Hin 265

W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (298 ff.). W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (309 f.). 267 So heißt es bei W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (301), dass, obwohl sich das „Oberaufsichtsrecht“ nicht zwingend aus der Verfassung ableiten lasse, man „an jener Grenzlinie angelangt [sei], wo die analysierende Ergründung des ‚geltenden‘ Rechts haltmachen [müsse…] und wo die an den Grundgedanken des geltenden Rechts gebildeten Ueberzeugungen von der konkreten Natur des Zweckmäßigen das Recht ‚fortbilden‘ müss[t]en“. 268 R. Smend, Verf und VerfR, 1928, S. 141 in Anm. 1 kritisierte W. Lewalds Bemühungen ohne nähere Begründung als „[u]nbefriedigend“. Ähnl. H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 465 in Fn. 85 („erscheint zu weitgehend“). 269 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 39. 270 F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 53 f. 266

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sicht ein „nahezu unbeschränktes Recht auf Gesetzesenquête“ zustehe. Gegenüber der „vollziehende[n] und richterliche[n] Tätigkeit“ in den Gliedstaaten setzte Franz Biedermann auf die herrschende mittelbare Konstruktion.271

IV. Rudolf Smend: Untersuchungsausschuss und Integration Rudolf Smend vertrat, eingebettet in seine „Integrationslehre“, einen eigenwilligen enquête- und untersuchungsrechtlichen Ansatz.272 Der Berliner Staatsrechtler ging davon aus, dass die Untersuchungsausschüsse, weil die „Verfassung selbst […] nicht ausdrücklich […] die Rolle bloßer Hilfsorgane des Reichstagsplenums“ festschreibe, an ihrer allgemeinen „Integrationsaufgabe“ teilhätten, indem sie eine „politische Einigung durch evidente Klärung politischer Fragen [herbeiführten], die einen wesentlich die Einigkeit hindernden Keil im deutschen politischen Körper darstell[t]en“. Angesichts dessen dürften „solche Ausschüsse“ auch in „den durch Zuständigkeit anderer Reichsorgane oder der Länder gezogenen Grenzen […] verfassungsmäßig sein“.273 Weil diese Auffassung zu vergleichbaren Ergebnissen wie Walter Lewalds extensive Thesen kommt, unterliegt sie derselben Kritik, dass sich allein mit politischen Postulaten keine Verschiebung verfassungsrechtlicher Verbands- oder Organkompetenzen bewerkstelligen lässt.274

V. Zwischenergebnis Durch die genannten Ausweitungsversuche ließ sich das Schrifttum nicht von der Korollartheorie abbringen. Ebenso wenig fanden die Beschränkungsversuche auf die Regierungs- und Verwaltungskontrolle Anklang; die Enquête- wurde wie die Untersuchungsfunktion respektiert.275 Die praktischen Unterschiede der von einer Minderheit favorisierten weiten Spielart der herrschenden Lehre, dem parlamentarischen Oberaufsichtsrecht Walter Lewalds, Franz Biedermanns „Brückenbauprojekt“ oder den moderaten Erweiterungsforderungen aus Karl Hecks Feder dürften nicht allzu groß gewesen sein. In diesem Sinne ging auch Gerhard Anschütz davon aus, dass „vieles, vielleicht das meiste von dem, was Lewald im einzelnen [behaupte…], sich auch 271

F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 55 ff. Zur herrschenden Lehre vgl. die Nachw. in Fn. 264. 272 Zur Integrationslehre vgl. M. Stolleis, GeschÖR III, 1999, S. 174 f. oder P. Badura, Der Staat 16 (1977), S. 305 ff. 273 R. Smend, Verf und VerfR, 1928, S. 141 f. 274 Ähnl. U. Di Fabio, Rechtsschutz, 1988, S. 25. Zu den inhaltlich vergleichbaren Ergebnissen von W. Lewalds und R. Smends Überlegungen s. M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 75. 275 Dazu S. Schröder, ZParl 1999, 715 (722) m. w. N.

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vom Standpunkt der herrschenden Meinung aus vertreten“ lasse.276 Ähnlich urteilte ­Julius Hatschek, dass sich Walter Lewalds Überlegungen, indem er zwar von einer „Generalkontrollkompetenz“ ausgehe, dann aber anerkenne, „daß eine rechtliche Schranke für den Reichstag insoweit bestünde, als sein Untersuchungsrecht durch den Umfang der Reichsgesetzgebungskompetenz begrenzt würde, auch nicht in die Unabhängigkeit der Gerichte eingegriffen werden dürfe“, nicht wesentlich von gängigen Positionen unterscheide.277 Tatsächlich richteten sich Walter­ Lewalds Bemühungen wahrscheinlich primär gegen die engen Varianten der Korollartheorie, die – verschiedenen gouvernementalen Beschränkungsversuchen aus dem 19. Jahrhundert erschreckend ähnlich278 – das Enquête- und Untersuchungsrecht bloß zur Vorbereitung förmlicher parlamentarischer Maßnahmen, nicht aber einer schlichten Resolution zulassen wollten.279 Ungeachtet dessen dominierte die Korollartheorie – ihrer kompetenzbegründenden Funktion weitgehend entkleidet – das Feld, soweit es darum ging, den Radius des neuen parlamentarischen Selbstinformationsrechts des Art.  34 RVerf  1919 den anderen Gewalten oder Glied­ staaten gegenüber zu vermessen.

B. Das Verhältnis zu den anderen Gewalten Von dem Intermezzo der Märzrevolution einmal abgesehen, war ein landständi­ sches oder parlamentarisches Recht, ohne Vermittlung von Regierungsstellen unmittelbar mit privaten Dritten, nachgeordneten Behörden oder Gerichten in Kontakt zu treten, seit über hundert Jahren zurückgewiesen worden. Die wichtigste Grundlage der fundamentalen Ablehnung war in konstitutionellen Tagen das „monarchische Prinzip“ des Art.  57 WSA  1820, unter dessen Herrschaft sämtliche Staatsgewalt wenigstens ideell in der Hand des Landesherrn vereinigt bleiben musste. Für die Volksvertretungen ließ dieser Ansatz bloß eine punktuelle Mitwirkung an der Gesetzgebung, im Steuer- und Budgetwesen sowie eine diffuse Kontrollfunktion mit Adress-, Petitions- und Beschwerderechten übrig. Der „Rest“ der Legislative, ein mehr oder minder freies Verordnungsrecht, die Rechtspflege und insbesondere die gesamte Exekutive zählten zum Hausgut des Monarchen. In diesem Koordinatensystem wirkten parlamentarische Befugnisse, sich unmittelbar an private Auskunftspersonen oder nachgeordnete Behörden zu wenden, als Einbruch in seine ausschließliche Exekutive und als Verletzung des sakrosankten „monarchischen Prinzips“; aus analogen Gründen war in Preußen sogar jede parlamentarische Tätigkeit verpönt, die zu einer Kontrolle, ja zu einem „ZuGericht-Sitzen“ über die Regierung führen und mit einem „Urteil“ der Kammern 276

G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 219. s. aus moderner Sicht N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 447. 277 J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR I2 1930, S. 695 in Anm. 2. 278 s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. b) bb) und cc). 279 s. in diesem Sinne J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 179 f.

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enden konnte. Das Fundament dieser restriktiven Thesen war keine Gewaltenteilung im Sinne Montesquieus, sondern ein in der Wiener Schlussakte festzementierter monarchischer Gewaltenmonismus.280 Eine weitere Quelle von Vorbehalten war die rechtsstaatliche Errungenschaft einer unabhängigen Justiz. Schon nach der kurhessischen „Garde-du-Corps-Nacht“ von 1831 ließ die Regierung verlauten, dass jede Information der Stände warten müsse, bis die Gerichte ihre Arbeit getan hätten. Entsprechende Bedenken kehrten selbst in der Märzrevolution wieder: Etwa stritt das Paulskirchenparlament im Oktober 1848 anlässlich des Ersuchens eines Gerichts, die Verfolgung verschiedener Abgeordneter zu gestatten, in einer viel beachteten Debatte darüber, ob jede parlamentarische Untersuchung der erhobenen Vorwürfe zwangsläufig der Justiz ins Handwerk pfusche.281 Direktere Kollisionssorgen wurden anlässlich des Schweidnitzer Zwischenfalls in der preußischen Vereinbarungsversammlung laut: Weil der Sachverhalt strafrechtliche Relevanz besaß, wurde teils vertreten, dass eine eigenständige Untersuchung durch die Volksvertretung im Revier der Gerichte wildere.282

I. Untersuchungsausschüsse und Exekutive Im Verhältnis des Reichstags zur Exekutive hatte die Transition zu Volkssouveränität, Demokratie und Parlamentarismus die staatsrechtlichen Fundamente des klassischen „Gewaltenteilungsarguments“ endgültig zertrümmert. 1. Grundsätzliche Anerkennung des Selbstinformationsrechts Dementsprechend verstummten die einstmals ubiquitären Stimmen, ein parlamentarisches Enquête- und Untersuchungsrecht wäre staatsrechtlich undenkbar, ja devastiere jede Ordnung, indem ein legislativer Ausschuss genuin exekutive Befugnisse usurpiere, zwangsläufig mit Inkrafttreten der neuen Reichsverfassung. Stattdessen erkannte eine Mehrheit der Autoren sogar das früher umkämpfte „natürliche Recht“ des Reichstags an, freiwillige Zeugen und Sachverständige zu vernehmen. Während die in der Verfassung vorgesehenen strafprozessrechtsanalogen Zwangsbefugnisse überwiegend als Fortschritt angesehen wurden, durch den Art. 34 RVerf 1919 im Vergleich mit dem lückenhaften Art. 82 PrVerf 1850 zur „lex perfecta“ komplettiert werde,283 charakterisierte Fritz Poetzsch-Heffter 280

s. 2. Teil 1. Kap. C. I. 1. s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 3. c) aa). 282 s. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 3. b) und d). 283 s. etwa K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 12: den Parlamenten komme das Recht zu, „Beweiserhebungskommissionen einzusetzen“. „Wie jedermann, so [habe…] auch das Parl[ament] die Befugnis, Tatsachen im Dienst eines bestimmten Zwecks zu ermitteln“. Vgl. C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 33 f. (Zitat); W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (279 f.); F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 80 f. 281

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das Enquête- und Untersuchungsrecht mit allen diesen Attributen „als […] Konsequenz [der] durch die Weimarer Verfassung der Volksvertretung gegebenen Stellung“, die dem Parlament in Reich und Ländern selbst ohne ausdrückliche Ermächtigung zugute komme, solange in der Verfassung nicht ausdrücklich das Gegenteil bestimmt werde. Dass der wissenschaftlich ausgewiesene Praktiker tatsächlich auch die zwangsweise Informationsbeschaffung im Auge hatte, belegt, dass er Art. 34 RVerf 1919 insgesamt als „Ausdruck eines allgemeinen durch die jüngste Entwicklung des Staatsrechtes anerkannten höheren Satzes über die aus seiner allgemeinen Stellung fließende Kontrollbefugnis des Parlamentes“ qualifizierte.284 1926 stellte der Kölner Doktorand Anton Köchling zu Recht fest, dass die Zwangsbefugnisse der Untersuchungsausschüsse nicht mit „exekutivischen Machtbefugnissen“ gleichgesetzt werden könnten; „nicht all das, was sich als Zwang gegenüber den Individuen [herausstelle, sei…] mit begrifflicher Notwendigkeit Verwaltung“. Ausschlaggebend sei im Gegenteil, welches Organ zu welchem Zweck Zwang anwende. Konsequenterweise wäre andernfalls auch von einem „Einbruch der Justiz in die Verwaltung [zu] sprechen“. Dagegen folge aus der Verfassung keineswegs, „daß das Recht der Beweiserhebung monopolartig nur der Regierung und Verwaltung vorbehalten“ wäre, so dass derartige Befugnisse „sehr wohl der Volksvertretung zur Durchführung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben […] zugestanden werden“ könnten.285 Im Gegensatz zu diesen parlamentsfreundlichen Thesen erteilte der vorl StGH im Juli 1921 einem Versuch der Bremer Bürgerschaft, ein Untersuchungsrecht nach dem Muster des Art.  34 RVerf  1919 ohne Verfassungsänderung einzuführen,286 eine deutliche Abfuhr. Zwar erkannten die Leipziger Richter das Recht der Volksvertretung an, „in einzelnen Fällen Untersuchungsausschüsse einzusetzen“, stellten dann aber in Abrede, „daß diesen Ausschüssen durch Gesetz ohne Einhaltung der für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen Förmlichkeiten obrigkeitliche Befugnisse beigelegt werden“ könnten.287 Weil das bremische Staatsrecht

284

F. Poetzsch-Heffter, AÖR n. F. 4 (1922), 210 (232). A. A. H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 459 f., weil ein „solches Recht […] keine dem parlamentarischen System immanente Befugnis“ wäre. 285 A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 42 f. 286 Am 30. Juli 1920 hatte die Bürgerschaft mit 43 zu 40 Stimmen ein Untersuchungsausschussgesetz mit der einzigen Vorschrift beschlossen: „Untersuchungsausschüsse, die die Bürgerschaft einsetzt, können die für erforderlich erachteten Beweise selbst oder mittels Ersuchens der Gerichte oder Verwaltungsbehörden erheben. Dem Ersuchen um Beweiserhebung sind die Bremischen Behörden Folge zu leisten verpflichtet; auch ihre Akten haben sie den Ausschüssen vorzulegen. Auf die Erhebungen der Ausschüsse und der von ihnen ersuchten Behörden finden die Bestimmungen der Strafprozeßordnung sinngemäße Anwendung vorbehaltlich des Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnisses.“ Außerdem wurde in die Geschäftsordnung eine neue Vorschrift aufgenommen, derzufolge „Untersuchungsausschüsse […] auf Antrag von einem Fünftel der Mitglieder der Bürgerschaft einzusetzen“ sein sollten (vorl StGH, RGZ 102, 425 (426)). 287 Vorl StGH, RGZ 102, 425 (427).

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an der überkommenen „Trennung der staatlichen Funktionen“ festhalte, könnten der Bürgerschaft auch bloß durch verfassungsänderndes Gesetz „Befugnisse […] behördlicher, obrigkeitlicher Natur“ beigelegt werden. Jedenfalls monierte der vorl StGH zu Recht, dass die Ausgestaltung als Minderheitsrecht allein durch die Geschäftsordnung erfolgt war, weil das Parlament durch sein autonomes Recht nicht mit dem verfassungsrechtlichen Mehrheitsprinzip brechen könne.288 Im Schrifttum stieß diese Entscheidung, die an überkommenen Gewaltenteilungsvorstellungen festhielt, teilweise auf Zustimmung.289 Andere Autoren versagten dem vorl StGH die Gefolgschaft. Anton Köchling berief sich insoweit auf das wenig schlagkräftige Argument, dass die Bürgerschaft ausdrücklich ebenfalls dazu berufen wäre, „nach Maßgabe [der…] Verfassung und der […] Gesetze“ „bei der Verwaltung“ mitzuwirken.290 Ungeachtet dessen erschien aufgrund der Rechtsprechung zwar jetzt nicht mehr jede außenwirksame Tätigkeit der Volksvertretung, wohl aber ihre Ausstattung mit Zwangsbefugnissen als Verletzung der „echten“ Gewaltenteilung bzw. als verfassungswidriger Einbruch in die Exekutive. In vergleichbarer Weise war es wohl verfassungswidrig, als dem Landtag in Mecklenburg-Vorpommern noch vor dem Erlass der einstweiligen Landesverfassung ein Untersuchungsrecht durch einfaches Gesetz eingeräumt werden sollte.291 2. Parlamentarische Untersuchungsbefugnisse und Exekutive Über die staatsrechtliche Grundsatzentscheidung für die Zulässigkeit eines mit Pflicht und Zwang verbundenen Enquête- und Untersuchungsrechts hinaus hatte Art.  34 RVerf  1919 das informationsrechtliche Verhältnis zwischen der Volks­ vertretung auf der einen sowie der Regierung und Verwaltung auf der anderen Seite auch in früher heftig umkämpften Einzelfragen neu geordnet. a) Aktenvorlage und Amtshilfe Neben der Anerkennung des Rechts der Untersuchungsausschüsse, sich unmittelbar und ohne Vermittlung exekutiver Stellen an Zeugen und Sachverständige zu wenden, kam die neue staatsrechtliche Stellung der Volksvertretung vor allem in dem Requisitions- und Aktenvorlagerecht des Art. 34 Abs. 2 RVerf 1919 zum Ausdruck. Anders als jetzt der Reichstag waren die Ständeversammlungen des 19.  Jahrhunderts für solche Forderungen überwiegend auf die rechtlich ungebundene Kooperationswilligkeit der monarchischen Regierungen angewiesen. 288

Vorl StGH, RGZ 102, 425 (427 ff., 430 f.). s. etwa H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 459 f. und in Fn. 39. 290 A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 42 f. 291 s. dazu T. Linke, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. F Rn. 4 und allg. zur Lage in den „Neuen Ländern“ A. v. Mutius/T. Friedrich, DVBl 1992, 73 (77 ff.). 289

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Seine Aufnahme in die Reichsverfassung dürfte dieses Recht strafprozessualen Ana­logien bzw. den singulären historischen Vorbildern wie in Hohenzollern-Sigmaringen292 oder den weitaus häufigeren Auseinandersetzungen um eine entsprechende Befugnis zu verdanken haben. Im Gegensatz dazu, dass das parlamentarische Selbstinformationsrecht mit dem Aktenvorlagerecht auf den ersten Blick scheinbar wieder ein Fremdinformations­instrument im Schlepptau hatte, war doch seit dem 19. Jahrhundert anerkannt, dass die Einsichtnahme in Behördenakten den Landständen eine unmittelbare Informationsmöglichkeit bot.293 Das Aktenvorlagerecht war die einzige untersuchungsrechtliche Befugnis, die die Reichsverfassung ausdrücklich und ohne Verweisung auf die Strafprozeßordnung verbriefte. Der ausschlaggebende Behördenbegriff wurde wie in alten Tagen gleichermaßen auf Verwaltungsbehörden und Gerichte erstreckt.294 Grundsätzlich galten sowohl Reichs- als auch Landesstellen als dazu verpflichtet, Forderungen eines Reichstags­untersuchungsausschusses nachzukommen.295 Hatte die Kooperation der konstitutionellen Behörden im 19. Jahrhundert noch im Ermessen der monarchischen Regierung gestanden,296 wurde unter der Weimarer Reichsverfassung überwiegend sogar die entsprechende Anwendung von § 96 StPO abgelehnt.297 Dem Rückgriff auf diese Bestimmung, der unter der Bedingung eine Verweigerung der Aktenvorlage gestattet hätte, dass das „Bekanntwerden des Inhalts“ zur Überzeugung der „obersten Dienstbehörde“ dem „Wohle des Reichs oder eines deutschen Landes Nachteil bereiten würde“, wurde entgegengehalten, dass sich die Verweisung des Art.  34 Abs.  3 RVerf  1919 auf die Strafprozeßordnung bloß auf die Beweiserhebungen der Ausschüsse, nicht aber auf das insoweit selbständige Aktenvorlagerecht des Art.  34 Abs.  2 Hs. 2 RVerf  1919 erstrecke. Abgestützt wurde diese Annahme mit der Sorge, dass andernfalls das „ganze Untersuchungsverfahren zur Kontrolle der Verwaltung illusorisch“ wäre.298 Die befugnisbegrenzende Wirkung des Strafprozessrechts wurde für das Untersuchungsverfahren also nicht etwa vollständig in Abrede gestellt, sondern die entsprechende verfassungsrechtliche Verweisung lediglich nicht auf das selbständige Aktenvorlagerecht erstreckt. Die Gegenauffassung subsumierte unter den Begriff der „Erhebungen“, die wegen Art.  34 Abs.  3 RVerf  1919 unter sinngemäßer Ägide der 292

s. 2. Teil 2. Kap. A. III. Vgl. 2. Teil 2. Kap. A. I. 2. c) und II. 3. a) aa) (4) zu den in Sachsen-Weimar-Eisenach und Kurhessen vor diesem Hintergrund geführten Streitigkeiten. 294 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 473; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 68; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 87. 295 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 221; F. Stier-Somlo, StaatsR I, 1924, S. 592. 296 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 20 f. 297 Vgl. m. w. N. aus dem zeitgenössischen Schrifttum S. Schröder, ZParl 1999, 715 (737). 298 J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR I2 1930, S.  698 f. (Zitat). s.  außerdem K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 34 f.; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  88; C. Schachtel, Anwendung, 1927, S.  9 f., 35; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  69; A. Finger, StaatsR, 1923, S.  262 und im Ergebnis auch G. Anschütz, RVerf  191914 1933, S. 221 f. 293

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Strafprozeßordnung stehen sollten, auch das Aktenvorlagerecht.299 Außer auf den Wortlaut berief man sich auf Sorgen, dass Verfassungsfeinde das Untersuchungsrecht sonst ungehindert dazu instrumentalisieren könnten, ihrerseits die Strategie der (Polizei-)Behörden parlamentarisch auszuforschen.300 Der alten Forderung eines allgemeinen „Requisitionsrechts“ trugt Art. 34 Abs. 2 Hs.  1 RVerf  1919 Rechnung, indem Behörden und Gerichte verpflichtet wurden, einem „Ersuchen […] um Beweiserhebungen Folge zu leisten“. Abweichend von der konstitutionellen Rechtslage erhielten die Untersuchungsausschüsse damit gleichzeitig das vormals bestrittene Recht, sich unmittelbar und ohne Vermittlung von Regierungsstellen an „Unterbehörden“ und Gerichte zu wenden. Der Beweiserhebungsbegriff des Art. 34 Abs. 2 Hs. 1 RVerf 1919 wurde, weil die Untersuchungsausschüsse nicht über die erforderlichen Zwangsmittel verfügten, um ihre Beschlüsse selbst zu vollziehen, nicht technisch eng interpretiert, sondern im Sinne einer allgemeinen Amts- und Vollstreckungshilfeklausel ausgelegt.301 Ob einer parlamentarischen Requisition Folge geleistet wurde, stand unter der Weimarer Reichsverfassung nicht länger im Ermessen der ersuchten Stelle: Anders als ihre konstitutionellen und kaiserlichen Vorläufer galten die republikanischen Gerichte und Verwaltungsbehörden als verpflichtet, einem Ersuchen nachzukommen. Teils sollten sie aber die Rechtmäßigkeit des Verlangens prüfen dürfen.302 Statt auf föderale Bedenken Rücksicht nehmen zu müssen, wie sie einem parlamenta­ rischen Selbstinformationsrecht im Norddeutschen Bund entgegengehalten worden waren,303 konnten die Reichstagsuntersuchungsausschüsse auch Landesstellen unmittelbar in Anspruch nehmen.304

299 F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 183 f.; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 473. H. Loening, ThürVerf3 1925, S. 39 f. wollte der obersten Dienstbehörde zu § 23 ThürVerf 1921 wenigstens in der Frage, „ob ein Bekanntwerden des Akteninhalts dem Wohle des Reiches oder eines deutschen Landes Nachteile [bereite…], unter Berücksichtigung des gesetzlichen Zweckes der Untersuchungsausschüsse […] eine gewisse Zurückhaltung auferlegen“; es reiche keinesfalls aus, „wenn das Bekanntwerden des Akteninhaltes etwa der Regierung unan­ genehm“ sei. 300 Der Jenenser Professor O. Koellreutter, DJZ 1926, Sp. 857 (858) führte das Beispiel, dass „Vertreter einer offen umstürzlerisch gesinnten Partei die Vorlage der Polizeiakten über die­ polizeilichen Maßregeln zum Schutze des Staates gegen die Angriffe dieser Partei forder[t]en“, für die These an, „daß der deutsche Verfassungsgesetzgeber [nicht…] ohne Rücksicht auf staatliche Belange eine schrankenlose Aktenvorlage an die Untersuchungsausschüsse verlangt“ habe. Zur Abhilfe sei § 96 StPO 1924 sinngemäß anzuwenden. 301 F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 183; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 67; G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 219 f.; ferner H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 471. 302 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S.  472; J. W. Jacobsohn, Untersuchungs­ ausschüsse, 1928, S.  46; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  67; F. Stier-Somlo, StaatsR I, 1924, S. 592 und ähnl. F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 85. 303 s. 6. Teil 2. Kap. A. I. und II. 304 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 219 f.; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 472; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  86; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 67 f.

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Ein parlamentarisches Amtshilfeersuchen führte nicht zu einer Befugniserweiterung. Obwohl nach dem Wortlaut des Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 die Vorschriften der Strafprozeßordnung auf die Erhebungen der ersuchten Stelle sinngemäße Anwendung zu finden schienen, griff das Schrifttum mit der Begründung, dass Art. 34 Abs. 2 und 3 RVerf 1919 nicht den Sinn und Zweck habe, jede beliebige Behörde, „nur weil sie vom Untersuchungsausschuß ersucht [werde, …] mit Fähigkeiten auszustatten, die ihr ihrem Charakter nach nicht“ zukämen, auf allgemeine Amtshilfegrundsätze zurück. Als weitere Konsequenz konnten die ersuchten Behörden und Gerichte ebenso wenig auf Mittel zurückgreifen, die zwar ihnen, nicht aber den Untersuchungsausschüssen zustanden.305 Nach verbreiteter Auffassung stiegen die Untersuchungsausschüsse mit diesem Requisitionsrecht bzw. ihren eigenen „exekutiven“ Befugnissen in den Kreis der staatlichen „Behörden“ auf.306 Diese im Vergleich mit vergangenen Zeiten beachtliche Aufwertung dürfte von dem Willen getragen gewesen sein, die letzten Reste gewaltenteilungsrechtlicher Bedenken auszukehren. Indem sich die Volksvertretung ungeachtet der Details dieser staatsrechtlichen Rekonstruktion einer grundsätzlichen Verfassungsentscheidung jedenfalls befugnisrechtlich von der Exekutive emanzipiert hatte, hatte das klassische „Gewaltenteilungsargument“ unbestreitbar ausgedient. b) Beamte als Zeugen Eine parlamentarische Beweiserhebung konnte auch durch eine Zeugenvernehmung von Beamten die Interessen von Regierung und Verwaltung tangieren. Für das Strafverfahren bestimmte § 54 Satz  1 StPO, dass ehemalige und aktive Beamte nur mit Genehmigung der zuletzt oder derzeitig vorgesetzten Dienstbehörde über Umstände vernommen werden durften, auf welche sich die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezog. Entsprechend dieser strafprozessualen Vorgabe hatte der Kriegsschuldausschuss 1919 in der Nationalversammlung beantragt, die Reichsregierung zu ersuchen, alle Beamten von der Schweigepflicht zu entbinden.307 Wie die Praxis hielt auch das Schrifttum eine Aussagegenehmigung im parlamentarischen Untersuchungsverfahren für erforderlich.308 Karl Heck urteilte zwar, dass 305 s. K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  43 und F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  86: „Unzulässige richterliche Handlungen dürfen die Untersuchungsausschüsse nicht verlangen.“ 306 Vgl. G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 219 f.; O. Bühler, RVerf2 1927, S. 61; E. ­Hubrich, VerfR, 1921, S.  74; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  28. A. A. F. Stier-Somlo, StaatsR  I, 1924, S. 591; F. Poetzsch-Heffter, AÖR n. F. 4 (1922), 210 (234). 307 Abdruck des Ausschussantrags in VerhWeimNV, Nr. 1187, S. 1218. s. dazu A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 62. 308 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 471; L. Waldecker, PrVerf 19202 1928, S. 98; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S.  50 f.; C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 34 f.

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ihre Erteilung „reine Ermessenssache“ wäre, so dass eine „ziemlich weitgehende Schranke […] zugunsten der Gewaltenteilung“ bestehe.309 Wie auch andere Autoren schätzte er die Missbrauchsgefahr dennoch als gering ein, weil der zuständige Ressortminister vom Vertrauen des Parlaments abhänge.310 Trotzdem erkannte er die Gefahren einer Verweigerung „für eine untersuchende Minderheit, welche gegenüber einem sich auf die Mehrheit stützenden Minister insoweit machtlos“ sei, sah aber einen gewissen Ausgleich darin, „daß die Vorlage der Akten nie ver­ weigert werden“ dürfe.311 Gegen die Notwendigkeit einer Aussagegenehmigung wendete sich August Finger, weil sonst der „Zweck dieser Ausschüsse […] nicht erreicht werden [könne…], wenn das Amtsgeheimnis ihnen gegenüber in vollem Umfang aufrecht erhalten“ bliebe.312 c) Regierungsmitglieder als Zeugen Besonders deutlich spiegelte sich die neue staatsrechtliche Stellung des Parlaments und seiner Untersuchungsausschüsse in der verbreiteten Annahme wider, dass selbst Regierungsmitglieder als Zeugen vorgeladen und vernommen werden könnten. aa) Abgrenzung gegenüber dem Zitierrecht Obwohl bereits frühere Versammlungen wie die preußischen Kammern das Recht besessen hatten, Mitglieder des Staatsministeriums herbeizuzitieren,313 war eine vergleichbare Befugnis der Ausschüsse dem konstitutionellen Staatsrecht in aller Regel fremd. Darüber hinaus unterschied sich das überkommene Zitierrecht substantiell von der modernen Möglichkeit zur Vorladung und Vernehmung von Regierungsmitgliedern als Zeugen. Es war eine offenkundige Hauptschwäche des konstitutionellen Zitierrechts gegenüber diesem Recht, dass die landesherrlichen Minister nicht dazu verpflichtet waren, „auf Anfragen, welche an [sie…] gerichtet [wurden…], zu antworten, oder sich sonst aktiv an den Verhandlungen zu 309 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 60. In vergleichbarer Weise ging F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 97 zwar davon aus, dass die Aussagegenehmigung nicht aus jedem beliebigen Grund verweigert werden dürfe, sondern in der Voraussetzung, dass das Wohl des Reiches oder eines Landes gefährdet erscheine, „eine einigermaßen feste Umgrenzung der Genehmigungsverweigerung“ liege. Dann konstatierte er aber, dass „keine Pflicht der Regierung [bestehe], bei Vorliegen der Voraussetzungen die Beamten von ihrer Verschwiegenheitspflicht zu befreien“. 310 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 60. s. auch F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 97 oder A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 62. 311 K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 38 f. m. w. N. Im Hinblick auf die Bedeutung für die Minderheit s. ebenfalls K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 60. 312 A. Finger, StaatsR, 1923, S. 262. 313 s. dazu nur H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 351.

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beteiligen“. Aufgrund dieses Umstands kam Conrad Bornhak noch im Dreikaiserjahr zu dem vernichtenden Urteil, dass „diese, lediglich zu einer passiven Assistenz nötigende Bestimmung ohne praktische Bedeutung“ wäre.314 Tatsächlich ließ sich im Konfliktfall nicht einmal das Erscheinen der Minister durchsetzen.315 Unter der Herrschaft der Weimarer Reichsverfassung bestand diese strukturelle Schwäche ein Stück weit fort, indem der StGH für Binnenverfassungsstreitigkeiten auf Reichsebene keine allgemeine Zuständigkeit besaß. Ungeachtet dessen charakterisierte z. B. der Heidelberger Staatsrechtler Gerhard Anschütz das Zitierrecht des Art. 33 Abs. 1 RVerf 1919 als Bürgschaft für das in der Geschäftsordnung näher ausgestaltete „Frage- oder Interpellationsrecht“, weil „Anwesenheit“ eben nicht nur „stummes Dabeisitzen, sondern Beteiligung an den parlamentarischen Verhandlungen“ bedeute; „insbesondere [bestehe] die Pflicht der Minister, auf Anfragen des Reichstags Rede und Antwort zu stehen“.316 Dennoch ließen sich die Regierungsmitglieder, wollte der Reichstag nicht zu dem äußersten Mittel eines Misstrauensvotums greifen, de facto kaum zum Erscheinen oder zu einer Antwort zwingen. Ebenso wenig unterlag eine unwahre Antwort den strafrechtlichen Konsequenzen, die einem falschaussagenden Zeugen drohten. Vollkommen anders gestaltete sich die Lage scheinbar im parlamentarischen Untersuchungsverfahren, sofern Regierungsmitglieder nicht schlicht herbeizitiert, sondern aufgrund von Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 analog der Strafprozeßordnung als Zeugen vorgeladen und vernommen wurden. In diesem Fall verfügte der Untersuchungsausschuss prima facie über weitgehende Zwangsmöglichkeiten, die zur Not selbst Vorführung, Beugehaft oder Zwangsgeld ermöglichten. Tatsächlich verfuhr die Praxis entsprechend; dem Schrifttum erschienen diese interorganschaftlich eigentlich bemerkenswerten Befugnisse anscheinend so selbstverständlich,

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C. Bornhak, PrStaatsR I, 1888, S. 424; L. v. Rönne/P. Zorn, PrStaatsR I5 1899, S. 394. M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 43 Rn. 4. – Etwa beschloss das Abgeordnetenhaus am 9. Februar 1863 in der Beratung über den Gesetz-Entwurf, betreffend die Reisekosten und Diäten und die Kosten amtlicher Stellvertretung der Mitglieder des Hauses der Abgeordneten, der ersichtlich dazu diente, unbequeme Abgeordnete aus dem Beamten- und Richterstand zu drangsalieren, mit großer Mehrheit, „die […] Verhandlung auszusetzen und zuvörderst auf Grund des Art. 60. der Verfassung, die Gegenwart der Minister zu verlangen“. Am folgenden Tag erschienen zwar der Ministerpräsident v. Bismarck und die Minister v. Bodelschwingh, v. Roon, zur Lippe und zu Eulenburg. Otto v. Bismarck erklärte aber, dass die Regierung zwar das „verfassungsmäßige Recht“, keineswegs aber eine „stricte Verpflichtung“ habe, den parlamentarischen „Verhandlungen beizuwohnen“. Zu dieser Provokation ließ er noch hinzu, dass die Sache anders liege, „sobald eines der Häuser des Landtags auf Grund des Art. 60. der Verfassung das Verlangen [ausspreche…], daß das Staats-Ministerium den Sitzungen beiwohnen möge. Die Königliche Staats-Regierung [werde…] stets auf das Bereitwilligste solchem Verlangen, dessen Erfüllung in ihrem eigenen Interesse [liege…], entgegenkommen“. Nach dieser Scheinbeschwichtigung, mit der Bismarck das Bestehen einer verfassungsrechtlichen Pflicht genau besehen nicht anerkannte, äußerte er den „Wunsch […], daß in einem solchen Falle Tag und Zeit […] mit ihr vorher verabredet werde“. (VerhPrAbgH VII/2 (1863), S. 175, 178). 316 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 213. 315

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dass man sie nicht ausdrücklich ansprach, geschweige denn in Frage stellte.317 Immerhin galt der Kreis an Fragen, die einem Minister als Zeugen gestellt werden konnten, als eingeschränkt: Während ein herbeizitiertes Regierungsmitglied zu allen, also auch politischen und rechtlichen Aspekten befragt werden konnte, waren Zeugenvernehmungen auf Tatsachen beschränkt.318 Auf untergeordnete Beamte hatte sich das Zitierrecht, das schon im Konstitutionalismus Ausdruck einer beschränkten politischen Ministerverantwortlichkeit war, nicht erstreckt. In dem Recht, diese Staatsdiener als Zeugen vorzuladen und zu vernehmen, wirkte Max Webers Forderung von 1917 nach, mit Hilfe des ­Enquêteund Untersuchungsrechts das Amtsgeheimnis und damit letzten Endes die Vorherrschaft der Bürokratie zu brechen.319 bb) Beispiele aus der Reichstagspraxis Tatsächlich vernahm der Reichstag verschiedentlich höhere Ministerialbeamte sowie ehemalige oder amtierende Regierungsmitglieder als Zeugen. (1) Ministervernehmungen vor 1932 Einen ersten Präzedenzfall, der noch die alten Eliten des Kaiserreichs betraf, lieferte die von der Nationalversammlung initiierte Kriegsschulduntersuchung. Die mit der Beweiserhebung beauftragten Unterausschüsse griffen nicht nur auf Sachverständige und immenses Aktenmaterial zurück, das ihnen von Reichskanzlei, Auswärtigem Amt, Innenministerium, Admiralstab, OHL, Kriegsministerium etc. überlassen wurde, sondern vernahmen auch hochrangige Zeugen wie ehemalige Reichskanzler, Staatssekretäre oder Mitglieder der militärischen Führung bis hinauf zu Hindenburg und Ludendorff .320 317

s. aus dem zeitgenössischen Schrifttum nur G. Anschütz, RVerf  191914 1933, S.  221 f.; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 471 f.; J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR I2 1930, S. 701 f. Schlüssig kommt das Recht zur Zeugenvernehmung bei H. Kaufhold, Untersuchungsverfahren, 1928, S.  34 u. a. darin zum Ausdruck, dass „Mitglieder der Reichsregierung, gegen die der Reichstag Anklage vor dem Staatsgerichtshof zu erheben beabsichtigt[e, auch…] un­beeidet vernommen werden“ sollten. Das gilt mit Unterschieden im Detail ebenfalls für K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 55, 57 f. oder C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 21 ff., soweit sie von der Anwendbarkeit der Strafprozeßordnung bei einer Untersuchung zur Vorbereitung einer Ministeranklage ausgehen. 318 Vgl. den Hinweis des Vorsitzenden in der Untersuchung über die Ruhrentschädigungen in VerhWRT III (1924/28), Nr. 3615, S. 165, 182. 319 Zu Max Webers Konzeption s. 7. Teil 1. Kap. C. 320 Vgl. E. Fischer-Baling, in: Hermann (Hg.), FS Bergstraesser, 1954, S. 117 (124 ff., 129 ff., 134 f., 136 f. und passim) sowie zu den Verhandlungen des 2.  Unterausschusses W. Jellinek, JÖR 9 (1920), 1 (91), die selbständige Publikation der StenBerKSUA 1920, S. 3 ff., 7 ff. sowie das Sachverständigengutachten S. 45 ff.

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Dieses gewissermaßen vorkonstitutionelle Beispiel machte in der jungen Republik rasch Schule: Der erste Untersuchungsausschuss vernahm Reichsernährungsminister Andreas Hermes (Zentrum) als Zeugen, als ihm die linke Opposition Korruption und Amtsmissbrauch vorwarf;321 eine besonders nachsichtige Behandlung dieses „Beschuldigten“ lässt sich dem knappen Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses nicht entnehmen. Einblick in das Procedere eines Untersuchungsausschusses, der nicht auf ein potentiell strafbares persönliches Fehlverhalten gerichtet war, bietet die Untersuchung der „Ruhrentschädigungen“.322 Nach dem bedingungslosen Abbruch des Ruhrkampfes hatte die Regierung Stresemann (DVP) verschiedenen Industriellen unter Führung von Hugo Stinnes u. a. dafür mehrere hundert Millionen Mark gezahlt, dass sie auf eigene Rechnung Reparationslieferungen an die Ententemächte erbracht hatten.323 Schon bald kamen diese Zahlungen vor dem Hintergrund der Krise ins Gerede, bis im Reichstag schließlich eine parlamentarische Untersuchung beschlossen wurde. In diesem Kontext beantragten die Kommunisten Walter Stoecker und Theodor Neubauer Anfang April 1925, „die Minister Dr. Stresemann, Dr. Luther, Sollmann und Schmidt über das Zustandekommen […] und über die Rechtsgültigkeit der Kabinettsbeschlüsse vom 20. Oktober und 1. November als Zeugen zu vernehmen“. Auf Vorschlag des Ausschussvorsitzenden Hans-Erdmann v. Lindeiner-Wildau (DNVP), eines ehemaligen Amtsrichters, der im Sommer 1919 aus dem Staatsdienst ausgeschieden war, wurde die „Rechtsgültigkeit“ mit der Begründung aus dem Antrag gestrichen, dass es sich hierbei um ein „Rechtsgutachten“ handele, obwohl Walter Stoecker insistierte, dass „natürlich […] die anwesenden Zeugen gefragt werden [könnten], wie sie persönlich“ dächten. Prinzipielle Bedenken wurden nicht aus verfassungsrechtlichen, sondern politisch-taktischen Gründen laut, als der Sozialdemokrat Otto Landsberg in Zweifel zog, ob eine „Vernehmung von Ministern“ überhaupt „praktisch“ wäre, bevor man die übrigen Zeugen gehört habe. Obwohl sich der Deutsche Demokrat Johannes Büll dagegen aussprach, „die Herren Minister […] dauernd hier im Ausschuß erscheinen“ zu lassen, bevor man 321

Vgl. VerhWRT I (1920/24), Nr. 5485, S. 6015 („Herr Dr. Hermes hat bei seiner Vernehmung erklärt“, und: „Die vernommenen Zeugen zu vereidigen hat der Ausschuß in seiner Mehrheit nicht für erforderlich erachtet“) und passim (Hervorhebung nur hier). 322 Zu den „Ruhrentschädigungen“ wurden neben den unten genannten Ministern verschiedene Ministerialbeamte strafprozessualen Vorgaben entsprechend vernommen: Die Zeugen wurden zuerst zu den „Personalien“ befragt, anschließend über das „Beweisthema“ informiert, auf die Möglichkeit einer Vereidigung hingewiesen und dann vernommen (VerhWRT III (1924/28), Nr.  3615, S.  184 ff. (Ministerialdirektor Karl Ritter); 190 ff. (Ministerialdirektor Otto Kiep); (Ministerialdirektor Alexander v. Brandt) S. 225 ff.). Teils wurde die Frage einer Aussagegenehmigung angesprochen (S. 190, 225). Wieder beanstandete der Ausschussvorsitzende einzelne Fragen von Ausschussmitgliedern bzw. stellte die Beantwortung dem Zeugen anheim (S. 190). Die Vereidigung wurde aufgeschoben, bis den Zeugen das Protokoll ihrer Vernehmung zur Durchsicht vorgelegen hatte (S. 191, 227). 323 Zu Ruhrkampf, MICUM-Lieferungen etc. s. G. Schulz, Demokratie I2 1987, S. 311 ff.

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sich klar geworden wäre, was man überhaupt wolle, wurde beschlossen, „als Zeugen zu vernehmen die Herren Dr. Stresemann, Dr. Luther, Sollmann und Schmidt“.324 Bei der Vernehmung des parteilosen Hans Luther, den die Reichsregierung von seiner Pflicht zur Verschwiegenheit entbunden hatte, ging der forensisch erfahrene Vorsitzende wie bei „gewöhnlichen“ Zeugen vor, führte den Reichskanzler zunächst in den Stand der Sache und den Gegenstand seiner Vernehmung ein, befragte ihn dann zu den Personalien, mahnte an die „Eidespflicht“ und forderte ihn schließlich dazu auf, „seine Ansichten über die damaligen Vorgänge vorzutragen“;325 Nachfragen einzelner Ausschussmitglieder folgten.326 Versuche von Abgeordneten, über das Beweisthema hinauszugehen und etwa politische Statements abzugeben oder zu veranlassen, beanstandete der Vorsitzende entweder oder stellte dem Zeugen ggf. die Antwort frei. Nach dem Abschluss der Vernehmung konstatierte er, „daß, falls die Beeidigung vom Ausschuß beschlossen werden sollte, sie demnächst [erfolgen könne…], sobald der Herr Reichskanzler Gelegenheit gehabt [habe…], in das stenographische Protokoll Einsicht zu nehmen“.327 – Dass der Reichskanzler selbst ebenfalls davon ausging, dass er im Untersuchungsverfahren als Zeuge geladen und vernommen werden konnte, ist durch eine Äußerung im Reichskabinett belegt.328 Reichsaußenminister Gustav Stresemann erschien ebenfalls als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss, wurde auf die Eidespflicht hingewiesen, zu den Personalien befragt, kurz über den Gegenstand informiert und dann zur Sache vernommen.329 Abschließend kündigte der Vorsitzende dem Zeugen Stresemann an, ihm das „Stenogramm [seiner…] Aussage zugehen zu lassen, bevor der Ausschuß über [die…] eventuelle Vereidigung“ beschließe.330 In derselben Weise wurde mit Reichsfinanzminister Otto v. Schlieben und Reichsminister a. D. Robert Schmidt verfahren.331 In sämtlichen Vernehmungen beanstandete der Vorsitzende HansErdmann v. Lindeiner-Wildau einzelne Fragen von Abgeordneten, forderte ggf. eine Erläuterung oder stellte dem Zeugen eine Antwort frei.332 Eine gewisse Sonderstellung der Minister klang wenigstens darin an, dass Verhinderungen mit Rücksicht auf ihre amtliche Stellung in weitergehendem Umfang entschuldigt wurden, als es bei anderen Zeugen wahrscheinlich der Fall gewesen wäre.333 324

VerhWRT III (1924/28), Nr. 3615, S. 182 f. VerhWRT III (1924/28), Nr. 3615, S. 191 f. 326 VerhWRT III (1924/28), Nr. 3615, S. 192 f. 327 VerhWRT III (1924/28), Nr. 3615, S. 199, 200, 200 f. 328 AktWeiRK (Luther I/II) I, 1977, S. 81: Mitte Februar 1925 erklärte Reichskanzler Luther im Kabinett, „daß, wenn er unter Eid gefragt würde, […] er antworten müsse, daß er an einem privatrechtlichen Abkommen mitgewirkt habe“. 329 VerhWRT III (1924/28), Nr. 3615, S. 207 ff., 216 ff. 330 VerhWRT III (1924/28), Nr. 3615, S. 225. 331 VerhWRT III (1924/28), Nr. 3615, S. 205 ff., 211 ff. 332 VerhWRT III (1924/28), Nr. 3615, S. 202, 213, 215, 218, 219, 223, 224, 225 und passim. 333 Gustav Stresemann ließ sich aus gesundheitlichen Gründen entschuldigen; Wilhelm Sollmann (SPD) gab an, dass er in Köln eine Festrede zum 1. Mai zu halten habe (VerhWRT III (1924/28), Nr. 3615, S. 191). 325

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Alles in allem verfuhr der Untersuchungsausschuss trotzdem in enger Anlehnung an die Strafprozeßordnung; Regierungsmitglieder wurden unabhängig davon, ob sie noch in Amt und Würden waren oder nicht, als Zeugen behandelt. Neben dem bereits geschilderten Ablauf wurde etwa der Zeuge Schmidt, als er während der Vernehmung des Reichskanzlers den Raum betreten hatte, dazu aufgefordert, „solange den Saal zu verlassen, da nach den Vorschriften der Prozeßordnung die Zeugen getrennt vernommen werden müss[t]en“.334 Die eigentlich naheliegende Frage, ob sich die Befugnisse nach Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 überhaupt auf (amtierende) Minister erstreckten oder ob insoweit Art. 33 Abs. 1 RVerf 1919 eine vorrangige „Sonderregelung“ darstellte,335 wurde nicht angeschnitten. (2) Der Streit mit dem Überwachungsausschuss (1932) Ungeachtet dieser praktischen Indolenz der Ausschüsse war die Tatsache, dass sich das neue Vernehmungsrecht einschließlich aller Pflicht- und Zwangsmomente auch auf amtierende Minister erstrecken sollte, im Verhältnis von Reichstag und Reichsregierung eigentlich der revolutionäre Aspekt des Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919. Deutlicher als in einer solchen Unterordnung der Regierung unter eine parlamentarische Zwangsgewalt ließ sich die grundlegende Umkehrung der Machtverhältnisse gegenüber der Monarchie nicht mehr zum Ausdruck bringen. Über die Verpflichtung des Kanzlers und der Reichsminister, vor einem parlamentarischen Untersuchungsgremium zu erscheinen und auszusagen, kam es trotz dieser bemerkenswerten Wende erst nach der Reichstagsauflösung vom September 1932 zum Streit. (a) Vorgeschichte Am 12.  September 1932 kam es in der zweiten Reichstagssitzung nach den Juli­wahlen, aus denen die Nationalsozialisten zwar als stärkste Fraktion, keineswegs aber als Mehrheit hervorgegangen waren,336 zum Eklat, als Reichstagspräsident Göring überraschend kommunistische Anträge auf Aufhebung zweier Notverordnungen337 sowie ein Misstrauensvotum gegen das „Kabinett der nationalen Konzentration“ auf die Tagesordnung nahm. In einer von den National­ sozialisten verlangten Sitzungspause „bewaffnete“ sich der Reichskanzler Franz v. Papen nach dieser Provokation mit einer Auflösungsverordnung des Reichs­

334

VerhWRT III (1924/28), Nr. 3615, S. 194. So W. Jellinek, RuPrVBl 1932, 821 (824). 336 s. zu den Wahlergebnissen B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, S.  296 f., Tab. 11. 337 Vgl. die Verordnungen zur Belebung der Wirtschaft sowie zur Vermehrung und Erhaltung der Arbeitsgelegenheit vom 4. und 5. September 1932 (RGBl. I S. 425 und S. 433). 335

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präsidenten.338 Als Göring nach der Unterbrechung die Wortmeldungen Papens einfach ignorierte und über die kommunistischen Anträge abstimmen ließ, verließ der Reichskanzler mit sämtlichen Regierungsmitgliedern demonstrativ den Reichstag und legte – im Gehen – die Auflösungsurkunde auf dem Tisch des Reichstagspräsidenten nieder. Davon unbeeindruckt, nahm eine erdrückende Mehrheit von 513 Abgeordneten aus nahezu allen Fraktionen mit Ausnahme der DNVP, DVP und verschiedener Splitterparteien die für die Regierung blamablen Anträge an. Erst nach diesem Beschluss verlas Göring die Auflösungsverordnung und qualifizierte diese dann süffisant als „hinfällig“, weil der Reichskanzler und der Reichsinnenminister, die die Verordnung gegengezeichnet hätten, „durch das Mißtrauensvotum der Volksvertretung als gestürzt“ anzusehen wären. Während Göring die nächste Sitzung des Plenums – von der Auflösung ungerührt – auf den folgenden Tag anberaumte, berief der Sozialdemokrat Paul Löbe den ständigen Ausschuss zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung ein. Die Reichsregierung hielt die gefassten Beschlüsse einschließlich des Misstrauensvotums wegen der vorherigen Auflösung für nichtig und sah keinen Grund zur Demission.339 (b) Erstes Ringen um die Teilnahme der Regierung Als Vorsitzender des Überwachungsausschusses forderte Paul Löbe den Reichskanzler zunächst fernmündlich dazu auf, am 13. September an der Sitzung teilzunehmen, „damit der Ausschuß Gelegenheit habe, nicht nur die Auffassung des Reichstags, sondern auch die Auffassung der Reichsregierung kennenzulernen“. Dass Franz v. Papen noch nicht als Zeuge vorgeladen werden sollte, ja der Ausschuss nicht einmal von seinem Zitierrecht aus Art.  33 Abs.  1 RVerf  1919 Gebrauch machte, ergab sich aus dem Zusatz, „daß sich der Herr Reichskanzler für den Fall, daß er nicht selbst erscheinen wolle, ja auch vertreten lassen könne“.340 Obwohl das Kabinett zunächst entschied, die Reichsminister des Innern und der

338 Die Frage, ob F. v. Papen dem Reichstag dieses Instrument demonstrativ vorgezeigt habe, die der spätere bayerische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner (SPD) dahin formulierte, ob es „richtig [wäre], daß der Herr Reichskanzler beim Betreten des Saales auf seinem Platz noch vor Beginn der Sitzung mit der roten Mappe herausfordernd einmal nach den Herren von der deutschnationalen Fraktion und sodann auch nach den Tribünen hin gewinkt“ habe, beschäftigte den Ausschuss stark. s. dazu sowie zum Zeitpunkt der Ausfertigung durch Hindenburg AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 659 (Zitat) sowie S. 657 ff., 662, 666, 677 und passim. 339 s. H. A. Winkler, Weimar4 2005, S. 521 ff.; ferner U. Büttner, Weimar, 2008, S. 476 ff., 480; den Bericht in VerhWRT VI (1932), S. 13 ff. mit Zitat Görings S. 15 sowie den zeitgenössischen Bericht über die „[d]ramatische Reichstags-Auflösung“ und den Artikel „Papen kommt nicht zu Wort“ – „Der Wettlauf mit der Abstimmung“ in der Vossischen Zeitung, Nr. 439, vom 13. September 1932. Sicherlich nicht zu Unrecht urteilte die Zeitung über diese Vorgänge, „daß die Nationalsozialisten […] den plötzlichen Entschluß gefaßt [hätten…], die Regierung und den Reichstag zu überrumpeln“. 340 AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 562.

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Justiz als Reichsregierungsvertreter in den Ausschuss zu entsenden,341 änderte es seine Meinung auf ein Schreiben Görings hin, in dem dieser die Wirksamkeit der Auflösung in Abrede stellte und den Reichskanzler von den in seiner Abwesenheit gefassten Beschlüssen in Kenntnis setzte; weil diese Position aber mit der Einberufung des Überwachungsausschusses unvereinbar war, der wegen Art. 35 Abs. 3 RVerf 1919 ausschließlich „außerhalb der Tagung“ bzw. „nach Beendigung der Wahlperiode“ tagen durfte, verknüpfte die Regierung ihr Erscheinen mit dem Junktim, dass zuvor der „Reichstagspräsident sein Schreiben […] zurückgezogen“ habe.342 Auf dieses Ultimatum reagierte der Ausschuss auf Antrag des späteren bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner (SPD) mit dem gegen die Stimmen der beiden DNVP-Vertreter gefassten Beschluss,343 „daß der Reichskanzler und der Reichsminister des Innern gemäß Artikel 33 der Reichsverfassung im Ausschuß zu erscheinen“ hätten.344 Einstweilen sollte also nur das mildere Zitierrecht zum Zuge kommen, nachdem sich die Regierung einer freiwilligen Ko­ operation verweigert hatte. Noch am 13.  September unternahm Paul Löbe in einem Telefonat mit dem Staatssekretär der Reichskanzlei Erwin Planck darauf einen vergeblichen Vermittlungsversuch; er warnte die Regierung eindringlich davor, dass der Ausschuss ihre „Weigerung“, vor ihm zu erscheinen, „wahrscheinlich“ als „Verletzung der Verfassung“ qualifizieren werde, weil die „Reichsregierung […] keine Bedingungen stellen“ dürfe.345 Die Reichsregierung erwiderte, dass zuerst Göring seine „schwere Verletzung der Verfassung“ aus der Welt schaffen müsse, bevor man „sich wieder dem Ausschuß zur Verfügung stellen könne“. Nachdem Paul Löbe den Ausschuss am Nachmittag entsprechend unterrichtet hatte, wurden der Reichskanzler und der Reichsinnenminister auf sozialdemokratischen Antrag eines „offenen Bruches der Reichsverfassung schuldig“ gesprochen und der Reichspräsident als „Hüter

341

AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 562. Diese Weigerung, die letztlich zu der Untersuchung des Überwachungsausschusses führte, begründete Reichskanzler v. Papen in seiner Vernehmung vor dem Ausschuss so, dass er sich, weil die Regierung angeblich durch ein Misstrauensvotum desavouiert sei, sonst der Gefahr ausgesetzt habe, sich sagen zu lassen: „Was wollen Sie! Da ist die Türe! Sie sind nicht mehr im Amt.“ (AktWeiRK (Papen) II, 1989, S.  656 f.). Zu der Auffassung der Reichsregierung s. auch Vossische Zeitung, Nr. 440, vom 13. September 1932 auf dem Titel: „Neuer Konflikt um die Verfassung“ – „Regierung erscheint nicht vor dem Ueberwachungsausschuß – Appell an Hindenburg“. Tatsächlich lenkte Göring teilweise ein, erkannte die Auflösung an, weil auch ein „gestürzter Reichskanzler“ zur Gegenzeichnung befugt sei, beharrte aber gleichwohl – ein „logischer Bruch, der nicht zu verkitten“ war – darauf, dass die Reichstagsbeschlüsse über die Notverordnungen und das Misstrauensvotum trotzdem wirksam wären (Vossische Zeitung, Nr.  440, vom 13.  September 1932, Titelseite und Kommentar „Reichstags-Epilog“ auf der folgenden Seite). 343 Zu den Abstimmungsverhältnissen s. Vossische Zeitung, Nr.  440, vom 13.  September 1932. 344 K.-H. Minuth, in: AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 573 f. in Fn. 2. 345 AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 574. 342

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der Verfassung“ dazu aufgefordert, sie „unverzüglich“ zur Pflichterfüllung anzu­ halten.346 Zu allem Überfluss bestätigte der Ausschuss die Verfassungsmäßigkeit der Reichstagsbeschlüsse vom Vortag, mit denen die Aufhebung der Notverordnungen gefordert und der Regierung das Misstrauen ausgesprochen worden waren. Dagegen verurteilte er die Auflösungsverordnung ebenso wie die von Franz v. Papen in seiner Rundfunkrede angekündigte „unabhängige Staatsführung“ als verfassungswidrig, die nichts anderes als einen „verfassungswidrigen Angriff auf die verfassungsrechtliche Stellung des Reichstags“ bedeute.347 (c) Die Untersuchung des Überwachungsausschusses Tatsächlich versprach eine Weigerung der Reichsregierung, mit dem Ausschuss zu kooperieren, angesichts dessen Möglichkeit, sich gemäß Art. 35 Abs. 3 RVerf 1919 als Untersuchungsausschuss zu konstituieren, wenigstens aus verfassungsrechtlicher Sicht keinen Erfolg. De facto drohte durch das Fehlen wirkungsvoller Rechtsschutzmechanismen dieser eindeutigen Rechtslage zum Trotz ein politischer Machtkampf. In dieser prekären Lage brachte Joseph Pfleger (BayVP) die Möglichkeit ins Spiel, dass sich der Ausschuss auf das Untersuchungsrecht stützen könne, zog seinen Vorschlag aber wieder zurück, als die Sozialdemokraten und das Zentrum eine Untersuchung ablehnten. Zusätzlich hatte der DNVP-Politiker Ernst Oberfohren vor einer Eskalation gewarnt, weil – mit den Worten eines Berichts in der „Vossischen Zeitung“ – „der Ausschuß mit den Rechten eines Untersuchungsausschusses dahin gehen könne, ein Zeugniszwangsverfahren gegen den Reichskanzler und die anderen Mitglieder des Kabinetts einzuleiten und sie zur Aussage zu zwingen, falls sie sich, wie bisher, weigern sollten, vor dem Ausschuß zu erscheinen“.348 Trotzdem setzte eine destruktive Zweckkoalition aus Nationalsozialisten und Kommunisten am Nachmittag des 14. gegen die Stimmen aller übrigen Parteien den Beschluss durch, die „Vorgänge in der Reichstagssitzung vom 12. September 1932 […] zu untersuchen“. Neben einer Durchsicht der „unkorrigierten amtlichen Stenogramme“ sollten zu diesem Zweck – „jeweils nach Beschluß des Untersuchungsausschusses“ – „der Reichskanzler, der Staatssekretär der Reichskanzlei Planck, Reichsminister des Innern Freiherr von Gayl, Reichstagspräsident Göring, die […] Schriftführer des Reichstags, […] Abgeordnete aller Fraktionen, die die Vorgänge beobachtet“ hätten, als Zeugen vernommen werden. Auch wollte 346 Von diesen Beschlüssen des Überwachungsausschusses setzte Göring Reichspräsident v. Hindenburg durch formloses  (!) Schreiben in Kenntnis. s.  dazu mit wörtlichen Zitaten K.-H. Minuth, in: AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 576 in Fn. 1 und ferner den Bericht in der Vossischen Zeitung, Nr. 440, vom 13. September 1932. 347 K.-H. Minuth, in: AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 574 f. in Fn. 5. 348 s. dazu Vossische Zeitung, Nr. 443, vom 15. September 1932, Titelseite: „Der Konflikt geht weiter“ – „Ueberwachungsausschuß setzt einen Untersuchungsausschuß ein“.

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man „Journalisten, die von der Pressetribüne Zeugen der Vorgänge waren“, ebenso wie „Tribünenbesucher“, die sich freiwillig meldeten, vernehmen, „wie oft, in welcher Form und in welchem Zeitpunkte von einem Regierungsvertreter Wortmeldungen beim amtierenden Präsidenten erfolgt“ waren bzw. „wann und in welcher Form“ die Reichsregierung diesem die Auflösungsverordnung zur Kenntnis gebracht hatte. In einer weiteren Resolution warf der Ausschuss der Reichsregierung darüber hinaus erneut vor, durch ihr „Nichterscheinen […] gegen den klaren Sinn des Artikel 33 Abs. 1 der Reichsverfassung“ zu verstoßen; ihrer „unbedingte[n] Pflicht, vor dem Ausschuß auf dessen Verlangen zu erscheinen“, könne sie sich auch nicht „durch Berufung auf eine juristische Meinung“ entziehen.349 Vor dem Hintergrund dieser gravierenden Vorwürfe stellte sich die Selbstkonstituierung des Überwachungsausschusses als Untersuchungsausschuss eindeutig als eine von der Mehrheit beabsichtigte Eskalation dar, weil sich die Reichsregierung geweigert hatte, den früheren oder dem Zitierbeschluss Folge zu leisten. Die öffentlichen Vernehmungen begannen am 22. September 1932. Am Nachmittag des 27.  erschienen Reichskanzler v. Papen, Reichsinnenminister v. Gayl und der Staatssekretär in der Reichskanzlei Planck vor dem Ausschuss.350 Vor Vernehmungsbeginn stellte Paul Löbe klar, dass sich die Abgeordneten „während der Zeugenvernehmung auf […] Fragen“ über den „Komplex der zu erhebenden Tatsachen“ zu beschränken hätten; die „Beweiswürdigung und die etwaige politische Auseinandersetzung könn[t]e[n] erst nach der Zeugenvernehmung erfolgen“.351 Im Anschluss an diese mäßigenden Belehrungen wurde der Reichskanzler dazu vernommen, „ob [er…] vor Eintritt in die namentliche Abstimmung den Versuch gemacht [habe…], die Auflösungsurkunde dem Reichstag zur Kenntnis zu bringen, […] oder ob beides so spät erfolgt [sei…], daß die Ab­ stimmungen inzwischen rechtswirksam gewesen“ wären. Auf eine Schilderung der Ereignisse durch den Zeugen v. Papen folgten die Fragen der Ausschussmitglieder. Durch Kommunisten wie Nationalsozialisten einschließlich des Reichstagspräsidenten Göring verkam die Vernehmung zu einer unangenehmen Auseinandersetzung um kleinste Details im Ablauf, den exakten Wortlaut minimalster Äußerungen, spezielle Geschäftsordnungsfragen etc.; diese rabulistische Taktik diente allzu offensichtlich bloß dazu, Franz v. Papen in Widersprüche zu verwickeln, um es so aussehen zu lassen, als wäre die Auflösung von vornherein beschlossene Sache gewesen.352 Paul Löbes einleitender Mahnung zum Trotz beschränkten sich Fragen und Antworten keineswegs auf die tatsächlichen Vorgänge vom 12. September. Beide extremistischen Parteien versuchten, den „Zeugen“ vorzuführen, erhoben scharfe

349

K.-H. Minuth, in: AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 586 f. in Fn. 2. AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 650. 351 AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 651. 352 AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 651 ff. 350

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Vorwürfe und gaben politische Stellungnahmen ab, um sich selbst in dieser durchsichtigen Groteske als die eigentlichen Verteidiger von Verfassung und Parlamentarismus zu inszenieren.353 Obwohl der Vorsitzende Löbe verschiedene „Fragen“ beanstandete oder dem Reichskanzler die Antwort freistellte,354 machte etwa die polemische Art der „Befragung“ durch Hans Frank deutlich, wie eingeschränkt die Verteidigungsmöglichkeiten eines Politikers als „Zeuge“ waren.355 Freilich bot diese missliche Stellung zugleich einen bequemen Rückzugsraum: Auf die delikate Frage Franks, „[w]ann […] denn eigentlich von dem Herrn Reichspräsidenten die Auflösungsordre unterzeichnet worden“ sei, erwiderte der Reichskanzler, dass ihn das „Reichskabinett […] lediglich ermächtigt [habe], auszusagen zu den Punkten, die hier zu Debatte stehen“.356 Das Recht der Aussagegenehmigung kam damit zur Verteidigung gegenüber den Nationalsozialisten zum Einsatz. In grundsätzlich vergleichbarer Weise, wenngleich deutlich weniger ausführlich, wurden Reichsinnenminister Wilhelm v. Gayl sowie Staatssekretär Erwin Planck vernommen.357 Für sämtliche Zeugen wurde die „Vereidigung ausgesetzt“,358 also ggf. für einen späteren Zeitpunkt vorbehalten. Als Ergebnis der Untersuchung attestierte die extremistische Ausschussmehrheit Reichstagspräsident Göring, dass er verfassungsgemäß gehandelt habe, weil sich der Reichskanzler zu spät zu Wort gemeldet habe. Über das Verhalten der Reichsregierung fällte man das vernichtende Verdikt, dass sie „in verfassungswidriger Weise“ entschlossen gewesen wäre, den Reichstag noch vor der Abstimmung aufzulösen. Konsequenterweise wiederholte der Ausschuss zusätzlich die Fest­stellung vom 13.  September, „daß die Auflösung […] dem Sinn und Geist der Reichsverfassung“ widerspreche. Mit seiner Forderung, dass die beiden Notverordnungen vom 4.  und 5.  September 1932 sowie verschiedene Umsetzungsmaßnahmen unverzüglich aufgehoben würden,359 knüpfte der republikanische Überwachungsausschuss außerdem bestimmungsgemäß an die Aufgaben der konstitutionellen ständigen Ausschüsse an, die zwischen den Sitzungen dafür Sorge getragen hatten, dass die Regierung die verbindlichen Beschlüsse der Landstände umsetzte.

353 Etwa äußerte Reichstagspräsident Göring: „Was verlangen Sie eigentlich vom Reichstag? Erst soll er Sie anhören, und dann wollen Sie ihn einfach nach Hause schicken!“ „Ich mußte dafür sorgen, daß das Parlament zu Wort kam und die Abstimmung durchgeführt wurde. Das Parlament ist in diesem Falle doch entscheidend gewesen, sonst wäre es doch überhaupt ein Spielball in der Hand der Regierung.“ (AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 675 f.). 354 s. AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 658, 664 sowie S. 667 ff., S. 671 f., 678. 355 AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 655: Statt Fragen erhob der Nationalsozialist in scharfer Form Anklagen und verhöhnte den Zeugen. 356 AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 666. 357 AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 679 ff., 681 ff. 358 AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 651, 679. 359 s. dazu die Zitate aus einem gemeinsamem Schreiben Löbes und Görings vom 28. September 1932 an den Reichskanzler, AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 713 in Fn. 22.

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(d) Zwischenergebnis Nachdem es dieses Mal zu einer spektakulären Machtprobe zwischen einem parlamentarischen Gremium und Mitgliedern der Reichsregierung gekommen war, erregte die Angelegenheit bis in die Tagespresse hinein Aufmerksamkeit. Der Herausgeber der Juristischen Wochenbeilage der „Vossischen Zeitung“, der linksliberale Jurist Erich Eyck, kommentierte am 17. September 1932, dass der Überwachungsausschuss den Reichskanzler wegen Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 als Zeugen vorladen könne. Weil der Regierungschef bei dieser Gelegenheit kein „Organ der Reichsgewalt, sondern lediglich Auskunftsperson [wäre], die juristisch jedem anderen Zeugen gleich[stehe]“, habe er kein Recht, „sein Zeugnis über das […] Beweisthema zu verweigern“. Insbesondere greife gegenüber „Vorgänge[n] in öffentlicher Reichstagssitzung“ niemals die Amtsverschwiegenheit nach dem Reichsministergesetz ein. Weigere sich der Reichskanzler dennoch, vor dem Ausschuss zu erscheinen oder auszusagen, komme nach Art.  34 Abs.  3 RVerf  1919 die Strafprozeßordnung sinngemäß zur Anwendung: Der Ausschuss könne den Reichskanzler dann analog § 70 StPO „zu einer Ordnungsstrafe in Geld und für den Fall, daß diese nicht beigetrieben werden [könne…], zur Strafe der Haft bis zu sechs Wochen zu verurteilen“. Ebenso wäre es „theoretisch möglich“, dass „[g]egen den Reichskanzler […] zur Erzwingung seines Zeugnisses die Haft“ angeordnet werde.360 Kritik an diesen unbestreitbar drastischen Folgen sucht man in diesem Kommentar, der der damals herrschenden Meinung entsprochen haben dürfte, vergeblich. Für die Enquête- und Untersuchungsrechtsentwicklung ist die Auseinander­ setzung in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: In der historischen Dimension verdeutlichte der Konflikt kurz vor dem gewaltsamen Ende der Republik zum letzten Mal den informationsrechtlichen Quantensprung, den die Staatspraxis seit den Tagen des monarchischen Konstitutionalismus vollführt hatte. Konservative verfassungsrechtliche Bedenken, dass es unter keinen Umständen angehe, einen Ausschuss der Volksvertretung über das Ministerium zu Gericht sitzen zu lassen, wie sie der politischen Untersuchungsfunktion des Art. 82 PrVerf 1850 entgegengehalten worden waren,361 hatten sich eindeutig erledigt. Im Vergleich zu älteren Auskunftskonflikten waren die Verhältnisse geradezu auf den Kopf gestellt worden: Hatte sich die kurhessische Kammer noch verzweifelt und häufig erfolglos um Aufklärung bemüht, weil die Regierung ihre schwächlichen interpella­ tionsartigen Rechte schlicht leerlaufen lassen konnte, kämpfte das erzkonservative Kabinett v. Papen in der Weimarer Republik um seine autonome Stellung gegenüber der Volksvertretung. Es ist eine interessante Fußnote dieser Geschichte, dass der geradezu „klassische“ Konflikt – wie in den 1830er Jahren – erneut teilweise 360

E. Eyck, in: Vossische Zeitung, Nr. 448, vom 17. September 1932, S. 3 (Hervorhebung nur hier). 361 Zu entsprechenden Stellungnahmen im Schrifttum s. 5.  Teil 2.  Kap. B. I. sowie II. 2.  b) bb) und c) aa) (1) zu Beispielen aus der Praxis.

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vor einem ständigen Überwachungsausschuss ausgetragen wurde, nachdem die Regierung vergeblich versucht hatte, sich mit einer Auflösung der Versammlung Luft zu verschaffen.362 In staatsrechtlicher Hinsicht handelte es sich bei dem Streit der Regierung v. Papen mit dem ständigen Überwachungsausschuss des Reichstags anscheinend um die erste und einzige Gelegenheit, bei der wenigstens im Ansatz über die Rechte und Pflichten der Regierungsmitglieder gegenüber einem mit Untersuchungsbefugnissen ausgestatteten parlamentarischen Gremium gestritten wurde. Besondere Aufmerksamkeit wurde diesem Umstand gleichwohl nicht zuteil. cc) Verfassungsrechtliche Bewertung Die Reichstagspraxis, Regierungsmitglieder förmlich als Zeugen zu vernehmen, wurde allem Anschein nach im zeitgenössischen Schrifttum stillschweigend gebilligt.363 Ähnlich stellt sich die heute herrschende Meinung dar: In den einschlägigen Handbüchern und Grundgesetz-Kommentaren finden sich keine Zweifel oder auch nur Bedenken gegen derartige parlamentarische Befugnisse; bestenfalls wird den Untersuchungsausschüssen freigestellt, ob sie amtierende Minister herbeizitieren oder als Zeugen vernehmen wollen.364 Als notwendige Konsequenz kommen dann die strafprozessrechtsanalogen Verfahren und Befugnisse der §§ 20 ff. PUAG zum Tragen. Soweit ersichtlich hat bis auf den heutigen Tag ausschließlich der Heidelberger Staats- und Verwaltungsrechtler Walter Jellinek versucht, ein gemäßigtes ­ nquête- und Gegenmodell zu dieser unbestreitbar drastischen Interpretation des E Untersuchungsrechts vorzulegen. (1) Walter Jellineks zitierrechtliches Gegenmodell Anlässlich der Auseinandersetzung des Kabinetts v. Papen mit dem Ständigen Ausschuss des Reichstags entwickelte Walter Jellinek in einem vor der Veröffentlichung dem Staatssekretär im Reichsinnenministerium Erich Zweigert zugespielten Aufsatz im Oktoberheft des Reichs- und Preußischen Verwaltungsblattes die Auffassung, dass Regierungsmitglieder im parlamentarischen Untersuchungs­ verfahren überhaupt nicht als Zeugen vorgeladen, sondern ausschließlich aufgrund 362

Zu den kurhessischen Auseinandersetzungen s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. s. die Nachw. in Fn. 317. 364 s. L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 14 Rn. 17 und ferner M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 43 Rn. 26; S. Magiera, in: Schneider/Zeh (Hg.), ParlamentsR, 1989, § 52 Rn. 5 und zum nordrhein-westfälischen Landesverfassungsrecht J. Menzel, in: Löwer/Tettinger (Hg.), VerfNRW, 2002, Art. 45 Rn. 24. In Nordrhein-Westfalen bringt Art. 45 Abs. 3 LVerfNRW diese Tatsache darin zum Ausdruck, dass die Sätze 1 und 2 über das Zutritts- und Rederecht der Regierungsmitglieder gegenüber Untersuchungsausschüssen nicht gelten sollen. Der zweite Absatz, der das Zitierrecht betrifft, kommt also zur Anwendung. 363

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von Art. 33 Abs. 1 RVerf 1919 vor einen Untersuchungsausschuss zitiert werden könnten. Für die plausible These, dass der Reichskanzler bloß dieser „rein staatsrechtliche[n] Pflicht zum Erscheinen“ unterliege, „hinter [der…] kein Zeugniszwangsverfahren“ stehe, führte der Heidelberger Staats- und Verwaltungsrechtler ins Feld, dass die Reichsverfassung, statt eine „doppelte Erscheinungspflicht […] als Reichskanzler und als Auskunftsperson“ vorzusehen, mit dem Zitierrecht eine abschließende „Sonderregelung“ geschaffen habe; Art. 33 Abs. 1 RVerf 1919 trete deswegen für Regierungsmitglieder „an die Stelle, nicht neben die allgemeine Erscheinungspflicht eines jeden Staatsbürgers“. Bestätigt sah sich Walter Jellinek dadurch, dass die strafprozessuale Regelung, dass „Zeugen zwischen Aufruf und Vernehmung ab[zu]treten“ hätten, mit dem Zutrittsrecht aus Art. 33 Abs. 2 RVerf 1919 inkompatibel sei. Aufgrund des Reichsministergesetzes könne das Kabinett seinen Mitgliedern zudem „über alle mit der Reichstagsauflösung zusammenhängenden Vorgänge Schweigen auferlegen“, weil „jede Vernehmung vor einem Ausschuß, der die Amtsanmaßung des Reichstags vom 12. September“ gutheiße, im Sinne dieses Gesetzes „unabsehbare Nachteile für das Reich mit sich“ bringe.365 Diese mit der modernen Pflicht der Bundesregierung, etwa erforderliche Aussagegenehmigungen zu erteilen,366 unvereinbare Annahme, war eine situationsgebundene Blüte der Injustitiabilität des Weimarer Verfassungslebens. Wegen des Fehlens jeder wirkungsvollen Rechtsschutzmöglichkeit sprach der Staatsrechtler Jellinek der Regierung weiterhin das Recht zu, als Reaktion auf die parlamen­ tarischen Rechtsverletzungen – gleichsam wie im Völkerrechtsverkehr – den diplomatischen Kontakt abzubrechen.367 (2) Historische Argumente Anhaltspunkte für das bis heute allgemein zumindest stillschweigend unterstellte Recht der Untersuchungsausschüsse, selbst aktive Regierungsmitglieder als Zeugen zu behandeln, lieferte Max Webers ursprüngliche Untersuchungsrechtskonzeption von 1917. Zwar war von einer Vorladung von Regierungsmitgliedern in den Entwürfen für Conrad Haußmann keine ausdrückliche Rede; der „Gesetz[entwurf] betr. die mit dem Recht der Erhebung ausgestatteten Kommis­sionen des Reichstags“ behandelte lediglich u. a. die „Ladung von Zeugen und Sachverständigen“ in ihrer „Eigenschaft als Beamte des Reiches“ (§ 5).368 Die einzige Ausnahme am Ende dieses Paragraphen, dass „Mitglieder regierender deutscher­ Dynastien […] nicht vorgeladen werden“ könnten, deutete aber im Gegenschluss 365 W. Jellinek, RuPrVBl 1932, 821 (824). s. auch die Auszüge bei K.-H. Minuth, in: AktWeiRK (Papen) II, 1989, S. 634 f. in Fn. 22 mit der These, v. Gayl habe sich auf diese Ausarbeitung berufen. 366 s. dazu C. v. Cossel, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, § 23 Rn. 26 f. sowie zum Landesrecht T. Linke, a. a. O., Vorbem. F Rn. 18, 65, 69. 367 W. Jellinek, RuPrVBl 1932, 821 (823 f.). 368 Abdruck der Entwürfe bei W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 268 ff.

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darauf hin, dass Max Weber durchaus die Zeugenvernehmung von Regierungs­ mitgliedern vorschwebte. Dafür spricht auch die Passage aus der Begründung seiner Vorschläge, in der er im Hinblick auf die verderbliche Macht der „‚Bürokratie‘ des fachgeschulten Beamtentums“ hervorhob, dass sich diese nicht schon durch das „bloße Bestehen parlamentarischer Institutionen“ brechen lasse; „[s]elbst dann nicht, wenn die Beamten in ihren höchsten Spitzen von dem Vertrauen der Mehrheit des Parlaments abhängig [wären…] oder ihr entnommen“ würden.369 Diese „Beamten in ihren höchsten Spitzen“ konnten aber nur der Kanzler und die Staatssekretäre sein.370 Abweichend davon sollten Regierung, Behörden und Beamte nach den sozialdemokratischen Verfassungsänderungsforderungen aus der Zeit des Kaiserreichs lediglich zur Kooperation mit den neuartigen Reichstagskommissionen verpflichtet sein und ausschließlich Dritte als Zeugen behandelt werden.371 Ebenso wenig liefern die Weimarer Verfassungsberatungen Anhaltspunkte dafür, dass die Untersuchungsausschüsse künftig Regierungsmitglieder als Zeugen vorladen und vernehmen können sollten. Als sich der Geheimrat im Reichsjustizministerium Erich Zweigert einem Vereidigungsrecht künftiger Untersuchungsausschüsse gegenüber kritisch äußerte, gab er beiläufig gleichzeitig zu bedenken, dass die Ausschüsse „nach der Fassung der Vorlage kein Mittel [hätten], daß Erscheinen eines Zeugen zu erzwingen“. Um beide Unsicherheiten aus der Welt zu schaffen, wurde die Verweisung auf die Strafprozeßordnung aufgenommen.372 Hinweise darauf, dass diese schneidigen Befugnisse auch gegenüber Regierungsmitgliedern eingreifen sollten, sucht man vergebens. Der Kontext der Beratungen deutet sogar eher darauf hin, dass es um die Ladung und Vernehmung „gewöhnlicher“ Zeugen ging. Für Regierungsmitglieder blieb dann aber nur Art. 33 Abs. 1 RVerf 1919 übrig. (3) Der abschließende Charakter des Zitierrechts Für den von Walter Jellinek propagierten abschließenden Charakter des parlamentarischen Zitierrechts spricht, dass dieses altehrwürdige Recht in der Reichsverfassung über historische Vorbilder hinaus auf die Ausschüsse ausgedehnt wurde;373 369

W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 272 f. (Hervorhebung nur hier). Staatsrechtlich folgte diese Qualifikation aus den konstitutionellen Grundlagen des Kaiserreichs: Obwohl der Kaiser nicht der Souverän, sondern das erste Organ des Staates war, überließ ihm die Reichsverfassung die gesamte „administrative Gewalt“. Konsequenterweise waren sämtliche Inhaber von Reichsämtern einschließlich des Kanzlers, seiner Stellvertreter und der übrigen Staatssekretäre bloß kaiserliche Gehilfen oder mit anderen Worten: Beamte. s. dazu P. Laband, StaatsR I5 1911, S. 369 f. 371 Vgl. den Antrag Auer in VerhRT VIII/1 (1890/91), Nr. 39. 372 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 266. 373 Vgl. die entsprechende Äußerung Clemens v. Delbrücks (DNVP) im Verfassungsausschuss, VerhWeimNV, Nr. 391, S. 303 f. 370

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demgegenüber hatte der Regierungsentwurf in Übereinstimmung mit Art.  60 Abs. 2 PrVerf 1850 noch lediglich vorgesehen, dass „[j]edes Haus die Anwesenheit des Reichskanzlers und der Reichsminister verlangen“ könne.374 Die Erweiterung erfolgte im Verfassungsausschuss: Gegenüber dem Antrag Ablaß (DDP), dass der Reichstag die Anwesenheit des Kanzlers und der Minister in seinen und den Sitzungen „seiner Ausschüsse verlangen“ könne, regte Richard Fischer (SPD) an, den Ausschüssen das Zitierrecht selbst beizulegen, um einen Plenarbeschluss entbehrlich zu machen. Während Conrad Haußmann (Fortschrittliche Volkspartei) für den Antrag Ablaß anführte, dass die Ausschüsse die Minister zwar grundsätzlich „zum Erscheinen auffordern“ könnten, „wenn es aber zum Konflikt [komme, es…] richtig [wäre], daß der Reichstag“ entscheide, schloss sich Adolf Gröber (Zentrum) „im Interesse der Beschleunigung“ dem sozialdemokratischen Vorschlag an. Sein Parteifreund Peter Spahn ergänzte, dass, „wenn der Reichstag erst entscheiden soll[e,  …] daraus eine Verzögerung von mehreren Monaten entstehen“ könne. Für den Sozialdemokraten Simon Katzenstein war das selbständige Zitierrecht der Ausschüsse eine Folge der Ermächtigung, „für die Beratung und Vorbereitung der ihnen […] übertragenen Geschäfte[,] alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen“. Reichsinnenminister Hugo Preuß hielt ein Zitierrecht poten­ tiell für überflüssig, „da [man sich…] bei der Stellung der Minister zum Reichstag Konfliktsfälle kaum vorstellen“ könne. Ähnlich äußerte sich Clemens v. Delbrück und verwies darauf, dass die „Weigerung von Ministern, selbst zu kommen oder Akten zu schicken, […] früher auf der konstitutionellen Auffassung [beruht habe…], wonach die Minister sich als Beamte des Königs betrachteten“. Trotzdem war der ehemalige Staatssekretär des Innern mit jeder der vorgeschlagenen Fassungen einverstanden. Mit Ausnahme der DDP-Abgeordneten stimmten schließlich alle Mitglieder des Verfassungsausschusses der erweiterten Fassung zu.375 Das bloß drei Tage früher beratene376 Enquête- und Untersuchungsrecht spielte in dieser Debatte keine Rolle. Weder Abgeordnete noch Regierungsvertreter wiesen – was doch nahegelegen hätte – auf ein Recht der Untersuchungsausschüsse hin, Regierungsmitglieder als Zeugen vorzuladen. Eine Bezugnahme wäre schon dadurch wahrscheinlich gewesen, dass der Abgeordnete Fischer gegen Ende der Debatte betont hatte, wie wichtig die „Anwesenheit der Minister […] für den […] Ausschuß für auswärtige Angelegenheiten“ sein könne; diesem Gremium hatte der Verfassungsausschuss aber erst am 8. April 1919 die Befugnisse eines Untersuchungsausschusses zugesprochen, so dass es, die Richtigkeit der These unterstellt, dass auch Regierungsmitglieder als Zeugen geladen werden konnten, auf das Zitierrecht überhaupt nicht angekommen wäre.377

374

Abdruck bei H. Triepel, QuellenSlg5 1931, S. 10 ff. VerhWeimNV, Nr. 391, S. 304 (Hervorhebung nur hier). 376 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 264 ff. 377 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 267 f. 375

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(4) Ein Vergleich mit dem Aktenvorlagerecht Ein weiteres Indiz folgt aus der ausdrücklichen Regelung des Art.  34 Abs.  2 Hs. 2 RVerf 1919, dass die „Behörden“ zur Aktenvorlage verpflichtet sind; schließlich ließe sich ein komplementäres Recht unschwer ebenso gut mit Hilfe der sinngemäßen Anwendung der Strafprozeßordnung konstruieren.378 Ein vergleichbares parlamentarisches Recht, „Akten“ der „Reichs- und Staatsbehörden“ „einzu­ sehen“, fand sich schon unter den Verfassungsreformforderungen von Hugo Preuß im Weltkrieg.379 Im Verfassungsausschuss der Weimarer Nationalversammlung wurde diese Regelung nicht in Zweifel gezogen.  – In der Frage, ob die Regierungsmitglieder unter der Weimarer Reichsverfassung bloß herbeizitiert oder analog der Strafprozeßordnung als Zeugen vorgeladen und vernommen werden konnten, kommt der Aufnahme des deutlich weniger intrikaten Aktenvorlagerechts in den Verfassungstext eine gewisse Indizwirkung zu: Es ist kaum anzunehmen, dass man die deutlich konfliktträchtigere Befugnis, Regierungsmitglieder unter der Androhung von Eid und Zwang als Zeugen vorzuladen und zu vernehmen, nicht ausdrücklich regeln, sondern einer sinngemäßen Anwendung der Strafprozeßordnung überlassen wollte. Indem Auseinandersetzungen durch diese nebulöse Regelung eigentlich vorprogrammiert waren, hätte es vor dem Hintergrund von Art. 34 Abs. 2 Hs. 2 RVerf 1919 nähergelegen, diesen Aspekt des Enquête- und Untersuchungsrechts ebenfalls dezidiert zu ordnen  – folgt man Walter ­Jellineks These, ist mit der Erweiterung des Zitierrechts auf die Ausschüsse nichts anderes geschehen. (5) Das Interorganverhältnis von Regierung und Volksvertretung Die bisherigen Überlegungen lassen durchaus noch die Annahme zu, dass die Reichsverfassung für einen informationsrechtlichen Konflikt gleichsam zwei „Eskalationsstufen“ schaffen sollte – in diesem Sinne stützte sich der Überwachungsausschuss im Spätsommer 1932 zunächst auf Art.  33 Abs.  1 und griff erst auf Art. 34 in Verbindung mit Art. 35 Abs. 3 RVerf 1919 zurück, als die Reichsregierung jede Kooperation verweigerte. Das schlagendste Argument ergibt sich des­ wegen aus in Walter Jellineks Stellungnahme bloß unterschwellig mitschwingenden Vorbehalten; die eher diffusen Sorgen, dass der Reichstag in sinngemäßer Anwendung der Strafprozeßordnung gegen Regierungsmitglieder Zwangsmaßnahmen ergreifen könnte, haben einen handfesten verfassungsrechtlichen Kern.

378 § 96 StPO 1877 lautete: „Die Vorlegung oder Auslieferung von Akten oder anderen in amtlicher Verwahrung befindlichen Schriftstücken durch Behörden und öffentliche Beamte darf nicht gefordert werden, wenn deren oberste Dienstbehörde erklärt, daß das Bekanntwerden des Inhalts dieser Akten oder Schriftstücke dem Wohle des Reichs oder eines Bundesstaates Nach­ theil bereiten würde.“ 379 H. Preuß, Staat, 1926, S. 320.

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Während die Zeugenpflicht gegenüber Behörden und Gerichten teils als allgemeine Bürger-, teils als Pflicht aller Gewaltunterworfenen qualifiziert wurde, deren Erfüllung im Ungehorsamsfall auch erzwungen werden konnte,380 passt dieses Bild eines Subordinationsverhältnisses ersichtlich nicht auf die interorganschaftlichen Beziehungen verschiedener Verfassungsorgane. In der Weimarer­ Republik galt trotz der Entscheidung für den Parlamentarismus eine „klare Scheidung zwischen Regierung und Kontrolle“ (Richard Thoma)  als unverzichtbar.381 Dementsprechend hatte sich schon die Mehrheit des Verfassungsausschusses der Nationalversammlung den kommunistischen Forderungen eines mit Weisungsbefugnissen verbundenen „Oberaufsichtsrechts“ des Reichstages gegenüber exekutiven Stellen verweigert.382 Trotz ihrer gegenüber heutigen Bundesregierungen schwächeren Stellung sollte die Reichsregierung mehr sein als ein „Vollzugsausschuss“ einer Parlamentsmehrheit. Diese Tatsache kam in Art. 53 RVerf 1919 dadurch zum Ausdruck, dass die Regierungsmitglieder nicht im Parlament gewählt, sondern der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag auch die Reichsminister durch den Reichspräsidenten ernannt wurden; das republikanische Staatsoberhaupt hatte mit diesem bemerkenswerten Recht einen gewissen Abglanz monarchischer Macht geerbt. Von Verfassungs wegen kam der Reichsregierung die Stellung eines eigenständigen Staatsorgans zu, das dem Reichstag zwar ver­antwortlich, aber keinesfalls „untertan“ war.383 Diesem Bild wird Art.  33 Abs.  1 bis 3 RVerf  1919 besser als eine Zeugen­ vernehmung von Regierungsmitgliedern gerecht: Das Zitierrecht trägt der parlamentarischen Kontrollkompetenz Rechnung, das korrespondierende Zutrittsund Rederecht erkennt die verfassungsorganschaftliche Selbständigkeit der Regierung an, statt sie zum politischen Spielball parlamentarischer Machtinteressen zu degradieren. Während diese wechselseitigen Rechte und Pflichten der prinzipiellen Gleichordnung beider Seiten und dem verfassungsimmanenten Interorganrespekt gerecht werden, knüpft die durch Pflicht, Zwang und Eid charakterisierte Stellung eines Zeugen an die für das Staat-Bürger-Verhältnis typische Gewaltunterworfenheit an. Selbst die parlamentarische Regierungsverantwortung oder das Recht des Reichstags, den Reichskanzler und jeden Minister mit einem Misstrauensvotum aus dem Amt zu jagen, begründen kein vergleichbares Subordinationsverhältnis.

380 s. einerseits Schaper, in: Holtzendorff (Hg.), Encyclopädie II, 1871, S. 711 und andererseits P. Laband, StaatsR III5 1913, S. 492 f. oder zum Weimarer Untersuchungsrecht C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 27. 381 R. Thoma, in: HdbDtStR I, 1930, S. 510. 382 VerhWeimNV, Nr. 391, S. 263 f. 383 Zur Stellung der Reichsregierung im Weimarer Parlamentarismus vgl. etwa R. Thoma, in: HdbDtStR I, 1930, S. 510; H. Preuß, Staat, 1926, S. 445 f. sowie H. Bollmeyer, WeimNV, 2007, S. 289 ff. und C. Gusy, WRV, 1997, S. 131 ff.

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(6) Fazit: Die Zeugenstellung amtierender Regierungsmitglieder als Irrtum Weder der Normtext und die Systematik der Art. 33 Abs. 1 und 34 Abs. 2 Hs. 2 und 3 RVerf 1919 noch die Weimarer Verfassungsberatungen schließen es aus, dass sich die Verweisung auf die sinngemäße Anwendung der Strafprozeßordnung – anders als bisher nahezu widerspruchslos unterstellt – nicht auf die Ladung und Vernehmung von Regierungsmitgliedern als Zeugen erstrecken sollte. Für eine zurückhaltendere Interpretation sprechen verschiedene Momente einschließlich des Verhältnisses der Verfassungsorgane zueinander. Bei der in Weimar begonnenen Praxis, amtierende Regierungsmitglieder als Zeugen vorzuladen, scheint es sich deswegen um eine übertrieben proparlamentarische Fehlentwicklung zu handeln – die bis heute unverändert fortwirkt.384  – Die durch das Schrifttum akzeptierte Reichstagspraxis fügt sich in das bisherige Bild, dass das überkommene „Gewaltenteilungsargument“ im Verhältnis von Regierung und Volksvertretung jedenfalls nach dem Übergang zu Republik und Demokratie verabschiedet wurde und das Selbstinformationsrecht endlich zu voller moderner Blüte kam. d) Untersuchungsausschüsse als Behörden? Aber selbst ohne das intrikate Recht zur Zeugenvernehmung von Regierungsmitgliedern mussten die vermeintlich von Natur aus exekutiven bzw. judikativen Befugnisse, über die die Volksvertretung neuerdings gebot, den Zeitgenossen als die Innovation des Art. 34 RVerf 1919 erscheinen.385 In diesem Sinne urteilte Gerhard Anschütz, ein ausgewiesener Kenner des kaiserlichen, des monarchischpreußischen und des Weimarer Staatsrechts, dass Art. 34 RVerf 1919 den Untersuchungsausschüssen „in bemerkenswerter Abweichung“ von der alten Rechtslage unter Geltung von Art. 82 PrVerf 1850 „ein bestimmtes Maß exekutivischer, obrigkeitlicher Gewalt und ferner das Recht beigelegt [habe, …] Amts- und Vollstreckungshilfe in Anspruch zu nehmen, ganz so, als wären sie selbst Gerichte und Verwaltungsbehörden“.386 Sprachlich moderat kam er zu dem Schluss, dass den Untersuchungsausschüssen „insofern […] die Stellung von Behörden“ zukomme.387 Andere Autoren zählten im Gegensatz dazu, wahrscheinlich u. a. um der 384

s. dazu unten 8. Teil 4. Kap. C. III. 3. In diesem Sinne urteilte etwa K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  12, dass erst die Tatsache, dass die Untersuchungsausschüsse „mit obrigkeitlichen Machtmitteln ausgestattet [seien,  …] sie aus der Reihe aller anderen Untersuchungsinstrumente […] heraus[hebe]“. Andernfalls wäre ihre Existenz gegenüber der bisherigen Rechtslage keine Neuerung. Es sei keinem „Parl[ament] verwehrt […], Beweiserhebungskommissionen einzusetzen. Wie jedermann, so [habe…] auch das Parl[ament] die Befugnis, Tatsachen im Dienst eines bestimmten Zweckes zu ermitteln“. 386 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 219 f. 387 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 219 f. 385

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vermeintlichen Paradoxie Herr zu werden, dass parlamentarische Gremien über exekutive Befugnisse verfügten,388 die Untersuchungsausschüsse zu den „förmlichen“ oder „obrigkeitlichen Behörde[n]“.389 Freilich gab es schon Stimmen, die das Problem weniger schwarzweiß-begriffsjuristisch angehen wollten: So qualifizierte es Fritz Poetzsch-Heffter deutlich moderner schlicht als eine Frage des „positiven Rechts“, „[o]b die Tatsachenerforschung durch ein förmliches Verfahren den Behörden und Gerichten vorbehalten [werde…], oder ob sie auch ein Mittel zur Verwirklichung der Aufgaben der Volksvertretung“ sei. Versuchen, „[a]us dem Begriff der Regierung oder der Verwaltung“ – also aus relativ starren abstrakten Kategorien – ein „ausschließliches, verfassungsmäßig gesichertes Recht zur förmlichen Beweiserhebung herzuleiten“, sprach er für das republikanische Staatsrecht die Berechtigung ab.390 Zu Recht wendete sich auch Anton Köchling 1926 gegen die durch den vorl StGH bestätigte Gleichsetzung parlamentarischer Untersuchungs- mit „exekutivischen Machtbefugnissen“, weil „nicht all das, was sich als Zwang gegenüber den Individuen [herausstelle, …] mit begrifflicher Notwendigkeit Verwaltung“ wäre. Schließlich spreche auch niemand von einem „Einbruch der Justiz in die Verwaltung“. Seine Charakterisierung des Gewaltenteilungsgrundsatzes, „daß […] die drei Gewalten in Wirklichkeit auf ein Ineinandergreifen und Miteinanderschaffen angewiesen“ waren, wirkt heute noch modern. Konsequenterweise sprach sich der Kölner Doktorand abschließend gegen die damit überflüssige Behördeneigenschaft der Untersuchungsausschüsse aus.391 e) Zwischenergebnis Auch unabhängig von den verbreitet formelhaften Lösungsversuchen für das alte Scheindilemma, dass einem parlamentarischen Gremium keine exekutiven oder judikativen Beweiserhebungsbefugnisse beigelegt werden dürften, hatten die überkommenen gewaltenteilungsrechtlichen Grundsatzressentiments gegenüber dieser Facette des parlamentarischen Selbstinformationsrechts unter der Herrschaft des eindeutigen Art. 34 Abs. 2 und 3 RVerf 1919 ausgedient. Die parlamentarisch-demokratische Euphorie ließ das Pendel aber dieses Mal wohl zu weit in

388

Vgl. A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 40. O. Bühler, RVerf2 1927, S. 61; E. Hubrich, VerfR, 1921, S. 74; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  28 und ferner K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  15 f. unter Hinweis auf die Unabhängigkeit der Ausschüsse vom Wechsel ihrer Mitglieder. Ein zusätzlicher Grund mag gewesen sein, dass sich so die Strafbarkeit eines Meineids begründen ließ. s. dazu S. Schröder, ZParl 1999, 715 (723 f.) m. w. N. 390 F. Poetzsch-Heffter, AÖR n. F. 4 (1922), 210 (234 f.). s. gegen die Behördeneigenschaft auch – ohne nähere Begründung – F. Stier-Somlo, StaatsR I, 1924, S. 591. 391 s. A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 40 ff. zu vorl StGH, RGZ 102, 425 (427 ff.). 389

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die andere Richtung ausschlagen, indem der als Quelle von Zwangsbefugnissen gegenüber privaten Auskunftspersonen konzipierte Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 auch auf das Verhältnis gegenüber der Regierung erstreckt wurde. 3. Der Schutz von Regierung und Verwaltung Als wichtigster Abglanz früherer Selbstherrlichkeit der monarchischen Exekutive könnte heute der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung erscheinen, in den einzubrechen selbst einem Untersuchungsausschuss verwehrt bleibt. Trotz äußerlicher Ähnlichkeiten hat die moderne Begründung dieses auch informations­ rechtlichen Freiraums nichts mit den früheren Thesen auf der Grundlage des „monarchischen Prinzips“ gemein. Statt einer ideologisch begründeten Vormachtstellung der Regierung gibt es heute den Ausschlag, dass unter den Sachgesetzen der Gewaltenteilung jedes Verfassungsorgan über einen impermeablen Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich verfügen muss, wenn es die ihm von der Verfassung zugedachten Aufgaben selbständig und in eigener Verantwortung erfüllen können soll.392 In eine ähnliche Richtung gingen in der Weimarer Zeit mehr begriffsjuristische Überlegungen, dass sich das parlamentarische Untersuchungsrecht auf „‚Tat­ sachen‘, d. h. in der Vergangenheit liegende Tatsachen“, beschränke.393 Julius Hatschek ging mit stärkerer teleologischer Note von einem Verbot aus, der „Verwaltung […] vorzugreifen“ oder „in ein schwebendes Verfahren […] ein[zu]greifen“.394 Ähnlichkeiten mit aktuellen Kernbereichsschutzmomenten sind neben dem terminologischen Ansatz unverkennbar.395 Karl Hecks Begründung für eine exklusive Ex-post-Kontrollkompentenz, dass die „Handlungsfreudigkeit der Regierungsorgane […] nicht durch eine fortgesetzte mißtrauische Kontrolle gelähmt werden“ dürfe, stand modernen Postulaten noch näher. Indem „schwebende Verhandlungen“ immerhin „geheim bleiben“, respektiere die neue Reichsverfassung „trotz Art.  34 eine privilegierte und für den Reichstag unantastbare Sphäre des Dienstgeheimnisses“.396 Eine weitere Begrenzung des Untersuchungsrechts, die als Vorläufer aktueller Überlegungen gelten kann, hob der StGH im Januar 1922 aus der Taufe: Im 392

s. 8. Teil 4. Kap. B. I. So H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 466 (Hervorhebung nur hier) unter Hinweis auf StGH, RGZ 104, 423 (428 ff.), der die These, „daß Untersuchungsausschüsse nur zur Untersuchung bestimmter Tatsachen oder bestimmter Gruppen von Tatsachen eingesetzt werden“ könnten, mit Reichsrecht begründet hatte. 394 J. Hatschek, LandesstaatsR, 1926, S.  581 f. Ähnl. F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 65. 395 BVerfGE 67, 100 (139). Aus dem Schrifttum s. R. Scholz, AöR 105 (1980), 564 (598) oder S. Magiera, in: Sachs (Hg.), GG7 2014, Art. 44 Rn. 9. 396 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 40 f. 393

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württembergischen Landtag wurde die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses aufgrund des dem Reichsverfassungsrecht nachgebildeten § 8 Abs.  2 WürttVerf 1919397 beantragt, um „im Bereich der württembergischen Staatsverwaltung vom 9.  November 1918 ab die Verwaltungsakte zu untersuchen, die vermutlich verdien[t]en, getadelt oder unterdrückt zu werden“. Nachdem das Plenum diesen Antrag auf Vorschlag des Berichterstatters des staatsrechtlichen Ausschusses und ehemaligen Vorsitzenden des Weimarer Verfassungsausschusses Conrad Haußmann (DDP) abgelehnt hatte, wendeten sich die konservativen Antragsteller Wilhelm Bazille, Theodor Körner und Genossen (Fraktion der Bürgerpartei und des Bauernbundes) aufgrund von Art. 19 RVerf 1919 an den StGH.398 Die Leipziger Richter stellten aufgrund eines Vergleichs mit Art. 34 RVerf 1919 klar, dass die dem Ausschuss beigelegte „allgemeine Befugnis“, „jeden beliebigen Verwaltungsakt auf seine Gesetzmäßigkeit oder Zweckmäßigkeit zu prüfen“, „weit über die Grenzen des dem Landtag zustehenden Aufsichtsrechts“ hinausgehe. Ein derartiger Auftrag greife so tief in die Stellung von Regierung und Behörden ein, dass die Grenzen zwischen parlamentarischen und Regierungskompetenzen „verdunkelt und verwischt“ würden.399 Betraf dieser Spruch auch vordergründig primär die Bestimmtheit des Untersuchungsantrags,400 hatte das Gericht doch die Ge­legenheit zu einer grundlegenden Kompetenzabgrenzung genutzt. Im Schrifttum stieß das Urteil auf Zustimmung;401 obwohl der Antrag Bazille augenscheinlich „nur“ auf eine schrankenlose retrospektive Kontrolle sämtlicher Entscheidungen seit dem Zusammenbruch und nicht auch für die Zukunft gerichtet war, wurde die Entscheidung zur Quelle des bis heute gültigen Prinzips, dass dem Parlament eine punktuelle, aber keine fortlaufend-begleitende Kontrolle der Exekutive zusteht.402 397 „§ 8. (1) Der Landtag hat das Recht, die Beseitigung von Mißbräuchen in der Verwaltung vom Staatsministerium zu fordern. Das Staatsministerium hat ihm auf Verlangen über seine Geschäftsführung Auskunft zu erteilen und die Akten vorzulegen. (2) Der Landtag ist berechtigt und auf Antrag eines Fünftels seiner Mitglieder verpflichtet, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten. Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen der Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten; die Akten sind ihnen auf Verlangen vorzulegen.“ 398 StGH, RGZ 104, 423 f. 399 StGH, RGZ 104, 423 (428 ff.). 400 So fassten W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 10 und A. v. Freytagh-Loringhoven, WRV, 1924, S. 119 und in Anm. 2 die Entscheidung zu Recht auf. 401 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 464 und in Fn. 80; W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 10; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 41 in Fn. 1; A. v. Freytagh-Loringhoven, WRV, 1924, S. 119 in Anm. 2. 402 Aus dem zeitgenössischen Schrifttum s. H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 464 und in Fn. 80; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 41. Aus heutiger Sicht vgl. M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn.  39; Dieter Wiefelspütz, ZG 2003, 35 (40); K. Stern, StaatsR II, 1980, S. 63; R. Scholz, AöR 105 (1980), 564 (597 f.); K. J. Partsch, 45. DJT I/3, 1964, S. 15 f. mit Hinweisen auf die Kontroverse in Bundestag und Landesparlamenten.

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Weimarer Staatsrechtslehre und Rechtsprechung reservierten der vollziehenden Gewalt also trotz Parlamentarisierung und Demokratisierung einen Eigenbereich, in den die Volksvertretung selbst im Rahmen ihrer Kontrollfunktion nicht vorbehaltlos eindringen konnte. 4. Bewertung des Verhältnisses zur Exekutive Im Vergleich mit den staatsrechtlichen Verhältnissen des Kaiserreichs hatte sich der Reichstag von einem informationsrechtlich mittellosen Bittsteller zu einer selbständigen Kontrollinstanz gegenüber der Exekutive gemausert. Die Reichsregierung verfügte wegen Art. 34 RVerf 1919 nicht mehr über ein Enquête- und Untersuchungsmonopol; gemeinsame Kommissionen, auf parlamentarisches Ersuchen hin zur Aufarbeitung eines Sachverhalts oder gar zur Kontrolle der Exekutive von der Regierung veranstaltet, gehörten endgültig der Vergangenheit an. Dieser informationsrechtlichen Revolution entsprechend wurden überkommene Argumentationsstrukturen, die auf der vermeintlichen staatsrechtlichen Unmöglichkeit aufbauten, einem parlamentarischen Ausschuss exekutive Befugnisse einzuräumen, komplett verabschiedet. Trotz mancher bis heute fortdauernder Beschränkung der parlamentarischen Untersuchungskompetenz hatte man eindeutig mit der früheren Vormachtstellung der Regierung gebrochen. Literatur und Praxis zogen bei der Auslegung und Anwendung von Art.  34 RVerf  1919 die notwendigen Schlussfolgerungen aus dem unbestreitbaren Sieg des parlamentarischen über das „monarchische Prinzip“ mit seiner eigentümlichen Dominanz der Exekutive. Auch Regierung und Verwaltung begehrten nicht grundsätzlich gegen diesen Paradigmenwechsel auf. Der Konflikt des Kabinetts v. Papen mit dem Überwachungsausschuss hatte keinen prinzipiellen, sondern einen politisch-konkreten Hintergrund: Es ging nicht um das im Grundsatz anerkannte Enquête- und Untersuchungsrecht, dem sich die verschiedenen Regierungen nach hier vertretener Auffassung bei Zeugenvernehmungen ihrer Mitglieder sogar zu weit unterworfen hatten, sondern um die von der parlamentarischen Seite unter extremistischer Regie bestrittene Wirksamkeit der Reichstagsauflösung, die aber ihrerseits wegen Art. 35 Abs. 2 RVerf 1919 eine Voraussetzung für die Tätigkeit des Überwachungsausschusses war. Ungeachtet dieses singulären politischen Hintergrunds gibt der Vorgang Veranlassung, die auch zu Art. 44 GG unangefochtene Annahme, dass selbst amtierende Regierungsmitglieder im parlamentarischen Untersuchungsverfahren als Zeugen vorgeladen, vernommen und ggf. mit Zwangsmitteln zur Kooperation angehalten werden könnten, einer kritischen Überprüfung zu unterziehen.403

403

s. dazu 8. Teil 4. Kap. C. III. 2.

3. Kap.: Die Vermessung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts

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II. Untersuchungsausschüsse und Justiz Nachdem die alte Ablehnung gegenüber jeder Regierungs- und Verwaltungskontrolle oder vermeintlich exekutiven Parlamentsbefugnissen überwunden war, verschob sich der Schwerpunkt der enquête- und untersuchungsrechtlichen Kompetenzstreitigkeiten auf das Verhältnis zu den Gerichten. 1. Prolog: Die Reichstagspraxis seit 1919 Auslöser von Ressentiments aus den Reihen der Richterschaft war der von der Nationalversammlung eingesetzte erste Untersuchungsausschuss der jungen Republik, der die Ursachen, den Verlauf und die Gräueltaten des Weltkriegs sowie die Gründe für den deutschen Zusammenbruch aufarbeiten sollte. Die Arbeit dieses „Kriegsschuldausschusses“ zog sich, durch immer neue Einsetzungsbeschlüsse verlängert, bis in den fünften Reichstag hin.404 a) Paradigma „Kriegsschulduntersuchung“ Soweit es um Vorgänge von potentiell strafrechtlicher Relevanz ging, war der Untersuchungsgegenstand dazu prädestiniert, Zweifel an der Kompatibilität eines parlamentarischen Untersuchungsverfahrens mit der Unabhängigkeit der Justiz zu wecken.405 aa) Vorgeschichte: Der Regierungsentwurf eines StGHG Dem Kriegsschuldausschuss ging ein von der Schweiz vermittelter deutscher Vorschlag an die Ententemächte voraus, eine internationale Kommission mit der Klärung der Schuldfrage zu beauftragen. Nach der absehbaren Schlappe  – die Sieger verwiesen schlicht auf die unzweifelhafte deutsche Alleinschuld – brachte die Regierung Anfang Juni 1919 einen Gesetzentwurf in den Reichstag ein, um wenigstens die nationale Aufarbeitung der Katastrophe voranzutreiben. Vorgesehen war ein „Untersuchungs-Ausschuß“, der Verdachtsmomente gegen einzelne Personen des öffentlichen Lebens in nichtöffentlicher Verhandlung und ohne Zeugen- oder Sachverständigenvernehmungen ausschließlich anhand von Regierungsmaterial überprüfen sollte. Über die Anklage vor einem eigens errichteten StGH hätte die Nationalversammlung entschieden.406 Dieser Gesetzent 404

Vgl. U. Heinemann, Niederlage, 1983, S. 156, 217. Entsprechende Kritik übte etwa O. Bühler, RVerf2 1927, S.  61 f. s.  aus heutiger Sicht G. A. Wolf, Strafjustiz, 2004, S. 44 f. 406 s. zum Ganzen VerhWeimNV, Nr. 355 S. 213 f. und ferner H. Triepel, DJZ 1919, Sp. 366 f. 405

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

wurf von Reichsjustizminister Otto Landsberg (SPD), der erkennbare Anleihen bei früheren konstitutionellen Ministeranklagerechten nahm, stieß auf breiteste Ablehnung.407 Weil sich nicht einmal in den Reihen der Weimarer Koalition ein parlamentarischer Fürsprecher fand, wurde der Entwurf letzten Endes ausschließlich durch Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (Zentrum) verteidigt. Den Gegenvorschlag, einen Ausschuss aus unabhängigen Historikern und Juristen mit einer Untersuchung „nach objektiv wissenschaftlicher Methode“ zu beauftragen, wies der Zentrumspolitiker damit in die Schranken, dass sich „namhafte Historiker“ selbst noch über die Schuld am dreißigjährigen oder die Ursachen des sieben­ jährigen Krieges unsicher wären.408 In dieser festgefahrenen Lage griff der Verfassungsausschuss, an den die Sache überwiesen worden war,409 sicherlich dankbar auf den gerade erst in Kraft getretenen Art. 34 RVerf 1919 zurück.410 Außerdem weitete er seinen Ein­setzungsantrag gegenüber dem Gesetzentwurf noch dahin aus, dass neben den Ursachen des Krieges, seiner Verlängerung und der deutschen Niederlage auch vertane Friedens­ chancen, Völkerrechtsverstöße und Kriegsverbrechen untersucht werden sollten.411 bb) Einsetzungsdebatte und -beschluss (20. August 1919) Neun Tage nach Inkrafttreten der Reichsverfassung berichtete der Sozialdemokrat Hugo Sinzheimer über diesen Ausschussantrag. Den Regierungsentwurf bezeichnete der promovierte Frankfurter Rechtsanwalt als durch Art.  34 RVerf 1919 überholt, zumal die Reichsverfassung einem Untersuchungsausschuss „viel weitergehende Rechte“ einräume, als es die ursprüngliche Vorlage vorgesehen habe.412 Die weitere Beratung kreiste um innen- und außenpolitische Sorgen. Nicht einmal das angesichts der Verfassungsgeschichte eigentlich naheliegende Argument, eine parlamentarische Untersuchung verletze richterliche Kompeten 407 U. Heinemann, Niederlage, 1983, S.  155. s.  etwa die politische und juristische Kritik von H.  Triepel, DJZ 1919, Sp.  366 (367 ff.). Im Reichstag kritisierten DVP und DNVP den Vorschlag als das „direkte Gegenteil“ von „Frieden und Einigkeit“ im Innern, ja geradezu als „Rachefeldzug“, der selbst „primitivsten Rechtsgarantien“ nicht genüge. Ein deutscher Alleingang „vor aller Welt“ sei ein „große[r] politische[r] Fehler“. „[B]efreundete und neutrale Mächte“ müssten eine Aktenpublikation als unhaltbare „Indiskretion“ empfinden (VerhWeimNV, S. 2051 ff., 2062, 2064). Der DNVP-Abgeordnete F. Warmuth widmete dieser Kritik unter dem Titel „Staatsgerichtshof und parlamentarischer Untersuchungsausschuß“ eine 1920 erschienene Schrift von 45 Seiten. 408 VerhWeimNV, S. 2059 ff. 409 s. den Beschluss in VerhWeimNV, S. 2066. 410 s. den Antrag des 8. Ausschusses in VerhWeimNV, Nr. 946 S. 943. Ergänzend berichtet W. Kahl, DJZ 1920, Sp. 1 (4), dass die „durch das parlamentarische System gebotene Rücksicht und Höflichkeit […] es aber zu[gelassen habe], der Regierung die förmliche Niederlage durch Zurückziehung des Entw. zu ersparen“. 411 s. den Einsetzungsantrag des 8. Ausschusses in VerhWeimNV, Nr. 946, S. 943. 412 VerhWeimNV, S. 2698 f. Krit. W. Kahl, DJZ 1920, Sp. 1 ff.

3. Kap.: Die Vermessung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts

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zen oder könne der Strafjustiz vorgreifen, kam zur Sprache. Wenigstens monierte der Königsberger Rechtswissenschaftler Alexander Graf zu Dohna (DVP) einen Verstoß gegen die fundamentale Regel des Gerichtsverfassungsgesetzes, „daß Staatsanwälte mit richterlichen Funktionen nicht befaßt werden dürf[t]en“;413 der implizite Vorwurf, dass die Nationalversammlung ihrem Ausschuss beide Ämter übertrage, brach unausgesprochen eine Lanze für die Justiz. Ungeachtet dieser Mahnung setzte die Nationalversammlung den ersten parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Weimarer Republik ein.414 cc) Kritik an der Kriegsschulduntersuchung 1920 erhob Erich Kaufmann in einer Kampfschrift „klassische“ gewalten­ teilungsrechtliche Einwände gegen den Untersuchungsausschuss. Der konservative Berliner Staats- und Völkerrechtler warf der Nationalversammlung einen Kompetenzexzess vor, weil Art. 34 RVerf 1919 bloß formal unbeschränkt wäre, aber in Wahrheit „natürliche[n] immanente[n] Schranken“ unterliege. Der Reichstag dürfe Untersuchungsausschüsse, die doch nichts weiter als parlamentarische „Hilfsorgane“ wären, „nur im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Zuständigkeiten einsetzen“, um „Beschlüsse […] innerhalb seiner verfassungsmäßigen Zuständigkeit vorzubereiten“; insoweit nannte der Rechtswissenschaftler, offenbar in konstitutionellen Gedanken gefangen, an erster Stelle eine „Mitwirkung [!] bei der Gesetzgebung“, dann aber immerhin auch die „Kontrolle der ‚Regierung‘ […] und der ‚Verwaltung‘“. Von diesen Anleihen bei der Korollartheorie aus, verurteilte Erich Kaufmann parallele gerichtliche und parlamentarische Verfahren als unstatthaft, so dass es dem Reichstag verboten wäre, Untersuchungen „über einen bestimmten Rechtsstreit oder über ein bestimmtes Verbrechen“ anzustellen. Vereinige die Volksvertretung exekutive oder judikative Befugnisse mit ihren legislativen Funktionen, höre sie auf, ein „verfassungsmäßig erträgliches Organ“ zu sein und mutierte „zum revolutionären Konvent“, ja „zum russischen Sowjet“. Mit den analogen Metaphern seiner Zeit hatte Peter Reichensperger 1848 davor gewarnt, dass sich die preußische Vereinbarungsversammlung zur Lage in P ­ osen „durch Zeugen Aufklärung über die Vergangenheit“ verschaffe. Eindringlich hatte der katholische Politiker die „höchst monstruöse Stellung“ beschworen, die jede „gerichtliche oder administrative Kommission […] aus unverletzlichen Abgeordneten“ haben müsse.415  – Erich Kaufmann bediente sich in der „historischen Mottenkiste“ nicht bloß für solche Ressentiments, sondern versuchte – dieses Mal konform mit gouvernementalen Thesen zu Art. 82 PrVerf 1850 – die Tätigkeit der Untersuchungsausschüsse auf die reine „Erhebung von Beweisen über Tatsachen“

413

VerhWeimNV, S. 2703. VerhWeimNV, S. 2708. 415 s. 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. d) bb). 414

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zu beschränken und ihnen damit jede Berechtigung zu irgendwelchen „Beurteilungen“, „Urteilen“ oder auch nur „Feststellungen“ abzuerkennen.416 Auch bei anderen Autoren weckte der Kriegsschuldausschuss Bedenken: Vom Boden der Korollartheorie aus stellte der Münsteraner Öffentlichrechtler Ottmar Bühler 1927 rückblickend in Frage, „ob [die Volksvertretung…] sich innerhalb der Funktionen gehalten habe, die einem solchen Ausschuß allein zustehen könn[t]en und die niemals weiter gehen könn[t]en als die Aufgaben des Reichstags an sich“. Obwohl namentlich eine „Einmischung in die Aufgaben der ordentlichen Gerichtsbarkeit“ unbedingt vermieden werden müsse, urteilte der Vordenker des subjektiv-öffentlichen Rechts, dass diese Gefahr auch bei späteren Untersuchungs­ ausschüssen hervorgetreten sei.417 Der Hallenser Staatsrechtler August Finger hatte bereits vier Jahre zuvor davor gewarnt, dass sich parlamentarische Untersuchungsausschüsse keinesfalls anmaßen dürften, „Tatsachen, die festzustellen Sache der Geschichte [wäre…], ihrerseits entscheiden zu wollen“. Den Kriegsschuldausschuss hielt er deswegen für „verfassungswidrig, weil der Reichstag im Rahmen seiner Kompetenz nicht in der Lage [wäre…], zu irgendwelchen Ergebnissen der Untersuchung in staatsrechtlich bedeutsamer Weise Stellung zu nehmen. Historische Feststellungen zu treffen [wäre…] der Reichstag nicht berufen“ und „auch kein brauchbares Instrument“.418 Wieder diente also die Anknüpfung an die materiellen Volksvertretungskompetenzen, also einmal mehr an zentrale Topoi der Korollartheorie, zur Beschränkung des Untersuchungsrechts. Analog zu diesen Anklagen wiesen die Verteidigungsversuche Parallelen mit früheren Apologien auf. Walter Lewald bediente sich direkt bei Argumenten aus der konstitutionellen Diskussion, indem er sich für die These, dass Art. 34 RVerf 1919 nicht nur schlichte Tatsachenermittlungen, sondern auch eine „wertbeurteilende Tätigkeit“ gestatte, auf Ludwig v. Rönnes durch Philipp Zorn fortgeführtes „Staatsrecht der Preußischen Monarchie“ bezog.419 Bedenken wegen äußerlicher Ähnlichkeiten von parlamentarischen und gerichtlichen Untersuchungsverfahren hielt er entgegen, dass der Kriegsschuldausschuss einen rein politischen Auftrag habe; selbst soweit die Völkerrechtswidrigkeit deutscher Kriegsmaßnahmen untersucht werde, stehe das politische Werturteil im Vordergrund. Die dem Ausschuss zwangsläufig aufgetragene Subsumtion eines Lebenssachverhalts unter einen abstrakten Maßstab sei „keine spezifisch richterliche Tätigkeit“, sondern nicht mehr 416 E. Kaufmann, Untersuchungsausschuss, 1920, S. 17 ff. Vergleichbare Vorstellungen hatten das Ministerium Manteuffel und die gouvernementalen Parteien gegen den liberalen Antrag Vincke oder die Forderungen in der Dissidentenangelegenheit erhoben. s. dazu 5. Teil 3. Kap. B. II. 1. c) und d) und 2. b) bb) und c) aa) (1). 417 O. Bühler, RVerf2 1927, S. 62. Ähnl. wohl F. Stier-Somlo, StaatsR I, 1924, S. 591: „Sie sind keine Gerichte, sondern haben nur vorbereitende Arbeit für die gesetzgeberische und Aufsichtstätigkeit des Reichstages zu verrichten. Der […] Untersuchungsausschuß zur Ermittlung von Tatsachen der Kriegsveranlassung, Kriegführung, Kriegsschuld entsprach dem nicht“. 418 A. Finger, StaatsR, 1923, S. 261. 419 W. Lewald, Enquete, 1922, S. 97.

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als eine „logische Operation“ im Rahmen einer legitimen parlamentarischen Untersuchung.420 Zur Not könne der Kriegsschuldausschuss die Teile seines Auftrags ignorieren, die sich auf juristische Begriffe bezögen.421 Bis auf dieses Hilfsargument war die vollkommen verschiedene Funktion eines parlamentarischen Unter­suchungsverfahrens und eines Strafprozesses in vergleichbarer Weise schon in monarchischen Tagen hervorgehoben worden.422 Wegen Kaufmanns Anleihen in der Verfassungsgeschichte warf ihm Walter Lewald vor, willkürlich „historische Erscheinungsformen der parlamentarischen Enquete heraus[zugreifen]“, statt die staatsrechtlichen Umwälzungen anzuerkennen, als deren Produkt Art. 34 RVerf  1919 erscheine. Aufgrund der neuen Reichsverfassung dürfe ein Untersuchungsausschuss nicht nur zur Vorbereitung konkreter Beschlüsse, sondern ebenfalls eingesetzt werden, um im Interesse der Verwaltungskontrolle zunächst vorbereitend Tatsachen zu ermitteln. Der Reichstag könne die entsprechenden Ergebnisse ohne Beschluss zur Kenntnis nehmen oder förmlich über weitere Schritte entscheiden; in jedem Fall habe das parlamentarische Untersuchungsverfahren der Information der Volksvertretung gedient.423 Auch diese Argumentation wiederholte Positionen, die die preußischen Liberalen den gouvernementalen Versuchen zur Beschränkung des Enquête- und Untersuchungsrechts entgegengesetzt hatten. – Andere Autoren traten pauschal für den Kriegsschuldausschuss ein.424 dd) Zwischenergebnis Tatsächlich hatte der Kriegsschuldausschuss mit einem „gewöhnlichen“ Untersuchungsausschuss nicht allzu viel gemein, sondern war, wie es Johannes Masing formulierte, „Ausdruck des Umbruchs, nicht aber Institutionengebrauch in verfassungsrechtlicher Normallage“.425 Seine Arbeit war für die deutsche, aber auch für die ausländische Öffentlichkeit bestimmt: Der eigenen Bevölkerung wollte man die „Fehler und Mängel des alten Systems“ vor Augen führen, um so der konservativen Reaktion vorzubeugen, die sich u. a. zu der unhaltbaren Dolchstoßlegende verstieg. Nach außen wollte man Deutschland gegen den Alleinschuldvorwurf verteidigen, der den Alliierten zur Rechtfertigung des harten Friedensdiktats diente.426 Ungeachtet dieser exzeptionellen Besonderheiten entzündete sich an der Kriegsschuldfrage eine enquête- und untersuchungsrechtlich interessante Kontroverse 420

W. Lewald, Enquete, 1922, S. 95 ff. W. Lewald, Enquete, 1922, S. 101 f. 422 s. etwa aus der Posener Untersuchungsdebatte 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. d) bb). 423 W. Lewald, Enquete, 1922, S. 108 ff. 424 Ohne Begründung kam G. Anschütz, RVerf  191914 1933, S.  218 zu dem Urteil, dass E. Kaufmann die „Verfassungsmäßigkeit“ der Kriegsschulduntersuchung zwar unter einem „an sich richtigen […] Gesichtspunkte“, sachlich „indessen wohl mit Unrecht […] angezweifelt“ habe. 425 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 53. 426 U. Heinemann, Niederlage, 1983, S. 156. 421

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über das Verhältnis parlamentarischer und gerichtlicher Untersuchungen. Bei dieser Gelegenheit kehrten historische Argumentationsmuster in einem bemerkenswerten Maße wieder. Dieser Umstand dürfte einmal der Tatsache zu verdanken sein, dass sich das juristische Schrifttum des 19. Jahrhunderts durchaus kritisch mit Art. 82 PrVerf 1850 auseinandergesetzt hatte, während aktuelle Publikationen zu Art. 34 RVerf 1919 in den Anfangsjahren der Republik zwangsläufig Mangelware waren. Zum anderen ähnelte die gegenwärtige Konstellation ein Stück weit derjenigen bei der Posener Untersuchung, in der es ebenfalls um eine nationale Frage von Schuld und Unrecht ging.427 Vor diesem Hintergrund ließ es insbesondere Erich Kaufmanns Philippika befürchten, dass überkommene Ressen­timents gegen parallele Verfahren eine merkwürdige Renaissance erleben könnten. Die zeitgenössische Dimension des angeschnittenen Kompetenzkonflikts wird dadurch deutlich, dass sich Mitte der 1920er Jahre sowohl der Deutsche Richtertag als auch der Deutsche Juristentag mit der Frage beschäftigten. b) Weitere Beispiele aus der Reichstagspraxis Trotz der teils fundamentalen Kritik an der Kriegsschulduntersuchung setzte der Reichstag in den folgenden Jahren auch zu anderen potentiell strafrechtlich re­levanten Sachverhalten Untersuchungsausschüsse ein.428 Das gilt u. a. für die gegen Reichsernährungsminister Andreas Hermes (Zentrum) erhobenen Korrup­ tions- und Amtsmissbrauchsvorwürfe, die 1920/21 auf Antrag der USPD parlamentarisch untersucht wurden, ein Grubenunglück in Herne-Sodingen, das mehr als 80 Bergleute das Leben kostete, oder die im Sommer 1922 gegen Reichswehrund Marineangehörige erhobenen Vorwürfe gewaltsamer Übergriffe sowie republikfeindlicher, konterrevolutionärer und monarchistischer Umtriebe.429 Besonders evident ist die strafrechtliche Bedeutung der „Feme-Morde“, mit denen sich gleich vier Untersuchungsausschüsse im Reich (1926), in Preußen (1924 und 1926) und in Bayern (1920) beschäftigten.430 Als besonders übles Beispiel einer Kompromittie­

427

Vgl. 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. Vgl. die Übersichten über die Untersuchungstätigkeit des Reichstags bei F. Poetzsch-Heffter, JÖR 13 (1925), 1 (121 ff.); JÖR 17 (1929), 1 (75 ff.); JÖR 21 (1933/34), 1 (88 ff.). 429 s. die drei Interpellationen von USPD und SPD in VerhWRT I (1920/24), Nr.  2921, S.  2742; Nr.  4462, S.  4896; Nr.  4464, S.  4896 f. sowie die Beratungen am 6.  Juli 1922 in VerhWRT I (1920/24), S. 8325 ff. 430 B. Sauer, Reichswehr, 2004, S. 301. In diesen Kontext gehört noch ein weiterer, erfolgloser KPD-Antrag: Als im Juli 1927 in einem Berliner Stadtbahnbogen Skelette gefunden wurden, vermutete die KPD, es handele sich um Mordopfer der Schwarzen Reichswehr. Aus diesem Grund beantragten die Kommunisten unter dem 9. Juli 1927, „[a]uf Grund des Artikel  34 der Verfassung einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, der die Aufgabe hat, den Skelettfund im Brückenbogen 315 der Berliner Stadtbahn aufzuklären und zu untersuchen“ (VerhWRT III (1924/28), Nr. 3614). In Wahrheit handelte es sich um Reste eines ehemaligen Friedhofs. Der Antrag kam im Reichstag nicht zur Beratung (vgl. B. Sauer, S. 83). 428

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rung der Strafrechtspflege galt die preußische Barmat-Untersuchung.431 In der Sache ging es um Spekulationsgeschäfte während der Inflations­zeit sowie um unredlich erwirkte Kredite der Preußischen Staatsbank und der Reichspost. Die rechten Parteien versuchten, Friedrich Ebert und andere sozialdemokratische Politiker mit erfundenen Korruptionsvorwürfen zu beschädigen, um die Affäre im preußischen Landtags- und im Reichspräsidentenwahlkampf auszuschlachten.432 Im Reichstag verlangte die DNVP-Fraktion eine parlamentarische Untersuchung zu der Frage, „ob und inwieweit […] durch Kreditgewährung aus öffentlichen Mitteln oder sonstige Vorschubleistung das Reichsinteresse geschädigt worden [wäre…] und welche Personen und amtlichen Stellen für die Vorkommnisse verantwortlich oder in sie verwickelt“ seien.433 2. Richterschaft Insbesondere die preußische Untersuchungspraxis zog die Kritik der Richterschaft auf sich, die bis zu einer Gefährdung der Unabhängigkeit und Funktionsfähigkeit der Justiz reichte. a) Preußischer Richterverein In den 1920er Jahren verwahrte sich die „Versammlung des Landgerichtsverbandes Essen des Preußischen Richtervereins“ gegen eine „Verletzung der richterlichen Unabhängigkeit im Fall Höfle“. Die Richter beanstandeten, dass sich ein Untersuchungsausschuss des preußischen Landtags des im Kontext der Barmat-Affäre durchgeführten Strafverfahrens gegen Reichspostminister Anton Höfle angenommen hatte. Besonders die Vernehmung des Untersuchungsrichters zu der Frage, wie er mit der Sache befasst worden sei und welche Erwägungen er zur Fluchtgefahr angestellt habe, wurde als verfassungswidrige parlamentarische Justizkontrolle, evidenter Kompetenzexzess und eklatanter Verstoß gegen Art.  102 RVerf 1919 bzw. Art. 8 PrVerf 1920 und § 1 GVG verurteilt.434 Der Anfang Oktober 1925 in der „Deutschen Richterzeitung“ publizierte Bericht über diese Beschwerden unterschlug geflissentlich das wesentliche Detail, dass diese Untersuchung durch den rätselhaften Tod des Zentrumspolitikers Höfle in der Untersuchungshaft veranlasst worden war.435 431

Krit. F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 66. s. dazu H. A. Winkler, Weimar4 2005, S. 276 f. sowie zu den Hintergründen der Affäre und der oft kritisierten Untersuchung des preußischen Landtags W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 169 ff. 433 VerhWRT III (1924/28), Nr. 68. 434 N. N., Die Richter und der Fall Hoefle, DRiZ 1925, Sp. 457 f. 435 s. zum Ganzen B. Weigel, in: Benz (Hg.), Antisemitismus IV, 2011, S. 37 f. und aus zeit­ genössischer Sicht F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 66. 432

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b) Deutscher Richtertag Weitere Kritik übte der vom 12. bis 15. September 1925 in Augsburg tagende sechste Deutsche Richtertag. U. a. wurde eine Resolution beschlossen, die neben Forderungen nach Rechtsstaatlichkeit, einem Schutz der richterlichen Unabhängigkeit als „Grundlage des ganzen Rechts- und Staatslebens“ sowie einer „hohe[n] soziale[n] und wirtschaftlich ausreichend gesicherte[n] Stellung des Richters“ nicht vergaß, „energischen Widerspruch“ gegen die parteipolitische „Herabsetzung von Richtern und Richtersprüchen“ und – „[v]on der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung einer reinlichen Rechtspflege durchdrungen“ – „gegen die Tätigkeit der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse neben dem ordentlichen Strafverfahren“ zu erheben. Die derzeitige „Ausdehnung der parlamentarischen Untersuchung“ erfüllte die Richter mit Unbehagen, weil sie „nicht der objektiven Wahrheitserforschung“ diene, sondern eine „parteiische Durchkreuzung der Wahrheitsermittlung“ wäre.436 Es ist kurios, dass diese Fundamentalkritik das genuin politische Wesen des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts akkurat erfasste, das Fritz ­Warmuth (DNVP) am 20. August 1919 in der Debatte über die Einsetzung des Kriegsschuldausschusses freimütig dahin umschrieb, dass die „Parlamentarier [es…] gewohnt [waren], bestimmte politische Vorgänge einseitig unter einem bestimmten Gesichtswinkel zu betrachten“.437 Indem die parteipolitische Auseinandersetzung aber wesenstypisch für das parlamentarische Selbstinformationsrecht ist, richtete sich die Kritik durch die Richterschaft nicht gegen einzelne Facetten, sondern gegen das Enquête- und Untersuchungsrecht an sich. Zur Grundlage der ausdrücklichen Verwahrung des Deutschen Richtertages wurde das ausführliche Referat des promovierten Leipziger Landgerichts­direktors Johannes Wunderlich (DVP) über „[d]ie Stellung des deutschen Richters“, das sich allen erdenklichen Facetten des sozialen und des Staatslebens widmete, die irgendeinen Einfluss auf die richterliche Unabhängigkeit haben konnten; der Kanon zog sich von missbilligten Versuchen zur Einführung eines Wahlrichtertums über vermeintlich unpassende bürokratische Dienstrechtselemente, die „unglaubliche Besoldungsordnung“ und bedauerliche Defizite in der Nachwuchsförderung bis zu der Justizskepsis in Wirtschafts- und Arbeitnehmerkreisen hin.438 Gemessen an dieser Mängelliste richtete sich bloß ein relativ kleiner Teil der Klagen gegen „Regierung und Parlament“, weil diese Verfassungsorgane, statt die Institution des unabhängigen Richtertums gebührend anzuerkennen, von einem „Gefühl von Allmacht im Staate“ durchdrungen geradezu den „Wunsch“ verspürten, „ihre politischen Gedanken […] zur allgemeinen Richtschnur […] auch der Gerichte […] zu machen“. Konkret erhob der Richter Wunderlich gegenüber der Regierung den 436

Tischer, DRiZ 1925, Sp. 469 (478). VerhWeimNV, S. 2701. 438 DRiZ-Beil. 1925, Sp. 19 ff. 437

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absurden Vorwurf, dass sie in bestimmten Fragen versucht habe, durch gesetzliche Maßnahmen Einfluss auf die Rechtsprechung zu nehmen; freier ließ sich das Verhältnis von Rechtssetzungsbefugnis und Gesetzesbindung kaum noch interpretieren. Teilen des Reichstags legte der DVP-Abgeordnete zur Last, „in Gebiete sich einzumischen, die der Rechtsprechung vorbehalten [wären…], und eine Art Obergericht zu bilden“;439 so habe es der Geschäftsordnungsausschuss gewagt, „sich zum Tribunal“ aufzuwerfen und in Immunitätsfragen den Tatvorwurf juristisch nachzuprüfen, ja sogar „Beweise […] zu erheben“.440 Zum Schluss klagte der Referent, dass sich in der letzten Zeit die Untersuchungsausschüsse „zu einer Gefahr für die Strafrechtspflege, ja sogar zu einer persönlichen Gefahr für einzelne Richter“ ausgewachsen hätten. „[W]enn bei dem politischen Vorgang […] eine Straftat eines Beamten oder eines Dritten […] gleichzeitig von der Strafverfolgungsbehörde untersucht“ werde, verflüssige sich die „Grenze“ zwischen einer unzulässigen Einmischung in die Justiz und den gemäß Art.  34 RVerf  1919 statthaften „Ermittlungen“, „um Beschlüsse des Reichstages vorzubereiten“. Zudem ermöglichten öffentliche parlamentarische Vernehmungen die „ungeheuerlichsten Kollusionen […], die das Strafverfahren schließlich vereiteln könn[t]en“. Noch „unerträglicher“ wäre der „Uebergriff“, wenn der jeweilige „Staatsanwalt und Untersuchungsrichter in dem Strafverfahren“ vor einem Untersuchungsausschuss „Rede und Antwort stehen soll[t]en“. Mit der Mahnung, dass die „Legislatur zweifellos die Grenzen ihrer Befugnisse“ übertrete, wärmte Johannes Wunderlich antiquierte Bedenken wieder auf, wie sie vor einem dreiviertel Jahrhundert schon die Paulskirchenversammlung beschäftigt hatten.441 Zur Abhilfe schlug er vor, dass „parlamentarische Untersuchungs­ verfahren überhaupt erst beginnen dürften, wenn das Strafverfahren abgeschlossen“ wäre.442 Dass dabei die parlamentarische Aufarbeitung eines Skandals auf der Strecke bleiben konnte, spielte offenkundig keine Rolle. In der Debatte äußerte sich nur der ehemalige bayerische Justizminister und langjährige Reichs- und Landtagsabgeordnete Ernst Müller-Meiningen zu dem Problem der Untersuchungsausschüsse; auf seine Initiative ging letztlich die­ zitierte Resolution zurück. Im Laufe der Jahre war der ehemalige Linksliberale, der zu den Gründern und Anführern der Fortschrittlichen Volkspartei gehört hatte, zunehmend nach rechts gerückt und hatte sich zu einem scharfen Kritiker der „unbedingte[n] Parteiherrschaft und politische[n] Parteiwirtschaft“ entwickelt.443 Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass er gegen die „großen Gefahren“ der „Bestrebungen der modernen sog. ‚Demokratie‘“ zu Felde zog, ein Wahl 439

DRiZ-Beil. 1925, Sp. 24 f. DRiZ-Beil. 1925, Sp. 25. 441 s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 3. c) aa). 442 DRiZ-Beil. 1925, Sp.  25 (Hervorhebung nur hier). Ähnl. Kritik  – vornehmlich an dem preußischen Barmat-Untersuchungsausschuss – übte F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 66. 443 J. Frölich, NDB XVIII, 1997, S. 505 f. (Zitate). 440

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richtertum zu etablieren. Als Indiz für den „Kampf gegen das Berufsrichtertum“ wertete er das „Verhalten der parlament. Untersuchungsausschüsse“, deren „frühere Geschichte“ er selbst „im Parlament […] mitgemacht“ habe. Während man anfangs noch gewusst habe, „wie weit [man…] ohne Staatsgefährdung“ gehen könne, wäre die gegenwärtige Praxis ein „Skandal der ersten Ordnung“.444 Anders als in früheren Tagen habe ein „ordentliches Strafverfahren“ jetzt unseligerweise keinen Vorrang vor der parlamentarischen Untersuchung mehr.445 Eine „stärkere Sabotage des Rechts“ könne es „nicht geben“, weil nur ein ausgemachter „Esel von Angeklagten“ in dieser Situation „nicht aus der Tätigkeit der Untersuchungsausschüsse für sein Verhalten Schlüsse“ ziehen werde. Parlament und Justiz müssten deswegen gemeinsam versuchen, dem „verderblich[en]“ öffentlichen Eindruck entgegenzutreten, „daß man durch ein solches excessives parlamentarisches Untersuchungsverfahren […] die Lumpen im eigenen Lager decken könne“. Die Richterschaft forderte Ernst Müller-Meiningen dazu auf, „aufs schärfste die neue parlamentarische Kabinetts-Justiz [zu] bekämpfen“.446 c) Bewertung Aus den Reihen der Justiz wurde also eine konservativ-zurückhaltende Neu­ vermessung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts gefordert. Dabei nahm die Richterschaft unter der Firma einer „parlamentarische[n] Kabinetts-Justiz“, eigentlich ein Oxymoron erster Güte, unbenannte Anleihen bei älteren Kontro­ versen um Art. 82 PrVerf 1850.447 Obwohl es unbestreitbar heftige Entgleisungen wie in der preußischen Barmat-Untersuchung gegeben hatte, kam in den Forderungen gleichwohl in erster Linie das hypertrophe Selbst- und Standesbewusstsein einer überwiegend noch aus Kaisers Zeiten stammenden Richterkaste zum Vorschein.448 Ein untrügliches Zeichen war die Kritik an der Regierung, weil diese es gewagt hatte, auf gesetzgeberischem Wege auf eine (vermeintliche?) Fehlentwicklung in der Rechtsprechung zu reagieren; eine verfassungsgemäße Gesetzesänderung ist aber kein „Machtspruch des Gesetzgebers“ und lässt sich beispielsweise nicht mit der harschen Intervention Friedrichs II. im Fall des Müllers Arnold ver 444 Diese Äußerungen dürften sich auf den bayerischen Landtag bezogen haben, der in § 52 Abs. 2 BayVerf 1919 über ein Art. 34 RVerf 1919 nachempfundenes Untersuchungsrecht verfügte. Dem Reichstag hatte E. Müller-Meiningen dagegen nach dem Weltkrieg nicht mehr angehört. s. dazu J. Frölich, NDB XVIII, 1997, S. 506. 445 DRiZ-Beil. 1925, Sp. 44 f. 446 DRiZ-Beil. 1925, Sp. 45. 447 Zu früheren Querelen, ob eine parlamentarische Beschäftigung mit einem Sachverhalt in die Justiz einbreche, s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. a) bb) (2) und (3) („Garde-du-Corps-Nacht“), 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. d) bb) (Posener Untersuchung 1848) und D. IV. 3. c) (Schweidnitzer Untersuchung) sowie 5. Teil 3. Kap. C. II. 1. c) aa) (Wahlmanipulationsuntersuchung 1863/64). 448 Zu personellen und ideologischen Kontinuitäten in der Justiz s. F. Wittreck, Verwaltung, 2006, S. 55 f. S. Schröder, ZParl 1999, 715 (727) verweist auf eine „teilweise durchaus grundsätzliche[n] Kritik am Weimarer Verfassungsgefüge“ durch die Richterschaft.

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gleichen. Stattdessen widersprach die „Drohung“ der Reichsgerichtsräte, einem so zustande gekommenen Gesetz die Gefolgschaft aufzusagen, fundamentalen rechtsstaatlichen Grundsätzen.449 Auch durch parlamentarische Enquêten oder Untersuchungen drohte der richterlichen Unabhängigkeit keine mit der Kabinetts­ justiz früherer Jahrhunderte vergleichbare Gefahr; kein Reichstagsausschuss hat es laut Max Alsberg je versucht, rechtsverbindliche Entscheidungen zu treffen und so das Justizmonopol anzutasten.450 Die Forderungen der Richterschaft, das in der Reichsverfassung ausdrücklich verbürgte Selbstinformationsrecht des Reichstags massiv zurückzuschneiden, entsprangen hypertrophen Sorgen um die eigene Stellung und Machtvollkommenheit, nicht echten Bedrohungen. 3. Deutscher Juristentag Mitte des folgenden Jahres kam der 34. Deutsche Juristentag zu einem anderen Votum als die Richterschaft. Die erste Abteilung fasste den Beschluss, dass eine „innerhalb [der…] verfassungsmäßigen Schranken sich haltende Tätigkeit der Untersuchungsausschüsse“ – gemeint war eine „Feststellung tatsächlicher Vorgänge durch Beweiserhebung zwecks Vorbereitung einer […] Beschlußfassung auf dem Gebiete der Gesetzgebung, der Verwaltung oder etwaiger dem Parlament eingeräumter rechtsprechender Funktionen“ – „keinen Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz“ bedeute. Eine Verfassungsänderung, die auf eine „prinzipielle Einschränkung oder Zurückdrängung der Tätigkeit der Ausschüsse“ hinauslaufe, hielten die deutschen Juristen nicht für empfehlenswert. Immerhin befürworteten sie die Empfehlung an die Adresse der Legislative, „in gesetzgeberische Erwägungen […] einzutreten, ob und wie zwecks reibungsloser Tätigkeit der Untersuchungsausschüsse ihr Verfahren, wie insbesondere das Beeidigungsrecht, das Recht auf Aktenvorlage, die Stellung des Vorsitzenden u. a., gesetzlich zu regeln“ wäre.451 a) Gutachten Rosenberg Das Erstgutachten, ob „sich eine Abänderung der Bestimmungen über parla­ mentarische Untersuchungsausschüsse [empfehle], um den ungestörten Verlauf des Strafverfahrens und die Unabhängigkeit des Richtertums sicherzustellen“, 449

Als die Regierung den Versuch wagte, das RG, das mit Vertragsanpassungen auf die Hyperinflation reagierte, mit Hilfe einer Gesetzesnovelle zur Raison bringen zu wollen, reagierten die Leipziger Richter mit der Drohung, sich einem „Machtspruch des Gesetzgebers“ keinesfalls zu beugen (vgl. D. Grimm, NJW 1997, 2719 (2724 f.)). Als Eingriff in die Rechtsprechung wertete J. Wunderlich, DRiZ-Beil. 1925, Sp.  24 außerdem, dass man rechtswidrige Verwaltungsakte durch Notverordnung geheilt habe. 450 M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 348 f. 451 s. die Beschlüsse in 34.  DJT II, 1927, S.  192 und zum Gang der Beratungen M. Otto, E. Jacobi, 2008, S. 104 ff.

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hatte der Reichsgerichtsrat Werner Rosenberg erstattet. Obwohl er es de constitu­ tione lata für „rechtlich möglich [hielt], beide Untersuchungen nebeneinander zu führen“, kritisierte er doch, dass parlamentarische „Erhebungen […] vor der Hauptverhandlung“ den „Zweck der [gerichtlichen] Untersuchung […] gerade­ zu vereiteln“ könnten.452 Als Ursache des Übels identifizierte der renommierte Straf- und Strafverfahrensrechtler Rosenberg die Tatsache, dass parlamentarische Untersuchungen keine dem Strafverfahren vergleichbaren „Garantien für die Erforschung der Wahrheit“ böten:453 Einmal verfügten die Untersuchungs­ ausschüsse nicht über dieselben Ermittlungs- und Zwangsbefugnisse; u. a. sei das Briefgeheimnis sakrosankt und auch das Aktenvorlagerecht habe Schwächen, zum anderen stelle so manches Ausschussmitglied die „Parteipolitik“ über das „Staatsinteresse“, so dass häufig sachfremde Aspekte in die Verhandlungen „hineingezogen“ würden. Zu allem Überfluss gebe es keine Ablehnung befangener Ausschussmitglieder und der Vorsitzende sei einem Missbrauch des Fragerechts gegenüber „ziemlich machtlos“.454 Auch der Richter Rosenberg kritisierte also genau genommen das genuin politische Wesen des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts. Vor diesem Hintergrund kam er zu dem Schluss, dass eine öffentliche parlamentarische Beweiserhebung bei Gesetzgebungs- und Verwaltungsenquêten potentiell durchaus von Nutzen sein könne, während sie für das Strafverfahren ausschließlich schädlich wäre: Aller Voraussicht nach hielten Zeugen mit ihren Aussagen vor einem Untersuchungsausschuss hinter dem Berg, um „Parteigenossen, Berufsgenossen, Vorgesetzte[n], politische[n] Machthaber[n] usw.“ nicht öffentlich zu belasten. Der Beschuldigte im Strafverfahren könne sich durch eine parlamentarische öffentliche Untersuchung leicht auf die Aussagen von anderen Beteiligten oder Zeugen einstellen. Zu allem Überfluss würden selbst Akten, die im Straf­verfahren nicht einmal der Verteidiger sehen dürfe, öffentlich verlesen. Für besonders übel hielt der Reichsgerichtsrat, wenn die zuständigen „Richter und Staatsanwälte“ über ein Strafverfahren zur Aussage gezwungen würden. In welchem Maße das Dienstgeheimnis gegenüber einer derartigen Zumutung Schutz biete, hänge gemäß § 54 StPO letzten Endes von der jeweiligen politischen Couleur des Justizministers ab.455 Zu guter Letzt beschädige ein „Widerspruch“ zwischen der „Beschlußfassung eines Untersuchungsausschusses“ und einem Urteil sowohl das „Ansehen der Gerichte“ als auch die „Autorität der Parlamente“, ja des „Staates im ganzen und seiner Organe“.456 Um diesen Nachteilen und Gefahren zu begegnen, forderte der Leipziger Richter eine drastische Verringerung der Mitgliederzahl parlamentarischer Unter­ 452

W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 13 f. W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 14 (Zitat). 454 W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 15 ff., 19 ff. 455 W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 23 ff. 456 W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 28. 453

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suchungsausschüsse. Im Einzelfall hielt er es für erwägenswert, statt eines parla­ mentarischen Ausschusses ein „zum Teil aus Nichtparlamentariern“ bestehendes, gemischtes Gremium einzusetzen; etwa ließe sich eine „Voruntersuchung durch einen zum Richteramt befähigten Rechtsgelehrten“ nach hamburgischem ­Muster denken. Ebenso könnten einzelne Vernehmungen einer Subkommission oder dem Vorsitzenden und seinem Stellvertreter übertragen werden. Als historisches Vorbild für den Vorschlag, „richterliche Mitglieder zur Mitwirkung“ heranzuziehen, verwies Werner Rosenberg auf den Antrag des Geheimen Oberregierungsrats­ Maetzke aus den preußischen Verfassungsberatungen von 1848, der den preu­ ßischen Kammern das Recht geben wollte, „Kommissionen zur Untersuchung von Tatsachen zu ernennen unter Mitwirkung richterlicher Beamten“.457 Freilich war das Zitat verkürzt, weil der vollständige Antrag vorgesehen hatte, „unter Mitwirkung richterlicher Beamten eidliche Zeugenvernehmungen vorzunehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren“.458 Der zweite Halbsatz deutete aber darauf hin, dass es insgesamt um requisitionsartige Befugnisse und keine Untersuchungsbeteiligung ging. Werner Rosenberg plädierte in seinem DJT-Gutachten außerdem auf das Recht des materiell Untersuchungsbetroffenen, Ausschussmitglieder „wegen Besorgnis der Befangenheit“ abzulehnen.459 Neben dieser vermeintlichen „Besserung in der Zusammensetzung der Ausschüsse“, deren Forderung offenkundig dem Vorbild der Gerichtsordnungen nachempfunden waren, verlangte der Leipziger Richter, im Wege der Verfassungsänderung sicherzustellen, „daß die parlamentarische Untersuchung eines Verbrechens oder Vergehens erst beginnen [dürfe…], wenn das gerichtliche Strafverfahren beendigt“ oder seine Durchführung unmöglich wäre.460 Ferner müsse die Regelung des § 96 StPO, dass die oberste Dienstbehörde ein Aktenvorlageverlangen wegen einer Gefährdung staatlicher Interessen ablehnen könne, auch im parlamentarischen Untersuchungsverfahren gelten. Ebenso müsse in „Fälle[n], in denen ein gerichtlicher Schweigebefehl ergangen“ wäre, die Aktenvorlage „gänzlich ausgeschlossen“ sein. Die Untersuchung von „Vorgänge[n]“, die früher einmal „Gegenstand eines gerichtlichen Strafverfahrens“ waren, sollte dagegen keinen Einschränkungen mehr unterliegen. Fordere das „öffentliche Interesse“ ausnahmsweise „Eingriffe in ein schwebendes Gerichtsverfahren“, stehe der „schon wiederholt eingeschlagen[e]“ „Weg der Amnestie oder der Einsetzung von Ausnahmegerichten“ offen.461

457 W. Rosenberg, 34.  DJT I, 1926, S.  18 (Hervorhebung nur hier). s.  zum Amendement­ Maetzke 3. Teil 2. Kap. C. II. 3. 458 K. F. Rauer, ProtPrVerfK, 1849, S. 81. 459 W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 18. 460 W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 28. 461 W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 29.

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b) Gutachten Alsberg Deutlich ausführlicher und differenzierter fiel das Zweitgutachten aus. Mit den Thesen seines Vorredners ging Max Alsberg scharf ins Gericht. Obwohl er zu dem Schluss kam, dass sich keine Einschnitte in das parlamentarische Untersuchungsrecht rechtfertigen ließen, trat der u. a. durch die Verteidigung Karl Helfferichs bekannte Berliner Strafverteidiger462 doch neben verfahrensrechtlichen Klarstellungen für den drastischen Schritt einer Streichung des Minderheitsrechts ein; damit hätte das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht einen vollkommen anderen Charakter erhalten, der mit den Zielsetzungen seiner Mütter und Väter unvereinbar gewesen wäre. aa) Grundlagen Am Anfang seiner Überlegungen stand die provokante These, dass weder die Ungestörtheit des Strafverfahrens noch die Unabhängigkeit der Richter „absolute Staatsnotwendigkeit[en]“ wären, sondern ggf. dem „Wohl der Allgemeinheit“ weichen müssten. Auf diese Mahnung folgte ein grundsätzliches Bekenntnis zur Bedeutung des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts. Der „Bildung des staatlichen Willens“ in der Legislative räumte Max Alsberg einen Vorrang gegenüber sämtlichen „anderen Staatstätigkeiten“ ein, zumal die Volksvertretung auch die „letzte Instanz für die Staatsleitung“ sei; das Untersuchungsrecht qualifizierte er als „Hilfsmittel“ des Reichstags zur Erfüllung seiner demokratischen Funktion.463 Insoweit die Untersuchungsausschüsse auch nach Art. 34 RVerf 1919 die Aufgabe hätten, „tatsächliche Vorgänge durch Beweiserhebungen festzustellen“, habe sich gegenüber der preußischen Verfassungsurkunde und der Frankfurter Reichsverfassung nichts geändert. Das parlamentarische Untersuchungsrecht lasse sich mit Egon Zweig als „‚die der Volksvertretung eingeräumte Befugnis [definieren], Tatsachen und Vorgänge festzustellen und zu untersuchen, deren Kenntnis zur Ausübung der parlamentarischen Funktionen erforderlich [sei…].‘“464 Obwohl die immanenten „Schranken“ dieses Rechts als „unausbleibliche Folge des […] Minoritätsprinzips“ manchmal verletzt würden,465 dürfe man dieses Instrument, das im Ausland „seit langer Zeit Rüstzeug der parlamentarischen Regierungsform“ sei, nicht „grundsätzlich in Frage […] stellen“. Die „sachliche Vorbereitung“ parlamentarischer Kritik „gerade in den Fällen zu unterbinden, die die Öffentlichkeit beschäftig[t]en“, sei „undurchführbar und nicht erstrebenswert“, ja geradezu „sinnwidrig“.466 Offenbar erkannte Max Alsberg nicht, dass genau dieser 462

G. Spendel, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 1, 1953, S. 205. M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 333 f. 464 M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 337 f. 465 M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 338. 466 M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 334 f. (Hervorhebungen nur hier). 463

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Effekt durch die von ihm geforderte Abschaffung des Minderheitenrechts eintreten konnte. In diesem Fall hätten es gouvernementale ebenso wie zufällige Mehrheiten wie in den Tagen des preußischen Konstitutionalismus wieder in der Hand gehabt, jeden kritischen Vorstoß einer Minderheit im Keim zu ersticken. – Dass der Weimarer Parlamentarismus de facto zugrunde ging und die parlamentarische Mehrheit als Legitimationsfaktor durch das Diktat des Reichspräsidenten ersetzt werden sollte, tut insoweit nichts zur Sache. Gewaltenteilungsrechtliche Bedenken, die einen grundlegenden Neuzuschnitt im Interesse der Justiz rechtfertigen könnten, wies der Berliner Rechtsanwalt a limine zurück: Weil in einem modernen Staat keine „völlige Trennung der Tätigkeiten der gesetzgebenden, verwaltenden und richterlichen Organe“ möglich sei, plädierte Max Alsberg dafür, „Gesetzgebung und Regierung“ die erforderlichen „Mittel […] zur Verfügung zu stellen“, auch wenn es „teilweise die gleichen sein [sollten], deren sich Justiz und Verwaltung […] bedien[t]en“. Aufgrund der „Verschiedenheit der Zwecke beider Institutionen“ kämen, wie schon Julius Hatschek festgestellt habe, „Konflikte“ zwischen Untersuchungsrecht und Strafverfahren ohnehin nicht in Betracht. Auch habe sich bisher kein Ausschuss ein „Urteil im prozessualen Sinne“ „über seine Feststellungen“ angemaßt.467 Besondere Rege­ lungen zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit seien nicht erforderlich, weil Art. 102 RVerf 1919 auch für den Reichstag gelte. Die Regierungskommissare könnten verfassungswidrigen Auskunftsforderungen etc. in den Ausschuss­ verhandlungen entgegentreten. Jeder von einem Ausschuss vernommene Richter habe zudem das „Recht und die Pflicht, jede Beantwortung einer Frage nach dem Zustandekommen [seiner…] Entscheidung abzulehnen“.468 Den absurden Vorwurf „parlamentarischer Kabinettsjustiz“, den die Richterschaft gewissermaßen erhoben hatte, wies Max Alsberg zu Recht zurück. Ebenso wenig, wie von einem „Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit“ die Rede sein könne, wenn die Exekutive mit der Begründung Gesetzesänderungen vorschlage, dass die Rechtsprechung staatlichen Interessen zuwiderlaufe, ließen sich der Volksvertretung als „Organ der Gesetzgebung“ Beanstandungen verbieten. Eine nicht minder „starke moralische Beeinflussung der Gerichte“ könne von „der Öffentlichkeit oder der Wissenschaft“ ausgehen.469 Solchen Einflüssen müsse jeder Richter widerstehen. – Während sich diese Überlegungen augenscheinlich auf den Streit in der Aufwertungsfrage bezogen,470 betraf die Feststellung, Parlament und Untersuchungsausschuss könnten durchaus kritisch die „Art des Prozedierens im einzelnen Falle erörtern“, eher Barmat-Skandal und Höfle-Affäre. Ähnlich wie es sich früher die preußische Regierung hatte gefallen lassen müssen,471 betonte der 467

M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 348 ff. M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 394. 469 M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 387 ff. und passim (Hervorhebung nur hier). 470 s. in Fn. 449. 471 Vgl. SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 7; VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 814 ff., 818 und dazu 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. b) cc) und c) aa) (2) (Dissidenten). 468

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Rechtsanwalt Alsberg weiter, dass es nur „im Interesse der Rechtspflege“ wäre, wenn das Parlament seine „Kritik nicht wie früher mit unzureichender Kenntnis“ üben müsse. Eine „Kritik an sich“ greife überdies noch nicht in die richterliche Unabhängigkeit ein, sondern erst eine Kritik, die mit Hilfe „staatliche[r] Machtmittel“ die richterliche „Gesetzesanwendung“ verändern solle.472 Auch das Prinzip der „Einheitlichkeit staatlicher Aktion“ rechtfertige keine Bindung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses an die Beurteilungen im Strafverfahren; einem derartigen Grundsatz stünden die völlig unterschiedlichen Zielsetzungen und Maximen beider Verfahren entgegen.473 Wenn sich ein Ausschuss mit einem Fall von „Vorteilsannahme“ oder dem Tod eines Untersuchungsgefangenen beschäftige  – möglicherweise wieder Anspielungen auf Barmat und Höfle –, beanspruche er keineswegs „prinzipiell […] die volle Würdigung des strafrechtlichen Tatbestandes“. Während das Strafverfahren die individuelle Schuld und die Rechtsfolgen einer konkreten Tat betreffe, beschränke sich eine parlamentarische Untersuchung auf die Feststellung „gewisse[r] objektive[r] Merkmale des Tatbestandes“, um politische Schlussfolgerungen für das „sachliche oder personelle System“ zu ziehen.474 Praktische Erwägungen sprächen ebenfalls nicht dafür, erst eine „rechtskräftige gerichtliche Entscheidung abzuwarten“ oder „im Interesse des Strafverfahrens“ ganz auf eine parlamentarische „Erörterung strafrechtlicher Tatbestände“ zu verzichten. Vielmehr verlange das öffentliche Interesse, einen Sachverhalt zeitnah zu beleuchten, solange die „Probleme noch aktuell“ wären, statt die Angelegenheit hinauszuzögern, „bis ganz andere Verhältnisse herrsch[t]en“.475 Die tatsächlich drohenden „Störungen des Strafverfahrens“ wögen bei weitem nicht so schwer, wie häufig angenommen. Wieder wies der erfahrene Strafverteidiger Alsberg darauf hin, dass die Folgen keineswegs gravierender seien als bei einem öffentlichen Sensationsprozess. Auch das Risiko, dass über die öffentliche Meinung „indirekt“ ein gewisser „Einfluß auf das Strafverfahren“ ausgeübt werde oder die Staatsanwaltschaft von der Regierung in der einen oder anderen Richtung angewiesen werde, sei kein Spezifikum parlamentarischer Untersuchungen. Überhaupt beruhten die Ressentiments gegen parallele Untersuchungen eher auf Sorgen vor einer „parteipolitische[n] Behandlung eines Themas“ als vor konkreten „Eingriffe[n] in ein Strafverfahren“. Eine „parteipolitische Einstellung“ sei „nicht schlechthin zu verwerfen“, sondern für eine parlamentarische Untersuchung, die sich auf die „politische Bedeutung des Geschehens“ konzentriere, geradezu notwendig, um unter Beteiligung aller Seiten der Wahrheit näher zu kommen.476 Diese Überlegungen waren eine präzise Charakterisierung des politischen Untersuchungsrechts, 472

M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 392 f. M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 351 ff. 474 M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 356 f. 475 M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 358. 476 M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 363 ff. 473

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wie es bis heute existiert. Umso erstaunlicher nahmen sich die teilweise beinahe reaktionären Schlussfolgerungen aus, die Max Alsberg aus seinen Überlegungen für eine Reform des Enquête- und Untersuchungsrechts zog. bb) Reformforderungen Die Vorschläge des Zweitgutachters des 34. Deutschen Juristentages, allen ­voran die Streichung des Minderheitenrechts, hätten das parlamentarische Selbstinformationsrecht trotz seiner parlamentsfreundlichen Charakterisierung ein Stück weit zu den Standards der preußischen Verfassungsurkunde von 1850 zurückgeführt. Die „Wurzel möglicher Kollisionen“ mit der Justiz sucht Max Alsberg in der „fast unbeschränkten Einsetzung der Kommission und der Themastellung“. Für dieses Übel machte er die parlamentarische Übung verantwortlich, den Antrag einer relativ kleinen Minderheit „debattelos und ungeprüft“ zu übernehmen. Durch dieses „nach geltendem Recht […] mindestens zweifelhaft[e]“ (!) Verfahren würden die Untersuchungsausschüsse zwar „mit einem höchst genau bezeichneten Thema eingesetzt“, dann aber „sich selbst überlassen“. Im Einzelfall könne ein Ausschuss mit dem Auftrag – wie bei dem Grubenunglück auf „Mont Cenis“ geschehen – vollkommen überfordert sein. Deswegen müssten Parlament und Regierung trotz des Gewichts, das in den Verfassungsberatungen auf das Minderheitsrecht gelegt worden wäre, in jedem Fall überprüfen, ob ein Antrag wirklich darauf abziele, „rein tatsächliche Vorgänge festzustellen“.477 Nach diesem Vorspiel wollte der Berliner Rechtsanwalt die Axt gleich ganz an das Minderheitsrecht legen. Weil die Ausschussmehrheit die Beweiserhebungen ohnehin jederzeit gegen den Willen der Minorität beenden könne, hielt er im Interesse einer „bessere[n] Formulierung und Begrenzung der Aufgaben“ für richtig, das „Minderheitsrecht zu beseitigen und eine regelrechte Beratung über den Antrag zuzulassen“. Dass dann die „Minderheit geknebelt“ würde, wäre nicht zu befürchten, weil weder das Gouvernement noch die Mehrheit das „Odium“ riskieren könnten, die „Aufklärung eines öffentlichen Mißstandes a limine zu verweigern“.478  – Dieser atavistische Vorschlag führte zu den Zuständen unter der Herrschaft von Art. 82 PrVerf 1850 zurück, so dass der Blick in die Verfassungsgeschichte die wahrscheinlichsten Folgen seiner Realisierung erahnen lässt: Wie in vergangenen Zeiten hätte die Ausgestaltung als Mehrheitsrecht es mehr oder minder gouvernementalen oder zufälligen Ad-hoc-Koalitionen ermöglicht, direkt jeden Kontrollversuch einer Minderheit abzuwürgen. Die zunehmende parteipolitische Fragmentierung des Reichstags hätte das Enquête- und Untersuchungsrecht damit zunehmend in die Hände regierungsunfähiger und bloß destruktiver Pseudo 477

M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 367 ff. M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 369 f. Aufgenommen wurde diese Forderung etwa von J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S. 14 m. w. N. 478

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mehrheiten gespielt, die ausschließlich durch ihre Abneigung gegenüber der Republik, der Demokratie und der jeweiligen Regierung zusammengehalten worden wären; selbst eine Kontrolltätigkeit war unter solchen Vorzeichen alles andere als wahrscheinlich.479 Offensichtlich verkannte Max Alsberg, der das Untersuchungsrecht ja grundsätzlich wertschätzte, die negativen Auswirkungen, die seine Vorschläge haben mussten. Für den Fall, dass das Minderheitsrecht beibehalten werde, forderte der Berliner Rechtsanwalt, wenigstens darauf zu achten, den Untersuchungsauftrag klar und überschaubar zu formulieren, um „sowohl eine Erweiterung wie eine unzweckmäßige Begrenzung“ zu verhindern. Auf jeden Fall hielt er es für angebracht, einen Einsetzungsantrag künftig im Plenum oder in einer Kommission unter Beteiligung der Regierung vorzuberaten. Max Alsbergs These, dass sich eine entsprechende Regelung in der Geschäftsordnung treffen lasse, weil sie die Verfassung nicht tangiere, erscheint zweifelhaft.480 Obwohl die Antragsteller trotzdem an der ursprünglichen Antragsfassung festhalten könnten, erhoffte er sich, „daß aus solcher Vorbesprechung sich auch für [sie…] eine viel größere Klarheit über ihre Ziele“ ergebe. Allzu optimistisch dürfte die Erwartung gewesen sein, dass unter diesen Kautelen sicherlich „mancher nicht begründete Antrag noch einmal revidiert und evtl. zurückgenommen“ würde.481 Flankierend verlangte Max Alsberg zahlreiche Änderungen im Recht der parlamentarischen Beweiserhebung. Um den „eklatanten Mißbräuchen“ eines unbeschränkten Fragerechts vorzubeugen, befürwortete er, die bisherige „Praxis, daß der Ausschuß auf Beanstandung über die Zulässigkeit [beschließe…], gesetzlich festzulegen“. Auch müsse die Regierung ein Beanstandungsrecht erhalten, „wenn Fragen für ein schwebendes Strafverfahren nachteilig sein könn[t]en“.482 Bei der Vernehmung habe man künftig zwischen „Objekten der Untersuchung“, „Verdächtigen“, „Beschuldigten“ und gewöhnlichen Zeugen zu unterscheiden. Nur letztere dürften (fakultativ) vereidigt werden. Vor der Vernehmung müssten sämtliche Auskunftspersonen über ihre Stellung, der „Beschuldigte“ außerdem über sein Recht, die „Aussage ganz oder teilweise zu verweigern“, belehrt werden. Nachteile für das Untersuchungsverfahren wären davon nicht zu befürchten, weil eine Aussageverweigerung unwahrscheinlich sei – wahrscheinlich sollte hier der Druck der öffentlichen Meinung wirken. Zudem ließen sich aus einem Schweigen „meist wichtigere Schlüsse [ziehen…] als aus Aussagen, die unter dem Zwang, sich irgendwie 479

Aus der Übersicht über Anträge und Ausschüsse von F. Poetzsch-Heffter, JÖR 17 (1929), 1 (77); ders., JÖR 21 (1933/34), 1 (88 f.) geht hervor, dass es keine „konstruktive“ Zusammenarbeit zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses gegeben hat. 480 Im November 1922 hatte man in den Geschäftsordnungsberatungen die von dem DNVPAbgeordneten Walther Graef angeschnittene Frage, ob ein Einsetzungsantrag zur weiteren Beratung einer Kommission überwiesen werden dürfe, nach P. Löbes Hinweis auf das Minderheitsrecht nicht weiterverfolgt (VerhWRT I (1920/24), S. 9081 f.). 481 M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 369 f. 482 M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 371.

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rechtfertigen zu müssen, abgegeben“ würden. Alle Zeugen müssten „gegen private oder amtliche Verfolgung“ geschützt werden. Die Forderung, die „Sitzungspolizei auch gegenüber Zeugen, Sachverständigen und anderen nicht zum Ausschuß und zu den Regierungsvertretern gehörenden Personen“ durch Gesetz zu regeln, griff der weitergefassten Verweisungsnorm des Art. 44 Abs. 2 GG vor, der heute auch die entsprechenden Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes erfasst. Eine Vernehmung der mit dem Strafverfahren befassten Beamten und Richter sah Max Alsberg wie der Erstgutachter kritisch. Ein potentiell wirkungsvolles Schutzinstrument sei die Aussagegenehmigung, deren Erteilung aber keinesfalls im „freien, nicht nachzuprüfenden Ermessen“ der Behörden stehen dürfe. „[B]isher [sei es] nicht […] zu Konflikten und gegenseitigen Machtproben […] gekommen“, sondern den Beamten in der Regel „nur die Beschränkung auferlegt worden, den Zweck einer schwebenden Untersuchung nicht durch die Aussage zu gefährden“. Relativ modern wirken die folgenden Überlegungen zur Aussagegenehmigung: Eine „strikte Übertragung“ des § 54 StPO auf das parlamentarische Untersuchungsverfahren lehnte der Strafverteidiger Alsberg als nicht „wirklich sinngemäß“ ab: Während die Versagung einer Aussagegenehmigung gegenüber der Justiz noch „im allgemeinen erträglich“ wäre, mache sie ein parlamenta­ risches Untersuchungsverfahren zur Verwaltungskontrolle „illusorisch“. Wenigstens müssten dem Ausschuss die Gründe für die Weigerung eröffnet werden. Realisieren lasse sich diese Forderung mit Hilfe des Zitierrechts. Im äußersten Fall könne die Volksvertretung einen „solchen Fall zur Kabinettsfrage […] machen“.483 Obwohl Max Alsberg das Aktenvorlagerecht der Untersuchungsausschüsse als „nicht minder schwieriges Kapitel“ ansah,484 wies er die Forderung des Erstgutachters zurück, § 96 StPO entsprechend anzuwenden: Einmal unterscheide Art. 34 RVerf 1919 klar zwischen „Aktenvorlage und Beweiserhebungen“; „nur für letztere [kämen…] die Vorschriften der Strafprozeßordnung“ in Betracht. Zum anderen konterkariere es die parlamentarische Kontrolle, wenn einem Untersuchungsausschuss „die wichtigsten Materialien vorenthalten werden könnten“.485 Nachteile für das Strafverfahren könnten aber durch potentielle Verzögerungen infolge der Aktenvorlage entstehen. Insoweit könne keine gesetzliche Regelung, sondern nur der „politische[n] Takt“ aller Beteiligten weiterhelfen. Am Besten sollten die Untersuchungsausschüsse wie bisher „ruhig“ abwarten, „wenn die Regierung [erkläre…], daß bestimmte Akten zur Zeit für das Strafverfahren gebraucht würden“. Als denkbares „Arrangement“ könnten Akten „nur auf kurze Zeit abgegeben werden“. Ein gewisser Vorgeschmack auf das heute verschiedentlich praktizierte Vorsitzendenverfahren486 war der Vorschlag, dass der „Berichterstatter […] bei der Behörde Einsicht“ nehmen könne. 483

M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 376 ff. M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 380. 485 M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 346. 486 Vgl. P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 11 Rn. 35 ff. m. w. N. 484

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Von den Untersuchungsausschüssen forderte der DJT-Gutachter Zurückhaltung bei der „öffentlichen Beweiserhebung“. Keinesfalls dürften, was aber „bislang nicht vorgekommen“ sei, „Zeugenprotokolle, Bemerkungen der Beamten in den Akten über den Stand des Verfahrens u. dgl. öffentlich […] verlesen“ werden. Eine zeitweilige gesetzliche Beschränkung des parlamentarischen Aktenvorlagerechts hielt Max Alsberg für „nicht notwendig und unter Umständen gefährlich“, weil eine „formale Bestimmung“ die Verwaltung „in kritischen Fällen“ dazu verleiten könne, „Vorgänge […] der Untersuchung des Parlaments zu entziehen“.487 cc) Zwischenergebnis So moderat Max Alsbergs Vorstellungen zu Beweiserhebung und Aktenvorlage auch waren, so radikal nimmt sich sein Vorschlag aus, das Minderheitenrecht abzuschaffen. Die Nachteile dieser Konstruktion, die es in der Vergangenheit nicht bloß gouvernementalen, sondern auch zufälligen Mehrheiten ermöglicht hatte, jede kritische Untersuchung zu verhindern, hatte die preußische Parlamentsgeschichte zu Genüge erwiesen. Max Webers Leistung, der die Bedeutung der parlamentarischen Minderheit für die Regierungskontrolle und die Aufarbeitung der Mehrheit unangenehmer Sachverhalte erkannt und in seiner Untersuchungsrechtskonzeption zur Geltung gebracht hatte, wäre damit verloren gewesen. Im Gegensatz zu diesem rückwärtsgekehrten Vorschlag waren die Reformforderungen für die Beweiserhebung überaus modern; ein guter Teil wurde tatsächlich umgesetzt. Das gilt z. B. für die Beanstandung und Zurückweisung ungeeigneter oder nicht zur Sache gehörender Fragen (§ 25 PUAG) oder die Pflicht der Bundesregierung, erforderliche Aussagegenehmigungen zu erteilen oder wenigstens die Gründe für ihre Versagung anzugeben (§ 23 PUAG). Anders als von Max Alsberg unter der Weimarer Reichsverfassung gefordert, gilt § 96 StPO heute als entsprechend anwendbar. Die Bundesregierung ist aber zur Kooperation mit dem Untersuchungsausschuss, soweit dies möglich ist, verpflichtet. Die Sitzungspolizei des Vorsitzenden folgt heute durch die Verweisung des Art. 44 Abs. 2 GG auf die „Vorschriften über den Strafprozeß“ aus § 176 GVG. Nicht durchsetzen konnte sich Max Alsbergs allzu gouvernementale Forderung, der Regierung ein Beanstandungsrecht beizulegen. Ebenso erfolglos blieben seine Bemühungen, die Rechtsstellung der Untersuchungsbetroffenen zu verbessern. Zwar erkannten die IPA-Regeln eine formelle Betroffenenstellung an; das Untersuchungsausschussgesetz hat solche Schutzmechanismen nicht übernommen. Auch die Forderung, den Zeugen besonderen rechtlichen Schutz angedeihen zu lassen, wurde nicht erfüllt. Ihnen bleibt nur das Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrecht (§ 22 PUAG). Einen gewissen Ausgleich könnte der generelle Verzicht auf das Vereidigungsrecht darstellen. 487 M. Alsberg, 34. DJT I, 1926, S. 383. Ähnl. R. Grau, AöR n. F. 12 (1927), 123 (128) („nötigen Zurückhaltung“), der eine generelle Regelung für unmöglich hält.

3. Kap.: Die Vermessung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts

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Ungeachtet der teils geradezu prophetischen Forderungen erscheint das Gutachten merkwürdig widersprüchlich und unausgegoren, indem Max Alsberg einerseits die politische Dimension des Enquête- und Untersuchungsrechts klar erkennt, andererseits aber gerade ihren Dreh- und Angelpunkt in Gestalt des Minderheitenrechts abschaffen will. Diese Rolle rückwärts in die konstitutionelle Vergangenheit widersprach Max Alsbergs eigener genuin politischer Charakterisierung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts. Seine Forderung könnte eine Konsequenz aus den schon vor der Agonie des Weimarer Parlamentarismus deutlichen Unfähigkeit der Parteien gewesen sein, sich hinter der Regierung zu scharen; möglicherweise sollte das politische Untersuchungsrecht auf die Fälle beschränkt werden, in denen wenigstens eine Mehrheit für eine Untersuchung existierte. Insoweit hätte sich, solange die an sich feindlichen Extremisten noch nicht über eine destruktive Zweckmehrheit verfügten, ggf. auf eine moderatere Selbstinformations- und Kontrollpraxis hoffen lassen. Denkbar wäre aber ebenfalls, dass Max Alsberg noch an der dualistischen konstitutionellen Blaupause festhielt, indem er der Regierung gewissermaßen die Volksvertretung als Ganzes gegenüberstellen wollte. Die Kontrollaufgabe wäre damit nicht der parlamentarischen Minderheit, sondern dem Organ Reichstag zugefallen. Seine Überlegung zu einem besseren Schutz des faktisch von einer brisanten Untersuchung Betroffenen bzw. auch der Zeugen dürfte Max Alsbergs beruflichem Hintergrund als Strafverteidiger zu verdanken sein. c) Die Vorschläge des Berichterstatters Jacobi Für die Beratung der Abteilung bereitete der Berichterstatter Erwin Jacobi die beiden Gutachten noch einmal auf. In seiner Stellungnahme qualifizierte der Öffentlich-, Kirchen- und Arbeitsrechtler die „Feststellung tatsächlicher Vorgänge durch Beweiserhebung“ als „[v]erfassungsmäßige Aufgabe“ der Untersuchungsausschüsse, die dazu diene, eine „Beschlußfassung auf dem Gebiete der Gesetzgebung, der Verwaltung oder etwaiger dem Parlament eingeräumter rechtsprechender Funktionen“ vorzubereiten. Eine Tätigkeit, die sich in diesem Rahmen halte, könne kein „Eingriff in die Unabhängigkeit der Justiz“ oder die „‚Garantien‘ der richterlichen Unabhängigkeit“ sein.488 Obwohl er mit Max Alsberg übereinstimmte, dass ernstliche „Konflikt[e] mit der Justiz“ wegen der grundverschiedenen Aufgabenstellung im Prinzip ausgeschlossen waren,489 teilte Erwin Jacobi doch Werner Rosenbergs Sorge, dass selbst die „verfassungsmäßige Tätigkeit“ eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses durch eine politische „Beeinflussung der Strafverfolgungsbehörden“, die „Gefahr einer Verfälschung des Beweismaterials“ oder eine „Verschleppung des Verfahrens“ zu „schweren Störungen“

488

E. Jacobi, 34. DJT II, 1927, S. 69. E. Jacobi, 34. DJT II, 1927, S. 75.

489

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

führen könne. Zudem könnten widersprechende Feststellungen die „Wirkung des Urteils“ abschwächen.490 Trotz dieser Bedenken lehnte er einen Vorrang des Strafverfahrens als „gleichbedeutend mit einem Verzicht auf die parlamentarische Untersuchung“ ab.491 Werner Rosenbergs Vorschläge, die „parlamentarischen Untersuchungsausschüsse mehr einem Gericht anzuähneln“, trügen den Verschiedenheiten beider Verfahren keine Rechnung. Stattdessen wollte Erwin Jacobi das Recht zu selbständigen eidlichen Zeugen- und Sachverständigenvernehmungen als Grund der Schwierigkeiten abschaffen. Für diesen radikalen Schritt verwies er neben dem Ausland auf § 24 GOFNV 1848 und Art. 73 „Charte Waldeck“.492 Während den Ausschüssen damit nur ein Recht zu freiwilligen Vernehmungen geblieben wäre, hätten sie künftig wieder wie in früheren Zeiten die „Gericht[e] um die eidliche Vernehmung […] ersuchen“ müssen. Auf diese Weise wollte Erwin Jacobi die „Feststellung von Tatsachen mit dem äußersten Mittel der eidlichen Vernehmung […] bei einer Stelle [konzen­trieren…], die dafür besonders geeignet und geschult“ sei. Zum Mindesten müsse das „Recht zur eidlichen Vernehmung“ einem „besonderen Parlamentsbeschluß“ vorbehalten bleiben.493 Als zweiten Schritt forderte der Leipziger Rechtswissenschaftler ein „besonderes Reichsgesetz über das Verfahren der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse“. Die bisherige „Verweisung auf eine sinngemäße Anwendung der Strafprozeßordnung“ hielt er für unzureichend, weil sie der „Verschiedenheit gerichtlicher und parlamentarischer Untersuchung“ nicht gerecht werde. Nicht nur mit dieser Forderung, sondern auch für den Inhalt eines Ausführungsgesetzes knüpfte er an Max Alsbergs Vorschläge an. Darüber hinaus wollte er eine Vernehmung von Richtern „über die gerichtliche Beratung und Abstimmung“ ausdrücklich verbieten und dem Justizminister das Recht einräumen, Gerichtsakten einstweilen zu verweigern, um eine „Verschleppung des gerichtlichen Verfahrens“ zu verhindern.494 Obwohl Erwin Jacobi diese Forderungen ausdrücklich mit den Fehlentwicklungen begründete, die auf der „Ausgestaltung des Enquêterechts zu einem Minoritätsrecht“ beruhten, ging er nicht so weit, wie Max Alsberg die „Abschaffung des ganzen Minoritätsrechts zu erwägen“. Den Minderheitenschutz hielt er für „so schwach entwickelt, daß man keinen Teil desselben aufgeben“ dürfe.495 Sicherlich auch im Interesse dieses zarten Pflänzleins sollte gegen Einsetzungsbeschluss und Ablehnung der Rechtsweg zum StGH eröffnet werden.496 490

E. Jacobi, 34. DJT II, 1927, S. 70 und ähnl. S. 79. E. Jacobi, 34. DJT II, 1927, S. 88. 492 E. Jacobi, 34. DJT II, 1927, S. 90 ff. 493 E. Jacobi, 34. DJT II, 1927, S. 94 ff. 494 E. Jacobi, 34. DJT II, 1927, S. 71 ff. 495 E. Jacobi, 34. DJT II, 1927, S. 105 f. 496 E. Jacobi, 34. DJT II, 1927, S. 74. 491

3. Kap.: Die Vermessung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts

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d) Abteilungsbeschlüsse Die erste Abteilung des Juristentages schloss sich Erwin Jacobis Feststellungen über Aufgaben und Kompetenzen der Unterausschüsse sowie die Vereinbarkeit ihrer Tätigkeit mit einem parallelen Strafverfahren an. Ebenso wies sie jede „prinzipielle Einschränkung oder Zurückdrängung“ des Untersuchungsrechts zurück. Dagegen machten sich die versammelten Juristen nicht die umfangreichen Reformforderungen des Berichterstatters zu eigen, sondern beschlossen lediglich eine ergebnisoffene Empfehlung an den Gesetzgeber, „in […] Erwägungen darüber einzutreten, ob und wie zwecks reibungsloser Tätigkeit der Untersuchungsausschüsse ihr Verfahren, wie insbesondere das Beeidigungsrecht, das Recht auf Aktenvorlage, die Stellung des Vorsitzenden u. a., gesetzlich zu regeln“ seien.497 e) Zwischenergebnis Beide Gutachten für den 34.  Deutschen Juristentag litten gewissermaßen unter der Person ihres Verfassers, die keine Staats- oder Öffentlichrechtler, sondern praktische Justizjuristen waren: Während der Richter Rosenberg versuchte, negativen Auswirkungen auf das Strafverfahren zu begegnen, machte sich Strafverteidiger Max Alsberg um den Schutz des „Beschuldigten“ und der Zeugen verdient. Das genuin politische des parlamentarischen Selbstinformationsrechts blieb beide Male wenigstens ein Stück weit auf der Strecke, ja die Vorschläge hätten das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht des Weimarer Reichstags zusammengenommen ins 19. Jahrhundert zurückbefördert: Der eine forderte die Streichung des Minderheitenrechts, der andere wollte Hand an das Recht der eidlichen Vernehmung legen, so dass man mit den verbleibenden Bruchstücken von Art. 34 RVerf 1919 grosso modo bei Art. 82 PrVerf 1850 angekommen wäre, der nicht nur in den Verfassungs- und Verfassungsreformdiskussionen in Norddeutschem Bund und Kaiserreich als insgesamt zu schwächlich kritisiert worden war. Freilich verlangte keiner von ihnen Beides. Obwohl ihm das Schrifttum vorgeworfen hat, er habe mit seiner allein „justizmäßige[n]“ „Betrachtungsweise“ „kaum den Kern der Frage“ getroffen (Richard Grau),498 erscheinen Werner Rosenbergs Forderungen, die Zusammensetzung der Untersuchungsausschüsse zu verändern, Vorermittlungen an Dritte zu delegieren und dem Strafverfahren einen zeitlichen Vorrang einzuräumen, im direkten Vergleich noch verhältnismäßig moderat. Die erste Abteilung des Deutschen Juristentages erteilte sämtlichen Beschränkungsversuchen eine Abfuhr. Die an die „amtlichen Stellen“ gerichtete Empfehlung war so neutral formuliert, dass sie weder ein Votum für noch gegen irgendwelche Änderungen enthielt. Der Juristentag vermied mit dieser weichen Fassung 497

34. DJT II, 1927, S. 192. R. Grau, AöR n. F. 12 (1927), 123 (124 f.).

498

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jede über das grundsätzlich Bekenntnis zu der Wichtigkeit eines parlamentarischen Untersuchungsrechts hinausgehende Stellungnahme  – und setzte damit wenigstens ein Zeichen gegen die gewissermaßen reaktionären Beschlüsse des deutschen Richtertags.499 Zwischen den Zeilen positionierten sich die Mitglieder des Juris­ tentages also gegen das wiederaufgewärmte „Gewaltenteilungsargument“, dessen Befürworter nicht mehr eine Usurpation exekutiver Kompetenzen beschworen, sondern eher mit den äußerlichen Ähnlichkeiten gegenüber einer richterlichen Beweiserhebung und mit dem schon in Kurhessen 1831 bemühten Einwand operierten, dass eine parallele parlamentarische Kontrolle gerichtlich untersuchter Vorgänge die Funktionsfähigkeit der Justiz beeinträchtigten.500 4. Reichstag Auch im Reichstag selbst kam Kritik an der parteipolitischen Handhabung des Untersuchungsrechts auf. Bei der Beratung des Justizetats am 11. März 1925 klagte der Staats- und Kirchenrechtler Wilhelm Kahl (DVP), dass es an der Zeit sei, die „erschütterte Autorität des Rechts […] im deutschen Volk“ wiederherzustellen. Die Ursache einer bedrohlichen „Erschütterung des Rechtsgedankens“ vermutete der Berliner Professor in einer „vorherrschend gewordenen verhängnisvollen Vermischung von Recht und Parteipolitik“; die Wurzel des Übels sah er „in einer hemmungslos generalisierenden Kritik, in systematisch betriebener Untergrabung der Staats- und damit auch der Rechtsautorität“, ein Symptom in der „Kritik richterlicher Urteile“. Während gegen sachliche Kritik an erstinstanzlichen Urteilen in der „Tagespresse oder wissenschaftliche[n] Literatur“ nichts auszusetzen wäre, finde ein „Eingriff in die Rechtspflege“ statt, „wenn […] mit obrigkeitlicher Macht ausgestattete Organe den Rechtsgang [zu] beeinflussen oder ihm vor[zu] greifen“ versuchten. Unter diesen Auspizien waren Wilhelm Kahl die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse verdächtig. Ohnehin diagnostizierte der DVPPolitiker, der vor der Wende der nationalliberalen Partei angehört hatte, eine „zu weitgehende“ entsprechende parlamentarische „Neigung“ und forderte namens seiner Fraktion: „Heraus mit den Maßstäben der Parteipolitik wie aus den richterlichen Urteilen, so auch aus der Kritik!“501 Folgen hatte dieser Aufruf nicht. Am 16. Februar 1926 kam das Thema erneut zur Sprache. Dieses Mal monierte der promovierte Mannheimer Landgerichtsdirektor Alfred Hanemann, dass sich 499 Ähnl. S. Schröder, ZParl 1999, 715 (728). Dazu, dass das „Ergebnis der Verhandlungen“ nach der Kritik u. a. des Richtertages „mit einer gewissen Spannung erwartet“ worden sei, vgl. R. Grau, AöR n. F. 12 (1927), 123 (124); der Antrag im Reichstag (VerhWRT III (1924/28), Nr. 2050) habe den Beratungen ein „besonderes Gewicht“ verliehen. 500 s. zu Kurhessen 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. a) bb) (2) und (3) oder aus der preußischen Verfassungsgeschichte 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. d) bb), D. IV. 3. c) oder 5. Teil 3. Kap. C. II. 1. c) aa) Posener, Schweidnitzer (1848) und der Wahlmanipulationsuntersuchung (1863/64). 501 VerhWRT III (1924/28),S. 1010 f.

3. Kap.: Die Vermessung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts

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das „Institut der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse […] nachgerade zu einer Gefahr für eine ordentliche gesetzliche Rechtssuche“ entwickele. Die parlamentarische Praxis hielt der Deutschnationale für „vielleicht auch nicht ganz unbeeinflußt von dem Wunsche […], dem öffentlichen Strafverfahren zuvorzukommen […] oder es in gewisse Bahnen zu lenken“. Zur Untermauerung verwies er auf die „Referate und Ausführungen auf dem letzten Deutschen Richtertage“.502 Wilhelm Kahl meldete sich erneut zu Wort und plädierte auf die „Trennung der richterlichen Funktion von der Parteipolitik“. Dem Reichstag hielt er vor, dass er mit der „Art und Weise der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen“ in der „grundsätzlichen Trennung von Recht und Parteipolitik“ selbst nicht „immer das beste Beispiel“ gebe. Das „ungeheuer wichtig[e]“ Thema, ob Art. 34 RVerf 1919 geändert werden müsse, rühmte sich der Berliner Professor, dem Juristentag lanciert zu haben.503 Bevor sich dieser im September 1926 mit den aufgeworfenen Fragen beschäftigen konnte, beantragten 17 Abgeordnete der Deutschen Volkspartei unter dem 11. März 1926 umfangreiche Änderungen an Art. 34 RVerf 1919. U. a. sollte ein Untersuchungsausschuss sein „Verfahren […] auszusetzen [haben], wenn bei oder nach seiner Eröffnung wegen des gleichen Thatbestandes ein Untersuchungs- oder Strafverfahren anhängig“ war; die Wiederaufnahme des parlamentarischen Verfahrens sollte erst in Betracht kommen, wenn jenes „rechtskräftig erledigt“ wäre. Außerdem sollten die Gerichte die „Vorlegung von Akten, insbesondere von Untersuchungsakten, […] auch nach Beendigung des Verfahrens, in welchem sie angelegt“ worden seien, ablehnen können, „wenn […] zwingende Veranlassung zur Geheimhaltung“ bestand.504 Sachlich deckten sich diese Vorschläge wenigstens teilweise mit den Forderungen, die der Leipziger Landgerichtsdirektor und DVPAbgeordnete Johannes Wunderlich auf dem deutschen Richtertag erhoben hatte. – Statt eines Votums in der Sache beschloss der Rechtsausschuss, zunächst die Stellungnahme des Kölner Juristentages abzuwarten.505 Anscheinend blieb der Antrag, an dem im Schrifttum neben seiner unpräzisen Fassung kritisiert wurde, dass das „Wesentliche, die Vermeidung der Verzögerung des Gerichtsverfahrens“, fehle,506 danach unerledigt.507 Keine Auswirkungen hatte ebenfalls ein am 9.  November 1926 durch den Deutschnationalen Hans-Erdmann v. Lindeiner-Wildau im Kontext der „Feme“Morde unternommener Vorstoß, der durch das Treiben der Untersuchungsausschüsse gefährdeten „unabhängigen deutschen Rechtspflege“ wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Der ehemalige Amtsrichter hielt es für ein „höchst gefähr-

502

VerhWRT III (1924/28), S. 5602. VerhWRT III (1924/28), S. 5614. 504 VerhWRT III (1924/28), Nr. 2050. 505 Wunderlich, DJZ 1926, Sp. 1261 (1265). 506 F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 90. 507 F. Poetzsch-Heffter, JÖR 17 (1929), 1 (77). 503

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liches Beginnen“, „wenn von politischen Körperschaften, die die Verantwortung für das, was sie an Stimmungsmache erzeug[t]en, nicht selbst zu tragen [hätten…], durch Untersuchungen und Feststellungen in schwebende Gerichtsverfahren eingegriffen und damit der freien Urteilsfindung des Berufsrichters vorgegriffen“ werde.508 5. Schrifttum Auch das Schrifttum beschäftigte sich mit dem Verhältnis von parlamentarischen Untersuchungen und Justiz. Einigkeit herrschte in der verfassungsrechtlich eindeutigen Frage, dass kein Untersuchungsausschuss ein Urteil im technischen Sinn einer rechtskraftfähigen Entscheidung fällen konnte; eine derartige Anmaßung wurde teilweise ausdrücklich als Verletzung der Gewaltenteilung qualifiziert.509 Vereinzelt wurde davor gewarnt, dass eine parlamentarische Untersuchung die richterliche Unabhängigkeit des Art. 102 RVerf 1919 verletze, wenn ein Gericht für seine Rechtsprechung zur Verantwortung gezogen oder Einfluss auf eine anstehende Entscheidung genommen werde.510 Teilweise versuchte man, aus dem Verbot, richterliche Aufgaben wahrzunehmen, darüber hinaus den von Art. 82 PrVerf 1850 her geläufigen Einwand abzuleiten, dass die Untersuchungsausschüsse sich auf eine „Sammlung und Sichtung von Tatsachen“ zu beschränken hätten; eine „kritische Beurteilung“ der gesammelten Informationen sollte ihnen nicht zustehen.511 Größere Gefolgschaft fanden diese antiquierten Deduktionen nicht.512 Häufig blieben die literarischen Stellungnahmen aber auch derart mehrdeutig, dass sich nicht sicher sagen lässt, ob nur eine „echte“ Usurpation gerichtlicher Kompetenzen oder schon jede Paralleluntersuchung desselben Sachverhalts ver-

508

VerhWRT III (1924/28), S. 7987. Mit teils unterschiedlichem Akzent und bisweilen ohne Begründung vgl. G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 218; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 466; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S.  22 f.; C. Schachtel, Anwendung, 1927, S.  8; A.  Köchling, EnqueteR, 1926, S.  38; Conrad Bornhak, zitiert nach N. N., DRiZ 1925, Sp.  456 ff.; R. Schmidt, Einführung2 1923, S. 150; E. Kaufmann, Untersuchungsausschuss, 1920, S. 23 und ferner wohl auch J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR II2 1930, S. 692 f. oder O. Bühler, RVerf2 1927, S. 62. 510 s. nur J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 34 f. und ferner S. 23 f. oder K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 40, der es für unzulässig hielt, eine „gerichtliche Entscheidung […] einer sachlichen Nachprüfung zu unterziehen“. 511 F. Stier-Somlo, StaatsR I, 1924, S. 591 (Zitat); ähnl. A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 38. s. ferner L. Waldecker, PrVerf 19202 1928, S. 98, der auf die Stellung der Untersuchungsausschüsse als vorbereitende Hilfsorgane verweist. Von den beiden anderen unterschied ihn, dass er die Feststellungen ausdrücklich dem Plenum vorbehielt. 512 s. abl. G. Anschütz, RVerf  191914 1933, S.  220; allg. wurde der Beschränkungsversuch schlicht ignoriert. 509

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boten sein sollte. U. a. konstatierte etwa Richard Schmidt lakonisch, dass kein Untersuchungsausschuss „über eine Frage der Justiz, besonders der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, […] eingesetzt werden [dürfe], da die Geschäfte der Rechtspflege dem Reichstag auch als Plenum grundsätzlich entzogen“ wären.513 Ähnlich apodiktisch hieß es bei August Finger, dass die Untersuchungsausschüsse „Aufgaben, welche staatsrechtlich Gerichten oder Verwaltungsbehörden übertragen [seien,  …] nicht an sich ziehen“ dürften. „Sie [seien…] nicht Organe zur Feststellung der Schuld jemandes, was Sache des Gerichtes [wäre…], noch zur Entscheidung oder zur Feststellung von Rechten oder Rechtsverhältnissen“.514 Vor dem Hintergrund der Kriegsschulduntersuchung liegt es nahe, dass eine echte Beschränkung des Enquête- und Untersuchungsrechts beabsichtigt wurde. Die radikale These, dass sich ein „Untersuchungsausschuß bei allen […] Untersuchungen […] der ihm durch die Zuständigkeit der Gerichte gezogenen Schranken bewußt bleiben, und sobald […] eine Gerichtszuständigkeit begründet [sei…], sich aller Untersuchungshandlungen enthalten [müsse], für die die Gerichte […] ausschließlich zuständig sein soll[t]en“, stellte Erich Kaufmann ebenfalls aus Anlass des Kriegsschuldausschusses auf. Obwohl keine ausdrückliche Regelung bestand, unterstellte der konservative Staats- und Völkerrechtler, dass der allgemeine „Grundsatz, daß das gerichtliche Verfahren vor dem Disziplinarverfahren den Vorrang“ habe, für eine parlamentarische Untersuchung „naturgemäß entsprechend“ gelte.515 In der Folge wäre wenigstens eine parallele parlamentarische Untersuchung ausgeschlossen gewesen. – Eine vergleichbar restriktive Sicht findet sich bei Conrad Bornhak, der nach Michael Stolleis Urteil in der Weimarer Republik vom Monarchisten zum Nationalsozialisten mutiert war;516 der Berliner Staatsrechtler verurteilte die parlamentarische Untersuchungstätigkeit als „Parlamentsjustiz“, „welche sich den schlimmsten Auswüchsen der Kabinettsjustiz in der Zeit des Absolutismus würdig an die Seite stellen“ lasse. Weil sich die Reichstagskompetenzen auf Legislative und Verwaltungskontrolle beschränkten, nicht aber auf richterliche Entscheidungen erstreckten, hielt er jede Untersuchung über Gegenstände der Rechtspflege oder die Aufklärung zweifelhafter Sachverhalte durch die ordentliche Gerichtsbarkeit für unzulässig. Im Gegensatz zur Justiz tauge das parteipolitische Untersuchungsverfahren bloß dazu, einen „Sachverhalt möglichst zu verwirren und die Ergebnisse für die mündliche Hauptverhandlung [im Strafverfahren] ungeeignet zu machen“. Kurzum: Der „parlamentarische Eingriff in die Rechtspflege“ lege diese lahm.517 Verbreiteter war die von Max Alsberg auf dem Deutschen Juristentag verfochtene Position, dass parallele Untersuchungen wegen ihrer grundverschiedenen 513

R. Schmidt, Einführung2 1923, S. 150 (Hervorhebung nur hier). A. Finger, StaatsR, 1923, S. 261. 515 E. Kaufmann, Untersuchungsausschuss, 1920, S. 23. 516 M. Stolleis, GeschÖR III, 1999, S. 257. 517 C. Bornhak, zitiert nach N. N., DRiZ 1925, Sp. 456 ff. 514

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Zielsetzungen als zulässig bewertet wurden.518 In diesem Sinne betonte Gerhard Anschütz, dass der „Ausspruch“ eines „Untersuchungsausschusses […] der Entscheidung der […] zuständigen Instanzen nicht vorgreifen“ könne oder solle. Ein parlamentarisches Gremium fälle ein „Urteil nur im logischen Sinne“, ziehe eine „Schlußfolgerung, die nichts anderes [bezwecke…], als den Reichstag zu unterrichten und seine Entscheidung […] vorzubereiten“.519 Auf dieser Grundlage galt manchen Autoren selbst die von anderen so vehement bekämpfte „Einvernahme eines Gerichtsbeamten als Zeugen oder Sachverständigen“ nicht als unzulässig.520 Das Schrifttum goutierte eine Koinzidenz parlamentarischer und gerichtlicher Untersuchungen aber keineswegs durch die Bank, sondern monierte vermeintlich schwerwiegende faktische Auswirkungen auf das Strafverfahren. Reformforderungen an die Adresse des Gesetzgebers und Mäßigungsappelle an Untersuchungsausschüsse und Gerichte waren die Folge solcher Positionen.521 Im Schrifttum dominierte also wie auf dem Deutschen Juristentag eine eher untersuchungsrechtsfreundliche Sicht. Gewaltenteilungsrechtliche Vorbehalte konnten den Siegeszug des parlamentarischen Selbstinformationsrechts ebenso wenig aufhalten wie Sorgen um die richterliche Unabhängigkeit. Die Forderungen, die vor allem auf dem Deutschen Richtertag aus Justizkreisen erhoben worden waren, verfügten in der Fachöffentlichkeit anscheinend über keinen besonderen Rückhalt. 6. Zwischenergebnis Seit den ersten Jahrzehnten des 19.  Jahrhunderts gab es Vorbehalte, dass die parlamentarische Untersuchung eines potentiell strafrechtlich relevanten Sachverhaltes in die Kompetenzen der Justiz einbrechen könne.522 Mit dem Inkrafttreten der Reichsverfassung, die dem Reichstag in Art.  34 ausdrücklich das Recht 518 Vgl. zu M. Alsberg 7. Teil 3. Kap. B. II. 3. b) aa) sowie aus dem Schrifttum G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 221; J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S. 19 ff.; J. Hatschek/ P.  Kurtzig, DtPrStaatsR II2 1930, S.  693; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 65 ff.; K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 27 f.; ausführlich J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 22 ff.; C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 11 f.; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 41 f.; W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (311 f.). s. im Ergebnis ähnl. wie hier S. Schröder, ZParl 1999, 715 (723). 519 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 221. Ähnl. W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (311 f.) und ferner F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 68. 520 W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (313 f., 315); F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 69. 521 Mit unterschiedlichem Akzent s. F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 65 ff.; C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 11; F. Oetker, DRiZ 1925, Sp. 455 f.; K. Chrzescinski, DJZ 1925, Sp. 1074 ff. 522 Zu Sorgen um einen parlamentarischen Einbruch in die Justiz s. 2.  Teil 2.  Kap. A. II. 3. a) bb) (2) und (3) („Garde-du-Corps-Nacht“), 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. d) bb) (Posener Untersuchung 1848) und D. IV. 3. c) (Schweidnitzer Untersuchung) sowie 5. Teil 3. Kap. C. II. 1. c) aa) (Wahlmanipulationsuntersuchung 1863/64).

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zu zwangsbewehrten Untersuchungen einräumte, waren sie weitgehend passé. Nur in den Reihen der Richterschaft, deren Vertreter überwiegend noch in Kaisers Zeiten in Amt und Würden gekommen waren,523 konnten sich Forderungen, eine parlamentarische Untersuchung müsse mindestens im Rang hinter dem Strafverfahren zurücktreten, behaupten. Ausschlaggebend waren ein hypertrophes Standesbewusstsein, das selbst eine Gesetzesänderung zum „Machtspruch“ degradierte, und Vorstellungen, dass die parlamentarische Aufarbeitung eines Sachverhaltes von Natur aus hinter dem Gerichtsverfahren zurückzustehen habe. Zu Grunde lagen offensichtlich Fehlvorstellungen, die dem parlamentarischen Verfahren denselben Zweck wie einer gerichtlichen Untersuchung andichteten. Symptomatisch ist die Klage des ehemaligen Stettiner Generalstaatsanwalts ­Chrzescinski, dass, „wenn man jemandem eine Geige [schenke, …] er noch lange kein brauchbares Mitglied des Orchesters [wäre; …] vielmehr [folge…] in der Regel eine Zeit, in der man sich an Mißklänge gewöhnen“ müsse.524 Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss „spielte“ aber nicht im selben „Orchester“ wie die Gerichte. Hinzu kam die verbreitete Geringschätzung der konservativen Richterschaft gegenüber dem „Parteipolitischen“, der parlamentarischen Auseinandersetzung, ja der Demokratie selbst – und damit zwangsläufig auch des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens. Forderungen aus der Richterschaft, das Enquête- und Untersuchungsrecht gegenüber der Judikative zurückzustutzen und dem gerichtlichen Verfahren einen (zeitlichen) Vorrang einzuräumen, konnten weder auf dem Deutschen Juristentag noch im Schrifttum reüssieren. Ähnlich wie das konservative „Gewaltenteilungsargument“, das keine parlamentarische Kontrolle der Exekutive bzw. keine vermeintlich exekutiven Untersuchungsmaßnahmen dulden konnte, hätten diese das parlamentarische Selbstinformationsrecht wenigstens sektoral paralysiert. ­Darüber hinaus hätte eine solche Regel über das Medium strafrechtlicher Ermittlung und Anklageerhebung letzten Endes den Staatsanwaltschaften die Möglichkeit in die Hände gespielt, jede parlamentarische Aufklärung skandalöser Vorgänge willkürlich zu torpedieren. Eine derartige Abhängigkeit des Parlaments von den Gerichten oder einer dem Justizminister verantwortlichen Anklagebehörde ist mit demokratischen Grundprinzipien unvereinbar. Im Schrifttum schlugen sich nur wenige Autoren auf die Seite der entsprechenden Forderungen. Am „klassischsten“ fanden sich alte Ressentiments bei Erich Kaufmann, der den Kompetenzkreis der Volksvertretung und ihrer Untersuchungsausschüsse, als hätten die staatsrechtlichen Umwälzungen von 1918/19 überhaupt nicht stattgefunden, gleichsam nach konstitutionellem Muster auf die „Mitwirkung bei der Gesetzgebung“ und die „Kontrolle der ‚Regierung‘“ beschränken wollte.525 523

s. F. Wittreck, Verwaltung, 2006, S. 55 f. dazu sowie dem Misstrauen der Richterschaft gegen das neue System. 524 K. Chrzescinski, DJZ 1925, Sp. 1074. 525 E. Kaufmann, Untersuchungsausschuss, 1920, S. 17 ff.

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

In der Weimarer Staatsrechtslehre war aber mit derartig antiquierten Vorstellungen kein Staat mehr zu machen. Nicht erfolgreicher waren parlamentarische Vorstöße aus rechtsliberalen und deutschnationalen Kreisen, die ebenfalls auf eine Beschränkung des Enquête- und Untersuchungsrechts gerichtet waren; sie blieben im Reichstag unerledigt und erfolglos. Der Reichstag ließ sich seine nach Jahrzehnten der informationsrechtlichen Abstinenz endlich errungenen Kompetenzen nicht wieder streitig machen. Stattdessen teilten die konservativen Verfassungsänderungsforderungen jetzt das Schicksal der ehedem erfolglosen linken Vorstöße zur Etablierung eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts. Von der Staatspraxis und der Rechtswissenschaft der Weimarer Republik konnte also auch die letzte Bastion überkommener „Gewaltenteilungssorgen“ geschliffen werden. Die Bedeutung dieses Sieges für die weitere Entwicklung des Enquêteund Untersuchungsrechts ist nicht zu unterschätzen. Wäre dieses Ringen verlorengegangen, hätte das parlamentarische Selbstinformationsrecht kaum zu seiner heutigen kontrollrechtlichen Bedeutung heranwachsen können.

III. Bewertung Die Weimarer Reichsverfassung brachte dem Reichstag mit Art.  34 die vollständige informationsrechtliche Emanzipation gegenüber den anderen Gewalten. Frühere staatsrechtliche Ressentiments, parlamentarische Untersuchungen wären mit der Exekutive, ja mit jeder staatlichen Ordnung absolut unvereinbar, waren, sieht man von versprengten Stellungnahmen ab, mit der Revolution der Staatsordnung verschwunden. Angesichts des Übergangs zu Volkssouveränität, Demokratie und parlamentarischem Regierungssystem urteilte Gerhard Anschütz’ Heidelberger Doktorandin Charlotte Schachtel 1927, dass gewaltenteilungsrechtliche Streitfragen, ob eine parlamentarische Exekutivkontrolle oder eigene parlamentarische Untersuchungsbefugnisse überhaupt zulässig sein könnten, in Deutschland anders als im Ausland mit der „positive[n] Regelung in Art. 34 RV. erledigt“ seien.526 Lediglich ein moderater Schutz der Funktionsfähigkeit der Regierung, der sich grosso modo bis heute behaupten konnte, wurde anerkannt. Mit dem Durchbruch des parlamentarischen Selbstinformationsrechts stellten sich aber auch alte Probleme im neuen Gewand. Die der Strafprozeßordnung entlehnten politischen Befugnisse führten wie schon ihre vergleichsweise zahmen Vorfahren in den Tagen des monarchischen Konstitutionalismus zu Sorgen um die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit der Justiz. Während die Richterschaft aber den Sinn und Zweck des politischen Untersuchungsrechts verkannte, seine vermeintlichen Defizite im Hinblick auf eine objektive Wahrheitsfindung herausstellte, damit seinen genuin politischen Charakter schlichtweg leugnete und zu allem Übel einen unbedingten 526

C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 9.

3. Kap.: Die Vermessung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts

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Vorrang des Strafverfahrens forderte, erkannten der Juristentag und das überwiegende Schrifttum die Zulässigkeit paralleler Untersuchungen an. Statt Forderungen gesetzlicher Vorrangregelungen dominierten moderate Wünsche nach gegenseitiger Rücksichtnahme und Mäßigung das Feld.

C. Fazit: Durchbruch des Enquêteund Untersuchungsrechts Nach der Revolution läutete ein weites Verständnis der von Egon Zweig am Ende des Kaiserreichs formulierten Korollartheorie die Geburtsstunde des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts ein. Sachlich erstreckte es sich sowohl auf die Gesetzesvorbereitung, deren Berechtigung schon gegenüber den preußischen Kammern kaum bestritten worden war, als auch auf die Aufdeckung gesellschaftlicher Missstände oder die Regierung- und Verwaltungskontrolle. Für einen institutionellen Vorrang oder wenigstens eine temporäre Präponderanz einer der beiden anderen Teilgewalten war im staatsrechtlichen Kosmos der Weimarer Republik kein Platz mehr. Solchen Überlegungen früher zugrundeliegenden pseudogewaltenteilungsrechtlichen Bedenken, die in Wahrheit auf dem „monarchischen Prinzip“ beruhten, hatte der Übergang zu Demokratie und Parlamentarismus den Boden entzogen. Der staatsrechtlichen Umwälzung fielen in der Folgezeit auch andere Restriktionen zum Opfer, die dem parlamentarischen Selbstinformationsrecht in der konstitutionellen Ära von der gouvernementalen Seite angedichtet worden waren. Die im Königreich Preußen aufgestellte Behauptung, dass die Volksvertretung lediglich solche Sachverhalte untersuchen dürfe, mit denen sie bereits anderweitig befasst wäre,527 ließ sich ebenso wenig halten wie die durch Erich Kaufmann und Fritz Stier-Somlo aus der konstitutionellen Versenkung gezogene These, dass parlamentarische Untersuchungsausschüsse „Tatsachen“ zwar untersuchen, aber keineswegs bewerten dürften.528 Wie es Egon Zweig schon 1913 prognostiziert hatte,529 spiegelte sich der Machtzuwachs der Volksvertretung gegenüber der Regierung nach der Revolution tatsächlich in der Stärke ihres Enquête- und Untersuchungsrechts wider. 527

s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. b) cc) und d). E. Kaufmann, Untersuchungsausschuss, 1920, S. 17 ff.; F. Stier-Somlo, StaatsR I, 1924, S. 591 (keine „kritische Beurteilung“). Ähnl., wenngleich abgeschwächt, L. Waldecker, PrVerf 19202 1928, S. 98: „Es schließt das selbstverständlich nicht aus und es besteht im Einzelfall vielleicht sogar eine dahingehende Verpflichtung, daß der Untersuchungsausschuß seinerseits entsprechende Anträge stellt und damit tatsächlich ein Urteil fällt, das jedoch der Entscheidung des LT. nicht vorgreift.“ Zur a. A. s. mit Blick auf die Entstehungsgeschichte J. Hatschek/ P. Kurtzig, DtPrStaatsR I2 1930, S. 694 f. sowie zu der Notwendigkeit anderweitiger Befassung K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 29. 529 E. Zweig, ZfP 1913, 265 (269). 528

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

4. Kapitel

Das Enquête- und Untersuchungsrecht als Minderheitenrecht A. Die sachlich-inhaltliche Prägung durch das Minderheitenrecht Die im Vergleich mit Art. 82 PrVerf 1850 zweite revolutionäre Neuerung der Weimarer Reichsverfassung, die Walter Lewald als den „eigentlichen fruchtbaren und tragenden Gedanken des modernen Enquêterechts“ begrüßte und für „geeignet [hielt…], dem parlamentarischen System überhaupt eine höhere Rechtfertigung zu verleihen“,530 war die Ausgestaltung als Minderheitenrecht. Verfassungsrechtlich durchbrach Art.  34 Abs.  1 Satz  1 RVerf  1919 das demokratische Mehrheitsprinzip, indem er den Reichstag oder mit anderen Worten dessen Mehrheit auf Antrag eines Fünftels seiner Mitglieder dazu verpflichtete, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen.531 Trotzdem sollte ein Quorum, wie im 19. Jahrhundert für das Interpellationsrecht, eine „Diktatur der Minderheit“ verhindern.532 Tatsächlich sorgte diese Hürde dafür, dass das Enquête- und Untersuchungsrecht bis zur Endphase der Republik nicht zum Spielball der schlimmsten Extremisten wurde: Nationalsozialistische wie kommunistische Untersuchungsanträge wurden ausdrücklich abgelehnt oder kamen erst gar nicht auf die Tagesordnung. Ad-hocKoalitionen dieser Splitterparteien, die allein nicht über eine Einsetzungsminderheit verfügten, hat es anscheinend nicht gegeben.533 In der Folge waren es nicht die schlimmsten Republikfeinde, die dem parlamentarischen Untersuchungsrecht einen schlechten Ruf verschafften.534 Z. B. wurde die berüchtigte Barmat-Unter 530 s. W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (326) und ders., Enquete, 1922, S. 69 ff. ausführlich zum Minderheitsprinzip. Auch K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 12 f. goutierte wegen der „geistigen Homogenität von Regierung und Mehrheitspartei“ den aus der „Furcht vor der Allgewalt der nunmehr schrankenlosen Mehrheitsparteien“ geborenen Gedanken eines Minderheitenrechts. Dagegen befürchtete F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 75 eine „Störung ruhiger Regierungsarbeit durch ständige Quertreibereien der Minderheit“, einer „Opposition um der Opposition wegen“, obwohl diese an dem „Bollwerk“ der Parlamentsmehrheit in den meisten Fällen scheitern werde. 531 Auch aus diesem Grund beanstandete der vorl StGH, RGZ 102, 425 (427 ff., 430 f.) den Versuch der Bremer Bürgerschaft, ein Enquête- und Untersuchungsrecht einfachrechtlich zu etablieren und in der Geschäftsordnung als Minderheitsrecht auszugestalten. Zu Herkunft und Gründen von Minderheitsrechten s. G. Jellinek, Minoritäten, 1898, S. 7 ff., 27 ff. 532 s. dazu in Fn. 89. 533 Übersicht über Untersuchungsausschüsse und Anträge bei F. Poetzsch-Heffter, JÖR 17 (1929), 1 (77); ders., JÖR 21 (1933/34), 1 (88 f.). Zu den Mandatsverhältnissen zwischen 1919 und 1932 s. B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, Tabelle A 11, S. 296. 534 Zur agitatorischen Ausschlachtung des Untersuchungsrechts in Preußen s. W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 333 ff. und 8. Teil 2. Kap. zur Bedeutung dieses Aspekts der „Vorgeschichte“ bei der Entstehung von Art. 44 GG.

4. Kap.: Das Enquête- und Untersuchungsrecht als Minderheitenrecht

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suchung zwar von den Deutschnationalen gefordert, aber von der Mehrheit getragen.535 Obwohl sich linke und rechte Ultras in der Regel mit ihren Forderungen nicht durchsetzen konnten und manche Einsetzungsanträge der gemäßigten Parteien durchaus nachvollziehbare Kontrollforderungen betrafen, verkamen die Untersuchungen des Reichstags letztendlich doch häufig, „bar jeder politischen Kultur, oftmals zu hemmungslosen Hetz- und Verleumdungskampagnen gegenüber Amtsträgern wie Privaten“ (Johannes Masing).536 Das genuin politische Untersuchungsrecht spiegelte die völlig vergiftete politische Stimmung in der glücklosen Weimarer Republik also zutreffend wider. Ungeachtet dieser traurigen Entwicklung hatte man in den Verfassungsberatungen mit der Ausgestaltung des Art. 34 Abs. 1 Satz 1 RVerf 1919 als Minderheitenrecht naheliegende Schlussfolgerungen aus der Verfassungsgeschichte gezogen; allzu oft hatten in den vergangenen rund 70 Jahren wechselnde gouvernementale Majoritäten vernünftige Kontrollforderungen der Opposition vereitelt und den politischen Gegner damit mundtot gemacht. Statt an das insoweit schlechte Vorbild des Art.  82 PrVerf  1850 oder die linken Verfassungsreformforderungen anzuknüpfen, orientierten sich die Mütter und Väter der Weimarer Reichsverfassung an dem Leitbild eines wirkungsvollen Minderheitenschutzes. Nach Georg Jellineks allgemeiner Charakterisierung von 1898 verfolgten parlamentarische Minoritätenrechte ganz allgemein mit dem „Schutz objectiver staatlicher Institutionen oder subjectiver Interessen“ einen „doppelten Zweck“.537 In diesem Sinne legte Art. 34 Abs. 1 Satz 1 GG die Regierungs- und Verwaltungskontrolle in die Hände der Minderheit, um die Wirksamkeit dieser Reichstagsfunktion trotz des Übergangs zum parlamentarischen Regierungssystem sicherzustellen. Zugleich erhielt die für dieses grundsätzliche verfassungspolitische Anliegen in den Dienst genommene Minorität damit ein wirkungsvolles Instrument, um parteipolitische Interessen zu verfolgen. Diese grundlegenden Merkmale prägen das Enquête- und Untersuchungsrecht bis heute. Die Ausgestaltung als Minderheitenrecht dürfte ebenfalls der eigentliche Grund dafür sein, dass die politische Untersuchungsfunktion ganz im Vordergrund stand und steht.538 Soweit ersichtlich spielte dagegen die Enquêtefunktion des Art.  34 RVerf 1919, die ausweislich der Weimarer Verfassungsberatungen beibehalten werden sollte,539 im Reichstag keine Rolle; Walter Jellineks und Fritz Poetzsch-Heffters Übersichten im Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart verzeichnen für die Zeit von 1919 bis Anfang 1933 mehr als 10 Untersuchungen über das Ver 535 s. den Antrag, VerhWRT III (1924/28), Nr. 68. Eingesetzt wurde der Ausschuss einstimmig (VerhWRT III (1924/28), S. 55). 536 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 62. 537 G. Jellinek, Minoritäten, 1898, S. 6 f. 538 Vgl. H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E9). Zur „Effektivierung der Kontrolle als Ursprungsidee des Minderheitsrechts“ s. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 276 ff. 539 s. 7. Teil 2. Kap. A. II. 2. b).

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

halten amtierender und früherer Regierungspolitiker bzw. der Reichsregierung:540 Die Liste beginnt mit der später mehrfach „verlängerten“ Kriegsschulduntersuchung der Nationalversammlung, führt über Vorwürfe gegen Reichsernährungsminister Hermes, die Verhältnisse im Strafvollzug, den Verdacht republikfeindlicher Umtriebe in Reichswehr und Marine, die desperaten Bemühungen, den Wert der Mark trotz Ruhrkampf und Hyperinflation wenigstens kurzzeitig zu stabilisieren, über den Barmat-Kutisker-Skandal, Unregelmäßigkeiten in der Branntweinmonopolverwaltung bis hin zu der Untersuchung des fünften Reichstags über die Roggen- und Flockenstützungsaktion, ihre Auswirkungen auf die Landwirtschaft und die wahlagitatorische Ausschlachtung. Neben der Regierungs- und Exekutivkontrolle befasste sich der Reichstag mit verschiedenen Unglücksfällen in Bergbau und Industrie: So untersuchte ein Untersuchungsausschuss des Reichstags, föderale Bedenken wurden bei dieser Gelegenheit zurückgestellt,541 eine verheerende Schlagwetter- und Kohlenstaubexplosion auf der Zeche „Mont Cenis“ in Herne-Sodingen, die über 80 Bergleute das Leben gekostet hatte. Kurz darauf folgten Untersuchungen zu einem Massenunglück mit über 500 Toten in dem BASF-Werk im bayerischen Oppau sowie zu einem weiteren Grubenunglück. Obwohl sich diese Verfahren nicht primär mit dem Verhalten von Verwaltungsstellen, etwa der für die Zechen verantwortlichen Bergverwaltung,542 richteten, hatten sie doch einen politischen Hintergrund: Sie standen im direkten Zusammenhang mit den harten Auseinandersetzungen um Lohn, Arbeitsbedingungen und Mitbestimmung in der Industrie. Unter dem doppelten Druck, nicht nur die Heimat zu versorgen, sondern auch die horrenden Ersatz- und Reparationskohlenlieferungen zu fördern,543 wurden im Bergbau zunehmend kurz angelernte Arbeiter beschäftigt. Mindest- und Akkordlöhne setzten gefährliche Fehlanreize und Arbeitszeitverlängerungen und Überschichten taten ein Übriges, um die Unfallgefahr zu steigern. Während sich vor allem die Kommunisten für Arbeitnehmermitbestimmung und Achtstundentag einsetzten, lehnte die Wirtschaft Zugeständnisse ab.544 Vor diesem Hintergrund waren die schweren Unglücksfälle in Bergbau und chemischer Industrie Wasser auf die Mühlen der 540 s. zu sämtlichen Untersuchungen die Übersichten bei W. Jellinek, JÖR 9 (1920), 1 (89 ff.); F. Poetzsch-Heffter, JÖR 13 (1925), 1 (121 ff.), JÖR 17 (1929), 1 (75 ff.), JÖR 21 (1933/34), 1 (88 ff.). 541 M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 34. 542 Zu entsprechenden Vorwürfen s. die Rede des USPD-Abgeordneten und Bergmanns­ Julius Rosemann, VerhWRT I (1920/24), S. 4073 f., der die Forderung einer parlamentarischen Untersuchung u. a. damit begründete, dass der „Schuldige“ – gemeint war die preußische Bergverwaltung, die schon Ermittlungen der Unglücksursachen aufgenommen hatte,  – „die Untersuchung nicht leiten“ könne, weil Gerüchten zufolge die Berieselung auf Mont Cenis mit Zustimmung der Bergbehörde unterlassen worden sei. Angesichts dessen müsse man den „Wünschen der Bergarbeiter durch Einsetzung einer Kommission Rechnung [tragen…], die genau [untersuche…], auf welcher Seite Verfehlungen“ lägen. Eine derartige Untersuchung wäre aber föderal problematisch gewesen. Vgl. M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 34, 36. 543 Vgl. H. A. Winkler, Weimar4 2005, S. 91, 146. 544 W. Plumpe, Mitbestimmung, 1999, S. 45 ff., 261 ff.

4. Kap.: Das Enquête- und Untersuchungsrecht als Minderheitenrecht

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Linken in ihrem Kampf gegen den Kapitalismus und zur Befreiung des Proletariats.545 Die genannten Untersuchungsausschüsse hatten also eine hochpolitische, keineswegs bloß staatsgerichtete, sondern auf das Großkapital zielende Stoßrichtung, die für die Klassenkampfstimmung der damaligen Jahre bezeichnend ist. – Eine interessante Reminiszenz früherer Tage ist, dass der Reichstag nach zwei anderen Grubenunglücken („Minister Stein“ und „Dorstfeld“) nicht den kommunistischen Untersuchungsanträgen folgte, sondern sich mit vier Abgeordneten an Untersuchungen der preußischen Grubensicherheitskommission und des jeweiligen Betriebsrats beteiligte. Der Sozialdemokrat Heinrich Limbertz, Schriftleiter der Bergarbeiterzeitung, pries diesen „Weg [als…] praktisch“, weil der Reichstag damit die „Gelegenheit“ erhalte, sich „rasch und zuverlässig über die Ursache des Unglücks“ zu unterrichten.546 Gesellschaftliche Missstände besonders übler Art betrafen rechtsgerichtete Hassverbrechen, denen neben linken auch republikanische Politiker anderer Parteien wie Matthias Erzberger (Zentrum) oder Walther Rathenau (DDP) zum Opfer fielen; diese „Feme“-Morde beschäftigten insgesamt vier Untersuchungsausschüsse in Bayern (1920), Preußen (1924 und 1926) sowie im Reich (1926).547 Auch diese Untersuchungen hatten einen politischen Hintergrund und richteten sich gegen den Gegner auf dem rechten Rand des politischen Spektrums. Entsprechend seiner Ausgestaltung als Minderheitenrecht kam Art. 34 RVerf 1919 also augenscheinlich in seiner Funktion als politisches Untersuchungsrecht zum Zuge; sachliche Enquêten konnten auch kaum im Interesse der Opposition sein, die ohnehin keine realistische Chance hatte, sich mit rechts- und sozialpolitischen Forderungen in der Gesetzgebung durchzusetzen. Die je nach Perspektive Verkümmerung oder Emanzipation des früher zumeist unpolitischen Selbstinformationsrechts zu einem reinen parteipolitischen Kampfmittel war damit vorgeprägt.

B. Einsetzungsfragen I. Einsetzung durch die Minderheit Mit dem eindeutigen Wortlaut, dass der Reichstag auf Antrag eines Fünftels seiner Mitglieder verpflichtet war, „Untersuchungsausschüsse einzusetzen“, vertraute Art. 34 Abs. 1 Satz 1 RVerf 1919 diesen Schritt offenkundig selbst im Falle einer Minderheitsenquête dem Gesamtorgan an. Nach der allgemeinen Regel des Art. 32 RVerf 1919 war für einen entsprechenden Beschluss eine einfache Stimmenmehrheit erforderlich. Daran änderte auch die ausdrücklich in der Reichsverfassung verankerte „Pflicht“ des Plenums nichts, wenn es sich um den Antrag einer 545

Vgl. M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 36. Vgl. VerhWRT III (1924/28), S. 569 ff., 572, 1990. 547 B. Sauer, Reichswehr, 2004, S. 301. 546

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

qualifizierten Minderheit handelte. In diesem Sinne hatte die Weimarer Nationalversammlung den Kriegsschulduntersuchungsausschuss durch einen Mehrheitsbeschluss eingesetzt.548 Trotz des eindeutigen Verfassungswortlauts entwickelte sich abweichend davon im Reichstag eine eigentümliche Praxis, mit der das Einsetzungsrecht faktisch auf die qualifizierte Antragsminderheit übertragen wurde. Zum ersten Mal konstatierte Reichstagspräsident Paul Löbe bei der Einsetzung des Hermes-Untersuchungsausschusses am 15. Dezember 1920 gegen Protest von rechts, dass der „Antrag […] angenommen [wäre…], da ein Fünftel der Mitglieder des Hauses für die Annahme“ genüge.549 Ein gutes dreiviertel Jahr später urteilte Vizepräsident Johannes Bell (Zentrum) am 28.  September 1921 nach diesem Vorbild über den Antrag zur Untersuchung des Oppauer BASF-Unglücks.550 Weitere Beispiele sind die Einsetzung der Untersuchungsausschüsse über die Zustände in den Strafanstalten (19. November 1921),551 zu den Vorwürfen gegen die Reichswehr und das Verhalten des Reichswehrministers (17.  Juli 1922),552 zur Stützung der Mark (9. Mai 1923)553 oder zu Feme-Organisationen und Feme-Morden (23. Januar 1926).554 Abweichend von dieser Praxis wurde der Barmat-Ausschuss, der zwar seine Arbeit nicht abschloss, aber den verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert rehabilitierte, am 9. Januar 1925 mit „große[r] Mehrheit“ eingesetzt; zuvor hatte Paul Löbe erneut betont, dass der „Untersuchungsausschuß […] eingesetzt [sei], wenn der Reichstag das durch ein Fünftel seiner Mitglieder“ beschließe.555 Ähnlich verfuhr man im August desselben Jahres mit dem Untersuchungsantrag über die Branntweinmonopolverwaltung oder in der fünften Wahlperiode über die Roggen- und Flockenstützungsaktion.556 Angesichts der folgenden „Entscheidungen“ brach der Reichstag bei diesen Gelegenheiten nicht endgültig mit seiner bisherigen Praxis, gegen die auch von der Regierung keine Einwände erhoben wurden.557 Das Schrifttum lehnte diese Übung, die darauf hinauslaufe, dass die qualifizierte Minderheit den Untersuchungsausschuss selbst kreiere, überwiegend schon aufgrund des Verfassungswortlauts ab: Zu Recht wurde darauf verwiesen, dass Art. 34 Abs. 1 Satz 1 RVerf 1919 eindeutig von einer Einsetzung durch den Reichstag spreche. Teils folgte das Argument, dass der Reichstag die Pflicht habe, die

548

VerhWeimNV, S. 2708. VerhWRT I (1920/24), S. 1668. 550 VerhWRT I (1920/24), S. 4616. 551 VerhWRT I (1920/24), S. 5140 f. 552 VerhWRT I (1920/24), S. 8686, 8731. 553 VerhWRT I (1920/24), S. 10957. 554 VerhWRT III (1924/28), S. 5142. 555 VerhWRT III (1924/28), S. 55. 556 VerhWRT III (1924/28), S. 4225; VerhWRT V (1930/32), S. 473. 557 Auch Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns konstatierte im Fall des Zechenunglücks auf „Mont Cenis“, dass der „Reichstag eben den Beschluß gefaßt [habe…], die Untersuchungskommission aus seiner Mitte einzusetzen“ (VerhWRT I (1920/24), S. 4082). 549

4. Kap.: Das Enquête- und Untersuchungsrecht als Minderheitenrecht

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Zulässigkeit des Minderheitsantrags zu überprüfen.558 Gegen die salvatorische These, dass der Plenarbeschluss über die Mitgliederanzahl zugleich die Einsetzung absegne, wendete Adolf Arndt ein, dass die Verfassung mit der „Einsetzung“ einen ausdrücklichen und keinen stillschweigenden Akt verlange.559 Abweichend von der herrschenden Meinung versuchte Walter Lewald, das Minderheitenrecht des Art.  34 Abs.  1 Satz  1 RVerf  1919 zum „Minderheitsprinzip“ zu verklären: Weil der „Kollektivwille“ keine „psychologische Tatsache“, sondern eine rechtliche „Abstraktion“ wäre, wäre es nicht mehr als ein „rechtspolitisches Prinzip“, wie er im Einzelfall gebildet werde. In diesem Licht besehen, statuiere Art.  34 Abs. 1 Satz 1 RVerf 1919 kein „Minderheitsrecht“, sondern verleihe der „Minderheit die Fähigkeit […], aus sich heraus den Kollektivwillen zu bilden“. Von einer „Rechtspflicht“ der Mehrheit könne trotz des Wortlauts keine Rede sein, weil es an einem „selbständigen Rechtsträger“ und seinem „subjektiven“ Interesse fehle. Die „Beschlußfassung der Minderheit“ sei deswegen keine „Betätigung subjektiven Minderheitsrechts, sondern spezifische Organtätigkeit des Parlaments“. Die innere Rechtfertigung dieses Minderheitsprinzips sah Walter Lewald darin, dass die Regierung, um deren Kontrolle es Art. 34 RVerf 1919 gehe, in der parlamentarischen Demokratie von der Mehrheit getragen werde.560 Diesen wenig überzeugenden Thesen ließ sich ein guter Teil  der Bedenken, die zu Recht gegen die Reichstagspraxis erhoben wurden, ebenfalls entgegenhalten.561 Andere Autoren erkannten außerdem durchaus die Fähigkeit einer Minderheit an, Träger von Verfahrensrechten zu sein.562 Trotzdem dürften die Reichstags 558 s. mit unterschiedlichem Akzent H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S.  462 f.; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  29 ff.; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 64, 73 ff.; A. Arndt, AöR n. F. 22 (1932), 339 (340 f.) sowie L. Waldecker, PrVerf 19202 1928, S. 98 zu dem gleichlautenden Art. 25 Abs. 1 PrVerf 1920. Ähnl. wohl A. v. Freytagh-Loring­ hoven, WRV, 1924, S.  119 in Anm.  2; J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S.  11 und E. Hubrich, VerfR, 1921, S.  74: „Ein von solcher Zahl getragener Antrag verpflichtet das Reichstagsplenum unbedingt, den Untersuchungsausschuß einzusetzen.“ A. A. ohne nähere Begründung H. Kaufhold, UntersuchungsVf, 1928, S. 7 f. 559 A. Arndt, AöR n. F. 22 (1932), 339 (341). 560 W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (316 ff.) sowie ders., Enquete, 1922, S. 69 ff. S. 71 ging davon aus, dass „[d]ie Bestimmung des Art. 34 […] auch so formuliert werden [könne]: Der Reichstag hat das Recht, durch Beschluss einer einfachen Mehrheit oder einer Minderheit von mindestens einem Fünftel seiner Mitglieder Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Durch diese Formulierung würde deutlich gemacht, dass der Reichstag mittels einer Mehrheit oder einer qualifizierten Minderheit einen rechtserheblichen Willen auf Einsetzung eines Ausschusses kund geben kann. Bei dieser Auslegung enthält die auf das Minderheitsrecht bezügliche Bestimmung in Wahrheit kein Minderheitsrecht, sie statuiert vielmehr nur das Minderheitsprinzip als eine neben dem Mehrheitsprinzip für die Bildung des Kollektivwillens maßgebliche Form.“ W. Lewald, S. 76 ergänzte, von einer „Pflicht“ sei in der Reichsverfassung bloß die Rede, weil der Reichstag als Gesamtorgan ein „objektives Interesse“ zu „befriedigen“ habe. 561 Entsprechende Kritik bei A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 53, 54. 562 Vgl. K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 30 f. oder A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 53 f. unter Hinweis auf verschiedene handels- und gesellschaftsrechtliche Vorschriften sowie F. Bieder­ mann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 75 f.

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

praxis und Walter Lewalds Überlegungen einen vernünftigen Grund gehabt haben: Schließlich konnte eine zu Unrecht bei der Einsetzung majorisierte Minderheit keinen Rechtsschutz in Anspruch nehmen.563 So sicherte allein die aus heutiger Sicht unverständliche Konsequenz, mit der die Volksvertretung an der seltsamen These eines „Minderheitsbeschlusses“ festhielt, die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts als Kontrollinstrument. Ein für die Mehrheit politisch maßgeblicher Grund mag es auch gewesen sein, dass sich so nach außen jeder Anschein vermeiden ließ, dass man den Antrag des politischen Gegners in irgendeiner Weise billige oder gar unterstütze.

II. Aufnahme des Antrags auf die Tagesordnung Andere Streitfragen zur Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses resultierten aus der Geschäftsordnung: So hatte es die Mehrheit mit § 53 GO-RT 1922, demzufolge über einen Einsetzungsantrag erst beraten werden durfte, nachdem dieser auf die Tagesordnung gesetzt worden war, nach dem Buchstaben der Geschäftsordnung eigentlich in der Hand, die Untersuchungsforderung einer qualifizierten Minderheit zu sabotieren, indem sie nach § 69 Satz 3 GORT 1922 die Aufnahme auf die Tagesordnung verhinderte oder nach § 72 Satz 1 GO-RT 1922 die Absetzung erzwang. Während ein Teil des Schrifttums diese beiden taktischen Varianten als mit Art. 34 RVerf 1919 unvereinbar kritisierte, aber eingestehen musste, dass selbst eine qualifizierte Minderheit gegen einen solchen Missbrauch schutzlos war,564 hielten andere Autoren die allgemeinen Geschäftsordnungsvorschriften für maßgeblich.565 Für einen einfachen Minderheitsantrag, der nicht mehr als eine „Anregung“ an das Plenum war,566 galten die Geschäfts­ ordnungsvorschriften ohnehin.

III. Vertagung Eine weitere Obstruktionsmöglichkeit eröffnete § 36 Abs. 2 GO-RT 1922 mit dem Recht der Reichstagsmehrheit, Beratung und Beschlussfassung über einen Antrag wiederholt um bis zu vier Wochen und damit nach politischen Zeitdimen 563

Vgl. M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 4 unter Hinweis auf J. Platter, Untersuchungsverfahren, 2004, S.  24 sowie allg. zur Rechtsschutzlosigkeit s. H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 463. 564 So K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 35 und in Fn. 3 zur Geschäftsordnung. s. ferner J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR I2 1930, S.  696: „Eine Verzögerung der Einsetzung des Ausschusses darf also, wenn der Antrag des Fünftels vorliegt, nicht erfolgen, auch nicht durch geschäftsordnungsmäßige Maßnahmen.“ 565 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 464; F. Morstein Marx, Minderheitenschutz, 1924, S. 33; H. Kaufhold, UntersuchungsVf, 1928, S. 8 f. 566 So H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 463.

4. Kap.: Das Enquête- und Untersuchungsrecht als Minderheitenrecht

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sionen gleichsam auf die „griechischen Kalenden“ zu vertagen. Im ersten Reichstag führte die Forderung der USPD-Fraktion, das Grubenunglück auf „Mont­ Cenis“ durch eine Reichstagskommission zu untersuchen, Mitte Juni 1921 zum Streit, ob der Reichstag Beratung und Beschlussfassung über einen Einsetzungsantrag vertagen könne. Bei dieser Debatte muss man berücksichtigen, dass die Unabhängigen Sozialdemokraten mit bloß 84 Mandaten das Fünftel-Quorum verfehlten.567 Es handelte sich also um einen „gewöhnlichen“ Antrag, über den unzweifelhaft in den üblichen Formen der Geschäftsordnung beraten werden konnte. Als der Versuch, die Antragsteller zu veranlassen, der Reichsregierung zunächst die Beantwortung der Interpellationen zu dem Unglück zu ermöglichen, scheiterte,568 forderte das Zentrum eine „Vertagung […] bis zur Abgabe einer Regierungserklärung“. Obwohl gemäß § 53 Abs.  1 GO-RT  1919 eigentlich „ohne weitere Motivierung […] und ohne Diskussion“ über diese Forderung abzustimmen war, gestattete Reichstagspräsident Paul Löbe (SPD), weil zwischen Art. 34 RVerf  1919 und der Geschäftsordnung „offenbar eine Kollision“ vorliege, die Geschäftsordnungsdebatte. In der Beratung vertrat der ehemalige Volksbeauftragte Wilhelm Dittmann (USPD) den Standpunkt, dass wegen Art. 34 RVerf 1919 „lediglich zu fragen [wäre], ob ein Fünftel des Hauses dem gestellten Antrag beitreten“ wolle. Keinesfalls dürfe die „Ausführung eines Antrags, der nach der Verfassung richtig gestellt“ sei, „durch einen Mehrheitsbeschluß“ „verhindert und vielleicht auf Wochen hinaus verzögert“ werden.569 Der Reichsgerichtsrat Eduard Burlage (Zentrum) entgegnete, dass, weil zweifellos über einen derartigen Antrag debattiert werden dürfe, „alle diejenigen Paragraphen und Bestimmungen zur Anwendung [kämen], welche Beratungen überhaupt“ beträfen. Nur „wenn es etwa auf der Hand läge, man wolle eine Obstruktion, man wolle die Abstimmung über die Frage, ob ein Fünftel dafür ist oder nicht, auf unbegrenzte Zeit hinausschieben“, widerspreche eine „solche Handlungsweise“ möglicherweise dem „Geist dieser Bestimmung“. Da es lediglich um wenige Tage gehe, liege ein derartiger Fall aber offensichtlich nicht vor.570 Trotz der verständlichen Einwände verurteilte der USPD-Politiker Rudolf Breitscheid den vermeintlich „absolut unverständ 567

Vgl. B. Vogel/D. Nohlen/R.-O. Schultze, Wahlen, 1971, Tabelle A 11, S. 296. So forderte der ehemalige Breslauer Bergrat Georg Gothein (DDP), der dem Kabinett Scheidemann angehört hatte, die Antragsteller auf, „ihren Antrag doch zurückzustellen bis zur Beratung der Interpellation“; auf diese Weise werde „viel mehr Klarheit geschaffen“ als durch eine Kommission, „die nun einmal nicht aus Sachverständigen bestehen“ werde. Außerdem hegte er „aus geschäftlichen Gründen schwere Bedenken, ohne Anwesenheit der Regierung, ohne daß sie in der Lage [sei…], dazu Stellung zu nehmen, einen derartigen Antrag hier anzunehmen“ (VerhWRT I (1920/24), S. 4074 f.). Im Anschluss daran unterbreitete auch Reichsminister und Vizekanzler Gustav Bauer (SPD) den „Vorschlag […], die Debatte […] heute abzubrechen […] und sie erst morgen fortzusetzen, um der Regierung Gelegenheit zu geben, […] zu dem Antrag Stellung zu nehmen“ (S. 4077 f.). 569 VerhWRT I (1920/24), S. 4079. 570 VerhWRT I (1920/24), S. 4080. Zust. zur Anwendung der Vorschriften über die Beratungen F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 74. 568

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lich[en]“ Vertagungsantrag, weil seine Partei an ihrer Forderung auch „morgen oder übermorgen“ noch festhalten werde. Der promovierte Nationalökonom verlangte, die Sache, nachdem sie einmal auf der Tagesordnung wäre, auch am selben Tage zu erledigen; andernfalls habe Art. 34 Abs. 1 Satz 1 RVerf 1919 „absolut gar keinen Sinn“, weil jeder Minderheitsantrag mit einem Vertagungsantrag torpediert werden könne. Gerade eine solche „Möglichkeit der Obstruktion“ solle der „Verfassungsparagraph“ aber offenkundig ausschließen. Sein Parteifreund Friedrich Geyer sekundierte, dass man nicht „durch eine gewisse geschäftsordnungsmäßige Behandlung die Reichsverfassung […] sabotieren oder außer Kraft […] setzen“ dürfe. Mit einem Vertagungsantrag könne „tatsächlich das Recht eines Fünftels des Hauses verschleppt, obstruiert werden“, wenn die Sache nicht noch am selben Tag „zum Abschluß gebracht“ werde.571 Trotz des Widerspruchs von links schloss sich Reichstagspräsident Paul Löbe (SPD) Eduard Burlages Auffassung an, dass die Geschäftsordnung „für die Behandlung der ganzen Angelegenheit maßgebend“ wäre. Überdies verwies er darauf, dass der einfache Minderheitsantrag überhaupt nicht auf die Tagesordnung gekommen wäre, wenn ihm nur ein Abgeordneter widersprochen hätte. Etwas anderes gelte, „wenn der Antrag von vornherein von einer genügenden Anzahl unterschrieben wäre“.572 Diesen Ball nahm der Sozialdemokat Hermann Müller auf: Der frühere Reichskanzler, der die Regierungsverantwortung 1928 mit einer „Großen Koalition“ noch einmal übernehmen sollte, konstatierte eine „gewisse Dissonanz zwischen der Verfassung und der Geschäftsordnung“, stellte dann aber fest, dass mit dem Antrag eines Fünftels die „ganze Sache eigentlich erledigt“ wäre. Weil die Forderung der USPD aber nun einmal zur Debatte stehe, forderte der SPD-Politiker, obgleich man zugeben müsse, „daß der sachliche Inhalt dieses Antrags eine große Verzögerung nicht“ vertrage, die Sache „entweder dem Ältestenrat oder der Geschäftsordnungskommission“ zu unterbreiten.573 Präsident Paul Löbe ergänzte, dass „jede weitere […] Sabotierung unmöglich“ wäre, wenn der Einsetzungsantrag am folgenden Tag ausreichend unterstützt sei. Dagegen erklärte der ehemalige Reichsverkehrsminister Johannes Bell (Zentrum), dass es nur die Alternative gebe, keine Beratung zuzulassen oder diese fortzusetzen, bis man sie „unter Ausschaltung jeder Obstruktion“ beenden könne. Andernfalls müsse „jede Beratung“ über einen einfachen Minderheitsantrag „von vornherein ausgeschlossen“ sein. Dies würde „aber in unlösbarem Widerspruch zu den einschlägigen Vorschriften der Geschäftsordnung“ stehen, die Art. 34 RVerf 1919 nicht verdränge. Vielmehr lasse sich die „Verfassungsvorschrift […] nur auf dem durch die Geschäftsordnung vorgesehenen Wege durchführen“.574

571

VerhWRT I (1920/24), S. 4080 (Hervorhebung nur hier). VerhWRT I (1920/24), S. 4080. 573 VerhWRT I (1920/24), S. 4080 f. 574 VerhWRT I (1920/24), S. 4081. 572

4. Kap.: Das Enquête- und Untersuchungsrecht als Minderheitenrecht

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Schließlich konnte Präsident Paul Löbe feststellen, dass der „Antrag […] inzwischen von drei Fraktionen […] gestellt“ worden war. Weil sie zusammen über beinahe zwei Fünftel der Mitglieder verfügten, erklärte er „Art. 34 der Verfassung für erfüllt“, ohne dass eine „weitere Debatte“ erforderlich wäre.575 Reichsarbeitsminister Heinrich Brauns (Zentrum) schloss sich dem Urteil an, dass der „Reichstag eben den Beschluß gefaßt [habe…], die Untersuchungskommission aus seiner Mitte einzusetzen“. Nach einer Verwahrung Eduard Burlages namens des Zentrums, ob das Vorgehen überhaupt „der Verfassung und der Geschäftsordnung entspreche“, stellte der USPD-Politiker Georg Ledebour das Recht des Reichstags in Abrede, „bei Anwendung des Art. 34 […] mit Majorität eine Vertagung der Entscheidung zu beschließen“. Andernfalls habe es die Mehrheit „jederzeit in der Hand, durch unbegrenzte Vertagungsanträge die Durchführung der Einsetzung einer Untersuchungskommission auf Beschluß von einem Fünftel der Mitglieder unmöglich zu machen“.576 Indem der Reichstag pragmatisch über die Sache hinweggehen konnte, blieb die Zulässigkeit der Vertagung eines Einsetzungsantrags offen.577 Wenigstens zeichnete sich für einfache Minderheitsanträge die zutreffende Auffassung ab, dass die Vertagung statthaft war. Für den problematischeren Fall, dass das Quorum des Art. 34 Abs. 1 Satz 1 RVerf 1919 erreicht war, tendierte die Reichstagsmehrheit ebenfalls zu Recht anscheinend zur Unzulässigkeit jeder Verzögerung und damit auch einer Vertagung. Einzig der Zentrumspolitiker Eduard Burlage sprach sich ausdrücklich für die allgemeinen Geschäftsordnungsregeln aus. Das Schrifttum war in dieser Frage uneins: Verschiedene Autoren lehnten eine unterschiedliche Behandlung qualifizierter oder einfacher Untersuchungsanträge ebenfalls ab und wollten auf die allgemeinen Regeln zurückgreifen.578 Während Karl Heck vermittelnd nur bei einer „dauernden Obstruktion der Mehrheit“ von einer Verletzung des Art. 34 RVerf 1919 ausging,579 hielten Fritz Poetzsch-Heffter, Julius Hatschek und Gerhard Anschütz jede Verzögerung für unzulässig und Anton Köchling stellte lakonisch fest, das ein qualifizierter Einsetzungsantrag jedem Vertagungsantrag vorgehe.580

575

VerhWRT I (1920/24), S. 4081. VerhWRT I (1920/24), S. 4082. 577 F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 74. 578 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 464; F. Morstein Marx, Minderheitenschutz, 1924, S. 33. J. Kahn, Untersuchungsausschüsse, 1931, S. 11 verwies darauf, dass die Reichsverfassung „keine Sonderbestimmungen über die Behandlung“ enthalte; erforderlich sei aber, zur Verhinderung einer „Sabotierung des Minderheitsrechts“, „stets ein triftiger Grund“. s. ferner wohl F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 74 ff. 579 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 35 f. 580 s. F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 182; J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR I2 1930, S.  696; G. Anschütz, RVerf  191914 1933, S.  217 in Fn.  2 gegen verzögernde „geschäftsordnungsmäßige Maßnahmen“; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 53. 576

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

IV. Vorberatung in einem Ausschuss In den Geschäftsordnungsberatungen von 1922 schnitt der Amtsgerichtsrat­ Walther Graef (DNVP) beiläufig die verwandte Frage an, ob ein Einsetzungsantrag zur Vorberatung an einen Ausschuss überwiesen werden dürfe. Präsident Paul Löbe war der Ansicht, dass die Einsetzung auf Antrag eines Fünftels erfolgen müsse, „ohne daß die Verweisung an einen Ausschuß zulässig“ wäre. Dieser Schritt sei nur bei einem einfachen Antrag möglich, über den der Reichstag eine Vorberatung wünsche.581 Ähnlich wie in der Vertagungsfrage sprachen sich auch verschiedene Autoren gegen eine zwangsläufig dilatorisch wirkende Vorberatung eines qualifizierten Minderheitsantrages in einem Ausschuss aus.582

V. Änderungen des Untersuchungsgegenstands durch die Mehrheit Allgemein gestattete § 51 GO-RT 1922 gegenüber selbständigen Anträgen Änderungsanträge, wenn diese von mindestens 15 Mitgliedern unterstützt wurden. 1. Der Streit um die Untersuchung der Ruhrentschädigung Ob diese Vorschrift auf einen qualifizierten Einsetzungsantrag anwendbar war, kam am 20. Februar 1925 anlässlich verschiedener Untersuchungsforderungen zu den „Ruhrentschädigungen“ für die Industrie zur Sprache. Schon unter dem 4. des Monats hatten die Kommunisten eine Untersuchung der von der Reichsregierung „gegebenen Versprechungen, Kreditlieferungen, Steuerstundungen und ohne Genehmigung des Reichstags getätigten Auszahlungen von Riesensummen als Entschädigung für sogenannte Ruhrschäden während und nach dem Ruhrkampfe“ verlangt.583 Unter dem 18. Februar 1925 verlangte auch die SPD-Fraktion einen Untersuchungsausschuss „mit der Aufgabe, die an die Ruhrindustriellen gesetzlos und zuviel ausgezahlten Beträge zwecks Rückerstattung an das Reich festzustellen“. Neben dieser impliziten Vorverurteilung, die noch zum Stein des Anstoßes werden sollte, enthielt der Antrag präzise Vorgaben für das Untersuchungsprogramm.584 Der letztendlich erfolgreiche DDP-Antrag eröffnete, neutraler gehalten als die SPD-Vorlage und ohne rechtliche Bewertung, mit der Feststellung, dass „[f]ür Reparationsleistungen und andere mit dem Ruhreinbruch in Zusammenhang 581

VerhWRT I (1920/24), S. 9081 f. s. F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 182 f. und ferner J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR 2 I 1930, S. 696. A. A. H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 464. 583 VerhWRT III (1924/28), Nr. 478. 584 VerhWRT III (1924/28), Nr. 583 (Hervorhebung nur hier). 582

4. Kap.: Das Enquête- und Untersuchungsrecht als Minderheitenrecht

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stehende Schäden […] an verschiedene Gruppen der Industrie ohne Genehmigung des Reichstags Zahlungen geleistet“ worden seien; angesichts dessen sollte „[g]emäß Artikel 34 der Reichsverfassung […] ein Untersuchungsausschuß […] zur Prüfung aller mit diesen Zahlungen in Zusammenhang stehenden Fragen [eingesetzt werden], insbesondere zur Prüfung der Frage, ob die einzelnen Zahlungen begründet und angemessen“ gewesen wären.585 Wie nicht anders zu erwarten, entzündete sich an dem sozialdemokratischen „Urteil“, es seien ohne Rechtsgrundlage überhöhte Zahlungen geflossen, Streit; ein Stück weit ähnelte die folgende Auseinandersetzung den Beanstandungen, die in den 1850er Jahren gegen die liberalen Anträge zur Kontrolle der mutmaßlich verfassungswidrigen Behandlung der Dissidenten erhoben worden waren: Verschiedene Fraktionen verlangten u. a., diese Vorverurteilungen und Wertungen zu streichen. Der Landgerichtsdirektor und Geheime Justizrat Georg Schultz (DNVP) begründete diese Forderungen damit, dass ein qualifizierter Antrag nur dann „nicht geändert werden [könne…], wenn er sich […] innerhalb des Rahmens und der Form der Verfassung“ halte. Der beanstandete Antrag enthalte aber neben der eigentlichen Untersuchungsforderung eine unzulässige „Begründung“ und nehme zu allem Überfluss das „Resultat der Untersuchung“ vorweg. Art. 34 RVerf 1919 gebe der Reichstagsminderheit kein Recht, neben der Einsetzung auch noch gegen den Willen der Mehrheit eine „Begründung“ oder den „Gegenstand einseitig beurteilende[n] Worte“ zu verlangen. Gegenüber solchen Forderungen sprach der Veteran der Weimarer Nationalversammlung, der im Verfassungsausschuss über das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht berichtet hatte, den anderen Parteien ein „Recht“ zu, sich zu „wehren“.586 Der frühere Reichskanzler Hermann Müller (SPD) erinnerte an die Reichstagspraxis, dass ein „Antrag auf Grund des Artikels 34 der Verfassung […] als angenommen [gelte], wenn sich ein Fünftel der Mitglieder des Reichstags auf den Boden des Antrags“ stelle. Auch der „Kommentar zur Reichsverfassung von Anschütz“ liefere „nicht den geringsten Hinweis darauf, daß […] Änderungen vorgenommen werden könn[t]en“.587 Abänderungen eines qualifizierten Antrags hielt der führende SPD-Politiker für ein „Ding der Unmöglichkeit“ und verwahrte sich namens seiner Fraktion dagegen, „daß die […] ganz klare Rechtslage“ „irgendwie verwischt“ werde. In der Sache vertrat er die Auffassung, dass es nur „im Interesse der Verhandlungen des Ausschusses“ liege, wenn die „Beweisthemata genau umschrieben“ würden. Nur dazu diene der SPD-Antrag.588 Anschließend versuchte der promovierte Berliner Rechtsanwalt Paul Levi, erst Mitbegründer der KPD, dann aber zur Sozialdemokratie zurückgekehrt, die „juristisch außerordentlich klar[e]“ Frage „vor einer Verwirrung [zu] behüten“. Dem Minderheitsrecht in 585

VerhWRT III (1924/28), Nr. 589. VerhWRT III (1924/28), S. 851, 853. 587 VerhWRT III (1924/28), S. 851. 588 VerhWRT III (1924/28), S. 852. 586

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

Art. 34 RVerf 1919 maß er einen doppelten Sinn bei: Einmal genüge „1/5 der Mitglieder, um einen bindenden Beschluß herbeizuführen“; zum anderen dürften die Antragsteller den „Umfang der Beweisaufnahme“ bestimmen.589 „[F]ür das, was als Beschluß des Reichstags zu gelten“ habe, war zu seiner Überzeugung „allein der Wille der Antragsteller maßgebend“. Sorgen, der Antrag könne wegen unzulässiger Bewertungen verfassungswidrig sein, tat der linke Sozialdemokrat als „lächerlich“ ab. Schließlich hätten die Antragsteller das Recht, „zu behaupten, es sei doch gesetzlos ausgezahlt worden“. Erweise sich diese Annahme als falsch, ende der „Ausschuß mit der Feststellung der Tatsache […], daß eben nichts gesetzlos ausgezahlt worden sei“. Dagegen könne mit einem Mehrheitsrecht, jeden Minderheitsantrag abzuändern, „jeder beliebige Antrag direkt […] eskamotiert werden“. Vor diesem Hintergrund wäre der Änderungsvorschlag darauf berechnet, das „Recht einer Minderheit zu brechen, zu verletzen“.590 Schützenhilfe leisteten die Kommunisten: Walter Stoecker betonte, dass weder die Verfassung noch die Geschäftsordnung Einschränkungen vorsähen.591 Die Einwände gegen den sozialdemokratischen Antrag brachte die DDP am prägnantesten auf den Punkt: Der Rechtsanwalt und Notar sowie frühere Reichsinnenminister und Vizekanzler Erich Koch-Weser kritisierte noch leicht nebulös, es sei „natürlich ganz undenkbar, daß Begründungen, die Feststellungen [ent­ hielten, …] mit einem Fünftel […] angenommen werden“ könnten; zulässig wäre es allein, „Tatsachen […] als Behauptungen auf[zu]führen und auf Grund dieser Tatsachen den Antrag [zu] stellen“.592 Deutlicher sprach der Karlsruher Rechtsanwalt Ludwig Haas der Minderheit das Recht ab, „materiell eine Entschließung herbeizuführen“.593 Tatsächlich sei mit der Wirksamkeit des SPD-Antrags gewissermaßen de facto eine missbilligende Reichstagsresolution verbunden, indem der Reichstag nach dem Buchstaben des Antrags einen Ausschuss zur Untersuchung gesetzwidriger Zahlungen beschlossen hätte.594 Der promovierte Geheime Justizrat und Berliner Honorarprofessor Jacob ­Rießer (DVP) war ebenfalls der Auffassung, dass der „Wortlaut“ des Antrages geprüft werden könne, aber auch müsse. Auch er hielt es für unstatthaft, „im Antrage dem Ergebnis der Untersuchung durch die Fassung des Antrages vor[zu]greifen“.595 Für die Bayerische Volkspartei schloss sich der Domkapitular Johann Leicht seinen Vorrednern an. Die „Schutzbestimmung, daß nur eine bestimmte Zahl von Mitgliedern notwendig“ wäre, sei „nicht mehr anwendbar“, „[w]enn […] in dem Antrag

589

VerhWRT III (1924/28), S. 853 f. VerhWRT III (1924/28), S. 854 (Hervorhebung nur hier). 591 VerhWRT III (1924/28), S. 852. 592 VerhWRT III (1924/28), S. 852 (Hervorhebung nur hier). 593 VerhWRT III (1924/28), S. 853. 594 Der Antrag begann mit dem Standardvorspann: „Der Reichstag wolle beschließen“ (VerhWRT III (1924/28), Nr. 583). 595 VerhWRT III (1924/28), S. 851 f. 590

4. Kap.: Das Enquête- und Untersuchungsrecht als Minderheitenrecht

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formell begründet […] und eine Reihe von Punkten hervorgehoben“ werde.596 Eine andere Argumentation stimmte der Zentrumspolitiker und frühere Reichskanzler Constantin Fehrenbach an. Zwar schloss er sich grundsätzlich den DDP-Politikern Haas und Koch-Weser an, fügte dann aber noch hinzu, dass, „wenn die Verfassung einem Fünftel der Abgeordneten ein solches Recht [gebe, …] das nur ganz eng umschrieben sein“ könne.597 Auf die linken Bedenken erwiderte er, dass die vier Sätze des Art. 34 Abs. 1 RVerf 1919 getrennt betrachtet werden müssten: Während sich der erste Satz bloß auf das „Recht des Reichstags“ zur Einsetzung beziehe, regelten die „folgenden drei Sätze […] die Verhandlungen in den Ausschüssen“. Weil es im Plenum allein um die Einsetzung gehe, während der Ausschuss die von den Antragstellern geforderten Beweise zu erheben habe, verwahrte sich der Zentrumspolitiker gegen die „ganz unrichtige Unterstellung“, die Untersuchungs­ forderung solle abgewürgt werden.598 Reichstagspräsident Paul Löbe suchte wieder eine pragmatische Lösung. Die Änderungsanträge hatte er auf die Tagesordnung genommen, weil die Geschäftsordnung allein für eine Abänderung von Misstrauens- oder Vertrauensanträgen die Zustimmung der Antragsteller verlangte. Zur Beruhigung der Antragsteller konstatierte er, dass sie „auch nach der Abänderung ihres Antrages auf der Urform bestehen [könnten…], da ja nicht die Mehrheit […], sondern ein Fünftel des Hauses einem solchen Antrag zur Annahme“ verhelfe.599 Vor der Abstimmung unterstellte der Reichstagspräsident dann unwidersprochen den „einstimmigen Willen des Hauses“, nur einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, so dass mit der Annahme eines Antrages die übrigen Forderungen „erledigt“ wären. „[O]hne einer grundsätzlichen Regelung der Frage vorzugreifen“, wurde in der Abstimmung der DDP-Antrag angenommen, der ohne Einschränkungen oder Vorurteile sibyllinisch eine Untersuchung „aller mit [den…] Zahlungen in Zusammenhang stehenden Fragen, insbesondere […], ob die einzelnen Zahlungen begründet und angemessen“ gewesen seien, forderte.600 So blieben die eigentlichen Streitfragen, ob die Antragsteller in ihrem Einsetzungsantrag schon Bewertungen treffen bzw. ob die Mehrheit einen Minderheitsantrag modifizieren dürften, ungelöst; Paul Löbe hatte de facto eine Verständigung der Parteien erreicht, den Beschluss der Mehrheit gelten zu lassen. Trotzdem ist die Debatte nicht bedeutungslos: Der Reichstagspräsident konstatierte unwidersprochen, dass die Minderheit mit der Folge, dass mehrere Untersuchungsausschüsse einzusetzen wären, auch dann noch auf der ursprünglichen Fassung bestehen könne, wenn die Reichstagsmehrheit eine Abänderung beschlossen habe. Vor dem Hintergrund der These, dass die Minderheit den Willen des 596

VerhWRT III (1924/28), S. 852. VerhWRT III (1924/28), S. 853. 598 VerhWRT III (1924/28), S. 854 f. 599 VerhWRT III (1924/28), S. 851. 600 VerhWRT III (1924/28), S. 855. 597

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

Plenums bilde, war diese mit dem Wortlaut des Art.  34 RVerf  1919 schwerlich kompatible Annahme konsequent. Durch seinen Hinweis bekräftigte Paul Löbe noch einmal ausdrücklich die bisherige Reichstagspraxis, dass ein Fünftel der Abgeordneten einen Untersuchungsausschuss einsetzen könne. Zugleich wird durch dieses Beispiel die These bestätigt, dass das „Einsetzungsrecht der Minderheit“ dazu diente, Rechtsschutzdefizite zu kompensieren. Interessant sind auch die Bedenken gegen den SPD-Antrag, der eine scharfe Missbilligung der Regierungspolitik während des Ruhrkampfes enthielt. In vergleichbarer Weise hatten – wie eingangs angedeutet – Adolph Lette und Alexander v. Forstner im Januar 1852 in der preußischen Ersten Kammer verlangt, „eine besondere Kommission zur Untersuchung der mit den Grundsätzen der Artikel 12., 19. und 22. der Verfassungs-Urkunde nicht in Einklang stehenden […] Regierungs-Maaßregeln, in Betreff der dissidentischen, insbesondere der freien und der deutsch-katholischen Gemeinden, zu ernennen“.601 Der Antrag scheiterte im Plenum.602 Im Zentralausschuss der Zweiten Kammer wurde ein wortgleicher Antrag des Altliberalen v. Dyhrn durch die Streichung des impliziten Vorwurfs entschärft;603 durch ihre vorzeitige Schließung konnte sich die Kammer nicht mehr mit dieser Forderung befassen.604 Auch heutige Untersuchungsanträge werden vorsichtiger gefasst, wie z. B. die Einsetzung des Parteispendenausschusses Ende der 1990er Jahre beweist: Vorwürfe wurden sprachlich in Hypothesen verpackt und damit eine offensichtliche Vorverurteilung vermieden.605 601

SlgDrsPr1K II/2 (1851/52), Nr. 65, S. 1 (Hervorhebung nur hier). VerhPr1K II/2 (1851/52), S. 826 ff. 603 VerhPr2K II/3 (1851/52), S. 735; SlgDrsPr2K II/3 (1851/52), No. 317, S. 16. 604 Vgl. VerhPr2K II/3 (1851/52), S. 1475, 1494. 605 SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beantragten lediglich zu „klären, inwieweit Spenden, Provisionen, andere finanzielle Zuwendungen oder Vorteile direkt oder indirekt an 1. Mitglieder und Amtsträger der ehemaligen von CDU/CSU und F. D. P. getragenen Bundesregierungen und deren nachgeordneten Behörden, 2. die die damaligen Bundesregierungen tragenden Parteien und/oder Fraktionen und deren Funktionsträger oder deren Beauftragte oder 3. sonstige Personen und Institutionen geflossen sind bzw. gewährt wurden, die dazu geeignet waren, politische Entscheidungsprozesse dieser Bundesregierungen und/oder deren nachgeordnete Behörden zu beeinflussen bzw. die tatsächlich politische Entscheidungsprozesse beeinflusst haben.“ „Weiterhin soll[te] geklärt werden, 1. ob und inwieweit durch die Zuwendungen und Handlungen aus I. und II. gegen die Bestimmungen des Parteiengesetzes, gegen Amts- und Dienstpflichten, internationales Recht und internationale Verträge verstoßen worden ist, 2. ob und wie durch die steuerliche Behandlung solcher Zuwendungen oder durch ungerechtfertigte Zahlungen aus öffentlichen Haushalten die öffentliche Hand belastet wurde und 3. welche Personen von solchen Zuwendungen, den mit den Zahlungen verbundenen Geldflüssen, von den Vorteilsgewährungen und der steuerlichen Behandlung der Zuwendungen Kenntnis hatten.“ „Sofern tatsächliche Anhaltspunkte [bestünden, …] soll[te] der Ausschuss auch klären, inwieweit Parteien die nach dem Grundgesetz und dem Parteiengesetz bestehende Verpflichtung zur öffentlichen Rechenschaftslegung über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel und über ihr Vermögen verletzt haben, wer diese Pflichtverletzung begangen oder daran mitgewirkt hat bzw. davon Kenntnis hatte, woher die in den Rechenschaftsberichten nicht oder nur lückenhaft ausgewiesenen Einnahmen und Vermögenswerte stammen und welchen Zwecken sie dienten bzw. wo diese verblieben.“ (BT-Drs. 14/2139, 2686; Hervorhebungen nur hier). Sämtliche erhobenen 602

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2. Rechtsprechung und Schrifttum Über die Zulässigkeit der „Bepackung“ einer Minderheitsenquête mit zusätzlichen Aufträgen urteilte der StGH 1927 anlässlich einer braunschweigischen Streitigkeit. Nachdem die Leipziger Richter zunächst resignierten, dass weder Art.  29 BS Verf  1922606 noch Art.  34 RVerf  1919, dem die braunschweigische Bestimmung nachgebildet war, oder ihre Entstehungsgeschichte eine Antwort gebe, suchten sie ihr Heil mit der Feststellung, dass mit Art. 29 Abs. 1 Satz 1 BS  Verf  1922 die „Stellung der Landtagsminderheit gestärkt werden“ solle, in einer teleologischen Auslegung. Schließlich sei die parlamentarische „Mehrheit, deren Vertrauenspersonen die Regierung, das Staatsministerium bild[et]en  […], selten geneigt […], in Ermittlungen einzutreten, die zu einem der Regierung nicht genehmen Ergebnis führen könn[t]en“.607 Weil bei der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses „in erster Linie die Bestimmung seines Tätigkeitsgebiets“ im Vordergrund stehe, sei das Einsetzungsrecht der Minderheit nichts wert, „wenn die Mehrheit des Landtags den Untersuchungsgegenstand festsetzen“ könne. Die Mehrheit dürfe deswegen bloß von einem Minoritätsantrag abweichen, wenn die „Erreichung des […] Untersuchungsziels nicht gefährdet“ werde.608 Eine genauere Antragsfassung sei ebenso statthaft wie Änderungen, die die Untersuchungsfragen „nochmals im entgegengesetzten Sinne“ formulierten, weil das „sachliche Untersuchungsgebiet […] in keiner Weise […] berührt“ werde, wenn die „Mehrheit ihre gegenteilige Auffassung […], ihr Bestreiten der von der Minderheit aufgestellten Behauptungen, schon im Antrag selbst zum Ausdruck“ bringe. Hinzu komme, dass die Ausschussmehrheit das Untersuchungsverfahren dirigiere. Angesichts dessen lasse sich der Landtagsmehrheit nicht das Recht absprechen, dem Ausschuss die Klärung gewisser Tatsachen vorzuschreiben, soweit sich diese in dem „von der Minderheit bestimmten Untersuchungsgegenstand“ hielten. Der Untersuchungsauftrag dürfe aber bloß auf Tatsachen erstreckt werden, die „mit jenem Gegenstand wirklich in nahem Zusammenhang“ stünden und „deren Aufklärung erforderlich Vorwürfe waren also in Form von Hypothesen formuliert. Die Übersichten bei P. Schindler, Datenhandbuch II, 1999, S. 2203 ff. und M. F. Feldkamp, Datenhandbuch I, 2005, S. 515 ff. zeigen, dass grosso modo von Anfang an entsprechend verfahren wurde. 606 „Art.  29. (1) Der Landtag hat das Recht und auf Antrag von mindestens einem Viertel seiner Mitglieder die Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese Ausschüsse erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise, die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten. Die Öffentlichkeit kann vom Untersuchungsausschusse mit Zweidrittelmehrheit ausgeschlossen werden. Der Landtag regelt durch die Geschäftsordnung das Verfahren der Untersuchungsausschüsse und bestimmt die Zahl ihrer Mitglieder. (2) Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten; die Akten der Behörden sind ihnen auf Verlangen zu übersenden. (3) Auf die Erhebungen der Ausschüsse und der von ihnen ersuchten Behörden finden die Vorschriften der Strafprozeßordnung sinngemäße Anwendung; doch bleibt das Brief-, Post-, Telegraphenund Fernsprechgeheimnis unberührt; auch steht es im Ermessen der Ausschüsse, ob eine Auskunftsperson zu vereidigen ist.“ 607 StGH, RGZ 116, 45* (51*). 608 StGH, RGZ 116, 45* (52*).

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[sei…], um den Zweck dieser bestimmten Untersuchung zu erreichen“.609 Während die Mehrheit in den genannten Fällen die „Ermittlung der objektiven Wahrheit“ als das eigentliche „Ziel der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse“ fördere, würden Minderheitenrechte verletzt, wenn sie einen „neuen Gegenstand“ hinzufüge. Eine „solche Erweiterung“ führe zu einer „Verzögerung“ und könne die „sachlich[e…] Erledigung ungünstig beeinflussen“, indem der „Ausschuß bei einer Vervielfachung seiner Aufgaben“ möglicherweise „nicht jeder die gleiche Aufmerksamkeit“ widme.610 Ähnlichkeiten dieser Entscheidung mit dem Spruch des BVerfG von 1978 sind evident.611 Soweit das Schrifttum, was üblicherweise nicht der Fall war, überhaupt in dieser Frage Stellung nahm, schloss es sich der Rechtsprechung an und erstreckte diese Regeln auf sämtliche Änderungen.612 3. Zwischenergebnis Bemerkenswert lebensfremd ist die Annahme der Leipziger Verfassungsrichter, dass die parlamentarische Mehrheit an einer „Ermittlung der objektiven Wahrheit“ interessiert sein oder das Untersuchungsrecht überhaupt zu diesem Zweck prä­destiniert sein könnte. Erklärlich wird diese Position, die an die Beschlüsse des Augsburger Richtertags von 1925 erinnert, wenn man bedenkt, dass der StGH gemäß § 18 StGHG  1921 aus dem Präsidenten des Reichsverwaltungsgerichts als Vorsitzendem sowie je drei Reichsgerichts- und Reichsverwaltungsgerichtsräten bestand. Der gegenwärtigen wie künftigen Überzeugungskraft des Urteils tat dieser Mangel anscheinend in der Sache keinen Abbruch; noch heute urteilt das BVerfG in vergleichbarer Weise.613 Im Reichstag wurde eine „Bepackung“ des Untersuchungsausschusses durch die Mehrheit anscheinend nicht virulent. Die Gefahr, dass ein Untersuchungsantrag gegen den Willen der Einsetzungsmehrheit maßgeblich verändert wurde, hatte Präsident Paul Löbe mit dem Hinweis gebannt, dass die Antragsteller trotz aller Einwendungen der Mehrheit an der Ursprungsfassung festhalten könnten, weil letztendlich das Fünftel über die Einsetzung ­entscheide.

609

StGH, RGZ 116, 45* (53* f.). StGH, RGZ 116, 45* (54*). 611 Dazu sowie Unterschieden s. P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (255 f.). 612 Vgl. J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR I2 1930, S.  697; J. Kahn, Untersuchungs­ ausschüsse, 1931, S. 11. 613 Vgl. BVerfGE 49, 70 (87 f.) und dazu 8. Teil 4. Kap. D. III. 1. 610

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C. Die Verteilung der Ausschusssitze Verfügte die Minderheit also wenigstens bei der Einsetzung über erheblichen Einfluss, den das in der Praxis herrschende „Minderheitsprinzip“ garantierte, stand ihr Schutz bei der Konstituierung des Ausschusses bzw. bei der einmal beschlossenen Untersuchung auf einem gänzlich anderen Blatt. So behielt sich das Reichstagsplenum die Bestimmung der Mitgliederzahl der Untersuchungs­ ausschüsse vor.614 Art. 34 RVerf 1919 entgegen, der eine allgemeine Regelung in der Geschäftsordnung verlangte, wurde über die Anzahl der Ausschussmitglieder entsprechend § 28 GO-RT 1922 von Fall zu Fall entschieden.615 Gewöhnlich belief sie sich auf sieben, bei umfangreichen Untersuchungen auf 21 bis 29 Abgeordnete, damit nach dem Vorbild des Kriegsschuldausschusses Unterausschüsse gebildet werden konnten.616 Nach verbreiteter Auffassung erschöpfte sich das Recht der Minderheit in der Einsetzung des Untersuchungsausschusses. Ein verfassungskräftiger Anspruch auf „Sitz und Stimme“ im Untersuchungsausschuss, wie ihn Max Weber mit guten Gründen gefordert hatte,617 blieb den Antragstellern vorenthalten.618 Wenigstens richtete sich die Verteilung der Ausschusssitze ebenso wie die der Vorsitzenden- und Stellvertreterstellen nach der allgemeinen Regel des § 9 GO-RT 1922: Die Fraktionen wurden, ähnlich wie es heute § 12 GO-BT vorsieht, im „Verhältnis ihrer Mitgliederzahl“ berücksichtigt; die konkrete Verteilung oblag dem Ältestenrat (§ 12 Satz 2 GO-RT 1922). Die Fraktionen selbst nominierten die Ausschussmitglieder (§ 28 GO-RT  1922). Gruppen mit weniger als 15 Mitgliedern, die also nicht die Voraussetzungen des Fraktionsstatus nach § 7 GO-RT 1922 erfüllten, wurden, selbst wenn sie zu den Antragstellern gehörten, nicht an den Untersuchungsausschüssen beteiligt; wenigstens konnten sie gemäß § 31 Satz 1 GO-RT 1922 mit beratender Stimme an den Ausschusssitzungen teilnehmen.619

D. Die Minderheit im Untersuchungsverfahren Über Rechte und Stellung der Minderheit im Untersuchungsverfahren schwieg sich die Reichsverfassung weitgehend aus. Ein Menetekel war die Feststellung des StGH in der „Bepackungs“-Entscheidung von 1927, dass sich das „Minderheits 614 Etwa ließ P. Löbe nach der Entscheidung, den „Mont-Cenis“-Untersuchungsausschuss einzusetzen, über die Mitgliederzahl abstimmen (VerhWRT I (1920/24), S. 4083). 615 Vgl. F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 183. 616 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 47 (Zustimmung des Plenums erforderlich); J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 36 f. 617 s. 7. Teil 1. Kap. C. II. 2. 618 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 464; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 54. 619 Mit Unterschieden im Detail K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 11; H. Kaufhold, UntersuchungsVf, 1928, S.  13 f.; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 36 ff., 42; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 47 ff.; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 46 f.

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recht […] darin erschöpft[e], einen Ausschuß zur Untersuchung bestimmter Tat­ sachen oder Tatsachenzusammenhänge einsetzen zu lassen“.620

I. „Beweisaufträge“ der Minderheit bei der Einsetzung Art. 34 Abs. 1 Satz 2 RVerf 1919 bestimmte lediglich, dass die Untersuchungsausschüsse die Beweise erhöben, die sie oder die Antragsteller für erforderlich hielten. Dieses Recht war, wenn es durchsetzbar gewesen wäre, keineswegs gering, bestimmt doch die Beweiserhebung über Erfolg und Misserfolg einer Unter­suchung. Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass sich erste Vorbilder dafür, einem „Untersuchungsausschuss“ mit dem „Einsetzungsbeschluss“ mehr oder weniger konkrete Beweiserhebungsaufträge mitzugeben, schon im 19.  Jahr­hundert finden: Während die Kommissionen in der Frankfurter Nationalversammlung in aller Regel lediglich dazu ermächtigt wurden, sich mit außenstehenden Dritten oder Behörden in Verbindung zu setzen,621 wurde dem Ausschuss zur Untersuchung der Mainzer Angelegenheit auf Antrag der Linken ausdrücklich die „Pflicht auferlegt  […], eine Commission nach Mainz zu senden, um den Thatbestand der Ereignisse dort aufzunehmen“.622 In der preußischen „Zweimonatskammer“ forderte Hermann Schulze-Delitzsch Mitte April 1849 eine „Kommission […] zur Untersuchung der Arbeiter-Verhältnisse“, „welche, unter Benutzung der einschlagenden Petitionen, der Kammer Vorschläge über Abhülfe des drückenden Nothstandes der arbeitenden Klassen zu machen habe“.623 Zu einem Beschluss kam es durch die Kammerauflösung nicht mehr. Nicht besser erging es dem Ver 620

StGH, RGZ 116, 45* (53*) und dazu S. Schröder, ZParl 1999, 715 (731). Ende Mai 1848 erhielt der „Ausschuß für die deutsche Marine“ das Recht, „mit den­ Marine-Comités der deutschen Seehäfen sich in Vernehmen zu setzen, auch vom In- und Auslande die erforderlichen Materialien zur Vorlage an die Nationalversammlung einzuholen“ (Wigard, VerhFNV, S. 92). Kurz darauf wurde dem Ausschuss zur Untersuchung der Wehrhaftigkeit ausdrücklich „nach Maßgabe des § 24 der Geschäftsordnung das Recht eingeräumt […], Zeugen und Sachverständige vorzufordern, zu vernehmen und vernehmen zu lassen, oder mit Be­hörden in Verbindung zu treten“ (S. 212). Der Volkswirtschaftliche Ausschuss erhielt das Recht, „durch Besprechung mit sachverständigen Männern aus dem Volke über Zustände und Bedürfnisse […] in allen Gauen des deutschen Vaterlandes genaue Aufklärung“ zu schaffen, auf eigenen Antrag (vgl. S. 195 f. und zu der Ausschussentscheidung W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 54 f.). – Anders als die Frankfurter Nationalversammlung passt die preußische Vereinbarungsversammlung nicht in diesen Kontext, weil ihr Enquête- und Untersuchungsrecht nicht einmal in der Geschäftsordnung „geregelt“ war. Auseinandersetzungen, ob sich z. B. die Posener Kommission bloß „aus den von der Regierung darüber verhandelten und zu gesinnenden Akten“ informieren dürfe oder „in Betreff der zur Erforschung der That­sachen anzuwendenden Mittel ganz freie Hand“ haben solle, drehten sich nicht um den Auftrag der Kommissionen, sondern um ihre Befugnisse (vgl. VerhPrNV I, S. 339 f., 356 ff. und S. 672 f. für die Schweidnitzer Untersuchung). 622 Wigard, VerhFNV, S. 63. 623 VerhPr2K I (1849), S. 477 f. 621

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such linker Abgeordneter, eine Kommission mit dem Auftrag niederzusetzen, „mit Berücksichtigung der Verhandlungen des frankfurter Meister- und Gesellen-­ Kongresses […] die bestehenden gewerblichen Verhältnisse […] einer allseitigen Prüfung [zu] unterwerfe[n]“.624 Im Frühjahr 1851 scheiterte ein Antrag, der Ban­ken­ enquêtekommission, obwohl sie gemäß Art. 82 PrVerf 1850 berechtigt sei, „auch je nach ihrem Ermessen Sachverständige zuzuziehen“, eine entsprechende Pflicht ausdrücklich aufzutragen.625 Analog zu diesen Vorbildern schlug die Petitions­ kommission dem Reichstag 1875 vor, verschiedene Beschwerden über die Eisenbahntarife mit der Aufforderung an den Reichskanzler zu überweisen, eine eingehende „Prüfung und Begutachtung durch Delegirte der Landwirthschaft, – des Handels, – der Industrie, – und der Eisenbahn-Verwaltungen“ zu veranlassen.626 Das Plenum sah dann aber von jeder Vorgabe ab und erbat lediglich eine „Enquête durch eine […] Kommission“.627 Im Gegensatz zu diesen Versuchen, dem Ausschuss durch die Parlamentsmehrheit bestimmte Maßnahmen ins Pflichtenheft zu schreiben, sah Art.  34 Abs.  1 Satz 2 RVerf 1919 ein echtes Recht der Antragsteller, also in der Regel einer Minderheit vor. In diesem Sinne leitete der StGH der braunschweigischen Verfassungsstreitigkeit aus einer vergleichbaren Vorschrift des Landesverfassungsrechts ab, dass die „antragstellende Landtagsminderheit […] also in ihrem Einsetzungsantrag bestimmte Beweiserhebungen bezeichnen [könne…], zu deren Vornahme der Ausschuß […] verpflichtet“ sei. „[S]oweit sie nicht an Minderheits-Beweisanträge gebunden“ sei, bestimme die Ausschussmehrheit selbst „die Art und Weise der Ausschußtätigkeit“. Sie leite das „Untersuchungsverfahren, [­beschließe…] sowohl über die Beweistatsachen im einzelnen wie über die Beweismittel“. Als Grenze dieser Befugnis sah der StGH die dem „Ausschuß gestellten Aufgaben“, also den Einsetzungsbeschluss an, über den die Minderheit bestimmte. Die Leipziger Richter hielten den Ausschuss aber nicht bloß für berechtigt, sondern für verpflichtet, „seine Aufklärungstätigkeit […] so weit [zu] erstrecken, als das zur Erreichung des ihm gesetzten Untersuchungsziels notwendig“ wäre. Trotzdem sahen sie für ein „Ermessen der Ausschußmehrheit“ einen ge­wissen „Spielraum“.628 In der Reichstagspraxis hielten sich die Untersuchungsausschüsse anscheinend für nicht „verpflichtet […], jeden von den Antragstellern für erforderlich er­ achteten Beweis zu erheben“, sondern entschieden mit „Stimmenmehrheit über den Umfang der Beweisaufnahme“.629 Julius Hatschek hielt es zwar für eine Verletzung der Minderheitenrechte, wenn sich der Ausschuss durch Mehrheits 624

VerhPr2K I (1849), S. 102. VerhPr2K II/2 (1850/51), S. 997 f. 626 VerhRT VIII/1 (1890/92), Nr. 94, S. 884 sowie VerhRT II/2 (1874/75), S. 1118 f. 627 VerhRT II/2 (1874/75), S. 1135. Zuvor wurde der Vorschlag Karl v. Saucken-Tarputschens angenommen, dem Reichstag die Resultate vorzulegen. 628 StGH, RGZ 116, 45* (53*). 629 Zust. H.  Loening, ThürVerf3 1925, S.  38 (Zitat) und L. Waldecker, PrVerf  19202 1928, S. 98. 625

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beschluss über die „Wünsche“ der Antragsteller hinwegsetzte, resignierte dann aber angesichts des Fehlens jeden Rechtsschutzes zu Recht, dass sich die Reichstagsminderheit allenfalls mit einem „Volksbegehren mit formuliertem Gesetzesentwurf, in welchem die zu erhebenden Beweise und Gegenstände des Beweises genau festgestellt“ würden, zur Wehr setzen könne.630 Realistischer als diese Empfehlung, die von einer Unterstützung durch ein Zehntel der Wahlberechtigten abhing (Art. 73 Abs. 3 RVerf 1919), war Karl Hecks Vorschlag, eine übergangene Minderheit könne an das „Plenum […] appellieren“.631 Freilich waren die Erfolgsaussichten eines solchen Rekurses an den politischen Mehrheitsgegner bestenfalls minimal, obwohl der Minderheit im Einzelfall möglicherweise das Gewicht der öffentlichen Meinung zugute kommen konnte.

II. Beweisanträge während des Untersuchungsverfahrens Ob Beweisanträge der qualifizierten Einsetzungsminderheit im Plenum von der Ausschussmehrheit abgelehnt werden durften, war umstritten. Während der StGH ein Beweisantragsrecht der Minderheit während des laufenden Untersuchungsverfahrens 1927 zurückgewiesen hatte,632 gab es im Schrifttum auch andere Stimmen. Kein Antragsrecht besaßen jedenfalls die „einfachen“ Antragsteller, wenn sie das Quorum nach Art.  34 Abs.  1 Satz  1 RVerf  1919 verfehlten, aber der Ausschuss trotzdem durch Mehrheitsbeschluss eingesetzt wurde.633 Teils wurde ebenfalls ein Recht der qualifizierten Antragsminderheit auf die Erhebung bestimmter Beweise zurückgewiesen,634 teils vertreten, dass der Ausschuss „unbedingt verpflichtet [wäre], jeden von den ‚Antragstellern‘ […] in Anregung gebrachten Beweis zu erheben,635 teils ihr Recht auf die Einsetzung beschränkt.636 Andere Autoren sprachen den Antragstellern auch noch während des Untersuchungsverfahrens das Recht zu, „durch weitere Stellung von Beweisanträgen auf den Gang des Verfahrens einzuwirken“.637 Umstritten war, ob ein Antrag gegenüber dem Ausschuss oder im Plenum zu stellen war.638 Probleme bereitete schon die Bestimmung der „Antragsteller“ im Sinne von Art. 34 Abs. 1 Satz 2 RVerf 1919. Vertreten wurden alle Varianten von den Unter 630

J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR I2 1930, S. 696 f. K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 51 f. 632 StGH, RGZ 116, 45* (53*). 633 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S.  469; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S.  53; Schütze, AöR n. F. 7 (1924), 358 (359). 634 L. Waldecker, PrVerf 19202 1928, S. 98. 635 E. Hubrich, VerfR, 1921, S. 74. 636 Lucas, AöR n. F. 8 (1925), 341 ff.; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 55 ff. 637 Schütze, AöR n. F. 7 (1924), 358 (359 ff.) (Zitat) und passim. Ähnl. E. Hubrich, VerfR, 1921, S. 74 und teils zust. J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR II2 1930, S. 696 in Anm. 1. 638 s. im ersteren Sinne H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 470 und a. A. Lucas, AöR n. F. 8 (1925), 341 (342). 631

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zeichnern bis hin zu jedem beliebigen Abgeordnetenfünftel.639 Im ersteren Sinne forderte Hans-Heinrich Lammers, dass es sich um die konkreten Antragsteller handeln müsse. Es sei deswegen erforderlich, dass sie den Antrag unterzeichneten oder für die namentliche Aufnahme in das Protokoll sorgten, weil ihr Recht sonst „praktisch nicht durchgesetzt werden“ könne.640 Karl Heck wollte jedem Fünftel das Recht zuerkennen, Beweiserhebungen zu fordern, weil es andernfalls die Einsetzung eines zusätzlichen Untersuchungsausschusses verlangen könne. Gegenüber diesem Recht sei ein Beweisantragsrecht, auf das der Ausschuss mit einem stattgebenden Beschluss reagieren müsse, ein Minus; mit diesen Überlegungen griff der spätere Bundesverfassungsrichter einem Teil  der Begründung des „Parteispenden“-Urteils von 2002 vor.641 Abweichend davon wollte Karl Heck aber der Minderheit im Ausschuss kein qualifiziertes Beweisantragsrecht zugestehen.642 Andere Autoren kämen zu ähnlichen Ergebnissen.643

III. Rechte der Ausschussmitglieder Als Geburtsstunde von Minderheitenrechten in einer (auch parlamentarischen) „Untersuchungskommission“ kann wahrscheinlich das Jahr 1873 gelten. Der Nationalliberale Eduard Lasker hatte die Regierung durch seine „Gründerrechte“ im preußischen Abgeordnetenhaus dazu veranlasst, zur Untersuchung des Eisenbahngründerskandals eine königliche Spezialkommission einzusetzen. Als „Gegenleistung“ für die Rücknahme seines parlamentarischen Untersuchungsantrags forderte er nicht nur ein Fragerecht jedes einzelnen Kommissionsmitgliedes, sondern auch, dass die Kommission jeden „Zeuge[n], welcher von dem einzelnen Mitgliede über einen bestimmten Beweisgegenstand genannt [werde…], wirklich“ hören müsse.644 Mit diesem Vorbild konform stand den Mitgliedern eines Untersuchungsausschusses auch in der Weimarer Republik ein unbeschränktes Frageund Beweisantragsrecht zu.645 Von einer Pflicht, ihren Forderungen Folge zu leisten, konnte freilich keine Rede sein.

639

Vgl. G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 217 f. und H. Kaufhold, UntersuchungsVf, 1928, S. 19 (Unterzeichner); E. Hubrich, VerfR, 1921, S. 74: „‚Antragsteller‘ (d. h. auf Einsetzung des Ausschusses!)“; ähnl. F. Giese, RVerf 1919, S. 142: „Antragsteller sind die in Satz 1 erwähnten RT-Mitglieder“; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 51: ein Fünftel. 640 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 470. 641 s. dazu 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. a). 642 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 51. 643 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S.  469; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 42. 644 s. im Einzelnen 5. Teil 3. Kap. D. IV. 3. c). 645 Vgl. K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  30; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  108; C. Schachtel, Anwendung, 1927, S.  15 ff.; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 39 und wohl auch H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 473. A. A. K. Binding, Leipziger Neueste Nachrichten, Nr. 6, vom 6. Januar 1922 oder

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IV. Zwischenergebnis So stark die Rechte der Minderheit also auch bei der Einsetzung waren, so schwach war ihre Stellung während der Durchführung der Untersuchung. Ohne verfassungskräftiges Recht auf Sitz und Stimme konnte die Einsetzungsminderheit nicht einmal überwachen, ob die Mehrheit sich an den Einsetzungsbeschluss hielt und tatsächlich die zu seiner Durchführung erforderlichen Beweise erhob. Das Minderheitenrecht des Art. 34 Abs. 1 Satz 1 RVerf 1919 beschränkte sich also im Wesentlichen darauf, das Plenum in der Form eines Untersuchungsausschusses zur Beschäftigung mit einem bestimmten Thema selbst gegen den Willen und das Interesse seiner Mehrheit zu zwingen.

E. Rechtsschutzdefizite Ein eklatantes Defizit war das vollständige Fehlen verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes. Obwohl die Weimarer Reichsverfassung einen StGH geschaffen hatte, hatte sie diesem nicht die Entscheidung von Binnenverfassungsstreitigkeiten auf der Reichsebene anvertraut. Im grellen Kontrast dazu sah die Generalklausel des Art. 19 Abs. 1 RVerf 1919 vor, dass der StGH über „Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes [entschied], in dem kein Gericht zu ihrer Erledigung“ bestand. Diese verquere Lage, dass der „Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich“ zwar über „Verfassungsstreitigkeiten innerhalb der Länder“, nicht aber über Streitigkeiten zwischen Reichsverfassungsorganen entscheiden konnte und damit, wie es Michael Stolleis auf den Punkt gebracht hat, sowohl „als Kontrolleur der Exekutive“ als auch „als Kontrolleur des Reichstages“ ausfiel,646 hatte zur Folge, dass die parlamentarische Minderheit und die Reichsregierung im parlamentarischen Untersuchungsverfahren gegenüber der Reichstagsmehrheit schutzlos dastanden.647 Vor allem war die Reichstagsminderheit für ihr „Recht“ aus Art.  34 Abs.  1 Satz 1 RVerf 1919 mit Karl Hecks Worten „auf die Courtoisie der Mehrheit angewiesen“, während „Art. 19 […] jedoch verwendbar [blieb] für den Schutz der Minderheiten in den einzelstaatlichen Landtagen“.648 Abhilfe hätte Gerhard Anschütz’ Vorschlag auf dem 34. Deutschen Juristentag schaffen können, an Art. 19 RVerf 1919 einen weiteren Absatz anzufügen, damit der StGH „ferner in Streitigkeiten Beteiligter über die Auslegung und Anwendung der Reichsverfassung, soweit nicht ein anderer Gerichtshof des Reichs oder eines Landes zuständig“ war, F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 184, der § 239 StPO in dem Sinne als Begrenzung versteht, dass nur der Vorsitzende den Mitgliedern Fragen gestatten könne, aber ungeeignete oder nicht zur Sache gehörige Fragen zurückzuweisen habe. 646 M. Stolleis, GeschÖR III, 1999, S. 117. 647 F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 65. 648 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 33 und passim zu den Voraussetzungen eines solchen Verfahrens.

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entscheiden konnte.649 Während der Heidelberger Staatsrechtler nicht ausdrücklich auf das Recht der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse einging, widmete sich sein Korreferent Mende immerhin den Streitfragen, die Art. 34 RVerf 1919 zwischen Reichstag und Reichsregierung hervorrufen könne und die deswegen auch durch den StGH entschieden werden sollten.650 De facto blieb das Fehlen einer generell zuständigen Verfassungsgerichtsbarkeit bis zum Ende der Republik eine große Schwachstelle des Enquête- und Untersuchungsrechts als Minderheitenrecht. Eine Minderheit, deren Rechte aus Art. 34 RVerf  1919 bestritten wurden, konnte allenfalls  – wie teilweise vorgeschlagen wurde – an das Plenum appellieren.651 In vergleichbarer Weise hatte schon § 147 Abs.  3 Verf­Urk  ­Ho­Si  1833 einen Rekurs der Vorberatungskommissionen an die Ständeversammlung vorgesehen, wenn die Regierung einem Ersuchen „um die nöthigen Erläuterungen, Auskünfte und aktenmäßige Belege“ nicht nachgekommen war; das Plenum hatte dann das Recht, „die weiteren Auskünfte und Aktenvorlage unmittelbar bei der Regierung oder dem Landesfürsten nachzusuchen“. Die Möglichkeiten der Reichstagsminderheit waren nicht besser als diese Rechte der konstitutionellen Landstände. Für die Mehrheit sah es besser aus. Zwar genoss sie ebenfalls keinen Rechtsschutz, falls sich die Regierung weigern sollte, mit einem Untersuchungsausschuss zu kooperieren. In früheren Tagen, als die Ständeversammlungen bloß hoffen konnten, ein missliebiges Ministerium oder einzelne Regierungsmitglieder durch fortgesetzte Kritik und Kooperationsverweigerung in den Augen der Öffentlichkeit und des Monarchen so weit zu diskreditieren, dass die betroffenen Minister demissionierten oder durch den Landesherrn entlassen wurden, waren Konflikte im weitesten Sinne politisch beizulegen, wobei immer die Gefahr einer Auflösung drohte, sofern sich der Monarch statt für ein Revirement „seines“ Ministeriums dazu entschied, mit Hilfe von Neuwahlen an das Volk zu appellieren.652 Bei diesen Formen war die Weimarer Reichsverfassung durch das Fehlen einer verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeit gewissermaßen mit der gewichtigen Ausnahme stehengeblieben, dass jetzt ein Misstrauensvotum nach Art. 54 Satz 2 RVerf 1919 ausreichte, um den Amtsverlust herbeizuführen. Nach wie vor konnte der Reichspräsident aber diesen Schritt mit einer Parlamentsauflösung kontern. Darüber hinaus stand dem Ausschuss nach damaliger Auffassung das hier bestrittene Recht zu, wegen Art.  34 Abs.  3 RVerf  1919 auch der Regierung gegenüber auf straf­ prozessrechtsanaloge Zwangsbefugnisse zurückzugreifen. Jeder Streit wuchs sich dennoch zwangsläufig zur (politischen) Machtfrage aus.

649

Vgl. G. Anschütz, 34. DJT II, 1927, S. 207. Mende, 34. DJT II, 1927, S. 227 f. 651 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 51 f. 652 H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 318. 650

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F. Zwischenergebnis Eine Bilanz zum Minderheitenrecht des Art.  34 RVerf  1919 in der Weimarer Republik fällt zwiespältig aus. Einerseits sorgte die aus heutiger Sicht seltsame Reichstagspraxis, dem Fünftel den Einsetzungsbeschluss zu überlassen, für eine relativ starke Position in diesem frühen Verfahrensstadium. Eine qualifizierte Minderheit hatte es nicht nur in der Hand, das Plenum überhaupt zur Beschäftigung mit einer Frage zu zwingen, sondern konnte dem Ausschuss auch gleich gewisse Maßgaben setzen. Eine evidente Schwäche des Minderheitenrechts war die Rechtsschutzlosigkeit, weil der StGH für Binnenverfassungsstreitigkeiten auf der Reichsebene nicht zuständig war. Zu allem Übel besaß die Minderheit nach dem Buchstaben der Verfassung keinen Einfluss auf die tatsächliche Durchführung der Untersuchung.653 Im Reichstag sprach Paul Löbe der Mehrheit unwidersprochen die Befugnis zu, Änderungen gegenüber dem Antrag zu beschließen; indem er gleichzeitig das Recht der Minorität hochhielt, an der Ursprungsfassung trotz aller „Verbesserungsvorschläge“ festzuhalten, blieb ihr Recht aus Art. 34 RVerf 1919 unangetastet. Im Hinblick auf die allgemeine Reichstagspraxis, den Einsetzungsbeschluss de facto der qualifizierten Minderheit zu überlassen, wurde das Rechtsschutzdefizit notdürftig kompensiert; ggf. hätte man bei einem unüberwindbaren Dissens mehrere Untersuchungsausschüsse einsetzen müssen. Trotz der prinzipiell starken Stellung der Minderheit in der Einsetzungsphase verfügte die Mehrheit potentiell über verschiedene geschäftsordnungsrechtliche Instrumente, um die Behandlung eines Einsetzungsantrags deutlich zu verzögern oder im äußersten Fall sogar zu hintertreiben. Selbst der schwache Erfolg, der den liberalen Untersuchungsversuchen in der preußischen Reaktionsära beschieden war, dass über die strittigen Fragen wenigstens vor den Augen der Öffentlichkeit beraten werden musste, ließ sich vereiteln, indem man einen Einsetzungsantrag einfach nicht auf die Tagesordnung nahm. Ob ein derartiges Taktieren nach damaligen Maßstäben mit der Verfassung vereinbar gewesen wäre, spielte angesichts des Rechtsschutzdefizits keine Rolle. Schenkt man Fritz Poetzsch-Heffters Übersichten im Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart Glauben, kam es nicht zu solchen Winkelzügen.654 Um die untersuchungsrechtliche Minderheitenherrschaft in der Weimarer Republik zu erklären, berichtete der schleswig-holsteinsche Delegierte Fritz Baade (SPD) auf dem Herrenchiemseer Verfassungskonvent, dass im Reichstag schließlich „keine konstruktive, sondern nur noch eine destruktive Mehrheit“ bestanden habe, und sich weder die Regierungsparteien noch die Tolerierungsmehrheit einem „Vorwurf [habe] aussetzen [wollen…], irgendein Mitglied der Regierungspartei gegen eine Untersuchung zu stützen“.655 653

Ähnl. W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 96; S. Schröder, ZParl 1999, 715 (730 ff.) m. w. N. aus dem zeitgenössischen Schrifttum. 654 F. Poetzsch-Heffter, JÖR 13 (1925), 1 (121 ff.), JÖR 17 (1929), 1 (75 ff.), JÖR  21 (1933/34), 1 (88 ff.). 655 ParlRat II, 1981, S. 396 ff.

5. Kap.: Die Untersuchungsbefugnisse des Art. 34 RVerf 1919

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In der Praxis hatte die Ausgestaltung des Art. 34 RVerf 1919 als Minderheitenrecht einen bedeutsamen „Nebeneffekt“, der den Charakter des parlamentarischen Selbstinformationsrechts bis heute prägt: Die von Max Weber angeregte Neuerung hatte zur Folge, dass fortan der politische Untersuchungsaspekt klar dominierte. Dass jede Ad-hoc-Minderheit von einem Fünftel eine beliebige Enquête oder Untersuchung erzwingen konnte, führte so zu einem epochalen Paradigmenwechsel. Mit der Fokussierung auf die oppositionelle Minorität trat die Funktion des Enquête- und Untersuchungsrechts als allgemeines Informationsinstrument zur Vorbereitung parlamentarischer Maßnahmen, die zwangsläufig von der Mehrheit getragen sein mussten, dramatisch in den Hintergrund. „Echte“ Enquêten, die das Feld früher bestimmt hatten, kamen nicht mehr vor. Im Sinne von Karl Schraders Bonmot von 1891, dass Art. 82 PrVerf 1850 ein „Kampfparagraph gegen die Regierung“ gewesen wäre,656 avancierte Art. 34 RVerf 1919 tatsächlich zum potentiell „schärfsten Schwert“ der zahlenmäßig ohnmächtigen Opposition im Kampf gegen Regierung und Parlamentsmehrheit.

5. Kapitel

Die „modernen“ Untersuchungsbefugnisse des Art. 34 RVerf 1919 A. Aktenvorlage und Amtshilfe Aktenvorlage und Amtshilfe wurden bereits im Hinblick auf die Kompetenzabgrenzung gegenüber den anderen Gewalten behandelt.657 Sie verschafften den Untersuchungsausschüssen nicht nur nach verbreiteter Meinung eine neuartige staatsrechtliche Stellung, sondern unterschieden sich auch inhaltlich massiv von vereinzelten historischen Vorläufern. 1840 sprach Karl v. Rotteck den Ständeversammlungen jede eigene „Untersuchungsgewalt“ ab. Im Gegenzug ging er davon aus, „daß die Regierung ihnen nicht verheimlichen [dürfe…], sondern alle zur Darstellung der Lage des Staates und der von den Ständen zu vertretenden Interessen nöthigen Weisungen, Aufklärungen, Aktenstücke, Urkunden u. s. w. auf Verlangen vorlegen“ müsse. Auch eine gewisse Vorstufe der Amtshilfe dachte der süddeutsche Liberale an, indem er das Ministerium der Volksvertretung für verpflichtet hielt, „auf ihre Aufforderungen die nöthigen Untersuchungen […] zu veranstalten“.658 Vereinzelt kannten frühkon 656

VerhRT VIII/1 (1890/92) S. 3290. s. 7. Teil 3. Kap. B. I. 2. a) sowie II. zum Verhältnis der Untersuchungsausschüsse und ihrer Befugnisse gegenüber der Justiz. 658 K. v. Rotteck, VernunftR II2 1840, S. 256 (Hervorhebung nur hier) und ähnl. C. v. Kaltenborn, ConstVerfR, 1863, S.  89. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (273 ff.) verwies gegenüber dieser­ Position zu Unrecht auf das vermeintliche Untersuchungsrecht des § 91 StGG SWE 1816. 657

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

stitutionelle Verfassungen tatsächlich frühe Vorstufen eines Akten­vorlagerechts; etwa konnten sich die „zur Prüfung, Ausarbeitung und zum Vortrage der vorkommenden Geschäftsgegenstände“ gebildeten „besondere[n] Commissionen“ gemäß § 147 Abs.  2 Verf­Urk  ­Ho­Si  1833 „mit der Landtagskommission in schriftliches oder mündliches Benehmen […] sezen, um die nöthigen Erläuterungen, Auskünfte und aktenmäßige Belege zu erwirken“. In der Frankfurter Nationalversammlung diente § 24 GO-FNV  1848 als Vehikel entsprechender Forderungen: Z. B. beantragte der Prioritäts- und Petitionsausschuss Mitte Juni 1848 zu den Mann­heimer Einquartierungslasten, „ihm die in §. 24 der Geschäftsordnung vorgesehene Ermächtigung zur Ermittlung des wahren Sachverhalts zu ertheilen, damit er in den Stand gesetzt werde, sich von dem Bundestage, erforderlichenfalls auch von den Behörden des Großherzogthums Baden, die Einsicht der über den Gegenstand vorhandenen Acten und sonstige Aufklärungen zu erbitten“.659 Die Nationalversammlung folgte diesem Antrag.660 Besonders deutlich machte sich die preußische Wahlmanipulationsuntersuchungskommission im Januar 1864 für Aktenvorlage- und Requisitionsrechte stark, indem sie aus Art. 82 PrVerf 1850 die Befugnis ableitete, „Zeugen und Sachverständige nicht nur selbst [zu] vernehmen, sondern […] auch, wie dies jeder anderen Untersuchungs-Behörde [zustehe…], jede andere zur Untersuchung gesetzlich geeignete Behörde um solche Vernehmung [zu] ersuchen“. Neben diesem Requisitionsrecht beanspruchte die Kommission das Recht, „Auskunft über thatsächliche Fragen ihres Ressorts von jeder Behörde und jedem Beamten, in Vertretung des persönlichen Zeugnisses, [zu] verlangen und Urkunden vorgelegt [zu] fordern“.661 Seit den 1890er Jahren erhob die sozialdemokratische Fraktion dann verschiedentlich die Forderung, dem Reichstag durch eine Verfassungsänderung das Recht beizulegen, „behufs seiner Information Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“, denen die „Behörden […] bei der Ausübung ihrer Amtspflicht innerhalb der Grenzen ihrer Aufgaben die geforderte Unterstützung zu gewähren“ haben sollten.662 Verglichen mit diesen älteren Vorbildern bzw. im Einklang mit entsprechenden historischen Forderungen brachte Art. 34 Abs. 2 RVerf 1919 die Neuerung, dass der Volksvertretung jetzt endlich ein „echter“ Rechtsanspruch zustand, dem eine Pflicht der ersuchten Stellen korrespondierte.663 Zum anderen wurde dadurch die Unmittelbarkeit des Selbstinformationsrechts gestärkt, dass – anders als im Konstitutionalismus  – keine Vermittlung des Ministeriums mehr erforderlich war.664 659

Wigard, VerhFNV, S. 336 f.; Haßler, VerhFNV II, S. 40 f. Wigard, VerhFNV, S. 337. 661 VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), Nr.  90, S.  551. s.  dazu 5.  Teil 3.  Kap. C. II. 2.  a)  und­ passim. 662 VerhRT VIII/1 (1890/91), Nr. 39 (Antrag Auer). 663 Vgl. das Gutachten des Reichsinnenministers, VerhRT III (1924/28), Nr.  2690, S.  3; J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR II2 1930, S. 697 sowie für die Amtshilfe F. Stier-Somlo, StaatsR I, 1924, S. 592; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 67 oder F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 85. 664 A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 63; ferner E. Hubrich, VerfR, 1921, S. 75. 660

5. Kap.: Die Untersuchungsbefugnisse des Art. 34 RVerf 1919

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Faktisch wurde diese starke Stellung dennoch wieder durch das Fehlen robuster Rechtsdurchsetzungsmechanismen entwertet. Anton Köchling räsonierte 1926, dass dem Ausschuss eine „Dienstaufsichtsbeschwerde bei den vorgesetzten Instanzen“ zustehe; verweigere ein Gericht die Kooperation, stehe dem Ausschuss die Beschwerde zum OLG zu.665 Andere Autoren lehnten eine solche Beschwerde an das OLG aus unterschiedlichen Gründen ab.666 Verlief eine etwa zulässige Beschwerde im Sande, blieb dem Reichstag gewissermaßen nur noch der Fundamentalkonflikt, den Vorgang, wie es Max Alsberg in anderem Zusammenhang vorgeschlagen hatte, mit Hilfe eines Misstrauensvotums gemäß Art.  54 Satz  2 RVerf 1919 zur „Kabinettsfrage“ zu machen.667

B. Die Verweisung auf die Strafprozeßordnung Die zweite wesentliche Neuerung stellte die „sinngemäße Anwendung“ der „Vorschriften der Strafprozeßordnung“ gemäß Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 dar. Mit den Amtshilfepflichten waren diese Befugnisse bei einer etwa notwendigen Vollstreckung parlamentarischer Zwangsmaßnahmen verzahnt.668

I. Einordnung in die Verfassungsgeschichte In konstitutionellen Tagen wäre eine Regelung, die den Untersuchungsausschüssen nach diesem Muster ein „bestimmtes Maß exekutivischer, obrigkeitlicher Gewalt“ beilegte (Gerhard Anschütz),669 undenkbar gewesen. Das „monarchische Prinzip“ sorgte dafür, dass sich der Kontakt der Ständeversammlungen mit „Außenstehenden“ auf die Landtagskommission, eventuell das Ministerium und vielleicht noch einen besonderen Gerichtshof beschränkte, wenn eine Ministeranklage erhoben werden sollte.670 Zum Bruch mit diesen Glaubenssätzen kam es erstmals in der Märzrevolution, als die beiden großen Nationalversammlungen in der Frankfurter Paulskirche und der Berliner Singakademie selbständige Enquêten und Untersuchungen durchführten. In der Schweidnitzer Affäre wendeten preußische Volksvertreter im Hochsommer 1848 erstmals strafprozessuale Regeln sinngemäß auf parlamentarische Zeugenvernehmung an. Diesem Beispiel folgte dann – nicht minder erfolgreich – der Wahlmanipulationsausschuss von 1863/64. Das Vorgehen beider Kommissionen orientierte sich grosso modo an den §§ 317, 665

A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 63 f. unter Verweis auf § 82 Abs. 2 AG GVG. K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  67 (keine Beschwerde nach § 159 GVG) oder F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 85. 667 s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 3. b) bb). 668 Vgl. das Gutachten des Reichsinnenministers, VerhRT III (1924/28), Nr. 2690, S. 3. 669 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 219 f. 670 Zu „monarchischem Prinzip“ und landständischer Verfassungsschutzfunktion s. 2.  Teil 1. Kap. C. I. 1. und II. 3. c). 666

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319, 330 Pr­KrimO 1805 bzw. den ähnlichen Bestimmungen der §§ 188 ff. Teil I Tit. 10 Pr­Allg­GO 1815 für den Zivilprozess. Pflicht, Zwang und Eid spielten mangels gesetzlicher Grundlage keine Rolle, obwohl im Dunstkreis der Wahlmanipulationsuntersuchung die Frage tangiert wurde, ob ein um Vernehmung ersuchtes Gericht über die gewöhnlichen Zwangsmittel verfüge. Scheinbar ließ sich das Befugnisdefizit der Kommissionen also mit Hilfe einer Inanspruchnahme der Justizbehörden beheben; in der Praxis hatten sich die Gerichte mehrheitlich geweigert, überhaupt mit der Untersuchungskommission zu kooperieren.671 Das revolutionär Neue des Art.  34 Abs.  3 RVerf  1919 gegenüber Art.  82 PrVerf 1850 war also unbestreitbar, dass die Untersuchungsausschüsse jetzt über jeden Zweifel erhaben über Zwangsrechte und die Befugnis zur Vereidigung verfügten, statt auf freiwillige Zeugen und Sachverständige oder ein Entgegenkommen königlicher Gerichte angewiesen zu sein.672 Trotzdem hatten u. a. die preußischen Untersuchungskommissionen dieser befugnisrechtlichen Emanzipation den Weg geebnet.

II. Die sinngemäße Anwendung der Strafprozeßordnung Trotz des unbestreitbaren Fortschritts sorgte die nebulöse Verweisungsnorm des Art.  34 Abs.  3 RVerf  1919 von Anfang an für Unsicherheiten und massive Kritik.673 Der Kölner Doktorand Anton Köchling sprach von einer „unklare[n] und unvollständige[n] Bestimmung“, die der Praxis große „Schwierigkeiten“ bereite.674 Einigkeit herrschte nur darüber, dass sich die Verweisung ausschließlich auf die Beweiserhebungen, nicht aber auf die Organisation oder das sonstige Verfahren der Untersuchungsausschüsse bezog.675 Vor diesem Hintergrund wurde insbesondere ein – rechtspolitisch teils befürwortetes – Ablehnungsrecht des Betroffenen gegenüber „befangenen“ Ausschussmitgliedern zurückgewiesen.676 Tatsächlich wurde allein diese Auslegung dem genuin politischen Charakter der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse gerecht, die mit den Gerichten bis auf die Befugnisse nichts gemeinsam hatten. 671 s. zu dem Vorgehen der Schweidnitzer 3. Teil 2. Kap. D. IV. 4. c) sowie der Wahlmanipulationskommission 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. d). 672 Vgl. K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 12 und dazu Fn. 385; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 46 f.; C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 33 f.; W. Lewald, AöR 44 (1923), 269 (279 f.); F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 80 f. 673 Dazu S. Schröder, ZParl 1999, 715 (734 ff.) m. w. N. aus der zeitgenössischen Staatsrechtslehre. 674 A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 57. 675 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 469, 471; K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 35; F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 184; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 58. 676 F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S.  185; C. Schachtel, Anwendung, 1927, S.  23; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 40 f., der de constitutione ferenda ein Ablehnungsrecht für die Entscheidung über Zwangsmaßnahmen fordert. s. auch a. a. O. S. 52.

5. Kap.: Die Untersuchungsbefugnisse des Art. 34 RVerf 1919

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1. Die „Sinngemäßheit“ der Anwendung Über die „Sinngemäßheit“ der Anwendung urteilte Karl Heck in seiner Disser­ tationsschrift, dass der Verfassungsausschuss sich für diese Formel „ohne große Debatte und offenbar ohne Vorstellung darüber, welche Konsequenzen im einzelnen aus dieser Fassung sich ergeben“ müssten, ja „ohne Bewußtsein ihrer vollen Tragweite“ entschieden habe.677 Weit weniger zurückhaltend konstatierte der deutschnationale Reichstagsabgeordnete Fritz Warmuth, „daß das Bestreben, schnelle Arbeit zu machen, der Sorgsamkeit sehr hindernd in den Weg getreten“ wäre.678 Der ultrarechte Hans-Heinrich Lammers sprach abfällig von einer „wenig glückliche[n] Fassung, die den Keim von Zweifeln und Streitfragen von vornherein in sich [trage…] und in der praktischen Handhabung des Untersuchungsrechts die größten Schwierigkeiten“ bereite. Im Übrigen hielt er die Strafprozeßordnung keineswegs für das geeignetste Verfahrensgesetz.679 Auch sonst wurde die Verweisungsnorm vielfach als regelungs- und reformbedürftig kritisiert; um bestehende Zweifel auszuräumen, galt eine eingehende Kodifizierung als geboten.680 Entsprechende Forderungen, wie sie u. a. auch der Kölner Juristentag 1926 erhoben hatte, wurden erst durch das Untersuchungsausschussgesetz von 2001 erfüllt.681 Über die Anwendbarkeit der einzelnen StPO-Vorschriften wollte der ultrarechte Jurist Lammers im konkreten Einzelfall „nach sorgfältiger Prüfung“ entscheiden; selbst bei aller Sorgfalt blieben die Ergebnisse zu seiner Überzeugung „oft noch in hohem Maße zweifelhaft“.682 Als allgemeine Auslegungsleitlinie sollte das entstehungsgeschichtliche Anliegen fungieren, „den Untersuchungsausschüssen zur Durchsetzung ihrer Aufgaben die Mittel und vor allem die Zwangsmittel an die Hand zu geben, die die Strafprozeßordnung [biete…], daß aber das Verfahren vor dem Untersuchungsausschuß anderen Zwecken [diene…] als das Strafverfahren“.683 Auch andere Autoren argumentierten entstehungsgeschichtlich: Etwa betonte Anton Köchling, „daß zur Durchführung und Durchsetzung

677

K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 54. F. Warmuth, StGH, 1920, S. 33 f. 679 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 470 und in Fn. 121. 680 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 53 f.   K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  61; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  53 f., 83 f. Besonders zu regeln seien die Vorbereitung der Ministeranklage einschließlich des Schutzes des Betroffenen, die den Untersuchungsausschüssen zur Verfügung stehenden Beweissicherungsmittel, ihre Befugnis zu Verhaftungen, Beschlagnahmen, Durchsuchungen, Zwangsstrafen, Vorführung von Zeugen etc. sowie die Vollstreckung dieser Maßnahmen. Auf der anderen Seite sollten Rechtsmittel für die Betroffenen eingeführt werden, etwa in Form einer Überprüfung durch das RG, das RVerwG oder den StGH oder einen Beschwerdeausschuss des Reichstags. 681 s. dazu H. Butzer, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. A Rn. 17, 24 ff. 682 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 470. 683 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 471. Ähnl. F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 184. 678

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

der erforder­lichen Beweiserhebungen dem Untersuchungsausschuß alle die Mittel und Zwangsmittel zuerkannt werden sollten, die die St.P. O. für die Zeugen“ vorsehe.684 Obwohl Gerhard Anschütz ebenfalls den Zweck des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens hervorhob, machte für ihn doch den entscheidenden Unterschied aus, dass dieser abweichend von einem Strafverfahren nicht in der Überführung eines Straftäters bestehe. Stattdessen gehe es darum, „hinsichtlich des Gegenstandes der Untersuchung die objektive Wahrheit zu erforschen“. Trotz dieser für ein parteipolitisch geprägtes Verfahren wenig passenden Prämisse kam der Heidelberger Staatsrechtler zu dem hörenswerten Ergebnis, dass es „nicht ‚sinngemäß‘, sondern sinnwidrig [sei], wollte man den Untersuchungsausschüssen gestatten, bei ihrer Tätigkeit Einrichtungen anzuwenden, die sozusagen rein kriminalistisch konstruiert, die in ihrer ganzen Wesensart durch den Strafverfolgungszweck […] spezifisch bestimmt“ wären.685 Eine interessante Differenzierung versuchte der spätere Bundesverfassungsrichter Karl Heck; er wollte zwischen Untersuchungen, die eine Ministeranklage oder die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität vorbereiten sollten, und Verwaltungs- oder Gesetzesenquêten unterscheiden.686 Den Unterschieden solcher Untersuchungen und Enquêten mit „Strafverfolgungszweck“ oder „reinem Ermittlungszweck“ wollte er im Rahmen der sinngemäßen Anwendung Rechnung tragen. In diesem Sinne sah er bei Verwaltungs- und Gesetzesenquêten für strafprozessuale Schutzvorgaben zugunsten eines Angeklagten oder Beschuldigten keinen Raum. Allgemein wollte er es aber dem „Ermessen des Parlaments [anheimstellen…], welche Normengruppen es im einzelnen Fall dem Untersuchungsverfahren zugrunde“ legte.687 Einen modernen Ansatz, der die Bedeutung des Art. 1 Abs. 3 GG für das parlamentarische Untersuchungsverfahren vorwegzunehmen schien, wählte 1927 Charlotte Schachtel. In ihrer Dissertationsschrift forderte sie, bei der sinngemäßen Anwendung die Grundrechte zu berücksichtigen, um so auch die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse den in einem Verfassungsstaat allgemein geltenden Schranken zu unterwerfen.688 Obgleich die Grundrechte an sich bloß gegenüber Justiz und Verwaltung verbindlich wären, müssten sie „gleichfalls dem gesetzgebenden Körper gegenüber in Kraft treten, sobald dieser, über seinen eigenen Bereich hinausgreifend, dem Individuum mit exekutivischer Gewalt“ gegenübertrete. Im Rahmen der sinngemäßen Anwendung könnten den Untersuchungsausschüssen deswegen „nur diejenigen Befugnisse zugesprochen werden, die zur Erreichung ihres Zwecks unbedingt notwendig“ wären; zulässig seien „nur so wenige und verhältnismäßig geringfügige Eingriffe in Grundrechte wie möglich“. 684

A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 58. G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 223. 686 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 54 ff. 687 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 57 f. 688 C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 9. 685

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Zu guter Letzt sollten die Schutzvorschriften der Strafprozeßordnung so weit wie möglich zur Geltung kommen.689 2. Anwendbare Vorschriften Auf dieser Grundlage galten die Vorschriften für die Beweisaufnahme und Beweismittel als anwendbar.690 In diesem Sinne sollten insbesondere die Regelungen über die allgemeine Zeugnis- und die entsprechende Sachverständigenpflicht, die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen, den Aussagezwang und Eid sowie zu den Aussage- und Zeugnisverweigerungsrechten Anwendung finden;691 für Abgeordnete sollte auch Art. 38 RVerf 1919 eingreifen.692 Ebenso unstreitig war das Gerichtsverfassungsgesetz vom Wortlaut des Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 nicht erfasst, so dass der Vorsitzende eines Untersuchungsausschusses nicht über die Ordnungsmaßnahmen der §§ 177, 178 GVG, sondern allein über die Befugnisse der parlamentarischen Ordnungsgewalt und des Hausrechts verfügte.693 Für das Strafverfahren sah § 61 StPO den obligatorischen Voreid vor. Auch die Untersuchungsausschüsse galten als zur Eidesabnahme zuständige Stellen im Sinne des Strafgesetzbuches.694 Teilweise wurde dennoch hervorgehoben, dass ihrem Vereidigungsrecht keine Pflicht entspreche. Weil sich der Zweck des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens in der Untersuchung von Tatsachen er 689

C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 12 f. s. zur Geltung der Grundrechte im parlamenta­ rischen Untersuchungsverfahren auch K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 21 f. 690 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S.  471; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 55; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 58. 691 s. mit Unterschieden im Detail G. Anschütz, RVerf  191914 1933, S.  222; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S.  471; J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR II2 1930, S.  697; F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 184 f.; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 58 ff.; H. Loening, ThürVerf3 1925, S. 39; F. Stier-Somlo, StaatsR I, 1924, S. 592; A. Finger, StaatsR, 1923, S. 262; E. Hubrich, VerfR, 1921, S. 75 und ferner F. Giese, RVerf 1919, S. 142 sowie J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 46 ff. Das Zwangsrecht bestritten etwa E. Kaufmann, Untersuchungsausschuss, 1920, S. 31 und K. Binding, Leipziger Neueste Nachrichten, Nr. 6, vom 6. Januar 1922. s. dazu m. w. N. aus dem zeitgenössischen Schrifttum auch S. Schröder, ZParl 1999, 715 (735 f.). 692 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S.  471 f.; F. Biedermann, Untersuchungs­ ausschüsse, 1929, S. 98; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 48 ff.; C. Schachtel, Anwendung, 1927, S.  35; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  61 f.; F. Stier-Somlo, StaatsR I, 1924, S. 592. 693 In diesem Sinne äußerte sich ein Gutachten des Reichsinnenministers von 1926, VerhRT III (1924/28), Nr. 2690, S. 2. s. aus dem Schrifttum G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 221 in Fn.  1; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S.  472 f. (Zitat); F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 184; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 53 f., der eine Ergänzung des Art. 34 RVerf 1919 fordert. 694 H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S.  471 in Fn.  125; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 59. s. ferner berichtend mit Beispielen aus der Reichs- und preußischen Staatspraxis F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S.  102 f. sowie C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 31 f.

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

schöpfe, erfordere eine sinngemäße Anwendung der Strafprozeßordnung das Recht, auf den Eid zu verzichten.695 Gleichwohl mahnte Charlotte Schachtel sicherlich nicht zu Unrecht, dass es nicht „ratsam“ wäre, den Eid ganz fortzulassen, weil die Untersuchungsausschüsse sonst kaum die Wahrheit feststellen könnten.696 Bloß wenig Kopfzerbrechen bereitete dem Schrifttum die Behandlung betroffener Zeugen. Franz Biedermann bewertete den Konflikt der „faktisch beschuldigten Zeugen“ trotz der sinngemäßen Anwendung der Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte als unlösbar, weil sie in jedem Fall das Interesse der Strafverfolgungsbehörden wecken könnten.697 Erstmalig wurde dieses Dilemma im Kriegsschuldausschuss relevant, indem Karl Helfferich, Paul v. Hindenburg und Erich Ludendorff eine Aussagepflicht „gegen sich selbst“ monierten. Davon unbeeindruckt ging Charlotte Schachtel 1927 davon aus, dass im parlamentarischen Untersuchungsverfahren grundsätzlich niemand die Stellung eines Beschuldigten habe. Wenn eine Untersuchung aber von vornherein die Aufhebung der Abgeordnetenimmunität oder eine Präsidenten- oder Ministeranklage vor dem StGH vorbereiten solle, könne eine sinngemäße Anwendung der Schutzvorschriften zugunsten des Beschuldigten gerechtfertigt sein, soweit diese mit dem Sinn und Zweck eines parlamentarischen Untersuchungsverfahrens vereinbar wären.698 Auf dieser Grundlage befürwortete sie ein Recht des Betroffenen, die Aussage vollständig zu verweigern. Außerdem dürfe er nicht vereidigt werden.699 Ein Anspruch auf Verteidigung, die das Urteil im Strafprozess zugunsten des Beschuldigten beeinflussen solle, bestehe nicht. Weil es dem Untersuchungsausschuss gemäß Art. 34 RVerf 1919 freistehe, wie weit er die Untersuchung erstrecken wolle, verfüge der Betroffene über kein Beweisantragsrecht (§ 219 StPO), sondern könne lediglich Beweise anregen.700 Karl Heck plädierte ebenfalls dafür, in Untersuchungsverfahren zur Vorbereitung einer Ministeranklage oder der Aufhebung der Abgeordnetenimmunität verschiedene Schutzbestimmungen zugunsten des Beschuldigten sinngemäß anzuwenden; weitergehend zählte er dazu auch die Vorschriften über die Bekanntgabe der Anschuldigung, die Parteiöffentlichkeit und insbesondere die Gelegenheit zur Verteidigung.701 Gegen eine Differenzierung nach verschiedenen Untersuchungstypen wendete Franz Biedermann u. a. ein, dass die Verfassung „auf eine derartige Einteilung“ offenkundig „keine Rücksicht“ nehme, sondern „in aller Klarheit“ die sinngemäße Anwendung anordne.702

695 K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 38; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 47 f. (Zitat); C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 19 f., 35; A. Köchling,­ EnqueteR, 1926, S. 58 f.; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 59. 696 C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 41. 697 F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 96. 698 C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 20 ff. 699 C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 24 ff., 41. 700 C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 23 f. 701 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 65. 702 F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 93.

5. Kap.: Die Untersuchungsbefugnisse des Art. 34 RVerf 1919

1095

Besonders umstritten waren Beschlagnahme und Durchsuchung (§§ 94 ff. StPO). Unzweifelhaft war wegen Art. 34 Abs. 3 Hs. 2 RVerf 1919 nur das Beschlagnahme­ verbot für Brief- und Postsendungen.703 Allgemein sprach sich die wohl herrschende Meinung gegen die Zulässigkeit von Durchsuchung und Beschlagnahme im parlamentarischen Untersuchungsverfahren aus, weil es um genuin strafprozessuale Maßnahmen gehe, die einen Beschuldigten voraussetzten. Indem Beweise bloß gesichert werden sollten, handele es sich überdies nicht um Maßnahmen zur Beweiserhebung, auf die Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 allein verweise.704 Ein Teil des Schrifttums trat im Gegensatz dazu für die Zulässigkeit von Beschlagnahme und Durchsuchung ein: Indem die Beschlagnahme ein Instrument wäre, um „Gegenstände, welche als Beweismittel für die Untersuchung von Bedeutung sein könn[t]en, in Verwahrung zu nehmen“, gehöre sie ebenso wie die Durchsuchung zu den „Mittel[n] der Beweiserhebung“. Ein wichtiges systematisches Argument stellte es dar, dass sonst der Vorbehalt des Art. 34 Abs. 3 Hs. 2 RVerf 1919 zugunsten der Kommunikationsfreiheiten „ganz unverständlich“ war.705 Verschie­ dene Autoren wollten den Untersuchungsausschüssen Beschlagnahme und Durchsuchung lediglich vorenthalten, soweit sie anderen Zwecken als der Beweis­ sicherung  – etwa der Einziehung  – dienten.706 Franz Biedermann hob weiterhin hervor, dass der parlamentarische Untersuchungsausschuss andernfalls „zusehen [müsse…], wie wertvolle Beweismittel zu Grunde gehen“.707 Trotz solcher Mahnungen wurde teils de constitutione ferenda sogar verlangt, den Untersuchungsausschüssen Durchsuchung und Beschlagnahme ausdrücklich abzusprechen.708 Weil sie kein „Beweismittel“ sei, wurde die Untersuchungshaft einhellig abgelehnt.709 Die Zwangshaft blieb weitgehend von solchen Überlegungen verschont;710 vereinzelt wurden lediglich Bedenken laut, „daß der UA., der keinerlei Garantien 703

H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S.  472; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 54. 704 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 222 f.; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 472; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S.  54 f.; C. Schachtel, Anwendung, 1927, S. 35 ff.; ähnl. H. Loening, ThürVerf3 1925, S. 39. 705 J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR II2 1930, S.  697 f. (Zitat); F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 103 f.; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 61 und ferner F. StierSomlo, StaatsR I, 1924, S. 592. 706 K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 41 f.; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 64: Dass „solche Befugnisse“ einem Untersuchungsausschuss „durchaus anvertraut“ werden könnten, zeige das „Beispiel der englischen Untersuchungskommissionen, welche die Ermächtigung  […], ‚to send for persons, papers and records‘, als erheblich weitergehende Rechte“ besäßen. 707 F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 103 f. 708 K. E. v. Türcke, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 61. 709 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 222; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 472; J. Hatschek/P. Kurtzig, DtPrStaatsR II2 1930, S.  698; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 55; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 61; H. Loening, ThürVerf3 1925, S. 39. 710 Zur Zulässigkeit vgl. G. Anschütz, RVerf  191914 1933, S.  222; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 99; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 61 und ferner L. Waldecker, PrVerf 19202 1928, S. 99.

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7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

für ein sachliches Verfahren [biete…], die sonst dem sorgfältig urteilenden Richter vorbehaltene Befugnis der Freiheitsentziehung bis zur Dauer von 6 Monaten […] haben soll[te]“.711 Für Karl Binding war die Zwangshaft gar eine „abscheuliche Brutalität […], der letzte Rest der Folter zur Erzwingung einer Aussage, eine neue Auflage der Peine forte et dure des englischen Inquisitionsrechts, ein abscheulicher Anachronismus, der dem ihn billigenden Staat zu hoher Unehre“ gereiche, und allenfalls für die Zwecke eines Strafverfahrens gerechtfertigt sei.712 Verfahrensrechtlich sollte für die Anordnung von Beweiserhebungen und Zwangsmaßnahmen oder für die Verhängung von Strafen ein einfacher Ausschussbeschluss genügen. Für die Vollstreckung blieben die Untersuchungsausschüsse mangels eigenen Vollzugspersonals zwangsläufig auf die Hilfe von Behörden und Gerichten angewiesen.713 Im Kontext der Zwangsmaßnahmen war umstritten, ob dem Betroffenen Rechtsmittel zu Gebote standen. Praktisch wurde diese Frage schon in der ersten parlamentarischen Untersuchung der jungen Republik, als sich der frühere Staatssekretär des Innern Karl Helfferich vor dem Kriegsschuldausschuss weigerte, auf Fragen des USPD-Abgeordneten Oskar Cohn zu antworten. Der Untersuchungsausschuss verhängte darauf zwei Ordnungsstrafen von je 300 Mark.714 Förmliche Rechtsmittel gegen Zwangs- und Strafmaßnahmen galten überwiegend als unzulässig.715 Andere Autoren verwiesen den Betroffenen auf eine Beschwerde an das Reichstagsplenum oder auf eine Gegenvorstellung an den Ausschuss.716 Wenigstens sollte die ersuchte Stelle die Rechtmäßigkeit zu prüfen haben.717 3. Zwischenergebnis Trotz der unbestreitbaren Schwächen des nebulösen Art. 34 RVerf 1919 hatte der Verfassungsausschuss der Weimarer Nationalversammlung mit der „sinn­ gemäßen Anwendung“ der Strafprozeßordnung sein Hauptanliegen erreicht: Wie 711

K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 63. K. Binding, Leipziger Neueste Nachrichten, Nr. 6, vom 6. Januar 1922. 713 Gutachten des Reichsinnenministers, VerhRT III (1924/28), Nr. 2690, S. 3; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 471; F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 184 f.; J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 52; K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 67. 714 Dazu etwa W. Jellinek, JÖR 9 (1920), 1 (91); F. Warmuth, StGH, 1920, S. 36 ff.; A. Köchling, EnqueteR, 1926, S. 62 f. 715 F. Poetzsch-Heffter, RVerf3 1928, S. 185. 716 Für das Plenum s. W. Kahl, DJZ 1920, Sp. 1 (6). Dagegen wies K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S.  72 darauf hin, dass das Plenum einerseits Entscheidungen der Untersuchungsausschüsse überhaupt nicht kassieren könne und andererseits keine Gewähr für größere Unparteilichkeit biete. Ähnl. Einwände erhob F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 100. Zur Gegenvorstellung gegenüber dem Untersuchungsausschuss s. J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 53 sowie ähnl. K. Heck, S. 72 f. und F. Biedermann, S. 100. 717 K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 73 f. einschließlich der Verfassungsmäßigkeit des Einsetzungsbeschlusses. 712

5. Kap.: Die Untersuchungsbefugnisse des Art. 34 RVerf 1919

1097

es der Geheime Regierungsrat im Reichsjustizministerium Erich Zweigert und die Abgeordneten Adolf Gröber (Zentrum) und Max Quarck (SPD) in den Beratungen beabsichtigt hatten,718 verfügten die Untersuchungsausschüsse fortan anders als ihre konstitutionellen Vorgänger über robuste eigene Beweiserhebungsinstrumente einschließlich Pflicht, Zwang und Eid. Mit diesem Schritt war die Evolution der Ausschussbefugnisse, die in verfahrensmäßiger Hinsicht mit der Schweidnitzer Untersuchung in der Nationalversammlung begonnen hatte und in der Wahlmanipulationsuntersuchung 1863/64 fortgesetzt worden war, vollendet. Das Schrifttum begleitete diese Entwicklung und entwickelte teils moderne Ansätze, die sich bis in die Bundesrepublik Deutschland halten konnten. Gleichzeitig wurden aber auch Schwachpunkte offenbar, die die Nachkriegsdiskussion ebenfalls beeinflussen sollten.

C. Bewertung der Untersuchungsbefugnisse des Art. 34 RVerf 1919 Ohne dass es auf Detailfragen ankäme, steht fest, dass die Untersuchungsausschüsse der Weimarer Republik erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte über ein beachtliches Arsenal rechtlich robuster Untersuchungsbefugnisse verfügten. Anders als die Untersuchungskommissionen des preußischen Abgeordnetenhauses oder die teils zu Kaisers Zeiten auf Ersuchen der Volksvertretung und unter Einbeziehung von Abgeordneten von den Regierungen geschaffenen Spezialkommissionen waren die republikanischen Reichstagsuntersuchungsausschüsse nicht mehr auf die Kooperationsbereitschaft von Behörden und Gerichten oder auf die Vernehmung mehr oder minder freiwilliger Auskunftspersonen angewiesen; das Institut der Untersuchungsausschüsse hatte sich von dem Recht landständischer „Bittsteller“ früherer Tage zu einem wirkungsvollen Aufklärungsinstrument der Volksvertretung gemausert, dem durch Art.  34 RVerf  1919 ein ganzes Arsenal moderner Befugnisse von einem Amtshilfeanspruch bis hin zu dem Recht, selbständig und gegenüber Dritten in sinngemäßer Anwendung auf die Vorschriften der Strafprozeßordnung zurückzugreifen, zur Verfügung stand. Im Hinblick auf die für den Erfolg einer Enquête oder Untersuchung so wichtigen Ausschussbefugnisse hatte die Reichsverfassung vom 11. August 1919 gegenüber den auf Kooperations- und Freiwilligkeit fixierten Mitteln früherer Jahrzehnte eine Zeitenwende gebracht; das Parlament schloss durch seine neuen Möglichkeiten, zu informa­ torischen Zwecken auf Pflicht, Zwang und Eid zurückzugreifen, gewissermaßen zu den Verwaltungsbehörden und Gerichten auf.

718

VerhWeimNV, Nr. 391, S. 266.

1098

7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

6. Kapitel

Die Weimar Republik in der Geschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts Gegenüber der enquête- und untersuchungsrechtlichen Vergangenheit bedeutete die Weimarer Reichsverfassung gewissermaßen das „Ende der Geschichte“: Alle informationsrechtlichen Desiderate, die von den liberalen und später auch den linken Oppositionsparteien seit den Anfangstagen des preußischen Konstitutionalismus erhoben worden waren, wurden mit einem Schlag mehr als erfüllt. Analog wie zu Max Webers Entwürfen von 1917 nachgewiesen,719 fanden die Vorberatungen im Reichsamt des Innern aber ebenso wenig wie die Weimarer Verfassungsberatungen in einer verfassungspolitischen „Stunde Null“ statt, sondern knüpften in vielfacher Hinsicht an die Vergangenheit an, verwerteten positive wie negative Erfahrungen, entwickelten vorhandene Ansätze fort und stellten eine angemessene Reaktion auf den grundlegenden staatsrechtlichen Wandel mit dem Übergang zu Republik und Demokratie dar; Art. 34 RVerf 1919 fügt sich bei genauer Betrachtung bruchlos in diesen Teil der Verfassungsgeschichte ein: Die Forderung eines Enquête- und Untersuchungsrechts der zentralstaatlichen Volksvertretung war so alt wie der Reichsparlamentarismus selbst;720 praktisch erprobt hatte man das entsprechende Recht im konstitutionellen Preußen.721 In den Berliner Kammern war außerdem die Janusköpfigkeit des Art. 82 PrVerf 1850 sichtbar geworden, der in seiner wechselvollen Geschichte sowohl zur sachbezogenen Gesetzesvorbereitung und Sachstandsaufarbeitung als auch zur Regierungskritik gedient hatte. Die Notwendigkeit eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts hatten die regierungsgeführten Enquêten im Kaiserreich erwiesen, indem die Regierungen die Wünsche des Reichstags einerseits dilatorisch behandeln oder sogar schlicht ignorieren, andererseits aber die Tätigkeit einer Kommission in eine ihnen genehme Richtung lenken konnten. Zur Exekutivkontrolle war das hybride Instrument gemischter Kommissionen ohnehin offenkundig ungeeignet. Ebenfalls aus dieser Phase stammte die Einsicht, wie wenig selbst eine schlichte Sachstandsaufarbeitung zur Vorbereitung gesetzgeberischer Schritte ohne belastbare Befugnisse gegenüber Dritten wert war.722 Selbst für das auf den ersten Blick revolutionäre Minderheitenrecht ließen sich Vorbilder und Wegbereiter finden: Zu denken ist etwa an das Interpellationsrecht, das – ebenfalls informationsrechtlich angehaucht – der Minderheit die Möglichkeit zur öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Gouvernement bot.723 Die vielfach an ministeriellen oder selbst zufälligen Mehrheiten gescheiterten politischen Untersuchungsversuche in den preußischen Kammern taten 719

s. 7. Teil 1. Kap. C. III. s. 6. Teil 2. Kap. A. und B. 721 s. 5. Teil 3. Kap. 722 s. 6. Teil 3. Kap. 723 s. 6. Teil 2. Kap. B. IV. 1. 720

6. Kap.: Die Weimar Republik

1099

sicherlich ein Übriges.724 Zu einer beachtlichen Berücksichtigung der Wünsche selbst einzelner Kommissionsmitglieder in einer (auch parlamentarischen) Untersuchung war es anlässlich des preußischen Eisenbahngründerskandals gekommen; genau betrachtet ging Eduard Laskers Einfluss auf die Arbeit dieser Kommission weit über die Möglichkeiten der parlamentarischen Minderheiten in der Weimarer Republik hinaus.725 Die Weimarer Entwicklung ist also in die bisherige Geschichte eingebettet; ihrerseits hat sie die Entstehung des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts des Deutschen Bundestages vielfältig beeinflusst. An erster Stelle steht der Durchbruch dieses im 19. Jahrhundert von den Regierungen und gouvernementalen Parteien nahezu ohne Ausnahme bekämpften Rechts. Art. 34 RVerf 1919 implementierte ein robustes Selbstinformationsrecht in der republikanischen Verfassungsordnung und brach so gleich mehrfach mit bisherigen konstitutionellen Standards, die – mit wenigen Ausnahmen – noch bis in das 20. Jahrhundert hinein nahezu jede wirkungsvolle parlamentarische Regierungskontrolle verhindert hatten. Die Volksvertretung war nicht mehr länger auf das Entgegenkommen der Exekutive angewiesen, sondern verfügte über ein thematisch nahezu unbeschränktes Selbstinformationsrecht, das mit Pflicht, Zwang und Eid abgesichert war. Im Sinne von Egon Zweigs „Messinstrumentstheorie“726 brachte das Enquête- und vor allem das politischere Untersuchungsrecht die Emanzipation des Parlaments gegenüber der Regierung insgesamt voran. Nach der totalen Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse in den Jahren 1918 und 1919 rückte der Reichstag nach dem Buchstaben der Verfassung in die Stellung des zentralen Verfassungsorgans ein und verdrängte mit seiner Rolle als Mandatar der Volkssouveränität das Staatsoberhaupt als Kristallisationspunkt der Staatsgewalt. Dieser Wechsel hatte konsequenterweise auch informationsrechtliche Folgen, obwohl die Reichsverfassung vom 11. August 1919 dem seinerseits gewählten Reichspräsidenten eine beachtliche Erbschaft ehedem monarchischer Befugnisse bescherte.727 In der ersten Euphorie über die neu gewonnene informationsrechtliche Freiheit kam es zu einer bis heute fortwirkenden Fehlentwicklung, die in der Kriegsschulduntersuchung ihren Anfang genommen haben dürfte: Indem vor dieses Tribunal – zu Recht – Mitglieder und Repräsentanten der kaiserlichen Machteliten als Zeugen vorgeladen und vernommen wurden, wobei es auch zur Anwendung von Zwangsmitteln kam, verlor das Parlament gleichsam den Respekt vor der Regierung. Der Reichstag setzte die einmal aufgenommene Praxis schon bei der Untersuchung der Korruptionsvorwürfe gegen Reichsernährungsminister Andreas Hermes fort, der ebenfalls nicht aufgrund von Art.  33 Abs.  1 herbeizitiert, sondern 724

s. 5. Teil 3. Kap. B. II. s. 5. Teil. 3. Kap. E. V. und VII. 726 Vgl. E. Zweig, ZfP 1913, 265 (269). 727 Vgl. E.-W. Böckenförde, AÖR 103 (1978), 1 (9 f.), der das Untersuchungsrecht einmal mit der neuen Rolle der Volksvertretung und zum anderen einer Allegorie zum „ius supremae inspectionis“ fundiert. 725

1100

7. Teil: Der Schritt in die Moderne (1917–1932) 

nach Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 als Zeuge vorgeladen und vernommen wurde. Offenbar machte man sich bei dieser Gelegenheit keinerlei Gedanken über den gegenüber der Kriegsschuldfrage gravierenden Unterschied, dass es diesmal nicht um einen ehemaligen Amtsträger, sondern um einen amtierenden Minister ging. Bis heute hält sich die Annahme, dass den Untersuchungsausschüssen gegenüber Regierungsmitgliedern nahezu dieselben Instrumente wie gegenüber dritten Zeugen zustehen.728 Neben dem Durchbruch der erstmals mit robusten Befugnissen bewehrten Enquête- und Untersuchungsrechtsidee, die in Art. 34 RVerf 1919 erstmals auf bundesstaatlicher Ebene reüssieren konnte, etablierte diese Vorschrift zum ersten Mal ein Minderheitenrecht. Diese Strukturentscheidung sollte für das parlamentarische Selbstinformationsrecht fortan die Weichen stellen. Der Kunstgriff, das Plenum oder mit anderen Worten die Reichstagsmehrheit auf Antrag einer qualifizierten Einsetzungsminderheit von einem Fünftel zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu verpflichten, den Max Weber 1917 gefordert hatte, damit auf die Allmacht der Exekutive keine Diktatur der Mehrheit folge, hatte im Sinne von Fritz Warmuths (DNVP) einleitendem Zitat aus den Weimarer Verfassungsverhandlungen, dass „Parlamentarier [es…] gewohnt [seien], bestimmte politische Vorgänge einseitig unter einem bestimmten Gesichtswinkel zu betrachten“,729 zur Folge, dass die politische Untersuchungsfunktion die eher sachbezogene Enquêtefunktion in der Praxis vollständig verdrängte. Das Selbstinformationsrecht entwickelte sich in dem Dezennium der Republik de facto ausschließlich zu einem propagandistischen Kampfinstrument in der zunehmend schärferen politischen Auseinandersetzung, obwohl ein entsprechender Zuschnitt gerade nicht Gesetz geworden war. Dass auch Max Weber die Gesetzesvorbereitung keineswegs aus dem Blick verloren hatte, lässt sich in seinen Entwürfen von 1917 nachweisen. Die Ursache für diese Entwicklung dürfte in den vergifteten politischen Verhältnissen der damaligen Zeit zu suchen sein. Tatsächlich diente das Untersuchungsrecht den extremistischen Gruppierungen auf beiden Flügeln des politischen Spektrums zur Befriedigung ihres Agitationsbedürfnisses;730 zu propagandistischen Zwecken ist eine politische Untersuchung aber gegenüber einer Enquête das geeignetere Mittel. Hinzu kam ein schleichender Bedeutungsverlust der parlamenta­ 728

s. 8. Teil 4. Kap. C. III. 2. Vgl. VerhWeimNV, S. 2701 anlässlich des Berichts des 8. Ausschusses betreffend Wahl eines Untersuchungsausschusses von 28 Mitgliedern  – des Kriegsschuldausschusses  – auf Grund von Art. 34 RVerf 1919. 730 Zum politischen Missbrauch des Enquête- und Untersuchungsrechts in Weimar s. M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 4; S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 47; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  61 f.; U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (599); S.  Schröder, ZParl 1999, 715; M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S.  37 ff. zur Barmat-Affäre und ferner allg. zum Missbrauch der Kontrollrechte H. Schneider, in: HdbStR I3 2003, § 5 Rn. 52. s. speziell zur preußischen Entwicklung die ausführliche Untersuchung von W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 125 ff. 729

6. Kap.: Die Weimar Republik

1101

rischen Gesetzgebung. Ohne parlamentarische Machtbasis waren die Regierungen zur rechtlichen Gestaltung auf andere Strukturen als das reguläre Gesetzgebungsverfahren angewiesen. Parallel dazu nahm die Fähigkeit des zunehmend partei­ politisch fragmentierten Reichstags zu konstruktiver Arbeit ab; die Volksvertretung degenerierte mehr und mehr zu einem innerlich zerstrittenen und verfeindeten Organ. In früheren Phasen wirkte der Reichstag sogar an seiner partiellen Entmachtung mit, indem er die Regierung ausdrücklich zu gesetzesvertretenden Verordnungen ermächtigte.731 Das Bedürfnis einer sachlich-inhaltlichen Gesetzgebungsvorbereitungsenquête war dieser Lage fremd, so dass es zu einer absoluten Marginalisierung der Enquêtefunktion kam. Einer der schwersten Mängel der Weimarer Reichsverfassung war die Injustitiabilität von Organstreitigkeiten auf der gesamtstaatlichen Bühne. Mit diesem Versäumnis hing möglicherweise auch die parteipolitische Missbrauchsanfälligkeit des Enquête- und Untersuchungsrechts ein Stück weit zusammen. Für die Minderheit wirkte sich dieser Mangel im Einsetzungsstadium nicht aus; die Reichstagspraxis überspielte das Fehlen wirkungsvollen Rechtsschutzes mit der eigenwilligen Konstruktion, dass für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses kein Plenarbeschluss erforderlich war, sondern ein qualifizierter Minderheitenantrag ausreichte.732 Dieser Verzicht kostete das Plenum die Möglichkeit, verfassungsrechtlich bedenkliche Untersuchungen zu verhindern. Dieser übermächtigen Stellung der eigentlich machtlosen Minderheiten in der initialen Phase stand die nahezu vollständige Beherrschung des Ausschusses selbst durch seine Mehrheit gegenüber. Das Minderheitenrecht erschöpfte sich damit letzten Endes in der Möglichkeit, dem Reichstag ein Thema aufzuzwingen und dabei ggf. auch Vorgaben für die Beweiserhebung mitzugeben. Während sich Art. 34 RVerf 1919 in der Einsetzung maßgeblich von Art. 82 PrVerf 1850 unterschied, stand er dieser Vorschrift in der Untersuchungsphase deutlich näher als seinem bundesrepublikanischen „Erben“, den das BVerfG konsequent zum Minderheitenrecht ausbauen sollte.733 Der Reichstag der Weimarer Republik verfügte anders als sein monarchischer Vorgänger oder selbst die konstitutionellen preußischen Kammern, die zwar ein Selbstinformationsrecht, nach dem Buchstaben der Verfassung aber keine robusten Befugnisse besaßen, über ein starkes, aber keineswegs „perfektes“ Enquête- und Untersuchungsrecht. Obwohl die Weimarer Republik mit Art. 34 RVerf 1919 auch in der informationsrechtlichen Moderne endgültig angekommen war, hinterließ sie den bundesrepublikanischen Akteuren eine Erbschaft mit Nachbesserungsbedarf. Insbesondere sollten auch die negativen Erfahrungen in den Beratungen des Herrenchiemseer Konvents und des Parlamentarischen Rates eine nicht unerhebliche Rolle spielen. 731

Vgl. zur Verfassungsentwicklung der Republik H. Boldt, VerfGesch II2 1993, S. 243 ff.; C. Gusy, WRV, 1997, S. 371 ff. 732 Vgl. M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 4. 733 s. 8. Teil 4. Kap. D.

8. Teil

Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) „Bei der Beurteilung der Geschäftsordnung anderer Parlamente innerhalb und außerhalb Deutschlands können wir einen Satz Goethes anwenden, der besagt, daß alles Gescheite schon einmal gedacht worden ist und man nur versuchen muß, es noch einmal zu denken und eigenes Denken hinzuzusetzen.“ Heinrich Georg Ritzel (SPD) im Deutschen Bundestag am 6. Dezember 19511

1. Kapitel

Ein historischer Charakterisierungsversuch Das einleitende Zitat des Vorsitzenden des Geschäftsordnungsausschusses­ Heinrich Georg Ritzel aus der Debatte über das künftige Reglement des Bundestags ist für die Entwicklung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts nicht nur in rechtsvergleichender – so war es seinerzeit gemeint –, sondern auch in historischer Hinsicht passend: Die deutsche Verfassungsgeschichte ist seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts reich an zeitlosen Streitfragen und Problemstellungen, die teilweise bereits überraschend modern bewältigt wurden. Vor diesem historischen Passepartout erscheint das Enquête- und Untersuchungsrecht des Bundestags als vorläufiger Höhepunkt einer erstaunlich kontinuierlichen Entwicklung, zu der jede der verfassungsgeschichtlichen Phasen von 1815 bis 1932 ihr Scherflein beigetragen hat. Angesichts dessen lohnt es sich, vor der Ausein­ andersetzung mit Art. 44 GG eine historische Charakterisierung des Enquête- und Untersuchungsrechts zu versuchen. Dabei werden insbesondere drei Wesenszüge deutlich: die Funktion als unmittelbares Selbstinformationsinstrument, der genuin politische Charakter jeder Enquête oder Untersuchung und zu guter Letzt die Qualität eines tendenziell oppositionellen Rechts.

1

BT-Prot. I/179, S. 4712.

1. Kap.: Ein historischer Charakterisierungsversuch

1103

A. Selbstinformationsfunktion Der funktionelle Leitgedanke der informationsrechtlichen Forderungen vergangener Tage war die Emanzipation der Volksvertretung von der monarchischen Regierung. Es ging um einen Bruch mit älteren konstitutionellen Formen – allen voran einem strikten Verbot jeglicher Kontaktaufnahme mit Bürgern, nachgeordneten Behörden oder Justizstellen  –, die dem Gouvernement faktisch ein Informationsmonopol sicherten. Das gemeine Staatsrecht beschränkte die Landstände zwischen 1815 und 1848 ausschließlich auf interpellationsartige Fremdinformationsinstrumente; zu allem Übel stand es im Ermessen der Regierungen, ob und wie sie die Kammern ins Bild setzen wollten. Am Vorabend der Novemberrevolution brachte Max Weber diesen unhaltbaren Zustand dahin treffend auf den Punkt, dass der Reichstag „verfassungsmäßig zur dilettantischen Dummheit“ verdammt sei.2 Das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht, das nicht von ungefähr zum ersten Mal in der Märzrevolution aufgetaucht war, versprach demgegenüber eine unmittelbare und nicht regierungsgefilterte Information der Volksvertretung. Es war ein „echtes“ Selbstinformationsrecht, dass sich zur Not ohne Mitwirkung der Regierung oder sogar gegen ihren Willen ausüben ließ; das Enquête- und Untersuchungsrecht ist kein gesteigertes Zitier-, Interpellations- oder Requisitionsrecht, sondern gewissermaßen deren komplementäres Gegenteil. Auf Regierungsauskünfte wollte man sich – insbesondere bei der Kontrolle des Gouvernements, aber auch bei der Vorbereitung kontroverser Gesetze und anderer Maßnahmen – nicht mehr verlassen. Zieht man aus der Zeit von 1848 bis 1932 ein Resümee, diente das Enquête- und Untersuchungsrecht den Volksvertretungen in den Grenzen ihrer Kompetenzen für alle erdenklichen Zwecke. Die thematische Weite der von revolutionären wie konstitutionellen Versammlungen informationsrechtlich bestellten Felder gestattet einen Blick auf den mehrdeutigen Charakter des parlamentarischen Selbstinformationsrechts: Es ist weder spezifisches Kontroll- noch Vorbereitungsmittel, sondern rundet als dienendes Instrument die materiellen Kompetenzen ab. Diese triviale Erkenntnis ist heute wenigstens teilweise unter der „Korollartheorie“ verschüttet, obwohl etwa Carl Theodor Welcker für das konkurrierende „Oberaufsichtsrecht“ bereits weitsichtig feststellte, dass es sich bestenfalls um einen „Bestandtheil aller anderen formellen Hoheitsrechte, aller gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Thätigkeit für die materiellen Staatszwecke“ handeln könne.3

2

s. 7. Teil 1. Kap. C. Zu dieser Kritik s. ausführlich C. T. Welcker, in: Rotteck/ders. (Hg.), Staatslexikon X1 1841, S. 714 ff.

3

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

B. Genuin politischer Charakter In der Regel hatte jede parlamentarische Enquête oder Untersuchung im 19. Jahrhundert zumindest einen politisch-kritischen Beigeschmack. Für die revolutionären Kontrollenquêten der Frankfurter oder der Berliner Nationalversammlung, insbesondere die brisanten Untersuchungen der Zwischenfälle in Mainz und Schweidnitz, ist das evident.4 Nichts anderes gilt für die Wahlmanipulationsuntersuchung des preußischen Abgeordnetenhauses zum Jahreswechsel 1863/64 oder die verschiedenen Versuche der liberalen Opposition, eine politische Untersuchung der Regierungspolitik zu veranstalten.5 Die jeweiligen Anträge waren offen auf die Aufklärung eines (potentiellen) Fehlverhaltens im Verantwortungsbereich der Exekutive gerichtet. Aber auch die eher sachbezogenen Enquêten, die zur Gesetzesvorbereitung, allgemeinen Aufarbeitung eines gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Sachverhalts bzw. zur Ausarbeitung allgemeinpolitischer Vorschläge veranstaltet wurden, hatten oft den angesprochenen Beigeschmack; die Einsetzungsdebatten, die eigentliche Kommissionsarbeit, der Bericht oder die abschließende Beratung im Plenum wurden verschiedentlich zu einem Vehikel politischer Kritik an der Regierungspolitik.6 Wie eng im Einzelfall sachliche Informationsbeschaffung, Exekutivkontrolle und parteipolitische Agitation miteinander verwoben waren, verdeutlichen verschiedene preußische Enquêten seit 1849.7 Vollkommen „unpolitische“ Erhebungen, in denen nicht wenigstens beiläufig Aspekte der Staatsführung auf den Prüfstand kamen oder mit dem parteipolitischen Gegner abgerechnet wurde, hat es jedenfalls in Preußen nicht gegeben.8 Das parlamentarische Selbstinformationsrecht war noch in einer anderen Hinsicht ein genuin politisches Recht: Sowohl in der Zeit des monarchischen Konstitutionalismus als auch in der Weimarer Republik fehlte den Volksvertretungen jede Möglichkeit, ihren Informationsanspruch gegenüber Regierung, Verwaltung und Gerichten rechtlich durchzusetzen. Eine machtvolle Verfassungsgerichtsbarkeit existierte ebenso wenig wie eine rechtliche Verantwortungsdimension der Regierung. Dem Parlament blieben so bloß politische Mittel in Form öffentlicher Kritik im Plenum oder obstruktiver Gesetzgebungs- und Budgetpolitik, um dem Gouvernement materielle, aber auch informationsrechtliche Zugeständnisse abzu­ringen. 4

s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 2. a) sowie 2. Kap. IV. s. 5. Teil 3. Kap. A. II. sowie C. 6 Interessanterweise bietet die Märzrevolution insoweit kein Anschauungsmaterial: Für die Frankfurter Reichsversammlung verhinderte die politische Ausgangslage entsprechende Konflikte mit der provisorischen Zentralgewalt. s.  zur informationsrechtlichen Kooperation zwischen Ministerium und Versammlung die Beispiele im 3. Teil 1.  Kap. B. II. Die einzige (Sozial-)Enquête der preußischen Vereinbarungsversammlung konnte vor ihrer Auflösung nicht mehr abgeschlossen werden (vgl. 3. Teil 2. Kap. D. V.). 7 Zu den Enquêten zur Lage der Weber und Spinner, dem Zustand des Banken- und Geldwesens sowie den „Ausschusshearings“ über das Pressgesetz s. 5. Teil 3. Kap. A. II. und B. I. 8 Anders scheint es in Bayern gewesen zu sein, wenn man z. B. die Sachverständigenanhörung zur Mängelgewährleistung beim Tierhandel bedenkt. s. dazu 4. Teil 2. Kap. B. II. 2. 5

1. Kap.: Ein historischer Charakterisierungsversuch

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Mit Hilfe des politischen Drucks, der sich mit der Drohung einer parlamentarischen Untersuchung aufbauen ließ, konnte die Volksvertretung – das zeigt das partielle Einlenken des Ministeriums v. Roon in der preußischen Eisenbahnaffäre, deren Bedeutung bis heute weitgehend verkannt wird,9 – die Regierung manches Mal zu Zugeständnissen zwingen. Dass Bismarck durch die Enthüllungen über „seine“ Wahlmanipulationen nicht in ernsthaftere Bedrängnis kam, darf nicht als Indiz für die innenpolitische Bagatelle des Enquête- und Untersuchungsrechts missverstanden werden, sondern war seinen militärisch-außenpolitischen Erfolgen zu verdanken.10 Art. 34 RVerf 1919 änderte an diesem politischen Charakter nichts. Zwar verfügten die Untersuchungsausschüsse fortan über gewisse Zwangsbefugnisse; auch galten Regierung und Behörden als verpflichtet, den Ersuchen der Ausschüsse Folge zu leisten. Anders als das Grundgesetz sah die Weimarer Verfassung aber auf der Reichsebene keinen Verfassungsrechtsschutz vor, so dass sich Regierung und Verwaltung nicht zwingen ließen, an einer Untersuchung mitzuwirken. Die einzige Ausnahme stellte das hier bestrittene Recht zum Zeugniszwang gegenüber dem Reichskanzler oder amtierenden Ministern dar.11 Wie in konstitutionellen Tagen herrschte damit der Primat des Politischen, unter dessen Ägide Intra- wie Interorganstreitigkeiten nicht im Gerichtsweg ausgetragen werden konnten, sondern zwangsläufig zu Machtfragen wurden. Machtlos war der Reichstag insoweit aber nicht: Wie die Ständeversammlungen und frühen Parlamente des 19. Jahrhunderts12 verfügte er über politische Mittel; weigerte sich die Regierung, Forderungen eines Untersuchungsausschusses nachzukommen, konnte die Parlamentsmehrheit diesen Konflikt mit Hilfe eines Misstrauensantrags gemäß Art. 53 RVerf 1919 zur Kabinettsfrage machen.13 Auch unter der Weimarer Reichsverfassung erfolgte also keineswegs eine vollständige „Verrechtlichung“ des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens; sein politischer Charakter blieb in der Auseinandersetzung mit der Regierung voll erhalten, so dass die parlamentarische Seite jeweils abzuwägen hatte, ob ein Konflikt die gravierenden Konsequenzen wert war.

C. Tendenziell oppositioneller Charakter des Selbstinformationsrechts 1919 wurde das parlamentarische Selbstinformationsrecht offiziell zum Recht der Minderheiten, mit anderen Worten also der Opposition. Trotzdem war es bereits in der Zeit des Konstitutionalismus, so ist Karl Schraders Wort vom „Kampf 9

s. 5. Teil 3. Kap. E. s. 5. Teil 3. Kap. C. III. 11 Zu Art.  34 RVerf  1919 s. 7. Teil 3.  Kap. B.  I. 2.  c)  cc)  bzw. zu Art.  44 GG 8. Teil 4. Kap. C. III. 2. 12 Vgl. zur Entwicklung der Landstände zu Parlamenten M. Brenner, in: HdbStR III3 2005, § 44 Rn. 7 ff. 13 Vgl. etwa 7. Teil 3. Kap. B. II. 3. b) bb). 10

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

paragraph[en] gegen die Regierung“ zu verstehen,14 ein wenigstens verkappt oppositionelles Recht der parlamentarischen Mehrheit. Dieser scheinbare Wider­ spruch löst sich auf, wenn man die monarchische Regierung auf der einen und die Landstände bzw. Parlamente auf der anderen Seite als institutionelle Antagonisten, als Exponenten des landesherrlichen Souveränitätsanspruchs einerseits und als Repräsentanten bürgerlicher Mitspracheforderungen andererseits begreift, wie es in dem zutreffenden Bild eines verfassungsrechtlichen „Dualismus“ zwischen 1815 und 1918 zum Ausdruck kommt.15 Herrschte mit der Regierung in relativ harmonischen Zeiten Einvernehmen oder setzten beide Seiten aus anderen Gründen auf Kooperation und Kompromissbereitschaft, hatte die Volksvertretung an einer eigenständigen Enquête oder Untersuchung in der Regel kein Interesse; schwelten dagegen wenigstens unterschwellige Konflikte, war das scheinbare Paradoxon einer parlamentarischen Mehrheitsopposition erforderlich, um eine Konfliktenquête nach dem Muster der Wahlmanipulationsuntersuchung von 1863 anzustrengen. Für die oppositionellen Minderheiten spielte der als Mehrheitsrecht ausgestaltete Art. 82 PrVerf 1850 demgegenüber keine besondere Rolle; sie verlagerten ihre Tätigkeit mehr auf das Antrags- und das Interpellationsrecht.16 Mit dem Übergang zu Demokratie und Parlamentarismus, dem Max Weber mit Art. 34 RVerf 1919 das Minderheitenrecht auf den Leib geschneidert hatte, wurden diese älteren Ansätze bloß vollendet und den Sachgesetzen von Demokratie und Parlamentarismus angepasst.17 Ungeachtet seiner Ausgestaltung als Minderheitenrecht war das Enquête- und Untersuchungsrecht also von Anfang an keineswegs ein (ausschließlich) unpolitisches Informationsinstrument, sondern zumeist auch ein Mittel der politischen Auseinandersetzung.18 Dementsprechend charakterisiert es das BVerfG heute „als Aufklärungsinstrument im Rahmen der politischen Kontroverse“.19

D. Zusammenfassung Das Enquête- und Untersuchungsrecht hat sich verfassungsgeschichtlich als Selbstinformationsrecht des Parlaments entwickelt. Es gestattete den Landes- bzw. Volksvertretungen, sich unmittelbar an außenstehende Dritte, nachgeordnete Behörden oder die Gerichte zu wenden, um selbständig und ohne Vermittlung von Regierungsstellen einen Sachverhalt zu klären; damit emanzipierte es die Versammlungen von gefilterten oder gefärbten Auskünften des Gouvernements. Seit

14

VerhRT VIII/1 (1890/92) S. 3290. Vgl. nur D. Grimm, VerfGesch, 1988, S. 138 ff. bzw. R. v. Mohl, StaatsR, VölkerR, Pol. I, 1860, S. 49 ff. 16 s. 5. Teil 4. Kap. D. 17 Zu Max Webers Vorschlägen s. 7. Teil 1. Kap. C. 18 s. dazu am Beispiel der preußischen Bankenenquête 5. Teil 3. Kap. B. I. 1. c). 19 BVerfGE 105, 197 (225 f.). 15

2. Kap.: Die Entstehung von Art. 44 GG

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seinem Aufkeimen in den Tagen der Märzrevolution hatte die Anwendung dieses Rechts üblicherweise einen oppositionellen Einschlag. Rechtliche Durchsetzungsmechanismen fehlten; die parlamentarische Seite war auf ihr politisches Gewicht verwiesen. In der Weimarer Zeit wurde dieses System beibehalten, ausgebaut und gestärkt. Eine Verrechtlichung des eigentümlichen politischen Konfliktinstruments, das der Minderheit jetzt die Möglichkeit eröffnete, die Mehrheit zur Befassung mit einem Thema zu zwingen, fand jedenfalls nicht in dem Sinne statt, dass Streitigkeiten gerichtlich entschieden worden wären. Vielmehr blieb das Enquêteund Untersuchungsrecht des Art. 34 RVerf 1919 auch durch die Beweiserhebungsöffentlichkeit ein auf seine Publikumswirksamkeit hin berechnetes, genuin politisches Instrument.

2. Kapitel

Die Entstehung von Art. 44 GG Der Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift nach liegt das überkommene Selbstinformationsmodell auch Art. 44 GG zugrunde. Insbesondere überstanden die von Max Weber 1917 vorgeprägten Strukturentscheidungen die deutsche Katastrophe. Art. 34 RVerf 1919 und die Weimarer Erfahrungen überschatteten die Enquête- und Untersuchungsrechtsberatungen auf der Herreninsel und im Museum König so sehr, dass sie gewissermaßen als Fortsetzung der Vorkriegsdiskussion respektive als Reaktion auf die Sünden der Vergangenheit erscheinen.

A. Die Grundentscheidung von Herrenchiemsee Die engere Entstehungsgeschichte von Art.  44 GG beginnt im Hochsommer 1948. Anders als 1919 gab es keine funktionstüchtige zentralstaatliche Ministerialbürokratie mehr. Stattdessen versammelten sich zwischen dem 10.  und dem 23.  August 1948 Delegierte der westdeutschen Länder sowie West-Berlins auf Herrenchiemsee.20 Ähnlich wie die Dezemberkonferenz im Reichsamt des Innern, auf der 1918 verschiedene Verfassungsfragen diskutiert, aber nicht vorentschieden werden sollten, verstand sich dieser Verfassungskonvent als eher wissenschaftzeigen liches Gremium, das lediglich entscheidungsbedürftige Probleme aufzu­ hatte.21

20 s. dazu R. Mußgnug, in: HdbStR I3 2003, § 8 Rn. 37, 39 sowie die Teilnehmerliste in ParlRat II, 1981, S. LXVI, die Beschreibung der Teilnehmer auf S. XIV ff. sowie S. LXV zur Bildung der Bezeichnung als „Verfassungskonvent“. 21 Vgl. R. Mußgnug, in: HdbStR I3 2003, § 8 Rn. 40 f. sowie die Ausführungen des Vorsitzenden Carlo Schmid in der zweiten Sitzung am 11. August 1948, ParlRat II, 1981, S. 67.

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

I. Vorspiel: Der bayerische Grundgesetzentwurf Zur Vorbereitung der Beratungen hatte die bayerische Regierung einen Grundgesetz-Entwurf ausarbeiten lassen, dessen Art. 23 BayEntwGG für das Enquêteund Untersuchungsrecht  – ebenso wie der Landesverfassungsentwurf  – eng an Art. 34 RVerf 1919 anknüpfte und einige Ausschussbefugnisse klarstellte. Wesentliche Änderungen bestanden darin, dass das frühere Beweisantragsrecht der Minderheit fallengelassen wurde und die Regierung ein Recht auf den Ausschluss der Öffentlichkeit erhalten sollte. Offenkundig wollte man damit die Konsequenzen aus der jüngsten Verfassungsgeschichte ziehen.22 Weil keine Materialien zu diesem Entwurf existieren, erlauben nur die Verhandlungen des Vorbereitenden Verfassungsausschusses über die analogen Passagen des bayerischen Landesverfassungsentwurfs gewisse Rückschlüsse auf die Motive.23 In den Landesverfassungsberatungen äußerte der Staatsrechtler Hans Nawiasky am 28. März 1946 „Bedenken“ gegen das Aktenvorlagerecht und forderte Vorkehrungen im Hinblick auf die Öffentlichkeit des Untersuchungsverfahrens. Ministerpräsident Hoegner wollte demgegenüber darauf bauen, dass die Regierungsmehrheit im Ausschuss jedes untunliche Vorlageverlangen verhindern könnte.24 Nachdem Hans Nawiasky berichtet hatte, dass „in der Schweiz […] den Mitgliedern der Ausschüsse eine Schweigepflicht auferlegt“ sei, verlangte der Münchener Oberbürgermeister Karl Scharnagel, der Regierung durch ein „Antragsrecht […] auf geheime Beschlußfassung, das nicht mit einfacher Mehrheit abgelehnt werden könne“, „stärkeres Gewicht [zu] geben“. Gegenüber Wilhelm Hoegners Vorschlag, dass die Öffentlichkeit „auf Antrag der Staatsregierung oder mit 2/3 Mehrheit ausgeschlossen“ werden könne, wollte Hans Nawiasky „diesen Schutz verstärken“, damit die „Regierung […] verhindern [könne…], daß Staatsgeheimnisse in die Öffentlichkeit“ gelangten. Auf den Einwand des Ministerpräsidenten, jede parlamentarische Kontrolle werde „sehr erschwert, wenn die Regierung dem Ausschuß eine Schweigepflicht auferlegen könne“, erwiderte Staatssekretär Anton Pfeiffer, dass sie doch des „Vertrauens des Landtags bedürfe“. Für problematisch hielt er eher, 22

„Art. 23. (1) Der Bundestag hat das Recht und auf Antrag von 1/5 seiner Mitglieder die Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. (2)  Diese Ausschüsse und die von ihnen ersuchten Behörden können in entsprechender Anwendung der Strafprozeßordnung alle erforderlichen Beweise erheben, auch Zeugen und Sachverständige vorladen, vernehmen, beeidigen und das Zeugniszwangsverfahren gegen sie durchführen. Das Brief-, Post-, Telegrafen- und Fernsprechgeheimnis bleibt jedoch unberührt. Die Gerichts- und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse auf Beweiserhebung Folge zu leisten. Die Akten der Behörden sind ihnen auf Verlangen vorzulegen. (3) Die Ausschüsse verhandeln öffentlich; jedoch wird die Öffentlichkeit durch Beschluß einer 2/3 Mehrheit oder auf Verlangen der Bundesregierung ausgeschlossen.“ (Abdruck in ParlRat II, 1981, S. 11). 23 Vgl. K.-U. Gelberg (Hg.), Protokolle, 2004, S. 10 sowie den Abdruck der entsprechenden Artikel S. 45 und ferner ParlRat II, 1981, S. 11 Fn. 43 und S. 12 Fn. 44 bis 47. Allg. zum Einfluss der Bayerischen Verfassung auf den Grundgesetzentwurf s. ParlRat II, 1981, S. LX f. 24 K.-U. Gelberg (Hg.), Protokolle, 2004, S. 126.

2. Kap.: Die Entstehung von Art. 44 GG

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dass bei „vielköpfigen Fraktionen […] immer Temperamente dabei [wären], denen die Wahrung der Vertraulichkeit schwer falle“.25 Letztendlich votierte der Ausschuss für die striktere Variante, dass die Öffentlichkeit „auf Verlangen der Staatsregierung oder einer 2/3 Mehrheit ausgeschlossen“ werde.26 Ausschlaggebend waren also Ressentiments, denen bereits Art. 34 RVerf 1919 ausgesetzt gewesen war; damals hatte man das parlamentarische Aktenvorlagerecht gleich aus zwei Richtungen unter Beschuss genommen: Während etwa der Jenenser Staatsrechtler Otto Koellreutter das abschreckende Beispiel beschwor, dass „Vertreter einer offen umstürzlerisch gesinnten Partei die Vorlage der Polizeiakten über die polizeilichen Maßregeln zum Schutze des Staates gegen die Angriffe dieser Partei fordern“ könnten,27 sorgte sich vor allem die Weimarer Richterschaft angesichts öffentlicher Beweiserhebungen der Untersuchungsausschüsse um die Integrität der Rechtspflege.28 In den Weimarer Verfassungsberatungen waren ebenfalls Bedenken gegen die Beweiserhebungsöffentlichkeit laut geworden, hatten sich aber nicht durchsetzen können.29

II. Herrenchiemseer Verhandlungen Obwohl der Verfassungskonvent an seinem zweiten Sitzungstag entschied  – es war ausgerechnet der 39. Jahrestag der unglücklichen Reichsverfassung –, die bayerische Vorlage bloß als unverbindliche Leitlinie zu behandeln,30 lehnte sich der erste Entwurf des Unterausschusses III für das Enquête- und Untersuchungsrecht doch deutlich an dieses Vorbild an. Neben redaktionellen Änderungen sah vor allem der vierte Absatz in Gestalt einer Fortsetzung der Untersuchungstätigkeit zwischen den Sessionen eine „echte“ Neuerung vor.31 Das Beweisantragsrecht der Minderheit aus Art. 34 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 RVerf 1919 hatte wieder nicht in den Text gefunden. Für den Berichterstatter war die grundsätzliche Übernahme des­ Enquête- und Untersuchungsrechts offenkundig so selbstverständlich, dass er auf jegliche Erläuterung verzichtete, wobei die Anlehnung an die Reichsverfassung ein Grund gewesen sein dürfte. In den Beratungen standen die Anknüpfung an, aber auch die Auseinandersetzung mit und die Abgrenzung gegenüber dem Weimarer „Vorbild“ im Vorder 25 K.-U. Gelberg (Hg.), Protokolle, 2004, S. 127. Hans Nawiaskys Erinnerung, „daß auch die Militärregierung den Ausschluß der Öffentlichkeit verlangen könne“, ist nur rechtsgeschichtlich interessant. 26 K.-U. Gelberg (Hg.), Protokolle, 2004, S. 128. 27 O. Koellreutter, DJZ 1926, Sp. 857 (858). 28 Zur Position der Richterschaft s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 2. 29 Zur Frage der Untersuchungsöffentlichkeit s. 7. Teil 2. Kap.A. II. 2. e). 30 s. dazu ParlRat II, 1981, S. LXIX sowie die Äußerungen C. Schmids, H. Brills, A. Pfeiffers, A. Süsterhenns und J. Danckwerts, S. 67, 86, 89, 90, 91. Auch die bayerische Staatsregierung hatte sich zwischenzeitlich distanziert (S. LXIII.). 31 ParlRat II, 1981, S. 314.

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

grund. Die Anregung des Ministerialrats in der niedersächsischen Staatskanzlei Justus Danckwerts, „als Ersatz für einen Untersuchungsausschuß dem Staatsgerichtshof die Möglichkeit [zu] geben […], eine Untersuchung zu veranlassen“ – Werner Rosenberg hatte 1926 auf dem Juristentag gefordert, Richter oder zum Richteramt befähigte Externe hinzuzuziehen oder ihnen Teile der Beweiserhebung zu übertragen32 –, war auf dem Konvent chancenlos. Ähnlich wie dem älteren Vorschlag wurde ihr der genuin politische Charakter des Untersuchungsrechts zum Verhängnis. Der Stellvertretende Staatspräsident und Justizminister von Württemberg-Hohenzollern Carlo Schmid (SPD) gab zu bedenken, dass das „Votum eines solchen Untersuchungsausschusses ausschließlich unter politischen Gesichtspunkten zu werten“ sei und es „[i]m Grunde“ keinen Unterschied mache, „ob ein Untersuchungsausschuß die Schlußfolgerung [ziehe…] oder ob das Gesamtparlament […] aus perversen politischen Gründen […] einen Tadel“ ausspreche. Solche Gefahren seien der Preis des Parlamentarismus.  – Ebenso wenig konnte Hermann L. Brills (SPD) Anregung reüssieren, den Artikel auf die beiden Fälle zu beschränken, dass „Gesetzesmaterialien“ gesammelt oder die „Gesetzlichkeit und Sauberkeit von Verwaltungsmaßnahmen“ geprüft werden sollten.33 Stattdessen wurde das allgemeine parlamentarische Selbstinformationsrecht beibehalten, das schon Max Weber 1917 – möglicherweise unbewusst – in der Tradition von § 24 GO-FNV 1848 oder Art. 82 PrVerf 1850 entworfen hatte. Obwohl die politische Untersuchungsfunktion, die Art. 34 RVerf 1919 mit dem Minderheitenrecht ins Stammbuch geschrieben worden war, Sorgen vor einer Wiederholung Weimarer Verhältnisse wachrief,34 blieb sie unangetastet. Welche Durchschlagskraft man diesem Mittel beimaß, zeigt Otto Küsters Annahme, dass die Rücktrittspflicht nach einem Misstrauensvotum überhaupt nicht geregelt werden müsse, weil die Volksvertretung jeden „mißliebigen Kanzler“ dadurch zur Demission zwingen könne, dass sie „bloß fortgesetzt Untersuchungsausschüsse [einsetze…], um die geringfügigste Regierungshandlung zu untersuchen“. Einem derartigen „Druck [könne…] auf die Dauer kein Staatsmann widerstehen“.35 Neben der politischen Untersuchungsfunktion wies der hessische Delegierte Hermann L. Brill (SPD) unwidersprochen auf die Enquêtefunktion hin.36 Stand diese Facette auch zweifellos nicht im Vordergrund, so wurde sie doch auf Herrenchiemsee ebenso wenig verabschiedet wie in Max Webers Ausarbeitungen für Conrad Haußmann oder im Verfassungsrecht der gescheiterten Republik.37

32

s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 3. a) sowie b) und c) zu Werner Rosenbergs Vorschlägen und der daran geübten Kritik. s. ferner S. Schröder, ZParl 1999, 715 (723) m. w. N. zur Weimarer Staatsrechtslehre. 33 ParlRat II, 1981, S. 399 f. 34 Vgl. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 64 f. 35 ParlRat II, 1981, S. 162 f. 36 ParlRat II, 1981, S. 400: („Gesetzesmaterialien zu sammeln“). 37 Krit. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 64 f.: „als alter Zopf nur mitgeschleppt“.

2. Kap.: Die Entstehung von Art. 44 GG

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Eine Streichung des Minderheitenrechts, das die oppositionelle Tendenz jedes parlamentarischen Selbstinformationsrechts in Art. 34 Abs. 1 Satz 1 RVerf 1919 auf die Spitze getrieben und institutionalisiert hatte, wurde nicht ernsthaft erwogen. Ein entsprechender Vorstoß des Bremer Delegierten Theodor Spitta, Bürgermeister und Senator für Justiz und Verfassung sowie Rechtsanwalt und Notar, der sich – wie Max Alsberg auf dem Juristentag von 192638 – dafür einsetzte, das Untersuchungsrecht fortan als Mehrheitsrecht auszugestalten, fand keine Unterstützung. Selbst Fritz Baade (SPD), der in den 1930er Jahren zum „Opfer“ eines Untersuchungsausschusses geworden war, monierte zwar, dass das Minderheitenrecht „im wesentlichen nur dazu gedient [habe], extremen Parteien Material für Agitationszwecke zu liefern“, befürwortete dann aber bloß die Aufnahme von Rechtsschutzmöglichkeiten zugunsten der Betroffenen.39 Eine Schwächung des Minderheitenrechts könnte dennoch mit der „Streichung“ des Beweisantragsrechts des Art. 34 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 RVerf 1919 bezweckt gewesen sein; Motive für diesen Vorschlag, der dem bayerischen Entwurf entsprach, sind nicht dokumentiert.40 Ob es sich um eine bewusste Entscheidung gegen die (extremistischen?) Minderheiten oder ein Redaktionsversehen handelte, lässt sich nicht sicher sagen. Ein Hinweis könnte sein, dass die Untersuchungsausschüsse nach dem Wortlaut des Art. 57 Abs. 2 Satz 1 HChE anscheinend bloß ermächtigt, nicht aber verpflichtet werden sollten, die „erforderlichen Beweise“ zu erheben („können“). Ebenso gut wäre es denkbar, dass man eine ausdrückliche Erwähnung des in der Weimarer Zeit de facto ohnehin auf die Einsetzung beschränkten Beweisantragsrechts41 angesichts der Beibehaltung des minoritären Einsetzungsrechts für überflüssig hielt. Mit der These, es wäre keine sachliche Änderung beabsichtigt gewesen, hat das BVerfG 2002 jedenfalls allen Minderheiten, handele es sich um die Antragsteller oder nicht, über den Wortlaut hinaus ein extensives Beweisantrags- und -durch­ setzungsrecht eingeräumt.42 In Weimarer Tagen unterlag die Verweisung auf die Strafprozeßordnung vielfacher Kritik. Trotzdem blieb es der Sache nach bei dieser Regelung. Die Aufzählung in Art. 57 Abs. 1 Satz 1 HChE, „Zeugen und Sachverständige vor[zu]laden, [zu] vernehmen, beeidigen und das Zwangsverfahren gegen sie durch[zu]führen“, war ausweislich des einleitenden Wörtleins „auch“ nicht abschließend. Ebenso wenig wie über die problematische Verweisungsnorm wurde auf dem Konvent das Verhältnis parlamentarischer und gerichtlicher Untersuchungen diskutiert, das der Weimarer Praxis und Staatsrechtslehre doch so viel Kopfzerbrechen bereitet hatte.43 Die deutlichste Abweichung von Art.  34 RVerf  1919 bestand in den Rechtsschutzmöglichkeiten, die auf Betreiben des schleswig-holsteinschen Delegierten 38

s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 3. b) bb). ParlRat II, 1981, S. 396 ff., 398 f. 40 Vgl. BVerfGE 105, 197 (223). 41 s. 7. Teil 4. Kap. D. 42 BVerfGE 105, 197 ff. s. dazu 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. und krit. 5. Kap. C. 43 s. 7. Teil 3. Kap. B. II. und 5. Kap. B. II. 39

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und Direktors des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel Fritz Baade zugunsten der Untersuchungsbetroffenen in Art. 57 Abs. 5 HChE aufgenommen worden waren.44 Der SPD-Politiker hatte – wie bereits angedeutet – im Sommer 1931 als Reichskommissar selbst unter dem „Roggenuntersuchungsausschuß“ zu leiden, der ihm, obwohl von 28 Mitgliedern bloß sechs der KPD und fünf der NSDAP angehörten, eine Täuschung des Ausschusses sowie ein Fehlverhalten in seiner amtlichen Stellung vorgehalten und einen persönlichen Verweis erteilt hatte.45 Aufgrund dieser persönlichen Erfahrung monierte Fritz Baade eine „abso­lute Lücke der Weimarer Verfassung und […] im Rechtsschutz“.46 Die Konventsmehrheit schloss sich seinen Bedenken an. Um das Verfassungsgericht aber aus politischen Querelen herauszuhalten, sollte es nur prüfen, ob die „Mindestgrundsätze eines geordneten Verfahrens, namentlich [das…] Recht auf Gehör, verletzt“ wären.47 Dagegen konnte sich der Chef der hessischen Staatskanzlei Hermann L. Brill (SPD) nicht mit seinen Bedenken durchsetzen, dass ein „Appell an einen Gerichtshof […] in jedem Betracht […] unmöglich“ wäre und man die vermeintliche „Diffamierung eines Beamten“ ebenso gut als „Durchführung der parlamentarischen Kontrolle“ auffassen könnte.48 So wurde der Rechtsschutz des Untersuchungsbetroffenen zu der einzigen gravierenden Abweichung von Art.  34 RVerf 1919, mit deren Hilfe man auf den extremistischen Missbrauch dieser Bestimmung reagieren wollte; zugleich hätte eine solche Regelung einen Bruch mit dem überlieferten politischen Charakter des Untersuchungsrechts bedeutet. Insoweit vollzog sich dennoch außerhalb des engeren Kontexts eine Veränderung mit bis heute weitreichenden Folgen: In der Weimarer Zeit galt die völlige Injustitiabilität des Verfassungslebens zwangsläufig auch für das Enquête- und

44

ParlRat II, 1981, S. 396 ff. In der Sache ging es um ansehnliche Bezüge für seine Mitgliedschaft in der deutschpolnischen Roggenkommission. Der Ausschuss „mißbilligt[e]“ in seinem Bericht u. a., „daß Dr. Baade [ihn…] durch unwahre Angaben irregeführt“ habe, sich die „hohen Bezüge“, ohne die Regierung zu informieren, habe festsetzen und über „mehrere Monate“ hinweg anweisen lassen. Beantragt hatten diese Rüge die Kommunisten. s.  dazu VerhWRT V (1930/32), Nr. 1080, S. 9 f., 11 f., 19 f. 46 ParlRat II, 1981, S.  396 ff. (Hervorhebung nur hier). Außerdem erinnerte F. Baade an eine erfolglose kommunistische Untersuchungsforderung „auf Beweiserhebung über erhebliche Bestechungen beim Reichszündholzmonopol“. „Wenn dieser Untersuchungsausschuß damals zustande gekommen wäre, so wäre durch das Zusammenwirken von Nationalsozialisten und Kommunisten eine Lüge festgestellt worden, die ein politisches Faktum geworden wäre. [F. Baade hielt es deswegen…] für unerträglich, daß ein politisches Gremium mit dem Instrumentarium der Strafprozeßordnung versehen [werde…], um Feststellungen zu treffen, gegen die es keine ordentliche Appellationsmöglichkeit“ gebe. Zu weit geht S. Schröders, ZParl 1999, 715 Annahme, F. Baade habe davor gewarnt, sich überhaupt an Art. 34 RVerf 1919 zu orientieren. 47 s. den Bericht über den Verfassungskonvent, in: ParlRat II, 1981, S. 538 f. Aus den Beratungen vgl. die Stellungnahmen von Josef Beyerle, ParlRat II, 1981, S. 399 f., 415 f. und Otto Küster, S. 402: „ganz knapp bemessene Justizkontrolle“. 48 ParlRat II, 1981, S. 400 f., 416. 45

2. Kap.: Die Entstehung von Art. 44 GG

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Unter­suchungsrecht.49 Der Verfassungskonvent wollte dem BVerfG stattdessen durch Art. 81 HChE alle „Fragen des Bundesstaatsrechts“ übertragen, zu denen gemäß Art.  82 Nr.  2 HChE u. a. auch Organstreitigkeiten gehörten.50 Mit dieser Vorentscheidung, die sich in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG niederschlagen sollte, ging der politische Charakter des Enquête- und Untersuchungsrechts ein Stück weit verloren. Wie es Peter Lerche allgemein beschrieben hat,51 bestand der Preis einer wirkungsvollen Verfassungsgerichtsbarkeit auch gegenüber dem Enquête- und Untersuchungsrecht in einer Verrechtlichung vormals politischer Vorgänge. Darauf wird noch zurückzukommen sein.52 Letzten Endes ging die Grundentscheidung von Herrenchiemsee dahin, das Enquête- und Untersuchungsrecht grundsätzlich in der überlieferten Form beizubehalten. Insoweit bestätigt sich das allgemeine Urteil, dass „sich der Konvent […] im Schatten der Weimarer Reichsverfassung“ bewegt habe. Auch die Beratungen über dieses parlamentarische Recht oszillierten zwischen den Polen, die „Errungenschaften der Weimarer Verfassung“ zu bewahren, ohne wieder ihren „folgenschweren Konstruktionsfehlern“ zu verfallen (Angela Bauer-Kirsch).53 In diesem Sinne stellte Johannes Masing zu Recht gleich eine doppelte Vorbildfunktion von Art.  34 RVerf  1919 heraus: Einmal habe diese Regelung als „Vorlage und Ausgangspunkt für die Aufnahme des Untersuchungsrechts in das Grundgesetz“ gedient, „zum anderen […] die primäre Sorge der Verhinderung von Mißbräuchen dieses Rechts [gegolten], wie sie […] noch gut in […] Erinnerung“ gewesen seien.54 Offensichtlich waren diese Erinnerungen aber nicht ausschließlich negativ, weil sich die Beratungen andernfalls kaum auf die Ausgestaltung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts konzentriert hätten, um negative Begleiterscheinungen eines im Prinzip bejahten Instituts zu minimieren. Abolitionistische oder limitative Gedanken waren selten und fanden keinen Anklang. Dementsprechend sah Art.  57 HChE keine Totalrevision vor, sondern beschränkte sich auf moderate Modifikationen.55 Man versuchte das Enquête- und Untersuchungsrecht sogar zu stärken, indem die Untersuchungsausschüsse gemäß Art. 57 Abs. 4 HChE „ihre Tätigkeit auch in der Zeit zwischen zwei Tagungen fortsetzen“ können sollten.

49 Aus diesem Grund verlangte E. Jacobi, 34. DJT II, 1927, S. 74 1926, den Rechtsweg gegen den Einsetzungsbeschluss oder seine Ablehnung zu eröffnen. 50 ParlRat II, 1981, S. 321 f. 51 Vgl. P. Lerche, BayVBl. 2002, 649 (651) und zust. P. Badura, StR4 2010, H 50. 52 Zur Kritik an der Entwicklung sowie Abhilfevorschlägen s. 8. Teil 5. und 6. Kap. 53 Vgl. A. Bauer-Kirsch, Herrenchiemsee, 2005, S. 183. 54 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 63 und passim. 55 Ähnl. betonte J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 64, dass es um die „Reichweite des Art.  44 GG“ nicht zu einer „Auseinandersetzung“ gekommen sei, weil die „zurückliegende Praxis der Weimarer Republik keinen hinreichenden Anlaß geboten“ habe.

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

B. Parlamentarischer Rat Die endgültige Fassung von Art. 44 GG entstand in zwei Ausschüssen des Parlamentarischen Rats, dem Organisations- und dem Hauptausschuss; der Redaktionsausschuss beschränkte sich auf eine Überarbeitung des Entwurfswortlauts.56

I. Einsetzungsquorum Die von dem schleswig-holsteinschen Justizminister und stellvertretenden Ausschussvorsitzenden Rudolf Katz (SPD) im „Kombinierten Ausschuss“ – Organisations- und Rechtspflegeausschuss tagten zunächst gemeinsam57 – aufgeworfene Frage, ob angesichts des Missbrauchs, den die Extremisten mit Art. 34 RVerf 1919 getrieben hätten, eine „größere Minderheit“ als ein Fünftel für die Einsetzung ratsam wäre, blieb nach dem Einwurf des späteren Bundesjustizministers Thomas Dehler (FDP), dass „ein Viertel oder ein Fünftel […] doch keine Rolle“ spiele, zunächst offen.58 Heraufgesetzt wurde das Quorum erst acht Tage später auf einen erneuten Vorstoß des künftigen Bundesverfassungsrichters Rudolf Katz hin.59 Anfang Oktober 1948 kam die Einsetzungsminderheit in den Beratungen über die Regelungen zur Einberufung des Bundestags noch einmal beiläufig zur Sprache. Der SPD-Politiker Katz lehnte den Vorschlag Paul de Chapeaurouges (CDU) ab, das Einberufungsquorum für das Plenum von einem Drittel – wie für das Untersuchungsrecht  – auf ein Viertel zu reduzieren. Stattdessen bekundete er wegen der schlechten Weimarer Erfahrungen Sympathie für eine Erhöhung des Einsetzungsquorums auf ein Drittel, konzedierte dann aber, dass man so die „Minoritätsrechte doch zu sehr beschneiden würde“.60 Im Hauptausschuss kam die Frage nicht mehr zur Sprache. – Der Parlamentarische Rat hielt also an der Ausgestaltung des Art.  34 Abs.  1 Satz  1 RVerf  1919 als Minderheitenrecht und damit an der noch älteren Ausrichtung jedes Selbstinformationsrechts als tendenziell oppositionellem Recht fest.61

56 Vgl. K.-B. v. Doemming/R. W. Füßlein/W. Matz, JÖR n. F. 1 (1951), S. 368 und den Abdruck des Entwurfs, ParlRat XIV, 2009, S. 41, 42, 50. Abdruck der Drucksache Nr. 267 auch in ParlRat VII, 1995, S. 51 ff. 57 Vgl. M. F. Feldkamp, ParlRat, 2008, S.  79, 83 f.; Edgar Büttner/Michael Wettengel, in: ParlRat XIII, 2002, S. VII sowie zu den Sitzungen die Übersicht der Sitzungsprotokolle S. CXIX ff. 58 ParlRat XIII, 2002, S. 36 f. Unterstützung erhielt R. Katz durch H. Fecht (CDU). 59 ParlRat XIII, 2002, S. 187. 60 ParlRat XIII, 2002, S. 434. 61 s. 8. Teil 1. Kap. III.

2. Kap.: Die Entstehung von Art. 44 GG

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II. Untersuchungsbefugnisse Anfang November 1948 sprachen sich die Sozialdemokraten Fritz Löwenthal und Elisabeth Selbert im Organisationsausschuss gegen den von Art.  57 Abs.  2 HChE ausgehenden Eindruck aus, dass die Untersuchungsausschüsse ihre Befugnisse delegieren dürften.62 Tatsächlich hatte man nach 1919 das Recht der Ausschüsse anerkannt, statt eigener Ermittlungen Gerichte und Behörden in Anspruch zu nehmen.63 Für die Ausschussbefugnisse regte Fritz Löwenthal außerdem die allgemeine Formulierung an, dass ein „Untersuchungsausschuß […] alle Anordnungen treffen [dürfe], um die erforderlichen Beweise zu erheben und zu sichern“. „[A]lle die Einzelmaßnahmen [aufzuführen…], die auf Grund der Strafprozeßordnung zur Beweiserhebung angeordnet werden könn[t]en“, hielt der SPD-Politiker für überflüssig. Für „Gerichte und Verwaltungsbehörden“ reiche die Verpflichtung aus, „Rechtshilfe […] zu leisten“. Gegenüber diesem Vorschlag gab der Vorsitzende Katz zu bedenken, dass man „wegen des Zeugniszwangsverfahrens“ besser die „Strafprozeßordnung dabei zitieren“ solle. Andernfalls habe der Ausschuss u. U. keine „Möglichkeit […], gegen einen unwilligen Zeugen einzuschreiten“. Während der badische Justizminister Hermann Fecht (CDU) seinem Vorredner zustimmte,64 setzte sich Elisabeth Selbert im „Interesse der Rechtssicherheit“ dafür ein, die Verweisung beizubehalten, weil der Ausschuss kein „freies Beweisverfahren erfinden“ dürfe, sondern an „bestimmte Grenzen“ gebunden sein müsse. Abweichend davon könnten die Befugnisse und Pflichten der Behörden – mit Ausnahme der „Aktenvorlage“ – „mit dem üblichen guten Ausdruck ‚Rechtshilfe‘ umfaßt werden“.65 Man entschied, dass der „Untersuchungsausschuß […] in entsprechender Anwendung der Strafprozeßordnung alle Anordnungen treffen [könne], die er zum Zwecke der Beweiserhebung und Beweissicherung für erforderlich“ halte. „Gerichts- und Verwaltungsbehörden [sollten…] verpflichtet [werden], einem Ersuchen […] um Aktenvorlage und Rechtshilfe Folge zu leisten.“66 Ob bewusst oder unbewusst kamen bei dieser Gelegenheit fast dieselben Überlegungen zum Tragen, die den Weimarer Verfassungsausschuss zur Aufnahme des vielkritisierten Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 veranlasst hatten.67 Eine Erweiterung gegenüber der Reichsverfassung bedeutete möglicherweise die Aufnahme der „Beweissicherung“, während die von diesem Begriff prima facie erfasste Durchsuchung und Beschlagnahme früher überwiegend abgelehnt worden waren.68 62 ParlRat XIII, 2002, S. 738 f. („Der Untersuchungsausschuß und die von ihm ersuchten Behörden können in entsprechender Anwendung der Strafprozeßordnung die erforderlichen Beweise erheben“; Abdruck in Fn. 53. 63 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 221; F. Biedermann, Untersuchungsausschüsse, 1929, S. 85. 64 ParlRat XIII, 2002, S. 740. 65 ParlRat XIII, 2002, S. 738 ff. 66 ParlRat XIII, 2002, S. 746. 67 s. 7. Teil 2. Kap. A. II. 2. c). 68 s. 7. Teil 5. Kap. B. II. 2.

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

Der Redaktionsausschuss änderte diese Fassung bloß geringfügig ab. Insbesondere machten die „Beweiserhebungen“ dem allgemeineren Begriff der „Erhebungen“ Platz.69 Im Hauptausschuss schlug der niedersächsische Abgeordnete Otto Heinrich Greve (SPD) vor, die Verweisung für die Sitzungspolizei auf das Gerichtsverfassungsgesetz zu erstrecken. Carlo Schmids (SPD) Einwurf, ob diese nicht „nach den allgemeinen Bestimmungen der Geschäftsordnung auszuüben“ wäre, sekundierte Felix Walter (CDU). Nach Überlegungen des nordrhein-westfälischen Innenministers Walter Menzel (SPD), dass „das Gerichtsverfassungsgesetz und die Strafprozeßordnung“ „zur Ausfüllung etwaiger Lücken“ dienen könnten, widersprach der spätere Bundesaußenminister Heinrich v. Brentano (CDU), dass die „Geschäftsordnung […] kein materielles Gesetz“ sei. Auf seine Anregung wurde statt des Menzel’schen Kompromissvorschlags, dass „die Vorschriften der Strafprozeßordnung und, soweit die Geschäftsordnung des Bundestags nicht [ausreiche…], des Gerichtsverfassungsgesetzes entsprechend Anwendung“ finden sollten, die heutige Fassung beschlossen.70

III. Öffentlichkeit Anfang November 1948 monierte Adolf Blomeyer (CDU) im Organisationsausschuss, dass der Wortlaut des Art. 57 Abs. 3 HChE im Widerspruch mit der grundsätzlichen Nichtöffentlichkeit der Bundestagsausschüsse den Eindruck erwecke, dass die Untersuchungsausschüsse „an sich öffentlich“ tagen sollten. Besser werde man sie ermächtigen, die Öffentlichkeit ausnahmsweise zuzulassen. Nach dem Hinweis des ehemaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe (SPD), der für Berlin mit beratender Stimme an den Debatten teilnahm, dass die Untersuchungsausschüsse früher allein „auf besonderen Beschluß“ öffentlich getagt hätten, wollte der Vorsitzende Katz (SPD) die Frage der Geschäftsordnung überlassen.71 Felix Walter war ein erklärter „Gegner der Öffentlichkeit auch im Untersuchungsausschuß“ und betonte, dass sich „Leute mit einfacherer Bildung“, die „nicht so redegewandt“ wären, genieren könnten, auszusagen, wenn erst die „ganze Presse“ anwesend wäre. Außer diesem Argument, das schon die Landstände von SachsenWeimar-Eisenach in den 1820er Jahren gegen die Verhandlungsöffentlichkeit vorgebracht hatten,72 warnte der CDU-Politiker, dass viele Dinge „im Interesse aller Beteiligten eigentlich nicht in der Öffentlichkeit herumgezogen werden“ dürften. Wie sein Parteifreund Blomeyer trat er dafür ein, die Untersuchungsausschüsse nur zu ermächtigen, das Publikum zuzulassen. Der Vorsitzende hielt dagegen, dass 69

K.-B. v. Doemming/R. W. Füßlein/W. Matz, JÖR n. F. 1 (1951), S. 368. ParlRat XIV, 2009, S. 42 f. (Hervorhebung nur hier). 71 ParlRat XIII, 2002, S. 742. 72 Vgl. die Erklärungsschrift der Stände, Großherzoglich S. Weimar-Eisenachisches Regierungs-Blatt 1821, S. 18 ff. als Beil. C und dazu 3. Teil in Fn. 127. 70

2. Kap.: Die Entstehung von Art. 44 GG

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Untersuchungsausschüsse zu Angelegenheiten eingesetzt würden, „die das öffentliche Interesse ganz ungemein erregt[en]“. Das „Prinzip der Geheimhaltung“ stehe einer „Klärung“ aber in aller Regel entgegen.73 Elisabeth Selbert (SPD) berichtete von dem hessischen Fall, dass sich ein „Minister und höhere Ministerialbeamte“ erst in den Ausschussverhandlungen hätten rechtfertigen können, nachdem sie „in einer unerträglichen Weise durch die Presse gezogen worden“ seien. Als „wesentliches Moment der Demokratie“ müsse dem Volk vor Augen geführt werden, „daß man selbst mit Regierungsmitgliedern […] tabula rasa [mache, …] aber diejenigen [schütze…], die zu Unrecht […] angegriffen“ würden.74 Ähnliche Überlegungen hatte Clemens v. Delbrück (DNVP) in der Weimarer Nationalversammlung für das Interesse der Minderheit an einer öffentlichen Untersuchung angeführt, wenn eines ihrer Mitglieder zuvor coram publico angegriffen worden war.75 – Paul Löbe warnte, die Sache „zu sehr unter der einen Marke von Korruptionsfällen“ zu sehen; in der Weimarer Republik hätten die „Hauptfälle bei den Untersuchungsausschüssen […] ganz andere Dinge“ betroffen, die – wie etwa die Kriegsschuld – eindeutig in die Öffentlichkeit gehörten. Nach diesem Wortgefecht blieb es vorerst dabei, dass die „Öffentlichkeit […] mit Zweidrittelmehrheit ausgeschlossen werden“ könne.76 Eine ausdrückliche Beschränkung auf die Beweiserhebung, die Art.  44 Abs. 1 GG in Übereinstimmung mit Art. 34 Abs. 1 Satz 2 RVerf 1919 vorsieht, fand noch nicht statt. Im Hauptausschuss nahm der rheinland-pfälzische Justiz- und Kultusminister Adolf Süsterhenn (CDU) wenige Tage später wieder den Vorschlag seiner Parteifreunde auf, die „Tradition, daß Untersuchungsausschüsse in öffentlicher Verhandlung die Beweise erheben“, wegen der jüngsten Erfahrungen fallen zu lassen und die Ausschüsse zu ermächtigen, das Publikum durch Beschluss zuzulassen. Der Kommunist und nordrhein-westfälische Sozial- und Verkehrsminister Heinz Renner widersprach, dass dann der „ganze Sinn eines derartigen Verfahrens illusorisch“ werde, wenn zu dem Einsetzungsquorum von einem Viertel noch die Nichtöffentlichkeit hinzukomme; er fügte hinzu, dass man schließlich anders als 1919 eine „demokratische Verfassung“ schaffen wolle, unter deren Herrschaft das „Volk in alle Ecken der Tätigkeit der Regierung“ hineinleuchten könne. Adolf Süsterhenn (CDU) erwiderte scharf, dass es um „sachliche Untersuchungsarbeit“ und „keine Propaganda“ gehe.77 Während es dennoch im Hauptausschuss dabei blieb, dass die Öffentlichkeit mit Zweidrittelmehrheit ausgeschlossen werden konnte, fiel dieses Bollwerk im Redaktionsausschuss zugunsten der endgültigen Fassung des Art. 44 Abs. 1 Satz 2 GG, der nur eine einfache Mehrheit verlangt.78 73 ParlRat XIII, 2002, S. 744. s. die Überlegungen des Abgeordneten Kuhn, es obliege dem Vorsitzenden, öffentliche Diffamierungen zu unterbinden. 74 ParlRat XIII, 2002, S. 745. 75 s. 7. Teil 2. Kap. A. II. 2. e). 76 ParlRat XIII, 2002, S. 745 f. 77 ParlRat XIV, 2009, S. 41 f. 78 Vgl. K.-B. v. Doemming/R. W. Füßlein/W. Matz, JÖR n. F. 1 (1951), S. 368 f.

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

Die Öffentlichkeitsfrage war also eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen sich eine klare parteipolitische Trennlinie ausmachen ließ: Während KPD und SPD die Öffentlichkeit nahezu vorbehaltlos bejahten, traten ihr die CDU-Politiker entgegen. Besonders drastisch wollte Felix Walter Art. 34 Abs. 1 Satz 3 RVerf 1919 den Rücken kehren, das Publikum grundsätzlich ausschließen und bloß mit Zweidrittelmehrheit zulassen. Die Mehrheit aber hielt an dem Grundsatz öffentlicher Beweiserhebungen fest, der im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts insbesondere für Enquêten propagiert worden war.

IV. Untersuchungsausschüsse und Justiz Insbesondere das Verhältnis zu den Gerichten hatte der Weimarer Staatsrechtslehre und Richterschaft Kopfzerbrechen bereitet.79 Im Parlamentarischen Rat spielte es gleich eine dreifache Rolle: in Gestalt des überkommenen Problems paralleler Untersuchungen, dann als Rechtsschutz der Untersuchungsbetroffenen und zu guter Letzt in der Frage, ob die Gerichte die Untersuchungsausschüsse kontrollieren dürften. 1. Vorrang des gerichtlichen Verfahrens? Indem er, wie in Weimarer Tagen aus den Reihen der Richterschaft gefordert,80 eine parlamentarische Untersuchung vorläufig einstellen wollte, um Kollisionen mit dem Strafverfahren zu verhindern, wärmte der promovierte Jurist und CDUPolitiker Hermann Fecht eine Forderung auf, mit der das Enquête- und Untersuchungsrecht in den vergangenen 100 Jahren mehrfach konfrontiert worden war. Zu Recht hegte der Vorsitzende Katz „große Bedenken“ gegen eine derartige Lösung, auch wenn er Missbrauchsgefahren nicht leugnete. Weil aber nicht gut das „Ergebnis eines sechs Monate dauernden Voruntersuchungs- oder Ermittlungsverfahrens abgewartet werden“ könne, da dann das „aktuelle Interesse“ an einer parlamentarischen Untersuchung erloschen sei, wollte er das Problem – so hatte es auch das Weimarer Schrifttum in der Regel gefordert81 – der „Praxis überlassen“.82 Während Adolf Blomeyer (CDU) als Kompromiss vorschlug, „entweder das Untersuchungsverfahren oder das Strafverfahren aus[zu]setzen“,83 beharrte sein Parteifreund Felix Walter darauf, „daß der Untersuchungsausschuß seine Tätigkeit […] bis zur rechtskräftigen Erledigung des Strafverfahrens“ aussetze, selbst wenn 79

s. 7. Teil 3. Kap. B. II. Zur Weimarer Diskussion s. 7. Teil 3. Kap. B. II. oder S. Schröder, ZParl 1999, 715 (723, 727) m. w. N. 81 s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 5. 82 ParlRat XIII, 2002, S. 740. 83 ParlRat XIII, 2002, S. 741 (Hervorhebung nur hier). 80

2. Kap.: Die Entstehung von Art. 44 GG

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die Verzögerung „Monate oder vielleicht ein ganzes Jahr“ betrage.84 Der Vorsitzende befürwortete dagegen ein Recht des Ausschusses; von einer „Muß-Vorschrift“ befürchtete er, „daß die Untersuchungsausschüsse eigentlich lahm gelegt“ würden, weil jeder „politische Skandal […] auch zu einer strafrechtlichen Untersuchung“ führe.85 Als der rheinland-pfälzische Sozialdemokrat Karl Kuhn von den Bedenken eines Ausschussvorsitzenden berichtete, dass sich das Gericht durch ein „abschließendes Urteil“ des Untersuchungsausschusses „befangen fühlen“ könne, stellte Elisabeth Selbert (SPD) klar, dass die Ausschüsse „kein abschließendes Urteil zu fällen […], sondern nur Feststellungen zu treffen“ hätten. Weiter sprach sie die interessante Frage an, ob der Bundestag der „Kritik der ordentlichen Gerichte unterworfen“ oder der „ordentliche Richter an die Feststellungen eines Untersuchungsausschusses“ gebunden sein solle. Trotz dieser berechtigten Fragen und Bedenken lehnte der Vorsitzende Katz jede Regelung ab und ging stattdessen davon aus, dass die Gerichte von der „Feststellung eines Untersuchungsausschusses“ abweichen, die Untersuchungsausschüsse ihr Verfahren auch ohne ausdrückliche Regelung aussetzen könnten. Darüber hinaus seien Konstellationen denkbar, „wo beide Verfahren nebeneinander [liefen…], ohne sich zu stören“.86 Im Hauptausschuss brachte Felix Walter erneut die Forderung vor, das Untersuchungsverfahren „bis zur rechtskräftigen Erledigung des Strafverfahrens“ auszusetzen, sobald „mindestens der Verdacht einer strafbaren Handlung zutage“ trete. „[G]ewisse Bedenken“, „daß dadurch die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses verschleppt“ werde, müssten im Interesse der „Klarheit der Sache“ zurücktreten.87 Dem Beispiel eines „jungen ängstlichen Staatsanwalt[s]“, der nach einer parlamentarischen Untersuchung keine Anklage mehr riskieren wolle, hielt Rudolf Katz (SPD) die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaft entgegen. Außerdem setzte er den Hauptausschuss davon in Kenntnis, dass der Organisa­ tionsausschuss den Antrag Walter bereits „mit Stimmenmehrheit abgelehnt“ habe. Heinrich v. Brentano (CDU) berichtete aus dem Redaktionsausschuss, dass man, obgleich „sehr vieles“ für eine solche Bestimmung gesprochen habe, von einem entsprechenden „Vorschlag“ abgesehen habe. Als zu groß habe man das Risiko eingeschätzt, dass die „Tätigkeit eines Untersuchungsausschusses praktisch lahmgelegt werden“ könne, indem der Justizminister die Staatsanwaltschaft zur Einleitung eines Strafverfahrens anweise, „das unter Umständen bis zum Abschluß der Wahlperiode hingezogen werden“ könne. Die Entscheidung über die Aussetzung seines Verfahrens müsse dem Ausschuss überlassen bleiben. Ludwig Bergstraesser (SPD) gab zu bedenken, dass eine Untersuchung häufig „Tätigkeit und […] Verhalten einer ganzen Gruppe von Menschen“ betreffe. Dürfte aber bei jedem strafrechtlichen Verdacht „nicht weiter verhandelt werden“, profitierten davon letzten 84

ParlRat XIII, 2002, S. 742 f. ParlRat XIII, 2002, S. 742, 744. 86 ParlRat XIII, 2002, S. 740 f. (Hervorhebung nur hier). 87 ParlRat XIV, 2009, S. 44. Diese Auffassung war für W. Laforet (CSU) „sicher zweckmäßiger und klarer“. 85

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Endes auch diejenigen, gegen die überhaupt nicht strafrechtlich ermittelt werde. Die Beratung endete abrupt, als Felix Walter auf Nachfrage des Vorsitzenden Schmid (SPD) erklärte, dass er nichts beantragt, sondern bloß aus dem Organisationsausschuss berichtet habe.88 Die Mehrheit des Parlamentarischen Rates schloss sich in den Beratungen also den Hoffnungen des Weimarer Schrifttums an, dass sich etwaige Schwierigkeiten, Kollisionen und wechselseitige Beeinflussungen in der Praxis taktvoll erledigen ließen.89 Damit war der in der gescheiterten Republik von der konservativen Richterschaft vehement geforderte Vorrang der Justiz endgültig vom Tisch.90 2. Rechtsschutz der Untersuchungsbetroffenen Mitte September 1948 äußerte der promovierte Jurist Walter Strauß (CDU) im Kombinierten Ausschuss ein „gewisses Unbehagen“ über die Möglichkeit des Art. 57 Abs. 5 HChE, gegen ehrverletzende Feststellungen das BVerfG anzurufen. Demgegenüber hielt es Thomas Dehler (FDP) für selbstverständlich, „daß eine Persönlichkeit das Recht [habe…], gegen unmögliche Feststellungen zu rebellieren“.91 Acht Tage später ließ der Ausschuss Art. 57 Abs. 5 HChE, obwohl Thomas Dehler an einer „gewisse[n] Rehabilitierung“ durch das BVerfG festhalten wollte, auf den Einwand von Rudolf Katz hin fallen, dass eine „gerichtliche Nachprüfung des Ergebnisses eines Untersuchungsausschusses“ bloß „Anlaß zu Komplikationen und politischen Streitigkeiten“ geben werde.92 Von dieser Entscheidung unbeeindruckt, nahm der Redaktionsausschuss die gestrichene Bestimmung als sechsten Absatz wieder auf. Im Hauptausschuss erläuterte der bayerische Ministerialrat Claus Leusser, der kein Mitglied des Parlamentarischen Rats, sondern Beauftragter der Bayerischen Staatsregierung war,93 diesen Schritt damit, dass man die „Diskussion“ über den Schutz „gegen gewisse Untersuchungsausschüsse […], die von radikaler Seite erzwungen“ würden, „noch einmal“ habe „in Gang bringen“ wollen.94 Adolf Süsterhenn (CDU) qualifizierte die umstrittene Regelung als Garantie, dass die Untersuchungsausschüsse „ihr Verfahren nach den Grundsätzen des Strafprozesses […] gestal[te]ten“.95 Am Vormittag hatte Thomas Dehler in anderem Zusammenhang weiterhin betont, dass kein „Untersuchungsausschuß […] souverän, sondern […] eine Behörde im Sinne der Verfassung [sei, die…] den allgemeinen Gesetzen“ unterstehe. Würden das rechtliche Gehör oder die Grund 88

ParlRat XIV, 2009, S. 45 f. Vgl. 7. Teil 3. Kap. B. II. 90 Zu entsprechenden Forderungen von Richtervereinen bzw. W. Rosenberg auf dem Juristentag s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 2. und 3. a). 91 ParlRat XIII, 2002, S. 37. 92 ParlRat XIII, 2002, S. 187. 93 ParlRat XIV, 2009, S. 3 in Fn. 6. 94 ParlRat XIV, 2009, S. 50. 95 ParlRat XIV, 2009, S. 49 f. 89

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rechte verletzt, könne der Betroffene sich an das BVerfG wenden. Dass die „Tätigkeit des Untersuchungsausschusses einer richterlichen Prüfung unterstellt“ werde, bedeute, „hier einen besseren Weg zu gehen, als […] in der Zeit der Weimarer Verfassung“.96 – Dagegen forderte Rudolf Katz (SPD) die Streichung der Rechtsschutzklausel, weil es „höchstwahrscheinlich“ nur um „ganz seltene Ausnahmefälle“ und infolgedessen um eine „überflüssige Inanspruchnahme des höchsten Gerichts“ gehe. Auch warnte er davor, einen „besonderen Ehrenschutz außerhalb der üblichen Gerichte“ zu etablieren. Der Rechtsschutz des Betroffenen wurde da­ rauf mit zehn zu neun Stimmen gestrichen.97 3. Verbot richterlicher Nachprüfung Damit war der Weg für die Regelung des Art. 44 Abs. 4 Satz 1 GG frei, dass die „Beschlüsse der Untersuchungsausschüsse […] der richterlichen Erörterung entzogen“ sind. Walter Menzel begründete den weitergehenden Antrag, ihre „Tätigkeit […] keiner richterlichen Nachprüfung“ zu unterwerfen, mit dem politischen Charakter der Untersuchungsausschüsse. Ohne den allgemeinen Rechtsschutz anzutasten, wollte er „vermeiden, daß irgendein Gericht – vielleicht irgendein Amtsgericht – sich zu einer Kontrollinstanz über den Landtag oder einen seiner Ausschüsse“ aufwerfe und feststelle, „das Verfahren […] sei falsch gewesen und habe deshalb zu falschen Ergebnissen geführt, oder die Behandlung eines Zeugen sei nicht korrekt gewesen, oder es habe eine politische, falsche Bewertung des Tatbestandes stattgefunden und es sei darauf ein Fehlbeschluß gefaßt worden“. Umgekehrt sollten die Gerichte „von den Ergebnissen, von dem Verfahren, von den Zeugenvernehmungen, von den Urkunden und Unterlagen dieses Untersuchungsausschusses völlig unabhängig sein und selbst die Wahrheit suchen“.98 Der Vorschlag basierte einerseits auf der alten und schon zu Art. 34 RVerf 1919 vertretenen These, dass parlamentarisches Untersuchungs- und gerichtliches Verfahren vollkommen unterschiedliche Zwecke verfolgten, so dass sich Ausschüsse und Gerichte nicht in die Quere kommen könnten.99 Andererseits trug er – wie Rudolf Katz betonte – Weimarer Erfahrungen Rechnung, dass sich die Justiz in die politische Auseinandersetzung hatte hineinziehen lassen.100 CDU, CSU und FDP rückten dagegen die richterliche Unabhängigkeit in den Vordergrund: Der Würzburger Staats- und Verwaltungsrechtler Wilhelm ­Laforet (CSU) bezweifelte, ob „nicht der Richter […] in seiner freien Würdigung beschränkt“ werde, obwohl der „Gegenstand, der im Untersuchungsausschuß wie beim strafrechtlichen Verfahren geprüft [werde, …] vollständig in freier Würdigung 96

ParlRat XIV, 2009, S. 47 f. ParlRat XIV, 2009, S. 50 f. 98 ParlRat XIV, 2009, S. 43 f. 99 s. dazu 7. Teil 3. Kap. B. II. oder S. Schröder, ZParl 1999, 715 (723, 727) m. w. N. 100 ParlRat XIV, 2009, S. 45 f., 976. 97

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des Richters bleiben“ müsse.101 Heinrich v. Brentano (CDU) warnte davor, „tatsächlich sehr weitgehend in die richterliche Unabhängigkeit ein[zugreifen]“; schließlich werde es „sinngemäß unter diese einschränkende Bestimmung“ fallen, wenn ein Gericht „bei der Beweisaufnahme […] zu einem anderen Ergebnis“ komme.102 Auch stelle eine abweichende Sachverhaltsbeurteilung immer eine implizite Nachprüfung der Ausschusstätigkeit dar. Adolf Süsterhenn (CDU) monierte, dass mit dem Vorschlag selbst der Fall, dass die Ausschussmehrheit einen Zeugen zum Meineid treibe, der „richterlichen Nachprüfung entzogen“ werde. „[A]bfällige Äußerungen und Kritik“ der Gerichte über das Parlament könne der Vorschlag nicht verhindern, weil sie sich in jedem Urteil abfällig über ein parlamentsbeschlossenes Gesetz äußern könnten. Eine „Schutzbestimmung“ zugunsten des Bundestages führe „auf eine schiefe Ebene, deren Ende nicht abzusehen“ sei.103 Thomas Dehler (FDP) lehnte jede „Bindung“ ab und hoffte stattdessen, „daß der Richter Respekt vor der Tätigkeit eines Untersuchungsausschusses“ haben werde.104 Den vermittelnden Vorschlag des Abgeordneten Greve (SPD), anstelle der parlamentarischen „Tätigkeit“ das „Verfahren“ von der Nachprüfung auszunehmen, quittierte Wilhelm Laforet (CSU) durch Zwischenruf als „selbstverständlich“.105 Walter Menzel betonte, dass die Gerichte natürlich die Beweise frei zu erheben und zu würdigen hätten. Am Besten schütze man die richterliche Unabhängigkeit, indem die „Gerichte erst gar nicht in die Gefahr [kämen…], sich auf ein Glatteis zu begeben, auf dem sie zu leicht ausgleiten könn[t]en“. Sein Vorschlag ziele dagegen auf die „Achtung vor der Souveränität des Parlaments“.106 Sein Parteifreund Rudolf Katz fügte hinzu, dass man bloß sicherstellen wolle, dass sich nicht wie in früheren Tagen „richterliche Urteile über die Tätigkeit einer gewählten Volksvertretung sehr abfällig“ aussprächen.107 In der Abstimmung über die „Einfügung des Absatzes: ‚Die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses unterliegt keiner richterlichen Nachprüfung‘“, unterlag dieser Vorschlag einer knappen Elf-zu-zehn-Mehrheit.108 Die SPD verfolgte ihr Anliegen im Hauptausschuss weiter. Anfang 1949 wurde erneut beraten, ob „mit Rücksicht auf Vorkommnisse im früheren Reichstag“ festzuschreiben wäre, dass die „Tätigkeit des Untersuchungsausschusses […] keiner richterlichen Nachprüfung“ unterliege. Rudolf Katz erinnerte an frühere Versuche, „durch Prozesse, Zivil- oder Strafprozess, den Nachweis zu führen, daß die Vorgänge im Untersuchungsausschuß irgendwie, tatsächlich oder im Ergebnis, unrichtig dargestellt worden“ wären. Erneut widersprach der CDU-Politiker Felix 101

ParlRat XIV, 2009, S.  44. Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle den Zwischenruf: „(Dr. Menzel: Natürlich, das habe ich ausdrücklich gesagt.)“. 102 ParlRat XIV, 2009, S. 44 f. 103 ParlRat XIV, 2009, S. 48. 104 ParlRat XIV, 2009, S. 47. 105 ParlRat XIV, 2009, S. 49. 106 ParlRat XIV, 2009, S. 47. 107 ParlRat XIV, 2009, S. 45 f. 108 ParlRat XIV, 2009, S. 49.

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Walter, dass Gerichte und Staatsanwaltschaften „in größte Schwierigkeiten“ kommen könnten, wenn ein Ausschuss „tatsächliche oder vielleicht gar rechtliche Feststellungen getroffen [habe], daß dieser oder jener Tatbestand nicht [verwirklicht wäre…] oder einen bestimmten Paragraphen rechtlich nicht“ umfasse.109 Nachdem Carlo Schmid und Rudolf Katz betont hatten, dass bloß eine „Kritik des Richters an der parlamentarischen Tätigkeit ausgeschaltet werden“ solle, damit nicht „Zivil- oder Strafprozesse mit dem Zweck geführt werden [könnten], den Nachweis zu erbringen, daß der Untersuchungsausschuß fehlerhaft gearbeitet“ habe, reduzierte Felix Walter (CDU) seine Bedenken auf die Formulierung. Trotzdem unterlag der Zusatzantrag mit zehn gegen elf Stimmen.110 Für die dritte Lesung wurde der Vorschlag im „Fünfer-Ausschuss“ nachge­ bessert:111 Die „Entscheidungen der Untersuchungsausschüsse“ sollten nun zwar einer „richterlichen Nachprüfung nicht unterworfen“, die Gerichte aber ausdrücklich bei der „Würdigung und Beurteilung des der Untersuchung zugrunde liegenden Sachverhaltes […] frei“ sein. Dieser Vorschlag, der Art. 44 Abs. 4 GG bereits recht nahe kam, ging ohne Gegenstimme durch.112 Damit hatte sich das Blatt – verglichen mit der Weimarer Republik – ge­wendet: Gab es vor 1933 noch starke Bestrebungen, den Untersuchungsausschüssen um der richterlichen Unabhängigkeit willen eine simultane Untersuchung zu verbieten,113 wurden jetzt die Gerichte zum Schutz der Untersuchungsausschüsse in die Schranken gewiesen: Das Schrifttum spricht mit Fug und Recht von „spezifische[n] ‚Parlamentsschutznormen‘, die […] vor Einwirkungen und Übergriffen […] der Fachgerichte […] schützen“ sollten.114 Der politische Charakter des Enquête- und Untersuchungsrechts wurde damit bestätigt und gegen justitielle Einmischung gesichert. Freilich konnte Art.  44 Abs.  4 GG nicht verhindern  – das zeigte etwa die Entscheidung des AG Bonn in Sachen „U-Boot“-Untersuchungsausschuss115 –, dass Instanzgerichte über die Ausübung des Enquête- und Untersuchungsrechts durch den Bundestag richteten.116 109

ParlRat XIV, 2009, S. 976 f. ParlRat XIV, 2009, S. 977 (Zitat Katz). 111 Vgl. Art. 57 Abs. 6 in der Fassung des Fünfer-Ausschusses für die dritte Lesung im Hauptausschuss, ParlRat VII, 1995, S.  357. Nähere Einzelheiten, wie dieser Vorschlag zustande kam, sind nicht dokumentiert. Die Existenz des Fünfer-Ausschusses ging auf Bemühungen der CDU/CSU-Fraktion zurück, erneut interfraktionelle Besprechungen aufzunehmen, um die verfahrene Situation zwischen den beiden großen Parteien aufzulösen. Der Fünfer-Ausschuss wurde auf Anregung und unter dem Vorsitz Konrad Adenauers gebildet. Beteiligt wurden an den vom 26. Januar bis zum 28. Februar 1949 dauernden Beratungen je zwei Mitglieder der CDU und SPD; die FDP erhielt eine Stimme. Die übrigen Parteien einschließlich der CSU blieben außen vor. Dazu M. F. Feldkamp, in: ParlRat XI, 1997, S. XXV ff. und ders., ParlRat, 2008, S. 145 ff. 112 ParlRat XIV, 2009, S. 1532. 113 Vgl. 7. Teil 3. Kap. B. II. 2. 114 L. Brocker, NVwZ 2014, 1357 (1358). 115 Vgl. AG Bonn, NJW 1989, 1101. 116 Krit. K.-H. Kästner, NJW 1990, 2649 (2654 f., 2656 f., 2658). 110

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

V. Zeitliche Grenzen Die Regelung des Art.  57 Abs.  4 HChE, dass die Untersuchungsausschüsse „ihre Tätigkeit auch in der Zeit zwischen zwei Sitzungsperioden fortsetzen“ sollten, wurde mit Verabschiedung des Sessionssystems obsolet.117 Im Hauptausschuss erklärten die CDU-Politiker Brentano und Walter auf Nachfrage des Abgeordneten Renner (KDP), dass eine Untersuchung nach dem Ende einer Legislaturperiode „neu aufgenommen“ bzw. „neu beantragt werden“ müsse.118 Entsprechend war der Weimarer Reichstag bis in die fünfte Wahlperiode 1930/32 mit dem ursprünglich von der Nationalversammlung eingesetzten Kriegsschuldausschuss verfahren.119 Feststellung und Vorgehen entsprachen schlicht dem Grundsatz parlamentarischer Diskontinuität.

C. Zwischenergebnis Die Entstehung des Art.  44 GG stand weitgehend im Zeichen der Errungenschaften und der nachteiligen Erfahrungen der ersten Republik. Herrenchiemseer Konvent und Parlamentarischer Rat waren bemüht, die guten Seiten des Art. 34 RVerf  1919 zu bewahren und gleichzeitig die Schwachstellen auszubessern, die in der Vergangenheit den parteipolitischen Missbrauch des Enquête- und Untersuchungsrechts ermöglicht hatten. Beibehalten wurden das Minderheitenrecht, die schneidigen Untersuchungsbefugnisse einschließlich der jetzt (erweiterten) Verweisung auf das Strafprozessrecht, die Beweiserhebungsöffentlichkeit und auch die Verpflichtung von Behörden und Gerichten zur Unterstützung einer parlamentarischen Untersuchung. Aufgrund negativer Weimarer Erfahrungen, dass Extremisten von beiden Seiten des politischen Spektrums Art. 34 RVerf 1919 für ihre Zwecke benutzt hatten, wurde das Einsetzungsquorum von einem Fünftel auf ein Viertel angehoben.120 In der ersten Republik noch teilweise erhobene Forderungen, die Stellung der Minderheiten zu verbessern, kamen verständlicherweise vor diesem Hintergrund nicht mehr zur Sprache. Stattdessen diente es im Gegenteil möglicherweise dem Schutz von Mehrheit und Regierung, dass auf eine Übernahme des minoritären Beweisantragsrechts aus Art. 34 Abs. 1 Satz 2 Hs. 2 RVerf 1919 verzichtet wurde; die Motive für diesen Schritt sind nicht überliefert.121 Freilich liegt es nahe, dass mit dem Fortfall dieser Einflussmöglichkeit jeder extremistischen Agitation der Boden entzogen werden sollte.122 117

ParlRat XIII, 2002, S. 746 ff., 750. ParlRat XIV, 2009, S. 49. 119 Vgl. U. Heinemann, Niederlage, 1983, S. 156, 217. 120 U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (600); B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 25. 121 B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 26. 122 Vgl. R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S. 32; S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 47 f. 118

2. Kap.: Die Entstehung von Art. 44 GG

1125

Obwohl die sinngemäße Anwendung der Strafprozeßordnung in der Vorkriegszeit ihrer Vieldeutigkeit wegen kritisiert worden war,123 fand eine vergleichbare Regelung Eingang in das Grundgesetz, um künftigen Untersuchungsausschüssen Zwangsmaßnahmen gegen unwillige Zeugen zu ermöglichen. Neben diesem aus den Weimarer Verfassungsberatungen bekannten Argument betonte Elisabeth Selbert (SPD), dass die Verweisung auf das Strafprozessrecht das Untersuchungsverfahren in rechtliche Bahnen lenke. Dass der Parlamentarische Rat nicht über eine grundsätzliche Neuregelung nachdachte, sondern die Verweisung nur, wie teils im Vorkriegsschrifttum gefordert,124 auf das Strafprozessrecht erweiterte, um für die Sitzungspolizei den Rückgriff auf das Gerichtsverfassungsgesetz zu eröffnen, zeigt, dass die robusten Untersuchungsbefugnisse über die Parteigrenzen hinweg als Errungenschaft des Art. 34 RVerf 1919 anerkannt waren. Von Ressentiments gegen die jüngste Parlamentsgeschichte waren dagegen die Beratungen über die Untersuchungsöffentlichkeit geprägt. Während SPD und KPD ihre Bedeutung für die Regierungskontrolle betonten, traten die Christdemokraten für eine Revolution der Öffentlichkeitsregelungen ein, indem das Publikum künftig grundsätzlich ausgeschlossen und nur durch eine Zweidrittelmehrheit des Ausschusses zugelassen werden sollte. Dass schließlich lediglich der Fortfall des entsprechenden Ausschlussquorums beschlossen wurde, dürfte ein Kompromiss gewesen sein. Auf das Verhältnis von parlamentarischem Untersuchungsrecht und Justiz, also das Thema der Weimarer Diskussion,125 hatte der Parlamentarische Rat eine überraschende Antwort: Die Versuche der CDU, dem Strafverfahren einen zeitlichen Vorrang einzuräumen, scheiterten. Ebenso wurde der auf Herrenchiemsee auf Betreiben des SPD-Delegierten Baade beschlossene Rechtsschutz der Untersuchungsbetroffenen fallengelassen. Stattdessen unterstreicht Art. 44 Abs. 4 GG gleichermaßen die Eigenständigkeit des parlamentarischen Untersuchungs- wie des gerichtlichen Verfahrens und untersagt den Gerichten, die Beschlüsse der Untersuchungsausschüsse nachzuprüfen. Statt eine klare Abgrenzung zu schaffen, ist die Auflösung von faktischen Konflikten der gegenseitigen Rücksichtnahme überlassen. Bemerkenswerterweise kamen in den Beratungen über das Enquête- und Untersuchungsrecht die Befugnisse des künftigen Verfassungsgerichts nicht zur Sprache. Allen schlechten Erfahrungen und Mahnungen zum Trotz entschieden sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes, dem Bundestag ein robustes Enquête- und Untersuchungsrecht nicht etwa vorzuenthalten, sondern nach Weimarer Vorbild zuzusprechen, und stärkten es im Vergleich mit Art. 34 RVerf 1919 sogar noch gegenüber der Justiz, die sich in der glücklosen Republik vor manchen parteipolitischen Karren hatte spannen lassen. Dagegen legte die Einführung einer starken 123

s. 7. Teil 5. Kap. B. II. Etwa J. W. Jacobsohn, Untersuchungsausschüsse, 1928, S. 53. 125 s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 124

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Verfassungsgerichtsbarkeit den Grundstein für die Rechtskontrolle bei der Einsetzung und  – wie sich letzten Endes zeigen sollte  – das Verfahren der Untersuchungsausschüsse. Anders als man auf den ersten Blick vermuten sollte, führte gerade diese Änderung zu einer Entfernung des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts von seinem historischen Erbe.126

3. Kapitel

Andere Informationsinstrumente A. Ausschussanhörungen und Hinzuziehung von Abgeordneten Zwei Instrumente des Deutschen Bundestages, die während des Konstitutionalismus bestehenden Informationsmöglichkeiten ähneln, sind die Ausschussanhörungen und die Hinzuziehung sachverständiger Abgeordneter zu den Beratungen.

I. Öffentliche Anhörungssitzungen Gemäß § 70 Abs. 1 GO-BT kann ein Ausschuss „[z]ur Information über einen Gegenstand seiner Beratung […] öffentliche Anhörungen von Sachverständigen, Interessenvertretern und anderen Auskunftspersonen vornehmen“. Diese Anhörungen dienen bei Gesetzgebungsprojekten etc. nicht allein der Information des Parlaments127  – die maßgeblichen Stellungnahmen sind in der Regel schon in den ministeriellen Gesetzentwurf eingeflossen –, sondern auch der „Gewinnung gesellschaftlich relevanter und zugleich fachlicher Unterstützung für die unterschiedlichen Standpunkte der Fraktionen“. Als Nebeneffekt sollen sie „öffentliche Aufmerksamkeit für das betreffende Vorhaben“ wecken (Wolfgang Zeh).128 Zu guter Letzt geben die Ausschussanhörungen den verschiedenen Interessengruppen die Möglichkeit, ihre Anliegen an die Volksvertretung heranzutragen.129 Solche „Hearings“ sind also ein Forum des Austauschs zwischen Parlament und Gesellschaft.

126

s. 8. Teil 4. Kap. D. III. sowie 5. und 6. Kap. zu Kritik und Vorschlägen. K. Stern, StaatsR II, 1980, S. 66. 128 W. Zeh, in: HdbStR III3 2005, § 53 Rn. 64; ders., in: Schneider/ders. (Hg.), ParlamentsR, 1989, § 39 Rn. 29. s. ferner S. Schüttemeyer, § 42 Rn. 1, 11 oder J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 75 f. zu den neben der Information bezweckten Anliegen. R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S. 6 f. misst dem Anhörungsrecht ebenfalls einen Doppelzweck bei: „Information der Abgeordneten, Unterrichtung der Öffentlichkeit“. s. zur Haltung des Schrifttums seit den 1950er Jahren S. 53 ff. 129 J. Bücker, ZG 1989, 97 (102 f.). 127

3. Kap.: Andere Informationsinstrumente

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Schon im Dezember 1951 erhielten die Bundestagsausschüsse das Recht zu „öffentliche[n] Informationssitzungen“, zu denen „nach Bedarf Interessenvertreter, Auskunftspersonen und Sachverständige, die Presse sowie sonstige Zuhörer zugelassen“ werden konnten (§ 73 Abs. 2 und 3 GO-BT 1951). Der Ausschussbericht aus der Feder des Mitberichterstatters Karl Gengler (CDU) bezeichnete die „Einführung von öffentlichen Informationssitzungen“ als „wesentliche Neuerung“, obwohl die „Praxis […] zum Teil diesen Weg bereits gegangen“ sei. Als Sinn und Zweck der Informationssitzungen charakterisierte er die „Orientierung der Öffentlichkeit und der Abgeordneten“.130 Am Nikolaustag erläuterte der Vorsitzende des Geschäftsordnungsausschusses Heinrich Georg Ritzel (SPD) das neue Instrument so, dass man sich u. a. zur Förderung eines „netten, guten und ausgeglichenen Verhältnisses zwischen dem Bundestag und der Presse“ zu der „Einführung der sogenannten Hearings nach dem Muster des amerikanischen Parlaments […] unter Zulassung der Presse“ entschieden habe.131 Die ursprüngliche Anregung stammte von dem SPD-Politiker Karl Mommer, der sich ebenfalls auf das US-Vorbild bezogen hatte.132 Gegenüber diesem Vorbild fiel die deutsche Variante deutlich zurück; weder der investigative Grundansatz noch die Zwangsmittel hatten die Atlantikquerung überstanden.133 Bemerkenswert ist außerdem, dass man zwar ausländische Beispiele zitierte, aber die eigene Verfassungsgeschichte seit der Märzrevolution offensichtlich übersah. Eine Veränderung brachte die „kleine Parlamentsreform“ Ende der 1960er Jahre.134 Seither ist die öffentliche Anhörung bei überwiesenen Vorlagen (auch) ein Recht der Ausschussminderheit (§ 70 Abs. 1 Satz 2 GO-BT). Zu anderen Themen kann die Ausschussmehrheit – komplementär zu dem 1969 eingeführten Selbstbefassungsrecht der Ausschüsse135 – öffentliche Anhörungssitzungen beschließen. Diese unterschiedliche Handhabung der überwiesenen Gegenstände einerseits, also insbesondere von Gesetzesvorlagen, und der übrigen Themen andererseits entspricht einem Kompromissvorschlag Hans-Dietrich Genschers (FDP), der u. a. Missbrauchssorgen der CDU gegenüber einem Minderheitenrecht ausräumen sollte.136 – Geht die Initiative von der Minderheit aus, hat sie bei der Auswahl der Auskunftspersonen mitzureden (§ 70 Abs.  2 GO-BT). Im Vorfeld der Anhörung 130

BT-Drs. I/2550, S. 8. BT-Prot. I/179, S. 7412 (Hervorhebung nur hier). Ende Februar 1951 hatte er laut R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S. 38 gar von der Absicht einer „komplette[n] Übernahme des amerikanischen Systems der public hearings“ gesprochen. Zum amerikanischen Vorbild s. K. Stern, StaatsR II, 1980, S. 66 f.; R. Tenhaef, S. 5, 10 ff.; und S. Schüttemeyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 42 Rn. 3 ff. 132 R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S. 33 ff. mit Auszügen aus dem Vorschlag und der Begründung Mommers und den weiteren Beratungen. 133 S. Schüttemeyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 42 Rn. 7. 134 R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S. 42 ff.; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 75; S. Schüttemeyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 42 Rn. 10. 135 P. Schindler, Datenhandbuch II, 1999, S. 2861. 136 R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S. 45 f. 131

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

soll die Fragestellung den Auskunftspersonen mitgeteilt werden, um ihnen eine Vorbereitung zu ermöglichen. Auch kann sie der Ausschuss um eine schriftliche Stellungnahme bitten (§ 70 Abs. 6 GO-BT). In der Anhörung sind alle Fraktionen zu berücksichtigen. Die Reihenfolge ihrer Fragen richtet sich nach dem Stärkeverhältnis.137 Gemäß § 70 Abs. 5 Satz 2 GO-BT kann ggf. eine allgemeine Aussprache mit den Auskunftspersonen stattfinden. Anhörungen können auch in nichtöffentlicher Sitzung durchgeführt werden (§ 70 Abs. 8 GO-BT). Die Protokolle können veröffentlicht werden.138 Weil das autonome Recht des Bundestages die einzige Rechtsgrundlage für diese Anhörungssitzungen bildet, ist niemand verpflichtet, vor einem Ausschuss zu erscheinen oder auszusagen.139 Eine Erweiterung des Anhörungsrechts wurde von der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft abgelehnt; Pflicht und Zwang sollten Untersuchungsausschüssen vorbehalten bleiben.140 In der Praxis führen diese Einschränkungen nicht zu Schwierigkeiten: Anders als ihr amerikanisches Pendant oder die Vernehmungen der Untersuchungsausschüsse geben die „Ausschusshearings“ im Bundestag dem Angehörten eine Möglichkeit, seinen Standpunkt vorzutragen. Auf dieser Basis lassen sich in der Regel sachverständige Auskunftspersonen der verschiedensten Richtungen und Interessengruppen gewinnen.141 Positiv wirkt sich auch die stärkere Sachbezogenheit der Ausschussarbeit gegenüber den Plenarsitzungen des Bundestages aus.142 Während die Ausschussanhörungen in der ersten Zeit keine besondere Rolle spielten, sondern erst ab der fünften Wahlperiode zu parlamentarischen Ehren kamen,143 gehören öffentliche „Hearings“ mittlerweile vor allem bei „schwierigen, konfliktträchtigen Materien“ zum Standard.144 Trotz des benannten Vorbildes aus den Vereinigten Staaten erscheint § 70 GO-BT vor dem Hintergrund der deutschen Verfassungsgeschichte keineswegs als parlamentsrechtlicher Import,145 sondern als konsequente Fortschreibung der enquêterechtlichen Anfänge Mitte des 19. Jahrhunderts. Zu Recht bewerten Teile des Schrifttums dieses Instrument deswegen als „Weiterentwicklung älteren deutschen Parlamentsrechts“, auch wenn die „Initialzündung nach dem Zweiten Weltkrieg

137

W. Zeh, in: HdbStR III3 2005, § 53 Rn. 64. N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 688. 139 N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 688. 140 R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S. 41. 141 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 76. Zur Akzeptanz der Anhörungen bei potentiellen Auskunftspersonen vgl. J. Bücker, ZG 1989, 97 (115). 142 Vgl. J. Bücker, ZG 1989, 97 (104). 143 Zur Entwicklung s. R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S.  5 f., 40; J. Bücker, ZG 1989, 97 (100 f.); S.  Schüttemeyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 42 Rn.  12 ff.; W. Zeh, § 39 Rn. 28 und N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 688 f. 144 S. Schüttemeyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 42 Rn. 22. Zum Ablauf der Anhörungen s. R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S. 69 ff. 145 So zu Recht R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S. 20. 138

3. Kap.: Andere Informationsinstrumente

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[…] aus den Vereinigten Staaten“ gekommen sein soll (Suzanne Schüttemeyer).146 Die äußerlichen Ähnlichkeiten des formellen Enquête- und Untersuchungsrechts des Art. 44 GG mit dem Recht der Bundestagsausschüsse, öffentliche Anhörungen zu veranstalten, sind auf die gemeinsamen verfassungsgeschichtlichen Wurzeln zurückzuführen. Dagegen ist Art. 44 GG keinesfalls, wie teilweise angenommen, die „verfassungsrechtliche Grundlage des Verfahrensinstituts der Anhörung“.147 Im Einzelnen reichen die Wurzeln von § 70 GO-BT bis in die Märzrevolution zurück. Das erste Beispiel liefert § 24 GO-FNV 1848, auf dessen Grundlage die Frankfurter Nationalversammlung jedem „Ausschusse das Recht einräumen [konnte], Zeugen und Sachverständige vorzufordern, zu vernehmen und vernehmen zu lassen, oder mit Behörden in Verbindung zu treten“; später wurde diese Enquêtebefugnis den Ausschüssen generell erteilt.148 Entsprechende Möglichkeiten räumte die preußische Vereinbarungsversammlung ihren Ausschüssen ohne geschäftsordnungsrechtliche „Grundlage“ ein. Das Ende des deutschen Frühlings überdauerten mehr oder weniger vergleichbare Instrumente etwa in Württemberg und Bayern.149 Obwohl weder die Reichstagsgeschäftsordnungen im Norddeutschen Bund noch im Kaiserreich vergleichbare Regelungen kannten, gingen Abgeordnete unterschiedlicher Couleur und selbst konservative Autoren von einem „natürlichen Enquêterecht“ der Volksvertretung aus, das  – begrenzt auf frei­willige Zeugen und Sachverständige – als unmittelbarer Vorfahr von § 70 GO-BT gelten kann. Die wesentlichste Neuerung des heutigen Verfahrens gegenüber diesen verdrängten historischen Vorläufern stellt die Anhörungsöffentlichkeit dar. Im 19. Jahrhundert tagten die Ausschüsse dagegen hinter „geschlossenen Thüren“ (vgl. § 28 GO-FNV 1848). Trotzdem ist der Gedanke, das Publikum zuzulassen, um auf die öffentliche Meinung einzuwirken oder das Vertrauen in den parlamentarischen Prozess zu stärken,150 so alt wie diese freiwillige Form eines Enquêterechts selbst. Ähnliche Motive veranlassten Alexander Bally (Café Milani) im Mai 1848 zu der erfolglosen Forderung, im Volkswirtschaftlichen Ausschuss öffentlich über be­ sonders publikumswirksame Fragen zu beraten.151 Anfang der 1890er Jahre war es einer der Kritikpunkte gegenüber der durch die Regierungen veranstalteten Börsenenquête, dass die Kommission nicht öffentlich getagt hatte.152 Überhaupt galt die Öffentlichkeit als Vorbedingung des Gelingens einer Enquête bzw. als Instrument, um das Publikum an einen schwierigen Sachverhalt heranzuführen. 146

S. Schüttemeyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 42 Rn.  8. Auch J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  76 diagnostiziert Ähnlichkeiten mit „Enquêtebestrebungen des Kaiserreichs“. 147 So aber J. Bücker, ZG 1989, 97 (99); ähnlich R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S. 20. 148 Zu § 24 GO-FNV 1848 als Vorläufer vgl. R. Tenhaef, Anhörungen, 1992, S. 19 f.; J. Bücker, ZG 1989, 97 (99). 149 s. 3. Teil 2. Kap. D. und 4. Teil. 150 Zum heutigen Anhörungsrecht vgl. J. Bücker, ZG 1989, 97 (103). 151 s. 3. Teil 1. Kap. B. I. 2. e). 152 s. 6. Teil 3. Kap. B. I. 4. a). und 5.

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Dass trotz dieser geschichtlichen Kontinuität das amerikanische Beispiel mindestens als „Auslöser“ fungierte, belegt die Ubiquität der zugrundeliegenden Bedürfnisse und Interessen. Insoweit verwies der Ausschussvorsitzende Heinrich Georg Ritzel (SPD) in der Debatte zu Recht darauf, „daß alles Gescheite schon einmal gedacht worden [sei…] und man nur versuchen [müsse…], es noch einmal zu denken und eigenes Denken hinzuzusetzen“.153

II. Hinzuziehung ausschussfremder Abgeordneter Nichts anderes gilt für das Recht bzw. die Pflicht der Bundestagsausschüsse, zu ihren Beratungen auch nicht ausschussangehörige Abgeordnete hinzuziehen. Die Pflicht, zu einer nichtvertraulichen Beratung über einen Antrag aus der Mitte des Bundestages den Erstunterzeichner „mit beratender Stimme an der Sitzung teilnehmen oder sich von einem der anderen Antragsteller vertreten [zu] lassen“ (§ 69 Abs. 3 Satz 2 GO-BT), entspricht einer mittlerweile mindestens gut 150-jährigen Tradition. Eine vergleichbare Regelung findet sich etwa in § 18 Abs. 5 GOPrAbgH  1862.154 Der Norddeutsche Reichstag adoptierte das preußische Reglement zunächst als vorläufige Geschäftsordnung. Danach fand die entsprechende Regel in § 18 Abs. 5 GO-RT 1867 bzw. § 25 Abs. 4 GO-RT 1871 Eingang. Das Reglement der Weimarer Nationalversammlung übernahm eine entsprechende Regelung in § 27 Abs. 4 GO-NV 1919. Wenigstens das eigene Recht des Antragstellers überstand mit § 31 Satz 1 GO-RT 1922 auch die Geschäftsordnungsrevision von 1922.155 Der Deutsche Bundestag knüpfte schließlich mit § 73 Abs. 5 Satz 1 GO-BT 1951 an diese historischen Bestimmungen an. – Ein direkter Vorläufer für die Regel, dass jeder Bundestagsausschuss „[i]n besonderen Fällen […] auch andere Mitglieder des Bundestages zu seinen Verhandlungen mit beratender Stimme hinzuziehen oder zulassen“ soll (§ 69 Abs. 3 Satz 3 GO-BT), findet sich erstmals in § 31 Satz 2 GO-RT 1922. Das Reglement des preußischen Abgeordnetenhauses kannte noch keine Entsprechung, während die Ausschüsse in der Paulskirche sachverständige Abgeordnete aufgrund von § 28 GO-FNV 1848 an ihren Beratungen beteiligten.156 Das bundesdeutsche Geschäftsordnungsrecht hat dieses Instrument in § 73 Abs. 5 Satz 2 GO-BT 1951 rezipiert. 153

BT-Prot. I/179, S. 4712. Wenn einer „Kommission die Vorberathung eines von Mitgliedern des Hauses gestellten Antrages überwiesen [wurde, war…] der Antragsteller und falls der Antrag von mehreren Mitgliedern ausgegangen [war…], das zuerst unterzeichnete Mitglied, […] an den Berathungen […] mit berathender Stimme“ zu beteiligen. Zur Entstehung s. A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 100. 155 „§ 31 GO-RT 1922. Berät der Ausschuß über Anträge von Mitgliedern des Reichstags, so nimmt der Antragsteller, der nicht Mitglied des Ausschusses ist, mit beratender Stimme teil. In besonderen Fällen kann der Ausschuß auch andere Abgeordnete zu seinen Verhandlungen mit beratender Stimme hinzuziehen.“ 156 s. 3. Teil 1. Kap. B. I. 2. c). 154

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B. Enquêtekommissionen 1969 wurden die Enquêtekommissionen im Zuge der „kleinen Parlamentsreform“ in die Geschäftsordnung des Bundestages aufgenommen.157 Vorausgegangen waren erhebliche konstitutionelle Reminiszenzen, indem der Bundestag aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken davon Abstand genommen hatte, externe Sachverständige in gemischte Kommissionen zu berufen und stattdessen – wie in Kaisers Zeiten – die Regierung um die Niedersetzung entsprechender Gremien ersucht hatte.158 Aufgrund der modernen Erfahrungen regte Horst Ehmke 1964 auf dem 45.  Deutschen Juristentag in Karlsruhe an, für gemischte Enquêtekommissionen ein besonderes Gesetz zu schaffen, ihre Befugnisse dagegen dem jeweiligen Einsetzungsbeschluss zu überlassen.159 Nach der unvollkommenen Erfüllung dieser Forderung durch das Geschäftsordnungsrecht orakelte der niedersächsische Parlamentsrat Hans-Horst Giesing, dass „abzuwarten“ bleibe, ob dieses „Instrument praktische Bedeutung“ erlangen werde. Die Enquêtekommissionen qualifizierte er als „eine ‚Kreuzung‘ zwischen einem einfachen Parlamentsausschuß, einem Untersuchungsausschuß und den bisher schon bekannten, meist von der Regierung eingesetzten Sachverständigenkommissionen“.160 Tatsächlich vereinen die Enquêtekommissionen in sich Elemente aller genannten Vorbilder, unterscheiden sich aber auch auf ihre Art von jedem einzelnen.

I. Historische Wurzeln Die Enquêtekommissionen haben in der deutschen Parlaments- und Verfassungsgeschichte keinen unmittelbaren Vorläufer. Stattdessen lehnten es z. B. die Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung ausdrücklich ab, „zur Ermittlung der Interessen der Schifffahrt, Industrie und des Handels der Ostseehäfen, Sachverständige nach Frankfurt [einzuladen, um…] den Berathungen und Discussionen des volkswirthschaftlichen Ausschusses […], mit gleicher Stimmberechtigung wie dessen Mitglieder, bei[zu]wohnen“, weil ein „Anspruch auf Stimmrecht für Nichtmitglieder der Nationalversammlung eine Verletzung ihrer ganzen gesetzlichen Basis sein werde“.161 In einem anderen Fall ist unklar, ob Dritte ohne Mandat mit denselben Rechten wie Ausschussmitglieder an den Beratungen beteiligt wurden.162 157 Zur Entstehung H. Troßmann, JÖR 28 (1979), 1 (119). Abdruck des § 74a GO-BT n. F. und der übrigen Änderungen in BGBl. 1969, 776. 158 Zur Praxis des Deutschen Reichstags s. 6. Teil 3. Kap. A. und B. 159 H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E22 ff.) m. w. N. aus der Bundestagspraxis. 160 H.-H. Giesing, DÖV 1970, 124 (125). 161 Vgl. zu den Ausschussberatungen W. Conze/W. Zorn (Hg.), ProtVwA, 1992, S. 125 sowie den Ausschussbericht bei Wigard, VerhFNV, S. 2678 f. (Hervorhebung nur hier). 162 Möglicherweise nahmen hinsichtlich der Wechselordnung die „Kaufleute de Bary und Pfeffel als Mitglieder der zur speciellen Vorbereitung der Gesammtberathung niedergesetzten Untercommission“ des Gesetzgebungsausschusses teil. s. dazu den Bericht des Gesetzgebungsausschusses bei Wigard, VerhFNV, S. 3558 ff.

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Als Vorläufer der Enquêtekommissionen gilt heute teilweise der Ausschuss zur Untersuchung der deutschen Wirtschaft aus den 1920er Jahren.163 Tatsächlich dürfte der aufgrund eines Spezialgesetzes errichtete „Enquete-Ausschuß“ eher eine Regierungskommission gewesen sein.164 Ähnlich wie im Kaiserreich hatte der Reichstag die Reichsregierung darum ersucht, „einen Ausschuß einzusetzen, der eine Prüfung der Grundlagen der deutschen Gesamtwirtschaft […] und ihrer Verknüpfung mit der Weltwirtschaft vorzunehmen haben“ sollte. Ebenso neu wie nebulös war die Forderung, diesen Ausschuss „beim Reichstag“ einzurichten. Vorausgegangen war eine gemeinsame Enquête durch die Volksvertretung und den Reichswirtschaftsrat. Mitte April 1926 verabschiedete der Reichstag dann ein Gesetz, das das Gouvernement verpflichtete, „einen Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft“ zu schaffen. Alle Mitglieder des Enquêteausschusses wurden von der Reichsregierung einberufen: elf auf Vorschlag des Reichstags und je neun auf Vorschlag des Reichswirtschaftsrats bzw. nach Ermessen der Regierung. Der Ausschuss selbst wählte noch sechs weitere Mitglieder hinzu. Eine personelle Verschränkung mit der Volksvertretung, wie sie für die heutigen Enquêtekommissionen typisch ist, fand nicht statt.165 Sucht man nach historischen Vorbildern, kommen deswegen eher die preußische Eisenbahn- oder die gemischten Enquêten des Kaiserreichs in Frage: Sie dienten auch zur Information der Volksvertretung und waren mit Sachverständigen aus den betroffenen Kreisen, Abgeordneten, aber auch von den Regierungen ausgewählten Mitgliedern besetzt und fanden unter der Regie des Bundesrates statt.166 Im Unterschied zu den heutigen Enquêtekommissionen stand damit ihre Einberufung ebenso wie ihre Zusammensetzung im Ermessen der Regierung, die von Fall zu Fall auch Wünsche der Volksvertretung berücksichtigte. Bei der Übersetzung dieser Erfahrungen in das bundesrepublikanische Parlamentsrecht migrierte das exekutive Einsetzungsrecht zwangsläufig auf den Bundestag. Eine weitere historische Wurzel ist das in den Norddeutschen Verfassungsberatungen sowie im kaiserlichen Reichstag angesprochene und im Schrifttum teils anerkannte „natürliche Enquêterecht“, das seinerseits auf die revolutionäre Praxis der Frankfurter und der Berliner Nationalversammlung zurückführt.167 Von seiner Zielsetzung her ­ähnelt das Recht der Enquêtekommissionen durch seinen Informationszweck zudem Max Webers Wunsch, die Volksvertretung gegenüber der Regierung aufzuwerten, statt sie in „dilettantischer Dummheit“ verkommen zu lassen.168

163

W. Hoffmann-Riem/U. Ramcke, in: Schneider/Zeh (Hg.), ParlamentsR, 1989, § 47 Rn. 1. Vgl. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 58 f. 165 N. N., Untersuchung, 1927, S. 8 ff., 17. 166 s. 5. Teil 3. Kap. E. und 6. Teil 3. Kap. B. 167 Zum „natürlichen Enquêterecht“ in der Diskussion des Kaiserreichs s. 6. Teil 2. Kap. A. II., B. III. 1. c) und V. 168 s. 7. Teil 1. Kap. C. zu Max Webers Konzeption. 164

3. Kap.: Andere Informationsinstrumente

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II. Das Recht der Enquêtekommissionen nach § 56 GO-BT Gewissermaßen parallel zu Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG sieht § 56 Abs. 1 GO-BT das Recht des Bundestages vor, „[z]ur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe […] eine Enquete-Kommission ein[zu] setzen“. Auch das Minderheitenrecht wurde adoptiert, indem das Plenum auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder zur Einsetzung verpflichtet ist.169 Die Kommissionsmitglieder, d. h. auch die externen Experten, werden gemäß § 56 Abs. 2 GO-BT im Einvernehmen mit den Fraktionen benannt und durch den Bundestagspräsidenten berufen. Die institutionalisierte Beteiligung von Sachverständigen oder sachkundigen Dritten als gleichberechtigte Mitglieder gilt als einer der Vorzüge dieses Instruments.170 Gemäß § 56 Abs. 2 GO-BT soll die Zahl der externen Mitglieder neun nicht überschreiten. Sind parteipolitische Gräben bei der Auswahl unüberbrückbar, nominieren die Fraktionen ihre Kandidaten entsprechend ihrer jeweiligen Stärke. Gemäß § 56 Abs. 3 GO-BT entsendet jede Fraktion außerdem mindestens einen, auf Plenarbeschluss hin auch mehrere Abgeordnete in die Kommission. In der Praxis trägt der Bundestag dafür Sorge, dass die Zahl der externen Mitglieder nicht überwiegt, um eine Majorisierung der Parlamentarier zu verhindern.171 Die Beteiligung parlamentsfremder Dritter hat zur Folge, dass eine Enquêtekommission dem Plenum keinen förmlichen Beschlussantrag, sondern lediglich einen „Abschlussbericht“ unterbreiten kann.172 Als Konsequenz der Tatsache, dass die nichtparlamentarischen und parlamentarischen Mitglieder in der Kommission dieselbe Stellung haben, greift das Zitierrecht nicht ein; durch die Geschäftsordnung lässt sich Art. 43 Abs. 1 GG nicht auf ein hybrides Gremium übertragen.173 Der Einwand, alle Kommissionsmitglieder seien parlamentarisch berufen,174 hilft über den Legitimationsmangel nicht hinweg. Im Gegensatz dazu können sich die Regierungsvertreter auf das Zutritts- und Rederecht berufen:175 Die Enquêtekommissionen sind aufgrund ihrer Kreation und der Beteiligung von Parlamentariern dem Bundestag zuzurechnen. Art.  43 Abs.  2 GG soll es den Regierungsvertre 169

s. mit krit. Anm. H. Troßmann, JÖR 28 (1979), 1 (122 f.). N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 445 f.; ders./M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 81; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 40 Rn. 32. 171 W. Zeh, in: HdbStR III3 2005, § 53 Rn. 83. 172 Vgl. G. Kretschmer, DVBl 1986, 923 (924). 173 Mit Unterschieden im Detail N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 22; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 54; W. Hoffmann-Riem/U. Ramcke, in: Schneider/Zeh (Hg.), ParlamentsR, 1989, § 47 Rn. 34 f.; H.-A. Roll, GO-BT, 2001, § 56 Rn. 3. A. A. Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Drs. 7/5924, S. 57: wenigstens analoge Geltung des Art. 43 Abs. 1 GG. 174 M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 43 Rn. 9. 175 Abl. W. Hoffmann-Riem/U. Ramcke, in: Schneider/Zeh (Hg.), ParlamentsR, 1989, § 47 Rn. 36. Im Ergebnis wie hier S. Magiera, in: Sachs (Hg.), GG7 2014, Art. 43 Rn. 9. 170

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

tern als Kehrseite ihrer parlamentarischen Verantwortlichkeit ermöglichen, sich jederzeit vor dem Bundestag zu rechtfertigen, von allen Beratungen Kenntnis zu nehmen und mit ihren Gedanken und Anmerkungen zu diesen beizutragen.176 In diesem Sinne hatte Carl Friedrich Nebenius bereits 1819 zur Begründung des badischen Reglements betont, dass eine „engere Verbindung“ von Regierung und Volksvertretung „durch lebendige wechselseitige Mittheilung und gemeinschaftliche Be­rath­ung nicht anders als nützlich und wohlthätig seyn“ könne, indem der „Geschäftsgang […] beschleunigt, manche förmliche Bothschaft beseitigt, Mißverständnisse in ihrem Ursprunge gehoben, und die Vereinigung der verschiedenen Meinungen erleichtert“ werde.177 Nur eine äußerst formale Interpretation des „Ausschuss“-Begriffs in Art. 43 Abs. 2 GG oder ein Verständnis dieser Norm als bloßes Gegenstück des Zitierrechts könnte die Gegenauffassung tragen.178 Als Konsequenz könnten dem Bundestag zurechenbare Verhandlungen ohne echten sachlichen Grund unter Ausschluss der Bundesregierung stattfinden. Trotz ihrer gravierenden Unterschiede in Besetzung und Status ähneln sich Enquêtekommissionen und Untersuchungsausschüsse funktional; dennoch lässt sich das Recht des Bundestags, eine Enquêtekommission niederzusetzen, keinesfalls aus Art. 44 GG ableiten.179 Obwohl im Schrifttum teilweise vertreten wird, dass das parlamentarische Untersuchungsverfahren nach Art.  44 GG überhaupt nicht für die Bewältigung einer komplexen Enquête geeignet wäre,180 besteht kein Vorrangverhältnis; es liegt im politischen Ermessen des Bundestages, sich für das eine oder andere Instrument zu entscheiden.181 Tatsächlich haben die Enquêtekommissionen dem Untersuchungsrecht bei der Sachstandsermittlung und Gesetzesvorbereitung mittlerweile den Rang abgelaufen,182 so dass Hans-Peter Schneider bildlich von einer „gewissen ‚Erosion‘ des Untersuchungsrechts“ spricht:183 Während Untersuchungsausschüsse in der Regel ad hoc zu konkreten Missständen oder skandalösen Ereignissen eingesetzt werden, kommen die Enquêtekommissionen „zur Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe“ zum Zuge (§ 56 Abs. 1 GO-BT).184 176

N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 34. VerhBad2K 1819/1, S. 50 f. 178 In diesem Sinne aber N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 54. Im Ergebnis dagegen für die Geltung des Zutritts- und Rederechts auch M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 43 Rn. 19, der aber auch das Zitierrecht anerkennen will. 179 So aber L. Kißler, Öffentlichkeitsfunktion, 1976, S. 247, 250. Die eigentliche Grundlage dürfte das „natürliche Enquêterecht“ sein, wie es teilweise schon dem Reichstag zugesprochen wurde; es geht um die allg. parlamentarische Befugnis, sich bei freiwilligen Zeugen und Sachverständigen zu unterrichten. 180 Etwa A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 16. 181 G. Kretschmer, DVBl 1986, 923 (924). 182 M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 17; H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 44 Rn. 3; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 31. 183 H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 44 Rn. 3. 184 J. Bücker, ZG 1989, 97 (106); H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 30. 177

3. Kap.: Andere Informationsinstrumente

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Tendenziell sind sie auf eine längerfristige Tätigkeit angelegt als die kurzlebigeren Untersuchungsausschüsse.185 Sie dienen weniger als Kampfmittel in der parteipoli­ tischen Auseinandersetzung, sondern als sachbezogenes „Informations- und Arbeitsinstrument“.186 Die Grundlage dafür dürfte einmal die Zusammensetzung der Enquêtekommissionen, zum anderen das Fehlen investigativer Befugnisse sein.187 Überhaupt geht das in der Geschäftsordnungsreform von 1980188 nur geringfügig modifizierte Institut der Enquêtekommissionen auf den Wunsch zurück, der Volksvertretung neben dem auf Kontrolle und die Aufdeckung von Missständen zugeschnittenen Untersuchungsrecht (Art. 44 GG) ein neutraleres Werkzeug an die Hand zu geben, um komplexe Aufgaben vorzubereiten. Das Parlament sollte Sachverhalte ohne das „Signal eines scharfen politischen Konflikts“ untersuchen können.189 Aus dem Bericht des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung vom Juni 1969 geht hervor, „daß mehr als bisher das Fachwissen von Experten außerhalb des Bundestages für die Arbeit […] nutzbar gemacht“ werden sollte.190 Erklärtes Ziel war eine Verbesserung der „Information des Abgeordneten und des Gesamtparlaments“.191 Mit den Worten der EnqueteKommission Verfassungsreform vom Ende 1976 sollte der Bundestag „sich direkt, nicht nur durch den Filter der Regierung, diejenigen Informationen aus dem gesellschaftlichen Bereich verschaffen“ können, die erforderlich waren, um „frühzeitig gesellschaftliche Anforderungen zu erkennen und der parlamentarischen Arbeit zugrunde zu legen“.192 Man wollte also durch dieses zusätzliche Informa­ tionsinstrument die parlamentarische Position gegenüber der Regierung stärken.193 Diese Überlegungen unterstreichen die verfassungsgeschichtliche Kontinuität, in der auch das geschäftsordnungsmäßige Enquêterecht steht; vergleichbare Überlegungen wurden schließlich bereits für die ersten Auskunfts- und Selbstinformationsforderungen des 19. Jahrhunderts vorgebracht.194 Mit Expertenkommissionen, die von der Regierung einberufen werden, haben die Enquêtekommissionen gemeinsam, dass ihnen – anders als den Untersuchungsausschüssen – sachverständige Dritte ohne Bundestagsmandat angehören dürfen. 185

N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 81. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 78; ähnl. N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 446; L. Kißler, Öffentlichkeitsfunktion, 1976, S. 249 f. 187 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 30; L. Kißler, Öffentlichkeitsfunktion, 1976, S. 249. 188 Statt von „Vertretern“ ist in § 56 Abs. 3 GO-BT von „Mitgliedern“ die Rede. Vor allem wurde der vierte Absatz angefügt (Abdruck BGBl. 1980, S. 1237). 189 W. Zeh, in: HdbStR III3 2005, § 53 Rn. 84 (Zitat); P. Schindler, Datenhandbuch II, 1999, S. 2250. 190 BT-Drs. V/4373, S. 9 f. 191 BT-Drs. V/4373, S. 3. 192 BT-Drs. 7/5924, S. 57. 193 Vgl. L. Kißler, Öffentlichkeitsfunktion, 1976, S. 250. 194 s. 2. Teil 3. Kap. zur Bedeutung der Entwicklung vor 1848 sowie 3. Teil 4. Kap. für die Märzrevolution. 186

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

Anders als vor einem Untersuchungsausschuss oder in einer Anhörungssitzung nach § 70 GO-BT werden Dritte nicht bloß als Auskunftspersonen angehört, sondern nehmen als gleichberechtigte Mitglieder an der Enquête teil. Statt einer fremdbestimmten, punktuellen Auskunftserteilung stehen in den Enquêtekommissionen dauerhafter Dialog und Zusammenarbeit im Vordergrund.195 Wegen der Beteiligung Dritter werden sie zu Recht nicht als Bundestagsausschüsse,196 sondern als „Beratungsgremien sui generis“ qualifiziert.197 Diesen Unterschied spiegelt auch der Wortlaut des § 56 GO-BT wider, der von „Kommissionen“ statt von „Ausschüssen“ spricht.198 Für das Verfahren der Enquêtekommissionen enthält § 56 GO-BT keine näheren Regelungen. Der Bundestag hat die entsprechende Anwendung seiner Geschäftsordnung beschlossen.199 Mangels gesetzlicher Grundlage verfügen die Enquêtekommissionen nicht über den Befugnissen des Art.  44 Abs.  2 und 3  GG vergleichbare Rechte. Sie sind auf die Kooperationsbereitschaft der privaten Auskunftspersonen und ggf. auch staatlichen Stellen angewiesen.200 Verschiedene Forderungen und Vorstöße, ein spezielles Gesetz zu schaffen, blieben erfolglos.201 Gemäß § 56 Abs.  4 GO-BT haben die Enquêtekommissionen „ihren Bericht so rechtzeitig vorzulegen, daß bis zum Ende der Wahlperiode eine Aussprache […] im Bundestag stattfinden kann“. Andernfalls ist wenigstens ein Zwischenbericht zu erstatten, auf dessen Grundlage der nächste Bundestag entscheiden kann, ob die Kommission erneut eingesetzt werden soll.202 Der Bundestag kann den Bericht einem Fachausschuss überweisen, um einen konkreten Antrag ausarbeiten zu 195 s. mit Unterschieden im Detail H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 31; H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 44 Rn. 3, 13; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 77; J. Bücker, ZG 1989, 97 (105 f.); G. Kretschmer, DVBl 1986, 923; N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 160 f., 446 f. 196 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 31; G. Kretschmer, DVBl 1986, 923 (924). 197 Vgl. L. Kißler, Öffentlichkeitsfunktion, 1976, S.  248; K. Schmittner, ZParl 1972, 209 (221). Krit. G. Kretschmer, DVBl 1986, 923 (924 f.). 198 N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 40 Rn. 22 und Art. 44 Rn. 81. 199 H. Troßmann, JÖR 28 (1979), 1 (120). 200 W. Zeh, in: HdbStR III3 2005, § 53 Rn. 84; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  78; S.  Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S.  70; M. Hilf, NVwZ 1987, 537 (538); H. Troßmann, JÖR 28 (1979), 1 (122). 201 H. Troßmann, JÖR 28 (1979), 1 (119); P. Schindler, Datenhandbuch II, 1999, S. 2250. s.  auch den Bericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Drs. 7/5924, S.  57 (Zitat). Die Kommission forderte, „daß als Rechtsgrundlage für die Arbeit der Enquete-Kommissionen eine besondere Verfassungsnorm und ein allgemeines Verfahrensgesetz geschaffen werden sollten“. Die Enquêtekommissionen sollten gegenüber Landes- und Bundesbehörden vergleichbare Befugnisse wie ein Untersuchungsausschuss erhalten. Gegenüber natürlichen und juristischen Personen und Personengesellschaften sollten sie ebenfalls über die „erforderlichen Befugnisse“ bis hin zu einem „beschränkte[n] Zugriff auf die dem Steuer-, Bankoder Geschäftsgeheimnis unterliegenden Informationen“ verfügen. Wenigstens sollten solche Informationen nur zur Herstellung „genereller Datenübersichten“ dienen dürfen. 202 Vgl. N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 82.

3. Kap.: Andere Informationsinstrumente

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lassen. Auch aus der Mitte des Plenums können die Ergebnisse in einer Initiative aufgegriffen werden.203

C. Zutritts-, Rede- und Zitierrecht I. Historische Entwicklung Das älteste der drei Rechte des Art. 43 GG ist das Zutritts- und Rederecht der Regierungsmitglieder und ihrer Beauftragten. Seine Wurzeln reichen bis auf die Tage des Frühkonstitutionalismus zurück. Vordergründig ging es um die Information der Kammern, die sich durch Rückfragen gegenüber den Regierungsvertretern über die Bedeutung der Propositionen etc. unterrichten konnten. Der badische Finanzrat Carl Friedrich Nebenius, der als Architekt der Verfassungsurkunde von 1818 und des landständischen Reglements gelten kann,204 rechtfertigte das Doppelrecht der Regierung mit einer „bessern Ansicht von dem Verhältniß“ der Gewalten, die „einander nicht entgegengesetzt, sondern durch ihren letzten Zweck zu einem harmonischen Wirken“ für das Gemeinwohl berufen waren. In diesem Sinne hielt er eine „engere Verbindung durch lebendige wechselseitige Mittheilung und gemeinschaftliche Be­rath­ung“ für vorteilhaft, indem der „Geschäftsgang […] beschleunigt, manche förmliche Bothschaft beseitigt, Mißverständnisse in ihrem Ursprunge gehoben, und die Vereinigung der verschiedenen Meinungen erleichtert“ werden könnten.205 Gleichzeitig brachte das Zutrittsrecht der Regierungsmitglieder die monarchische Präponderanz gegenüber dem repräsentativen Faktor zum Ausdruck; möglicherweise war das Recht, den Landtagsverhandlungen beizuwohnen, ein Ausdruck des monarchischen Oberaufsichtsrechts, jedenfalls aber ein Instrument gubernativer Kontrolle. In Kurhessen diente deswegen u. a. der Ausschluss des Landtagskommissars von geheimen Behandlungen der Kammer, also eine „Verletzung“ des Zutrittsrechts, im März 1833 als Auflösungsgrund.206 Ungekehrt gehört auch das Zitierrecht zu den ältesten konstitutionellen Rechten. Zeitlich entstand es nach dem Zutritts- und Rederecht. Es diente von Anfang an sowohl einem sachlichen Austausch mit der Regierung als auch der parlamentarischen Information und einer gewissen Kontrolle.207 Seine Geschichte als Gegenpart des ubiquitären Zutritts- und Rederechts beginnt im 19. Jahrhundert. Schon über § 92 KhVerf­Urk 1831 wurde spekuliert, dass die „Vorstände der MinisterialDepartements“ dazu verpflichtet wären, „der Ständeversammlung persönlich die 203

H.-A. Roll, GO-BT, 2001, § 56 Rn. 4 (Fachausschüsse); W. Zeh, in: HdbStR III3 2005, § 53 Rn. 83 (Fraktionen etc.); H. Troßmann, JÖR 28 (1979), 1 (120) (parlamentarische Initiative). 204 Vgl. J. Beck, C. F. Nebenius, 1866, S. 36 ff., 49 sowie H.-P. Ullmann, in: HdbBWGesch III, 1992, S. 25 (61). 205 VerhBad2K 1819/1, S. 50 f. 206 s. 2. Teil 1. Kap. C. I. 2. und 3., 2. Kap. 3. b) cc) und 3. Kap. A. I. 207 N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 1.

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gewünschte Auskunft zu ertheilen“.208 Traf diese konservative Sorge auch keineswegs zu,209 lieferte der konservative Autor doch eine treffende Beschreibung eines parlamentarischen Zitierrechts. In der Märzrevolution erhielt das Paulskirchenparlament dann ein „echtes“ Zitierrecht gegenüber den Ministern der provisorischen Zentralgewalt (§ 10 Prov­Cen­tralgG 1848). Die relativ moderne Regelung des § 122 RVerf 1849 folgte diesem Schema, indem die Reichsminister „auf Verlangen jedes der Häuser […] erscheinen und Auskunft […] ertheilen“ oder wenigstens den Grund ihrer Weigerung anzugeben haben sollten. Nach der Revolution fand das Zitierrecht in verschiedene Verfassungen Eingang; für die weitere Entwicklung dürften die Art. 58 PrVerf 1848 bzw. Art. 60 PrVerf 1850 am wichtigsten gewesen sein. Ein Zitierrecht der Ausschüsse gab es noch nicht. Generell diente das Recht, die Mitglieder des Staatsministeriums herbeizuzitieren, nach konstitutioneller Auffassung „insbesondere zu dem Zwecke, Aufklärungen bezüglich der zu ihrer Competenz gehörigen Gegenstände zu denselben zu erhalten“ (Heinrich Zoepfl).210 Eine Pflicht der königlichen Minister, Anfragen zu beantworten, wurde überwiegend abgelehnt. Conrad Bornhak qualifizierte die preußische Bestimmung noch im Dreikaiserjahr lediglich als Pflicht „zu einer passiven Assistenz […] ohne praktische Bedeutung“.211 Während die Norddeutsche Bundes- und die 1871er Reichsverfassung nur noch das Zutritts- und Rederecht der Bundesratsmitglieder anerkannten, stellte Art. 33 Abs. 1 RVerf 1919 das Zitierrecht nicht bloß wieder her, sondern rückte es vor das Zutritts- und Rederecht. Außerdem wurde das Zitierrecht auf die Ausschüsse erstreckt. Allen unbestreitbaren äußerlichen Ähnlichkeiten mit dem konstitutionellen Recht zum Trotz hatten sich die früheren Verhältnisse mit dem Übergang zur Republik in ihr Gegenteil verkehrt: Der Reichstag war als Mandatar der Volks­ souveränität in die Rolle des Kontrolleurs gerückt, der die kontrollierten Minister vor sein Forum fordern konnte. Das korrespondierende Zutritts- und Rederecht ermöglichte es der Regierung, ihre Politik vor den Augen der Öffentlichkeit zu verteidigen und sich über die Vorgänge in der Volksvertretung zu unterrichten. Eine gubernative Aufsichtsfunktion war mit diesem Recht nicht mehr länger verbunden.212 Das Schrifttum ging  – mit diesen staatsrechtlichen Umwälzungen konform – teilweise von einer Pflicht zur aktiven Teilnahme an den Beratungen, möglicherweise auch von einer Antwortpflicht aus.213 In der Praxis ließ sich eine sachliche Einlassung mangels wirkungsvoller Verfassungsgerichtsbarkeit jedenfalls nicht erzwingen.214

208

F. Gössel, GeschKhLT I, 1837, S. 246 f. (Zitat); F. Murhard, KhVerUrk II, 1835, S. 416 f. s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 2. b) cc). 210 Dazu nur H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 351. 211 C. Bornhak, PrStaatsR I, 1888, S. 424; L. v. Rönne/P. Zorn, PrStaatsR I5 1899, S. 394. 212 Zu diesem Paradigmenwechsel vgl. 2. Teil 3. Kap. A. I. 213 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 213. 214 s. 7. Teil 3. Kap. B. I. 2. c) aa). 209

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II. Überblick über Art. 43 GG In den Beratungen des Grundgesetzes knüpfte man mit Art. 55 HChE sowohl für das Zitier- als auch für das Zutritts- und Rederecht erkennbar an das Weimarer Vorbild an.215 Durch Art. 43 GG gingen die drei Rechte endgültig in das bundesdeutsche Verfassungsrecht ein. Anders als das Enquête- und Untersuchungsrecht, die „Ausschusshearings“ oder verschiedene andere informationsrechtliche Instrumente auf Grundlage der Geschäftsordnung des Bundestages ist das Zitierrecht nicht auf eine Selbst-, sondern auf die Fremdinformation des Parlaments durch die Bundesregierung hin ausgerichtet.216 Verpflichtete des Zitierrechts sind ausschließlich Mitglieder der Bundesregierung im Sinne des Art. 62 GG, nicht Staatssekretäre oder Beamte.217 Ein herbeizitierter Minister ist  – mit Ausnahme eines anerkennenswerten Verhinderungsgrundes – zur Anwesenheit in den betreffenden Plenar- oder Ausschussberatungen verpflichtet. Anders als in konstitutionellen Tagen haben die Minister kein Recht, einen Beauftragten zu entsenden, statt persönlich zu erscheinen.218 Sinn und Zweck des Zitierrechts ist weniger die Information des Bundestages als eine Kontrolle über die Bundesregierung.219

III. Bestehen einer Antwortpflicht Das bundesrepublikanische Schrifttum ging von Anfang an mehrheitlich im Anschluss an Gerhard Anschütz’ griffige These, dass „‚Anwesenheit‘ […] nicht stummes Dabeisitzen [bedeute], sondern Beteiligung an den parlamentarischen Verhandlungen, insbesondere die Pflicht der Minister, auf Anfragen des Reichstags Rede und Antwort zu stehen“,220 davon aus, dass das Zitierrecht mehr bedeute als ein schlichtes Herbeirufungsrecht. Schon 1953 interpretierte Hermann v. Mangoldt Art. 43 Abs. 1 GG als verfassungsrechtliche Verbürgung des Zitier- wie des Interpellationsrechts.221 Friedrich Klein sprach 1966 von einer „Pflicht der Minister, auf Anfragen […] Rede und Antwort zu stehen“.222 In den kommenden Jahren schlossen sich verschiedene Autoren diesen Thesen an.223

215

Zur Entstehung s. K.-B. v. Doemming/R. W. Füßlein/W. Matz, JÖR n. F. 1 (1951), S. 365 f. N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 2. 217 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 60. 218 B. Pieroth, in: Jarass/ders., GG13 2014, Art. 43 Rn. 3; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 43 Rn. 11, 14; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 9 ff.; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 63 ff.; H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 43 Rn. 3. 219 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 36 f. 220 G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 213. 221 H. v. Mangoldt, GG, 1953, S. 244 f. 222 H. v. Mangoldt/F. Klein, GG II2 1966, S. 936 f. 223 Mit Unterschieden in Reichweite und Detail vgl. F. Möller, RiA 1965, 81 (82); F. Klein, in: S-B/K, GG 1967, Art.  43 Rn.  1, 3; A. Hamann/H. Lenz, GG3 1970, S.  464; F. Giese/ 216

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Trotzdem wurde das Bestehen einer Antwortpflicht bisweilen bestritten. 1984 hat Norbert Achterberg der These, dass das Zitierrecht einschließlich einer Antwortpflicht eine zwangsläufige Folge von Ministerverantwortlichkeit und Parlamentarismus wäre, widersprochen, weil das „parlamentarische Regierungssystem […] der Ausformung durch konkrete Verfassungsnormen“ bedürfe, aber „kein verfassungsrechtliches a priori dar[stelle], aus dem sich ohne weiteres alle möglichen Kontrollrechte ableiten ließen“. Eine Antwortpflicht der Minister hielt er wenigstens für „bedenklich“.224 Zwei Jahre später hat Janbernd Oebbecke die „Herleitung“ einer Antwortpflicht aus Art.  43 Abs.  1 GG als „alles andere als überzeugend“ abgelehnt: Einmal finde sich für diese Interpretation kein Anhaltspunkt im Verfassungswortlaut, obwohl der Verfassungstradition etwa durch § 122 RVerf 1919 eine ausdrückliche Antwortpflicht keineswegs fremd sei. Zum anderen könne ein herbeizitiertes Regierungsmitglied auch auf andere Weise an den Verhandlungen der Volksvertretung teilnehmen, so dass sich seine Anwesenheit eben nicht in einem stummen Dasitzen erschöpfe. Auch die Kontrollfunktion laufe keineswegs leer; ein „Minister, der auf kritische und sachlich fundierte Fragen in Anwesenheit nicht nur der Mitglieder des Bundestages und der Besucher des Parlaments, sondern auch der Vertreter der Presse und der Fernsehkameras [schweige, werde…] kaum ohne schweren politischen Schaden davonkommen, wenn er nicht gute Gründe für sein Schweigen dartun“ könne.225 Trotz des scheinbar scharfen Widerspruchs beider Ansichten dürfte Norbert Achterberg und Martin Schulte darin zuzustimmen sein, dass die praktischen Unterschiede nicht zu groß sind, weil die herrschende Meinung dem zitierten Minister  – in engen Grenzen  – das Recht zugestehe, „die Antwort zu verweigern“.226 Tatsächlich soll eine Weigerung etwa unter Berufung auf den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung, Staats- und Geheimschutzbelange, grundrechtliche Interessen oder auch deswegen statthaft sein, weil die Frage nicht in den Kompetenzbereich des Befragten oder des Bundestages gehört.227 Abweichend davon beschränkt Hans-Peter Schneider das Weigerungsrecht der Regierung in Anknüpfung an die Kernbereichslehre auf den Fall, dass „bestimmte Vorhaben (noch) nicht spruch- oder entscheidungsreif“ sind, „weil sonst die Funktionsfähigkeit der Regierung als eigenständiges Verfassungsorgan selbst in Frage gestellt wäre“.228 Jedenfalls gilt eine allgemeine Missbrauchsschranke.229 E. Schunck, GG8 1970, S. 119; L.-A. Versteyl, in: vMü II, 1976, Art. 43 Rn. 22; H.-P. Schneider, AK-GG II, 1984, Art. 43 Rn. 3; B. Pieroth, in: Jarass/ders., GG 1989, Art. 43 Rn. 2. 224 N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 462 f. und 687 f. 225 J. Oebbecke, Räume, 1986, S. 107 ff. 226 N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 15. 227 Teils abw. und mit Unterschieden im Detail s. L.-A. Versteyl, in: vMüK6 I, 2012, Art. 43 Rn. 26; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 43 Rn. 15; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 14; B. Pieroth, in: Jarass/ders., GG13 2014, Art. 43 Rn. 3 je m. w. N. 228 H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 43 Rn. 3. Krit. und teils einschränkend auch H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 74, 96 ff. 229 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 110.

3. Kap.: Andere Informationsinstrumente

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IV. Zwischenergebnis Obwohl Oliver Lepsius darin zuzustimmen ist, dass Art. 43 Abs. 1 GG nichts über den Umfang des Fragerechts oder der Antwortpflicht aussagt,230 dürfte es unter der Herrschaft des Grundgesetzes nicht damit getan sein, dass ein Regierungsmitglied einfach nur im Bundestag oder einem seiner Ausschüsse erscheint, sich dann aber selbst auf parlamentarische Nachfrage hin nicht aktiv beteiligt. Für eine Äußerungspflicht spricht die persönliche parlamentarische Verantwortung jedes einzelnen Regierungsmitgliedes aus Art. 65 Satz 2 GG.231 Letzten Endes kann die zugrundeliegende Frage aber offenbleiben: Das BVerfG leitet in ständiger Rechtsprechung ein Interpellationsrecht aus dem Status der Abgeordneten sowie dem Demokratieprinzip ab, dessen Grenzen sich grosso modo mit den von der herrschenden Meinung zu Art. 43 Abs. 1 GG geforderten Regeln decken. Auf welche Grundlage man die Antwortpflicht der Regierung stellt, macht deswegen letztendlich keinen Unterschied.232

D. Interpellations- und Fragerechte Wie die Landstände und Deputierten des 19. Jahrhunderts verfügen die Bundes­ tagsmitglieder heute neben der Möglichkeit, im Laufe der Verhandlung informelle Anfragen an die Regierung zu richten, über verschiedene förmliche Fragerechte. Anders als in früheren Tagen handelt es sich mittlerweile um ein ganzes Bündel unterschiedlicher Möglichkeiten: So sieht die Geschäftsordnung „Große“ und „Kleine Anfragen“ (§§ 100–104 GO-BT), eine „Aktuelle Stunde“ zur Befragung der Bundesregierung (§ 106 GO-BT) und Fragen einzelner Abgeordneter (§ 105 GO-BT) vor.233 Mit den verschiedenen Rechten sollen sich die Abgeordneten einerseits mit den für ihre Mandatsausübung erforderlichen Informationen versorgen können. Andererseits sind die Interpellations- und Fragerechte gleichzeitig Ausdruck der parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit und können von den Abgeordneten zur kritischen Auseinandersetzung mit der Bundesregierung instrumentalisiert werden. Während das im Schrifttum teilweise ahistorisch als „Interpellationsrecht“ apostrophierte234 Zitierrecht ein Recht der parlamentarischen Mehrheit ist  – damit scheidet es gleichzeitig als Grundlage des „individuellen“ Fragerechts aus235 –, gilt für die geschäftsordnungsrechtlichen Auskunftsinstrumente in der Regel das allgemeine Fraktions- oder Fünf-Prozent-Quorum des § 76 Abs.  1 GO-Bundestag. 230

O. Lepsius, KJ 2009, 81. H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 70, 37. 232 Ähnl. H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 72. 233 Zur geschäftsordnungsrechtlichen Ausgestaltung der Fragerechte s. H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 89 ff. 234 Etwa A. Hamann, GG, 1956, S. 239; O. Lepsius, KJ 2009, 81. 235 Gegen eine Verbindung der Interpellationsrechte mit Art. 43 Abs. 1 GG zu Recht H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 85; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 7 f.; B. Pieroth, in: Jarass/ders., GG13 2014, Art. 43 Rn. 3. 231

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

Darüber hinaus räumt § 105 GO-BT jedem einzelnen Mitglied des Bundestages das Recht ein, kurze Einzelfragen zur mündlichen oder schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung zu richten. Pro Sitzungswoche sind für solche Fragen 180 Minuten in Form von „Fragestunden“ vorzusehen (Anl. 4 GO-BT). Anders als das Herbeirufungs- und Fragerecht nach Art. 43 Abs. 1 GG sind die verschiedenen Interpellations- und Fragerechte nach der Geschäftsordnung also keine Mehrheits-, sondern Minderheiten- bzw. „individuelle“ Rechte der Abgeordneten.236 Ein weiterer gravierender Unterschied gegenüber dem Zitierrecht besteht darin, dass die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage keine Anwesenheit eines Regierungsmitgliedes voraussetzt.237 Wie bereits angedeutet kann Art.  43 Abs.  1 GG als Mehrheitsrecht nicht die Grundlage für die minoritären oder individuellen Interpellations- und Anfragerechte sein. Rechtsprechung und Schrifttum führen diese in der Geschäftsordnung bloß konkretisierten Rechte vielmehr auf den Status jedes einzelnen Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG zurück. Anders als in konstitutionellen Tagen, als nicht nur die Antwort, sondern selbst jede Reaktion im Ermessen des Interpellierten stand, korrespondiert wegen dieser verfassungsrechtlichen Fundierung dem Fragerecht einer Minderheit oder eines einzelnen Abgeordneten grundsätzlich eine Antwortpflicht der Bundesregierung.238 Diese Antwortpflicht kennt aber auch Grenzen, indem sowohl das Fragerecht als auch die korrespondierende Antwortpflicht ihrem Sinn und ihrer Genese entsprechend doppelt kompetenzakzessorisch sind: Erforderlich ist es einerseits, dass das Fragethema die Befugnisse des Bundestages berührt und andererseits in die Verantwortlichkeit der Bundesregierung fällt.239 Zusätzliche Schranken folgen aus dem Geheimschutz, den Grundrechten und dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung.240 Zu guter Letzt darf das Fragerecht nicht rechtsmissbräuch 236 N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 7; H. H. Klein, in: Maunz/ Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 76, 87. 237 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 80. 238 Vgl. BVerfGE 13, 123 (125); BVerfGE 57, 1 (5); BVerfGE 67, 100 (129); BVerfGE 70, 324 (355); BVerfGE 80, 188 (218); BVerfGE 124, 161 (188 f.) oder aus dem Schrifttum O. Lepsius, KJ 2009, 81 (82); H.-A. Roll, GO-BT, 2001, Vor § 100–105 Rn. 2; S. Magiera, in: Schneider/Zeh (Hg.), ParlamentsR, 1989, § 52 Rn. 17, 37, 52 ff., 62. s. anders noch F. Möller, RiA 1965, 81 (83), demzufolge die Bundesregierung nicht zur Beantwortung einer Großen Anfrage verpflichtet war. Im Fall einer Weigerung könne die Anfrage lediglich auf die Tagesordnung genommen und das Thema so im Bundestag zur Sprache gebracht werden. Das entspricht dem späteren Interpellationsrecht des preußischen Abgeordnetenhauses nach 1862. Vgl. dazu A. Plate, GO-PrAbgH, 1903, S. 121 f. 239 BVerfGE 124, 161 (189); H.-A. Roll, GO-BT, 2001, Vor § 100–105 Rn. 4 ff. O. Lepsius, KJ 2009, 81 (83 f.) fordert, dass das Fragethema entweder die Gesetzgebung oder die parlamentarische Kontrolle betrifft. Krit. zu Einschränkungen des Verantwortungsbereichs der Bundesregierung s. H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 100 ff. 240 s. dazu BVerfGE 124, 161 (189); O. Lepsius, KJ 2009, 81 (84, 85); H. H. Klein, in: Maunz/ Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 106 ff., 113; S. Magiera, in: Schneider/Zeh (Hg.), ParlamentsR, 1989, § 52 Rn. 64 ff.; H.-A. Roll, GO-BT, 2001, Vor § 100–105 Rn. 7 ff.

3. Kap.: Andere Informationsinstrumente

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lich ausgeübt werden.241 Über diese Maßgaben hinaus existieren keine genuinen Geheimangelegenheiten, da die Gemeinwohlverantwortung Regierung und Parlament gleichsam zur gesamten Hand zusteht. Ungeachtet dessen kann die Bundesregierung ausreichende Geheimschutzvorkehrungen zum Junktim einer Informationspreisgabe machen.242 Berechtigten Forderungen hat die Volksvertretung in geeigneter Weise Rechnung zu tragen.243 Will die Regierung eine Anfrage (teilweise) unbeantwortet lassen, ist sie dem Bundestag wenigstens eine plausible Begründung schuldig; andernfalls sind die Fragerechte – bzw. der zugrundeliegende Abgeordnetenstatus und das Demokratieprinzip – verletzt.244

E. Zwischenergebnis Das verfassungskräftige Enquête- und Untersuchungsrecht des Art. 44 GG ist nicht die einzige parlamentarische Informations-, Kontroll- und Kritikmöglichkeit der Volksvertretung. Der Bundestag, seine Ausschüsse, die Fraktionen, ja selbst die einzelnen Abgeordneten verfügen über einen bunten Strauß an Möglichkeiten, um sich eigenständig zu informieren, durch die Bundesregierung und selbst durch außenstehende Dritte oder Sachverständige ins Bild setzen zu lassen.245 Verschiedene dieser Selbstinformations-, Auskunfts- und Kontrollinstrumente sind zwar Ausdruck verfassungsrechtlicher Grundentscheidungen, haben aber keinen ausdrücklichen Niederschlag im Grundgesetz gefunden, sondern werden bloß in der Geschäftsordnung konkretisiert. Auch bei diesen Rechten handelt es sich häufig keineswegs um „Neuschöpfungen“ ohne historischen Hintergrund; das geltende Recht schließt häufig  – teilweise bemerkenswert unbewusst  – an die Parlamentstradition der beiden vergangenen Jahrhunderte an. Selbst für die Enquêtekommissionen, für die es keine unmittelbaren Vorläufer in der deutschen Verfassungsgeschichte gibt, finden sich auf den zweiten Blick doch historische Anknüpfungspunkte, deren wesensändernde Transposition in das bundesrepublikanische Geschäftsordnungsrecht direkt an die gewandelte Rolle der Volksvertretung anknüpft. Ungeachtet dieser Feinheiten lässt sich sagen, dass das Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages die Errungenschaften der Verfassungsgeschichte ebenso wie verschiedene historische Forderungen rezipiert und teilweise unter kräftiger Beimischung neuer Gedanken fortentwickelt hat.

241

BVerfGE 124, 161 (198); H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 110. s. O. Lepsius, KJ 2009, 81 (85); H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art.  43 Rn. 103 f., der aber der parlamentarischen Seite in Rn. 105 das letzte Wort über die Geheimhaltung zuspricht. 243 BVerfGE 124, 161 (193). 244 BVerfGE 124, 161 (192 ff.); H.-A. Roll, GO-BT, 2001, Vor § 100–105 Rn. 3. 245 Vgl. die Auflistung bei S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 56 ff. 242

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

4. Kapitel

Entwicklungslinien von 1949–2015 Allein dem Verfassungswortlaut und der Entstehungsgeschichte des Art. 44 GG nach deutet im Verhältnis zu Art. 34 RVerf 1919 vieles auf einen hohen Kontinuitätsgrad der Entwicklung hin. Wichtiger als der Befund eines zwangsläufig oberflächlichen Textvergleichs ist allerdings, was Wissenschaft und Rechtswirklichkeit aus dem Buchstaben des Grundgesetzes gemacht haben. Um das moderne Enquête- und Untersuchungsrecht vor dem historischen Hintergrund von beinahe 200 Jahren richtig einzuschätzen, um ggf. Kritik üben und Änderungsvorschläge entwickeln zu können, ist es deswegen als Vorarbeit erforderlich, die groben Entwicklungslinien nachzuzeichnen. Ohne jedes Detail ausloten zu müssen, wird dabei einerseits das Bemühen in Rechtsprechung und Wissenschaft deutlich, die mit Art. 34 RVerf 1919 erreichten Errungenschaften in die Gegenwart zu retten, ohne die Nachteile der historischen Rechtslage zu rezipieren. Dabei lassen sich teilweise überkommene Fronten erneut ausmachen. Darüber hinaus ist es insbesondere durch die Stärkung der Minderheitenrechte durch das BVerfG zu einer bemerkenswerten Fortentwicklung gekommen, die das Wesen des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts gegenüber seinen Ursprüngen verändert hat.

A. Die Reichweite des formellen Enquête- und Untersuchungsrechts I. Die Korollartheorie Im Kern soll die Reichweite des formellen Enquête- und Untersuchungsrechts seit 100 Jahren mit Hilfe der materiellen Parlamentskompetenzen vermessen werden. Neu sind teilweise von der „Korollartheorie“ abgelöste funktionale Beschränkungsversuche auf die Regierungskontrolle. 1. Die herrschende weite Korollartheorie Es ist eine triviale Erkenntnis, dass der Bundestag seinen Untersuchungsausschüssen keine weitergehenden Befugnisse übertragen kann, als er selbst besitzt.246 Indem sich § 1 Abs. 3 PUAG auf den „Rahmen der verfassungsmäßigen Zuständig 246 s. aus der Fülle des Schrifttums etwa B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 63 ff.; S. Magiera, in: Sachs (Hg.), GG7 2014, Art. 44 Rn. 7; K. Pabel, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hg.), VerfRspr2 2011, S.  381 (384 f.); G. Kretschmer, in: S-B/H/H, GG11 2008, Art. 44 Rn. 7; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 19 ff.; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art.  44 Rn.  2 ff.; M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn.  37;

4. Kap.: Entwicklungslinien von 1949–2015

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keit“ bezieht, erhält die „Korollartheorie“ gesetzliche Weihen.247 Anders als in der Weimarer Staatsrechtslehre dominiert unter der Herrschaft des Grundgesetzes die weite Spielart dieser Lehre, weil der Bundestag unangefochten das zentrale Verfassungsorgan ist.248 In diesem Sinne hat das BVerfG 1987 ausdrücklich anerkannt, dass die „Untersuchungsausschüsse […] das Parlament bei seiner Arbeit unterstützen und seine Entscheidungen vorbereiten“ sollen. Obwohl das „Schwergewicht […] naturgemäß in der parlamentarischen Kontrolle von Regierung und Verwaltung“ liegt, soll die „Untersuchungskompetenz […] nicht auf diesen Kernbereich beschränkt“ sein, sondern sich „innerhalb des Aufgabenbereichs des Bundestages“ weiter erstrecken. Eine parlamentarische Untersuchung kommt deswegen zur Überzeugung des Zweiten Senats „nicht nur zur Vorbereitung rechtsverbindlichen parlamentarischen Handelns im Bereich der Gesetzgebung und der Kontrolle von Regierung und Verwaltung sowie der Wahrung des Ansehens des Bundestages selbst“, sondern auch dann in Betracht, wenn „lediglich Empfehlungen politischer Art angestrebt“ werden.249 Das Gericht hält also die Vorbereitung einer parlamenD. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S.  31 ff.; D. C. Umbach, in: U/C (Hg.), GG II, 2002, Art.  44 Rn. 32; H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 44 Rn. 6, 7; C. Link/H. de Wall, JZ 1992, 1152 (1154); G. Kretschmer, DVBl 1988, 811 (813); A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 17 f.; N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 446 f.; R. Scholz, AöR 105 (1980), 564 (593); H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 7; F. Möller, RiA 1965, 81 (85); U. Keßler, AöR 88 (1963), 313 f. je m. w. N. oder aus den 1950er Jahren H. v. Mangoldt, GG, 1953, S. 249. 247 Vgl. S. U. Pieper, in: ders./Spoerhase, PUAG, 2012, § 1 Rn. 11; P. J. Glauben, in: ders./ Brocker, PUAG, 2011, § 1 Rn. 23; ders., DVBl 2012, 737 (738); N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 2; S. Magiera, in: Sachs (Hg.), GG7 2014, Art. 44 Rn. 7; M. Schulte, Jura 2003, 505 (506). 248 Vgl. mit Unterschieden im Detail B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn.  61; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 4 f.; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 20; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn.  5 f.; D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S.  34 ff.; C. Link/H. de Wall, JZ 1992, 1152 (1154); U. Di Fabio, Rechtsschutz, 1988, S. 37 ff.; E.-W. Böckenförde, AÖR 103 (1978), 1 (7 f., 8 f.); wohl auch U. Keßler, AöR 88 (1963), 313 (314) und sehr weit J. Kölble, DVBl 1964, 701 ff., der das Untersuchungsrecht nicht bloß als Korollar der Gesetzgebungsbefugnisse und der Kontrolle über die Bundesregierung auffasst, sondern ebenso der Volksvertretungsfunktion als „Forum der Nation“ zuordnet und sogar der föderalen Gewährleistungspflicht des Bundes anvertraut (Art.  28 Abs.  3 GG); Untersuchungen im gliedstaatlichen Kompetenzbereich kommen so nicht bloß mittelbar zur Kontrolle der Bundesregierung in Betracht. s.  ferner W. Becker, DÖV 1964, 505 (507 f.) zur Zulässigkeit der Vorbereitung eines Missbilligungsbeschlusses gegen einen Minister oder zur Untersuchung von Abgeordnetenfehlverhalten. Schon in den Anfangsjahren der Republik wurde die Reichweite des Untersuchungsrechts weit verstanden und auf die materiellen Bundestagskompetenzen bezogen, ohne ausdrücklich auf Egon Zweigs Korollartheorie zurückzugreifen. s. etwa H. v. Mangoldt, GG, 1953, S. 249 oder A. Hamann, GG, 1956, S.  240: „Das Recht […] des Bundestages, Untersuchungsausschuss einzusetzen, ist – selbstverständlich im Rahmen seiner Zuständigkeit – gegenständlich nicht beschränkt“. 249 BVerfGE 77, 1 (43 ff.) (Hervorhebung nur hier). J. Jekewitz, RuP 2001, 178 (179) geht dagegen davon aus, dass das BVerfG „gerade nicht auf die Korollartheorie abgestellt, sondern offengelassen [hat], wie weit Privatwirtschaft und private Lebensverhältnisse zum Gegenstand parlamentarischer Untersuchungen gemacht werden dürfen“.

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

tarischen Resolution für einen ausreichenden Untersuchungsanlass. Nebenbei bestätigt sich damit Egon Zweigs These, dass das parlamentarische Selbstinformationsrecht ein „Gradmesser für Stärke und Lagerung der in einem Staat wirksamen politischen Spannungsverhältnisse“ ist,250 indem sich die zentrale Rolle des Bundestages in einer extensiven Auslegung des Art. 44 GG manifestiert. 2. Eine Wiederbelebung engerer Spielarten? Gegenüber dieser herrschenden Meinung konnte der merkwürdig rückwärtsgewandte Versuch des HessStGH, das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht auf die Vorbereitung „im Rahmen der verfassungsmäßigen Zuständigkeit des Parlaments liegende[r], mit Rechtsverbindlichkeit ausgestattete[r] Hoheitsakte“ zu beschränken, nicht bestehen. Bezeichnenderweise beriefen sich die Wiesbadener Richter 1966 u. a. ausgerechnet auf Erich Kaufmanns konservative Kampfschrift gegen den Kriegsschulduntersuchungsausschuss, die noch ganz in antiquierten Staatsauffassungen verwurzelt war.251 Im Schrifttum waren mit unterschiedlichem Akzent teilweise vergleichbare Überlegungen anzutreffen.252 3. Bewertung Tatsächlich entsprechen solche funktionalen Beschränkungsversuche eher einer konstitutionellen Staatsauffassung, die dem Parlament bloß eine Mitwirkung an bestimmten Hoheitsrechten des Monarchen zugesteht.253 Eine Beschränkung auf eben diese verbindlichen Entscheidungen ist dann zwangsläufig. Zu Recht hat es dagegen Udo Di Fabio 1988 als Ausdruck eines antiquierten Staatsverständnisses abgelehnt, die Volksvertretung auf die klassische Funktionstrias Legislative, Kreation und Kontrolle zu reduzieren. In der parlamentarischen Demokratie

250

E. Zweig, ZfP 1913, 265 (269). HessStGH, DÖV 1967, 51 (55) (Hervorhebung nur hier). Zu Kaufmanns Schrift s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 1. a) cc). 252 Vgl. F. Halstenberg, Verfahren, 1957, S. 23, 34 ff., 47 f., 50 im Hinblick darauf, dass der „Einsatz der staatlichen Befehls- und Zwangsgewalt […] der Rechtfertigung durch einen über die reine Wahrheitsermittlung hinausgehenden konstruktiven Zweck“ bedürfe (S. 37). s. ferner M. Schröder, 57. DJT, 1988, S. E24 f., der verlangt, dass eine Untersuchung „vorbereitenden Charakter im Hinblick auf Gesetzgebungsakte oder solche zur Kontrolle der staatlichen Aktion“ habe. 253 Gegen den HessStGH etc. s. in diesem Sinne bzw. mit verwandten Argumenten etwa N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 4 f.; P. J. Glauben, in: ders./ Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn.  4; D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S.  33 f.; M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S.  77 f.; B. K. Buchholz, Betroffene, 1990, S.  32 f.; E.-W. Böcken­förde, AÖR 103 (1978), 1 (6 f.) und in Fn. 4. 251

4. Kap.: Entwicklungslinien von 1949–2015

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des Grundgesetzes ist der Bundestag zur aktiven Partizipation an der Staatsleitung berufen.254 Dementsprechend erschöpfen sich der Sinn und Zweck des Untersuchungsverfahrens heute keineswegs mehr in einer Vorbereitung rechtsverbindlicher Plenar­entscheidungen. Mindestens ebenso wichtig sind der Akt der öffentlichen Beweiserhebung selbst und die Publikation des Abschlussberichts mit den Stellungnahmen der Mehrheit wie der Minderheit, die ihre Sicht der Dinge über dieses Medium vor das „oberste Tribunal der öffentlichen Meinung“255 bringen können.256 Während das BVerfG vor diesem Hintergrund einen rechtlich unverbindlichen politischen Appell in Form einer Bundestagsresolution zu Recht ausreichen lässt, schnürt die „Rechtsfolgenfixiertheit“ des HessStGH das parlamentarische Selbstinforma­tionsrecht in ein viel zu enges Korsett.257 Wäre die Vorbereitung „rechtserheblicher“ Akte zudem wirklich Conditio sine qua non einer Ausübung des Enquête- und Untersuchungsrechts, würde die zahlenmäßige Unfähigkeit der Minderheit, eine solche Sachentscheidung durchzusetzen, zwangsläufig zum logischen Problem. Indem diese Konsequenz natürlich niemand zieht, entpuppt sich der vermeintliche Konnex von Untersuchung und rechtsverbindlicher Parlamentsentscheidung als virtueller Natur, dient in Wahrheit einer von anderen Sorgen und Motiven getriebenen thematischen Zähmung des politischen Untersuchungsrechts. Sollte es dagegen ausreichen, dass jede Enquête potentiell in ein Miss­trauensvotum oder einen Gesetzesbeschluss münden könnte, büßte das vermeintliche Begrenzungskriterium jede distinktive Kraft ein.258 Ein derartig ufer­ loses Vorverständnis führte zudem „bei geschickter Formulierung des Einsetzungsantrags zu dem selben Ergebnis, wie die weite Auslegung“ (Marc Köhler).259 254 U. Di Fabio, Rechtsschutz, 1988, S. 34 ff. Die dem Monarchen vorbehaltene Kreationsfunktion gehörte freilich nicht zu den „klassischen“ landständischen Aufgaben. 255 Ende 1863 warnte P. Reichensperger das preußische Abgeordnetenhaus, die gouvernementalen Wahlmanipulationen ohne valide Beweise vor diesem metaphorischen „Gerichtshof“ anzuklagen (VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 180). 256 Vgl. L. Brocker, NVwZ 2014, 1357 (1358); H.-P. Schneider, NJW 2001, 2604 (2605); B. K. Buchholz, Betroffene, 1990, S. 33. s. auch 8. Teil 5. Kap. zur Kritik an der neueren Entwicklung. 257 Zur Bedeutung der öffentlichkeitswirksamen Untersuchung vgl. D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 35 f.; K.-H. Kästner, NJW 1990, 2649 (2651) und H. Meyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 4 Rn. 85 sowie allg. zur politischen Dimension des Enquête- und Untersuchungsrechts B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 61 („politisches Forum“); N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 5 ff. („Forum der Nation“); G. Kretschmer, DVBl 1988, 811 (814); M. Schröder, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 46 Rn. 8 f. oder BVerfGE 105, 197 (225 f.): „besondere Natur des Untersuchungsverfahrens als Aufklärungsinstrument im Rahmen der politischen Kontroverse“. 258 G. Memminger, DÖV 1986, 15 (21). Auch J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 179 ff. kritisiert die enge Spielart der Korollartheorie, die dem ursprünglichen Anliegen nicht gerecht werde und mit der Unterscheidung von rechtsverbindlichen und unverbindlichen Parlamentsentscheidungen das vermeintlich logische Band von Aufgabe und Befugnis durchtrenne. Zur Beschränkung sei sie ungeeignet, weil jeder Sachverhalt wenigstens als Anknüpfungspunkt für eine Verfassungs- oder Gesetzesänderung tauge. 259 M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 80.

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An der herrschenden Meinung ist – schon weil sie lediglich den verfassungsrechtlichen Vorgaben folgt – festzuhalten.

II. Kontrollrechtliche Gegenmodelle Verschiedene Autoren verabsolutieren den politischen Aspekt des parlamentarischen Selbstinformationsrechts, indem sie den Anwendungsbereich des Art. 44 GG auf staatsgerichtete Untersuchungen beschränken wollen; insbesondere privatgerichtete Enquêten, teilweise aber selbst eine Gesetzesvorbereitung in den Formen des Art. 44 GG gilt dann als unzulässig.260 1. „Gesetzesverstöße und Pflichtverletzungen“ In den Weimarer Verfassungsberatungen wollte Hugo Preuß das Untersuchungsrecht auf den politisch brisanten Fall beschränken, dass „Gesetzlichkeit oder Lauter­keit von Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen des Reichs angezweifelt“ würden.261 Fast 70 Jahre später befürwortete Gerhard Memminger eine vergleichbare Limitierung des Art. 44 GG auf die Kontrolle gouvernementaler „Gesetzesverstöße und Pflichtverletzungen“; eine allgemeine „politische Richtungskontrolle“ lehnte er ab.262 Der Korollartheorie kreidete er einen falschen parlamentarischen Gewaltenmonismus an, obwohl die Regierung unter dem Grundgesetz gleichermaßen als „‚politische‘ Gewalt“ konzipiert wäre und über demokratische Legitimation verfüge.263 Beschränkungsversuchen auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle hat Gerald Kretschmer bereits 1988 zu Recht entgegengehalten, dass sie das parlamentarische Selbstinformationsrecht letzten Endes funktional zu dicht an das gerichtliche Verfahren heranrücken wollten, obwohl nicht die rechtlichen, sondern die politischen Fol 260 s. etwa C. Seiler, AÖR 129 (2004), 378 (404) mit der Forderung, Art. 44 GG wieder an die „parlamentarische Kontrollfunktion anzubinden“, die sich primär gegen Regierung und Verwaltung richte und eine „parlamentarische Eigenkontrolle“ einschließe. Die Korollartheorie ermögliche staats- und gesellschaftsgerichtete, „umfassende Ermittlungen“, ohne plausible Antworten auf die Kompetenzfragen anzubieten. Krit. auch K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ders. (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. E Rn. 9 („parlamentarische Regierungskontrolle“ und „Klärung institutioneller Verantwortlichkeit“ als alleinige Zielsetzung des Untersuchungsverfahrens); H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 104 ff. oder J. Menzel, in: Löwer/Tettinger (Hg.), VerfNRW, 2002, Art. 41 Rn. 7. 261 Abdruck bei H. Triepel, QuellenSlg5 1931, S. 6 ff., 10 ff. 262 G. Memminger, DÖV 1986, 15 ff. Zur Kontrolle von „Regierung und Verwaltung hinsichtlich etwaiger Gesetzesverstöße und Pflichtverletzungen“ s. auch  – wohl ohne Festlegung  – N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 11; in der folgenden Rand­ nummer ist von „vermutete[n] Misstände[n]“ die Rede. 263 G. Memminger, DÖV 1986, 15 (17).

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gen im Vordergrund stünden.264 Demgemäß ist die politische Kontrollfunktion, die Gerhard Memminger noch 1986 ein Dorn im Auge war, heute zu Recht allgemein akzeptiert.265 Das Enquête- und Untersuchungsrecht war und ist in aller Regel von jeher kein Instrument zur objektiven Wahrheitsfindung, sondern bot und bietet den Parteien einen institutionellen Rahmen, um mit der Regierung ebenso wie untereinander um die richtige Deutung eines kontroversen Sachverhalts zu ringen. Dem Politischen kommt im parlamentarischen Untersuchungsverfahren zwangsläufig eine Präponderanz gegenüber anderen Belangen zu.266 2. Johannes Masings staatsgerichtetes Untersuchungsrechtsmodell Zwölf Jahre später unternahm Johannes Masing einen Versuch, das Enquêteund Untersuchungsrecht auf seine vermeintlich exklusive staatsgerichtete Funktion zurückzuführen. Dabei ging es insbesondere um eine Verhinderung privatgerichteter Selbstinformationsverfahren mit Pflicht und Zwang. a) Kritik an der herrschenden Meinung Zu diesem Zweck verlangte Johannes Masing, den Wirkungskreis dieses Artikels nicht länger mit Hilfe der materiellen Bundestagskompetenzen auszuzirkeln, sondern ihn auf die „spezifische und begrenzte Funktion“ einer „Offenlegung von Maßnahmen und Zuständen im Bereich des Staates“ zu radizieren.267 Gegen die Korollartheorie wendete er ein, dass der Bundestag auf ihrer Grundlage „zum politischen Kontrolleur der Bürger“ mutiere, indem jede simple parlamentarische Befassungskompetenz ausreiche, um den Einzelnen für die Information des Bundestages in die Pflicht zu nehmen oder unter den „wißbegierigen Blicken des Publikums“ einer zwangsbewehrten Untersuchung zu unterziehen. Die aus Kaisers Zeiten in die Gegenwart verpflanzte These kreiere ein mit Pflicht und Zwang ausstaffiertes „Oberaufsichtsrecht“ des Bundestages ohne rechtsstaatliche Bindungen, ein „unheimliches Generalaufklärungsinstrument“, das zu Exzessen nach McCarthy-Manier geradezu einlade.268 Konsequent zu Ende gedacht, führe die Korollartheorie weiterhin zu bundesstaatlichen und gewaltenteilungs 264

G. Kretschmer, DVBl 1988, 811 (814). s. nur P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 6; D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S.  51 und grundlegend zu politischer Kontrolle und Rechenschaftspflicht J. Masing, ZRP 2001, 36 (37 f.). 266 Vgl. 8. Teil 1. Kap. 267 Zusammenfassend J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  353  ff. „McCarthy“-Sorgen finden sich auch bei C. Seiler, AÖR 129 (2004), 378 (406) in Fn. 78. 268 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 169, 171 ff., 177 f., 228. 265

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rechtlichen Verwerfungen: Auf Bundesebene wären „regierungsbegleitende Untersuchungen“ unvermeidlich, wenn das Parlament „kompetent die Maßnahmen der Regierung […] konterkarieren und auf sie Einfluß […] nehmen“ wolle. In föderaler Hinsicht fielen alle Grenzen, indem jedes Thema durch die Kompetenz-Kompetenz des Art. 79 GG immer auch den Bund angehe. Nicht einmal die Landesexekutive wäre vor der Neugierde des Bundestages sicher, sofern dieser legislative Schritte beabsichtige, Aufsichtsempfehlungen an die Bundesregierung richten (Art. 84, 85 GG) oder sich bloß über den Vollzug der Bundesgesetze informieren wolle.269 Außerdem verwies Johannes Masing darauf, dass das Untersuchungsrecht für die (vermeintlich) schrankenlose Informationsaufgabe, die aus der Korollartheorie folge, überhaupt nicht zugeschnitten, sondern ausschließlich eine Emanation des Junktims von parlamentarischer Kreation und Kontrolle wäre.270 Zwangsbewehrte öffentliche Beweiserhebungen auf Antrag einer Minderheit könnten nicht anders als durch das demokratische Wächteramt gerechtfertigt werden. Für Sachstandsund Gesetzesenquêten wären diese scharfen Waffen des Art.  44 GG ebenso ungeeignet wie unangemessen.271 b) Bewertung Johannes Masings Bedenken belegen die starke Traditionsgebundenheit des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts und der um seine Details geführten Auseinandersetzungen. Verschiedene seiner Einwände haben nicht nur historische Vorläufer, sondern lassen sich ebenfalls aus der Verfassungsgeschichte heraus entkräften. aa) Ein „unheimliches Generalaufklärungsinstrument“?272 So sind die Vorbilder für die Sorge, eine zu weite Interpretation des Untersuchungsrechts könne parlamentarischen Exzessen Vorschub leisten, so alt wie die Anfänge dieses Rechts selbst. 1848 warnte Peter Reichensperger die Berliner Vereinbarungsversammlung eindringlich davor, zur Untersuchung der blutigen Zusammenstöße in der Provinz Posen eine „gerichtliche oder administrative Kom 269 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  175 ff. s.  zu diesem Komplex P. J. Glauben, DVBl 2012, 737 ff. 270 Teilweise ähnl. Überlegungen finden sich schon bei H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E20 ff., E39 ff.). 271 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  228 ff. (Zitat, Zwangsmittel), 275 ff. (Minderheitenrecht), 286 ff. (Öffentlichkeit). 272 So die Überschrift bei J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 177. Krit. auch H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 104 ff.

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mission […] aus unverletzlichen Abgeordneten“ einzusetzen. Er beschwor das Schreckbild eines niemandem verantwortlichen, parlamentarischen Gremiums mit der Macht, „administrative oder gerichtliche Verhandlungen vorzunehmen, welche auf eidlichem Verhöre von Zeugen beruh[t]en“. Eine solche Machtfülle in parlamentarischer Hand charakterisierte der katholische Politiker als eine „höchst monstruöse Stellung“.273 Nicht minder zeitlos ist die Erwiderung des Demokraten Anton Bloem, der die Volksvertreter durch das „Vertrauen der ganzen Nation“ als geradezu prädestiniert für eine Untersuchung ansah.274 Dieses Argument, das auf Demokratie und Parlamentarismus baute, spiegelt zutreffend die heutige Stellung des Bundestages wider: Die unmittelbare demokratische Legitimation seiner Mitglieder legitimiert das Enquête- und Untersuchungsrecht.275 Damit ist noch lange nicht gesagt, dass ein Einsatz aller Zwangsmittel des Art. 44 Abs. 2 GG stets gerechtfertigt wäre. Diese Frage lässt sich nicht mit pauschalen Unterscheidungen nach Enquêtetypen, sondern bloß im konkreten Einzelfall entscheiden. Schon 1927 wollte Gerhard Anschütz’ Doktorandin Charlotte Schachtel die Grundrechte bei der sinngemäßen Anwendung der Strafprozeßordnung im Untersuchungsverfahren berücksichtigen.276 In Übereinstimmung mit diesen Überlegungen betonen das BVerfG und das Schrifttum heute die Grundrechtsgeltung in sämtlichen Stadien des Untersuchungsverfahrens.277 Hans Meyers 1989 erhobene Forderung, dass im Hinblick auf Grundrechte und Parlamentsvorbehalt vor privatgerichteten Enquêten erst ausreichende Sicherungen geschaffen werden müssten,278 hat der Gesetzgeber mit dem Untersuchungsausschussgesetz erfüllt.279 bb) Kompetenzverfassungsrechtliche Argumente Föderale Bedenken gegen ein Selbstinformationsrecht der oberstaatlichen Volksvertretung haben ebenfalls Tradition: Im Frühjahr 1849 verwahrten sich unter preußischer Führung über 20 Einzelstaaten gegen ein „Recht der Untersuchung“ 273

VerhPrNV I, S. 342. Ähnl. E. Kaufmann, Untersuchungsausschuss, 1920, S. 17 ff. A. Bloem leitete diese Kompetenz unmittelbar aus der Aufgabe der Versammlung ab, gemäß § 13 Pr­Vereinb­Vers­WahlG 1848 „die künftige Staatsverfassung durch Vereinbarung mit der Krone festzustellen und die bisherigen reichsständischen Befugnisse […] für die Dauer ihrer Versammlung interimistisch auszuüben“. Gebe das Wahlgesetz ihr das Recht, „ein StaatsGrundgesetz zu bilden“, könne es ihr die nötigen Mittel nicht verweigern (VerhPrNV I, S. 350). 275 Vgl. BVerfGE 77, 1 (39, 40 ff.); BVerfGE 76, 363 (381) oder BVerfGE 124, 78 (114) zum Bundestag als Träger der Untersuchung. 276 C. Schachtel, Anwendung, 1927, S.  9, 12 f. Zur Geltung der Grundrechte im Untersuchungsverfahren s. ferner K. Heck, UntersuchungsR, 1925, S. 21 f. 277 s. nur BVerfGE 67, 100 (142 ff.); BVerfGE 124, 78 (125 ff.); K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ ders. (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. E Rn. 6; B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 12, 60, 92 f., 234, 254; P. J. Glauben, DVBl 2006, 1263 ff.; A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 33 ff. 278 H. Meyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 4 Rn. 86 ff. Zu einem unveröffentlichten Gutachten Meyers vgl. D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 42. 279 Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 45 f. 274

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des künftigen Reichstags, von dem sie eine „Befugniß einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten“ befürchteten.280 Der Verfassungsausschuss der Frankfurter Nationalversammlung erwiderte lakonisch und gewissermaßen der limitativen Seite der Korollartheorie vorgreifend, dass die (materiellen) „Competenzbestimmungen für die Reichsgewalt“ eine ausreichende Sicherung darstellten.281 Dennoch kehrten Bedenken gegen ein Enquête- und Untersuchungsrecht im Bundesstaat in den Norddeutschen Verfassungsberatungen wieder;282 aus wilhelminischen Tagen finden sich föderale Einwände gegen parlamentarische Enquêteersuchen an den Bundesrat.283 In der Weimarer Republik kam es dann u. a. zum Konflikt, als im Reichstag eine Untersuchung der reichsrechtswidrigen Strafvollzugsbedingungen in den bayerischen Strafanstalten gefordert wurde.284 Aber trotz seiner Anciennität kann das föderale Argument nicht überzeugen. Einmal liegt der Staatsordnung des Grundgesetzes keine isolationistische Sichtweise zugrunde. Die bundesstaatlichen Ebenen existieren nicht beziehungslos nebeneinander, sondern sind vielfach aufeinander bezogen und miteinander verschränkt. Etwa unterliegt die Landesexekution von Bundesrecht einer abgestuften Bundesaufsicht, deren Handhabung der Bundestag kontrollieren darf.285 Grenzenlose Einmischungsmöglichkeiten etabliert diese an eine Kompetenz der Bundesregierung angeseilte Befugnis heute ebenso wenig wie in Weimarer Tagen.286 Zur Legitimation einer Untersuchung reicht es jedenfalls nicht aus, wenn – wie es Friedrich Josef Zell 1849 im Frankfurter Verfassungsausschuss ausdrückte  – „in den einzelnen Staaten die Beamten […] die Reichsgewalt unschicklich behandeln“.287 Ebenso wenig ermöglichen Gesetzgebungsenquêten eine informationsrechtliche Gängelung der Länder.288 Zwar sind ihre staatlichen Stellen aufgrund

280

Abdruck bei P. Roth/H. Merck (Hg.), QuellenSlg II, 1852, Nr. 74, S. 342 (343 f.). Wigard, VerhFNV, S. 5771. 282 6. Teil 2. Kap. A. I. 283 Vgl. zum Antrag Brandys, den Reichskanzler zu einer gemeinsamen „Untersuchung der politischen Verhältnisse der polnischen Bevölkerung im Deutschen Reiche“ durch Bundesrat und Reichstag aufzufordern, 6. Teil 3. Kap. B. III. 2. sowie IV. 2. c) aa) zu gewaltenteilungsrechtlichen und föderalen Bedenken aus Anlass der Rüstungsenquête (VerhRT XIII/1 (1912/14), S. 5047). 284 Vgl. 7. Teil in Fn. 234. 285 A. Hamann/H. Lenz, GG3 1970, S. 466; M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 37; B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 65; P. J. Glauben, DVBl 2012, 737 (739 ff.). s.  auch J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  100 f. oder  – teils weiter  – C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 150 ff. m. w. N. aus dem Schrifttum. 286 M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 23; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 43 ff.; G. Kretschmer, in: S-B/H/H, GG11 2008, Art. 44 Rn. 8; B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn.  65. Zum Weimarer Staatsrecht vgl. G. Anschütz, in: HdbDtStR I, 1930, S. 375 oder H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 467. Vgl. auch 7. Teil 3. Kap. A. III. 287 R. Hübner (Hg.), Aktenstücke, 1924, S. 602 f. 288 Zu ihrer Zulässigkeit in föderaler Hinsicht s. P. J. Glauben, DVBl 2012, 737 (738 f.). 281

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der Bundestreue grundsätzlich auskunftspflichtig;289 komplementär dazu verlangt dieses Prinzip aber von der Bundesseite Rücksichtnahme auf die Eigenstaatlichkeit der Länder.290 Selbst die Kompetenz-Kompetenz des Art.  79 GG erweitert das Enquête- und Untersuchungsrecht nicht ins Uferlose.291 Einerseits unterbindet das allgemeine Missbrauchsverbot vorgeschützte Reformabsichten.292 Andererseits wäre es offensichtlich alles andere als sachgerecht, dem Bundestag ein robustes Selbstinformationsrecht gerade dann vorzuenthalten, wenn es um eine Reform der staatlichen Ordnung geht. Im Übrigen trifft der Einwand des Frankfurter Verfassungsausschusses heute immer noch ins Schwarze, dass die materielle Kompetenzordnung das formelle Selbstinformationsrecht der bundesstaatlichen Volksvertretung beschränkt. Das gewaltenteilungsrechtliche Bedenken, dass aufgrund eines merkwürdigen parlamentarischen Gewaltenmonismus eine schrankenlose, begleitende Regierungskontrolle Einzug halten könnte, wäre berechtigt, wenn die Korollartheorie das einzige Begrenzungskriterium wäre. In Wahrheit gibt es aber seit langem verschiedene ergänzende Ansätze, um das parlamentarische Kontrollrecht mit der verfassungsrechtlich verbürgten Eigenständigkeit von Regierung und Verwaltung zu synchronisieren.293 Im Übrigen wird die von Johannes Masing kolportierte Annahme, der Bundestag habe die Aufgabe, die Regierungstätigkeit zu „konterkarieren“ und auf jegliches Vorhaben „Einfluß zu nehmen“, dem Regierungssystem des Grundgesetzes nicht wirklich gerecht. Vielmehr ist die Volksvertretung in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes zu einer aktiveren Rolle in der Staatsleitung berufen.294 Zu einer parlamentarischen Mitregierung darf es dagegen keinesfalls kommen.295 289 Vgl. M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn.  37; W. Zeh, DÖV 1988, 701 (708); C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 170 f.: Bundestreue und Amtshilfe gemäß Art. 44 Abs. 3 GG. 290 Vgl. P. J. Glauben, DVBl 2012, 737 (738) und allg. zur Bundestreue K.-P. Sommermann, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 20 Rn. 37 ff.; F. E. Schnapp, in: vMüK6 I, 2012, Art. 20 Rn. 14 je m. w. N. s. ferner P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 72 f. für das Untersuchungsrecht mit dem Hinweis, dass sich mit diesem Grundsatz keine Untersuchungskompetenz begründen lasse. 291 Vgl. A. Hamann/H. Lenz, GG3 1970, S.  466; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 66, 68 f. Zu weit dürfte es gehen, dem Bund mit M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 23 jedes Recht zu Gesetzgebungsenquêten im Kompetenzbereich der Länder abzusprechen. Zur Vorbereitung von Verfassungsänderungen s. auch B. K. Buchholz, Betroffene, 1990, S. 22. 292 Zur Schranke des Missbrauchsverbots bei Gesetzgebungsenquêten s. P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn.  66, 68 und ders., DVBl 2012, 737 (738 f.) sowie zum „Formenmissbrauch“, wenn „eine Enquête, die ausschließlich oder überwiegend die Aufklärung von Gegenständen im privaten oder gesellschaftlichen Bereich zum Ziel [habe, …] als Gesetzgebungsenquête ‚getarnt‘“ werde, U. Di Fabio, Rechtsschutz, 1988, S. 34 f. s. allg. zum Missbrauchsverbot im Untersuchungsverfahren BVerfGE 105, 197 (225) sowie BVerfGE 113, 113 (127 f.) zum minoritären Beweisantragsrecht. 293 s. 8. Teil 4. Kap. B. I. 294 U. Di Fabio, Rechtsschutz, 1988, S. 34 ff. 295 s. 8. Teil 4. Kap. B. I.

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cc) Vermeintliche Kontrollspezifizität Ein systematisch-teleologisches Argument hat Johannes Masing mit der vermeintlichen Kontrollspezifizität des Enquête- und Untersuchungsrechts erhoben. Auch andere Autoren folgern aus dem Befugniskatalog des Art. 44 GG zwingend, dass dem Verfassungsgeber bloß Kontrollenquêten vorgeschwebt haben könnten.296 In diesem Fall wäre die weite Interpretation des Art. 44 GG nach Maßgabe der Korollartheorie unhaltbar. Die Verfassungsgeschichte bestätigt die Annahme, Pflicht und Zwang wären Kontrollspezifika, indessen nicht. Zwar tauchten entsprechende Forderungen anlässlich der Ausschreitungen in Posen (1848) oder der Wahlmanipulationsuntersuchung (1863/64) im Zusammenhang mit politischen Untersuchungsforderungen auf.297 Schon weniger eindeutig ist – angesichts der Verstrickung der Schwerindustrie in den zu untersuchenden Sachverhalt – die Einordnung der 1913 erhobenen sozialdemokratischen Forderung, zur Aufklärung von Missständen im Rüstungsund Beschaffungswesen einen Reichstagsausschuss einzusetzen und mit robusten Vernehmungs- und Zwangsbefugnisse auszustaffieren.298 – Obwohl Johannes Masing prinzipiell zu Recht darauf hinweist, dass für die „Gesellschaftsenquêten“ des 19. Jahrhunderts keine Zwangsmittel erforderlich waren, weil die Betroffenen nur zu gern die Gelegenheit nutzten, um ihre Nöte und Sorgen der Volksvertretung vorzutragen,299 wurden belastbare Untersuchungsbefugnisse dennoch für Enquêten gefordert oder wenigstens in Betracht gezogen. In diesem Sinne sah Art.  73 „Charte Waldeck“ ohne gegenständliche Beschränkung das Recht vor, „unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen“.300 Im Frühjahr 1865 gehörte das „Recht der Erhebung von Thatsachen (Enquête)“ einschließlich der „staatsbürgerliche[n] Pflicht“, vor dem Parlament zu erscheinen und beeidete „wahrheitsgetreue Aussagen zu machen“, in Württemberg zum liberalen Verfassungsreformprogramm.301 1878 verlangte die Reichsregierung zur Vorbereitung einer umfassenden Tabaksteuerreform eine zwangsbewehrte Enquête; dieses Mal verwehrte die Volksvertretung die gewünschten Befugnisse.302 Anfang der 1890er Jahre nahmen die Sozialdemokraten den grundsätzlichen Gedanken auf; der Verfassungsänderungsantrag Auer sah u. a. „Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen“ vor, die ohne thematische Beschränkung auf politische Sachverhalte das Recht erhalten sollten, „Zeugen und Sachverständige  – auch eidlich  – zu vernehmen“. August Bebel erläuterte, dass der Reichstag die „vor 296

s. etwa J. Menzel, in: Löwer/Tettinger (Hg.), VerfNRW, 2002, Art. 41 Rn. 7. s. 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. d) aa) und cc) sowie 5. Teil 3. Kap. C. II. 1. c) bb) und 2. a) sowie ferner d). 298 s. 6. Teil 3. Kap. B. IV. 2. a) und passim. 299 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 29 ff. 300 s. 3. Teil 2. Kap. C. II. 301 BeilWürttAbgK 1862/65 I.5, Beil. 401, S. 3774 f. 302 s. 6. Teil 3. Kap. A. II. 3. 297

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geladenen Personen“ überdies „zwingen“ können müsse, „ein solches Zeugniß abzugeben“. Zur Untermauerung der informationsrechtlichen Forderungen dienten legislatorische Bedürfnisse der sozialen Gesetzgebung, in der Börsenfrage oder des Befähigungsnachweises.303 Für das Recht des Bundestages, etwa zur Vorbereitung gesetzgeberischer Schritte auf Art. 44 GG zurückzugreifen, lässt sich insbesondere nach dem Muster der Tabakenquête der 1870er Jahre ins Feld führen, dass er für unpopuläre Maßnahmen künftig durchaus einmal auf die schneidigeren Instrumente des Art.  44 Abs. 3 GG angewiesen sein könnte.304 Dass dieser drastische Schritt angesichts gesellschaftlicher Transparenz und Pluralität sowie eines wahren Heeres unabhängiger Sachverständiger in der Vergangenheit entbehrlich war und der Bundestag informellen Informationsmöglichkeiten den Vorzug gegeben hat, ändert an dieser Tatsache nichts.305 Es steht nach wie vor in seinem Ermessen, ob er im konkreten Fall auf eine öffentliche Ausschussanhörung, eine Enquêtekommission oder einen Untersuchungsausschuss als Informationsmittel zurückgreift.306 Ob die schneidigen Befugnisse des Art. 44 Abs. 3 GG für eine Enquête in der Regel sonderlich gut geeignet oder notwendig sind oder die Grundrechte ihrer Anwendung im Einzelfall Grenzen ziehen, ist für die grundsätzliche Zulässigkeit zwangsbewehrter Enquêten irrelevant;307 Grundrechtsschutz zugunsten von Untersuchungsbetroffenen und Auskunftspersonen ist der richtigen Feststellung Jürgen Jekewitz’ entsprechend „nicht in erster Linie vor der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zu suchen, sondern in dessen Verfahren selbst“.308 Die grundsätzliche Legitimation von Pflicht und Zwang als Mittel parlamentarischer Selbstinformation folgt aus 303

s. zum Ganzen 6. Teil 2. Kap. B. III. 1. Vgl. D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S.  45, 48 f., der auf Notlagen hinweist, die rasche Abhilfe erforderlich machen. Auch U. Di Fabio, Rechtsschutz, 1988, S. 39 hält es nicht für angemessen, dem Parlament den „punktuellen Einsatz seiner scharfen Informationserhebungswaffe in der gesellschaftlichen Sphäre“ vorzuenthalten; gemeint sind u. a. Gesetzgebungsaufgaben. C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 64 f. weist ebenfalls auf potentielle Widerstände von Unternehmen etc. hin, die der Bundestag überwinden können müsse. 305 Vgl. aber W. Zeh, DÖV 1988, 701 (709 f.), der von einer Art Selbstverpflichtung des Bundestages durch die Aufnahme der Enquêtekommissionen in die Geschäftsordnung ausgeht. A. A. C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 62. 306 Zu Recht D. Weingärtner, ZRP 1991, 232. 307 Ähnl. D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S.  48 f. Vgl. ferner N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 448 f. 308 J. Jekewitz, RuP 2001, 178 (179) m. w. N. Dementsprechend fordert M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S.  186 f., 194 ff. im Anschluss an H.  Steinberger, Rechtsgutachten, 1988, S. 1193, 1197 enge Beschränkungen der strafprozessrechtsanalogen Befugnisse bei privatgerichteten Enquêten. Zur Notwendigkeit des öffentlichen Interesses für die einzelnen Beweiserhebungen s. P. Teubner, EingriffsR, 2009, S. 71. A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 33 ff. sieht jeden Untersuchungsausschuss an Grundrechte und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden. BVerfGE 77, 1 (53) fordert im Hinblick auf die Beschlagnahme bei Privaten, dass „sie durch das Gewicht des Untersuchungszwecks und die Bedeutung des Beweisthemas gerechtfertigt“ sei. Zum Rechtsschutz Privater bei der Einsetzung und im Untersuchungsverfahren s. etwa P. J. Glauben, DVBl 2006, 1263 (1264 ff.). 304

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ihrer demokratischen Zweckbestimmung, dem politischen Diskurs im Interesse der „Integrität des Verfahrens und [seiner…] Sachlichkeit“ eine verlässliche Tatsachengrundlage zu schaffen.309 Auch die Untersuchungsöffentlichkeit ist, wie die Verfassungsgeschichte lehrt, keineswegs zwangsläufig kontrollbezogen.310 Zwar diente schon die allgemeine Öffentlichkeit der Kammerverhandlungen u. a. prinzipiell dazu, die landständische Regierungs- und Verwaltungskontrolle vor dem Richterstuhl der öffentlichen Meinung durchzuführen.311 Analoge Forderungen wurden aber auch erhoben, um sachverständige oder interessierte Bevölkerungskreise an Enquêten heranzuführen. Zu diesem Zweck intervenierte der Linke Eduard Zimmermann (Donnersberg) 1848 erfolglos zugunsten einer beschränkten Sitzungsöffentlichkeit des Frankfurter Volkswirtschaftsausschusses.312 1865 gehörte es auch zu den Württemberger Reformforderungen, die Aussagen wörtlich aufzunehmen und zu publizieren, um „wenigstens bei wichtigeren Gegenständen […] zur Hervorlockung weiterer Aufklärung von Seiten bisher nicht Gehörter“ beizutragen; die „Oeffentlichkeit der Sitzungen“ galt als Mittel „für die möglichste Herstellung der Wahrheit“.313 Die Idee, Enquêtekommissionen öffentliche Vernehmungen durchführen zu lassen, um Publikum und Wissenschaft zu aktivieren, kehrte Anfang der 1890er Jahre im Reichstag wieder. Komplementär wurde das Versagen verschiedener Regierungsenquêten gerade auch ihrer Nichtöffentlichkeit angelastet.314 Vor diesem Hintergrund verblasst der Einwand, die Beweiserhebungsöffentlichkeit des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG lasse sich ausschließlich mit der Kontrollfunktion des Bundestags erklären. Die etwa entgegenstehenden Interessen von Auskunftspersonen oder Betroffenen sind im Einzelfall auf andere Weise zu schützen. Zu guter Letzt tagen auch Enquêtekommissionen oft genug öffentlich.315 309

Vgl. S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 38. Zu den mit der Öffentlichkeit verfolgten Zielsetzungen s. die Zusammenstellung von C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 266 f. m. w. N. 311 So charakterisierte F. Murhard, KhVerUrk II, 1835, S.  416 den interpellationsartigen § 92 KhVerf­Urk  1831 als „sehr passend[en]“ Ausdruck der wichtigen landständischen Kontrollaufgabe gegenüber der kurfürstlichen Verwaltung. Dass landständische Auskunftsrecht könne „höchst unbequem […] für die Chefs der einzelnen Verwaltungszweige“ werden und ein „zweckmäßiges Mittel [sein], eine schlechte und untüchtige Verwaltung zu verhüten“. 312 s. 3. Teil 1. Kap. B. I. 2. e). 313 BeilWürttAbgK 1862/65 I.5, Beil. 401, S. 3774 f. 314 Vgl. die Äußerung des Deutsch-Freisinnigen K. Schrader, VerhRT VIII/1 (1890/92), S.  3290 f., dass man so „fortwährend die Kritik des Publikums“ herausfordere und „immer neues sachliches Material“ zutage fördern werde. Wenig später wurde die Nichtöffentlichkeit der Börsenenquêtekommission als „schwerer Verstoß gegen die Technik der Enquete“ bewertet: Man habe eine Gelegenheit zur Beruhigung des Publikum vergeben und jede öffentliche Diskussion verhindert. Dazu F. J. Pfleger, in: ders./L. Gschwindt, Börsenreform I, 1896, S. 12 ff. (Zitat); K. Borchardt/C. Meyer-Stoll (Hg.), MWG V/1, 2000, S. 180. Zweifelnd andererseits J. C. Meier, BörsenG, 1992, S. 120 f., ob die Aussagen der Auskunftspersonen aus Handel und Gewerbe in öffentlicher Sitzung möglicherweise weniger frank ausgefallen wären. 315 U. Karpen, AÖR 125 (2000), 302 (305). 310

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Tatsächlich lässt sich aber die Ausgestaltung des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG als Minderheitenrecht leicht kontrollspezifisch deuten: Während die Mehrheit die Regierung stützt, rückt die Opposition beiden u. a. mit Untersuchungsausschüssen zu Leibe. Aber selbst die Exklusivität dieses Bildes verliert angesichts der demokratischen Aufgabe der Opposition, außer Kritik zu üben, personelle und insbesondere sachpolitische Alternativen zu entwickeln, stark an Überzeugungskraft.316 Um gehaltvolle Vorschläge entwickeln zu können, muss die Minderheit unbestreitbar über einen ausreichenden „eigenen“ Informationszugang verfügen;317 „‚Informationsrechte‘ relativ großer Minderheiten“ gehören mit Hans-Peter Schneiders Worten zu den „unverzichtbaren Voraussetzungen effektiver Oppositionsausübung“.318 Schon weil die Minderheit in der Demokratie immer die Chance haben muss, zur Mehrheit aufzusteigen, dürfen ihre Anliegen „nicht implizit als rechtlich zweitrangig“ qualifiziert werden.319 Aus diesem Grund hat der Bundestag auch das Recht der Enquêtekommission als qualifiziertes Minderheitenrecht ausgestaltet (§ 56 Abs. 1 Satz 2 GO-BT). Ein weiteres Indiz dafür, dass Art. 44 GG nicht ausschließlich der minoritären Regierungskontrolle dienen sollte, liefert das Gesetzesinitiativrecht aus der Mitte des Bundestages (Art. 76 Abs. 1 GG); nach § 76 Abs. 1 GO-BT steht das Antragsrecht als Minderheitenrecht den Fraktionen bzw. einem Fünf-Prozent-Quorum zu. Dass diese initiativberechtigte Minderheit eine gesetzgeberische Entscheidung letzten Endes nicht durchsetzen kann, ist für das Initiativrecht irrelevant.320 Genauso wenig kann ihr Recht, eine Vorbereitungsenquête zu verlangen, davon abhängen. Schließlich kann die Minderheit ebenso wenig ein Misstrauensvotum oder einen Missbilligungsbeschluss erzwingen, obwohl ihr der schneidige Art. 44 GG zu diesem Zweck zustehen soll. Konsequent zu Ende gedacht, konterkariert das scheinbar plausible Argument also zwangsläufig die verfassungsrechtliche Grundentscheidung hinter Art.  44 Abs.  1 Satz  1 GG. Schon eingedenk ihres Gesetzesinitiativrechts ist es nur konsequent, der Minderheit ebenfalls das Recht zu geben, eine Gesetzesenquête zu initiieren.321 316 In diesem Sinne qualifiziert Art. 24 HambVerf die Opposition als wesentlichen „Bestandteil der parlamentarischen Demokratie“ und „Alternative zur Regierungsmehrheit“. s. aus dem Schrifttum H.-P. Schneider, in: ders./Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 38 Rn. 43 ff.; N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 86; H. Dreier, in: ders., GG II2 2006, Art. 20 (Demokratie) Rn. 80 f.; P. Badura, StR4 2010, E 19; B. Beckermann/D. Weidemann, Der Staat 53 (2014), 313 (313, 316); P. Cancik, NVwZ 2014, 18 (19); K.-A. Schwarz, ZRP 2013, 226 f. Vgl. auch J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 280 oder H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E20), der aber S. E21 f. Legislativenquêten aufgrund des Minderheitenrechts für ausgeschlossen hält. 317 Vgl. H.-P. Schneider, in: ders./Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 38 Rn. 44 f. im Hinblick auf den allg. Zugang zu Regierungsinformationen. 318 H.-P. Schneider, Opposition, 1974, S. 239. 319 So P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (268) im Hinblick auf die Zustimmungsbedürftigkeit von Änderungen eines Einsetzungsantrags. 320 Diesen Aspekt führen aber H. Meyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 4 Rn. 83 und in Fn. 124 oder J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 281 gegen Art. 44 GG als Enquêterecht ins Feld. 321 Für das Interesse einer Minderheit an einer Enquête vgl. U. Karpen, AÖR 125 (2000), 302 (305).

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Zu guter Letzt ermöglicht ein minoritäres Enquêterecht es politischen Extremisten keineswegs, verhasste Gesellschaftsgruppen zu drangsalieren.322 Das Einsetzungsquorum des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG verhindert einen Missbrauch für die Hetzpropaganda kleiner Splittergruppen. Enquêten größerer Minderheiten, die zur „Vorbereitung“ offenkundig verfassungswidriger Vorhaben dienen, hat das Plenum zu unterbinden. Für den verfassungsmäßigen Ablauf des Untersuchungsverfahrens trägt die Ausschussmehrheit die Verantwortung.323 dd) Entstehungsgeschichtliche Verifikation Während die Gegeneinwände aus den genannten Gründen nicht überzeugen können, wird die Annahme, dass Art. 44 GG auch als Enquêterecht dienen soll, u. a. von der Entstehungsgeschichte bestätigt.324 Bestrebungen, seinen Anwendungsbereich auf Fälle zu beschränken, in denen „Gesetzlichkeit oder Lauterkeit von Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen […] angezweifelt“ würden  – so hatte es 1919 in erstem Entwurf von Hugo Preuß geheißen –, hat es im Parlamentarischen Rat nicht mehr gegeben. Zwar forderte Hermann L. Brill (SPD) im Verfassungskonvent, den „Zweck der Untersuchungsausschüsse“ festzulegen. Um künftig „Exzesse“ nach dem schlechten Weimarer Vorbild zu verhindern, sollte das Untersuchungsrecht einerseits darauf beschränkt werden, „Gesetzlichkeit und Sauberkeit von Verwaltungsmaßnahmen nachzuprüfen“; andererseits nannte der SPD-Politiker aber ausdrücklich gerade das Sammeln von „Gesetzesmaterialien“.325 Selbst dieser moderate Beschränkungsversuch, der neben der politischen Untersuchung nur noch die Gesetzesvorbereitungsenquête zugelassen hätte, scheiterte.326 Nicht einmal Max Weber, der immer wieder als Kronzeuge für die Gegenauffassung zitiert wird,327 hat die Gesetzesvorbereitungsfunktion 1917 vollständig verabschiedet. Seine auch entsprechenden Zwecken dienende Forderung, den Reichstag aus der gegenwärtigen dilettantischen Dummheit zu befreien, um ihm eine aktivere Rolle im Verfassungsleben zu verschaffen, lässt sich cum grano 322

So J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 281. Zum Teilmaßstab der Geeignetheit unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit vgl. U. Di Fabio, Rechtsschutz, 1988, S. 145 f. Eine Einschätzungsprärogative des Untersuchungsausschusses schadet nicht. Zum minoritären Beweisantragsrecht s. 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. 324 s. in diesem Sinne auch D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 45 oder D. Weingärtner, ZRP 1991, 232 gegen O. Depenheuer/G. Winands, ZRP 1988, 258 (263), die nur auf Hugo Preuß’ ersten Verfassungsentwurf von 1919 abstellen. 325 ParlRat II, 1981, S. 400 f. 326 Auch BVerfGE 77, 1 (45 f.) oder U. Di Fabio, Rechtsschutz, 1988, S. 27 ff. lehnen eine Beschränkung auf Regierungs- und Verwaltungskontrolle u. a. aus entstehungsgeschichtlichen Gründen ab. 327 Vgl. in der Grundtendenz S. Schröder, ZParl 1999, 715 (718); J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 44 ff.; W. Steffani, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 49 Rn. 67; U. Di Fabio, Rechtsschutz, 1988, S. 28, 32 f. oder schon H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E9). 323

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salis auf heutige oppositionelle Minderheiten übertragen.328 Tatsächlich hat der Bundestag auf Art. 44 GG in der Vergangenheit durchaus vereinzelt (auch) zur Gesetzesvorbereitung zurückgegriffen.329 c) Zwischenergebnis Das weit überwiegende Schrifttum erkennt seit Inkrafttreten des Grundgesetzes die Enquêtefunktion gleichberechtigt neben Regierungs- und Verwaltungskontrolle an.330 Dabei geht die herrschende Meinung auch von einer (beschränkten) Zulässigkeit privatgerichteter Enquêten aus.331 Bemühungen, Art. 44 GG auf ein reines Kontrollinstrument zu beschränken, überzeugen demgegenüber heute ebenso wenig wie die diametralen verfassungsgeschichtlichen Versuche, Art.  82 PrVerf  1850 zu einem harmlosen Enquêterecht zu verkümmern. Zugunsten der Korollartheorie wirkt sich an dieser Stelle ihre extreme Trivialität aus:332 Sie ist schlicht das Produkt systematischer Verfassungsauslegung. Schon die kurhessischen Liberalen haben in diesem Sinne ein (Fremd-)Informationsrecht als notwendiges Komplementär aus den materiellen Kammerbefugnissen abgeleitet.333 Auf derselben Linie hat es der Zweite Senat 1987 in Sachen „Neue Heimat“ zunächst betont, dass Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG „[w]ie jede Verfassungsbestimmung 328

s. 7. Teil 1. Kap C. II. 1. und 2. s. zur Bereinigung des Bundesrechts den CDU/CSU-Antrag (BT-Drs. II/908) und die Ausschussberichte (BT-Drs. II/1404, 3703) und dazu R. Kipke, Untersuchungsausschüsse, 1985, S.  137 f. mit der Feststellung, dass der Ausschuss keine eigene Untersuchung durchgeführt, sondern sich nur von der Arbeit des Bundesjustizministeriums unterrichtet habe. Der Einsetzungsantrag von CDU/CSU und FDP in Sachen „Neue Heimat“ richtete sich u. a. darauf, „welche Folgerungen der Bundesgesetzgeber ziehen sollte“ (BT-Drs. 10/5575, S. 2); der Ausschussbericht enthielt verschiedene Empfehlungen (BT-Drs. 10/6779, S.  200 ff.). Anlass für diese Aufsattelung einer Gesetzesenquête auf eine Missstandsuntersuchung könnten laut D. Weingärtner, ZRP 1991, 232 föderale Bedenken gewesen sein. 330 s. stellvertretend für die Fülle des Schrifttums S.  Magiera, in: Sachs (Hg.), GG7 2014, Art. 44 Rn. 4 ff.; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 8 ff.; H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 2 und passim; T. Maunz, in: ders./Dürig, GG (1960), Art. 44 Rn. 4; H. v. Mangoldt, GG, 1953, S. 249 unter Berufung auf die Entstehungsgeschichte oder A. Hamann, GG, 1956, S. 240, der zwar von einem „Akt der dem Parlament zustehenden Kontrolle“ spricht, dann aber betont, dass Art. 44 GG „für die Gesetzgebung wie die politische Willensbildung […] notwendig sein [könne, indem…] sich der Bundestag auf Grund eigener Erhebungen die nötigen sachlichen Unterlagen [verschaffe…], ohne auf solche anderer Stellen, insbesondere der Bundesregierung angewiesen zu sein“. 331 Zur Zulässigkeit privatgerichteter Enquêten mit unterschiedlichen Eingrenzungen vgl. B. Pieroth, in: Jarass/ders., GG13 2014, Art.  44 Rn.  4; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 129 ff.; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 22 f.; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 21, 29; M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 41; C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 54 ff. 332 Vgl. M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 78, der den Erfolg der in konstitutionellen Tagen ersonnenen Konstruktion ebenfalls auf ihre Anbindung an die materiellen Volksvertretungskompetenzen zurückführt. 333 s. 2. Teil 2. Kap. II. 3. a) aa) (4), cc) (3), (5) und 4. c). 329

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[…] aus dem Gesamtzusammenhang des Grundgesetzes heraus auszulegen“ ist, dann auf den „Rahmen des Aufgabenbereichs des Bundestages“ verwiesen (sic!) und schließlich das Enquête- und Untersuchungsrecht u. a. auf die „Vorbereitung rechtsverbindlichen parlamentarischen Handelns im Bereich der Gesetzgebung und der Kontrolle“ sowie von „Empfehlungen politischer Art“ erstreckt.334 Die materiellen Volksvertretungskompetenzen müssen, das untermauert die Verfassungsgeschichte, auch deswegen durch ein formelles Selbstinformationsrecht flankiert werden, damit das Parlament seiner kontrollierenden und begleitenden Rolle gegenüber der Regierung genügen kann. Dass freiwillige Zeugenaussagen und Sachverständigenauskünfte im Regelfall ausreichen, spielt für die prinzipielle Interpretation von Art.  44 GG keine Rolle; das zwangsbewehrte Selbstinformations­ recht lässt sich nicht ohne Schwächung des Bundestags auf ein Kontrollinstrument reduzieren.335 Gegen eine rückwärtsgewandte Zeitreise in die monarchische Vergangenheit, an deren Ziel angekommen der Bundestag jenseits von Regierungsund Verwaltungskontrolle auf das „natürliche Enquêterecht“ verwiesen wäre, sorgt das Grundgesetz mit dem offenen Wortlaut des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG vor. Obwohl diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten allenfalls vereinzelt bei Enquêten zum Zuge kam, sollte man die permanente Drohung einer zwangsbewehrten parlamentarischen Enquête oder Untersuchung für die Kooperationsbereitschaft der Regierung oder der betroffenen gesellschaftlichen Gruppen auch nicht unterschätzen. In diesem Sinne hat Max Weber das „Enquêterecht“ als eine Art „Rute“ bezeichnet, „deren Vorhandensein die Verwaltungschefs [zwinge…], in einer Art Rede zu stehen, die seine Anwendung unnötig“ mache.336 3. Fazit Die verschiedenen Versuche, das Enquête- und Untersuchungsrecht entgegen der herrschenden Korollartheorie auf eine mehr oder weniger weite staatsgerichtete Kontrollfunktion zu verengen, können nicht überzeugen. Die Langlebigkeit dieser von Egon Zweig 1913 zusammengefassten Erkenntnisse und Überlegungen beruht  – wie bereits angedeutet  – schlicht auf ihrer Trivialität. Im Wortlaut des Art. 44 GG finden sich weder sachliche Anhaltspunkte noch gar Gründe dafür, dass der allgemein formulierte Artikel bloß die Aufarbeitung bestimmter Themen oder die Vorbereitung eines bestimmten Entscheidungstyps ermöglichen sollte. 334

BVerfGE 77, 1 (44 f.). Vgl. ähnl. D. Weingärtner, ZRP 1991, 232 in seiner Erwiderung auf O. Depenheuer/ G. Winands, ZRP 1988, 258 ff., die eine strenge „Verdachtsakzessorietät“ propagieren. A. A. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  342 ff., der für die Gesetzesenquête auf die bisherige Praxis und die anderen Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung verweist. Für einen anerkannten Restbereich an Sonderfällen, in denen qualifizierte Erhebungen notwendig sein könnten, will er auf die Möglichkeit zurückgreifen, hierzu die Exekutive durch Gesetz zu beauftragen. Die freilich durch die Möglichkeit, ohne Zustimmung des Gouvernements Gesetze zu erlassen, ein wenig hinkende Parallele zum Kaiserreich ist evident. 336 W. J. Mommsen (Hg.), MWG I/15, 1984, S. 489. 335

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Statt einer Dichotomie von Enquête- und Untersuchungsrechten  – hier ein „natürliches“, in der Verfassung nicht einmal angedeutetes, sondern bloß in der Geschäftsordnung ausgeformtes freiwilliges Enquêterecht, dort das in Art. 44 GG mit Pflicht und Zwang bewehrte politische Untersuchungsrecht – hat das Grundgesetz ein „Generalinformationsinstrument“ geschaffen, dessen situationsangemessene Anwendung im Einzelfall sicherzustellen ist. Berechtigte Bedenken, dass der Bundestag über jede Frage eine öffentliche Beweiserhebung mit Pflicht und Zwang durchführen könnte, rechtfertigen weder ein generelles „Enquêteverbot“ noch die angesichts ihrer Zwangsläufigkeit nur schwerlich mögliche Verabschiedung der „Korollartheorie“, sondern legen bloß die Notwendigkeit differenzierter Einzelfalllösungen im Durchführungsstadium offen.

III. Das öffentliche Interesse als Einsetzungsvoraussetzung In den 1980er Jahren erschien der „Neue Heimat“-Untersuchungsausschuss manchem Beobachter als Sündenfall einer ausschließlich privatgerichteten Missstands- und Skandalenquête.337 Anders als in der Causa „Flick“, bei der Bestechungsvorwürfe bis in Regierungskreise im Raum standen,338 bot der Fall der gewerkschaftseigenen Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft keinen offensichtlichen Anknüpfungspunkt für ein potentielles Fehlverhalten staatlicher Organe;339 stattdessen hatten die privatrechtlich organisierte „Neue Heimat“ oder die mit ihr verflochtenen Wirtschaftsunternehmen lediglich möglicherweise gegen bundesrechtliche Wohnungs-, Städtebau- und Mieterschutzbestimmungen oder den Sinn dieser Gesetze verstoßen.340 Obwohl der SPD-Minderheitsbericht hervorhob, dass bei dieser Gelegenheit „zum ersten Mal […] die Geschäftstätigkeit eines privaten Unternehmens unmittelbar Gegenstand einer parlamentarisch-politischen Kontrolle“ geworden wäre,341 hatte der Bundestag schon früher, durch Schrifttum und Öffentlichkeit anscheinend unbemerkt, Privatverhalten in seine Untersuchungen wenigstens miteinbezogen.342 In historischer Perspektive knüpfte die Untersuchung 337 s. DER SPIEGEL 44/1986, S.  24 mit dem Zitat aus der Süddeutschen Zeitung, dass „[z]um erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik […] ein Untersuchungsausschuß nicht gegen Institutionen des Staates tätig“ werde, sondern gegen ein „privates Wirtschaftssubjekt“. Vgl. auch J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 81. 338 Vgl. M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 46 ff. 339 s. dazu M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 50 mit dem Hinweis darauf, dass u. a. auch eine Kontrolle gegenüber staatlichen Organen bezweckt gewesen sei. 340 BT-Drs. 10/6779, S. 15. 341 BT-Drs. 10/6779, S. 290 (Hervorhebung nur hier). 342 s. nur die Übersichten von S. Studenroth, Untersuchung, 1992, S. 19 ff. oder M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 40 ff. sowie S. 58 ff. zur Entwicklung in den Ländern, D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 36 f. m. w. N. zur Befassung des Schrifttums mit dem Thema und G. Kretschmer, DVBl 1988, 811 (813) zur Praxisrelevanz. Gegen eine Berücksichtigung von Enquêten, die ihrem Einsetzungsbeschluss nach nicht primär privatgerichtet waren, wendet sich J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 49 in Fn. 29.

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gewissermaßen an die Praxis des Weimarer Reichstags an, der u. a. mit dem Grubenunglück auf „Mont Cenis“ Missstände in der Privatwirtschaft aufgegriffen hatte;343 eine entsprechende Untersuchung hatte der Bundestag in der ersten Wahlperiode zu einem vergleichbaren Unglücksfall auf der „Zeche Dahlbusch“ begonnen, dann aber nicht zu Ende geführt.344 Vor diesem Hintergrund führte der „Neue Heimat“-Skandal dem Publikum bloß die bisher unreflektierten Probleme schlagartig vor Augen  – neu waren sie nicht. Eine Premiere war dagegen die Verhängung und Vollstreckung der Beugehaft gegen Alfons Lappas.345 Hatte der Schutz Privater vor den Belastungen eines parlamentarischen Untersuchungsverfahrens, dessen Interesse sich auch auf ihre persönlichen Verhältnisse oder ihr Verhalten richtete, dem Weimarer Schrifttum noch verhältnismäßig wenig Kopfzerbrechen bereitet,346 haben diese Fragen seither Konjunktur.347 1. Das öffentliche Untersuchungsinteresse als Grenze Das BVerfG stellte fest, dass der „Bundestag […] innerhalb seines Aufgabenbereichs Untersuchungsaufträge zur Aufklärung von Mißständen jedenfalls auch im Bereich solcher privater Unternehmen […] erteilen [könne], die aufgrund ‚gemeinwirtschaftlicher‘ Zielsetzung ihrer Tätigkeit in erheblichem Umfang aus staatlichen Mitteln gefördert oder steuerlich begünstigt [würden…] und besonderen rechtlichen Bindungen“ unterlägen. Salvatorisch konstatierte der Zweite Senat ausdrücklich, dass sich das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht auf „Vorgänge im öffentlichen Leben und Vorkommnisse im gesellschaftlichen Bereich“ erstrecke, sofern an der Untersuchung ein „rechtfertigendes öffentliches Interesse“ bestehe.348 Anders als die Autoren, die das Problem (auch) privatgerichteter Enquêten oder Untersuchungen mit einer teleologischen Reduktion von Art. 44 GG auf den Kontrollaspekt aus der Welt schaffen wollen, folgt das überwiegende Schrifttum dem moderaten Weg, den das BVerfG mit diesem Kriterium gewiesen hat: Obwohl Art. 44 GG und § 1 PUAG das „öffentliche Interesse“ an der parlamentarischen Enquête oder Untersuchung anders als die meisten Landesverfassungen oder Untersuchungsausschussgesetze nicht ausdrücklich erwähnen,349 343 Vgl. VerhWRT I (1920/24), Nr.  2268 (Antrag), S.  4074 ff. (Einsetzungsdebatte)  und Nr. 4857 (Bericht). 344 s. dazu R. Kipke, Untersuchungsausschüsse, 1985, S. 124 ff. und ferner M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 43. Der Untersuchungsauftrag war als Gesetzgebungsenquête gestaltet worden, um föderalen Bedenken zu begegnen. 345 M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 48. 346 Vgl. S. Schröder, ZParl 1999, 715 (729) m. w. N. aus dem zeitgenössischen Schrifttum. 347 J. Oebbecke, Räume, 1986, S. 110 weist für das Interesse am Schutz privater Geheimnisse im parlamentarischen Untersuchungsverfahren zu Recht auf das „Flick“-Verfahren hin. 348 BVerfGE 77, 1 (39, 43 ff.) (Hervorhebung nur hier). 349 s. aus dem Landesrecht etwa Art. 34 Abs. 1 Satz 1 MVVerf; Art. 27 Abs. 1 Satz 1 NdsVerf; Art. 18 Abs. 1 Satz 1 SHVerf. Vgl. auch die Übersicht bei D. Wiefelspütz, NVwZ 2002, 10 (12) in Fn. 28 oder P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, S. 57 in Fn. 26

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hat die Rechtsprechung eine entsprechende ungeschriebene Einsetzungsvoraussetzung kreiert.350 Während ein Zusammentreffen öffentlicher und privater Angelegenheiten als unschädlich angesehen wird, soll an „reinen“ Privatangelegenheiten jedenfalls kein „öffentliches Interesse“ bestehen können.351 2. Die Bestimmung des Untersuchungsinteresses Unklar ist, was unter dem öffentlichen Untersuchungsinteresse zu verstehen ist. Nicht überzeugen können Versuche, auf die gesellschaftliche oder mediale Aufmerksamkeit abzustellen, die einem Gegenstand faktisch zuteil wird.352 1837 hat sich Georg Friedrich Puchta in seinem epochalen Gewohnheitsrecht gegen die „öffentliche Meinung“ als „Richtschnur für die Regierung“ ausgesprochen, weil „dieser abstracte und vage Ausdruck sowohl darüber, was im allgemeinen darunter zu verstehen sey, […] als darüber, wie jene Meinung im einzelnen Fall erkannt werden möge“, nichts aussage. Das „Prädikat öffentlich“ hielt der Leipziger Gelehrte für „höchst unbestimmt“. Würden Meinungen „vor dem Publicum ausgesprochen und kund gemacht“, sei nicht erkennbar, „wie dieser Umstand […] ihnen einen besonderen Werth“ verleihen solle. Versuche man die Regierung auf „die auf der Tribune oder in den Zeitungen ausgesprochenen Meinungen“ zu verpflichten, sichere man ihr „bey der Divergenz derselben eine völlige Willkühr“. Einer „einigermaßen geschickten Regierung“ könne es nicht schwerfallen, sich

sowie ferner T. Linke, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. F Rn. 8, 25, 32. Auch § 1 Abs. 1 IPA-Entwurf enthielt die Forderung, dass eine „Aufklärung im öffentlichen Interesse“ liege. 350 Vgl. BVerfGE 77, 1 (Ls. 1, S. 39, 44, 44 f., 45) und passim. Schon früher gab es Andeutungen, dass „Gegenstände, die scheinbar Privatangelegenheiten [seien…], öffentliches Interesse beanspruchen“ könnten. Vgl. W. Thiele, ZBR 1955, 76 (77) m. w. N. 351 Mit Unterschieden im Detail fordern das „öffentliche Interesse“ W. Thiele, ZBR 1955, 76 (77); R. Scholz, AöR 105 (1980), 564 (594 f.); K. Stern, StaatsR II, 1980, S. 63; H.-P. Schneider, 57. DJT, 1988, S. M54 (M72); B. K. Buchholz, Betroffene, 1990, S. 25 ff.; M. Köhler, NVwZ 1995, 664 (665); D. Wiefelspütz, NVwZ 2002, 10 (13); ders., ZG 2003, 35 (39); M. Schulte, Jura 2003, 505 (506); M. Reinhardt, NVwZ 2014, 991 (992); N. Achterberg/ders., in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 24; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 21, 29. s. ferner C. Link/H. de Wall, JZ 1992, 1152 (1154) zum Landesrecht oder BT-Drs. 14/2363, S. 3 und 8 (FDP-Entwurf); BT-Drs. 14/2518, S. 2 und 11 (Entwurf SPD-GRÜNE); BT-Drs. 14/5790, S.  14 (Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäfts­ ordnung) aus dem Gesetzgebungsverfahren. 352 Vgl. so aber, weil, was jeden angehe auch „öffentlichen Charakter“ habe, E.-W. Böckenförde, AÖR 103 (1978), 1 (14 f.) und wohl auch N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 27 oder U. Di Fabio, Rechtsschutz, 1988, S. 42 f. – C Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 86 will ein öffentliches Interesse annehmen, „wenn ein Sachverhalt Gegenstand parlamentarischer Diskussion wird“. Zu einzelnen Beweiserhebungen vgl. J. Vetter, DÖV 1987, 426 (430). Noch weniger als das faktische Interesse kann ein Desinteresse des Publikums rechtlich relevant sein. A. A. anscheinend U. Güther/R. Seiler, NStZ 1993, 305 (309). Im Ergebnis wie hier J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 192 ff.

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eine „Majorität der Stimmen“ „zu verschaffen“.353 Analog zu diesen historischen Überlegungen wird heute bemängelt, dass zwangsläufig jeder parlamentarische Einsetzungsantrag auf „öffentliches Medieninteresse“ stoße.354 Beliebigkeit und Manipulierbarkeit sind wie vor gut 175 Jahren eben keine brauchbaren Maßstäbe zur Kompetenzabgrenzung.355 Teils wird für jede privatgerichtete Enquête – wie es auch in der Rechtsprechung anklingt356  – ein „konkreter Anlass“ oder „Anfangsverdacht“ gefordert. Martin Morlok spricht von einer „Verdachtsakzessorietät“ privatgerichteter Untersuchungen und verlangt, dass es „um die Vorbereitung rechtsverbindlicher Beschlüsse oder um die auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützte Kontrolle staatlichen Handelns“ gehe.357 Nach Meinhard Schröder bedürfen „Untersuchungen im privatwirtschaftlichen Bereich eines hinreichenden Anlasses“.358 1988 haben Otto Depenheuer und Günter Winands das Untersuchungsrecht allgemein als „notwendig ‚verdachtsakzessorisch‘“ qualifiziert und in sinngemäßer Anwendung des § 152 Abs.  2 StPO einen „Anfangsverdacht“ verlangt. Eine „Ausforschung einzelner Lebensbereiche ‚ins Blaue hinein‘“ sei unzulässig. Dafür stützen sie sich einerseits auf den Vorentwurf von Hugo Preuß, dass „Gesetzlichkeit oder Lauterkeit von Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen […] angezweifelt“ werden müssten, fordern aber andererseits als „ungeschriebene[s] Tatbestandsmerkmal, daß

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G. F. Puchta, Gewohnheitsrecht II, 1837, S. 230 ff. Teilkongruente Bedenken bei J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 192: „[W]er [ist] als Öffentlichkeit anzusehen?“ 354 P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 19; J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 193; M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 82; ferner H.-J. Mengel, EuGRZ 1984, 97 (99) und C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 86. 355 Im Ergebnis ähnl. J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 191 f., der zu Recht moniert, dass der „Faktizität […] jede inhaltlich begrenzende Wirkung“ zum Opfer falle. s. gegen ein faktisches Verständnis auch K. J. Partsch, 45. DJT I/3, 1964, S. 17; A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 32; R. Kipke, Untersuchungsausschüsse, 1985, S. 45; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 30; G. A. Wolf, Strafjustiz, 2004, S. 65; M. Schulte, Jura 2003, 505 (508); B. K. Buchholz, Betroffene, 1990, S.  26; H.  Steinberger, Rechtsgutachten, 1988, S. 1195 oder BayVerfGH, NVwZ 1995, 681 (684); FG München, DStZ 1993, 341 (342). 356 In BVerfGE 77, 1 (58 f.) („Neue Heimat“) ist die Rede davon, dass das „öffentliche Interesse“ aufgrund eines „Anfangsverdacht[s]“ für gravierende Missstände bestehe bzw. Anlass zu einer Bundestagsuntersuchung gegeben sein könne, wenn ein Landtagsuntersuchungs­ ausschuss erhebliche Missstände aufdecke. Aus den Ländern vgl. BayVerfGH, NVwZ 1995, 681 (683); BadWürttStGH, NVwZ-RR 1992, 593 (596). 357 M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 31. Gegen seine Kriterien sprechen die oben angebrachten Bedenken gegen eine Limitierung auf formelle oder rechtsverbindliche Akte. Mit einem „Anfangsverdacht“ rücken Enquête und Untersuchung in ungerechtfertigte Nähe zum gerichtlichen Verfahren. Dagegen auch H.-P. Schneider, 57.  DJT, 1988, S.  M54 (M72 f.). 358 M. Schröder, 57. DJT, 1988, S. E24 f. s. auch C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 90 ff., 96: „Notwendig setzt eine privatgerichtete Untersuchung den (Mißstands-)Verdacht von Verstößen gegen gesetzliche Bestimmungen voraus, die vom Schutzzweck her zur Wahrung und Ein­ haltung des Gemeinwohls bestimmt sind“.

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nur konkrete Zweifel […] die Einsetzung […] rechtfertigen“ könnten.359  – Derartigen Forderungen wird zu Recht entgegengehalten, dass sie weder im Verfassungswortlaut noch der Entstehungsgeschichte einen Halt fänden, der parlamentarischen Praxis widersprächen und der Funktion des Bundestages abträglich seien. Der Hinweis auf § 152 Abs. 2 StPO werde dadurch desavouiert, dass Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG bloß für die Beweiserhebung, nicht aber für die Einsetzung gelte. Die Aufgaben eines Untersuchungsausschusses ließen sich nicht mit strafprozessualen Kategorien erfassen.360 Tatsächlich lässt sich das „öffentliche Interesse“ an einer Untersuchung allein anhand des normativ verstandenen Gemeinwohlbezugs ihres Gegenstands bemessen.361 Dafür spricht insbesondere auch der mit der Forderung dieser Einsetzungsvoraussetzung letztendlich ursprünglich verfolgte Schutzzweck zugunsten der Grundrechte; allgemein bedarf es auch für die Eingriffsrechtfertigung an erster Stelle der Feststellung, dass mit der Grundrechtsbeeinträchtigung ein legitimes öffentliches Interesse verfolgt wurde.362 Für die Regierungs- und Verwaltungskontrolle kommt diesem Kriterium in der Regel keine eigenständige Bedeutung zu.363 Eine Einbeziehung privater oder gesellschaftlicher Sachverhalte ist demgegenüber bloß zulässig, wenn und soweit ein rechtfertigendes „öffentliches Interesse“ positiv festgestellt werden kann.364 3. Ein (faktischer) Verzicht auf das Untersuchungsinteresse? Trotz der weitgehenden Zustimmung zu der Notwendigkeit eines öffentlichen Untersuchungsinteresses stößt es keineswegs auf allgemeine Gegenliebe. So hat Hans-Peter Schneider aus dem Schweigen des Untersuchungsausschussgesetzes 359 O. Depenheuer/G. Winands, ZRP 1988, 258 (258, 262 f.); ähnl. B. K. Buchholz, Betroffene, 1990, S. 24 und B. Peters, NVwZ 2012, 1574 (1575 f.). 360 Mit Unterschieden im Detail s. D. Wiefelspütz, NVwZ 2002, 10 (14 f.); M. Köhler, NVwZ 1995, 664 f.; D. Weingärtner, ZRP 1991, 232. Abl. auch G. A. Wolf, Strafjustiz, 2004, S. 61; H.-P. Schneider, 57. DJT, 1988, S. M54 (M72 f.) und der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, BT-Drs. 11/8085, S. 16. 361 Ähnl. mit Unterschieden im Einzelnen B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn.  86, 88; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn.  20; D. Wiefelspütz, NVwZ 2002, 10 (14) oder BayVerfGH, NVwZ 1995, 681 (684); FG München, DStZ 1993, 341 (342); B. K. Buchholz, Betroffene, 1990, S. 26; H. Steinberger, Rechts­ gutachten, 1988, S. 1195 („Bezug auf das Gemeinwohl“); R. Kipke, Untersuchungsausschüsse, 1985, S. 45. 362 s. allg. zum legitimen Zweck als Eingriffsvoraussetzung etwa BVerfGE 30, 292 (316) bzw. zum Schutz Dritter durch das Kriterium des öffentlichen Untersuchungsinteresses M. Reinhardt, NVwZ 2014, 991 (992). 363 P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 21 f.: sofern der Sachverhalt weder offenkundig noch aufgeklärt ist. Zur Offenkundigkeit auch B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 87. 364 P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn. 24; B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 90 ff.

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geschlossen, dass der Gesetzgeber auf dieses vage Kriterium endlich verzichtet habe;365 die Gesetzgebungsmaterialien sprechen eine andere Sprache.366 Ute ­Mager interpretiert das „öffentliche Interesse“ als Voraussetzung bzw. Bestandteil der „verfassungsmäßigen Zuständigkeit des Bundestages“; es sei damit nicht mehr als eine „begriffliche Hülse für die einer jeden Zuständigkeit innewohnende Missbrauchsgrenze“.367 Andere Autoren lehnen das „öffentliche Interesse“ u. a. als zu unbestimmt, unscharf oder zur Begrenzung der Parlamentsbefugnisse ungeeignet ab.368 Schon 1919 sprach sich Reichsinnenminister Hugo Preuß gegen eine entsprechende Einsetzungsvoraussetzung aus, weil so, wenn das Parlament nur darauf beharre, dass es um „Dinge von öffentlichem Interesse“ gehe, kein Schutz vor „Eingriffen in private Angelegenheiten“ zu erreichen wäre.369 Andere moderne Kritiker halten das öffentliche Untersuchungsinteresse gegenüber Missbrauchsversuchen, um das Minderheiten- oder gar das Selbstinformationsrecht an sich auszuhöhlen, für anfällig.370 Zu ähnlichen Ergebnissen wie ein Verzicht auf das öffentliche Interesse führt es, wenn man seine Konkretisierung ohne gerichtliche Überprüfungsmöglichkeit den Antragstellern überlässt oder es bei einem qua­ lifizierten Einsetzungsantrag als indiziert ansieht.371 Mit der gesamtparlamentarischen Verantwortung für jeden Untersuchungsausschuss des Bundestages wäre ein solches Vorgehen wohl nicht kompatibel, dessen einziges Resultat bestenfalls eine 365

Vgl. H.-P. Schneider, NJW 2001, 2604 (2605, 2607), der in AK-GG (Aug. 2002), Art. 44 Rn. 11 das „öffentliche Interesse“ nicht als „unbestimmten Rechtsbegriff“, aber als „nicht justitiable, nähere Umschreibung der Untersuchungsaufgabe“ im „politischen Einschätzungsermessen der Antragsteller“ qualifizierte. 366 D. Wiefelspütz, NVwZ 2002, 10 (12 f.); G. A. Wolf, Strafjustiz, 2004, S. 64 f.; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 5 Rn.  13. Aus dem Gesetzgebungsverfahren s. BT-Drs. 14/2363, S. 3 und 8 (FDP-Entwurf); BT-Drs. 14/2518, S. 2 und 11 (Entwurf SPD-GRÜNE); BT-Drs. 14/5790, S.  14 (Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wahl­ prüfung, Immunität und Geschäftsordnung). 367 U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (606 ff.). 368 Ausführliche Auseinandersetzung bei J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S.  194 ff. s.  ferner gegen ein „öffentliches Interesse“ H.-J. Mengel, EuGRZ 1984, 97 (99); M. Quaas/R. Zuck, NJW 1988, 1873 (1874); G. Kretschmer, DVBl 1988, 811 (813); W. Zeh, DÖV 1988, 701 (704); S. Studenroth, Untersuchung, 1992, S. 65, 74; C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 85 ff. Krit. auch M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 82 ff. 369 s. 7. Teil Kap. 2 A. II. 2. b). 370 H.-P. Schneider, 57. DJT, 1988, S. M54 (M72); H.-J. Mengel, EuGRZ 1984, 97 (100). 371 Vgl. H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 44 Rn. 11 oder U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (607 f.). H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 9 spricht von einer „Kompetenz-Kompetenz für die Entscheidung, wann ein öffentliches Interesse für eine parlamentarische Untersuchung gegeben [wäre, die…] im Fall der Mehrheitsenquête beim Parlament, im Fall der Minderheitenenquête bei der sie beantragenden Minderheit“ liege. C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 85 ff. will das „öffentliche Interesse“ als Einsetzungskriterium verabschieden und den Antrag der Einsetzungsminderheit genügen lassen. Ein Gesetzentwurf der Grünen lehnte das „öffentliche Interesse“ 1998 als Einsetzungskriterium ab, weil es dem Bundestag überlassen bleiben müsse, „für alle Gegenstände, die er beraten und diskutieren [könne…], das Instrument der parlamentarischen Untersuchung und Sachaufklärung in Anspruch zu nehmen“ (BT-Drs. 13/11227, S. 9). Ähnl. zuvor H.-J. Mengel, EuGRZ 1984, 97 (99).

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unsanktionierte Begründungspflicht wäre.372 Über eine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle auf eine Vertretbarkeitsprüfung lässt sich dagegen nachdenken.373 4. Zwischenergebnis Das öffentliche Untersuchungsinteresse dient als Einsetzungsvorbereitung dem Schutz der drittbetroffenen Privaten. Dementsprechend spielt es für staatsgerichtete Enquêten oder Untersuchungen allenfalls eine untergeordnete Rolle. Seine Stunde schlägt, sobald Dritte von der Tätigkeit eines Untersuchungsausschusses betroffen werden oder sie sogar im Fokus des parlamentarischen Interesses stehen. In diesem Fall ist ein rechtfertigendes öffentliches Untersuchungsinteresse erforderlich, dass den mit der Untersuchung ihrer Verhältnisse verbundenen Grundrechtseingriff aufwiegen kann.

IV. „Weiche“ Steuerungsmechanismen Einen modernen Ansatz zur Einhegung des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts hat Wolfgang Zeh bereits 1988 entwickelt: Er wollte die Ausübung des Art. 44 GG mit „einem Risiko, einem politischen und rechtlichen Preis [zu] belasten“; konkret regte er die Einführung von Gegendarstellungs- und Schadenersatzansprüchen, eine Beweislastumkehr oder schärfere Strafen für die „Preisgabe“ von Informationen an.374 Sein Vorschlag verfolgte also einen quasispieltheoretischen Ansatz bzw. griff der ökonomischen Analyse des Rechts vor, indem er die „Kosten“ für einen parteipolitischen Missbrauch so hoch treiben wollte, dass er sich für rational handelnde politische Akteure nicht mehr lohnte. Ungeachtet seiner Originalität sind erhebliche Zweifel an der Umsetzbarkeit und Wirksamkeit dieses Modells angebracht: Eine individuelle Schadenersatzpflicht der Abgeordneten dürfte durch Art.  46 Abs.  1 Satz  1 GG ausgeschlossen sein.375 Eine institutionelle Ersatz- oder Gegendarstellungspflicht des Bundestages braucht die Minderheit ebenfalls nicht zu fürchten. Für die Untersuchungsbetroffenen würde 372 Abl. auch D. Wiefelspütz, NVwZ 2002, 10 (13) unter Hinweis auf die Bundestagsverantwortung für die Untersuchung. 373 Vgl. G. A. Wolf, Strafjustiz, 2004, S. 66; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 29 a. E. („Einschätzungsermessen“); J. Linck, ZRP 1987, 11 (14) („Beurteilungsspielraum“ mit justitiablen Grenzen); D. Wiefelspütz, NVwZ 2002, 10 (14) („Einschätzungsprärogative des Bundestages“); B. K. Buchholz, Betroffene, 1990, S.  27 fordert trotz des Beurteilungsspielraums, den er dem Parlament zubilligt, „daß […] im Einsetzungsantrag eine Begründung des öffentlichen Interesses […] gegeben und […] die Grundlagen des Abwägungsprozesses verdeutlicht“ würden, um so eine gerichtliche Kontrolle zu ermöglichen. R. Scholz, AöR 105 (1980), 564 (595 f.) misst dem Minderheitsantrag demgegenüber solange eine Indizwirkung bei, wie das Fehlen des „öffentlichen Interesses“ nicht evident ist. 374 W. Zeh, DÖV 1988, 701 (704 f.). 375 Dazu C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 280; M. Schröder, 57. DJT, 1988, S. E73.

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sich der Vorschlag indessen wahrscheinlich als griechisches Präsent entpuppen, indem sie die untersuchungsbedingten Nachteile ebenso wie die Prozesslast einstweilen (er)tragen müssten. Ungeachtet dessen reüssierte wenigstens die Idee eines Gegendarstellungsanspruchs auf dem 57.  Juristentag 1988.376 Konkrete Folgen blieben zunächst aus. Mittlerweile sieht § 32 PUAG die doppelte Pflicht der Untersuchungsausschüsse vor, Personen, die durch den Abschlussbericht erheblich in ihren Rechten beeinträchtigt werden können, Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben; der wesentliche Inhalt der Erwiderung ist in dem Bericht widerzugeben. De facto erfüllen diese Kautelen die Funktion eines Gegendarstellungsanspruchs.377

V. Zwischenergebnis Die überzeugendste Grundlage für eine Definition des formellen Enquête- und Untersuchungsrechts ist nach wie vor die Korollartheorie. Der Grund ihrer Langlebigkeit besteht schlicht in der ebenso treffenden wie trivialen Kernaussage, dass die materiellen Parlamentsbefugnisse den Maßstab für das formelle Selbstinformationsrecht bilden. Konsequenterweise darf der Bundestag, wenn er sich einer Frage überhaupt widmen kann, zu ihrer Vorbereitung auch einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Über welche Eingriffsbefugnisse ein solches Gremium gegenüber drittbetroffenen Privaten verfügt, ist eine im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung der Grundrechte zu entscheidende Frage. Mit Hilfe der Kontrollfunktion, die Art. 44 GG – teils unter Bezugnahme auf die ­ nquêteGewaltenteilung – zugeschrieben wird,378 lässt sich die Reichweite des E und Untersuchungsrechts jedenfalls nicht abschließend umreißen. Eine auf diesen Teilaspekt verengte Auslegung würde dem historisch gewachsenen Selbstinformationsrecht in keiner Weise gerecht. Außerdem verkehrte sie, anders als die zutreffende Annahme, dass Art. 44 GG als „Korollar“ der materiellen Parlamentsbefugnisse diesen gegenüber eine dienende Funktion einnimmt, das Verhältnis von Mittel und Zweck: Art. 44 GG ist nicht die Grundlage der parlamentarischen Kontrollaufgabe, sondern – im Hinblick auf die erforderlichen Instrumente – eine ihrer Ausprägungen. Daneben können die zwangsbewehrten Beweiserhebungsbefugnisse und der Amts- und Rechtshilfeanspruch dem Bundestag ebenso gut zur Selbstkontrolle oder zur Vorbereitung gesetzgeberischer Maßnahmen bzw. politischer Beschlüsse an die Adresse der Regierung dienen. Kurzum: Die informa 376 Vgl. N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 187; DepDJT (Hg.), 57. DJT II 1988, M252 f., Nr. 30: „Der Kritikschutz des Art. 44 Abs. 4 GG ist unverändert beizubehalten. […] Derjenige, über den im Bericht des Untersuchungsausschusses ehrverletzende Behauptungen enthalten sind, […] hat gegenüber dem Untersuchungsausschuß das Recht auf Gegendarstellung. Die Gegendarstellung ist vom Parlament zu veröffentlichen.“ Einen Gegendarstellungsanspruch regt auch M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 214 ff., 220 f. an. 377 s. nur K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ders. (Hg.), PUAG, 2015, § 32 Rn. 1 m. w. N. 378 Etwa BVerfGE 67, 100 (130).

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tionsrechtliche Befugnis hat gegenüber den materiellen parlamentarischen Kompetenzen die angesprochene dienende Funktion; andernfalls fiele der Bundestag für andere Aufgaben auf die schwächlichen Informationsmöglichkeiten des Konstitutionalismus zurück. Die Ausdehnung einer regierungsbezogenen Untersuchung auf privates Terrain ist dem Bundestag deswegen ebenso gestattet wie eine zwar „privatgerichtete“, aber dennoch auf Art. 44 GG gestützte Enquête. Wegen der Grundrechtsrelevanz zumindest der Untersuchungsmaßnahmen muss dieser Schritt aber durch ein ausreichendes öffentliches Interesse gerechtfertigt sein. Eine Vorentscheidung über die Zulässigkeit konkreter Untersuchungsmaßnahmen, etwa der zwangsweisen Beschaffung von Beweismitteln, ist damit noch nicht verbunden; belastende Maßnahmen müssen im Einzelfall auf ihre Grundrechtsverträglichkeit geprüft werden. Die Berücksichtigung der privaten (Grundrechts-)Interessen ist eine dem Paradigmenwechsel in der Grundrechtsgeltung geschuldete Fortentwicklung gegenüber der Vorkriegsstaatsrechtslehre. Die Reichweite des Art.  44 GG ist also weder sektoral noch funktional beschränkt: Es spielt keine Rolle, ob das Untersuchungsthema in der „Gesetzlichkeit oder Lauterkeit“ staatlicher Stellen oder in reformbedürftigen gesellschaftlichen Missständen besteht. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, ob es um die Vorbereitung einer gesetzgeberischen Entscheidung, einer anderen rechtserheblichen Maßnahme oder eines schlichten Parlamentsbeschlusses geht. Insoweit steht Art.  44 GG in der Tradition des § 24 GO-FNV 1848, der analogen Praxis der preußischen Vereinbarungsversammlung, des Art. 82 PrVerf 1850 oder des Art. 34 RVerf 1919, die der Volksvertretung allesamt thematisch unbegrenzte, allgemeine Selbstinformationsrechte zur Abrundung ihrer materiellen Kompetenzen beschert haben. Ob das förmliche Enquête- und Untersuchungsrecht oder eines der (freiwilligen) Informationsinstrumente der Geschäftsordnung zum Zuge kommt, ist eine Frage des politischen Ermessens.379

B. Organkompetenzielle Grenzziehungen In der Verfassungsgeschichte wurden informationsrechtlichen Forderungen der Ständeversammlungen immer wieder (pseudo-)gewaltenteilungsrechtliche Einwände entgegengehalten. Schon in der Weimarer Republik traten solche Bedenken gegenüber der ausdrücklichen Regelung des Art. 34 Abs. 2 und 3 RVerf 1919 und im Hinblick auf den Systemwechsel von der Monarchie zu Demokratie und Parlamentarismus nahezu vollständig zurück.

379 So D. Weingärtner, ZRP 1991, 232. Dagegen interpretierte W. Zeh, DÖV 1988, 701 (709 f.) die Aufnahme der Enquêtekommissionen in die Geschäftsordnung als begrenzende Selbstverpflichtung des Bundestags. A. A. C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 62.

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I. Das Verhältnis zu Regierung und Verwaltung Trotzdem besteht das Enquête- und Untersuchungsrecht gegenüber Regierung und Verwaltung heute ebenso wenig wie damals schrankenlos. Das Parlament kann nicht jeden Sachverhalt aus der Verantwortungssphäre von Regierung und Verwaltung zum Gegenstand einer Untersuchung machen; sein Selbstinforma­ tionsrecht unterliegt im Interesse der Funktionsfähigkeit der Bundesregierung als Bundesverfassungsorgan verfassungsimmanenten Schranken.380 1. Kernbereichsschutz und retrospektive Kontrolle Das wichtigste Instrument zur Begrenzung des parlamentarischen Informationsrechts ist der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung, der primär im Interesse der Funktionsfähigkeit der Bundesregierung vor Informationsforderungen des Bundestages geschützt wird. Die einschlägigen Entscheidungen betreffen dabei nicht ausschließlich das Selbstinformationsrecht des Plenums, sondern auch die Fragerechte der Abgeordneten, soweit sie vergleichbaren Beschränkungen unterliegen. Trotz des permanenten Wiederkehrens dieser Argumentationsfigur ist der Kernbereich eine schwer zu bestimmende Chimäre.381 1984 leitete das BVerfG aus dem „Gewaltenteilungsgrundsatz“ neben dem parlamentarischen Kontrollrecht auch diesen Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung im Anschluss an Überlegungen von Rupert Scholz382 ab. Der Zweite Senat ging davon aus, dass jede „Verantwortung der Regierung gegenüber Parlament und Volk […] notwendigerweise“ einen „Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich“ voraussetze. Diesem parlamentarisch „grundsätzlich nicht ausforschbaren“ Arkanum schlug das Gericht „z. B.“ – also nicht abschließend – die „Willensbildung der Regierung“ einschließlich der Kabinettsberatungen und ihrer Vorbereitungen zu.383 2004 kam aus Anlass einer schleswig-holsteinischen Verfassungsstreitigkeit, die nicht das Untersuchungsrecht, sondern einen selbständigen Aktenvorlageanspruch der Landtagsausschüsse betraf,384 der weitere Aspekt hinzu, 380 Nicht hierher gehören Schranken, die sich aus der Grundrechtsrelevanz von Informationen ergeben können. s. dazu etwa N. Kazele, VerwArch 101 (2010), 469 (474 f.). 381 Krit. P. Cancik, ZParl 2014, 885 (890 ff.). 382 R. Scholz, AöR 105 (1980), 564 (598). 383 BVerfGE 67, 100 (139) (Zitate); BVerfGE 77, 1 (59); BVerfGE 110, 199 (214); BVerfGE 124, 78 (120). 384 BVerfGE 110, 199 (219 f.) sprach diesem Recht aus Art. 23 Abs. 2 Satz 2 SHVerf aber grundsätzlich denselben Stellenwert zu. Konkret hatte sich die Landesregierung gegenüber dem Aktenvorlageverlangen des Bildungs- und des Haushaltsausschusses auf das Weigerungsrecht des Art.  23 Abs.  3 SHVerf berufen, dass „dem Bekanntwerden des Inhalts gesetzliche Vorschriften oder Staatsgeheimnisse oder schutzwürdige Interessen einzelner, [entgegenstünden…] oder […] die Funktionsfähigkeit und die Eigenverantwortung der Landesregierung beeinträchtigt“ würde (S. 201 f.).

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dass die Informationspreisgabe nicht zu einem „Mitregieren Dritter“, gemeint war das Parlament (!), bei solchen Entscheidungen führen dürfe, die von Verfassungs wegen der Regierung vorbehalten seien. Gefahren sah das BVerfG bereits bei einer vorzeitigen Informationspreisgabe, die das Gouvernement – in Gestalt des „Zeitpunkts, zu dem sie fallen soll[e]“ – um einen wichtigen „Teil jeder politischen Entscheidung“ bringen könne.385 Einen interessanten Punkt brachte der „BND“-Beschluss des Zweiten Senats 2009 mit der Funktionsfähigkeit der staatlichen Behörden ins Spiel, als sich verschiedene Abgeordnete und die Fraktion der Grünen gegen eine unvollständige Beantwortung zweier Kleiner Anfragen zur nachrichtendienstlichen Beobachtung von Parlamentariern wendeten.386 Das Gericht bewertet ein Zurückhalten von Informationen grundsätzlich als möglicherweise zulässig, wenn die „Offenlegung von Einzelheiten zu Arbeitsweisen, Strategien, Methoden und Erkenntnisstand der Nachrichtendienste […] deren Arbeitsfähigkeit und Aufgabenerfüllung“ gefährden könnte.387 Obwohl das BVerfG insoweit nicht den Kernbereichsschutz anspricht, sondern die Frage einer absoluten Geheimhaltungsbedürftigkeit stellt,388 ergeben sich doch funktionelle Berührungspunkte mit dem Kernbereichsschutz, der, obwohl mit der parlamentarischen und der Verantwortung vor dem souveränen Staatsvolk begründet, letzten Endes auf die Funktionsfähigkeit der Bundesregierung als Verfassungsorgan abhebt.389 Unter diesem Blickwinkel könnte die „BND“-Entscheidung einen Anhalt dafür bieten, diesen gewaltenteilungsrechtlichen Topos auf die Verwaltung zu erstrecken. Im „Flick“-Urteil kommt das BVerfG als Konsequenz seiner Kernbereichsüberlegungen – ähnlich wie der vorlStGH oder die Weimarer Staatsrechtslehre390 – zu dem Schluss, dass sich die politische „Kontrollkompetenz […] grundsätzlich nur auf bereits abgeschlossene Vorgänge“ erstrecke.391 Die Volksvertretung habe demgegenüber kein Recht, in „laufende Verhandlungen und Entscheidungsvorbereitungen“  – gemeint ist wohl: durch Informationsforderungen  – „einzugreifen“. Selbst bei „abgeschlossenen Vorgängen“ dürfe die Bundesregierung dem Parlament ausnahmsweise geheimhaltungsbedürftige Fakten vorenthalten.392 Ende März 2004 ergänzte der Zweite Senat diese 20 Jahre früher bloß kurz angerissenen Überlegungen dahin, dass ein nachträglicher „schrankenloser parlamentarischer 385

BVerfGE 110, 199 (214 f.) (Zitate); BVerfGE 124, 78 (120 f.). BVerfGE 124, 161 (162 ff.). 387 Vgl. BVerfGE 124, 161 (193 f.). 388 Vgl. J. Hecker, DVBl 2009, 1239 (1240), der von einer weiteren Ausprägung der Staatswohlschranke neben dem Kernbereichsschutz ausgeht und insoweit das „Bestreben der Regierung, die Funktionsfähigkeit staatlicher Sicherheitsbehörden“ zu wahren, den „Sicherheitsgründen“ zuordnet. 389 Vgl. H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2001), Art. 42 Rn. 106 f. 390 s. 7. Teil 3. Kap. B. I. 3. 391 Krit. W. Becker, DÖV 1964, 505 (507). 392 BVerfGE 67, 100 (139) (Zitate). Zust. BVerfGE 110, 199 (215 f.); BVerfGE 124, 78 (121). 386

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Anspruch auf Informationen“ ebenfalls, dieses Mal aber durch seine „einengenden Vorwirkungen“ – naheliegende Einbußen an diskursiver Freiheit und Offenheit in den ressort- und kabinettsinternen Beratungen – die Funktionsfähigkeit der Regierung beeinträchtigen könne.393 Um andererseits auch nicht jede Kontrolle durch den Bundestag zu paralysieren, weist das Gericht in seiner zweiten Schleswig-Holstein-Entscheidung pauschale Lösungen zurück. Ob eine Weitergabe von Informationen über die „Vorbereitung abgeschlossener Regierungsentscheidungen“ (in der Vergangenheit!) die „Funktionsfähigkeit und Eigenverantwortung“ (in der Gegenwart und wohl auch Zukunft!) beeinträchtigt, soll durch eine Einzelfallabwägung des parlamentarischen Informations- mit dem Vertraulichkeitsinteresse der Bundesregierung zu ermitteln sein.394 Je tiefer die Volksvertretung in den gubernativen Nukleus vorzudringen versucht, desto höher hängt die Messlatte. Komplementär dazu genießen reine Vorfeldberatungen prinzipiell geringeren Schutz. Außerdem misst das Gericht etwaigen Bemühungen des Bundestages  – genauer müsste es wohl in aller Regel heißen: seiner Minderheiten  –, „Rechtsverstöße und vergleichbare[r] Missstände innerhalb der Regierung“ aufzudecken, besonderes Gewicht bei.395 Diese Überlegungen wurden 2009 in der „BND“-Entscheidung zwar bestätigt,396 die Grenzen des Kernbereichs aber letzten Endes durch die konkret gestellten Anforderungen wieder enger gezogen, als zuvor abstrakt angedeutet.397 Im Schrifttum teils geäußerte Sorgen, die Regierung könne bei einer restriktiven verfassungsgerichtlichen Handhabung dieser Maßstäbe künftig dazu verpflichtet sein, das Geheimhaltungsinteresse „Aktenstück für Aktenstück“ zu erläutern und „gegen das (von Fraktion zu Fraktion variierende und der Regierung auch nicht zwangsläufig immer im Detail geläufige) parlamentarische Informationsinteresse abzuwägen“ (Jan Hecker), liegen nahe.398 Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte eine funktionsbezogene Verobjektivierung des parlamentarischen Informationsinteresses sein, indem die Bundesregierung lediglich auf die generelle Gemeinwohlbedeutung einer Angelegenheit, ggf. durch das Parlament geltend gemachte Anhaltspunkte für exekutive Fehler sowie die allgemeine Kontrollaufgabe abzustellen hätte. Das gleichsam „subjektive“ Interesse der einzelnen Fraktionen, die mit Auskunfts- wie Untersuchungsforderungen legitimerweise parteipolitische Anliegen verfolgen, taugt demgegenüber nicht als Maßstab für die Kompetenzabgrenzung zwischen Parlament und Bundesregierung. Eine weitere Möglichkeit besteht in einer Repolitisierung des parlamentarischen Unter-

393

BVerfGE 110, 199 (215 f., 221). BVerfGE 110, 199 (218 f.). An dieser Hürde scheiterte die Regierungsseite in BVerfGE 124, 78 (129 f.), weil die Aussagegenehmigungen „‚insbesondere Angaben über die Willens­ bildung […] im Kabinett oder ressortübergreifende und -interne Abstimmungsprozesse zur Vorbereitung von Kabinett- und Ressortentscheidungen‘ pauschal“ ausnahmen. 395 BVerfGE 110, 199 (222). 396 BVerfGE 124, 78 (121 ff., 131 f.). 397 Vgl. J. Hecker, DVBl 2009, 1239 (1241 f.) mit krit. Anmerkungen. 398 J. Hecker, DVBl 2009, 1239 (1241). 394

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suchungsrechts, die auch der Bundesregierung einen gewissen Antwortspielraum einräumte und das Ringen um die Aufklärung wenigstens teils ohne Beteiligung des BVerfG organisierte. Darauf ist noch im Detail zurückzukommen.399 Das Schrifttum hat sich die Grundposition der Rechtsprechung, insbesondere einer Beschränkung des Enquête- und Untersuchungsrechts auf eine Ex-post-Kontrolle sowie das Verbot ständiger Überwachung überwiegend zu eigen gemacht.400 Zu Recht beschreibt Oliver Lepsius den „Kernbereichsschutz“ darüber hinaus als „nicht thematisch, sondern institutionell, von der Organwillensbildung her gedacht“, so dass er „jedes Themenfeld betreffen“ könne, ohne „auf besonders sensible Bereiche beschränkt“ zu sein.401 2. Bedeutung für das Einsetzungsrecht Obwohl sich die entsprechenden Aussagen des BVerfG in aller Regel auf Streitigkeiten in der Durchführungsphase einer im Grunde zulässigen Untersuchung beziehen, finden sich in der Rechtsprechung sublime Anhaltspunkte für eine entsprechende Einschränkung des Einsetzungsrechts: So stellte der Zweite Senat in Sachen „Neue Heimat“ in dem Abschnitt über „Bedenken gegen die Befugnis […] zur Einsetzung“ fest, dass das parlamentarische Untersuchungsinteresse einem „abgeschlossenen Vorgang“ gegolten habe und den „grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich der Regierung […] nicht“ tangiere.402 Die von Johannes Masing zur Diskreditierung der Korollartheorie beschworene Gefahr einer permanent begleitenden, alle Regierungsentscheidungen konterkarierenden Kontrolle durch den Bundestag403 ist mit solchen Überlegungen gebannt.

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s. 8. Teil 6. Kap. B. s. aus der Fülle der Beiträge mit Unterschieden in Reichweite, Begründung und Detail B. Pieroth, in: Jarass/ders., GG13 2014, Art. 44 Rn. 4; L.-A. Versteyl, in: vMüK6 I, 2012, Art. 44 Rn. 25; S. Magiera, in: Sachs (Hg.), GG7 2014, Art. 44 Rn. 9; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art.  26 ff.; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art.  44 Rn.  57 ff.; M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn.  39; B. K. Buchholz, Betroffene, 1990, S.  23 f.; R. Scholz, AöR 105 (1980), 564 (597 f.); V. Busse, DÖV 1989, 45 ff.; D. Engels, Jura 1990, 71 (73 f.); A. Seidel, BayVBl 2002, 97 (102); C. Seiler, AÖR 129 (2004), 378 (388); O. Lepsius, KJ 2009, 81 (84); N. Kazele, VerwArch 101 (2010), 469 (471 ff.); B. Peters, NVwZ 2012, 1574 (1575); M. Reinhardt, NVwZ 2014, 991 (992 f.); P. Cancik, ZParl 2014, 885 ff.; K. J. Partsch, 45.  DJT I/3, 1964, S.  15 f. mit Hinweisen auf die Kontroverse in Bundestag und Landes­ parlamenten. Aus dem Weimarer Schrifttum vgl. etwa W. Rosenberg, 34. DJT I, 1926, S. 10; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 464 und in Fn. 80. 401 O. Lepsius, KJ 2009, 81 (84 f.). 402 BVerfGE 77, 1 (59 f.). 403 J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 175 f. 400

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3. Zwischenergebnis Insbesondere die Regierung wird heute durch denselben Grundsatz der Gewaltenteilung vor parlamentarischer Ausforschung geschützt, der gleichzeitig zur Legitimation des Kontrollrechts dient. Das überkommene „Gewaltenteilungsargument“ konstitutioneller Tage, dass kein parlamentarisches Gremium über die Exekutive richten dürfe, hat im gewaltengeteilten Staat des Grundgesetzes ausgedient. Von der früheren monarchischen Unverantwortlichkeit, als deren Reflex die Ständeversammlungen und Parlamente mehr oder minder über keinen Teil  der Exekutive urteilen dürfen sollten, ist nur der schwache Abglanz eines Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung geblieben. An dieser eher funktionalen Demarkationslinie endet die Rechenschaftspflicht der Regierung. Genuin nicht parlamentstaugliche Sachbereiche oder Informationen gibt es nicht; im Interesse der Funktionsfähigkeit der zweiten Gewalt, deren Kompetenzraum nicht durch ein parlamentarisches Mitregieren ausgehöhlt werden darf, ist das Kontrollrecht aber temporal grundsätzlich auf eine retrospektive Überprüfung abgeschlossener Vorgänge beschränkt. Im Einzelfall kann selbst dann noch verfassungsrechtlicher Schutz zugunsten der Exekutive eingreifen, wenn andernfalls aufgrund einer vollständigen nachträglichen Aufdeckung sämtlicher regierungsinterner Beratungen etc. mit negativen Vorwirkungen für die künftige Regierungsarbeit zu rechnen wäre. Im Fall eines zwischenzeitlichen Regierungswechsels kann es dazu kommen, dass sich die aktuelle Opposition unter Berufung auf den Kernbereichsschutz gegen eine Untersuchung wehren will, die ihre frühere Regierungstätigkeit betrifft.404 Anders als sein grundrechtlicher Namensvetter wirkt dieser Kernbereichsschutz aber grundsätzlich nicht absolut. Die Grenze dieser letzten Bastion exekutiver Kontrollfreiheit lässt sich nicht schematisch, sondern nur im Einzelfall bestimmen. Genau in dieser Notwendigkeit liegt die Krux der gesamten Konstruktion, indem das BVerfG mit rechtlichen Kategorien einem genuin politischen Streit zwischen der Regierung, der sie tragenden Bundestagsmehrheit und der parlamentarischen Opposition zu klären versucht.405 Auf die Konsequenzen dieses Problems wird noch zurückzukommen sein.406

II. Untersuchungsausschüsse und Justiz Besondere Schwierigkeiten bereitete in der historischen Entwicklung insbesondere das Verhältnis zu den Gerichten. 404 Zu den besonderen Problemen einer solchen Konstellation vgl. P. Cancik, ZParl 2014, 885 ff. 405 J. Hecker, DVBl 2009, 1239 (1241 f.) weist zu Recht darauf hin, dass die Abgrenzung der Sphären von Arkanum und Kontrollbereich ein „dogmatisch kaum befriedigend aufzulösen[des]“ „Dilemma“ ist. 406 s. 8. Teil 5. und 6. Kap.

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1. Historische Aspekte Ende 1831 wurden der Kammer in Kurhessen Auskünfte zu Hergang und gerichtlicher Aufarbeitung der „Garde-du-Corps-Nacht“ unter Hinweis auf die richterliche Unabhängigkeit verweigert.407 Noch in der Märzrevolution wurden selbst in der Mitte der Frankfurter oder der Berliner Nationalversammlung Bedenken laut, wenn parlamentarische Untersuchungen mit Ermittlungen von Strafverfolgungsorganen zusammentrafen.408 1863/64 sah sich die Forderung, die schweren Wahlmanipulationen durch das Ministerium Bismarck parlamentarisch aufzuarbeiten, dem vergleichbaren Einwand ausgesetzt, dass man besser eine „gerichtliche Untersuchung gegen die betreffenden Beamten […] beantragen“ werde.409 Während Sorgen um die Unabhängigkeit der Justiz in den Weimarer Verfassungsberatungen allenfalls am Rande vorkamen,410 brachte die Parlamentspraxis in Reich und Ländern, parallele Untersuchungen neben einem Strafverfahren durchzuführen, Forderungen der Richterschaft auf die Tagesordnung, den Gerichten einen absoluten Vorrang einzuräumen.411 Im Parlamentarischen Rat spielte das Verhältnis von Untersuchungsausschüssen und Justiz dann wieder eine größere Rolle; erstmals kam – als Lehre aus der jüngsten Vergangenheit – auch das Schutzbedürfnis der parlamentarischen Kontrollfunktion gegenüber der dritten Gewalt zur Sprache.412 2. Grundsätzliche Zulässigkeit paralleler Untersuchungen Tatsächlich hat Art.  44 Abs.  4 Satz  1 GG verglichen mit der Geschichte ein Stück weit einen entgegengesetzten Weg eingeschlagen, indem ausdrücklich nur das parlamentarische Untersuchungsverfahren vor den Gerichten geschützt wird; die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben mit dieser Entscheidung darauf reagiert, dass sich die Weimarer Justiz vor manchen parteipolitischen Karren hatte spannen lassen. Freilich sichert der folgende Satz die richterliche Unabhängigkeit bei der „Würdigung und Beurteilung des der Untersuchung zugrunde liegenden Sachverhaltes“ gegen jeden präjudiziellen Anschein oder Anspruch der parlamentarischen Sachverhaltsaufklärung. Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund nahmen die Gerichte die scheinbare parlamentarische Konkurrenz anders als in Weimarer Tagen von Anfang an 407

s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. a) bb) (2) und (3). s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 3. c) aa) (Immunitätssachen); 2. Kap., 3. Teil 2. Kap. D. III. 2. c) (Ausschreitungen gegen Abgeordnete) und IV. 3. c) (Schweidnitzer Untersuchung). 409 s. 5. Teil 3. Kap. C. II. 1. c) aa). 410 H. Preuß wendete gegen den Vorschlag eines von Weisungsbefugnissen flankierten parlamentarischen „Oberaufsichtsrechts“ ein, dass mit einem „Federstrich“ die „Unabhängigkeit der Rechtsprechung“ durch ein „Revolutionstribunal“ ersetzt werde. s. VerhWeimNV, Nr. 391, S. 263 f. und dazu 7. Teil 2. Kap. A. II. 2. a). 411 s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 2. 412 s. 8. Teil 2. Kap. B. IV. 408

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relativ klaglos hin; trotz vereinzelter Reibereien entstanden keine vergleichbar scharfen Fronten.413 Diese relative Harmonie ist umso bemerkenswerter, als die Justiz – ähnlich wie 1919 – nach dem Zweiten Weltkrieg keinem grundlegenden Revirement unterzogen, sondern das Gros der Staatsanwälte und Richter übernommen wurde.414 Dass sich das Verhältnis trotzdem vergleichsweise ruhig entwickeln konnte, dürfte neben einer neuen Zurückhaltung beider Seiten Art. 44 Abs. 4 GG zu verdanken sein, der zwischen den Zeilen eine Gleichberechtigung von Untersuchungsausschüssen und Justiz zum Ausdruck bringt.415 Freilich gab es auch Konflikte, in denen alte Vorbehalte und Argumente teils wieder aufgewärmt wurden. So stieß der „Flick“-Ausschuss auf Widerstand der 7. StrK des LG Bonn, deren Vorsitzender die „Einsicht in Teile der Hauptakten und in die dazugehörigen Beweismittel […] des […] parallelen Strafverfahrens“ verweigerte. Zur Begründung verwies er auf Belange der Rechtspflege, die Schutzbedürftigkeit der „zum Teil Geschäftsinterna enthaltenden Unterlagen“ sowie das Interesse aller Verfahrensbeteiligten an einem zügigen und störungsfreien Ablauf des Strafverfahrens. Erst als das OLG Köln seiner Beschwerde stattgab, erhielt der Ausschuss Ablichtungen der gewünschten Unterlagen; im Gegenzug hoben die Kölner Richter aber die parlamentarische Verpflichtung hervor, das „Verfahren so zu gestalten, daß Beeinträchtigungen und Störungen des Strafverfahrens auf das nicht vermeidbare Maß reduziert würden“.416 In diesem Spruch bestimmten Gleichberechtigung und gegenseitige Rücksichtnahme  – ganz im Sinne der Grundaussage des Art. 44 Abs. 4 GG – das Feld. Das Schrifttum akzeptierte parallele Untersuchungen ebenfalls von Anfang an, obwohl sich in einzelnen älteren Beiträgen – möglicherweise im Anschluss an die Vorkriegsdiskussion – noch vereinzelte Kritik fand.417 Von Seiten der Befür­worter 413 Vgl. J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 73 oder H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E9 f.). K. J. Partsch, 45.  DJT I/3, 1964, S.  128, 163 ff. berichtet m. w. N. aus der Bundesund Landtagspraxis, dass es beinahe nicht zu Reibungen gekommen sei; vereinzelte Untersuchungsausschüsse hätten aber ihre Arbeit aus Zweckmäßigkeitsgründen ausgesetzt. 414 s. dazu F. Wittreck, Verwaltung, 2006, S. 71 f. 415 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 155; C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 113 f. 416 OLG Köln, NJW 1985, 336 f. Erfolglos blieben weitere Versuche, bei Gericht aufbewahrtes Material zu erhalten, das die Staatsanwaltschaft bei Durchsuchungen nur in Verwahrung, nicht aber zur Verwendung in die Beweismittelordner genommen hatte. Der Vorsitzende Richter verwies auf überwiegende grundrechtliche Geheimhaltungsinteressen, „zumal der Geheimschutz nicht gewährleistet erscheine“. Die Ausschussmehrheit votierte gegen die von SPD und Grünen geforderte Beschwerde. Rechtsmittel ihrer Bundestagsfraktionen blieben vor dem OLG Köln, NVwZ 1986, 88 erfolglos. s. zum Ganzen BT-Drs. 10/5079, S. 5 f. 417 Der CDU-Bundestagsabgeordnete H. Dichgans, NJW 1964, 957 (958) befürchtete Nachteile und Gefahren für das Strafverfahren, wenn den Zeugen dieselben Fragen unterbreitet würden. Erfahrungsgemäß ließen sie sich durch mehrfache Vernehmungen beeinflussen. Weil die staatsanwaltschaftliche Untersuchung am Gründlichsten wäre, riet der promovierte Jurist, die parlamentarischen „Ermittlungen erst auf[zu]nehmen, wenn auch der ermittelnde Staatsanwalt oder Untersuchungsrichter seine Tätigkeit für beendet erklärt“ habe. Anschließend sollten sich

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kam das in der preußischen Vereinbarungsversammlung schon 1848 durch Benedikt Waldeck bemühte Argument zu Ehren, dass selbst die Schweidnitzer Untersuchungskommission „lediglich zur Information bestimmt“ war, keinesfalls mit den Gerichten in Konkurrenz trat, sondern der „gerichtliche[n] Untersuchung […] ihren freien Lauf“ ließ.418 Ähnliche Überlegungen waren auch in der Posener Untersuchungsdebatte angeklungen.419 Auf derselben Linie stellte Walter Lewald 1923 ausdrücklich klar, dass es auf oberflächliche Ähnlichkeiten einer parlamen­ tarischen Untersuchung und des gerichtlichen Verfahrens nicht ankomme.420 In vergleichbarer Weise argumentiert die herrschende Lehre bis heute.421 Trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass sich die parlamentarische und die gerichtliche Tätigkeit gegenseitig negativ beeinflussen können.422 Schematische Lösungen scheiden für etwaige Kollisionen aus, weil keine Seite einen absoluten Vorrang beanspruchen kann.423 Das Schrifttum geht von einem Recht, aber keiner Pflicht der Untersuchungsausschüsse aus, ihr Verfahren auszusetzen.424 Im Interdie Untersuchungsausschüsse „darauf beschränken, die Ergebnisse des Staatsanwaltes auszuwerten“, statt „noch eigene Tatsachenermittlungen durchzuführen“. Obwohl er keine zwingende Rechtsauslegung propagierte, sondern bloß einen Appell äußerte, schwang doch eine unüberhörbare justitielle Präferenz mit. Vgl. N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 16. 418 VerhPrNV I, S. 671. 419 s. 3. Teil 2. Kap. C. II. 2. d). 420 W. Lewald, AöR n. F. 5 (1923), 269 (313 ff.). M. Alsberg führte die vollkommene Zweckverschiedenheit beider Verfahren ins Feld (s. 7. Teil 3. Kap. B. II. 3. b)). 421 Zur Zulässigkeit paralleler Untersuchungen vgl. mit teils erheblichen Unterschieden F. Wittreck, Verwaltung, 2006, S.  303 f.; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art.  44 Rn. 155; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 17; G. A. Wolf, Strafjustiz, 2004, S.  55 f., 58; M. Schulte, Jura 2003, 505 (506); H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 44 Rn. 10; C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 112 ff.; M. Schröder, in: Schneider/ Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 46 Rn. 16; J. Vetter, ZParl 1989, 345 (346 ff.); M. Quaas/ R. Zuck, NJW 1988, 1873 (1875); A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 63 ff.; N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 450; R. Scholz, AöR 105 (1980), 564 (597); H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art.  44 Rn.  32; F. Giese/E. Schunck, GG8 1970, S.  121; A. Hamann, GG2 1961, S.  285; W. Thiele, ZBR 1955, 76 (77). 422 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 155; H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 44 Rn. 10; A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 64 und ferner J. Vetter, ZParl 1989, 345 (347 f.). Trotzdem sollten Sorgen, ein Untersuchungsausschuss könne das Gerichtsverfahren durch Aktenvorlageverlangen lahmlegen (J. Vetter, ZParl 1989, 345 (359)), so dass ein entsprechendes Ersuchen abgelehnt werden dürfe (T. Maunz, in: ders./Dürig, GG (1960), Art. 44 Rn. 56 m. w. N. aus dem Weimarer (!) Schrifttum), spätestens heute passé sein. Ähnl. äußerten sich auch H.-P. Schneider, DER SPIEGEL 43/1985, S. 45 und schon R. Grau, AöR n. F. 12 (1927), 123 (127) unter Hinweis auf das Mittel der „Aktenphotographie“. 423 N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 17; J. Vetter, ZParl 1989, 345 (347, 360). 424 Vgl. H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 155; H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 44 Rn. 10, der auch den Gerichten ggf. zur Aussetzung rät. s. ferner auch C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S.  114 f., der anscheinend u. U. eine Pflicht zur Aussetzung anerkennt, wenn die parlamentarische Untersuchung ein Strafverfahren „stillzulegen oder zu unterbrechen“ droht.

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esse der Rechtspflege soll die parlamentarische Seite aber Beeinträchtigungen auf das unvermeidbare Minimum zu reduzieren haben.425 Vereinzelt wird der Untersuchungstätigkeit des Bundestags, obwohl Kollisionen grundsätzlich durch gegenseitige Rücksichtnahme aufzulösen sein sollen,426 dort eine äußerste Grenze gezogen, wo Absprachen, die Zurückstellung von Beweiserhebungen, Geheimhaltungsmaßnahmen etc. nicht mehr ausreichen, um den strafrechtlichen Ermittlungserfolg zu sichern.427 3. Grenzen parlamentarischer und gerichtlicher Kompetenzen Es gibt aber natürlich auch „harte“ Grenzen: Wie in Weimarer Tagen ist es vollkommen unbestritten, dass sich kein parlamentarischer Ausschuss „echte“ richterliche Kompetenzen, also die verbindliche rechtliche Entscheidung eines Einzelfalls, anmaßen darf (Art. 92 GG).428 Die antiquierte These, dass sich die Untersuchungsausschüsse auf das schlichte Sammeln von Tatsachen zu beschränken hätten, ohne die Trouvaillen ihrer Mühen abschließend bewerten zu können, kann nicht mehr bestehen; schon früh galten die Ausschüsse als zur rechtlichen Würdigung befugt, solange diese Wertungen keine hoheitlich-dezisiven Wirkungen haben sollten.429 Nach dem zutreffenden Urteil des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung war es deswegen keineswegs ein bedenklicher Einbruch in judikative Domänen, als die SPD-Minderheit im „U-Boot“-Ausschuss „feststellte“, dass die „Verantwortlichen“ verschiedener „Firmen […] den Straftatbestand des § 324 AWG erfüllt und nicht lediglich eine Ordnungswidrigkeit began 425

N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 20 sowie N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 450 und J. Vetter, ZParl 1989, 345 (359 f.) zum Schutz des Strafverfahrens. 426 M. Schröder, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 46 Rn. 16; A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 65 f.; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 155 und ähnl. R. Groß, DVBl 1971, 638 (641), der den Untersuchungsausschüssen zu „weiser Selbstbeschränkung“ rät, oder schon W. Thiele, ZBR 1955, 76 (77). Für eine pragmatische Bewältigung potentieller Probleme lieferte der „Hypo Real Estate“-Untersuchungsausschuss ein Beispiel: Als sich die Staatsanwaltschaft München  I zum Schutz des Strafverfahrens weigerte, ihre Ermittlungsakten vorzulegen, vernahm der Ausschuss kurzerhand den zuständigen Staatsanwalt als Zeugen. Der Forderung der Staatsanwaltschaft entsprechend wurde er als einziger Zeuge des Untersuchungsverfahrens in nichtöffentlicher und als geheim eingestufter Sitzung vernommen (BT-Drs. 16/14000, S. 34, 40). 427 s. J. Vetter, ZParl 1989, 345 (350) und wohl zust. C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 114 f. 428 Mit verschiedenem Akzent und unterschiedlicher Begründung s. H. H. Klein, in: Maunz/ Dürig, GG (2005), Art.  44 Rn.  166; H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art.  44 Rn.  6; A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 59; R. Scholz, AöR 105 (1980), 564 (597); F. Möller, RiA 1965, 81 (85) und J. Kölble, DVBl 1964, 701 (704) und in Fn. 28; A. Hamann, GG, 1956, S. 241; H. v. Mangoldt, GG, 1953, S. 249. Aus Weimarer Tagen vgl. G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 218. 429 H. v. Mangoldt, GG, 1953, S. 249; A. Hamann/H. Lenz, GG3 1970, S. 466; A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 29.

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gen“ hätten; der Ausschuss befand, dass solche „strafrechtliche[n] Bewertungen“ durch den Bundestag von denen der „Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte“ unbedenklich abweichen könnten, „[w]eil Untersuchungsverfahren und Strafverfahren selbständig nebeneinander“ stünden.430 Kollisionsmöglichkeiten bestehen aber, wenn ein Untersuchungsausschuss, wie in der Weimarer Zeit bisweilen vorgekommen,431 mit einer Überprüfung der Rechtsprechung beauftragt würde. Mit Rücksicht auf die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 GG) darf eine solche Untersuchung nicht die „Richtigkeit“ einzelner Entscheidungen betreffen oder ein schwebendes Verfahren überwachen.432 Die nachträgliche Untersuchung eines abgeschlossenen Verfahrens kommt aber in Betracht, wenn eine Richteranklage vorbereitet werden soll (Art. 98 Abs. 2 GG).433 Die Justiz ist auch keineswegs impermeabel, wenn sie nicht in ihrer eigentlichen Rechtsprechungsfunktion betroffen ist.434 Zu Recht hält Fabian Wittreck deswegen etwa Enquêten über die Notwendigkeit eines Reformgesetzes, um organisatorischen Missständen oder einer generellen Fehlentwicklung in der Rechtsprechung zu begegnen, für zulässig.435 Anlass zu potentiellen Übergriffen der Justiz in parlamentarische Domänen gab der durch das „Neue Heimat“-Urteil für Durchsuchungen und Beschlagnahmen installierte Richtervorbehalt.436 Der nebulösen Formulierung, dass dem von einem Untersuchungsausschuss in Anspruch genommenen Gericht „grundsätzlich nicht verwehrt [wäre], die rechtlichen Voraussetzungen zu prüfen, die für die Wirksamkeit des Antrags und die Zulässigkeit der beabsichtigten Beweiserhebung von Bedeutung“ wären,437 lässt sich nicht entnehmen, ob der Amtsrichter auch die

430

BT-Drs. 11/6141, S. 34 f., 119. s. etwa W. Steffani, Untersuchungsausschüsse, 1960, S. 186 ff. zu der preußischen Untersuchung zum Tod von Reichspostminister Höfle in der Untersuchungshaft. 432 s. B. Peters, NVwZ 2012, 1574 (1575); M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 28 a. E.; N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 450; ders./M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 13; M. Schulte, Jura 2003, 505 (506) und aus der Weimarer Zeit A. Arndt, AöR n. F. 22 (1932), 339 (346 ff.). 433 Vgl. § 18 Abs. 1 Nr. 3 IPA-Regeln und aus dem Schrifttum N. Achterberg, ParlR, 1984, S.  450; ders./M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art.  44 Rn.  20; J. R. Gascard, UntersuchungsR, 1966, S. 87 zur Untersuchung im Vorfeld einer Ministeranklage. J. Kölble, DVBl 1964, 701 (704) ging einschränkend davon aus, dass Art. 98 Abs. 2 GG voraussetze, dass ein Bundesrichter in Ausübung oder außerhalb seines Amtes gegen Grundsätze des Grundgesetzes oder die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes verstoße. Auf die rechtsprechende Tätigkeit könne sich eine Untersuchung deswegen nicht beziehen, sondern allein auf persönliches Verhalten, so dass es der Sache nach um die Aufklärung eines Sachverhaltes gehe. 434 s. M. Schulte, Jura 2003, 505 (506); A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 58 f., der u. a. die Staatsanwaltschaft von diesem Schutz ausnimmt. Vgl. aus der Weimarer Zeit A. Arndt, AöR n. F. 22 (1932), 339 (345 ff.). 435 F. Wittreck, Verwaltung, 2006, S. 303 f. 436 BVerfGE 77, 1 (51 ff.). 437 BVerfGE 77, 1 (39). 431

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Verfassungsmäßigkeit des Untersuchungsauftrags überprüfen können sollte.438 Angesichts der Verantwortung des Plenums für die Einsetzung des Ausschusses und dessen Mehrheit für die konkreten Verfahrensschritte erscheint die Entscheidung des AG Bonn vom Ende September 1988 als möglicherweise verfassungsrechtlich bedenklich, indem das Gericht einen Beschlagnahmeantrag des „U-Boot“-Untersuchungsausschusses zurückgewiesen hat, „da es an einem verfassungsmäßig zulässigen Untersuchungsauftrag“ fehle. Die verfassungskonforme Auslegung seines Auftrags durch den Ausschuss hielt der Amtsrichter nicht für maßgeblich.439 Mit dieser Entscheidung verweigerte die Justiz nicht bloß einem Hilfsorgan des Bundestages die Mehrheit des Materials, das zur Erfüllung seines Auftrages notwendig war, und torpedierte damit das Untersuchungsverfahren, sondern sprach dem Ausschuss überdies die Befugnis ab, seinen Auftrag verbindlich auszulegen.440 Wie daraufhin im Schrifttum gefordert,441 behält § 36 Abs. 2 PUAG die Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit des Untersuchungsauftrags heute dem BVerfG vor; der BGH und sein Ermittlungsrichter sind ggf. zu einer Vorlage verpflichtet. Auf diese Weise wird, wie es Klaus Ferdinand Gärditz treffend ausdrückt, die „Dignität parlamentarischer Willensentschließungen des Bundestages“ geschützt.442 4. Zwischenergebnis Obwohl die Grenzziehung gegenüber der Rechtsprechung heute dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgt, dominiert – anders als in den Vorschlägen der Weimarer Richterschaft – keine schematische Abgrenzung nach vermeintlich verfassungsimmanenten Präferenzentscheidungen. Stattdessen findet das Enquête- und Untersuchungsrecht als Instrument parlamentarischer Aufgabenerfüllung seinen Platz neben den anderen Staatsfunktionen, die von diesem Selbstinformationsrecht aber auch nicht über Gebühr beeinträchtigt werden dürfen. Vor diesem Hintergrund sind parallele Verfahren wegen der vollkommen verschiedenen Zielsetzungen, d. h. politische Sachverhaltsarbeit einerseits und prozessuale „Wahrheitsfindung“ andererseits, grundsätzlich statthaft. Genuin judikative Entscheidungen kann darüber hinaus kein Untersuchungsausschuss treffen. Ebenso wenig darf die richterliche Unabhängigkeit mit Hilfe des Enquête- und Untersuchungsrechts unterminiert werden. Im Gegenzug verlangen die Regeln des Art. 44 Abs. 4 GG als „spezifische ‚Parlamentsschutznormen‘“ heute umgekehrt auch den Respekt der Gerichte vor den parlamentarischen Untersuchungen.443

438 C. Meyer-Bohl, DVBl 1990, 511 (514). Krit. gegenüber dieser Folge der Entscheidung U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (610). 439 AG Bonn, NJW 1989, 1101. 440 Vgl. K.-H. Kästner, NJW 1990, 2649 (2654 f.); C. Meyer-Bohl, DVBl 1990, 511 (518). 441 K.-H. Kästner, NJW 1990, 2649 (2657 f.). 442 K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ders. (Hg.), PUAG, 2013, § 36 Rn. 30. 443 L. Brocker, NVwZ 2014, 1357 (1358).

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C. Untersuchungsbefugnisse Ein wichtiges Strukturmerkmal des Art.  44 GG sind die überwiegend in Anlehnung an Art. 34 RVerf 1919 vorgesehenen Befugnisse der Untersuchungsausschüsse.

I. Die sinngemäße Anwendung des Strafprozessrechts Sieht man von dem parlamentarischen Anspruch auf Amts- und Rechtshilfe durch Verwaltungsbehörden und Gerichte sowie dem Aktenvorlagerecht gegenüber Bundesregierung und Bundesverwaltung einmal ab, richtet sich das Gros der Untersuchungsbefugnisse von Verfassungs wegen nach den „Vorschriften über den Strafprozeß“. Die dynamische Verweisung des Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG auf deren sinngemäße Anwendung beschränkt sich nicht auf die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung (§§ 244, 245 StPO), sondern erstreckt sich mit den Worten des BVerfG auf den „gesamte[n] Vorgang der Beweisverschaffung, Beweissicherung und Beweisauswertung“ bzw. auf sämtliche befugnisbegründenden Regelungen zu „Beweisaufnahme und Beweismittel“ – und damit eben auch auf die befugnisbegrenzenden Vorschriften.444 Diesen beschränkenden Aspekt der Verweisung in Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG, durch den das analoge Strafverfahrensrecht im parlamentarischen Untersuchungsverfahren einen doppelten Charakter erhält, hat Elisabeth Selbert (SPD) schon im Parlamentarischen Rat auf den Punkt gebracht.445 Heute ist ausdrücklich von einem Schutz der Betroffenen und Zeugen die Rede,446 der sich insbesondere auch in der Dynamik der Verweisungsnorm niedergeschlagen haben soll.447 Der Verweisung auf das Strafverfahrensrecht kommt also  – anders als die Verfassungsberatungen und die Entstehungsgeschichte hätten vermuten lassen – eine mäßigende Funktion zu.448

444

s. BVerfGE 124, 78 (115); BVerfGE 77, 1 (49); BVerfGE 76, 363 (387); BVerfGE 67, 100 (133). Aus dem Schrifttum vgl. etwa P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 15 Rn. 2; P. Teubner, EingriffsR, 2009, S. 84 f. Vgl. A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S.  22, der auch die Vorschriften über die „Grundsätze der Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit“ und S.  30 auch die „Offizialmaxime“ sinngemäß anwenden will. Zum dynamischen Charakter s. etwa BVerfGE 76, 363 (385 f.); C. Waldhoff, in: ders./Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. C Rn. 11 oder K. F. Gärditz, a. a. O., Vorbem. E Rn. 12 m. w. N. 445 ParlRat XIII, 2002, S.  739. Zu der kurzen Debatte über die Untersuchungsbefugnisse s. 8. Teil 2. Kap. B. II. 446 Vgl. P. Teubner, EingriffsR, 2009, S. 85; K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ders. (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. E Rn. 6 f., 11. 447 Vgl. BVerfGE 76, 363 (385 f.): Das Untersuchungsverfahren soll im Interesse des Betroffenen nach den Regeln des jeweils geltenden Strafverfahrensrechts durchgeführt werden. 448 Ähnl. K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ders. (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. E Rn. 5 ff., 7: „Verfahren als solches graduell entpolitisiert“.

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Zu den zulässigen Beweismitteln449 gehören Zeugen- (§§ 48 ff. StPO) und Sachverständigenvernehmungen – vorbehaltlich einer Aussagegenehmigung auch von (Regierungs-)Beamten450 –, der Augenschein (§§ 72 ff. StPO), Urkunden und andere Schriftstücke (§§ 249 ff. StPO),451 die bislang nicht praxisrelevante körperliche und geistige Untersuchung etc.452 Einen Fortschritt gegenüber früheren Verhältnissen stellen die erweiterten Möglichkeiten zur „zwangsweisen Beschaffung von Beweismitteln“ dar:453 Während der Zeugniszwang in den Weimarer Verfassungsberatungen der ausschlaggebende Grund für die Verweisungsnorm des Art.  34 Abs.  3 RVerf  1919 war, wurden Durchsuchung und Beschlagnahme als vermeintlich genuin strafrechtliche Maßnahmen überwiegend abgelehnt.454 In der Bundestagspraxis spielten diese Zwangsinstrumente zunächst ebenfalls keine Rolle,455 während das Schrifttum davon unbeirrt die Diskussion über ihre Zulässigkeit fortsetzte.456 Klarheit brachte 1987 der „Neue Heimat“-Beschluss, in dem das BVerfG das Recht der Untersuchungsausschüsse anerkannte, die Anordnung von Durchsuchung und Beschlagnahme durch das zuständige Gericht zu veranlassen. Zur Begründung hob der Zweite Senat den Auslegungsgrundsatz aus der Taufe, dass Art. 44 GG eine „wirksame parlamentarische Kontrolle“ ermöglichen solle; im Einzelfall könne deswegen die Anwendung von Zwangsmitteln geboten sein. Selbstaffirmativ hieß es weiter, dass der „Aufklärung des Sachverhalts durch Untersuchungsausschüsse […] keine geringere Bedeutung zu[komme] als der Tatsachenermittlung im Strafverfahren“. Weil Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG „ohne Einschränkung auf die Beweiserhebung im Strafprozess Bezug“ nehme, würden „nicht nur die Vorschriften über die zulässigen Arten von Beweismitteln und deren Verwertung, sondern auch die Regelungen über deren Beschaffung und Sicherung“ erfasst. Der Gegenauffassung hielt der Senat entgegen, dass, obwohl die Verweisung in Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 ursprünglich bloß eine Handhabe gegen unwillige Auskunftspersonen habe bieten sollen, der zugrundeliegende Gedanke auf den Urkundsbeweis übertragen werden müsse. Zum Schutz des Betroffenen 449 Zu den Beweismitteln des Untersuchungsausschussgesetzes s. P. Teubner, EingriffsR, 2009, S. 53 f. 450 s. dazu BVerfGE 124, 78 (117 f.) und aus dem Schrifttum B. Peters, Untersuchungs­ ausschussR, 2012, Rn. 313. 451 BVerfGE 124, 78 (115); T. Maunz, in: ders./Dürig, GG (1960), Art. 44 Rn. 53 m. w. N. bis auf das Weimarer Schrifttum. 452 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 42; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 15 Rn. 4. Vgl. auch § 13 Abs. 4 IPA-Entwurf. 453 Vgl. BVerfGE 77, 1 (48 ff.) (Zitat); BVerfGE 76, 363 (383 f.) und aus dem Schrifttum P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 15 Rn. 15 ff. 454 s. nur G. Anschütz, RVerf 191914 1933, S. 222 f.; H.-H. Lammers, in: HdbDtStR II, 1932, S. 472. 455 Vgl. K. J. Partsch, 45. DJT I/3, 1964, S. 124 f., der berichtet, dass ein Ausschussvorsitzender Anfang der 1950er die Möglichkeit einer Beschlagnahme angedeutet habe. 456 s. dazu J. Jekewitz, NStZ 1985, 395 (396); A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 25 ff.; H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 29; A. Hamann/H. Lenz, GG3 1970, S. 467; K. J. Partsch, 45. DJT I/3, 1964, S. 124; T. Maunz, in: ders./Dürig, GG (1960), Art. 44 Rn. 59; H. v. Mangoldt, GG, 1953, S. 249; A. Hamann, GG2 1961, S. 286 teils m. w. N.

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leitete das Gericht aus der sinngemäßen Anwendung des § 98 Abs. 1 StPO neben anderen Sicherungen einen Richtervorbehalt ab.457 Trotz dieser Beschränkung erfuhr das Enquête- und Untersuchungsrecht mit der Möglichkeit zur zwangsweisen Beschaffung sächlicher Beweismittel im direkten Vergleich mit seinem Weimarer Vorgänger eine erhebliche Aufwertung. Schwächer sind die Möglichkeiten, indem die Vereidigung mittlerweile wenigstens faktisch verabschiedet wurde.458

II. Bedeutung des Untersuchungsausschussgesetzes Das Untersuchungsausschussgesetz des Bundes vom 19. Juni 2001, mit dessen Erlass seit den 1920er Jahren wiederkehrende Forderungen, das Untersuchungsverfahren durch ein besonderes Gesetz zu regeln, endlich erhört wurden,459 hat nach dem Urteil des SPD-Innenexperten Dieter Wiefelspütz vor allem die „Parlamentspraxis […], die langjährigen parlamentarischen Vorarbeiten des Geschäftsordnungs­ ausschusses […] und die Rechtsprechung des BVerfG […] zusammen[geführt]“.460 Vereinzelte prinzipielle Bedenken gegen eine gesetzliche Regelung (auch) innenrechtlicher Verfahrensfragen konnten sich nicht durchsetzen.461 Im Gegensatz zu dem breiten politischen Konsens, von dem das Untersuchungsausschussgesetz getragen wurde, bereitet sein Verhältnis zu der Verweisung des Art.  44 Abs.  2 Satz  1 GG auf die sinngemäß anzuwendenden Vorschriften über den Strafprozess Probleme. Überwiegend wird der Gesetzgeber ohne Verfassungsänderung lediglich für befugt gehalten, die bisherige Rechtslage festzuschreiben und maßvoll die Besonderheiten der „sinngemäßen Anwendung“ zu konkretisieren. Substantielle Abweichungen sollen nicht gestattet sein. Das gilt insbesondere für Einschränkungen oder Erweiterungen bestehender Befugnisse. Bleibt das Untersuchungsausschussgesetz hinter der sinngemäßen Anwendung des Straf­ prozessrechts zurück, sollen diese wegen Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG wenigstens ergänzend zum Tragen kommen.462 Trotzdem lässt die Verfassung dem Bundestag 457

BVerfGE 77, 1 (44, 48 ff., 51 f., 54 f.) und passim. s. dazu H.-C. Schaefer, NJW 2002, 490 f. und D. Wiefelspütz, ZRP 2002, 14. Zur Diskussion im Zusammenhang mit dem Untersuchungsausschussgesetz s. R. Hamm, ZRP 2002, 11 ff.; K.-H. Groß, ZRP 2002, S. 91 und D. Wiefelspütz, a. a. O. 459 Zur Gesetzgebungsgeschichte vgl. D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 150 ff.; M. Roßbach, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem.  B und BT-Drs. 14/2363 (FDP); BT-Drs. 14/2518 (SPD/GRÜNE); BT-Drs. 14/5790 (Beschlussempfehlung und Bericht des 1.  Ausschusses). 460 D. Wiefelspütz, NVwZ 2002, 10 f.; ähnl. B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 34 f. 461 Dazu N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 79; U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (602 f. in Fn. 33); D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 174 ff. m. w. N. 462 Mit erheblichen Unterschieden im Detail vgl. L. Brocker, in: Glauben/ders., PUAG, 2011, § 3 Rn. 23 f., dessen Rn. 25 folgende Feststellung, andernfalls habe „die Vorschrift keinen Bestand […] und es [greife…] unmittelbar die allgemeine Verweisung auf die Vorschriften des Strafprozesses“, mit dem Normverwerfungsmonopol des BVerfG inkompatibel ist; H. H. Klein, 458

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einen gewissen legislatorischen Spielraum, indem Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG keine buchstabengetreue, sondern „nur“ eine sinngemäße Anwendung vorsieht.463 Besonderheiten des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens rechtfertigen, ja fordern Abweichungen und Ausgestaltungen; diese müssen aber – wie es der FDPEntwurf formulierte – die „gleichen Ziele“ wie das Strafprozessrecht „verfolgen“. Hinzu kommt zweifelsfrei der Grundrechtsschutz; dass darüber hinaus der gleichermaßen mit objektivem Anspruch auftretende, wie überfrachtete Begriff der „Wahrheitsfindung“ ein guter Anknüpfungspunkt war, ist vor dem Hintergrund des politischen Charakters jeder Enquête oder Untersuchung eher zweifelhaft.464 Eine großzügigere Position vertritt Martin Morlok im Hinblick auf den gesetzgeberischen Spielraum: Art.  44 Abs.  2 Satz  1 GG ermächtige den Gesetzgeber wegen seines Charakters als dynamische Verweisung, die ursprünglich dem Strafprozess entlehnten Regeln in denselben Grenzen abzuändern, die für eine Strafverfahrensnovelle gelten müssten.465 Diese Feststellung ist insoweit zweifellos richtig, als der Gesetzgeber eines Untersuchungsausschussgesetzes jedenfalls keine Vorschriften schaffen darf, die selbst im Rahmen des Strafverfahrens verfassungswidrig wären; die Verweisungsnorm des Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG markiert also eine Befugnisobergrenze. Schließlich wäre ebenso wenig etwas dagegen zu erinnern, wenn der Gesetzgeber das Untersuchungsverfahren mittelbar durch eine Strafverfahrensreform neu regelte. Eine andere Frage ist, ob er für die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse auch Sonderrecht setzen darf, dessen Abweichungen von den allgemeinen Regeln des Strafverfahrensrechts über eine Konkretisierung ihrer „sinngemäßen Anwendung“ hinausgingen. Gegen eine solche Regelungsbefugnis sprechen die Vor- und die Entstehungsgeschichte des Art. 44 Abs.  2 Satz  1 GG: Die Aufnahme von Art.  34 Abs.  3 Hs.  1 RVerf  1919 in die Reichsverfassung sollte den Untersuchungsausschüssen dieselben Zwangsmittel verschaffen, die den Gerichten zustanden. Dieser Gedanke einer äquivalenten Befugnisausstattung ist noch älter und kam z. B. in rudimentärer Form 1873 in der preußischen Eisenbahnangelegenheit, Anfang der 1890er Jahre durch den sozialdemokratischen Verfassungsänderungsantrag oder in der Rüstungsenquête von 1913 in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 168; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art.  44 Rn.  79; R. Pofalla, DÖV 2004, 335 (338); M. Schulte, Jura 2003, 505 (508); U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (602 f. und in Fn. 34); K. Rogall, in: Graul/Wolf (Hg.), GS Meurer, 2002, S. 449 (451 ff.); C. Waldhoff, in: ders./Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. C Rn. 11. – Der Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung erklärte, „dass die Kodifizierung des Unter­suchungs­ausschuss­rechts die sich unmittelbar aus Artikel 44 GG ergebende Rechtsfolge unberührt [lasse, so dass…] im Untersuchungsausschussgesetz nicht enthaltene Verfahrensregeln des Strafprozesses über die Beweiserhebung sinngemäß weiterhin [Geltung beanspruchten…], sofern sie auf ein Untersuchungsausschussverfahren anwendbar sein könn[t]en“ (BT-Drs. 14/5790, S. 13). 463 G. Kretschmer, in: S-B/H/H, GG11 2008, Art. 43 Rn. 6; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 168; U. Güther/R. Seiler, NStZ 1993, 305 (306). 464 s. aber die Begründung des FDP-Entwurfs in BT-Drs. 14/2363, S. 8, 16. 465 M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 18.

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zur Sprache.466 Aus vergleichbaren Motiven wie in den Weimarer Verfassungsberatungen wurde die analoge Regelung des Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG geschaffen.467 Damit wären Abweichungen von den allgemeinen „Vorschriften über den Strafprozeß“ unvereinbar, die über die spezifischen Belange des Untersuchungsverfahrens, denen das Grundgesetz mit der Forderung „sinngemäßer“ Anwendung Rechnung trägt, hinausgingen. Mit anderen Worten: Das Strafprozessrecht darf fortentwickelt werden. Die dort gesetzten Standards müssen aber sinngemäß, also unter Berücksichtigung seiner Besonderheiten, auch für das parlamentarische Untersuchungsverfahren gelten. In demselben Rahmen darf der Gesetzgeber im Hinblick auf die Besonderheiten des Untersuchungsverfahrens ein spezielles Untersuchungsausschussgesetz schaffen. Gegen eine grundsätzliche normative Divergenz beider Materien spricht indessen der von Martin Morlok selbst ins Feld geführte dynamische Charakter der Verweisung des Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG.468 Das grundsätzliche Dilemma, dass das Strafverfahrensrecht auf der einen und das parlamentarische Untersuchungsverfahrensrecht auf der anderen Seite nicht auseinanderdriften dürfen, lässt sich – den entsprechenden rechtspolitischen Willen vorausgesetzt – bloß durch eine verfassungsrechtliche Ermächtigung des Gesetzgebers zur Regelung des Näheren auflösen.469 Das Risiko einer solchen Ermächtigung bestünde aber darin, dass es die Mehrheit mit ihrer Hilfe in der Hand hätte, das primär der Minderheit dienende Untersuchungsverfahren normativ zu verkümmern. Angesichts dessen sollte eine Verfassungsänderung ein Ausführungsgesetz unter den Vorbehalt der verfassungsändernden Mehrheiten des Art. 79 Abs. 3 GG stellen.

III. Untersuchungsbefugnisse gegenüber der Regierung Untersucht man die Befugnisse der Untersuchungsausschüsse gegenüber der Bundesregierung, die Rechtsprechung und Lehre seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes ständig ausgebaut haben, werden sowohl im Vergleich mit den historischen 466

s. 5. Teil 3. Kap. E. IV. 3. c), 6. Teil 2. Kap. B. III. und 3. Kap. B. IV. 2. a). s. 8. Teil 2. Kap. B. II. 468 Ähnl. BVerfGE 76, 363 (385 f.): „Sinn und Zweck“ des Untersuchungsrechts schlössen eine „Auslegung als bloße statische Verweisung aus“, weil es „kaum nachvollziehbar [wäre…], daß die zu erwartende Anpassung des Strafverfahrensrechts an die vom Grundgesetz geschaffene neue Ordnung […] im Untersuchungsverfahren unberücksichtigt bleiben sollte“. Die Verweisung des Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG solle „sicherstellen, daß der Untersuchungsausschuß seine Unter­ suchung in sinngemäßer Anwendung des jeweils geltenden Verfahrensrechts“ führe. „Die Stellung des Untersuchungsausschusses und die Erfordernisse der parlamen­ tarischen Untersuchung […] forder[te]n in diesem zentralen Punkt des Beweisverfahrens (Zeugenbeweis) die Gleichstellung mit dem Strafprozeß.“ Nichts anderes gilt für die restliche Beweiserhebung. 469 s. nur C. Waldhoff, in: ders./Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. C Rn. 12; L. Brocker, in: Glauben/ders., PUAG, 2011, § 3 Rn. 26 je m. w. N. 467

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Wurzeln des Enquête- und Untersuchungsrechts als auch vor dem Hintergrund von Gewaltenteilung und Interorganrespekt zunehmende Diskrepanzen deutlich. 1. Das Aktenvorlagerecht Ein wichtiges Beispiel für den Versuch, Weimarer Standards bei gleichzeitigem Ausbau der parlamentarischen Rechte zu bewahren, stellt, obwohl es zu den ältesten Aspekten parlamentarischer Information und Kontrolle überhaupt gehört, das Aktenvorlagerecht der Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages dar. a) Historische Entwicklungslinien Seine Ursprünge gehen noch weiter als die des Enquête- und Untersuchungsrechts zurück. So vertrat der süddeutsche Liberale Karl v. Rotteck seit der ersten Auflage seines Vernunftrechts von 1830 die These, dass die Regierung der Volksvertretung u. a. „alle zur Darstellung der Lage des Staates und der von den Ständen zu vertretenden Interessen nöthigen […] Aktenstücke, Urkunden u. s. w. […] auf Verlangen vor[zu]legen“ habe.470 Aus dem Kontext des Zitats erschließt sich, dass dieses Recht als Substitut für das den Ständen vorenthaltene Selbstinformationsrecht gedacht war.471 Freilich entsprach diese ideelle Vorstellung keineswegs der Verfassungswirklichkeit in den meisten deutschen Bundesstaaten.472 Stattdessen kam es z. B. in Kurhessen schon kurz nach dem Erlass der Januarverfassung von 1831 zu einem Streit um ein Aktenvorlagerecht der Kammer.473 In Sachsen-WeimarEisenach führten landständische Vorlageforderungen noch am Vorabend der Märzrevolution zum Konflikt.474 Erst in der Märzrevolution bedienten sich sowohl die Frankfurter National- als auch die preußische Vereinbarungsversammlung der Aktenvorlage erfolgreich als Kontrollinstrument gegenüber den Märzregierungen.475 470

K. v. Rotteck, VernunftR II, 1830, S. 244; ders., VernunftR II2 1840, S. 256 (Hervorhebung nur hier). 471 Vgl. K. Stern, StaatsR II, 1980, S. 59. 472 Eine Ausnahme stellte § 147 Abs. 3 Verf­Urk ­Ho­Si 1833 dar, der den Landständen u. U. das Recht gab, weitere „Auskünfte und Aktenvorlage unmittelbar bei der Regierung oder dem Landesfürsten nachzusuchen“. Gemäß § 147 Abs. 2 konnten sich die Vorberatungskommissionen „mit der Landtagskommission in schriftliches oder mündliches Benehmen […] sezen, um die nöthigen Erläuterungen, Auskünfte und aktenmäßige Belege [sic!] zu erwirken“. 473 s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. a) aa) (4). 474 s. 2. Teil 2. Kap. A. I. 2. c). Im Allg. genügte die Regierung ihrer Auskunftspflicht durch freiwillige Aktenvorlage. 475 Tatsächlich wurden dem Prioritäts- und Petitionsausschuss der Frankfurter Nationalversammlung, als er „vermöge der ihm in Gemäßheit des § 24 der Geschäftsordnung zustehenden Befugniß“ (!) „über […] die militärische Besetzung des Herzogthums Altenburg […] amtliche Mittheilung“ forderte, die „Akten vorgelegt“ (Haßler, VerhFNV II, S. 591). Zu Legitimationsund Immunitätsprüfungen s. 3. Teil 1. Kap. II. 3. a) und c) bzw. 2. Kap. II. 1. und 2. – In Berlin kamen Aktenvorlageforderungen auch etwa in der Posener Frage zur Sprache (3. Teil 2. Kap.

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Auch in Württemberg oder Bayern wurde um ein Akten­vorlagerecht gerungen; dabei verfolgte man eher Enquête- als Untersuchungszwecke.476 Die Weimarer Reichsverfassung hat das Aktenvorlagerecht des Reichstags gegenüber Regierung, Behörden und Gerichten dann ausdrücklich in Art.  34 Abs.  2 Hs.  2 RVerf  1919 verankert.477 Im Kontext des Selbstinformationsrechts könnte man das Aktenvorlagerecht für ein Fremdinformationsinstrument halten und deswegen als Fremdkörper ansehen. Bei einer solchen Betrachtung kehrt Art. 44 GG zu einem „reinen“ Selbstinformationsinstrument zurück, indem die Weimarer Regelung, dass den Untersuchungsausschüssen die Akten „auf Verlangen vorzulegen“ sind, nicht übernommen wurde. Dennoch hatte das Aktenvorlagerecht in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rates bis zuletzt einen Platz und fiel erst den nicht dokumentierten Beratungen des Redaktionsausschusses zum Opfer.478 Einen Fingerzeig, dass diese Befugnis nicht etwa verschwinden, sondern in der allgemeinen Amtshilfepflicht des Art.  44 Abs.  3 GG aufgehen sollte, gibt Fritz Löwenthals Vorschlag, sämtliche Maßnahmen, die „Gerichte und Verwaltungsbehörden“ nach Art. 57 Abs. 2 Satz 3 HChE auf Ersuchen eines Untersuchungsausschusses vornehmen sollten, in der allgemeinen Verpflichtung, „Rechtshilfe […] zu leisten“, zusammenzuführen. Freilich monierte Elisabeth Selbert, dass sich die Aktenvorlage so gerade nicht erfassen lasse.479 b) Rückanknüpfung und Neubeginn („Flick“-Urteil) Aufgrund der Entstehungsgeschichte und des verschwundenen Weimarer Vorbilds war die Grundlage eines Aktenvorlagerechts lange Zeit umstritten: Teile des Schrifttums wollten ausschließlich auf die Amtshilfepflicht des Art. 44 Abs. 3 GG zurückgreifen.480 Mittelbar wäre das parlamentarische Kontrollrecht damit geC. II. 2.  c)  und d)). Die Schweidnitzer Kommission begann ihre Arbeit mit von Innen- und Kriegsministerium vorgelegten Akten. Vor Ort nahm die Deputation u. a. Einsicht in Untersuchungsakten. S. 3. Teil 2. Kap. D. IV. 4. b). 476 s. 4. Teil 1. Kap. A. II., B. II., III. (Württemberg) sowie 2. Kap. B. I. (Bayern). 477 s. 7. Teil 3. Kap. B. I. 2. a). 478 Vgl. die Hauptausschussbeschlüsse vom 10. Februar 1949 (ParlRat VII, 1995, S. 411) und dazu die Vorschläge des Redaktionsausschusses von Anfang Mai 1949 (S. 507). Die entsprechenden Passagen lauteten: „Die Gerichte und Verwaltungsbehörden sind verpflichtet, einem Ersuchen des Ausschusses um Aktenvorlage und Rechtshilfe Folge zu leisten“ (Hauptausschuss) und „Gerichte und Verwaltungsbehörden sind zur Rechts- und Amtshilfe verpflichtet.“ 479 Zur Beratung der Untersuchungsbefugnisse s. 8.  Teil 2.  Kap. B.  II. oder ausführlich W. Löwer, DVBl 1984, 757 (762 f.). 480 Vgl. mit erheblichen Unterschieden in der Reichweite H.-P. Schneider, AK-GG II, 1984, Art.  44 Rn.  9, 16; T. Maunz, in: ders./Dürig, GG (1960), Art.  44 Rn.  47, 56 („nur im Umfang des Abs.  II Satz  1“) und wohl auch K. J. Partsch, 45.  DJT I/3, 1964, S.  127 f.; W.  Löwer, DVBl 1984, 757 (763 f.); H. Plagemann, ZParl 1977, 242 (250); H.-P. Schneider, AöR 99 (1974), 628 (638, 642) m. w. N. und ferner W. Becker, DÖV 1964, 505 (508).

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schwächt worden, weil ein schlichter Amtshilfeanspruch – anders als ein Kontrollrecht als Ausfluss der parlamentarischen Regierungsverantwortung – zahlreichen einfachrechtlichen Beschränkungen und Kautelen, aber auch einem gewissen Ermessen der ersuchten Stelle unterliegen kann, die eine parlamentarische Enquête oder Untersuchung stark behindern.481 Andere Autoren versuchten, das Recht auf Aktenvorlage aus den sinngemäß anzuwendenden Vorschriften über den Strafprozess482 bzw. unmittelbar aus dem Beweiserhebungsrecht des Art.  44 Abs.  1 Satz 1 GG abzuleiten.483 In beiden Fällen blieben Unsicherheiten, wenn ein Vorlageverlangen mit einfachrechtlichen Vorschriften – etwa § 96 StPO oder § 30 AO – kollidierte.484 1984 sorgte der Zweite Senat mit dem „Flick“-Urteil für Klarheit, indem er das Aktenvorlagerecht – „[j]edenfalls soweit der Untersuchungsauftrag die Kontrolle der Regierung bezweckt[e]“  (?)  – unmittelbar dem Recht der Untersuchungs­ ausschüsse entnahm, im Sinne von Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG die erforderlichen Beweise zu erheben. Nach einem Vergleich mit Art. 34 Abs. 1 Satz 2 RVerf 1919, Art.  78 Abs.  1 Satz  1 PrVerf  1850 und Art.  27 Satz  1 RVerf  1871 folgerten die Karlsruher Richter aus dem verwendeten Verb („erhebt“), dass den Untersuchungsausschüssen die „Befugnis“ zustehe, sämtliche im Rahmen des Einsetzungsbeschlusses erforderlichen Beweise zu erheben. Diese Generalermächtigung inkludiere auch das Recht, „die Vorlage von Akten zu verlangen“. Während auf diesem Wege die Aktenvorlage durch die verantwortliche Regierung zum stillschweigenden „Bestandteil des parlamentarischen Kontrollrechts“ aufgewertet wurde, ordnete der Senat denselben Dienst der Landes- oder Kommunalbehörden, die nicht der Kontrolle des Bundestages unterliegen, der Amtshilfe zu.485 Für diese extensive Interpretation von Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, der – anders als sein Weimarer Pendant – gerade nicht ausdrücklich durch ein Aktenvorlagerecht flankiert wird, berief sich das Gericht u. a. auf „verfassungssystematische Gesichtspunkte“: Weil das parlamentarische Regierungssystem des Grund­gesetzes 481 Vgl. noch vor dem „Flick“-Urteil W. Löwer, DVBl 1984, 757 (758 f.). s. auch P. J. Glauben, in: ders./Brocker, PUAG, 2011, § 18 Rn. 28 und ders., DVBl 2012, 737 (739 f.) für die Aktenvorlage als Amtshilfe der Landesbehörden sowie allg. H. Schmitz, in: SBS, VwVfG8 2014, § 5 Rn. 33 ff. 482 A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 25; F. Klein, in: S-B/K, GG6 1983, Art. 44 Rn. 8; L.-A. Versteyl, in: vMü2 II, 1983, Art.  44 Rn.  21und wohl auch H.  Rechenberg, BK  GG (1977/78), Art. 44 Rn. 24 und R. Groß, RiA 1966, 80 (81). 483 So wohl H. v. Mangoldt, GG, 1953, S. 249: „Die Beweiserhebung kann […] geschehen entweder durch Akteneinsicht oder durch die im Verfahren vor den ordentlichen Straf­gerichten zulässigen Beweismittel“. Etwa U. Keßler, AöR 88 (1963), 313 (319) oder H. Ehmke, DÖV 1956, 417 (418) wollten das Aktenvorlagerecht trotzdem dem sinngemäßen Strafprozessrecht unterwerfen. 484 Vgl. außer den Vorgenannten G. Kretschmer, in: S-B/H/H, GG11 2008, Art. 44 Rn. 23; H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 27; K. J. Partsch, 45. DJT I/3, 1964, S. 128; W. Becker, DÖV 1964, 505 (508); T. Maunz, in: ders./Dürig, GG (1960), Art.  44 Rn.  56 f. je m. w. N. 485 BVerfGE 67, 100 (127 ff.).

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„grundlegend auch durch die Kontrollfunktion des Parlaments geprägt“ werde, hielt der Senat eine Auslegung von Art. 44 GG geboten, die dem Bundestag als Gegenpol zu der „starke[n] Stellung der Regierung“ eine wirkungsvolle Kontrolle ermöglichte. In diesem Sinne sollten die Untersuchungsausschüsse mit den erforderlichen Befugnissen ausgestattet werden, „um die [ihnen…] aufgegebene Klärung von Zweifeln an der ‚Gesetzlichkeit oder Lauterkeit von Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen‘ […] wirksam vornehmen zu können“. Für unverzichtbar hielten die Karlsruher Richter insoweit das „Recht auf Einsichtnahme in die Akten der Regierung“.486 Im weiteren Gang der Entscheidung argumentierte das BVerfG historisch, dass die Weimarer Nationalversammlung Max Webers robustes Untersuchungsrechtsmodell adoptiert habe, um das bürokratische Dienstwissen als Bastion exekutiver Vorherrschaft zu schleifen, den Vorschlag eines Minderheitenrechts, um der parlamentarischen „Mehrheitswirtschaft“ vorzubeugen. Während der Verweis auf die Strafprozeßordnung habe bloß Zeugniszwang und Vereidigung ermöglichen sollen, wäre Art. 34 Abs. 1 RVerf 1919 ebenso wie zuvor Art. 82 PrVerf 1850 (!) „als Befugnisnormen aufgefaßt“ worden. Mit dieser enquête- und untersuchungsrechtlichen Tradition habe der Parlamentarische Rat nicht brechen wollen. „Sinn der redaktionellen [!] Überarbeitung“ von Art. 57 Abs. 2 HChE im Redaktionsausschuss – dabei war das Aktenvorlagerecht verschwunden – sei kein Rückschritt gegenüber der Reichsverfassung gewesen. Das BVerfG untermauerte diese Postulate mit der Feststellung, dass „Akten […] ein besonders wichtiges Beweismittel bei der Untersuchung politischer Vorgänge“ mit – gegenüber Zeugenaussagen – in aller Regel höherem Beweiswert wären. Alles in allem gehöre das „Aktenvorlagerecht […] zum ‚Wesenskern‘ des Untersuchungsrechts“;487 in diesem Sinn habe schon Karl v. Rotteck ein „Recht der Aktenanforderung als mit der Kompetenz der Landstände gegeben erachtet“.488 Dass es sich gerade um einen schwachen Ersatz für die dem Untersuchungsrecht verwandte „selbsteigene Untersuchungsgewalt“ handeln sollte, die der Liberale Rotteck den Landständen vorenthalten wollte, verschwieg der Senat dem juristischen Fachpublikum.489 Trotz der durch den Wortlaut des Art.  44 GG eigentlich nicht naheliegenden Rückanknüpfung an Art. 34 RVerf 1919 brach das BVerfG in scheinbar salomonischer Weise mit früheren Auffassungen: Obwohl es die selbständige Verortung des Aktenvorlagerechts in Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG eigentlich ermöglicht hätte, diese parlamentarische Befugnis – wie zu Art. 34 Abs. 2 Hs. 2 RVerf 1919 vertreten490  – von der (dann begrenzenden) Verweisung auf das Strafprozessrecht auszunehmen, folgte das BVerfG nicht dem Beispiel der Weimarer Staatsrechts 486

BVerfGE 67, 100 (129 f.). BVerfGE 67, 100 (130 ff.) (Hervorhebung nur hier). 488 BVerfGE 67, 100 (129). 489 Vgl. K. v. Rotteck, VernunftR II2 1840, S. 256 und ders., VernunftR II, 1830, S. 244. 490 Dazu W. Löwer, DVBl 1984, 757 (761 f.) m. w. N. aus dem zeitgenössischen Schrifttum. 487

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lehre, sondern plädierte auf eine sinngemäße Anwendung des § 96 StPO. Wenigstens sollte diese Vorschrift für das parlamentarische Untersuchungsverfahren in der Weise sinngemäß auszulegen sein, dass eine Entscheidung über die Verweigerung der Aktenvorlage nicht im Ermessen der Bundesregierung steht.491 Ggf. soll der Ausschuss „detailliert und umfassend über die Art der Schriftstücke, die Natur der zurückgehaltenen Informationen, die Notwendigkeit der Geheimhaltung und den Grad der Geheimhaltungsbedürftigkeit [zu] unterrichten“ sein. Als Wiege des „Vorsitzendenverfahrens“ stellte sich die Begründungspassage dar, dass die Bundesregierung, um den Ausschuss insoweit zu überzeugen, seinem Vorsitzenden und dessen Stellvertreter Akteneinsicht gewähren könne.492 Wenn der konkrete Untersuchungsauftrag ohne die streitigen Akten unerfüllbar wäre, habe die Bundesregierung den Ausschuss in sinngemäßer Anwendung von § 96 StPO „in einer Weise zu unterstützen […], die zugleich das Dienstgeheimnis“ wahrt.493 Der stärkste Schlag gegen eine Informationshoheit der Bundesregierung war sicherlich, dass das BVerfG das ursprüngliche Verweigerungsrecht des § 96 StPO in einen schlichten Anspruch auf ausreichende parlamentarische Geheimhaltungsmaßnahmen umgemünzt hat.494 Wegen der gemeinsamen Gemeinwohlverantwortung von Regierung und Parlament hielt es der Senat dagegen für grundsätzlich ausgeschlossen, dem Bundestag geheimhaltungsbedürftige Informationen vorzuenthalten, wenn sich ausreichende „Vorkehrungen gegen das Bekanntwerden von Dienstgeheimnissen“ treffen ließen. Das dazu erforderliche Instrumentarium bietet zu seiner Überzeugung die parlamentarische Geheimschutzordnung; die herausgebende Stelle könne einen Geheimhaltungsgrad verbindlich festlegen, § 353b Abs. 2 Nr. 1 StGB sichere die Verschwiegenheitspflicht aller Beteiligten.495 Ohne Zustimmung der Regierung dürften entsprechende Informationen auch nicht in den Untersuchungsbericht aufgenommen werden. U. U. habe der Ausschuss die Öffentlichkeit gemäß Art. 44 Abs. 1 Satz 2 GG von der Beweiserhebung auszuschließen. Weigere sich die parlamentarische Seite, den zu Recht geforderten Geheimschutz sicherzustellen, könne ihr die Regierung Verschlusssachen verweigern.496 Dieser Versuch der Rechtsprechung, den immanenten Konflikt zwischen dem parlamentarischen Informations- und dem Geheimhaltungsinteresse der Regierung zu lösen, ähnelt einem Vorschlag Adolph Röslers aus der Frankfurter Nationalversammlung: Der süddeutsche Demokrat war 1848 ebenfalls einerseits von einem parlamentarischen Recht zu „jeder amtlichen Auskunft, namentlich zur Vorlage der nöthigen Urkunden, amtlichen Schriften, Berichte u. s. w. an die Nationalversammlung selbst oder an den betreffenden Ausschuß“ ausgegangen; andererseits sollten „[i]n Fällen, welche Geheimhaltung erforder[te]n, […] die nöthigen 491

BVerfGE 67, 100 (128, 133 f.). BVerfGE 67, 100 (138 f.). 493 BVerfGE 67, 100 (134). 494 Vgl. J. Hecker, DVBl 2009, 1239 (1240). 495 BVerfGE 67, 100 (135 f.). 496 BVerfGE 67, 100 (137). 492

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Vorkehrungen […] jedesmal besonders angeordnet“ werden.497 Weitere Schranken des Aktenvorlagerechts leitete das BVerfG unter Berufung auf das Volkszählungsurteil aus den Grundrechten ab.498 Der „BND“-Beschluss hat die Linie des „Flick“-Urteils bestätigt, darüber hinaus aber noch einmal hervorgehoben, dass die Bundesregierung jede Weigerung plausibel begründen und dem Untersuchungsausschuss insoweit Rede und Antwort stehen müsse.499 Auch dieser Gedanke ist keineswegs neu: Schon § 122 RVerf 1849 verband das Zitierrecht des Reichstags mit einer Pflicht der Reichsminister, „Auskunft zu ertheilen, oder den Grund anzugeben, weshalb dieselbe nicht ertheilt werden könne“. Ungeachtet dieser demokratischen Tradition wurde gegenüber der Begründungspflicht der Bundesregierung teilweise moniert, „ob künftig Organstreitverfahren zu reinen Begründungsdisputen möglich“ sein sollten.500 Eine Mehrheit des Schrifttums hat sich trotz kritischer Untertöne der Rechtsprechung grosso modo angeschlossen.501 Freilich unterlag das „Vorsitzendenverfahren“ bisweilen der Kritik.502 Bedenken könnte außerdem das potentiell neuen 497 Wigard, VerhFNV, S. 194. Eine ähnl. Position hat auch R. Groß, RiA 1966, 80 (81 f.) eingenommen, der die Anwendung von § 96 StPO ablehnt und auf die Möglichkeiten zur „vertrauliche[n] Behandlung gewisser Themen“ im Untersuchungsverfahren hinweist. 498 BVerfGE 67, 100 (143 f.). s.  auch BVerfGE 77, 1 (46 f.) und BVerfGE 124, 78 (125). s. zum Schutz der Grundrechte als Hindernis der Aktenvorlage auch N. Kazele, VerwArch 101 (2010), 469 (474 f.) sowie im Hinblick auf Rechtsschutzmöglichkeiten P. J. Glauben, DVBl 2006, 1263 (1267). 499 BVerfGE 124, 78 (116 f., 128 f.); BVerfGE 67, 100 (138). 500 J. Hecker, DVBl 2009, 1239 (1240, 1241). 501 Mit Unterschieden im Detail s. B. Peters, ZParl 2012, 831 (832) und in Fn. 8; P. J. Glauben, DVBl 2012, 737 (740); B. Pieroth, in: Jarass/ders., GG13 2014, Art. 44 Rn. 10; S. Magiera, in: Sachs (Hg.), GG7 2014, Art. 44 Rn. 25; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 41, 49; M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 51; M. Köhler, UntersuchungsR, 1996, S. 203 ff. mit krit. Überlegungen zur Herausgabe grundrechtssensibler Daten; C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 45 ff.; D. Engels, Jura 1990, 71 (73); M. Schröder, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 46 Rn. 32; ders., ZParl 1984, 473 (475 ff.) und ferner H.-P. Schneider, 57. DJT, 1988, S. M54 (M80); J. Jekewitz, NStZ 1985, 395 (396); W. Löwer, Jura 1985, 358 (363 ff.). H. Bogs, JZ 1985, 112 (112 f., 115 f.) begrüßt zwar die „weitgehende Auflösung der materiellen Staatswohlschranke“ und simultane „Verweisung der Kontrahenten […] auf kooperative Vorkehrungen innerstaatlichen Geheimnisschutzes“, mit deren Hilfe das „parlamentarische Regierungssystem […] für weitgehende Untersuchungsrechte des Parlaments durchlässiger und dadurch in der Verfassungswirklichkeit vollkommener, sohin als Demokratieform glaubwürdiger“ werde. Zugleich moniert er die „auf den ersten Blick befremdliche Offenheit der EinzelfallEntscheidung“, indem das „Urteil […] zu wenig präzise konkrete Leitlinien der den beteiligten Verfassungsorganen und ihren Hilfsorganen aufgegebene[n] Abwägungen“ biete. 502 s. etwa krit. zum Vorsitzendenverfahren M. Schröder, ZParl 1984, 473 (478); W. Löwer, Jura 1985, 358 (365) oder C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S.  271 ff. m. w. N. sowie gegenüber Einschränkungen der „Vollöffentlichkeit“ und Steuergeheimnis H. Bogs, JZ 1985, 112 ff. Auch im Bundestag wurde Kritik laut: So lehnte der Untersuchungsausschuss zum „DDR-Vermögen“ das Vorsitzendenverfahren ab, „da es bei einer solchen Vorgehensweise zu einer nicht gewollten ungleichgewichtigen Information der Mitglieder des Untersuchungsausschusses kommen würde“ (BT-Drs. 13/10900, S.  51). Der „VISA“-Untersuchungsausschuss bediente

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Streit herausfordernde gubernative Recht provozieren, einen Geheimhaltungsgrad festzulegen. Gelegentlich wurde die Anwendbarkeit von § 96 StPO in Zweifel gezogen.503 Darüber hinaus wurden die Überlegungen zur Geheimhaltung beanstandet, weil sie den Untersuchungszweck überhaupt in Frage stellen könnten.504 Das Untersuchungsausschussgesetz hat in der Sache weder eine eigenständige Regelung geschaffen noch eine andere Klärung herbeigeführt, sondern sich mit der Verpflichtung der Bundesregierung und sämtlicher Bundesstellen, den Untersuchungsausschüssen sächliche Beweismittel „vorbehaltlich verfassungsrechtlicher Grenzen“ vorzulegen, in § 18 Abs. 1 PUAG auf eine inhaltsleere Öffnungsklausel beschränkt. Die erforderlichen normativen Instrumente zum Schutz von Dienstgeheimnissen sollen die §§ 14 bis 16 PUAG bereitstellen; im Einzelnen werden der Öffentlichkeitsausschluss, der Geheimnisschutz durch die Einstufung in einen Geheimhaltungsgrad sowie der Zugang zu Verschlusssachen und die Amtsverschwiegenheit geregelt. Streitigkeiten über die Rechtmäßigkeit einer Ein­ stufung entscheidet gemäß § 18 Abs.  3 PUAG der Ermittlungsrichter des BGH. Angesichts dieser normativen Vorkehrungen ist der Zweite Senat im „BND“Beschluss davon ausgegangen, dass die „Berufung auf die Geheimhaltungsbedürftigkeit von Informationen und die im Falle des Bekanntwerdens drohende Gefährdung des Staatswohls regelmäßig kein Recht zur Verweigerung der Vorlage von Akten“ mehr begründen könne.505 Dass jeder Spielraum der Bundesregierung durch Parlamentsgesetz entfallen sein soll, ist gewaltenteilungsrechtlich ein bemerkenswerter Vorgang. c) Bewertung aa) Mehrdeutigkeit der Entstehungsgeschichte Prima facie hat sich das BVerfG über die Entscheidung des Verfassungsgebers hinweggesetzt, das Aktenvorlagerecht nicht in das Grundgesetz zu übernehmen. Dass der Parlamentarische Rat tatsächlich eine „Streichung“ des Aktenvorlagerechts beabsichtigt haben könnte, legen neben der eingangs zitierten Anekdote aus den Beratungen, die für das Aufgehen dieser Befugnis in der (schwächeren) sich dagegen dieses Instruments, um eine „Gefährdung des Schutzes von Informanten und Partnerbeziehungen und damit auch der existenziellen Informationsquellen des Bundesnachrichtendienstes“ zu verhindern (BT-Drs. 15/5975, S. 45). In der folgenden Legislaturperiode kritisierte dann die Opposition, die weder den Ausschussvorsitzenden noch dessen Stellvertreter stellte, diesen Modus Operandi im „BND“-Untersuchungsausschuss (BT-Drs. 16/13400, S. 24). – § 18 PUAG hat das Vorsitzendenverfahren nicht, wie teils vorgeschlagen, kanonisiert; stattdessen erhält die Minderheit das Recht, sich an das BVerfG zu wenden. s. dazu D. Wiefels­ pütz, ZParl 2002, 551 (566 f.) m. w. N. und krit. Anm. 503 J. Jekewitz, NStZ 1984, 518 (519). 504 C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 270; M. Quaas/R. Zuck, NJW 1988, 1873 (1876). 505 BVerfGE 124, 78 (124 f.). Zust. etwa N. Kazele, VerwArch 101 (2010), 469 (473 f.).

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Amtshilfe spricht,506 die Ressentiments der Weimarer Staatsrechtslehre und die der Richterschaft gegen Art.  34 Abs.  2 Hs.  2 RVerf  1919 nahe.507 Durch das Schweigen der Materialien wäre es aber ebenso gut denkbar, dass der Redaktions­ ausschuss – seiner allgemeinen Aufgabenstellung gemäß508 – bloß die Formulierung der Ausschussbefugnisse straffen und eine vermeintlich überflüssige Passage fortlassen wollte.509 Die Entstehungsgeschichte hilft also in diesem Punkt nicht weiter. Vielmehr wird die Entscheidung der zugrundeliegenden Frage, ähnlich wie es Walter Lewald Anfang der 1920er Jahre für die Reichweite des Enquête- und Untersuchungsrechts verlangt hatte,510 in der letzten Konsequenz zu einem verfassungspolitisch determinierten Akt von (richterlicher) Dezision. bb) Hypertrophie der Kontrollfunktion Eine auffällige Schwäche der Entscheidung ist es, dass die Kontrollfunktion – mit Akklamation des Schrifttums511  – zum alleinigen Kristallisationspunkt des Selbstinformationsrechts geadelt wird. Zwar leitet der Zweite Senat seine Überlegungen mit dem sprachlichen Feigenblatt ein, dass „[j]edenfalls soweit der Untersuchungsauftrag die Kontrolle der Regierung“ bezwecke, Art. 44 Abs. 1 GG als Teil des Kontrollrechts ein Aktenvorlagerecht vorsehe.512 Darauf folgt dann aber die kategorische Feststellung, dass der Parlamentarismus des Grundgesetzes maßgeblich von der Kontrollfunktion geprägt werde; die Gewaltenteilung dient im Kontext zur Verstärkung dieser Position. Im Folgenden spricht der Senat – unter Bezugnahme auf Hugo Preuß’ gleich doppelt erfolglose (!) Bemühungen in den Weimarer Verfassungsberatungen513  – davon, dass die Untersuchungsausschüsse mit den notwendigen Befugnissen ausgestattet werden müssten, um ihnen die Erfüllung ihrer Aufgabe, die „Klärung von Zweifeln an der ‚Gesetzlichkeit oder Lauterkeit von Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen‘ wirksam vor[zu]nehmen“, zu ermöglichen.514 Diese Argumentation erinnert an das Postulat der preußischen 506 In diesem Sinne spricht sich W. Löwer, Jura 1985, 358 (363) aus. s. zu den Beratungen 8. Teil 2. Kap. B. II. 507 s. 7. Teil Fn. 300 und 3. Kap. B. I. 2. a) und II. 2. 508 Freilich stammten aus dem Allgemeinen Redaktionsausschuss teils auch sachliche Abweichungsvorschläge. s. etwa zur unmittelbaren parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit K.-B. v. Doemming/R. W. Füßlein/W. Matz, JÖR n. F. 1 (1951), S. 424. 509 In diesem Sinne spricht C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 48 die Möglichkeit an, „daß die Aktenvorlagepflicht im Beweiserhebungsrecht als solchem aufgehen sollte“. 510 s. 7. Teil 3. Kap. A. III. 511 s. nur B. Peters, ZParl 2012, 831 (832) m. w. N.: „Nach heutigem Verständnis prägen die Verfassungsgebote funktionaler Minderheitsschutz und wirksame Wahrnehmung parlamentarischer Kontrolle die gesamte Untersuchung – und damit auch die Rechtsauslegung auf der Durchführungsebene, wenn es um die Reichweite der Minderheitsrechte geht. Der Minderheitsschutz hat die Funktion, eine effektive parlamentarische Kontrolle sicherzustellen“. 512 BVerfGE 67, 100 (127 f.). 513 Vgl. 7. Teil 2. Kap. A. II. 1. b), 2. b) und III. 514 BVerfGE 67, 100 (130).

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Wahlmanipulationsuntersuchungskommission von 1863, dass, „[w]er untersuchen soll[e]“  – damals trotz der blutarmen Formulierung des Art.  82 PrVerf  1850  – „auch Beweis erheben können“ müsse.515 Schon im ersten Jahr der glücklosen kurhessischen Januarverfassung von 1831 hatte Sylvester Jordan in ganz ähnlicher Weise versucht, § 92 KhVerf­Urk 1831 im Streit um kurfürstliche Offiziersernennungen und andere Personalmaßnahmen ein Aktenvorlagerecht zu entnehmen; der Marburger Staatsrechtler stellte die vergleichbare These auf, dass die Stände, wenn sie schon verpflichtet wären, „für Aufrechthaltung der Verfassung zu sorgen“, auch über die dazu erforderlichen Mittel verfügen müssten.516 Zugrunde liegt allen diesen Überlegungen das alte Prinzip des § 89 EinlALR 1794, dass die Gesetze demjenigen, dem sie „ein Recht geben, […] auch die Mittel [bewilligen], ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann“. Ein solcher Schluss von der Aufgabe auf die Befugnisse ist heute freilich zu Recht verpönt. Die Hypertrophie des Kontrollaspekts führt außerdem zu einem etwas schiefen Bild des Enquête- und Untersuchungsrechts. Das wird im „Flick“-Urteil etwa in Sorgen deutlich, dass die „jeweilige oberste Bundesbehörde Aktenstücke etwa deshalb [zurückbehalten könnte…], weil sie belastendes Material [enthalten…] oder weil sie den Untersuchungsausschuß auf die Spur belastenden Materials oder weiterer Beweismittel bringen könnten“; die Bundesregierung soll, „um des öffentlichen Ansehens der Bundesrepublik Deutschland willen […] alles zu tun [verpflichtet sein], um Zweifel an der ‚Lauterkeit von Regierungs- und Verwaltungsmaßnahmen‘ […] zu zerstreuen“.517 Die in dieser Feststellung sublim mitschwingende Charakterisierung rückt das parlamentarische Verfahren viel zu dicht an ein gerichtliches oder ein um Objektivität bemühtes staatliches Ermittlungsverfahren heran. Derartige Vorstellungen sind mit dem notwendigerweise politischen Wesen jeder Enquête oder Untersuchung inkompatibel; Sinn und Zweck eines parlamentarischen Untersuchungsverfahrens ist keine möglichst objektive Ermittlung (prozessualer) „Wahrheit“ oder gar der Nachweis eines „Verbrechens“. Stattdessen ringen die Vertreter der politischen Richtungen in dem formalisierten Rahmen eines Untersuchungsausschusses um die Aufarbeitung eines kontroversen Sachverhalts unter einem genuin politischen Blickwinkel. Zwar ist den Verfechtern der Auffassung, dass die „Untersuchungsausschüsse bei der Aufklärung des durch den Einsetzungsbeschluss vorgegebenen Gegenstandes der Wahrheit verpflichtet“ wären, so dass sich das parlamentarische Untersuchungsverfahren neben andere Verfahren zur Wahrheitsfindung einreihen lasse (Heike Jung),518 zuzugeben, dass die einzelne Beweisaufnahme eine innere oder äußere Tatsache zutreffend erweisen mag und kein Ausschuss seine Beweise „fälschen“ darf. Anders als in einem 515

s. 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. a). s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. a) aa) (4). 517 BVerfGE 67, 100 (137 f.). 518 Vgl. H. Jung, JZ 2009, 1129 (1131 f.) oder J. Menzel, in: Löwer/Tettinger (Hg.), VerfNRW, 2002, Art. 41 Rn. 7, der das parlamentarische Untersuchungsverfahren als „Tatsachenarbeit“ bezeichnet und von einer „Aufklärung von Sachverhalten“ spricht. 516

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gerichtlichen Verfahren gibt es aber in einem parlamentarischen Untersuchungsverfahren keinen verbindlichen (rechtlichen) Maßstab, welche Tatsachen zu ermitteln sind, damit der rekonstruierte Sachverhalt die maßgebliche „Wahrheit“ überhaupt zutreffend abbilden kann.519 Mit anderen Worten kann und muss in einem Untersuchungsverfahren jede Einzeltatsache für sich genommen fehlerfrei ermittelt werden; über die Qualität des „Gesamtbildes“, das aus dem Sammelsurium der Beweisaufnahme entsteht, ob es den „objektiv relevanten Sachverhalt“ – es ist zu bezweifeln, dass es etwas derartiges in der politischen Auseinandersetzung überhaupt gibt  – in seiner gesamten Breite oder lediglich einen Teilausschnitt unter parteipolitisch verengtem Blickwinkel abbildet, sagt dieser Umstand nichts aus. Schon die Auswahl der zu ermittelnden Tatsachen ermöglicht einen politischen Umgang mit der „Wahrheit“, der sich grundlegend von den Regeln für gerichtliche Verfahren unterscheidet.520 Mit den Worten eines ehemaligen Generalstaatsanwalts agieren in einem parlamentarischen Untersuchungsverfahren eben „keine zur Objektivität verpflichteten Richter und Staatsanwälte, sondern – völlig legitim – parteiische Ausschussmitglieder, die mit unterschiedlichen Zielsetzungen eine bestimmte Aufklärung anstreben“.521 Nichts anderes gilt für Kontrollenquêten, die noch dazu oft genug um politische Maßstäbe kreisen, die mit der „Gesetzlichkeit oder Lauterkeit“ der Regierungs- und Verwaltungstätigkeit nichts zu schaffen haben; infolgedessen lässt sich im einzelnen Fall über ihren Inhalt, ihre Relevanz und ihre Verletzung ebenso trefflich wie fruchtlos streiten. In diesem Kontext ist Hermann L. Brills (SPD) Äußerung auf dem Verfassungskonvent bezeichnend, dass sich die vermeintliche „Diffamierung eines Beamten“ durch einen Untersuchungsausschuss ebenso gut als „Durchführung der parlamentarischen Kontrolle“ darstellen könne.522 Auch unabhängig von solchen Überlegungen ist die kontrollspezifische Grundprämisse problematisch, indem Art. 44 GG der Volksvertretung als informationsrechtliche Abrundung ihrer materiellen Kompetenzen – im Übrigen nicht anders als schon sein Weimarer Vorgänger  – ein Enquête- und Untersuchungsrecht gewährt.523 Zwar mag die grundsätzliche Annahme zutreffen, dass der Parlamentarismus des Grundgesetzes insbesondere durch den Gedanken parlamentarischer Kontrolle geprägt wird. Unzweifelhaft ist Art. 44 GG auch Ausdruck – oder besser: ein Instrument  – dieser Bundestagsaufgabe; den Beweis für die Annahme, dass sich der Zweck des Selbstinformationsrechts aber in dieser Funktion erschöpft, steht damit noch aus. Das BVerfG erkennt diese Tatsache in der zitier 519

s. krit. dazu, dass eine ausreichende Präzisierung des Untersuchungsgegenstandes im Ausschuss in der Regel ausbleibe, H.-C. Schaefer, NJW 2002, 490. 520 Vgl. U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (601 f., 613); H.-P. Schneider, NJW 2001, 2604 (2605); S.  Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S.  36 f.; A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 14. 521 H.-C. Schaefer, NJW 2002, 490. 522 ParlRat II, 1981, S. 400 f., 416. 523 Zur Debatte um die sachliche Reichweite des Enquête- und Untersuchungsrechts s. 7. Teil 3. Kap. A. (Weimar) und 8. Teil 4. Kap. A. (Bundesrepublik Deutschland).

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ten Einleitung, die das Aktenvorlagerecht auf Kontrollenquêten beschränken soll, auch grundsätzlich an. Ernst genommen wäre eine Aufspaltung der dem sibyllinischen Wortlaut des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG zu entnehmenden Befugnisse die Folge; die Vorschrift erhielte damit einen seltsam wechselhaften Charakter, indem er dem Bundestag je nach Anwendungsfall unterschiedliche Rechte gegenüber der Regierung gewährte. Die zitierten Urteilspassagen zur „Gesetzlichkeit oder Lauterkeit von Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen“ geben gewissermaßen Anlass zu der weiteren Differenzierung, dass eine rein politische Kontrolle, bei der keine Straftaten oder Gesetzesverstöße, sondern schlicht gravierende Fehler in Rede stehen,524 ebenfalls ohne Aktenvorlagerecht auskommen müsste. Da Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG den Untersuchungsausschüssen das Beweiserhebungsrecht seinem Wortlaut nach unabhängig von dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand zusprechen müsste, unterliegt eine entsprechende Differenzierung Zweifeln. Sie dürfte überdies eingedenk der Lehre aus der Verfassungsgeschichte, dass jede parlamentarische Selbstinformation mit Regierungskontrolle und -kritik verbunden sein kann, de facto undurchführbar sein.525 Mit der Möglichkeit, dass ein „Untersuchungsausschuß […] sein Aktenvorlagebegehren […] als Maßnahme der Vorermittlung im Wege der schlichten Amtshilfe gemäß Art. 44 Abs. 3 GG“ geltend machen könne, sieht der Senat noch eine weitere Differenzierung vor.526 Zu allem Überfluss griffe, weil sich die Aktenvorlage der Rechtsprechung zufolge als Produkt aus dem Junktim von Kreation und Kontrolle darstellt und deswegen bloß in Kontrollenquêten zum Zuge kommen kann, für andere Zwecke lediglich die Amtshilfepflicht des Art. 44 Abs. 3 GG ein. cc) Eine unterschwellige Wesensänderung Neben einer Umdefinition zum nahezu exklusiven Kontrollinstrument erfährt das Enquête- und Untersuchungsrecht noch eine weit folgenschwerere unterschwellige Wesensänderung. Obwohl der Zweite Senat wohl nur zu den enquêteund untersuchungsrechtlichen Standards Weimarer Zeiten aufschließen wollte, gehen die Wirkungen der Entscheidung von ihren praktischen Folgen her weit über dieses Vorbild hinaus. Sieht man ausschließlich das Wiederaufleben des damaligen Aktenvorlagerechts der Reichstagsuntersuchungsausschüsse, verliert man einen allgemeinen, aber gravierenden Unterschied des Grundgesetzes gegenüber der Reichsverfassung aus dem Blick: Indem die Generalklausel des Art. 93 Abs. 1 Nr.  1 GG für Organstreitigkeiten auf Bundesebene  – abweichend von Art.  19 RVerf 1919 – pauschal den Rechtsweg zum BVerfG eröffnet, wird jede Ausein­ 524 Zum Herkommen und den verschiedenen begrifflichen Verantwortlichkeitsdimensionen s. K. Stein, Verantwortlichkeit, 2009, S. 4 ff. 525 Zum genuin politischen Charakter des Enquête- und Untersuchungsrechts s. 8.  Teil 1. Kap. II. 526 BVerfGE 67, 100 (145) (Hervorhebung nur hier).

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andersetzung zwischen Parlament und Regierung zu einer Rechtsfrage. Weil das historische Aktenvorlagerecht des Art. 34 Abs. 2 Hs. 2 RVerf 1919 gewisser­maßen rechtlich „zahnlos“ war, fügte es sich nahtlos in das Bild des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens als Schauplatz einer genuin politischen Auseinandersetzung ein. Hätte die Reichsregierung einem Vorlageersuchen keine Folge geleistet, wäre der parlamentarischen Seite bloß die Ausübung politischen Drucks bis hin zu einem Misstrauensvotum geblieben. Im Gegenzug verfügte die Reichsregierung über eine gewisse Bandbreite politischer Reaktionsmöglichkeiten. Da für (informationsrechtliche)  Streitigkeiten kein verfassungsgerichtlicher Rechtsbehelf existierte, musste der schwelende Konflikt also mit Mitteln der politischen Ausein­andersetzung vor den Augen der Öffentlichkeit ausgetragen werden. Bezugnahmen auf die materielle Kontroverse, die der Untersuchung und dem konkreten Auskunftsstreit zugrunde lagen, wären in aller Regel unvermeidlich gewesen, so dass neben dem formellen Zwist auch die „eigentlichen“ sachlichen Streitpunkte vor dem „Forum der Nation“ hätten verhandelt werden müssen. Die Weimarer Reichsverfassung knüpfte mit diesen durch und durch politischen Mechanismen, bewusst oder unbewusst, an das konstitutionelle Staatsrecht an; in diesem Sinne hatte Reinold Aßmann dem Ministerium Bismarck auf dem Höhepunkt des preußischen Verfassungskonflikts damit gedroht, dass es im wohlverstandenen „eigenen Interesse der Staatsregierung“ liege, der parlamentarischen Kommission zur Untersuchung der Wahlmanipulationen „keinerlei Hindernisse in den Weg zu setzen“, weil das Publikum „offenbar das Schlimmste“ vermuten müsse, „wo eine Auskunft etwa verweigert“ werde.527 Indem der durch die Rechtsprechung geschaffene Aktenvorlageanspruch des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG im Gegensatz dazu wegen Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG justitiabel ist, fügt er sich nicht mehr in das tradierte Konzept eines politischen Selbstinformationsinstruments ein. Mit diesem Mechanismus geht eine weitere merkwürdige Akzentverschiebung einher. Historisch wurde das Enquête- und Untersuchungsrecht als Selbstinformationsrecht erkämpft, dass es der Volksvertretung ermöglichen sollte, sich unabhängig von der Regierung über einen Sachverhalt zu informieren. Überwiegend ging es nicht um eine – mangels Verfassungsgerichtsbarkeit ohnehin nicht durchsetzbare  – Rechtspflicht der Regierung, an einer Unterrichtung des Parlaments bzw. an ihrer eigenen Kontrolle mitzuwirken, sondern um seine informationsrechtliche Unabhängigkeit, um sich eigenständig und von der Exekutive unabhängig aus anderen Quellen zu unterrichten. An die Stelle einer unabhängigen (politischen) Selbstinformation des Bundestages tritt mit der „Entdeckung“ des untersuchungsrechtsimmanenten Aktenvorlagerechts durch den Zweiten Senat eine rechtlich gebundene und gerichtlich sanktionierte Fremdinformation durch die Regierung. Daran ändert es nichts, dass das BVerfG noch 2002 betont hat, dass sich ein „Untersuchungsausschuss […] nicht mit Aktenauskünften zufrieden geben“ müsse, sondern „sich anhand der vollständigen Akten selbst ein Bild […] 527

VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 169.

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machen“ dürfe.528 Obwohl das Schrifttum das Aktenvorlage- und Akteneinsichtsrecht ebenfalls dem Selbstinformationsrecht zugeschlagen hat, zeigt sich dessen wahrer Charakter doch darin, dass seine Durchschlagskraft mit Hans-Peter Schneiders Worten davon abhängt, „ob und inwieweit Außenstehende, vor allem Regierung und Verwaltung, bereit sind, den Ausschuß mit Informationsmaterial zu versorgen“.529 Dass ein Aktenvorlagerecht tatsächlich eher ein Fremd- als ein Selbstinformationsinstrument ist, bestätigt auch die im „Flick“-Urteil zitierte530 Passage aus Karl v. Rottecks Vernunftrecht zweiter Auflage: Der badische Liberale sprach der Volksvertretung zwar das „Recht der Kenntnißnahme von Allem [zu], was im Staate vorgeht oder ist, in so fern solches auf den Zweck des Staates Bezug hat, oder auf die Ausübung oder Richtung einer den Landständen zustehenden Befugnisse von Einfluß seyn kann“. Mit dem der „Regierung zustehenden unmittelbaren Aufsichts- oder Inspektions-Recht“, mit anderen Worten: mit „selbsteigener Untersuchungsgewalt“, wollte er dieses Instrument aber nicht auf eine Stufe stellen.531 Obwohl Karl v. Rotteck für eine Parlamentarisierung des staatlichen Lebens eintrat,532 räumte er den Ständen an dieser Stelle bloß einen Fremdinformationsanspruch als Substitut für das ihnen vorenthaltene Selbstinforma­tionsrecht ein.533 Das „Flick“-Urteil modifiziert also den überkommenen Grundcharakter des parlamentarischen Selbstinformationsrechts: Art. 34 RVerf 1919 räumte dem Reichstag de facto eine Möglichkeit ein, Sachverhalte durch die Vernehmung von Beamten oder Dritten bzw. andere „regierungsfremde“ Beweismittel ohne Mitwirkung der Reichsregierung aufzuklären, die zwar nach dem Buchstaben der Verfassung zur Kooperation verpflichtet war, deren Mitwirkung sich aber eben nicht gerichtlich, sondern bestenfalls politisch erzwingen ließ. Verpflanzt man diese Regeln in die Gegenwart, müsste die Opposition in jedem Einzelfall abwägen, wie viel an einem vermeintlichen Skandal voraussichtlich tatsächlich ist, wie plausibel die Anschuldigungen sind und wie viel sich beweisen lassen wird, bevor sie die Auseinandersetzung aufnimmt. Schließlich wäre sie letzten Endes auf die Unterstüt 528

BVerfGE 124, 78 (117) (Hervorhebungen nur hier). s. H.-P. Schneider, AÖR 99 (1974), 628 (630); ders., AK-GG (Aug. 2002), Art. 43 Rn. 5 und ders., 57. DJT, 1988, S. M54 (M80) (Zitat; Hervorhebung nur hier); ähnl. P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 1 Rn. 3 (Selbstinformation durch „Geltendmachung eines Aktenvorlageanspruchs und Vernehmung von Zeugen“). In eine ähnl. Richtung äußerten sich die Beschwerdebegründung des „Parteispenden“-Untersuchungsausschusses gegen die Weigerung des Hessischen Justizministeriums zur Herausgabe von Strafverfahrensakten (vgl. BT-Drs. 14/9300, S. 67) und die Antragsteller im „Flick“-Verfahren (vgl. BVerfGE 67, 100 (114)). 530 BVerfGE 67, 100 (129). 531 K. v. Rotteck, VernunftR II2 1840, S. 256 (Hervorhebungen nur hier). Ebenso ders., VernunftR II, 1830, S. 244. 532 M. Stolleis, GeschÖR II, 1992, S. 161. 533 Zu Recht weist K. Stern, StaatsR II, 1980, S.  59 deswegen darauf hin, dass es Rotteck „zwar für geboten [gehalten habe], daß die Regierung den Ständen Aufklärung über die Staatslage gebe, aber für ausgeschlossen, daß jemand anders als die Regierung die nötigen Untersuchungen veranstalte“. s. ferner C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 26. 529

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zung der Mehrheit angewiesen, die sich nur in gravierenden Fällen gegen die von ihr getragene Regierung wenden wird. Ein Schuss ins Dunkle nach dem Motto, dass sich mit viel politischem Lärm und notfalls gerichtlicher Hilfe schon irgendein parteipolitischer Nutzen zustande bringen lässt, verspräche keinen Erfolg; die Regierung könnte die Aktenvorlage verweigern, solange sie und die regierungstragende Parlamentsmehrheit dem öffentlichen Druck durch Opposition und Medien gewachsen sind.534 Das Untersuchungsverfahren wäre – wie es seiner poli­ tischen Natur und der Verfassungsgeschichte entspricht – Teil der parteipolitischen Auseinandersetzung. Durch das „Flick“-Urteil erhält der Bundestag im Gegensatz dazu einen „einklagbaren“ Mitwirkungsanspruch gegenüber der Bundesregierung. Genau betrachtet schaffen die neuen Rechtsschutzmöglichkeiten auch nicht etwa Waffengleichheit zwischen der Opposition als Trägerin des Untersuchungsrechts und der vermeintlich übermächtigen Regierung, sondern etablieren eine eigentümliche Präponderanz der parlamentarischen Seite, die im Regelfall der Kontrollenquête von einer oppositionellen Minderheit getrieben wird. In der Folge findet eine sublime Machtverschiebung zugunsten des Parlaments bzw. seiner Minorität statt, obwohl das Grundgesetz die Bundesregierung gegenüber der Reichsregierung stärken sollte.535 Einen gewissen Ausgleich schafft allenfalls die sinngemäße Anwendung des § 96 StPO, für die sich der Senat abweichend von der herrschenden Weimarer Staatsrechtslehre entschieden hat. Offensichtlich handelt es sich um ein Zugeständnis an die Gegner eines unbedingten Aktenvorlagerechts, dessen prinzipielle Verortung in Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG andererseits dafür sorgt, dass die Entscheidung über ein Vorlageersuchen nicht mehr im politischen Ermessen der Regierung steht und einem Untersuchungsausschuss prinzipiell keine einfachrechtlichen Geheimhaltungsvorschriften entgegengehalten werden können.536

534 s. M. Riede/H. Scheller, ZParl 2013, 93 (94) zur „Funktion sozialer Kontrolle“ einer „kollektive[n] Empörung“ als „Ausübung von politischer Herrschaftskontrolle“. 535 Während der Reichskanzler gemäß Art. 53 RVerf 1919 vom Reichspräsidenten nach dessen Ermessen ernannt wurde, sieht Art.  63 Abs.  1 GG nur ein Vorschlagsrecht des Bundes­ präsidenten vor; die Wahl des Bundeskanzlers obliegt dem Bundestag. Das einfacher zu bewerkstelligende destruktive Misstrauensvotum (vgl. Art.  54 Satz  2 RVerf  1919) reicht nicht mehr aus, um den Kanzler abzuwählen. Art. 67 GG verlangt für einen Regierungswechsel eine konstruktive Mehrheit. Gegen einzelne Regierungsmitglieder steht dem Bundestag von Gesetzes wegen keine wirkungsvolle Handhabe mehr zu. – Im Vergleich mit dem Reichskanzler, der zwei unmittelbar demokratisch legitimierten Verfassungsorganen verantwortlich war, ist die Stellung des Bundeskanzlers gestärkt. Eine weitere Stärkung besteht darin, dass die einzelnen Minister nicht unmittelbar vom Vertrauen des Bundestags abhängen (vgl. M. Schröder, in: HdbStR III3 2005, § 65 Rn. 3; K. Stern, StaatsR II2 1984, S. 979 f.; J. Ipsen, Mitte, 2009, S. 4 f., 14 und aus der Entstehung des Grundgesetzes K.-B. v. Doemming/R. W. Füßlein/W. Matz, JÖR n. F. 1 (1951), S. 422 ff.). Zur Lage der Reichsregierung vgl. K. Stein, Verantwortlichkeit, 2009, S. 266 ff. 536 Vgl. W. Löwer, DVBl 1984, 757 (765) und ders., Jura 1985, 358 (360 f.).

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dd) Zwischenergebnis Ungeachtet der argumentativen Schwächen des „Flick“-Urteils hat das BVerfG das moderne Enquête- und Untersuchungsrecht nicht an Art. 34 RVerf 1919 angenähert, sondern ist über Weimarer Standards – wegen der Justitiabilität von Interorganbeziehungen in der bundesdeutschen Verfassungsordnung  – zugunsten der parlamentarischen Seite hinausgegangen. Zugleich hat es das Wesen des Enquêteund Untersuchungsrechts ein Stück weit verändert und dieses Recht gleichzeitig einseitig entpolitisiert. Aufgrund der einseitigen Begründung, die ausschließlich auf den Kontrollaspekt sieht bzw. „Gesetzlichkeit und Lauterkeit“ in den Vordergrund rückt, kann der Bundestag lediglich bei der Regierungskontrolle auf das starke Aktenvorlagerecht des Art.  44 Abs.  1 Satz  1 GG zurückgreifen. In anderen Zusammenhängen steht dem Parlament bloß das schwächere Amtshilferecht zur Seite. Angesichts der Kräfteverschiebung zugunsten des Bundestages – oder besser: seiner oppositionellen Minderheiten – durch die Justitiabilität des Aktenvorlageanspruchs sollten die der Bundesregierung durch die entsprechende Anwendbarkeit von § 96 StPO im Gegenzug zustehenden Möglichkeiten, für die § 18 PUAG mit der pauschalen Einschränkung („vorbehaltlich verfassungsrechtlicher Grenzen“) Raum lässt,537 nicht zu eng interpretiert werden. Im Interesse ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, die nicht nur dem abstrakten Ideal der Gewaltenteilung dient, sondern auch dem Anliegen des Verfassungsgebers entspricht, und eingedenk des zwangsläufig politischen Charakters des Enquête- und Untersuchungsrechts, das eben kein auf die Ermittlung objektiver „Wahrheit“ gerichtetes Instrument darstellt, sollte der Bundesregierung u. a. in der durch das BVerfG aufgeworfenen Frage, ob sich ein parlamentarisches Vorlageverlangen auf „Tat­sachen [bezieht], die mit dem Kontrollauftrag eines Untersuchungsausschusses […] in keinem sachlichen Zusammenhang stehen“,538 ein gewisser Einschätzungsspielraum zugestanden werden. Nichts anderes gilt für die Frage, ob eine konkrete Information den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung betrifft;539 dieser Topos ist je nachdem differenziert zu betrachten, ob es sich um die Zulässigkeit eines Untersuchungsthemas oder um die Frage handelt, welche Akten einem Untersuchungsausschuss herauszugeben sind. Zu guter Letzt sollte – abweichend von Rechtsprechung und herrschender Meinung – der Bundesregierung ein gewisser Spielraum in der Frage der Untersuchungsrelevanz eines Herausgabe­ verlangens (§ 18 Abs. 1 PUAG) zustehen.540 Zu große Gefahren für das parlamen-

537 s. auch N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 149 und a. A. K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ders. (Hg.), PUAG, 2015, § 18 Rn. 29, der bloß „Güter von Verfassungsrang“ ausreichen lassen will. 538 BVerfGE 67, 100 (134). 539 BVerfGE 67, 100 (139 ff.). s. dazu 8. Teil 4. Kap. B. I. 540 Vgl. BVerfGE 67, 100 (134) und dazu K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ders. (Hg.), PUAG, 2015, § 18 Rn. 18 ff.; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, PUAG, 2011, § 18 Rn. 4; ders., in: ders./ Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 17 Rn. 4 ff. je m. w. N.

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tarische Selbstinformationsrecht drohen damit nicht: Jede (teilweise) Weigerung der Bundes­regierung birgt, das hat selbst die Verfassungsgeschichte gezeigt, das Risiko eines politischen Ansehens- und Vertrauensverlusts in der Öffentlichkeit, dem sich in heutigen Tagen kein Politiker leichten Herzens aussetzen wird.541 Außerdem bieten andere Beweismittel möglicherweise Kompensationsmöglichkeiten, die gleichzeitig zu Lasten der Regierung wirken. 2. Zitierrecht vs. Zeugenvernehmung Noch deutlicher als in der Frage eines Aktenvorlagerechts wird der Paradigmenwechsel durch das (vermeintliche!) Recht der Untersuchungsausschüsse, amtierende Regierungsmitglieder als Zeugen zu behandeln. a) Praxis und Schrifttum Während diese Befugnis in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Grundgesetzes anscheinend keine besondere Rolle spielte,542 sieht die Praxis mittlerweile anders aus: Der Bundestag lädt regelmäßig Regierungsmitglieder als Zeugen vor und vernimmt sie entsprechend.543 Das BVerfG hat diese Praxis beiläufig gebilligt: Der Zweite Senat konstatierte in der „BND“-Entscheidung, dass „Untersuchungsausschüsse […] Zeugen zur Vernehmung vorladen, vernehmen und gegebenenfalls mit den in der Strafprozessordnung vorgesehenen Zwangsmitteln zur Aussage veranlassen“ könnten; ausdrücklich wird diese „Möglichkeit“ auf „Regierungsmitglieder [sic!] sowie Beamte und Angestellte im Verantwortungsbereich der Bundesregierung“ erstreckt. Weiter heißt es, dass dann „grundsätzlich“ (?) die „allgemeinen, sinngemäß anzuwendenden Vorschriften des Strafprozesses über Zeugenrechte und -pflichten […] gelten“ würden; liege eine erforderliche Aussagegenehmigung vor, sei ein Amtsträger „wie jeder andere Zeuge zur Aussage verpflichtet“.544 Im Schrifttum regt sich – soweit ersichtlich – kein Widerspruch gegen diese Position. 2002 stellte Hans-Peter Schneider im Alternativkommentar

541

Vgl. J. Oebbecke, Räume, 1986, S. 107 ff. K. J. Partsch, 45. DJT I/3, 1964, S. 90 nennt aus den Jahren 1950, 1954, 1956 und 1962 lediglich vier Fälle. 543 So wurden z. B. Bundesaußenminister Joseph Fischer (GRÜNE) und Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) vor dem „VISA“-Untersuchungsausschuss (BT-Drs. 15/5975, S.  463, 466), Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes Thomas de Maizière (CDU), Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU), Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) vor dem „BND“-Untersuchungsausschuss (Drs. 16/13400, S.  1334, 1335, 1338) oder Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) vor dem „HRE“-Untersuchungsausschuss (BT-Drs. 16/14000, S. 367, 369) vorgeladen. 544 BVerfGE 124, 78 (117 f.) (Hervorhebung nur hier). 542

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sogar ausdrücklich fest, dass die Untersuchungsausschüsse „[a]ufgrund ihres Beweiserhebungsrechts […] das persönliche Erscheinen von Regierungsmitgliedern und Beamten als Zeugen oder Sachverständige verlangen, im Weigerungsfalle auch bei Gericht erwirken“ könnten.545 Obwohl die Befugnis der Untersuchungsausschüsse, amtierende Regierungsmitglieder als Zeugen vorzuladen und zu vernehmen, allem Anschein nach also 1932 zum ersten und letzten Mal durch Walter Jellinek angezweifelt worden ist,546 unterliegt sie bei genauerer Betrachtung doch auch unter der Geltung des Art. 44 GG erheblichen Bedenken. b) Subordinationsverhältnis, Zeugenpflicht und Zeugniszwang Schon die Begründung der Zeugenpflicht, die das BVerfG angesichts der vermeintlich immer gleichen Rechtsgrundlage, ob nun private Dritte, Beamte oder Regierungsmitglieder vernommen werden sollen, in Art.  44 Abs.  2 Satz  1 GG in Verbindung mit der Strafprozeßordnung bzw. (auch) dem Untersuchungsausschussgesetz ohne Unterschied aus der „Auskunfts- und Zeugnispflicht als einer allgemeinen Staatsbürgerpflicht“ ableitet,547 offenbart ihre Brüchigkeit. Der Rückgriff auf allgemeine staatsbürgerliche Pflichten ist, obwohl er für die Zeugenpflicht durchaus Tradition besitzt,548 zur Begründung parlamentarischer Untersuchungsbefugnisse gegenüber amtierenden Regierungsmitgliedern offensichtlich deplatziert. Dass die Rechtsprechung grundsätzlich die Auffassung teilt, dass in interorganschaftlichen Beziehungen nicht die „allgemeinen“ Vorschriften Platz greifen, belegt die besondere Ableitung des Aktenvorlagerechts aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG. Wichtiger ist, dass das Bestehen eines Über-Unterordnungsverhältnisses, das die notwendige Voraussetzung von hoheitlichen Zwangsbefugnissen bis hin zu Vorführung und Beugehaft ist, zwischen Verfassungsorganen undenkbar ist. Die Bundesregierung ist in dem auf „Checks and Balances“ angelegten Gewaltenteilungssystem des Grundgesetzes549 mehr als ein „mit der Führung der Staatsgeschäfte beauftragte[r] Ausschuss der Parlamentsmehrheit“;550 sie ist ein eigenständiges und demokratisch legitimiertes Verfassungsorgan, das seine Geschäfte selbständig und  – in einem Kernbereich unbestritten  – eigenverantwortlich, ja 545

H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 44 Rn. 9 (Hervorhebung im Original). s. 7. Teil 3. Kap. B. I. 2. c) cc) (1). 547 BVerfGE 124, 78 (117 f.) (Hervorhebung nur hier). s. schon BVerfGE 76, 363 (383) unter Berufung auf die deutsche „Rechtstradition“. 548 Vgl. P. Laband, StaatsR III5 1913, S. 492 f.; Schaper, in: Holtzendorff (Hg.), Encyclopädie II, 1871, S. 711. 549 Allg. H. H. Klein, in: HdbStR III3 2005, § 50 Rn. 8 f.; U. Di Fabio, in: HdbStR II3 2004, § 27 Rn. 9 oder BVerfGE 124, 78 (120) m. w. N. aus der Rspr. 550 In diesem Sinne äußerte sich P. Laband, JÖR 1 (1907), 1 (28) über die parlamenta­ rische Regierung. s. dagegen aus heutiger Sicht G. Hermes, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 62 Rn. 8. 546

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ohne Kontrolle durch den Bundestag führt.551 Nicht einmal die Volksvertretungsmehrheit kann den Ministern verbindliche Weisungen erteilen; das Gesetz ist die einzige, für die Regierung rechtlich verpflichtende parlamentarische Handlungsform.552 Dass den Untersuchungsausschüssen gegenüber Regierungsmitgliedern derart drastische Befugnisse zugesprochen werden sollen, wie sie mit Zeugenpflicht und Zeugniszwang einhergehen, dürfte seine Ursache wieder in der Missdeutung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts als ausschließlichem Kontrollinstrument haben: Stehen die Regierungsmitglieder als Angeklagte vor ihrem parlamentarischen Richter, scheint ein Rückgriff auf strafprozessuale Verfahren und Befugnisse nahezuliegen. Eine solche Sichtweise verkennt aber das Wesen des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts, das eben kein auf Objektivität und prozessuale Wahrheitsfindung hin justiertes Verfahren, sondern ein Instrument zur bzw. ein Teil  der parteipolitischen Auseinandersetzung zwischen der Opposition, den regierungstragenden Parteien und der Bundesregierung ist. Vor diesem Passepartout wird die schwere Diskrepanz deutlich, die ein Zeugenvernehmungsrecht der parlamentarischen Seite, die in Wahrheit von der Op­ position beherrscht ist, bedeuten würde. Eine Erstreckung der Befugnisse des Art. 44 Abs. 2 GG auf amtierende Regierungsmitglieder ist abzulehnen. c) Zitier-, Zutritts- und Rederecht als abschließende Regelungen Das bedeutet aber freilich nicht, dass es heutige Bundesregierungen mit dem Ministerium Bismarck im Verfassungskonflikt halten und dem Bundestag jede Form von Kooperation aufsagen könnten. Das von der Verfassung für entsprechende Konstellationen vorgesehene, ja maßgeschneiderte Instrument ist das parlamentarische Zitierrecht. Während es im Schrifttum bloß heißt, dass das Zitierrecht neben der Möglichkeit einer Zeugenvorladung im parlamentarischen Untersuchungsverfahren auch zum Zuge kommen könne,553 ist Art.  43 Abs.  1 GG eine gegenüber Art. 44 Abs. 2 GG abschließende Sonderregelung. Dafür spricht, dass Art. 43 Abs. 1 GG das Zitierrecht – wie erstmals Art. 33 Abs. 1 RVerf 1919 – ausdrücklich auf die Ausschüsse erstreckt. Dieses relativ alte parlamentarische Recht, dessen Anfänge wohl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert liegen,554 551

Zur Stellung der Bundesregierung s. allg. nur M. Schröder, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 62 Rn. 4 f. oder G. Hermes, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 62 Rn. 2, 7 f. sowie zum Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung BVerfGE 124, 78 (120); BVerfGE 110, 199 (214); BVerfGE 77, 1 (59); BVerfGE 67, 100 (139); R. Scholz, AöR 105 (1980), 564 (598); O. Lepsius, KJ 2009, 81 (84); C. Seiler, AÖR 129 (2004), 378 (388); D. Engels, Jura 1990, 71 (73 f.). 552 Vgl. H. H. Klein, in: HdbStR III3 2005, § 50 Rn. 28, 33 zu Gesetzen und Tadelsbeschlüssen. 553 s. etwa L.-A. Versteyl, in: vMüK6 I, 2012, Art. 43 Rn. 8; L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 14 Rn. 17; S. Magiera, in: Schneider/Zeh (Hg.), ParlamentsR, 1989, § 52 Rn. 5; A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 29; K. Stern, StaatsR II, 1980, S. 107. 554 Vgl. 2. Teil 1. Kap. C. I. 3.

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diente von Anfang an einerseits der politischen Auseinandersetzung mit dem Gouvernement und andererseits auch dazu, Nachfragen an die Regierung zu ermöglichen; beide Funktionen übernimmt heute ebenfalls Art. 44 GG. Für die Zwecke einer Enquête, die nach der Korollartheorie von Art.  44 GG mitumfasst sind,555 ist das Zitierrecht offenkundig das angemessenere Instrument; es ermöglicht den Ausschüssen nach dem Vorbild des Verfassungsausschusses in der Frankfurter Nationalversammlung,556 Regierungsmitglieder zu den Beratungen hinzuziehen, um sich mit ihnen über relevante Fakten auszutauschen. Aber auch bei Kontrollenquêten scheidet eine Zeugenvernehmung aus den genannten Gründen aus; Art. 44 GG räumt den Untersuchungsausschüssen auch zur Regierungskontrolle keine gegenüber Art. 43 Abs. 1 GG weitergehenden Befugnisse ein. Stattdessen verdrängt das aus dem konstitutionellen Fremdinformationsrecht herausgewachsene Zitierrecht die durch Art. 44 Abs. 2 GG vermeintlich gegebene Möglichkeit, aktive Regierungsmitglieder analog strafprozessualer Vorschriften über den Zeugenbeweis vorzuladen und zu vernehmen. Sachgerechter als eine strafprozessrechtsanaloge Zeugenvernehmung von amtierenden Regierungsmitgliedern ist diese zitierrechtliche Lösung allemal, vermeidet sie doch den unpassenden Rückgriff auf allgemeine Staatsbürgerpflichten etc.; die Pflicht von Kanzler und Ministern, auf einen Beschluss des Bundestages oder eines seiner Ausschüsse hin zu erscheinen, um Rede und Antwort zu stehen, beruht nicht auf einem mit den verfassungsrechtlichen Interorganbeziehungen inkompa­ tiblen Subordinationsverhältnis, sondern folgt aus der parlamentarischen Verantwortlichkeitsdimension des Regierungsamts (Art. 65 Satz 1 und 2 GG).557 Anders als das unpassende Vernehmungsrecht ist das Zitierrecht seit anderthalb Jahrhunderten ein probates Mittel, damit sich Regierung und Parlament im Falle einer politischen Auseinandersetzung trotzdem noch „auf Augenhöhe“ begegnen können. Die grundsätzliche organschaftliche Gleichordnung beider Seiten kommt darin zum Ausdruck, dass dem Zitierrecht des Bundestages das Zutrittsund Rederecht der Bundesregierung gegenübersteht: Das individuelle Recht aller Regierungsmitglieder, sich jederzeit über die Verhandlungen und Vorgänge in der Volksvertretung zu informieren und ggf. die eigene Position zu erläutern oder zu verteidigen, erscheint als Kehrseite der parlamentarischen Regierungsverantwortlichkeit.558 Auf die damit angeschnittene Frage, ob das Zutritts- und Rederecht auch im parlamentarischen Untersuchungsverfahren gilt, ist noch zurückzukommen.559 555

s. 8. Teil 4. Kap. A. s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 1. a), aber auch c) ff). 557 Zu Art. 43 Abs. 1 GG vgl. M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 43 Rn. 26; M. Brenner, in: HdbStR III3 2005, § 44 Rn. 54; H. H. Klein, in: HdbStR III3 2005, § 50 Rn. 38; ders., in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 43 Rn. 121. 558 Vgl. N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 1 ff., 32 ff.; S. Magiera, in: Sachs (Hg.), GG7 2014, Art. 43 Rn. 7. 559 s. 8. Teil 4. Kap. C. IV. 556

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Eine riskante Beschneidung oder Paralysierung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts, selbstredend primär seiner Kontrollfunktion, ist von einem Vorrang des Zitierrechts nicht zu befürchten. Nach überwiegender Auffassung ist es für Art. 43 Abs. 1 GG – anders als in konstitutionellen Tagen – nicht damit getan, dass ein Regierungsmitglied überhaupt im Bundestag oder vor einem seiner Ausschüsse erscheint; der oder die Herbeizitierte muss den Volksvertretern grundsätzlich auch in der Sache Rede und Antwort stehen. Die Grenzen dieser Pflicht decken sich weitgehend mit denjenigen im parlamentarischen Untersuchungsverfahren.560 Eine sachliche Grenze zieht dem Auskunftsrecht insbesondere die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierungsmitglieder; außerhalb des Verantwortungskreises eines Ministers liegende allgemeine Wissensfragen gehören, auch wenn ein Zeuge sie beantworten müsste, nicht hierher.561 Diese gegenständliche Beschränkung ist gerade im Hinblick auf die Kontrollfunktion zu verschmerzen. Die Einschränkungen durch das allgemeine Recht der Bundesregierung, auf eine Frage im Rahmen des Zitierrechts oder auf eine Interpellation hin ggf. die Antwort zu verweigern,562 sprechen – obwohl die Erkenntnismöglichkeiten des Ausschusses damit massiv hinter einer Zeugenbefragung zurückbleiben563 – nicht gegen, sondern für den abschließenden Vorrang des Art. 43 Abs. 1 GG: Während der Schutz des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung im Rahmen einer Zeugenvernehmung augenscheinlich einen Fremdkörper darstellt, trotzdem aber im Interesse der Gewaltenteilung implementiert werden soll, ist er gegenüber einer Antwortpflicht im Rahmen des Zitierrechts eine Selbstverständlichkeit. Umgekehrt erweitert Art. 43 Abs. 1 GG die parlamentarischen Handlungsmöglichkeiten aber auch, weil sich eine Zeugenvernehmung auf Tatsachen beschränkt,564 während das Zitierrecht auch den allgemeineren politischen Dialog ermöglicht.565 Möglicherweise verbleibende „Lücken“ lassen sich nicht durch die „ergänzende“ Zeugenvernehmung eines Ministers schließen; Missbrauchsmöglichkeiten sind zu offensichtlich. Den Untersuchungsausschüssen bleibt aber das Recht, Regierungsbeamte als Zeugen vorzuladen und zu vernehmen. Zu ihren Gunsten greift weder der Interorganrespekt noch das Zitierrecht des Art. 43 Abs. 1 GG ein, um dem Recht des Untersuchungsausschusses aus Art.  44 Abs.  2 GG in Verbindung mit

560

Vgl. B. Pieroth, in: Jarass/ders., GG13 2014, Art. 43 Rn. 3; G. Kretschmer, in: S-B/H/H, GG11 2008, Art. 43 Rn. 15, 17, 20 f., 24; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 13; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 43 Rn. 11, 15 je m. w. N. 561 Zu Recht weist G. Kretschmer, in: S-B/H/H, GG11 2008, Art. 43 Rn. 20 auf den Fortfall der „Antwortpflicht“ hin, „soweit die Bundesregierung weder unmittelbar noch mittelbar zuständig ist“. 562 Zum Zitier- und Fragerecht s. 8. Teil 3. Kap. C. III. 563 Zu den Grenzen bei der Zeugenvernehmung s. etwa B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 311 f. m. w. N. 564 B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 308 ff.; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 19 Rn. 2. 565 Vgl. allg. zu Art. 43 Abs. 1 GG H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 71 („wechselseitiges Eingehen auf die von beiden Seiten vertretenen Standpunkte“), Rn. 74.

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dem Untersuchungsausschussgesetz und den Vorschriften des Strafprozessrechts Grenzen zu ziehen.566 Zu guter Letzt ermöglicht es Art. 43 Abs. 1 GG, der Bundesregierung im Interesse einer Repolitisierung des Enquête- und Untersuchungsrechts einen gewissen Antwortspielraum zuzubilligen, der einem Zeugen analog strafprozessualer Regelungen nicht zukäme. Auf diese Weise ließe sich – ähnlich wie für die Akten­ vorlage – dem genuin politischen Grundcharakter des parlamentarischen Enquêteund Untersuchungsrechts Rechnung tragen. Darauf wird noch zurückzukommen sein.567 d) Zwischenergebnis Die Befugnis, Zeugen in sinngemäßer Anwendung der Strafprozeßordnung vorzuladen, zu vernehmen und diese Rechte zur Not mit Zwangsmitteln durchzu­ setzen, ist mit dem Verhältnis von Parlament und Regierung inkompatibel. Die Untersuchungsausschüsse sind, wie es Walter Jellinek schon 1932 zu Recht festgestellt hat,568 wie jeder andere Parlamentsausschuss stattdessen ausschließlich auf das Zitierrecht verwiesen. Möglicherweise verbleibende Lücken lassen sich nur auf „freiwilliger“ Basis schließen. Bei diesem Unterfangen sind politischer sowie der Druck der öffentlichen Meinung legitim und wirkungsvoll. Insoweit behält das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht trotz seiner zunehmenden Verrechtlichung durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG ein Stück weit seinen Charakter als genuin politisches Instrument. Eine Zeugenvernehmung ehemaliger Regierungsmitglieder kommt demgegenüber  – vorbehaltlich der im Interesse des Geheimschutzes gemäß § 6 Abs. 2 BMinG erforderlichen Aussagegenehmigung569 – ohne Weiteres in Betracht. Diesen potentiellen Zeugen kommt der Interorganrespekt nicht zugute. Ebenso wenig haben sie die Pflicht, dem Bundestag aufgrund Art. 43 Abs. 1 GG Rede und Antwort zu stehen. Bei ihrer Vernehmung ist aber der Schutz der exekutiven Eigenverantwortung vor vollständigen nachträglichen Enthüllungen zu berücksichtigen.

566 Zu Aussagegenehmigung und Erteilungspflicht der Regierung s. P. J. Glauben, in: ders./ Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 20 oder B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 313 ff. 567 Zu derzeitigen Fehlentwicklungstendenzen sowie Abhilfemöglichkeiten s. unten 8. Teil 5. und 6. Kap. 568 W. Jellinek, RuPrVBl 1932, 821 (824). 569 Zur Notwendigkeit der Aussagegenehmigung von Beamten, Richtern, Ministern, Staatssekretären etc. s. B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 313.

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IV. Geltung des Zutritts- und Rederechts im Untersuchungsverfahren Die Geltung des Zutritts- und Rederechts im parlamentarischen Untersuchungsverfahren ist seit langem umstritten. Sorgen, dieses Recht könne die parlamentarischen Aufklärungsbemühungen konterkarieren, rechtfertigen es, diese Frage, die das Interorganverhältnis von Bundestag und Bundesregierung nicht minder betrifft, im Kontext der Untersuchungsbefugnisse zu behandeln. Schon in der ersten Wahlperiode kam es über das alte Recht der Regierung, den parlamentarischen Beratungen jederzeit beizuwohnen und ggf. das Wort zu ergreifen,570 zum Streit, als der Untersuchungsausschuss zum Dokumentendiebstahl im Bundeskanzleramt – neben anderen Unterlagen waren den Besatzungsmächten Kurzprotokolle von Kabinettssitzungen zugespielt worden571 – den Beauftragten der Bundesregierung den Zutritt zu seinen nichtöffentlichen Sitzungen verweigerte. Als Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) diesen „Widerspruch zum Grundgesetz“ rügte,572 entgegnete der Ausschussvorsitzende Walter Menzel (SPD), dass es für Kontrolluntersuchungen „nicht […] tragbar [wäre], daß die Vertreter der Bundesregierung an den internen Beratungen der Mitglieder des Untersuchungsausschusses“ teilnähmen.573 In der fünften Wahlperiode pochte die Bundesregierung gegenüber dem „HS 30“-Untersuchungsausschuss zunächst wieder auf Art. 43 Abs. 2 GG, lenkte dann aber doch ein, auf Wunsch des Ausschusses auf die Teilnahme an den Beratungssitzungen zu verzichten.574 Eine historische Parallele ist der Ausschluss der Landtagskommissare von den kurhessischen Kammerverhandlungen, der 1833 als Verletzung des „monarchischen Oberaufsichtsrechts“ mit den Anlass zur Auflösung der Ständeversammlung gab.575 Im Schrifttum ist vieles umstritten. Ein großer Teil der Autoren schloss sich der parlamentarischen Kritik an, dass die Anwesenheit von Regierungsmit­gliedern dem Erfolg der parlamentarischen Kontrolle abträglich sein könne.576 Während Hans-Peter Schneider 1988 de constitutione ferenda vorgeschlagen hatte, das 570

Seine Anfänge liegen im deutschen Frühkonstitutionalismus. s. dazu 2. Teil 1. Kap. C. I. 3. Dazu U. Hüllbusch, in: Booms (Hg.), Kabinettsprotokolle IV, 1988, S. 671 f. in Fn. 9. 572 Zur Beratung dieses Schreibens in der Bundesregierung H.  Booms (Hg.), Kabinetts­ protokolle V, 1989, S. 369. 573 s. WissAbtBT, AöR 83 (1958), 445 f. mit einem Zitat aus Schreiben Walter Menzels. In der zweiten Legislaturperiode kam es zu einem vergleichbaren Disput über das Zutrittsrecht der Bundesratsmitglieder. s. dazu WissAbtBT, AöR 83 (1958), 445 (446 f.). 574 BT-Drs. V/4527, S. 7. Zu einem weiteren Beispiel s. BT-Drs. V/4208, S. 1. 575 s. 2. Teil 2. Kap. A. II. 3. b) cc). 576 s. krit. bis abl. mit unterschiedlichen Erwägungen G. Kretschmer, in: S-B/H/H, GG11 2008, Art.  43 Rn.  26; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art.  43 Rn.  20; N. Achterberg/ M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 45; D. Wiefelspütz, ZParl 2002, 551 (561 f.); S.  Queng, JuS 1998, 610 (613 f.); B. Hoppe/R. Kleindiek, VR 1992, 82 (86); H.-P. Schneider, 57. DJT, 1988, S. M54 (M66, M69, M80 f., M93 Nr. 17); ders., NJW 2001, 2604 (2607); H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E50; K. J. Partsch, AöR 83 (1958), 459 (466). 571

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guber­native Präsenzrecht auf die öffentlichen Sitzungen zu beschränken, den Ausschuss aber zu ermächtigen, die Regierung selbst von diesen auszuschließen,577 ging er später  – wie auch andere Autoren  – von einem Parlamentsbrauch aus, der einem Zutrittsrecht der Regierungsvertreter im Untersuchungsverfahren entgegenstehe.578 Andere Stimmen wollen das Zutritts- und Rederecht bloß den Ministern absprechen, die als Zeugen vernommen werden sollen579 oder persönlich von der Untersuchung betroffen sind.580 Der 45. Juristentag wollte das Rederecht gleich ganz, das Zutrittsrecht immerhin für die nichtöffentlichen Ausschusssitzungen ausschließen.581 Stichhaltige Begründungen für solche Einschränkungen gibt es jedenfalls de constitutione lata nicht. Insbesondere können Überlegungen, Untersuchungsausschüsse seien keine „Ausschüsse“, ihre Beweiserhebungen und Beratungen keine „Sitzungen“ im Sinne von Art. 43 Abs. 2 GG, nicht überzeugen.582 Das richterliche Beratungsgeheimnis (§ 193 GVG) findet keine sinngemäße Anwendung, weil Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG zwar für die Beweiserhebung, nicht aber für die Beratungen der Untersuchungsausschüsse auf das Strafverfahrensrecht verweist.583 Ein einseitiger Parlamentsbrauch kann keine verfassungsmäßigen Rechte anderer Organe beschneiden. Eine Einschränkung nach § 24 PUAG scheitert nicht nur an dem einfachrechtlichen Charakter dieser Vorschrift, sondern – soweit man eine förmliche Zeugenvernehmung von Ministern nach Art.  44 Abs.  2 GG ablehnt – am Fehlen der Zeugenstellung des Zutritts- und Redeberechtigten.584 Im Ergebnis bemühen die Befürworter eines Zutritts- und Rederechts im parlamentarischen Untersuchungsverfahren  – ebenso profan wie überzeugend  – schlicht den vorbehaltlosen Wortlaut des Art. 43 Abs. 2 GG.585 Letzten Endes ist die Frage ebenso zu beantworten wie diejenige nach dem Verhältnis von Art. 43 577

H.-P. Schneider, 57. DJT, 1988, S. M54 (M69, M80 f., M93 Nr. 17). H.-P. Schneider, AK-GG (Aug. 2002), Art. 44 Rn. 9; B. Hoppe/R. Kleindiek, VR 1992, 82 (86). Die in Bezug genommene Entscheidung BVerfGE 74, 7 ff. betrifft lediglich eine einstweilige Anordnung und ist den Grundrechten geschuldet. 579 Vgl. WissAbtBT, AöR 83 (1958), 451 (453); H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 190 unter Hinweis auf Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit § 24 Abs. 1 PUAG, der § 58 Abs. 1 StPO entspricht. 580 S. Magiera, in: Sachs (Hg.), GG7 2014, Art. 43 Rn. 10. 581 DepDJT (Hg.), 45. DJT II, S. E173 f. (Nr. 10); Abdruck auch in JZ 1964, 728. 582 Vgl. abl. auch A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S.  61 („formalistische Unterscheidung“); N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 47 m. w. N. auch zu der Gegenauffassung sowie NdsStGH, AöR 83 (1958), 423 (428 ff., 432 ff.). s. aber P. Groß/ R. Groß, JR 1963, 335 (336), die außerdem eine vermeintliche „Wesensverwandtschaft mit dem gerichtlichen Verfahren“ bemühen; WissAbtBT, AöR 83 (1958), 451 ff. (Ausschuss­ eigenschaft der Untersuchungsausschüsse und Sitzungsqualität ihrer Beweiserhebungssitzungen, nicht aber der Beweiswürdigung oder Beratung als rein innerparlamentarische Vorgänge). 583 Vgl. NdsStGH, AöR 83 (1958), 423 (432 f.) zum insoweit vergleichbaren Landesrecht. 584 Vgl. 8. Teil 4. Kap. C. III. 2. 585 s.  für ein unbeschränkbares Zutrittsrecht H.  Rechenberg, BK  GG (1977/78), Art.  44 Rn.  21; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art.  43 Rn.  138 und Art.  44 Rn.  190; A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 60 ff. Vgl. auch N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 47; L.-A. Versteyl, in: vMüK6 I, 2012, Art. 43 Rn. 36 (grundsätzlich 578

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Abs. 1 und Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG: Während Art. 43 Abs. 2 GG kein Ausdruck eines gubernativen „Oberaufsichtsrechts“ ist,586 ermöglicht es diese allgemeine Vorschrift der Regierung dennoch, sich über alle parlamentarischen Vorgänge umfassend zu informieren, ggf. Stellung zu den Beratungen zu nehmen und die ministerielle Position zu vertreten.587 Als Sinn und Zweck des Zutritts- und Rederechts hat Carl Friedrich Nebenius 1819 die Vereinfachung des Verfahrens sowie die Vermeidung von Missverständnissen angesehen.588 In diesem Sinne, aber auch darüber hinaus schafft Art. 43 Abs. 2 GG gewissermaßen ein Stück Waffengleichheit zwischen Parlament und Regierung, indem sich diese im parlamentarischen Untersuchungsverfahren auch außerhalb einer „Vernehmung“ ihrer Mitglieder gegen etwaige Vorwürfe verteidigen kann.589 Andernfalls nähme ein Untersuchungsausschuss gleichsam die Rolle eines parlamentarischen Gerichts über die Regierung ein, die in dem gesamten Verfahren keine aktive Rolle übernehmen könnte, sondern nur auf Vorladung und in heteronom gesetzten Grenzen agieren dürfte. Ein solches Bild wird dem Verhältnis dieser beiden Verfassungsorgane zueinander ebenso wenig gerecht wie die Vorstellung eines formellen parlamentarischen Zeugenladungs- und -vernehmungsrechts gegenüber den Regierungsmitgliedern. In der Praxis nehmen sowohl Regierungs- als auch Bundesratsvertreter regelmäßig an den Sitzungen der Untersuchungsausschüsse teil.590 Das Untersuchungsausschussgesetz sieht anders als der IPA-Entwurf591 keine Beschränkung vor; eine einfachgesetzliche Regelung ohne begleitende Verfassungsänderung reichte dazu auch nicht aus.592 Als äußerste Schranke für das Zutritts- und Rederecht gilt jedenfalls das Missbrauchsverbot aus der Organtreuepflicht.593 Missbrauch bei nichtöffentlichen Sitzungen); G. Kretschmer, in: S-B/H/H, GG11 2008, Art. 43 Rn. 26 (Missbrauch bei Zutritt durch Minister, dessen Verhalten untersucht wird); WissAbtBT, AöR 83 (1958), 451. 586 H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 120. 587 Vgl. mit unterschiedlichem Akzent N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 34; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 43 Rn. 17; H. H. Klein, in: Maunz/ Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 120 f.; S. Queng, JuS 1998, 610 (611 f.) sowie NdsStGH, AöR 83 (1958), 423 (429) und BVerfGE 10, 4 (17 f.) zum Verteidigungszweck. 588 VerhBad2K 1819/1, S. 50 f.; s. dazu 2. Teil 2. Kap. B. I. 4. 589 Vgl. zu diesem Argument der baden-württembergischen Regierung gegen eine entsprechende Verfassungsänderung H. Schlenker, VBlBW 1983, 399 (403) sowie NdsStGH, AöR 83 (1958), 423 (434). 590 s. dazu Wiefelspütz, ZParl 2002, 551 (561). 591 § 9 Abs. 1 IPA-Entwurf sah vor, dass Mitglieder und Beauftragte der Bundesregierung im Interesse des Zeugen oder einer wahrheitsgemäßen Antwort von den nichtöffentlichen Beweiserhebungssitzungen ausgeschlossen werden konnten. Gemäß § 9 Abs. 2 IPA-Entwurf sollten sie nicht an den Beratungssitzungen teilnehmen. Eine flankierende Verfassungsänderung war nicht geplant. 592 Zur Notwendigkeit einer Verfassungsänderung s. H. Plagemann, ZParl 1977, 242 (250); H.-P. Schneider, 57. DJT, 1988, S. M54 (M69); NdsStGH, AöR 83 (1958), 423 (427 f.) und ferner WissAbtBT, AöR 83 (1958), 451. 593 s. S. Queng, JuS 1998, 610 (613 f.); ferner N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 43 Rn. 48 a. E. und BVerfGE 10, 4 (17 f.) sowie die Nachw. in Fn. 585.

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V. Bewertung der Entwicklung der Untersuchungsbefugnisse Für die Fortentwicklung der Befugnisse der Untersuchungsausschüsse in Wissenschaft und Praxis gilt, dass die Errungenschaften der Weimarer Republik beibehalten, zugleich aber ausgebaut wurden: Gegenüber dem Bürger gelten Durchsuchung und Beschlagnahme anders als unter der Geltung von Art. 34 Abs. 2 Hs. 1 RVerf 1919 als zulässig. Die Bundesregierung und die ihr untergeordnete Verwaltung sollen – obwohl Art. 44 GG den entsprechenden Passus des Art. 34 Abs. 2 Hs.  2 RVerf  1919 gerade nicht übernommen hat  – zur Aktenvorlage verpflichtet sein. Beide Neuerungen sind Verdienste des BVerfG. Zudem gelten die Untersuchungsausschüsse  – nach hier vertretener Ansicht allerdings zu Unrecht  – als berechtigt, Regierungsmitglieder wie Privatpersonen als Zeugen vorzuladen und zu vernehmen. Der Zeugeneid spielt de facto (!) mittlerweile keine Rolle mehr. Alles in allem ist die Entwicklung seit Inkrafttreten des Grundgesetzes, das liegt nicht zuletzt an den Rechtsschutzmöglichkeiten des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, von einer erheblichen Stärkung des Parlaments auf Kosten der Bundesregierung gekennzeichnet. Dabei steht der Kontrollrechtsgedanke absolut beherrschend im Vordergrund. Die zunehmende Juridifizierung des Informationsrechts führt zu der merkwürdigen Diskrepanz, dass das Untersuchungsverfahren seinen politischen Charakter zugunsten einer starken Verrechtlichung verloren hat, während das Enquête- und Untersuchungsrecht weiterhin parteipolitischen Zwecken dienen soll.

D. Das Selbstinformationsrecht als Minderheitenrecht Die wesentlichste Strukturentscheidung für das moderne Enquête- und Untersuchungsrecht ist zweifellos die Ausgestaltung des Art.  44 GG als Minderheitenrecht. Nachdem die Weimarer Staatsrechtslehre es bei einer insoweit vergleichbaren normativen Ausgangslage überwiegend hingenommen hatte, dass die Antragsteller ausschließlich im Einsetzungsstadium eine bestimmende Rolle spielen konnten, während die anschließende Durchführung ganz in der Hand der Ausschussmehrheit lag,594 avancierte der Ausbau des Minderheitenschutzes in der Bundesrepublik Deutschland zu einem „beherrschende[n] Gesichtspunkt für Reformüberlegungen“ (Gerald Kretschmer).595

I. Erste Entwicklungen und Reformforderungen Zunächst knüpften Theorie und Praxis an die Weimarer Republik an: Bei der Einsetzung folgte der Bundestag gegen den Widerspruch des Schrifttums und eines Gutachtens des Rechtsausschussvorsitzenden Wilhelm Laforet (CSU), 594

Zur Ausgestaltung des Minderheitenrechts in der Weimarer Republik s. 7. Teil 4. Kap. G. Kretschmer, DVBl 1988, 811 (815).

595

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dass im Hinblick auf die parlamentarische Gesamtverantwortung für das Untersuchungsverfahren ein Plenarbeschluss erforderlich sei,596 lange Zeit dem Vorbild des Reichstags, indem der Bundestagspräsident schlicht die Erreichung des Einsetzungsquorums und damit die Einsetzung des Untersuchungsausschusses feststellte, ohne einen ausdrücklichen Beschluss herbeizuführen.597 Im krassen Gegensatz zu dieser beherrschenden Rolle der Einsetzungsminderheit im Plenum lag das eigentliche Untersuchungsverfahren im Ausschuss anschließend vollständig in der Hand der Mehrheit; dieser „Schutztruppe der Regierung“ (Hans Meyer)598 war es im Extremfall möglich, eine von der Opposition initiierte Untersuchung durch eine Aussetzung der Ausschussarbeit de facto abzuwürgen.599 Neben diesem ex 596 Zum Weimarer Schrifttum s. 7. Teil 4. Kap. B. I. Mit dem Inkrafttreten des Untersuchungsausschussgesetzes hat auch Ludger-Anselm Versteyl die Position geräumt, dass ein Untersuchungsausschuss wegen Art.  44 Abs.  1 Satz  1 GG schon durch den qualifizierten Antrag eingesetzt sei. s. einerseits L.-A. Versteyl, in: vMüK4–5 II, 2001, Art. 44 Rn. 15 und andererseits ders., in: vMüK6 I, 2012, Art. 44 Rn. 19. s. sonst M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 22 f.; K. Stern, StaatsR II, 1980, S. 104; Abdruck des Gutachtens Laforet bei H. G. Ritzel/ H. Koch, GO-BT, 1952, S. 122 ff. A. A. H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 6: nur formeller Charakter des Beschlusses. 597 Vgl. K. J. Partsch, 45. DJT I/3, 1964, S. 34. So hob Annemarie Renger (SPD) am 3. Oktober 1985 knapp hervor, dass nach „Art. 44 Abs. 1 des Grundgesetzes […] der Bundestag verpflichtet [sei], einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, wenn die Einsetzung von einem Viertel seiner Mitglieder verlangt“ werde, und konstatierte dann, dass  – weil die „Einsetzung […] von der Fraktion der SPD verlangt“ werde – „somit [feststehe…], daß der Untersuchungsausschuß gemäß Art. 44 Abs. 1 des Grundgesetzes eingesetzt“ wäre (BT-Prot. 10/162, S. 12132). Entsprechend verfuhr die Vizepräsidentin ein weiteres Mal am 2. April 1987 (BTProt. 11/8, S. 439). – Kein Fall eines „Minderheitsbeschlusses“ ist es, wenn anstelle eines förmlichen ein Beschluss im vereinfachten Verfahren gefasst wird. In diesem Sinne konstatierte Bundestagspräsident Philipp Jenninger am 21. Januar 1988, dass von drei Untersuchungsanträgen „zwei das erforderliche Quorum von einem Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestages“ aufwiesen und fragte dann, weil man „aus verfassungsrechtlichen Gründen über die einzelnen Anträge einzeln abstimmen“ müsse, ob sich gegen die „Feststellung, daß der Untersuchungsausschuß […] eingesetzt [sei…], Widerspruch“ erhebe (BT-Prot. 11/55, S. 3791 f.). s.  dazu M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn.  22. Zu Unrecht rechnen H.  Steinberger, Rechtsgutachten, 1988, S. 1183 in Fn. 16 und D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 191 die Entscheidungen Annemarie Rengers dem „vereinfachten Beschlussverfahren“ zu. 598 H. Meyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, S. 150 in Fn. 132. s. neuerdings auch B. Peters, ZParl 2012, 831. Möglicherweise geht die Formulierung auf einen Redebeitrag Gustav Heinemanns auf dem Juristentag in Karlsruhe zurück. Vgl. G. Kisker, JZ 1964, 727 (728). 599 So verfuhr im Februar 1952 der „Platow“-Ausschuss im Hinblick auf Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bonn. Die um ihren Erfolg gebrachten Antragsteller scheiterten im Plenum auch mit dem Versuch, den Ausschuss wenigstens zu einem Bericht „über seinen Aussetzungsbeschluß und dessen Gründe“ zu veranlassen. s. den Bericht des Abgeordneten Harald Koch (SPD) (BT-Prot. I/194, S. 8362), SPD-Antrag (BT-Drs. I/3081) und den Beschluss (BT-Prot. I/194, S. 8367). Ebenso war es dem parallelen Ausschuss „Dokumentendiebstahl“ ergangen. Vgl. den Hinweis Kochs (S. 8363, 8364 f.). s. zu beiden Verfahren R. Kipke, Untersuchungsausschüsse, 1985, S. 129 ff. mit krit. Überlegungen dazu, ob eine dreimonatige Unterbrechung wirklich die von der SPD angeprangerte Beeinträchtigung des Minderheitenrechts bedeuten konnte.

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tremen Mittel verfügte die Mehrheit noch über verschiedene „moderatere“ Möglichkeiten, um die Aufklärungsbemühungen oder das Berichtsrecht der Gegenseite zu konterkarieren.600 Insbesondere die Beweiserhebung als der eigentliche Kern jedes Untersuchungsverfahrens war der Majorität überlassen.601 1966 resümierte Friedrich Klein in der zweiten Auflage des von Hermann v. Mangoldt begründeten Kommentars, dass die Mehrheit das Verfahren regiere und es ihr überlassen bleibe, eine unbequeme Untersuchung anzustellen oder zu unterbinden;602 auf die Beweis­ erhebungen besäßen die Antragsteller „keinen Einfluß, sofern nicht der eine oder andere von ihnen selbst Mitglied des Untersuchungsausschusses“ wäre.603 Dieser Zustand wurde in der Praxis schon früh als unbefriedigend kritisiert: Anfang der 1950er Jahre verlangte der „Hauptstadt“-Ausschuss in seinem Abschlussbericht, „eine Verfahrensordnung für Untersuchungsausschüsse zu schaffen und darin in besonderer Weise die Rechte der Minderheit im Sinne des Artikels  44 GG sicherzustellen“.604 Mit vergleichbarer Zielsetzung ging Wilhelm Laforet (CSU) in seinem Gutachten davon aus, dass die „antragstellende Minderheit […] nach der parlamentarischen Sitte grundsätzlich zu beteiligen“ sei; „[a]uch wenn nach der Zahl der Mitglieder ein Vertreter der Minderheit nicht beschließendes Mitglied [wäre, sei ihm…] unter allen Umständen das Fragerecht im Ausschuß zu gewährleisten“.605 Trotz solcher Stimmen gingen die Empfehlungen der Landtags­präsidentenkonferenz vom Mai 1961 allenfalls bescheiden über Wei 600 Vgl. Gustav Heinemanns (SPD) Klage über die „groben Verfahrensmängel“ des „FIBAG“-Untersuchungsausschusses, die sich neben Fragen der Beweiserhebung auf die Terminierung, die Absetzung von Beratungspunkten und das Zustandekommen des Abschlussberichtes erstreckte (BT-Prot. 4/37, S. 1581 f.), oder die Bemerkungen Gerhard Jahns (SPD) bei Beratung des zweiten Berichts nach der Rückverweisung an den Ausschuss (BT-Prot. 4/43, S.  1875). s.  zu diesem Ausschuss R. Kipke, Untersuchungsausschüsse, 1985, S.  139 ff. Aus neuerer Zeit s. D. Wiefelspütz, NJ 2002, 398 (399) zum Zeitpunkt einer Beweiserhebung oder Zeugenvernehmung als ebenso simples wie wirkungsvolles Instrument, „um […] die qualifizierte Minderheit ‚auszubremsen‘“. 601 Ende Juni 1962 kritisierte selbst ein FDP-Mitglied, also ein Vertreter der Regierungskoalition, dass der „FIBAG“-Untersuchungsausschuss nicht alle Aufklärungsmöglichkeiten ausgeschöpft habe. Etwa wäre, weil sich Zeugen widersprochen hätten, nach der Strafprozeßordnung eine „Gegenüberstellung“ geboten und eine „Beeidigung […] in manchen Fällen unumgänglich“; möglicherweise würden auch „weitere Beweiserhebungen notwendig“. Für die SPD erhob Gustav Heinemann den Vorwurf, dass die Unions-Mehrheit, obwohl man weitere Beweiserhebungen verlangt habe und angekündigt worden sei, einen Beweisbeschluss zu fassen, plötzlich jede Beratung abgelehnt habe. Gegen Matthias Hoogens (CDU) Mahnung, dass ein solcher Beschluss unzulässig wäre, wurde der Bericht mit knapper Mehrheit von bloß zwei Stimmen an den Ausschuss zurückverwiesen (BT-Prot. 4/37, S. 1581 ff.). Vgl. dazu R. Kipke, Untersuchungsausschüsse, 1985, S. 139 ff. und allg. K. J. Partsch, 45. DJT I/3, 1964, S. 85. 602 H. v. Mangoldt/F. Klein, GG II2 1966, S. 941. 603 H. v. Mangoldt/F. Klein, GG II2 1966, S. 949. Im folgenden Jahr konstatierte F. Klein, in: B. Schmidt-Bleibtreu/ders., GG, 1967, Art. 44 Rn. 3 lakonisch: „Ein Beweisantragsrecht der Antragsteller besteht nicht mehr“. 604 BT-Drs. I/2274, S. 21, Nr. 3. Zu der Ausschussdebatte s. K. J. Partsch, 45. DJT I/3, 1964, S. 87. 605 s. den Abdruck bei H. G. Ritzel/H. Koch, GO-BT, 1952, S. 123 unter II. c).

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marer Standards hinaus; Minderheitenrechte in der Beweiserhebung wurden nicht verlangt.606 Auch das ältere Schrifttum zeigte sich gegenüber der Lage der Mino­ ritäten überwiegend indolent: Zwar betonte Hermann v. Mangoldt schon 1953, dass Art. 34 RVerf 1919 „auch dem Minderheitsschutz innerhalb des Parlaments [gedient habe], z. B. wenn eine mit der Regierung zusammengehende Mehrheit es [unterlasse…], Erhebungen anzustellen, deren Ergebnis ihr oder der Regierung unbequem oder gar gefährlich werden“ könne.607 Andreas Hamann sprach 1956 dem „sog. ‚Enquête‘-Recht des Bundestages“ neben der Regierungskontrolle eine „wichtige Schutzfunktion im Interesse der Parlamentsminderheiten“ zu.608 Weitergehende Schlüsse wurden aus diesen allgemeinen Charakterisierungen aber überwiegend nicht gezogen. Immerhin hob Theodor Maunz 1960 hervor, dass ein „Untersuchungsausschuß […] jedenfalls nicht so verfahren [dürfe], daß der Antrag des Viertels, durch den er eingesetzt worden [sei…], unter den Tisch“ falle; im selben Atemzug folgte dann aber die Feststellung, dass der Ausschuss „an diesen Antrag, wenigstens soweit er bestimmte Beweiserhebungen [verlange…], anders als zur Weimarer Zeit […] in seinem Verfahren nicht gebunden“ wäre. Statt eines verrechtlichten Minderheitenschutzes setzte Maunz auf parlamentarische Con­tenance, weil der Verfassungsgeber insoweit „mit beiderseitiger Loyalität“ gerechnet habe.609 Ende September 1964 nahm sich der 45. Deutsche Juristentag in Karlsruhe der Problematik an und verlangte u. a., dass den „Beweisanträgen qualifizierter Minderheiten des Ausschusses entsprochen werden [müsse…], soweit sie sich im Rahmen des Untersuchungsauftrages“ hielten.610 Erst in der Folgezeit hielt Kritik an den Mängeln des „Minderheitenschutz[es] beim Beweisantragsrecht“ auch sachte in das Schrifttum Einzug; Forderungen, den Minoritäten ein Beweiserhebungsrecht einzuräumen, sollten folgen.611

606 Anlass zu der Beschäftigung mit dem parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrecht hatte der umstrittene bayerische Spielbankenausschuss gegeben. s.  dazu W. Becker, DÖV 1964, 505 oder D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 90 f. – Abdruck der Empfehlungen bei K. J. Partsch, 45. DJT I/3, 1964, S. 236 ff. als Anl. III. oder W. Becker, S. 509 f.: Abänderungen des Einsetzungsantrags, denen die Minderheit nicht zustimmte, sollten als eigenständiger Einsetzungsantrag behandelt werden. Minderheitenschutz in der Beweisaufnahme war nicht vorgesehen. Wenigstens sollte jedes Ausschussmitglied berechtigt sein, „dem Plenum einen abweichenden Bericht vorzulegen“. 607 Vgl. H. v. Mangoldt, GG, 1953, S. 248 unter Berufung auf K. J. Partsch, 45. DJT I/3, 1964, S. 85, 199 f. 608 A. Hamann, GG, 1956, S. 240 (Hervorhebung im Original). Ähnl. F. Giese/E. Schunck, GG8 1970, S. 120. 609 T. Maunz, in: ders./Dürig, GG (1960), Art. 44 Rn. 50. 610 s. DepDJT (Hg.), 45. DJT II, 1964, S. E172 (Nr. 4) oder die Vorschläge von H. Ehmke, S. E7 (E46); Abdruck auch in JZ 1964, 728. 611 s. mit Unterschieden im Detail etwa A. Hamann/H. Lenz, GG3 1970, S.  466 (Zitat), R. Groß, DVBl 1971, 638 (639) oder L.-A. Versteyl, in: vMü II, 1976, Art. 44 Rn. 40 f. mit dem Vorschlag, die Mehrheit der Ausschusssitze der Minderheit zuzusprechen.

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II. Die „IPA-Regeln“ Eine kleine Wende brachten Ende der 1960er Jahre die Bemühungen der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft, deren im November 1968 verabschiedeten Empfehlungen, die sog. „IPA-Regeln“, als Grundlage für einen überfraktionellen Gesetzentwurf dienen sollten.612 1. Der IPA-Entwurf Indem § 2 Abs.  2 IPA-Entwurf für die Einsetzung einen Plenarbeschluss verlangte, wendete sich der Entwurf von der bedenklichen Praxis ab, die Ein­setzung faktisch der qualifizierten Minderheit zu überlassen. Eine Konkretisierung oder Erweiterung des Untersuchungsauftrags durch die Mehrheit sollte gemäß § 2 Abs.  4 IPA-Entwurf selbst „gegen den Willen der Antragsteller“ statthaft sein, wenn der „Kern […] unberührt“ blieb und „keine wesentliche Verzögerung […] zu erwarten“ war. Im Fall von „Zweifeln über die Zulässigkeit“ wollte man den Einsetzungsantrag an den Rechtsausschuss verweisen (§ 1 Abs. 3 IPA-Entwurf). Während diese Vorschläge gewissermaßen auf eine Schwächung der Minderheiten in der Einsetzungsphase abzielten, sollten sie im Untersuchungsverfahren selbst gestärkt werden: Die Regeln über die Beschlussunfähigkeit sollten gemäß § 6 Abs. 3 IPA-Entwurf dann keine Anwendung finden, wenn die vorherige Sitzung aus demselben Grund gescheitert war; damit wäre es den Vertretern der Regierungsmehrheit unmöglich geworden, eine Untersuchung durch schlichtes Nichterscheinen lahmzulegen. § 8 Abs. 3 IPA-Entwurf verlangte abweichend von Art. 44 Abs. 1 Satz 2 GG für einen Ausschluss der Öffentlichkeit – üblicherweise eine bei der Opposition unpopuläre Maßnahme  – eine Zweidrittelmehrheit. Mit der Mehrheitsherrschaft in der Beweisaufnahme sollte § 12 Abs.  2 IPA-Entwurf brechen, indem der Ausschuss alle „von den Antragstellern“ oder von einem Viertel seiner Mitglieder beantragten Beweise, die nicht „offensichtlich“ außerhalb des Untersuchungsauftrags lagen, zu erheben haben sollte. Dieser Vorschlag ging über alle zu dem ausdrücklichen Beweisantragsrecht der Einsetzungsminderheit aus Art. 34 Abs. 1 Satz 2 RVerf 1919 in der Weimarer Zeit vertretenen Auffassungen weit hinaus.613 Zudem sollte jedem einzelnen Ausschussmitglied ein Fragerecht (§ 17 Abs. 1 IPA-Entwurf) und das Recht zustehen, dem Plenum einen abweichenden Bericht zu präsentieren (§ 23 IPA-Entwurf). Als Reaktion auf seit Weimarer Tagen verbreitete Sorgen, parlamentarisches Untersuchungs- und gerichtliches Strafverfahren könnten sich gegenseitig schädigen, sah § 22 Abs.  1 IPA-Entwurf ein Recht des Ausschusses zur Aussetzung seines Verfahrens vor. Eine zwingende Regelung, wie sie die Richterschaft in den 612 BT-Drs. V/4209. Zu Entstehung und Schicksal des Gesetzentwurfs s. D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 95 ff. 613 s. 7. Teil 4. Kap. D. I.

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1920ern gefordert hatte,614 war nicht beabsichtigt. Stattdessen trug der IPA-Entwurf negativen Erfahrungen aus den vergangenen Jahren, dass die Mehrheit eine Untersuchung auf diesem Weg auch vereiteln konnte,615 im Interesse der Minderheiten Rechnung, indem er den Antragstellern im Bundestag, ihren Vertretern im Ausschuss sowie jedem Viertel seiner Mitglieder ein Vetorecht gegen einen entsprechenden Ausschussbeschluss einräumte. Nach der Aussetzung sollte ein Viertel der Bundestagsmitglieder die Wiederaufnahme erzwingen können. Demselben Quorum stand der Widerspruch gegen die Auflösung eines Untersuchungsausschusses zu (§ 22 Abs. 2 und 3 IPA-Entwurf). 2. Die Anwendung der „IPA-Regeln“ Obwohl der IPA-Entwurf von Abgeordneten der CDU/CSU-, SPD- und FDPFraktion getragen wurde, war ihm kein Erfolg beschieden.616 Im Herbst 1971 legte der „Paninternational“-Untersuchungsausschuss seinem Verfahren dennoch die Regeln des Entwurfs mit der salvatorischen Maßgabe zugrunde, dass diese „geltendem Recht“ nicht widersprechen und auch „keine sonstigen Bedenken“ bestehen dürften.617 In den kommenden Jahrzehnten folgte das Bundestagsplenum diesem Beispiel schon bei der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.618 Diese faktische Übernahme verbesserte die Lage der Minderheiten bestenfalls graduell, verdankten die „IPA-Regeln“ doch ihre Geltung als von Fall zu Fall adoptierte „Sondergeschäftsordnung“ statt belastbaren Rechtsregeln bloß einer freiwilligen Selbstbeschränkung der Mehrheit,619 die damit die unangefochtene Herrin des Untersuchungsverfahrens blieb.620 Gleichwohl wurde das minoritäre Beweisantrags 614

s. dazu 7. Teil 3. Kap. B. II. s. Fn. 599. 616 Dazu P. Schindler, Datenhandbuch II, 1999, S.  2243 f.; D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S.  97. Zum Scheitern eines flankierenden Verfassungsänderungsvorstoßes, der u. a. die Ermächtigung des Gesetzgebers zur Regelung des Näheren vorsah, s. BT-Prot. V/246, S. 13728 ff. und BT-Drs. V/4514, S. 3 unter Nr. 2 a). 617 BT-Drs. VI/3830, S. 9 f.; M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 9 ff.; P. Schindler, Datenhandbuch II, 1999, S. 2244. 618 s. etwa BT-Drs. 8/3835, S.  5; BT-Drs. 10/5079, S.  2; BT-Drs. 10/6584, S.  12; BT-Drs. 10/6779, S.  17; BT-Drs. 11/6141, S.  10; BT-Drs. 12/8404, S.  22; BT-Drs. 12/8591, S.  14; BT-Drs. 13/10900, S. 24 f. und BT-Drs. 14/9300, S. 27 f. mit einem Hinweis auf das Untersuchungsausschussgesetz, das für den Untersuchungsausschuss noch nicht gegolten habe. s. auch BT-Drs. 12/7600, S. 18 und 24 ff. zu Abweichungen von den IPA-Regeln. 619 Vgl. M. Schröder, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 46 Rn. 20 und ferner ders., 57. DJT, 1988, S. E108. 620 Ähnl. U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (604 f.). Vgl. ferner BVerfGE 49, 70 (87) zu der Möglichkeit der Ausschussmehrheit, mit der Minderheit im Vorfeld getroffene Abreden im Untersuchungsverfahren zu brechen, die Kritik der SPD-Minderheit im „Neue Heimat“-Untersuchungsausschuss und ihre Forderung, „sicherzustellen, daß […] Minderheitenrechte im parlamentarischen Untersuchungsverfahren tatsächlich gewahrt bleiben“ (BT-Drs. 10/6779, S.  290) oder die Beispiele für faktische Benachteiligungen der Minderheit im „Flick“-Ausschuss bei H.-P. Schneider, DER SPIEGEL 43/1985, S. 45 f. 615

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recht des § 12 Abs.  2 IPA-Entwurf im Einzelfall durchaus geachtet.621 LudgerAnselm Versteyl brachte diese prekäre Rechtslage prägnant dahin auf den Punkt, dass die „parlamentarische Mehrheit das Recht der Minderheit in sein Gegenteil verkehren [könne], indem die Mehrheit den Beweisantrag der Minderheit auf unbestimmte Zeit“ absetze. Pointiert kam er zu der Schlussfolgerung, dass, solange allein die Ausschussmehrheit den Gang des Verfahrens beherrsche, jeder Untersuchungsausschuss potentiell zu einem „Behinderungsausschuß mit einem Ausgang wie beim Hornberger Schießen“ werde.622 3. Bewertung Tatsächlich schuf die Rezeption des IPA-Entwurfs durch die parlamentarische Praxis keine Rechtssicherheit,623 indem den Minderheiten jede Möglichkeit zur „Rechts“-Durchsetzung fehlte.624 Wie wenig sich die Lage wirklich verbessert hatte, zeigt Peter Baduras Feststellung von 1996, dass „die parlamentarische Mehrheit […] auch im Untersuchungsausschuß mit Hilfe ihres Mehrheitswillens den Gang der Untersuchung, die Beweiserhebungen und den Bericht über das Ergebnis der Untersuchung bestimmen [konnte], unbeschadet der gleichen Rechte aller Ausschußmitglieder und unbeschadet des Rechts der Minderheit zur Beifügung eines Minderheitsberichts“.625 Wenigstens hatte mit den IPA-Regeln der Gedanke eines verstärkten Minoritätenschutzes und insbesondere eines die Mehrheit bindenden Beweisantragsrechts Einzug in die Diskussion gehalten. In den folgenden Jahrzehnten wurden „Forderungen nach Ausbau und Verbesserung des Minderheitenschutzes“ zum festen „Bestandteil parlamentarischer Reforminitiativen und Empfehlungen sowie einschlägiger Äußerungen im Schrifttum“ (Meinhard Schröder). Aber trotz zahlreicher Vorstöße, ein Untersuchungsausschussgesetz zu schaffen, das diesen Desideraten Rechnung tragen sollte, erwies sich der Bundestag bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts als unfähig, diese Materie tatsächlich befriedigend zu regeln.626 621 s. die Äußerungen der Abgeordneten Detlef Kleinert (FDP), Friedrich Schäfer (SPD), Hellmut Sieglerschmidt (SPD), Carl Otto Lenz (CDU) in BT-Prot. 7/90, S. 5967, 5970, 5980, 6004. 622 L.-A. Versteyl, in: vMüK II2 1983, Art. 44 Rn. 30, 40. 623 Vgl. B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 33; L. Brocker, in: Glauben/ders., PUAG, 2011, Einl. Rn. 9; M. Schröder, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 46 Rn.  12; OVG NRW, NVwZ 1987, 606 ff. sowie zur Beseitigung der Rechtsunsicherheit als gesetzgeberischem Motiv BT-Drs. 14/5790, S. 1; BT-Drs. 14/2363, S. 1, 8; BT-Drs. 14/2518, S. 1, 10. 624 Vgl. M. Schröder, 57. DJT, 1988, S. E109 f. 625 P. Badura, StR2 1996, E 47. Ähnl. K. Stern, StaatsR II, 1980, S. 107. 626 s. M. Schröder, 57.  DJT, 1988, S.  E97 und ausführlich D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 84 ff. je m. w. N. Zu Kritik und Forderungen aus dem Bundestag s. etwa BT-Drs. 10/6779, S.  289 ff. („Neue Heimat“). Auch die Enquete-Kommission Verfassungsreform verlangte im Herbst 1972 und Ende 1976 de lege ferenda die Stärkung der Minderheitenrechte in der Durch­

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III. Die Entwicklung der Minderheitenrechte in der Rechtsprechung Angesichts dieser durch Dieter Wiefelspütz beklagten „Selbstblockade“ der politischen Akteure,627 Hans-Peter Schneider sprach 1985 drastischer von einem „Machtkartell der jeweiligen Regierungsmehrheit“ gegen jede minderheitenfreund­ liche Reform,628 nahm sich zunächst bloß das BVerfG einer Stärkung des seit Weimarer Tagen unterentwickelten Minderheitenschutzes an, bevor der Gesetzgeber das Gericht mit „seinem“ Untersuchungsausschussgesetz gewissermaßen überholen sollte. 1. Die Abänderungsbefugnis der Mehrheit bei der Einsetzung Eine erste Gelegenheit bot sich im Sommer 1978 durch eine schleswig-holsteinische Verfassungsstreitigkeit. Der Zweite Senat leitete Beschränkungen des Mehrheitsrechts, den Untersuchungsauftrag zu ergänzen, aus dem Einsetzungsrecht der Minderheit ab. Um unter den Sachgesetzen der parlamentarischen Demokratie eine wirkungsvolle Regierungs- und Verwaltungskontrolle zu gewährleisten, bedürfe grundsätzlich jede Veränderung der Zustimmung der Einsetzungsminderheit.629 Zur Not sei die Mehrheit darauf verwiesen, „ihrerseits Sachverhalte, die sie im Hinblick auf das von einer Minderheit betriebene Untersuchungsverfahren politisch für aufklärungsbedürftig [hielt…], zum Gegenstand einer selbständigen Untersuchung zu machen“.630 Im Anschluss an diese grundsätzliche Feststellung, die in jedem Streit um den Zuschnitt einer Untersuchung zu parallelen Mehrheitsund Minderheitsverfahren führen musste, entwickelte das Gericht – ähnlich wie seinerzeit der Weimarer StGH631  – doch noch Kautelen, unter denen selbst verzögernde „Zusatzfragen gegen den Willen der Antragsteller zulässig“ sein sollen. Die erste Voraussetzung für diesen Eingriff in das Einsetzungsrecht sollte sein, führungs­phase (BT-Drs. VI/3829, S. 15; BT-Drs. 7/5924, S. 54 und zust. W. Hempfer, ZParl 1979, 295 (297)). Zu verschiedenen Reformforderungen und parlamentarischen Vorstößen s. die „Chronik zum Entwurf eines Untersuchungsausschußgesetzes“ bei P. Schindler, Datenhandbuch II, 1999, S.  2242 ff. und die ausführliche Darstellung von D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 90 ff. oder ferner L.-A. Versteyl, in: vMüK6 I, 2012, Art. 44 Rn. 48 ff.; R. Scholz, AöR 105 (1980), 564 (603 f.); W. Löwer, Jura 1985, 358 (361) in Fn. 31; B. Pieroth, in: Jarass/ders., GG, 1989, Art. 44 Rn. 7. H. Meyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 4 Rn. 87 forderte entsprechende Minderheitenrechte de lege ferenda. L.-A. Versteyl, in: vMüK II2 1983, Art. 44 Rn. 30 wollte der Bundestagsminderheit im Untersuchungsausschuss die Mehrheit geben. s. auch je m. w. N. J. Mohr, ZParl 2004, 468 Fn. 2 oder D. Wiefelspütz, NJ 2002, 398 Fn. 7. 627 D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 15. 628 H.-P. Schneider, DER SPIEGEL 43/1985, S. 43. 629 BVerfGE 49, 70 (84 ff.). 630 BVerfGE 49, 70 (87). 631 StGH, RGZ 116, 45* (52* ff.).

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dass die Sache sonst „von vornherein nur unter einem eingeengten Blickwinkel [untersucht…] und damit dem Parlament – und auch der Öffentlichkeit – allenfalls eine verzerrte Darstellung“ vermittelt werden könne; jede Erweiterung aus diesem Grunde müsse denselben Untersuchungsgegenstand betreffen, ohne ihn im Kern zu verändern, und geboten sein, um ein „umfassenderes – und wirklichkeitsgetreueres [!]  – Bild des angeblichen Mißstandes“ zu zeichnen. Das der Mehrheit damit eröffnete Missbrauchpotential versuchte das Gericht mit der Forderung wieder zu beseitigen, dass diese Voraussetzungen im Interesse des Minderheitenschutzes „offen zu Tage liegen“ müssten. Dass dem Senat tatsächlich keine extensiven Abänderungsmöglichkeiten vorschwebten,632 zeigt seine abschließende Fest­ stellung, Unklarheiten gingen jedenfalls „zu Lasten der Mehrheit“.633 Nicht zu Unrecht monierten Teile des Schrifttums, dass trotz dieser Beschränkungen keine ausreichende Vorsorge gegen erheblich verzögernde Erweiterungen getroffen sei. Vielmehr habe das Gericht neuen Streit vorprogrammiert, sofern die Mehrheit nur jede ihr genehme Erweiterung als notwendig einstufe. Zudem erscheine die propagierte Formel bloß strenger als die bisher herrschende Auffassung.634 Die Sorge, dass dem „Anspruch der qualifizierten Minderheit auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses durch den Bundestag […] Aushöhlung [droht], wenn die […] Mehrheit Einfluss auf den Inhalt […] nehmen kann“, lässt sich nicht von der Hand weisen (Ute Mager).635 Angesichts dessen sprechen sich Hans-Peter Schneider und Pascale Cancik zu Recht gegen jede majoritäre Abänderung ohne Zustimmung der Antragsteller sowie ggf. für die Einsetzung von zwei parallelen Untersuchungsausschüssen aus.636 Über diese Kritik hinaus unterliegt die Begründung der Änderungs- und Ergänzungsbefugnis wegen der sublim mitschwingenden Vorstellung, das Untersuchungsrecht sei ein Instrument zur Ermittlung „objektiver Wahrheit“, gravierenden Bedenken. Anders lässt sich aber die Forderung des BVerfG nicht verstehen, die Mehrheit müsse im Interesse einer umfassenderen und wirklichkeitsgetreueren Darstellung das Recht zu Ergänzungen haben; die „Wahrheit“ fungierte gewissermaßen als Rechtfertigungsgrund für einen Einschnitt in das minoritäre Antragsrecht des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG. Die dafür ausschlaggebende Charakterisierung des Enquête- und Untersuchungsrechts, das sich in diesem Punkt gerade von der auf möglichst objektive (prozessuale) Wahrheitsfindung justierten Rechtsprechung qualitativ unterscheidet, wird seinem genuin politischen Wesen nicht ge 632

Zu Recht R. Pofalla, DÖV 2004, 335 (339). BVerfGE 49, 70 (87 f.). 634 s. W. Hempfer, ZParl 1979, 295 (299) m. w. N. in Fn.  8 auf S.  296 zu der früher herrschenden Auffassung; M. Schröder, 57.  DJT, 1988, S.  E107 und krit. zur Tragfähigkeit der vorgeschlagenen Kriterien, im Ergebnis aber wohl zust. auch N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 90 oder H. Plagemann, JA 1979, 215 (216). 635 U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (603). 636 H.-P. Schneider, 57.  DJT, 1988, S.  M54 (M74 f.); P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (262, 267, 273). 633

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recht.637 Zwar geht es vordergründig um eine Untersuchung von Tatsachen mit Hilfe von Methoden, die sonst den Gerichten bei ihrer „Wahrheitsfindung“ dienen. Schon der Zuschnitt des Untersuchungsthemas folgt aber politischer Wertung und Dezision. Art. 44 Abs. 1 GG gibt den Antragstellern deswegen das Recht, aus lediglich parteipolitischen Gründen einen mehr oder minder „willkürlichen“ Teilausschnitt aus einem Lebenssachverhalt herauszugreifen, um den Gegner an den Pranger zu stellen, eigene Fehler ggf. zu überspielen, eine Angelegenheit schlicht zuzuspitzen oder allgemein Vorteile für das eigene Lager herauszuholen.638 Mit Dieter Wiefelspütz’ Worten ist die „parlamentarische Untersuchung […] eine genuin politische und damit auch parteiische Veranstaltung, in deren Mittelpunkt die politisch-parlamentarische Auseinandersetzung, der politische Kampf steht, was von einer idealisierenden, parlamentsfernen Betrachtungsweise häufig verkannt wurde und wird“.639 Eine Abänderungsbefugnis der Mehrheit bedeutete angesichts dieser zutreffenden Charakterisierung eine Verzerrung und Missachtung des politischen Charakters des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens. Will die Regierungsmehrheit, die im Regelfall ebenfalls politisch-taktische Ziele verfolgt, einer für ihre Interessen nachteiligen „einseitigen“ oder „Desinformation“ von Parlament und Publikum durch eine Minderheitsenquête entgegentreten, ist sie dafür auf die Einsetzungsdebatte, die Plenarberatung des Untersuchungsberichts und – zur Not – die Einsetzung eines „eigenen“ Untersuchungsausschusses verwiesen.640 Die historische Ursache für den Fehltritt des BVerfG dürfte dagegen das Urteil des StGH zum „Bepackungsverbot“ von 1927 gewesen sein, in dem die Leipziger Richter unterstellten, dass die Mehrheit, wenn sie eine „Untersuchung nur […] auf Tatsachen [erstrecken wolle…], deren Aufklärung erforderlich [wäre…], um den Zweck dieser bestimmten Untersuchung zu erreichen“, „nur die Ermittlung der objektiven Wahrheit [fördere], die das Ziel der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse“ wäre.641 Mit der vermeintlichen Verobjektivierung des Verfahrens zediert das BVerfG im Gegensatz dazu einen beträchtlichen Teil der den Minderheiten durch Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG eingeräumten Gestaltungsmacht an die Mehrheit – der im Zwei 637 Vgl. S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 36 f. zum Unterschied des politischen Untersuchungsverfahrens gegenüber der Rechtsprechung. A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 14 weist auf die fehlende Unabhängigkeit der Ausschussmitglieder sowie auf die „Gefahr einer Kollision von Sachaufklärungsinteresse und parlamentarisch-politischen Interessen“ hin. 638 Ähnl. geht H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 80 davon aus, dass die „Opposition auch das Recht zu einseitiger Kritik an der Regierung“ habe. Vgl. S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S.  39 zum politisch-taktischen Gebrauch des Enquête- und Untersuchungsrechts, um bestimmten eigenen Forderungen unabhängig von einem Verdacht „politi­ scher Fehlleistungen“ mit Hilfe der Öffentlichkeit „besondere Aufmerksamkeit“ zu verschaffen. 639 D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 29 f. Freilich erkannte er gleichzeitig an, dass jeder Untersuchungsausschuss auch die „gemeinwohlorientierte Aufgabe [habe], einen Sachverhalt aufzuklären und damit Tatsachen zu erforschen“. 640 Auf die Möglichkeit der Doppeluntersuchung zu den vermeintlich zu kurz gekommenen Aspekten weist auch H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 80 hin. 641 StGH, RGZ 116, 45* (54*).

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fel aufgrund parteipolitischer Interessen ebenso viel oder wenig an der „Wahrheit“ liegt wie ihrem parlamentarischen Gegner.642 Eine gewisse Scheinplausibilität bezieht diese Position ausschließlich aus dem verbreiteten Vorurteil, dass die Mehrheit wahrscheinlich schon im Recht sein werde. Demgegenüber hat Heinrich Zoepfl schon im 19.  Jahrhundert betont, dass „eine Majorität  […], an sich betrachtet, keine Bürgschaft für ihre Vernünftigkeit oder dafür [besitze], dass sie Recht [habe…], wenn sie Recht“ mache.643 Die altehrwürdige These einer präsumtiven Richtigkeit von Mehrheitsmeinungen gehört ins Reich der Legenden.644 Tatsächlich nahm die Bundestagsmehrheit bereits mehrfach für sich das Recht in Anspruch, einen Untersuchungsauftrag gegenüber dem Einsetzungsantrag der qualifizierten Minderheit zu erweitern, – und wendete das Verfahren so schließlich gegen seine ursprünglichen Initiatoren.645 Indem sich das BVerfG darüber hinaus durch die Aufstellung vermeintlich überprüfbarer rechtlicher Voraussetzungen das letzte Wort vorbehält, greift es in das politische Kräftespiel ein. Die Folge ist eine weitere Juridifizierung einer genuin politischen Auseinandersetzung. Dieser judikative Eingriff beschränkt sich – trotz des Evidenzvorbehalts – nicht auf formale Petitessen, sondern zielt auf das Untersuchungsrecht in seinem eigentlichen Kern. In der Folge schwächt das BVerfG die Position der Minderheiten ausgerechnet in der Einsetzungsphase, die ihnen Art. 44 GG seinem Wortlaut nach gerade überlassen wollte. Im Interesse des in der Verfassung ausdrücklich angelegten Minderheitenschutzes sollte der Mehrheit keine Abänderungsbefugnis zustehen. Stattdessen muss die durch den Senat angesprochene „Notlösung“, dass die Regierungskoalition ggf. einen „eigenen“ Untersuchungsausschuss einsetzt, die Regel sein. Darauf ist noch zurückzukommen.646 Soweit das Urteil das Einsetzungsrecht anerkennt, 642 Krit. äußert sich auch H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 80, dass „es […] nicht Sache der Mehrheit sein [könne, …] zu entscheiden, ob ihre Vorstellungen oder die der Minderheit zu einem wirklichkeitsgetreueren Bild des aufzuklärenden Sachverhalts führten“ würden. 643 H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 86. 644 Ähnl. wie hier P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (268). 645 s. aus der neuesten Zeit den „Lügen“- und den „Visa“-Untersuchungsausschuss. Beide Male wendete die rot-grüne Regierungskoalition die von der schwarz-gelben Opposition geforderten Untersuchungen wenigstens teilweise gegen die Antragsteller selbst: Der 1. Untersuchungsausschuss sollte  – durch die salvatorische Forderung geschützt, dass sich dies „im Rahmen der Zuständigkeit des Bundestages“ halten müsse – auch klären, ob verschiedene Unions-Ministerpräsidenten oder Bundestagsabgeordnete „hinsichtlich […] der Situation der öffentlichen Haushalte […] sowie […] der Problematik der Einhaltung der Stabilitätskriterien des EG-Vertrages [etc. vor den Wahlen…] falsche oder unvollständige Erklärungen […] ab­ gegeben“ hätten (BT-Drs. 15/256, S. 2 f.). In die Arbeit des 2. Untersuchungsausschusses sollte für die Visa-Problematik „auch der Zeitraum vor 1998 einbezogen“ werden, um zu klären, „welche Vorgaben für Ermessensentscheidungen in Visaerteilungsverfahren“ sowie „für die Zusammenarbeit der Auslandsvertretungen mit den zuständigen Ausländerämtern“ noch aus der Zeit der Verantwortung der jetzigen Opposition stammten (BT-Drs. 15/4552, S. 1, 3). Beide Male protestierte die Opposition erfolglos gegen diese Beschneidung ihres Einsetzungsrechts (BT-Drs. 15/256, S. 201 f.; 15/5975, S. 317). 646 s. 8. Teil 6. Kap.

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liegt den Gründen im Übrigen erneut eine hypertrophe Überbetonung des Kontrollaspekts zugrunde; entgegen der Urteilsgründe ist natürlich jeder Einsetzungsantrag der Minderheit in gleicher Weise vor Abänderungen seitens der Mehrheit geschützt. 2. Mehrheitspflicht zur „Heilung“ eines Untersuchungsauftrags Ende 1990 ließ der Zweite Senat die Parteien eines Organstreitverfahrens durch ein einfaches Schreiben wissen, dass er in seinen Beratungen eine Pflicht des Plenums in Erwägung gezogen habe, den rechtswidrigen Auftrag des „U-Boot“Ausschusses auf Antrag der Einsetzungsminderheit zu reformieren.647 Der Bundestag folgte diesem Wink mit dem Zaunpfahl. Das Schrifttum kritisierte teils das seltsame Verfahren, adoptierte aber in der Sache die Forderung des BVerfG.648 Im Endeffekt wurde das Einsetzungsrecht der Minderheit auf diese Weise gestärkt. 3. Minderheitenrechte im Untersuchungsverfahren Im Sommer 1984 wertete das Gericht die Stellung der „Fraktion im Ausschuss“ mit dem „Flick“-Urteil auf, indem es grundsätzlich ihre Beteiligtenfähigkeit im Organstreitverfahren anerkannte.649 Obwohl es ihr gleichzeitig die Antragsbefugnis im Streit mit der Bundesregierung um Aktenherausgabe absprach,650 waren fortan wenigstens Binnenstreitigkeiten innerhalb des Untersuchungsausschusses möglich.651 Einer derartigen Konstellation ist das epochale Urteil zum „Parteispenden“-Untersuchungsausschuss zu verdanken,652 das das Enquête- und Untersuchungsrecht in seinem innersten Wesenskern berühren sollte.

647

BVerfGE 83, 175 (179 f.). Vgl. N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 160 f. oder W. Löwer, in: HdbStR III3 2005, § 70 Rn. 226 zur prozessualen Seite sowie D. Wiefelspütz, NJ 2002, 398 (400); ders., DÖV 2002, 803 (807 f.) („Auffassung […] ist überzeugend“) oder C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 123. 649 BVerfGE 67, 100 (124 f.); BVerfGE 113, 113 (120). Besonderes Gewicht kam dem Recht, die „Einberufung des Ausschusses zu erwirken“ (§ 60 Abs. 2 GO-BT), sonst den §§ 59 Abs. 4, 61 Abs. 2 und 64 Abs. 2 Satz 3 GO-BT zu. Jedenfalls seien die Fraktionen im Ausschuss „Teil des Bundestages“. 650 BVerfGE 67, 100 (126). Krit. W. Löwer, Jura 1985, 358 (362); M. Schröder, ZParl 1984, 473 (478 f.). 651 s. krit. gegenüber dieser Konstruktion K. F. Gärditz, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hg.), VerfRspr2 2011, S. 702 (703). 652 BVerfGE 105, 197 (219 ff.). 648

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a) Das „Parteispenden“-Urteil Die Anerkennung der Beteiligtenfähigkeit und Antragsbefugnis der Einsetzungsminderheit im „Flick“-Urteil wurde teils so verstanden, dass das Gericht der Minorität „implizit das Recht, die Durchführung einer Beweiserhebung zu erzwingen, zugestanden“ habe (Meinhard Schröder).653 Diesem Weg ist das BVerfG im April 2002 nicht gefolgt, sondern hat sämtlichen qualifizierten Ausschussminderheiten, handele es sich um die Vertreter der Antragsteller im Ausschuss oder nicht, eine mitbestimmende und starke Stellung im Untersuchungsverfahren eingeräumt. Weil das Untersuchungsausschussgesetz wegen einer Übergangsregelung noch nicht auf den „Parteispenden“-Untersuchungsausschuss anwendbar war, konnte sich der Zweite Senat ausschließlich auf Art. 44 GG stützen, obwohl das Gesetz einschlägige Regelungen enthielt. Argumentativer Ausgangspunkt einer im Hinblick auf die Minderheiten enquête- und untersuchungsrechtlichen Revolution ist, dass sich der „Regelungsgehalt von Art.  44 Abs.  1 Satz  1 GG […] nicht in der Pflicht des Bundestags [erschöpfe…], auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder einen Untersuchungsausschuss einzusetzen“. Aus der unbestreitbaren Tatsache, dass die „bei der Einsetzung […] von Verfassungs wegen vorhandene Spannung zwischen Mehrheit und qualifizierter Minderheit […] im Untersuchungsverfahren fort[dauere]“, schlussfolgerte der Senat in einer an „Sinn und Zweck des Art. 44 GG“ orientierten Auslegung, dass „sich die Abgeordneten einer einsetzungsberechtigten Fraktion jedenfalls auf das Minderheitsrecht des Art. 44 GG stützen“ könnten, um „im Rahmen des Untersuchungsauftrags und innerhalb des Mehrheitsprinzips über die Beweiserhebung mit[zu]bestimmen“. Der minoritäre „Mitgestaltungsanspruch“ soll dem Recht der Mehrheit „grundsätzlich vom Gewicht her gleich“ zu achten sein, weil beide Seiten die Gelegenheit erhalten müssten, ihre „Vorstellungen von einer sachgemäßen Aufklärung angemessen durch[zu]setzen“. Sicherlich um eine Diktatur der Minderheit zu verhindern, die dem parlamentarischen Untersuchungsrecht ebenfalls abträglich wäre, soll der „Umfang dieses Mitgestaltungsanspruchs […] nicht weiter reichen als derjenige der Mehrheit“.654 Den naheliegenden historisch-genetischen Einwand, dass das Grundgesetz das  – in seiner Reichweite ohnehin bestrittene655  – Beweisantragsrecht der Antragsteller aus Art. 34 Abs. 1 Satz 2 RVerf 1919 gerade nicht übernommen habe,656 weist das Gericht zurück, weil es insoweit an einem „erkennbaren Willen“ des Verfassungsgebers fehle, „von der Rechtslage der Weimarer Reichsverfassung inhaltlich abzuweichen“. Dabei fällt unter den Tisch, dass der StGH das Beweisantragsrecht der Minderheit 1927 lediglich bei der Einsetzung anerkannt hat, „[d]agegen 653

So zu BVerfGE 67, 100 (126) M. Schröder, 57. DJT, 1988, S. E109. BVerfGE 105, 197 (223) (Hervorhebung nur hier). 655 s. 7. Teil 4. Kap. D. II. 656 Darauf stellt etwa T. Maunz, in: ders./Dürig, GG (1960), Art. 44 Rn. 50 ab. 654

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[…] der Ausschuß selbst, d. h. seine Mehrheit, […] die Art und Weise der Ausschußtätigkeit“ bestimmte.657 Ohne auf dieses Detail einzugehen, das doch eher gegen starke Minderheitenrechte in der Durchführungsphase spricht, stellt das BVerfG fest, dass über die grundsätzliche Beibehaltung des Minderheitenschutzes Einigkeit geherrscht habe, obwohl das Einsetzungsquorum des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG als Reaktion auf den extremistischen Missbrauch des Enquête- und Untersuchungsrechts in der Weimarer Zeit erhöht worden sei.658 Mit der eher pragmatischen Erwägung, dass andernfalls eine „einsetzungsberechtigte Minderheit praktisch jeder Mehrheitsenquete eine eigene Minderheitsenquete entgegensetzen“ müsse – Jörg Mohr entlarvt diese Überlegung als „sachlich-arbeitsökonomisches“ Argument –,659 sollen die „Verfahrensrechte aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG“ auf die Mehrheitsenquête erstreckt werden. Außerdem soll die Minderheit mit diesem Schritt „nach dem Scheitern [ihrer…] Bemühung“, die Einsetzung zu verhindern, wenigstens die Gelegenheit erhalten, „mitgestaltend tätig zu sein, um eine aus ihrer Sicht ausgewogene Aufklärung sicherzustellen“.660 Auf dieser Grundlage hält das Gericht die Untersuchungsausschüsse  – handele es sich um eine Mehrheits- oder eine Minderheitsenquête – für verpflichtet, „Beweisanträgen der potentiell einsetzungsberechtigten Minderheit […] grundsätzlich Folge zu leisten“. Freilich besteht kein absolutes Recht der Minderheit, dass alle ihre Forderungen erfüllt werden. Eine Ablehnung lässt sich aber zur Überzeugung des Senats nicht mit dem demokratischen Mehrheitsprinzip des Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG rechtfertigen. Vielmehr müsse die Mehrheit „nachvollziehbar“ darlegen, dass die Minderheit ihr Beweisantragsrecht „sachwidrig“ ausübe, z. B. eine „Beweiserhebung außerhalb des Untersuchungsauftrags“ fordere, lediglich auf Zeit spiele oder „offensichtlich missbräuchlich“ agiere.661 Der Beweisbeschluss mutiert damit ebenso wie der Einsetzungsbeschluss gleichsam zur gebundenen Kontrollerlaubnis. Dieses qualifizierte Beweisantragsrecht sichert der Senat mit der Pflicht der Untersuchungsausschüsse ab, einmal beschlossene Beweise auch tatsächlich zu erheben. Werde die Zeit knapp, wie es etwa gegen Ende einer Legislatur geschehen könne, müssten beide Seiten durch „geeignete und faire Verfahrensregeln“ die Gelegenheit erhalten, „in ausreichendem Umfang die von ihnen jeweils für unabdingbar gehaltenen Beweise zu erheben“. Zur Not müsse wechselseitig auf Forderungen verzichtet werden, „wenn […] nur so die Untersuchungsergebnisse rechtzeitig an das Plenum berichtet werden könn[t]en“.662

657

StGH, RGZ 116, 45* (53*). BVerfGE 105, 197 (223 f.). 659 J. Mohr, ZParl 2004, 468 (475). 660 BVerfGE 105, 197 (224 f.). 661 BVerfGE 105, 197 (225, 230, 231, 233 f.)). 662 BVerfGE 105, 197 (226, 228 f., 234 f.). 658

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Unklar ist die Bedeutung einer Passage aus der Zulässigkeitsstation, dass die qualifizierte „Fraktion im Ausschuss“ eine Verletzung der Minderheitsrechte aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG „jedenfalls, solange kein Dissens zwischen der Fraktion und ihren Vertretern im Ausschuss erkennbar“ wäre, vor dem BVerfG geltend machen könne.663 Es ist denkbar, dass andernfalls „bloß“ die Antragsbefugnis entfallen soll – schließlich stammen die zitierten Zeilen aus dem entsprechenden Abschnitt der Entscheidungsgründe. Möglicherweise soll aber auch das materielle Recht der „Fraktion im Ausschuss“ vom Willen der Plenarfraktion abhängen. In diesem Sinne qualifiziert Jörg Mohr die Ausschussminderheit „nur bedingt [als] Trägerin eines […] akzessorisch zu begreifenden Minderheitenrechts“.664 Für diese Interpretation spricht die grundsätzliche Ableitung der neuen Rechte aus dem potentiellen Einsetzungsrecht des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, das der Zweite Senat den Plenarfraktionen zuschreibt. Praktisch dürfte ein solcher intrafraktioneller Dissens zwischen Ausschussvertretern und Plenarfraktion in den seltensten Fällen werden. Zu guter Letzt relativiert das BVerfG den Wert des neuen Minderheitenrechts wenigstens dadurch wieder, dass die Ablehnung eines Beweisantrags durch die Ausschussmehrheit nicht voll justitiabel sein soll. Der Senat beschränkt sich mit „Rücksicht auf die parlamentarische Autonomie“ und die politische Natur des Untersuchungsrechts auf eine Nachprüfung, „ob [die…] Begründung der Mehrheit nachvollziehbar und der [ihr] durch die Verfahrensautonomie […] eröffnete Wertungsrahmen insbesondere bei der Auslegung des Untersuchungsauftrags in vertretbarer Weise ausgefüllt worden“ sei.665 De facto bleibt damit ein Teil der „grundsätzliche[n] Verfahrensherrschaft“ der Mehrheit „in Form eines Einschätzungsspielraumes […] erhalten“ (Jörg Mohr).666 Dass es den Karlsruher Richtern mit dieser Selbstbeschränkung ernst war, zeigt, dass der Untersuchungsausschuss nicht durch den Feststellungstenor zu bestimmten Beweiserhebungen quasi „verurteilt“, sondern in den Urteilsgründen – einem verwaltungsgerichtlichen Bescheidungsurteil ähnlich – dazu aufgefordert wurde, „unter Berücksichtigung der festgestellten Rechte der Antragsteller neu zu entscheiden“.667 Das Gericht hätte andernfalls die Verfassungswidrigkeit der beanstandeten Maßnahmen aussprechen können. Im Schrifttum heißt es demgegenüber teilweise, dass die Mehrheit keinen Beurteilungs- oder Ermessensspielraum habe.668 Nach seinen „Vorarbeiten“ von 1978, 1984 und 1990 hat das BVerfG den Ausbau der Minderheitenrechte also 2002 vollendet, indem es die Regeln über die Ein-

663

BVerfGE 105, 197 (220 f.); ebenso BVerfGE 113, 113 (121). J. Mohr, ZParl 2004, 468 (485) (Hervorhebung nur hier). 665 BVerfGE 105, 197 (225 f.). 666 J. Mohr, ZParl 2004, 468 (473). 667 BVerfGE 105, 197 (235). 668 B. Peters, ZParl 2012, 831 (850) unter Hinweis auf verschiedene landesverfassungsgerichtliche Judikate. 664

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setzung nahezu 1:1 analog auf die Durchführungsphase transponiert hat.669 Das Schrifttum, in dem sich zunehmend die Überzeugung durchgesetzt hatte, dass die Vertreter der Einsetzungsminderheit im Ausschuss gestärkt werden müssten,670 reagierte trotz des richterlichen „Exzesses“, dass die „potentiell einsetzungsberechtigten“ Minderheiten wie eine konkrete Antragsminderheit berechtigt sein sollten, durch die Bank positiv.671 Angesichts des initialen Meinungsbildes war es sicherlich der revolutionärste Aspekt der Entscheidung, dass die Minderheitenrechte auf die Mehrheitsenquête übertragen und damit vollständig von der konkreten Einsetzungsminderheit abstrahiert wurden.672 b) Bewertung, Kritik und Alternative Eine kritische Beurteilung des „neuen“ minoritären Mitgestaltungsanspruchs im Ausschuss macht als erstes einen genaueren Blick auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen erforderlich, bevor die Auswirkungen der Entscheidung auf die verschiedenen Konstellationen von Minderheits- oder Mehrheitsenquêten be­urteilt werden können. aa) Demokratisches Mehrheitsprinzip und Minderheitenrechte Das in Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 GG angesprochene Mehrheitsprinzip ist in Deutschland die unbestrittene Grundlage von Repräsentation und parlamentarischer Demokratie.673 In anderem Zusammenhang hat der Zweite Senat das Mehrheitsprinzip zu den „fundamentalen Prinzipien der

669

Vgl. J. Mohr, ZParl 2004, 468 (472 f.). s. de lege lata B. Pieroth, in: Jarass/ders., GG5 2000, Art. 44 Rn. 7; M. Morlok, in: Dreier, GG II, 1998, Art.  44 Rn.  43; H.-P. Schneider, AK-GG II, 1984, Art.  44 Rn.  5; berichtend J. Mohr, ZParl 2004, 468 m. w. N. in Fn. 2 oder D. Wiefelspütz, NJ 2002, 398 m. w. N. in Fn. 7; de lege ferenda, wenngleich zurückhaltend, M. Schröder, 57. DJT, 1988, S. E98 ff., E128 f. oder R. Groß, DVBl 1971, 638 (639). Vgl. ferner die Nachw. in Fn. 626. 671 Zust. s. etwa B. Peters, ZParl 2012, 831 (832) und in Fn.  8; L. Brocker, in: Glauben/ ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 27 Rn. 4; P. Badura, StR4 2010, E 47; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 201, der die Position der Rspr. noch ausweiten will; D. Wiefelspütz, NJ 2002, 398 ff.; K. F. Gärditz, in: Menzel/Müller-Terpitz (Hg.), VerfRspr2 2011, S. 702 ff. und wohl auch M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 25. Aus der Rspr. s. HessStGH, DVBl 2012, 169 f. mit – insoweit – zust. Anm. L. Brocker. 672 Ähnl. J. Mohr, ZParl 2004, 468 (474) („das grundlegende Novum“) und passim oder H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 199. 673 Zu Bestehen und Bedeutung des Mehrheitsprinzips s. mit Unterschieden im Detail BVerfGE 112, 118 (140 f.); BVerfGE 106, 253 (273); BVerfGE 29, 154 (165); L.-A. Versteyl, in: vMüK6 I, 2012, Art. 42 Rn. 26; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 42 Rn. 31; W. Höfling/C. M. Burkiczak, Jura 2007, 561 f. 670

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Demokratie“ gerechnet.674 Trotzdem ist die Mehrheitsherrschaft keineswegs absolut; der Minderheitenschutz gehört ebenfalls zum historischen Kernbestand des deutschen Parlamentarismus und wird mit dem Demokratieprinzip in Verbindung gebracht.675 In diesem Sinne zählt das BVerfG sowohl eine „rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit“ als auch „das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition“ zu den Grundfesten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.676 Später hat der Zweite Senat aus diesen Überlegungen einen „Anspruch der oppositionellen Minderheit [abgeleitet], ihre eigenen politischen Ansichten im Plenum vorzutragen und die Vorstellungen der Mehrheit zu kritisieren.“677 Die Beteiligung der dissentierenden Minderheiten an Debatte und Beschluss haben im parlamentarischen Verfahren eine integrierende Wirkung und tragen zur materiellen Legitimation der grundsätzlich reversiblen Mehrheitsentscheidung bei.678 Ungeachtet dieser positiven Rolle, die das Grundgesetz Minderheit und Opposition zuschreibt, ist und bleibt die prinzipielle Entscheidungsgewalt der Mehrheit verfassungsgewollte Regel. Rechte der Minoritäten, der Majorität ihren Willen aufzuzwingen, sind – nicht nur im Interesse der Arbeitsfähigkeit des Parlaments, sondern auch als Ausdruck des Demokratieprinzips – die Ausnahme. Grundsätzlich kommen sie bloß in Verfahrens-, nicht in Sachfragen in Betracht.679 Im Hinblick auf das in Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG verkörperte Prinzip bedürfen Durchbrechungen der Mehrheitsregel einer ausreichend deutlichen und tragfesten Grundlage in der Verfassung. Trotz der grundsätzlichen Geltung des Mehrheitsprinzips für alle parlamentarischen Entscheidungen stehen die Minderheiten im Ausschussverfahren keineswegs recht- oder schutzlos da. Zu Recht hat das BVerfG aus der Repräsentationsfunktion des Bundestages und seiner Ausschüsse (Art. 20 Abs. 2 GG), dem 674

BVerfGE 29, 154 (165). BVerfGE 70, 324 (363); BVerfGE 44, 308 (321); L.-A. Versteyl, in: vMüK6 I, 2012, Art. 42 Rn. 26; W. Höfling/C. M. Burkiczak, Jura 2007, 561 (561 f., 565). s. a. A. N. Achterberg/ M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 42 Rn. 45, die auf Gerechtigkeit, Rechtsfrieden und Rechtsstaatsprinzip zurückgreifen. 676 BVerfGE 2, 1 (12 f.); BVerfGE 5, 85 (140) (Hervorhebung nur hier). Zum Zusammenhang von Minderheitenrechten und dem Recht auf Opposition s. H. Dreier, in: ders., GG II2 2006, Art. 20 (Demokratie) Rn. 81. 677 BVerfGE 44, 308 (321). 678 Mit Unterschieden in Begründung und Detail vgl. H.  Dreier, in: ders., GG II2 2006, Art. 20 (Demokratie) Rn. 80; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2001), Art. 42 Rn. 72 ff., 93; N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 42 Rn. 27 f.; H. Hofmann/H. Dreier, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 5 Rn. 59, 67, 68; W. Höfling/C. M. Burkiczak, Jura 2007, 561 (562); W. Heun, Mehrheitsprinzip, 1983, S. 239 ff. sowie S. 175 f., 194 ff. zum Wechsel der Mehrheit und Reversibilität der Mehrheitsentscheidungen. Vgl. auch BVerfGE 70, 324 (363): Die Minderheit wird durch die Möglichkeit geschützt, „ihren Standpunkt in den Willensbildungsprozeß des Parlaments einzubringen“. 679 N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 301. Vgl. auch G. Jellinek, Minoritäten, 1898, S. 38 f. 675

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Teilhabeanspruch des einzelnen Abgeordneten und damit der Fraktionen an dieser Gesamtrepräsentation (Art. 38 GG) abgeleitet, dass jeder Ausschuss die Mehrheitsverhältnisse im Bundestagsplenum  – maßstabsgetreu verkleinert  – widerspiegeln muss.680 Für die Untersuchungsausschüsse nimmt § 4 Satz 2 PUAG den Spiegelbildlichkeitsgrundsatz ausdrücklich auf. In den Ausschüssen gilt grundsätzlich wie auch im Plenum das Mehrheitsprinzip. Angesichts seiner Verankerung in den verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen für Demokratie und Parlamentarismus – Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG ist Ausprägung, nicht Quelle dieser Regeln – lässt sich seiner Geltung im Ausschussverfahren nicht der auf das Plenum beschränkte Wortlaut des Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG entgegenhalten.681 Trotzdem ist jede Ausschussmitgliedschaft im Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 GG mit bestimmten Rechten verbunden, die von einer Einflussnahme auf die Tagesordnung über das individuelle Rede- und Antragsrecht der Ausschussmitglieder, wobei Anträge wohl nicht willkürlich abgelehnt werden dürfen, bis hin zu einer Berücksichtigung im Ausschussbericht reichen (vgl. §§ 60 Abs. 2, 71 Abs. 1, 74 GO-BT bzw. § ).682 Die Minderheiten können sich also von Verfassungs wegen in die Ausschussarbeit einbringen, auch wenn die sachlichen Entscheidungen der Mehrheit vorbehalten bleiben. Diese minoritären Verfahrensrechte genügen den Forderungen des BVerfG, dass das „Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition […] den Anspruch der oppositionellen Minderheit [umfasse], ihre eigenen politischen Ansichten im Plenum vorzutragen und die Vorstellungen der Mehrheit zu kritisieren“.683 Entscheidungsbefugnisse – und seien sie in das freundlichere Gewand eines Antragsrechts gekleidet, dem die Mehrheit stattgeben muss684  – gehören nicht zu den verfassungsimmanenten Rechten parlamentarischer Minderheiten. In diesem Sinne schwebten Georg Jellinek in seinem Vortrag vor der Juristischen Gesellschaft zu Wien über „Das Recht der Minoritäten“ 1898 politische Vetorechte vor; ein Minderheitenrecht, „etwas positiv zu schaffen“, hielt er für „unmöglich“, weil es doch eine „verkehrte Welt [wäre], wollte man innerhalb einer Kammer […] das Votum der Minderheit höher werthen als [das] der Mehrheit“.685 680 BVerfGE 80, 188 (221 ff.); BVerfGE 84, 304 (323 ff.); BVerfGE 112, 118 (133 ff.); BVerfGE 130, 318 (354). s. zur Verbindung mit dem Recht des einzelnen Abgeordneten z. B. B. Beckermann/D. Weidemann, Der Staat 53 (2014), 313 (316). 681 Zur Legitimation des Mehrheitsprinzips s. H. Dreier, in: ders., GG II2 2006, Art. 20 (Demokratie) Rn. 73 ff. sowie R. Scholz, AÖR 105 (1980), 564 (602 f.) zur prinzipiellen Geltung im Untersuchungsverfahren, obwohl es – soweit für den Kontrollzweck erforderlich – zurücktreten müsse, und allg. N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 42 Rn. 25 für die parlamentarische Demokratie. 682 Zu Rechten des einzelnen Abgeordneten vgl. BVerfGE 80, 188 ff. sowie für das Untersu­ chungsverfahren am Beispiel der „Splitterenquête“ L. Brocker, DÖV 2014, 475 (477 ff.) m. w. N. 683 BVerfGE 44, 308 (321). 684 Vgl. N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 42 Rn. 47. 685 G. Jellinek, Minoritäten, 1898, S. 38 f. Schon im 19. Jahrhundert finden sich gegenüber einer reinen Mehrheitsherrschaft krit. Stimmen. So schrieb H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 86, dass „eine Majorität […], an sich betrachtet, keine Bürgschaft für ihre Vernünftigkeit oder da-

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bb) Rechte der Antragsteller in Minderheitenenquêten Ein besonderes Minderheitenrecht und eine Durchbrechung des Mehrheitsprinzips ist das minoritäre Einsetzungsrecht des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG. Zwar gesteht diese Vorschrift der Minorität bei formaler Betrachtung „nur“ ein Antragsrecht zu, so dass es sich – am Buchstaben von Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG gemessen – nicht um eine Durchbrechung des für Bundestagsbeschlüsse geltenden Mehrheitsprinzips zu handeln scheint;686 in der Sache spielt diese Konstruktion aber keine Rolle, weil die Plenarmehrheit, ggf. nach einer (reinen) Missbrauchsprüfung des Antrags nach dem Muster einer gebundenen Kontrollerlaubnis, den Forderungen der Minderheit stattgeben muss.687 Das „Parteispenden“-Urteil wirft die Frage auf, ob die Sonderstellung, die Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG den Minderheiten im Einsetzungsstadium einräumt, auf das Ausschussverfahren ausgedehnt werden muss. Wie bereits angedeutet, bedarf es dafür im Hinblick auf das in Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG durchscheinende parlamentarisch-demokratische Mehrheitsprinzip einer ausreichenden verfassungsrechtlichen Grundlage. Schließlich bleibt jeder Untersuchungsausschuss, auch wenn er von der Mehrheit auf Betreiben der qualifizierten Minderheit niedergesetzt wurde, ein Unterorgan des gesamten Bundestags.688 Nur durch die Gesamtverantwortung des Parlaments lässt sich das Recht zu außenwirksamen Beweiserhebungsmaßnahmen mit Pflicht und Zwang gegenüber Dritten legitimieren.689 Für die Durchführung einer Minderheitenenquête kann das durch das BVerfG eingeführte Modell einer paritätischen Beweisverfahrensherrschaft der Forderung einer tragfähigen verfassungsrechtlichen Grundlage bestehen, wenn man es auf die konkrete Einsetzungsminderheit beschränkt. Das BVerfG hat insoweit in seiner ersten Entscheidung zum Enquête- und Untersuchungsrecht von 1978, abgesehen von der unzutreffenden Verengung seiner Überlegungen auf den Kontrollaspekt, zutreffür [besitze], dass sie Recht [habe…], wenn sie Recht“ mache. R. v. Mohl, StaatsR, VölkerR, Pol. I, 1860, S. 297 konstatierte in seinem Beitrag über die parlamentarische Geschäftsordnung, dass die Ausschüsse natürlich „ihre Anträge nach Mehrheit der Stimmen festzustellen“ hätten. Trotzdem sei es „billig und zweckmässig, dass auch Minderheiten Gelegenheit erhalten, ihre abweichenden Meinungen vorzutragen“. Zehn Jahre früher hatte er noch geurteilt, dass „alle und jede Bestimmungen der Frankfurter Geschäftsordnung, durch welche irgend einer Minderzahl von Mitgliedern das Recht eingeräumt [worden sei…], auch gegen den Willen der Mehrheit entweder einen Gegenstand zur Verhandlung zu bringen, oder die Verfahrensart etc. vorzuschreiben, beseitigt werden [müssten…]. Mit diesen Bestimmungen [sei…] nur allzuoft ein knabenhafter oder ränkesüchtiger Unfug getrieben worden“. Es wäre „geradezu unvernünftig, einer kleinen Anzahl das Recht einzuräumen, eine große Versammlung zu einer von ihr nicht für gut erachteten Geschäftsbehandlung zu zwingen.“ „Wo von dem Grundsatze abgegangen [werde…], daß die Mehrheit und nur die Mehrheit Recht [habe, höre…] jede verständige Grundlage für Versammlungen überhaupt im Staate auf“ (R. v. Mohl, DtVjS 1850/2, 1 (30 f.)). 686 M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 42 Rn. 39. 687 Vgl. N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 42 Rn. 47. 688 P. Badura, StR4 2010, E 47. 689 Vgl. BVerfGE 67, 100 (125); BVerfGE 77, 1 (39, 40 ff.); BVerfGE 76, 363 (381) oder BVerfGE 124, 78 (107, 114, 119) zum Bundestag als verantwortlichem Träger der Untersuchung.

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fend hervorgehoben, dass „[m]it dem Recht auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses allein […] das Kontrollrecht der Minderheit noch nicht gewährleistet“ sei, sondern „[s]eine ungehinderte Ausübung […] weitere Sicherungen voraus[setze]“. Veranlassung, auf das Beweisantragsrecht einzugehen, bestand damals nicht; das Gericht konnte sich auf die Feststellung beschränken, dass es „vor allem der Minderheit überlassen bleiben [müsse], den Gegenstand der von ihr beantragten Untersuchung festzulegen“, um so die Macht der Mehrheit über den Untersuchungsgegenstand zurechtzustutzen.690 Diesen Ansatz hat u. a. Hans-Peter Schneider aufgegriffen, aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG ein Prinzip der „Sachherrschaft der Minderheit über den Untersuchungsgegenstand“ abgeleitet und daraus in Anlehnung an § 12 Abs. 2 IPA-Entwurf ein organstreitfähiges „Beweiserhebungs- und Beweisantragsrecht“ destilliert, weil es der parlamentarischen Opposition nur auf diesem Wege „möglich [wäre], ihre Kontrollfunktion gegenüber der Regierung mit Hilfe des Untersuchungsrechts auch und gerade als Minderheit wirksam zu erfüllen“.691 Eine derartige Ausdehnung der starken Stellung der Antragsteller von der Einsetzungsphase auf das Ausschussverfahren ist für die Minderheitenenquête ausreichend deutlich in Art.  44 Abs.  1 Satz  1 GG angelegt: Der Mitbestimmungsanspruch der Antragsteller folgt in diesem Sinne dem Einsetzungsrecht; dass die Ausschussvertreter der Einsetzungsminderheit eine gegenüber dieser eigenständige Rolle spielen, ist im Wesen des parlamentarischen Verfahrens und damit ebenfalls in Art. 44 GG angelegt. Die partielle Durchbrechung des Mehrheitsprinzips lässt sich für die Minderheitenenquête auf eine extensive teleologische Auslegung von Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG stützen, für die der Normtext mit dem minoritären Einsetzungsrecht eines beliebigen Viertels einen ausreichend deutlichen Anknüpfungspunkt bietet. Man könnte beinahe sagen, dass wieder der Gedanke des § 89 EinlALR 1794 zum Tragen kommt, dass die Gesetze demjenigen, dem sie „ein Recht geben, […] auch die Mittel [bewilligen], ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann“. Indem der Senat den Minderheiten lediglich einen Mitbestimmungsanspruch im Rahmen des Mehrheitsprinzips zugesteht,692 trägt er der normativen Spannungslage angemessen Rechnung, sucht gewissermaßen einen schonenden Ausgleich und erteilt vereinzelten Forderungen, die Minderheitenenquête gleich ganz den Antragstellern zu überlassen,693 eine Absage, indem die Minderheit statt einer – 690

BVerfGE 49, 70 (86). H.-P. Schneider, AK-GG II, 1984, Art. 44 Rn. 5; zust. B. Pieroth, in: Jarass/ders., GG5 2000, Art. 44 Rn. 7. s. enger – vor der Entscheidung des BVerfG – H. Rechenberg, BK GG (1977/78), Art. 44 Rn. 23: Bindung des Untersuchungsausschusses „an im Antrag enthaltene Verlangen auf Beweiserhebung“ bei Minderheitenenquête. 692 BVerfGE 105, 197 (223). 693 L.-A. Versteyl, in: vMüK3 II, 1995, Art.  44 Rn.  56. Vgl. abl. H.  Rechenberg, BK  GG (1977/78), Art. 44 Rn. 34; H. Plagemann, ZParl 1977, 242 (247) mit einem Bericht von parlamentarischen Vorschlägen, die Untersuchungsausschüsse je zur Hälfte mit Abgeordneten der Regierungs- und der Oppositionsfraktionen zu besetzen. 691

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unter demokratischem Blickwinkel bedenklichen – totalen Herrschaft „nur“ einen gleichberechtigten Mitgestaltungsanspruch erhält. Das korrespondierende Mitbestimmungsrecht der Mehrheit wahrt nicht nur das parlamentarische Mehrheitsprinzip in seiner Grundsubstanz, sondern trägt auch der Verantwortung des Bundestags für jede Enquête oder Untersuchung Rechnung. Auf dieser Linie bleibt die formelle Verfahrensherrschaft über die Reihenfolge der Beweiserhebungen und ihre Modalitäten  – bis zur Grenze offensichtlichen Missbrauchs  – der Mehrheit überlassen. Diese Präponderanz will das BVerfG erst beschränken, wenn z. B. gegen Ende der Legislaturperiode die Zeit knapp wird. Der einzige Makel der Entscheidung ist insoweit die strikte Kontrollfixiertheit der Begründung: Auch eine Minderheitenenquête im engeren Sinne, die nicht oder wenigstens nicht primär der Regierungskontrolle dient, muss ihre Ziele erreichen können. § 17 Abs. 3 PUAG, der den qualifizierten Minderheiten über diese Mindeststandards hinaus stets ein Mitspracherecht einräumt und im Konflikt auf die Modalitäten der Plenardebatte verweist, wird teilweise als Stärkung der Verfahrensgerechtigkeit begrüßt;694 dennoch unterliegt die Regelungstechnik einer Verweisung auf die Geschäftsordnung des Bundestages Bedenken.695 Verfassungsrechtlich dürfte eine solche materiell geschäftsordnungsrechtliche Regelung ebenso wenig zu beanstanden sein wie der entsprechende § 28 GO-BT. cc) Rechte „potentiell einsetzungsberechtigter“ Minoritäten Vollkommen anders präsentiert sich die Lage für die „potentiell einsetzungsberechtigten“ Minderheiten, denen das BVerfG ohne Unterschied ebenfalls das minoritäre Mitspracherecht der Antragsteller einräumen will. Zwar trifft es schon ausweislich des § 4 Satz 2 PUAG zu, dass die Oppositionsfraktionen auch an einer Mehrheitsenquête beteiligt werden müssen. Die absolute Weimarer Theorie und parlamentarische Praxis, die einer Einsetzungsminderheit nicht einmal ein Recht auf Sitz und Stimme im Ausschuss zugestanden haben,696 sind mit dem gemäßigten Demokratieverständnis des Grundgesetzes passé. Auch die Mitgliedschaft in einem Untersuchungsausschuss ist wegen Art. 20 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 GG mit den üblichen Rede- und Antragsrechten verknüpft.697 Über diese gewöhnlichen Anforderungen an die Stellung der Minderheiten geht das „Parteispenden“-Urteil weit hinaus, indem sämtlichen „Beweisanträgen der potentiell einsetzungsberechtigten Minderheit […] grundsätzlich Folge zu leisten [sein soll], soweit das Antragsrecht nicht sachwidrig oder missbräuchlich ausgeübt“ wird, und die einmal beschlossenen Beweise auch tatsächlich erhoben werden müssen. Mit dieser Umdeutung des Enquête- und Untersuchungsrechts in ein paritätisches bzw. 694

U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (605 f.). K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ders. (Hg.), PUAG, 2015, § 17 Rn. 30. 696 Zur Weimarer Rechtslage s. 7. Teil 4. Kap. C. 697 Vgl. BVerfGE 105, 197 (223). 695

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teilminoritäres Recht, im Schrifttum ist von „Reziprozität“ die Rede,698 weicht das BVerfG stark von der ursprünglichen Konzeption des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG und der allgemeinen Entscheidungsvorgabe des Mehrheitsprinzips ab. (1) Fehlen einer tragfähigen verfassungsrechtlichen Grundlage Eine tragfähige verfassungsrechtliche Grundlage für diese enquête- und untersuchungsrechtliche Revolution, die immerhin mit einer Durchbrechung des verfassungskräftigen Mehrheitsprinzips einhergeht, ohne einen direkten Anhalt im Wortlaut aufbieten zu können, bleibt das „Parteispenden“-Urteil für die „potentiell einsetzungsberechtigten“ Minderheiten schuldig. Anders als für die Antragsteller in der Minderheitenenquête scheidet Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG für die „potentiell einsetzungsberechtigten“ Minderheiten als Grundlage derartiger Mitspracherechte entgegen der Auffassung des Zweiten Senats aus. Das tatsächlich genutzte Einsetzungsrecht, das aus teleologischen Gründen zugunsten der Einsetzungsminderheit mit Rechten in der Durchführungsphase arrondiert werden musste, kann hier nicht weiterhelfen. Vielmehr gerät das Recht der konkreten Antragsteller mit der vermeintlich ausreichenden virtuellen Rechtsposition der „potentiell einsetzungsberechtigten“ Minderheiten in einen Konflikt, auf den noch zurückzukommen ist. Art. 44 GG ist eben – anders als es ein weiteres Mal in Überbetonung des Kontrollaspekts in der Entscheidung durchscheint – keine ausschließlich „minderheitsschützende Vorschrift […] zwischen fortwirkender parlamentarischer Mehrheitsregel […] und qualifiziertem Minderheitsrecht“,699 sondern ebenso ein Recht des Bundestags respektive seiner Mehrheit, die andernfalls auf die Fremdinformation durch die Regierung angewiesen wäre. Für das zu den Minderheitenenquêten zu Recht bemühte Argument, dass sich die normative Grundentscheidung des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG nicht in der Niedersetzung eines Ausschusses erschöpfe, sondern angesichts des Fortdauerns der „bei der Einsetzung […] von Verfassungs wegen vorhandene[n] Spannung zwischen Mehrheit und qualifizierter Minderheit […] im Untersuchungsverfahren“ fortsetze,700 fehlt es für beliebige andere Minderheiten an einem ausreichenden Anknüpfungspunkt. Ebenso wenig hilft das gängige Mantra weiter, dass die Bundestagsminderheit zur Regierungskontrolle geradezu prädestiniert, die Mehrheit aber unfähig wäre.701 Zum einen findet Kontrolle keineswegs ausschließlich, sondern bloß am öffentlichkeitswirksamsten und möglicherweise auch am effizientesten durch die Op 698

K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ders. (Hg.), PUAG, 2015, § 17 Rn. 2. BVerfGE 105, 197 (222 f.). 700 BVerfGE 105, 197 (223). 701 Vgl. zu dieser prinzipiell richtigen Feststellung nur M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 11; P. M. Huber, in: HdbStR III3 2005, § 47 Rn. 29 ff.; B. Peters, ZParl 2012, 831 f.; A. Seidel, BayVBl 2002, 97 (98); K.-A. Schwarz, ZRP 2013, 226 (227); P. Cancik, NVwZ 2014, 18 (19 f.). 699

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position statt. Schon 1977 hat Hermann Plagemann ungeachtet dessen zu Recht hervorgehoben, dass es „auch zwischen Regierung und Mehrheitsfraktionen […] Diskussionen und Auseinandersetzungen“ geben kann, die „als ‚interne Kontrolle‘ von fast gleicher Bedeutung wie die parlaments-öffentliche Kritik durch die Opposition“ sein können.702 Das Grundgesetz selbst baut ersichtlich im Rahmen von Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG ebenfalls auf beide Kontrolleure, indem es das Einsetzungsrecht sowohl der Minderheit als auch der Mehrheit zuspricht. Der stärkste Ausdruck parlamentarischer Kontrolle, das konstruktive Misstrauensvotum, bleibt der (wankelmütigen respektive neuen) Regierungsmehrheit vorbehalten.703 Darüber hinaus greift die ausschließliche Charakterisierung des Selbstinformationsrechts als Kontrollinstrument im Licht der herrschenden Korollartheorie zu kurz:704 Mag diese Sichtweise faktisch auch der Staatspraxis entsprechen, ist Art.  44 Abs.  1 Satz  1 GG doch normativ ohne inhaltlich-funktionelle Einschränkungen als umfassendes Enquête- und Untersuchungsrecht konzipiert. Die Verfassungsgeschichte lehrt, wie wichtig ein solches Recht für die Volksvertretung ist. Die Fokussierung auf die unbestreitbare Kontrolltauglichkeit des Art. 44 GG ist kein rechtlich relevanter Anknüpfungspunkt für eine starke verfahrensrechtliche Stellung der „potentiell einsetzungsberechtigten“ Minderheiten. Damit bleibt von der Begründung des paritätischen Mitspracherechts der qualifizierten Minderheiten durch das BVerfG bloß noch das Argument übrig, dass der Bundestag seine Arbeitskraft nicht in gegenläufigen Doppeluntersuchungen vergeuden dürfe. Auf den ersten Blick wirkt das „Parteispenden“-Urteil insoweit durchaus plausibel, indem die „potentiell einsetzungsberechtigten“ Bundestagsminderheiten nicht dazu gezwungen werden sollen, zur „Rechtswahrung“ tatsächlich von Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG Gebrauch zu machen und einen „eigenen“ Untersuchungsausschuss zu verlangen. Infolgedessen kann sich das Parlament sinnvolleren Aufgaben widmen. Missliche Kollisionen, die bei parallelen Untersuchungsverfahren dadurch zu erwarten sind, dass sie auf dieselben Akten und Zeugen angewiesen sind, werden vermieden.705 Schützenhilfe, dass die Forderung einer Doppeluntersuchung „nicht nur  – wegen der doppelten Arbeitsbelastung der Abgeordneten und der doppelten Aktenvorlage und Vernehmung von Zeugen – kontraproduktiv [wäre…], sondern nahe an ein obstruktives Handeln“ heranreiche (Christoph Meyer-Bohl), erhält die Rechtsprechung aus dem Schrifttum.706 Bei genauerer Betrachtung handelt es sich aber nicht um verfassungsrechtliche Argumente, sondern um schlichte Zweckmäßigkeitserwägungen. Während 702 H. Plagemann, ZParl 1977, 242 (249). Neuerdings wendet sich auch P. Cancik, ZParl 2014, 885 (887) gegen eine ausschließliche Zuspitzung auf die Opposition. 703 S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 38. 704 s. 8. Teil 4. Kap. A. I. 705 Vgl. BVerfGE 105, 197 (224 f.). 706 Vgl. C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 123 zu der Frage, ob die Mehrheit auf Antrag der Minderheit den Untersuchungsauftrag des „U-Boot“-Untersuchungsausschusses reformieren müsse.

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solche Überlegungen die Entscheidung zwischen zwei gleichwertigen Auslegungsalternativen erleichtern können, reichen sie nicht aus, um das verfassungskräftige Mehrheitsprinzip zugunsten der durch Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG nicht geschützten „potentiell einsetzungsberechtigten“ Minderheiten zu überspielen. Zu allem Überfluss geht das „Parteispenden“-Urteil von einem viel zu engen Enquête- und Untersuchungsrechtsverständnis aus. Eine Schwäche ist die Fokussierung der Urteilsgründe auf die Fraktionen; sie zeigt sich in der Zulässigkeitsstation in der Feststellung, dass die „in den Untersuchungsausschuss entsandten Abgeordneten einer Fraktion, die mindestens ein Viertel der Mitglieder des Deutschen Bundestags umfasst, […] den einsetzungsberechtigten Teil des Bundestags im Ausschuss“ repräsentierten; in der Begründetheit findet sich diese Vorstellung bestätigt, wenn es heißt, dass „sich die Abgeordneten einer einsetzungsberechtigten Fraktion jedenfalls auf das Minderheitsrecht des Art.  44 GG stützen“ könnten.707 Eine solche Fixierung auf die Fraktionen ist dem Enquête- und Untersuchungsrecht aber gerade fremd. Es ist dem Wortlaut des Art.  44 Abs.  1 Satz  1 GG nach kein Recht einer fraktionell organisierten Opposition, sondern steht gleichermaßen jeder qualifizierten Ad-hoc-Minorität zu. Diese kann sich – wie bei einer Gesetzesinitiative – ebenso spontan wie über Fraktionsgrenzen hinweg bilden. Die Ableitung eines paritätischen Mitbestimmungsanspruchs der Minderheitsfraktionen im Ausschuss beruht also einerseits auf einem gegenüber dem Wortlaut des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG verengten Blickwinkel. Andererseits lässt sich das potentielle Einsetzungsrecht eines spontanen Viertels des Plenums überhaupt nicht sinnvoll in eine Berechtigung inhomogener Ausschussminderheiten transponieren. Absichtserklärungen der Antragsteller helfen nichts, weil schon unter dem Blickwinkel des freien Mandats (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) keine derartige Beauftragung, Ermächtigung oder Bevollmächtigung von Ausschussmitgliedern in Frage kommt. Damit ist einer der wesentlichen Hauptpfeiler des minoritären Mitspracherechts gleich mehrfach einsturzgefährdet. (2) Folgen eines generalisierten Minderheitenrechts Obwohl das BVerfG mit den Nachteilen argumentiert, die es mit sich bringen könnte, wenn man den „potentiell einsetzberechtigten“ Minderheiten entsprechende Befugnisse vorenthielte, hätte dieser vermeintliche Weg aus der Misere seinerseits die misslichsten Konsequenzen. An erster Stelle steht eine Wesensänderung des parlamentarischen Enquêteund Untersuchungsrechts. Obwohl Art.  44 Abs.  1 Satz  1 GG von einem Recht 707 s. BVerfGE 105, 197 (220 f., 223). Obwohl sich die betreffenden Äußerungen überwiegend in der Zulässigkeitsstation finden, werfen sie doch ein bezeichnendes Bild auf die dahinterstehenden Vorstellungen.

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des Bundestags, d. h. also der Regierungsmehrheit ausgeht, das „bloß“  – dem Wortlaut nach könnte man sagen: ausnahmsweise – auf Antrag einer qualifizierten Minderheit zur Pflicht mutiert, verpasst das „Parteispenden“-Urteil dem parlamentarischen Selbstinformationsrecht eine „neue Qualität“ (Jörg Mohr): In der Einsetzungsphase ist es Mehrheits- oder (bzw. bei Doppelanträgen ggf. auch) Minderheitenrecht. In der Durchführung ist es immer und ohne Ausnahme (auch bzw. primär) Minderheitenrecht. Gegenüber der Entscheidung von 1978 hat sich damit ein stiller Paradigmenwechsel vollzogen: Ging der Senat in seiner ersten Entscheidung noch von einer Dichotomie der Mehrheits- und der Minderheitsenquête aus, so dass die Mehrheit zur Not einen „eigenen“ Untersuchungsausschuss einsetzen musste, werden ein knappes Vierteljahrhundert später alle erdenklichen Anstrengungen unternommen, um dieses Ergebnis zu verhindern.708 Mit der Aufwertung aller potentiell berechtigten Ausschussminderheiten wird die bis dato anerkannte Kategorie der Mehrheitsenquête vollständig verabschiedet. Trotz des Wortlauts von Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, der Mehrheits- und Minderheitenrecht gleichberechtigt nebeneinanderstellt, mutiert das parlamentarische Selbstinformationsrecht zu einem genuinen Minderheiteninstrument, über das die Mehrheit unter keinen Umständen mehr die abschließende Kontrolle haben wird. Anders als man prima facie meinen könnte, sorgt diese Entscheidung keineswegs für eine unter demokratischem Blickwinkel ohnehin merkwürdige Waffengleichheit von Mehrheit und Minderheiten, sondern führt zu einer bedenklichen Privilegierung der Minoritäten. Obwohl der Mehrheit ein (mindestens) gleich­ gewichtiges Beweiserhebungsrecht zustehen und sie auch eine gewisse Verfahrens­ präponderanz behalten soll, werden ihre Möglichkeiten, die Untersuchung, die sie letzten Endes auch verantworten muss, nach ihrem Willen durchzuführen, durch den „Mitbestimmungsanspruch“ der Minderheiten massiv verkürzt. Zeit, Arbeitskraft und das auf die Dauer nachlassende öffentliche Interesse sind die knappen Ressourcen des diskontinuierlichen parlamentarischen Untersuchungsverfah­ rens.709 Jede Stärkung der Minderheit geht zwangsläufig, dem physikalischen Prinzip kommunizierender Röhren ähnlich, zu Lasten der Mehrheit. In einer Mehrheitsenquête führen die gegenüber „gewöhnlichen“ Ausschüssen gesteigerten minoritären Mitwirkungsmöglichkeiten deswegen ggf. dazu, dass die demokratische Mehrheit ihr politisches Anliegen nicht oder nicht in dem gewünschten Maß realisieren kann.710 Die einzige Sicherung, die das BVerfG gegenüber potentiellem Missbrauch und Obstruktion durch die qualifizierten Minderheiten einzieht, ist, dass der „Umfang dieses Mitgestaltungsanspruchs […] nicht weiter reichen [könne] als derjenige 708

J. Mohr, ZParl 2004, 468 (475 f.). Vgl. J. Jekewitz, RuP 2001, 178 sowie zur Skandalisierungswirkung bestimmter Untersuchungsverfahren anhand einer empirischen Analyse verschiedener Medien M. Riede/ H. Scheller, ZParl 2013, 93 (98 ff.). 710 Vgl. M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 44. 709

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der Mehrheit“. Aber dieser scheinbar feste Damm ist brüchig: Mit der Forderung, dass die Rechte der Minderheit denen der Mehrheit „grundsätzlich vom Gewicht her gleich zu erachten“ wären, teilt das BVerfG die Herrschaft über die Beweisaufnahme gleichsam paritätisch auf. Selbst dieser Rest an Sicherheit ist wegen der Pflicht des Ausschusses, minoritären Beweisanträgen „grundsätzlich [?] Folge zu leisten“, eher trügerisch.711 De facto setzt dem minoritären „Mitbestimmungsrecht“ bestenfalls das Missbrauchs- und Obstruktionsverbot Grenzen. Mit Hilfe dieses diffusen Instruments und eines partiellen Rückzugs auf eine Vertretbarkeitskontrolle versucht das BVerfG offenkundig, der Mehrheit gleichsam durch die Hintertür ein Stück ihrer früheren Verfahrensherrschaft wieder zurückzugeben712 – und legt damit unbeabsichtigt zugleich den Grund für neue Rechtsstreitigkeiten. Selbst ohne Missbrauchs- oder Obstruktionstendenz kann eine Minderheit diametrale Vorstellungen von den notwendigen Beweiserhebungen haben. Sind ihre Forderungen bloß umfangreich genug, kann die wohlgemeinte Annahme des BVerfG, dass „Mehrheit und qualifizierte Minderheit […] beide ihre Vorstellungen von einer sachgemäßen Aufklärung angemessen durchsetzen können“ müssten,713 rasch zu einer Parese bis hin zur vollständigen Paralyse des Untersuchungsverfahrens führen. In diesem Sinne warnt auch Martin Morlok davor, dass „nunmehr jede beliebige qualifizierte ad-hoc-Minderheit in der Lage [sei…], durch überzogene und überflüssige Beweisanträge sowohl die Mehrheits- als auch die Minderheitsenquête lahmzulegen“.714 Dass insoweit der Vorbehalt des BVerfG eingriffe, dass die Minderheit ihr Recht nicht sachwidrig und z. B. nicht in dilatorischer Absicht ausüben dürfe, ist keineswegs gewährleistet. – Unter diesem Blickwinkel bestehen selbst Gefahren für die Minderheitenenquête, indem die Rechte der „potentiell einsetzungsberechtigten“ Minderheiten die entsprechenden Möglichkeiten der konkreten Einsetzungsminderheit schmälern könnten.715 Zwar ist neben einer Regierungsmehrheit mit mindestens 50 v. H. plus einem Bundestagsmandat prima facie nur noch für eine im Sinne von Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG qualifizierte Minderheit Platz. Weder die Koalitionsdisziplin der Regierungsfraktionen noch eine eventuelle Einigkeit unter den Oppositionsfraktionen schließen es aber kategorisch aus, 711

BVerfGE 105, 197 (223, 225). BVerfGE 105, 197 (222, 225 f.). 713 BVerfGE 105, 197 (223). 714 M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 44. 715 So J. Mohr, ZParl 2004, 468 (482). Vgl. auch M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 44, der in Fn. 191 zu „bedenken [gibt…], daß in jeder Ausschussmehrheit mindestens zwei qualifizierte Minderheiten stecken“. Demgegenüber will L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 27 Rn. 7 das Minderheitenrecht nicht anerkennen, wenn das Plenum die Einsetzung auf einfachen Antrag hin beschließt („Splitterenquête“). Zu der Frage einer Absenkung des Quorums in Falle einer „qualifizierten“ Großen Koalition s. B. Beckermann/ D. Weidemann, Der Staat 53 (2014), 313 ff.; P. Cancik, NVwZ 2014, 18 ff. sowie die Regelung des § 126a GO-BT, der für die 18. Legislaturperiode einen Antrag von bloß 120 Abgeordneten ausreichen lassen will. Zum Verfahren und den Minderheitenrechten in einer solchen „Splitter­ enquête“, die weder Mehrheits- noch Minderheitenenquête ist, s. L. Brocker, DÖV 2014, 475 (476 ff.). 712

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dass ein Partner aus der Phalanx ausschert und sich mit anderen zu einer weiteren „potentiell einsetzungsberechtigten“ Minorität zusammenschließt  – und danach die Arbeit des Untersuchungsausschusses zu Lasten der konkreten Antragsminderheit mit einer Kanonade von Beweisanträgen behindert.716 Es ist eine interessante Frage, ob unter solchen Umständen gleich drei gleichberechtigte „Partner“ zu berücksichtigen wären. In der derzeitigen Parteienlandschaft sind solche Gefahren freilich (noch) hypothetischer Natur. (3) Konsens und Doppeluntersuchung als Ausweg aus der Misere Lehnt man die Übertragung des Minderheitenrechts auf sämtliche „potentiell einsetzungsberechtigten“ Minoritäten aus den oben genannten Gründen ab, ist das keineswegs der Untergang der parlamentarischen Arbeitsfähigkeit oder des Enquête- und Untersuchungsrechts. Stattdessen gelten in einer Minderheitenenquête die Grundsätze des „Parteispenden“-Urteils. Damit geht keine vollständige Kontrolle der Antragsteller über „ihre“ Untersuchung einher; mehr als eine gleichberechtigte Beteiligung kann keine Minderheit in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes verlangen. In einer Mehrheitsenquête regiert die Mehrheit, ohne Anträgen der verschiedenen Minderheiten Folge leisten zu müssen. Die Minoritäten, die keine „Vertreter“ der Antragsteller sind, haben über die allgemeinen Abgeordnetenrechte aus Art. 20 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 GG hinaus keine Ansprüche. Demokratische Schäden sind davon ebenso wenig zu erwarten wie im allgemeinen parlamentarischen Betrieb. Jede Seite hat die Möglichkeit, die skizzierte stärkere Stellung ggf. durch einen eigenen Einsetzungsantrag zu erzwingen. Parallele Enquêten oder Untersuchungen sind damit trotzdem keineswegs – wie durch das BVerfG befürchtet – zwangsläufig vorprogrammiert, sondern eine Frage politischer Entscheidung. So gab sich selbst der Reichstag im Februar 1925 trotz unterschiedlicher Untersuchungsforderungen letztendlich mit einem Ausschuss zu den hochkontroversen Ruhrentschädigungen zufrieden.717 Der Bundestag muss sich ebenso wenig in Parallelverfahren verzetteln. Vielmehr können sich Mehrheit und Minderheit bei der Einsetzung auf das Untersuchungsprogramm einigen und in der Untersuchung kooperieren.718 Häufig wird es im politischen Eigeninteresse der Mehrheit liegen, der Minderheit ausreichend Raum zu geben, um jedem sachlichen, aber insbesondere auch jedem Vertuschungsvorwurf vorzubeugen. Wie 716

s. in diesem Sinne M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 44. Auf die Möglichkeit unterschiedlichster Gruppierungsbildungen weist allg. auch M. Schröder, 57. DJT, 1988, S. E98 hin. Vgl. zum subjektiven Aspekt des Topos potentieller Einsetzbarkeit J. Mohr, ZParl 2004, 468 (480 ff.). 717 s. 7. Teil 4. Kap. B. V. 1. 718 Vgl. zu Verhandlungs-, Beeinflussungs- und Einigungsmöglichkeiten im Hinblick auf eine Abänderung des Einsetzungsantrags P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (261 ff., 267, 269, 273).

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in früheren Tagen kann die Minderheit – jedenfalls bei der Aufklärung von Skandalen – auf die faktische Macht von Öffentlichkeit und Presse bauen.719 Wie wenig eine vermeintlich undurchdringliche Mauer des Schweigens der Regierungsseite nützt, haben schon die bemerkenswerten Aufklärungserfolge der preußischen Wahlmanipulationsuntersuchung von 1863/64 unter Beweis gestellt.720 Verschiedene Skandale und Rücktritte der letzten Jahre machen deutlich, wie effektiv diese weichen Kontrollmechanismen sind. Haben Mehrheit und Minderheit im Einzelfall dagegen vergleichbare Vorstellungen, ist auch eine formlose Einigung beider Seiten über das Untersuchungsverfahren bzw. die Rechte der Minderheit im Ausschuss denkbar, die dann – ähnlich wie früher die IPA-Regeln – in den jeweiligen Einsetzungsbeschluss aufgenommen werden könnte. Ggf. ließe sich dieses Verfahren – nach dem Vorbild des § 126a GO-BT, der den Besonderheiten der qualifizierten Großen Koalition in der 18. Legislaturperiode Rechnung trägt – auch in der Geschäftsordnung des Bundestages für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verbindlich vorsehen (vgl. §§ 74, 126 GO-BT).721 Kommt es zu keiner Verständigung oder beharrt eine „potentiell einsetzungsberechtigte“ Minderheit auf einer rechtlich stärkeren Stellung, weist der Verfassungswortlaut – wie es das BVerfG 1977 auch noch anerkannt hat722 – auf den beschwerlicheren Weg einer Doppeluntersuchung. Die praktischen Bedenken, die den Zweiten Senat zu seiner drastischen Minderheitenrechtskonzeption veranlasst haben, sind bei genauerer Betracht trotz aller augenscheinlichen Nachteile überzogen: Die „Fragmentierung der parlamentarischen Arbeit“, die das BVerfG im „Parteispenden“-Urteil befürchtet,723 ist kein besonderes Übel, das unbedingt zu verhindern wäre, sondern erschöpft sich in der Tatsache einer (vermeintlich) überflüssigen Doppeluntersuchung. Sollten Sorgen um die Arbeitsfähigkeit des Bundestages mitgeschwungen haben, wären diese wohl unberechtigt: Es ist kaum anzunehmen, dass zwei parallele Untersuchungen mit der nach § 4 PUAG zulässigen Mindestmitgliederanzahl den Bundestag oder seine (mindestens) 598 Abgeordneten (§ 1 Abs. 1 BWahlG) vor unüberwindbare Hürden stellen können; seit Inkrafttreten des Untersuchungsausschussgesetzes hatten die Untersuchungsausschüsse im Durchschnitt elf Mitglieder.724 Selbst die „Gefahr einer wechselseitigen Behinderung“ von Mehrheits- und Minderheitsenquête, die das BVerfG wohl aufgrund einer Verdoppelung der Beweiserhebung einschließlich der Zeugenaussagen, Aktenvorlage etc. sieht, dürfte 719

Vgl. zu der Skandalisierungsfunktion eines Untersuchungsverfahrens sowie zu ihren Auswirkungen M. Riede/H. Scheller, ZParl 2013, 93 ff. 720 Zur Arbeit dieser Untersuchungskommission s. 5. Teil 3. Kap. C. 2. 721 Zur Zulässigkeit einer Selbstbindung des Parlaments durch Geschäftsordnungsbeschluss, Splitterenquêten auf Antrag nichtqualifizierter Antragsminderheiten einzusetzen, vgl. P. Cancik, NVwZ 2014, 18 (20 ff.). 722 BVerfGE 49, 70 (87). 723 BVerfGE 105, 197 (224 f.). 724 s. die Übersicht bei H. Georgii, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, § 4 Rn. 11.

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in der Praxis kaum relevant sein. Weil sich die Untersuchungsforderungen von Mehrheit und Minderheit in einer solchen Situation zwangsläufig nicht vollständig decken, würden beide Ausschüsse wenigstens zum Teil auf unterschiedliche Zeugen und Beweismittel angewiesen sein. Überschneidungen können in Zeiten von Hochgeschwindigkeitskopierern, Aktendigitalisierung etc. zu keinem unlösbaren Problem werden; Richard Grau hat gegenüber analogen Sorgen vor Kollisionen mit dem Strafverfahren schon 1927 auf die „Aktenphotographie“ verwiesen.725 Befragungen und Vernehmungen der zentralen Akteure und Zeugen vor beiden Ausschüssen sind wahrscheinlich in der Regel unvermeidlich. Im Einzelfall mag eine gemeinsame Sitzung beider Ausschüsse in Betracht kommen. Da­rüber hinaus sind mehrfache Befragungen oder Vernehmungen über denselben oder einen im Wesentlichen ähnlichen Gegenstand auch keine Katastrophe. Vor Gericht ist es die alltägliche Normalität einer differenzierten Rechtsordnung, dass derselbe Zeuge etwa im Zivil- und im Strafverfahren zu demselben Lebenssachverhalt vernommen wird. c) Zwischenergebnis Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG ist eine Ausnahme von dem Grundsatz des Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG. Obwohl Ausnahmebestimmungen keineswegs per se eng auszulegen sind,726 verlässt das BVerfG den verhältnismäßig festen Boden der Verfassungsinterpretation und betritt das weitaus brüchigere Eis der Analogie, indem es die aus dieser Vorschrift zu Recht abgeleiteten Rechte der Einsetzungsminderheit auf jede qualifizierte Ausschussminderheit erstreckt. Für Mitspracheforderungen einer Minderheit, die den Untersuchungsausschuss nicht durchgesetzt hat, fehlt es aber an einer vergleichbaren Interessenlage als Conditio sine qua non für diesen Kunstgriff. Ohne Minderheitenantrag besteht eben keine Gefahr, dass das minoritäre Einsetzungsrecht der Antragsteller im Verfahren entwertet werden könnte.727 Letzten Endes stützt sich der Zweite Senat deswegen für die Befugnisse der „potentiell einsetzungsberechtigten“ Minderheiten gegenüber dem demokratischen Mehrheitsprinzip, das seinerseits über Verfassungsrang verfügt, auf keinesfalls tragfähige pragmatische Überlegungen. Diese „Lösung“, die Forderungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform nach einem neuen Art.  44 Abs.  1 Satz  3 GG entspricht,728 kann de constitutione lata nicht über­ 725

R. Grau, AöR n. F. 12 (1927), 123 (127). Anders s. etwa A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 21 zu Art. 44 Abs. 2 GG, der noch von einem „allgemeinen Gebot der restriktiven Auslegung von Ausnahmevorschriften“ ausgeht. 727 In dieser Weise begründete BVerfGE 49, 70 (85 ff.) den Schutz der Einsetzungsminderheit vor der Abänderung ihres Antrags durch die Mehrheit im Hinblick auf das Einsetzungsrecht. 728 s. zu den Vorschlägen der Enquêtekommission Verfassungsreform BT-Drs. 7/5924, S. 52. Die Vorschrift sollte regeln, dass „Beweise, die von mindestens zwei stimmberechtigten Mitgliedern des Untersuchungsausschusses beantragt [würden, …], erhoben werden [müssten], es sei denn, daß sie offensichtlich außerhalb des Untersuchungsauftrages“ lägen. 726

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zeugen.729 Der entsprechende § 17 Abs.  2 PUAG ist deswegen in seiner ufer­ losen Weite ebenfalls mit dem parlamentarischen Mehrheitsprinzip im Beweiserhebungsverfahren gemäß Art. 44 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar.

IV. Regelungen des Untersuchungsausschussgesetzes Auch im Hinblick auf den Minderheitenschutz hat das Untersuchungsausschussgesetz teils die ältere Rechtsprechung des BVerfG rezipiert, teils Anregungen aus der Lehre oder bestehende Reformforderungen angeknüpft.730 Während die Mehrheit einen Einsetzungsantrag früher auf das lange Gleis schieben konnte,731 verlangt § 2 Abs.  1 PUAG jetzt eine „unverzüglich[e]“ Entscheidung. Kommt es über die Verfassungsmäßigkeit zum Streit, hat das Plenum den Untersuchungsausschuss ggf. mit einer beschränkenden Maßgabe einzu­ setzen. Den Antragstellern steht der Weg zum BVerfG offen (§ 2 Abs. 3 PUAG). Für Abänderungen des Untersuchungsgegenstands bei der Einsetzung soll es nach verbreiteter Ansicht übereinstimmend mit den Gesetzesmaterialien bei den Regeln der Rechtsprechung bleiben, obwohl der Wortlaut des § 2 Abs. 2 PUAG auf eine stärkere Stellung der Einsetzungsminderheit und ein Zustimmungserfordernis hindeutet.732 Nachträgliche Abänderungen unterwirft § 3 Satz 2 Hs. 2 PUAG den­ selben Vorgaben wie § 2 Abs. 2 PUAG.733 Für die Stellenvergabe weicht § 4 PUAG von den allgemeinen Regeln der Geschäftsordnung ab: Der Bundestag muss bei der Mitgliederzahl die Aufgabenstellung und Arbeitsfähigkeit des Ausschusses ebenso wie die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse berücksichtigen. Während Fraktionen ein „Grundmandat“ erhalten, bleibt die Berücksichtigung der Gruppen den „allgemeinen Beschlüssen des Bundestages“ überlassen. Die Fraktionen benennen die Ausschussmitglieder (§ 5 PUAG). Für den Vorsitz sind sie ihrer Stärke entsprechend zu berücksichtigen. 729

Abl. auch M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 44. Zum Untersuchungsausschussgesetz s. 8. Teil 4. Kap. C. II. 731 s. 7. Teil 4. Kap. B. II. zur Aufnahme auf die Tagesordnung und Vertagung in der Weimarer Republik. 732 Vgl. – mit Unterschieden – BT-Drs. 14/5790, S. 14; K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ders. (Hg.), PUAG, 2015, § 2 Rn. 20; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, PUAG, 2011, § 2 Rn. 5; S. U. Pieper, in: ders./Spoerhase, PUAG, 2012, § 2 Rn. 4; R. Pofalla, DÖV 2004, 335 (338); D. Wiefelspütz, DÖV 2002, 803 (806 f.) und trotz krit. Anm. auch N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 90. U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (604) hält diese Sichtweise bloß dann für mit dem Wortlaut kompatibel, wenn die Minderheit ihre Zustimmung lediglich nicht aus sachfremden Erwägungen verweigern dürfen soll. A. A. dagegen H. H. Klein, in: Maunz/ Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 80: „Zustimmungsvorbehalt der Antragsminderheit für jedwede Änderung“ und ähnl. wohl P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (257 f.). 733 s. dazu C. v. Cossel, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, § 3 Rn. 19 ff. mit Beispielen aus der Bundestagspraxis. 730

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In diesem Rahmen bestimmt der Ausschuss den Vorsitzenden und dessen Stellvertreter aus seiner Mitte; beide müssen unterschiedlichen Fraktionen angehören (§§ 6 Abs. 1, 7 Abs. 1 PUAG). Das Untersuchungsausschussgesetz räumt den Minderheiten erheblichen Einfluss auf das Untersuchungsverfahren ein: Ein Viertel der Ausschussmitglieder kann gemäß § 8 Abs.  2 PUAG die Einberufung einer Sitzung zum nächstmöglichen Termin oder – als Minus des Sitzungserzwingungsrechts – die Aufnahme bestimmter Tagesordnungspunkte verlangen.734 Ähnlich wie die IPA-Regeln verhindert § 9 Abs. 2 PUAG, dass die Mehrheit den Untersuchungsausschuss durch ihre Abwesenheit dauerhaft lahmlegt: Kann eine aus diesem Grund zuvor unterbrochene Sitzung nicht fortgesetzt werden, ist eine neue Sitzung anzuberaumen, in der dann die Regelungen über die Beschlussunfähigkeit nicht gelten. Das wichtigste Instrument der Minderheiten ist § 17 Abs. 2 PUAG, der im imperativen Präsens bestimmt, dass „Beweise […] zu erheben [sind], wenn sie von einem Viertel der Mitglieder des Untersuchungsausschusses beantragt“ werden, die Beweiserhebung nicht unzulässig oder das Beweismittel unerreichbar ist. Es liegt nicht fern, dass das BVerfG dieser neun Monate vor dem „Parteispenden“Urteil in Kraft getretenen Vorschrift die verfassungsrechtliche Absolution erteilen wollte. Denkbar ist auch, dass sich der Zweite Senat von dieser Bestimmung, die ihrerseits u. a. Forderungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform oder Gedanken des § 12 Abs. 2 IPA-Entwurf aufgenommen hat, bloß inspirieren ließ. Wie dem auch sei: § 17 Abs. 2 PUAG unterliegt denselben Bedenken wie die entsprechenden Kernaussagen des „Parteispenden“-Urteils.735 Indem nicht einmal erforderlich ist, dass die Antragsteller eine potentiell einsetzungsberechtigte Fraktion repräsentieren, geht diese Vorschrift sogar noch über das extensive Urteil hinaus. Im Hinblick auf das demokratisch-parlamentarische Mehrheitsprinzip in der Beweiserhebung der Untersuchungsausschüsse ist § 17 Abs.  2 PUAG wegen eines Verstoßes gegen Art. 44 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungskonform auf die Einsetzungsminderheit zu beschränken oder nichtig; für die drastischere Nichtigkeitsfolge spricht, dass der eindeutige Wortlaut, der lediglich ein Viertel der Ausschussmitglieder als Antragsteller verlangt, eigentlich keine verfassungskonforme Reduktion gestattet. – Gemäß § 17 Abs. 4 PUAG kann sich eine gleichwohl übergangene Minderheit gegen die Ablehnung von Beweiserhebungen oder Zwangsmitteln an den Ermittlungsrichter des BGH wenden. Über die Vernehmungsreihenfolge ist zwischen Mehr- und Minderheit grundsätzlich Einvernehmen anzustreben. Auf Widerspruch eines Viertels der Ausschussmitglieder gelten die Regeln der Geschäftsordnung des Bundestages über die Redefolge im Plenum entsprechend (§ 28 Abs. 1 GO-BT). Das „Reißverschlussverfahren“ führt zu einer Abfolge von mehrheits- und oppositionsbestimmten 734 L. Brocker, in: Glauben/ders., PUAG, 2011, § 8 Rn. 5; H. Georgii, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, § 8 Rn. 9. 735 s. 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. b).

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Zeugen anhand der fraktionellen Stärkeverhältnisse (§ 17 Abs.  3 PUAG). Diese Regelungen betreffen  – das Verbleiben eines ausreichenden Zeitrahmens unterstellt736 – nicht den 2002 durch das BVerfG kreierten „Mitwirkungsanspruch“ der Minderheiten, sondern bloß Verfahrensmodalitäten.737 Mit der faktischen Anknüpfung des § 17 Abs. 3 PUAG an die Regeln über die Plenardebatte hat der Gesetzgeber dem genuin politischen Charakter des Untersuchungsverfahrens Rechnung getragen.738 Auch gegen Behinderungen der Ausschussarbeit durch Regierung und Behörden sind die qualifizierten Ausschussminderheiten nicht machtlos: Die Minderheit kann in gesetzlicher Prozessstandschaft gegen eine Weigerung, Akten oder andere sächliche Beweismittel vorzulegen, oder gegen eine Versagung oder Beschränkung einer Aussagegenehmigung das BVerfG anrufen (§§ 18 Abs.  3, 23 Abs.  2 PUAG).739 Über eine Einstufung von Beweismitteln oder die Verweigerung von Amts- und Rechtshilfe entscheidet auf ihren Antrag der Ermittlungsrichter des BGH (§ 18 Abs. 3 und 4 Satz 2 PUAG). Ein an sich zulässiges Organstreitverfahren wird durch diese Regelungen nicht ausgeschlossen.740 Das Untersuchungsausschussgesetz regelt also detailliert die Stellung der Minderheiten im parlamentarischen Untersuchungsverfahren. Die gesetzlichen Regelungen werden den Anforderungen der Rechtsprechung schon deswegen gerecht, weil der Gesetzgeber an die grundlegenden Weichenstellungen aus Karlsruhe angeknüpft hat.741 Das gilt nicht für das Beweisantrags- und Beweiserzwingungsrecht der Ausschussminderheiten, das noch vor dem „Parteispenden“-Urteil des Zweiten Senats geschaffen wurde. In diesem Fall hat sich das BVerfG – vergeblich – bemüht, den vorausgepreschten Gesetzgeber einzuholen, um die extensiven Minderheitenrechte des § 17 Abs. 2 PUAG vor dem Verfassungswidrigkeitsverdikt zu bewahren.

V. Bewertung Das Grundgesetz hat auch mit dem minoritären Einsetzungsrecht des Art.  44 Abs. 1 Satz 1 GG an eine zentrale Grundentscheidung des Art. 34 Abs. 1 Satz 1 RVerf  1919 angeknüpft. Wie vor ihm schon 1927 der StGH hat sich 1978 das BVerfG der Frage angenommen, inwieweit sich das Einsetzungsrecht der Minderheit mit einer Änderungsbefugnis der Mehrheit verträgt. Insoweit verdient die schleswig-holsteinische Entscheidung Kritik, weil das BVerfG die thematische 736

Vgl. BVerfGE 105, 197 (226). L. Brocker, in: Glauben/ders., PUAG, 2011, § 17 Rn. 21. 738 Vgl. U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (605 f.). 739 Vgl. P. J. Glauben, in: ders./Brocker, PUAG, 2011, § 18 Rn. 24. 740 P. J. Glauben, in: ders./Brocker, PUAG, 2011, § 18 Rn. 25. 741 U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (600, 608 ff.); M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 6, 14; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 26. 737

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Herrschaft der Einsetzungsminderheit um der Aufklärungsfunktion des Enquêteund Untersuchungsrechts willen abgeschwächt und es der Mehrheit ermöglicht hat, dem Untersuchungsauftrag gegen den Willen der Antragsteller selbst solche Zusatzfragen beizufügen, die zu einer Verzögerung führen können. Die Stärkung jeglicher qualifizierter Minderheiten in der Beweiserhebung steht in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zu dieser Schwächung der konkreten Einsetzungsminderheit. Abweichend von der Rechtslage in der glücklosen Republik hat das BVerfG das Minderheitenrecht von der Einsetzung auf das parlamentarische Untersuchungsverfahren erstreckt. Während sich die Novität eines minoritären Beweiserhebungsrechts für die Vertreter der Einsetzungsminderheit mit einer teleologischen Auslegung von Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG rechtfertigen lässt, ist es mit dem verfassungskräftigen, parlamentarisch-demokratischen Mehrheitsprinzip unvereinbar, auch jede potentiell einsetzungsberechtigte Minderheit zu begünstigen. Insoweit ist das „Parteispenden“-Urteil ebenso wie § 17 Abs.  2 PUAG über das Ziel hinausgeschossen, indem statt der konkreten Einsetzungs- jede „potentiell einsetzungsberechtigte“ oder sogar jede beliebige qualifizierte Minderheit über erheblichen Einfluss auf die Beweisaufnahme der Untersuchungsausschüsse verfügen soll.

E. Zwischenergebnis Im Großen und Ganzen ist die Entwicklung des Enquête- und Untersuchungsrechts seit 1949 ebenso von einer (teils stillschweigenden) Anknüpfung an bzw. Auseinandersetzung mit der Weimarer Vergangenheit wie von verschiedenen Versuchen geprägt, das Selbstinformationsrecht in bestimmten Facetten zu stärken. Die augenfälligste Anknüpfung dürfte die Adaption der Korollartheorie darstellen, mit deren Hilfe schon die Reichweite des Art. 34 RVerf 1919 vermessen werden sollte.742 Anders als in der Weimarer Republik hat sich in der bundesrepublikanischen Staatsrechtslehre die weite Spielart dieser noch zu Kaisers Zeiten formulierten Theorie durchgesetzt: Sachbezogene Enquêten sind ebenso zulässig wie politische Untersuchungen; selbst schlichte politische Bundestagsbeschlüsse dürfen mit Hilfe des Art. 44 GG vorbereitet werden.743 Dieses weite Verständnis entspricht einerseits der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung und wird andererseits der Tatsache gerecht, dass das formelle Selbstinformationsrecht sämtliche materiellen Parlamentsbefugnisse flankiert. Neben dieser Erweiterung des Enquête- und Untersuchungsrechts hat es – u. a. im Interesse der Grundrechte – nicht an Versuchen gefehlt, seine uferlose Ausweitung zu verhindern. Durchgesetzt hat sich die Forderung eines öffentlichen Untersuchungsinteresses, das insbesondere

742

Vgl. 7. Teil 3. Kap. A. s. 8. Teil 4. Kap. A. I.

743

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dann entfallen soll, wenn sich eine Untersuchung gegen einzelne Dritte richtet. Freilich ist dieses Konstrukt weder unproblematisch noch unbestritten.744 Gewaltenteilungsrechtlichen Konflikten hatte grosso modo schon Art.  34 RVerf 1919 ein Ende bereitet. Die weniger um das Verfassungsrecht als um das eigene Prestige besorgten Versuche der Weimarer Richterschaft, einen totalen Vorrang des gerichtlichen Verfahrens vor der parlamentarischen Untersuchung zu etablieren, haben sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht wiederholt. Stattdessen war die Praxis überwiegend von gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt. Offenkundig hat Art.  44 Abs.  4 GG in beide Richtungen eine mäßigende Wirkung entfaltet. Der in der ersten Republik bloß rudimentär entwickelte Schutz der Exekutive vor parlamentarischer Ausforschung wurde nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes zunehmend zu dem Topos eines „Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung“ verfeinert, in den einzudringen der parlamentarischen Seite selbst bei grundsätzlich abgeschlossenen Gegenständen verwehrt sein kann.745 Demgegenüber haben die Untersuchungsbefugnisse im direkten Vergleich mit Weimarer Verhältnissen eine erhebliche Stärkung erfahren: Anders als unter der Geltung von Art.  34 RVerf  1919 sollen heutige Untersuchungsausschüsse  – mit gerichtlicher Hilfe – auch auf Durchsuchung und Beschlagnahme zurückgreifen können. Eine Rückanknüpfung an die Standards der Reichsverfassung stellt im Gegensatz dazu die Ableitung eines verfassungsunmittelbaren Aktenvorlagerechts aus Art. 44 Abs. 1 GG dar, obwohl der entsprechende Passus des Art. 34 Abs. 2 Hs. 2 RVerf 1919 gerade keinen Platz im Grundgesetz gefunden hat. Indem das BVerfG aber – anders als die Weimarer Staatsrechtslehre – § 96 StPO sinngemäß anwenden will, trägt es Bedenken gegen ein unbeschränktes Aktenvorlagerecht Rechnung. Tradition haben die Vernehmungsbefugnisse, die der historische Grund für die Aufnahme einer Verweisung auf das Strafprozessrecht gewesen sind.746 Allerdings unterliegt die bundesdeutsche Praxis, amtierende Regierungsmitglieder als Zeugen vor einen Untersuchungsausschuss zu laden und zu vernehmen, gravierenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Die damit verbundenen Pflichten und Zwangsbefugnisse sind bei genauerer Betrachtung mit dem Verhältnis von Verfassungsorganen unvereinbar. Angesichts dessen kommt keine Zeugenvernehmung amtierender Regierungsmitglieder in Betracht; die Untersuchungsausschüsse können ausschließlich auf das Zitierrecht zurückgreifen, dem das Zutritts- und Rederecht der Regierungsmitglieder korrespondiert.747 Das bedeutendste Feld, auf dem sich insbesondere die Rechtsprechung an einer Stärkung des Untersuchungsrechts versucht hat, ist der Minderheitenschutz: 1978 wurde die Themenherrschaft der Einsetzungsminderheit bestätigt, freilich aber im vermeintlichen Wahrheitsinteresse auch wieder geschwächt. 2002 folgte die 744

s. 8. Teil 4. Kap. A. III. s. 8. Teil 4. Kap. B. 746 s. 8. Teil 4. Kap. C. 747 s. 8. Teil 4. Kap. C. III. 2. 745

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

Erstreckung des bestimmenden Einflusses der qualifizierten Minoritäten von der Einsetzung auf die Beweiserhebung. Interpretatorischer Leitstern dieser Verfassungsauslegung war  – wie schon für das Aktenvorlagerecht  – der Wunsch, eine wirkungsvolle parlamentarische Kontrolle zu ermöglichen; der Zweite Senat betonte ausdrücklich, dass die „verfassungsrechtliche Bedeutung des Minderheitenrechts“ in der „Sicherstellung dieser Kontrolle“ liege.748 Abgerundet wird die Entwicklung durch eine allgemeine Verrechtlichung des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens: Auf die Vorlage von Akten und anderen sächlichen Beweismitteln sollen die Untersuchungsausschüsse organstreitfähige Rechtsansprüche haben, denen auf der Seite der Bundesregierung kein Ermessen und kein Beurteilungsspielraum entsprechen sollen. Im Organstreitverfahren können sich der Untersuchungsausschuss oder seine qualifizierten Minderheiten gegen jede Weigerung oder Obstruktion durch Regierung und Verwaltung zur Wehr setzen. Auch Streitigkeiten zwischen Mehrheit und Minorität sind im Rahmen des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG möglich. Arrondiert werden die Rechtsschutzmöglichkeiten mittlerweile noch durch das Untersuchungsausschussgesetz, das eine Auffangzuständigkeit des BGH vorsieht.

5. Kapitel

Analyse und Kritik der synergetischen Fehlentwicklungen Im Prinzipiellen und für sich allein genommen, scheint sich gegen die Entwicklung des Enquête- und Untersuchungsrechts seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes nichts einwenden zu lassen: Einerseits wurde der Mehrheit ein größerer Einfluss bei der Einsetzung gesichert, um das Selbstinformationsrecht stärker auf eine vollständige und zutreffende Sachverhaltsermittlung hin zu justieren, andererseits das Minderheitenrecht im Interesse der Regierungskontrolle gestärkt und mit wirkungsvollen Rechtsschutzmechanismen versehen. Im Zusammenspiel ergeben sich aus diesen scheinbar positiven und sachgerechten Entwicklungen, man könnte sagen: missliche Synergieeffekte, die den Wesenskern des parlamentarischen Selbstinformationsrechts betreffen und einer Machtverschiebung im Konzert von Bundesregierung, Bundestag, Untersuchungsausschuss, Mehrheit, Minderheit und Opposition Vorschub leisten.

748 BVerfGE 49, 70 (85). In BVerfGE 105, 197 (222) heißt es unter Bezugnahme auf diesen Passus, dass das „Schwergewicht der Untersuchungen […] regelmäßig in der parlamentarischen Kontrolle von Regierung und Verwaltung“ liege. Zur Aktenvorlage s. BVerfGE 67, 100 (130): „Der Grundsatz der Gewaltenteilung […] gebietet gerade im Hinblick auf die starke Stellung der Regierung […] eine Auslegung des Grundgesetzes dahin, daß parlamentarische Kontrolle wirksam sein kann“ (Hervorhebung nur hier).

5. Kap.: Analyse der synergetischen Fehlentwicklungen

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A. Vier maßgebliche „Entwicklungsachsen“ Die Ursachen für die damit bloß knapp skizzierte Fehlentwicklung sind vier sowohl in der Rechtsprechung als auch dem Schrifttum auszumachende Hauptbestrebungen, denen die Evolution des Enquête- und Untersuchungsrechts seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes im Wesentlichen gefolgt ist.

1. Das Enquête- und Untersuchungsrecht als Kontrollinstrument Der Ausgangspunkt ist eine nahezu ausschließliche Betonung der Kontrollfunktion. Trotz wiederholter Lippenbekenntnisse zu einem thematisch offenen Selbstinformationsrecht, das der Volksvertretung im Sinne der Korollartheorie komplementär zu ihren materiellen Kompetenzen die Möglichkeit eröffnet, „unabhängig von Regierung, Behörden und Gerichten […] selbständig die Sachverhalte zu prüfen, die sie in Erfüllung ihres Verfassungsauftrags als Vertretung des Volkes für aufklärungsbedürftig halten“, verengte das BVerfG den Blickwinkel von Anfang an auf den unbestreitbar wichtigen, keineswegs aber ausschließlichen Aspekt der Regierungs- und Verwaltungskontrolle. Zwar ist seit der ersten Entscheidung von 1978 ausdrücklich bloß die Rede davon, dass das „Schwergewicht der Untersuchungen“ auf der Kontrollaufgabe liege;749 damit bliebe an sich noch Raum für andere Zwecke. Aber obwohl diese Passage bis heute mehrfach bestätigt wurde,750 tritt der Kontrollaspekt spätestens im „Flick“-Urteil beherrschend in den Vordergrund: Das BVerfG betont, dass das „parlamentarische Regierungssystem […] grundlegend […] durch die Kontrollfunktion […] geprägt“ werde und leitet alleine aus dieser Feststellung die Forderung ab, dass den Untersuchungsausschüssen ihre Befugnisausstattung „folgerichtig“ wenigstens eine wirksame „Klärung von Zweifeln an der ‚Gesetzlichkeit oder Lauterkeit von Regierungs- oder Verwaltungsmaßnahmen‘ (vgl. § 52 des Preuß’schen Entwurfs zur Weimarer Reichsverfassung […])“ ermöglichen müsse.751 Das Erstaunliche an dieser historischen Argumentation ist, dass sich Hugo Preuß mit der entsprechenden Forderung in den Weimarer Verfassungsberatungen nicht durchsetzen konnte.752 Gleichwohl leitet das BVerfG wegen des vermeintlichen Zuschnitts auf den Kontrollzweck hin aus den unscheinbaren Worten des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, dass ein Untersuchungsausschuss die „erforderlichen Beweise erhebt“, ein Aktenvorlagerecht gegenüber der Bundesregierung und sämtlichen ihr unterstehenden Behörden ab. Der Kontrollaspekt wird damit zum verbindlichen Leitstern einer extensiven teleologischen

749

BVerfGE 49, 70 (85) (Hervorhebung nur hier). BVerfGE 77, 1 (43); BVerfGE 105, 197 (222). 751 BVerfGE 67, 100 (130). 752 s. 7. Teil 2. Kap. A. II. 1. b) und 2. b). 750

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Verfassungsinterpretation, die vor dem Wortlaut nicht mehr halt macht;753 der Kontrollgedanke dominiert auch in anderen Entscheidungen, wie das schleswig-holsteinische, das „Flick“-Urteil, auch der „Neue Heimat“-Beschluss, das „Parteispenden“-Urteil oder der „BND“-Beschluss zeigen,754 unangefochten das Feld. Das Schrifttum hinterfragt diese Rechtsprechung überwiegend nicht kritisch, sondern charakterisiert Art. 44 GG ebenfalls als Ausdruck des Minderheitenschutzes um der wirkungsvollen Regierungskontrolle willen.755 Wenigstens wird teilweise betont, dass das „Untersuchungsrecht des Parlaments nicht auf seine Kontrollfunktion beschränkt werden“ darf, weil es „vor allem ein Selbstinformationsrecht des Parlaments“ ist (Dieter Wiefelspütz).756 Ungeachtet dessen wird die Enquêtefunktion vielfach nur als eher lästige Hinterlassenschaft des konstitutionellen Kampfes um Selbstinformation mitgeschleppt, während das politische Kontrollinstrument gegenüber Regierung und Verwaltung eindeutig im Zentrum der Überlegungen steht; vereinzelt werden „echte“ Enquêten auf der Grundlage von Art. 44 GG sogar ausdrücklich als unzulässig abgelehnt und ausschließlich dem zahnlosen Enquêterecht der Geschäftsordnung zugewiesen.757 Die parlamentarische Kontrollaufgabe ist für die Interpretation des Enquête- und Untersuchungsrechts also absolut maßgebend.758 Angesichts der Tatsache, dass die Enquêtefunktion in der Bundestagspraxis bisher nahezu keine Rolle gespielt hat, ist diese partielle Blindheit verständlich; richtiger wird die Verengung des Blickwinkels dadurch aber nicht. Die Gefahr einer Fehlinterpretation von Art. 44 GG beruht auf seinem offenen Wortlaut, der seinerseits dem Umstand geschuldet ist, dass das parlamentarische Selbstinformationsrecht die materiellen Bundestagsbefugnisse mit einem formellen Verfahrensrecht arrondiert, ohne irgendeine Aussage über dessen Sinn und Zweck zu treffen oder treffen zu müssen.759 Indem dieser Artikel deswegen jede ihm unterlegte Zielset 753

s. 8. Teil 4. Kap. C. III. 1. Vgl. BVerfGE 49, 70 (85 f.); BVerfGE 67, 100 (130); BVerfGE 77, 1 (48); BVerfGE 105, 197 (222); BVerfGE 124, 78 (114). 755 s. nur B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn.  1 ff.; ders., ZParl 2012, 831 ff.; L. Brocker, in: Glauben/ders., PUAG, 2011, Einl. Rn.  2, 8; M. Schröder, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 46 Rn. 4; M. Reinhardt, NVwZ 2014, 991 ff. m. w. N. 756 D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 28. 757 s. etwa H.  Meyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 4 Rn.  83 oder H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 f., 20 ff., 39 ff. Zu J. Masings Kritik s. 8. Teil 4. Kap. A. II. 2. 758 Insoweit erscheint der „Neue Heimat“-Beschluss bei genauerer Betrachtung nicht einmal als „echter“ Fremdkörper: Obwohl es nicht um Regierungs- und Verwaltungskontrolle geht, dringt das Gericht darauf, dass „Sinn und Zweck des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens […] eine Auslegung des Art. 44 GG dahin [verlangten], daß mit der Vorschrift die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine wirksame parlamentarische Kontrolle geschaffen“ würden. Die Untersuchung des Geschäftsgebahrens der „Neuen Heimat“, die mit erheblichen öffentlichen Förderungen dem sozialen Wohnungsbau nachging, fügt sich bei genauerer Betrachtung als Missstandsenquête in einem gemeinwohlrelevanten Bereich relativ bruchlos in das Bild eines Kontrollinstruments ein. Vgl. BVerfGE 77, 1 (48 f., 58 f.) (Hervorhebung nur hier). 759 Zu Recht spricht B. K. Buchholz, Betroffene, 1990, S. 21 davon, dass das Enquête- und Untersuchungsrecht „nur ‚Anhängsel‘ der parlamentarischen Kompetenzen“ sei. 754

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zung wie ein Schwamm aufsaugt, kann die einseitige Überhöhung einer seiner potentiellen Funktionen die teleologische Auslegung jeder Anwendungsfacette dominieren.760 Sachgerecht ist eine solche Auslegung, die lediglich einseitig einen Teilaspekt der betreffenden Norm in den Blick nimmt, natürlich nicht; ihre Ergebnisse werden den anderen Funktionen nicht gerecht. So wird es auch erklärlich, dass das Aktenvorlagerecht aus Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG als unmittelbarer Ausdruck der parlamentarischen Regierungsverantwortung bloß bei Kontrollenquêten, nicht aber bei anderen Gelegenheiten zum Zuge kommen soll.761 Mit diesen einseitigen Grundprämissen schreiben Rechtsprechung und Wissenschaft die in den Konflikten der Weimarer Zeit entstandene Tendenz fort, das Selbstinformationsrecht ausschließlich als Kampfmittel gegen die Regierung und ihre parlamentarische Basis zu begreifen. Von diesem Blickwinkel aus verliert man aber einerseits die Enquêtefunktion des Art. 44 GG aus den Augen; andererseits führt die ausschließliche Fokussierung auf den vermeintlichen Kontrollzweck eines in Wahrheit offenen Hilfsrechts zu dessen einseitiger teleologischer Interpretation, die sowohl die Untersuchungsbefugnisse als auch die Reichweite des Minderheitenrechts betrifft. Die Überbetonung der politischen Kontrolle wird damit zum initialen Fehler bei diesem ahistorischen Neuzuschnitt des Art. 44 GG in Rechtsprechung und Schrifttum.

II. Verobjektivierungstendenzen In einem engen Zusammenhang damit steht die Tendenz zur Verobjektivierung des parlamentarischen Selbstinformationsrechts in Rechtsprechung und Schrifttum. Dieser Aspekt ist in einen grundsätzlichen und vorwiegend de constitutione ferenda geführten Richtungsstreit eingebettet, den Ute Mager treffend so umschrieben hat, dass die „einen […] den Einsatz als politisches Kampfinstrument [bejahen] und […] im Blick auf die Aufgabe der Tatsachenermittlung dessen zielführende Ausgestaltung“ fordern, während „[a]ndere […] von vornherein in der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung […] einen grundlegenden Strukturmangel“ sehen, indem „in den Untersuchungsausschüssen nach ihrer Zusammensetzung parlamentarische Parteilichkeit herrsche, ihnen andererseits Ermittlungsbefugnisse zustünden“, die im Rechtsstaat sonst dazu dienten, „den wahren Sachver 760

Anschauungsmaterial für diesen Effekt bieten die Erwägungen von B. Peters, ZParl 2012, 831 ff.: S. 831 f. folgt die übliche Charakterisierung als Kontrollinstrument, das zwangsläufig in den Händen der Minderheit liegen müsse; in der Konsequenz müssten Minderheitenrechte im Interesse der Funktionsfähigkeit der Kontrolle auch in der „Durchführungsebene“ bestehen. S. 835 ff. folgt dann die Forderung einer Mitherrschaft über das gesamte Untersuchungsverfahren, soweit die betreffende „Konfliktkonstellation vom Grundsatz her unter den Minderheitenschutz“ falle. Das soll dem Resümee S. 853 zufolge der Fall sein, „wenn das Verfahrensrecht auf die inhaltliche Erfüllung des Untersuchungsauftrags ausstrahlen“ kann. 761 Vgl. 8. Teil 4. Kap. C. III. 1. b) und c).

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halt zu ermitteln, um darauf gegründet ein gerechtes Urteil zu finden“.762 Zwischen diesen beiden Polen gewissermaßen unentschieden schwankend, nahm die eigentümliche Verobjektivierung des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsverfahrens 1978 ihren Anfang, als das BVerfG der parlamentarischen Mehrheit gestattete, den Einsetzungsantrag gegen den Willen der Antragsteller abzuändern, um ein „umfassenderes – und wirklichkeitsgetreueres – Bild des angeblichen Mißstandes“ zu zeichnen. Das Gericht war der Überzeugung, dass das Untersuchungsverfahren ohne ein solches Nachbesserungsrecht „seinen Sinn [verliere], wenn der Ausschuß den zu überprüfenden Sachverhalt von vornherein nur unter einem eingeengten Blickwinkel [untersuchen…] und damit dem Parlament – und auch der Öffentlichkeit – allenfalls eine verzerrte Darstellung“ liefern könne.763 Das Selbstinformationsrecht, dessen genuin parteipolitische Einfärbung die Verfassungsgeschichte zur Genüge unter Beweis gestellt hat, wird auf diese Weise vordergründig zu einem pseudoobjektiven Instrument „richtiger“ Sachverhaltsaufklärung und -darstellung verklärt. Ein genauerer Blick macht deutlich, dass das BVerfG den politischen Willen der oppositionellen Minderheit, den Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG in Übereinstimmung mit Max Webers ursprünglicher Konzeption ausreichen lassen sollte, wenigstens zum Teil durch die vermeintlich überlegene Beurteilung der parlamentarischen Mehrheit und damit ausgerechnet des politischen Gegners der Antragsteller ersetzt. Mit der sonst allgegenwärtigen Sorge, dass das Enquête- und Untersuchungsrecht seinem Kontrollzweck nicht genügen könne, ist diese frühe Entscheidung inkompatibel. Im Kontext der Kontrollfunktion tritt die Verobjektivierungstendenz ein weiteres Mal, aber subtiler in Erscheinung. Das BVerfG rückt im „Flick“-Urteil mit der Nachprüfung der „Gesetzlichkeit und Lauterkeit von Regierungs- und Ver­ waltungsmaßnahmen“ zwei wenigstens pseudo-objektive Maßstäbe in den Vordergrund: Für die „Gesetzlichkeit“ ist diese Qualifikation evident; die Lauterkeit tritt aber mit einem vergleichbaren Anspruch auf, indem ein Verhalten, das – wie z. B. Korruption oder Vetternwirtschaft – das Prädikat „unlauter“ verdient, zumeist auch ungesetzlich ist.764 Im Regelfall ist die Reihung also tautologisch. Andernfalls ist mit diesem Verdikt wenigstens ein ethisch-moralischer Vorwurf verbunden. Beide Begriffe justieren das Untersuchungsrecht also nicht auf eine politische Kritik und Zweckmäßigkeitskontrolle, die doch gerade parlamentarisch-oppositionelle Aufgabe wären, sondern richten es auf die investigative Aufklärung eines nach rechtlichen oder verwandten Maßstäben erheblichen Fehlverhaltens aus. Das parlamentarische Untersuchungsverfahren wird mit Hilfe dieser vermeintlich objektiveren 762

U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (601). BVerfGE 49, 70 (87 f.). 764 Vgl. BVerfGE 67, 100 (141): „Gälte […] das Steuergeheimnis auch gegenüber dem Untersuchungsausschuß uneingeschränkt, so wäre ein gegen Angriffe auf die Lauterkeit und Unbestechlichkeit [!] der Exekutive besonders empfindlicher Bereich von der parlamentarischen Kontrolle ausgeschlossen. Ein solches Ergebnis wäre unvereinbar mit den Rechten des Bundestages gegenüber der Regierung“ (Hervorhebung nur hier). 763

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und rationaleren Maßstäbe scheinbar dem gerichtlichen Verfahren angenähert, obwohl das BVerfG in anderem Zusammenhang zu Recht betont, dass es „anderen Zielen als ein Strafverfahren“ dient.765 Diese pseudo-objektive Zweckdeutung eines von Natur aus in Wahrheit durch und durch politischen Instruments schlägt zwangsläufig auf die Interpretation des Art.  44 GG durch. Die Konsequenzen treffen unter entgegengesetzten Vor­ zeichen sowohl das Einsetzungsrecht als auch die Untersuchungsbefugnisse: Während der Zweite Senat in der schleswig-holsteinischen Entscheidung im Interesse einer „richtigeren“ Untersuchung eine Möglichkeit zur partiellen Majorisierung der Einsetzungsminderheit anerkennt, bemisst das „Flick“-Urteil die Ausschussbefugnisse danach, ob sich mit ihrer Hilfe die Gesetzlichkeit und Lauterkeit wirkungsvoll untersuchen lassen. Die Folgen der teilweisen Umdeutung des an sich politischen Untersuchungsrechts schlagen sich also einerseits in einem das Minderheitenrecht schmälernden Mehrheitseinfluss und andererseits in weitergehenden Rechtsansprüchen der Untersuchungsausschüsse gegenüber der Regierung nieder.

III. Hypertrophie der Minderheitenrechte Die neuere Rechtsprechung hat sich von diesen Überlegungen nicht ausdrücklich distanziert. Dennoch tendiert sie – jedenfalls was die „potentiell einsetzungsberechtigten“ Ausschussminderheiten anbetrifft766  – zu einer Überbetonung der Minderheitenrechte im Untersuchungsverfahren, die in letzter Konsequenz dazu führt, dass alle Stärkungen des pseudoobjektiven Untersuchungsrechts den Minderheiten zugute kommen. Im Schrifttum wird der Ansatz bisweilen dankbar aufgenommen und das Minderheitenrecht damit zum Leitmotiv bei der Auslegung des Verfahrensrechts.767 Dennoch steht die Position der Rechtsprechung nicht nur im Konflikt mit dem Wortlaut des Art. 44 GG, der die Minderheit im Einsetzungsstadium ausdrücklich schützt, ihr dagegen in der Durchführungsphase kein Wort widmet, sondern ist in sich widersprüchlich. Die Ursache dieser bedenklichen Hypertrophie der Minderheitenrechte ist neben der Missdeutung des Art. 44 GG als ausschließliches Kontrollinstrument die an sich zutreffende Analyse, dass die Kontrolle der Bundesregierung eher im Interesse der oppositionellen Minderheiten als der Regierungsmehrheit liegt;768 ihre verfassungsgeschichtliche Grundlage ist wiederum die völlige Umkehrung der Machtverhältnisse gegenüber dem Konsti­

765

BVerfGE 124, 78 (116). s. 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. b) cc). 767 s. B. Peters, ZParl 2012, 831 (835 ff.). 768 Vgl. nur M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 11; P. M. Huber, in: HdbStR III3 2005, § 47 Rn. 29 ff.; B. Peters, ZParl 2012, 831 f.; K.-A. Schwarz, ZRP 2013, 226 (227); P. Cancik, NVwZ 2014, 18 (19 f.); A. Seidel, BayVBl 2002, 97 (98). 766

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tutionalismus.769 Als erste Konsequenz sprach das BVerfG der Einsetzungsminderheit – noch in Übereinstimmung mit Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG – 1978 prinzipiell die Themenhoheit über den Untersuchungsauftrag zu.770 Im „Parteispenden“-Urteil stellte der Zweite Senat einen entsprechenden historischen Exkurs 2002 in den Dienst extensiver Verfahrensrechte jeder qualifizierten Ausschussminderheit. Die Überbetonung der Minderheit klingt überdeutlich in der Feststellung an, dass sich das Untersuchungsrecht „maßgeblich zu einem Recht der Opposition auf Sachverhaltsaufklärung unabhängig von der Regierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit entwickelt“ habe.771 Indem das BVerfG die damit naheliegende Frage ausblendet, welches Instrument dann aber dieser Mehrheit noch zur parlamentarischen Selbstinformation bleiben soll, führt seine Position gleichsam zu ihrer informationsrechtlichen Teil­ enteignung. Der Zweite Senat löst die zu Recht auch für das Untersuchungsverfahren unterstellte „Spannung zwischen Mehrheit und qualifizierter Minderheit“ einseitig zugunsten der Minoritäten auf, indem er den Ausschussminderheiten, die nicht mehr als ein Viertel der Mitglieder des Bundestages zu repräsentieren brauchen, einen Mitwirkungsanspruch überantworten will, der dem der übrigen 75 v. H. der Abgeordneten gleichsteht.772 Misslicherweise gerät dabei die eigentliche Bedeutung des Art. 44 GG als universelles Selbstinformationsrecht des Parlaments, das im Interesse des Minderheitenschutzes auch einem Viertel zusteht, partiell aus dem Blick. Welche Ausmaße die Rechte der Minderheiten in der Praxis annehmen können, lässt sich an der Tätigkeit des nach dem „Parteispenden“-Urteil eingesetzten „BND“-Untersuchungsausschusses ablesen: Dem Abschlussbericht zufolge „wurde auf Antrag der Opposition beschlossen, dass über 500 Personen Zeugen sein soll[t]en“. Obwohl über 80 v.  H. dieser potentiellen Auskunftspersonen nicht gehört wurden, „weil die Opposition auf deren Vernehmung offensichtlich keinen Wert legte“, kritisierte die Ausschussmehrheit diesen extensiven Gebrauch des Beweisantragsrechts und mahnte, das Minderheitenrecht künftig „gemäßigt auszuüben.“ Abschließend äußerte sie den Wunsch eines „verantwortungsvollen Umgangs mit Rechten des Untersuchungsausschusses und insbesondere der Minderheitenrechte“. Obwohl die Mehrheit noch keine „Notwendigkeit für Gesetzesänderungen“ sah, deren Erfolgsaussichten vor dem Hintergrund der Rechtsprechung ohnehin zweifelhaft sein dürften, forderte sie, „Minderheitenrechte einerseits und effizientes Arbeiten andererseits“ künftig besser miteinan 769

In diesem Sinne konstatierte BVerfGE 49, 70 (85 f.), dass sich das „ursprüngliche Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Regierung, wie es in der konstitutionellen Monarchie bestand[en habe, …] in der parlamentarischen Demokratie, deren Parlamentsmehrheit regelmäßig die Regierung [trage…], gewandelt“ habe. Indem das „politische Spannungsverhältnis zwischen der Regierung und den sie tragenden Parlamentsfraktionen einerseits und der Oppo­ sition andererseits“ bestehe, kontrolliere „in erster Linie“ die Opposition die Regierung. s. aus dem Schrifttum etwa A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 16 f. 770 BVerfGE 49, 70 (86 ff.). 771 BVerfGE 105, 197 (222 f.) und passim. 772 BVerfGE 105, 197 (222 ff.).

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der „in Einklang zu bringen“.773 Angesichts der Arbeitsstatistik – die Opposition spricht von „nahezu 600 Beweisanträgen“,774 so dass umgelegt auf die 65 Beratungssitzungen pro Sitzung gut neun Anträge gestellt worden sein müssen775 – werden diese Hoffnungen verständlich. Ihre extensiv verstandenen Rechte ermöglichen es den Minderheiten, jede parteipolitisch unangenehme Mehrheitsenquête obstruktiv lahmzulegen. Dass die Ausschussmehrheit sachwidrige Anträge abweisen können soll, hilft angesichts des damit gleichwohl verbundenen Aufwands und der „Gefahr“ gerichtlicher Kontrolle wenig. Die Stärkung der Minderheiten im Untersuchungsverfahren geht unmittelbar zu Lasten der parlamentarisch-demokratischen Mehrheit, die ihre Vorstellungen von einer parteipolitisch sachgerechten Aufarbeitung des betreffenden Sachverhalts jedenfalls nicht mehr vollständig gegen die Minderheit durchsetzen kann.776 Die unbestreitbare Ursache dieser bedenklichen Entwicklung ist die Überbetonung des Kontrollaspekts als Leitmotiv jeder Auslegung des Art. 44 GG.

IV. Verrechtlichung und Juridifizierung eines politischen Rechts 1964 hat Horst Ehmke auf dem 45. Deutschen Juristentag davor gewarnt, „daß man das parlamentarische Untersuchungsverfahren nicht durch ausgedehnte Zuständigkeiten der Verfassungsgerichte zum Schutze der Minderheit juridifizieren sollte“, weil man sie andernfalls „ebensogut gleich den Verfassungsgerichten übertragen“ könne.777 In jüngster Zeit hat Pascale Cancik vor einer zunehmenden Juridifizierung des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens gewarnt, bei der die Verfassungsgerichte – aufgrund materieller Maßstäbe – zu sehr in die politische Auseinandersetzung hineingezogen werden oder den politischen Prozess gefährden könnten.778 Trotzdem haben die Kontrollhypertrophie, die Verobjektivierung und die Ausdehnung der Minderheitenrechte zwangsläufig eine Verrechtlichungstendenz im Schlepptau. Konnten übergangene Minderheiten in vorkonstitutionellen Tagen bloß an das Plenum oder an die Öffentlichkeit appellieren, um eine gouvernementale Mehrheit zur Raison zu bringen, steht ihnen jetzt für beinahe jede Petitesse der Gang nach Karlsruhe offen.779 Das parlamentarische Selbstinforma­ 773

BT-Drs. 16/13400, S. 420 f. BT-Drs. 16/13400, S. 478. 775 Zur Zahl der Beratungssitzungen s. BT-Drs. 16/13400, S. 46. 776 Zum Ganzen s. 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. b). 777 H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E45 f.). Gründe waren die Sorge, langwierige Rechtsschutzverfahren könnten den Untersuchungsausschuss lahmlegen und die Gerichte in die politische Auseinandersetzung hineinziehen. 778 P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (258 f., 260, 272). 779 Zu Rechtsschutzmöglichkeiten der Minderheit vgl. K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ders. (Hg.), PUAG, 2015, § 36 Rn.  5. s.  zu dieser prozessualen Seite ferner BVerfGE 67, 100 (123 ff.); BVerfGE 105, 197 (219 ff.); BVerfGE 124, 78 (104 ff.). 774

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tionsrecht hat seinen politischen Charakter als Instrument zur Information ohne Mitwirkung der Regierung dadurch (teilweise) eingebüßt. Die zitierten Sorgen um die Eigenständigkeit des politischen Prozesses sind berechtigt. Im „Flick“-Urteil hat das BVerfG in diesem Sinne am Beispiel der Aktenüberlassung vorexerziert, dass es in der Frage einer Kooperation mit dem Ausschuss kein politisches Ermessen der Bundesregierung geben dürfe. Eine für die Regierungsseite mildere Deutung des Vorlageanspruchs „als Inanspruchnahme von Amtshilfe“ lehnte der Zweite Senat ausdrücklich ab. Grundlage dieser Vorfestlegung war eine Auslegung von Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG unter „verfassungssystematische[n] Gesichtspunkten“, die nicht nur starke teleologische Züge trägt, indem sie vor allem auf eine tatsächlich wirksame parlamentarische Kontrolle ausgerichtet ist,780 sondern angesichts des Wortlauts dieser Vorschrift nur als richterliche Dezision zu werten ist. Wie es Walter Lewald in den 1920er Jahren für eine Interpretation von Art. 34 RVerf 1919 als parlamentarisches „Oberaufsichtsrecht“ verlangt hatte,781 orientierte sich das BVerfG bei seinem Spruch statt an dem vermeintlich unzureichenden Wortlaut von Art. 44 GG an nebulösen verfassungspolitischen Grundentscheidungen des Grundgesetzes. Auf genuin politische Konfliktbeilegungsmechanismen, etwa den Druck der Öffentlichkeit, den jeder plausible Vertuschungsvorwurf unweigerlich auslöst, mag das Gericht für den Informationsstreit zwischen Regierung und Untersuchungsausschuss nicht mehr vertrauen; andere als rechtliche Möglichkeiten werden überhaupt nicht thematisiert. Im „BND“-Beschluss folgen parallele Überlegungen für die Aussagegenehmigung: Unter Bezugnahme auf die bisherige Rechtsprechung betont der Senat ein weiteres Mal, dass das Untersuchungsrecht „zu den ältesten und wichtigsten Rechten des Parlaments“ gehöre. Wieder soll sich die Auslegung daran orientieren, dass das Grundgesetz und das Untersuchungsausschussgesetz die „Voraussetzungen für eine wirksame parlamentarische Kontrolle schaffen soll[t]en“.782 Im Interesse der Kontrollfunktion wird die Bundesregierung „vorbehaltlich verfassungsrechtlicher Grenzen zur Erteilung der erforderlichen Aussagegenehmigung verpflichtet“. Jedes politische Ermessen spricht ihr das Gericht ebenso wie einen Beurteilungsspielraum kategorisch ab.783 Wie bei der Aktenvorlage geht es um durchsetzbare Rechte des Untersuchungsausschusses. Für diese stark verrechtlichenden Rechtsprechungstendenzen784 dürfte die 1978 angesprochene These ausschlaggebend sein, dass die Bundestagsmehrheit, weil 780

BVerfGE 67, 100 (127 ff.). s. 7. Teil 3. Kap. A. III. 782 BVerfGE 124, 78 (114). 783 BVerfGE 124, 78 (117 f.). 784 Dem Schrifttum ging diese Verrechtlichung teilweise noch nicht weit genug: Gegenüber dem „Flick“-Urteil wurde kritisiert, dass es für die den „beteiligten Verfassungsorganen und ihren Hilfsorganen aufgegebene[n] Abwägungen“ doch „zu wenig präzise konkrete Leitlinien“ festschreibe, so dass sein „Steuerungs- und Befriedungswert“ gering wäre. „[S]tatt […] der Staatspraxis sehr pragmatisch […] eine Verständigung über etwa nötige Geheimschutzvorkeh 781

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die parlamentarische Regierung mit den Worten Leo Wittmayers „Fleisch vom Fleisch, […] Blut vom Blut“ der Volksvertretung ist,785 zu einer wirkungsvollen Kontrolle weder bereit noch in der Lage ist.786 Folgerichtig müssen, interpretiert man Art.  44 GG ausschließlich kontrollbezogen, zum einen die Befugnisse der Untersuchungsausschüsse gegenüber der Regierung und zum anderen die Mitwirkungsmöglichkeiten der Minderheit im Untersuchungsverfahren als Rechtsansprüche ausgestaltet sein, damit das minoritär-parlamentarische Instrument wirksam werden kann. Dementsprechend beginnen die Passagen des „Parteispenden“-Urteils, die der Minderheit im Interesse der Wirksamkeit des gleichwohl dem Gesamtparlament zugerechneten Kontrollinstruments einen gleichgewichtigen Mitwirkungsanspruch verschaffen,787 mit der parlamentarischen Regierungskontrolle und ihrem Übergang auf die Minderheit durch den Systemwechsel zur parlamentarischen Demokratie.788 Die zwangsläufige Folge jeder Verrechtlichung ist die Juridifizierung; das Enquête- und Untersuchungsrecht stellt insoweit keine Ausnahme dar. Indem das BVerfG den Untersuchungsausschüssen gegenüber der Regierung sowie den Plenar- oder Ausschussminoritäten gegenüber den jeweiligen Mehrheiten verschiedene organstreitfähige Rechte einräumt, diese aber im Interesse der Verpflichteten wiederum Kautelen unterwirft, schafft es die Grundlage neuer Auseinandersetzungen, die letzten Endes gerichtlich ausgetragen werden können. Die parteipolitische Konfrontation wird damit von der parlamentarischen Bühne vor das Forum eines Gerichts verlegt. Die publikumswirksame „Anklage“ vor dem „obersten Tribunal der öffentlichen Meinung“,789 die im konstitutionellen Preußen etwa den Minister Heinrich v. Itzenplitz das Amt gekostet hat,790 wird durch das Organstreitverfahren verdrängt. Indem die informationsrechtlichen Auseinandersetzungen nicht mehr parlamentarisch, sondern vor dem BVerfG ausgetragen werden, wird die genuin politische Entscheidung dieser Streitfragen auf die Justiz verlagert. Zwar geht es vordergründig bloß um formelle bzw. um Verfahrensfragen. Bedenkt man aber, dass sich der Sinn und Zweck eines Untersuchungsverfahrens oft genug in seiner Durchführung erschöpft, lässt sich ihre Bedeutung kaum leugnen. Eine rungen aufzugeben“, habe das Gericht besser „gewisse erste Rechtsgrundsätze aufgestellt“. s. H. Bogs, JZ 1985, 112 (112, 115, 118 f.), der bemerkenswerterweise trotzdem im Hinblick auf die – seiner Meinung nach vernachlässigte – Entwicklung des „aktuelle[n] Verfassungsrechtsprinzip[s] des Oppositionsschutzes“ vor „[u]nangemessenen Juridifizierungen und vor allem Justitiabilisierungen des parlamentarischen Betriebs“ warnt. 785 L. Wittmayer, WRV, 1922, S. 320. 786 Vgl. BVerfGE 49, 70 (85 f.) und BVerfGE 105, 197 (222 f.) oder M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 11; P. M. Huber, in: HdbStR III3 2005, § 47 Rn. 29 ff.; B. Peters, ZParl 2012, 831 f.; K.-A. Schwarz, ZRP 2013, 226 (227); P. Cancik, NVwZ 2014, 18 (19 f.); A. ­Seidel, BayVBl 2002, 97 (98). 787 BVerfGE 105, 197 (220). s. auch BVerfGE 124, 78 (114) m. w. N. aus der Rspr. 788 BVerfGE 105, 197 (222 f.). 789 Vgl. Peter Reichensperger, VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 180. 790 s. 5. Teil 3. Kap. E. VII.

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Verrechtlichung und Juridifizierung an sich politischer Vorgänge birgt auch immer die Gefahr einer Instrumentalisierung der Gerichte für die parteipolitische Auseinandersetzung. In diesem Sinne zeigte sich die Opposition etwa im „BND“-Untersuchungsausschuss gänzlich davon unbeeindruckt, dass ihre Anträge an den Ermittlungsrichter unzulässig waren und warf der Mehrheit die Missachtung ihrer Rechte, ja selbst der Gerichte vor.791 Anscheinend erspürt das BVerfG diese Gefahren wenigstens im Ansatz und versucht, dem politischen Charakter des Enquête- und Untersuchungsrechts bzw. des Untersuchungsverfahrens mit einer maßvollen Rücknahme seiner Kontrolle zu begegnen: Auf diesem Umweg erfährt das gebeutelte Einsetzungsrecht der qualifizierten Minderheit gegenüber der Abänderungsbefugnis der Mehrheit eine gewisse Rückaufwertung, wenn das Gericht verlangt, dass die Voraussetzungen für eine Erweiterung des Untersuchungsauftrags „offen zu Tage liegen“ müssten.792 Das BVerfG beschränkt die gerichtliche Überprüfung der Ablehnung eines Beweisantrags ebenfalls im Interesse einer Zähmung der Minderheitenrechte, aber sicherlich auch zur Stärkung der Ausschussmehrheit auf die Frage, „ob die Begründung […] nachvollziehbar und der Wertungsrahmen insbesondere bei der Auslegung des Untersuchungsauftrags in vertretbarer Weise ausgefüllt worden ist“. Diese judikative Zurückhaltung wird ausdrücklich mit der notwendigen „Rücksicht auf die parlamentarische Autonomie und die besondere Natur des Untersuchungsverfahrens als Aufklärungsinstrument im Rahmen der politischen Kontroverse“ begründet.793 Trotzdem sollen (Schein-)Objektivität und Minderheitenschutz offenkundig das Untersuchungsverfahren regieren, indem das BVerfG die Ablehnungsmöglichkeiten ihrerseits wieder auf den Fall beschränkt, dass die „Minderheit die ihr zustehenden Rechte sachwidrig aus[ge]übt“ hat, indem eine „beantragte Beweiserhebung außerhalb des Untersuchungsauftrags liegt oder rechtswidrig ist[,  …] lediglich der Verzögerung dient oder offensichtlich missbräuchlich ist“.794

B. Kritik: Wesensänderung und Machtverschiebung Gemeinsam führen diese Entwicklungen und Tendenzen zu drei Konsequenzen: Das Enquête- und Untersuchungsrechts büßt sowohl seinen Charakter als universales Selbstinformationsinstrument als auch als Feld parteipolitischer Auseinandersetzung ein. Zu guter Letzt spielen Kontrollfixiertheit, Minderheitenschutz, 791 Vgl. das Sondervotum der FDP-Fraktion, die der Mehrheit, die eine endgültige Entscheidung abwarten wollte, eine „Missachtung des Bundesgerichtshofes“ vorwarf, weil die Beschwerde gegen den unstreitig fehlerhaften Beschluss keine aufschiebende Wirkung gehabt habe (BT-Drs. 16/13400, S. 476 f.). 792 BVerfGE 49, 70 (88). 793 BVerfGE 105, 197 (Ls. 4, S. 222, 225 f.). 794 BVerfGE 105, 197 (225). s. ausführlich zu diesen Kriterien B. Peters, ZParl 2012, 831 (844 ff.).

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Verrechtlichungs- und Juridifizierungstendenz nahezu sämtliche Trümpfe ausschließlich den oppositionellen Minderheiten in die Hände.

I. Verleugnung der Enquêtefunktion Ungeachtet der Bedeutung, die einem parlamentarischen Selbstinformationsrecht als Instrument der Regierungskontrolle, aber auch als Kampfmittel in der parteipolitischen Auseinandersetzung unbestreitbar zukommt, sollte man Art. 44 GG nicht auf diesen Nenner reduzieren. Dass das parlamentarische Selbstinformationsrecht auch zu anderen Zwecken als der prinzipalen Exekutivkontrolle dienen soll, legt das Einsetzungsrecht der Mehrheit nach Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG nahe. Auch das Minderheitenrecht ist in diesem Kontext kein systemwidriger Fremdkörper. Vielmehr kann auch die Opposition, also die von der Verfassung im selben Atemzug besonders geschützte Minderheit, für sachpolitische Ziele ebenfalls auf ein Enquêterecht angewiesen sein; schließlich ist es ihre Aufgabe, neben Personalauch sachpolitische Alternativen zu entwickeln.795 Zugunsten gesetzesvorbereitender Enquêten lässt sich außerdem ein Verständnis der Gesetzgebung des Bundestags als präventive contre rôle gegenüber der zweiten Gewalt anführen.796 Welche politische Bedeutung selbst scheinbar harmlose Sachstandserhebungen über kontroverse Sachverhalte haben können, verdeutlichen nicht nur die Sachverständigenanhörungen über den Pressgesetzentwurf der Regierung Manteuffel, sondern auch die verschiedenen Sozial- und Wirtschaftsenquêten, die den preußischen Kammern auch zur kritischen Auseinandersetzung mit der Regierungs­politik gedient haben.797 Auch jenseits solcher verkappter Kontrollmechanismen käme ein Verlust des Enquêterechts im engeren Sinne den Bundestag teuer zu stehen, indem er dann jenseits von Regierungs- und Verwaltungskontrolle – wie die Volksvertretungen konstitutioneller Tage – auf das „natürliche Enquêterecht“, das sich heute beispielsweise in den Ausschussanhörungen nach § 70 GO-BT äußert, angewiesen wäre. Bei normativer Betrachtung bedeutete der Verlust seines zwangsbewehrten Enquêterechts, auch wenn es bislang nicht häufig zum Einsatz gekommen ist, eine drastische Schwächung des zentralen demokratischen Verfassungsorgans. In diesem Kontext ist an einen Ausspruch des damaligen Bundestagsdirektors Joseph Bücker zu erinnern, dass der Information „[i]m Verhältnis von Parlament und Regierung“ eine „grundlegende Bedeutung zu[komme]: Information [sei…] Herrschaftswissen, sie [habe…] die Auswirkung von Machtzuweisung und Machterhaltung“; der „politische Stellenwert des Parlaments gegenüber der Regierung – aber auch gegenüber Öffentlichkeit und Wählern – [hänge…] entscheidend […] davon ab, ob das Parlament […] über die zur Erfüllung [seiner…] Aufgaben notwendigen Infor 795

s. Fußn. 316. N. Achterberg, ParlR, 1984, S. 411 ff. 797 s. 5. Teil 3. Kap. A. II. und B. I. 796

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mationen“ verfüge.798 Dass eine freiwillige Informationsbeschaffung nicht unter allen Umständen ausreicht, um eine parlamentarische Entscheidung sachgerecht vorzubereiten, belegen Forderungen der Enquete-Kommission Verfassungsreform, die u. a. dafür eintrat, den Enquêtekommissionen des Bundestages in der Verfassung und in einem speziellen Ausführungsgesetz „relativ weitreichende[r] Untersuchungsbefugnisse“ einzuräumen.799

II. Vernachlässigung des genuin politischen Wesens Besonders gravierende Auswirkungen hat die dem Enquête- und Untersu­ chungsrecht wider seine politische Natur aufgezwungene Verobjektivierung. Das parlamentarische Selbstinformationsrecht war von seinen ersten Anfängen im revolutionären Frankfurt und Berlin an kein sachlich-objektives Instrument. Unabhängig davon, ob es vordergründig um Sachstandsermittlung, Gesetzesvorbereitung oder um Exekutivkontrolle ging, wirkte die politische Auseinandersetzung der parlamentarisch-oppositionellen mit der gouvernementalen Seite wenigstens unterschwellig mit.800 An diesem politischen Charakter hat sich bis heute nichts geändert. Aus moderner Perspektive hat Hans-Peter Schneider diesen Sachverhalt zum Inkrafttreten des Untersuchungsausschussgesetzes besonders deutlich dahin auf den Punkt gebracht, dass die Untersuchungsausschüsse „[v]on ihrer Zielrichtung her […] vor allem Instrumente des politischen Kampfs“ seien, die eine „Fortsetzung des demokratischen Meinungsstreits durch Nachforschungen im unmittelbaren oder mittelbaren Verantwortungsbereich des politischen Gegners“ ermöglichten. Hinter diesem politischen Anliegen trete „ihr objektiver Charakter als Forum zur Aufklärung von Sachverhalten zumeist in den Hintergrund“, so dass es „zumindest problematisch, wenn nicht verfehlt [sei], hierbei von ‚Wahrheitsfindung‘ zu sprechen“. Statt um „Wahrheit“ gehe es um „Klarheit“, „Aufklärung“ und „Publizität“. Eine parlamentarische Untersuchung diene überhaupt nicht dazu, „herauszufinden, wie es wirklich“ war, sondern habe lediglich den Zweck, einen mutmaßlichen „Skandal“ oder „Missstand“, „aufzuklären und zu veröffentlichen, um auf diese Weise politische Verantwortung realisieren zu können und parlamentarische Kontrolle zu ermöglichen“.801 Weniger drastisch ist bei Dieter Wiefelspütz zu lesen, dass eine „parlamentarische Untersuchung […] eine genuin politische und damit auch parteiische Veranstaltung [ist], in deren Mittelpunkt die politisch-parlamentarische Auseinandersetzung […] steht“; nicht zu Unrecht kritisiert er, dass diese Tatsache „von einer idealisierenden, parlamentsfernen Betrachtungsweise häufig verkannt

798

J. Bücker, ZG 1989, 97. BT-Drs. 7/5924, S. 58 ff. 800 s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 2., 2. Kap. D. III., IV. sowie 5. Teil 3. Kap. 801 H.-P. Schneider, NJW 2001, 2604 (2605). 799

5. Kap.: Analyse der synergetischen Fehlentwicklungen

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wurde und wird“.802 2002 wies Ute Mager darauf hin, dass die Ausgestaltung des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG als Minderheitenrecht verhindere, dass seine „Funktion in sich stimmig […] in der gerichtsartigen Ermittlung ‚objektiver Wahrheit‘ gesehen werden“ könne. Während „Meinungsverschiedenheiten der Richter über Beweiswürdigung, Verständnis und Bedeutung von Tatsachen“ im Strafprozess dem Beratungsgeheimnis unterlägen, um nach außen ein eindeutiges Ergebnis zu präsentieren, bestehe der „Zweck des Untersuchungsausschussverfahrens“ gerade in der „Ausübung politischer Kontrolle“ durch die „Herstellung von Publizität“ und den Anstoß zu einer öffentlichen Diskussion. Kurzum: Das „Untersuchungsverfahren [sei…] eine politisch-parlamentarische Debatte um die Ermittlung und um die politische Interpretation von Tatsachen“, deren „Funktion […] es [sei], Öffentlichkeit über Tatsachen im Wege politischer Auseinandersetzung herzustellen“.803 Susann Bräcklein unterstellt zwar prinzipiell, dass es um „Wahrheitsfindung“ geht, betont andererseits aber, dass sich die parlamentarische Variante dieser Aufgabe durch ihren politischen Charakter von der Rechtsprechung unterscheide: Während sich der „Wahrheitsfindungsprozess“ vor Gericht an einem gesetzlichen Tatbestand orientiere, müsse im Untersuchungsverfahren zunächst vor dem Richterstuhl der öffentlichen Meinung um den Maßstab politischer Richtigkeit gerungen werden. Dennoch schöpften beide Verfahren ihre „Überzeugungskraft“ aus den „logischen Denkgesetzen, denen die Beweisführung“ folge.804 Auch andere Autoren erkennen an, dass das politische Wesen des Art. 44 GG bisweilen über den Zweck als „herkömmliches Instrument zur sachorientierten Wahrheitsfindung“ triumphiert.805 Auch das BVerfG legt seinen Überlegungen  – den Verobjektivierungstendenzen zum Trotz  – grundsätzlich einen politischen Charakter des Selbstinforma­ tionsrechts zugrunde, indem es die Spannung zwischen Opposition und Regierung als das Lebenselixier einer parlamentarischen Untersuchung qualifiziert oder von der „Aufklärung eines Sachverhalts zu politischen Zwecken“ spricht.806 Die simultane Anerkennung seines politischen Wesens bei gleichzeitiger Ausrichtung des Untersuchungsverfahrens an dem Ideal wahrhaftiger Sachverhaltsermittlung führt in eine Paradoxie, ja verlangt den Untersuchungsausschüssen Unmögliches ab: „Politische Wahrheiten“, die es bloß zu entdecken gälte, gibt es nicht. In der parlamentarischen Demokratie regieren die politischen Mehrheiten und die Dezision, nicht heuristische Methoden und Erkenntnis; ein politischer Mehrheitsbeschluss kann keinen Anspruch auf „absolute Wahrheit“ erheben. Zum Wesen der modernen Demokratie gehört vielmehr das Recht auf Opposition mit der Chance, eines Tages die Regierung abzulösen. Parlamentarische Mehrheitsentscheidungen beziehen eine eigentümliche und bloß temporäre Legitimation u. a. aus ihrer prinzi­ 802

D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 29 f. U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (601 f.). 804 S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 37 f. 805 Vgl. C. Teuber, Informationsrechte, 2007, S. 125. 806 BVerfGE 49, 70 (85); BVerfGE 105, 197 (222 f.) sowie BVerfGE 124, 78 (116). 803

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piellen Reversibilität, die sich spätestens aktualisieren kann, sobald der Regierungswechsel vollzogen ist.807 In dieses kontinuierliche parteipolitische Ringen um die demokratische Vorherrschaft ist auch das parlamentarische Untersuchungsrecht eingebettet. Weder für das Verfahren noch für den Abschlussbericht gelten Maximen, die auf eine „Wahrheitsfindung“ hin ausgerichtet wären. Die Auswahl der zu erhebenden Beweise folgt zwangsläufig ebenso parteipolitischen Interessen und taktischen Erwägungen wie die anschließende Beweiswürdigung oder die abschließenden Schluss­ folgerungen.808 Dass sowohl die Mehrheit als auch die Minderheit dem Plenum einen eigenen Abschlussbericht unterbreiten können, untermauert die Annahme, dass sie in der „Beweiswürdigung“ bzw. der politischen Bewertung des ermittelten Sachverhalts frei sind.809 Selbst vordergründig einmütige Untersuchungen, die grosso modo über die Parteigrenzen hinweg missbilligte Missstände betreffen, werden schon wegen der gebotenen Schlussfolgerungen und Remedurvorstellungen unter politischem Blickwinkel geführt. Art. 44 GG dient offenkundig keiner möglichst sachlichen Information von Bundestag und Öffentlichkeit  – dazu wären andere Stellen und Verfahren weitaus besser in der Lage. Sein Anliegen ist die parteipolitische Kontroverse über einen Sachverhalt. Objektivität kann keine Verpflichtung eines parteipolitisch besetzten parlamentarischen Gremiums sein. Stattdessen trägt die Beteiligung aller Bundestagsfraktionen dafür Sorge, dass im Untersuchungsverfahren sämtliche Richtungen und Meinungen zu Wort kommen.810 Partizipationsrechte der Minderheiten und die Teilöffentlichkeit des Untersuchungsverfahrens sorgen dafür, dass berechtigte Anliegen nicht leichtfertig übergangen werden können. Der Bauplan des Art. 44 GG enthält also prozedurale Sicherungen gegen eine allzu einseitige Arbeit eines Untersuchungsausschusses. Mit Kategorien wie „Wahrheitsfindung“ lassen sich die beschriebenen Funktionen, Grundsätze und Sicherungen nicht erfassen. Konsequenterweise gelten deswegen auch die Regeln des Strafprozessrechts über die Beweiswürdigung und Urteilsfindung nicht entsprechend für das parlamentarische Untersuchungsverfahren.811 Die einzige Grenze der parteipolitischen Agitation ist, das be­legen die §§ 153, 154 StGB für die Sachverhaltsermittlung, das allgemeine Verbot von

807 N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 42 Rn. 27; H. Dreier, in: ders., GG II2 2006, Art.  20 (Demokratie)  Rn.  73 ff.; W. Heun, Mehrheitsprinzip, 1983, S.  175 f., 194 ff. 808 Zum politischen Charakter des Untersuchungsverfahrens vgl. H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E40 ff.), der freilich fordert, „daß der Sachverhalt voll und fair ermittelt“ werde (S. E41). 809 Vgl. allg. B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 354; P. J. Glauben, in: ders./ Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 29 Rn. 3 ff. 810 Zu entsprechenden Überlegungen und Ansätzen s. 3. Teil 1. Kap. B. I. 2. b), 5. Teil 3. Kap. B. II. 3. c), E. IV. 3. c), 6. Teil 3. Kap. B. II. 3. a). 811 Vgl. G. A. Wolf, Strafjustiz, 2004, S. 70: „der Untersuchungsausschuss ist ein ‚politisches Kampfinstrument‘, dessen Arbeit schon aufgrund der gegenläufigen Interessen seiner Mitglieder nicht in richterlicher Unabhängigkeit erfolgen kann“.

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Lüge und Fälschung.812 Fällt die Arbeit eines Untersuchungsausschusses dagegen in politischer Hinsicht allzu einseitig aus, verspielen seine Protagonisten das öffentliche Vertrauen und das parteiische Verfahren desavouiert sich selbst. Vergleichbare Sorgen wurden – freilich angesichts des aufzuklärenden Sachverhalts unberechtigt – gegen die Wahlmanipulationsuntersuchung vorgebracht, indem Innenminister Eulenburg das Abgeordnetenhaus vor einem einseitigen „Denunziations-Büreau“ warnte und Peter Reichensperger sich pessimistisch äußerte, dass eine einseitige parlamentarische Untersuchung der Wahlmanipulationen nicht vor dem „oberste[n] Tribunal der öffentlichen Meinung“ bestehen könne.813 Die öffentliche Kontrolle durch Massenmedien und Publikum zügelt also das Untersuchungsverfahren ebenso wie das übrige parlamentarische Geschäft. Neben der Auswahl und dem Zuschnitt des Untersuchungsgegenstandes, seiner konkreten Aufarbeitung und der abschließenden Bewertung der ermittelten Tat­ sachen, die heute noch ebenso politischer Natur sind wie in konstitutionellen oder Weimarer Tagen, waren damals auch die Untersuchungsmethoden bzw. die Mechanismen zur Durchsetzung informationsrechtlicher Forderungen oder zur Beilegung von Konflikten zwischen Mehrheit und Minderheit oder Parlament und Regierung politischer und nicht rechtlicher Natur.814 Heute ist das Untersuchungsverfahren demgegenüber nahezu vollständig verrechtlicht. Der Untersuchungsausschuss hat gegenüber der Bundesregierung, die Plenarminderheit hat gegenüber dem Bundestag und die Ausschussminderheit gegenüber der Ausschussmehrheit zahlreiche informationsbezogene Rechtsansprüche, über deren gewissenhafte Erfüllung das BVerfG als Hüter der parlamentarischen Regierungskontrolle mit Argusaugen wacht. Wäre das Ziel tatsächlich eine Form von „Wahrheitsfindung“, läge auch nur der Schwerpunkt des Untersuchungsverfahrens auf der möglichst sachlichen Aufarbeitung eines Sachverhalts, die sich an relativ objektiven und konstanten Maßstäben orientierte, ließe sich gegen diese Verrechtlichung nichts einwenden. Tatsächlich dominiert in der Praxis aber der parteipolitisch-prozedurale Charakter des Art. 44 GG. Die zahlenmäßig unterlegene Opposition ist, weil sie keine rechtlich wirksamen Sanktionen verhängen kann, zwangsläufig auf die politische Außenwirkung „ihrer“ Untersuchung angewiesen.815 Analog der Spruchweisheit des Konfuzius ist also der Weg das Ziel; mit Hans Meyers Worten erfüllen Untersuchungsausschüsse ihren „Zweck weniger durch den Schlußbericht […] als durch die Untersuchung selbst“; ihr „politische[r] Ertrag steckt in der sukzessiven mehr oder weniger sicheren Klärung der Fakten, an die sich die Vorwürfe knüpfen“.816 Dementsprechend geht Dieter Wiefelspütz, obgleich die „‚Ergebnisse‘ eines Untersuchungsausschusses […] von erheblicher Bedeutung sein“ könnten, davon aus, dass diese „indes regelmäßig […] durch die Unter 812

Dazu L. Brocker, in: Glauben/ders., Untersuchungsausschüsse2 2011, § 25. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 178, 180. 814 Zum politischen Charakter aus historischer Perspektive s. 8. Teil 1. Kap. II. 815 S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 38. 816 H. Meyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 4 Rn. 85. 813

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

suchung selber“ übertroffen würden. „Das ‚Drama‘ der Untersuchung  […], die parlamentarische Interaktion, die politische Theatralik, die sich entfaltende politische Dynamik eines Untersuchungsausschusses, die Berichterstattung der Medien“ stünden ganz im Mittelpunkt der Untersuchung“.817 Max-Emanuel Geis urteilt im Handbuch des Staatsrechts, dass sich die „Hoffnung des 19. Jahrhunderts, die öffentliche Beweisaufnahme über den Untersuchungsgegenstand werde versachlichend wirken, […] nicht wirklich erfüllt“ habe, sondern die Untersuchungsausschüsse „[i]m Zeitalter der Massenmedien“ beinahe „zwangsläufig zum Mittel [würden], politische Kontroversen anzuheizen“. Das „Aufklärungsinteresse [werde] nicht selten durch propagandistische Interessen in den Hintergrund gedrängt“, so dass der „Untersuchungsausschuss […] zum politischen Tribunal umfunktioniert [werde], das weniger der Suche nach der objektiven Wahrheit als dem parteitaktischen (Wahlkampf-)Kalkül“ diene. Kurzum: Art. 44 GG sei de facto ein „Instrument der Parteitaktik“.818 Auch andere Autoren betonen die Bedeutung des öffentlichkeitswirksamen Untersuchungsverfahrens.819 Damit wird der Rechtsschutz, den das BVerfG den Untersuchungsausschüssen und insbesondere ihren Minderheiten gewährt, in einer parteipolitischen Auseinandersetzung eigentlich zu einem deplatzierten rechtlichen Instrument. Dass diese Verrechtlichung das Enquête- und Untersuchungsrecht tatsächlich seinen eigenen Wurzeln entfremdet, belegt ein Vergleich mit den historischen Informationsinstrumenten der Ständeversammlungen und Parlamente sowie den weitergehenden Forderungen. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Fremdinformationsmechanismen dominierten – zu denken ist an das Zutritts- und Rederecht sowie an die verschiedenen interpellationsartigen Auskunftsrechte der Kammern –, erkämpften sich die Nationalversammlungen in der Märzrevolution ein eigenständiges Selbstinformationsrecht; das Ziel dieser sowie der folgenden Bemühungen war eine informationsrechtliche Emanzipation gegenüber der Regierung. Die Volksvertretung sollte die Möglichkeit erhalten, sich ohne Mitwirkung und gegen den Willen des Gouvernements über kontroverse Sachverhalte zu informieren.820 Durch die Rechtsprechung tritt dieser Aspekt – trotz entsprechender Lippenbekenntnisse – zugunsten durchsetzbarer parlamentarischer Rechtsansprüche auf Fremdinformation durch die Regierung in den Hintergrund. Wenn das BVerfG von einem parlamentarischen „Informationsanspruch aus Art. 44 GG“821 spricht, hat dieser Artikel mehr Ähnlichkeit mit einem qualifizierten Interpella­ tionsrecht als mit dem auch durch die Rechtsprechung beschworenen Recht, 817

D. Wiefelspütz, PUAG, 2003, S. 36. M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 8. Freilich trifft seine Analyse des 19. Jahr­ hunderts nicht ganz zu; damalige Enquêten und Untersuchungen dienten ebenfalls parteipolitischen Interessen. S. 5. Teil 3. Kap. 819 s. etwa G. A. Wolf, Strafjustiz, 2004, S.  72 oder S.  Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 38. 820 s. 2. Teil 3. Kap. A., 3. Teil 4. Kap., 4. Teil 1. Kap. E., 2. Kap. D. und 3. Kap. sowie 5. Teil 2., 3. und 4. Kap. 821 BVerfGE 124, 78 (114). 818

5. Kap.: Analyse der synergetischen Fehlentwicklungen

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„unabhängig von Regierung, Behörden und Gerichten mit hoheitlichen Mitteln, wie sie sonst nur Gerichten und besonderen Behörden zur Verfügung stehen, selbständig die Sachverhalte zu prüfen, die sie in Erfüllung ihres Verfassungsauftrags als Vertretung des Volkes für aufklärungsbedürftig halten“.822 Die klassischen Fremdinformationsinstrumente Aktenvorlage und Auskunft passen sich aufgrund ihrer Verrechtlichung und Juridifizierung nur scheinbar in das Bild eines Selbstinformationsrechts ein.

III. Die Gefahr einer Verzerrung der politischen Kräfteverhältnisse Freilich ist die partielle Justitiabilität des politischen Verfassungslebens prima facie nichts Außergewöhnliches oder Schlechtes. Schließlich ist nahezu jedes Organstreitverfahren die Fortsetzung einer parteipolitischen Auseinandersetzung mit anderen Mitteln. Das Besondere an der Verrechtlichung und Juridifizierung des parlamentarischen Untersuchungsverfahrens ist aber, dass sie mit einem hypertrophen Minderheitenschutz zusammentreffen: Durch Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG liegen die Auswahl und der Zuschnitt des Untersuchungsgegenstands – richtig verstanden – ausschließlich in der Hand der qualifizierten Minderheit; die Rolle der Mehrheit erschöpft sich, ggf. nach vorheriger (verfassungs)rechtlicher Prüfung der minoritären Forderungen, in einer Übernahme der parlamentarischen Verantwortung für die Verfassungsmäßigkeit der Untersuchung.823 Während die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses und damit das politische „Agenda Setting“ durch Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG in der Hand der qualifizierten Minoritäten liegen – im Schrifttum ist von einer oppositionellen „Anstoßfunktion für die parlamentarische Kontrolle“ die Rede824  –, hat ihnen das BVerfG auch noch das Untersuchungs­ verfahren übereignet. Diese Übertragung erfolgte in zwei Akten: An erster Stelle wurden die Befugnisse der Untersuchungsausschüsse gegenüber der Regierung gestärkt, einseitig entpolitisiert und verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterworfen und anschließend nicht nur der konkreten Einsetzungs-, sondern ebenso jeder bloß „potentiell einsetzungsberechtigten“ Minderheit ein gleichgewichtiger Mitgestaltungsanspruch im Untersuchungsverfahren zugesprochen. In ihrem synergetischen Zusammenwirken kommen sämtliche dieser vermeintlichen Wohltaten ausschließlich oder doch wenigstens primär den Minderheiten zugute, während sowohl die Bundesregierung als auch die parlamentarische Mehrheit die Leid­ tragenden sind. Aus der Perspektive der Regierung hat das Untersuchungsverfahren nahezu jedes politische Gepräge verloren; es gehorcht nicht mehr parlamentarisch-poli­ 822

s. aus der Rspr. nur BVerfGE 49, 70 (85). s. 8. Teil 4. Kap. D. III. 1. und 6. Kap. B. I. 824 B. Beckermann/D. Weidemann, Der Staat 53 (2014), 313 (317). 823

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tischen Streitbeilegungs- und -austragungsprinzipien, sondern wird  – angesichts seiner doch politischen Natur sachwidrig einem Gerichtsverfahren angeähnelt825 – von Pflicht und Zwang geprägt. Indem ihr das Wesen einer politischen Auseinandersetzung abhanden gekommen ist, wird jede parlamentarische Selbstinformation in ein (zu) enges, rechtlich-justitiables Verfahrenskorsett gezwängt, das der Bundesregierung keine informationsrechtliche Bewegungsfreiheit mehr belässt. Dieser Vorgang ist in der Geschichte des Enquête- und Untersuchungsrechts einmalig, aber für die politische Schlagkraft dieses Instruments keineswegs erforderlich. Obwohl die „Pflichten“ der Reichsregierung gemäß Art.  34 RVerf  1919 vom Wortlaut dieser Vorschrift her noch über Art. 44 GG hinausgingen, handelte es sich gewissermaßen um unvollkommene Verbindlichkeiten, weil es auf der Reichsebene kein verfassungsgerichtliches Organstreitverfahren gab. Das Fehlen einer gerichtlichen Entscheidungsinstanz ließ der Reichsregierung einen ebenso großen politisch-taktischen Spielraum wie der parlamentarischen Seite. Dass sich eine öffentliche Untersuchung trotzdem weder durch Kooperationsverweigerung lahmlegen noch auf andere Weise direkt abwürgen ließ, belegen Fritz Baades Weimarer Erinnerungen auf dem Herrenchiemseer Konvent, dass sich die „Regierungsparteien […] nicht dem Vorwurf aussetzen wollten, irgendein Mitglied der Regierungspartei gegen eine Untersuchung zu stützen“;826 der politische Druck wäre schlicht zu groß gewesen. Das preußische Paradigma der Wahlmanipulationsuntersuchung von 1863/64 zeigt, dass sich das Ministerium selbst dann, wenn es keinen öffentlichen Kredit mehr zu verspielen hatte, keineswegs durch bedingungslose Obstruktion Erleichterung verschaffen konnte; selbst ohne Pflicht und Zwang gegenüber privaten Auskunftspersonen oder justitiable Auskunftsansprüche gegen das Ministerium war das Abgeordnetenhaus dazu in der Lage, binnen kurzer Frist eine beeindruckende Fülle belastender Tatsachen zusammenzutragen.827 Auch ein „nur“ politisches Enquête- und Untersuchungsrecht erfüllt also durchaus vollständig seinen Zweck. Interessanterweise hat Horst Ehmke ausgerechnet 100 Jahre später auf dem Deutschen Juristentag von 1964 – freilich im Hinblick auf die Minderheitenrechte – vor einer zu starken Juridifizierung des Enquête- und Untersuchungsrechts gewarnt und stattdessen den Rekurs an das Plenum als genuin politische Lösung favorisiert.828 Ungeachtet dessen hat das BVerfG jede Ge­ legenheit ergriffen, um die früher wenigstens faktisch diskretionäre Regierungsentscheidung, welche Informationen der Volksvertretung preisgegeben werden sollen und welche nicht, mit justitiablen Ansprüchen der parlamentarischen Seite zu verrechtlichen und justitieller Kontrolle zu unterwerfen. Anders als die Reichs 825 Gegen entsprechende Forderungen, die teilweise de constitutione ferenda erhoben wurden, wendete auch U. Mager, Der Staat 41 (2002), 597 (601) ein, dass die „Konsequenz […] der Verlust der Eigenständigkeit und damit der politischen Bedeutung des parlamentarischen Untersuchungsrechts“ wäre. 826 ParlRat II, 1981, S. 398 f. 827 s. 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. 828 H. Ehmke, 45. DJT I/3, 1964, S. E7 (E46).

5. Kap.: Analyse der synergetischen Fehlentwicklungen

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regierung ist die Bundesregierung nicht bloß gezwungen, sich überhaupt auf ein Thema sachlich einzulassen; sie muss vor dem Ausschuss – in der Regel coram publico – nahezu sämtliche Geheimnisse offenbaren. Vor dem Schicksalsjahr 2002 blieb der politische Charakter des Untersuchungsverfahrens trotz dieser Verrechtlichung wenigstens noch dadurch erhalten, dass die Ausschussmehrheit sowohl die Herrin über „ihre“ als auch über die Minderheitenenquêten war.829 Wie in früheren Tagen war die Grenze des politischen Taktierens spätestens dort erreicht, wo ein Hautgout die öffentliche Meinung erregte. Als das BVerfG aber mit dem „Parteispenden“-Urteil selbst den „potentiell ein­ setzungsberechtigten“ Minderheiten einen mit der Mehrheit gleichgewichtigen Mitgestaltungsanspruch einräumte, kippte die Situation gewissermaßen um: Die in der älteren Rechtsprechung neu entdeckten bzw. gestärkten Instrumente wurden weitgehend (auch) der Opposition überantwortet, die jetzt nicht mehr nur über die Einsetzung bestimmt, sondern auch in der Durchführung ein wesentliches Wörtchen mitzureden hat. Die damit veranlasste hintergründige Machtverschiebung ermöglicht es den oppositionellen Minderheiten heute, die Bundesregierung und die parlamentarische Mehrheit im Untersuchungsverfahren vorführen. Gemeinsam mit der Verrechtlichung der Untersuchungsbefugnisse leistet das extensive Minderheitenrecht eingedenk der Tatsache, dass die Durchführung der Untersuchung der eigentliche politische Erfolg sein kann, einer nicht unbedenklichen Verzerrung der politischen Auseinandersetzung Vorschub. Mit dem grundlegenden Votum des „Partei­ spenden“-Urteils für einen extensiven Schutz jeglicher Viertelminderheit wirkt sich die gesamte bisherige Rechtsprechung zur Reichweite der Untersuchungsbefugnisse zugunsten der Minoritäten aus. Der pseudo-objektive Kontrollzweck leistet einen zusätzlichen Beitrag zur Verzerrung des Bildes: Weil die Minderheit nicht, wie es die starke Betonung des Kontrollaspekts und seiner pseudoobjektiven Maßstäbe eigentlich nahezulegen scheint, auf die „Wahrheitsfindung“ verpflichtet ist, sondern bei der Einsetzung ebenso wie im Untersuchungsverfahren lediglich allgemeinen Missbrauchsverboten unterliegt, kann sie grundsätzlich vollkommen legitim parteipolitische Ziele verfolgen; während die Ausschussmehrheit wenigstens im Rahmen des aus ihrer Warte heteronom bestimmten Untersuchungsgegenstandes ebenso frei wie die Minderheit agieren kann, hat die Regierung dieser verfassungsgerichtlich sanktionierten Agitationsbefugnis der parlamentarischen Kräfte nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen. Die Rechtsprechung verweigert ihr ausdrücklich jedes noch so beschränkte politische Ermessen ebenso wie einen Beurteilungsspielraum in den zentralen Fragen, welche Akten und sächlichen Beweismittel vorzulegen und welche Aussagegenehmigungen mit welchen Einschränkungen zu erteilen sind, obwohl derartige Freiräume ein angemessener Widerpart für die parteipolitischen Möglichkeiten der Minoritäten sein könnten. Zwar wird die regierungstreue Ausschussmehrheit in der Regel nach 829

Zur Entwicklung des Minderheitenrechts s. 8. Teil 4. Kap. D.

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

Kräften versuchen, oppositionellen Anstrengungen gegenzusteuern. Im Endeffekt ist sie aber durch die Forderung des BVerfG, Beweisanträgen der qualifizierten Minderheiten grundsätzlich Folge zu leisten, nahezu machtlos. Trotz ihres gegenüber der Mehrheit geringeren demokratischen Gewichts halten die qualifizierten Minderheiten damit zahlreiche, wenn nicht sämtliche politischen Trümpfe in der Hand. Zur Legitimation dieses demokratisch erstaunlichen Ergebnisses dient das vermeintlich beste Interesse der gesamtparlamentarischen Regierungskontrolle, als deren pseudo-objektiven Treuhänder die Minderheiten angesichts ihrer eigenen parteipolitischen Interessen wenigstens partiell zu Unrecht gelten.

6. Kapitel

Vorschläge und Forderungen Um dieser Entwicklung gegenzusteuern, verdient die Enquêtefunktion eine Renaissance als gleichberechtigter Untersuchungszweck. Ob der Bundestag in der Praxis häufig von diesem Mittel Gebrauch macht oder sich – wie bislang – weiter in Zurückhaltung übt, spielt keine Rolle. Um zugunsten der Regierung und Mehrheitsfraktionen wieder mehr „Waffengleichheit“ herzustellen bzw. das demokratisch gewollte Übergewicht der Mehrheit zu betonen, bietet sich eine Repolitisierung des Selbstinformationsrechts mit einer maßvollen Zurücknahme der verfassungsgerichtlichen Kontrollmöglichkeiten an.

A. Wiederbetonung der Enquêtefunktion Die Enquêtefunktion des Art.  44 GG darf nicht aus dem Blick geraten: Zum einen bedarf die Volksvertretung für ihren gesamten Aufgabenkanon eines robusten Instruments zur politischen Sachverhaltsaufklärung, um der Regierung als gleichgewichtiger Partner, aber auch als Gegenpol gegenübertreten zu können. Zum anderen lässt sich von der Berücksichtigung der prinzipiell in geringerem Maße politisierten Enquêtefunktion eine mäßigende Wirkung auf die Auslegung des Art. 44 GG erhoffen, indem der bislang übermächtige Kontrollzweck nicht mehr länger der einzige Leitpol für eine teleologische Auslegung wäre; Befugnisse, die nicht nur pseudo-pönalen Anliegen, sondern auch so harmlosen Zwecken wie der Gesetzesvorbereitung dienen, bedürfen einer zurückhaltenden Interpretation.

6. Kap.: Vorschläge und Forderungen

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B. Repolitisierung und Dejuridifizierung des Untersuchungsverfahrens Der wichtigste Schritt, um den aufgezeigten Verzerrungstendenzen im Verhältnis von Bundesregierung, Regierungsmehrheit und oppositioneller Minderheit gegenzusteuern, ist eine Rückbesinnung auf den politischen Charakter des Enquête- und Untersuchungsrechts, mit der in dem Sinne eine Dejuridifizierung einherginge, dass sich das BVerfG nicht länger in die politische Auseinandersetzung hineinziehen ließe oder sie gar anhand einer parteipolitischen Auseinandersetzung unangemessener Maßstäbe anstelle der politischen Akteure entschiede.830

I. Stärkung der Minderheit in der Einsetzungsphase Die profane Erkenntnis, dass es keine politische „Wahrheit“, sondern bloß politische Mehrheiten gibt, rührt an den Grundfesten des von der Rechtsprechung 1978 aus der Taufe gehobenen Rechts der Mehrheit, einen qualifizierten Einsetzungsantrag auch gegen den Willen der Antragsminderheit abzuändern. Ausgangspunkt dieser Entscheidung war die unausgesprochene Prämisse, dass der Mehrheit an einer umfassenderen und wirklichkeitsgetreueren Aufarbeitung mehr gelegen wäre als der Minderheit.831 Wie wenig plausibel solche Vorstellungen sind, hat Heinrich Zoepfl schon im 19. Jahrhundert erkannt, weil „eine Majorität […], an sich betrachtet, keine Bürgschaft für ihre Vernünftigkeit oder dafür [besitze], dass sie Recht“ habe.832 Weder eine Vermutung für die Richtigkeit einer Mehrheitsmeinung noch ihr direktes Gegenstück, die Vermutung für die Fehlerhaftigkeit der Minderheitenposition, haben eine belastbare Basis.833 Indem es im parlamentarischen Untersuchungsverfahren zudem überhaupt nicht um „Wahrheit“, sondern um die politische Aufarbeitung und Beurteilung eines Sachverhaltes geht  – das erkennt das BVerfG 2002 ebenfalls an834  –, lässt sich über die zugrundeliegende Frage, ob der Untersuchungsantrag von der Minderheit „unter einem einge­engten Blick-

830

Vgl. die strukturell ähnl. Kritik von P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (259 ff., 272) im Hinblick auf das minoritäre Einsetzungsrecht. 831 s. BVerfGE 49, 70 ff. und dazu 8. Teil 4. Kap. D. III. 1. K. F. Gärditz, in: Waldhoff/ders. (Hg.), PUAG, 2015, § 2 Rn.  20 spricht von einer zulässigen Verhinderung „grobe[r] Asymmetrien […], da das Untersuchungsrecht nicht nur Mittel der politischen Auseinandersetzung, sondern auch der Tatsachenaufklärung ist“. 832 H. Zoepfl, StaatsR II5 1863, S. 86. s. aus dem modernen Schrifttum H. Dreier, in: ders., GG II2 2006, Art. 20 (Demokratie) Rn. 74; W. Höfling/C. M. Burkiczak, Jura 2007, 561 (562). 833 Ähnl. wie hier P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (268). 834 Im „Parteispenden“-Urteil heißt es, dass sich die „Gefahr nicht leugnen [lasse], dass das Untersuchungsrecht in der Hand der Mehrheit und in Abstimmung mit der von ihr getragenen Regierung gegen die parlamentarische Opposition gewendet“ werde (BVerfGE 105, 197 (225)). Von einer größeren Wahrheitstreue der Mehrheit ist in dieser politisch akkuraten Beschreibung nichts mehr zu spüren.

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

winkel“ gestellt wurde oder die Untersuchung bloß eine „verzerrte Darstellung“ liefern kann, in aller Regel ebenso trefflich wie fruchtlos streiten. Das Verdikt von 1978 ist deswegen revisionsbedürftig, weil es das Minderheitenrecht im Interesse einer vermeintlich objektiven Ausrichtung des Enquête- und Untersuchungsrechts über Wortlaut und Zweck des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG hinaus zugunsten der Mehrheit beschneidet.835 Zu welchen Folgen die Rechtsprechung führen kann, zeigten die ersten Untersuchungsausschüsse nach Inkrafttreten des Untersuchungsausschussgesetzes: Obwohl § 2 Abs.  2 PUAG vorsieht, dass der Bundestag den Einsetzungsantrag nicht gegen den Willen der Antragsteller abändern darf,836 erweiterte die rotgrüne Regierungskoalition kurzerhand den Auftrag des von der Union geforderten „Lügen“-Untersuchungsausschusses. Nach dem Willen der Antragsteller sollte dieser nur klären, ob Mitglieder der Bundesregierung den Bundestag und die Öffentlichkeit vor den Wahlen über die Haushaltslage, die Situation der Sozialversicherung sowie die Einhaltung der europäischen Stabilitätsvorgaben getäuscht hätten.837 Die angegriffene Regierungskoalition drehte den Spieß kurzerhand um, indem sie die Forderung aufnahm, ebenfalls „im Rahmen der Zuständigkeit des Bundestages“ zu untersuchen, ob die Unions-Ministerpräsidenten Hessens, des Saarlandes und Bayerns bzw. die Abgeordneten der Opposition im Bundestag „falsche oder unvollständige Erklärungen“ über die Lage der öffentlichen Haushalte etc. abgegeben hätten.838 Davon, dass der von der Union beantragte Untersuchungsauftrag in seinem Kern unverändert geblieben wäre oder die Erweiterung ein „umfassenderes  – und wirklichkeitsgetreueres  – Bild des angeblichen Mißstandes“ zeichnen sollte,839 konnte bei diesem Gegenangriff kaum die Rede sein.840 Eher wurde dem Minderheitsantrag ein völlig neuer Untersuchungsgegenstand zur Seite gestellt.841 Ähnlich verfuhr die Regierungskoalition bei der „Visa“Untersuchung: Der Ausschuss wurde nicht, wie von der Opposition Ende November 2004 beantragt, bloß damit beauftragt, potentiellen Fehlern der amtierenden Regierung nachzugehen; vielmehr wurde sein Auftrag ohne jede Eingrenzung auf den „Zeitraum vor 1998“ erstreckt. Damit nahm die Koalition nicht nur ihrerseits ein „Vorverschulden“ der jetzigen Oppositionsparteien ins Visier, sondern erweiterte den Untersuchungsgegenstand nahezu uferlos.842 Beide Male wäre es an 835 Ähnl. H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2005), Art. 44 Rn. 80; P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (259 ff.). 836 Zur Fortgeltung der bisherigen Regeln s. 8. Teil 4. Kap. D. IV. 837 BT-Drs. 15/125, S. 4. 838 BT-Drs. 15/256, S. 2 f. 839 BVerfGE 49, 70 (87 f.). 840 Krit. auch C. v. Cossel, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, § 3 Rn. 49. In diesem Sinne wendete sich auch die Union laut BT-Drs. 15/2100, S.  201 f. erfolglos gegen die Bepackung. 841 Zu Recht R. Pofalla, DÖV 2004, 335 (340). 842 Zum Ganzen einschließlich der Kritik der Opposition s. BT-Drs. 15/4552, S. 1, 3 und BTDrs. 15/5975, 317.

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gebracht gewesen, die auf das Vorhaben des politischen Gegners aufgesattelten Sachverhalte und Fragen zum Gegenstand eigener Untersuchungen zu machen; statt diesen Weg zu wählen, ging die Bundestagsmehrheit zum Nachteil der Antragsteller über die Grenzen, die das BVerfG einer solchen „Bepackung“ 1978 gezogen hatte, deutlich hinaus.843 Um sowohl dem politischen Wesen des parlamentarischen Selbstinformationsrechts als auch der Tatsache gerecht zu werden, dass die Verfassung Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG eben auch als Recht der qualifizierten Minderheiten ausgestaltet hat, müssen die Antragsteller bei der Formulierung des Untersuchungsauftrags – vorbehaltlich rechtlicher Grenzen – frei sein. Solche Grenzen bestehen wie für jedes staatliche Handeln in erster Linie gegenüber rechts- und verfassungswidrigen Anliegen, dann aber wohl auch gegenüber Forderungen, die ersichtlich auf unwahren Prämissen beruhen, sonst einen evidenten Missbrauch des Selbstinformationsrechts darstellen oder außerhalb der Zuständigkeit des Bundestags liegen.844 Für eine qualifizierte Minderheit gelten wegen Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG keine ungünstigeren Regeln als für die Bundestagsmehrheit, die über diese Maßgaben hinaus die 1978 durch das BVerfG zugelassene majoritäre Zweckmäßigkeitskontrolle gestatteten; der Verfassung liegt für die Einsetzungsphase insoweit eine egalitäre Sichtweise zugrunde. Will die Mehrheit einen anderen Akzent als die Antragsteller setzen, muss sie auf eine Einigung dringen oder zur Not einen weiteren Untersuchungsausschuss einsetzen.845 Diese Stärkung des Minderheitenrechts durch eine vollständige Synchronisation mit dem Einsetzungsrecht der Mehrheit widerspricht nicht der an dem „Parteispenden“-Urteil geübten Kritik: Die Opposition erhält „lediglich“ die Möglichkeit, Bundestag und Bundesregierung zur Befassung mit einer (unbequemen) Frage bzw. zur Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner vor dem öffentlichen Forum eines Untersuchungsausschusses zu zwingen.846 Nach welchen Regeln 843

s. 8. Teil 4. Kap. D. III. 1. Vgl. N. Achterberg/M. Schulte, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 44 Rn. 87 f.; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 35; P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 6 Rn. 17 ff.; B. Peters, UntersuchungsausschussR, 2012, Rn. 121 ff.; C. Waldhoff, in: ders./Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, § 1 Rn. 56; R. Pofalla, DÖV 2004, 335 (338); D. Wiefelspütz, DÖV 2002, 803 (805); M. Reinhardt, NVwZ 2014, 991 (992) und ferner A. Schleich, UntersuchungsR, 1985, S. 31 zum Rechtsstaatsprinzip als Grenze des Einsetzungsrechts oder T. Linke, in: Waldhoff/Gärditz (Hg.), PUAG, 2015, Vorbem. F Rn. 11, 32 m. w. N. zur Lage in den Ländern. 845 Ähnl. P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (261 f., 267, 273) und H.-P. Schneider, 57. DJT, 1988, S. M54 (M74 f.) de lege ferenda. 846 S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 38 betont zu Recht, dass das parlamentarische Untersuchungsrecht gerade deswegen als das „schärfste Kampfmittel bezeichnet“ werde, weil es der „parlamentarischen Minderheit die Möglichkeit [gebe…], die Regierung vor die Öffentlichkeit zu zwingen“. H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E44) spricht zutreffend von dem Minderheitenrecht bei der Einsetzung als einer „Initialzündung“, indem die „Mehrheit […] in Mißstandsfällen zu einer öffentlichen Untersuchung gezwungen werden“ könne. 844

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das Untersuchungsverfahren letzten Endes abläuft, welche Rolle Mehrheit und Minderheit im Ausschuss jeweils zukommt, wird durch diese Entscheidung nicht präjudiziert.

II. Die demokratische Herrschaft der Ausschussmehrheit Im Gegenzug zu dieser Fortifizierung des minoritären Einsetzungsrechts, die mit Wortlaut, Sinn und Zweck des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG konform geht, sollten der Ausschussmehrheit und der Bundesregierung ebenfalls politische Handlungsspielräume eröffnet werden, um anstelle pseudo-objektiver Deutungsversuche den politischen Charakter des Enquête- und Untersuchungsrechts herauszu­arbeiten. Entgegen den extensiven Aussagen des „Parteispenden“-Urteils sollte die Ausschussmehrheit angesichts des parlamentarisch-demokratischen Mehrheitsprinzips prinzipiell auch die Herrin des Untersuchungsverfahrens sein. Einschränkungen dieser Herrschaft sind in dem beschriebenen Umfang für die Minderheitsenquête geboten.847 Die minoritären Mitgestaltungsmöglichkeiten folgen einmal aus dem Einsetzungsrecht der qualifizierten Minderheiten gemäß Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, das ihnen die Themenhoheit sichert, zum anderen aber aus dem zweiten Halbsatz dieses Artikels, der dem Untersuchungsausschuss die Erhebung der „erforderlichen Beweise“ zur Pflicht macht. Das Minderheitenrecht wird zutreffend dahin eingeschränkt, dass es „nicht sachwidrig oder missbräuchlich ausgeübt“ werden darf.848 Der logische Dreh- und Angelpunkt sowohl des Minderheitenrechts als auch seiner Grenzen ist der Untersuchungsgegenstand, den die Antragsteller – im Rahmen der Verfassung und des sonstigen geltenden Rechts  – verbindlich festlegen dürfen. Das Mitgestaltungsrecht der Antragsminderheit im Untersuchungsverfahren folgt also letzten Endes ihrem Einsetzungsanspruch und wird gleichermaßen durch dessen Ausübung limitiert. Infolgedessen verfügt die Minderheit über einen beachtlichen politischen Spielraum bei der Einleitung und „Mitgestaltung“ einer parlamentarischen Untersuchung. Dieser in politischer Hinsicht schrankenlosen Freiheit, beliebige Themen aufzugreifen und nach partei­politischen Erwägungen Beweisforderungen zu erheben, denen die Ausschussmehrheit grundsätzlich Folge leisten muss, korrespondiert nach dem verfassungsrechtlichen Bauplan des Art. 44 GG, der diese minoritäre Gestaltungsmacht ausschließlich für die Einsetzungsphase vorsieht, ein gewisser Beurteilungsspielraum der Ausschussmehrheit. Dementsprechend beschränkt das BVerfG seine Kontrollkompetenz im „Parteispenden“-Urteil gegenüber der Ablehnung eines Minderheitsantrags darauf, „ob [die…] Begründung der Mehrheit nachvollziehbar und der durch die Verfahrensautonomie der Mehrheit eröffnete Wertungsrahmen insbesondere bei der Auslegung des Untersuchungsauftrags in vertretbarer Weise ausgefüllt worden ist“. 847

s. 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. b) bb). BVerfGE 105, 197 (Ls.  3 (Zitat), S.  222, 225) (Hervorhebung nur hier). Vgl. dazu die Typo­logie bei B. Peters, ZParl 2012, 831 (844 ff.). 848

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Zur Begründung dieser judikativen Selbstbeschränkung, die zu einer Stärkung der Mehrheit führt, bemüht der Senat die gebotene „Rücksicht auf die parlamenta­ rische Autonomie und die besondere Natur des Untersuchungsverfahrens als Aufklärungsinstrument im Rahmen der politischen Kontroverse“.849 Damit eröffnet die Rechtsprechung eine Möglichkeit, um den politischen Charakter des Enquête- und Untersuchungsrechts wieder stärker zur Geltung zu bringen; insoweit gilt es in erster Linie, der Mehrheit einen ausreichend groß bemessenen politischen Spielraum einzuräumen. Den Rahmen steckt die Feststellung des BVerfG ab, dass die Ausübung des Minderheitenrechts weder „sachwidrig“ noch „missbräuchlich“ sein darf. Während das Recht und die Pflicht zur Verhinderung von „Missbrauch“, jedenfalls soweit er geltendes Recht verletzt, bereits aus der Gesamtverantwortung des Bundestages für das Untersuchungsverfahren folgen, eignet sich die „Sachwidrigkeit“ als Einfallstor für politische Wertungen; die Ausschussmehrheit erhält die Möglichkeit, einen Beweisantrag abzulehnen, weil die erhobene Forderung in ihren Augen nutzlos ist oder bloß dazu dient, einen Zeugen oder ein Regierungsmitglied in unsachgemäßer Weise vorzuführen. Bedenkt man den (im Einsetzungskontext unpassenden) Maßstab von 1978, dass es die Mehrheit verhindern dürfe, dass „von vornherein nur unter einem eingeengten Blickwinkel“ untersucht werde, so dass sich „allenfalls eine verzerrte Darstellung“ ergeben könne,850 wird das Ausmaß der potentiellen politischen Gestaltungsmacht deutlich, das sich der parlamentarisch-demokratischen Mehrheit auf diese Weise zurückgeben lässt. Die Mehrheit muss aber von ihrem „Wertungsrahmen […] in vertretbarer Weise“ Gebrauch machen und jede Ablehnung eines Minderheitenantrags „nachvollziehbar“ begründen.851 Politisches Ermessen oder ein Beurteilungsspielraum sind im demokratischen Rechtsstaat eben nicht mit Willkür zu verwechseln. In der Praxis verletzte eine ablehnende Entscheidung deswegen Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG, wenn die Ausschussmehrheit als falsch verstandene „Schutztruppe der Regierung“ (Hans Meyer)852 lediglich das Ziel verfolgte, einen nach rechtlichen oder auch politischen Maßstäben bestehenden Missstand oder ein ebensolches Fehlverhalten zu vertuschen oder zu verschleiern oder eine unbequeme Untersuchung schlicht von vornherein abzuwürgen. Das Minderheitenrecht des Art.  44 Abs.  1 Satz 1 GG zwingt die Mehrheit in jedem Fall dazu, den öffentlichen politischen Konflikt aufzunehmen. Parteipolitisch drangsalieren lassen muss sie sich von der Minderheit aber nicht. Die Grenzen sind fließend. Verletzt die Ausschussmehrheit nach diesen weiten Maßstäben gleichwohl Rechte der Antragsminderheit, steht dieser der Weg nach Karlsruhe offen. In Falle einer Mehrheitsenquête gibt es keinen verfassungsrechtlich tragfähigen Grund, um einer bloß potentiell einsetzungsberechtigten Minderheit auf Kosten 849

BVerfGE 105, 197 (225 f.). BVerfGE 49, 70 (87 f.). 851 BVerfGE 105, 197 (225 f.). 852 H. Meyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, S. 150 in Fn. 132. 850

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

der Mehrheit eine (gleich) starke Stellung einzuräumen. Ihre Partizipationsmöglichkeiten erschöpfen sich – der extensiven Interpretation von Art. 44 GG durch das „Parteispenden“-Urteil zuwider853  – in den allgemeinen Rechten der Ausschussminderheiten nach der Geschäftsordnung des Bundestages: Sie können (Beweis-)Anträge stellen und sind dazu berechtigt, in einem gewissen Rahmen eigene Fragen an Zeugen, Sachverständige, Regierungsmitglieder etc. zu richten.854 Ein unbegrenztes Fragerecht, wie es Eduard Lasker 1873 in der preußischen Eisenbahnenquête durchsetzen konnte855 oder es der Arbeitsplan vom Oktober 1919 für den Weimarer Kriegsschuld-Untersuchungsausschuss vorgesehen hatte,856 steht den Ausschussminderheiten von Verfassungs wegen nicht zu; § 24 Abs. 5 Satz 2 und 3 PUAG regelt das Fragerecht der Ausschussmitglieder deswegen zu Recht in Anknüpfung an die „Vorschriften der Geschäftsordnung und die Praxis des Bundestages zur Reihenfolge der Reden und zur Gestaltung von Aussprachen“.857 In der Praxis beschließen die Untersuchungsausschüsse Regeln, nach denen zunächst der Vorsitzende den Zeugen oder Sachverständigen befragt. Anschließend sind für die „Reihenfolge der Fraktionen innerhalb der Befragungsrunden […] die Fraktionsstärke und der Grundsatz von Rede und Gegenrede zu berücksichtigen. Für die Bemessung des Zeitanteils der Fraktionen […] wird die Verteilung der Redezeiten im Plenum angewendet.“858 Darüber hinaus obliegen der Ausschussmehrheit keine gesteigerten Rücksichtnahmepflichten gegenüber der Ausschussminderheit; nach allgemeinen parlamentarisch-demokratischen Standards dominiert ihre Sach- und Verfahrensherrschaft.

III. Politische Spielräume der Bundesregierung im Untersuchungsverfahren Die Bundesregierung und die Minister sind besonders schwer von den synergetischen Folgewirkungen der Verrechtlichung und Juridifizierung des Enquête- und Untersuchungsverfahrens betroffen. Durch die Aufwertung sämtlicher „potentiell einsetzungsberechtigter“ Minderheiten geraten sie seit dem „Parteispenden“Urteil grundsätzlich ins Hintertreffen, indem sie sämtlichen Forderungen eines von der Minderheit nach ihren parteipolitischen Interessen (mit)dirigierten Unter­ 853

s. dazu 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. s. 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. b) aa). 855 Zu der entsprechenden Debatte und den tatsächlichen Fragemöglichkeiten s. 5.  Teil 3. Kap. E. IV. 3. c) und V. 2. b) und c). 856 Zum „Arbeitsplan“ s. 7. Teil 2. Kap. B. II. 1. b). 857 s. krit. M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 55 mit der Annahme, dass diese Maßgaben „in der Regel den Regierungsfraktionen zugute [kämen], auf Kosten der Kontrollfunktion des Untersuchungsausschusses“. 858 So der Beschluss des „Visa“-Untersuchungsausschuss BT-Drs. 15/5975, S. 40. Vgl. für den „BND“-Untersuchungsausschuss BT-Drs. 16/13400, S. 21 und zum „Hypo Real Estate“Untersuchungsausschuss BT-Drs. 16/14000, S. 28. 854

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suchungsverfahrens Folge leisten sollen, ohne ihrerseits über einen Einschätzungs- oder Beurteilungsspielraum oder über politisches Ermessen zu verfügen. Das Schrifttum goutiert die Hilflosigkeit der Regierung teilweise als demokratisch gebotenen Zustand und wendet sich explizit gegen jede Möglichkeit, einen Untersuchungsausschuss, der doch „parlamentarische[s] Kontrollgremium und Kampfinstrument der Opposition“ wäre, als „Instrument exekutiver Agitation“ missbrauchen zu lassen (Martin Reinhardt).859 1. Die Ausgangslage nach dem „Parteispenden“-Urteil Obwohl es sich bei minoritären Untersuchungsverfahren in der Regel um eine Fortsetzung der parteipolitischen Auseinandersetzung mit anderen Mitteln handelt, in dem die Opposition völlig legitim parteipolitische Zielsetzungen verfolgt,860 gelten die Bundesregierung und ihre einzelnen Mitglieder der Rechtsprechung als grundsätzlich dazu verpflichtet, im Untersuchungsausschuss lückenlos Rede und Antwort zu stehen und sächliche Beweismittel einschließlich von Akten vorzulegen. Schutz verspricht ausschließlich der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung sowie das Verbot einer begleitenden Kontrolle, die zu einem parlamentarischen „Mitregieren“ führen könnte. Das „Staatswohl“ ist demgegenüber zu Recht in der Mehrheit der Fälle kein Grund für eine Weigerung, weil Regierung und Parlament insoweit gemeinsame Verantwortung tragen.861 Ein politisches Ermessen, wie sie auf Anforderungen eines Untersuchungsausschusses reagiert, soll der Bundesregierung aufgrund ihrer parlamentarischen Verantwortlichkeit nicht zustehen. Kommt nach den Regeln der Rechtsprechung doch ausnahmsweise eine exekutive Weigerung in Betracht, muss die Regierung ihre Gründe gegenüber dem Ausschuss umfassend darlegen. In der Rechtsprechung, aber auch im Schrifttum ist im Interesse der parlamentarischen Regierungskontrolle die Tendenz zu beobachten, diese Pflichten eng auszulegen und detaillierter Kontrolle zu unterwerfen.862 Etwaige Bedenken gegen diese Entwicklung werden durch die hypertrophe Ausbildung der Minderheitenrechte noch verstärkt; zwar trifft es selbstverständlich zu, dass der Bundestag nicht nur mit der Kanzlerwahl die Regierungsbildung initiiert, sondern dem Kreationsorgan anschließend auch die Kontrolle über „seine“ Kreatur gebührt. Andererseits ist die Bundesregierung nicht, wie es Paul Laband 1907 ausgedrückt hat, bloß ein „mit der Führung der Staatsgeschäfte be-

859

M. Reinhardt, NVwZ 2014, 991 (993 f.). Vgl. M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 8 ff.; M.-E. Geis, in: HdbStR III3 2005, § 55 Rn. 6 und ferner M. Reinhardt, NVwZ 2014, 991. 861 Vgl. BVerfGE 124, 78 (123 f.); BVerfGE 67, 100 (136); P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 17 Rn. 23; B. Peters, NVwZ 2012, 1574 (1578). 862 Zu den Ausschussbefugnissen gegenüber der Regierung s. 8. Teil 4. Kap. C. III. 860

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

auftragte[r] Ausschuss der Parlamentsmehrheit“,863 sondern ein oberstes Verfassungsorgan des Bundes mit demokratischer Legitimation und der Befugnis, seine Geschäfte aus eigenem Recht und in eigener Verantwortung zu führen.864 Im Widerspruch mit dieser Grundentscheidung wirken sich jede Stärkung des parlamentarischen Untersuchungsrechts und jede Verrechtlichung bzw. Juridifizierung des Untersuchungsverfahrens nahezu ausschließlich zugunsten der qualifizierten Minderheiten und damit zu Lasten der vermeintlich stets „kontrollierten“ Regierung aus. Zur Rechtfertigung dieser Machtverschiebung im Untersuchungsverfahren verweist das BVerfG in der Regel auf die prägende Bedeutung des Prinzips parlamentarischer Regierungskontrolle.865 Was aber vor dem Hintergrund des unlösbaren Zusammenhangs von Kreation und Kontrolle für eine Kontrollenquête der Mehrheit angemessen sein könnte und wegen Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG gegenüber einer qualifizierten Minderheit wenigstens prima facie plausibel zu sein scheint, verliert jede Überzeugungskraft, wenn eine Einsetzungsminderheit – vollkommen legitimerweise – eine parlamentarische Untersuchung ausschließlich aus sonstigen parteipolitischen Gründen anstrengt. In dieser Situation kann die qualifizierte Minderheitsopposition nicht nur frei den Untersuchungsgegenstand bestimmen, sondern verfügt aufgrund der Rechtsprechungsentwicklung zwischen 1978 und dem „Parteispenden“-Urteil über erheblichen Einfluss auf das Untersuchungsverfahren. Während die Minderheit also nach freiem Ermessen parteipolitisch taktieren darf, soll die Regierung durch die Verrechtlichung und Juridifizierung des Untersuchungsverfahrens jeden Grillen der Opposition nahezu machtlos ausgeliefert sein. Schutz könnte ihr ausschließlich die parlamentarische Mehrheit bieten, die dadurch aber ggf. eine hohe Hypothek öffentlicher Angreifbarkeit auf sich nähme; eigenes politisches Ermessen oder einen Beurteilungsspielraum in der Frage, ob und wie sie auf die parteipolitische Taktik der Ausschussminderheit reagieren will, soll die Bundesregierung demgegenüber nicht haben. Dieses Ergebnis verliert noch weiter an Plausibilität, wenn es statt um Regierungskontrolle um eine Aufarbeitung gesellschaftlicher Missstände, wirtschaftlicher Verhältnisse oder um die Gesetzesvorbereitung geht, die nach der Korollartheorie ebenfalls aufgrund von Art. 44 GG betrieben werden können.866

863 In diesem Sinne äußerte sich P. Laband, JÖR 1 (1907), 1 (28) über die parlamentarische Regierung. Dagegen aus heutiger Sicht G. Hermes, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 62 Rn. 8. 864 Vgl. K.-B. v. Doemming/R. W. Füßlein/W. Matz, JÖR n. F. 1 (1951), S.  422 ff. zu den Motiven des Parlamentarischen Rates sowie zur Stellung der Bundesregierung P. M. Huber, in: HdbStR III3 2005, § 47 Rn. 7 ff., 10 ff.; M. Schröder, in: HdbStR III3 2005, § 65 Rn. 3; ders., in: Dreier, GG II2 2006, Art. 62 Rn. 4 f.; G. Hermes, in: vMaKS, GG II5 2005, Art. 62 Rn. 2, 7 f. sowie BVerfGE 124, 78 (120); BVerfGE 110, 199 (214); BVerfGE 77, 1 (59); BVerfGE 67, 100 (139) zum Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung. 865 Zur Entwicklung der Minderheitenrechte in der Rechtsprechung des BVerfG s. 8.  Teil 4. Kap. D. III. 866 s. 8. Teil 4. Kap. A. I. und II.

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2. Grundlagen einer Repolitisierung zugunsten der Regierung Vergleicht man die heutige informationsrechtliche Rechtslage mit der Situation früherer Tage, zeigt sich eine totale Revolution der Verhältnisse, die teilweise zu begrüßen, teilweise aber revisionsbedürftig ist: Die monarchischen Regierungen waren in aller Regel weder zur Aktenvorlage noch zur Auskunftserteilung, geschweige denn dazu verpflichtet, mit den Ständeversammlungen sämtliche Geheimnisse zu teilen.867 Diese unter demokratischem Blickwinkel unhaltbaren Verhältnisse wurden nach der Novemberrevolution überwunden; in der Weimarer Republik kündigte sich prinzipiell schon die heutige Entwicklung an. Aber obwohl die Regierungsmitglieder materiell-rechtlich nach Art.  34 RVerf  1919 zur Kooperation verpflichtet waren, kam es nicht zu einem vollständigen Bruch mit der Vergangenheit, weil sich diese Pflichten nicht verfassungsgerichtlich durchsetzen ließen. Mit dieser Sanktionslosigkeit behielt jeder informationsrechtliche Streit seinen politischen Charakter. Das Kabinett riskierte im Fall einer Weigerung öffentliche Bloßstellung und ein (destruktives) Misstrauensvotum.868 – Eine vergleichbare „Jurisdiktionsfreiheit“, die jeden Organstreit zur Machtfrage degenerieren ließe, ist ausweislich von Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG nicht mehr im Sinne des Verfassungsgebers. Ebenso wenig wird seinem Willen aber – eingedenk der herausgehobenen Verfassungsorganstellung der Regierung – eine vollkommene Unterordnung der Bundesregierung unter die parlamentarische Seite gerecht. Zur Auflösung des Prinzipien- und Wertungskonflikts zwischen parlamentarischer Regierungsverantwortung, dem Informationsbedürfnis des Bundestages und den Interessen der Minderheiten ist zwischen den dargestellten Extrempositionen die „richtige Mitte“ zu suchen. Ausgangspunkt der Überlegungen muss es sein, dass das Enquête- und Untersuchungsrecht – schon angesichts der Korollartheorie – keineswegs immer von Natur aus der Regierungskontrolle dient. Hinzu kommt, dass nicht jede Form von oppositioneller Kritik gleich das adelnde Prädikat „Kontrolle“ verdient. Vielmehr überlässt es Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG dem Belieben der Antragsteller, welchen Sachverhalt sie im parteipolitischen Interesse he­ rausgreifen wollen. Angesichts dessen ist die kontrolllastige Rechtfertigung der derzeitigen Rechtslage brüchig. Der Verfassungswirklichkeit wird die Vorstellung, dass die Regierung zum willenlosen Spielball der politischen Kräfte des Untersuchungsverfahrens würde, ohnehin nicht gerecht. Ungeachtet dessen bleibt die Frage offen, ob die von der Opposition seit Inkrafttreten des Untersuchungsausschussgesetzes verschiedentlich beklagte Haltung der Regierung tatsächlich Rechte des Untersuchungsausschusses oder seiner Minderheiten verletzt hat oder nur Ausdruck eines politischen Handlungsspielraums dieses Verfassungsorgans war.869 867

s. 2. Teil 2. und 3. Kap. Für die Aktenvorlage vgl. 7. Teil 5. Kap. A. 869 Nach dem „Lügen“-, dem „Visa“-, dem „BND“- und dem „Hypo Real Estate“-Untersuchungsausschuss beschwerte sich die Opposition, dass die Regierung Rechte des Parlaments 868

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

3. Denkbare Beurteilungsspielräume zugunsten der Regierung Angesichts der vielfältigen parteipolitischen Handlungsoptionen der parlamentarisch-minoritären Seite, die sich – ohne der Wirklichkeit Gewalt anzutun – als oppositionelle Agitationsmöglichkeiten qualifizieren lassen, liegt es insoweit nahe, der Bundesregierung zum Ausgleich ebenfalls eine gewisse Bandbreite an zulässigen Reaktionen zu eröffnen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist der abschließende Vorrang von Art. 43 Abs. 1 GG vor dem vermeintlichen Recht der Untersuchungsausschüsse, amtierende Regierungsmitglieder als Zeugen vorzuladen und zu vernehmen.870 An die Stelle von Subordination, Pflicht und Zwang tritt so das „normale“ politische Geschäft. Angesichts ihrer Stellung als oberstes Verfassungsorgan des Bundes muss der Regierung aber auch darüber hinaus im Untersuchungsverfahren ein gewisser politischer Spielraum zustehen. Dafür lassen sich trotz des grundsätzlichen Credos, dass sämtliche Geheimnisse mit der Volksvertretung zu teilen sind, selbst in der Rechtsprechung Anhalts- und Ansatzpunkte finden. Genau besehen unterscheidet schon das „Flick“-Urteil verschiedene Informationskategorien: Während die Bundesregierung Geheimnisse, die sie im Staatswohl- oder grundrechtlichen Interesse zurückhalten will, grundsätzlich mit dem Bundestag teilen muss, soweit die parlamentarische Seite ausreichenden Geheimschutz gewährleistet,871 genießen Informationen aus dem Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung absoluten Schutz, weil ihre Preisgabe eine selbstbestimmte Politik der Bundesregierung erschweren oder unmöglich machen könnte.872 Das BVerfG umschreibt dieses Arkanum als „Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich“, der insbesondere die „Willensbildung der Regierung selbst“ umhegt; es geht sowohl um „Erörterungen im Kabinett als auch bei der Vorbereitung der Kabinetts- und Ressortentscheidungen, die sich vornehmlich in ressortübergreifenden und -internen Abstimmungsprozessen“ vollziehen. Als Abgrenzungskriterium dient die Formel, dass die heteronom entschiedene Weitergabe der verlangten „Information zu einem Mitregieren Dritter bei Entscheidungen führen [könnte…], die in der alleinigen Kompetenz der Regierung“ lägen.873 Unter diesem Blickwinkel dient der Kernbereichsschutz insbesondere für laufende, kann aber im Hinblick auf, man möchte sagen: einschüchternde Vorwirkungen auch gegenüber abgeschlossenen Vorgängen eingreifen. Bei solchen retrospektiven

durch eine zögerliche Aktenvorlagepraxis behindert sowie durch die Verweigerung von Unterlagen, umfangreiche Schwärzungen bis zur Unkenntlichkeit, restriktive Aussagegenehmigungen oder überhaupt eine unangemessen weite Auslegung des Kernbereichsschutzes verletzt habe. S. BT-Drs. 15/2100, S. 203; BT-Drs. 15/5975, S. 317; BT-Drs. 16/13400, S. 477, 838 f., 889; BT-Drs. 16/14000, S. 241 f. 870 s. 8. Teil 4. Kap. C. III. 2. 871 BVerfGE 67, 100 (134 ff., 139 ff., 142 ff.). 872 BVerfGE 67, 100 (139). 873 BVerfGE 124, 78 (120 f.).

6. Kap.: Vorschläge und Forderungen

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Forderungen soll eine Abwägung des parlamentarischen Informations- mit dem gouvernementalen Geheimhaltungsinteresse geboten sein.874 Gerade aufgrund der Verwurzelung dieses Topos in der spezifischen Verfassungsorganstellung der Bundesregierung, nichts anderes bedeutet der Schutz ihrer Funktionsfähigkeit, liegt es nahe, ihr in den für diese Entscheidung notwendigen Wertungsfragen, ob ein Informationsverlangen den Kernbereich verletzt oder nicht, einen gewissen Ermessens- bzw. Beurteilungsspielraum einzuräumen. Die Entscheidung obliegt ohnehin der Bundesregierung, wenn der Ausschuss sich mit Informationsforderungen an sie wendet;875 in der Sache geht es also lediglich um eine Zurücknahme der verfassungsgerichtlichen Überprüfung einer Weigerung. Indem die gängigen Grenzen für solche Spielräume geachtet werden müssten, ist die Sorge unbegründet, dass die Regierung mit Hilfe des Kernbereichsschutzes „unkontrolliert über den Umfang der Aktenvorlage“ oder ihrer sonstigen Mitwirkungspflichten in einer parlamentarischen Untersuchung vollkommen frei entscheiden könnte.876 Schon derzeit steht ihr de facto ein gewisser Spielraum zu, indem die Bundesregierung durchaus Informationen aus dem geschützten Kernbereich weitergeben darf, soweit es ihr politisch opportun erscheint. So hat die Bundesregierung in der jüngsten Vergangenheit von ihrem Recht, Informationen aus dem Kernbereich nicht preiszugeben, manchmal eher zurückhaltend Gebrauch gemacht: Teils wurden Unterlagen bloß eingestuft und dann später freigegeben,877 teils zwar die Vorlage verweigert, dem Ausschuss aber kurz über den Inhalt berichtet.878 Mit der kompromisslosen Begründung des Kernbereichsschutzes, der auf die Gewaltenteilung und Funktionsfähigkeit der Verfassungsorgane als unverfügbare Güter abstellt, verträgt sich dieser Befund kaum. Ein weiterer potentieller Ansatzpunkt für eine partielle Repolitisierung des Enquête- und Untersuchungsverfahrens könnten die Grenzen sein, die den Forderungen der Untersuchungsausschüsse gezogen werden. So spricht das BVerfG der Bundesregierung „bei einer Anforderung sächlicher Beweismittel wie bei der Erteilung von Aussagegenehmigungen ein Prüfungsrecht dahingehend zu, ob die angeordnete Beweiserhebung den Untersuchungsauftrag betrifft“. Freilich soll der Bundesregierung bei der Auslegung des Untersuchungsauftrags weder ein Ermessensspielraum noch eine Einschätzungsprärogative zustehen.879 Das ist aber auch 874

BVerfGE 124, 78 (121 ff.). Vgl. zur Entscheidung über die Beweiserheblichkeit angeforderter Akten BVerfGE 77, 1 (55 f.); B. Peters, NVwZ 2012, 1574 (1578) m. w. N. 876 So aber C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 103 f., der den Kernbereich insgesamt enger auslegt und gegenüber dem parlamentarischen Kontrollrecht zurückdrängen will. Die Begründung, eine Privilegierung gegenüber privaten Unternehmen komme nicht in Frage, die ihre Geheimnisse schließlich auch in einer Untersuchung offenbaren müssten, verliert die staatsrechtliche Stellung der Regierung aus dem Blick. 877 Vgl. BT-Drs. 15/2100, S. 217. 878 Vgl. BT-Drs. 15/5975, S. 317. 879 BVerfGE 124, 78 (118). 875

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gar nicht erforderlich und widerspräche der Tatsache, dass der Bundestag Inhaber des Untersuchungsrechts und der Herr des Untersuchungsausschusses ist. Eine andere Frage ist es aber, ob sich ein bestimmter Beweis im Rahmen dieses Untersuchungsauftrags hält oder anderen Zwecken dient. Insoweit ließe sich der Bundesregierung durchaus  – ebenso wie dem Ausschuss  – ein gewisser Spielraum zubilligen; kommt es zu einer Verständigung, fließen die Informationen, andernfalls kommt es zur politischen Auseinandersetzung. Ein Fall für das BVerfG wäre ein solcher Dissens im Ausschuss nicht. – Bloß eine bezeichnende Fußnote ist es in diesem Zusammenhang, dass die Kontrollhypertrophie sich auch bei der Begrenzung des Beweiserhebungsrechts zeigt: 2009 betonte der Zweite Senat, dass sich der Untersuchungsauftrag seinerseits „im Rahmen der parlamentarischen Kontrollkompetenz halten“ müsse; komplementär dazu wird die „Geheimhaltung solcher Tatsachen, die mit dem Kontrollauftrag eines Untersuchungsausschusses […] in keinem sachlichen Zusammenhang stehen“, im „Flick“-Urteil als „[u]n­ problematisch“ qualifiziert.880 Mit der Korollartheorie sind solche Formulierungen bloß in Einklang zu bringen, indem man jede parlamentarische Selbstinformation einem vollkommen entgrenzten Kontrollbegriff subsumiert. Weitere Anforderungen stellt das BVerfG an den Beweisbeschluss eines Untersuchungsausschusses als Grundlage der konkreten Beweiserhebung. Einerseits spricht das Gericht der parlamentarischen Seite – in Übereinstimmung mit dem offenen Selbstinformationsziel des Untersuchungsverfahrens – das Recht zu, durch nicht auf bestimmte Tatsachen fokussierte Beweiserhebungen „zunächst ‚Licht ins Dunkel‘ eines Untersuchungskomplexes zu bringen“; wieder spielt das BVerfG zur Legitimation dieser extensiven Interpretation (verkürzend!) darauf an, dass es dem Untersuchungsausschuss möglich sein müsse, „auf diese Weise die Auf­ klärung von politischen Verantwortlichkeiten zu ermöglichen“. Die „Grenze zulässiger Ausforschung [soll demgegenüber…] erst dort erreicht [sein], wo Beweisanträge ohne jegliche tatsächliche Grundlage ‚völlig ins Blaue hinein‘ gestellt“ werden.881 Auch in dieser Frage ließe sich der Regierung als Komplementär der weiten parlamentarischen Befugnisse ein Beurteilungsspielraum zusprechen; auf diese Weise käme das Gericht auch nicht in die Verlegenheit, „vielleicht doch bestehende  – verborgene  – Zusammenhänge aufzudecken und dazu eigene Nach­ forschungen anzustellen“. 1978 hat der Zweite Senat seine Kontrolle deswegen zu Lasten der parlamentarischen Mehrheit zurückgenommen.882 Die sehr einseitige Argumentation des BVerfG schafft außerdem für einen größeren Antwortspielraum der Regierung in solchen Angelegenheit Raum, die nicht im engeren Sinne kontrollbezogen sind. Dementsprechend hat das Gericht das starke Aktenvorlagerecht gegenüber der Regierung im „Flick“-Urteil damit begründet, 880

BVerfGE 67, 100 (134, 138). BVerfGE 124, 78 (118 f.). Aus dem Schrifttum vgl. C. Spoer­ hase, in: Pieper/dies., PUAG, 2012, § 18 Rn. 2. 881 BVerfGE 124, 78 (116). 882 Vgl. BVerfGE 49, 70 (88).

6. Kap.: Vorschläge und Forderungen

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dass dieses Recht „im Zusammenhang mit einer Mißstandsenquete […] der Kontrollaufgabe des Bundestages gegenüber der Bundesregierung“ diene, die eine „verfassungsrechtliche Pflicht [habe], die Ausübung des Kontrollrechts […] in geeigneter Weise zu unterstützen“.883 Diese einseitige Fokussierung auf die Kontrollfunktion lässt eigentlich in Sachstands-, Gesellschafts- oder Gesetzesvorbereitungsenquêten etc. eo ipso Raum für eine gewisse Reaktionsspanne der Bundesregierung. Nach Enquêtetypen wird sich insoweit nicht differenzieren lassen, weil es den Antragstellern ohne weiteres freisteht, allgemeinpolitische Kritik in die scharfe Form einer Missstandsuntersuchung zu verpacken.884 Vielmehr dürfte eine differenzierende Betrachtung von Forderung zu Forderung geboten sein und sich die Vorlage-, Auskunfts- und Antwortpflicht der Bundesregierung gegenüber solchen Fragen etc. verdichten, die aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte konkrete Vorwürfe eines rechtlichen Fehlverhaltens implizieren. Dementsprechend ist im „BND“-Beschluss“ zu lesen, dass es für den Grad des Kernbereichsschutzes auf das Gewicht des parlamentarischen Informationsinteresses ankomme, das besonders schwer wiege, „soweit es um die Aufdeckung möglicher Rechtsverstöße und vergleichbarer Missstände innerhalb der Regierung“ gehe.885 4. Renaissance des Selbstinformationscharakters Für die Anerkennung eines gewissen politischen Reaktions- und Antwortspielraums der Regierung, der zu einer maßvollen Repolitisierung und Dejuridifizierung des Untersuchungsverfahrens führen sollte, spricht zu guter Letzt, dass damit zugleich der eigentliche Selbstinformationscharakter des parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts wieder stärker zur Geltung käme. In diesem Sinne hat das BVerfG 1978 ausdrücklich betont, dass das Untersuchungsrecht den „Parlamente[n] die Möglichkeit [gebe], unabhängig von Regierung, Behörden und Gerichten mit hoheitlichen Mitteln, wie sie sonst nur Gerichten und besonderen Behörden zur Verfügung [stünden…], selbständig die Sachverhalte zu prüfen, die sie in Erfüllung ihres Verfassungsauftrags als Vertretung des Volkes für aufklärungsbedürftig“ hielten.886 Lädt man das vermeintliche Selbstinformationsrecht 883

BVerfGE 67, 100 (134) (Hervorhebungen nur hier). Zur Stärkung des Minderheitenrechts in der Einsetzungsphase s. 8. Teil 6. Kap. B. I. 885 BVerfGE 124, 78 (123). 886 BVerfGE 49, 70 (85). 2002 ist im „Parteispenden“-Urteil wieder von einem „Recht der Opposition auf eine Sachverhaltsaufklärung unabhängig von der Regierung und der sie tragenden Parlamentsmehrheit“ die Rede (BVerfGE 105, 197 (222)). s. aus dem Schrifttum etwa S. U. Pieper, in: ders./Spoerhase, PUAG, 2012, Einleitung Rn. 6 („nicht auf Informationsvermittlung durch die Exekutive angewiesen, sondern kann die erforderlichen Ermittlungen selbst vornehmen“); P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 1 Rn.  3 („Recht auf Selbstinformation“); D. Wiefelspütz, ZG 2003, 35 f.; ders., NJ 2002, 398; C. Teuber, Informationsrechte, 2007, S. 124; S. Bräcklein, Parlamentarismus, 2006, S. 33 („Ist das Vertrauensverhältnis zur Regierung gestört, […] nimmt das Parlament das Recht zur Selbstinformation in Anspruch.“; „Parlamentarische Untersuchungen sind […] Verfahren der Infor 884

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

des Bundestages dagegen mit vielfältigen Pflichten der Regierungsseite auf, verliert es diesen ursprünglichen Charakter und mutiert zu einem „Superinter­ pellationsrecht“. Informationsrechtliche „Waffengleichheit“ geht mit einer solchen Entwicklung nicht einher; die entsprechende Metapher appelliert lediglich an „Vorstellungen von Gerechtigkeit und Fairness“, ohne dass die Eignung des betreffenden Mechanismus für das Untersuchungsverfahren damit nachgewiesen würde.887 Gegen das Recht der Regierung, nicht auf jede Beweisforderung eines Untersuchungsausschusses einzugehen, könnte möglicherweise die Gefahr sprechen, dass der politische Streit dann stärker als schon bisher auf dem Rücken privater Dritter ausgetragen werden könnte, die durch einen Ausschuss – stellvertretend für die Regierung – als Zeugen oder Besitzer von Beweismitteln traktiert würden.888 Andererseits sieht die Verfassung ihre Einbeziehung in eine parlamentarische Untersuchung durch Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG gerade ausdrücklich vor. Die Rechtsordnung nimmt insbesondere im Zivilverfahren ebenfalls die Gefahr hin, dass Zeugen etc. durch Winkelzüge der Parteien „Geheimnisse“ offenbaren müssen oder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Nicht besser steht es um strafrechtliche Sensationsprozesse, wenn beide Seiten die öffentliche Meinung un­ geniert für ihre Zwecke instrumentalisieren. Nach dem Maß seiner Gemeinwohlrelevanz steht das parlamentarische Untersuchungsverfahren den gerichtlichen Verfahren nicht nach. Für die Richtigkeit dieses Ergebnisses spricht auch, dass die Zeugenpflicht als allgemeine staatsbürgerliche Pflicht gilt, dem Staat mit seinem Wissen zur Verfügung zu stehen. Um nichts anderes geht es im parlamentarischen Untersuchungsverfahren: Der Einzelne, der an einem Sachverhalt beteiligt ist oder von ihm lediglich Kenntnis hat, muss im Interesse des politisch-parlamentarischen Diskurses an der Aufarbeitung dieses Sachverhalts durch ein parlamentarisches mationsgewinnung und Informationsbewertung unabhängig von anderen Staatsorganen“) und ähnl. dies., ZRP 2003, 348 (349) im Anschluss an M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 44 Rn. 8; J. Oebbecke, Räume, 1986, S. 111. – Demgegenüber geht u. a. Hans-Peter Schneider über das „klassische“ Begriffsverständnis hinaus, indem er dem Selbstinformationsrecht auch das Aktenvorlage- oder Akteneinsichtsrecht gegenüber der Bundesregierung zuschlägt und seine Durchschlagskraft davon abhängig macht, „ob und inwieweit Außenstehende, vor allem Regierung und Verwaltung [!], bereit sind, den Ausschuß mit Informationsmaterial zu versorgen“. Als Fremdinformationsinstrumente bleiben so bloß die unterschiedlichen Spielarten des parlamentarischen Interpellationsrechts übrig. s. H.-P. Schneider, AÖR 99 (1974), 628 (630); ders., AK-GG (Aug. 2002), Art. 43 Rn. 5 und ders., 57. DJT, 1988, S. M54 (M80) (Zitat; Hervorhebung nur hier); ähnl. P. J. Glauben, in: ders./Brocker, Untersuchungsausschüsse2 2011, § 1 Rn.  3 (Selbstinformationsrecht durch „Geltendmachung eines Aktenvorlageanspruchs und Vernehmung von Zeugen“). Ähnl. äußerten sich die Antragsteller im „Flick“-Verfahren (BVerfGE 67, 100 (114)). s.  auch die Beschwerdebegründung des „Parteispenden“-Untersuchungsausschusses gegen die Weigerung des Hessischen Justizministeriums zur Herausgabe von Strafverfahrensakten (BT-Drs. 14/9300, S. 67). 887 So zu Recht P. Cancik, Der Staat 49 (2010), 251 (261) im Hinblick auf das Abänderungsrecht der Mehrheit bei der Einsetzung. 888 Vgl. H. Steinberger, Rechtsgutachten, 1988, S. 1215 f.

6. Kap.: Vorschläge und Forderungen

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Gremium mitwirken. Wie weit diese Verpflichtungen im Einzelnen reichen und welche Eingriffe in seine Privatsphäre der Betroffene oder ein dritter Zeuge hinnehmen muss, lässt sich nicht allgemein bestimmen. Insoweit sind Parlament und Untersuchungsausschuss der grundlegenden Erkenntnis aus dem „Flick“-Urteil entsprechend, dass parlamentarische Untersuchungsausschüsse öffentliche Gewalt ausüben und deswegen gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden sind,889 in der Pflicht, den Einzelnen und seine Güter zu schützen. 5. Gerichtliche Überprüfbarkeit Wie bereits angedeutet, muss die bundesverfassungsgerichtliche Kontrollkompetenz gegenüber einer Entscheidung der Bundesregierung, Forderungen eines Untersuchungsausschusses nicht Folge zu leisten, im Interesse einer sachgerechten Repolitisierung des Enquête- und Untersuchungsverfahren wenigstens teilweise zurückgenommen werden. Insoweit lässt sich auf die Überlegungen und Regeln zurückgreifen, die das BVerfG im „Parteispenden“-Urteil für die Ablehnung eines Beweisantrags der qualifizierten Ausschussminderheiten durch die Mehrheit an- und aufgestellt hat. Mit „Rücksicht auf die parlamentarische Autonomie und die besondere Natur des Untersuchungsverfahrens als Aufklärungsinstrument im Rahmen der politischen Kontroverse“ zieht sich das Gericht teilweise zurück; justitiabel soll bloß sein, „ob [die…] Begründung der Mehrheit nachvollziehbar“ ist und sie den ihr „durch die Verfahrensautonomie […] eröffnete[n] Wertungsrahmen […] in vertretbarer Weise ausgefüllt“ hat.890 Die Stellung der Bundesregierung als eigenständiges Verfassungsorgan steht bedeutungsmäßig nicht hinter dem der Mehrheit im parlamentarischen Untersuchungsverfahren zurück. Darüber hinaus ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie als Adressat der Pflicht, den Untersuchungsausschuss zu informieren, gleichzeitig ihre eigene Rolle als Verfassungsorgan des Bundes zu wahren und die Voraussetzungen für eine Preisgabe ihrer Informationen zu prüfen, einzuschätzen und zu beurteilen hat. Bei der Kontrolle ihrer Entscheidung sollte das BVerfG richterliche Zurückhaltung üben, um dem politischen Charakter des parlamentarischen Selbstinformationsrechts angemessen Rechnung zu tragen. Könnte das Gericht die Entscheidungen der Regierung demgegenüber vollständig überprüfen, verfügten Parlament, Untersuchungsausschuss und ggf. die mitbestimmende Antragsminderheit in vielerlei Hinsicht über ein nahezu unbeschränktes politisches Ermessen, während sich die Regierung in einem engen Netz von Rechtspflichten verfinge. Zu allem Überfluss ließe sich das BVerfG, wovor Horst Ehmke schon 1964 eindringlich gewarnt hat,891 in die poli­ tische Auseinandersetzung hineinziehen.

889

BVerfGE 67, 100 (142 ff.). BVerfGE 105, 197 (225 f.). 891 H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E45 f.). 890

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

Der Beurteilungs- und Reaktionsspielraum der Bundesregierung ist aber in justitiabler Weise überschritten, wenn sich ihre Weigerung, einem Untersuchungsausschuss Informationen preiszugeben, nur als der Versuch deuten lässt, eine unbequeme Ermittlung abzuwürgen. Das kann der Fall sein, wenn objektiv nachvollziehbare Anhaltspunkte für die Untersuchungsrelevanz der geforderten Akten oder Auskünfte bestehen und die Sachverhaltsannahmen respektive Vorwürfe, die es zu überprüfen gilt, nicht haltlos sind. Weigert sich die Regierung aus nicht nachvollziehbaren Gründen, näher auf einen substantiierten Vorwurf einzugehen, überschreitet sie die Grenzen ihres Reaktions- und Antwortspielraums und verletzt das Enquête- und Untersuchungsrecht des Bundestages. Das BVerfG tritt dann als Wächter über die Einhaltung der demokratisch-rechtsstaatlichen Spielregeln auf den Plan. Auf aus der Luft gegriffene Behauptungen braucht sich die Bundes­ regierung dagegen nicht einmal sachlich einzulassen. Sie kann sich darauf beschränken, die Haltlosigkeit gegenüber dem Ausschuss plausibel darzulegen. Dass sie sich nicht ohne tragfähige Gründe unkooperativ verhält, sichert die durch das BVerfG der Regierung auferlegte Begründungs- und Rechenschaftspflicht gegenüber dem Untersuchungsausschuss. Die disziplinierende Wirkung dieser Rechtsprechung hat sich in verschiedenen Untersuchungsverfahren bereits gezeigt.892 Je konkreter und je intensiver durch Tatsachen erhärtet ein Vorwurf ist, desto eher wird und muss die Bundesregierung vor dem Ausschuss Rechenschaft ablegen. Schon im Eigeninteresse wird sie – wie es u. a. Reinold Aßmann (Linkes Zentrum) 1863 dem Ministerium Bismarck im Vorfeld der Wahlmanipulationsangelegenheit empfohlen hatte, weil das Publikum „offenbar das Schlimmste“ vermute, „wo eine Auskunft etwa verweigert“ werde893 – auf nicht völlig haltlose Vorwürfe sachlich reagieren. Welche Folgen dagegen in der Regel der Versuch nach sich zieht, eine Affäre schweigend oder mit Hilfe von unvollständigen Erklärungen auszusitzen, illustrieren die jüngsten Affären und Rücktritte. Einem sachlich-kritischen politischen Dialog darf und kann sich die Regierung nicht entziehen. Vorführen lassen muss sie sich nicht. Parlamentarische Kontrolle besteht in einer Geltendmachung politischer Verantwortlichkeit. Nach Wortsinn und Etymologie konzentriert sich diese in der Pflicht, sich gegenüber Vorwürfen zu äußern, für Handlungen einzustehen, sich in diesem Sinne zu verantworten. Kern dieses Verantwortungsverständnisses ist, dass der Betroffene gegenüber seinem Kontrolleur „Rede und Antwort“ über sein Verhalten steht.894 Dieses 892 Zunächst wurden im „Hypo Real Estate“-Untersuchungsverfahren Akten  – wie bisher üblich (vgl. zum „BND“-Ausschuss mit Kritik der Minderheit BT-Drs. 16/13400, S. 24, 477, 838) – unter pauschalem Hinweis auf den Kernbereich verweigert oder bloß geschwärzt geliefert, Aussagegenehmigungen entsprechend erteilt. Als der Vorsitzende dann aber auf die Auswirkungen des „BND“-Beschlusses hinwies, legte die Regierung zuvor zurückgehaltene Unterlagen vor, begründete ihre Weigerung ausführlicher und nahm einen entsprechenden Vorbehalt in die Aussagegenehmigungen auf. s. dazu – und den Stellungnahmen der Opposition – BT-Drs. 16/14000, S. 35, 38 ff., 241 f. 893 s. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 169. 894 K. Stein, Verantwortlichkeit, 2009, S. 8 f., 25.

6. Kap.: Vorschläge und Forderungen

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Ziel lässt sich auch bei der Anerkennung eines limitierten politischen Reaktionsund Antwortspielraums der Regierung gegenüber einem Untersuchungsausschuss erreichen. Zugleich lässt sich so für etwas „Waffengleichheit“ in einem genuin politischen Verfahren sorgen, ohne dass das Gouvernement wie in früheren Jahrhunderten die Möglichkeit besäße, die parlamentarische Seite am langen Arm verkommen zu lassen.

IV. Politisch-öffentliche Kontrolle als Kompensation Wenn die Minderheiten in der Einsetzungsphase und die Ausschussmehrheit sowie die Bundesregierung im Verfahren größere politische Spielräume erhielten, deren Ausschöpfung bloß eingeschränkter verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterläge, wäre voraussichtlich eine Renaissance genuin politischer Instrumente die Folge. An die Stelle einer rechtlichen Vollkontrolle durch das BVerfG, die ihrerseits derzeit zu einer Verzerrung des demokratischen Kräftespiels führt, träte zwangsläufig wieder vermehrt die politische Kontroverse vor dem „Richterstuhl der öffentlichen Meinung“. Der politische Charakter des Enquête- und Untersuchungsverfahrens schlägt sich schließlich nicht nur in einem freieren Kräftespiel von Mehrheit und Minderheit nieder, sondern impliziert zugleich, dass sich beide Seiten dem Urteil des Publikums stellen müssen. Der Untersuchungsausschuss kann sowohl dem „Angreifer“ als auch dem „Angegriffenen“ ein Forum zu legitimer parteipolitischer Agitation bieten; beide Seiten können sich der Macht der öffentlichen Meinung bedienen, um in der politischen Auseinandersetzung zu bestehen.895 Dazu gehört nicht nur die begleitende Medienberichterstattung, die jede Äußerung der Beteiligten mehr oder minder getreulich abbildet, sondern auch die Möglichkeit von Minderheit und Mehrheit, die Angelegenheit im Plenum auf die Agenda zu bringen. Hinzu kommt, dass sich die parlamentarische Regierungsverantwortung eben nicht in der Nachprüfung eines potentiellen Fehlverhaltens oder gravierender, wenngleich „unverschuldeter“ Fehlentscheidungen erschöpft, wie es die starke Betonung investigativer Kontrolle suggeriert. Die Regierung muss Parlament und Öffentlichkeit vielmehr für sämtliche Entscheidungen Rede und Antwort stehen, Rechenschaft über ihre Motive ablegen und ihre Politik erläutern und verteidigen, um damit die für eine Demokratie lebensnotwendige Debatte über politische Richtungen, Ziele und Mittel zu ermöglichen und zu fördern. Der „Kampfrichter“ ist – durch die Massenmedien vermittelt – die Öffentlichkeit oder in verfassungsrechtlichen Kategorien gesprochen: das souveräne Staatsvolk. Ihre ständige Beobachtung durch das Publikum zwingt Mehrheit und Regierung zu Zugeständnissen gegenüber berechtigten Forderungen der Minderheit. Ebenso wird die Öffentlichkeit aus der Luft gegriffenen Vorwürfen der Minoritäten ihre Gunst ent 895

Vgl. M. Riede/H. Scheller, ZParl 2013, 93 (113 f.).

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

ziehen, so dass auch politische Konsequenzen einer Weigerung der Regierung, auf solche Ränke einzugehen, ausbleiben. Das Enquête- und Untersuchungsrecht bietet in erster Linie ein öffentliches Forum für die parteipolitische Auseinandersetzung, in der es die robusten Beweiserhebungsbefugnisse des Art. 44 GG den Kombattanten ermöglichen, die für Vorwürfe wie Vorschläge notwendigen Informationen zu beschaffen.896 Besteht ein ernsthafter Missstands-, Fehlverhaltens- oder Korruptionsverdacht gegen Regierungsmitglieder, kann der gouvernementalen Seite auch der desperate Versuch, sich hinter einer Mauer des Schweigens zu verstecken, in der Regel nicht weiterhelfen. Verschiedene Skandale und Affären der jüngsten Vergangenheit haben gelehrt, dass heute wie vor 175 Jahren „böser Wille […] schnell zu Schanden“ wird und „Kabalen und alle Polizeikünste stets ein schnelles Ende“ finden, wenn die Exekutive vor der Vertretungskörperschaft „Rechenschaft […] ablegen“ muss (Theodor v. Schön).897 Die 23 Jahre später folgende Mahnung an die Adresse des Ministeriums Bismarck, dass das Publikum „offenbar das Schlimmste“ vermute, „wo eine Auskunft etwa verweigert“ werde, wurde bereits zitiert.898 Weitere 123 Jahre später betonte Janbernd Oebbecke, dass ein „Minister, der auf kritische und sachlich fundierte Frage in Anwesenheit nicht nur der Mitglieder des Bundestages und der Besucher des Parlaments, sondern auch der Vertreter der Presse und der Fernsehkameras [schweige, …] kaum ohne schweren politischen Schaden davonkommen [werde], wenn er nicht gute Gründe für sein Schweigen dartun“ könne.899 Wie groß die politische Macht des Parlaments sein könnte, beschwor Otto Küster auf dem Herrenchiemseer Verfassungskonvent, indem er eine Rücktrittspflicht nach einem Misstrauensvotum für überflüssig hielt, weil die Volksvertretung jeden „mißliebigen Kanzler“ zur Demission zwingen könne, indem sie „bloß fortgesetzt Untersuchungsausschüsse [einsetze…], um die geringfügigste Regierungshandlung zu untersuchen“.900 Tatsächlich lehrt die Erfahrung der letzten Jahre, dass die Massenmedien und die durch sie aufgeheizte Öffentlichkeit durchaus wirkungsvolle Disziplinierungsmittel gegenüber dem politischen Prozess und seinen Akteuren sind.901 Neben informeller Kritik und solchen Drangsalen verfügt der Bundestag noch über die stärkeren Mittel eines Tadels- und 896 Vgl. H. Ehmke, 45. DJT II, 1964, S. E7 (E39 ff.) zum politischen Charakter parlamentarischer Missstandsuntersuchungen sowie der Bedeutung der Öffentlichkeit des Untersuchungsverfahrens und der Presse für die Untersuchung. 897 T. v. Schöns, Woher, 1842, S. 9 und passim (Hervorhebung nur hier). 898 s. VerhPrAbgH VIII/1 (1863/64), S. 169. 899 J. Oebbecke, Räume, 1986, S. 107 ff. Zum Einfluss von Öffentlichkeit und Medien auf den politischen Prozess vgl. die Nachw. in Fn. 901. 900 ParlRat II, 1981, S. 162 f. 901 Zum Einfluss der durch die Presse vermittelten Öffentlichkeit vgl. H.  Ehmke, 45.  DJT II, 1964, S. E7 (E39, 44 f.); M. Quaas/R. Zuck, NJW 1988, 1873 (1876); J. Oebbecke, Räume, 1986, S. 108 oder aus neuerer Zeit C. Meyer-Bohl, Grenzen, 1992, S. 76 ff. mit Schwerpunkt auf privatgerichtete Untersuchungen sowie S. 266 f. zur Rolle der Öffentlichkeit für das parlamentarische Untersuchungsverfahren. s. allg. zur Rolle der Presse BVerfGE 20, 162 (175).

6. Kap.: Vorschläge und Forderungen

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Missbilligungsbeschlusses, um seine informationsrechtlichen Forderungen durchzusetzen.902 In letzter Konsequenz kommt gegenüber einer unhaltbar gewordenen Bundesregierung ein Misstrauensvotum der Bundestagsmehrheit in Betracht.

C. Zwischenergebnis Die Rechtsprechung und das ihr folgende Schrifttum versuchen das Enquêteund Untersuchungsrecht zu stärken, fördern aber eine Verzerrung der demokratischen Machtverhältnisse, indem sie Art. 44 GG einseitig als Kontrollinstrument auffassen bzw. ein übertrieben pseudo-objektives Verständnis zugrunde legen. Um gegenüber dieser Fehlentwicklung wieder den wahren politischen Charakter des Selbstinformationsrechts hervorzuheben, bietet sich eine Stärkung der Stellung der Ausschussmehrheit sowie der Bundesregierung im Untersuchungsverfahren an. Ein vollständiger Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung ist dafür nicht erforderlich. Es reicht aus, die bestehenden Ansätze für eine selbständigere und vor allem politischere Rolle der Regierung herauszuarbeiten und mit der Anerkennung eines politischen Ermessens- oder Beurteilungsspielraums zur Repolitisierung dieses Instruments zu nutzen. Dafür bieten sich u. a. die Fragen an, ob ein parlamentarisches Verlangen den Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung betrifft bzw. ein ausreichender sachlicher Bezug zu dem Thema der Untersuchung vorliegt oder ob es sich um einen unzulässigen Ausforschungsbeweis ins Blaue hi­ nein etc. handelt. Setzt die Minderheit, wozu sie durch Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG berechtigt ist, aus parteipolitischen Interessen einen extrem einseitigen Untersuchungsauftrag durch, der sich gegen den Splitter im Auge des politischen Gegners richtet, den Balken im eigenen Auge aber geflissentlich übersieht, kann die Mehrheit diese Agitation mit einem eigenen Einsetzungsantrag kontern. Solche Doppeluntersuchungen sind kein verfassungswidriges Übel, das es unbedingt zu verhindern gälte; vielmehr bieten sie den Vorteil, dass sowohl die Antragsminderheit als auch die Mehrheit ihre parteipolitischen Ziele verfolgen können. Freilich führt die paritätische Berücksichtigung der Mehrheit, die sich als Kehrseite aus dem „Parteispenden“Urteil auch in der Minderheitenenquête ergibt, zu einer gewissen enquête- und untersuchungsrechtlichen Präponderanz der Bundestagsmehrheit. Dieser Effekt ist nicht etwa eine verfassungswidrige Verkürzung relevanter Kontrollrechte, sondern trägt lediglich der Gesamtverantwortung des Bundestags für die gesamte Untersuchung Rechnung. Außerdem entspricht die prinzipielle (Mit-)Herrschaft der Mehrheit dem demokratisch-parlamentarischen Mehrheitsprinzip. Die politische Auseinandersetzung setzt sich im Untersuchungsverfahren fort. Weder die Mehrheit noch die Minderheit sind – anders als es die Rechtsprechung zu 902

H. H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG (2004), Art. 43 Rn. 47; M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art. 43 Rn. 16.

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8. Teil: Bewahrung und Fortentwicklung (1949–2015) 

fordern scheint903 – dazu verpflichtet, keine „eingeengten Blickwinkel“ einzunehmen oder eine „verzerrte Darstellung“ zu verhindern. Es geht nicht um „Wahrheitsfindung“, sondern um eine parteipolitisch eingefärbte Aufarbeitung eines kontroversen Sachverhalts. Das Enquête- und Untersuchungsrecht ist ein durch und durch politisches Recht; komplementär dazu darf das Enquête- und Untersuchungsverfahren nicht mit einem Gerichts- oder Verwaltungsverfahren verwechselt werden. Wenn sich die Mehrheit im Ausschuss weigert, einem minoritären Beweisantrag Folge zu leisten, steht ihr im Kontext dieser Entscheidung ein gewisser politischer Beurteilungs- und Ermessenspielraum zu. Der brüskierten Minderheit bleibt der Appell an die Öffentlichkeit. Auch die Bundesregierung muss gegenüber einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss über ein ausreichendes Maß an politischen Reaktionsmöglichkeiten verfügen, wenn sie nicht der legitimen parteipolitischen Agitation von Minderheit und Mehrheit ausgeliefert sein soll. Je stärker die politische Einfärbung in dem Sinne ist, dass im Einzelfall nicht sachlich fundierte Vorwürfe, sondern bloße Behauptungen und parteipolitische Wertungen hinter bestimmten Beweisforderungen stehen, desto größer fällt dieser politische Spielraum zugunsten der Bundesregierung aus. Soweit rechtliche bzw. gerichtliche Disziplinierungsmittel fehlen, weil sich die Regierung innerhalb des ihr als oberstem Bundesorgan zustehenden politischen Be­urteilungs- und Entscheidungs­ spielraums bewegt, steht der Minderheit die deutliche politische Kritik vor den Augen der Öffentlichkeit offen.

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BVerfGE 49, 70 (87 f.).

9. Teil

Untersuchungsergebnisse A. Entwicklungslinien seit 1815 Das heutige Enquête- und Untersuchungsrecht des Deutschen Bundestages ist der vorläufige Höhepunkt einer erstaunlich folgerichtigen und kontinuierlichen Entwicklung von den ersten Fremdinformationsrechten des frühen 19.  Jahrhunderts bis hin zu dem modernen Enquête- und Untersuchungsrecht des Art. 44 GG. Jede Phase der vergangenen 200 Jahre hat ihr Scherflein zu der Entstehung des heutigen Status quo beigetragen; im Mindesten haben die politischen und verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Zeit das Wesen der parlamentarischen Information und die Forderungen der politischen Akteure geprägt.

I. Parlamentarische Information im Konstitutionalismus 1. Anfänge parlamentarischer Entwicklung nach 1815 Die erste Etappe der informationsrechtlichen Zeitreise durch die deutsche Verfassungsgeschichte beginnt mit dem Ende der napoleonischen Herrschaft. Nach der Gründung des Deutschen Bundes setzte auch unter dem Einfluss von Art. 13 DBA  1815 eine erste Konstitutionalisierungswelle ein. Die Entstehung neuständischer Repräsentativsysteme, in denen neben ernannten oder geborenen Mit­ gliedern zum ersten Mal auch frei gewählte Abgeordnete als eigentliche Volks­ vertreter zu den Landständen gehörten, war die Initialzündung für die Entwicklung des modernen Parlamentarismus; zugleich wurde so die Grundlage für die weitere informationsrechtliche Entwicklung gelegt.1 Das Urteil des enquête- und untersuchungsrechtlichen Schrifttums über diese Periode ist perplex: Einerseits wird ihre Bedeutung gering veranschlagt, andererseits die vermeintliche Modernität verschiedener Verfassungen gepriesen  – und massiv überschätzt: Tatsächlich sahen die Staatsgrundgesetze Sachsen-WeimarEisenachs (1816), Kurhessens (1831) oder Hohenzollern-Sigmaringens (1833) kein vormodernes Selbstinformationsrecht der Kammern vor. Eigene Ermittlungen gestatteten sie den Ständeversammlungen nicht, die bestenfalls über interpella­ 1

s. 2. Teil 3. Kap.

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9. Teil: Untersuchungsergebnisse

tionsartige Befugnisse gegenüber dem Staatsministerium oder speziellen Landtagskommissarien verfügten. Rechtlich durchsetzbare Antwortpflichten korrespondierten diesen unvollkommenen Fragerechten nicht, die  – anders als das spätere „echte“ Interpellationsrecht  – noch nicht einmal den parlamentarischen Minoritäten, sondern den Mehrheiten zustanden. Vereinzelte scheinbar enquêteund untersuchungsrechtliche Ansätze fügen sich bei genauerer Betrachtung doch nahtlos in das Schema unselbständiger Fremdinformationsinstrumente ein, indem ihre Realisierung de facto et de jure von der Kooperationswilligkeit der Ministerien abhing. Ein eigenständiges Recht zur Untersuchung von Tatsachen, sei es durch die Anhörung (freiwilliger) Zeugen und Sachverständiger oder durch Nachfragen bei den nachgeordneten Behörden und Gerichten, hat es vor 1848 nicht gegeben.2 Dennoch spielten regierungskritische Auskunftsverlangen in der von scharfen Auseinandersetzungen geprägten kurhessischen Geschichte von Anfang an eine Rolle. Unmittelbar nach Inkrafttreten der Januarverfassung von 1831 zeichnete sich die für das heutige parlamentarische Selbstinformationsrecht typische Interessenkonstellation ab, indem die oppositionellen Landstände versuchten, sich über Fehltritte der Regierung und des Militärs kundig zu machen, während das Kurhaus bemüht war, alle Geheimnisse zu bewahren. Auch weil die parlamentarische Seite nicht über ein Selbstinformationsrecht, sondern bloß über Fremdinformationsansprüche verfügte, stand der Ausgang des Ringens von vornherein fest. Interpellationsartige Mechanismen taugen eben nicht zum parlamentarischen Konflikt mit der Regierung.3 Der wichtigste Grund für die traurige informationsrechtliche Lage der Landstände war das in Art. 57 WSA 1820 festzementierte „monarchische Prinzip“. Weil alle Staatsgewalt formal in der Person des Fürsten ruhen musste, durften den Ständen bloß beschränkte Mitwirkungsrechte bei der landesherrlichen Ausübung einzelner Hoheitsrechte zustehen. Die Landesvertretungen waren noch weit von modernen Parlamenten mit sachlich nahezu unbegrenzten Befassungskompetenzen entfernt. Ihre Rolle war ausschließlich als hemmender Faktor gegenüber den Gefahren eines monarchischen Despotismus konzipiert. Am weitesten gingen die landständischen Befugnisse noch auf dem Sektor der Staatsfinanzen und in der Gesetzgebung, obwohl den Kammern das Initiativrecht noch lange Zeit vorenthalten wurde. Flankiert wurden diese Mitwirkungsrechte von einem eigentümlichen Auftrag zum Schutz der Verfassung und der Grundrechte gegen die Willkür des Monarchen, der Regierung und der Verwaltung. Wie beschränkt die Stellung der Landstände trotzdem war, zeigt sich darin, dass Normsetzungsbefugnisse ohne absolutes Vetorecht des Landesherrn als mit dem „monarchischen Prinzip“ ebenso absolut unvereinbar galten wie jede „echte“ parlamentarische Regierungsverantwortung mit Misstrauensvotum und Amtsverlust. Stattdessen erschöpften sich die 2

s. 2. Teil 2. und 3. Kap. s. 2. Teil 2. Kap. A. II.

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9. Teil: Untersuchungsergebnisse

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Möglichkeiten einer parlamentarischen Regierungs- und Verwaltungskontrolle in Petitions- und Beschwerderechten oder dem äußersten Mittel einer Ministeranklage für schuldhafte Verfassungs-, seltener auch für Gesetzesverletzungen. Unter diesen Auspizien gab es für ein politisches Untersuchungsrecht zur wirkungsvollen Regierungskontrolle ebenso wenig Platz wie für ein sachbezogenes Enquêterecht. Indem das „monarchische Prinzip“ dem Landesherrn nach gängiger Interpretation die gesamte Exekutive vorbehielt, galten nach außen wirkende Selbstinformationsrechte, etwa eine Vorladung oder Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen oder ein direkter Kontakt mit nachgeordneten staatlichen Stellen, mit dieser zentralen Vorgabe des Deutschen Bundesrechts als inkompatibel. Weitere Ressentiments schürte das monarchische „Oberaufsichtsrecht“. Jeder Versuch der Volksvertretung, einen Zwischenfall oder Missstand aufzuklären, stand überdies im Verdacht eines Übergriffs in die Justiz. Das Zusammenspiel des „monarchischen Prinzips“ mit der alten liberal-rechtsstaatlichen Forderung richterlicher Unabhängigkeit erwies sich so als bedeutender Hemmschuh für die Entwicklung eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts.4 Selbst ungeachtet dieser verfassungsrechtlichen Hinderungsgründe hätte die zahlenmäßige Schwäche der Ständeversammlungen oder die Kürze ihrer Sitzungsperioden nach mehrjährigen Unterbrechungen die Ausübung eines „echten“ Enquête- und Untersuchungsrechts faktisch unmöglich gemacht. Dennoch sind die Jahre von 1815 bis 1848 für die Entwicklung nicht verloren. Ihr wichtigster Beitrag ist die Entstehung relativ moderner Volksvertretungen. Während das altständische System nicht auf der Repräsentation aller Staatsbürger durch gewählte Abgeordnete, sondern einer postfeudalen Interessenvertretung privilegierter Stände durch gebundene Vertreter basierte, setzte sich nach dem Wiener Kongress das Modell des repräsentativen und freien Mandats durch. Moderne Repräsentativ­ körperschaften mit gewählten Volksvertretern sind aber die Conditio sine qua non für die Entwicklung einer Opposition. In der Praxis führte jeder informationsrechtliche Dissens, jedes Misstrauen gegenüber der Regierung den Zeitgenossen die Abhängigkeit der Landstände von den gouvernementalen Informationen schmerzhaft vor Augen. Schon die ersten Volksvertretungen mussten also erkennen, wie bitter nötig ein „eigenes“ Enquête- und Untersuchungsrecht war, um sich gegenüber dem Gouvernement zu behaupten. Ebenso wurde die Notwendigkeit umfassender Informationen sichtbar, die der Volksvertretung erst eine gewissenhafte Ausübung ihrer materiellen legislativen und budgetrechtlichen Mitwirkungsbefugnisse ermöglichten.5 Neben diesen Erkenntnissen ist dem Konstitutionalismus vor 1848 noch ein relevantes informationsrechtliches Vermächtnis zu verdanken. Gemeint ist das Interpellationsrecht, das seinen Siegeszug in Deutschland in den 1830er Jahren antrat. Funktional bot es den Abgeordneten über die sachliche Information hinaus eine 4

s. 2. Teil 1. Kap. B. bis D. s. 2. Teil 3. Kap.

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9. Teil: Untersuchungsergebnisse

Möglichkeit, um, wenngleich in verklausulierter Form, mit der Regierung vor den Augen des Publikums ins Gericht zu gehen. Später antizipierte das formalisierte Fragerecht ungeachtet seiner Schwächen, insbesondere des Fehlens jeder rechtlichen Durchsetzungsmöglichkeit, mit seiner Ausgestaltung als Minderheitenrecht den prägenden Aspekt des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts.6 2. Durchbruch in der Märzrevolution Seinen ersten Durchbruch erlebte das selbständige parlamentarische Informa­ tionsrecht in der Märzrevolution von 1848/49. Der revolutionäre Frühling, in dem Gedanken parlamentarischer Mitsprache, ja selbst von Volkssouveränität und Demokratie aufkeimten, ermöglichte den Nationalversammlungen in Frankfurt am Main und in Berlin selbständige Enquêten und Untersuchungen. Obwohl in den Versammlungen keine Mehrheit für einen grundsätzlichen Bruch mit der konstitutionellen Ordnung bestand, nahmen die Abgeordneten in der Paulskirche wie in der Berliner Singakademie doch für sich das parlamentarische Recht in Anspruch, zur Untersuchung von Tatsachen besondere Kommissionen niederzusetzen. Damit befreiten sie sich wenigstens für ihre Information von den Fesseln des „monarchischen Prinzips“. Für diesen, am Maßstab des bisherigen Staatsrechts gemessen revolutionären Schritt gab es keine tragfähige normative Grundlage. Während sich der Frankfurter Reichstag in § 24 GO-FNV 1848 selbst „ermächtigte“, seinen Kommissionen das Recht einzuräumen, „Zeugen und Sachverständige vorzufordern, zu vernehmen und vernehmen zu lassen, oder mit Behörden in Verbindung zu treten“, verzichtete die Versammlung zur Vereinbarung der preußischen Staatsverfassung auf eine derartige autonome Regelung. Um so deutlicher traten die revolutionären Fundamente der parlamentarischen Informationspraxis in Frankfurt und Berlin, ja das Selbstverständnis der Abgeordneten als Volksvertreter einerseits sowie andererseits ihr Wille in den Vordergrund, liberalere konstitutionelle Regierungsformen einzuführen.7 Während des kurzen parlamentarisch-demokratischen Intermezzos führten beide großen Nationalversammlungen der Öffentlichkeit das gesamte Pan­optikum parlamentarischer Enquête- und Untersuchungstypen vor: Verschiedene, teils umfangreiche Enquêten behandelten verfassungs-, außen-, wirtschafts-, handelsoder sozialpolitische Themen. Primär diente das usurpierte Recht, Zeugen und Sachverständige aus der Bevölkerung zu vernehmen, schriftliche Gutachten, Stellungnahmen, Auskünfte oder Unterlagen von staatlichen Behörden, Handelsorganisationen, anderen Stellen und Privatleuten einzufordern oder  – in der Paulskirche – die Minister als Sachverständige zu den Ausschussberatungen hinzuzuziehen, also dazu, gesetzgeberische Entscheidungen vorzubereiten. Außer 6

s. 2. Teil 1. Kap. C. II. 4. und 3. Kap. A. II. s. 3. Teil 1. Kap. B. I. und 2. Kap. D. I.

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9. Teil: Untersuchungsergebnisse

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dem nahmen sich beide Versammlungen bei der Behandlung von Immunitätssachen oder zur Legitimationsprüfung das Recht, Unterlagen und Auskünfte von der Regierung oder den Strafverfolgungsorganen einzufordern.8 Die beiden bedeutendsten politischen Kontrolluntersuchungen betrafen im Kern wesensverwandte Sachverhalte: In den Festungen Mainz und Schweidnitz war es zu militärischen Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung gekommen. Beide Male war die Bürgerwehr, mit deren Hilfe Linksliberale und Demokraten die Axt an die Wurzel der monarchischen Allmacht legen wollten, involviert. Nicht von ungefähr wurden die Zwischenfälle als Auftakt der Konterrevolution gewertet. Ihre Aufarbeitung in der Paulskirche und der Berliner Singakademie dürften die ersten selbständigen politischen Untersuchungen der deutschen Parlamentsgeschichte sein. Beide Versammlungen gingen überraschend ähnlich ans Werk: Man entsandte Deputationen an den Ort des Geschehens und ermittelte den Sachverhalt durch Zeugenvernehmungen und Auskünfte der lokalen Behörden. Während die Paulskirchenversammlung einen politischen Untersuchungsausschuss ernannte, in dem bloß zwei Mitglieder über eine juristische Ausbildung verfügten, waren unter den acht Kommissionsmitgliedern der Vereinbarungsversammlung gleich sechs forensisch erfahrene Praktiker. Angesichts dessen nimmt es wenig wunder, dass sich die Schweidnitzer Untersuchungsdeputation bei ihren Ermittlungen an den preußischen Prozessordnungen orientierte – und so gewissermaßen einen Ausblick auf die späteren Anleihen des Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 bei der Strafprozeßordnung gewährte. Anders als die Anfang der 1830er Jahre kläglich gescheiterten Bemühungen der kurhessischen Kammer, mit Hilfe interpellationsartiger Mehrheitsbefugnisse Licht in die „Garde-du-Corps-Nacht“ zu bringen, waren die deutsche National- und die preußische Vereinbarungsversammlung im Sommer 1848 durchaus erfolgreich. Die Stärke eines eigenständigen Untersuchungsrechts gegenüber schwächlichen Fremdinformationsrechten trat klar zutage. Über den Mangel an belastbaren Rechtsgrundlagen setzten sich die Abgeordneten hinweg und artikulierten selbstbewusst den Anspruch, selbst im Allerheiligsten der monarchischen Macht eigenständige Untersuchungen anzustellen. Der alte konstitutionelle Kontrollanspruch der Volksvertretung gegenüber der Regierung, zu dessen Vorbereitung bisher bloß schwächliche Fragerechte bestanden hatten, trat damit erstmals in dem neuen, revolutionären Gewand eines Selbstinforma­tionsrechts auf.9 Freilich war dieses informationsrechtliche Gebaren in beiden Versammlungen nicht unumstritten. In der Frankfurter Nationalversammlung entzündete sich Anfang Oktober 1848 ein grundsätzlicher Streit an einer Immunitätssache; dementsprechend drehte sich die Debatte um das Verhältnis von Parlament und Justiz im Hinblick auf die den Abgeordneten zur Last gelegten Vorwürfe. In einem Fall wurden am Rande Zweifel an der Befugnis der Versammlung laut, eine En 8

s. 3. Teil 1. Kap. B. II. und 2. Kap. D. s. einerseits 3. Teil 1. Kap. B. II. 2. a) (Mainz) und 2. Kap. D. IV. (Schweidnitz) sowie andererseits s. 2. Teil 2. Kap. II. 3. a) bb). 9

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9. Teil: Untersuchungsergebnisse

quête zu veranstalten, obwohl sich die Reichsgewalt der Angelegenheit annehmen wolle. Abgelehnt wurde eine Beteiligung sachkundiger Dritter aus den betroffenen Kreisen, die zu einer eigentümlichen Vorform der heutigen Enquêtekommissionen hätte führen können. Dass weder das Enquête- noch das Untersuchungsrecht der Versammlung in der Paulskirche ernsthaft bestritten wurden, dürfte auf die grundsätzliche Entscheidung der Geschäftsordnung zurückzuführen sein.10 – Anders sah es in der preußischen Vereinbarungsversammlung aus: Schon in der Debatte über die Untersuchung im „Großherzogthum Posen“ kamen Zweifel daran auf, ob sich die Versammlung nicht unzulässigerweise „zur Verwaltungs-Behörde […] oder zur Justiz-Behörde“ aufwerfe. Drei Wochen früher war das seltsame „Pseudo-Gewaltenteilungsargument“ der damaligen Jahre, in Wahrheit ein Verbot vermeintlich exekutiver Parlamentsermittlungen aufgrund des „monarchischen Prinzips“, gegenüber dem Antrag Reichensperger in Stellung gebracht worden, die Ausschreitungen des Pöbels gegen verschiedene Abgeordneten zu untersuchen. Wenig überraschend ist, dass der Einwand, eine Untersuchung strafrechtlich relevanter Sachverhalt sei nicht Sache der Volksvertretung, sondern der unabhängigen Justiz, gegenüber der Posener Untersuchung zum Zuge kam. Schon Ende Mai 1848 hatte die Vereinbarungsversammlung aus Rücksicht auf die Justiz von einer näheren Prüfung der Immunitätssache Viktor Valdenaires Abstand genommen. Obwohl Recht im Namen des Landesherrn gesprochen wurde, war die Grundlage dieser Bedenken weniger das „monarchische Prinzip“ als vielmehr der Respekt vor der rechtsstaatlichen Errungenschaft einer unabhängigen Gerichtsbarkeit. Zugleich mit dem Enquête- und Untersuchungsrecht wurden also die beiden Hauptgegenargumente in der Märzrevolution geboren, die gegen selbständige parlamentarische Informationsbefugnisse bis zum Ende des Kaiserreichs ins Feld geführt werden sollten.11 Dass die Frankfurter und die Berliner Abgeordneten das Enquête- und Untersuchungsrecht nicht als revolutionäre Mode abtaten, sondern als wichtigen Bestandteil eines modernisierten Konstitutionalismus bewahren wollten, belegen ihre Bemühungen, die neu gewonnene parlamentarische Informationsfreiheit in der künftigen verfassungsrechtlichen Ordnung zu verankern. Sowohl die Frankfurter Reichsverfassung als auch der Entwurf der preußischen Verfassungsurkunde nahmen das in der Praxis erprobte Recht auf. Ergänzend zu der jeweiligen Versammlungspraxis, die sicherlich in den Verfassungsberatungen als Vorbild fungierte, lässt sich ein Einfluss ausländischer Regelungen nicht leugnen. Neben der englischen Parlamentspraxis spielte für die Arbeit der preußischen Vereinbarungsversammlung Art. 40 BelgVerf 1831 eine Rolle. Seine bis dato stärkste Ausprägung fand das parlamentarische Selbstinformationsrecht in Anlehnung an diese Bestimmung mit Art. 73 „Charte Waldeck“, der für jede der beiden preußischen Kammern die „Befugnis“ vorsah, eine „Commission zur Untersuchung von Thatsachen 10

s. 3. Teil 1. Kap. B. II. 3. s. 3. Teil 2. Kap. C. II. 2., D. II. 2. und III.

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zu ernennen, mit dem Rechte, unter Mitwirkung richterlicher Beamten Zeugen eidlich zu vernehmen und die Behörden zur Assistenz zu requiriren“. Demgegenüber erschöpfte sich § 99 RVerf 1849 in einer nebulösen Ermächtigung beider Häuser des Reichstages zur „Erhebung von Tatsachen“, ohne die Einsetzung einer besonderen Kommission, Details über das Verfahren oder irgendwelche Befugnisse ausdrücklich zu regeln. Das Enquête- und Untersuchungsrecht stieß in der Paulskirche auf Widerstand von 27 Regierungen, die sich unter preußischer Führung gegen die föderal vermeintlich intrikate Befugnis wendeten. Es dürfte der besonderen Situation in der Revolution zu verdanken sein, dass frühere gewaltenteilungsrechtliche Bedenken an dieser Stelle nicht aufgewärmt wurden. Wahrscheinlich aus demselben Grund überstand das erstmals in der „Charte ­Waldeck“ geforderte Selbstinformationsrecht mit Abstrichen auch die Oktroyierung der preußischen Dezemberverfassung von 1848.12 Der Revolutionszeit von 1848/49 ist also zu verdanken, dass der Gedanke parlamentarischer Enquêten und Untersuchungen ohne Vermittlung von Regierungsstellen erstmals in der Verfassungsgeschichte in der Praxis Fuß fassen konnte. Dabei erschöpfte sich die Tätigkeit der beiden revolutionären Parlamente keineswegs in „langweiligen“ Enquêten zur Entscheidungsvorbereitung, sondern kann mit Beispielen politischer Untersuchungen beeindrucken. Aber nicht nur der Kanon der Enquête- und Untersuchungstypen, sondern auch die Methoden, derer sich die Abgeordneten bedienten, genügen durchaus – sieht man von Pflicht und Zwang ab – den Anforderungen an ein modernes parlamentarisches Selbstinformationsrecht: Es wurden schriftliche Enquêten veranstaltet, Zeugen und Sachverständige vernommen, „Ausschusshearings“ veranstaltet und sogar Ermittlungen vor Ort durchgeführt. Am erstaunlichsten ist das Vorgehen der Schweidnitzer Deputation der Berliner Vereinbarungsversammlung, die sich bei ihren Zeugenvernehmungen an den preußischen Vorschriften über den Strafprozess orientierte. Obwohl Minderheitenrecht, Beweiserhebungsöffentlichkeit und parlamentarische Zwangsbefugnisse vor 1919 noch unbekannt waren, lässt sich die Bedeutung der Revolu­ tionsphase für die Entwicklung des parlamentarischen modernen Enquête- und Untersuchungsrechts in Deutschland kaum hoch genug einschätzen.13 Auch außerhalb von Frankfurt und Berlin blieb die Revolutionsepisode nicht folgenlos. Das belegen verschiedene „Nachahmer“ der § 24 GO-FNV 1848, § 99 RVerf 1849 und Art. 73 „Charte Waldeck“ bzw. der Praxis in der preußischen Vereinbarungsversammlung in unterschiedlichen Märzverfassungen. Während diese informationsrechtlichen Vorschriften oder gleich die Verfassungen selbst in Schleswig-Holstein, Lauenburg, Waldeck und Pyrmont sowie Gotha der Reaktion zum Opfer fielen, erkämpften sich die Volksvertretungen in den beiden süddeutschen Königreichen Ansätze eines Selbstinformationsrechts.14 12

s. 3. Teil 1. Kap. A. und 2. Kap. C. s. 3. Teil 1. Kap. C., 2. Kap. E. und 4. Kap. 14 s. 2. Teil 3. Kap. 13

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9. Teil: Untersuchungsergebnisse

3. Süddeutsche Folgeentwicklungen Ende 1849 folgte die erste Stuttgarter Landesversammlung dem Frankfurter Vorbild und legte ihren Kommissionen in der Geschäftsordnung das Recht bei, Aufschlüsse und Akten von der Regierung zu verlangen, die Minister einzuladen, persönlich oder durch Bevollmächtigte an den Beratungen teilzunehmen, aber auch freiwillige Zeugen und Sachverständige zu vernehmen. § 24 GO-WürttLV  1849 orientierte sich offenkundig an den Vorbildern aus der Frankfurter Nationalversammlung; verschiedene Abgeordnete der Landesversammlung hatten zuvor in der Paulskirche ein Mandat. Trotz des Einsetzens der Reaktion verteidigte die Abgeordnetenkammer diese Befugnisse, die sowohl für Enquêten als auch Untersuchungen geeignet waren, erfolgreich gegen die Regierung. Obwohl in den Kammerverhandlungen klar gestellt wurde, dass die Regierung keinesfalls verpflichtet wäre, Informationsersuchen der Volksvertreter Folge zu leisten und auch Privatleute nicht zu Aussagen oder Gutachten gezwungen werden könnten, verwahrte sich König Wilhelm I. gut drei Jahre später gegen das Recht der Ausschüsse, „Zeugen und Sachverständige […] zur Äußerung zu veranlassen“; ganz in traditioneller Manier hieß es, dass die Kammer „Notizen über erhebliche Thatsachen oder sachverständige Gutachten“ allein durch „Vermittlung der Ministerien erwirken“ könne. Letzten Endes setzte sich aber die Volksvertretung durch und behielt den bestrittenen Paragraphen in ihrem Reglement bei. Große praktische Bedeutung kam diesem autonomen Enquête- und Untersuchungsrecht in der Staatspraxis anscheinend nicht zu.15 – Mitte der 1860er Jahre scheiterten dann Verfassungsänderungsforderungen, die u. a. ein Initiativ- und ein Enquête- und Untersuchungsrecht der Volksvertretung vorsahen. Begründet wurde die Forderung nach einem „Recht der Erhebung von Thatsachen (Enquête)“, das nicht bloß zur Vorbereitung legislativer Projekte, sondern nach dem Muster der modernen Korollartheorie „für eine gründliche Behandlung der ständischen Geschäfte“ überhaupt dienen sollte, in Anlehnung an Robert v. Mohls wiederholte Plädoyers für das parlamentarische Selbstinformationsrecht. Funktional hoben die Antragsteller die Bedeutung des geforderten Rechts für die Ständeversammlung hervor, „um das Material für ihre Anträge an die Regierung, seien es Beschwerden, Wünsche oder Gesetzesvorschläge, jederzeit mit Sicherheit zu gewinnen“. Bemerkenswert modern ist die Forderung, das Recht zur „Erhebung von Thatsachen“ mit einer Aussagepflicht der Staatsbürger, einem Vereidigungs- und einem weitgefassten Aktenvorlagerecht abzusichern. Die württembergischen Stände verlangten also kein zahmes Enquêterecht zur Gesetzesvorbereitung etc., sondern ein schlagkräftiges Selbstinformationsinstrument, das mutmaßlich sowohl zur Gesetzesvorbereitung als auch zur Exekutiv- und Regierungskontrolle dienen sollte.16

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s. 4. Teil 1. Kap. A. und B. s. 4. Teil 1. Kap. D.

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Ruhiger verlief die Entwicklung im Königreich Bayern. Maximilian  II., der das Regiment zum Auftakt der Revolution von seinem Vater übernommen hatte, kündigte ein umfassendes Reformprogramm an. Im Mai 1848 räumte ein Gesetz über die Behandlung legislativer Reformvorhaben besonderen Gesetzgebungsausschüssen der Kammern das Recht ein, „sowohl im Einzelnen, als vereint, […] auch Männer, welche nicht Mitglieder der Stände-Versammlung, aber durch wissenschaftliches oder praktisches Vertrautsein mit der treffenden Materie bekannt [waren…], einzuberufen, und sie über bestimmte Fragen zu vernehmen“. Schon dieses begrenzte Enquêterecht bei der Gesetzesvorbereitung ging über die bisherigen konstitutionellen Standards hinaus, die den Ständen ausschließlich eine Kommunikation mit dem Ministerium oder den Landtagskommissaren gestattet hatten. Der informationsrechtliche Bann, wegen des „monarchischen Prinzips“ keinen Kontakt zu außenstehenden Dritten aufnehmen zu dürfen, war gebrochen.17 Im weiteren Dunstkreis der Märzrevolution wurde auch im Königreich Bayern der Versuch unternommen, das alte Reglement durch ein neues zu ersetzen und u. a. ein Recht auf „vollständige Vorlage der Originalakten“, zur Einholung „mündliche[r] oder schriftliche[r] Gutachten von Sachverständigen“ und eine requisitionsartige Befugnis, „Zeugen vernehmen zu lassen“, einzuführen. Dass die Kammer nicht nach Frankfurter Vorbild unmittelbare Vernehmungsrechte forderte, ging auf eine Intervention des Regierungskommissars zurück. Das Aktenvorlagerecht, dem eine Pflicht der Regierung korrespondieren sollte, hatte sich die parlamentarische Seite nicht ausreden lassen. Von diesem Vorstoß aufgeschreckt – es war die erste Gelegenheit, dass die Abgeordneten von ihrem Initiativrecht Gebrauch machten – nahm die Regierung die Geschäftsordnungsfrage nach dem Wiederzusammentritt des Landtages selbst in die Hand. Das von ihr initiierte Geschäftsgangsgesetz vom 25. Juli 1850 beschränkte sich auf ein unpolitisches Enquêterecht; die Ausschüsse erhielten bloß das Recht, „mündliche und schriftliche Gutachten von Sachverständigen zu erholen“. Zeugenvernehmung oder Aktenvorlage  – also eher untersuchungsrechtliche Attribute  – waren nicht vorgesehen. Der Zuschnitt der Befugnisse zielte eindeutig ausschließlich auf die Gesetzesvorbereitung oder vergleichbare Tätigkeiten, nicht aber auf Regierungskontrolle und -kritik. Obwohl es im modernen Schrifttum als wesentliche Beschränkung hervorgehoben wird,18 beschränkte sich das Verbot von „Ausgaben für die Staatskasse“ auf unmittelbare Lasten für die Staatskasse; Aufwandsentschädigungen, ja selbst Honoraren aus den landständischen Regiemitteln stand nichts entgegen. Tatsächlich wurden auch externe Sachverständige angehört. Anders als in Preußen hatten solche Enquêten der offensichtlichen Stoßrichtung des Art. 33 Abs. 3 Bay­GeschG 1850 entsprechend aber nicht einmal einen unterschwelligen Regierungskontrollcharakter.19

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s. 4. Teil 2. Kap. A. Vgl. etwa J. Masing, Untersuchungen priv. Sachverhalte, 1998, S. 10. 19 s. 4. Teil 2. Kap. B. 18

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9. Teil: Untersuchungsergebnisse

Ein mittelbares, aber politisches Untersuchungsrecht sah das Gesetz, den Staatsgerichtshof und das Verfahren bei Anklagen gegen Minister betreffend, vom 30.  März 1850 vor: Gemäß Art.  2 Bay­StGHG  1850 hatten die Kammern sämtliche „Anklagepuncte“ vorab „durch einen besonderen Ausschuß zu prüfen“. Ähnlich wie nach dem Geschäftsgangsgesetz konnten sie „mündliche oder schriftliche Gutachten von Sachverständigen […] erheben“, auch „von den einschlägigen Staatsministerien die nöthigen auf den Gegenstand der Anklage bezüglichen Erläuterungen […] verlangen“. Eine unmittelbare „Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen“ stand ihnen nicht zu; sie konnten diese aber „durch den ordentlichen Richter nach Maßgabe der allgemeinen gesetzlichen Bestimmungen […] veranlassen“. Zu guter Letzt war eine „Vernehmung des betheiligten Ministers mit seiner schriftlichen Verantwortung“ vorgesehen. Das Gesetz kam niemals zur Anwendung.20 In Süddeutschland spielte der heute so dominante Untersuchungsrechtsaspekt, die Selbstinformation der Volksvertretung als Instrument der politischen Auseinandersetzung mit der Regierung, keine besondere Rolle. Die Bedeutung der in revolutionären Tagen begonnenen Entwicklung liegt primär in einem Bruch mit bisherigen konstitutionellen Vorstellungen durch die Anerkennung unmittelbarer parlamentarischer Selbstinformationsrechte. Die Unterschiede in der württembergischen und bayerischen Entwicklung dürften auf den unterschiedlichen Verlauf der Revolution zurückzuführen sein: Während in Württemberg aufgrund eines besonderen Gesetzes eine Landesversammlung zur Revision der Verfassung einberufen wurde, die wenigstens über beschränkte Geschäftsordnungsautonomie verfügte und ihren Ausschüssen so – dem Frankfurter Vorbild folgend – ein freiwilliges Enquête- und Untersuchungsrecht beilegen konnte, wurden in Bayern die Rechte der Ständeversammlung gestärkt und ein außerordentlicher Landtag einberufen. Der Kammer blieb damit nur der legislative Weg, um sich ein Selbstinformationsrecht zu verschaffen.21 4. Das preußische Paradigma Das bedeutendste nachrevolutionäre Kapitel der Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte wurde im Königreich Preußen geschrieben. Seinem Wortlaut nach war Art.  82 PrVerf  1850 für eine Entwicklung in Richtung eines robusten Enquête- und Untersuchungsrechts ebenso offen wie für ein kümmerliches Fremdinformationsinstrument. Art. 73 „Charte Waldeck“, der oktroyierte Art. 81 PrVerf  1848 oder sein revidierter Nachfolger waren nicht von der Verfassungsarbeit der Paulskirchenversammlung inspiriert; stattdessen war das zuletzt in Art.  82 PrVerf  1850  verbürgte Recht der Kammern, „Behufs ihrer Information 20

s. 4. Teil 2. Kap. C. s. 4. Teil 3. Kap.

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Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“, ein rein preußisches Gewächs, das 1848 aufgekeimt war, das Unwetter der Oktroyierung überstand und selbst nach dem reaktionären Temperatursturz der Verfassungsrevision weiterhin gedieh. Ebenso wenig trifft das verbreitete Urteil zu, dass es in der Hohenzollernmonarchie politisch keine Rolle gespielt habe, sondern es den Regierungen stets gelungen wäre, missliebige Enquêten oder Untersuchungen zu torpedieren. Stattdessen entfaltete sich seit 1849 eine den jeweiligen politischen Rahmenbedingungen angepasste Praxis, bei deren Beurteilung man die augenscheinlich erfolglosen Untersuchungsanträge nicht aus dem Blick verlieren darf. In der Gesamtschau wird von Anfang an das Bild eines Enquête- und Untersuchungsrechts deutlich, das sowohl der Vorbereitung sachlicher parlamentarischer Entscheidungen als auch zur Auseinandersetzung mit der Regierung dienen sollte.22 1849/50 wurden in den Revisionskammern Sozial- und Wirtschaftsenquêten veranstaltet. Wie vor ihnen die Vereinbarungsversammlung beschäftigten sich die Erste und die Zweite Kammer mit dem Elend der Linnea produzierenden Bevölkerung. Obgleich es sich um eine Sozialenquête mit wirtschaftspolitischem Einschlag handelte, entwickelte sich in der Ersten Kammer eine hitzige Debatte über den Kurs der bisherigen preußischen Zoll- und Handelspolitik. Zwar verzichtete der Kommissionsbericht auf direkte Angriffe gegen die Regierung; dennoch wurde die Plenarberatung zum Schauplatz einer grundsätzlichen Auseinandersetzung um die Gretchenfrage „Freihandel vs. Protektionismus“, in der die offizielle Linie des Ministeriums unter Beschuss geriet. In der Zweiten Kammer bot dasselbe Thema ebenfalls ein Forum, um mit den bisherigen Regierungen ins Gericht zu gehen.23 In der Ära Manteuffel folgten zwei (beschränkte)  Enquêten zum Bank- und Geldwesen sowie provokantere Ausschussanhörungen zum Pressgesetz von 1851. Vor dem Hintergrund der Verhandlungen der Revisionskammern über das Schicksal der Weber und Spinner trat das Ministerium der „Ernennung einer besonderen Kommission“ durch die Zweite Kammer in der ersten Frage sicherlich nicht von ungefähr als unberechtigtem „Ausdruck des Mißtrauens“ entgegen. Die Volksvertretung ließ sich nicht beirren. Obwohl bei der Einsetzung wiederholt beteuert wurde, dass es nicht um Kontrolle und Schelte gehe, endete der erste Anlauf der Bankenenquête mit bitteren Beanstandungen gegenüber der offiziellen Politik. Als mit der Regierung kein Einvernehmen über eine Abänderung der restriktiven Regelungen zu erreichen war, legte die Kammer einseitig Reformforderungen vor. Auch die Bankenangelegenheit wurde also zum Aufhänger einer politischen Auseinandersetzung. Von den Methoden her verdienten die „Enquêten“ diesen Namen kaum. Weder Zeugen noch Sachverständige wurden vernommen. Man wertete lediglich schriftliches Material aus und richtete Nachfragen an das Gouvernement. Wenigstens wurden zur Legitimation eigener „Erhebungen“ erstmals in der deutschen Parlamentsgeschichte das Enquêterecht und das Gesetzesinitiativrecht ver 22

s. 5. Teil 2. Kap. A. und B. s. 5. Teil 3. Kap. A. II.

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quickt. Dieser Rückgriff auf eine materielle Kernkompetenz der Volksvertretung zur Absicherung des formellen Selbstinformationsrechts war ein Vorgeschmack auf die 1913 aus der Taufe gehobene Korollartheorie.24 – Anfang der 1850er Jahre lehnte sich die Erste Kammer, die noch eine Volksvertretung und nicht das Herrenhaus kommender Jahrzehnte war, gegen den Regierungsentwurf für das restriktive Pressgesetz auf. Die besonders strittigen Paragraphen wurden in die Kommission zurückverwiesen. Zu ihren Beratungen zog die Kammer gegen den Protest der gouvernementalen Seite „Sachverständige“ aus den betroffenen Kreisen hinzu. Zwar wurde in der Plenardebatte immer wieder der reine Informationscharakter dieses Schritts betont. Trotzdem trat zwischen den Zeilen die politische Dimension dieser Forderung zutage, indem die Anhörungen gerade dazu dienen sollten, „sowohl die Bedürfnißfrage wegen der verschiedenen einzelnen Bestimmungen, als den Einfluß derselben auf das überwiegend wichtigste Gewerbe gründlicher zu erwägen“. Die Abgeordneten zogen also ebenso den Sinn und Zweck wie die Berechtigung der von der Regierung geforderten Regelungen in Zweifel. Mit der Hinzuziehung sachverständiger Dritter knüpfte die Erste Kammer zudem gewissermaßen an die revolutionäre Vereinbarungsversammlungspraxis an.25 Welche Bedeutung wenigstens der liberal-oppositionelle Teil  der Abgeordne­ ten Art. 82 PrVerf 1850 als politisches Konfliktinstrument beimaß, zeigen vor allem die gescheiterten „Einsetzungsanträge“ aus der Ära Manteuffel: Anfang der 1850er Jahre kam es zu ersten Versuchen, das Enquête- und Untersuchungsrecht direkt in der Auseinandersetzung mit der Regierung fruchtbar zu machen. So richtete sich 1851 die Forderung des führenden Liberalen Georg v. Vincke nach einer „Untersuchung zur Lage des Landes“ auf nichts anderes als eine Generalabrechnung mit dem Ministerium Manteuffel. Die liberale Opposition erhob mit Hilfe des Selbstinformationsrechts eindeutig einen Anspruch auf Regierungskontrolle, wobei die parlamentarische Bühne dazu dienen sollte, der Öffentlichkeit die Verfehlungen des Ministeriums vor Augen zu führen. Der Antrag entsprach damit dem Prototyp einer politischen Untersuchung. Freilich stand nach dem gouvernementalen Sieg in der Adressdebatte von vornherein fest, dass dieser Vorstoß in der Sache keine Aussicht auf Erfolg hatte. Er war gewissermaßen ein letzter Akt in der Olmützer Tragödie des preußischen Liberalismus. Statt sich kampflos mit dem Maulkorb abzufinden, den die Kammermehrheit der Opposition in der Adressdebatte mit dem Übergang zur einfachen Tagesordnung verpasst hatte, versuchten die Liberalen, die zentralen Fragen mit Hilfe des Art. 82 PrVerf 1850 noch einmal vor das Forum der Nation zu bringen. Derart bedrängt, ging die gouvernementale Seite zum Angriff über und stellte das Untersuchungsrecht der Kammer für den konkreten Fall in Frage. Man bestritt, dass die Lage des Landes – mit anderen Worten also die Regierungspolitik und ihre Folgen – überhaupt untersuchungsfähige Tatsachen im Sinne von Art. 82 PrVerf 1850 wären; vielmehr handele es sich um 24

s. 5. Teil 3. Kap. B. I. 1. s. 5. Teil 3. Kap. B. I. 2.

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ein unzulässiges Urteil über die Regierung. Mit der These, dass die auswärtigen Angelegenheiten überhaupt nicht zum Kompetenzkreis der Kammern gehörten, folgte wieder ein Anklang der Korollartheorie – dieses Mal aber ihrer limitativen Dimension. Modern wirkt der Einwand, dass sich die verlangte Untersuchung unzulässigerweise auf nicht abgeschlossene Sachverhalte beziehe. Abgerundet wurde das gouvernementale Plädoyer mit plumpen patriotischen Appellen, dass es in der gegenwärtigen Krise bloß schädlich wäre, öffentlich über Schwächen und Fehler zu diskutieren. Der Antragsteller verteidigte seine Forderung damit, dass die Abgeordneten verpflichtet wären, ihre Überzeugungen vor dem Lande zu bekennen. Den Vorwurf, er fordere ein unzulässiges Urteil, wies Georg v. Vincke zurück, weil es lediglich um eine Reihe von Tatsachen und ihre politische Bewertung gehe. Außerdem betonte er das Recht des Landes, „was seine Verfassung, seinen Handel, seine Macht, seine politische Stellung [betreffe…], vollständige Auskunft zu verlangen“. Die in dieser Grundsatzdebatte entwickelten Argumente sollten das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht der preußischen Kammern bis zum Ende der Monarchie begleiten. – Zum Verhängnis wurde dem Antrag ­Vincke letztlich nicht die vermeintliche Übermacht des Ministeriums Manteuffel. Der Kontrollversuch scheiterte schlicht an der Unentschlossenheit der Zentrumsparteien, die sich – zwischen Opposition und Resignation hin und her gerissen – letzten Endes auf die Seite der Regierung schlugen. Wenigstens bot die kurze Debatte, die erneut mit der einfachen Tagesordnung abgewürgt wurde, dem Antragsteller die Gelegenheit, noch einmal mit der inneren Reaktionspolitik und der außen­ politischen Schmach von Olmütz ins Gericht zu gehen.26 In den kommenden Jahren folgten drei politische Untersuchungsanträge zur Behandlung der religiösen Dissidenten, die in der Reaktionszeit u. a. wegen ihrer früheren Nähe zu radikalen und linksliberalen Kräften unter einer harten Repres­ sionspolitik zu leiden hatten. In beiden Kammern beantragten die Liberalen eine Untersuchung; beide Anträge hielten mit ihrer regierungskritischen Grundtendenz nicht hinter dem Berg, sondern forderten eine „besondere Kommission zur Untersuchung der mit den Grundsätzen der Artikel 12., 19. und 22. der VerfassungsUrkunde nicht in Einklang stehenden […] Regierungs-Maaßregeln“. In der Ersten Kammer votierte die zur Vorberatung dieser Forderung bestellte Kommission gegen den Antrag Lette-Forstner. Die Regierungskommissare sprachen der Volksvertretung kategorisch das Recht zur „Untersuchung von Regierungs-Maaßregeln“ ab, weil Art. 82 PrVerf 1850 nicht mehr als eine „Feststellung von Thatsachen“ gestatte. Dagegen stehe es ihr nicht zu, „über die Maaßregeln der Verwaltung ein förmliches Untersuchungs-Verfahren einzuleiten, in welchem die Kammer demnächst über die Regierung zu Gericht sitzen“ solle. Die gouvernementale Kommissionsmehrheit machte sich nicht nur diese restriktive Interpretation zu eigen, sondern verstieg sich zu der These, dass Art. 82 PrVerf 1850 „unzweideutig“ „immer einen besonderen Gegenstand, sei es eine Regierungs-Vorlage, oder einen Antrag 26

s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 1.

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voraus[setze], welcher der Kammer zur Berathung resp. Beschließung vorliege, und in Bezug auf welchen die Kammer zu ihrer Information [einer…] Aufklärung über Thatsachen vor der Entscheidung bedürfe“. Eine Untersuchung, die gleichsam als informatorischer Selbstzweck veranstaltet würde, lehnten die Abgeordneten ab. Die Minderheit, die diesen Einwänden das Bild eines effektiven parlamentarischen Kontrollrechts entgegenzusetzen versuchte, hatte gegen den ministeriellen Block keine Chance. In der Plenardebatte wurde der Kommissionsantrag schließlich mit 72 zu 42 Stimmen bei zwei Enthaltungen angenommen.27 – Rund zwei Monate nach dem Antrag Lette-Forstner behandelte die Zweite Kammer einen gleichlautenden Antrag des Altliberalen Graf Dyhrn. In den Abteilungen wurden im Wesentlichen die aus der Ersten Kammer bekannten Argumente wiederholt. Dennoch befürwortete der Zentralausschuss den Antrag, wobei die Mehrheit aber verlangte, den Passus über die Verletzung bestimmter Verfassungsartikel zu entfernen. Noch bevor über die Sache abschließend beraten werden konnte, wurde die Session geschlossen. In diesem Fall kam das Gouvernement also einer potentiellen Abstimmungsniederlage zuvor. Nach den Neuwahlen nahmen 26 Abgeordnete den Antrag wieder auf, der dieses Mal aber bereits im Zentralausschuss scheiterte. Die neue Mehrheit stellte sich auf den Standpunkt, „daß der Artikel 82. […] die Niedersetzung von Kammer-Kommissionen zur Untersuchung von Regierungs-Maaßregeln, wie die Antragsteller woll[t]en, überhaupt nicht gestatte“.28 – Allen drei Anträgen lag die Absicht zugrunde, die Verfassungsmäßigkeit der offiziellen Linie gegenüber den Dissidenten einer kritischen parlamentarischen Prüfung zu unterziehen. Die Opposition versuchte, das reaktionäre Ministerium Manteuffel vor der Öffentlichkeit bloßzustellen, indem die Verfassungswidrigkeit eines Aspekts seiner Repressionspolitik durch eine parlamentarische Kontrolluntersuchung aufgrund von Art. 82 PrVerf 1850 festgestellt werden sollte.29 Schon in der Reaktionszeit wurden also die Funktion des Art. 82 PrVerf 1850 als Enquête- und Untersuchungsrecht herausgearbeitet und gleichzeitig die maßgeblichen Positionen der Befürworter und Gegner entwickelt und gefestigt. Während sich das Gouvernement nicht gegen die Sozial- und Wirtschaftsenquêten der 1850er Jahre sträubte, obwohl die Kammern nicht vergaßen, ihre Erhebungen bzw. die Beratung der Ergebnisse mit Kritik und Schelte zu garnieren, forderten die direkten Kontrollforderungen der Anträge zur Lage des Landes bzw. zur Behandlung der religiösen Dissidenten den Widerstand des Reaktionsministeriums heraus. Trotzdem scheiterten die Untersuchungsforderungen nicht an einer exekutiven Präponderanz gegenüber dem Parlament. Vielmehr brachten gouvernementale, konservative oder bloß zufällige Kammermehrheiten den liberalen Kontrollversuchen die entscheidende Abstimmungsniederlage bei. Natürlich war das Gouvernement an den ungünstigen Mehrheitsverhältnissen durch das Klassen-

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s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. b). s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. c). 29 s. 5. Teil 3. Kap. B. II. 2. d). 28

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wahlrecht und kräftige Agitationen und Machinationen bei den Wahlen alles andere als unschuldig.30 Als mit dem Beginn der „neuen Ära“ freiere Wahlen stattfanden, änderten sich prompt die Mehrheitsverhältnisse in ihr Gegenteil. Zunächst kamen Altliberale und Wochenblattpartei zur Blüte. Mit dem Ausbruch des Heeres-, Budget- und Verfassungskonflikts profitierten dann zunehmend die neu gegründete Fortschrittspartei und das Linke Zentrum, bis sie im Abgeordnetenhaus über eine handlungsfähige oppositionelle Mehrheit verfügten. An dieser für die Regierung prekären Entwicklung änderten auch die drastischen Manipulationen und Wahlbeeinflussungen nichts, zu denen das Ministerium Bismarck im Herbst 1863 wieder überging. Das Abgeordnetenhaus nahm die Kampfansage des Konfliktministeriums an. Mitte November 1863 forderten der Fortschrittspolitiker Hermann SchulzeDelitzsch, der linke Zentrumsabgeordnete Albert v. Carlowitz und über 90 weitere Abgeordnete, dass „[b]ehufs der Information des Hauses wegen der […] gesetzwidrigen Beeinflussung der Wähler und Verkümmerung der verfassungsmäßigen Wahlfreiheit Preußischer Staatsbürger […], in Gemäßheit Artikel 82. der Verfassung eine Kommission zur Untersuchung der Thatsachen eingesetzt und derselben aufgegeben [werde], die geeigneten Ermittelungen vorzunehmen und dem Hause Bericht darüber zu erstatten“. Mit der leicht modifizierten Annahme dieses Antrags wischten die früheren Oppositionsparteien die in der Debatte teils wieder aufgewärmten Versuche der vergangenen anderthalb Jahrzehnte beiseite, Art. 82 PrVerf  1850 auf ein lahmes, anlassbezogenes Enquêterecht ohne Durchschlagskraft zurückzustutzen. Das oppositionelle Abgeordnetenhaus knüpfte damit direkt an die Schweidnitzer Untersuchung der Vereinbarungsversammlung sowie die erfolglosen Vorstöße zur Lage des Landes oder der Unterdrückung der Dissidenten in den konstitutionellen Kammern an. Die wenigen zweifelnden oder gouvernementalen Abgeordneten wendeten außer den bekannten Ressentiments ein, dass eine Untersuchung nach dem Abschluss der Wahlprüfungen eigentlich entbehrlich wäre und man besser zu strafrechtlichen Mitteln greife. Schließlich blieben parlamentarische Anstrengungen ohnehin letzten Endes folgenlos: Weil man die Regierung keinesfalls stürzen könne, habe das Abgeordnetenhaus alles, was überhaupt zu gewinnen wäre, mit der missbilligenden Debatte bereits erreicht. Obwohl die Regierung offen mit Kooperationsverweigerung und Obstruktion drohte, führten die Antragsteller für die Notwendigkeit einer Untersuchung unbeirrt an, dass eine umfassende Aufklärung, ja die Zeichnung eines Gesamtbildes, statt sich auf Ausschnitte zu beschränken, nur auf diese Weise möglich seien. Mit den Strafverfolgungsbehörden brauche man unter diesem Ministerium nicht zu rechnen, so dass für eine öffentliche Verurteilung des Ministeriums nur die Untersuchung und die anschließenden Fest­ stellungen in Frage kämen.

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s. 5. Teil 3. Kap. B. III.

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Weil es durch die oppositionelle Mehrheit erstmals ernst mit einer parlamentarischen Untersuchung wurde, kamen auch die Befugnisse der Untersuchungskommissionen zur Sprache. Die Gegner versuchten gewissermaßen zu vormärzlichen Standards zurückzukehren, indem sie das Recht zu unmittelbaren Zeugenvernehmungen in Abrede stellten. Darauf entgegneten die Antragsteller, dass die Verfassung den Kammern gleichzeitig mit dem Untersuchungsrecht auch die zu seiner Ausübung erforderlichen Befugnisse gebe. Die Untersuchungskommission charakterisierte Art.  82 PrVerf  1850 in ihrem ersten Teilbericht als Ausnahme von dem Grundsatz des Art. 45 PrVerf 1850, dass die Exekutive allein dem König zustehe. Durch die Überlegung, dass sie mit ihrer Einsetzung zur Staatsbehörde werde, legte die Untersuchungskommission die Grundlage für ein robustes parlamentarisches Selbstinformationsrecht und griff gleichzeitig Überlegungen der Weimarer Staatsrechtslehre vor. Weiter konstatierten die Abgeordneten, dass, weil, „[w]er untersuchen soll[e, …] auch Beweis erheben können“ müsse, eine Kommission im Sinne von Art.  82 PrVerf  1850 „jedes gesetzliche Beweismittel zur Anwendung […] bringen“ dürfe. Staatsbürger und Beamte sollten verpflichtet sein, die erforderlichen Unterlagen vorzulegen und als Zeugen auszusagen, Gerichte und Behörden Beweiserhebungsersuchen Folge leisten. Nicht einmal die Minister sollten sich, weil auch sie Beamte wären, weigern dürfen. Die Kommission zeichnete in ihrem ersten Bericht also das Bild eines modernen parlamentari­ nquête- und Untersuchungsrechts mit unmittelbaren Befugnissen, Pflicht, schen E Zwang, Amts- und Rechtshilfe.31 Diesem parlamentarischen Selbstbewusstsein und dem Rückhalt in der Bevölkerung war die Regierung nicht gewachsen. Es nützte nichts, dass sämtliche Minister eine Mauer des Schweigens bildeten und man sämtlichen Staatsdienern eine Kooperation mit der „sogenannten Untersuchungskommission“ untersagte. Das heute häufig anzutreffende Urteil, der übermächtige Bismarck habe mit dieser Weisung den Kontrollversuch des Abgeordnetenhauses im Keim erstickt, trifft keineswegs zu: Die Untersuchungskommission informierte sich aus allgemein zugänglichen Quellen, griff auf ihr zugespielte Schriftstücke und Informationen sowie auf eigene Vernehmungen freiwilliger Zeugen über die Machenschaften der Regierung und ihrer konservativen Parteigänger zurück. Bei ihren Vernehmungen orientierten sich die Abgeordneten erneut, wie es im Sommer 1848 schon die Schweidnitzer Kommission getan hatte, nach Form und Ablauf an den preu­ßischen Prozessordnungen. Außerdem vernahmen verschiedene Gerichte auf ihr Ersuchen Zeugen. Die Obstruktion des Ministeriums Bismarck verurteilte das Abgeordnetenhaus in einem provokanten Missbilligungsbeschluss.32 Die Wahlmanipulationsuntersuchung ist das erste Beispiel einer „echten“ politischen Kontrolluntersuchung auf der Grundlage eines verfassungsrechtlich veran­ kerten parlamentarischen Selbstinformationsrechts. Bemerkenswert modern wirkt 31

s. 5. Teil 3. Kap. C. II. 1. und 2. a). s. 5. Teil 3. Kap. C. II. 2. b) bis e).

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die Interpretation des bewusst offen formulierten Art. 82 PrVerf 1850 durch die Untersuchungskommission, deren Überlegungen für spätere Forderungen Pate gestanden haben dürften. Dass die Wahlmanipulationsuntersuchung keine offensichtlichen politischen Konsequenzen hatte, wird teilweise als Indiz für ihr Scheitern gewertet. Ein Sturz des Ministeriums Bismarck war aber in der konstitutionellen Monarchie, die keine rechtliche Ministerverantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung kannte, gegen den Willen des Königs unmöglich. Mit der öffentlichen Bloßstellung der Regierung hatte die Opposition alles erreicht, was die Verfassung zuließ. Hätte sich der zuerst alles andere als Fest im Sattel sitzende Bismarck nicht durch militärische und außenpolitische Erfolge Entspannung an der heimischen Front verschafft, hätte ihm das Abgeordnetenhaus das Leben womöglich auch mit Hilfe des Untersuchungsergebnisses noch schwer machen können. So vollzog sich stattdessen in der preußischen Bevölkerung eine politische Wende im gouvernementalen Sinne, die mit Wahlverlusten der Konfliktparteien ihren Anfang nahm und mit dem Indemnitätsbeschluss von 1866 und der Spaltung der Opposition ihren Höhepunkt erreichte. In den kommenden Jahren konnte der spätere Reichsgründer mit wechselnden parlamentarischen Mehrheiten regieren. Zu einer handlungsfähigen oppositionellen Mehrheit, für die Art.  82 PrVerf  1850 ein Instrument zur Auseinandersetzung mit der Regierung hätte sein können, kam es kein weiteres Mal. Wieder lag es also nicht an der Übermacht der Regierung über die Volksvertretung, sondern an der Ausgestaltung des Art.  82 PrVerf  1850 als Mehrheitsrecht sowie an den parteipolitischen Rücksichten der parlamentarischen Mehrheiten, dass es nicht zu weiteren Enquêten oder Untersuchungen kam.33 Vor diesem Hintergrund ließ der letzte große Akt der preußischen Enquête- und Untersuchungsrechtsgeschichte beinahe zehn Jahre auf sich warten. Durch seine Enthüllungsreden über das Gründerunwesen und die Missstände in der Eisenbahnverwaltung suchte der Nationalliberale Eduard Lasker die Auseinandersetzung mit konservativem Establishment und Regierung. Gekrönt wurde dieser Vorstoß Anfang Februar 1873 von dem Antrag, „in Gemäßheit des Artikel  82 der Verfassungs-Urkunde eine Untersuchung […] zu veranlassen“. Gegenstand sollten der Rechtsrahmen sowie das Verwaltungsverfahren bei „Ertheilung von Eisenbahn-Konzessionen“, die Überwachung der Kapitalaufbringung durch die staatlichen Stellen und die dubiosen Geschäftspraktiken der Gründer, ihrer Financiers und der ausführenden Unternehmer sein. Dass die Untersuchung der Wahlmanipulationen vor nicht einmal zehn Jahren alles andere als spurlos an der Regierung vorübergegangen war, beweist ihre verzweifelte Intervention: Um zu verhindern, dass das Abgeordnetenhaus (erneut!) das „Verhalten der Staatsregierung“ untersuchte oder „Königliche Beamte wohl gar [verurteilte…], was doch nur die Gerichte könn[t]en“, verlangte Wilhelm  I., die Angelegenheit durch eine königliche Kommission selbst untersuchen zu lassen, um die „Lasker-Enthüllungen“ zu widerlegen. Als Konzession an die parlamentarische Seite und sicherlich unter 33

s. 5. Teil 3. Kap. C. III.

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dem Eindruck des Damoklesschwerts einer parlamentarischen Missstands- und Kontrollenquête aufgrund von Art. 82 PrVerf 1850 sollten Mitglieder beider Häuser an der Untersuchung beteiligt werden. Freilich ließ sich die Einsetzung einer parlamentarischen Untersuchungskommission mit diesem Schritt nicht rechtlich unterbinden; die Regierung setzte vielmehr auf die politische Stimmung innerhalb des Abgeordnetenhauses, darauf, dass die Mehrheit ein einmütiges Vorgehen von Volksvertretung und Gouvernement gegenüber einem parlamentarischen Alleingang bevorzugen würde.34 Mitte Februar 1873 zeichnete sich im Abgeordnetenhaus tatsächlich eine Mehrheit für den von der Regierung vorgeschlagenen Weg ab. Die Konservativen widersprachen der vermeintlich aller Voraussicht nach wirkungslosen parlamentarischen Untersuchung, die bloß „die Autorität der Staats-Regierung als auch das Ansehen der Landes-Vertretung schädigen“ könne. Trotz des Präzedenzfalles von 1863/64 wurde das Recht bestritten, Zeugen vorzuladen und überhaupt „diejenigen Befugnisse zu üben, die ein Gerichtshof“ habe. Außerdem beschwor man die Gefahr, dass die Regierung dem Parlament „ihren Arm versagen“ könne. Wenngleich in gemäßigter Form, kamen so noch einmal die „alten“ Argumente zu Ehren. Der Vorschlag der Regierung, eine „gemeinschaftliche Kommission“ zu bilden, „in der Vertreter des Parlamentes mit den Vertretern der Krone gemeinsam wirk[t]en“, wurde nicht nur als effizienter, sondern als „gewiß staatsrechtlich richtiger“ begrüßt. Die Befürworter einer parlamentarischen Untersuchung pochten vergeblich auf die Notwendigkeit einer umfassenden Aufklärung. Ebenso ungehört verhallte ihre Mahnung, dass der günstige Augenblick für eine Aufarbeitung verstreichen könne, wenn man sich auf den Vorschlag der Regierung einlasse. Angesichts der parlamentarischen Übermacht, die den Antragstellern nahelegte, ihre Motion zugunsten einer Beteiligung an der Spezialkommission zurückzu­ ziehen, fand sich Eduard Lasker durch den Vorstoß der Regierung auf verlorenem Posten wieder. Dennoch gab der nationalliberale Politiker zu bedenken, dass das Abgeordnetenhaus bei einer Beteiligung an einer Regierungskommission die Kontrolle über die Untersuchung aus der Hand gebe. Auch sprach er deutlich die Gefahr an, dass die Regierung mit ihrem Angebot versuchen könne, einen „parlamentarischen Vorgang abzuwenden, der sonst unabwendbar gewesen wäre“. Für eine parlamentarische Untersuchungskommission führte er darüber hinaus ins Feld, dass alle maßgeblichen politischen Parteien in ihr vertreten wären und die Kammer die Kontrolle über die Untersuchung behalte. Obwohl Eduard Lasker anerkannte, dass dies nicht eindeutig geregelt sei, hielt er außerdem die Behörden und Gerichte für verpflichtet, mit einer parlamentarischen Kommission zu kooperieren. Als Vorzug einer königlichen Kommission qualifizierte der Berliner Rechtsanwalt dann aber, dass ihr die Regierung alle benötigten Befugnisse verschaffen könne. Bevor er endgültig einlenkte und seinen Antrag zurückzog, stellte er einen Katalog von

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s. 5. Teil 3. Kap. E. I. bis III.

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Forderungen auf, der den Erfolg der Spezialkommission sicherstellen sollte und sich als Minderheitenschutzprogramm charakterisieren lässt: Jedes Kommissionsmitglied sollte über den Gegenstand und das Vorgehen bei der Untersuchung mitbestimmen können. Das Mehrheitsprinzip lehnte er für das Kommissionsverfahren ab. Statt über die Beweiserhebung „nach Art eines Gerichtshofes durch Stimmenmehrheit“ zu entscheiden, sollte die Kommission auf Verlangen bloß eines Mitgliedes jeden Zeugen über jeden Gegenstand vernehmen müssen. Vor allem sollte jedem Kommissionsmitglied ein unmittelbares und unbeschränktes Fragerecht zustehen. Cum grano salis antizipierte Eduard Lasker also verschiedene Positionen, die das BVerfG im April 2002 zur Stellung der Fraktionen im Untersuchungsausschuss entwickeln sollte.35 Als Ministerpräsident Roon in vielen Punkten einlenkte, schlossen sich die Antragsteller der Mehrheit an. Der dem „Hause später vorzulegende Kommissions-Bericht“ sollte überdies garantieren, „daß Alles, also Anträge, Diskussionen u. s. w. darin enthalten [wäre…], was von den einzelnen Mitgliedern berührt“ worden sei.36 Der Regierung war es mit ihrem Schachzug zwar gelungen, eine parlamen­ tarische Untersuchung zu verhindern; die Aufarbeitung der unangenehmen Affäre ließ sich dagegen nicht unterbinden. Tatsächlich fand Eduard Lasker in der Spezialkommission ein Forum, um seine Anschuldigungen gegen sämtliche Beteiligten nachzuprüfen und unter Beweis zu stellen. Dass seine Aufklärungsbemühungen keineswegs erfolglos blieben, erkannten die Zeitgenossen auch überwiegend an. Letzten Endes resignierten Handelsminister Heinrich Graf v. Itzenplitz und der verhasste Hermann Wagener, die infolge der Affäre politisch unhaltbar geworden waren; das „System Strousberg“ wurde diskreditiert, das Konzessionswesen neu geordnet, ein Reichseisenbahnamt eingerichtet und die „Betheiligung der Staatsbeamten bei der Verwaltung von Erwerbsgesellschaften“ durch Gesetz beschnitten. Auch kam die Reform des Aktienrechts in Gang, deren Vollendung freilich noch bis in die 1880er Jahre auf sich warten ließ. Es wird den Tatsachen also keinesfalls gerecht, die preußische Eisenbahnenquête als parlamentarische Niederlage zu verbuchen.37 Obwohl ihre Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte des modernen parlamentarischen Selbstinformationsrechts üblicherweise von ihrem „Ende“ in den 1870er Jahren her fehlinterpretiert wird, liefert die preußische Verfassungsge­ schichte einen reichen Ertrag. Dabei finden sich in der Zeit von 1849 bis 1873 Beispiele für sämtliche Enquête- und Untersuchungstypen. Auch zeigte sich der Wert eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts: Zwar sah Art. 82 PrVerf 1850 weder Aussagepflichten noch Zwangsmöglichkeiten oder Requisitions- oder Auskunftsrechte vor. Indem das Abgeordnetenhaus in der Wahlmanipulationsuntersuchung dennoch beachtliche Erfolge erringen konnte, ließ das Selbstinforma 35

s. BVerfGE 105, 197 ff. und dazu 8. Teil 4. Kap. D. III. 3. s. 5. Teil 3. Kap. E. IV. 37 s. 5. Teil 3. Kap. E. V. bis VII. 36

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tionsrecht bei dieser Gelegenheit ganz klar seine politische Durchschlagskraft erkennen. Gleichzeitig verdeutlichten die Obstruktionsversuche des Ministeriums Bismarck, wie wichtig unmittelbare Untersuchungsbefugnisse waren. Indem die Untersuchungskommission bei ihren Zeugenvernehmungen wieder grosso modo nach den Regeln des preußischen Strafprozessrechts verfuhr, bot sie außerdem einen weiteren Ausblick auf die „sinngemäße Anwendung“ späterer Tage. Auch die bisher üblicherweise gering geachtete Eisenbahnenquête war durchaus keine parlamentarische Niederlage. Vielmehr wäre es der Regierung wohl ohne das Damoklesschwert des Art.  82 PrVerf  1850 und das traumatische Erlebnis von 1863/64 sicherlich nicht im Traum eingefallen, das Abgeordnetenhaus an der Aufarbeitung des Problems zu beteiligen. Darüber hinaus kam in der Spezialkommission erstmals der erst später von Max Weber in das Verfassungsrecht eingeführte Gedanke des Minderheitenschutzes zur Geltung. Zuvor hatten die erfolglosen liberalen Vorstöße zur Lage des Landes oder der Behandlung der religiösen Dissidenten eindrucksvoll illustriert, wie wirkungslos ein Kontrollrecht in der Hand der Mehrheit war. Als Negativbeispiele dürften die entsprechenden liberalen Niederlagen die Entwicklung des Minderheitenrechts gefördert haben. Bis auf das Fehlen von Pflicht und Zwang, wie sie Art. 44 GG heute vorsieht, war die preußische Praxis zu Art. 82 PrVerf 1850 also sowohl in ihren Erfolgen als auch ihren Niederlagen durchaus wegweisend.38 5. Norddeutscher Bund und Kaiserreich als „Negativbeispiele“ Gegenüber dem Königreich Preußen bedeuteten Norddeutscher Bund und Kaiserreich für das parlamentarische Selbstinformationsrecht deutliche Rückschritte: Die Verfassungen von 1867 und 1871 sahen keine Art. 82 PrVerf 1850 vergleichbare Vorschrift vor. Trotzdem ist die Zeit von 1867 bis 1918 nicht verloren; ihr kommt eine eigentümliche Rolle als positives wie als negatives Vorbild zu. 1867 scheiterten Eduard Laskers Bemühungen, dem Norddeutschen Reichstag in den Verfassungsberatungen das Recht zu verschaffen, „Thatsachen durch Vernehmung von Zeugen, Sachverständigen und anderer Auskunftspersonen zu erheben und in gleicher Weise Commissionen mit der Erhebung von Thatsachen zu beauftragen“. Zu gering schätzte die Mehrheit die Erfolgschancen dieses Vorstoßes ein, dem die Regierungen zustimmen mussten, zu marginal den Nutzen des beantragten Rechts und zu hoch das Risiko, mit dieser konfliktträchtigen Forderung das probate Petitionsrecht zu riskieren. Hinzu kamen wie schon in der Märzrevolution föderale Sorgen, ein Enquête- und Untersuchungsrecht des oberstaatlichen Parlaments könne im künftigen Bundesstaat „eigentlich unausführbar“ sein. Nicht besser erging es im folgenden Jahr dem sozialdemokratischen Antrag 38

s. 5. Teil 4. Kap.

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Reincke, dem Reichstag in offenkundiger Anlehnung an das preußische Recht die Befugnis beizulegen, „Behufs seiner Information Commissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“. Offensichtlich hatten die Antragsteller aber aus den Verfassungsberatungen gelernt, in denen dem Untersuchungsrecht u. a. seine Schwäche vorgehalten worden war, und forderten dieses Mal, die Behörden zu verpflichten, den „Commissionen bei der Ausübung ihrer Amtspflicht, innerhalb der Grenzen ihres Commissoriums, die geforderte Unterstützung zu gewähren“. Zur Begründung hieß es, dass die Volksvertretung als zweiter Faktor der Gesetzgebung informationsrechtlich nicht hinter dem Bundesrat zurück­ stehen dürfe. Derzeit könne der Reichstag die Regierungen bloß dazu ersuchen, Tat­sachen zu ermitteln, und hänge somit ganz von ihrem Wohlwollen ab. Gleichwohl sprach sich die Reichstagsmehrheit erneut gegen ein Selbstinformationsrecht aus. Dieses Mal verwies man neben der voraussichtlichen Ablehnung durch die Regierungen und dem föderalen Einwand darauf, dass das geforderte Recht „unstreitig und unzweifelhaft“ in Exekutive und „Justiz-Verwaltung“ eingreife, andererseits aber ohne die Befugnis, „jeden Beamten irgend einer Behörde abzuhören“, allenfalls „sehr beschränkt[en]“ Nutzen habe. Eine Verfassungsänderung um des vermeintlich „winzigen und beschränkten Rechtes“ willen wurde rundheraus ab­ gelehnt. Besser solle sich der Reichstag künftig einen „concreten zur Zeit wichtigen Gegenstand herausgreife[n]“ und von den Regierungen „die Ernennung einer Untersuchungs-Commission ad hoc“ erbitten. Nach dem Scheitern dieses Vorstoßes wurde es zunächst ruhig um das E ­ nquêteund Untersuchungsrecht. Neue Verfassungsänderungsforderungen wurden erst nach dem Thronwechsel laut: Als Wilhelm II. Anfang 1890 eine „Periode der sozialen Gesetzgebung“ ausgerufen hatte, verlangten die Sozialdemokraten ein Recht des Reichstags, „behufs seiner Information Kommissionen zur Untersuchung von Thatsachen zu ernennen“. Die mit diesem Vorstoß verbundenen Befugnisforderungen erfuhren verglichen mit dem Antrag Reincke eine weitere Stärkung: Über das Requisitionsrecht gegenüber den Behörden hinaus sollte jede Untersuchungskommission jetzt berechtigt werden, „Zeugen und Sachverständige – auch eidlich – zu vernehmen und überhaupt alle diejenigen Erhebungen zu veranstalten, die sie zur Klarstellung der Thatsachen für nöthig erachte“. Die Antragsteller hatten offensichtlich aus der Ablehnung der vermeintlich allzu schwächlichen Änderungswünsche in der Vergangenheit Schlussfolgerungen gezogen. In der Debatte hoben sie – ähnlich wie es Max Weber 1917 tun sollte – hervor, dass der Reichstag über eigene sachgerechte Möglichkeiten zur Information verfügen müsse. Keinesfalls dürfe die Volksvertretung in der anbrechenden Periode der Sozialgesetzgebung auf Ersuchen an die Regierungen angewiesen bleiben. Subtil schwangen in der Debatte bereits Andeutungen späterer Kontrollforderungen mit. Wieder wurden diesen Vorstellungen sowohl Gewaltenteilungssorgen als auch der vermeintlich geringe Nutzen eines Selbstinformationsrechts zum Verhängnis. Zum Schwur kam es letztendlich aber nicht, weil der Antrag vor dem Ablauf der Legislaturperiode nicht mehr auf die Tagesordnung

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kam. Der Antrag Auer setzte trotzdem offenkundig Maßstäbe; er wurde bis 1912 mehrfach wiederholt.39 Die verbreitete Annahme, der Reichstag habe u. a. aus Resignation über die bescheidene preußische Praxis auf ein Enquête- und Untersuchungsrecht verzichtet, wird der Verfassungsgeschichte nicht gerecht. Die enquête- und untersuchungsrechtsskeptische Mehrheit legte schlicht aus unterschiedlichen Gründen kein besonderes Gewicht auf eine derartige Befugnis oder lehnte sie sogar rundheraus ab. Auf Gegenliebe der Regierungen, ohne deren Zustimmung eine Verfassungsänderung ohnehin unmöglich war, ließ sich nicht hoffen. An einem Konflikt hatte die Reichstagsmehrheit, die sich in wechselnden Konstellationen und aus unterschiedlichen Motiven Vorteile von einer Kooperation mit dem Gouvernement versprach, kein Interesse. Demgegenüber lässt sich an den Verfassungsänderungsforderungen der Minderheit eine interessante verfassungspolitische Fortentwicklung von dem ersichtlich an Art. 82 PrVerf 1850 orientierten, um das ausdrückliche Recht zu (freiwilligen?) Vernehmungen erweiterten Antrag Lasker über das zusätzliche Requisitionsrecht des Antrags Reincke bis hin zu dem robusten Enquête- und Untersuchungsrecht des Antrags Auer ablesen, die das moderne Enquête- und Untersuchungsrecht mit unmittelbaren Beweiserhebungsbefugnissen einschließlich Pflicht und Zwang bis auf das Minderheitenrecht vorwegnahm. Seiner Ausstattung nach hätte das zuletzt verlangte Recht für Sozial-, Wirtschafts- und Gesellschaftsenquêten ebenso gut als politisches Kampfmittel getaugt. Zur Vollendung kamen diese Forderungen aber erst nach dem staatsrechtlichen Umbruch von 1918.40 In den letzten Jahrzehnten des 19.  und zu Beginn des 20.  Jahrhunderts überließ der Reichstag die vor gesetzgeberischen Projekten erforderlichen Erhebungen ebenso wie verschiedene Sozialenquêten vollständig dem Bundesrat. Allenfalls richtete die parlamentarische Seite Enquêteersuchen an die Adresse der Regierungen. Ob, wann oder wie diese einer Bitte nachkamen, konnte der Reichstag nicht beeinflussen. Nach diesem Muster wurden in den ersten Jahrzehnten auf Anregung oder Veranlassung der Volksvertretung verschiedene Sozialenquêten durchgeführt. Anders als bei den preußischen Enquêten zur Lage der Weber und Spinner oder der Banken und des Geldverkehrs blieben dabei kritische Töne natürlich aus. Von der preußischen Eisenbahnenquête unterschied die Regierungsenquêten, dass der Reichstag nicht unmittelbar beteiligt wurde. Die exekutive Durchführung hatte ihre Vor- und Nachteile: Einerseits bewegte sich etwa der Umfang der statistischen Arbeiten zur Lage der Arbeiterschaft in Größenordnungen, die der Reichstag kaum hätte stemmen können; andererseits besaß die Volksvertretung keinen Einfluss auf die Enquêten und „sah“ die Ergebnisse nur gleichsam durch die ministeriale Brille.41

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s. 6. Teil 2. Kap. s. 6. Teil 2. Kap. B. V. 41 s. 6. Teil 3. Kap. A. 40

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Eine Sonderstellung nimmt die Tabakenquête von 1878 ein. Sie wurde nicht auf einen schlichten Bundesratsbeschluss hin, sondern auf der Grundlage eines speziellen Enquêtegesetzes veranstaltet. Im Schrifttum gilt sie zu Unrecht als Beleg dafür, dass der Reichstag, wann immer nötig, seinen Informationsbedarf durch die Niedersetzung einer Kommission im Wege des Gesetzes gestillt habe. Abgesehen davon, dass die Volksvertretung ohne Regierungsmitwirkung überhaupt keine Gesetze schaffen konnte, ging die Initiative zu diesem anscheinend singulären Vorgang von der Regierung aus. Die Tabakenquête war Teil von Bismarcks Reichsfinanzreformbemühungen. Der Gesetzentwurf sah eine zwangsbewehrte Erhebung vor, um kurzfristig die informatorischen und statistischen Grundlagen für eine stärkere Besteuerung und auf mittlere bis lange Sicht für eine Staatsregie zu schaffen. Die Nationalliberalen widersetzten sich dem Entwurf u. a. aus Sorge um die auskunftspflichtigen Unternehmer, die wesentliche Geschäftsgeheimnisse offenbaren sollten. Unter der Oberfläche spielten sicherlich auch Ressentiments gegen das von Bismarck letzten Endes beabsichtigte Monopol eine Rolle, das dem Reich eigene Einkünfte verschaffen und es von den Matrikularbeiträgen unabhängig machen sollte. Wegen der verschiedenen parlamentarischen Ressentiments blieb es schließlich bei dem Minimalkonsens einer freiwilligen Enquête mit offener Zielsetzung, deren Ergebnisse dem Reichstag übermittelt werden sollten.42 1892 kam es auf Betreiben der Regierung zu einer kleinen Zeitenwende, indem Abgeordnete zu der Börsenenquête hinzugezogen wurden, um die Volks­ vertretung möglichst frühzeitig in den Reformprozess mit einzubinden. Bei anderen Gelegenheiten wurde das Parlament in vergleichbarer Weise beteiligt. Teils konnte der Reichstag seine Vertreter selbst auswählen, teils wurden sie von staatlichen Stellen bestimmt und in die Kommissionen berufen.43 Gut zehn Jahre nach diesen ersten Anfängen ersuchte das Parlament die Regierung Bülow im Frühjahr 1905 dazu, „zur Prüfung der Rechte und Pflichten und der bisherigen Tätigkeit der Land- und Bergwerksgesellschaften in Südwestafrika eine Kommission zu berufen, zu welcher vom Reichstage zu wählende Mitglieder des Reichstags und koloniale Sachverständige zuzuziehen“ sein sollten. Der Bericht dieses hybriden Gremiums sollte Reichstag und Bundesrat „mit Vorschlägen zur Beseitigung etwaiger Mißstände“ übermittelt werden. Weitergehende sozialdemokratische Forderungen, der Kommission insbesondere auch das Recht zur „zeugeneidlichen Vernehmung von Interessenten und Sachverständigen“ beizulegen, waren nicht mehrheitsfähig. Die Mehrheitsresolution konnte die auf Kooperation angewiesene Reichsregierung nicht ignorieren. Während die Regierung zu der zum Beginn des folgenden Jahres eingesetzten Spezialkommission acht Kolonialsachverständige ernannte, wählte der Reichstag auf eigenen Beschluss 14 Mitglieder in seinen sieben Abteilungen. Trotz des parlamentarischen Übergewichts sicherte sich die Regierung die Kontrolle über die Untersuchung, indem sie sich die Be 42

s. 6. Teil 3. Kap. A. 3. s. 6. Teil 3. Kap. B. I.

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stellung des Vorsit­zenden vorbehielt. Dieser verfügte zwar nicht über Sitz und Stimme, terminierte aber die Sitzungen der Kommission und leitete ihre Verhandlungen. In der 11. Legislaturperiode tagte dieses Gremium lediglich viermal. Nach der Reichstagsauflösung folgten weitere vier Sitzungen. Neben der schleppenden Kommissionsarbeit handelte die Kolonialverwaltung mit den Landgesellschaften einen Kompromiss aus. Dabei nutzte sie die Kommission als Druckmittel, um Zugeständnisse zu erzwingen. Für die Entwicklung des parlamentarischen Enquêteund Untersuchungsrechts hatte diese Episode eine doppelte Bedeutung: Einerseits gelang es dem Reichstag anscheinend zum ersten Mal, die Untersuchung eines Missstandes, an dem auch die Exekutive nicht unschuldig war, unter parlamentarischer Beteiligung durchzusetzen. Das Vorbild für diesen bemerkenswerten Vorgang war sicherlich die preußische Eisenbahnenquête von 1873. Andererseits führte die dilatorische Geschäftsbehandlung durch die Regierung dem Parlament die Unentbehrlichkeit eines Selbstinformationsrechts vor Augen. Darüber hinaus wurde deutlich, dass neben der parlamentarischen Regie robustere Untersuchungsbefugnisse unverzichtbar waren, um einen skandalösen Sachverhalt wirklich umfassend aufzuklären.44 1908 beschloss der Reichstag, „den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, in dem Gesetzentwurf zur Feststellung des Reichshaushalts-Etats für das Jahr 1909 eine entsprechende Summe anzufordern zur Bestreitung der Kosten einer aus Mitgliedern der verbündeten Regierungen und des Reichstags zusammengesetzten Enquete-Kommission behufs Untersuchung der politischen Verhältnisse der polnischen Bevölkerung im Deutschen Reiche“. Die politisch brisante Untersuchungsforderung wurde bei zwei Enthaltungen und 147 „Nein“-Stimmen durch eine Mehrheit von 158 Abgeordneten aus den Reihen des Zentrums (104 Mandate), der polnischen Fraktion (20 Mitglieder) und mutmaßlich der Sozialdemokraten (43 Sitze)  sowie der regionalen Gruppen angenommen. Natürlich ignorierte die Regierung diese Aufforderung, die ein bemerkenswerter Vorgriff auf die parlamentarische Regierungskontrolle war.45 Vordergründig war ein Vorstoß gegen den industriell-militärischen Komplex von 1913 erfolgreicher. Nachdem Karl Liebknecht die Regierung u. a. über Korruption und Bestechung in Schwerindustrie und Militärverwaltung informiert hatte, ohne dass daraufhin etwas unternommen worden wäre, prangerte er die Missstände im Reichstag an. Die Budgetkommission schlug dem Plenum daraufhin vor, „den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, zur Prüfung der gesamten Rüstungslieferungen […] eine Kommission zu berufen, zu welcher vom Reichstag zu wählende Mitglieder des Reichstags und Sachverständige zuzuziehen“ sein sollten; nach Abschluss der Untersuchung sollte ihr „Bericht […] den gesetzgebenden Körperschaften mit Vorschlägen zur Beseitigung etwaiger Mißstände mitzu­teilen“ sein. Der Antrag orientierte sich also eng an dem Vorbild der südwestafrika­nischen 44

s. 6. Teil 3. Kap. B. II. s. 6. Teil 3. Kap. B. III.

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Untersuchung von 1905. Die Sozialdemokraten forderten stattdessen die „Prüfung der gesamten Rüstungslieferungen“ durch den Reichstag. Um diese in der Verfassung nicht vorgesehene Untersuchungskommission zu stärken, sollte der Reichskanzler ersucht werden, „dem Reichstag unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen“, der dem parlamentarischen Gremium die Rechte der „ordentlichen Gerichte[n] für die Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen sowie für die Anordnung der Durchsuchung und der Beschlagnahme“ einräumen sollte; der Vorgriff auf die Verweisung auf die Vorschriften der Strafprozeßordnung in Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 ist unverkennbar. Hilfsweise forderten die Antrag­steller eine parlamentarische Zweidrittelmehrheit in der Kommission, weil ihr die Öffentlichkeit andernfalls kein Vertrauen entgegenbringen werde. Während die SPD den Regierungskontrollcharakter ganz in den Vordergrund rückte, damit die Regierung nicht als Richter in eigener Sache auftreten könne, hob das Zentrum den Vorteil einer gemischten Kommission hervor, dass sie nicht der Diskontinuität unterliege. Die Regierung bestritt die Verfassungsmäßigkeit des sozialdemokratischen Vorschlags, der zu einem Eingriff in die den Einzelstaaten überlassene Exekutive führe. Anders als in der südwestafrikanischen Angelegenheit wendete sie sich dieses Mal auch gegen die Forderung der Budgetkommission, die parlamentarischen Kommissionsmitglieder durch den Reichstag wählen zu lassen. Wenigstens sollten ggf. die personellen „Wünsche der Parteien“ berücksichtigt werden. Dagegen nahm die Regierung die endgültige Berufung der Kommissionsmitglieder als „Verwaltungsmaßnahme“ für sich in Anspruch. Analog zu den Debatten im preußischen Abgeordnetenhaus wendeten die Befürworter des Antrages ein, dass eine Untersuchung von Tatsachen kein „Akt der Exekutive“ wäre. Die Kommission solle den Reichstag lediglich bei seiner Kontrollaufgabe unterstützen. Dem vermeintlichen Präzedenzfall von 1905 sprach die gouvernementale Seite jede verfassungsrechtliche Bedeutung ab. Ebenso wenig halfen Thesen weiter, dass der Reichstag über ein natürliches Enquêterecht verfüge oder die Sozialdemokraten mit ihrer Gesetzesforderung in Wahrheit auf eine Verfassungsänderung angetragen hätten. Ungeachtet der Einwände der Regierung und der Konservativen beschloss der Reichstag letztendlich wenigstens die von der Budgetkommission angeregte Resolution. Die Regierung fügte sich diesem Wunsch, nahm aber das angekündigte letztverbindliche Bestätigungsrecht in Anspruch. Als ausgerechnet Karl Liebknecht, der die Dinge überhaupt erst ins Rollen gebracht hatte, als einziger vorgeschlagener Abgeordneter abgelehnt wurde, protestierten die Sozial­ demokraten erfolglos; ihre Kritik, mit der sie sich vor die Rechte des Reichstags zu stellen versuchten, verhallte ungehört.46 Die unter diesen Auspizien wenig aussichtsreiche Kommissionsarbeit hatte nicht den erwünschten Erfolg. Unter dem Vorsitz des Staatssekretärs des Innern Clemens Delbrück verkam die Untersuchungskommission zu einem belanglosen Gremium, das statt einer Missstandsuntersuchung allgemein über Rüstungs­industrie 46

s. 6. Teil 3. Kap. B. IV. 1. bis 3.

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und Beschaffung als „Komplex von überwiegend wirtschaftlichen Fragen“ deliberierte und allgemeine Vorträge ertrug, statt sich über konkrete skandalöse Sachverhalte zu unterrichten. Mit dem Ausbruch des Krieges schlief die ohnehin ergebnislose Arbeit dann ganz ein.47 – Gegenüber der südwestafrikanischen Landuntersuchung von 1905 stellte die Regierungsposition in der Rüstungslieferungsfrage einen Rückschritt dar, indem das Recht des Reichstags, über die Zahl und die Person der parlamentarischen Mitglieder selbst zu entscheiden, in Abrede gestellt wurde. Stattdessen erlebte das „monarchische Prinzip“ gewissermaßen eine Renaissance. Wie die Sozialdemokraten vorausgesagt hatten, war die Regierungskommission außerdem nicht einmal im Ansatz dazu imstande, Licht in die Angelegenheit zu bringen. Durch den Kommissionsvorsitz hatte es die Regierung in der Hand, die Untersuchung zu einer Farce zu machen. So verdeutlichte der traurige Vorgang lediglich die Notwendigkeit eines „eignen“ parlamentarischen Enquêteund Untersuchungsrechts, wie es die Sozialdemokraten in den parlamentarischen Beratungen gefordert hatten.48 Zwischen 1916 und 1918 kam es zu einer weiteren regierungsgeleiteten ­Enquête. Vor dem Hintergrund des für die Zivilbevölkerung entbehrungsreichen Krieges wurde die „Kriegsgewinnlerei“ der Rüstungslieferanten zum Stein des Anstoßes. Ausgelöst von einem konservativen Vorstoß ersuchte der Reichstag den Reichskanzler im Sommer 1916, „zur Prüfung von Verträgen, welche Behörden oder Kriegsgesellschaften seit Kriegsbeginn zu Lasten der Reichskasse über Leistungen oder Lieferungen für Kriegszwecke geschlossen [hätten…], eine Kommission zu berufen, zu welcher vom Reichstag zu wählende Mitglieder des Reichstags und Sachverständige zuzuziehen“ sein sollten. Abschließend sollte der Kommissionsbericht – wie gewöhnlich – den „gesetzgebenden Körperschaften mit Vorschlägen zur Beseitigung etwaiger Mißstände“ unterbreitet werden. Obwohl die Regierungen die parlamentarische Forderung grundsätzlich anerkannten, zögerten sie die Einsetzung der Kommission hinaus, so dass die erste Tagung dieses Gremiums erst ein halbes Jahr später stattfand. Unter dem Vorsitz des Staatssekretärs des Innern Karl Helfferich wurden ab Dezember 1916 insgesamt 14 Sitzungen abgehalten; eine wirkungsvolle Untersuchungstätigkeit wusste die Reichsregierung aber wieder zu verhindern. Den 13 Parlamentariern, die dem Gremium angehörten, stand eine bis zu dreifache Übermacht von Regierungs- und Behördenvertretern gegenüber. Die schon gegenüber der ersten Rüstungsenquête verfolgte „Taktik“, die Kommission mit nutzlosen allgemeinen Vorträgen etc. sinnlos zu beschäftigen, wurde dieses Mal perfektioniert. Aufklärungsversuche einzelner Abgeordneter, die sich persönlich aus Akten der Militärbehörden informierten, verpufften gegenüber der Möglichkeit der Regierung, brisante Informationen zu verschleiern. Die Kommissionsarbeit erschöpfte sich in einem nutzlosen allgemeinen Überblick und lieferte abermals nichts anderes als den Beweis, dass sich kontroverse Vor 47

s. 6. Teil 3. Kap. B. IV. 4. und 5. s. 6. Teil 3. Kap. B. IV. 6.

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gänge im Dickicht von Großindustrie und Regierung bestenfalls mit Hilfe eines eigenständigen parlamentarischen Enquête- und Untersuchungsrechts aufklären ließen; regierungsgeführte Kommissionen waren für eine solche Aufgabe offenkundig ungeeignet.49 Kaiserreich und Norddeutscher Bund haben damit einen doppelten Beitrag zur Entstehung des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts geleistet: Seit den Verfassungsberatungen Ende der 1860er Jahre fielen die verfassungspolitischen Forderungen nach einem parlamentarischen Selbstinformationsrecht zunehmend differenzierter aus und näherten sich, sieht man von der Ausgestaltung als Minderheitenrecht einmal ab, zunehmend dem modernen Enquête- und Untersuchungsrecht. Der letzte sozialdemokratische Vorstoß datiert auf das Jahr 1912; bloß fünf Jahre später entwarf Max Weber sein bis heute wirksames Konzept. Die Evolution der Verfassungsänderungsforderungen von einer Anlehnung an Art. 82 PrVerf 1850 bis hin zu einem mit Pflicht und Zwang bewehrten Enquête- und Untersuchungsrecht stellt sich in erster Linie als Reaktion auf die Ablehnung eines vermeintlich zu weichen Selbstinformationsrechts dar. Darüber hinaus dürften die negativen Erfahrungen, die die Abgeordneten mit den von der Regierung geleiteten Kommissionen gesammelt hatten, eine Rolle gespielt haben. Der Beitrag der Staatspraxis ist also eher unfreiwilliger Natur. Sie bot mit den Worten des Fortschrittspolitikers Eugen Richter vor allem Negativbeispiele dafür, „wie man Enqueten nicht machen soll[te]“. Außerdem verdeutlichten die Versuche des Reichstags, in der südwestafrikanischen Landangelegenheit, in der Frage von Korruption und Missständen in Rüstungsindustrie und Beschaffungswesen oder über die obszönen Kriegsgewinne für Aufklärung zu sorgen, wie notwendig ein „eigenes“­ Enquête- und Untersuchungsrecht für eine erfolgreiche Arbeit der Volksvertretung war.50

II. Der Schritt in die Moderne (1917, 1919–1932) Die Novemberrevolution führte den vollständigen Bruch mit der bisherigen staatsrechtlichen Ordnung des monarchischen Konstitutionalismus herbei. Damit war der Weg frei, um die Erkenntnisse und Forderungen der letzten Jahrzehnte konsequent zu einem modernen Selbstinformationsrecht zusammenzuführen. Der intellektuelle Wegbereiter ist Max Weber, der das Modell eines zwangsbewehrten Enquête- und Untersuchungsrechts der parlamentarischen Minderheit schon 1917 entwickelte. Das von ihm gezeichnete Konzept erscheint vor verfassungsgeschichtlichem Passepartout einerseits als Bewahrung der bisherigen Errungenschaften insbesondere des Art. 82 PrVerf 1850 bei gleichzeitiger Überwindung der konstitutionellen Hemmnisse und Grenzen sowie andererseits als Anpassung des 49

s. 6. Teil 3. Kap. B. V. s. 6. Teil 3. Kap. B. VI. C. und 4. Kap.

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Selbstinformationsrechts an die Bedürfnisse des demokratisch-parlamentarischen Regierungssystems. Der Heidelberger Soziologe vollbrachte 1917 also keine vollständige Neuschöpfung, sondern führte die Erfahrungen, Entwicklungen und Forderungen aus den gut 70 Jahren seit der Märzrevolution virtuos zusammen. 1919 wurde diese theoretische Vorarbeit durch das Inkrafttreten des Art. 34 RVerf 1919 gekrönt.51 Das mindestens doppelfunktionale Selbstinformationsrecht, das die revolutionären Parlamente in Frankfurt am Main und Berlin erkämpft hatten und das vor allem in Preußen überdauern konnte, wurde in der Reichsverfassung vollendet und Forderungen im Reichstag entsprechend auf die oberstaatliche Ebene übertragen. Das Manko des Art. 82 PrVerf 1850, dass Zeugen und Sachverständige weder erscheinen noch aussagen mussten, hatte mit der sinngemäßen Anwendung der entsprechenden Vorschriften der Strafprozeßordnung ein Ende. Zugleich trug Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 den negativen Erfahrungen aus den freiwilligen Regierungsenquêten der Kaiserzeit Rechnung. Ein Stück weit folgte die Weimarer Reichsverfassung mit der Entscheidung für eine Verweisung auf das Strafprozessrecht auch dem Vorbild der preußischen Vereinbarungsversammlung oder des Abgeordnetenhauses, deren Untersuchungskommissionen bei Zeugenvernehmungen entsprechend den Prozessordnungen verfahren waren; analoge Forderungen, den Kommissionen robustere Befugnisse gegenüber den Auskunftspersonen beizulegen, hatten die informationsrechtlichen Auseinandersetzungen im Reichstag seit den 1890er Jahren begleitet. Mit der Verpflichtung der Behörden und Gerichte, „dem Ersuchen dieser Ausschüsse um Beweiserhebungen Folge zu leisten“ und ihnen „Akten […] auf Verlangen vorzulegen“ (Art. 34 Abs. 2 RVerf 1919), knüpfte die Weimarer Reichsverfassung an konstitutionelle Forderungen und Versuche an. Art. 34 Abs. 3 RVerf 1919 nahm diese Vorläufer (unbewusst?) in sich auf, stärkte sie mit der ausdrücklichen Verweisung auf das Strafprozessrecht und machte damit dem „Gewaltenteilungsargument“ ein Ende, das im 19. Jahrhundert vermeintlich exekutiven enquête- und untersuchungsrechtlichen Forderungen so oft entgegengehalten worden war.52 In Wissenschaft und Praxis setzte sich eine weite Spielart der Korollartheorie durch, um den Anwendungsradius des Art. 34 RVerf 1919 zu vermessen; seinem ursprünglichen Sinn gemäß diente das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht dazu, die materiellen Befugnisse der Volksvertretung informationsrechtlich zu flankieren.53 Die überkommenen Ressentiments gegen scheinbar exekutive bzw. judikative Befugnisse der Legislative waren trotz der klaren Entscheidung des Art. 34 RVerf 1919 nicht mit einem Schlag verschwunden. Am zähesten hielt sich der Widerstand in den Reihen der Justiz, die den vermeintlichen Einbruch des Reichstags in ihre Domänen vehement, letztlich aber erfolg 51

s. 7. Teil 1. Kap. C. s. 7. Teil 2. Kap. A. und C. 53 s. 7. Teil 3. Kap. A. 52

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los bekämpfte. In der Praxis untersuchte die Volksvertretung potentiell strafrechtlich relevante Sachverhalte durchaus parallel zu Staatsanwaltschaft und Gerichten. Versuche von Berufsverbänden oder auf dem Deutschen Juristentag, den Untersuchungsausschüssen eidliche Vernehmungen und Zwangsrechte streitig zu machen, blieben Einzelfälle ohne Wirkung. Auch die früher verfochtene Vorstellung einer absoluten Unantastbarkeit des Gouvernements war endgültig überwunden: Von Anfang an untersuchte der Reichstag selbstbewusst potentielle Verfehlungen der Reichsregierung oder einzelner Minister. Am deutlichsten zeigte sich die Emanzipation, ja die neue parlamentarische Präponderanz in der nahezu vollkommen unbestrittenen Forderung des Reichstags, selbst amtierende Regierungsmitglieder als Zeugen vorzuladen und zu vernehmen. Ungeachtet dieses Siegeszuges wurden dem Enquête- und Untersuchungsrecht auch verschiedene bis heute wirksame Grenzen gegenüber Justiz und Exekutive gezogen. Das gilt für das selbstverständliche Verbot, einzelne Streitfälle nach der Art eines Gerichts mit dem Anspruch auf Rechtskraft zu entscheiden, ebenso wie für den Schutz der Eigenständigkeit der Regierung als demokratischer Teilgewalt.54 Einen augenscheinlichen Bruch mit der Vergangenheit stellte die Ausgestaltung des Art. 34 Abs. 1 Satz 1 RVerf 1919 als Minderheitenrecht dar. Im monarchischen Konstitutionalismus war das Selbstinformationsrecht immer unbestritten ein Recht der Mehrheit. Freilich lag dieser Paradigmenwechsel mit dem Übergang zu Republik, Demokratie und Parlamentarismus nahe, hatte sich doch das Verhältnis der Volksvertretungsmehrheit zu der jetzt von ihr abhängigen Regierung mit diesem Systemwechsel grundlegend verändert. Eine Mehrheitsopposition, wie sie das Abgeordnetenhaus 1863/63 beherrscht und die Untersuchung der Wahlmanipulationen ermöglicht hatte, passte vor der Fragmentierung der Volksvertretung und dem Entstehen destruktiver Zweckmajoritäten nicht in das verfassungspolitische Konzept der Republik. In dem parlamentarisch-demokratischen Koordinatensystem der Reichsverfassung sollte es das Minderheitenrecht verhindern, dass an die Stelle einer unkontrollierbaren Regierung eine ebenso unkontrollierbare parlamentarische Majorität treten könnte. Wie es heute noch der Fall ist, sollte die Minorität also die Kontrolle über die von der Mehrheit getragene Regierung führen. Für die Notwendigkeit dieses Schrittes sprach die Verfassungsgeschichte Bände: Oft genug hatten gouvernementale oder gar mehr oder minder zufällige Mehrheiten bzw. die zahlenmäßige Unfähigkeit der Opposition zur Mehrheitsbildung in den preußischen Kammern jede effektive Regierungskontrolle aufgrund von Art.  82 PrVerf 1850 vereitelt. Funktional hatte das Enquête- und Untersuchungsrecht zudem wenigstens in Preußen, dem für die weitere Entwicklung eine gewisse Vorbildrolle zukam, ohnehin immer oppositionellen Zielen gedient. Das zeigte sich durch regierungskritische Untertöne sogar in den Sozial- und Wirtschaftsenquêten der ersten Jahre und wurde in den Kampfanträgen zur Lage des Landes, der Misshandlung der Dissidenten oder der Wahlmanipulationsuntersuchung sowie Eduard 54

s. 7. Teil 3. Kap. B.

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Laskers Antrag in der Eisenbahnaffäre überdeutlich. Das politische Selbstinformationsrecht als Kontroll- und Kampfinstrument auch den Minderheiten anzu­ vertrauen, lag auch vor diesem Hintergrund also überaus nahe.55

III. Bewahrung, Weiter- und Fehlentwicklungen nach 1949 Die Entstehung von Art. 44 GG ist von zwei Bemühungen geprägt: Man wollte die Errungenschaften des Art. 34 RVerf 1919 bewahren, ohne seine historischen Fehler zu wiederholen. So erklärt sich, dass das Minderheitenrecht beibehalten wurde, obwohl die extremistischen Parteien es im Reichstag für ihre Zwecke missbraucht hatten, das Quorum aber gleichzeitig auf ein Viertel angehoben wurde. Dass keine Wesensänderung beabsichtigt war, sondern weiterhin auf den politischpropagandistischen Effekt einer Untersuchung gebaut werden sollte, beweist die Beibehaltung der Untersuchungsöffentlichkeit;56 freilich war dieser Punkt hochkontrovers. Weitere Anknüpfungspunkte sind die Rechts- und Amtshilfe sowie – vor allem anderen  – die robusten Untersuchungsbefugnisse. Insoweit wurde die Verweisung von der Strafprozeßordnung auf das Strafprozessrecht ausgedehnt, um auch die Vorschriften über die Sitzungspolizei nutzbar zu machen. Ungeachtet der verschiedenen Abweichungen, Korrekturen und Neuerungen ist also der Wille zur Kontinuität unübersehbar.57 Nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes knüpften Wissenschaft und Praxis ebenfalls an Vorkriegsüberlegungen an. Besonders deutlich zeigt sich das an der 1913 entwickelten Korollartheorie, deren weite Spielart sich heute durchgesetzt hat: Eine Enquête oder Untersuchung soll nicht bloß zur Vorbereitung der Gesetzgebung, Regierungskontrolle oder anderer verbindlicher Maßnahmen, sondern ebenfalls von politischen Beschlüssen zulässig sein. Verengungsversuche auf bestimmte Anlässe oder Thematiken, insbesondere staatsgerichtete Untersuchungen oder Kontrollenquêten, konnten nicht reüssieren. Die Grundlage für den mittlerweile beinahe 100-jährigen Erfolg der Korollartheorie ist ihre Trivialität: Das formelle Selbstinformationsrecht des Bundestages rundet schlicht seine materiellen Kompetenzen ab. Bedenken, ob oder inwieweit die schneidigen Instrumente des Art. 44 Abs. 2 GG gegenüber Dritten gerechtfertigt sind, lassen sich ausschließlich im Einzelfall und primär auf der Durchführungsebene beantworten. Eine Sicherung bei der Einsetzung stellt demgegenüber das Erfordernis eines öffentlichen Untersuchungsinteresses dar.58 55

s. 7. Teil 4. Kap. Vgl. M. Morlok, in: Dreier, GG II2 2006, Art.  44 Rn.  9: „politisch-propagandistisches Kampfmittel im Wettbewerb mit dem parteipolitischen Gegner“ mit dem Ziel einer „Wirkung in der Öffentlichkeit“. 57 s. 8. Teil 2. Kap. 58 s. 8. Teil 4. Kap. A. I. und II. 56

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Die gewaltenteilungsrechtliche (Schein-)Problematik früherer Tage, dass einem parlamentarischen Ausschuss vermeintlich exekutive Beweiserhebungsbefugnisse übertragen werden, hat sich unter dem Grundgesetz endgültig erledigt. Im Vordergrund der Überlegungen steht stattdessen eine angemessene Abgrenzung des parlamentarischen Untersuchungsrechts von den exklusiven Kompetenzbereichen der anderen Teilgewalten. Zugunsten der Bundesregierung wird aus gewaltenteilungsrechtlichen Überlegungen ein Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung anerkannt, ohne den sie außerstande wäre, ihre Aufgaben als oberstes Bundesorgan in eigener Verantwortung zu erfüllen. Soweit eine Mitteilung die Regierung der Gefahr aussetzen würde, dass „dritte Stellen“ – gemeint ist die Volksvertretung – Einfluss auf gubernative Entscheidungen gewinnen könnte, darf die Informationsweitergabe verweigert werden. Grundsätzlich wirkt dieser Schutz in die Zukunft. Eine retrospektive parlamentarische Kontrolle abgeschlossener Vorgänge gilt als weitgehend zulässig. Eine Ausnahme soll aber dann eingreifen, wenn eine später unbeschränkte Publizität negative Vorwirkungen auf die Regierungstätigkeit haben kann.59 Kompetenzabgrenzungsprobleme gegenüber der Justiz spielen anders als in der Weimarer Republik selbst bei parallelen Verfahren kaum noch eine Rolle.60 Die Beweiserhebungsbefugnisse der Untersuchungsausschüsse wurden an Art. 34 RVerf 1919 angeglichen und maßvoll ausgebaut. So hat das BVerfG den Untersuchungsausschüssen ein Aktenvorlagerecht gegenüber der Regierung zugesprochen, obwohl Art. 44 Satz 1 Satz 1 GG, dem diese Befugnis entnommen wurde, den entsprechenden Passus des Art. 34 Abs. 2 Hs. 2 RVerf 1919 gerade nicht übernommen hatte. Die Grundlage für diese extensive Verfassungsinterpretation besteht aus der Charakterisierung des Selbstinformations- als Kontrollrecht des Bundestages sowie der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Bundesregierung. Indem auf dieses Konstrukt § 96 StPO sinngemäß zur Anwendung kommen soll, versucht das BVerfG den komplizierten Spagat, einerseits das Aktenvorlagerecht gegenüber der „schlichten“ Amtshilfe wertungsmäßig aufzuladen, andererseits aber ein Einfallstor für andere berechtigte Belange offenzuhalten. Ermessen oder ein Einschätzungsspielraum, welche Akten vorzulegen sind, kommen der Regierung nicht zu; sie verfügt aber über ein eigentümliches „informationelles Zurückbehaltungsrecht“, wenn die parlamentarische Seite berechtigten Geheimschutzforderungen nicht nachkommt. Im Übrigen sollen die schnittigen Beweiserhebungsbefugnisse nach Art. 44 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit den entsprechenden Vorschriften der Strafprozeßordnung über die Zeugenvernehmung etc. auch gegenüber amtierenden Regierungsmitgliedern gelten.61 Eine Erweiterung gegenüber Weimarer Untersuchungsbefugnissen stellt die Anerkennung von Durchsuchung und Beschlagnahme dar, die früher als genuin strafprozessuale und deswegen unzulässige Maßnahmen galten. Im Übrigen wird die sinngemäße Anwendung heute vielfach durch das Untersuchungsausschussgesetz konkretisiert, 59

s. 8. Teil 4. Kap. B. I. s. 8. Teil 4. Kap. B. II. 61 s. 8. Teil 4. Kap. C. III. 60

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das sich aber seinerseits im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben einschließlich der Verweisung auf das Strafprozessrecht halten muss.62 Die Stellung der Minderheiten wurde ebenfalls in Anlehnung an Weimarer Standards bestimmt. Sogar die Reichstagspraxis, die Einsetzung im Fall eines qualifizierten Antrages schlicht zu fingieren, kam erneut zu Ehren. 1978 stärkte das BVerfG die Rechte der qualifizierten Einsetzungsminderheiten in der Einsetzungsphase zwar verbal, gestattete aber der Mehrheit Erweiterungen des Untersuchungsauftrags, um auf eine umfassendere und wirklichkeitsgetreuere Aufarbeitung hinzuwirken. Im Untersuchungsverfahren spielten Minderheitenrechte – in Fortführung Weimarer Vorstellungen – zunächst keine Rolle. Seit den späten 1950er und beginnenden 1960er Jahren setzten sich zunehmend Vorstellungen durch, dass wenigstens der konkreten Einsetzungsminderheit eine stärkere Stellung zustehen müsse. Einen Meilenstein stellten gewissermaßen die IPA-Regeln dar, ein gescheiterter Gesetzentwurf, der den Untersuchungsausschüssen des Bundestages in der Praxis aufgrund eines Plenarbeschlusses zugrunde gelegt wurde, soweit geltendes Recht nicht entgegenstand und keine sonstigen Bedenken existierten. Rechtssicherheit konnte durch eine Selbstverpflichtung der Mehrheit nicht geschaffen werden. Versuche, das parlamentarische Enquête- und Untersuchungsrecht einfachgesetzlich zu regeln, scheiterten gleichwohl. Nachdem sich der Gesetzgeber zu Beginn des neuen Millenniums zu einem extensiven Ausbau der Rechte sämtlicher qualifizierten Ausschussminderheiten entschlossen hatte, erteilte das BVerfG den entsprechenden Vorschriften im „Parteispenden“-Urteil die verfassungsrechtliche Absolution.63 Die Entwicklung nach 1949 war von Bemühungen geprägt, das parlamentarische Untersuchungsrecht weiterzuentwickeln und zu stärken, gleichzeitig aber das Untersuchungsverfahren zu verrechtlichen, im Hinblick auf die parlamentarische Kontrollaufgabe gleichsam zu verobjektivieren und die Rechte der Minderheit zu stärken. Im Zusammenspiel führten Versuche durch missliche Synergieeffekte zu einer einseitigen Entpolitisierung, Verrechtlichung und Juridifizierung zu Lasten der Regierung und „ihrer“ parlamentarischen Mehrheit sowie zu einer überproportionalen Berücksichtigung selbst „potentiell einsetzungsberechtigter Minderheiten“, denen die neuere Entwicklung nahezu sämtliche Trümpfe in die Hände spielt. Grundlage dieser unterschwelligen Fehlentwicklung ist eine absolute Überbetonung der Kontrollfunktion des parlamentarischen Selbstinformationsrechts. Die sachlichere Enquêtefunktion, die nach der Korollartheorie doch eigentlich gleichberechtigt sein sollte und bei der teleologischen Auslegung mäßigend wirken könnte, tritt vollständig in den Hintergrund. Durch diese Maxime bedingt, hält eine ebenso ahistorische wie merkwürdige Pseudo-Verobjektivierung Einzug: Das genuin politische Kampfmittel eines parlamentarischen Selbstinformationsrechts wird rhetorisch wenigstens partiell zu einem Instrument 62

s. 8. Teil 4. Kap. C. I. und II. s. 8. Teil 4. Kap. D.

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der wahrhaftigen Sachverhaltsaufklärung verklärt. Die gemeinsame Folgewirkung dieser interpretatorischen Ansätze und Vorentscheidungen ist die zunehmende Verrechtlichung des Untersuchungsverfahrens zu Lasten der Bundesregierung, die gegenüber ihrem parlamentarischen Kontrolleur, der seinerseits von den oppositionellen Minderheiten (mit)beherrscht wird, ohne politische Handlungsspielräume dasteht. Zwischen organstreitfähigen Bundestagsrechten auf der einen sowie einklagbaren Aussage-, Auskunfts- und Mitwirkungspflichten der Bundesregierung auf der anderen Seite geht der frühere politische Kampfcharakter des parlamentarischen Selbstinformationsrechts verloren. Die vermeintliche Rationalisierung des Untersuchungsverfahrens kommt durch die starken Minderheitenrechte einseitig der Opposition zugute, die unter der Firma demokratischer Regierungskontrolle parteipolitische Interessen verfolgen kann. Das genuin politische Untersuchungsverfahren wird zunehmend scheinbar einem gerichtlichen Verfahren angeähnelt, in dem die Regierungsmitglieder als Hauptbeschuldigte und gleichzeitig als Zeugen der Anklage fungieren sollen. Gleichzeitig verliert das Enquête- und Untersuchungsrecht wenigstens partiell seinen Charakter als Selbstinformationsrecht, das der Volksvertretung eine eigenständige und von Regierung und Behörden unabhängige Information ermöglichen sollte, und mutiert zu einem rechtlich übersteigerten Fremdinformationsinstrument. Die politischen Handlungsmöglichkeiten der Regierung sind von Rechts wegen marginal. Allenfalls ihre parlamentarische Hausmacht könnte aufgrund der Spielräume, die ihr die Rechtsprechung belässt, agitatorischen Untersuchungsforderungen einer qualifizierten Minderheit Paroli bieten.64 Aber auch in diesem Verhältnis wird die Minorität, durch die Beweisantrags- und Beweisdurchsetzungsrechte, die das BVerfG 2002 sämtlichen qualifizierten Minderheiten zugesprochen hat, entgegen Art. 20 Abs. 2 und Art. 42 Abs. 2 Satz 1 GG der Mehrheit über- oder doch wenigstens gleichgeordnet.65

B. Forderungen und Vorschläge Um dieser Entwicklung zu begegnen, empfehlen sich eine Wiederentdeckung der Enquêtefunktion, die – ihre Gleichberechtigung unterstellt – auf die Auslegung des Art.  44 GG mäßigend wirken könnte, sowie die Repolitisierung und damit die Dejuridifizierung des Enquête- und Untersuchungsverfahrens. Parallel dazu sollte das Minderheitenrecht in der Einsetzungsphase von majoritären Mitspracheansprüchen befreit werden, um auch so den legitimen politischen Charakter des Selbstinformationsrechts zu betonen. Nimmt die Mehrheit am Zuschnitt einer Minderheitenenquête Anstoß, kann sie öffentliche politische Kritik üben oder  – zu den streitigen Punkten – einen „eigenen“ Untersuchungsausschuss einsetzen.

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Vgl. krit. B. Peters, ZParl 2012, 831. s. 8. Teil 5. Kap.

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Für die Mitwirkungsrechte im Untersuchungsverfahren ist zwischen Mehrheits- und Minderheitsenquêten zu differenzieren. Während die konkrete Ein­ setzungsminderheit in Anerkennung des Demokratie- und des Mehrheitsprinzips lediglich einen gleichberechtigten Mitgestaltungsanspruch erhält, beherrscht die Ausschussmehrheit eine von der Bundestagsmehrheit verlangte Untersuchung. Die Vertreter der Minderheit sind dann auf die allgemeinen Mitwirkungsrechte des einzelnen Abgeordneten im Ausschussverfahren angewiesen. Den legitimen parteipolitischen Agitationsmöglichkeiten der Minderheiten sollten im Untersuchungsverfahren außerdem gewisse politische Einschätzungs-, Beurteilungs- und Ermessensspielräume der Regierung und „ihrer“ Ausschussmehrheit gegenübergestellt werden, um mit einer simultanen Rücknahme der richterlichen Kontrolle eine Repolitisierung des Untersuchungsverfahrens ins Werk zu setzen.66 Grundsätzlichen Widerspruch fordert außerdem die aus der Weimarer Republik übernommene Annahme heraus, dass amtierende Regierungsmitglieder aufgrund von Art. 44 Abs. 2 GG als Zeugen vorgeladen und vernommen werden könnten. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Stellung der Bundesregierung stellt sich Art. 43 Abs. 1 GG als abschließende speziellere Regelung dar.67 Während jede übermäßige Justitiabilität den politischen Prozess hemmen und ihm schaden kann, gibt es sachgerechte, ausreichende und genuin politische Möglichkeiten, um eine „informationsfaule“ Regierung oder ihre parlamentarische „Schutztruppe“68 zu disziplinieren.69 Wie wenig obstruktives Schweigen dem Kanzler und den Ministern in aller Regel nützt, verdeutlichen verschiedene Skandale und Affären auch aus der jüngsten Vergangenheit, in denen Politiker nicht über den eigentlichen Sachverhalt, sondern über ihren unglücklichen Umgang mit Kritik, Verdachtsmomenten und Enthüllungen gestrauchelt sind. Anders als die Gerichte, die für eine Verurteilung von der Schuld des Angeklagten überzeugt sein müssen, ist es das Vorrecht der Politik, den bösen Schein zu sanktionieren. Der Druck und die Disziplinierung durch die von den Medien kanalisierte öffentliche Meinung sollte in der parlamentarischen Demokratie nicht unterschätzt werden.70 Die historische Vorarbeit hat gezeigt, dass die politische Bedeutung des parlamentarischen Doppelrechts aus Art.  44 GG nicht zu gering geachtet werden sollte. Die Verfassungsgeschichte lehrt, wie schwach ein Parlament gerade in Zeiten politischer Krisen ohne robustes Selbstinformationsrecht dasteht. Bei seiner Ausgestaltung durch die Rechtsprechung und Praxis ist stärker darauf zu achten, dass die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse nicht zu parteipolitischen Tribunalen in der Hand der Minderheiten verkommen, denen die Regierung 66

s. 8. Teil 6. Kap. B. II. und III. s. 8. Teil 4. Kap. C. III. 2. 68 H. Meyer, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, S. 150 in Fn. 132. 69 Vgl. S. Magiera, in: Schneider/Zeh (Hg.), Parlamentsrecht, 1989, § 52 Rn. 79 f. 70 Zum Skandalisierungseffekt einer parlamentarischen Untersuchung s. M. Riede/H. Scheller, ZParl 2013, 93 ff. 67

9. Teil: Untersuchungsergebnisse

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durch eine Juridifizierung der politischen Kontroverse wenig oder nichts entgegenzusetzen hat. Leider ist der Fortschritt insoweit bereits auf die schiefe Bahn geraten. Künftig sollten die problematische Überbetonung der Kontrollfunktion auf ein verträgliches Maß reduziert und die hypertrophen Minderheitenrechte gleichzeitig gesundgeschrumpft werden. Gleichzeitig verdient die Bundesregierung als eigenständiges, demokratisch legitimiertes und politisches Verfassungsorgan des Bundes eine stärkere Stellung gegenüber den bisher minoritär (mit)beherrschten Untersuchungsausschüssen des Bundestages. Komplementär dazu ist die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte moderat zurückzunehmen, um dem Wesen des Art.  44 GG als „Kampfinstrument“ in der parteipolitischen Auseinandersetzung wieder zum Durchbruch zu verhelfen.71

C. Schlussbemerkung Bei den künftigen Aufgaben, vor die Art. 44 GG und das Untersuchungsausschuss­ gesetz seine Interpreten stellen werden, kann die Verfassungsgeschichte  – bei richtigem Verständnis – manche Hilfestellung bieten. Das gilt nicht bloß für die ubiquitär zitierte Weimarer Phase. Auch ältere Perioden liefern interessantes Anschauungsmaterial für anscheinend zeitlose Problem- und Interessenkollisionen sowie Lösungsansätze im Kontext der parlamentarischen Information, das sich wenigstens für Diskussionsbeiträge eignet. Obwohl bei dem Versuch, historische „Fundsachen“ in einen kontemporären Kontext zu verpflanzen, stets Vorsicht geboten ist, weil die frühen Keime des modernen Enquête- und Untersuchungsrechts in dem grundverschiedenen verfassungspolitischen Klima des monarchischen Konstitutionalismus gewachsen sind, bewahrheitet sich manches Mal der eingangs zitierte Aphorismus Johann Wolfgang v. Goethes, dass alles Gescheite schon gedacht worden ist und man nur versuchen muss, es noch einmal zu denken.72 Der Grund für die bisweilen frappierenden Parallelen historischer und moderner Konflikte und Bewältigungsversuche liegt auf der Hand: Die zugrundeliegenden Interessen von Regierung und Volksvertretung haben sich in den vergangenen nahezu 200 Jahren ihrer Struktur, Lagerung und Qualität nach weniger verändert, als man vermuten würde. Für den Wert der Verfassungsgeschichte als Interpretationshilfe spricht außerdem die auffällige Kontinuität, ja man möchte meinen: Zwangsläufigkeit der Entwicklung von den ersten interpellationsartigen Auskunftsverlangen bis hin zu einem modernen Selbstinformationsrecht der Volksvertretung. Nicht nur unter diesem Blickwinkel verdienen selbst üblicherweise informationsrechtlich geringgeachtete Perioden wie der preußische Konstitutionalismus oder die Zeit des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reichs einen neuen und vor allem unvoreingenommenen Blick. 71

s. 8. Teil 6. Kap. Vgl. Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 21, Stuttgart und Tübingen 1830, S. 210. 72

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Anonyme Publikation. Autor ist vermutlich Max Duncker.

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Personenverzeichnis Ablaß, Bruno  973 Achenbach, Heinrich  743, 747, 750, 770 Ackermann, Karl Gustav  802 Aegerter, [?]  682 Aegidi, Ludwig  961 Ahrens, Heinrich 218, 220, 226, 227, 247, 250 Albrecht (Prinz v. Preußen)  246 Alsberg, Max  1041, 1044, 1051, 1057, 1089, 1111 Ammon, Friedrich v.  511 Anschütz, Gerhard 966, 985, 995, 1000, 1009, 1026, 1060, 1071, 1084, 1089, 1092, 1139 Anton, Günther Kurt  878 Arenberg, Franz Ludwig v.  874 Arendt, Otto  875 Aretin, Johann Christoph v.  87, 93, 210 Armansperg, Joseph Ludwig v.  468 Arndt, Adolf  519, 523, 996, 1067 Arndt, Ernst Moritz  74 Arnim-Boitzenburg, Adolf Heinrich v. 280, 335, 345 Arnim-Suckow, Heinrich Alexander v.  338, 387, 389 Arntz, Aegidius Rudolph Nikolaus  358, 532, 535 Aßmann, Reinold  653, 654, 655, 656, 659, 662, 667, 1197, 1280 Auerswald, Adolph v.  313 Auerswald, Alfred v.  389, 394 Auerswald, Rudolf v. 346, 400, 401, 412, 533, 534, 536, 540, 586 Auffarth, Johannes  136, 149 Auguste (Kurhessen)  141 Aulicke, Mathias  276 Ausfeld, Carl  788 Baade, Fritz  1086, 1111, 1112, 1262 Bachem, Carl  809, 811, 812 Bally, Alexander  239, 1129

Bamberger, Ludwig  718, 749, 803 Bassermann, Friedrich Daniel  217, 218, 247 Bauerband, Joseph Johann  365, 380 Baumbach, Moritz v.  138, 148 Baumbach, Wilhelm v.  149 Baumgarten, Hermann  961 Baumstark, Eduard  352, 353, 354, 365, 393, 502, 511, 512, 513, 514, 742, 750, 775, 789 Bazille, Wilhelm  1029 Bebel, August  60, 765, 766, 792, 807, 808, 809, 810, 812, 870, 873, 951, 954, 1154 Beck, Anton Eugen  887 Beck, Joseph  87 Becker, Hermann  659, 660, 661, 666, 707 Beckerath, Hermann v.  508 Bell, Johannes  1066, 1070 Benda, Robert v.  715, 758, 840 Bennigsen, Rudolf v.  878 Bennigsen, Rudolph v.  847, 848, 850, 856, 878 Bentham, Jeremy  238 Berends, Julius  338, 387 Berg, [?] v.  392 Berg, Philipp Joseph Peter v.  395 Bergemann, Emil  684 Bergengrün, Alexander  405 Berger, Louis Constanz  387, 466, 604, 644, 693, 708, 715, 837, 839, 840, 842 Bergstraesser, Ludwig  1119 Berlepsch, Hans v.  866 Berlin, Ferdinand  402, 406, 417 Berndt, Robert  569 Bernhardi, Carl  320, 324 Bernstein, Aaron  593, 644 Beseler, Georg  218, 246, 247, 249, 250, 251, 275, 276, 315, 586, 590, 593, 594, 961 Bethmann-Hollweg, August v.  618, 630, 634 Bethmann-Hollweg, Theobald v.  921 Biedermann, Carl  221, 278, 280 Bindewald, Carl Wilhelm Ludwig Julius  609

Personenverzeichnis Birnbaum, Karl Joseph Eugen  833 Biron v. Curland, Calixt  714 Bismarck, Otto v. 57, 97, 336, 337, 370, 385, 391, 428, 465, 497, 499, 536, 542, 625, 634, 638, 645, 648, 650, 652, 683, 692, 696, 697, 698, 702, 703, 704, 706, 707, 708, 709, 711, 712, 713, 714, 716, 718, 721, 723, 725, 758, 761, 764, 767, 768, 769, 773, 778, 781, 785, 786, 787, 788, 791, 797, 800, 802, 805, 806, 808, 828, 829, 830, 833, 834, 835, 841, 843, 844, 845, 856, 857, 858, 861, 863, 953, 960, 961, 984, 1105, 1280, 1299, 1300, 1301, 1307 Blanckenburg, Moritz v.  635, 640, 643, 657, 667 Blöde, [?]  323 Bloem, Anton  346, 351, 355, 357, 362, 364, 379, 392, 1151 Blomeyer, Adolf  1116, 1118 Blum, Hans  280, 307, 338, 715, 770 Blum, Robert  219, 280, 281, 283, 294, 295, 313, 317, 606 Bluntschli, Johann Caspar  85, 105, 439, 663 Bode, Paul  518 Bodelschwingh, Ernst v.  583, 596, 598, 602 Bödicker, Ludwig  152, 153 Boetticher, Karl Heinrich v.  867 Borchardt, Friedrich  380, 383 Bornhak, Conrad  519, 523, 995, 1009, 1057, 1138 Bornhaupt, Christian v.  878 Borries, Georg v.  425, 426, 430, 549 Botzenhart, Manfred  295 Bracht, Johann Franz Anton  503 Brämer, Carl Albrecht  569, 628 Brandenburg, Friedrich Wilhelm v.  369, 505 Brandt, Heinrich v.  403, 405, 411, 415, 424 Brandt, Willy  52 Brandys, Paul  887 Brater, Karl  491 Braun, Heinrich  1071 Brehmer, [?]  414 Breitscheid, Rudolf  1069 Brentano, Heinrich v.  1116, 1119, 1122 Brentano, Lorenz  307, 308, 311, 312 Bresgen, Franz Joseph Hubert  668 Breusing, Carl  261

1363

Brill, Hermann L.  1110, 1112, 1158, 1195 Brill, Julius  358 Brockhausen, Eugen Heinrich v.  918 Bruck, Carl v.  254 Brüggemann, Theodor  582, 614 Brunner, Heinrich  961 Brunnquell, August  87, 88 Bucher, Lothar  391, 392, 393, 395 Bücker, Joseph  1255 Buhl, Friedrich August  830 Bühler, Ottmar  1034 Büll, Johannes  1011 Bülow, Bernhard v.  708, 872, 886 Burckhard, Gustav Wilhelm  105, 117 Bürgers, Joseph Ignaz  583 Burkart, Friedrich Karl  480, 484 Burlage, Eduard  1069, 1070, 1071 Camphausen, Ludolf 335, 336, 346, 347, 379, 387 Camphausen, Otto  845, 846 Caprivi, Leo v.  806, 864, 866, 926 Carl August (Sachsen-Weimar-Eisenach)  104, 111, 112 Carl, Heinrich  260 Carl, Heinrich Conrad  311 Carlowitz, Albert v.  653, 779, 1299 Caspar, Carl  689 Chapeaurouge, Paul de  1114 Churchill, Winston  618 Claessen, Heinrich Joseph  583 Cohn, Oskar  973, 974, 975, 976, 977, 1096 Contzen, Johann  389 Cucumus, Conrad  85 Czoernig, Carl  263 Dahlmann, Friedrich  85, 218, 221, 246, 287, 961 Danckwerts, Justus  1110 Degenfeld-Schonburg, Friedrich v.  134 Dehler, Thomas  1114, 1120, 1122, 1207 Deiters, Peter Franz  218 Delbrück, Clemens v. 819, 894, 897, 900, 901, 904, 905, 907, 908, 913, 914, 927, 980, 1023, 1117, 1309 Delbrück, Rudolph v.  542, 793 Deppen, Otto v. siehe Straß, Karl Friedrich Heinrich

1364

Personenverzeichnis

Dernburg, Bernhard  872, 879, 883 d’Ester, Carl  342, 353, 373, 430, 587, 703, 739 Diergardt, Friedrich  542, 543, 544, 546, 554, 576 Dieterici, Wilhelm v.  548 Dietsch, Carl Theodor  296 Disraeli, Benjamin  555 Dittmann, Wilhelm  922, 1069 Dohna, Alexander Graf zu  1033 Droege, Johann Albert  265 Droysen, Johann Gustav  218, 220, 222, 245, 286, 370, 961 Duckwitz, Arnold  250, 251, 252, 259, 262, 271, 277, 477 Duddenhausen, Hermann  746 Duncker, Franz Gustav  826, 827 Duncker, Max  305, 324, 331, 586, 594, 595, 603, 961 Duvernoy, Gustav v.  448 Dyhrn, Konrad v.  586, 621, 631 Dziembowski-Pomian, Sigismund v.  887 Eberhard, Bernhard  143 Ebert, Friedrich  971, 1037, 1066 Eckhard, Carl  130, 138, 148, 165 Eckstein, Friedrich August  583 Edel, Carl  319, 469, 476, 490 Eggena, Karl  129, 136, 138, 139, 143, 147, 148, 150, 151, 152, 159, 160, 163, 164, 165, 180 Ehmke, Horst  1131, 1251, 1262, 1279 Eichhorn, Friedrich  403 Eiselen, Johann Friedrich Gottfried  337, 370 Eisenmann, Johann Gottfried  316 Eisenstuck, Bernhard  259, 262, 264 Elsner, Moritz  364, 393, 401, 409, 424, 425, 426, 430, 432 Engel, Ernst  792, 793, 796, 811, 933 Erbe, Hans Alfred  323 Erzberger, Matthias  872, 876, 882, 893, 897, 901, 1032, 1065 Eschwege, Carl v.  136 Eschwege, Ferdinand v.  152, 153 Eulenburg, Friedrich Albert Graf zu 651, 658, 662, 664, 678, 691, 1259 Eulenburg, Friedrich Graf zu  726 Eulenburg-Wicken, Botho Graf zu  636, 676

Evelt, Joseph  365 Eyck, Erich  1019 Falk, Adalbert  726 Fecht, Hermann  1115, 1118 Fehrenbach, Constantin  985, 1075 Fetzer, Karl August  449, 450, 451, 455 Finger, August  995, 1008, 1034, 1057 Fischer, Ferdinand  339, 504, 505 Fischer, Richard  1023 Flottwell, Eduard v.  631 Fock, Otto  434 Fontane, Theodor  714 Forckenbeck, Max v. 653, 654, 655, 657, 680 Forndran, Johann Georg  476 Förster, Heinrich  275 Forstmann, Otto  686, 687 Forstner, Alexander v. 607, 608, 612, 618, 632, 1076 Francke, Carl  264, 271 Frank, Hans  1018 Frank, Ludwig  761, 892, 893, 895, 900, 902 Franz II. (Österreich)  72 Freyberg, [?] v.  468, 469 Fricker, Carl  192 Friedrich II. (Preußen)  558, 616, 1040 Friedrich Wilhelm III. (Preußen)  333, 949 Friedrich Wilhelm  IV. (Preußen) 87, 230, 246, 326, 334, 335, 341, 345, 369, 412, 444, 496, 500, 502, 503, 506, 513, 579, 628, 648 Friedrich Wilhelm (Kurhessen) 139, 140, 141, 152, 153, 166, 167 Fröbel, Julius  294 Fuchs, Carl  214, 280, 289, 291, 292, 446 Gagern, Friedrich v.  307 Gagern, Heinrich v.  218, 221, 281, 292, 307, 309, 321