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German Pages [308] Year 2013
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-62426-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-62426-6
Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie
Herausgegeben von Lutz Friedrichs, Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier
Band 76
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-62426-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-62426-6
Claudia Schulz
Empirische Forschung als Praktische Theologie Theoretische Grundlagen und sachgerechte Anwendung
Mit 18 Abbildungen
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-62426-5 ISBN 978-3-647-62426-6 (E-Book) Ó 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil A: Theoretische Klärungen Ganz nah am richtigen Leben… Historische, methodologische und forschungspraktische Perspektiven auf eine sachgerechte Handhabung empirischer Methodik in der Praktischen Theologie 1. Erste Verortung: Die Lage, der Gegenstand, das Vorhaben . . . . . . .
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2. Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann . . . . . 2.1 Empirie veranschaulicht die Praktische Theologie . . . . . . . . 2.2 Empirie ermöglicht der Theologie mehr Nähe zur »Wirklichkeit« 2.3 Empirie erschließt die Komplexität der Wirklichkeit . . . . . . . 2.4 Empirie unterstützt die Organisation Kirche . . . . . . . . . . . 2.5 Empirie sichert der Praktischen Theologie den Rang einer Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Empirie verhilft zum Respekt vor der Subjektivität des Glaubens
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3. Diskurse um Leistung, Grenzen und Hürden – Bruchstellen und offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Rückblick: Bündelung der Leistungen empirischer Forschung für die Praktische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ausblick: Zusammenfassung der Herausforderungen und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die »Gretchenfrage«: Empirie und der Gegenstand der Praktischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4. Die andere Seite: Methodologische Perspektiven auf die empirische Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Chancen und Begrenzungen der »disziplinären Ökumene« am Beispiel eines Diskurses zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Lerneffekte aus theoretischen Konzepten der empirischen Forschung im Bereich der Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Lerneffekte aus der Methodologie empirischer Forschung . . . .
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1. Analysen zur Kirchen- und Gemeindeentwicklung . . . . . . . . . . . 1.1 Kirche in Veränderung: Perspektiven von Kirchenmitgliedern auf eine Organisation im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Strukturausschuss und Medienwelt – Dimensionen der Veränderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Wirtschaft, Professionalität und Macht – Leitlinien der Veränderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2.1 Kirche, Welt und Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2.2 Kontrolle, Macht und Leitung . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Wir sind das Volk! – Positionierungen von Mitgliedern im Veränderungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.1 Beheimatung, Beteiligung und Abgrenzung . . . . . . 1.1.3.2 Argumentative Gestalt von Zugehörigkeit und Verbundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3.3 Subjekte und Objekte des Wandels in Haupt- und Ehrenamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.4 Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Junge Erwachsene in Kirche und Gemeinde: Optionen, Hindernisse und der »Zahn der Zeit« . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 »Wir sind hergekommen, weil wir hier Freunde sind« – »Junge« Zugänge zur Gemeinschaft in der Kirche . . . . . .
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5. Empirie für die Theologie: Ergebnisse und Konsequenzen . . . . . 5.1 Empirische Forschung in der Theologie – eine Übersicht der Verhältnisbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Ganz nah am richtigen Leben und spezifisch theologisch: Anforderungen an eine sachgerechte Nutzung empirischer Forschung durch die Praktische Theologie . . . . . . . . . . . 5.3 Rückblick und Ausblick auf die folgenden empirischen Studien
Teil B: Empirische Arbeiten
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Inhalt
1.2.1.1 Gemeinschaft als Grundstruktur christlicher Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1.2 Religiosität als Kern kirchlicher Gemeinschaft . . . 1.2.2 »Was das eigene Leben erweitert« – »Junge« Zugänge zur Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.1 Das »ganz Andere« in Form der verfassten Kirche . 1.2.2.2 Der »alles überspannende Bogen« – Sinndeutung contra Anwendungsbezug . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2.3 »Spiritualität« im Vergleich von Gottesdienst und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 »So’n Problem bei der Kirche« – Typische Hindernisse für Jüngere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3.1 Die »veraltete« Kirche und die Anforderungen der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3.2 »Kirche für andere« gegen den Wunsch nach Gestaltungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.4 Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 »Kirche ist doch kein Sportverein!« Dilemmata, Paradoxien und die Prekarität der Mitgliedschaft in der Organisation Kirche . . 1.3.1 Grundlegendes über Mitgliedschaft in der Organisation Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Das Dilemma der Mitglieder in einer zur Organisation werdenden Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Die Prekarität der Kirchenmitgliedschaft im Tauschsystem 1.3.4 Teilhabe ohne Teilnahme: Was Kirche vom Sportverein unterscheidet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.5 Von der »Entkirchlichung« zur Vielfalt: Ein Rückblick . . . 1.4 Exklusion, Bindung und Beteiligung in der Kirche: Herausforderungen aus Geschlechter- und Milieufragen . . . . . 1.4.1 Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Frauen – die bessere Hälfte der Kirche . . . . . . . . . . . 1.4.3 Wer macht mit – wer gehört dazu? Der Bindungsfaktor Beteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4 Gemeinde als Gemeinschaft – der Bindungsfaktor Gemeinschaft bzw. Geselligkeit . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.5 Jenseits des Alters – der Bindungsfaktor Tradition . . . . . 1.4.6 Ausblick: Milieus und ihre Dimensionen verdeutlichen Exklusion in der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2. Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil . . . . . . . . . 2.1 Milieuspezifische Profilierung von Ortsgemeinden: Profilgemeinden als Modell zur Steigerung von Beteiligung und Kirchenbindung? Eine Untersuchung am Beispiel der Bremischen Evangelischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Bedeutung der Lebensstilanalyse für die kirchliche Arbeit . . 2.1.2 Die Bremische Evangelische Kirche – ein Modell für milieuspezifische Arbeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Ergebnisse und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Kirche in der Vielfalt der Lebensstile: Spezifische Zugänge zur Kirche in Bindung, Erwartung und Beteiligung . . . . . . . . . . . 2.2.1 Kirchenbindung und Austrittsneigung . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Mitgliedschaftsgründe der Lebensstiltypen . . . . . . . . . . 2.2.3 Beteiligung und Mitarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Bedeutung der Pfarrerin / des Pfarrers . . . . . . . . . . . . 2.2.5 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Wie hätten Sie’s denn gern? Milieuspezifische Erwartungen gegenüber dem Gottesdienst und mögliche Konsequenzen . . . . 2.3.1 Einstieg: Milieus und milieuspezifische Sichtweisen . . . . . 2.3.2 Vorlieben der Milieus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Das Interesse an Gemeinschaft im Gottesdienst . . . . . . . 2.3.4 Das Interesse an einzelnen Elementen und Bedeutungsdimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Analysen mit diakonischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zwischen Altruismus und Lebensgenuss: Ehrenamtliche Arbeit bei Menschen unterschiedlicher Lebensstile . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Lebensstile evangelischer Kirchenmitglieder – eine Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Ehrenamt – eine Sache des Lebensstils . . . . . . . . . . . . 3.1.2.1 Daten zum Ehrenamt aus der EKD-Studie 2002 . . . 3.1.2.2 Lebensstiltypische Motivation in Ehrenamt und Diakonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2.3 Lebensstiltypische Einsatzbereiche . . . . . . . . . . 3.1.3 Stile der ehrenamtlichen Arbeit – Konsequenzen . . . . . . . 3.2 Der Beitrag der Diakonie zur Stabilisierung und Entwicklung der Organisation Evangelische Kirche und ihrer Gemeinden . . . . . . 3.2.1 Die Situation der Evangelischen Kirche in Deutschland . . . 3.2.2 Diakonie als Stabilisatorin der Kirche . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
3.2.3 Kirche verstanden als Organisation . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Die Ortsgemeinde als beispielhafter Ort diakonischer Arbeit 3.2.5 Rückblick und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Vom Lebensgefühl der Armen und der Herausforderung, diakonische Kirche zu sein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 »Ihr könnt reden, was ihr wollt« – Der Blick auf die Lebenswelten Betroffener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 »Mich beschäftigt, dass ich nirgends teilnehmen kann« – Warum die Armen in der Kirche kaum zu sehen sind . . . . 3.3.3 »Nicht nur für sich selbst« – Das Problem mangelnder Orte und Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.4 »Ein ganz andres Lebensgefühl« – Warum »Armutsmilieus« problematisch sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 »Bei der Kirche – beim Roten Kreuz – überall« – Ein Resümee der Herausforderungen für die Kirche und ihre Ortsgemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtstexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Websites, die nicht über ihre Autorinnen und Autoren zitierbar sind .
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Vorwort
Empirische Forschung steht im Bereich von Theologie und Kirche hoch im Kurs. Menschen werden befragt und kirchliche Projekte evaluiert. Nicht immer ist klar, welcher Gewinn sich damit genau erzielen lässt. Und vor allem ist der Bezug der Empirie zu Theoriediskursen der Praktischen Theologie bisher undeutlich. Dieses Buch bietet Klärung auf mehreren Ebenen, mit geschichtlichen, theoretischen und methodologischen Bezügen, in grundlegenden Überlegungen und exemplarischer Forschungspraxis. Der erste Teil A enthält eine theoretische Sichtung des Themenfelds. Der zweite Teil B enthält bereits veröffentlichte Texte, zehn in sich geschlossene empirische Studien. Die Texte wurden aus ihrem ursprünglichen Publikationszusammenhang genommen, in drei thematische Blöcke gruppiert und redaktionell stark überarbeitet. Die Evangelisch-Theologische Fakultät der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn hat diese Arbeit im Jahr 2012 als Habilitationsschrift angenommen. Ich danke den Kolleginnen und Kollegen, die das Verfahren an der Fakultät begleitet haben. Mein besonderer Dank gilt den beiden Gutachtern, Prof. Dr. Eberhard Hauschildt, der in der gemeinsamen Arbeit an der Milieuperspektive meine Forschung über viele Jahre unterstützt hat, und Prof. Dr. Michael Meyer-Blanck, mit dem ich zum Thema Gottesdienst empirische Forschung unternehmen konnte. Den Verantwortlichen für die »Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie« danke ich für die freundliche Aufnahme dieses Buchs in die Reihe. Über viele Jahre hinweg hat der fachliche Austausch mit Kolleginnen und Kollegen die Arbeit beflügelt und profiliert, aus der dieses Buch erwachsen ist. Sie haben mit ihrer Kenntnis und ihrem scharfen Blick dazu beigetragen, dass empirische Arbeiten gelingen und zu Ergebnissen führen konnten. Sie haben mich in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Wohin der Empirie im Raum von Theologie und kirchlicher sowie sozialer Praxis bestärkt. Mein Dank gilt hier vor allem Prof. Dr. Friederike Benthaus-Apel, Dr. Peter Höhmann, Prof. Dr. Gerhard Wegner und Prof. Dr. Monika Wohlrab-Sahr, mit denen ich im
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Vorwort
Rahmen der EKD-Studien zusammenarbeiten konnte, außerdem den Weggefährtinnen und Weggefährten in der Arbeit an verschiedenen Anwendungsbezügen: Dr. Eike Kohler, Ellen Eidt, Tabea Spieß und Prof. Dr. Peter Höfflin. Christoph Köster, Anne Katherine Kohlrausch und Elke Schulz haben die Redaktion und Fertigstellung begleitet und dem Buch den letzten Schliff gegeben. Ich freue mich, wenn das Buch zur Bereicherung wird, wo im Raum von Theologie und kirchlicher Praxis empirische Zugänge gewählt werden. Stuttgart, im April 2013
Claudia Schulz
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Teil A: Theoretische Klärungen Ganz nah am richtigen Leben… Historische, methodologische und forschungspraktische Perspektiven auf eine sachgerechte Handhabung empirischer Methodik in der Praktischen Theologie
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1. Erste Verortung: Die Lage, der Gegenstand, das Vorhaben
In der katholischen Kirche bricht in den Jahren 2010 und 2011 im deutschsprachigen Raum die Debatte um den Zölibat erneut heftig auf. Während in der Zölibatsfrage zunächst eine theologische Setzung zur Disposition steht, werden zunehmend Analysen der kirchlichen Situation und der gesellschaftlichen Verhältnisse in die Diskussion einbezogen. Von hier aus stellen Menschen aus unterschiedlichen Lagern innerhalb der katholischen Kirche kirchenpolitische und strukturelle Fragen zur Debatte und vertreten Positionen zur Tradition und zur Notwendigkeit eines Wandels kirchlicher Strukturen.1 Diese Diskussion ist auch für die evangelische Theologie interessant, weil sich hier exemplarisch – und mit dem Thema »Zölibat« in angenehmer Ferne – ein Argumentationsmuster betrachten lässt, das für die Reflexion kirchlicher Fragen in der Gegenwart durchaus als typisch gelten kann: Es geht dabei um das Verhältnis kirchlicher Leitlinien (und der dahinter stehenden theologischen Theorie) zur so genannten Wirklichkeit,2 etwa zu gesellschaftlichen Veränderungen und Erfahrungen oder Erwartungen von Mitgliedern oder der Öffentlichkeit. Hierfür werden Daten in Form harter Fakten herangezogen wie die abnehmende Zahl von Männern, die sich für das Priesteramt ausbilden lassen möchten, oder auch der Imageverlust der katholischen Kirche durch Institutionen wie den Zölibat – 1 Als einer der Höhepunkte lässt sich das »Memorandum von Theologieprofessoren und Theologieprofessorinnen zur Krise der katholischen Kirche« mit dem Titel »Memorandum 2011: Ein notwendiger Aufbruch« vom 4. Februar 2011 lesen, das mit 144 Unterschriften namhafter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für Aufsehen und eine breite Wahrnehmung der Debatte gesorgt hat. In diesem Papier werden Veränderungsprozesse in vielen Bereichen des kirchlichen Lebens und der kirchlichen Strukturen insgesamt angemahnt, darunter auch »verheiratete Priester und Frauen im kirchlichen Amt« (ebd., 2). Der Text ist online verfügbar unter http://www.memorandum-freiheit.de/wp-content/uploads/2011/02/ memorandum1.pdf (letzter Zugriff: 20. 02. 2013). 2 Dem Wissen, dass es sich erkenntnistheoretisch gesehen natürlich nicht um eine objektive Wirklichkeit handelt, die durch empirische Arbeit zugänglich gemacht würde, trage ich Rechnung, indem ich den Begriff zuweilen mit Anführungszeichen oder auch der Einschränkung »so genannt« kennzeichne. Das erkenntnistheoretische Problem selbst soll unter Abschnitt 4. als für das Thema insgesamt weiterführend noch zur Sprache kommen.
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Erste Verortung: Die Lage, der Gegenstand, das Vorhaben
stellvertretend für eine ganze Reihe von Regelungen, die die katholische Kirche lebensfern erscheinen lassen. Es werden aber zugleich zahlreiche Vorannahmen hantiert, etwa die, dass eine Kirche in der Öffentlichkeit mehr Ansehen habe, wenn sie »nah am richtigen Leben«3 agiert und ihre Prinzipien den gesellschaftlichen Veränderungen anpasst.4 So lässt sich an diesem Beispiel etwas studieren, was sich in der evangelischtheologischen Diskussion derzeit wesentlich stärker abspielt als im Raum der katholischen Theologie und Kirche: Anlässlich aktueller und drängender Fragen rücken theoretische Bestände in den Focus von Debatten, indem empirische Analysen von kirchlichen oder gesellschaftlichen Sachverhalten argumentativ genutzt werden. Dabei bleiben aber etliche Fragen offen, zum Beispiel die, wie sich eigentlich qualitativ hochwertige und damit für die Unterstützung dieser Reflexion geeignete Daten gewinnen oder wie sich gute Daten von schlechten Daten unterscheiden lassen – am Beispiel zu beobachten im Unterschied von harten Fakten (Priesterzahlen) und Fakten, die sich eher aus Gefühl und subjektiver Wahrnehmung ergeben (Wahrnehmung einer »lebensfernen Kirche«).5 Weiter stellt sich die Frage, wie sich die Daten zur Theorie verhalten sollen, wie also empirische Beobachtung in das Spannungsfeld von theologischer Reflexion und kirchlichem Handeln eingeordnet werden soll oder kann und wie sich darin schließlich sinnvolle Zuordnungen von normativen Setzungen und organisatorischen und strategischen Entscheidungen vornehmen lassen. Soll der Zölibat überdacht, also möglicherweise gelockert oder sogar aufgehoben werden, wenn – oder weil – der Priestermangel droht und sich das Image der katholischen Kirche immer weiter verschlechtert? Darf denn, so vielfach das Gegenargument, ein theologisch gehaltvoller Bestandteil des kirchlichen Lebens zur Disposition gestellt werden, nur weil er vielfach auf Unverständnis stößt, mit der Lebenswirklichkeit Einzelner wenig zusammenpasst oder in der Meinung der Öffentlichkeit nicht mehr »zeitgemäß« ist? Und wenn dies so ist: Von wem, mit welchen 3 Wilhelm Bornemann prägte in seiner programmatischen Arbeit den Ausdruck der »Kenntnis des wirklichen Lebens« und erwartete mit der Nutzung empirischer Möglichkeiten zugleich die Annäherung an eine »Wirklichkeit« – ein Anliegen, das heute auf dem Hintergrund erkenntnistheoretischer Diskurse in den empirischen Wissenschaften anders formuliert werden muss, wie ich unter 4.2 und 4.3 noch zeigen werde. Vgl. Bornemann, Unzulänglichkeit, 89. 4 Die Abschlussarbeiten für diesen Text geschehen während des Besuchs von Papst Benedikt XVI. in Deutschland im Herbst 2011. Die Spannung zwischen Kirche und Welt, zwischen Theologie und empirisch wahrnehmbaren Gegebenheiten, werden dort so plastisch vor Augen geführt, dass es das Nachdenken über einen Zugriff der Praktischen Theologie auf die »Wirklichkeit« sehr beflügelt. 5 Zahlreiche Daten über die Situation des Katholizismus in Deutschland finden sich in den Publikationen der Deutschen Bischofskonferenz, so etwa die Angaben über gesunkene Priesterzahlen und sinkende Zahlen von Priesteramtskandidaten; vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Katholische Kirche.
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Erste Verortung: Die Lage, der Gegenstand, das Vorhaben
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Methoden und unter welchen Bedingungen lassen sich dann – theoretisch und organisatorisch – Veränderungen vornehmen, ohne dass Wesentliches verloren geht? In meinen Augen ist an diesem beispielhaften Diskurs, den ich hier nur in groben Umrissen dargestellt habe, nicht nur das Feld der offenen Fragen im Reflexionsprozess, sondern ebenso das Feld der für solche Debatten typischen Probleme und Konflikte auszumessen: Es verwischt allzu leicht die Grenze zwischen einem theologischen Argument und einem organisationstheoretischen oder auch kirchenpolitischen Argument und den jeweils damit verbundenen Interessenlagen. Die quasi willkürlich angerufene Macht des Faktischen – hier die abnehmende Zahl von Priesteramtskandidaten – verlangt nach Einfluss auf zukünftige Gestaltung, ohne dass zugleich die Ebenen der Diskussion unterschieden würden. Denn es ist ein erheblicher Unterschied, ob sich eine Kirchenleitung mit einem Problem der Personalentwicklung oder ihrer Außenwirkung befasst oder die theologische Reflexion sich einer Frage annimmt. Während eine christliche Kirche ihre Organisationsform und Prozessstrukturen in vieler Hinsicht frei wählen kann, muss sich wissenschaftliche Theologie an den Regeln wissenschaftlicher Reflexion über das eigene Fach hinaus messen lassen. Und während also die Theologie in Richtung auf das Wissenschaftssystem orientiert sein muss, ist eine Kirche gehalten, sich (zumindest auch) als soziales Gebilde inmitten der Gesellschaft zu begreifen und zu definieren. Da prallen notgedrungen zwei Wahrheiten aufeinander : Selbstverständlich geht eine christliche Kirche mit der Zeit, sie kann gar nicht anders, denn sie lebt in ihr. Ebenso selbstverständlich geht eine christliche Kirche nicht mit der Zeit, denn sie ist nicht unmittelbar identisch mit der Gesellschaft, in der sie agiert. Sie bildet in vieler Hinsicht, vereinfacht gesagt, ihr Gegenstück, sie lebt von der Differenz, mit der sie eine außeralltägliche Kommunikation ihrer außeralltäglichen Botschaft bietet. Durch empirische Forschung gewonnene Daten sind in dieses Gefüge nicht ohne reflexiven Zwischenschritt einzuordnen. Was die wissenschaftliche Theologie anbelangt, muss die Sachlage differenziert betrachtet werden: Insofern sie nicht nur nach den Regeln der Wissenschaft theoretische Reflexion betreibt, sondern auch auf kirchliches Handeln hin Anschlussstellen bietet, ist sie auf unterschiedlichen Ebenen tätig, für die sie jeweils ihr Vorgehen eigens klären muss. Ich beschränke mich an dieser Stelle auf die Praktische Theologie nach protestantischer Tradition, die in Schleiermachers Sinn wie auch die anderen theologischen Disziplinen die Aufgabe hat, das Christentum in seinem Glaubensvollzug zu unterstützen.6 Sie erhält damit au6 Schleiermacher betont immer wieder die enge Verzahnung von theologischer Wissenschaft und kirchlicher Praxis, wobei die Wissenschaft beispielsweise der Kirchenleitung erst die Möglichkeit verschafft, anhand »wissenschaftlicher Kunstregeln« und damit überhaupt erst
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Erste Verortung: Die Lage, der Gegenstand, das Vorhaben
tomatisch die beiden Ebenen der Reflexion, die Wissenschaft und ihre Anwendungsbereiche im Raum des Christentums,7 wie es auch in anderen Wissenschaften zu beobachten ist, etwa in der Pädagogik, der Politikwissenschaft oder der Psychologie.8 Von den spezifischen Perspektiven des Faches Praktische Theologie auf empirische Methodik wird später (unter 3.3) noch die Rede sein. Im Raum der evangelischen Kirche werden entsprechend Themen benannt, die das Einbeziehen empirischer Daten in die Reflexion kirchlichen Handelns und seiner theologischen Grundlagen nahe legen und darin hohe Anforderungen an die Praktische Theologie (und andere theologische Disziplinen9) stellen. Sie sind zumeist weniger medial präsent und öffentlich diskutiert als die Frage des Zölibats, sie machen aber den Aktiven in Gemeinden, Einrichtungen und kirchenleitenden Gremien ebenso zu schaffen, rühren an existenzielle Fragen des christlichen Glaubens und die Existenz und Zukunft der christlichen Kirchen. Auch hier gibt es Beispiele für aktuelle Debatten, die ihrerseits schon zur Geschichte des neuzeitlichen Christentums gehören.10 Was ist beispielsweise zu tun, wenn sich in einer Ortsgemeinde zwar viele Menschen einfinden, diese jedoch insgesamt nur einen bestimmten Ausschnitt der Gesamtzahl der Kirchenmitglieder abbilden und – so der Eindruck – etwa im Alter, im Geschlecht, im Bildungsstand eine Auswahl bilden. Wie beurteilt man einen Gottesdienst, den 14 Menschen besuchen, während die übrigen 1.800 Mitglieder der Gemeinde nur zu besonderen Anlässen und zu einem großen Teil auch gar nicht teilnehmen?11 Auch zu diesem Thema lassen sich die Ebenen der Diskussion schnell voneinander unterscheiden: Die theologischen Fragen, was Gemeinde sei oder was ein Gottesdienst sei, wer sich dafür in welcher Form einfinden oder an etwas teilnehmen soll und wie Abweichungen vom »Soll« einzuordnen sind, stehen
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angemessen zu arbeiten, während umgekehrt der Bezug auf die kirchliche Praxis der Theologie erst ihren tieferen Sinn gibt; vgl. Schleiermacher, Darstellung, hier besonders § 5 – 8 in der Version von 1830. Zur Konzeption der theologischen Wissenschaft bei Schleiermacher siehe 2.2. Über diese Anbindung an Wissenschaft und kirchliche Praxis besteht, unabhängig vom theoretischen Verständnis Praktischer Theologie insgesamt, ein weitgehender Konsens. Vgl. Steck, Pastoraltheologie, besonders 12. Lerneffekte aus dem Seitenblick auf andere Wissenschaften und dort angesiedelte erkenntnistheoretische Diskurse sollen in Abschnitt 4.1 zur Sprache kommen. Auch die Systematische Theologie nimmt diese Herausforderung wahr und leistet entsprechende Reflektion; vgl. die Beiträge der Fachgruppe Systematische Theologie der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie: Petzoldt, Theologie. Vgl. Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Zukunft. Der Gottesdienstbesuch als Unterthema der Kirchenmitgliedschaft und Indikator für die »Krise der Kirche« ist ein dauerhaft herausfordernder Gegenstand, der u. a. im Umfeld der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD seit Jahrzehnten untersucht und in seinen Konsequenzen kontrovers diskutiert wird, beispielhaft im Text von Peter Cornehl, Teilnahme. Vgl. auch frühe empirische Studien zu diesem Thema: Schmidtchen, Gottesdienst.
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neben praktischen, organisatorischen Fragen (die ihrerseits Schnittstellen zu weiteren theoretischen Feldern bieten wie etwa zur Organisationstheorie oder zur Professionstheorie) oder auch schlicht emotionalen Befindlichkeiten der Aktiven und den Überlegungen, die sich daraus mit Blick auf zukünftiges Handeln ergeben. Hinter solchen Differenzierungen lauern normative Fragen wie etwa die, welche Ebene im Zuge der diversen Reflexionsprozesse vorrangig berücksichtigt werden soll. So ist die Erhebung und Auswertung von Gemeindedaten (»wer kommt warum (nicht)«) einschließlich der Entwicklung von Konsequenzen zunächst Sache der Kirche und ihrer Organe. Die (Orts-)Gemeinde und ihren Gottesdienst jedoch grundlegend als Handeln der christlichen Gemeinschaft zu reflektieren, hat sich die Praktische Theologie zum Gegenstand theoretischer Überlegungen gemacht. Die Schnittstelle, die Reflexion der Praxis auf die Theorie hin, oder auch umgekehrt die Reflexion der Theorie in Richtung auf praktisches Handeln in Gottesdienst und Predigt, Seelsorge oder Unterricht etc., wird gemeinhin als Sache der Praktischen Theologie beschrieben. Die verfasste Kirche hat hier auf verschiedenen Ebenen ihrerseits Interesse – an einer theoretischen Reflexion ebenso wie an der Wahrnehmung der Gegebenheiten vor Ort und an der Entwicklung von Handlungsstrategien. Je nachdem, an welcher Stelle in diesem Gefüge nun empirische Daten verarbeitet werden, sind auch unterschiedliche Anforderungen an Datensorten und Vorgehensweisen in Interpretation und theoretischer Weiterarbeit gestellt, was wiederum das Vorgehen der empirischen Forschung beeinflusst. Zugleich werden an diesem Beispiel Unterschiede in den Daten-Sorten deutlich: Es sind zunächst rein statistische Daten verfügbar (z. B. die Gottesdienst-Teilnehmenden an einem Zählsonntag), weiterhin Daten, die der Beobachtung der Aktiven bedürfen (z. B. die sozialstatistischen Merkmale der Teilnehmenden und Nichtteilnehmenden) und solche, die nur durch eine umfangreiche, methodisch strukturierte Befragung zu erheben sind (Gründe für/ gegen den Gottesdienstbesuch, Bedeutung des Gottesdienstbesuchs etc.). Daraufhin bedarf es geeigneter Bewertungen des Beobachteten und Gemessenen: Die Daten sprechen – in der Wahrnehmung der meisten Verantwortlichen – zunächst einmal für sich: Wenn 14 Personen einen sonntäglichen Gemeindegottesdienst besuchen, den die Gemeinde im Leitbild als ihr »Zentrum« definiert und der auch praktisch-theologisch reflektiert für die Gemeinde eine ihrer zentralen Handlungen darstellt, dann liegt hier eine quasi objektive Unstimmigkeit vor, die Fakten erhalten normativen Gehalt und mahnen Veränderung an. Wie aber genau eine Bewertung vorzunehmen ist und welche Rolle dabei insbesondere das Datenmaterial spielt, wie hier genau von der Subjektivität (»es sind zu wenige« / »es fehlen bestimmte Gruppen«) zu einer Objektivität gelangt werden kann und daraus schließlich Schlüsse für die wissenschaftliche Reflexion sowie das kirchliche Handeln getroffen werden können, bleibt strittig. Inzwi-
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schen ist das Methodenspektrum der Datengewinnung zu dieser Thematik enorm ausgeweitet worden, und das (wissenschaftlich entwickelte) Vorgehen dafür verweist auf seinen eigenen theoretischen Entstehungskontext. Gegenstand meiner Überlegungen ist also die praktisch-theologische Reflexion unter Anwendung empirischer Verfahren, die ihrerseits notwendig auf methodologische Rahmenbedingungen empirischer Forschung rekurriert. In diesem Beitrag betrachte ich empirische Forschung vor allem in ihrer Ausprägung als empirische Sozialforschung und berücksichtige deren theoretischen Hintergrund und methodisches Instrumentarium, die wesentlich auf soziologische bzw. sozialwissenschaftliche Theoriebildung bezogen sind.12 In meiner Reflexion betrachte ich nun die Leistung bzw. den Nutzen dieser Methodik, wobei die Begriffe »Leistung« und »Nutzen« der Alltagssprache entnommen sind und darum eines weiteren Bezuges bedürfen, nämlich des Bezuges zur Anwendungswissenschaft, zu den »applied sciences«, was sich etwa auf dem Feld der Praktischen Theologie als hilfreich erweist: Theorie ist hier auf ein Anwendungsfeld hin entwickelt – unter Aufnahme von Fragen und Bedarfen aus der Praxis –, und diese Bezugnahme wird selbst zum Gegenstand der Theoriebildung.13 Im Bereich der Praktischen Theologie bietet die (heute als deren Subdisziplin gestaltete) Pastoraltheologie explizit den Anschluss von wissenschaftlicher Theologie hin auf christlich-kirchliches oder spezifisch pastorales Handeln – unter Wahrnehmung des konkreten Arbeitsfeldes und seiner Herausforderungen für Theorie, Methodik und Persönlichkeit der dort professionell Engagierten.14 Pastoraltheologie verstehe ich hier mit Wolfgang Steck nicht als reine Betrachtung kirchlicher Arbeitsfelder fern der theoretischen Bezüge, sondern als eine Teildisziplin der Praktischen Theologie, die sich in unmittelbarem Theoriebezug auf diese, aber dahinter auch auf die anderen theologischen Disziplinen befindet. Von hier aus erschließt sie Anwendungsfelder und stellt für den Prozess der Arbeit zwischen Theorie und Praxis sowohl theoretisches Wissen als auch Prozesswissen zur Verfügung. Dabei hat die Pastoraltheologie es tatsächlich durchaus mit Bereichen außerhalb wissenschaftlicher Kontexte zu tun und kann nicht zu jedem Zeitpunkt trennscharf zwischen der Theorie und
12 Davon wird später im Abschnitt 4.2 und 4.3 noch die Rede sein. 13 Dies eröffnet wiederum neue Diskurslinien, die ich im Folgenden anhand der Pastoraltheologie als handlungs- und damit anwendungsbezogene Subdisziplin der Praktischen Theologie darstelle. 14 Vgl. dazu aktuelle Ansätze, die Pastoraltheologie als Teildisziplin der Praktischen Theologie vertreten, die z. B. als »Berufstheorie der professionellen Handlungsträger« bewusst die Verbindung von Theorie und kirchlicher Praxis sucht; vgl. dazu etwa Gärtner, Praktische Theologie, 1.
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der »konkreten Wirklichkeit« unterscheiden.15 Sie ist aber dennoch in ihrer Methodik unmittelbar an die Theologie als Wissenschaft gebunden.16 Sie arbeitet weder mit einem insgesamt verminderten wissenschaftlichen Anspruch noch ist ihr Gegenstand ausschließlich die Praxis.17 So bezieht sich die Pastoraltheologie auf jegliches professionelle Handeln christlich-kirchlicher Ausrichtung, zunächst unabhängig von der Art dessen organisatorischer Einbettung. Es geht hier also nicht um eine reine Aufbereitung theoretischer Leitlinien für praktisches Handeln, nicht um »Umsetzungsfragen« oder »Nutzaspekte« als solche, sondern um einen – seinerseits theoriegeleiteten – Dialog zwischen Theorie und Praxis. Diese Logik entspricht meiner eigenen fachlichen Positionierung im Feld der Theologie: Als Theologin und Soziologin habe ich in vielfältigen Forschungszusammenhängen solche Dialoge zwischen Theorie und Praxis erprobt, Erfahrungen mit unterschiedlichen Forschungsdesigns, Ausbildungssettings und Praxisfeldern gemacht und mein Interesse an einer Theorie solcher angemessenen Designs und sachgerechten Verwertungen empirischen wie theoretischen Wissens entwickelt. In diesem Sinn ist das Ziel meines Beitrags nicht die Entwicklung einer umfassenden Theorie einer Anwendung empirischer Methodik im Feld der Praktischen Theologie oder hin auf die Interessen der Pastoraltheologie, sondern vielmehr die Analyse sinnvoller Anwendungsbezüge und ihrer theoretischen Implikationen, eine Diagnostik in Bezug auf Chancen und Grenzen sowie die Entwicklung von Rahmenbedingungen für eine sachgemäße Handhabung empirischer Methodik. Von hier aus ist sowohl eine weitere theoretische Abstraktion möglich als auch die Entwicklung von Modellen für ein theorieorientiertes Vorgehen in praktischtheologischen Forschungsprozessen. In meinem hier vorgelegten Gesamtbeitrag bearbeite ich mein Anliegen mit einer anwendungsbezogenen Grundlegung und in drei Schritten konkreter Forschung, so dass sich der folgende Bogen ergibt: Am Anfang steht der (hier bereits begonnene) theoretisch-methodologische Zugang zum Thema, indem 15 Wolfgang Steck (Steck, Pastoraltheologie) spricht in diesem Sinn davon, dass sich die Pastoraltheologie, in Gegenbewegung zur »Verwissenschaftlichung« der Praktischen Theologie, »nicht den Bedingungen streng wissenschaftlicher Methodik« unterwerfen muss, insofern gewissermaßen »per se unwissenschaftlich« ist (alle Zitate ebd., 25). 16 Steck formuliert in seinen wissenschaftstheoretischen Ausführungen anlässlich der RückUmbenennung der »Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft« in »Pastoraltheologie« im Jahr 1981: »Die Wiederaufnahme pastoraltheologischer Tradition in der Gegenwart kann keinen Rückschritt hinter die wissenschaftlichen Standards gegenwärtiger Theologie bedeuten.« (ebd., 27). 17 So hat Wolfgang Steck die Pastoraltheologie dezidiert als »Berufstheorie des Pfarrers« verstanden; vgl. ders., Pfarrer, 54. Wie im weiteren Text ausgeführt, öffne ich die Perspektive auf das kirchliche Handeln im weitesten Sinn und alle daran Beteiligten.
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ich zunächst die Anwendung empirischer Verfahren in der praktisch-theologischen Wissenschaft und damit im weitesten Sinn das interdisziplinäre Zusammenspiel von empirischer Wissenschaft und Praktischer Theologie beleuchte und aufzeige, unter welchen Rahmenbedingungen ein solches Zusammenspiel gelingen kann (Teil A). In den darauf folgenden »Empirischen Arbeiten« (Teil B) wird das Zusammenspiel in Einzelstudien zu drei Themenfeldern der Praktischen Theologie – und damit die »Leistung« empirischer Forschung für die Praktische Theologie im Einzelfall – exemplarisch sichtbar : Im Themenfeld der Kirchen- und Gemeindeentwicklung (1.), im Themenfeld von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil (2.) sowie im Themenfeld der Diakonie (3.). Innerhalb der hier gebotenen Einzelstudien werden neben den Chancen der empirischen Arbeit auch die Prinzipien, Methoden, möglichen Ergebnisse und Grenzen empirischer Forschung transparent und sind nochmals innerhalb des jeweiligen Themenfeldes reflektiert.18 Zuerst sollen nun in diesem theoretischen Teil A zentrale Fragen im Themenfeld »Praktische Theologie und Empirie« ausgeleuchtet werden. Bisher wurden die wichtigsten Einzelfragen bereits sichtbar – aus ihnen lassen sich die Grundfragen der Thematik erschließen, um die es in diesem Text immer wieder gehen wird: Es steht hier erstens der Gegenstand der praktisch-theologischen Reflexion zur Debatte, genauer : die Frage, inwieweit die Wahrnehmung der Welt Gegenstand der Praktischen Theologie ist und welche Implikationen für eine Reflexion anhand von Erkenntnissen aus empirischer Forschung damit verbunden sind. Dazu gehört zweitens eine Klärung über die Ziele der Reflexion: Welchen Bezug hat eine Theorie über den Wesenskern der christlichen Gemeinde oder ihres Gottesdienstes zum empirisch beschreibbaren Gegenstand und welche Funktion erhält eine aus empirischer Forschung gewonnene Erkenntnis mit Blick auf die theologische Theorie? Inwiefern bestimmt die Theorie die Deutung der Daten oder wird durch diese bestimmt? Unter welchen Prämissen kann ein theologisch plausibles und den empirischen Erkenntnissen angemessenes Verständnis entwickelt werden? Damit steht drittens die Richtung der Reflexion zur Diskussion: Bewegt sich praktisch-theologische Reflexion auf die empirisch fassbare »Wirklichkeit« als ihren Gegenstand hin oder hat sie ihren eigentlichen Gegenstand außerhalb des Messbaren und Erkennbaren? Nimmt sie, wie das vielfach gesehen wird, in ihren Überlegungen in der Empirie ihren Ausgang, um in der Folge – theoretisch – Antworten auf die dort entlehnten Fragen zu entwickeln? Selbstverständlich bewegt sich das Denken zyklisch, nicht nur linear von empirisch erfassbaren Gegebenheiten aus oder auf 18 Die hier gesammelten Studien stammen aus den Jahren 2005 bis 2011 und sind in einer redaktionellen Überarbeitung gebündelt und auf die Reflexion dieses Kapitels hin nochmals bearbeitet.
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sie hin. Aber es macht einen erheblichen Unterschied, ob in einem induktiven Vorgehen die Sachverhalte, mit denen sich die Praktische Theologie befasst, erst erschlossen werden oder ob Suchbewegungen der empirischen Arbeit von einer bestehenden Theorie ausgehen. Solche Unterschiede zwischen induktiven und deduktiven Verfahren werden noch zur Sprache kommen.19 Darin steckt ein Viertes, nämlich die Frage der wechselseitigen Angewiesenheit: Bedarf die Praktische Theologie überhaupt der Wahrnehmung gesellschaftlicher Gegebenheiten? Inwieweit ist sie auf Erkenntnisse über den Menschen, seinen Glauben, sein Verhalten und seine sozialen Umstände angewiesen oder auch von ihnen (un-)abhängig? Welchen Gewinn erzielt sie durch die Erhebung und Interpretation empirischer Daten genau? Und schließlich geht es fünftens, quasi als Fazit aus einigen der zuvor benannten Fragen, um die Normativität im Reflexionsprozess: Woher werden letztlich Entscheidungen über das, was sein darf oder sein soll, abgeleitet? Selbstverständlich lassen sich aus empirischen Daten nicht unmittelbar theoretische Schlüsse ziehen. Wie aber wird dann der Eingang von empirischen Daten in die Theorie oder werden andersherum die Entwicklung von Fragen aus der Theorie an die empirische Forschung beschrieben – und an welcher Stelle im Prozess fallen Entscheidungen über das, »was sein soll«? Welches Gewicht haben, im Beispiel gesprochen, die Kommunikationsgewohnheiten und Teilnahmeinteressen der Kirchenmitglieder? Welche Rolle spielt es, »was die Leute wollen«? Welche Rolle spielen Diskussionen über die äußere Erscheinungsform einer »zeitgemäßen Kirche«, wenn theologische Reflexion gefragt ist? Wer hat wo das letzte Wort und wie lässt sich abschließend das Verhältnis von Praktischer Theologie und empirischer Forschung beschreiben? Die Nutzung empirischer Forschung und damit ein immer umfassenderer und professionell gestalteter Zugriff auf die »Wirklichkeit« hat in der Geschichte der Theologie stetig an Attraktivität gewonnen.20 Die erzielten Leistungen für die theologische Reflexion sind vielfältig und sollen im Folgenden explizit beschrieben werden. In mehreren Schritten werde ich die genannten fünf zentralen Fragen aus verschiedenen Perspektiven betrachten, einer Klärung zuführen und zu einer abschließenden Verhältnisbestimmung bzw. zu Rahmenbedingungen angemessener Nutzung empirischer Forschung in der praktisch-theologischen Reflexion vordringen. Zunächst möchte ich im folgenden Abschnitt 2 die jeweiligen Leistungen der Empirie für die Praktische Theologie darstellen – untergliedert nach ihren Funktionen und ausgearbeitet anhand von Beispielen aus unterschiedlichen historischen Phasen theologischer Reflexion und kirchlicher 19 Vgl. Abschnitt 4.2 und 4.3 in diesem Text. 20 Neue Entwürfe Praktischer Theologie beziehen explizit empirische Erkenntnisse in ihre Überlegungen ein; vgl. etwa Grethlein, Praktische Theologie, v. a. §§ 10 – 12.
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Steuerung. Dies dient nicht der Sichtung von Forschungs- oder Theoriegeschichte. Eine solche findet sich an anderer Stelle bereits umfangreich aufbereitet, so dass ich mich in diesem Text auf die Nennung einiger beispielhafter Schriften und Diskurse beschränken kann.21 Im Vordergrund steht hier vielmehr der jeweilige Aspekt der Leistung des Empirischen für die unterschiedlichen Ebenen theologischer und kirchlicher Interessen, die wahrnehmbaren Vorteile und Fortschritte sowie umgekehrt die damit verbundenen Schwierigkeiten oder darin sichtbaren Kritikpunkte oder Merkposten für die weitere Diskussion. Im Anschluss daran soll ein Zwischenschritt dazu dienen, die Leistungen und offenen Fragen zu bündeln und für die Diskussion aufzubereiten (Abschnitt 3.). Viele der genannten Fragen werden so oder ähnlich in anderen Wissenschaften diskutiert, in denen empirische Methoden genutzt werden, etwa in der Soziologie und ihrer Methodologie. Aus der Perspektive dieser Diskurse anderer Wissenschaften wird das bisher Erarbeitete darum nochmals beleuchtet, um ein interdisziplinäres Vorgehen umfassend beschreiben zu können und Rahmenbedingungen, die sich von Seiten der Methodologie ergeben, angemessen zu erfassen (Abschnitt 4). Abschließend möchte ich, ausgehend von einem Überblick über Verhältnisbestimmungen von »Praktischer Theologie und Empirie« in Gegenwart und Vergangenheit, zentrale Konsequenzen formulieren und darstellen, welche Vorgehensweisen sachgemäß erscheinen und welche Rahmenbedingungen einer angemessenen Nutzung von empirischer Methodik für die Praktische Theologie unabdingbar sind (Abschnitt 5).
21 Ausgesprochen umfangreich etwa bei Grethlein, Empirie. Für die Positionen und Entwicklungen Anfang des 20. Jahrhundert siehe auch ders., Erinnerung an Paul Drews, außerdem Krech, Wissenschaft.
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2. Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
Im Lauf der Geschichte hat sich vielfach ein großes Interesse an empirischer Forschung rund um Themen von Theologie und Kirche gezeigt – in immer wieder anderen Facetten, geprägt von den jeweils zeitgeschichtlichen Gegebenheiten und mit ganz unterschiedlichen Erwartungen an einen möglichen Nutzen. Diese Aspekte von diversen Erwartungen, Erfahrungen und Bewertungen sind zu verschiedenen Zeiten anlässlich der jeweils aktuellen Situation »entdeckt« und in einer Nutzung empirischer Arbeiten umgesetzt worden, sie sind jedoch nur ansatzweise bestimmten Phasen der Geschichte der Praktischen Theologie zuzuordnen. Darum sollen nun im folgenden Abschnitt die verschiedenen Leistungen einer empirischen Forschung im Kontext der Praktischen Theologie zur Sprache kommen und differenziert nach unterschiedlichen Interessenlagen und (darin enthalten) nach den jeweiligen zeitgeschichtlichen und wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen dargestellt werden. Aus so wahrgenommenen Chancen empirischer Arbeit für die Praktische Theologie lassen sich gleichzeitig Gefahrenzonen und Konfliktlinien beschreiben, die in den folgenden Abschnitten aufgegriffen, gebündelt und kommentiert werden.
2.1
Empirie veranschaulicht die Praktische Theologie
In der Gegenwart hat die empirische Forschung im Raum der Praktischen Theologie erheblich an Bedeutung gewonnen: Zahlreiche Studien nutzen empirische Methodik, fast möchte man meinen, es gehöre zum Pflichtprogramm in der praktisch-theologischen Wissenschaft, in jedem Fall auch »etwas Empirisches« zu machen und die jeweiligen Zielgruppen mit Interviews oder Fragebögen so eng wie möglich in Augenschein zu nehmen. In den letzten Jahren erfreut sich zudem eine Unterform empirischer Analyse, die Evaluationsforschung, zunehmender Beliebtheit: Sie verspricht, die Ergebnisse einer Arbeit transparent und überprüfbar zu machen sowie Erfolge zu belegen. In der Konsequenz, und darum soll es in diesem ersten Aspekt gehen, ist eine »empi-
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
riehaltige« Praktische Theologie in ihrer Darstellung, gemessen an den Wahrnehmungsgewohnheiten der meisten Menschen, ja zunächst eines: anschaulich und durch ihre Konkretion leicht verständlich. Eindrückliche Beispiele verdeutlichen Forschungsergebnisse. Es wird auf diesem Weg wie durch eine Illustration ein schneller Zugriff auf Konkretes geboten – ähnlich der Verwendung von »O-Tönen« in einem Radio- oder Fernsehbeitrag – nicht immer zugleich mit einem Anspruch auf Beweiskraft oder einen theoretischen Gehalt des Gesagten. Eine solche Anschaulichkeit ist offenbar für große Gruppen im Bereich von Kirche und Theologie von Interesse.22 In dieser Erscheinungsform des Empirischen im Bereich der Praktischen Theologie ist es nicht ganz einfach, den echten Gehalt dieses Leistungsaspekts exakt zu beschreiben und sich nicht durch Abarten desselben irritieren zu lassen. Denn dass beispielsweise der allsonntägliche Gottesdienst nur von einem Teil der Gemeindemitglieder besucht wird, dass das kirchliche Leben vor allem in der Ortsgemeinde geprägt ist durch eine Vielzahl an Frauen, an älteren und nicht erwerbstätigen Menschen, ist grundsätzlich eine Plattitüde. Wo jedoch eine solche von Erfahrung gesättigte Ahnung mit Daten untermauert wird, wo etwa anhand von Statistiken und Umfragedaten deutlich wird,23 dass durchschnittlich nur etwa drei bis vier Prozent der Kirchenmitglieder den Sonntagsgottesdienst besuchen oder tatsächlich weniger als 30 % der männlichen, erwerbstätigen Kirchenmitglieder überhaupt am kirchlichen Leben teilnehmen,24 wird nicht nur das Ausmaß dieser »Wahrheit«, sondern zugleich bereits ein Teil ihrer Bedeutung sichtbar, die dann in weiteren Interpretationen genauer erschlossen werden kann. Es wird mit einer gewissen Präzision anschaulich und verständlich und für viele assoziativ bereits mit theologischen Leitlinien interpretativ verknüpft: Dies ist ein Sachverhalt, der das weitere theologische Nachdenken beeinflussen sollte, insofern eine Kirche Jesu Christi, die sich als Gemeinschaft der Glaubenden versteht, kaum unbedacht hinnehmen kann, wenn ein Großteil der Mitglieder sich fernhält. Darin verdeutlicht empirische Forschung zugleich den an Reflexionsprozessen Beteiligten nochmals einen Gegenstand der Praktischen Theologie als relevant und reflexionsbedürftig. Die in dieser Weise gebotenen Daten sind notwendig selektiv und bedürfen weiterer Interpretationsarbeit. Sie machen das eine anschaulich und verständlich, während sie das andere wiederum verbergen. Sie sind unter bestimmten – 22 Einen Überblick über empirische Studien geben bis in die ersten Jahre nach der Jahrtausendwende Feige/Lukatis, Empirie. 23 Verfügbar in den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD seit 1972 und ebenso in allgemeiner Form auch in zahlreichen weiteren Studien durch Marktforschungsinstitute, die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) etc. 24 Gegenüber rund 37 % der weiblichen, erwerbstätigen Kirchenmitglieder ; vgl. der Text in Teil B (1.4) in diesem Band: »Exklusion, Bindung und Beteiligung in der Kirche«, Abschnitt 3.
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Empirie veranschaulicht die Praktische Theologie
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theoretischen oder auch unbewusst einbezogenen – Prämissen erhoben worden und dienen, außerhalb dieses Kontextes benannt, lediglich dazu, einen Eindruck zu untermauern, ein Argument zu verstärken und eine (behauptete) Gegebenheit zu illustrieren. Das ist nicht verwerflich, solange im Diskussionszusammenhang Rechenschaft darüber abgelegt wird, was hier, durch die theoretischen Voraussetzungen bedingt, passiert: Eine vollgültige Mitgliedschaft in der christlichen Kirche schließt in einem handlungstheoretischen Verständnis die Teilnahme am kirchlichen Leben ein, beispielsweise in Gruppen und Kreisen, in der Teilnahme an Kirchenwahlen oder anderen ortsgemeindlichen Angeboten. Wenn nun Studien starke Defizite im Beteiligungsverhalten aufzeigen, ist dies in sich durchaus stimmig, aber die Ergebnisse sind, wie in jeder empirischen Untersuchung, von Voraussetzungen geprägt, die sich in der Operationalisierung im Anschluss an eine (hier nur indirekt zugängliche) Hypothesenbildung ausgewirkt haben und das Ergebnis beeinflussen. Hier wird beispielsweise zunächst weder die Glaubenshaltung der Befragten berücksichtigt noch ihr Bezug zur Kirche, ihre grundsätzliche Wahrnehmung unterschiedlicher Sozialgestalten von Kirche oder ihre Deutung der eigenen Mitgliedschaft. Vielmehr wird zunächst nur die Beteiligung am kirchlichen Leben betrachtet, implizit verstanden jedoch als Platzhalter für oder als Verweis auf etwas anderes, auf den Glauben, auf das grundsätzliche Interesse an kirchlichen Angeboten etc. So gerät, außerhalb umfangreicher Reflexionszusammenhänge empirischen Materials, so manche Illustration anhand empirischer Daten zum reinen »data dropping«, zur Demonstration der Fundiertheit der eigenen Argumentation. So manche Zahl wird selbst zum Argument, indem man davon ausgeht, dass sie von selbst die Information (hier : eines Mangels) transportiert und keiner Interpretation mehr bedarf, etwa in der Quote des sonntäglichen Gottesdienstbesuchs. Derartiges Vorgehen findet sich zuweilen in praktisch-theologischen Publikationen, die auf Veränderungsbedarf (oder auf dessen Ablehnung) im Raum der Kirche hin argumentieren.25 Zuweilen findet sich ein solches Vorgehen aber auch, wo anderweitig erzeugte Ergebnisse empirischer Forschung genutzt werden – einschließlich der bereits andernorts vorgenommenen Deutung der Ergebnisse, ohne dass der Transfer in den Bereich der Theologie ausreichend reflektiert worden wäre. Ein Beispiel dafür ist die Milieustudie, die die katholische Kirche beim Sinus Institut, heute SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH, in Auftrag gegeben hat und die im Jahr 2005 veröffentlicht wurde. »Katholische Kirche ist in der Gesellschaft immer weniger präsent. Sie ist nur 25 So etwa im programmatischen Text von Isolde Karle: Dies., Volkskirche. Hier werden Daten aus der Erhebung unmittelbar als Argumente für eine praktisch-theologische Position genutzt. Eine ausführliche Reflexion angemessener Vorgehensweise in der Nutzung empirischer Daten s. u. Abschnitt 5.
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
noch in maximal drei von zehn lebensweltlichen Milieus in Deutschland beheimatet; in Pfarrgemeinden lassen sich nur noch in zwei, maximal zweieinhalb identifizieren,«26 heißt es in der Wahrnehmung der Ergebnisse – die Tatsache interpretierend, dass nach der vorliegenden Studie das ortsgemeindliche Angebot vor allem von Menschen genutzt wird, die drei der zehn dort erstellten Milieutypen zugerechnet werden können. Diese Interpretation ignoriert die Tatsache, dass die beiden großen Volkskirchen in Deutschland in deutlich mehr als drei von zehn, genauer gesagt: in zehn von zehn Milieus, Millionen von Mitgliedern haben. Sie unterstellt, dass alle Menschen mit anderen Milieuzugehörigkeiten die Angebote gar nicht oder nur in Ausnahmefällen nutzen. So schadet schließlich eine solche Nutzung empirischer Arbeit der Diskussion, insofern sie Halb- oder gar Unwahrheiten verbreitet und echte praktisch-theologische Diskurse behindert,27 während sie ursprünglich vielfach (nur) dafür vorgesehen war, Sachverhalte anschaulich darzustellen und eine neu entdeckte Thematik anderen als relevanten Gegenstand nahe zu bringen. So lässt sich zusammenfassen, dass selbst diese funktional mehrschichtige, fachlich in ihrem Bedeutungsgehalt nur in Umrissen zu erfassende Funktion der Empirie als Instrument der Veranschaulichung bereits – wohl oder übel – Anteile von Theoriebildung enthält, ja: enthalten muss, indem sie selbst einen Verweis auf theoretische Debatten darstellt. Wer etwas »sieht«, kann gar nicht anders, als das Gesehene schon zu interpretieren – auf Basis des Vorwissens, der bisherigen Erfahrungen oder theoretischer Vorannahmen. Wer empirische Daten zur Kenntnis nimmt, kann gar nicht anders, als damit, wenn auch in aller Vorläufigkeit und Unfertigkeit, erste normative Entscheidungen vorzunehmen.
2.2
Empirie ermöglicht der Theologie mehr Nähe zur »Wirklichkeit«
Die Praktische Theologie als jüngste Disziplin im Fächerkanon der Theologie war von Anfang an mit den Gegebenheiten des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens eng verwoben gewesen. Sie wurde »erfunden«, weil unter anderem die Berührungsflächen von kirchlicher Lehre einerseits und religiösem Be26 In dieser Logik werden in den beiden christlichen Kirchen in Deutschland vielfach die Ergebnisse diverser Milieustudien rezipiert. Das Zitat stammt aus der Arbeit im Erzbistum Köln, das die Milieuperspektive als Instrument der Kirchenentwicklung intensiv nutzt; vgl. http://www.erzbistum–koeln.de/seelsorgebereiche/wir_fuer_sie/fachbereich_pastoral/konzeptenwicklung/sinus_milieu_studie/sinus_milieus_deutschland.html. Siehe auch die Milieu-Studie für die katholische Kirche: Wippermann/de Magalhaes, Zielgruppen-Handbuch. 27 Eine Zusammenstellung und Kritik von diversen – unterschiedlich sachgemäßen – Nutzungen der Milieuperspektive findet sich bei Hauschildt/Kohler/Schulz, Milieuperspektive.
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Empirie ermöglicht der Theologie mehr Nähe zur »Wirklichkeit«
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wusstsein der Menschen bzw. kirchlichen Leben andererseits immer weniger zu werden schienen.28 So lag es immer wieder für einzelne Protagonisten der neuen Disziplin nahe, gesellschaftliche oder auch subjektiv-persönliche Gegebenheiten oder Erfahrungen aus der Praxis zu berücksichtigen – und die Frage, wie dies zu schaffen sei, hat die Entwicklung des Fachs immer wieder stark geprägt. In der Tradition Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768 – 1834), der die so genannte neuzeitliche Wende der Theologie einläutete und in dieser Hinsicht das Fach Praktische Theologie maßgeblich im Fächerkanon der Theologie verankerte, war deutlich und zunehmend ernst genommen worden, dass Theologie, wenn sie denn inmitten der enormen gesellschaftlichen Wandlungsprozesse über ihre bisherige exegetische, historische und dogmatische Reflexion hinaus relevant und für die Mehrheit der einschlägig Interessierten verständlich sein will, die sich verändernde Lebenswelt der Menschen berücksichtigen muss.29 Bei Schleiermacher selbst gehört allerdings die Wahrnehmung empirischer Daten (v. a. als »kirchliche Statistik«) nach seiner eigenen Unterteilung der theologischen Wissenschaft in drei Arbeitsfelder (Philosophische, Historische und Praktische Theologie) noch nicht in den Bereich der Praktischen Theologie.30 Deren zentrale Aufgabe sollte es sein, die Vermittlung von theoretischen Wesensbestimmungen des Christentums hin auf seine praktische Wesensgestaltung, vorrangig durch die Kirchenleitung, zu übernehmen. Die Wahrnehmung empirischer Gegebenheiten ordnete Schleiermacher stattdessen in der Disziplin der Historischen Theologie ein, die dem Verständnis des geschichtlichen und gegenwärtigen Gewordenseins des Christentums dienen soll. Hier bildet die Dogmatik als Erfassung geltender Lehre das Gegenstück zur jetzt neuen »kirchlichen Statistik«, die den gegenwärtigen Zustand der Kirche beschreiben sollte.31 Relevant ist Schleiermachers Verständnis der »kirchlichen Statistik« als Subdisziplin der Historischen Theologie insofern, als nach seinem Verständnis 28 Eine umfassende Übersicht und einen Vorschlag zur Periodisierung geben Grethlein/MeyerBlanck, Geschichte. 29 Schleiermacher betont etwa die Relevanz von Differenzen unter den »Kirchengemeinschaften« für kirchenleitendes Handeln und daraus die Notwendigkeit, diese Differenz auch in der praktisch-theologischen Reflexion zu erfassen: »Je größere Differenzen sich hierüber in weit verbreiteten Kirchengemeinschaften vorfinden, um desto zweckwidriger ist es bei bloßen Durchschnittsangaben sich zu begnügen. Das lehrreichste für die Kirchenleitung würde verloren gehen, wenn nicht die am meisten verschiedenen Massen in Bezug auf die wichtigsten in Betracht kommenden Punkte mit einander verglichen würden.« Ders., Darstellung, § 235. 30 Diese Zuordnung erfolgte u. a. durch Carl Immanuel Nitzsch in: Ders., Praktische Theologie. 31 Zentral für Schleiermachers Konzeption ist die Schrift »Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen« von 1811/1830, in der sich die Untergliederung der Wissenschaft Theologie in ihre Disziplinen findet; für das Verständnis der »kirchlichen Statistik« vgl. Schleiermacher, Darstellung, § 232 – 250.
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
der Eingang empirischer Arbeit in den theologischen Fächerkanon durch Wahrnehmung der Gegebenheiten in seiner Funktion als Ausdeutung theologieund gesellschaftsgeschichtlicher Entwicklung des Christentums ermöglicht wird. Es geht Schleiermacher hier nicht um ein Verständnis von Gesellschaft, gewissermaßen als Umwelt oder Wirkungsbereich des Christentums – das man wie in heutigem Verständnis gut kennen sollte, um zielgenau handeln zu können –, sondern um das Verständnis des Christentums, wie es sich in der Gegenwart und ihrem sozialen Gefüge ausprägt – quasi als Verlängerung der historischen Wissenschaft in die Gegenwart. Eine Einbettung empirischer Arbeit in die Disziplin der Praktischen Theologie war nach der Vorstellung der Protagonisten dieses Abschnitts der Geschichte der Praktischen Theologie, etwa bei Carl Immanuel Nitzsch (1787 – 1868), als Berücksichtigung der Verhältnisse konzipiert, wie sie etwa dort in der »Statistik« nach Schleiermacher und in Form eines enzyklopädisch erfassten Wissensbestandes zugänglich gemacht werden können. Dabei war diese Kenntnis etwa der innerkirchlichen Sachverhalte noch nicht einem methodischen Zugang unterstellt oder in eine Konzeption einer praktisch-theologischen Reflexion eingeordnet, ebenso wenig war geklärt, in welchem Zusammenhang die Praktische Theologie mit anderen Wissenschaften, etwa den Humanwissenschaften, stehen sollte, die zu dieser Zeit einen erheblichen Aufschwung nahmen und in denen zunehmend empirisch gearbeitet wurde. Dieser erste Impuls einer solchen empirischen Analyse, unmittelbar verbunden mit der Entstehung der Disziplin der Praktischen Theologie, wurde dann Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in der für die Fachgeschichte wichtigsten Phase der Einbindung des Empirischen wieder aufgenommen, nun mit ersten methodischen Konzepten verknüpft und auf konkrete Anwendungsfelder der Praktischen Theologie hin formuliert, etwa in der Kirchengemeinde oder der Schule. Erneut steht eine Problemanzeige im Vordergrund, nämlich der Eindruck einer hinderlichen Distanz zwischen der universitären Praktischen Theologie und dem Arbeitsfeld derer, die die dort verfügbaren Kenntnisse in unterschiedlichen Praxisbereichen nutzen wollen. Rund um Reformbestrebungen in Bezug auf das Theologiestudium wird immer wieder die Beobachtung thematisiert, die Ausgebildeten seien durch ihr Studium auf die konkreten Anforderungen am Arbeitsplatz nicht ausreichend vorbereitet.32 Theologen wie Paul Drews, Friedrich Niebergall und Otto Baumgarten33 stehen
32 Vorangehend in der berühmt gewordenen Positionierung Bornemanns in: ders., Unzulänglichkeit. 33 Paul Drews (1858 – 1912), Friedrich Niebergall (1866 – 1932), Otto Baumgarten (1858 – 1934).
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für die Forderung nach einer möglichst großen Nähe der theologischen Reflexion zu den »Thatsachen«, wie Drews es eindrücklich formuliert.34 Plastisch zeigt diesen Impuls der programmatische Artikel von Paul Drews zur ersten Ausgabe der Monatsschrift für die kirchliche Praxis von 1901.35 Leitmotiv ist die Forderung Drews nach einem neuen »Zweig« der Praktischen Theologie, der »religiösen Volkskunde« mit einem »descriptiv-induktiv« konzipierten Vorgehen – im Kontrast zur bisher »systematisch-deduktiv« betriebenen Wissenschaft.36 Mit seinem Bedarf an Deskription, an einer Sammlung von Daten zur »Analyse des Volkscharakters wie der Gruppen- und individuellen Typen« zielt er tatsächlich nicht in erster Linie auf eine (induktive) Vertiefung der Theoriebildung, sondern er strebt zunächst das quasi enzyklopädische Wissen über Menschen und ihre Lebenswirklichkeit an. Den Bedarf zeichnet er in Dichotomien aus der kirchlichen Praxis, wobei Bildungsnähe und großstädtische Umgebung im Gegensatz zu Bildungsferne und ländlicher Umgebung die wichtigste Achse bilden. Aus ihr entwickelt Drews das beispielhafte Bild eines großstädtisch sozialisierten Pfarrers, der sich in der bäuerlichen Welt nicht zurechtfinden kann, der den Fragen und religiösen Interessen der Menschen in der »absolut fremden Welt« nicht gewachsen ist. Schlimmer, er kann nichts »wirklich Förderliches für die Gemeinde« leisten, er »verbraucht« wertvolle Arbeitszeit, in der er »von seiner Gemeinde entweder gar nicht verstanden oder völlig missverstanden wird.«37 Um eine solche Verschwendung von Chancen abzuwenden, sollte der junge Pfarrer bereits an der Universität durch die »religiöse Volkskunde«, die »Kirchenkunde« und die »religiöse Psychologie« ausreichend Informationen erhalten. Aus diesen Grundgedanken zeichnet Drews nun 1901 programmatisch eine um die »Volkskunde« und weitere Teildisziplinen angereicherte – und dann streckenweise von diesen ausgehende – Praktische Theologie, die erstens über ausreichend Kenntnisse über diese fremde Lebenswirklichkeit und konkrete kirchliche Verhältnisse verfügt und zweitens die Ursachen zentraler Unterschiede verstanden hat, worunter Drews »Faktoren« und Bedingtheiten sozialer und historischer Art versteht.38 Diese Kenntnisse sind schließlich fundamental: »Die Praktische Theologie lechtzt nach Thatsachen, Wirklichkeiten. Bieten wir sie 34 Vgl. Drews, Religiöse Volkskunde, 4. Ebenso ergiebig weitere Schriften zu diesem Thema: Ders., Dogmatik; ders., Beitrag zur Reform. 35 Drews, Religiöse Volkskunde. 36 Ebd., 1. 37 Ebd., 3. 38 Bei Niebergall, quasi am Ende dieser ersten entscheidenden Aufbruchphase für das Empirische auf dem Gelände der Praktischen Theologie, findet sich einige Jahre später eine deutlichere Konzentration auf den Einzelfall, an dem er die Folgen der industriellen Entwicklung in der Arbeiterschaft studiert; vgl. Niebergall, Praktische Theologie, 162ff und öfter.
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
ihr und durch sie unseren Pastoren!«39 Hier wird sichtbar, dass Drews eine grundlegend anwendungsorientierte Praktische Theologie vor Augen hat, die in erster Linie die Ausstattung der Pfarrer für ihre Praxis zum Ziel hat. Umgekehrt sieht Drews auch diese Nutzergruppen selbst als Subjekte der wissenschaftlichen Arbeit: »Daher denn meine herzliche Bitte an alle Geistlichen jedweder Richtung, ihre Beobachtungen und Erfahrungen zur Verfügung zu stellen und dadurch der Wissenschaft, aber auch den Amtsbrüdern unmittelbar einen Dienst zu thun.«40 Methodologisch gesehen ist dies eine interessante Entwicklung: Drews will zunächst den Bestand an Daten stark erweitern – und es bedarf dafür einer aktiven Datensammlung, die von den Menschen im Feld, also etwa den Geistlichen, geleistet werden könnte. Dies ist verständlich, wo es Drews tatsächlich zunächst um den reinen Zugang zu Daten ganz grundsätzlich geht und noch nicht um einen strukturierten Analyseprozess dieser Daten. Von einem solchen Arbeitsschritt ist jedoch nicht dezidiert die Rede. Das durch Beobachtung gewonnene Material dient zu Ausbildungszwecken, als solches erfüllt es bereits seinen Zweck. Nur mit einer Einschränkung der Bedeutung dieses Materials erwähnt Drews die Notwendigkeit weiterer Analysen und darin auch die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit Fachkundigen anderer Disziplinen wie etwa der Psychologie: Das wahrgenommene Glaubensleben muss in seiner Aussagekraft über die Religiosität der Menschen auch verstanden werden, wie es beispielsweise mit dem Interpretationsraster einer Typologie der Frömmigkeit erschlossen werden kann: Der Geistliche »muss wissen, von welchen Faktoren dasselbe [Glaubensleben, C.S.] begünstigt, von welchen es gehindert wird. Kurzum eine ›religiöse Psychologie‹ muss der ›religiösen Volkskunde‹ ergänzend an die Seite treten.«41 In diesem Entwurf obliegt die Erhebung und Sichtung empirischen Datenmaterials den kirchlich Aktiven. Eine dezidierte Analyse als eigener wissenschaftlicher Arbeitsschritt und als Teil praktisch-theologischer Theoriebildung ist nicht explizit geplant – oder an andere Wissenschaften delegiert. Die Daten selbst sind in diesem Entwurf eindeutig positiv verstanden: Allein der reine Zugang zur »Wirklichkeit« durch Anschauung empirischen Materials ist darin gut und nützlich. Aus heutiger Sicht erinnert dieses Vorgehen an den Effekt, den etwa die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD in weiten Kreisen der evangelischen Kirche, vor allem in theologischen Ausbildungsstätten für die erste und zweite Ausbildungsphase gehabt haben. So waren bei der dritten Mitgliedschaftsuntersuchung »Fremde Heimat Kirche«42 die biographischen Er39 40 41 42
Drews, Religiöse Volkskunde, 4. Ebd. Ebd., 7. Vgl. Engelhardt/Loewenich/Steinacker, Fremde Heimat. Vgl. auch der Quellenband, in dem
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zählinterviews zugänglich gemacht worden und in der theologischen Ausbildung, in Studium, Vikariat und Fortbildungen landesweit rege genutzt worden. Dahinter steht eine Erwartung ganz ähnlich der, die Drews hundert Jahre zuvor formulierte: Allein durch die reine Anschauung der »Wirklichkeit«, wie sie sich in den Erzählinterviews darbot, sollte sich ein Mehr an Verständnis einstellen, etwa für eine Kirchlichkeit, die nicht durch kontinuierliche Teilnahme, sondern durch eine besondere Ausdeutung biographisch relevanter Orte oder familialer Bindungen gekennzeichnet ist, die aber darin dennoch – oder erst recht – als religiöses Interesse und Kirchenverbundenheit beschrieben werden kann. Hier wirkten oft nicht in erster Linie die Analysen, die derartige Erkenntnisse in einer beachtlichen Interpretationsleistung auf den Punkt brachten, sondern mindestens ebenso die reine Anschauung einer Lebensdeutung, die ganz anders geschieht als die eigene, aber durchaus plausibel als Frömmigkeit gedeutet werden kann. Zuweilen ist von Verantwortlichen in der Ausbildung zu hören, es seien vor allem die Materialien der eigentliche Gewinn der Studie: Alle, die in den kirchlichen Dienst wollten, müssten diese Texte einmal wahrgenommen haben, um fortan mit einem besseren Verständnis für die Realität des Glaubens an die Arbeit zu gehen. Drews selbst schränkt die Bedeutung des von ihm geforderten Wahrnehmens empirischer Daten ein, indem er betont, die akademische Auseinandersetzung mit dem volkskundlichen Datenmaterial ersetze natürlich nicht die Erfahrung, das eigene Erleben und Spüren der Unterschiedlichkeit der Lebenswirklichkeiten und sei insofern »unvollständig, lückenhaft, einseitig«.43 Von außen betrachtet, mit einhundertjährigem Abstand zu der hier nur kurz skizzierten Phase praktisch-theologischer Arbeit, lässt sich aus der darin begründeten Schwierigkeit im Umgang mit empirischem Datenmaterial tatsächlich eine Problematik ablesen, die auch für die gegenwärtige Diskussion aufschlussreich ist: Die Daten selbst verschaffen den Forschenden häufig einen direkt erscheinenden Zugang zum Feld, bedürfen aber dann zunächst der Interpretation und teilweise auch der Vervollständigung oder Erläuterung von Seiten anderer Disziplinen, um eben nicht nur »unvollständig, lückenhaft, einseitig« zu sein. Eine Beobachtung ist noch keine wissenschaftliche Erkenntnis, eine Erfahrung noch kein unmittelbarer Gewinn für die Theorie. Und wo die Verfahren der Interpretation ausschließlich aus anderen Wissenschaften entnommen werden wie in Drews Konzept vorgesehen, dient die Beobachtung möglicherweise der Praktischen Theologie als Startpunkt für weitere Reflexionsaufgaben, eine eigenständige praktisch-theologische Reflexion ist das jedoch (noch) nicht. Möglicherweise ist Drews Vorgehen aus heutiger Sicht darin plausibel, dass er die Materialien veröffentlicht sind: Studien- und Planungsgruppe der EKD, Selbst- und Weltdeutung. 43 Drews, Religiöse Volkskunde, 6.
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
mit seinem Programm das Ziel der Sensibilisierung oder Information zukünftiger Pfarrer in der universitären Ausbildungsphase beschreiben, aber kein Instrument praktisch-theologischer Theoriebildung unter Einbeziehung empirischer Forschung entwerfen wollte. Dass die Frage nach einem klaren Konzept des methodischen Vorgehens in Erhebung und Interpretation empirischer Daten in dieser Phase der Praktischen Theologie zuweilen ansatzweise gestellt, aber an keiner Stelle beantwortet wurde, dass hier eine wissenschaftstheoretische Ausarbeitung der methodischen Idee ausbleibt, hinterlässt einen Merkposten für die weitere Diskussion um eine sinnvolle Einbettung empirischer Arbeit in die praktisch-theologische Reflexion. Weitere Merkposten ergeben sich aus der Kritik, die dieses Verfahren in der Geschichte der Disziplin erfuhr. So lässt sich aus den empiriekritischen, auf normatives Vorgehen der Theologie ausgerichteten Strömungen die Anfrage ablesen, wie denn inmitten der Ausrichtung auf die »Wirklichkeit« der Stellenwert der normativen Basis gesichert werde. Als striktes Gegenüber einer Theologie, die empirische Methoden nutzt, um ein Verständnis der Wirklichkeit in ihre Reflexion einzubeziehen, profilierten sich in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Vertreter der dialektischen Theologie.44 Dass die Theologie in ihrer Wahrnehmung empirischer Gegebenheiten und damit der subjektiv erfahrenen Lebenswirklichkeit die grundlegende Ausrichtung auf das Wort Gottes aufgeben und damit implizit ganz gegen ihren eigentlichen Auftrag agieren könnte, war unter anderem die Sorge Karl Barths, der dies im Jahr 1935 am Beispiel der Berücksichtigung empirischer Gegebenheiten für eine (aus Barths Sicht: angebliche) »Gemeindemäßigkeit« in der Predigtarbeit so formuliert: Gemeindemäßigkeit der Predigt kann unter keinen Umständen etwa das bedeuten, daß der Lebensstandard der Zuhörer, ihr Bildungsgrad, die unter ihnen herrschenden gesellschaftlichen, politischen, intellektuellen, moralischen, religiösen Überzeugungen, die kleinen und großen Erlebnisse ihres Daseins (…), daß all dies nun ein selbständiger Betrachtungsgegenstand werden dürfte, daß die Struktur dieser Gemeinschaft zu erforschen wäre, um daraus ein Gesetz zu entnehmen, einen Maßstab abzulesen, dieses Gesetz zu konfrontieren mit dem Evangelium und diese zwei Größen, die sich da gegenüber stehen würden, mit dem Wörtlein »und« zu verbinden. Es darf nicht darum gehen, eine freundliche Synthese herzustellen zwischen dem, was von Christus her und dem, was vom Menschen her gilt nach der immer wieder bewährten Methode: Das Eine ist der Inhalt, das Andere ist die Form!! – Gerade das darf nicht geschehen. Sobald dieses Denken wieder anheben würde, würden die Dinge so laufen, wie sie dann notwendig laufen: die interessierte Frage nach der Gemeinde und ihren anthropologischen, soziologischen und politischen Möglichkeiten würde zur ersten Frage werden, die Form würde den Inhalt vergewaltigen, die Predigt würde von daher 44 Diese Kritik war in der Frühphase verbunden mit Namen wie Karl Barth, Eduard Thurneysen oder Alfred Dedo Müller.
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bestimmt und dann würde die Predigt das, was sie wirklich nicht werden soll: eine Aktion im luftleeren Raum! (…) wer sich einlässt auf ein abstrakt Menschliches der Gemeinde, der ist unbarmherzig. Das ist nicht Liebe, das ist nicht die Herablassung Christi, sondern das ist eine höchst eigenmächtige und im Grunde gottlose Willkür. Der Primat einer solchen anderen Konformität als der Konformität mit dem Worte Gottes, widersteht nicht nur dem Wesen des Wortes Gottes, das allein herrschen und regieren will, (…) Sie widersteht auch der wohlverstandenen Erwartung der Gemeinde selber.45
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Diktatur der Nationalsozialisten und mit Blick auf mögliche Folgen für die Theologie schlossen sich, auch in den Nachkriegsjahren, weitere Theologen dieser Sicht an. Die These, die sich daraus unabhängig von der gesellschaftlichen Situation formulieren lässt, wird Jahrzehnte später, als die empirische Forschung längst in die praktisch-theologische Ausbildung Einzug gehalten hat, von Rudolf Bohren vertreten: In seiner Auseinandersetzung mit der autoritätskritischen, die Lebenswirklichkeit der Menschen stark berücksichtigenden Konzeption Ernst Langes46 formuliert er sein Anliegen, das Evangelium möge souverän bleiben und nicht als Objekt der pastoralen Arbeit begriffen und durch die jeweiligen Wahrnehmungen der mit empirischen Methoden erforschten »Gegenwart« bestimmt und aus- oder gar umgedeutet werden. Er warnt: »Die Gegenwart wird sozusagen als Jahreszeit verstanden, nach der man sich zu richten hat« und benennt die Folgen: »Wer A sagt, muß auch B sagen. Wer mit der ›Wirklichkeit‹ beginnt, kommt in ihr um« und – mit einem Zitat Bonhoeffers gesprochen – »trennt sich vom Heil«.47 Die Wucht dieser Auseinandersetzung findet sich in der Geschichte der Praktischen Theologie an keiner Stelle jemals wieder. Das Grundanliegen, hier durch Barth und Bohren repräsentiert, nämlich der Verdacht, den empirischen Daten könnte im Prozess ihrer Erhebung und Nutzung normative Funktion zukommen, wird vielfach zum Anlass für Zurückhaltung gegenüber empirischer Arbeit, nicht immer als Widerspruch, aber als Enthaltung von einer Nutzung dieser Methoden. Kritik erfährt die Nutzung empirischer Methoden außerdem in ihrer Hochphase durch Stimmen anderer Beteiligter am Prozess der interdisziplinären Forschung, wo die Struktur eines möglichen Dialogs oder einer fruchtbaren Zusammenarbeit in Frage gestellt wird.48 45 Barth, Gemeindemäßigkeit, 197 f. 46 Verfügbar mit der Bündelung seiner Schriften unter dem Titel »Predigen als Beruf, Aufsätze zu Homiletik, Liturgie und Pfarramt«, hg. von Rüdiger Schloz, Stuttgart 1976; vgl. Lange, Predigen. 47 Vgl. Bohren, Differenz. Die Zitate stammen aus den Schlusspassagen auf S. 429 f, das Bonhoeffer-Zitat, hier von Bohren auf Ernst Langes Arbeit angewandt, lautet: »Wer sich wissentlich von der Bekennenden Kirche in Deutschland trennt, trennt sich vom Heil« (ebd., 430). 48 Hier erhob sich beispielsweise Kritik aus der Soziologie, prominent etwa von Seiten Thomas Luckmanns, der vor einer »radikalen Verengung« empirisch-soziologischer Forschung auf
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
2.3
Empirie erschließt die Komplexität der Wirklichkeit
Eine weitere Etappe der Nutzung empirischer Gegebenheiten für die praktischtheologische Reflexion, aus der sich wiederum weitere Leistungen einer solchen Nutzung ersehen lassen, ergibt sich im weiteren Verlauf der Wissenschaftsgeschichte etwa seit den 1950er Jahren. Die Praktische Theologie verschafft sich mithilfe empirischer Arbeiten nicht nur einen breiteren Zugang zur so genannten Wirklichkeit, sondern sie kann diesen nun für ihre theoretische Reflexion gewinnbringender einsetzen: Es geht nicht nur darum, durch Empirie die Wirklichkeit stärker zur Kenntnis zu nehmen, sondern darum, in diesem Vorgehen insgesamt die Komplexität des Lebens, der religiösen Wirklichkeit inmitten sozialer Bedingtheiten abzubilden. Es geht nicht nur um hilfreiche Einzelinformationen, etwa über ein Arbeitsfeld oder über eine Zielgruppe, sondern um ein tiefes Verständnis der Zusammenhänge. Es geht nicht nur um die Erkenntnis dessen, »was ist« und sich als Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion bietet, sondern um die Reflexion der Verhältnisse, die darum insgesamt ans Licht kommen und in ihrer Bedeutung für ein christlich-religiöses oder gar kirchliches Interesse entschlüsselt werden können. Die Herausforderung liegt nun darin, diese aus den Daten gewonnene Komplexität mit der Praktischen Theologie in Beziehung zu setzen. Im Beispiel gesprochen: Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und zuweilen weit darüber hinaus ging es in erster Linie darum, in der Frage nach dem Gottesdienstbesuch oder nach der Teilnahme am Gemeindeleben anschauliches Datenmaterial zu erhalten und daraus Informationen zu gewinnen, etwa über die Zahl von Kirchenmitgliedern, die an einem Gottesdienst teilnehmen oder ein anderes Angebot nutzen, über Meinungen, konkrete Erwartungen oder Kritikpunkte, über Anreize und Hindernisse. Hier lag der Gewinn vor allem darin, sich überhaupt erst einmal in den Dialog mit den »Zielgruppen« zu begeben, Unterschiede und Passungen zwischen der kirchlichen Wirklichkeit und der Lebenswirklichkeit der Menschen im Allgemeinen wahrzunehmen. Zu diesen bisher genannten Nutzaspekten der Wahrnehmung empirischer Daten kommt jetzt der des Zugangs zur Komplexität der untersuchten Lebenswirklichkeit: Wenn ein Kirchenmitglied nur zu besonderen Gelegenheiten einen Gottesdienst besucht, welche Rolle spielen Religion und Kirchenmitgliedschaft dann möglicherweise im Leben dieses Menschen – im Leben vieler Menschen im Gefüge der Gesellschaft? Und welche Rolle spielt darin ein Gottesdienst, welche Rolle kirchensoziologische Fragen warnt, durch die die Religionssoziologie zur »Hilfswissenschaft« wird und einzelne Studien über das »Stadium der Materialiensammlung« oder die Funktion einer »Meinungsforschung« nicht hinauskommen; vgl. ders, Religionssoziologie, 315, 316, 318 u. 321. Dieser Diskurs ist als Scharnier in der deutschsprachigen Religionssoziologie zu verstehen; vgl. Wohlrab-Sahr, »Luckmann 1960«.
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Empirie erschließt die Komplexität der Wirklichkeit
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spielen andere Angebote der Ortsgemeinde oder ganz grundsätzlich Gelegenheiten des Kontakts mit religiösen Gruppen und religiösen Themen? In der Fachgeschichte der Praktischen Theologie lässt sich dieser Nutzen komplexitätsfördernder empirischer Arbeit am deutlichsten in der Phase der so genannten Empirischen Wende feststellen. Auch hier ist weniger der vor dem zweiten Weltkrieg vorherrschende Eindruck maßgeblich, die Theologie nehme wichtige Aspekte der Wirklichkeit nicht wahr, sondern der Eindruck einer grundlegenden Differenz zwischen der Theologie (und mit ihr der Kirche) und der Gesellschaft, in der sie agiert.49 Der Theologe Klaus Wegenast (1929 – 2006) formuliert dies in seinem programmatischen Aufsatz »Die empirische Wendung in der Religionspädagogik« (1968), schon wie damals Paul Drews mit einem kritischen Ton in Bezug auf die mangelhafte Nähe der religionspädagogischen Fachkräfte zur Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler, was er mit dem Begriff der »Krise« bezeichnet: Bei den Lehrkräften finde sich eine »innere Unsicherheit, ob und wie ›Religion‹ unterrichtlich vermittelbar sei« oder auch eine »Hilflosigkeit gegenüber dem sich immer mehr differenzierenden Denken der theologischen Wissenschaft, das manchen Lehrer nicht mehr wagen lässt, mit gutem Gewissen Religionsunterricht zu erteilen« und so fort. Auf Seiten der Schülerinnen und Schüler werde »die Krise vor allem durch Langeweile gekennzeichnet, manchmal auch durch Disziplinlosigkeit und offen bekundete Verständnislosigkeit gegen den im RU angebotenen ›Stoffen‹.«50 Die Diagnose Wegenasts bezieht sich nun zum einen auf die in seinen Augen mangelnde Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler und im Vergleich dazu beispielsweise »die historische Ferne der Bibel und die Fremdheit ihrer Denk- und Vorstellungsweisen, ihrer Sprache und der in ihr vorausgesetzten gesellschaftlichen Verhältnisse«51. Zum anderen, und darin zeigt sich indirekt der entscheidende Gewinn einer solchen empirischen Arbeit, bemängelt Wegenast in einem umfassenderen Sinn das geringe Verständnis für das hierin liegende Missverhältnis allgemein: Wer unterrichtet, muss die »altersspezifischen Interessehaltungen und Verstehensmöglichkeiten angemessen berücksichtigen«52, das geht aber nur, wenn man zugleich die »Relevanz reflektieren« kann, die der Unterricht für die Unterrichteten haben kann. Es geht um das Verständnis des »Verstehenshorizontes« der Kinder und Jugendlichen, aus dem heraus die Fähigkeit erwachsen kann, auch die bisherigen Grundlagen der 49 Joachim Matthes benennt bereits 1964 eine Schrift mit prägnantem Titel: Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Hamburg 1964. Von ihr wird später noch die Rede sein. 50 Wegenast, Empirische Wendung, 112. In der Religionspädagogik vollzog sich die Hinwendung zu empirischen Wissenschaften zuerst, später folgten andere Einzelfächer der Praktischen Theologie. 51 Ebd., 112. 52 Ebd., 114.
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
eigenen Arbeit konstruktiv in Frage zu stellen, zum Beispiel anhand der Frage, wie das Fachpersonal handeln soll, wenn es bei der Erforschung des pädagogischen Feldes des Religionsunterrichts zu der Erkenntnis kommen sollte, dass ein großer Teil des bisher in den Lehrplänen vorgeschlagenen Lernguts (Sprüche und Lieder) nicht nur unverständlich ist für die meisten Schüler, sondern dazuhin noch notorisch uninteressant.53
Nur wer über mehr verfügt als über Faktenwissen, wer ein Verständnis für die Komplexität der Lage hat, kann wirklich adäquat reagieren, und zwar nicht nur Lieder und Beispielgeschichten austauschen und den Stoff des Unterrichts in dieser Form leichter zugänglich machen, sondern umfassend begreifen, welche Fragen die Kinder und Jugendlichen bewegen und in welchem Zusammenhang mit ihrer Lebenswirklichkeit dies steht, wie es also von ihnen überhaupt erfasst werden kann. Dabei greift Wegenast implizit die Kritik auf, die innerhalb seiner Bezugswissenschaft, der Pädagogik, bereits gegenüber der dortigen »realistischen Wendung« gegen die empirische Forschung laut wurde.54 Wo man einwenden könnte, die empirische Forschung sei »im Haus der Pädagogik« ein »Einbruch der sachfremden Macht des Faktischen in die Ideenwelt der Pädagogik«,55 bekommt man von Wegenast eine klare Parteinahme für eine FachTheorie, die Dreh- und Angelpunkt des empirischen Arbeitens ist, aber darin auf empirischer Erkenntnisse angewiesen bleibt: Dass dadurch die pädagogische Theorie nicht überflüssig wird, kann jeder ermessen, der einmal vor einer Sammlung empirischer Daten gestanden hat, ohne die notwendigen Kategorien zu besitzen, um diese zu verstehen und richtig zu beurteilen. Auf der anderen Seite gilt es aber auch, dass alle pädagogische Theorie ohne empirische Vergewisserung stets unter dem Verdacht steht, über Dinge zu reden, die es so nicht gibt.56
Interessant sind die potenziellen Problemstränge empirischen Arbeitens, die Wegenast hier aufgreift oder die anhand seiner Überlegungen deutlich werden: Zum Ersten ist Empirie ein »Einbruch«. Im Bild gesprochen ist sie, zum Beispiel durch Unterschiede in Fragestellungen und Erkenntniswegen, ein Vorgehen, das von außen in die bestehende Welt wissenschaftlicher Reflexion eines Fachs eindringt und sich wenig um dessen eigene, ursprüngliche Interessen schert. Darin besteht eine Herausforderung. Empirische Methodik muss vorsichtig in Erkenntnisprozesse eingepasst werden, damit sie Bestehendes nicht vor allem verstört, sondern konstruktiv verändert. Zum Zweiten ist empirisches Arbeiten zunächst grundlegend »sachfremd«, also eine Anleihe bei einer Disziplin, in der 53 54 55 56
Ebd., 123. Wegenast bezieht sich hier auf Arbeiten des Pädagogen Heinrich Roth; vgl. ebd., 116. Ebd., 116. Ebd.
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Empirie erschließt die Komplexität der Wirklichkeit
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ein Wissen über Reflexionsprozesse mit theologischem Gehalt zunächst nicht vorkommt. Warum man, zum Beispiel in der Wahl der Methoden, die Grenzen der eigenen Disziplin überschreiten sollte und zu solchen Anleihen schreiten, das muss genau überlegt werden – vor allem das Verhältnis, das die fremde und die eigene Disziplin in Folge zueinander haben sollen oder können. Zum Dritten erhält die Empirie in dieser Wahrnehmung, um mit den Kriterien Wegenasts zu sprechen, die »Macht«, im Anschluss an die Invasion ins fremde Gebiet mit den Resultaten der eigenen Arbeit aufzutrumpfen. Das »Faktische« der Empirie zählt dann ebenso, wenn nicht mehr, als die »Ideenwelt« der Disziplin, in die sie eingedrungen ist. Oder, mit Blick auf so manche heutige Nutzung empirischen Materials gesprochen: Das »Faktische« verstellt unter Umständen den Weg zurück zur Theorie, Beobachtungen dessen »was ist« erscheinen selbst unmittelbar als Beweis für notwendige Konsequenzen, was »sein soll«, oder sie geben vor, mit welchem Gegenstand sich die Praktische Theologie in der Folge beschäftigen sollte. Das »Faktische« und seine Konsequenzen wird uns im Folgenden anhand eindrücklicher Beispiele aus der Fachgeschichte noch beschäftigen. Aus heutiger Sicht wegen der hier zu spürenden Begeisterung für gutes, also nützliches sowie unter Anwendung einer durchdachten Methodik erhobenes empirisches Material wunderbar zu lesen ist Wegenasts Forderung nach einer methodisch sauber strukturierten empirischen Forschung: Bevor Unterricht beobachtet werden kann, ist vor allem ein theoretisches Konzept notwendig. So bedarf es z. B. konkreter Vorstellungen von dem, was ein guter Unterricht ist (…). Weiter müssen wir klare Vorstellungen von dem haben, was überhaupt der Zweck unserer Beobachtung sein soll.57
Und schließlich bietet Wegenast den bis heute als Standard akzeptierten Weg der hypothesenprüfenden Verfahren: Kurzum: Am Anfang jeder Empirie steht die Theorie: Die Formulierung der Forschungsaufgabe, die Hypothesen im Blick auf die Gründe, warum der wirkliche Unterricht nicht dem Idealbild entspricht, das Idealbild selbst. Der Theorie folgt die Übersetzung der Hypothesen in mögliche Fragestellungen. Von diesen Fragestellungen hängt es dann ab, welche Beobachtungsverfahren gewählt werden. Am Schluss steht die Analyse der gewonnenen Daten.58
So macht am Ende erst die im Vorfeld der empirischen Erhebung sauber ausgearbeitete Theorie die Datensammlung zu dem methodisch kontrollierbaren Verfahren, das schließlich qualitativ hochwertige praktisch-theologische Reflexion voranbringt und diese nicht nur um Details, sondern um umfassende neue Erkenntnisse in Bezug auf die Welt, auf die hin sie reflektiert, bereichert. 57 Ebd, 119 f. 58 Ebd., 120.
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
Damit sagt Wegenast umgekehrt: Ohne eine klare Leitung durch die jeweilige Theorie eines Fachs, durch dort entwickelte Fragestellungen und Forschungsaufträge ist eine empirische Forschung unseriös, wenn nicht gänzlich unbrauchbar. Mit diesem methodisch streng kontrollierten Verfahren lässt sich die Empirie sehr klar als Werkzeug der (hier : pädagogischen) Theorie verstehen. Diese ist am Anfang bereits als Theorie darüber, »was sein soll«, vorhanden (hier : im Bild vom »guten Unterricht«) und wird durch die Ergebnisse der Erhebung im Kern nicht tangiert, nur bereichert und vertieft, in diesem Beispiel um das Wissen über Hindernisse in der bisherigen Unterrichtsgestaltung erweitert. Hier spielte die Empire eine gänzlich untergeordnete Rolle, wenn da nicht eine deutliche Abhängigkeit wäre: Wegenast stellt mit Blick auf die Theorien eines guten Unterrichts fest, »dass ein Großteil der genannten Forderungen nicht annähernd zu erfüllen ist, wenn nicht empirische Forschungen der theologischen und didaktischen Reflexion des Religionsunterrichts zur Seite gestellt werden.«59 Die Theorie ist nämlich in diesem Verständnis dann, wenn keine methodisch sauber erarbeiteten Ergebnisse empirischer Forschung vorhanden sind, umgekehrt einer anderen Art von Empirie ausgeliefert, nämlich der, die von den Beteiligten in Erfahrungen, oft auch eher in Einstellungen und Wünschen unwillkürlich vorhanden ist und die immer schon ebenso normativ gewirkt hat wie das Erfahrungswissen von Pfarrern in Gemeinden oder Lehrerinnen im Religionsunterricht. Letzteres muss dann erst wieder mühsam korrigiert werden: Wir müssen unseren durchaus subjektiven Eindrücken von der Praxis des Religionsunterrichts den Abschied geben, auf jeden Fall aber vermeiden, unsere zufälligen Eindrücke zu einem gültigen Bild des Religionsunterrichts hinaufzuqualifizieren.60
Hier hat Wegenast bei dieser flammenden Rede für mehr Empirie zur Förderung der Theoriebildung mit seiner Konzentration auf die Religionspädagogik möglicherweise einige Vorteile gegenüber Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in anderen Teilbereichen der Praktischen Theologie: Das »Pais«, der zu bildende junge Mensch, ist ebenso Gegenstand der pädagogischen Reflexion wie ein guter Unterricht. Von hier aus fällt es Wegenast leicht zu behaupten: Es ist die empirische Forschung, die die Pädagogik vor einer stets drohenden Dogmatisierung bewahren kann, und es ist wieder die empirische Forschung, die die Pädagogik in die Lage zu versetzen vermag, ihre oft so idealen Ziele auf ihre Durchführbarkeit hin zu prüfen und unter Umständen bessere Mittel zu finden, die eher die gesteckten Ziele erreichen lassen als die bisher üblichen.61 59 Wegenast, Empirische Wendung, 115. 60 Ebd. 61 Wegenast, Empirische Wendung, 118.
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Empirie erschließt die Komplexität der Wirklichkeit
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In dieser und anderen Positionierungen jener Zeit finden sich immer wieder auch Dogmatik-kritische Töne, die politisch anmuten und aus denen sich der zeitgeschichtliche Kontext des tiefgreifenden Wandels ablesen lässt: In den 1960-er und 1970-er Jahren wirken sich wissenschaftliche Strömungen wie die Kritische Theorie oder die Frankfurter Schule stark auf die Praktische Theologie aus, ebenso die enormen empirischen Aufbrüche in anderen, humanwissenschaftlichen Disziplinen wie beispielsweise in der der Soziologie, Psychologie oder Pädagogik.62 Das Ganze der Wissenschaft kommt in den Blick. Interdisziplinäres Arbeiten wird nicht nur immer reizvoller, sondern mitunter zur Pflicht. Innerhalb der Praktischen Theologie nehmen vorrangig die Seelsorgelehre, die Homiletik, die Pastoralsoziologie und die Religionspädagogik die neuen Impulse auf und reagieren auch konzeptionell darauf.63 Im Zuge dieses Aufbruchs entstehen vermehrt empirische Arbeiten wie dann später ab 1972 auch die sehr umfangreichen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD.64 Auch hier finden sich kritische Töne in Bezug auf die damaligen kirchlichen Strukturen und durch kirchliche Leitung geprägte Deutungen von Kirchenmitgliedschaft und Beteiligungsstrukturen insgesamt. So werten diese Studien implizit das »distanzierte Kirchenchristentum« auf, indem sie so manche lebensweltlich bedingten Logiken des empirisch vorfindlichen Mitgliedschaftsverhaltens wertschätzend aufschlüsseln und zeigen, wie sich christlich-kirchliche Religiosität auch (oder : gerade) außerhalb ortsgemeindlicher Strukturen in einer beeindruckenden Tiefe findet.65 Wer in dieser Phase unmittelbar nach der so genannten Empirischen Wende die Aufnahme von Empirie in das Methodenspektrum der (Praktischen) Theologie fordert, verweist in aller Regel auf einen Nachweisbedarf für die Relevanz praktisch-theologischer Forschung, der in der damaligen Zeit noch nicht zu decken war. Henning Schröer bringt das in seinem Grundlagentext über »Forschungsmethoden der Praktischen Theologie« auf den Punkt, indem er sagt: Die Relevanz empirischer – aus den Sozialwissenschaften übernommener – Methoden (…), insbesondere deren Trag- und Reichweite, ist erst nach Durchführung einer genügenden Anzahl entsprechender Untersuchungen beurteilbar. Die zur Zeit vielfach 62 Dem ging eine Phase des Aufbruchs empirischer Wissenschaften etwa in den USAvoraus, die in den 1950-er und 1960-er Jahren in Deutschland stark aufgegriffen wurde. 63 Einen Überblick gibt etwa Yorick Spiegel in seinem gleichfalls programmatischen Beitrag: Spiegel, Praktische Theologie. In methodischer Hinsicht wegbereitend wurde der Beitrag von Rolf Zerfaß im selben Buch: Zerfaß, Praktische Theologie. 64 Hild, Kirche. Zu den bekanntesten frühen empirischen Arbeiten im Bereich der Praktischen Theologie zählen die von Greinacher (1955), Köster und Wölber (beide 1959); vgl. Greinacher, Pfarrei; Köster, Die Kirchentreuen; Wölber, Religion. 65 Dies in seiner berühmtesten Erscheinungsweise in der Analyse der Erzählinterviews im Rahmen der dritten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD »Fremde Heimat Kirche«; vgl. Engelhardt/Loewenich/Steinacker, Fremde Heimat.
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
existierende Hoch- oder Geringschätzung der Relevanz aus systematischen Prämissen ist voreilig und ineffektiv.66
Zeitgleich findet dieses Methodenspektrum zur Wahrnehmung des komplexen empirischen Gefüges in der folgenden Zeit, vor allem in den 1970er und 1980er Jahren, seinen geordneten Eingang in die Ausbildung von Theologinnen und Theologen. Ein markantes Datum ist die Gründung der Pastoralsoziologischen Arbeitsstelle in der Evangelischen Landeskirche Hannovers unter der Leitung von Karl-Fritz Daiber im Dezember 1971 und damit die Implementierung umfangreicher empirisch-soziologischer Inhalte in die Ausbildung von Vikarinnen und Vikaren, in der Folge auch in anderen Landeskirchen. Begleitet wird dies von der steten Feststellung der in einer solchen Ausbildung Aktiven, dass die Lehre empirischer Forschung für den kirchlichen Handlungsraum kein einfaches Unterfangen sei.67 In dieser Phase werden auch die großen Unterschiede zwischen verschiedenen empirischen Erhebungs- und Analysemethoden zur Kenntnis genommen und die unterschiedlichen Zugriffe auf daraus zu erwartende Erkenntnisgewinne bezogen – ein Fortschritt für die Fachgeschichte und zugleich ein deutlich höherer Anspruch an die Reflexion der Ergebnisse, was die bereits genannten kritischen Fragen wie die nach dem Verhältnis zum Normativen noch brisanter macht. In der Wahrnehmung von Komplexität ergeben sich folglich immense Erkenntnisgewinne – oder zumindest das Versprechen derselben nach Abschluss weiterer Studien –, aber zugleich die Notwendigkeit, die Theologie sinnvoll damit in Beziehung zu setzen.
2.4
Empirie unterstützt die Organisation Kirche
Aus Sicht derer, die aktuell kirchliches Handeln gestalten und steuern, ist der zentrale Nutzen empirischer Forschung für die Praktische Theologie sicherlich der einer erheblichen Erleichterung des Zugangs zu den so genannten »Zielgruppen« des kirchlichen Handelns. Damit die Verkündigung auch »ankommt« 66 Schröer, Forschungsmethoden, 220. 67 Beispielhaft in der Dokumentation eines Methodenseminars zur empirischen Sozialforschung innerhalb der Praktischen Theologie am Beispiel des Konfirmandenunterrichts: Bäumler/Birk/Kleemann/Schmaltz/Stoller, Methoden. Im abschließenden Dokumentationsteil beschreibt Christof Bäumler, wie Studierende sich immer wieder unwillkürlich mit Personen aus den Fallbeispielen identifizierten und damit eine distanzierte Beobachtung kaum gelang. Zudem kamen bei den eigenen Versuchen der Anwendung empirischer Methoden unmittelbar die komplexen Anforderungen an theoretische Reflexion zur Sprache. So ist ein zentraler Lerneffekt dieses Projekts, dass empirische Forschungsmethoden zuweilen »allmächtig« erscheinen mögen, zuweilen auch als »Instrumente der Inquisition und Manipulation«, dass sie aber vor allem selbst eine enorme Herausforderung an das Können der Nutzenden sind. Ders., Dokumentation, 256 – 269, Zitate: 263.
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und »Menschen erreicht«, so die gängigen Formulierungen, damit Seelsorge oder Bildungshandeln sich positiv auswirken können, braucht es Erkenntnisse über Kommunikationsprozesse und Wahrnehmungsgewohnheiten auf Seiten der Zuhörerschaft, über psychische Vorgänge oder gesellschaftliche Wandlungsprozesse, mit denen es die Handelnden zu tun bekommen. So atmen homiletische, poimenische, religionspädagogische, liturgiewissenschaftliche oder kybernetische Entwürfe Ende des 20. Jahrhunderts und Anfang des 21. Jahrhunderts vielfach die Erkenntnisse erfahrungswissenschaftlicher Forschung.68 Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: Es geht gar nicht mehr ohne das Wissen über die »Kundschaft«, über deren Bedürfnisse und Lebenswirklichkeit. Zu klären ist jetzt, welche Bedeutung ein solches Wissen für die Kirche und ihr Leitungshandeln haben kann oder soll – und zwar nicht nur im Sinne einer Mehrung von Information zur Vorbereitung zweckmäßiger Entscheidungen, sondern hin auf eine enge Anbindung kirchlichen Leitungshandelns an eine praktisch-theologische Reflexion. In den Darstellungen Wegenasts war ein solcher Bedarf an lebensweltlichen Kenntnissen schon deutlich sichtbar, und zwar um der Relevanz des konkreten kirchlichen Handelns willen: Der Religionsunterricht braucht diese Kenntnisse über die Interessen der Kinder und Jugendlichen, damit er überhaupt den jeweiligen Gegenstand so behandeln kann, dass er für die Schülerinnen und Schüler relevant wird. Wenn nun die gegenwärtige praktisch-theologische Theoriebildung immer wieder auch Ergebnisse empirischer Forschung in ihre Reflexion einbezieht, berücksichtigt sie eine solche Relevanz religiöser Themen für den Menschen ganz grundsätzlich. Wegenast war noch der Meinung, es müsse gelingen, den Religionsunterricht interessant und für die Kinder und Jugendlichen bedeutsam zu gestalten, wenn nur deren Lebenswirklichkeit und damit ihre Interessen berücksichtigt würden. In seiner Vorstellung – beispielhaft für die Haltung vieler praktisch-theologisch Arbeitenden zu seiner Zeit – war »nur« die praktisch-theologische Theorie und die sich aus ihr speisende Praxisausbildung (hier : die Didaktik) im Zentrum der Kritik, weil sie in einer zu großen Distanz zu den Zielgruppen des jeweiligen Handlungsfeldes und damit häufig blind für deren Interessen und Bedürfnisse und – dahinter liegend – deren Denkwelt sei. Parallel zu dieser Position, die Ergebnisse aus empirischer Forschung müssten um einer Nähe zu verschiedenen Zielgruppen willen stark mit theologischer Theorie in Beziehung gesetzt werden, entwickelten und verstärkten sich andere, die diese Chancen der Nähe zu möglichen Zielgruppen grund68 Unterschiedlich sind hier die Bereiche empirischer Wissenschaft, auf die Bezug genommen wird, z. B. die soziolinguistische Forschung, Biographieforschung, Religions- und Kirchensoziologie etc.
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
sätzlich hinterfragten und stark mit den erheblichen Krisengefühlen in der evangelischen Kirche in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts korrelierten. Den Kern solcher Positionen bildeten grundlegende Zweifel, ob nicht das ausdrücklich am Menschen orientierte kirchliche Handeln bereits einen erheblichen Teil seiner Zielgruppen verfehlen könnte und kirchliches Handeln darin grundlegend in Frage gestellt sein könnte, weil immer größere Teile der Bevölkerung gar nicht mehr ohne weiteres auf kirchliche Themen ansprechbar seien, ganz unabhängig etwa von der Güte von Verkündigung oder Unterricht.69 Grundsätzlich sind Krisenwahrnehmungen in der theologischen Reflexion nichts Außergewöhnliches. Sichtet man die praktisch-theologische Literatur der vergangenen 200 Jahre, so atmet manches Werk eine gewisse Skepsis oder sogar ein zuweilen sehr ausgeprägtes Krisenbewusstsein in Bezug auf die Situation der Kirche. Zunächst waren es gesellschaftliche und politische Umbrüche, infolge derer die Kirchen an Macht und Einfluss verloren. Es waren Zeiten mit stark erhöhten Zahlen von Kirchenaustritten (in Folge der 1968er-Bewegung und der Wiedervereinigung) und einem starken kulturellen Wandlungsprozess, die eine Distanz der Kirche von den Menschen oder auch umgekehrt sichtbar machten.70 Nun geht es in den Diskursen weniger um Kirchen und deren Handeln, sondern vielmehr um Religion und ihre Stellung in der Gesellschaft allgemein, häufig in Rückgriff auf Gesellschaftstheorien wie ganz zentral den systemtheoretischen Ansatz von Niklas Luhmann, der bis in die Gegenwart stark rezipiert wird.71 Schon seit den 1950er Jahren wird in der deutschen Religionssoziologie die zunehmende Pluralisierung innerhalb der Gesellschaft und darin die Säkularisierungsthese diskutiert und die Bedeutung einer solchen Säkularisierung herausgearbeitet.72 Jetzt ist die Bedeutung von Religion – nicht nur die einer christlichen Kirche – innerhalb der Gesellschaft grundsätzlich in Frage gestellt. Mitte der 1950er Jahre findet sich etwa in einer Studie Tenbrucks in der dortigen Interpretation von empirischem Material die These, bei der »Kirchenferne« der untersuchten Menschen handele es sich nicht um eine bewusste Abkehr von der Kirche, sondern um eine »Beziehungslosigkeit zu ihr«.73 Die Härte derartiger 69 Zu finden als Indifferenzthese bei Pollack, Säkularisierung, 139 ff. 70 Umstritten war, ob eine solche vor allem im subjektiven Gefühl der Verbundenheit festzumachen sein sollte oder vielmehr in faktischen Veränderungen wie sinkenden Taufzahlen oder Beteiligungsquoten. Derartige differenzierte Analysen der Krise und ihrer Dimensionen finden sich bis in aktuelle Interpretationen der Daten der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen; vgl. Pollack, Formen. 71 Luhmann, Religion; ders., Organisierbarkeit. 72 So etwa bei Goldschmidt im Jahr 1959, der feststellt, die alte, unter anderem bei Max Weber vorfindliche Frage »nach der religiösen Bedingtheit sozialen Verhaltens« müsse nun umgekehrt gestellt werden als »Frage nach der sozialen Bedingtheit derzeitigen religiösen Verhaltens«; vgl. Goldschmidt, Religionssoziologie, 143. 73 Vgl. Tenbruck, Kirchengemeinde, 125. Hierin ist, wenngleich mit etlichen zu hinterfragen-
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Diagnosen übertrifft um Vieles das, was an Krisenbeschreibungen bisher erstellt worden war. Jetzt ist die Reichweite christlicher Theologie ganz grundsätzlich in Frage gestellt. Der Höhepunkt solcher Krisendiagnostik wird beispielsweise in Schriften im Bereich der Religions- oder auch Kirchensoziologie in den 1960er und 1970er Jahren erreicht, etwa in der Schrift von Joachim Matthes mit dem prägnanten Titel »Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft« und einer bahnbrechenden Sicht auf Kirchenmitgliedschaft und Kirchenbindung.74 Hier mag man zunächst stocken – natürlich ist Kirche zu jeder Zeit Teil einer Gesellschaft, wie könnte eine auf die Gesellschaft bezogene Institution oder Organisation aus dieser auswandern? Grundlegend dafür ist jedoch ein Denkmodell, das in der Folge die evangelische Kirche stark bewegt hat und letztlich zu dem bis heute andauernden Großprojekt einer Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung in der EKD als erster und in weiten Teilen einzigen deutschen Längsschnitt-Studie über Kirchenmitgliedschaft und Kirchenbindung geführt hat.75 So beschreibt Matthes die Kirche als soziales Gebilde, in dem »schon die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Vorgänge (…) weithin durch die dem innerkirchlichen Leben heute eigene Sprach- und Begriffswelt blockiert zu sein scheint.«76 Matthes summiert zunächst ganz pauschal: »Die Kirche und die sich zu ihr bekennende Christenheit scheinen an den Rand der Gesellschaft gedrängt worden zu sein.« Im Folgenden geht er jedoch einen Schritt weiter und interpretiert vornehmlich am Beispiel der Ortsgemeinde die Binnenstrukturen dieser Situation: Nur noch wenige Gruppen der Bevölkerung nehmen regelmäßig und intensiv am kirchlichen Leben teil, und zwar – wie sich bei genauerem Zusehen zu zeigen scheint – eben jene Bevölkerungsgruppen, die ihrerseits nicht in den Zentren des gesellschaftlichen Lebens stehen (die Alten, die Hausfrauen, Kinder und Jugendliche) oder die in traditionellen, vorindustriell geprägten Berufen tätig sind (kleine Beamte, Bauern). Die Vermutung drängt sich auf, die Kirche sei eine »Ehe« mit den »Desintegrierten der Gesellschaft«77 eingegangen, und ihre Rolle in der modernen Gesellschaft bestehe im wesentlichen darin, das Bedürfnis nach »Selbstwertbestätigung«78 dort zu erfüllen, wo
74 75
76 77 78
den Voraussetzungen von Seiten der Theologie und deren Verständnis von »Kirche« und »Kirchlichkeit« bereits die Spur dessen angelegt, was sich in der gegenwärtigen Religionssoziologie als »Indifferenzthese« durchgesetzt hat; vgl. Pollack, Säkularisierung. Matthes, Emigration. Vgl. den forschungsgeschichtlichen Überblick bei Wegner, Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen, 295. Wegner schildert das Werden der Mitgliedschaftsuntersuchungen und darin das theoretische Wirken von Joachim Matthes. Die damit verbundenen theoretischen Implikationen nennt Wegner ein »Paradigma«, das im Folgenden über Jahrzehnte die kirchensoziologische Forschung beeinflusst hat. Matthes, Emigration, 9. Hier bezieht sich Matthes auf Wölber, Religion. Hier bezieht sich Matthes auf Köster, Die Kirchentreuen.
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
es nach den »Maßstäben der gegenwärtigen Gesellschaft« nicht erfüllt wird, oder als »ein Medium der Besinnung auf vergangenes (gesellschaftliches) Ansehen« zu dienen. Bestimmt sich die soziale Zusammensetzung derer, die sich zur Kirche zählen, nach derartigen Gesichtspunkten, dann ist in der Tat schwer einzusehen, wie von ihnen eine gestaltende Wirkung auf die großen, aber auch die kleinen Entscheidungen des modernen gesellschaftlichen Lebens ausgehen soll.79
Die Pointe einer solchen Position: Matthes stellt hier nicht nur eine erhebliche Distanz vieler Menschen zur Kirche dar, was sich möglicherweise schlicht als ein Resultat gesellschaftlichen Wandels und einer im Vergleich eher großen Behäbigkeit der Kirche interpretieren ließe, sondern er beschreibt diese Distanz als Abschließungsprozess, in dem die Bewegung der Distanzierung in weiten Teilen von der Kirche selbst ausgeht, also von ihr aktiv betrieben oder zumindest stark begünstigt wird.80 Kirche tritt hier als Gestalterin ihrer Strukturen auf – sie hat quasi die Wahl, ob sie sich den von der Gesellschaft Marginalisierten und an Gestaltungsmacht Armen (den »Desintegrierten«) zuwenden möchte, wie in den Augen Matthes’ bisher geschehen, oder ob sie auf die Gesellschaft ihrerseits eine »gestaltende Wirkung« ausüben möchte, indem sie gezielt auf die »Zentren des gesellschaftlichen Lebens« hin handelt.81 Ergebnisse empirischer Forschung dienen an dieser Stelle dazu, einerseits mögliche Zielgruppen zu identifizieren und die Kenntnis über sie zu vertiefen, andererseits darüber hinaus den sozialen Kontext kirchlichen Handelns zu verstehen und die Bedeutung der einen oder anderen Handlungsoption darin ausloten zu können. Insofern Empirie auf diesem Weg das praktisch-theologische Nachdenken über solche Fragen unterstützt, erbringt sie einen wesentlichen Beitrag zum kirchenleitenden Handeln, im weitesten Sinn zur Förderung der Kirche als Sozialform des Religiösen.82 Die Thesen Joachim Matthes’ und die Diskurse seiner Zeit um die Distanz zwischen Kirche und Gesellschaft haben innerhalb der Kirche den Eindruck 79 Matthes, Emigration, 8 f. Ernst Lange prägte den Ausdruck »Ensemble der Opfer« für die sich in einer Ortsgemeinde üblicherweise einfindende Gruppe der Trostbedürftigen. Vgl. ders., Chancen, 302. 80 Ähnlich beschreibt Lange die Desintegration als von der Kirche selbst ausgehend: »Heute aber antwortet die Kirche in Wort, Tat und Ordnungen weithin auf Fragen, die gar nicht mehr gestellt werden.« Ebd., 124. 81 Religionssoziologisch gesehen markiert eine solche Positionierung die Wende zwischen einem Verständnis von Kirchenbindung, das durch Übereinstimmung mit Glaubensinhalten gekennzeichnet ist, hin zu einem soziologischen Verständnis der Kirche als sozialem Gebilde, in dem Zugehörigkeit über unterschiedlichste Bindungs- und Beteiligungsfaktoren hergestellt werden kann; vgl. Matthes, Emigration und Wegner, Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen. 82 So auch das Ziel der Theologie Schleiermachers, s. o. Siehe auch die Ausführungen von Volker Drehsen zum Theorie- und Praxisbezug der Praktischen Theologie: Ders., Konstitutionsbedingungen, 35 – 46.
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verstärkt, mit einer durch empirische Arbeiten erweiterten Kenntnis über »die Gesellschaft« könne – und müsse – man das kirchliche Handeln neu ausrichten. Die Thesen der Pluralisierung und Säkularisierung sowie einer »Distanz der Kirche zur restlichen Gesellschaft« wurden zur theoretischen Basis etwa der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD und vor allem der Interpretation ihrer und anderer Umfragedaten in den kommenden Jahrzehnten.83 Daraus ergab sich kirchlicherseits eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Kirchenmitgliedschaft und die Kirchenbindung – immer stärker unabhängig von Glaubensinhalten. Man wollte wissen, wie denn die Mitglieder zu ihrer Kirche stehen, wie die Mitgliedschaft durch eine personale Bindung oder durch soziale Integration in kirchliche Strukturen, durch Erwartungen, die konkrete Nutzung von Angeboten und eigenes Engagement geprägt ist. Aus der These Matthes’ bzw. der Unterstellung, die in den Gemeinden präsenten Mitglieder kämen selten aus den »Zentren des gesellschaftlichen Lebens« und in der Konsequenz sei das distanzierte Verhalten der anderen Mitglieder gewissermaßen folgerichtig, entwickelte sich eine Art Rehabilitationsbewegung für das nicht mit Beteiligung gekoppelte Mitgliedschaftsverhältnis. So war etwa in den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD eine ausdrückliche Wertschätzung für die Mitglieder in Distanz oder Halbdistanz zugleich Ausgangspunkt – gegeben durch Thesen wie die Joachim Matthes’ – und Ergebnis der Untersuchung.84 Die Analyse einer impliziten Logik der Distanz erreichte schließlich in der dritten Untersuchung mit der Erhebung im Jahr 1992 und den folgenden Erzählinterviews ihren Höhepunkt, zu erkennen im programmatischen Titel »Fremde Heimat Kirche«. Hier wird zunächst die Irritation bisheriger Grundannahmen bestätigt, eine hohe inhaltliche Übereinstimmung der Kirchenmitglieder mit kirchlichen Lehren oder ihr deutliches Verbundenheitsgefühl mit der Kirche müsse sich in einer hohen Beteiligung am kirchlichen Leben niederschlagen – was nicht der Fall zu sein scheint, wie die Erfahrungen aus dem Forschungsprozess zeigen: Zu Beginn unserer Arbeit an den Interviews stand eine Irritation: Wir hatten »distanzierte« Kirchenmitglieder gesucht – Leute, die von sich selbst behaupten, wenig mit 83 Einen ausführlichen, vielschichtigen Überblick bietet Feige, Kirchenmitgliedschaft. 84 Dies klingt im Vorwort zur ersten Mitgliedschaftsuntersuchung dann etwa so: »Das vordergründige Bild läßt auf eine wachsende Entfremdung der Mitglieder von ihrer Kirche schließen (…) Demgegenüber kommt aber unsere Erhebung zur Kirchenmitgliedschaft zu einem unerwartet positiven Ergebnis. Die Notwendigkeit von Kirche wird von der überwiegenden Mehrzahl ihrer Mitglieder eindeutig bejaht. Selbst in dem Personenkreis, der aus der Sicht der Ortsgemeinde als kirchlich distanziert einzustufen ist, bekennen viele eine über die formale Zustimmung hinausgehende persönliche Verbundenheit.« Hild, Kirche, 2. Auch die Konzeption der zweiten Erhebung setzt die Erkenntnis voraus, »in wie starkem Maße die evangelische Kirche im Verständnis ihrer Mitglieder verwoben ist mit der gesellschaftlichen und kulturellen Lebenswelt«. Vgl. Hanselmann/Hild/Lohse, Kirchenmitgliedschaft, 19.
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
der Kirche zu tun zu haben. Begegnet aber waren wir Menschen, die engagiert ihre Erfahrungen mit der Kirche erzählten (…) und die Intensität, mit der sie diese schilderten, ließ aufhorchen. Sind das die »Distanzierten«? Sind das diejenigen, von denen wir behaupten, sie hätten ja doch kein Interesse mehr an der Kirche und ihr Austritt sei nur noch eine Frage der Zeit oder der günstigen Gelegenheit?85
Damit ist diese Distanzierung dann als eine solche diagnostiziert, die zumindest in Teilen von der Kirche und ihren Gemeinden selbst ausgeht und zu fatalen Konsequenzen führt. Und dies macht wiederum das eigentliche Problem der Kirche aus, wie es schon 1964 bei Matthes zu lesen war86 und hier neu markiert wird: Gemessen an entsprechenden Indikatoren, wie Beteiligung am kirchlichen Leben (…) lassen sich allerdings auch die Interviewten – mit wenigen Abstrichen – der Gruppe der sogenannten Distanzierten zurechnen, was offensichtlich auch ihre eigene Perspektive beschreibt. Die Selbsteinschätzung als jemand, der eigentlich wenig mit der Kirche zu tun hat, folgt ja gemeinhin solchen Indikatoren, die sich am Idealtypus des kerngemeindlich geprägten Kirchenmitglieds orientieren – daran gemessen kann man sich nur als abständig, latent defizitär oder eben als »distanziert« einschätzen.(…) Diese Beobachtungen stimmen nachdenklich, lassen sie doch erahnen, wie stark die Distanzierungsproblematik eine von zwei Seiten beeinflusste Beziehungskonstellation ist: Die Konzentration auf ein kerngemeindliches Mitgliedschaftsverhalten setzt eine Distanzierungs- und Entfremdungsspirale frei und führt zu ihrer wechselseitigen Stabilisierung.87
Die mit diesen Ergebnissen erreichte Funktion des Empirischen für die Praktische Theologie bildet in einer ganz eigenen Weise Anforderungen an eine Reflexion dieses Vorgehens aus, insofern hier in höchstem Maße normative Fragen berührt werden: Wenn eine Kirchenleitung oder die Verantwortlichen in einer Ortsgemeinde wissen, was ihre Mitglieder erwarten oder wie diese sich die Funktion von Kirche innerhalb ihrer Lebensführung vorstellen, bedarf es dennoch genauer Überlegungen darüber, in welchem Verhältnis dies dann zu dem stehen kann, was Kirche theologisch gesehen sein soll und wie sich entsprechend ein sinngemäßes Handeln darstellen müsste. Am Beispiel der EKD-Mitgliedschaftsuntersuchungen möchte ich diese Aufgabe näher aufschlüsseln: Mit diesen Studien betritt die Evangelische Kirche in Deutschland erstmalig ganz bewusst den Boden der Marktforschung und erreicht eine Art Analogie zu Kundenbefragungen von Wirtschaftsunternehmen. Den Untersuchungen liegt 85 Das Zitat stammt von der Studien- und Planungsgruppe der EKD, bestehend aus PetraAngela Ahrens, Wolf-Jürgen Grabner, Rüdiger Schloz, Thomas Stahlberg und Petra Zimmermann; vgl. Engelhardt/Loewenich/Steinacker, Fremde Heimat, 58 f. 86 Siehe oben: Matthes, Emigration, 8 f. 87 Das folgende Zitat stammt ebenfalls von der Studien- und Planungsgruppe in Engelhardt/ Loewenich/Steinacker, Fremde Heimat, 59 u. 61.
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dabei eine handlungstheoretisch gestützte Überzeugung zugrunde: Mitgliedschaft ist in ihrer Tiefenstruktur zu verstehen anhand des konkreten Teilnahmeverhaltens der Mitglieder, anhand der Erwartungen an ein bestimmtes Handeln kirchlich Verantwortlicher oder (umgekehrt:) der Austrittsbereitschaft. Wo dann eine Untersuchung genaue Daten über all diese Elemente einer individuellen Nähe zur Kirche liefert, erscheint das Defizit mit Händen zu greifen: entweder als Defizit der Kirchenmitglieder, die in ihrem Verhalten den Erwartungen der Kirchenleitung an die Gemeinschaft der Glaubenden nicht entsprechen, als Defizit der Gemeinden und des kirchlichen Personals, denen es nicht gelingt, mit den Mitgliedern alltagsnah eine Kommunikation des Evangeliums zu betreiben, oder auch – nach Matthes – als Defizit der Kirche insgesamt, indem sie sich lediglich auf bedürftige Randgruppen konzentriert und den Großteil ihrer Mitglieder aktiv ausschließt, wenn man nicht sogar mit Matthes so weit gehen möchte, die in den Gemeinden aktiven Kirchenmitglieder selbst als defizitär zu beschreiben, weil es ihnen an echter Gestaltungsmacht innerhalb der Gesellschaft mangelt. Tatsächlich sind die Ergebnisse dieser Studien ernüchternd: 63 % der Mitglieder der Evangelischen Kirche in Deutschland geben im Jahr 2002 an, sich, abgesehen von einem möglichen Gottesdienstbesuch, gar nicht am kirchlichen Leben zu beteiligen.88 Die genannten Mitgliedschaftsgründe richten sich vorrangig auf das lebensbegleitende Handeln der Kirche in Form von Kasualien (finden sich also in einer stark individualisierten Form),89 auf das soziale Handeln von Kirche v. a. an Bedürftigen (das vielfach nicht mit der eigenen Person in Verbindung gebracht wird)90 oder auf eine wenig spezifische Form des »Christlichen«.91 Was man gemeinhin als Kernbereiche einer christlichen Gemeinde beschreiben könnte, die Beschäftigung mit dem Glauben als dem Nichtalltäglichen, die aktive Mitarbeit und die Einbindung in eine Gemeinschaft, wird kaum noch von 20 % der Mitglieder als wichtiger Grund für die Zugehörigkeit zur Kirche bezeichnet.92 Noch jenseits jeder Bewertung lässt sich bereits auf der Ebene der Daten eine erhebliche Differenz zwischen unter88 Vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung; Tabelle Deutschland gesamt, 64, Aufspaltung auf S. 456. 89 Der Satz »Ich bin in der Kirche, weil ich auf kirchliche Trauung oder Beerdigung nicht verzichten möchte.« findet die deutliche Zustimmung von 50 % der Kirchenmitglieder (Wahl der Antwortmöglichkeit 6 oder 7 auf 7-stufiger Skala von 1 = »trifft überhaupt nicht zu« bis 7 = »trifft voll und ganz zu«. Ebd., 61. 90 Der Satz »Ich bin in der Kirche, weil sie etwas für Arme, Alte und Kranke tut.« findet die deutliche Zustimmung von 43 % (alte Bundesländer) bzw. 54 % (neue Bundesländer) der Kirchenmitglieder. Ebd. 91 Der Mitgliedschaftsgrund »weil mir der christliche Glaube etwas bedeutet« findet ebenso fast bei der Hälfte der befragten Mitglieder eine klare Zustimmung. Ebd. 92 Ebd.: Frage R (nicht alltägliche Fragen), Frage J (Gemeinschaft), Frage G (Mitarbeit).
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
schiedlichen Interessen gegenüber der Kirche ausmachen, die miteinander kaum vereinbar erscheinen. Eine Kirche, die sich solchen Ergebnissen gegenüber sieht, bedarf einer praktisch-theologischen Reflexion dieser Ergebnisse: Ist eine Kirchenmitgliedschaft mit sporadischer Teilnahme am kirchlichen Leben eine akzeptable Form? Oder umgekehrt: Wenn lebensweltliche Einbindung von Religion und Kirchenbindung nachweislich in der Regel anders funktioniert als über die Teilnahme am Leben einer Ortsgemeinde, ist dann die theoretische oder normative Setzung der Parochie und ihrer Kernfunktionen korrekturbedürftig? Welche Ziele hat – theologisch gesprochen – kirchliches Handeln auf dem so beschriebenen religiösen Feld?93 Bestreitet man die damals durch Matthes und andere getroffenen Vorannahmen und geht man etwa davon aus, dass sich Kirchenmitgliedschaft im Wesentlichen durch Übereinstimmung mit einem Grundbestand an Glaubensaussagen konstituiert, lesen sich die Daten in vieler Hinsicht anders und lassen sich daraus ganz andere Schlüsse ziehen. Beispielsweise können dann die (so gesehen doch recht zahlreichen) in Gemeinden Aktiven als Kerngestalten des kirchlichen Lebens verstanden und bei den wenig Beteiligten die immer noch hohe Anschlussfähigkeit an Grundaussagen des christlichen Glaubens als Kennzeichen für eine hohe Bindungskraft der Kirche verstanden werden. Hier müsste dann viel eher die Schwierigkeit problematisiert werden, unter den Bedingungen der Pluralisierung eine religiöse Sozialisation neuer Mitglieder sicherzustellen, um den Bestand an Übereinstimmung mit Glaubensaussagen zu bewahren. Hier erscheinen Ergebnisse empirischer Arbeiten einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Vorannahmen wie ein Kippbild, das, so oder so betrachtet, völlig gegenläufige Resultate hervorbringen kann. Dass Daten von solcher Qualität und Diskussionsbeiträge dieser Tragweite den kirchenleitenden Gremien durch die EKD-Studien in dieser Form bereitgestellt werden, ist zugleich ein immenser Gewinn und eine immense Herausforderung – der sich nicht nur Kirchenleitungen, sondern ebenso praktisch-theologische Reflexionen stellen müssen. Hier mag es so scheinen, als ob der durch die Nutzung empirischer Materialien erreichte Gewinn proportional zum dadurch erhobenen Anspruch an weitere Reflexionsleistung steht. So nützt Empirie hier ebenso wie sie gewissermaßen neue Probleme schafft und, wo diese nicht bearbeitet werden, zu
93 In den Jahrzehnten nach der »Empirischen Wende« wurden derartige Fragen zunehmend zum Gegenstand der Diskussion in der Praktischen Theologie und Kirchensoziologie: vgl. etwa die Auseinandersetzungen im Spannungsfeld von Theorie und kirchlicher Praxis bei Daiber/Lukatis, Praxisrelevanz.
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Empirie sichert der Praktischen Theologie den Rang einer Wissenschaft
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möglicherweise fundamentalen Fehldeutungen und unsinnigen Entscheidungen führen kann.94
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Empirie sichert der Praktischen Theologie den Rang einer Wissenschaft
Eine Funktion ganz anderer Art in dieser Zusammenschau von Funktionen bzw. Leistungen empirischer Verfahren im Raum der Praktischen Theologie ist die folgende: Hier stellt nicht primär die Einordnung des Empirischen in die Theologie, sondern die Behauptung der Praktischen Theologie als Wissenschaft im Kontext anderer Wissenschaften den Zielpunkt dar. Karl-Fritz Daiber, einer der Vordenker der Nutzung empirischer Forschung im Raum der Theologie, hat dies in seinem Werk »Grundriss der Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft« eindrücklich formuliert, indem er unter der Prämisse einer als Handlungswissenschaft agierenden Praktischen Theologie das Verfahren der Theoriebildung beschreibt und dabei die sozialwissenschaftliche Analyse als unmittelbar notwendigen Bestandteil postuliert: Die Einbeziehung der Sozialwissenschaften steht innerhalb der Praktischen Theologie nicht zur Disposition. Auf sie zu verzichten, hieße den Wissenschaftscharakter der Praktischen Theologie weitgehend aufgeben. Dieser Verzicht würde nämlich bedeuten, dass die praktisch-theologische Erkenntnis vorwiegend mit der Primärerfahrung des einzelnen Theologen arbeiten muss. Dies ist zwar oft im Alltag der Praxis nicht anders möglich, im Rahmen eines wissenschaftlichen Erkenntnisvorgangs müssen aber Lösungsmöglichkeiten gesucht werden, die ein höheres Maß intersubjektiver Ergänzung und Kontrolle gewährleisten.95
Daiber ordnet die Funktion der empirisch-sozialwissenschaftlichen Forschung in den Kontext anderer theologischer Vorgehensweisen ein, etwa die Überprüfung von Theorien »im Kontext biblischer und kirchlicher Tradition«.96 In dieser Funktion empirischer Forschung im Rahmen der Praktischen Theologie geht es nicht um eine Diskussion einzelner möglicher Nutzenaspekte durch eine Art 94 Als Beispiel für einen wenig angemessenen Umgang mit Ergebnissen empirischer Forschung kann der umfangreiche Ankauf von Daten aus Milieuanalysen durch Landeskirchen dienen, wo eine umfassende praktisch-theologische Reflexion über Rahmenbedingungen dieser Nutzung häufig unterbleibt; s. u. Abschnitt 3. Hier wurde aus der empirischen Analyse im Rahmen der EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung geschlossen, das Verständnis einer milieuspezifischen Interessenlage unter den Kirchenmitgliedern sei aufschlussreich. Es wurde in der Umsetzung jedoch die Reflexionsebene dieser vielfältigen Interessenlagen übersprungen. Zu sachgemäßen Verfahren der Nutzung empirischen Materials vgl. die Abschnitte 4.2 und 4.3 sowie der Abschnitt 5. 95 Daiber, Grundriss, 120. 96 Ebd.
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
Zukauf von Methoden in einem außertheologischen Bereich der Wissenschaft. Es geht um die notwendige Nutzung von Verfahren (und darin: von theoretischen Zugängen), um die Wissenschaftlichkeit zu gewährleisten, also eine Intersubjektivität und Kontrollierbarkeit von theoretischer Reflexion herzustellen. Die Praktische Theologie ist darin, und das reflektiert Daiber in seinen Schriften immer wieder, von sich aus keine Wissenschaft ohne die Berücksichtigung von Erkenntnissen der empirischen Forschung. Aber diese erfolgt, wenn sie jenseits der Sozialwissenschaften und ihrer Standards geschieht, intuitiv, singulär und den Kriterien wissenschaftlichen Vorgehens nicht angemessen. In dieser Form ist die Position Daibers eine immense Zuspitzung des bisher als Nutzenaspekte empirischer Wissenschaft Erfassten. Hier geht es nicht mehr um eine Bereicherung Praktischer Theologie, sondern um eine zwingende Bezugnahme und um die Legitimation der Praktischen Theologie als Wissenschaft allgemein. Diese Position ist aktuell durchaus von Theoretikerinnen und Theoretikern der Praktischen Theologie geteilt und findet sich auch in Texten, die einen Überblick über die gegenwärtige Lage der Disziplin verschaffen wollen, etwa bei Christian Grethlein, der, etwas vorsichtiger, nicht unmittelbar den Wissenschaftscharakter der Praktischen Theologie, aber sehr wohl die Qualität ihres Zugangs zum Gegenstand von der Bezugnahme auf empirische Forschung abhängig macht: Denn die sog. Erfahrungswissenschaften, also vorwiegend empirisch arbeitenden Wissenschaften wie Psychologie, Soziologie oder Pädagogik, präsentieren den gegenwärtig allgemein anerkannten wissenschaftlichen Zugang zur menschlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit.97
In diesem Zusammenhang von Praktischer Theologie und empirisch arbeitenden Wissenschaften, das sei hier abschließend bemerkt, ist von den hier Genannten an keiner Stelle gefordert, in der Konsequenz auch die Theoriebildung in direktem Bezug auf solche Kooperationspartner vorzunehmen. Die Theoriebildung verbleibt in alleiniger Verantwortung der Theologie als der Wissenschaft, innerhalb der auch das Erkenntnisinteresse formuliert wurde.98 Die Beteiligung empirischer Wissenschaften an theologischer Reflexion ist verstanden in einem »Ergänzungsverhältnis«99, nicht in einer Verschmelzung beider Zugänge zu einer gemeinsamen Methodik oder Theoriebildung.
97 Grethlein, Empirie, 289. 98 So auch die ausdrückliche Konzeption vieler Versuche der Nutzung empirischer Arbeit für die Theoriebildung der Praktischen Theologie; vgl. beispielhaft Birk, Möglichkeiten, v. a. 20. 99 Daiber, Grundriss, 115.
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Empirie verhilft zum Respekt vor der Subjektivität des Glaubens
2.6
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Empirie verhilft zum Respekt vor der Subjektivität des Glaubens
Ein letzter Impuls, der weniger unmittelbar als Nutzen empirischer Arbeit, aber sehr wohl als wesentlicher Impuls für die Entwicklung der (nicht nur Praktischen) Theologie verstanden werden kann, geht von der Bewegung rund um die heute so genannte »Empirische Theologie« aus, die sich, mit unterschiedlichen Gewichten, vor allem in den 1980er und 1990er Jahren zu einem eigenen Zweig praktisch-theologischer Reflexion entwickelt hat. Hier steht nun nicht mehr die Handlungstheorie im Vordergrund und mit ihr Fragen wie die nach der organisatorischen Verfasstheit von Kirche und den daraus ableitbaren Handlungsoptionen oder einer angemessenen Anwendung theoretischen Wissens auf kirchliche Handlungsfelder, sondern die Subjektivität der Menschen – verstanden als Subjekte religiöser Erfahrungen, aber auch als Subjekte der Wahrnehmung des Religiösen und der theologischen Reflexion. Ihren Ausgang nimmt die »Empirische Theologie« unter anderem mit dem niederländischen Theologen Johannes van der Ven und dessen erfahrungswissenschaftlichem Ansatz.100 Dieser nutzte empirische Methoden in großem Umfang und entwickelte im Rückgriff auf frühere Modelle ein methodisches Phasenmodell zu deren Anwendung,101 indem er unterschiedliche Schritte im Prozess von der Beobachtung hin zur theoretischen Reflexion unterschied, die insgesamt einen »empirisch-theologischen Zyklus« ergeben. Unter dem begrifflichen Dach einer »Empirischen Theologie« als Strömung in der Praktischen Theologie ging es nun darum, Glaubenserfahrung (unabhängig von der Einbettung in kirchliche Kontexte) zu untersuchen und damit als subjektive Wirklichkeit für die Theologie nutzbar zu machen. Darin wird das methodische Vorgehen theoriegeleitet, aber konzentriert auf neue »Erfahrungen« so konzipiert, dass sowohl die Subjektivität in Gänze berücksichtigt wird als auch die Ergebnisse theoretisch einbeziehbar sind. Während auch andere empirisch Forschende im Bereich der Praktischen Theologie, beispielhaft schon Karl-Fritz Daiber in Zusammenarbeit mit Ingrid und Wolfgang Lukatis, im Lauf ihrer Arbeit bereits Modelle mit einem schrittweisen Vorgehen entwickelt haben,102 geht es der Bewegung der »Empirischen Theologie« nun zentral um den kreativen Prozess des induktiven Forschens, in dem alle Erfahrungen einschließlich die der Forschenden zum Gegenstand der Reflexion werden können. Mit der Gründung der Zeitschrift »Journal for Empirical Theology« (JET) und 100 Ven, Practical Theology. 101 Ven, Entwurf. Bezugnahme hier auf S. 132 – 179. 102 Bei Daiber etwa dargestellt in: Ders., Pastoralsoziologie. Modelle für ein schrittweises Vorgehen in der Bezugnahme auf empirische Forschung finden sich auf S. 140 – 143.
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Was die Empirie für die Praktische Theologie leisten kann
mit dem Forschungsnetzwerk »International Society for Empirical Research in Theology« (ISERT) ist daraus das international bedeutsame Unternehmen gewachsen, religiöse Erfahrung umfassend zu untersuchen. Von diesem Ansatz stark geprägt entwickelt Hans-Günter Heimbrock mit einer Gruppe von Forscherinnen und Forschern den Zugang der »Gelebten Religion« und damit ein Konzept zur »Wahrnehmung« der subjektiven Erfahrung, das subjektive Zugänge, Beobachtung und Erleben mit spezifisch adaptierten Methoden und einer theologische Reflexion verknüpft.103 Phänomenologische Theorien (in Anlehnung an Edmund Husserl und hier zentral Alfred Schütz und Maurice Merleau-Ponty) dienen ebenso als theoretischer Hintergrund wie der subjekttheoretische Ansatz Henning Luthers und zahlreiche andere philosophische, theologische oder auch erfahrungswissenschaftliche Konzepte. Der Gegenstand der Reflexion hat sich nun entsprechend vom Christentum bis hin zu Religion im weitesten Sinn ausgeweitet und bietet in diesem Spektrum interdisziplinärer Möglichkeiten eine enorme Breite.104 Dieses Vorgehen ist nun nicht mehr verstanden als spezifischer Prozess praktischtheologischer Reflexion, sondern es umfasst als »Wahrnehmung« von Wirklichkeit aus menschlicher Erfahrung zugleich philosophische Zugänge, systematisch-theologisches Denken und empirisch-sozialwissenschaftliche Methodik, hier vorrangig verstanden als Spektrum der qualitativen Methoden. So wendet sich nun die Perspektive: Praktische Theologie wird jetzt selbst »als Empirische Theologie« verstanden und betrieben,105 wobei die »Empirische Theologie« definiert wird als »ein theologischer Forschungsansatz, der Erkenntnis Gelebter Religion im methodisch gesicherten Rückgriff auf Erfahrung zu erlangen versucht«.106 Anhand dieses Ansatzes lässt sich ablesen, wie eine starke Orientierung auf Methoden und methodologische Fragen die Reflexion einer Nutzung empirischer Forschung für die Theologie tatsächlich voranbringt: Heimbrock und die im Umfeld der Erforschung »Gelebter Religion« Aktiven bedenken immer wie103 In Zusammenhang mit Heimbrock sind zahlreiche andere Denkerinnen und Denker zu nennen wie etwa Wolf-Eckart Failing, Wolfgang Steck, Kerstin Söderblom, Astrid Dinter und Thomas Lotz; vgl. etwa den Band Failing/Heimbrock, Gelebte Religion. 104 In einem zusammenfassenden Werk präsentiert das Forscherteam nach einer umfangreichen theoretischen und methodologischen Einführung beispielhafte Studien, die den weiten Horizont aufzeigen und theologische Reflexion empirisch-methodisch fundiert ausweiten auf klassische praktisch-theologische Bereiche wie Gottesdienst, Kirchengemeinde und Unterricht, aber auch alltagskulturelle Zonen wie den Flughafen oder den Kleingarten; vgl. Dinter/Heimbrock/Söderblom, Empirische Theologie. 105 Hans-Günter Heimbrock und Peter Meyer, Staunen, 16. Vgl. auch Heimbrock, Practical Theology, darin die entsprechende Definition der Disziplin Praktische Theologie auf S. 165. 106 Hans-Günter Heimbrock und Peter Meyer, Staunen, 15. Diese Haltung findet sich auch an anderer prominenter Stelle, etwa bei Gräb, Lebensgeschichten.
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Empirie verhilft zum Respekt vor der Subjektivität des Glaubens
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der die (auch weltanschaulichen) Hintergründe der genutzten Methoden und die Folgen ihrer Nutzung für die Theologie. Hierzu gehört die wichtige Einsicht, dass Methoden selbst nicht neutral sind,107 sowie die Forderung, die Frage der Normativität in Zusammenhang mit den zu berücksichtigenden Standards der Forschung laufend in den Forschungsprozess einzubeziehen.108 Dass die prinzipiell beobachtbare Wirklichkeit religiöser Erfahrung und darin eine gewisse Messbarkeit von Erfahrung nicht mehr im Gegensatz steht zur grundsätzlichen Unverfügbarkeit Gottes und seines Wirkens, hat sich unterdessen zum Konsens entwickelt.
107 Reflektiert unter der Überschrift des »methodischen Atheismus« vgl. Heimbrock, Empirie, 47 ff. 108 Heimbrock, Methodology, v. a. 292 – 294. Vgl. auch die Position Johannes van der Vens: Ven, Approach.
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3. Diskurse um Leistung, Grenzen und Hürden – Bruchstellen und offene Fragen
Dieses Kapitel markiert einen Zwischenschritt: Hier werden die zentralen Funktionen und Nutzenaspekte der empirischen Forschung als Bestandteil praktisch-theologischer Diskussion gesichtet, gebündelt und in Arbeitsfelder praktisch-theologischer Reflexion eingeordnet. Anschließend erfolgt eine Sammlung zentraler Herausforderungen, Bruchstellen und Konflikte, die sich daraus ergeben, sowie eine Sammlung offener Fragen an Prozesse der Einbindung empirischer Forschung, die in den weiteren Kapiteln ausführlich diskutiert und einer Klärung zugeführt werden.
3.1
Rückblick: Bündelung der Leistungen empirischer Forschung für die Praktische Theologie
Zunächst bündele ich nun die Leistungen empirischer Forschung im Bereich der Praktischen Theologie, wie sie in den vergangenen Abschnitten innerhalb ihres geschichtlichen Kontextes sichtbar wurden, und fasse sie in zehn Dimensionen zusammen: (1.) Zunächst lässt sich der Nutzen empirischer Forschung für die Praktische Theologie unmittelbar dort ablesen, wo er, etwa im Bereich der Pastoraltheologie und auf dem Weg zur Anwendungswissenschaft, unmittelbar spürbar wird: Wer predigt, tut gut daran, Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaft zu nutzen oder Informationen über die Gottesdienstgemeinde, ihre Erwartungen und Hörgewohnheiten zu berücksichtigen, ebenso wie ein Landwirt die Beschaffenheit des Bodens prüfen wird, bevor er mit der Aussaat beginnt. Wer Seelsorge ausübt, wird nach Möglichkeit psychologische Kenntnisse nutzen, damit das Gespräch gelingt. Wer kirchenleitend handeln will, sollte Mechanismen von Organisationen ebenso berücksichtigen wie Erkenntnisse über die aktuell erkennbaren Strukturen der Gesellschaft und darin gegenwärtig vorfindliche Sozialformen. Dass Erkenntnisse, die in anderen Wissenschaften
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Diskurse um Leistung, Grenzen und Hürden – Bruchstellen und offene Fragen
gewonnen wurden, im Bereich pastoralen oder pädagogischen Handelns auf diese Weise nützlich sein können, scheint gegenwärtig unbestritten. Eine solche Funktion der Informationsgewinnung ist seit der so genannten Empirischen Wende bis in die aktuelle praktisch-theologische Forschung möglicherweise auch deshalb so häufig positiv bewertet, weil hier die praktisch-theologische Theoriebildung nicht im Kern tangiert ist: Theoretische Aussagen darüber, was eine Predigt »ist« und welche Rolle sie beispielsweise innerhalb eines Gottesdienstes spielt, sind Sache der Theoriebildung innerhalb der Praktischen Theologie. Erkenntnisse über das Arbeitsfeld, die Zielgruppen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind reine Informationen zur Anwendung einer solchen Theorie. Die Theorie bleibt davon zunächst unbeeindruckt. Erst indirekt binden Theorien auch praktische Erfahrungen und darin Erkenntnisse empirischer Forschung mit ein, wovon in der folgenden Sammlung von Herausforderungen noch die Rede sein wird. (2.) Ganz im Sinne vieler Verantwortlicher in Ortsgemeinden oder in der Ausbildung von Pfarrerinnen, Kirchenmusikern oder Diakoninnen ist die Funktion der Verdeutlichung der Subjektivität religiöser Erfahrung und damit auch des Glaubens, die der empirischen Forschung im Bereich der Praktischen Theologie zukommt, zugespitzt sichtbar in den Arbeiten der »Empirischen Theologie« in der »Wahrnehmung gelebter Religion«. Theologische Aussagen über zentrale Bestandteile des christlichen Glaubens werden häufig für Aktive in der praktischen Arbeit genau dort lebendig erkennbar, wo sie anhand von Erfahrungen nachvollziehbar und darin neu zu reflektieren sind. Betrachtet man den Kontakt, den Hauptamtliche im Bereich von Kirche und Religionsunterricht mit der akademischen Theologie haben, fällt auf, wie sich an vielen Stellen ein solcher Kontakt durchaus anlässlich der Wahrnehmung von Ergebnissen empirischer Arbeiten in der Praktischen Theologie vertieft: in der Teilnahme an Kontaktstudien im Bereich der Praktischen Theologie, in der Beschäftigung mit Themen wie beispielsweise der Kirchensoziologie oder der Pädagogik auf Pfarrkonventen und in Fortbildungen. (3.) Hierin steckt umgekehrt die Funktion der Rückbindung kirchlicher Praxisfelder an die praktisch-theologische Theoriebildung: Die reine Nutzanwendung empirischer Erkenntnisse wirft die damit Befassten längerfristig auf theoretische Fragen zurück. Beispielhaft lässt sich dies im kirchlichen Umgang mit der Milieuanalyse studieren:109 Wo in vielen Landeskirchen die Nutzung von Informationen über Ergebnisse von sozialstrukturanalytischen Verfahren zum Wissensbestand eines großen Teils von Hauptamtlichen in der Kirche gehört, wo Landeskirchen im großen Stil sozialräumlich erschlossene Daten über die Milieuzugehörigkeiten ihrer Mitglieder erwerben und Gemeinden zur Verfügung 109 Vgl. Hauschildt/Kohler/Schulz, Milieuperspektive.
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Bündelung der Leistungen empirischer Forschung für die Praktische Theologie
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stellen, hat das vielerorts eine ausdrückliche Rückbezugnahme auf theologische Theorie und neue Reflexionsprozesse zur Folge. Denn auch wenn es möglich ist, durch empirische Erhebungen die sozialen Bezüge oder auch lebensweltlichen Kontexte von Gemeindemitgliedern aufzuschlüsseln: Im Abgleich mit Leitbild, Angebotsstruktur oder Arbeitsweisen der eigenen Gemeinde stellen sich die Verantwortlichen nun erneut die Frage, »was Gemeinde denn sei«, welchen Zweck sie verfolgen müsse, wie denn Verantwortlichkeiten hier verstanden und wie der Kontakt der Mitglieder untereinander und gegenüber der Umwelt angemessen gestaltet werden kann oder welche theologischen Prinzipien dafür genutzt werden sollten. Die Ratlosigkeit, die sich dann manchmal angesichts der Erkenntnisse aus empirischer Forschung einstellt, führt schließlich zurück zu Fragen nach der theologischen Theorie. Diese (nicht die Empirie) erweist sich hierin erneut als wichtige Grundlegung für das Handeln der Kirche. (4.) Wendet man den Blick von den Anwendungsbereichen theologischer Reflexion in Kirche und Gesellschaft hin zur akademischen Reflexion und den dort Tätigen, so ist dabei zweifellos die Funktion der Informationsgewinnung unübersehbar, insofern sich in der Beschäftigung mit empirischem Material schlicht die Primärerfahrung der Forschenden ausweitet. Im Kontext wissenschaftlicher Reflexion wäre dann von einer Funktion der Sensibilisierung und intersubjektiven Erweiterung von Alltagserfahrung im Sinne Daibers zu sprechen, die die Praktische Theologie in der Zeit nach der »Empirischen Wende« vielfach überrascht hat.110 Indem empirische Daten nicht nur den bisherigen Erfahrungsbestand der Forschenden weiten, sondern dieser Erfahrungsbestand mit der Nutzung in wissenschaftlichen Analyseverfahren eben durch intersubjektive Zugänge auch einer gewissen Kontrollfunktion unterworfen ist, haben solche Reflexionsprozesse nun die Chance, tatsächlich die Reichweite praktischtheologischer Theorien zu vergrößern. Beispielhaft lassen sich Forschungen Daibers nennen, in denen immer wieder der enge Kontakt von Wissenschaft und Praxis, von Anwendungsfragen, empirischem Material und theoretischer Reflexion zu sichtbaren Erweiterungen auch der theoretischen Möglichkeiten der Theologie führt.111 (5.) In diesem Sinn lässt sich eine weitere Funktion der Nutzung empirischer Forschung für die Praktische Theologie nennen, nämlich die Funktion des Komplexitätsgewinns, der Vergrößerung der Reichweite theoretischer Reflexion: Anhand empirischer Daten und vor allem im engen Kontakt mit den darauf bezogenen Wissenschaften gelingt es der Theologie, die Verschränkung der Zusammenhänge von sozialstrukturellen, psychischen, kommunikativen und anderen Aspekten in die Reflexion einzubinden. Dies scheint die Theologie 110 Vgl. etwa Daiber, Pastoralsoziologie, 139 f, mit Rückgriff auf Daiber, Grundriss, 119 f. 111 Vgl. dessen Studien zur Predigtrezeption: Daiber, Predigt.
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Diskurse um Leistung, Grenzen und Hürden – Bruchstellen und offene Fragen
näher an die »Wirklichkeit« zu rücken, vor allem aber gelingt dadurch eine umfassende Reflexion der jeweiligen Fragen. Was beispielsweise eine Gemeinde sei, ist dann sowohl aus der biblisch-theologischen Tradition als auch aus gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive heraus zu diskutieren. Theologische Theorie kann auf diesem Weg unmittelbar auf die vielschichtigen Deutungen der Wirklichkeit bezogen werden, die etwa von Gemeindemitgliedern alltagsweltlich vorgenommen werden. Hier geht es nicht um Kenntnis von komplexen Sachverhalten, sondern um Verständnis, um Durchdringung und Aneignung durch theologische Reflexion – vermittelt durch die Interpretation von Daten.112 Die Außenperspektive, die die theologische Reflexion gewinnt, indem sie mit der Empirie zwangsläufig andere Wissenschaften am Diskurs beteiligt, bietet Chancen, diese Komplexität nicht nur wahrzunehmen, sondern sie in Reflexionsprozesse zu integrieren. (6.) Von hier aus lässt sich der Nutzen empirischer Forschung nun auf das Fach Praktische Theologie selbst formulieren, angefangen mit der steilen Setzung Karl-Fritz Daibers, der die Empirie zuerst in ihrer Funktion der Absicherung der Wissenschaftlichkeit des Faches betrachtet hat. In ihr wird die methodisch strukturierte Kontrolle von Primärerfahrungen geleistet, die Praktische Theologie erhält Zugriff auf das Instrumentarium anderer Wissenschaften, aus denen sie selbst, ihrem Gegenstand und der jeweiligen Forschungsfrage angemessen, eine Auswahl treffen kann. Damit wird eine Überprüfung theologischer Theoriebildung unter dem »Aspekt sozialer Angemessenheit« möglich.113 (7.) Was Daiber als eine Sicherung von Relevanz des Fachs nach außen formuliert, indem er die Theologie im Kontext anderer Wissenschaften betrachtet, gilt ebenso nach innen, wo die Empirie an der Wende zum 20. Jahrhundert die Funktion der Relevanzerweiterung für das Fach Praktische Theologie erhalten hatte: Nur dort, wo das Fach in seinen einzelnen Zweigen für das kirchliche Leben relevante Tatsachen berücksichtigt, leistet es eine adäquate Theoriearbeit und erbringt Ergebnisse, die für kirchliche Prozesse angemessen nutzbar sind. (8.) Von hier aus lässt sich der empirischen Forschung aus der Perspektive des Faches Praktische Theologie heraus die Funktion eines, die Kirche in ihren Wandlungs- und Reformbestrebungen stark unterstützenden Zweigs der theologischen Reflexion zuschreiben. Empirische Forschung kann gesellschaftliche Veränderungsprozesse nicht nur wahrnehmen und helfen, sie exakt zu beschreiben, sie kann diese auch in das komplexe Gefüge multiperspektivischer Reflexion einordnen und die innerkirchliche Diskussion um Positionierung und konkretes Handeln befördern. Nun ist die theologische Reflexion gleichzeitig sowohl selbst Teil kirchlichen Handelns (insofern Akteurinnen und Akteure 112 Diese Denkbewegung findet sich beispielsweise in den Arbeiten Klaus Wegenasts (s. o.). 113 Daiber, Grundriss, 120.
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Ausblick: Zusammenfassung der Herausforderungen und Grenzen
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teilweise identisch bzw. Interessenlagen in Teilen deckungsgleich sind) als auch ihr kritisches Gegenüber. (9.) Schreibt man nun der Nutzung empirischer Methodik durch die Theologie die Funktion einer Sicherung der Passung von praktisch-theologischer Reflexion und kirchlicher Praxis zu, wird man einerseits den Grundgedanken der Ursprungszeit der Praktischen Theologie im 19. Jahrhundert gerecht, in der es wesentlich darum ging, diese Passung von akademischer Theologie und kirchlicher Wirklichkeit durch Bezugnahme auf Empirie (wieder) herzustellen. (10.) Andererseits ist dieses Verständnis von Empirie in der Theologie nun noch zu ergänzen um eine Funktion der Ideologiekritik oder auch die Funktion der Überprüfung der Angemessenheit praktisch-theologischer Theorien, etwa im Sinne Daibers, der immer wieder auch die Rolle der empirisch fundierten theologischen Reflexion als theologisches Korrektiv für kirchliche Konzeptionen verstanden hatte, ein Korrektiv allerdings, das nicht für sich, sondern immer um der daraus wiederum folgenden neuen Reflexionsprozesse am Werk ist. Eine ideologiekritische Sichtung kirchlicher Konzeptionen dient für Daiber als Ausgangspunkt für wiederum neue empirische Forschung, vorrangig entworfen als praktisch-theologische Aktionsforschung.114
3.2
Ausblick: Zusammenfassung der Herausforderungen und Grenzen
Auch die Bruchstellen, die sich im Prozess der Nutzung empirischer Daten im Raum der Praktischen Theologie auftun, lassen sich im Kontext der oben unterschiedenen drei Bereiche begreifen: von der Anwendung der Ergebnisse praktisch-theologischer Arbeit in (1.) Ausbildung, konkreten kirchlichen Arbeitsfeldern sowie zugunsten kirchenleitender Interessen hin zu (2.) den akademisch Tätigen bis hin zu (3.) dem Fach Praktische Theologie selbst. Dieser Abschnitt bietet nun eine Bündelung von Herausforderungen, Konfliktpunkten und Grenzen der Nutzung empirischer Verfahren, systematisiert nach diesen drei Ebenen: (1.) Im Anwendungsbereich ergeben sich zahlreiche Kritikpunkte aus den zunächst ganz subjektiv wahrgenommenen Schwierigkeiten, die dort Aktive mit Ergebnissen haben, die aus empirischen Daten gewonnen wurden: Häufig, so der Vorwurf, verdecken Erhebungsverfahren, vor allem quantifizierende oder auch qualitativ-typenbildende Verfahren, die Wahrnehmung des Individuellen, des Einzelfalls, der ganz besonderen persönlichen Erfahrung und Deutung, die 114 Ebd., 119 f.
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Diskurse um Leistung, Grenzen und Hürden – Bruchstellen und offene Fragen
ja den Kern des Glaubens ausmacht. Wo etwa eine sozialwissenschaftliche Forschung Meinungen erhebt, wo typische Wahrnehmungs- und Deutungsmuster rekonstruiert und Gesetzmäßigkeiten erschlossen werden, entsteht ein Unwohlsein bei den Expertinnen und Experten praktisch-kirchlicher Arbeit an unterschiedlichen Orten, die sich zuspitzt in der Kritik an einer Missachtung der ureigenen Wahrnehmung der göttlichen Präsenz im einzelnen Menschen. Es vollzieht sich hier, hart ausgedrückt, eine gewisse Verdinglichung menschlicher Erfahrung und damit eine Verobjektivierung zutiefst subjektiver Angelegenheiten. Nun mag man widersprechen, es sei nun einmal häufig der Sinn wissenschaftlicher Arbeit, eben vom Einzelfall abzusehen, um grundlegende Erkenntnisse gewinnen zu können. Hier sei Wissenschaft ja gar keine Konkurrenz zur Wahrnehmung des Individuums, sondern eine sinnvolle Ergänzung. Was jedoch im Vorgang dieser Kritik geschieht, ist vielschichtiger. Das möchte ich an einem in meinen Augen typischen Beispiel darstellen: Ich werde eingeladen, auf einem Pfarrkonvent über Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Studien und ihre Bedeutung für kirchliches Handeln zu berichten. So informiere ich über Ergebnisse von milieuanalytischen Verfahren und komme auf die Beobachtung zu sprechen, dass Menschen, die unterschiedlichen Milieutypen zugerechnet werden, durchaus sehr unterschiedliche Zugänge zu kirchlichen Sozialformen oder christlich-religiöser Semantik haben. Ich spreche hier als Soziologin und damit den Einzelfall ausblendend, aber voller Respekt vor den sozialen Phänomenen, die sich darin abzeichnen. Ich ernte damit die Zustimmung der einen (»Ja, das kenne ich auch«) und den Widerspruch der anderen Zuhörenden. »Nein«, sagen letztere, »das erleben wir ganz anders, wir erleben viele Menschen, die einem für Kirche eher schwer zugänglichen Typ angehören, als sehr aufgeschlossen und voller Interesse an der Kirche…« Erkenntnistheoretisch ist das eine unmögliche Situation, denn eine einzelne Erfahrung ist für den Abgleich mit Erkenntnissen empirischer Sozialforschung aus der Sozialstrukturanalyse nutzlos. Interessant ist daran aber die kommunikative Bedeutung der Forschungsergebnisse: Diese stellen – so verstanden – in Frage, dass die Pfarrerin bereits selbst festgestellt hat, wer in ihrer Gemeinde typischerweise gut auf christlich-religiöse Themen ansprechbar ist. Sie verlangen, von eigenen Erlebnissen Abstand zu nehmen um einer höheren Erkenntnis willen. Sie brechen damit im Zweifel die konkreten Erfahrung der Zuhörenden, irritieren und bieten im überspitzten Sinn eine Missachtung der individuellen Datenlage. Dies ist mehr als eine didaktische Herausforderung, die man etwa durch ein sensibles Vorgehen oder ein »Abholen der Zuhörerschaft« im Anfangsteil eines Vortrages bewältigen könnte. Es geht hier um das Grundproblem, dass Erkenntnisse aus empirischer Forschung, etwa eine Reflexion dessen, dass manche Kirchenmitglieder aus bestimmten Gründen nur schwer oder überhaupt keinen
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Ausblick: Zusammenfassung der Herausforderungen und Grenzen
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Zugang zu den Themen oder Sozialformen ihrer Kirche finden, keinen unmittelbaren Nutzen für die konkrete Arbeit etwa in einer Ortsgemeinde haben – so wie eine systemtheoretische Betrachtung der Organisation Kirche einer Pfarrerin nur sehr indirekt für die Organisation ihrer Gemeinde nützen dürfte. Die Ergebnisse empirischer Forschung, aufbereitet und reflektiert, bieten keine unmittelbare Deutung einer konkreten Situation vor Ort, sondern sie sind anspruchsvolle und theoriehaltige Folien, auf der eine Situation neu bedacht und eingeordnet, aber nicht »gelöst« werden kann. In der Tat findet hier eine Versachlichung statt – ein Absehen vom Einzelfall und eine so große theoretische Distanzierung, – dass die Betrachtung des – sachlichen – Ergebnisses zuweilen eine echte Zumutung für die Zuhörenden darstellt. Die Empirie bietet darum durchaus Bereicherung, aber ebenso Irritation, etwa in Ausbildungssituationen, wo Teilnehmende an Kursen wissen wollen, »wie es geht«, und stattdessen zu einer weiteren fachlichen Auseinandersetzung gerufen werden. Verzichtet man jedoch auf diese Zumutung der notwendig theoretischen Bestände der Erkenntnisgewinnung aus Empirie, so können solche Ergebnisse durchaus manipulative Verwendung finden. Das Faktische kann normativ eingesetzt werden und damit das Handeln von Hauptamtlichen bis hin zu Kirchenleitungen gesteuert werden. Dass Kirchenmitglieder kaum erwarten, dass Kirche im Arbeitsleben präsent ist,115 lässt sich – uninterpretiert – dafür nutzen, die Mittel für Einrichtungen wie den Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt stark zu kürzen. Die Bedürfnisse und Interessen von Kirchenmitgliedern lassen sich auch ohne ausführliche Deutung nutzen, um Entscheidungen für oder gegen neue Gottesdienstzeiten, Verkäufe oder Sanierungen von Gebäuden und vieles mehr zu treffen. Aber auch wenn solche unmittelbare Nutzung von Daten nicht vorsätzlich geschieht, etwa um kirchliches Handeln auf bestimmte Entscheidungen hin zu beeinflussen, zeigt sich in dieser Möglichkeit eine erhebliche Gefahr : Für Laien in Bezug auf Prozesse empirischer Forschung ist ein uninterpretierter Datenbestand von einem interpretierten und theoretisch bearbeiteten Datenbestand kaum zu unterscheiden. Wenn Daten in Reinform präsentiert werden und eine methodisch strukturierte Interpretation ausbleibt oder auch schlicht noch nicht stattgefunden hat, erhält eine unwillkürlich vorgenommene, intuitive Interpretation kurzfristig den Rang echter Theoriebildung. Ein Beispiel dafür ist die Erhebung wesentlicher Merkmale für Kirchenmitgliedschaft, die im Rahmen der vierten EKD-Erhebung repräsentativ vorgenommen wurde. Sehr viele Mitglieder zeigten eine hohe Zustimmung unter 115 Nur etwas über 30 % der Evangelischen stimmen im Jahr 2002 dem Satz, die Kirche solle »sich um Arbeitsalltag und Berufsleben kümmern« mit einem Wert von 6 oder 7 auf der Skala von 1 (»soll nicht«) bis 7 (»soll«) stark zu; vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKDErhebung, Frage 20, 457.
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Diskurse um Leistung, Grenzen und Hürden – Bruchstellen und offene Fragen
anderem zu den Items »Es gehört unbedingt zum Evangelisch-Sein, dass man seinem Gewissen folgt«, »… dass man die Freiheit anderer tolerant achtet« oder »… dass man sich bemüht, ein anständiger und zuverlässiger Mensch zu sein«.116 Diese hohe Zustimmung wurde im Text der Publikation der Studie derart ausgelegt, dass in den Augen der Mitglieder diese Merkmale ihren Glauben wesentlich charakterisierten, dass also das Gewissen und die christliche Freiheit gerade als protestantische Grundprinzipien von einer breiten Masse der Befragten geteilt würden.117 Eine Interpretation der Daten, in der man den Kontext der Untersuchung und das Setting der persönlichen Befragung berücksichtigt hätte, bleibt aus. In einer solchen strukturierten Interpretation hätte man etwa die Möglichkeit erwogen, die Befragten könnten ohne eine Reflexion ihrer Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft Evangelische Kirche schlicht der Meinung sein, dass diese Sätze ganz grundsätzlich ihre Haltung recht gut treffen, etwa im Sinne der Aussage: »Ich bemühe mich, ein anständiger und zuverlässiger Mensch zu sein«. Wo die Zahlen ohne diesen Kontext interpretiert werden, geht man aber davon aus, dass eine Interviewerin beim Vorlesen der langen Reihe von Items exakt nach Anleitung vor jedem wieder neu den einleitenden Satz spricht »Es gehört unbedingt zum Evangelisch-Sein, dass man« und damit sichert, dass der befragten Person der Bezug eines einzelnen Items zum Gesamtthema »Evangelisch-Sein« jederzeit bewusst ist. Insgesamt ist dies forschungspraktisch wünschenswert, aber doch eher unwahrscheinlich. Die Gefahr ist immens, in der Sichtung von Daten der empirischen Forschung eine implizite Theoriebildung zu übersehen. Es gibt keine empirischen Daten, die nicht prinzipiell mit der Wahrnehmung eine implizite Theoriebildung auslösen können, die mehr oder weniger bewusst stattfindet. Eine Wahrnehmung von Gegebenheiten kann nur derart vor sich gehen, dass das Wahrgenommene mit bisheriger Erfahrung abgeglichen und in Rückbezug auf bisher genutzte Theorien, etwa über das eigene professionelle Handeln, eingeordnet wird.118 Wenn die Pfarrerin einer Ortsgemeinde Daten der empirischen Sozialforschung zur Kenntnis nimmt, etwa über die Kommunikationsgewohnheiten und Erwartungen der Kirchenmitglieder in Bezug auf den Gottesdienst, zieht sie daraus unwillkürlich Schlüsse mit Blick auf ihre eigene Gottesdienstgestaltung, bedenkt auf dieser Folie das bisherige Handeln oder umgekehrt, stellt Bisheriges in Frage oder lässt es dadurch bekräftigen, entwickelt neue Fragen und Handlungsoptionen. Hier handelt es sich noch nicht um einen abgeschlossenen Prozess der 116 Vgl. Schloz, Kontinuität und Krise, 63. Die absolute Zustimmung in dieser Frage 1 der Erhebung zu den drei genannten Items betrug im Jahr 2002 in den alten Bundesländern 84 % (Gewissen), 87 % (Toleranz) und 86 % (Anständigkeit). 117 Schloz, Kontinuität und Krise. Er kommentiert hier v. a. die Abbildung auf S. 63 und schreibt: »Hier handelt es sich schlicht um eine Tatsachenfeststellung.« (ebd., 62). 118 Vgl. etwa Häder, Sozialforschung, 25 ff.
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Ausblick: Zusammenfassung der Herausforderungen und Grenzen
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Theoriebildung. Auf keinen Fall aber ist die Wahrnehmung von empirischen Daten ein neutrales Vorgehen. Wo nicht bedacht wird, dass Theoriebildung nicht immer explizit stattfindet, sondern sehr viel häufiger implizit, stellt diese Nutzung von Daten tatsächlich einen unabgeschlossenen Prozess der Interpretation und Theoriebildung dar, in dem die Beteiligten über den Theoriegehalt ihrer Wahrnehmung und die weitere Interpretationsbedürftigkeit der Daten im Unklaren bleiben. (2.) Dieselbe Problematik kann auch theologisch Forschende ereilen, wenn sie in der Wahrnehmung und Interpretation von Daten der empirischen Forschung nicht geübt sind. Eine erste unwillkürliche Theoriebildung wie oben beschrieben korrigiert sich hier jedoch meist im Lauf der weiteren theoretischen Verarbeitung von Erkenntnissen. Gravierender ist allerdings die Gefahr, die Karl-Fritz Daiber vielfach benannt hat, nämlich die bloße Verdopplung der Wirklichkeit durch empirische Forschung ohne Zugewinn an theoretischer Reflexion.119 Hier wird dann mit der Darbietung von Daten die »Wirklichkeit« quasi in den Raum geholt, man kommt ihr jedoch interpretativ und ohne einen theoriebildenden Prozess keinen Schritt näher. Wo Wissenschaft eigentlich die Aufgabe hat, Dinge in ihrer Komplexität wahrzunehmen und zu untersuchen, die Ergebnisse dann aber möglichst einfach darzustellen und Komplexität auf diesem Weg erheblich zu reduzieren, misslingt dies in einem solchen Fall. Ein Mehr an Komplexität ist noch kein Gewinn an Erkenntnis. Dass eine Beobachtung noch nicht von selbst zur wissenschaftlichen Erkenntnis führt, dass eine theoretische Einbindung von Erfahrungen in einem expliziten Vorgang erfolgen muss, der viele Informationen in einer Theorie bündelt, muss zuerst verstanden werden, bevor eine hochwertige Datennutzung möglich ist. Gelingt das nicht, haben Daten eher eine illustrative Funktion, dienen als Veranschaulichung oder implizites Argument, oder sie dienen dazu, den Forschenden das gute Gefühl zu vermitteln, bei ihrer Arbeit »ganz nah am richtigen Leben« zu sein. Gelingt eine solche hochwertige Interpretationsarbeit jedoch, steht häufig ein anderes Problem im Mittelpunkt, nämlich das Abgrenzungs- oder Zuordnungsproblem: Ursprünglich, also bis hinein ins 20. Jahrhundert, war das Verhältnis zwischen Theologie und empirisch arbeitenden Wissenschaften derart verstanden, dass theologische Reflexion und empirische Forschung kaum Berührungsflächen hatten: Mit statistischen Erhebungen und anderen Methoden wurden beispielsweise Zahlen über das kirchliche Leben gewonnen. Die Daten wurden außerhalb der Einflussnahme empirisch arbeitender Wissenschaften genutzt. Es gab kaum fachliche Berührungsflächen. Dies veränderte sich im 20. Jahrhundert stark, als zum einen Datenbestände aus fremden Wissenschaften für Zwecke der Theologie genutzt wurden und die Theologie sich damit 119 Daiber, Pastoralsoziologie, 140.
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auseinandersetzen musste, dass die Daten unter nichttheologischen Fragestellungen erhoben worden sind,120 und als zum anderen große forschungspraktische Schnittstellen entstanden: Immer häufiger verfügen Theologinnen und Theologen selbst über eine Ausbildung in empirischer Methodik oder sind sogar selbst soziologisch, pädagogisch, psychologisch oder anderweitig ausgebildet.121 Dazu kommt die Tatsache, dass andere Wissenschaften ihrerseits ebenso Situationsanalysen erstellen wie die Theologie, so dass etwa bei den Sozialwissenschaften keine Ergebnisse empirischer Forschung für Situationsanalysen der Theologie abgerufen werden können, ohne dabei auch die theoretisch-interpretativen Rahmenbedingungen der Sozialwissenschaften zu berücksichtigen.122 Dies hat mitunter zur Folge, dass unterschiedliche Analysen und Bewertungen desselben Ergebnisses aufeinanderprallen und die Perspektive für eine theologische Reflexion aufwändig geklärt werden muss, zumal die Wissenschaften, mit deren methodischer Unterstützung empirische Forschung für theologische Interessen stattfindet oder genutzt wird, selbst innerhalb der eigenen Theoriebildung nicht ohne Konflikte auskommen. Grethlein beschreibt eindrücklich, wie theoretische Debatten beispielhaft »zwischen Kritischer Theorie und Kritischem Rationalismus, Tiefen- und Verhaltenspsychologie« stattfinden und in Folge die Nutzung von Erkenntnissen der betroffenen Fächer die theoretischen Konflikte zur Sache der theologischen Debatte werden.123 Hier gelingt es in der Regel nicht, theologische Kriterien für solche Diskussionen nutzbar zu machen, statt ausschließlich Argumente aus anderen Wissenschaften zu übernehmen. Grethlein nennt das »eine Lücke« in der »Zuwendung zu Empirie«,124 die die theologische Reflexion nach wie vor nicht bewältigt hat. Insgesamt lässt sich diese Problematik zusammenfassen als Gefahr der zu geringen Reflexion der theoretischen Voraussetzungen, unter denen in anderen Wissenschaften Ergebnisse empirischer Forschung gewonnen werden. Davon zu unterscheiden ist, auch dies sei hier der Vollständigkeit halber nochmals erwähnt, die schlichte Normativitätsfrage in der Zusammenarbeit von 120 Diese Situation ist in der Gegenwart der häufigste Fall, denn die anderweitig erzeugten Daten in Statistiken, Bevölkerungsumfragen und spezifischen Erhebungen anderer Wissenschaften haben ein derartiges Volumen, dass eigene, theologisch motivierte Studien insgesamt die Minderheit dessen bilden, was für die Theologie ein interessanter Datenbestand sein könnte. 121 Dies zeigt sich beispielhaft an Personen wie dem Theologen und Soziologen Karl-Fritz Daiber als einer Zentralfigur der deutschen pastoralsoziologischen Forschung oder dem Theologen und Soziologen Rüdiger Schloz, der über 30 Jahre lang die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD geprägt hat. 122 Vgl. Daiber, Grundriss, 112 f. 123 Vgl. Grethlein, Empirie, 334. 124 Ebd., 335.
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Praktischer Theologie und anderen Wissenschaften um der Gewinnung von Erkenntnissen aus empirischer Forschung willen: Inwieweit darf theologische Theoriebildung und im Dialog damit auch kirchliches Handeln von empirischen Daten abhängig sein? Das zu Anfang genannte Beispiel niedriger Zahlen von Gottesdienstbesuchenden macht dieses Problem deutlich. Stellte man ökonomische Erwägungen an, würde deutlich, dass für einen Gottesdienst je nach Berechnung von Personal-, Heiz- und Gebäudeunterhaltskosten mindestens 100 Euro pro Person zu veranschlagen sind, wenn weniger als 20 Personen ihn besuchen. Diese Berechnungen würden jedoch, etwa in einer Diskussion im Kirchengemeinderat, kaum als entscheidendes Argument zur Streichung oder Verlegung des Gottesdienstes herangezogen. Hier herrscht zumeist Einigkeit darüber, dass ökonomische Argumente den theologischen unterzuordnen sind. Anders sieht es bei sozialwissenschaftlichen Analysen des sozialräumlichen Gefüges, der Freizeitgewohnheiten, der Teilnahmeinteressen, der Funktion des Gottesdienstes für die Kommunikation einer Gemeinde insgesamt und vielen anderen Aspekten aus. Hier ist gewissermaßen »nachweisbar«, dass ein wöchentlicher Gottesdienst in bestimmten lokalen Sozialgefügen eine wenig »erfolgreiche« Veranstaltung ist, die von einem erheblichen Teil der Mitglieder nie oder nur in Ausnahmefällen besucht wird.125 Ebenso belegt etwa eine Studie über die Haltung von Pfarrerinnen und Pfarrern zum Gottesdienst, dass auch die den Gottesdienst hauptamtlich Verantwortenden nur zu einem kleinen Teil der Meinung sind, der Gottesdienst werde grundsätzlich »unter Beteiligung und Verantwortung der ganzen Gemeinde« gefeiert.126 So könnte man aus der sozialwissenschaftlichen Analyse heraus argumentieren, der Gottesdienst sei nicht nur in der Regel schlecht besucht, sondern es spiegelte sich die geringe (ideelle) Zentralität dieser Veranstaltung mit Blick auf die Gesamtgemeinde sogar in der Wahrnehmung der Hauptamtlichen wider, so dass eine Umdeutung und in Folge eine Reduzierung dieses Angebots nahe läge. Eine solche Argumentation braucht, das leuchtet unmittelbar ein, ergänzend oder auch vorrangig das Gegenüber einer theologischen Reflexion dessen, was ein Gottesdienst im Wesen sei, wozu er dient und was die Bedingungen für ein »Gelingen« sein können. Unter Umständen ergeben sich dann zwei sehr unterschiedliche Interpretationen desselben Sachverhalts. Solche Normativitätskonflikte finden sich noch recht selten in der Form wissenschaftlicher Diskurse. Sie bleiben häufig im Verborgenen, etwa dort, wo eine kirchenleitende Ein125 In den alten Bundesländern gaben im Jahr 2002 etwa 40 % der Kirchenmitglieder über 14 Jahre an, den Gottesdienst »einmal im Jahr oder noch seltener« oder sogar »nie« zu besuchen. Vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, 453. 126 Vgl. Schulz, Gestaltung von Gottesdiensten. Für die genannten Ergebnisse vgl. ebd., 66 – 69. Diesem ersten Kriterium des Evangelischen Gottesdienstbuches stimmten 22 % der Befragten zu, 45 % der Befragten lehnten es ab, 33 % wählten den neutralen Mittelwert.
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Diskurse um Leistung, Grenzen und Hürden – Bruchstellen und offene Fragen
richtung Daten der empirischen Sozialforschung erst gar nicht nutzt oder sozialwissenschaftliche Kompetenz zur Bearbeitung von bestimmten Fragen gar nicht erst hinzu zieht. Umso wichtiger ist es, derart subtile Normativitätskonflikte zu beobachten und nach zweckmäßigen Leitlinien in solchen Konflikten zu fragen. (3.) Hier sind schließlich auch die Herausforderungen für das Fach Praktische Theologie insgesamt ablesbar : Es ist wesentlich, dass die hier beschriebenen Herausforderungen umfassend angenommen und in angemessener Methodik und theoretischer Reflexion aufgefangen werden. Davon hängt im Sinne Daibers der Rang der Praktischen Theologie als Wissenschaft und die Funktion praktisch-theologischer Theoriebildung für das gesamte Unternehmen der Theologie ab. Dass andere empirisch arbeitende Wissenschaften derart umfassend und methodisch höchst differenziert in der empirischen Forschung tätig und dabei personell häufig sehr viel besser ausgestattet sind, als theologische Fakultäten und Forschungseinrichtungen es je sein werden, ist evident. Erheblich für die Verhältnisbestimmung zwischen der Theologie und anderen Wissenschaften dürfte aber ein anderer Aspekt dieses Ungleichgewichts der Kräfte sein, den Grethlein darin sieht, dass »dabei eine einseitige Abhängigkeit entsteht, es also nicht gelingt, theologische Perspektiven in die Erfahrungswissenschaften zu vermitteln«.127 Ein in dieser Form einseitiges Geschehen macht das Anliegen der Verhältnisklärung umso dringender.
3.3
Die »Gretchenfrage«: Empirie und der Gegenstand der Praktischen Theologie
Die Methoden der historisch-kritischen Bibelauslegung haben sich über die Jahrhunderte selbstverständlich ihren Platz in den exegetischen Disziplinen gesichert und dort weiter entwickelt. Die empirische Methodik entwickelte sich dagegen eher parallel zur Praktischen Theologie – die Fragen nach geeigneten Rahmenbedingungen ihrer Nutzung sind heute nach wie vor nicht umfassend und zufriedenstellend geklärt. Während die exegetischen Disziplinen mit den biblischen Büchern ihren zentralen Gegenstand genau beschreiben können und ebenso den Wirkungsbereich der verschiedenen exegetischen Methoden, hat die Praktische Theologie hier weitere Fragen zu beantworten. So war in der ersten Phase nach der so genannten Empirischen Wende in der Praktischen Theologie zwar der Anspruch präsent, empirische Forschung auf eine geeignete Weise in
127 Grethlein, Empirie, 334.
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Die »Gretchenfrage«: Empirie und der Gegenstand der Praktischen Theologie
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den Kanon der Methodik zu integrieren, das Wie dieser Integration war jedoch theoretisch unklar oder sogar strittig: Wir sind aufgefordert zu prüfen, in welcher Weise Praktische Theologie die Forderung nach empirischer (bzw. empirisch-kritischer) Theologie erfüllen kann oder soll. Die Gretchenfrage an die praktische Theologie lautet: Wie hältst Du’s mit der Empirie?128
Zunächst einmal ist in der Geschichte der Praktischen Theologie immer kontrovers diskutiert worden, wie sich ihr Gegenstand nun genau erfassen lässt.129 Als die der Praxis zugewandte Disziplin der theologischen Wissenschaft soll Praktische Theologie umgekehrt eine Theorie der Praxis darstellen,130 wobei strittig ist, in welcher Form sie darin theoretisch arbeitet, ob sie Wissen sammelt oder auch Kenntnisse zur Verfügung stellt, welchen Bezug sie darin zu Praxisfeldern und den in ihnen agierenden Menschen hat – ob diese Objekte der Betrachtung sind oder als Subjekte ihrer eigenen Theoriegehalte agieren – und schließlich die Art der Methode von Theoriebildung: für die Wissenschaft im Sinne von Sammeln und Verdichten von Erkenntnis oder auch für die Praxis, etwa im Sinne einer Beförderung von Kirchenreform oder auch konkreter Arbeitsfelder.131 Mit dem Diskurs um die Zuordnung von Theorie und Praxis stand auch die Zuordnung von Theorie und empirischen Daten zur Diskussion: Inwieweit dürfen oder sollen diese überhaupt einen Einfluss auf die theologische Theoriebildung bekommen? Hier hatten die Kontroversen einen klaren Bezug zur Erkenntnistheorie, auf die ich später noch ausführlicher eingehen werde (Abschnitt 4.2).132 128 Schröer, Forschungsmethoden, 210. 129 Hier war in der Geschichte der Disput zentral, inwieweit die Kirche und ihre Handlungsfelder den Gegenstand der Reflexion markieren oder ob dies deutlich weiter zu fassen ist, etwa indem wie bei Dietrich Rössler das ganze Christentum zum Thema der Praktischen Theologie wird (vgl. ders., Grundriss) oder indem diese wie bei Gert Otto noch weiter erfasst ist als »kritische Theorie religiös vermittelter Praxis der Gesellschaft«. ders., Praktische Theologie, 21 f. Vgl. auch Lämmermann, Praktische Theologie. 130 In der Tradition Schleiermachers, der forderte, dass Praktische Theologie nicht selbst praktisch, sondern die »Theorie der Praxis« sein müsse; vgl. Schleiermacher, Praktische Theologie, 12. Dazu auch die Ausführungen bei Gräb, Practical Theology. Eilert Herms fordert in seinem Ansatz der »Theologie als Erfahrungswissenschaft« gerade die Ausbildung einer empirisch-funktionalen Theorie hin auf die kirchliche Praxis; ders., Theologie, bes. 62 – 80. Für das Verständnis der gesamten Theologie vgl. auch Dalferth, Theologie. 131 Vgl. etwa die Überblicksliteratur der vergangenen 15 Jahre: Schröer, Art. Praktische Theologie; Grethlein/Meyer-Blanck, Art. Praktische Theologie; vgl. Schröder, Praktische Theologie. 132 Vgl. etwa der Text von Norbert Greinacher aus der Zeit nach der »Empirischen Wende«; vgl. ders., Theorie-Praxis-Problem. Er spricht im Versuch einer Verhältnisbestimmung von einer »bipolaren Spannungseinheit« und formuliert mit Bezug auf Adorno: »Der Übergang von der Theorie zur Praxis und umgekehrt stellt einen qualitativen Umschlag dar. Theorie bedarf dauernd der Verifizierung bzw. Falsifizierung durch die Praxis. Diese muss von der Theorie immer wieder transzendiert werden.« (ebd., 110) In der Folge beeinflusst dies die
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Diskurse um Leistung, Grenzen und Hürden – Bruchstellen und offene Fragen
Mit Blick auf mein Anliegen lässt sich zuerst feststellen: Unabhängig davon, wie die kirchlichen Anwendungsbezüge als Thema der Praktischen Theologie bewertet werden oder ihr Bezug auf christliche Religionsgemeinschaft eng oder weiter gestaltet wird, gilt der Konsens, dass sich die Praktische Theologie auf eine religiöse bzw. soziale Wirklichkeit bezieht, für deren Wahrnehmung die Einsichten der Human- oder Sozialwissenschaften wichtig sein können. Ergebnisse empirischer Forschung helfen, den jeweiligen Gegenstand und seine Beschaffenheit klarer zu erfassen. In der Folge ergibt sich jedoch die erkenntnistheoretische Frage, wie eine theologische Wissenschaft die Wirklichkeit wahrnehmen kann – ob sie dies ausschließlich mit den Methoden zu tun vermag, die auch an anderer Stelle, etwa in den Sozialwissenschaften (vgl. Abschnitt 4.3), genutzt werden, oder ob es eine spezifisch theologische Form geben kann oder geben muss. An diesem Punkt ist die Frage nach dem Wirkungsbereich der empirischen Forschung im Raum der Praktischen Theologie zu entscheiden: Sind empirische Forschung und theologische Reflexion voneinander zu trennen und in verschiedenen Arbeitsschritten unterzubringen?133 In diesem Fall wäre der Einflussbereich empirischer Wissenschaften klar begrenzt auf solche Arbeitsschritte, die unmittelbar einer angemessenen Wahrnehmung von Wirklichkeit dienen, während die Praktische Theologie mit dem Bezug auf die »Wirklichkeit Gottes« eigene Deutungen des Wahrgenommen vornimmt. Die oben als Herausforderungen dargestellten möglichen Bruchstellen in der Zusammenarbeit könnten auf diesem Weg verhältnismäßig einfach bewältigt werden. Gleichfalls kann aber auch die Wahrnehmung selbst theologisch gedeutet werden, etwa dergestalt, dass Wahrnehmung immer zentral durch Vorerfahrung und Erkenntnisinteresse gesteuert ist, also als »Wahrnehmung auf etwas hin« geschieht. Hier kann dann folgerichtig die praktisch-theologische Theoriebildung als Orientierung dessen fungieren, was in Wahrnehmungsprozessen möglich ist, oder anders gesagt: Die Theologie kann die »Wirklichkeit« wahrnehmen mit dem Interesse, sie theologisch auszudeuten, sie also von vorneherein als eine theologisch zu deutende zu verstehen – und hier unter Umständen ganz anders wahrnehmen als das etwa mithilfe sozialwissenschaftlicher Methodik geschehen würde.134 Im zweiten Modell hieße das für die Zusammenarbeit von Praktischer Theoriebildung erheblich: »Theorie ist nicht einfach Abbild oder Reflex der Praxis, sondern eine synthetische Leistung zwischen Erfahrung und Vernunft.« (ebd., 110). 133 Eine solche Vorgehensweise vertritt etwa Karl-Fritz Daiber in seiner Konzeption von Praktischer Theologie als Handlungswissenschaft. 134 So etwa als Perspektive der Praktischen Theologie beschrieben durch Birgit Weyel: »Die Betonung des wirklichen Lebens und ihrer Bedeutung für die Theologie ist Ausdruck eines Realismus, der die Wirklichkeit nicht nur beschreiben will, sondern der sie immer auch schon versteht als etwas, das durch praktisch-theologische Wissenschaft orientiert werden soll.«
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Die »Gretchenfrage«: Empirie und der Gegenstand der Praktischen Theologie
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Theologie und Empirie, dass die empirische Forschung nicht den abgegrenzten Bereich der Wahrnehmung (einschließlich ihrer interpretativen Aufbereitung) übernimmt, während später die Theologie die Deutung leistet. Hier ist nun zu verschiedenen Zeitpunkten im Verfahren theologisch orientiertes Vorgehen gefragt und eine entsprechende Integration theologischer Reflexion bereits in die Phase der Datenerhebung. Hier kehre ich nun zurück zu den Ausgangsfragen, die am Ende des ersten Abschnitts dieses Textes formuliert sind: Die Bestimmung des Gegenstands der Praktischen Theologie, genauer : die Antwort auf die Frage, inwieweit bereits die Wahrnehmung der Welt Gegenstand ihrer Reflexion sei, ist im Prozess der Zusammenarbeit von Praktischer Theologie und empirischer Forschung zu beantworten, woraus sich in der Folge Aussagen über die Ziele der Zusammenarbeit bzw. der Nutzung und weiterführend Aussagen über Vorgehensweise, Wechselbeziehung und Normativitätsfragen treffen lassen. Wie ich im letzten Abschnitt 5 zeigen werde, handelt es sich bei dieser Frage nach der Wahrnehmung, wie auch immer sie beantwortet wird, um eine Klärungsaufgabe, die die Praktische Theologie allein – ohne jede Hilfestellung durch empirische Wissenschaften – erfüllen muss.
Vgl. dies., Empirie. Anklänge daran finden sich ebenso im Konzept der »Empirischen Theologie« bei Dinter/Heimbrock/Söderblom, Empirische Theologie.
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4. Die andere Seite: Methodologische Perspektiven auf die empirische Forschung
Empirische Methoden, speziell solche der empirischen Sozialforschung, werden in zahlreichen Wissenschaften vielfach und in immer größerem Umfang genutzt. Michael Häder benennt einschlägige Interessen und eigene Forschungstätigkeiten vor allem in Soziologie, Politikwissenschaft, Ökonomie, Betriebswirtschaftslehre, Psychologie und Sozialpsychologie, Pädagogik, Medizin, Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft, Geographie, Demographie, Theologie und Linguistik.135 Zu vermuten ist, dass Diskurse um Nutzen und Grenzen empirischer Sozialforschung nicht nur in der Theologie zu finden sind, sondern ganz ähnlich auch in anderen Wissenschaften. So ist das Ziel dieses Abschnitts, solche Diskurse zu sichten und die Herausforderungen und Grenzen zu beschreiben, die dort sichtbar werden, und daraus Erkenntnisse im Hinblick auf die Diskussion im Bereich der Praktischen Theologie zu gewinnen. Exemplarisch soll zu Anfang (Abschnitt 4.1) ein Disput zwischen Fachleuten aus Soziologie und Erziehungswissenschaft zur Sprache kommen, an dem sich typische Bruchstellen erkennen lassen: Die Soziologie, als Ursprungswissenschaft empirischer Sozialforschung, wird hier als Gegenüber zu einer nutzenden und durch ihre Anwendungsbezüge bestimmten Wissenschaft positioniert.136 Anschließend werden dann erkenntnistheoretische (Abschnitt 4.2) und daraus folgend methodologische Grundfragen (Abschnitt 4.3) der empirischen Sozialforschung betrachtet. Die Ergebnisse sind in einer abschließenden Entwicklung von Leitlinien für eine Anwendung empirischer Forschung in der Praktischen Theologie (in Abschnitt 5) nutzbar gemacht.
135 Vgl. Häder, Sozialforschung, 18 f. 136 Geschichtliche Entwicklungen der empirischen Sozialforschung und historische Zusammenhänge der Entwicklung unterschiedlicher Positionen, etwa die »Empirische Wende« im Bereich der Soziologie um die Jahrhundertwende 19./20. Jahrhundert, spielen hier immer wieder implizit eine Rolle, sollen aber in dieser Darstellung nicht eigens aufgeschlüsselt werden.
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4.1
Die andere Seite: Methodologische Perspektiven auf die empirische Forschung
Chancen und Begrenzungen der »disziplinären Ökumene«137 am Beispiel eines Diskurses zwischen Soziologie und Erziehungswissenschaft
Der Soziologe Ronald Hitzler sorgte im Jahr 2008 für Aufsehen, als er in Form einer Anekdote ein Erlebnis seiner Kollegin zum Besten gab:138 Michaela Pfadenhauer hatte, so berichtet Hitzler, als Jugendsoziologin ein Forschungsprojekt über »Trainingsinteressen junger Fitness-Sportler« geplant mit der in einer Vorstudie gewonnenen Ausgangsthese, für die Jugendlichen sei es das zentrale Motiv für das Training, ihr Aussehen zu verbessern. Dabei hatte Pfadenhauer die Zusammenarbeit mit einer Kollegin aus den Erziehungswissenschaften angestrebt, was bereits im Ansatz an den unterschiedlichen Vorstellungen einer gelingenden Forschung scheiterte: Während die Soziologin ein reines Interesse am tieferen Verständnis der Motive der Jugendlichen hatte, befand die Pädagogin bereits die (mit der These vermuteten) Motive als »bedenklich« und in Folge ein Engagement zu dieser Frage als wenig gewinnbringend. Die empirische Sozialforschung, hier originär verortet als Teil der Soziologie, steht nicht nur in Zusammenarbeit mit der Praktischen Theologie, sondern ebenso mit anderen Sozial- und Humanwissenschaften. Immer wieder lassen sich in solchen Prozessen Bruchstellen beobachten, an denen deutlich wird, wie empirische Forschung einerseits ausgesprochen nützlich ist für die jeweiligen Diskurse, wie aber zeitgleich Dissonanzen auftreten wegen unterschiedlicher Vorstellungen von Wissenschaftlichkeit und »guter« Theoriebildung. Auf den genannten Text von Ronald Hitzler erfolgte eine Replik von Seiten des Erziehungswissenschaftlers Peter Vogel. In diesem Diskurs wird exemplarisch sichtbar, welche Bruchstellen sich in der Zusammenarbeit beider Wissenschaften auftun und welche Deutung solche Brüche von beiden Seiten erfahren. Hitzler bringt zunächst in seiner heftigen Abgrenzung vom Wissenschaftsverständnis der Pädagogik (wobei er ausdrücklich die empirisch und damit quasi sozialwissenschaftlich arbeitenden Kolleginnen und Kollegen aus seiner Kritik ausnimmt) die Prinzipien guter empirisch-soziologischer Forschung auf den Punkt und verwendet dazu den pointierten Ausdruck von Robert Ezra Park: »a moral man cannot be a sociologist«.139 Die Soziologie ist in diesem Verständnis geprägt von der weitreichenden Enthaltung von moralischen Urteilen, von Urteilen über das, was sein sollte. Einerseits ist eine solche Unvoreingenommenheit ein allgemeines Kriterium von Wissenschaftlichkeit, ein Anspruch, dem (jede) Wissenschaft grundsätzlich gerecht werden muss, andererseits steht 137 Dem Titel des Aufsehen erregenden Textes von Ronald Hitzler entnommen (s. u.). 138 Hitzler, Grenzen. 139 Ebd., 146.
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Chancen und Begrenzungen der »disziplinären Ökumene«
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eine solche moralische Indifferenz in der Soziologie deswegen einmal mehr im Zentrum, weil hier das Verständnis menschlichen Handelns und die Analyse seiner Bedingtheiten das Ziel der Forschung ist, nicht eine wie auch immer geartete Bewertung dieses Handelns oder mögliche Nutzung dieser Erkenntnisse. Dies wirkt sich aus bis in die Methodik hinein: Nur eine methodisch gefasste »künstliche Dummheit«140 ermöglicht ein unbeeinträchtigtes Verstehen des Gegenstandes. Als Gegenstück dazu – und hierin zeigt sich eine Spannung, die auch in Bezug auf theologische Interessen wichtig sein dürfte – umreißt Hitzler die Pädagogik als einen Bereich der Wissenschaft, in dem sich starke (meist institutionelle) Interessen in Bezug auf professionelles Handlungswissen unmittelbar auswirken und bei den in der Pädagogik Tätigen zu einer starken Werteverhaftung und zu normativen Setzungen führen: Der gesellschaftliche Auftrag an die Pädagogik als einer sozialen Institution ist die im Sinne ›der Gesellschaft‹ gelingende (Re-)Sozialisierung. (Re-)Sozialisierung meint (Wieder-) Eingliederung in die Gesellschaft. Als (re-)sozialisiert gilt, wer Situationen in gesellschaftlich akzeptierter Weise definiert. Das heißt, die gesellschaftliche Aufgabe der Pädagogik ist immer auch Anpassung an die – wie auch immer definierbaren – gesellschaftlichen Erfordernisse.141
Letztlich geht es der Pädagogik aus Hitzlers Perspektive darum, zentrale Werte und Normen – in Bezug auf eine »gute Pädagogik« oder »gelungene Sozialisation« – nicht nur in der Anwendung pädagogischen Praxiswissens, etwa im Unterricht, anzusetzen, sondern sie bereits in der (wissenschaftlichen) Ausbildung und Überprüfung von Praxiswissen derart zu behandeln, dass sie selbst eine Theorieentwicklung dominieren können. In der Konsequenz beeinflusst eine solche normative Setzung dann auch die Form oder den Umfang der empirischen Beobachtung von sozialen Tatsachen, wie im obigen Beispiel der jugendsoziologischen Forschung über Fitness-Motive zu sehen war. Hier ist nach Hitzler die Pädagogik vorsichtig gesagt an einem Punkt, an dem sie die Wissenschaftlichkeit ihres Vorgehens neu klären muss. Eine mögliche Zusammenarbeit zwischen der empirischen Sozialwissenschaft und pädagogischer Theoriebildung beschreibt Hitzler so: Sozialwissenschaftliche Analysen können Pädagogen Hinweise für die Formulierung erziehungsrelevanter Kategoriensysteme bieten. Die Formulierung dieser Kategoriensysteme bleibt aber Aufgabe und eigenständige Leistung pädagogischer Theoriebildung.142 140 Ebd., 149. 141 Ebd., 151. 142 Ebd., 150.
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Die andere Seite: Methodologische Perspektiven auf die empirische Forschung
In dieser klaren Abgrenzung erfüllt die empirisch-soziologische Forschung ihre angestammte Funktion, ganz unbeeinflusst von einer weiteren Nutzung ihrer Ergebnisse durch die Erziehungswissenschaft. Aus Hitzlers Perspektive erfordert weder die empirische Analyse erziehungswissenschaftliche Kenntnisse – denn die Soziologie ist in ihren Methoden von möglichen Nutzungsinteressen unbeeindruckt – noch ist die Soziologie in die Nutzung von Ergebnissen in einer theoretischen Entwicklung im Bereich der Erziehungswissenschaften einbezogen. Auf Seiten der Soziologie (also mit Blick auf innersoziologische Prozesse von empirischer Forschung und Theoriebildung) beschreibt Hitzler den Übergang von der Datenanalyse zur Interpretation und theoretischen Einbindung des neu gewonnenen Wissens so, dass soziologische Theoriebildung (als originäre Interessentin empirischer Forschung) als übergeordnete Ebene einer Interpretation von Ergebnissen empirischer Forschung fungiert und darin eine datengeleitete Theoriebildung darstellt, die ein allgemeines Verstehensmodell des Beobachteten und damit »Deutungswissen«143 produziert. In diesem Prozess ergibt sich keinerlei Dissonanz zwischen Daten und Theorie, kein Problem der Normativität, weil jede Theorie sich jederzeit einer Erweiterung oder Korrektur durch neue Erkenntnisse aus empirischer Forschung aussetzen muss und ihrerseits neue Fragen generiert. Ein solches Vorgehen, in dem der gesamte Prozess von der Entwicklung einer Hypothese bis hin zu Interpretation erhobener Daten und ihrer Einbindung in die Theorieentwicklung unter dem Dach einer einzelnen Wissenschaft stattfindet, wäre auch für die Erziehungswissenschaften unter Nutzung empirisch-sozialwissenschaftlicher Methoden möglich. Allerdings bemerkt Hitzler, dass eine derart agierende, methodisch strukturierte und jederzeit von der Interpretation empirischer Daten geleitete, erziehungswissenschaftliche Theorieentwicklung dann »nichts anderes« wäre »als eine thematische Spezialisierung unter vielen anderen der empirischen Sozialforschung« und damit eine Art »Soziologie der Pädagogik«.144 Auf den Punkt gebracht und ausgehend von Hitzlers Text für andere interdisziplinäre Arbeitsfelder aufbereitet hieße das: Dort wo eine Wissenschaft keine eigenen fachlichen Vorgaben macht, wo sie auf moralische Voreingenommenheit so weit wie möglich verzichtet, nicht auf Momente theoretischer Letztbegründung zurückgreift und ihre Arbeit nicht von (wissenschaftsfremden) Anwendungsinteressen bestimmen lässt, sondern ihre Theorie rein nach den Regeln der Wissenschaft weiterentwickelt,145 dort ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der empirischen Soziologie problemlos. Allerdings ist an 143 Ebd. 144 Ebd., 152 f. 145 Hierin entsteht natürlich eine Abhängigkeit vom jeweiligen Wissenschaftsbegriff, der ebenso interdisziplinär geklärt werden muss, damit eine Zusammenarbeit gelingen kann.
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Chancen und Begrenzungen der »disziplinären Ökumene«
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diesen Punkten das jeweils eigene Profil der anderen Wissenschaft auch nur noch anhand der typischen Gegenstände bzw. der thematischen Felder auszumachen. Das Problem entsteht, wo eine andere Wissenschaft entweder klare Interessen an einer bestimmten Beschaffenheit von Ergebnissen berücksichtigen muss (wie etwa die Erziehungswissenschaft mit Blick auf Unterricht oder die Psychologie mit Blick auf therapeutische Verfahren), wo sie theoretische Annahmen normativ setzt und diese »moralisch« auflädt (wie etwa die Sozialpädagogik, die in ihren Theorien beispielsweise die Erweiterung der Handlungskompetenz ihrer Klientel als Ziel hat) oder wo sie auf nicht beweisbare Einflüsse rekurriert (wie etwa die Theologie, die es mit menschlichen Erfahrungen mit dem Unverfügbaren zu tun hat). Von Seiten der Pädagogik hat Peter Vogel auf die Positionierung Hitzlers reagiert und tatsächlich ein »wissenschaftstheoretisches Dilemma der Erziehungswissenschaft« konstatiert:146 Diese muss einerseits wissenschaftliche Standards einhalten und sich moralischer Bewertungen enthalten, sie kommt aber andererseits in der Anwendung ihres Wissens im Umgang mit ihren Zielgruppen nicht aus ohne Zielvorstellungen, die unweigerlich moralisch aufgeladen sind, also Setzungen dessen, was sein soll, enthalten. Dies fordert eine Klärung, die Vogel in Rückgriff auf wissenschaftsgeschichtliche Analysen unternimmt: Die Pädagogik ist in ihrer Geschichte als wissenschaftliches Fach angetreten, um dezidiert eine Art Sinnstiftung für die professionelle Arbeit von Lehrkräften zu entwickeln. Vogel beschreibt die Zuspitzung des heutigen Dilemmas mit einem Höhepunkt in den 1960er Jahren, als im Rahmen der »Empirischen Wende« von der Pädagogik »einerseits gefordert wurde, sicheres empirisches Wissen sowohl über die Ursachen von Bildungsbenachteiligung zu erzeugen als auch über die Instrumente, sie abzubauen, und andererseits der Wissenschaftscharakter der Erziehungswissenschaft grundsätzlich in Zweifel gezogen« wurde.147 Aus diesem unauflöslichen Dilemma, das bei Nichtbeachtung auch in den Augen Vogels die Wissenschaftlichkeit der Erziehungswissenschaft ernsthaft bedrohen kann,148 entwickelt dieser eine Lösung, die wesentlich auf einer Zweiteilung pädagogischer Wissensformen beruht: Er unterscheidet erziehungswissenschaftliches Wissen im eigentlichen Sinn von pädagogischem Professionswissen. Während ersteres streng im wissenschaftlichen Diskurs ge146 Vogel, Erziehungswissenschaft, 482. 147 Ebd., 486 f. Darin Rückgriff auf: Ders., Rekonstruktion. An diesem Beispiel wird sichtbar, wie immer wieder auch im Bereich der Soziologie als originärer Fundort sozialer Ungleichheit die Forschenden selbstverständlich zahlreiche Vorstellungen von dem, was »sein soll«, transportieren und Fakten wie soziale Ausgrenzungsprozesse nur selten völlig wertfrei theoretisch verarbeiten. Dass nicht in allen Arbeitsfeldern der Soziologie eine echte »moralische Indifferenz« durchzuhalten sei, zeigt sich in ihrer Geschichte vielfach. 148 Siehe auch Vogel, Lernfähigkeit.
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Die andere Seite: Methodologische Perspektiven auf die empirische Forschung
wonnen wird und in seinen Entstehungszusammenhängen und Begründungsmustern den dort üblichen Kriterien entsprechen muss, enthält letzteres zwar Bestandteile des ersteren, zielt jedoch klar auf pädagogisches Handeln ab und berücksichtigt zu seinem Erwerb ebenso professionelle Erfahrungen und bezieht sich auf die daraus entwickelten Standards. Die Erziehungswissenschaft hat, so Vogels Schluss, auf dem Sektor des pädagogischen Professionswissens das nicht auszuschließende Problem, letztlich unbeweisbare Setzungen vornehmen zu müssen. Sie betrachtet jedoch gerade die Beschäftigung mit solchen Setzungen, mit ihrer Analyse, Rekonstruktion, Überprüfung und Korrektur, die wissenschaftliche Arbeit als entscheidenden Faktor der methodisch strukturierten Kontrolle der Setzungen, was letztlich einen erheblichen wissenschaftlichen Fortschritt bedeutet: Am Ende stehen nicht Empfehlungen, sondern Wenn-Dann-Sätze. Dahinter steht die Überzeugung, dass es – ungeachtet der Unmöglichkeit wissenschaftlicher Letztbegründung von Erziehungs- und Bildungstheorien – erhebliche rational nachvollziehbare Qualitätsunterschiede zwischen diesen Theorien gibt.149
Den Unterschied zwischen der Erziehungswissenschaft (als Wissenschaft, die mindestens teilweise nicht letztbegründbare Theorien entwickelt) und der Soziologie, den Hitzler so pointiert zeichnet, skizziert Vogel, indem er zeigt, dass die Soziologie, anders als die Erziehungswissenschaft (und man möchte ergänzen: auch andere Wissenschaften wie etwa die Psychologie oder die Theologie) keine mit ihr originär verbundenen Anwendungsbereiche hat. Ohne die Notwendigkeit, ein soziologisches Handlungswissen zu erzeugen oder »soziologisches Professionswissen«150 zu berücksichtigen, ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich die Soziologie diesen Bereich anwendungsbezogener wissenschaftlicher Arbeit ersparen kann. In diesem Diskurs zeigt sich von Seiten der Erziehungswissenschaft dann indirekt, inwiefern eine Zusammenarbeit mit soziologisch-empirischer Wissenschaft zielführend ist: Hier verbleibt die Theoriebildung einschließlich der Arbeit an Theorien ohne die Möglichkeit der Letztbegründung bei der Erziehungswissenschaft selbst. Die Interpretation empirischer Daten erfüllt aber – von hier aus gesehen: selbstverständlich – den Zweck, den sie für eine soziologische Theoriebildung auch erfüllt, nur kann ihre Reichweite nicht größer sein, als dies im Rahmen der jeweiligen theoretischen Arbeit nun einmal möglich ist. Aus der Sicht Vogels gesprochen könnte ein Problem der »disziplinären Ökumene« nur darin bestehen, dass immer wieder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in unterschiedlichen Bereichen ihre
149 Vogel, Erziehungswissenschaft, 492. 150 Ebd., 489.
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»Hausaufgaben« nicht ausreichend erledigen oder die Grenzen ihrer disziplinären Möglichkeiten überschreiten. Festzustellen ist aber mit Blick auf den vollständigen Diskurs, dass hier zwischen den Verantwortlichen aus beiden Wissenschaften kein echter Konsens, keine befriedigende erkenntnistheoretische oder methodologische Zuordnung stattgefunden hat. Die Eigendynamik von Anwendungsinteressen in der Theoriebildung scheint erheblich und das Problem ihres (zumindest potenziellen) Einflusses scheint wissenschaftstheoretisch nicht wirklich auflösbar zu sein.151 Die Aufteilung in rein theoretische Fragen und Anwendungsfragen ergibt eine Zwischenlösung, aber keine befriedigende Klärung einer möglichen »disziplinären Ökumene«. So lassen sich mit Blick auf die Praktische Theologie zunächst bleibende Spannungen beschreiben und Grenzpunkte markieren.
4.2
Lerneffekte aus theoretischen Konzepten der empirischen Forschung im Bereich der Soziologie
Soziologie ist empirische Wissenschaft, das lässt sich als weitgehender Konsens im Bereich der Soziologie beschreiben.152 Sie ist auf soziale Gegebenheiten gewiesen und kann nicht anders, als das Vorfindliche, Erfahrbare wahrzunehmen und in die Reflexion mit einzubeziehen, unabhängig davon, ob eine soziologische Vorgehensweise aus der Tradition des Empirismus oder des Rationalismus erfolgt, ob sie explizit empirisch forschend oder vorrangig kritisch-reflexiv ist. In der Soziologie stellt sich nun beispielhaft ganz allgemein die Frage, wie Erkenntnis grundlegend gewonnen werden kann, auf welchem Weg Beobachtungen und Erfahrungen wissenschaftlicher Reflexion zugänglich gemacht werden können. Die epistemologischen Grundlagen der Soziologie sind für eine Klärung der Nutzungsbedingungen für empirische Forschung in der Soziologie oder auch in anderen Wissenschaften wesentlich.153 Hier geht es erst im zweiten Schritt um die richtige oder angemessene Methodik (vgl. Abschnitt 4.3). Zuerst steht die grundlegende Frage im Vordergrund, wie und unter welchen Bedin151 Dies ist vermutlich auch deshalb der Fall, weil Theoriebildung zumeist in einer zirkulären Logik geschieht, in der das eine vom anderen gar nicht abzugrenzen ist. Und wo etwa die Akteurinnen und Akteure zugleich verschiedenen Kontexten angehören, wo akademisch tätige Theologen zugleich in Kirchengemeinden engagiert sind oder Sozialforscherinnen in Ausbildungskontexten ihre Anwendungsinteressen verfolgen, ist eine Unterscheidung der Perspektiven eher theoretischer Natur. 152 Prominent beginnt Ren¦ König sein umfassendes Werk mit dem Satz »dass Soziologie überhaupt nur als empirische Soziologie möglich« sei; vgl. ders., Einleitung, 3. 153 Ein sehr hilfreicher forschungsgeschichtlicher Überblick über epistemologische Fragen findet sich bei Bernard, Social Research, 10 – 21; vgl. ebenfalls Maus, Vorgeschichte.
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gungen Erkenntnis überhaupt möglich ist. Aus dieser Diskussion heraus ist dann in der Konsequenz zu beschreiben, was empirische Forschung nützt und in welchen Konstellationen im Forschungskontext sie genutzt werden kann oder muss. Ohne die epistemologischen Diskurse in der Geschichte der Soziologie der vergangenen 150 Jahre aufrollen zu wollen, soll aus dem Streit um den Positivismus und dessen Folgen Grundlegendes gezeigt und für die abschließende Diskussion genutzt werden. Zum Positivismus als vielschichtige und durch die Geschichte stark veränderte Tradition lässt sich ganz Verschiedenes zählen: zunächst die empiristische Überzeugung, dass echtes Wissen nur durch sinnliche Wahrnehmung zu erwerben ist. In unmittelbarem Anschluss daran entwickelt sich die induktivistische Idee, Wissen müsse durch die Wahrnehmung von Tatsachen gewonnen werden, aus denen sich dann eine Basis für die Formulierung von Gesetzmäßigkeiten ergibt. Im Zuge der Erkenntnis, dass jeder Beobachtung immer schon zu Theorien geronnenes Vorwissen zugrunde liegt, werden die empiristisch-induktivistischen Ansätze jedoch andernorts durch deduktivistische Überlegungen ergänzt, wonach aus Theorien Hypothesen generiert und in Tests überprüft werden können, so dass abschließend Erklärungen und ein umfassendes Verständnis von Gesetzmäßigkeiten erreicht werden könne. Insgesamt zeichnen sich positivistische Ansätze durch die Meinung aus, dass die Arbeit der Wissenschaft grundsätzlich wertfrei und vorurteilsfrei geschehe und dass es deshalb im Prozess der Forschung immer einen klaren Unterschied zwischen wissenschaftlichen und normativen Stellungnahmen, zwischen Ergebnissen der reinen Beobachtung einerseits und Ergebnissen der jeweiligen Bewertung von Beobachtung andererseits gebe.154 In der Tradition von Auguste Comte (1798 – 1857) ermöglichte in diesem Sinn eine so verstandene »positive Wissenschaft« den Menschen wieder, was im Zuge der Aufklärung durch die Religion oder Tradition nicht mehr ohne Weiteres geleistet werden konnte, nämlich eine angemessene Erklärung dessen zu entwickeln, was gut und richtig ist. Auch wenn gegenwärtig die reine positivistische Lehre im Bereich der Soziologie nicht mehr geteilt wird, zieht sich dieser Streit darum, ob und wie objektive Erkenntnis möglich ist und ob empirische Wissenschaft auch normative Aussagen treffen kann über das, was sein soll, bis in die Gegenwart. Ihren Höhepunkt fand dieser Diskurs in der Auseinandersetzung zwischen Kritischem Rationalismus und einem Teil der Frankfurter Schule,155 was bis heute 154 Vgl. die Verknüpfung von Methodologie und Epistemologischer Tradition bei Bryman, Social Research, 9 – 21. 155 Beispielhaft bei Adorno, Positivismusstreit; ihm gegenüber Albert/Topitsch, Werturteilsstreit.
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den Diskurs um die Methodologie beeinflusst: Der Kritische Rationalismus, oder auch: der erkenntnistheoretische Realismus, hat die Denkfigur des Positivismus zwar hinter sich gelassen, hält es aber für möglich, mit einer gewissen Objektivität eine »Realität« zu erkennen. Nun verschiebt sich die erkenntnistheoretische Debatte in den Bereich der Methodologie, wo zur Debatte steht, unter welchen Bedingungen ein sauberer Erkenntnisgewinn möglich ist.156 Als wichtigsten Gegenpart für dieses Programm kann man den erkenntnistheoretischen Konstruktivismus verstehen, eine ontologische Position, die soziale Phänomene einschließlich dessen, was ihnen an Bedeutung beigemessen werden kann, als kontinuierlich von sozialen Akteurinnen und Akteuren gebildet und darum immerzu in Veränderung begreift. In dieser Perspektive gibt es keine sozialen Phänomene, die überhaupt grundlegend verstanden werden könnten, weil sie aus sich selbst heraus so oder so wären. Empirische Forschung kann hier konsequent gedacht immer nur aus der Perspektive von Forschenden (also bereits durch Wahrnehmung und Deutung geprägt) erfolgen und erfasst darum nicht die Wirklichkeit, sondern eine Momentaufnahme eines Produkts sozialer Interaktion als (wiederum nur vorläufiges) Resultat von vorläufigen Konstruktionen. Die Forschenden erheben damit in ihrer eigenen, unwillkürlichen Deutung etwas, das wiederum nur durch Deutung (Konstruktion) zustande gekommen ist. Auf diesem Weg lässt sich unter Umständen viel darüber erfahren, wie soziale Konstruktionen vor sich gehen. Über eine »soziale Wirklichkeit« erfährt man jedoch wenig, weil es diese folgerichtig als solche gar nicht gibt. In der extremen Form des radikalen Konstruktivismus wird schließlich sogar die Möglichkeit bestritten, überhaupt Erkenntnisse zu gewinnen, die mehr sind als nur ein Nachvollziehen menschlicher Interpretation von Sachverhalten – gewissermaßen als Interpretation der Interpretation der Interpretation und niemals als objektive Erkenntnis.157 Wie die Überzeugungen des Positivismus, so werden auch die des extremen Konstruktivismus in der gegenwärtigen Sozialforschung kaum noch in dieser Form geteilt. Die Mehrzahl der Forschenden vertritt eine gemäßigte Form der einen oder anderen Theorie, arbeitet im Bewusstsein der natürlichen Beschränkungen menschlicher Erkenntnis und hofft dennoch auf schlüssige Ergebnisse mit erheblichem Nutzwert. Dass Wahrnehmung selektiv ist und daraus Fehler in der Forschung unvermeidlich sind, gehört zum Konsens unter empirisch Forschenden. Wissenschaftliche Reflexion ist demnach keineswegs voraussetzungslos und frei von Vorurteilen, es ist aber möglich, diese Unwägbar156 So die Konstruktion aus Erkenntnistheorie und Methode etwa bei Helmut Kromrey, der selbst dem Kritischen Rationalismus nahe steht; vgl. ders., Sozialforschung. Seine Darstellung der wichtigsten erkenntnistheoretischen Grundlagen findet sich auf S. 14 f. 157 Etwa zu finden bei Meinefeld, Realität.
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keiten ihrerseits einer Kontrolle zu unterziehen und damit im Resultat doch einen erheblichen Unterschied zwischen Alltagsdenken und wissenschaftlichem Denken zu schaffen.158 Dennoch sind die hier beschriebenen Gegensätze bis heute spürbar, etwa was die methodologischen Grundlagen quantitativer oder qualitativer Methoden anbelangt, wie ich unten noch zeigen werde. Die quantitative Methodik steht in der Tradition Karl Raimund Poppers (1902 – 1994), Mitbegründer der Forschungslogik, auf die sich der Kritische Rationalismus stützt. Er entwickelte das Denkmodell hypothesenprüfender Verfahren, in denen zwar nicht objektives, letztgültiges Wissen hervorgebracht, aber Theorien über einen Lauf von möglicher Falsifizierung und Korrektur immer weiter verbessert und somit zu einer beachtlichen Qualität geführt werden können. In dieser Tradition steht auch die Mehrzahl der empirisch Forschenden in der Theologie aus der ersten Forschungsgeneration nach der so genannten Empirischen Wende. In der abschließenden Reflexion eines praktisch-theologischen Forschungsseminars durch Christof Bäumler liest sich das als erkenntnistheoretische Herausforderung für die Theologie so: In den meisten empirischen Arbeiten wird das Verhältnis von Theorie und Praxis gegenwärtig im Sinne des Kritischen Rationalismus bestimmt. Nach dessen Auffassung müssen theoretische Aussagen, sofern sie beanspruchen, wissenschaftliche Feststellungen zu treffen, empirisch widerlegt werden können. Theoretische Aussagen, die diesem Anspruch nicht genügen, gelten als metaphysisch, d. h. sie sind zwar nicht sinnlos, aber sie sind unwissenschaftlich gemessen am Wissenschaftsbegriff des Kritischen Rationalismus (Popper 1934). Damit stehen wir vor einem Grundproblem, das sich auch im Methodenseminar deutlich genug bemerkbar machte: Können theologische Sätze so formuliert werden, dass sie empirisch widerlegbar sind?159
Dagegen führen Theorien rekonstruktiver Verfahren eine Vielzahl von theoretischen Traditionen an, die in der Wissenschaftsgeschichte hypothesenprüfende Verfahren kritisiert haben, von kommunikations- und interaktionstheoretischen Zugängen bis hin zur phänomenologischen Tradition, der Wissenssoziologie, der Chicagoer Schule oder dem Symbolischen Interaktionismus. Ralf Bohnsack, einer der aktuell prominenten Vertreter der qualitativen Forschungsmethodik, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten um eine Ausweitung des methodischen Repertoires verdient gemacht, jedoch immer mit einer erheblichen Einschränkung, was die Erkennbarkeit sozialer Phänomene durch die Forschenden anbelangt:
158 So findet sich diese Form einer »gemäßigten Theorie« etwa bei Andreas Diekmann in dessen methodologischer Einführung; vgl. ders., Sozialforschung. Vgl. auch Atteslander, Methoden. 159 Bäumler, Dokumentation, 263. Der Autor bezieht sich hier auf Popper, Logik.
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Von Seiten der Phänomenologie, des Symbolischen Interaktionismus und der Ethnowissenschaften wird nun grundlegend problematisiert, ob sich Beobachter und Beobachteter, Interviewer und Befragter überhaupt so ohne weiteres verstehen, zumal sie häufig unterschiedlichen sozialen Welten, unterschiedlichen Subkulturen oder Milieus angehören, unterschiedlich sozialisiert sind und somit in unterschiedlichen Sprachen reden. Auch wenn Syntax, also Grammatik und Wortschatz, dieselben sind, also z. B. beide die deutsche Sprache sprechen, ist die Semantik, also der mit der sprachlichen Äußerung verbundene Sinngehalt unterschiedlich.160
Virulenter ist jedoch in der aktuellen Sozialwissenschaft der Diskurs um das Werturteil in der Wissenschaft.161 Während der Positivismus noch davon ausging, dass Wissenschaft, wirklich objektiv betrieben, durchaus zu einer Aussage über das Gute und Richtige kommen kann, gehen Forschende nun recht einig davon aus, dass eine solche Verbindung von Erkenntnisgewinn (Forschung) und deren Bewertung (Werturteile, Konsequenzen) nicht sinnvoll ist, ja sogar die Wissenschaftlichkeit der Forschung stark beeinträchtigen würde. Ebenso einig ist man sich darüber, dass dennoch empirische Forschung kaum wirklich frei von Werten ist, denn Werturteile stehen bereits zu Anfang eines Forschungsprozesses, wo (auch aufgrund von Werturteilen) bestimmte Forschungsinteressen in den Vordergrund und dafür andere in den Hintergrund geschoben werden. Ich kehre noch einmal zurück zum Beispiel der Mitgliederbefragung der EKD: Dass die Evangelische Kirche ihre Mitglieder zu deren Meinung darüber, »was die Kirche tun sollte«,162 befragt, beinhaltet ja bereits die (von den Forschenden übernommene) Entscheidung der Auftraggeberin, die gewonnenen Erkenntnisse über die Meinung der Kirchenmitglieder seien in irgendeiner Form wesentlich. Ebenso gut hätte man aus der theoretischen Arbeit über das Handeln der evangelischen Kirche gezielt einzelne Handlungsfelder evaluativ untersuchen können oder anderes. Hinter dem Erkenntnisinteresse stehen die Entscheidung für eine bestimmte theoretische Einbettung von Forschungsfragen und ein implizites Werturteil. Ebenso werden in der Scientific Community Werturteile über eine gute und angemessene Forschung geteilt, über Kriterien, die erfüllt, und Normen, die nicht missachtet werden dürfen. Zuletzt trägt das Verwertungsinteresse ein Werturteil in sich, das etwa dort gefällt ist, wenn eine christliche Kirche davon ausgeht, Aussagen über ihr Image und Erwartungen 160 Bohnsack, Sozialforschung, 18. Vgl. auch dessen Ausführung über die Gruppendiskussion als rekonstruktives Verfahren: Ders., Gruppendiskussion. 161 Eine Übersicht über den aktuellen Diskurs um Werturteile bringt Michael Häder (Häder, Sozialforschung, 61 – 66). Umfassender bei Albert, Wissenschaftslehre, 45 – 48. Oder in einer aktuellen Darstellung bei Opp, Methodologie, 222 – 231. 162 So bereits in der ersten Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD im Jahr 1972 in Frage 28; vgl. Hild, Kirche, 318 f.
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der Mitglieder für die weitere Theoriebildung oder auch ihre strategische Planung nutzen zu wollen. Das eigentliche, aktuell immer noch diskutierte Problem des Werturteils in der empirischen Sozialforschung besteht nun in einer ganz grundsätzlichen Frage, über die im Gegensatz zu den bisher beschriebenen – unvermeidlichen – Bewertungsvorgängen kein wirklicher Konsens besteht: Ist eine Gewinnung von Erkenntnissen im Raum der Sozialwissenschaften möglich, wenn die Forschenden dem Sozialgefüge, das sie erforschen, selbst angehören? Führt nicht die eigene Zugehörigkeit automatisch zu einer Beeinflussung von Interessen, Sichtweisen und Sehfähigkeiten, die sich wiederum auf den Forschungsprozess auswirken? Im Kontext der Kritischen Theorie führte diese Frage zu der Forderung, es müsse der Sozialforschung nicht nur um die Gewinnung von Erkenntnissen gehen, sondern ebenso um eine kritische Sichtung der sozialen Verhältnisse und gegebenenfalls sogar um ihre Veränderung. Interessant ist an solchen Auseinandersetzungen zwischen Forschungstraditionen, dass aus ihnen zahlreiche sehr produktive Vorschläge entstehen, wie eine derartige Voreingenommenheit in der Forschung zu bewältigen sei, etwa indem Vorerfahrungen und Interessen transparent gemacht und als Wirkfaktoren der Forschung selbst berücksichtigt werden.163
4.3
Lerneffekte aus der Methodologie empirischer Forschung
Während mit den unterschiedlichen empirischen Verfahren verschiedene theoretische Schulen verknüpft sind und sich damit grundlegende Konflikte verbinden, so dass etwa die so genannten quantitativen und qualitativen Methoden manchmal im unversöhnlich scheinenden Widerspruch zueinander stehen, ist in der Praxis der Vorgang der Wahl von Vorgehensweisen dennoch eher wenig konfliktbehaftet, wie Andreas Diekmann treffend formuliert: »Nicht die Methoden sind alternativ, sondern die Forschungsprobleme.«164 Ist die erste Entscheidung getroffen, weiß man also um sein konkretes Erkenntnisinteresse und hat in diesem Sinn eine Relevanzentscheidung gefällt, ist das zu entwickelnde Forschungsdesign simpel daran orientiert, was mit welcher Methodik herauszufinden überhaupt möglich ist. Möchte man Hypothesen testen, die etwa lauten: »Menschen verlassen die Evangelischen Kirche, weil sie keine Kirchensteuer bezahlen möchten« oder »weil sie der christlichen Lehre nicht (mehr)
163 Vgl. Opp, Methodologie, 230 f. 164 Diekmann, Sozialforschung, 69.
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zustimmen«,165 bieten sich Hypothesen testende Verfahren natürlich an. Mit ihnen bleibt man in relativer Distanz zu den Befragten, reduziert die Ergebnisse auf Aussagen, die unmittelbar zu diesen Hypothesen Erkenntnisse zulassen, und erreicht schließlich Ergebnisse, die im definierten Bereich eine erklärende Kraft haben. Möchte man aber grundlegend wissen, wie Menschen zum Thema Kirchenaustritt denken, und möchte man das semantische Feld von Kirche verstehen, wird man eher explorative Verfahren wählen, mit denen mögliche Sinnstrukturen zunächst rekonstruiert und darin unterschiedliche Logiken entschlüsselt werden. Diese können dann in einem weiteren Schritt durchaus als Hypothesen fungieren, die sich deduktiv überprüfen lassen. Ich vertrete die Position, dass sich die erkenntnistheoretischen Vorstellungen, innerhalb derer das jeweilige methodische Instrumentarium entwickelt wurde, zwar auf die Methodik selbst und das daraus folgende jeweilige Verständnis von Erkenntnismöglichkeiten auswirken und darum unbedingt beachtet werden müssen, dass jedoch in der Praxis diese Methoden durchaus innerhalb eines Forschungsdesigns vereinbar sind, wenn die Forschungslogiken beachtet und entsprechende Rahmenbedingungen eingehalten werden.166 Zentral ist damit die Erkenntnis, dass, wie im Beispiel der Erforschung des Kirchenaustritts gezeigt, sowohl bestimmte Erkenntnisinteressen zu bestimmten möglichen Verfahren führen als auch umgekehrt bestimmte Verfahren nur jeweils eingeschränkte Möglichkeiten in der Produktion von Ergebnissen haben. Entsprechend sind auch die jeweiligen Gütekriterien für eine gute Forschung zu formulieren: Während im Bereich der hypothesenprüfenden, standardisierten Verfahren in den Sozialwissenschaften klassisch die Objektivität, die Reliabilität, also die Zuverlässigkeit des Verfahrens, sowie die Validität, also die Gültigkeit einer Messung, als Gütekriterien gesetzt werden, gilt es, diese Kriterien im Bereich rekonstruktiver Verfahren angemessen umzusetzen und damit die Wissenschaftlichkeit solcher Verfahren abzusichern. In der rekonstruktiven Methodologie wird der Anspruch auf Objektivität zumeist als unangemessen abgelehnt, »weil die Subjektivität der Forschenden nicht als Störvariable eliminiert, sondern für den Verständigungs- und Verstehensprozess genutzt werden soll«.167 Ähnliches gilt für den Anspruch auf Reliabilität, insofern die Ergebungssituation in rekonstruktiven Verfahren – etwa in Interviews oder Gruppendiskussionen – in der Regel gar nicht reproduziert 165 Solche Hypothesen sind hinter den Fragen nach Austrittsgründen und der Haltung zur Kirchensteuer in den EKD-Erhebungen zu lesen. Vgl. auch Daiber, Moderne. 166 Dies hat sich in den Sozialwissenschaften als Konsens etwa in der Methodologie triangulativer Verfahren durchgesetzt, vgl. programmatisch schon 2001 bei Mayring, Kombination; die breiteste methodologische Zusammenschau findet sich aktuell bei Kelle, Methoden. Für eine Zusammenstellung von Verfahren vgl. Flick, Triangulation. 167 Vgl. Mruck, Sozialforschung; Zitat in Absatz 26, hier in Rückgriff auf Heiner Legewie.
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werden kann, sondern eine Momentaufnahme in einem kontinuierlichen Deutungs- und Entwicklungsprozess darstellt. Die Validität einer Messung wird schließlich, ganz ähnlich dem Umgang mit der Forderung nach Objektivität, methodologisch über Prozesse der intersubjektiven Verständigung im Forschungsprozess erreicht, etwa in Auswertungsgruppen. Hier ist dann mit Katja Mruck von einer »konsensuellen Validierung« im Team von Seiten der Interpretierenden zu sprechen, von einer »kommunikativen Validierung« in der Rückkopplung von Forschungsergebnissen mit den Befragten oder auch von einer »argumentativen Validierung« etwa in einem interdisziplinären Team.168 Auf diese Weise zeigen sich rekonstruktive Verfahren häufig in einer ganz eigenen Erscheinungsform – als Forschung, die auf den Dialog angewiesen ist und sich darum zumeist selbst um Kontakte mit Menschen in den jeweiligen Anwendungsfeldern bemüht.169 Möglicherweise erfreuen sich diese Verfahren darum auch in der Praktischen Theologie so großer Beliebtheit, weil eine Sicht »von außen« auf den Datenbestand nicht nur als hilfreich, sondern als unmittelbar notwendig erachtet wird, damit eine Intersubjektivität der Interpretation, wenn schon keine Objektivität im eigentlichen Sinn, erreicht werden kann. Damit werden selbst Nutzerinnen und Nutzer von Ergebnissen der empirischen Forschung als Subjekte derselben Forschung verstanden, die im Grunde nie »außerhalb« des Forschungsprozesses stehen, sondern in der weiteren Wahrnehmung und Nutzung von Ergebnissen selbst an ihm teilnehmen.
168 Ebd., Absatz 26. Andere Methodologien versuchen eine Umdeutung der Kriterien aus hypothesentestenden Verfahren aus der Forschungslogik rekonstruktiver Verfahren heraus, zu lesen etwa bei Przyborski/Wohlrab-Sahr, Sozialforschung, v. a. 36 – 38. Mit Blick auf die Kriterien der Praxisforschung formuliert Heinz Moser als Kriterien: Transparenz der Vorgänge, Stimmigkeit von Zielen und Methoden, Adäquatheit der Forschungstätigkeit sowie Anschlussfähigkeit von Ergebnissen an Fachdiskurse; vgl. ders., Instrumentenkoffer, 18 f. 169 So wurde beispielsweise im von mir geleiteten Armutsforschungsprojekt verfahren: Dort war die Forschung im Stadtteil Hamburg-Wilhelmsburg angesiedelt und es waren Engagierte aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, lokalen Institutionen und Initiativen am Auswertungsprozess beteiligt, was die Interpretation von Daten beeinflusst, komplexer gestaltet und im Effekt vor allem bereichert hat. Vgl. Schulz, Ausgegrenzt.
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5. Empirie für die Theologie: Ergebnisse und Konsequenzen
Dieser Abschnitt soll nun ein Resümee bieten: Ausgehend von einer Bündelung und Veranschaulichung der Modelle einer Zusammenarbeit zwischen praktischtheologischer Wissenschaft und empirischer Forschung (5.1) werden offene Fragen und Diskussionspunkte aus dem bisher Gesagten gebündelt (5.2). Abschließend folgen eine programmatische Zusammenschau der Ergebnisse sowie ein Ausblick auf die sich in den folgenden Kapiteln anschließenden Studien (5.3).
5.1
Empirische Forschung in der Theologie – eine Übersicht der Verhältnisbestimmungen
In der Auseinandersetzung Klaus Wegenasts mit Heinrich Roth war das Bild der empirischen Forschung als Einbrecher in das Haus einer anderen Wissenschaft bereits genannt worden. In ihm kumulieren zahlreiche Befürchtungen innerhalb der Theologie, die Empirie könne sich beim zentralen Theoriebestand der Theologie »bedienen«, ihre Eigeninteressen verfolgen, ohne Rücksicht auf die genuine theologische Denkwelt und dort zentrale Paradigmen zu nehmen.170 Dieser Vorbehalt wird aktuell wohl noch auf der Anwendungsebene geteilt, wo Pfarrerinnen oder Diakone vielfach den Eindruck haben, nicht enden wollende Mengen von Ergebnissen empirischer Forschung über Kirchenmitglieder, Predigthörende, Milieus und demographische Entwicklungen wahrnehmen und sich damit auseinandersetzen zu müssen, was möglicherweise die Energie raubt, die nötig wäre, um sich mit den »eigentlichen Aufgaben« im Arbeitsfeld zu befassen. Auf der Ebene der theologischen Theoriebildung scheint mir dieser Vorbehalt jedoch in der Gegenwart nicht mehr existent zu sein. Dies liegt ver170 Siehe oben in Abschnitt 2.3, in dem die Thesen Wegenasts eine zentrale Rolle spielen. Neben dem Bild des »Einbrechers« wäre in der Rezeption Barths und Bohrens noch das drastische Bild des »Vergewaltigers« zu nennen (Abschnitt 2.2).
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Empirie für die Theologie: Ergebnisse und Konsequenzen
mutlich darin begründet, dass ja in der Forschungslogik der empirisch arbeitenden Wissenschaften gar kein Interesse besteht, in den Bereich theologischer Theoriebildung einzudringen. Wohl behandelt zuweilen die Soziologie das Christentum in der Gesellschaft, das Phänomen der Religiosität oder religiös geprägten sozialen Bewegungen als Gegenstand empirischer Untersuchungen und theoretischer Überlegungen, aber hierbei stellt sie keinerlei Ansprüche auf Mitwirkung in der Theoriebildung der Theologie selbst und strebt auch in aller Regel keine unmittelbare Beachtung auf der Anwendungsebene an, etwa über die pastoralsoziologische Arbeit.171 Der Einbrecher aus der Zeit der so genannten Empirischen Wende in der Praktischen Theologie ist – im Bild gesprochen – gewissermaßen ein Gast geworden, der selten ungebeten zu Besuch kommt und Wertgegenstände lieber fotografiert als mitnimmt. Realistischer oder treffender ist das funktionale Sinnbild vom Verhältnis zwischen Auftraggeber bzw. Kundin und Dienstleister. Nach dieser Logik wird häufig empirische Forschung im Bereich der Praktischen Theologie eingesetzt: Man »kauft« Module der empirischen Forschung und genießt den Effekt, den diese für die jeweilige Arbeit haben können. Dies funktioniert am besten auf der Ebene der Anwendungsbezüge: Wer weiß, was Menschen in einem Gottesdienst erwarten, der kann die Menschen präziser zufrieden stellen und auf diesem Weg vermutlich erreichen, dass Verkündigung besser »ankommt«, das Image eines gottesdienstlichen Angebotes steigt und im Kreislauf von Erwartung und Befriedigung mit dieser konkreten Arbeit insgesamt mehr erreicht wird.172 Wer weiß, welche Faktoren die Beteiligung von Kirchenmitgliedern am kirchlichen Leben beeinflussen, wer versteht, welche Attraktivität verschiedene Gemeindeprofile für bestimmte Menschen entwickeln,173 kann dies in der strategischen Ausrichtung berücksichtigen. Derartige Bilder, in denen empirische Forschung Ergebnisse anliefert wie eine Dienerin die duftende Tasse Kaffee, wie eine Beraterin, die ohne Eigeninteressen Kompetenz zur Verfügung stellt und im besten Fall den Kunden auf dessen Weg begleitet und stützt, oder im Sinne Wegenasts wie eine Diagnostik, der dann die passende Therapie folgen kann,174 zersetzen sich jedoch häufig bei 171 Daiber problematisiert diese Aufgabentrennung ausdrücklich: Dass etwa die Soziologie in kirchensoziologischen Studien lediglich Ursprungsdisziplin des methodischen Instrumentariums ist, am Prozess der Forschung und Interpretation aber nur in Ausnahmefällen beteiligt wird, verhindert eine echte Weite der Perspektiven, wie sie mit der Nutzung empirischer Methoden möglich wäre; vgl. Daiber, Sozialforschung. 172 Ein Beispiel dafür bietet der Text in Teil B (2.3) in diesem Band: »Wie hätten Sie’s denn gern?«, ebenso zahlreiche andere Studien, die unmittelbare Umsetzungsmöglichkeiten bieten; vgl. Schwier/Gall, Predigt hören. Vgl. auch Martin, Mensch. 173 Vgl. die Texte in Teil B (1.4 und 2.1) in diesem Band: »Exklusion, Bindung und Beteiligung in der Kirche« und »Milieuspezifische Profilierung von Ortsgemeinden«. 174 Vgl. Wegenast, Empirische Wendung, 116. Dieses Motiv findet sich bereits bei Niebergall,
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Empirische Forschung in der Theologie – eine Übersicht der Verhältnisbestimmungen 89
genauerem Hinsehen. In vielen Studien ist Empirie nicht so einfach heranzuziehen und wieder zu entlassen. Da sind die Erfahrungen eher solche, wie sie zuweilen mit Handwerkern gemacht werden: Diese werden mit einer ganz bestimmten Tätigkeit beauftragt, im Prozess ergeben sich dann jedoch, durch die von ihnen mit beeinflussten Umstände, neue Aspekte der Tätigkeit, es entstehen Veränderungen oder Einschränkungen des konkreten Auftrags oder gar des gesamten Bauvorhabens. Ihre Mitarbeit bekommt dann weniger funktionale Aspekte als vielmehr kritische oder sogar performative: So verändern sich durch die Hinzuziehung von empirisch Forschenden zuweilen ganze Studiendesigns, Evaluationsanliegen werden modifiziert und Ziele korrigiert.175 Hier erscheint die Empirie wie ein Gewerk mit eigener fachlicher Handlungsund Deutungslogik, die sich nicht so schlicht unterordnen lässt. An Stelle der Auftragserfüllung tritt eine Mitgestaltung. Wenn dies dann auf der Ebene der theologischen Theorie wirksam wird, können sich daraus Differenzen ergeben, wo – im Bild gesprochen – die Leistung nicht zum Auftrag, oder – über theoretische Forschungsfragen und empirische Forschungsdesigns gesprochen – die Antwort nicht zur Frage passt. So ist das Wissen über Bindungsfaktoren einer Ortsgemeinde sowohl in der Theorie als auch in der Praxis durchaus nützlich, es kommen jedoch damit auch zahlreiche Aporien ans Licht, etwa die, dass manche Kirchenmitglieder offenbar nur schwer oder möglicherweise gar nicht in der bestehenden Form beteiligt oder gebunden werden können.176 Wo hinter der Vorstellung von der lediglich beauftragten Empirie die Grundzuordnung von Herrin und Magd steht, in der die Ebene der theologischen Theoriediskussion von den zunächst nur »hinzugekauften«, handwerklichen Zuarbeiten der empirischen Forschung gestützt, aber nie ernsthaft berührt wird, geschieht eine solche Berührung auf der Ebene der Theorie dann durchaus.177 Im Extremfall – für den empirische Forschung eine Zustandsbeschreibung gibt, aus der die Theologie dann ein »Ideal« formuliert, aus dem sich wieder um eine Diskussion um mögliche Veränderung beispielweise des kirchlichen Vorgehens formiert (vgl. Niebergall, Praktische Theologie; und die ausführliche Einordnung dieser Position bei Grethlein, Empirie, 312 f.). 175 So geschehen etwa in der Studie von Schulz, Meyer-Blanck und Spieß, Gottesdienstgestaltung, aus dem Jahr 2011. Hier war zunächst die reine Evaluation des Evangelischen Gottesdienstbuchs angestrebt, im Prozess erwies sich jedoch die Fallzahl der »Intensivnutzenden« als recht klein, ihre Auffindbarkeit als schwierig. So entwickelte sich die Kombination aus einer breiten Evaluationsstudie mit Verzicht auf die Auswertung der Detailnutzung einerseits und die Ausweitung der Befragung auf allgemeine Themen der Gottesdienstgestaltung (Prinzipien der Gottesdienstgestaltung etc.), um auf dieser Basis die Aspekte der Nutzung des Gottesdienstbuchs aufschlüsseln zu können. 176 So wird es etwa in den Lebensstilanalysen der vierten EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung sichtbar, vor allem in der Analyse von Gruppendiskussionen; vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung; Hermelink/Lukatis/Wohrab-Sahr, Lebensbezüge; Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus. Siehe auch der Text in Teil B (1.1) in diesem Band: »Kirche in Veränderung«. 177 Corinna Dahlgrün nennt dies die »ewige Dialektik von Theorie und Praxis« (wie auch »von
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Empirie für die Theologie: Ergebnisse und Konsequenzen
je nach Konstellation – können wie beschrieben zumindest streckenweise gegenläufige Prozesse in Gang gesetzt werden, in denen die verfügbaren Daten oder die ersten Interpretationen weitere Schritte theologischer Reflexion auslösen oder gar steuern.178 Dies scheint mir jedoch eher ein Missgeschick zu sein, das durch eine klare Struktur von Forschungsprozessen vermeidbar ist (siehe unter Abschnitt 5.3). Zuweilen wird, um derartige Bruchstellen angemessener bearbeiten zu können, etwas anderes angestrebt, nämlich eine Art handwerkliche Ausbildung der wissenschaftlich arbeitenden Theologinnen und Theologen, also eine Integration beider Fachlichkeiten in einer Person. Was ich innerhalb der Scientific Community vielfach erlebe, dass gerade jüngere Praktische Theologinnen und Theologen meinen, eine solche Integration selbst leisten zu müssen und ohne den Ausweis umfangreicher eigener empirischer Kompetenz und Forschungserfahrung nicht bestehen zu können, erscheint mir als Ausdruck dieses Ideals. Wer das Werkzeug selbst bedienen kann, so die Idee, schafft es, den intensiven Dialog zwischen Forschungsfragen und Methodik, zwischen Erkenntnisinteressen und der Eigendynamik so mancher Interpretationsprozesse, optimal – gewissermaßen im Selbstgespräch – gelingen zu lassen. Erst dann wäre die empirische Forschung nicht mehr ein fremdes Unternehmen im eigenen Haus, sondern glaubwürdig eine theoretisch integrierte Methodik. Wo das gelingt, wo eigene multidisziplinäre Kompetenz nicht die Intersubjektivität der Forschung verdrängt und tatsächlich ausreichend Fachkenntnis und Erfahrung vorliegt, ist dies sicher für die Theologie ein Gewinn, es wird aber wohl wegen des enormen Aufwandes der notwendigen Methodenausbildung und Forschungspraxis auch in Zukunft nicht der Regelfall sein.179 Kirche und Gesellschaft«), die die Arbeit der Praktischen Theologie immer geprägt habe. Dies., Praktische Theologie, 44 f. Dahlgrün benennt umgekehrt, in der reinen Nutzung von Empirie wie im Bild von Herrin und Magd beschrieben, die »Versuchung, die Dialektik zwischen Theorie und Praxis zugunsten einer rein empirischen Beobachtungswissenschaft – bzw. deren mehrerer – aufzuheben, wie es etwa Ernst Chr. Achelis gegen Ende des 19. Jahrhunderts und im letzten Jahrhundert z. B. auf katholischer Seite Karl Rahner tat« (ebd., 45). 178 Johannes Först beschreibt einen solchen Verlauf und beschreibt in der Folge eine unwillkürliche Unterordnung theologischer Reflexion unter die Prozesslogiken der Religionsforschung; vgl. Ders., Religionsforschung. Diese höchst kritische Einschätzung solcher Kooperationen, in der eine »Abhängigkeit der Theologie gegenüber den religionstheoretischen Analysen des Dienstleisters« die Folge ist (ebd., 136), teile ich nicht. Die Problematik sehe ich weniger in einer Dominanz der Erkenntnisinteressen der »Dienstleister«, sondern in einer mangelnden Formulierung von theoretischen Interessen durch die Theologie (s. u.). 179 Dass eine solche multidisziplinäre Kompetenz wirklich notwendig ist und sich damit eine echte Kongruenz der fachlichen Identitäten erreichen lässt, möchte ich bezweifeln. Es bedürfte jedoch für eine solche Diskussion echter Vergleiche, die den Kriterien guter empirischer Forschung standhalten.
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Empirische Forschung in der Theologie – eine Übersicht der Verhältnisbestimmungen 91
Die aktuelle Normalform der Beziehung zwischen empirischer Forschung und Praktischer Theologie ist wohl eine, die am besten mit dem Bild einer Kooperation, wenn nicht sogar einer Freundschaft oder Partnerschaft beschrieben ist. Sozialwissenschaftlich arbeitende Fachkräfte werden nicht nur extern beauftragt, sondern zumindest zeitweise ins Kollegium oder in Steuerungsgruppen aufgenommen, in Forschungsprozesse integriert und mit Verantwortung ausgestattet. Sie werden in den verschiedenen Phasen eines Projekts gehört und nach Möglichkeit in die theoretische Arbeit einbezogen. Auch diese Form der Beziehung stellt in meinen Augen aus sich selbst heraus keine Bedrohung genuin theologischer Reflexion dar, denn weder empirische Datengewinnung noch die Interpretationsarbeit ersetzen theologische Reflexion.180 Sehr wohl kann aber, wie es bei einer Partnerschaft in aller Regel der Fall ist, eine wechselseitige, grundlegende Beeinflussung stattfinden, die auch die Theologie und ihre theoretische Reflexion nicht unberührt lässt. Aus der Perspektive der Theologie betrachtet kann es geschehen, dass durch empirische Forschung, sei es in der Entwicklung eines Erhebungsdesigns oder im Auswertungsprozess, neue Anforderungen an die Theologie entstehen in Form theoretischer Anfragen, denen die Theologie nicht in jedem Fall unmittelbar gewachsen ist, denen sie sich aber auch nicht entziehen kann. So entstand beispielsweise im Verlauf der vierten EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung mit der starken Beteiligung von Soziologinnen und Soziologen auf der Basis der Datenbestände eine Vielzahl von (vor allem soziologisch geprägten) theoretischen Überlegungen: angefangen bei der mehrfachen Brechung des handlungstheoretischen Kirchenmitgliedschaftsbegriffs im Bedeutungscluster von christlicher Glaubensüberzeugung, Mitgliedschaft und Beteiligung181, über die komplexe Reflexion einer Typologie der Kirchenbindung bis hin zur Ausdeutung der religiösen Indifferenz,182 die eine insgesamt erhebliche Herausforderung an die Theologie bedeuten. Hier verlangen empirische Ergebnisse nach theoretischen Einordnungen.183 Das Gesamtwerk der vierten Untersuchung »Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge«184 hat diese Vielfalt des kirchlich180 Diese Sicht möchte ich später unter Abschnitt 5.3 noch weitergehend begründen. 181 Vgl. der Text in Teil B (1.2) in diesem Band: »Junge Erwachsene in Kirche und Gemeinde«. Hier zeigt sich in der Rekonstruktion kollektiver Sichtweisen in den Gruppendiskussionen die Form einer optionalen Religiosität oder religiösen Gemeinschaftsbindung, was in Bezug auf die handlungstheoretische Grundlegung der bisherigen Mitgliederforschung eine Herausforderung darstellt. 182 Vgl. der Beitrag von Peter Höhmann und Volkhard Krech in diesem Kontext: Höhmann/ Krech, Kirchenmitgliedschaft. 183 Damit ist Empirie nicht nur eine Veranschaulichung des bereits Gewussten, sondern wirkt sich selbst Theorie bildend oder Theorie verändernd aus; vgl. Eberhard Hauschildt in Auseinandersetzung mit Wolfgang Steck: Ders., Praktische Theologie, 89 f. 184 Vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung.
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religiösen Lebens zwar umfassend sozialwissenschaftlich ausgeleuchtet, die Ergebnisse aber noch nicht befriedigend mit Anschlussstellen für die Praxis versehen. Dies ist auch nicht zwingend Bestandteil einer solchen Studie, verbleibt aber als Herausforderung für die Theologie, um argumentative Lücken zu vermeiden, die sich bei anderen Gelegenheiten hinderlich auswirken.185 Auch im Bild der Freundschaft oder Partnerschaft wirkt sich das enge Verhältnis zur empirischen Forschung nicht bedrohlich, aber wohl durchaus herausfordernd aus – und darin als Zumutung für eine Wissenschaft, die sich ihre Aufgaben vielleicht lieber selbst gestellt hätte.
5.2
Ganz nah am richtigen Leben und spezifisch theologisch: Anforderungen an eine sachgerechte Nutzung empirischer Forschung durch die Praktische Theologie
Für eine sachgerechte und damit wirklich Gewinn bringende Nutzung empirischer Verfahren innerhalb der Praktischen Theologie lassen sich nun vor dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse allgemeine Anforderungen im Sinne einer forschungslogischen Programmatik formulieren, und zwar auf der Ebene der Theorie, des Forschungsprozesses und der Qualitätssicherung. Berücksichtigt die Praktische Theologie diese zentralen Anforderungen an eine sachgerechte empirische Forschung und damit einhergehende Prozesse, leistet sie die notwendigen Klärungen und erbringt sie die theoretischen Arbeiten im Rahmen der Nutzung empirischer Erkenntnisse, so kann diese mit erheblichem Gewinn für die Theoriebildung und die Ausbildung angemessener Handlungsoptionen erfolgen: (1.) Zuerst wird eine Nutzung empirischer Forschung im Rahmen der Praktischen Theologie dann als angemessen erachtet, wenn von Seiten der
185 So bleibt in der vierten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung offen, wie denn nun die Ergebnisse von Mitgliedschaftstypologien (Höhmann/Krech) und Lebensstil-Pluralität (Benthaus-Apel) in eine Theorie der kirchlichen Praxis überführt werden könnten: Ist es nun ganz wertneutral oder gar als »ganz natürlich«, weil der jeweiligen Mitgliedschaftslogik entsprechend, zu betrachten, wenn bei vielen Mitgliedern eine gewisse innere Entfernung von der Aktivität der Ortsgemeinde vorherrscht? Oder müsste man nicht vielmehr die innere Distanz vieler Kirchenmitglieder zur Gemeinde als Hinweis auf eine von bestehenden Beteiligungsstrukturen weitgehend losgelösten Mitgliedschaft werten, mit der eine Organisation Kirche möglicherweise einer Verflüssigung ihrer Grundstruktur entgegen geht? Hier wären sicher nicht der Glaube der Befragten oder die individuelle Konstruktion einer Bedeutung von Mitgliedschaft zu bewerten, wohl aber eine mögliche theoretische Einordnung solcher Ergebnisse zu leisten; vgl. Wegner, Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen.
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Anforderungen an eine sachgerechte Nutzung empirischer Forschung
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praktisch-theologischen Theoriebildung zentrale Klärungen erfolgt sind. Das bedeutet: (a.) Das jeweilige Erkenntnisinteresse wird klar konzipiert und offen gelegt. Damit ist auch geklärt, was genau der Gegenstand der Reflexion sein soll: Geht es um grundlegende Einsichten in ein (noch zu wenig vertrautes) Feld (z. B. um Erfahrungen von Menschen im Trauerprozess, um Deutungen kirchlicher Strukturen in der Wahrnehmung der Mitglieder) oder um die Überprüfung bereits erbrachter Erkenntnisse bzw. (evaluativ) von kirchlichem Handeln, stehen die untersuchten Menschen oder Sachverhalte selbst im Vordergrund, oder kreist die Überlegung vor allem um eine Weiterentwicklung theoretischer Arbeit und bedarf dafür nur weiterer Erkenntnisse über menschliche Deutungen oder soziale Gegebenheiten? Welche Korrektur oder Fortschreibung von Theorie, welche Zugewinne an Erkenntnis werden genau erwartet? (b.) Die angestrebte Reichweite der davon betroffenen Theorien wird berücksichtigt: Geht es um die »kleinen« Theorien in Anwendungszusammenhängen (z. B. über die Passung von Predigt und Hörgewohnheiten), um Theorien mittlerer Reichweite (z. B. über Kirchenbindung oder den Gottesdienst) oder Theorien auf unterschiedlichen Meta-Ebenen (z. B. über Kirche bzw. Christentum in der Gesellschaft oder religiöse Kommunikation). Diese Reichweite bestimmt wesentlich über die Rolle, die der empirischen Perspektive im Prozess zukommt: Sind Theorien im Bereich von Anwendungskontexten angestrebt, etwa Kenntnisse über Vorlieben und Interessen von Ehrenamtlichen, dann sind die Ergebnisse der Datenauswertung durch theoretische Leistung auf einer geringen Abstraktionsstufe erreicht. Oft bestimmen dann die Ergebnisse empirischer Forschung die weitere Nutzung recht unmittelbar, und die theologische Theorie fungiert hier eher als Kontrollinstanz denn als gestaltende Kraft.186 Sind Theorien mittlerer Reichweite angestrebt wie in den Beispielen der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen gesehen, kommt der theologischen Theorie eine deutlich zentralere Bedeutung zu. (c.) Das Verwertungsinteresse für empirische Forschung wird plausibel gemacht: Geht es um Grundlagenforschung, um die Erkenntnis grundlegender Zusammenhänge oder um Erkenntnisse, die in einem (welchen?) Feld zur An186 Als Beispiel mag eine Auswertung von Milieustudien mit der Frage nach einer Typologie von Ehrenamtlichen dienen: Ehrenamtliche, die unterschiedlichen Milieus angehören, weisen in mancher Hinsicht verschiedene Interessen auf, was sich für kirchliche Arbeit unmittelbar nutzen lässt. Die davon berührten (Anwendungs-) Theorien befassen sich hier beispielsweise mit angemessenen Konzeptionen zur Steuerung ehrenamtlicher Mitarbeit. Theologische Theorien mittlerer Reichweite (etwa über Kirche und die darin tätigen Menschen) sind hier vor allem nötig, um Fehldeutungen oder solche Deutungen, die etwa einer Theorie der Kirche oder Ortsgemeinde zuwiderlaufen, zu markieren. Vgl. der Text in Teil B (3.1) in diesem Band: »Zwischen Altruismus und Lebensgenuss«.
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Empirie für die Theologie: Ergebnisse und Konsequenzen
wendung kommen sollen. Darin ist nicht nur die Reichweite möglicher Erkenntnisse beschrieben, sondern auch die Funktion, die weitere Entscheidungen im Forschungsprozess in Methodik und Auswertung haben können. Wo beispielsweise bereits im Vorfeld einer Studie (im theoretischen oder Anwendungsinteresse) normative Setzungen stehen, wirken sich diese im Lauf der Untersuchung weiter aus und sollten in dieser Wirksamkeit im Vorfeld bereits bekannt sein. Auf der Anwendungsebene ist ein Beispiel das Interesse von kirchlicher Seite, in einer Mitgliederstudie das Thema »Austritt« zu fokussieren, schlicht weil eine kostenintensive Studie über Mitgliedschaft idealerweise Ergebnisse liefern sollte, die für die Stabilisierung der auftraggebenden Organisation weiterführend sind.187 Von theologischer Seite mag der Fortbestand der Gemeinschaft der Glaubenden unabhängig sein von konkreten Sozialformen – etwa dem Bestand der EKD –, aus sozialwissenschaftlicher Sicht wäre eine Bindung an diese Gemeinschaft sinnvollerweise deutlich weiter zu fassen und vielleicht sogar von der Frage nach der formalen Zugehörigkeit ganz unabhängig. Die Transparenz über das Verwertungsinteresse befördert auf diese Weise eine angemessene theoretische Hantierbarkeit der Ergebnisse. (d.) Die Rolle, der Ort und der Umfang normativer Setzungen im Prozess sind geklärt: Welche Reichweite haben die Erkenntnisse empirischer Forschung? Inwieweit, an welchen Orten im Forschungsprozess und durch wen werden diese mit theoretischen Setzungen verbunden oder solche Setzungen von ihnen abgeleitet? Welche Prinzipien sollen im Verlauf des Verfahrens den Vorrang erhalten? In zahlreichen Feldern empirischer Forschung im Bereich von Kirche und Theologie finden normative Setzungen bereits im Vorfeld statt. Dann existieren zugleich ein erhebliches Interesse an Erkenntnissen aus der empirischen Forschung und eine klare Erwartung an deren normative Bewertung. Dies ist im Rahmen diakoniewissenschaftlicher Reflexion dort der Fall, wo beispielsweise Mechanismen von Ausgrenzung und sozialer Benachteiligung untersucht werden sollen, diese jedoch schon im Vorfeld als »zu überwinden« bewertet werden.188 Umgekehrt gibt es in der Praktischen Theologie Bereiche der Reflexion (zumeist in Theorien mittlerer Reichweite), etwa über den Gottesdienst oder über Seelsorge, wo Kenntnisse darüber, was Menschen an Erfahrungen gemacht haben oder an Erwartungen entwickeln, zwar aufschluss187 Hier wird der Mitgliederbestand als wesentlich gesetzt. Vgl. dazu den Diskurs um die Bedeutung des Interesses von Auftraggeberseite: Spiegel, Forschungsmethoden, v. a. 241; dazu Daiber, Sozialforschung. 188 Vgl. der Text in Teil B (3.3) in diesem Band: »Vom Lebensgefühl der Armen und der Herausforderung, diakonische Kirche zu sein«. Für Karl-Fritz Daiber bedeutete eine solche implizite Bewertung im Bereich der Diakonie, dass Kirche unausweichlich zur »Konfliktgemeinschaft« wird, die Ungerechtigkeit benennen und inmitten eigener struktureller Gegensätze um Gerechtigkeit ringen muss; vgl. ders., Diakonie, 189 – 204.
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Anforderungen an eine sachgerechte Nutzung empirischer Forschung
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reich sind, die Theorie darüber, was ein Gottesdienst im Kern sei oder was die zentrale Bedeutung der Seelsorge sei, nur sehr mittelbar beeinflussen können. (e.) Eine Reflexion des interpretativen Umgangs mit dem Numinosen hat stattgefunden. Die Theologie hat es in ihrer Reflexion immer auch mit dem Bereich des Unverfügbaren zu tun, mit komplexen Prozessen, mit Gefügen religiöser Erfahrung und Konstruktionen, die sich aus diesen ableiten lassen. Damit sieht sich die Theologie Herausforderungen gegenüber, die sich dort ergeben, wo sich die zu behandelnden Gegebenheiten der empirischen Beobachtung teilweise entziehen. Selbst wenn man berücksichtigt, dass es die Theologie nicht mit dem Göttlichen selbst, sondern nur mit den menschlichen Erfahrungen mit dem Göttlichen und deren Ausdeutung zu tun hat, so hat sie selbst darauf nur indirekten Zugriff, weil es hier immer wieder Rückbezüge und Verweise auf den Bereich des Nichtmessbaren gibt.189 In der Nutzung empirischer Methoden ist diese Schnittstelle zwischen Messbarem und Nichtmessbarem für die Empirie aus deren Methodologie zu beschreiben, die Schnittstelle für die Nutzung der Erkenntnisse aus empirischer Forschung für die Theoriebildung jedoch – unter Berücksichtigung des Unverfügbaren – bedarf einer eigenen Klärung innerhalb der theologischen Reflexion. (2.) Im Anschluss daran ist eine angemessene Nutzung empirischer Forschung im Rahmen der Praktischen Theologie darin abzusichern, dass zentrale Momente des Forschungsprozesses umfassend konzipiert sind. Das bringt die folgenden Voraussetzungen mit sich: (a.) Ein geklärtes Verfahren der Zusammenarbeit der Theologie mit einer empirisch arbeitenden anderen Wissenschaft einschließlich der exakten Beschreibung dessen, wofür die Theologie empirische Erkenntnisse nutzen möchte: In welcher Form sollen Schnittstellen zwischen einer beispielsweise sozialwissenschaftlichen Methodologie, einer Datenauswertung und Interpretation sowie den theologisch-theoretischen Überlegungen gestaltet werden? Welcher Art Zugewinn ist angestrebt? Wo Co-Nutzungen erwünscht sind, etwa dort, wo außer theoretischen Überlegungen auch Anwendungsinteressen von einer Studie tangiert sind, wo Daten etwa auch für Ausbildungszusammenhänge genutzt werden sollen, müssen auch dafür Schnittstellen geplant werden.190 An dieser Stelle sollte auch die Form der Zusammenarbeit bzw. der Status der empirischen Forschung und der theologischen Deutung einschließlich ihren 189 Eine solche begrenzte Messbarkeit gibt es auch in anderen Forschungsbereichen, wo es etwa um Liebe, Freundschaft, Glück oder auch Qualität oder Kommunikation geht. 190 Wo solche Fragen nicht geklärt sind, kommt es häufig zum nachträglichen Dissens über die Reichweite einer möglichen Nutzung von Ergebnissen oder einer Auseinandersetzung über den Einfluss von Empirie, der auf der Anwendungsebene unter Umständen ganz anders aussehen kann als auf der Ebene theologischer Theoriebildung. Vgl. auch Daiber, Sozialforschung.
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Akteurinnen und Akteuren im Prozess geregelt werden. Übernimmt die empirische Forschung hier einen begrenzten Auftrag oder tritt sie an, um die Forschungsfrage bis hinein ins Design und schließlich den theoretischen Einbindungen mit zu begleiten? Umgekehrt: Gibt die Theologie eine empirische Untersuchung lediglich in Auftrag oder soll sie bereits auf der Ebene der Wahrnehmung von Sachverhalten (deutend) agieren (siehe oben unter Abschnitt 4.3)? Hier ist nicht nur das Interesse der Theologie an einer Zusammenarbeit, sondern auch das der jeweils mitwirkenden empirischen Wissenschaft(en) zu ergründen. (b.) Eine Offenlegung von Hypothesen und Theorien im Hintergrund der Datengewinnung: Hinter jedem Erkenntnisinteresse stehen (zumindest unwillkürlich) Hypothesen über die zu untersuchenden Sachverhalte, im Mindesten über einen Mangel an Informationen über diese Sachverhalte oder die Art und Weise, auf die dieser Mangel behoben werden könnte. Diese Vorüberlegungen oder auch Vorentscheidungen wirken sich wesentlich auf Form, Umfang und mögliche Reichweite eines Forschungsprojektes aus. Aus ihnen entwickeln sich »Fragen an das empirische Material« sowie erste Vorstellungen davon, wie Ergebnisse einer solchen Forschung in die Theoriebildung einzubeziehen wären. (c.) Eine Methodenentwicklung, die stringent aus der Fragestellung und den jeweiligen Erkenntnis- sowie Anwendungsinteressen abgeleitet ist: Darin ist eine methodologisch angemessene Wahl getroffen, je nachdem ob die Ergebnisse empirischer Forschung der Prüfung von Hypothesen dienen sollen und dabei bereits Gedachtes oder Angenommenes zugrunde legen, oder ob sie zur Exploration oder einer verdichteten Wahrnehmung in einem Themenfeld dienen und damit vorrangig neue Zusammenhänge erschließen sollen.191 Diese Unterscheidung zwischen deduktiver und induktiver Forschungsrichtung steht im nächsten Schritt in direkter Wechselbeziehung mit der Wahl zwischen Hypothesen prüfenden, standardisierten Verfahren und nicht standardisierten Verfahren – mit den durch sie jeweils möglichen Erkenntnisgewinnen.192 Solche Entscheidungen und Unterscheidungen bestimmen, welche Reichweite und welchen Bezug zur Theorieentwicklung Ergebnisse später haben können. Fehler und Ungenauigkeiten in diesem Feld sind wiederum die größte Quelle für Fehler 191 Diese Forderung nach einer empirischen Forschung, die nach ihren eigenen methodologischen Standards eine hochwertige Arbeit darstellt und damit erst für die Praktische Theologie wirklich nützlich ist, findet sich schon bei Wegenast, der in einer exakten Hypothesenbildung, Operationalisierung und stringenter Ausarbeitung von Ergebnissen erst die Möglichkeit sieht, wirre Interpretationen und Verfälschungen auszuschließen, die schließlich die theologische Arbeit mit solchen Ergebnissen beeinträchtigen können; vgl. Wegenast, Empirische Wendung, 119 f. 192 Diese Unterscheidung wird häufig unscharf als die zwischen »quantitativer« und »qualitativer« Forschung hantiert, s. o. Abschnitt 4.2 und 4.3.
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oder Unstimmigkeiten in der späteren Verwertung von Erkenntnissen und Hintergrund zahlreicher Auseinandersetzungen um die Bedeutung von empirischer Forschung für die Theorieentwicklung.193 (d.) Ein Modell des geplanten Ablaufs von theoretischer Arbeit im Vorfeld, Erhebungsphasen, Auswertungsphasen, Interpretationseinheiten bis hin zur theoretischen Diskussion und Einordnung der Ergebnisse: Dass ein Projekt einen klaren Ablauf mit einer modellhaften Unterteilung von Arbeitsschritten braucht, gehört zu den ausreichend bekannten Weisheiten professionellen Arbeitens. Mit diesem Anliegen des Zusammenwirkens von theologischem Denken und empirischer Forschung jedoch ist dies ein entscheidender Faktor des Gelingens – oder umgekehrt eine Wurzel vieler Unklarheiten und Differenzen, wenn dieses Modell nicht aufgestellt wird. Daiber hatte sein Modell des schrittweisen Forschungsprozesses unter anderem mit dem Ziel entwickelt, den einzelnen Schritten theologische oder sozialwissenschaftliche Kompetenzen zuzuordnen.194 Ein solches Verfahren regelt im besten Fall nicht nur Abläufe, sondern auch Zuständigkeiten und fachliche Bezüge: Die Theologie klärt ihre Interessen im Vorfeld einer Untersuchung selbst, eine sozialwissenschaftliche Phase orientiert sich an der Methodologie ihres Fachs (was nicht ausschließt, dass Theologinnen und Theologen darin tätig werden), auf der Ebene der theologischen Theoriediskussion kann es mit sozialwissenschaftlich Kompetenten einen Diskurs geben, dort wird jedoch die Theorieentwicklung letztlich unabhängig von sozialwissenschaftlichen Interessen geleistet. Wie es bei Daiber zu erwarten ist, nachdem er seine Arbeit über viele Jahre in unmittelbarer Zusammenarbeit mit Soziologinnen und Soziologen erbracht hat, mischen sich in diesem Modell unterschiedliche Bilder von Zusammenarbeit: Mal ist die Sozialwissenschaft lediglich Auftragnehmerin oder sogar Dienerin der Theologie, mal ist sie Partnerin, die im unmittelbaren Dialog die Wahrnehmung erweitern hilft und darin dann doch unverzichtbar wird. Nie gibt es in diesem Modell 193 Ärgernisse durch Ungenauigkeiten in dieser Bestimmung finden sich in beiderlei Richtungen: Zum einen lösen Studien, in denen explorativ gearbeitet wird, zuweilen Unverständnis aus, weil sich darin zwar beeindruckende Deutungen und theologische Erkenntnisse finden, diese aber (methodisch korrekt) nicht verallgemeinerbar sind. Ein Beispiel ist die Studie: Sommer, Kindertaufe. Hierin kann (methodologisch gesehen) gar nicht sichtbar werden, inwiefern diese Deutungen tatsächlich von einer Vielzahl der Eltern geteilt werden und welche Reichweite die Ergebnisse damit haben. Im schlimmsten Fall werden derartige Erkenntnisse dann von der Leserschaft zuweilen schlicht als bewiesene Hypothese gewertet und in Sätze wie »Die Eltern denken…« überführt. Zum anderen gibt es die typische Kritik an Hypothesen prüfenden Untersuchungen, weil sie zwar präzise Belege für bestimmte Zusammenhänge bieten, aber (auch hier : ganz stringent) keinen Blick auf dahinter liegende Deutungsmuster ermöglichen. 194 Siehe oben unter Abschnitt 2.6: Daiber fordert und konzipiert ein stringentes, schrittweises Vorgehen zum Schutz vor Fehlern und zu Sicherung möglichst hochwertiger Ergebnisse für die theologische Forschung; vgl. Daiber, Pastoralsoziologie, 140 – 143.
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jedoch Übergriffe oder Kompetenzstreitigkeiten, die eine theologische Theoriebildung beeinflussen könnten. (3.) Schließlich muss eine Nutzung empirischer Forschung im Rahmen der Praktischen Theologie nach Abschluss eines Forschungsabschnittes die Qualitätskriterien guter empirischer Forschung und der angemessenen weiteren Verwendung ihrer Ergebnisse beachten.195 Dies beinhaltet: (a.) Eine Nutzung von Daten ausschließlich in interpretierter Form und unter Nennung der berücksichtigten Theoriebezüge sowie der dahinter stehenden Erkenntnis- und Anwendungsinteressen: Die Nutzung von nicht interpretierten Daten (»45 % der Kirchenmitglieder sind der Meinung, dass…«) ist wissenschaftlich gesehen unredlich, weil darin Zusammenhänge sowohl im Zustandekommen der Daten als auch mögliche Interpretationen verschleiert und etwa für Leserinnen und Leser einer Publikation nicht mehr nachvollziehbar sind.196 Der Grund dafür ist schlicht die methodologische Einsicht, dass aus Daten selbst keine theoretische Aussage abzuleiten ist, weil hier das Scharnier fehlt, der Rückbezug auf den theoretischen Kontext und die daraus entwickelte Fragestellung – immer unter Berücksichtigung der angestrebten Reichweite der Aussagekraft der auf diesem Weg erlangten Erkenntnisse. Das Interpretationsschema, das aus der Fragestellung heraus auf das Datenmaterial angewandt wird, bestimmt schließlich, welche Art von Schlüssen daraus ermöglicht wird – und welche nicht. Auch diese Grundwahrheit ist für eine Nutzung im Bereich der Theologie wesentlich, weil auch ihre Missachtung Quelle vieler Fehldeutungen und vor allem mancher Vorwürfe ist, die empirischen Daten beherrschten die theologische Reflexion. Tatsächlich ergibt sich aus nicht interpretierten Daten, also durch ein interpretatives Vakuum als logische Lücke im Verfahren, die Möglichkeit der Fremdeinwirkung in theologische Reflexion, indem dann die fehlende Interpretation durch Außenstehende geleistet werden kann und auf diesem Weg unangemessene oder unzweckmäßige Deutungen in die theologische Reflexion Einzug halten können.197 195 Hier orientiere ich mich ausschließlich an Standards empirischer Sozialforschung (s. o. 4.3), zeige aber die Nutzung durch die Theologie auf. 196 Das schließt eine Publikation von Einzelergebnissen durch die Auftraggebenden nicht aus, wenn dies nicht im wissenschaftlichen Kontext geschieht und kein Anspruch auf wissenschaftliche Bedeutung erhoben wird. 197 Wenn beispielsweise die Angabe, weniger als die Hälfte der evangelischen Kirchenmitglieder in Deutschland stimmten der zentralen christlichen Glaubensaussage zu »Ich glaube an Gott, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat« als Beleg dafür verwendet wird, dass die zentrale Botschaft des christlichen Glaubens selbst in der Kirche nicht mehr umfassend geteilt wird, so ist dies eine klare Fehlinterpretation, weil die anderen Antwortmöglichkeiten der Frage, die man durchaus teilweise als akzeptable christliche Aussage betrachten kann, hier nicht benannt werden; vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, Frage 21, 465.
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Rückblick und Ausblick auf die folgenden empirischen Studien
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(b.) Eine Offenlegung der Theorien, Hypothesen und Anwendungsinteressen, aus denen heraus die vorliegenden Ergebnisse erreicht wurden: In der Publikation komplexer Studien ist dies ohnehin üblich, wichtig wird dieses Kriterium in der weiteren Nutzung von Erkenntnissen in anderen Forschungszusammenhängen. Wenn beispielsweise eine Sichtung diakonischer Aspekte der Kirchenmitgliedschaft im Hinblick auf die Entwicklung von evangelischer Kirche und Gemeinde sich auf Ergebnisse empirischer Forschungen bezieht, legt dies neue Maßstäbe an bereits bestehende Gerüste von Datenerhebung und -auswertung. Diese Veränderungen sind nicht neutral, es erfolgen Umdeutungen und Auswahlprozesse, es werden Themen als zentral betrachtet, die in anderen Studien eine untergeordnete Funktion hatten oder möglicherweise nur als Operationalisierung ganz anderer Fragestellungen gewählt wurden.198 Differenzen in den Herangehensweisen – und die damit verbundenen Einschränkungen in den Erkenntnismöglichkeiten – müssen verdeutlicht werden, damit neue, wirklich hochwertige Aussagen mit theoretischem Gehalt getroffen und Fehlinterpretationen vermieden werden können. Wenn beispielsweise in einer Befragung ein großer Teil der Kirchenmitglieder angibt, das soziale Engagement der Kirche sehr zu schätzen, ergibt sich daraus in der Folge weder ein Eigenbedarf dieser Mitglieder an Hilfestellung durch die Kirche noch das Interesse am eigenen Engagement in diesem Bereich. Liest man aber die Daten mit einem so gearteten Interesse, dann verhindert nur eine umfassende Sichtung des Forschungs- und Befragungskontextes eine Fehldeutung der Daten. Vermutlich ist der Verzicht auf die simple Datenrezeption manchmal nur unter großer Anstrengung zu leisten.
5.3
Rückblick und Ausblick auf die folgenden empirischen Studien
Im Rückblick haben sich viele Aspekte als deutlich komplex, andere als eher überschaubar erwiesen. Die Sichtung von Chancen, Fragen, Problemen und Herausforderungen für eine Nutzung empirischer Forschung im Bereich der Praktischen Theologie hat zunächst einen gewaltigen Effekt dieser Nutzung in 198 Als Beispiel kann der Text in Teil B (3.2) in diesem Band dienen: »Der Beitrag der Diakonie zur Stabilisierung und Entwicklung der Organisation Evangelische Kirche und ihrer Gemeinden«. Hier werden Daten der Kirchenmitgliedschaftsforschung aus standardisiert gestellten Fragen zur Logik der eigenen Mitgliedschaft und den Erwartungen an die Kirche zusammen gelesen mit Daten der qualitativen Forschung, die stärker zur Entschlüsselung von Lebensstilen und ihrer Binnenlogik in Bezug auf die Kirche erhoben waren. Außerdem werden Ergebnisse einer Armutsstudie in Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden einbezogen.
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Empirie für die Theologie: Ergebnisse und Konsequenzen
sehr unterschiedlicher Hinsicht gezeigt, sowohl mit Blick auf die theoretische Ebene theologischer Arbeit als auch mit Blick auf Anwendungsinteressen in Ausbildung, Kirchenleitung, Gemeinden und anderen Orten kirchlich-religiösen Engagements. Deutlich geworden ist überdies die Begrenztheit einer solchen Nutzung, und zwar zunächst aus der Eigenlogik empirischer Forschung heraus betrachtet. Einschränkungen bestehen in der grundlegenden Erkennbarkeit psychischer oder sozialer Tatsachen, in den Erfordernissen von Forschungsprozessen, in Qualitätskriterien für die Forschung sowie in der jederzeit gegebenen Beschränkung der Nutzung bzw. der Abhängigkeit der Nutzung vom jeweiligen theoretischen und methodischen Kontext. Dabei gibt es eine klare methodologische Orientierung an den jeweils genutzten empirischen Wissenschaften, weil diese nur innerhalb ihrer eigenen Forschungslogik angemessene Ergebnisse liefern können. Zu betrachten ist umso mehr die Schnittstelle zwischen der Theologie und der jeweiligen Wissenschaft, mit deren methodischem Instrumentarium empirische Analysen durchgeführt werden. Abgesehen von zahlreichen Chancen empirischer Forschung für die Praktische Theologie und den genannten Rahmenbedingungen sind die Bruchstellen, die Momente von Irritation und Herausforderung näher zu betrachten. Gewiss muss theologische Reflexion in der Zusammenarbeit etwa mit den Sozialwissenschaften geschützt werden – aber weniger vor Übergriffen anderer Wissenschaften auf das Hoheitsgebiet theologischer Theorie, die ausgesprochen selten vorkommen dürften. Die größten Herausforderungen für die Theologie ergeben sich in dieser Zusammenarbeit aus den Anforderungen an ein wirklich sachgemäßes Vorgehen, wobei – wie oben beschrieben – nicht die Berücksichtigung »richtiger« Verfahrenswege, sondern ein umfassendes Verständnis für den komplexen Prozess im Mittelpunkt stehen sollte. Die Theologie braucht Schutz vor einer nicht ausreichend theoretisch fundierten empirischen Forschung, vor unsachgemäßer Methodenwahl und mangelhafter Interpretationsarbeit sowie schließlich vor einem ungeklärten Ineinander von Fragen, Deutungen und Antworten auf den unterschiedlichen Ebenen der Reflexion, wo Ansprüche an eine theoretische Nutzung von Forschungsergebnissen gestellt werden, noch bevor der Rahmen für eine solche Nutzung vollständig und korrekt beschrieben wurde. In diesem Kontext bedarf es im Bereich der Theologie vor allem zahlreicher Klärungen, allen voran der Klärung über einen zu erwartenden Nutzen von Ergebnissen empirischer Forschung für einen Bereich der Theoriebildung. Die Theologie begegnet ja im empirischen Vorgehen keinesfalls dem »richtigen Leben«, sondern nur der ermittelten Deutung von Gegebenheiten in wiederum eigenen Kontexten. Dies alles auf den unterschiedlichen Ebenen sinnvoll zu interpretieren und diese Erkenntnisse in theologische Reflexion einzubinden, ist ein anspruchsvolles Unternehmen. Zu klären sind überdies fachliche Zustän-
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Rückblick und Ausblick auf die folgenden empirischen Studien
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digkeiten, Möglichkeiten und forschungspraktische Ebenen der Zusammenarbeit, Modelle der Kooperation, Etappen des gemeinsamen Vorgehens sowie – innertheologisch – die mögliche Reichweite der Ergebnisse auf der Ebene der Theorie sowie auf der Ebene einer Anwendung. Hier ist meine These, dass es – bei sachgerechtem Vorgehen und bei Beachtung aller forschungslogischen Implikationen – auf der Ebene theologischer Theoriebildung weder ein Normativitätsproblem noch ein Durchführungsproblem in der Nutzung empirischer Forschung geben dürfte. Dazu gehört aber unmittelbar die Vermutung, dass die Theologie all die hier genannten Schnittstellen mit einer erheblichen Aufmerksamkeit beachten muss, weil es dafür in der Entwicklung des Fachs noch sehr wenige theoretische Vorarbeiten gibt. Und schließlich ist meine These, dass die Praktische Theologie damit rechnen kann, aus jeder Begegnung oder Zusammenarbeit mit Fachkundigen empirischer Wissenschaften verändert hervorzugehen, sich auf diesem Weg selbst auch theoretisch erweitern und weiterentwickeln zu müssen, sich dauerhaft Aufgaben stellen zu müssen, die sie sich möglicherweise nicht selbst gewählt hätte, und Antworten hören zu müssen auf Fragen, die sie bisher noch nicht gestellt hatte, die sich jedoch aus der Interpretation empirischer Materialien ergeben. Der Befürchtung, empirische Vorgehensweisen könnten die praktisch-theologische Reflexion beherrschen und schließlich sogar vorgeben, was Gegenstand dieser Reflexion sein soll, möchte ich meine Sicht entgegenstellen: Die Praktische Theologie hat nicht zu befürchten, dass andere Wissenschaften sich theoretisch ihrer Themen annehmen wollten. Sie hat ihrerseits in vielfacher Hinsicht Perspektiven darauf entwickelt, wie sie selbst empirische Forschung nutzen könnte. Sie ist aber auf vielen Feldern ihrer Reflexion noch weit davon entfernt, der Flut möglicher Daten und möglicher Interpretationswege mit eigenen Konzepten der Nutzung bis hin zur Einbindung von Ergebnissen in Theoriediskurse gerecht zu werden und aus solchen Konzepten heraus selbstbewusst Erkenntnisinteressen zu formulieren. Die hierfür notwendigen dialogischen Prozesse möchte ich beispielhaft mit den empirischen Analysen in den folgenden drei Kapiteln vorstellen, unterschieden nach den Themenbereichen »Kirchen- und Gemeindeentwicklung«, »Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil« und »Diakonie«. Diese Einzelstudien stammen aus unterschiedlichen, zum Teil sehr komplexen Forschungszusammenhängen, auf die eingangs in den Angaben zum jeweiligen ursprünglichen Erscheinungsort eines Textes verwiesen wird. Die Studien zielen auf Theorien von kurzer oder mittlerer Reichweite, weisen also selbst einen zumeist klaren Bezug zu den »applied sciences« auf. Die in einer Studie angestrebte theoretische Reichweite wird mit der Bestimmung des Gegenstandes und der theoretischen Interessen oder Anwendungsinteressen benannt. In diesen Einzelstudien erfolgt jeweils eine Analyse zu einer bestimmten Fragestellung innerhalb des The-
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Empirie für die Theologie: Ergebnisse und Konsequenzen
menkomplexes, dabei ergeben sich in Methodik und dem Bezug auf den Forschungskontext zuweilen Dopplungen, die unvermeidlich sind, damit die Texte als geschlossene Einheiten lesbar bleiben. Die forschungspraktischen Implikationen und Möglichkeiten der Einbindung in die praktisch-theologische Theoriebildung in der jeweils angestrebten theoretischen Reichweite sind in den Einzeltexten vorgestellt. Auf diesem Weg hoffe ich, Wege zu einer sachgerechten Anwendung empirischer Forschung innerhalb der Praktischen Theologie zu veranschaulichen und theoretisch und methodologisch zu rahmen.
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Teil B: Empirische Arbeiten
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1. Analysen zur Kirchen- und Gemeindeentwicklung
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Kirche in Veränderung: Perspektiven von Kirchenmitgliedern auf eine Organisation im Wandel199
Die Veränderung von Strukturen, Strategien oder Arbeitsweisen prägt innerhalb der evangelischen Kirche gegenwärtig die Diskussion sehr stark. In kirchenleitenden Gremien wird eine solche Kirche in Veränderung ausdrücklich als eine Kirche verstanden, die sich nicht nur den veränderten Bedingungen anpasst. Sie soll vielmehr durch kreative Leistungen, aufmerksame Wahrnehmung der gesellschaftlichen Situation und zugleich durch Konzentration auf die christliche Botschaft und das »Kerngeschäft« eine besondere Profilierung und damit eine neue Gestaltungskraft für die kommende Jahrzehnte erreichen.200 So überrascht es nicht, wenn auch in der vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft201 die dort befragten Gruppen in ihrer Diskussion viele Aspekte einer solchen Veränderung auffallend häufig thematisieren. Dabei ist vergleichsweise selten von zurückliegenden Wandlungsprozessen in der Kirche und ihren Resultaten die Rede, etwa von neuartigen Angeboten und Beteiligungsformen, von gescheiterten oder gelungenen Reformen oder den Auswirkungen bereits erfolgter Strukturveränderungen. Vielmehr steht hier eine Reflexion von Veränderung der Kirche als Momentaufnahme im Mittelpunkt. Die Gruppen besprechen aktuelle Wandlungsprozesse, erarbeiten Positionierungen gegenüber einer Kirche in Veränderung und formulieren ihre Forderungen, was Rahmenbe199 Ursprüngliche Publikation: Schulz, Veränderung. 200 Hier wären beispielhaft etwa die Veröffentlichungen der Evangelischen Kirche von Westfalen im Rahmen des Reformprozesses »Kirche mit Zukunft« oder das EKD-Impulspapier Kirche der Freiheit von 2006 zu nennen. Vgl. Kirchenamt der EKD, Perspektiven. Mit dieser Schrift hat sich der vieldiskutierte Begriff des »Kerngeschäfts« geprägt (ebd., 23), verknüpft mit der Position, es seien zunächst der Gottesdienst und die Amtshandlungen als zentrale Tätigkeiten der Kirche zu profilieren und zu intensivieren, um eine positive Veränderung herbeizuführen. 201 Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung.
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Analysen zur Kirchen- und Gemeindeentwicklung
dingungen, Beteiligungsmöglichkeiten, das Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit und die Orientierung der Kirche an möglichen Zielgruppen anbetrifft. Dieser Text nimmt die Gruppendiskussionen der EKD-Erhebung zur Grundlage der Analyse, verdeutlicht darin wesentliche Aspekte einer Kirche in Veränderung und stellt zentrale Positionierungen dar. Die Gruppen wurden als reale, also tatsächlich existierende Gruppen ausgewählt mit der Intention, die sechs in der Clusteranalyse ermittelten Lebensstiltypen202 als Gruppen innerhalb und außerhalb der Kirche zu befragen.203 Für die vorliegende Analyse habe ich solche Gruppen ausgewählt, die eine Veränderung der Kirche ausführlich thematisieren und ein breites Spektrum an Einschätzungen und Positionierungen abdecken. Neben kirchlichen Gruppen und Gruppen mit einer hohen Zahl kirchenverbundener Mitglieder habe ich zusätzlich die Diskussion in einer Herrensportgruppe in die Auswertung einbezogen, weil hier im Diskurs eines hochverbundenen Kirchenmitglieds mit kirchenkritischen Teilnehmern interessante Beobachtungen möglich sind.204 Die meisten der hier verwendeten Textpassagen entstammen den jeweiligen Diskussionsgängen im Anschluss an den dritten Gesprächsimpuls: »Es wird ja viel über die Situation der Kirchen diskutiert. Wie schätzen Sie denn die derzeitige Lage der Kirchen ein?« Der erste Abschnitt dieses Textes (Strukturausschuss und Medienwelt – Dimensionen der Veränderung) zeigt, was Veränderung in der Kirche aus der Perspektive der befragten Gruppen heißt, welche Bereiche kirchlichen Lebens und seiner Deutung sie umfasst und welche Aspekte von Veränderung wahrgenommen und zur Sprache gebracht werden. Der zweite Abschnitt (Wirtschaft, Professionalität und Macht – Leitlinien der Veränderungen) fokussiert die Leitlinien und Kriterien, die die Befragten für die Deutung oder Bewertung dieses Prozesses heranziehen. Der dritte Abschnitt (Wir sind das Volk! – Positionierungen von Mitgliedern im Veränderungsprozess) geht schließlich der Frage nach, welche Konsequenzen dies für die Kirchenmitglieder haben kann und mit welchen Positionierungen und welchem Selbstverständnis sie sich an Veränderungsprozessen beteiligen, sie unterstützen oder sich von ihnen distanzieren. In diesem Dreischritt dient der Text zugleich als Einführung in eine reflektierte Wahrnehmung von Mitgliederinteressen anhand von qualitativen Befragungsdaten, was genutzt werden kann, um gewissermaßen die Kehrseite kirchenleitenden Handelns erfassen und für strategische Überlegungen nutzen zu können.
202 Vgl. Benthaus-Apel, Zugänge. 203 Zur Methode der qualitativen Untersuchung vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, 29 – 32. 204 Eine Übersicht über die Gruppendiskussionen, den Gesprächsleitfaden und die zugrunde liegenden Transkriptionsrichtlinien findet sich ebd., 33 – 38.
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1.1.1 Strukturausschuss und Medienwelt – Dimensionen der Veränderung Wo Gruppendiskussionen mit stark kirchenverbundenen Gruppen geführt sind, gehören für diese Beteiligten Wandlungen in der Kirche offenbar zu den aktuell wichtigsten Erlebnissen mit Kirche. Sie dominieren in einigen Gruppen sogar das thematische Feld, wobei die argumentativen Bezüge variieren. Insgesamt finden sich in den Diskussionen ebenso Distanzierungsbewegungen gegenüber einer Veränderung von Kirche, vor allem gegenüber konkreten Prozessen, wie explizite Erwartungen an eine sich wandelnde Kirche. Mit einem Gemeindegesprächskreis in einer Großstadt in den neuen Bundesländern möchte ich zunächst beispielhaft eine kritische Position einführen und zeigen, in welchen Dimensionen der Veränderungsprozess hier wahrgenommen wird und welche Notwendigkeiten der Reflexion und Positionierung sich daraus für die Gruppenmitglieder ergeben. In der Gruppe treffen sich berufstätige Männer und Frauen zwischen 40 und 55 Jahren mit einem starken Bezug zur Ortsgemeinde und Erfahrungen aus nicht parochialen Bereichen der Kirche. Noch innerhalb des Gesprächsabschnitts über den zweiten Gesprächsimpuls, »worauf es im Leben ankommt«, kommen sie auf die Kirche und ihre Veränderung zu sprechen, die hier als Quelle von »Stress« ausschließlich negativ bewertet ist. Angeregt durch eine Schilderung der Arbeit im »Strukturausschuss« als Inbegriff problematischer kirchlicher Veränderungsprozesse sammeln die Gruppenmitglieder zunächst Kritikpunkte. Ein Teilnehmer, der hier Markus genannt wird und in dieser Gesprächsphase als Meinungsführer agiert, wird in den ersten Minuten des Gesprächs über die Kirche in seinem Unmut mehrfach von anderen Gruppenmitgliedern gebremst. Schließlich benennen auch andere immer profilierter kritische Perspektiven. Der erste kritisch-assoziative (und hier nicht zitierte) Gesprächsgang wird von einem zweiten Teilnehmer, Armin genannt, in einem Resümee abgeschlossen, an das sich unmittelbar der zweite Gesprächsgang mit stärker argumentativen Zügen anschließt: Armin: Aber Strukturausschuss, das muss man sich nicht antun. Markus: Nee? Armin: Nee. (langgezogen) (Stühlerücken) Lasst es doch einfach zusammenfallen, das is viel schneller weggekehrt als renoviert. Markus: Da hör ich schon wieder mit U-Dorf. U-Dorf zusammen. .. (unv.) Du bist doch bei Armin: uns mit dabei. Freu dich. (kurzes kleines allg. Auflachen) .. Markus: Weeß nicht. (ganz leise, andere lachen teilweise kurz) /Elke: Mhm./ Kann jetzt nicht. (ganz leise, andere lachen teilweise erneut) Marien will U-Dorf, das passt Matthäus (unv.) nicht. (andere lachen parallel) Das is ja so. (unv.) Armin: (unv.) Katja: Du sollst deinen Nächsten lieben, Markus. Wie dich selbst. Markus: Oh.
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Fortsetzung Fällt jetzt schwer mit U-Dorf, mhm? (die anderen hören auf zu lachen, eine Teilnehmerin atmet aus) .. Markus: ?Dabei ward ihr? (unv. leise) Armin: Aber warte mal noch ‘n paar Jahre, dann sind wir eine Gemeinde in Berlin. (alle lachen) ?: (unv.) Markus: In Kreuzberg. .. Die Kreuzberger Linke?. Carola: Ahhh. (lachend) Armin: Da gibt ’s wieder eine Gemeinde Carola: Da müssen wir auch noch ?in die? Moschee. Armin: im Osten und eine Gemeinde West. (lacht) [Gemeindegesprächskreis-Ost: 940 – 965] Katja:
Zunächst fällt die hohe interaktive Dichte dieser Gesprächseinheit auf: Etliche Teilnehmerinnen und Teilnehmer fühlen sich durch das Thema angesprochen, mischen sich ein und kommentieren das Gesagte. Einige Beiträge sind dadurch zum Teil unverständlich. Die Stimmung in der Gruppe ist heiter. Armin löst zu Beginn Markus in seiner Rolle als Meinungsführer ab und schließt an die Konklusion »Strukturausschuss, das muss man sich nicht antun« eine weitere Bewertung an, die dem Geschehen in der Gemeinde vor Ort gegenüber eine distanzierte Position anbietet: Die Substanz der Gemeinde ist in seinen Augen derart schwach, dass eine Sanierung gegenüber dem »zusammenfallen« Lassen einen unverhältnismäßig höheren Aufwand bedeuten würde. Es bleibt unklar, ob Armin hier die inhaltliche, strukturelle oder kommunikative Substanz beurteilt. Eine mögliche Kooperation oder Fusion von Gemeinden wird hier assoziativ und kaum anhand tatsächlicher Erfahrungen besprochen. Der Vergleich mit anderen Gruppen zeigt eine hohe Übereinstimmung in dieser Hinsicht, was sich vorsichtig interpretieren lässt: Es bleibt in aller Regel ungesagt, warum und wo genau sich die Gruppenmitglieder über kirchliche Mitarbeiter, ungünstige Strukturen oder unangenehme Situationen geärgert haben. Die Bewertungen erscheinen vor allem mit Affekten verknüpft, was zwangsläufig die Bemühungen, aus der Analyse solcher Diskussionen heraus Hinweise für das Handeln der Kirche zu entwickeln, frustriert. Aber auch ohne eine konkrete Formulierung der Vorbehalte, wie hier gegen eine Zusammenarbeit mit der Gemeinde »UDorf«, lässt sich das meinungsbildende Potenzial dieser Positionen erfassen. Der hier vorliegende Gesprächsabschnitt transportiert Grundlinien, auf denen sich Kirche in Veränderung in den Augen der Gruppe bewegt: Erstens wird transparent, wie die durch den Veränderungsprozess sichtbar gewordenen persönlichen Gewohnheiten, Erwartungen und Befürchtungen in den Vordergrund rücken und die Frage nach geeigneten Normen für den Prozess und den Umgang miteinander aufwerfen. Wenn die Gruppe Markus als Wortführer der Kritik gegen den Regionalisierungsprozess spöttisch seine man-
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gelnde Nächstenliebe vorwirft, zeigt das einen der Konfliktbereiche: Der Veränderungsprozess in der Gemeinde ruft zum Teil heftige Emotionen und Positionierungen bei den Beteiligten hervor, von denen nicht geklärt ist, wie sie genutzt, kanalisiert oder verdrängt werden können oder müssen. Ärger, Ängste und Widerstände gegenüber den Veränderungen, Wut auf andere Beteiligte oder das Handeln einer als unzugänglich empfundenen Organisation rufen Unsicherheiten hervor und verdeutlichen, dass es innerhalb der Kirche kaum bekannte und akzeptierte Verhaltensmuster gibt, in denen solche Gefühle zum Ausdruck kommen und produktiv werden dürfen. Zweitens wird am Beispiel der Rolle Armins in der Gruppe ein Konflikt um die angemessene Positionierung der Gemeindemitglieder als Subjekte der Veränderung, als Objekte oder lediglich als unbeteiligte Zuschauer des Geschehens sichtbar. Während Markus sich trotz seiner Kritik engagiert mit der Veränderung kirchlicher Arbeit vor Ort befasst, bietet Armin immer wieder Distanzierungen an: Wo Markus von möglicherweise schwierigen Gemeindekonstellationen nicht unmittelbar betroffen ist, sollte er sich nicht über sie ärgern. Wo Markus sich an Gemeinden stößt, deren Repräsentanten in den Verhandlungen wie Kinder um ein Spielzeug rangeln, führt Armin mit dem Szenario von einer Rationalisierung auf nur noch zwei Gemeinden für alle evangelischen Christen in Deutschland die Diskussion in den Bereich des Absurden, in dem sich jede weitere Auseinandersetzung erübrigt. Dieser Einladung zur Distanzierung folgen schließlich etliche Gruppenmitglieder. Drittens bietet der Konfliktpunkt »Strukturausschuss« möglicherweise einen Einblick in die Logik einer institutionskritischen Haltung, wie sie im Vergleich der Gruppendiskussionen für Christen mit dem Erfahrungskontext der neuen Bundesländer erscheint: Dass Kirche sich in undurchsichtigen Prozessen auf wenig plausible Ziele zu bewegt, entfremdet sie ganz deutlich ihren Mitgliedern. Sie wirkt jetzt nicht länger als ein Ort, an dem das Interesse der Menschen im Gegenüber zum Staat ausgedrückt und berücksichtigt werden kann, sondern rückt in dieser Wahrnehmung selbst stärker auf die Seite des Staates. In der Folge fühlen sich die Mitglieder durch Gremien, und seien sie durch eng vertraute Personen besetzt, nicht mehr repräsentiert. Die Gruppen in den alten Bundesländern fokussieren, wie ich im Folgenden zeigen werde, viel stärker die Wirkung der Kirche nach außen, etwa mit dem Thema »Marketing«. Hier erweist sich bereits die Frage der Beteiligung und geeigneter Rollen, in denen interessierte Kirchenmitglieder an den Veränderungsprozessen mitwirken können, als zentral. Werden hier keine attraktiven Möglichkeiten gesehen, etwa weil es übergeordnete Prämissen wie die der Gemeindefusionen gibt, mit denen sich die Mitglieder schwer identifizieren können, wird die Verärgerung gerade dieser Mitglieder mit enger Kirchenbindung zum Sprengstoff für die Prozesse. Zu klären wird sein, auf welcher Ebene sich eine solche Unzufrie-
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denheit auswirkt und inwiefern dies die Veränderungen oder die kirchliche Arbeit tatsächlich bedroht. Wo Mitglieder in den Gruppendiskussionen keine konkreten Erfahrungen mit Strukturprozessen benennen, also entweder solche Prozesse nicht erlebt haben oder sie im gemeinsamen Nachdenken über die Kirche nicht als relevant ansehen, stehen vor allem die Qualität der Arbeit und das Image von Kirche im Mittelpunkt. Artikuliert mit klischeehaften Formulierungen wird der veränderten »Gesellschaft« eine meist als wenig verändert wahrgenommene »Kirche« gegenübergestellt, die zur »Gesellschaft« in ihrem Auftreten oder ihrem Angebot nicht mehr recht passt. So kritisieren die Mitglieder der Gesprächsgruppe Junger Erwachsener in einer norddeutschen Großstadt, dass Kirche den veränderten Wahrnehmungsgewohnheiten der Menschen ebenso wenig Rechnung trägt wie der verschärften Konkurrenz um die Zeit und Aufmerksamkeit der unterschiedlichen Zielgruppen: Rolf:
Ich denk, dass mh so ’n bisschen provokanter, dass die Kirche insgesamt so ’n bisschen den Zahn der Zeit verschlafen hat einfach. Ähm .. vor allen Dingen dadurch, dass dass sie sich nicht nicht gut nach außen präsentiert. Also mh .. es es hat sich aus meiner Sicht sich die Gesellschaft eigentlich erheblich gewandelt in in den letzten zehn fünfzehn Jahren, durch .. ja .. vor allem durch durch unsere Medienwelt etc. so. Jeder hat ein ein irres Angebot an Freizeitgestaltung […] und da hat die Kirche aus meiner Sicht einfach die mh die die Zeit verschlafen, ähm da ’n bisschen offensiver, aggressiver vielleicht sogar äh nnach außen äh .. den gesellschaftlichen Wandel mitzugehen. Ähm .. einfach mehr für sich auf- auf sich aufmerksam zu machen, mh durch Aktionen, Beteiligung an irgendwelchen gesellschaftlichen Events etc., durch Werbung, Einsatz von den Medien, die eben alle andern nutzen. […] da muss man glaube ich einfach mit rein, auch wenn man wenn man das vielleicht so insgeheim sagt, so eigentlich finden wir das ja nicht gut, und eigentlich wollen wir uns ja diesem diesem gesellschaftlichen Wandel auch gar nicht so sehr .. stellen vielleicht. Oder wir wollen ja eigentlich überall so dies ’n bisschen traditioneller mit sehr einfachen ?schöner? (unv. ..), aber ? ich denk?, dass das auf Dauer nicht funktionieren wird. … Torben: Wobei ich glaub ich, da .. kann man da der Kirche irgendwie keinen .. w- würde ich zumindest der Kirche keinen Vorwurf machen, dass sie irgendwas verpennt hat. […] Es ist einfach so, dass sich ’n … die das Angebot verändert hat, und das ist denk ich auch nicht unbedingt die Aufgabe der Kirche, jetzt da sich anzupassen an m- .. an manche Sachen. .. Steffi: Na ja, ich denk aber auch, was die Präsentation (Torben? räuspert sich) des Angebots angeht, äh das ist glaub ich auch von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich, /Torben: Mhm./ also wenn ich jetzt die Gemeinde von meinem Onkel seh, zum Beispiel, der is ja eben auch Pastor, ähm äh .. wenn man da in ’n Gottesdienst geht, dann sitzen da fünf People, und von denen singen drei. Und wenn man selbst dann hört man sich selber immer singen, dann macht das auch nicht so viel Spaß, als wenn man jetzt äh hier in B-Dorf in die Kirche geht [Junge Erwachsene West: 520 – 579]
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Der Konflikt zwischen den Gruppenmitgliedern dreht sich um die Frage, ob Kirche sich wie die Gesellschaft verändern muss, um als Kirche attraktiv oder wirksam zu sein.205 Muss die Kirche eine Anpassungsleistung erbringen und sich »offen« und »aggressiv« nach außen wenden, oder sollte sie sich damit arrangieren, dass sie in einer pluralen Gesellschaft voller Möglichkeiten und Angebote weniger Gelegenheiten hat, Menschen anzusprechen oder zu binden? Während dieser Konflikt in der Gruppe nicht gelöst wird, sondern sich im Lauf des Gesprächs an unterschiedlichen Beispielen reproduziert, stellt sich in der Frage nach dem Image und der Arbeit daran ein Konsens her, den eine Teilnehmerin, die hier Steffi genannt wird, formuliert: Wie auch immer man ein Angebot der Kirche versteht, in Konkurrenz zu anderen Freizeitangeboten oder als attraktiv in seiner Besonderheit, muss doch in jedem Fall das Erleben ein Positives und Eindrückliches sein. Misslungen ist in diesem Beispiel ein Gottessdienst, der keinen »Spaß« macht, etwa weil der Reiz der großen Kultgemeinschaft fehlt oder weil die Veranstaltung den Bedeutungsverlust der Organisation Kirche spiegelt.206 Dass Kirche sich in diesem Sinn an die Kommunikations- und Wahrnehmungsgewohnheiten der Menschen anpassen muss, bleibt im Ergebnis unbestritten. Hier bedeutet Anpassung dann keine inhaltliche, sondern eine formale Anpassung, deren Problematik im nächsten Abschnitt noch deutlich werden wird. Interessanterweise erscheint hier in der Argumentation Rolfs (wie auch an anderen Stellen des Gesprächs) der Konflikt zwischen Reformwillen und Anpassungswillen als ein innerer Konflikt der Aktiven oder Kirchenverbundenen: Der Widerstand gegen Veränderungen (»wir wollen uns diesem Wandel gar nicht stellen«) ist eine »insgeheime« Positionierung derer, die für eine Veränderung von Kirche eigentlich verantwortlich wären. Torben übernimmt in seiner Reaktion diese Rolle ansatzweise und bietet darin den Widerspruch, den Rolf bereits vorweggenommen hat: Eine Veränderung der Gesellschaft zieht nicht zwangsläufig die Veränderung der Kirche nach sich, denn Kirche ist mehr als nur ein Teil der Welt, in der sie sich bewegt. Die Einordnung von »Veränderung« zwischen bloßer Anpassung an Methoden, Erscheinungsformen und möglicherweise auch Inhalte einerseits und einer sinnvollen Weiterentwicklung von Kirche andererseits ist eine Konfliktlinie, die für die Beurteilung der Veränderung typisch erscheint. Unmittelbar damit verbunden steht die Frage nach dem, was Kirche im positiven Sinn bedeutet. Im Votum Steffis lässt sich nur erahnen, dass die Kontrastfolie für die Kritik an einer Gemeinde mit verbesserungswürdiger Aus205 Zur Frage nach der »Kirche in Konkurrenz« vgl. Schulz, Kirchenmitgliedschaft, 123 – 125. 206 Zum Verständnis von Kirche als Organisation in der vierten EKD-Erhebung vgl. Hermelink, Einführung.
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strahlung ihr inneres Bedürfnis nach etwas ist, was sich beispielsweise im Gottesdienst vermittelt. Ob es hier vor allem um einen Erfahrungsraum für Spiritualität oder etwa ein Gemeinschaftserleben geht, lässt sich nicht erkennen. Die gemeinsame Suche nach dem, was Kirche eigentlich ausmacht, wird jedoch in der Argumentation in den Gruppendiskussionen als wichtiger Bestandteil einer Veränderung von Kirche sichtbar werden. Im Gespräch der stark kirchenverbundenen Gruppe von Jungen Erwachsenen wird deutlich, dass sich die Gruppenmitglieder weder als Subjekte der Veränderung begreifen noch die Notwendigkeit einer Veränderung im Hinblick auf die eigenen Bedürfnisse formulieren: Steffi hat den Gottesdienst in B-Dorf vor Augen, wo die Ausstrahlung besser und damit auch das eigene religiöse Erleben zufriedenstellend ist. Auch Rolf und Torben denken hier an die »Jugendlichen in der Gemeinde« und deren Zugangsmöglichkeiten zur Kirche, nicht an mögliche Barrieren für die eigene Person. Dieses Nachdenken über eine »Kirche für andere« erscheint als zentrales Phänomen in den Gruppendiskussionen mit Kirchenmitgliedern, während die Kritik an der Kirche aufgrund eigener Frustrationen sich erst allmählich erschließt. Als Beispiel für dieses Phänomen bietet sich eine Gruppe aus einem norddeutschen Kunstverein an, deren Mitglieder zwischen 58 und 70 Jahre alt sind. Die Gruppe ist außerhalb kirchlicher Kontexte befragt worden, ihre Mitglieder präsentieren sich jedoch als stark kirchenverbunden und als interessiert an einer breiten Wirkung der Kirche in der Gegenwart, sehr ähnlich den Jungen Erwachsenen. Na, ich vergleich sie eigentlich auch mit Vereinen. […] Das ist einfach äh die .. derzeitige Situation, die, die gesellschaftliche Situation. Die Leute, was ich vorhin schon mal sagte, werden egoistischer, werden auch selbstbewusster vielleicht und kreativer für sich selber. Die gehen lieber […] ins Fitness-Studio, also dass sie jetzt regelmäßig da irgendwie am Donnerstag da äh von 18 bis 20 Uhr irgendeinen Verein, äh .. zu einem Verein gehen. Und ich könnt mir vorstellen, in ähnlicher Form ist das mit der Kirche auch. Dazu kommt dann vielleicht auch noch, dass sie sich relativ unattraktiv darstellt. /Eva (leise): Mhm./ Finde ich. Nicht. Also muss man ja mal sagen. Es ist .. na gut. Helmut: Wer ist die Kirche, nicht? Eva: Mhm. Ulrich: Ja. Dieter : Ja. Im Verein, wer, wer ist der Verein? Das ist dasselbe. Ulrich: Ja. Ja. Genau. Helmut: Ja, natürlich. Beate: Der Einfluss der Kirche schwindet natürlich, wie wir sehen, enorm. Andererseits, wenn man so die Kirchentage sich anguckt, äh, ist es doch erstaunlich, wieviele gerade junge Leute sich äh da hinbegeben und äh Ulrich: Ist ’n gutes Konzept. Beate: da auch wirklich dann sich engagieren. Eva: (unv.)
Ulrich:
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Fortsetzung Beate:
Lisa: Beate: Ulrich: Lisa:
Eva: Lisa: Eva:
Und ich denke, das zeigt schon, dass auch gerade die jungen Leute irgendwo versuchen, äh ’n Halt oder Wurzeln irgendwo zu finden, aber so in dieser normalen, sagen wir mal normalen Kirche, wenn ich mir überlege, wenn man so am Sonntag in den Gottesdienst geht, dass sie, da kann ich keinem verdenken, dass er da nicht hingeht als junger Mensch, weil das bietet denen wirklich überhaupt gar nichts. Das es bietet auch oft den Erwachsenen nichts. Das ist richtig. Genau. Der übliche zehn Uhr Gottesdienst, und da hat man den hauptsächlich vor Augen, den man so vor Ort geboten bekommt, der ist wirklich nicht attraktiv genug, und äh wenn das .. die evangelische Kirche, die da vom Wort her äh lebt, müsste da viel mehr drauf achten, dass a) eine gute Rhetorik beherrscht wird, dass b) die Technik funktioniert, das heißt die Mikrofonanlagen, also alles, was sagen wir mal, zur Vorbereitung eines (lacht) guten Ablaufs nötig ist, das (lacht) Und die Heizung. Lisa, vergiss bitte die Heizung nicht. [Kunstverein West: 775 – 792]
Auch dieser Gesprächsausschnitt ist von hoher interaktiver Dichte, die Mitglieder diskutieren mit großer persönlicher Beteiligung. Die »Leute« sind zunächst andere Menschen, die imaginierten, anspruchsvollen jüngeren Generationen, die sich stärker unabhängig und gestaltend erleben und im Hinblick auf das Angebot von Vereinen (hier : der Kirche) wenig kompromissbereit sind. Auch wenn Helmut (und in den Reaktionen noch andere) diese Schilderung mit der impliziten Forderung der Verantwortlichkeit aller Mitglieder kontrastiert (»Wer ist die Kirche«), bleibt Kirche hier ein institutionelles Gegenüber, das »jungen Leuten« etwas »bietet«. Die Haltung, die in der kritischen Rückfrage »Wer ist die Kirche« bereits anklingt, kommt innerhalb dieser Passage immer stärker auch inhaltlich zum Tragen. Ihren argumentativen Angelpunkt hat die Diskussion im Beispiel der Kirchentage, die einen nicht näher beschriebenen Reiz ausüben und denen gegenüber die »normale Kirche« wenig bietet. Unter der Überschrift der »Perspektive jüngerer Menschen« formulieren die Gruppenmitglieder jetzt eigene Bedürfnisse: anspruchsvolle Inhalte (das »Wort«) auf ansprechende Weise präsentiert (die »Rhetorik«), eine professionelle Durchführung von Gottesdiensten (die »Technik«) und einen gewissen Komfort beim Gottesdienstbesuch (die »Heizung«). Hier hat die Gruppe schließlich die Außenperspektive verlassen und spricht über die eigene Gemeinde, konkrete Erfahrungen und eigene Belange. Dennoch überwiegt in diesem Gespräch wie in beinahe allen anderen auch der Wunsch nach Veränderung der »Kirche für andere«, die noch keinen
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Analysen zur Kirchen- und Gemeindeentwicklung
Zugang zu Angeboten der Kirche haben und darum veränderte Strukturen oder reizvollere Erscheinungsformen dringend brauchen. Am Beispiel dieser Gesprächsausschnitte wird sichtbar : Veränderungen innerhalb der Kirche müssen aus der Perspektive dieser Befragten klar an inhaltlichen Maßstäben orientiert sein. Als Leitlinie dabei dient eine implizite Vorstellung darüber, was die Kirche in ihrem Kern ausmacht, auch wenn dies in den Diskussionen kaum definiert wird. Dabei ist die Kirche meist vordergründig als »Kirche für andere« gemeint, insofern als die Gruppen überwiegend andere Menschen, andere Generationen oder auch die Gesellschaft im Allgemeinen als Nutzerinnen und Nutzer kirchlicher Angebote beschreiben. Die Subjekte der Veränderung spielen eine große Rolle, dabei fällt auf, dass sich selbst hoch kirchenverbundene Befragte selten selbst als direkte Akteure verstehen. Wie dies durch Rollenzuschreibungen innerhalb der Kirche bedingt ist, welche Zusammenhänge sich mit kritischen Perspektiven auf die Kirche finden und wie Rahmenbedingungen und Leitlinien für die Veränderung zur Sprache kommen, sollen die folgenden Abschnitte zeigen.
1.1.2 Wirtschaft, Professionalität und Macht – Leitlinien der Veränderungen Auf dem Weg zu einer veränderten Kirche sind nicht nur die konkreten Ziele strittig, die Gruppendiskussionen zeigen auch, wie die Befragten zwischen angemessenen und weniger angemessenen Wegen der Veränderung nun Grundlagen und Methoden unterscheiden. Anhand der Schwerpunkte »Wirtschaft« und »Hierarchie« möchte ich zeigen, welche Struktur hier Konkurrenz- und Konfliktlagen haben, welche Ambivalenzen dabei entstehen und wie die Gruppen ihre Bewertungen aushandeln.
1.1.2.1 Kirche, Welt und Wirtschaft Das Verhältnis der Kirche zur »Wirtschaft« ist vor allem vor dem Hintergrund einer Veränderung von Kirche ein Thema, das sehr unterschiedliche, starke Positionierungen hervorruft und darin ein Paradoxon bedeutet: Die Kirche soll einerseits endlich wie ein Unternehmen handeln, ihre Botschaft präzisieren, ihre Zielgruppen fokussieren, ihr Marketing optimieren und ihre Leistungen evaluieren. Andererseits sollen aber viele Maßstäbe und Methoden der »Wirtschaft« gerade nicht auf die Kirche übertragen werden, etwa in der Orientierung an den Einnahmen, in der Konzentration auf die Leistungsstarken und Zahlungskräftigen, in der Härte der Auseinandersetzungen oder in der inhaltlichen Ausrichtung an den Interessen und Meinungen der »Kunden«. Zwischen Verlockung
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und Schrecken erarbeiten die Gruppen Leitlinien für eine sich verändernde Kirche. Ähnliches gilt für die Auseinandersetzung mit der »Welt«: Kirche bietet einerseits eine Gegenwelt zu dem, was die Befragten in ihrem Alltag erleben. Hier geht man menschlich miteinander um und hier stehen die Interessen nicht nur der Einflussreichen und Leistungsfähigen im Vordergrund. Die Werte der »Welt« treten hier auf angenehme Weise zurück gegenüber den Werten des christlichen Glaubens. So entsteht ein geschützter Raum, in dem es harmonischer zugeht als »draußen«. Zugleich soll die Kirche andererseits nicht weltfremd sein und sich an die Lebenswirklichkeit ihrer Mitglieder und die Arbeitsformen anderer Organisationen annähern: Sie soll strategisch vorgehen und rational handeln, Konflikte austragen und im Zweifelsfall vor einschneidenden Maßnahmen nicht zurückschrecken. Lange bevor das Paradoxon sich in Argumentationslinien ausprägt, finden sich in den Gruppen Momente, wo solche unterschiedlichen Deutungen sichtbar werden, wie hier am Beispiel des Gemeindegesprächskreises-Ost. Markus beginnt die Gesprächseinheit über die Kirche mit einer indirekten Erfahrung im oben bereits erwähnten Strukturausschuss der Gemeinde: Markus: Ja, man wünschte sich Harmonie in der Kirche oder auch in den Leitungsgremien. Meine Frau war gestern im Strukturausschuss. /Mhm./ Armin: (unv.) (allg. Gelächter) Markus: Also wenn ich da hör was die erzä- Ich frage immer dann bin neugierig den nächsten Tag, was gab’s Neues. /Mhm./ Das is nur Intrigantentum, äh wer kriegt sichert seine Pfründe. /Mhm./ Wer kriegt wieviel in Verteilungskämpfe? /Mhm./ Armin: ?Das kriegen immer die Gleichen.? Markus: Also alles was in der Wirtschaft .. normal is Krieg praktisch auf gut deutsch is auch Krieg (Konrad? stöhnt auf) in der Kirche. /Mhm./ ’S Wort spricht zwar keener aus, aber das is genau dasselbe. /Mhm./ Und und und die .. ja die Menschen, .. die Christen, die haben alle ’n anderen Charakter, das das is ja logisch, und alle ham se ooch dann dadurch andere .. äh Elke: Interessen. Markus: Andere Interessen, Ziele und so weiter. Sie sind eben .. keine Engel. [Gemeindegesprächskreis Ost: 857 – 871]
Dass in der Kirche nicht nur Harmonie herrscht, ist für die Gruppenmitglieder zunächst verständlich: »Christen« sind »keine Engel«, sie haben »Interessen«, die sie benennen und verteidigen, weshalb in der Gemeinde wie auch im sonstigen Leben »Krieg« herrscht. Dennoch ist an diesem Zustand, darin sind sich alle einig, einiges zu bemängeln: Es gibt in den »Verteilungskämpfen« Gewinner und Verlierer, wobei »immer die Gleichen« auf den beiden Seiten stehen. Auch wenn dies in gewissem Sinn »normal« ist und es in der »Wirtschaft« ebenso zugeht,
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wäre es doch erstrebenswert, wenn das Miteinander friedlicher und weniger an persönlichen Interessen orientiert gestaltet würde. Innerhalb dieses ersten Gesprächsgangs über die Kirche thematisieren und kritisieren die Gruppenmitglieder dann unter anderem die Hauptamtlichen vor Ort, die sich in der Terminplanung nach den eigenen Gewohnheiten und Möglichkeiten richten statt die Möglichkeiten der Gemeindemitglieder zu berücksichtigen. Nach dem Fazit Markus’ und dem Stichwort »Welt« sprechen mehrere Gruppenmitglieder gleichzeitig gegensätzliche Bewertungen für die Kirche und ihren »Welt«-Bezug aus: Markus: Was die andern sagen .. die Kirche is weltfremd. /Mhm./ ?Das hab isch? Carola: Markus: Das hört man immer, weltfremd. .. Armin: (unv.) Sie is wie in der Welt. Markus: Sagen sagen die Mitarbeiter. Armin: Genauso kriegerisch. [Gemeindegesprächskreis Ost: 923 – 929]
Die Gleichzeitigkeit von weltlichen und nicht-weltlichen Ansprüchen an die Kirche zeigt, wie die Argumentationen Unterschiede in der Wertorientierung oder auch in den Mentalitäten spiegeln: So transportiert das Bedürfnis nach mehr »Wirtschaft« zugleich ein Bedürfnis nach einem sorgfältigeren und darin professionelleren Umgang mit Ressourcen – etwa mit engagierten Mitgliedern oder vorhandenen, bewährten Strukturen – und nach einer Planung, die die primären Ziele der »Firma« schützt. Im weiteren Gesprächsverlauf der Gruppendiskussion mit dem Gemeindegesprächskreis-Ost lässt sich diese Deutung nachvollziehen: Mhm. Also jede Firma wäre Pleite gegangen, nach kürzester Zeit. /Armin: Ja./ Wenn mer so ne so ne Firmenphilosophie betreiben würde. .. Das Produkt, .. die gute Botschaft, .. das wird .. nicht weiter getragen, weil einfach die .. die die Werbung dafür, ich will ’s jetzt einfach noch mal so /Carola?: Mhm./ übersetzen. Die Werbung und und die Möglichkeiten es weiter zu tragen so negiert werden. Da hast du völlig recht. (wird leiser) .. Das is .. makaber. Armin: Ich weiß nicht, wie das bundesweit so ist, aber sachsenweit is es ja /Elke: Ja. Mhm./ zum Beispiel so, dass man ja noch nicht über Verkauf von irgendwelchen äh .. Pfründen sprich Kirchenländereien als (unv.) laut nachdenken darf, /Mhm./ /Elke: Mhm./ Aber parallel der Finanzhahn bei den Gemeinden massiv äh (2) gedrückt wird, ?noch? enger .. gedreht wird. Und das is also ne ne Situation, wo die Kirchenvorsteher im Gemeinde?kittel? überlegen, wie se ’s denn überhaupt finanzieren sollen. .. (nuschelt) /Elke: Mhm./ Und die Lösung heißt dann wahrscheinlich, Strukturreform sprich Personalabbau. […] Wär vergleichbar mit einem Betrieb, der also Absatzschwierigkeiten hat, würde man eigentlich ’n Absatz stärken, wenn man von dem Produkt überzeugt ist. […] Aber inzwischen hab ich das Gefühl, dass äh es bei der .. kirchlichen Struktur nicht mehr so sehr Elke:
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Fortsetzung um das Produkt geht, sondern auch bloß nur noch darum, die eigenen Hierarchien und Pfründe und äh .. Elke: Zu sichern. Armin: Ja. Carola: Ja, vor allen Dingen, Armin: Karrieren zu sichern. [Gemeindegesprächskreis Ost: 1176 – 1211]
Dieser Gesprächsabschnitt ist wieder von großem Engagement der Beteiligten geprägt. Zunächst werden hier Übersetzungen in die Welt der Wirtschaft vorgenommen: Das eigentliche »Produkt« der Firma sollte im Zentrum jeder »Firmenphilosophie« stehen. Für die Kirche bedeutet dies, »die gute Botschaft« und ihre Verbreitung in den Mittelpunkt des Engagements zu stellen. Von hier aus werden Schwachstellen der kirchlichen Strategie beschrieben: Zunächst ist der Kirche in dieser Denkfigur ihr Unternehmensziel aus dem Blick geraten; der Vertrieb wird vernachlässigt. Das Nachdenken über Investitionen ist ein Tabu, was dazu führt, dass schließlich Strukturprobleme ins Zentrum der Bemühungen geraten: Die Kirche betreibt und organisiert ihre Schrumpfung. Die Verantwortlichen geraten in Verdacht, nicht mehr zum Wohl des Unternehmens, sondern zur Wahrung eigener Interessen tätig zu sein. Hier wünschen sich die Gruppenmitglieder einheitlich die Härte der Wirtschaftswelt und deren strategische Stringenz: Carola: […] Jede Firma, die jetzt so ne Struktur-Geschichte machen würde, würde wenn se einigermaßen .. clever is sagen, wir wollen das ganz anders machen. Also müssen wir gleich die Kollegen mal einbeziehen, damit die mit die dann damit arbeiten müssen, wissen, wo ’s lang geht und ihre eigenen Ideen mit einbringen können, die setzen ja besser ihre eigenen Ideen um oder die Ideen, /Katja?: Mhm. Genau./ als das, was sich irgend eener ausgedacht hat. (Redet sehr schnell) Katja?: Ressourcenanalyse erstmal an- feststellen ?und dann sieht mer mal? Carola: Und das passiert aber nicht, sondern es wird jetzt gesagt, wir machen jetzt erstmal die Struktur /Katja: Ja. Mhm. Mhm./ Wir machen jetzt die Struktur, und da dürfen bitte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht stören. /Katja: Mhm./ Denn jetzt machen die Pfarrer, die sowieso der lebenslangen Fürsorge .. der Landeskirche unterstehen, die Struktur. Konrad: Das machen aber die Großbetriebe ooch, ?weeßte? Carola: Und ja Konrad: Das funktioniert im Kleineren. (unv.) das glaub ich. Carola: Aber bei der Kirche würdst du dir ’s ja vielleicht mal anders vorstellen. ?Da hat man ne? ganz andere Idee. Na ja. Konrad: Carola: davon, wie ’s Leben ’s funktioniert, ne? [Gemeindegesprächskreis Ost: 1224 – 1244]
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Der Personalabbau ist im Verständnis der Gruppe zum Unternehmensziel der Kirche geworden, das nicht durch analytisches Vorgehen hinterfragt wird: Die Beteiligten werden nicht in die Strukturprozesse einbezogen und ihr kreatives Potential wird nicht genutzt. Im Einwurf Konrads »Das machen aber die Großbetriebe ooch« zeigen sich schließlich die Sichtweisen hinter der Kontrastfolie »Wirtschaft contra Kirche« als eigentliches Konfliktpotential: In der Frage, welche Rolle so genannte Laien in der Gestaltung des »Unternehmens Kirche« spielen sollen, ob sie etwa in Veränderungsprozesse einbezogen werden und Mitbestimmungsrechte erhalten sollen, zeigt sich die Differenz zwischen den verschiedenen Mentalitäten der Unternehmensführung. Solche Differenzen sind weitaus größer als die Unterschiede zwischen »Kirche« und »Welt« und verweisen auf konfliktbesetzte Fragen nach Hierarchien und Machtstrukturen: Die Kirche soll »anders« sein und sowohl eine straffe Orientierung an den eigenen Zielen bieten als auch ihre Mitglieder an der Macht beteiligen. Daneben konkurrieren, wie im Folgenden noch deutlicher zu sehen sein wird, unterschiedliche Bewertungen einer hierarchischen Struktur, verschiedene Vorstellungen von guter Leitung sowie stark unterschiedliche Bedürfnisse nach Partizipation.
1.1.2.2 Kontrolle, Macht und Leitung Auch in der Thematik von Macht und Leitung erwarten die befragten Gruppen von der Kirche ein professionelles Verhalten, das sie mit Attributen des Wirtschaftslebens umschreiben. Auch hier finden sich positive wie negative Bewertungen von Methoden aus dem Bereich der Unternehmensführung. Im Kunstverein geschieht dies in einer Passage, die sich an einen Erfahrungsbericht über das kritikwürdige Verhalten eines Pfarrers in der Jugendarbeit anschließt. Monika liefert mit ihrem Resümee aus dem Erfahrungsbericht hierfür das verbindende Stichwort »Kontrolle«: Monika:
Eva: Monika: Helmut: Monika: Helmut: Monika:
Eben. Und da ist je- versagt meines Wissens, meines Erachtens nach die Institution Kirche. /Eva: Jaja./ Es gibt keine Kontrolle. /Eva: Mhm./ Es gibt sechs, alle sechs Jahre ’ne Visitation, und wie das bei Kirchens so ist, keiner kratzt dem anderen am Lack Und ist ja auch angekündigt. nich, und Kritik äh ist ganz schwierig. (2) Ja. Ich bin Und dann dümpelt alles vor sich hin. Ich bin dreißig Jahre lang in einer Wirtschafsprüfungsgesellschaft gewesen, und ich kann Ihnen sagen, ohne Kontrolle geht alles den Bach runter. Ja. (jemand hustet)
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Fortsetzung Ulrich: Helmut: Dieter :
Wer soll die Kirche kontrollieren? Wer sollte das machen? Aus sich heraus? Ja, selbstverständlich. Natürlich, das. Aber es soll auch passieren. [Kunstverein West: 1707 – 1726]
Das Gespräch befindet sich hier in einer thematischen Verdichtung, bei der nahezu alle Gruppenmitglieder eingebunden sind. Ausgehend vom Ärger über einen Pfarrer, der eine günstige Gelegenheit zur Anbindung von Jugendlichen nicht nutzt, deuten sie die Schwierigkeiten im Bereich von »Kontrolle« und »Kritik« als Probleme im zwischenmenschlichen Bereich bzw. in den innerkirchlichen Kommunikationsmustern: In der Kirche »kratzt« man sich nicht »am Lack«, weshalb die Arbeit bzw. deren Leistungsniveau »vor sich hin dümpelt«. Mit einem zweiten Erfahrungshorizont eines Gruppenteilnehmers, der lange als Steuerberater gearbeitet hat, verschiebt sich das Interesse der Gruppe von der konkreten Gemeinde wieder auf Kirche im Allgemeinen. Obwohl fast alle Mitglieder stark kirchenverbunden und einige sogar selbst in einer Gemeinde engagiert sind, nehmen sie hier eine Außenposition ein und erarbeiten aus dieser heraus Leitlinien für eine »Kontrolle« der Kirche. Hier stellt sich besonders dringlich die Frage, wer eine solche »Kontrolle« durchführen soll und darf: Braucht die Kirche den externen Blick oder schafft sie es, »aus sich heraus« die Kraft dazu aufbringen? Dass Methoden der »Wirtschaftsprüfung«, etwa des Qualitätsmanagements oder des hierarchischen Leitungshandelns, grundsätzlich auf die Arbeit der Kirche anwendbar sind, steht für die Gruppe hier außer Frage. Sie sieht, das deutet sich hier bereits an, das eigentliche Problem in der Initiative, die eine »Kontrolle« in Gang setzt. Erst jetzt diskutiert die Gruppe die weiteren Dimensionen eines solchen Vorgehens: Es muss, es muss ein Ziel da sein und es muss geprüft werden, ob dieses Ziel erreicht wird. /Ulrich: Ja./ Das, das, das Ziel /Monika: Genau./ kann sich die Kirche selber geben, die einzelnen Gemeinden. Das kann man sich selber setzen. Und dann muss überprüft werden, (leises Gemurmel) von wem auch immer, ich meine, wir wollen ja keine Außen- äh Kontrolle, das kann durchaus in der äh, äh, und die Kirche hat ja auch genug Möglichkeiten. nicht, Pfarrgemeinderat und so weiter, nicht. Helmut: Wir brauchen keine Pfarrer, die wir teuer bezahlen, aber (unv.) Ulrich: (?) solange man es nicht kontrolliert. Helmut: Bitte? Ulrich: Sie haben doch auch in fremden Firmen kontrolliert? Helmut: Ja, selbstverständlich. Ulrich: Nicht ihre eigenen Sachen. Ja. Und bei der Kirche ist das so, dass
Dieter :
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Fortsetzung Helmut:
hatten aber auch ’ne Innenrevision.
Ja, wir
Ulrich: Ja. Dieter : Doch, das gibt es, die Innenrevision. Helmut: Und zwar war die Kontrolle ziemlich, ziemlich konsequent, nicht, es kam zu einem unbekannten Zeitpunkt jemand der wissen wollte, Lisa: (unv.) Der alles wissen wollte, ja. Helmut: es war immer ’n Vorgesetzter, der, der wissen wollte, was in dem letzten Vierteljahr passiert ist. An Mandantenwerbung, an fachlicher Arbeit, welche Pannen waren, welche nicht. Das funktionierte tadellos. Und da braucht man gar keine, gar keine .. Dieter : Wirtschaftsrechnungsprüfer. Helmut: Kontrollmechanismen, sondern da braucht nur mal jemand sich äh (räuspert sich) um diese Dinge kümmern. Aber wenn die Gemeinde oder jede Gemeinde sich selbst überlassen bleibt, denn kommt die Situation [berichtet über Situation der Pfarrer in der Region und kritisiert den Mitgliederschlüssel als ein bürokratisches Kriterium für die Bemessung von Pfarrstellen] [Kunstverein West: 1737 – 1780]
In dieser Phase der Diskussion, in der sich vor allem die Männer der Gruppe engagieren, wird nun strittig, wer die Aufgabe übernehmen soll, die Arbeit der Kirche zu kontrollieren. Während Dieter für sein Modell, in dem die Entwicklung oder Wahl von Zielen der Organisation Kirche oder sogar ihren einzelnen Gemeinden vorbehalten bleibt, keinen Widerspruch erfährt, wird seine Position »wir wollen ja keine Außenkontrolle« von Ulrich kontrastiert. Er sucht für seine vorsichtige Opposition die Unterstützung des »Experten« Helmut, scheitert aber an der Mehrheitsmeinung der Gruppe: Kirche soll sich selbst kontrollieren. Viel wesentlicher als eine Orientierung an Zielen und Kontrollmechanismen des Wirtschaftslebens ist der Gruppe eine funktionierende Leitung, in der eine Kontrolle »konsequent« durchgeführt werden kann: Es bedarf eines »Vorgesetzten« bzw. einer Instanz, die Leistungen und Erfolge ebenso wie das Scheitern in der konkreten Erscheinungsform erfasst und für das weitere Vorgehen nutzt. Helmut, der Wortführer dieses Abschnitts, führt von hier die thematische Linie wieder aus dem Themenfeld heraus: Es geht ihm nicht um Machtausübung und das Erzeugen von Druck für die Mitarbeitenden, sondern darum, dass sich »jemand« um sie und ihre Arbeit »kümmert«. Insofern ist hierarchisches Handeln oder Leitungshandeln immer als ein Handeln zugunsten der (engagierten) Mitarbeitenden und der Gemeinde verstanden, auch wenn dies zunächst als Härte erscheint:
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Helmut: Und .. äh daneben äh hat das natürlich noch andere .. äh .. Aspekte, nämlich ähm man weiß ganz genau, dass wenn man eben nicht so will oder so kann oder sonst was, es mit absoluter Sicherheit keine Konsequenzen hat. /Monika: Mhm./ Nicht. Und, und wenn, und das ist nun mal auch menschliches Leben. (Gemurmel) Und in der Kirche sind auch Menschen tätig. Nicht nur Heilige. Ja, und lange, Ulrich: meistens sehr lange, nicht. Ja, mit unserem klappt das besonders gut. .. Aber (lacht) (Gemurmel) Dieter : Aber der Beamtenstatus .. Aber Beamten haben den Lebensstatus (unv.), das ist die Frage. (Dieter und Helmut gleichzeitig) Helmut: In der ganzen Bibel hab ich, kenne ich keine Stelle, wo Jesus etwa die Sturerei gesegnet hätte. [Kunstverein West: 1783 – 1797]
Die Forderung nach mehr Leitungshandeln bedeutet für die Gruppe in erster Linie eine Forderung nach stärkerer Orientierung an Zielen und Leistungen sowie eine straffe Führung. Die Gruppe beschreibt ein System kirchlicher Arbeit in Ortsgemeinden, in dem Pfarrerinnen und Pfarrer auf lange Zeit weitgehend unabhängig von der Gemeinde und ohne Rücksicht auf die Interessen einer nächsthöheren kirchlichen Hierarchieebene agieren können. Dieses System bietet wenig Spielraum, um eine Zielorientierung durchzusetzen und Kontrollmechanismen zu stärken. Das Menschliche der Kirche findet sich hier in Form einer (zu kritisierenden) Arbeitshaltung von Mitarbeitenden wieder, die ohne Anreize und Kontrolle kaum bereit sind, sich stärker zu engagieren, sich an Zielen oder Zielgruppen zu orientierten oder sich gegebenenfalls gegen die eigenen Vorstellungen an Maßgaben einer Leitungsinstanz zu halten. Die Diskussion über die Kirche erlebt im Kunstverein an dieser Stelle einen Höhepunkt, an dem die Mitglieder gleichzeitig sprechen, die Beurteilungen teilen und mit Erfahrungen anreichern. Zugleich kommt das Gespräch von der Diskussion grundlegender Prinzipien und allgemeinen Beschreibungen der kirchlichen Situation jetzt zurück auf die eigene Gemeinde. Im weiteren Gesprächsverlauf sammeln die Gruppenmitglieder nun Methoden für Ortsgemeinden, aktiv auf Menschen zuzugehen und sich so genannte kirchenferne Zielgruppen zu erschließen. Das Gespräch ist, wie in den zitierten Passagen, durchsetzt von aggressiven Auseinandersetzungen mit in dieser Hinsicht unzureichend arbeitenden Pfarrerinnen und Pfarrern. Während sich derartige Aggressionen gegen konkrete Hauptamtliche in den meisten Gruppendiskussionen wiederfinden, binden nur wenige Gruppen dies in vollständige Argumentationsmuster ein. Im bereits zitierten Gemeindegesprächskreis-Ost werden neben den Perspektiven der Unternehmensführung (s. o.) auch Erfahrungen aus der DDR-Geschichte und politische Perspektiven einbezogen. Der folgende Ausschnitt zeigt, welche Rolle solche Perspektiven auf der Suche nach Leitlinien für eine Veränderung von Kirche spielen:
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122 Elke:
Armin: Elke: Carola: Elke: Carola: Elke: Armin: Carola: Elke: Carola: Elke: Armin: Elke: Carola: Armin:
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mich macht trotzdem wütend, dass ähm die Vergleiche, die du nanntest grade die Kirche oder ’s System Kirche und äh freie Marktwirtschaft sich so ähneln. /Konrad: Mhm./ /Carola: Mhm./ Ja? Und dass da /Armin: (unv.)/ (im Hintergrund Stühlerücken) sämtliche Demokratie flöten gegangen ist in diesem .. System. .. Das hat, ja wir ham’s ja gehofft, dass es ja mal vielleicht entsteht. .. So das war ja unser Ziel ne Demokratie, das. Oberkirchenräte gibt. Genau. Dass es so was in der Hierarchie gibt, Da kommt eben immer weiter entfernt von der Basisarbeit. Bei Kirche kannst du lupenrein hoheitliches Handeln /Elke: Ja./ äh .. studieren, das is ja (unv.) das is im staatlichen Bereich, im kommunalen Bereich, da is das viel besser kaschiert. Ja. ?Da spricht der ?Parteigott? (lacht) (unv. Durcheinander) Aber bei der Kirche kannst du das in Reinform noch, /Elke: Ja./ das is dann 19. Jahrhundert. Da kann man das noch sehen. Da kannst du das noch lupenrein studieren. .. Und solange das so was gibt, .. da .. würd ich am liebsten gar nicht hingucken, obwohl ich weiß, dass es falsch ist. Man müsste da mal richtig reinstochern. Das is aber. Vielleicht überforderst du dich damit. Ja, das weiß ich. .. (Carola lacht) So ne große Gabel hab ich auch gar nicht. Ich wollt grad sagen, so ‘n großen Stocher haste gar nich. .. Also ich hab in den letzten Jahren gemerkt, diese Kirche ?wird? nicht reformierbar. .. Is wirklich .. vergebliche Liebesmüh… (lacht kurz auf). .. Es hat mal einer gesagt, man solle seine Kräfte produktiv einsetzen. [Gemeindegesprächskreis Ost: 998 – 1034]
Elke, die in dieser Passage die Argumentation anführt, indem sie thematische Ebenen einbringt und zu neuen Perspektiven verknüpft, benennt ihre Sehnsucht nach einer demokratischen Kirche. Dieser widerspricht eine zu große Ähnlichkeit mit Unternehmen der »freien Marktwirtschaft«. Die kirchliche »Hierarchie«, symbolisiert durch »Oberkirchenräte«, könnte dafür den Rahmen schaffen, innerhalb dessen das System Kirche ein demokratisches ist. Zugleich scheint gerade diese »Hierarchie« etwas zu sein, das Menschen in Leitungsfunktionen von der »Basisarbeit« und damit von den primären Zielen der Kirche entfremdet. So verbleiben in dieser Gruppendiskussion die kirchliche Hierarchie und vor allem Funktionsträgerinnen und -träger im Zentrum von Spott und Kritik. Die Gruppe, hier mit der Stimme von Carola, führt diese hierarchische Distanz mit historischen Gesellschaftsbildern weiter aus: Das Handeln der Kirche ist »hoheitlich«; ihr vormodernes Regiment scheint gänzlich unabhängig von den Interessen des Volks und es gibt keine gemeinsame Erfahrungsebene. Während der im Übrigen ähnlich strukturierte öffentliche Dienst diese Struktur »kaschiert«, tritt sie in der Kirche noch offen zu Tage. In diese Deutungsebene
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mischt sich, auf eine subtile Art, der hermeneutische Horizont der DDR-Geschichte. In dieser Konstruktion frustriert das System Kirche seine Mitglieder in ihrem Bedürfnis nach freier Mitbestimmung und offener Diskussion. Möglicherweise erscheinen auf diese Weise Entscheidungen in kirchlichen Leitungsebenen ebenso totalitär wie das Votum des »Parteigottes«. Auch hier enthält das Ringen um die Bedeutung kirchlichen Leitungshandelns die Frage nach der eigenen Position im Veränderungsprozess von Kirche: Elke äußert, wie auch andere Gruppenmitglieder es immer wieder tun, das Bedürfnis, selbst aktiv zu werden, in diesem Fall »da mal richtig rein« zu »stochern«. Damit beschreibt sie sich zugleich im inneren Widerspruch mit dem Impuls »am liebsten gar nicht hingucken«. Die Gruppe reagiert, auch dies nur ein Beispiel von vielen in dieser Gruppendiskussion, mit einer kurzen Gesprächseinheit über die Frage nach der eigenen Rolle: Vermutlich ist der eigene Einfluss oder auch die eigene Kapazität an Energie oder Geduld zu gering, um tatsächlich etwas zu ändern, so dass ein derartiges Engagement eine Überforderung bedeuten könnte. Möglicherweise ist auch die Problematik der Kirche selbst eine unlösbare oder die Verantwortlichen zu beharrlich für eine echte, sinnvolle Veränderung. In jedem Fall tritt, nicht nur an dieser Stelle, die Sorge der Gruppenmitglieder zu Tage, sich in diesem Prozess stärker zu engagieren, als es mit Blick auf das eigene Wohlbefinden anzuraten wäre. Ein wichtiger weiterer Faktor für diese Sorge, der sich im Verlauf des Gesprächs zunehmend mit den bereits beschriebenen verbindet, ist der Konflikt zwischen bezahlten und unbezahlten Engagierten und darin zuweilen auch zwischen Theologen und »Laien«. Ein Beispiel aus dem ersten Teil der Diskussion des Gemeindegesprächskreises-Ost über die Kirche soll das zeigen: Markus: Und das zerreibt die Leute .. u- und die wenigen, die noch äh Engagement zeigen, die ham nach ?ner gewissen? Zeit .. keen Interesse mehr, sind verbraucht, verheizt, /Elke: Ja. Genau./ äh äh können nicht mehr. Elke?: Und wenn der Glauben nicht wär, wären se schon längst ausgetreten. (eine Frau lacht nachvollziehend auf) Markus: Die haben noch Arbeit hier und ja Mann und Frau zu stehen. Und dann noch .. Freizeit .. und die (2) hauptamtlichen Mitarbeiter muss ich sagen .. jetzt .. Pfarrer /Elke: Mhm./ und so weiter, nicht kleineren Chargen. /Elke: Mhm./ So äh die ja sind gut genährt und ausgeruht und sind und sind abends sind abends Carola: Das kannst du jetzt nicht (Gelächter bricht aus) Markus: fit und die andern äh die haben ihren La – Lebenskampf geführt tagsüber, sind und und haben aber dann, sind abends fertig und und die führen’s große Wort. /Mhm./ (Carola lacht laut) So .. so is es aber. (laut) So is und und und und quacksalbern rum. [Gemeindegesprächskreis Ost: 874 – 894]
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Die Situationsbeschreibung von Markus, der mit ihrem Klassenkampf-Vokabular in der Gruppe spontan Erheiterung hervorruft, kontrastiert die Hierarchieebenen, die im kirchlichen Veränderungsprozess durch die Beteiligung ehrenamtlich Engagierter automatisch eingezogen sind. Die Gremienarbeit wird hier, in der noch nicht konsensreifen Perspektive des Markus, zu einem Kampfplatz, auf dem diejenigen zwangsläufig unterliegen, denen ihre berufliche Belastung bereits wichtige Energie entzogen hat. Diese Position ist der Beginn einer Argumentationslinie, die sich durch die gesamte Diskussion zieht: Man kann von einem Konflikt zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen sprechen, in dem sich die Ehrenamtlichen zwar gefordert, aber häufig von Entscheidungen ausgeschlossen fühlen. So wird aus einem freiwilligen Engagement eine Belastung für die eigene Person und ihr Verhältnis zur Kirche. Diese Sicht prägt ganz entscheidend die Deutung der eigenen Rolle innerhalb der Kirche und ihrer Veränderungsprozesse, wie der folgende Abschnitt zeigen soll.
1.1.3 Wir sind das Volk! – Positionierungen von Mitgliedern im Veränderungsprozess Während sich die Gruppen darin einig sind, dass Kirche prinzipiell für alle da sein soll, finden sich enorme Unterschiede in der Perspektive darauf, wer Kirche eigentlich gestaltet und wie sich in dieser Hinsicht Zugehörigkeit bestimmen lässt. Hier soll nun transparent werden, wie Kirchenmitglieder die Grenzen von Kirche zu ihrer Außenwelt umreißen und wie sie sich selbst zwischen dem Kernbereich der Organisation und den Randbereichen der so genannten Distanzierten einordnen (1.1.3.1). Anschließend steht die Frage im Mittelpunkt, was dies für die Kommunikation mit Menschen außerhalb der Kirche bedeutet (1.1.3.2). Zum Schluss möchte ich die Rollen und Funktionen beleuchten, die Mitglieder im Prozess der Veränderungen von Kirche für sich in Anspruch nehmen (1.1.3.3). 1.1.3.1 Beheimatung, Beteiligung und Abgrenzung Notwendige Veränderungen in der Kirche beschreiben Mitglieder aller befragten Gruppen mit Bezug auf die Situation der Ortsgemeinde oder der Evangelischen Kirche in überregionalen Zusammenhängen. Mit Blick auf die eigene Gruppe ist von einem Veränderungsbedarf nur dann die Rede, wenn es um den Bezug zur Gemeinde geht, etwa um die (zu geringe) Aufmerksamkeit der Pfarrerinnen und Pfarrer für die Gruppe oder die mangelnde Einbindung in Entscheidungsprozesse. In solchen Passagen der Diskussionen, in denen die Kritik an der Kirche im Mittelpunkt steht, wird oft die eigene kleine Gruppe als die
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eigentliche Kirche definiert: Hier ist Kirche so, wie die Gruppe sie sich wünscht, etwa als lebendige Gemeinschaft, geprägt von Aufrichtigkeit und uneigennützigem Engagement etc. Für die Perspektive auf eine sich verändernde Kirche ist darin entscheidend, wie, auf welches Ziel hin und von wem in den Augen der Befragten die Kirche gestaltet wird oder zukünftig gestaltet werden soll. Am Beispiel eines Solidaritätskreises in den neuen Bundesländern möchte ich diese Frage als Diskussionsthema einer Gruppe vorstellen und die darin enthaltenen Positionierungen verdeutlichen.207 Die Gruppe kommt im Diskussionsabschnitt über die Frage, »was im Leben wichtig ist«, auf die Kirche zu sprechen und speziell auf das Bedürfnis, hier Orientierungslinien für eine christliche Lebensführung zu finden. Nach einer ersten kritischen Sichtung dessen, was Kirche in dieser Hinsicht leistet, erarbeiten die Befragten anhand des Gegenbilds einer baptistischen Gemeinde in den USA ihre Vorstellungen einer idealen Kirche: Frauke: Ich hab das mal anders kennen gelernt. Das hab ich glaub ich .. euch auch schon erzählt. Und zwar .. war meine Tochter in den USA für ein Jahr und äh hat in einer baptistischen Familie gewohnt. […] wir ham das dort erlebt, weil wir sie besucht ham. .. So stellt man sich eine christliche Gemeinde vor. […] die Kinder sind fast alle zusammen in eine Schule gegangen. Äh die ham jeden Nachmittag irgendwelche Sachen angeboten gekriegt also äh die ham Musicals aufgeführt und haben also äh .. das was f- bei uns früher mal, wo ich is ‘n furchtbarer Vergleich aber (stottert) in der Pionierorganisation und die ham das so gelebt. Und wenn einer ne Feier hatte, dann hat der andre eben Kuchen gebacken, weil der keine Zeit hatte und äh wenn .. ne Feier war, (redet sehr schnell) dann kam der Pastor selbstverständlich dazu, und wenn’ s bloß für ne halbe Stunde war, der hat nicht mit diesen furchtbar vielen administrativen Aufgaben, wie ich das mir so vorstelle /Susanne: Mhm./ zu tun, sondern der kann sich um seine Gemeinde kümmern. Und das hat mir wirklich gut gefallen. So könnte man sich das vorstellen. [Solidaritätskreis Ost: 644 – 668]
Im Folgenden diskutiert die Gruppe ausführlich, was dieses Bild von Kirche so verlockend macht: Die enge Gemeinschaft ist reizvoll, weil hier ein gemeinsamer Erfahrungsraum geschaffen wird, in dem die Einzelnen kirchliche Arbeit eigenverantwortlich und mit hoher Verbindlichkeit in einem solidarischen Miteinander gestalten können. Kirche bedeutet hier : Gemeinschaft der von der Sache wirklich Überzeugten und tatkräftig Engagierten. Die Präsenz eines Pfarrers gehört ebenso zu diesem Bild wie die Überschaubarkeit des administrativen Aufwands. Im weiteren Gesprächsverlauf bekommt dieser letzte Faktor ein immer größeres Gewicht: Verwaltung und der Umgang mit der langen Tradition einer in die Gesellschaft eingebetteten Kirche, ihren Gebäuden und 207 Eine ausführliche Interpretation dieser Gruppe findet sich bei Sammet, Vergemeinschaftung.
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Analysen zur Kirchen- und Gemeindeentwicklung
gewachsenen Strukturen werden als Ballast für ein christliches Miteinander verstanden und sind damit der Inbegriff aktueller Problematik in der Gemeinde vor Ort. Die Gruppe erörtert im weiteren Gesprächsverlauf das Für und Wider einer solchen Gemeinschaft und benennt die Schattenseiten dieses Beispiels: »Ich mein die sind, politisch rennen die mit Scheuklappen durch die Gegend. /Carmen: Mhm./Das is etwas, äh was ich absolut verurteile.« [Solidaritätskreis Ost, 705 f] Schließlich entwickeln sie den Konsens, dieser Alltag der beschriebenen Baptistengemeinde sei vermutlich nur gemeinsam mit anderen, unakzeptablen Erscheinungen möglich und somit keine reale Option für die Kirche in ihrer Stadt. Im Kontrast zu diesem Gegenbild lässt sich jedoch erkennen, wie die Befragten ihre eigene Position innerhalb der Kirche sehen. Während sie (am Beispiel der Baptistengemeinde) von einer Kirche träumen, in der sie selbstverantwortlich Gestaltende sein können, präsentieren sie sich mit Blick auf ihre eigene Kirche als distanziert und kaum in Veränderungsprozesse einbezogen: Carmen: Die (unv.) ham einfach nicht 2000 Jahre .. /Susanne: Ja./ /Frauke: Ja./ christliche .. Entwicklung oder oder Amtskirche mit sich. .. Die ham Susanne: (unv.) Mhm. Carmen: vielleicht auch mehr die Möglichkeit, so selbst verwaltet ihre eigenen Vorstellungen .. ähm .. ja ihre eigenen Vorstellungen ähm umzusetzen als das so Gemeindemitgliedern in so ner riesengroßen Amtskirche is, die alle irgendwo äh sich ihre Nische suchen müssen, in diesem Apparat den’s da gibt. Das is ja (lacht leicht auf) .. Ja. Susanne: Ja. Auf jeden Fall. Mhm. Carmen: Wie in ner in ner Bürokratie auch ein Riesen-Wasser?kopf ? den’ s da .. an einigen Stellen gibt und man als als Gemeindemitglied in dem kleinen Umkreis in dem man is, .. immer zusehen muss, ob man sich da irgendwie einpassen kann. Da kommt’s dann wirklich drauf an, dass man .. viel Phantasie aufbringt, wenn man innerhalb einer Gemeinde irgendwas bewirken will, oder’n aktives Gemeindeleben haben will, ja? [Solidaritätskreis Ost: 684 – 704]
In der Gegensatzanordnung sieht sich diese Gruppe als in einer »Nische« der unüberschaubaren Organisation Kirche angesiedelt. Eine engagierte Gestaltung von Kirche oder eine Eigenverantwortlichkeit innerhalb des Systems ist hier kaum vorstellbar und erst recht kein Merkmal von Zugehörigkeit mehr. Vielmehr ist es umgekehrt notwendig, sich mitsamt den eigenen Träumen von einer idealen Kirche in eine »riesengroße Amtskirche« einzugliedern, die ein Engagement der Mitglieder eher behindert als stärkt. Zugehörigkeit und Mitgestaltung erfordert hier, anders als in der idealen kirchlichen Gemeinschaft, vor allem eine Anpassungsleistung, enorme Anstrengung sowie »Phantasie« als Methode, über die konkrete, wenig erfreuliche Situation hinweg zu sehen. Wenn die Befragten sich an anderer Stelle als kirchenverbunden und durch eigenes Enga-
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gement in ihrer Gruppe zugehörig beschreiben, wird deutlich, welche Entfremdung von der Kirche sie empfinden und wie wenig sie ihr konkretes Engagement auf das komplexe System Kirche beziehen. In dieser Gruppe von Kirchenmitgliedern in den neuen Bundesländern ist sowohl die Erwähnung der »Pionierorganisation« als auch das Bild der Gruppe als »Nische« einige Aufmerksamkeit wert, vor allem, was die Gegensatzanordnungen betrifft. Die Pioniere werden hier zum Gegenpol zur Gesamtgesellschaft. Die Gemeinschaft in dieser Organisation wird zum Ort, an dem eine tiefe Zusammengehörigkeit möglich ist, die im Großen, ohne die nötigen persönlichen Kontakte und gemeinsamen Ziele nicht denkbar ist. Dieselbe Funktion erfüllt die eigene Gruppe als »Nische« innerhalb der Kirche: Während die gesamte Kirche so unüberschaubar ist, dass man sich in sie maximal »eingliedern« kann, werden in der Gruppe die Teilnehmenden zu aktiv Gestaltenden. Die Gruppe fungiert hier wie ein Stück eigenes Ackerland, das nach Belieben zu bebauen und dessen Ertrag zweifellos der eigene ist. Man könnte vermuten, dass hier ein Wechsel der Zuordnungen geschehen ist und die Kirche für die Mitglieder dieser Gruppe zu DDR-Zeiten noch gegenüber dem Staat selbst stärker diese Nischenfunktion hatte. Dieser Vergleich der Epochen lässt sich nicht aus den Gruppendiskussionen heraus, sondern nur an anderer Stelle ziehen, wie hier exemplarisch im wenige Jahre nach der Wende geführten, biographischen Interview mit Hans (Interview Nr. 09) im Rahmen der dritten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft: Ich hab’ das eigentlich so empfunden auch immer, dass, also die Kirche so als so ’n bissl Bereicherung und auch Gegenstück zum Leben so in ’ner DDR. (Hm, hm) Ja, war eigentlich ’ne Frage, die auch, also da mitzumachen, auch einfi-, sagt jetzt immer so Identität und so, nich?208
Was der Gesprächsausschnitt aus dem Solidaritätskreis transportiert, findet sich in etlichen anderen Gruppendiskussionen in ähnlicher Form wieder : Kirchenmitglieder, die sich selbst als in hohem Maße aktiv und gestaltungsfähig präsentieren sowie eigenständig Ziele und Wünsche für kirchliche Arbeit formulieren, erscheinen defensiv und wenig motiviert zur Mitarbeit, wo es um die Gestaltung der Ortsgemeinde oder gar kirchlicher Arbeit in nicht parochialen Kontexten geht. Eventuell verweisen die Wahrnehmungen der Befragten auf tatsächliche Brüche im Verhältnis der Kirche zu ihren Mitgliedern, etwa indem engagierte Mitglieder den Eindruck bekommen, auf die Gestaltung der Kirche (oder der Ortsgemeinde) keinen oder nur sehr indirekten Einfluss zu haben. Dies ließe sich benennen als Schwierigkeit, Mitglieder mitsamt ihren Vorstel208 Vgl. Engelhardt/Loewenich/Steinacker, Fremde Heimat. Das genannte Interview ist nachzulesen im Quellenband: Studien- und Planungsgruppe der EKD, Selbst- und Weltdeutung, 285.
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lungen von einer idealen Kirche und ihren jeweiligen Wünschen in Veränderungsprozesse einzubinden. Möglicherweise sind also die beschriebenen Abgrenzungsprozesse von der »Amtskirche« und die entsprechenden Positionierungen als passive Prozessbeobachtende, selbst von Seiten hochverbundener Mitglieder, eine Folge (subjektiv empfundener) mangelnder Gelegenheiten zur eigenen Gestaltung von Kirche. Man könnte dann hypothetisch formulieren: Wo engagierte Menschen Kirche nicht hinreichend mitgestalten (können oder mögen), werden sie zu Mitgliedern, die sich als distanziert beschreiben, selbst wenn sie regelmäßig an Veranstaltungen ihrer Ortsgemeinde teilnehmen oder in ihrer kirchlichen Gruppe (in ihrer »Nische«) hochaktiv sind. Eine solche »Distanz der Verbundenen« könnte für die Organisation Kirche ebenso destabilsierend sein wie das vergleichsweise geringe Interesse der so genannten Distanzierten. Am Beispiel des Gemeindegesprächskreises-Ost lässt sich eine gesteigerte Form dieses Phänomens beobachten. Diese Gruppe ist ganz ähnlich in der Positionierung in einer »Nische«, aber stärker durch Aggressivität und Abgrenzungsbewegungen gegenüber der Kirche geprägt. Aus ihrer Kritik ziehen die Gruppenmitglieder einmütig die Konsequenz, den nötigen Abstand zur Kirche wahren zu müssen: »Man darf einfach nicht zu oft in die Kirche gehen.« [Gemeindegesprächskreis Ost: 1282] Während Kirche im Übrigen als Gegenwelt zum Alltag konstruiert ist, brauchen die Befragten die Gruppe, um sich angesichts der Kirche wieder »aufbauen« zu können. Strittig ist in der Gruppe aber, welche weiteren Bestandteile von Kirche außer der Gruppe unverzichtbar sind: So betonen einige Mitglieder, auf den Gottesdienst verzichten zu wollen, während andere hier spöttisch Alternativen zum bestehenden Angebot befürworten: »Dann können wir uns einmal im Monat ‘n Pfarrer mieten.« Die Pointe liegt für diese Gruppe darin, dass sie hier, als hochverbundene und aktive Gemeindemitglieder, ihren fiktiven »Exodus« als natürliche Folge einer Art Vertreibung aus der Kirche beschreiben. Wo die sich verändernde Kirche ihre Beheimatungsfunktion nicht (mehr) erfüllt, folgt daraus die innere Distanzierung: Markus: Die werden aus ihrer Heimat vertrieben. .. /Mhm./ Die Heimat is die Kirche gewesen, als wenn wie so ‘n Exodus is äh findet statt, weil äh da werden hier Gemeinden zusammen geschmissen, .. die ham überhaupt gar keine Beziehung .. äh Beziehung is ja auch der Christen untereinander. Das is ja ooch Kirche. /Carola: Mhm./ Und äh was hab ich für ne Beziehung mit mit irgendwelchen andern Gemeinden. I- ich hab bloß bestimmte Zeit- Freizeit zur Verfügung. .. Und die Freizeit .. will ich auch in der Kirche verbringen. Dann kann ich nicht jetzt äh da tanzen da tanzen da da, ich kann nur nach Möglichkeit vor Ort .. mit mit kurzen Wegen /Carola: Mhm./ und jetzt äh .. dann gehen die Leute nicht mehr äh zwee Kilometer entfernt in Gottesdienst, äh die wollen auch ‘n blei- ’n kleenen Plausch machen, auch ‘n bekanntes Gesicht, man freut sich ja auch. .. Also wie Heimat. /Carola: Mhm./ Und das ist nicht mehr gegeben. […]
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Fortsetzung Armin:
Na ja, das is .. wie was die Carola auch sagt, is die letzte Strukturreform, wo Heilig Geist- und die Marien .. zusammengewürfelt worden sind. /Mhm./ Was ja auch das Vorzeigeprojekt in E-Stadt is. (spricht leise) Wie gut denn das /Markus: Ja./ gelungen sei. Armin: Aber es is nicht wirklich angekommen bei den Gemeindegliedern. /Mhm./ Es is in der Hierarchie angekommen. /Mhm./ Aber bei den Gemeindegliedern is es nicht angekommen, weil wir haben nach wie vor zwei Kirchen. Und es geht nach wie vor unterschwellig äh äh darum, wie viel Geld für welche Kirche und welche Nutzung für welche Kirche denn wohl äh angedacht sei. […] Das hat auch was mit .. mit Heimat /Elke: Mhm./ /Markus: Mhm./ zu tun, weil es also viele Leute in dieser Kirche, .. die da jetzt groß geworden sind, ne? (leise) (2) Und insofern ist das (ganz leise), also da wächst nicht unbedingt ganz so schnell zusammen, was so zusammen gehört. (wieder lauter) .. Na ja, da wird zusammen .. gestopft fast. [Gemeindegesprächskreis Ost: 1381 – 1418]
Hier gerät eine »Heimat Kirche« in Kontrast zu einer Kirche, deren innere, regionalisierte Struktur »gewürfelt«, also durch Willkür oder Zufall entstanden erscheint. Die Gemeinde wird jetzt nicht mehr als gewachsene Gemeinschaft, sondern vor allem als Schauplatz unterschwelliger Kämpfe begriffen. Die Gruppe deutet diese Entfremdung von der »Heimat Kirche« als Ursache für ihre enorme Distanz zur Ortsgemeinde, verstanden als Distanz zu den dort verantwortlich Handelnden. Veränderung von Kirche wirkt in den Augen der Gruppe nicht nur distanzierend, sondern in ihrem Entfremdungseffekt außerdem kränkend. Möglicherweise lässt sich die Haltung dieser Gruppe als ein Phänomen der »distanzierten Hochverbundenen« beschreiben, das vielleicht ein eigenes Profil protestantischer Kirchenmitgliedschaft darstellt: Mitglieder mit einem großen Einblick in Strukturen und Prozesse innerhalb der Kirche und mit einer hohen affektiven Bindung an die Organisation stilisieren sich selbst als distanziert, beschreiben weite Teile der kirchlichen Arbeit als problematisch, deuten dabei aber die eigenen Schwierigkeiten nur an und erwägen in keinem Fall den Kirchenaustritt. Mit dieser Haltung bekunden sie eine große Nähe zum System bis hin zum Gefühl der Beheimatung und zugleich einen erheblichen Abstand, der ihnen eine kritische Sicht ermöglicht. 1.1.3.2 Argumentative Gestalt von Zugehörigkeit und Verbundenheit In den beschriebenen Gruppendiskussionen fällt auf: Während die Befragten ihre Kritik gegenüber der Kirche und konkreten Gemeinden sehr detailliert beschreiben, Sichtweisen der Distanz oder Abgrenzung mühelos argumentativ einsetzen und im Gespräch konkretisieren oder weiterentwickeln, werden positive Aspekte oder Argumente für die Zugehörigkeit und Bindung ausgespro-
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chen schwach entwickelt. Darum sollen hier nun, streckenweise losgelöst von der Thematik »Veränderung der Kirche«, Strukturen dieser Argumentation ausgeleuchtet und überdies einige Konsequenzen für das kirchliche Handeln angesprochen werden. Bereits im Gemeindegesprächskreis-Ost waren die Passagen über kirchliche Veränderungsprozesse zunächst durchsetzt von Äußerungen, die Anknüpfungspunkte für positive Erlebnisebenen innerhalb der Kirche benennen. Eine Teilnehmerin bemerkt, sie würde ihre Zugehörigkeit zur Kirche in Frage stellen, »wenn der Glaube nicht wär«. Eine andere Teilnehmerin erwähnt die »erzählenswerte Botschaft« der Kirche, ein dritter würdigt die »Rüstzeiten«, bei denen man »eben nicht bloß über solche Probleme spricht«, sondern sich auch über »Tod und Teufel« austauschen kann [Gemeindegesprächskreis Ost: 879 und 984 – 988]. Diese Voten werden von der Gruppe in einer großen Selbstverständlichkeit akzeptiert und geteilt, aber sie erhalten keine argumentative Funktion, etwa indem die Gruppe eigene Motive für ein Engagement in der Kirche benennt. Ihre Bindung an die Kirche über die eigene Gruppe hinaus beschreiben die Mitglieder mit Hilfe des Heimatbegriffs, aber kaum über konkrete Inhalte oder aktuelle Erfahrungsräume. Diese schwache argumentative Ausgestaltung positiver Anknüpfungspunkte zeigt sich besonders deutlich, wo die Begründung der eigenen Mitgliedschaft oder sogar des eigenen Engagements nicht nur zur Vergewisserung innerhalb der Gruppe dient, sondern im Gespräch mit Menschen, die der Kirche den Rücken gekehrt haben. Weil die Zahl der Nichtmitglieder in der deutschen Bevölkerung steigt und mit zunehmender Organisationsförmigkeit der Kirche eine Begründung der Kirchenmitgliedschaft in der Kommunikation an Bedeutung gewinnen dürfte, möchte ich an einem Beispiel aus einer nicht-kirchlichen Gruppe zeigen, worin die Herausforderungen einer solchen Argumentation bestehen: Sechs Mitglieder einer Herrensportmannschaft in einer Stadt im Westen Deutschlands kennen sich zum großen Teil über viele Jahre und treffen sich zweimal wöchentlich zum Training. Die Kirche hat in der Gruppe ein verhältnismäßig gutes Image, obwohl die meisten Gruppenmitglieder aus der evangelischen oder katholischen Kirche ausgetreten sind. Der Gottesdienstbesuch zu familiären Anlässen oder zu Weihnachten ist eine realistische Option. Auch wenn diese Befragten über die Kirche und manche ihrer Erscheinungsformen spotten, halten sie sie doch für eine verhältnismäßig sinnvolle Einrichtung, etwa für sozial Bedürftige oder ältere Menschen. Sich selbst sehen sie jedoch nicht als Zielgruppe, entweder weil sie religiöse Fragestellungen als nicht relevant empfinden oder weil sie kaum Berührungspunkte zwischen ihrer Lebenswirklichkeit und kirchlicher Arbeit sehen.
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Einzige Ausnahme unter den Teilnehmern ist in dieser Hinsicht Heinrich, der eine diakonische Einrichtung leitet und durch seine Familie enge Kontakte zur Kirche hat. Über ihn war die Gruppendiskussion zustande gekommen, die sich als längeres Gespräch in fester Sitzordnung erheblich von den gewohnten Kommunikationsformen der Gruppe unterscheidet und den Teilnehmern einiges abverlangt. Heinrich beginnt die Vorstellungsrunde und benennt darin bereits sein Verhältnis zur Kirche: Heinrich: Ja, ich fang mal an. Heinrich Ebert, 45 /Tom: XXX./ 45 Jahre alt, ähm .. Familienvater mit zwei Kindern. Beruflich Altenheimleiter. /Tom: Aha./ Äh eines diakonischen Altenheimes, das heißt, ich muss zwangsläufig evangelisch sein, sonst könnte ich das nicht .. sein, das is so. Äh, man kann evangelisch sein, ohne einen festen Bezug zu Gott zu haben, das ist bei mir nicht der Fall. Ähm, .. ich hab von Haus aus ne christliche Erziehung genossen. [Herrensportverein West: 76 – 84]
Heinrich handelt offensiv, indem er Position bezieht und für seine Nachredner die thematische Spur bestimmt: Jedes Gruppenmitglied benennt im Folgenden seine Religionszugehörigkeit, meist ergänzt durch einen Kommentar. Dennoch enthält die Präsentation Heinrichs defensive Züge: Der Zwang zur Kirchenmitgliedschaft, die Option, ohne Gottesbeziehung Mitglied zu sein, sowie die Erziehung als Prägung durch andere Menschen benennt er unmittelbar und schildert darin sich selbst als passiv und den Glauben der Mitglieder als nicht hinreichendes Merkmal von Kirche. Seinen eigenen »Bezug zu Gott« erwähnt er in einer doppelten Verneinung. Der zweite Teilnehmer knüpft an das implizit positive Statement Heinrichs an. Obwohl er selbst aus der Kirche ausgetreten ist, hält er nun seinerseits diese Entscheidung in der Schwebe: Jörn: Ja, mein Name ist Jörn Schiefers. Ich bin 34. .. Äh kaufmännisch angestellt. (2) Ähm, ja, bin (2) vor anderthalb Jahren aus der Kirche ausgetreten. (2) Demnach bin ich äh zur Zeit ohne Konfession, bin aber christlich aufgewachsen, .. evangelisch. .. Ähm, (2) ja. .. Bis zur Konfirmation war’s okay, und danach?ging’s dann immer bergab? sozusagen. [Herrensportverein West: 86 – 90]
Konfessionslosigkeit erscheint in diesem Votum als temporäres Phänomen; ihm gegenüber bekommt ein Wiedereintritt oder die Entscheidung für eine andere Religionsgemeinschaft eine relative Wahrscheinlichkeit. Die Distanz zur evangelischen Kirche bis zum Austritt verlangt in dieser Darstellung nach einer Begründung, die Jörn in knapper Form auch liefert. Erst mit dem dritten Redner, der in der Diskussion häufig die Opponentenrolle gegenüber Heinrich einnimmt, setzt sich die tendenziell kirchenkritische Haltung der Gruppe durch, die von jetzt an nicht mehr zwangsläufig begründungspflichtig ist:
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Tom: Tom Branewitz, 38 Jahre, Rechtsanwalt, äh. (kurzes Auflachen von einer Person im Hintergrund) evangelisch geboren worden. Als erste bewusste Entscheidung das geändert, und äh konfessionslos. (2) Das war mein Beitrag dazu. [Herrensportverein West: 93 – 96]
Im Verlauf des Gesprächs kommt die Rede immer wieder auf die Bedeutung oder mögliche Funktionen von Kirche. In seinen Schilderungen zitiert Heinrich ausdrücklich kritische Stimmen, etwa die Ansicht, Kirche habe »sehr wenig Bezug zu den Menschen und zur Lebensrealität«, oder er benennt sein Entsetzen über so manchen Gottesdienst, dessen Sprache nicht verständlich und dessen Abläufe kaum transparent sind. Er versucht jedoch insgesamt, die Kirche als sinnvolle und reizvolle Organisation zu schildern und präsentiert Bereiche gelungener Arbeit als Ausnahmen von der zuerst beschriebenen Regel. So leiste etwa eine Krankenhausseelsorgerin hervorragende Arbeit, stehe Menschen in Notsituationen bei, stelle sich schwierigen Fragen und biete Perspektiven. Zum Teil seien Gottesdienste und andere Veranstaltungen derart konzipiert, dass auch »junge Familien« sich »in kirchlichen Kontexten zuhause fühlen« können. Auf dieser Grundlage greift sein Argument für die Kirchenmitgliedschaft und sogar für das Engagement innerhalb der Kirche: »Aber ich erlebe Kirche eben auch anders.« Offenbar erscheinen selbstkritische Beschreibungen und eine offene Auseinandersetzung mit unattraktiven oder gar abschreckenden Erscheinungsformen von Kirche gegenüber Außenstehenden als überzeugende Wege, andere von der Offenheit und Lebensnähe der Kirche zu überzeugen. Möglicherweise zeigt sich darin auch ein (inneres) Ringen der Hochverbundenen um eine Positionierung gegenüber der Kirche, die sowohl kritische Distanz als auch Verbundenheit und Engagement ermöglicht. In dieser Gruppendiskussion scheitert Heinrich mit seiner Argumentation: Dass er trotz allem aktives Kirchenmitglied ist, überzeugt die anderen wenig. Vielmehr hinterfragen sie die Notwendigkeit der von ihm beschriebenen Leistungen der Kirche: Braucht man zur Krisenintervention für Menschen in Not »jemanden, der in der Kirche ist«? Sind nicht »Psychologen besser geeignet«? Heinrichs engagiertes Bemühen um ein Verständnis für historische Texte aus der Gottesdienst-Liturgie quittiert die Gruppe mit Ablehnung: »Also wenn ich mir das schon wieder anhöre, dann frag ich mich, wofür brauche ich das überhaupt? Da gehe ich doch lieber zwei Stunden ins Kino.« [Herrensportverein West, 1108 f] Möglicherweise steckt hinter diesem mühsamen Ringen des Kirchenmitglieds Heinrich um eine geeignete Begründung für seine Kirchenmitgliedschaft eine Schwierigkeit größeren Umfangs: Während der Austritt, das zeigen die Gruppendiskussionen, grundsätzlich begründungspflichtig ist, sind es die Mitglieder offenbar nicht gewohnt, über die Gründe für ihr Verbleiben in der Kirche Auskunft zu geben. Das mag zum einen daran liegen, dass es eine ungewohnte Herausfor-
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derung ist, über die eigenen religiösen oder spirituellen Bedürfnisse zu sprechen, zum anderen spiegelt sich hier eine Sprachlosigkeit, die möglicherweise mit der oben beschrieben Gestaltungs-Machtlosigkeit innerhalb der Kirche korrespondiert. Die Mitglieder übernehmen innerhalb der Kirche kaum eine Rolle, in der sie Rechenschaft ablegen müssen. So entzieht sich nun das, was die Mitglieder inhaltlich binden mag, völlig einer argumentativen Verwendung. In anderen Gruppendiskussionen, wo Mitglieder sich im Gespräch über den Sinn der Mitgliedschaft erfolgreicher behaupten, finden sich hier vereinzelt Strategien, mit denen die Befragten auf unwiderlegbare Funktionen der Kirche rekurrieren. So betont beispielsweise ein Mitglied der globalisierungskritischen Organisation Attac, Kirche habe insgesamt eine »positive Ausstrahlung auf die Gesellschaft«. Weil, trotz aller Kritik, die Bedeutung der Kirche als soziale Organisation in allen befragten Gruppen unbestritten bleibt, kann sich dieses Kirchenmitglied in seiner Gruppe humorvoll als »überzeugter Kirchensteuerzahler« präsentieren. [Attac: 1138 f und 1128 f] Aber auch hier bleiben inhaltliche Gesichtspunkte oder die persönliche Verbundenheit gegenüber der Kirche bedeutungslos für die Kommunikation der Gruppe und ihre Argumentation über Kirchenmitgliedschaft. Anderen die Plausibilität der eigenen Kirchenmitgliedschaft zu vermitteln, erweist sich hier als große Herausforderung selbst für hochverbundene Kirchenmitglieder. Eine offene Kommunikation über eigene relevante Erfahrungen mit Kirche und positive Bewertungen der gesamten Organisation oder einzelner Arbeitsbereiche scheint problematisch. Zwar können Kirchenmitglieder Elemente kirchlicher Arbeit benennen, die ihnen gefallen, dies hat jedoch in der Gruppe keine argumentative Funktion. Möglicherweise ist den Betreffenden die eigene Erfahrung auch nicht in einer argumentativ nutzbaren und entsprechend abstrakten Form zugänglich. Möglicherweise scheitert jedoch der argumentative Gebrauch persönlicher Erfahrung an den Prämissen der Individualisierung: Weil meine Erfahrung an meine Person gebunden ist und der Zugang anderer Menschen ebenfalls nur ein persönlicher sein kann, können Glaubensaussagen oder gute Erfahrungen mit Kirche für niemand anderen als Argument für eine Mitgliedschaft dienen. Wo wie hier im Kreis der Sportler Argumentation und nicht Erfahrungsaustausch das Gespräch bestimmt, haben derart individuelle Positionierungen keinen Platz. Stattdessen finden sich indirekte Formulierungen, Argumentationen im Ausnahmeschema und defensive Verhaltensweisen wie etwa die Vorwegnahme möglicher Kritikpunkte anderer. Dass diese Gruppendiskussion hier keinen Ausnahmefall darstellt, ist anhand von Erfahrungswerten zu vermuten, jedoch vorerst nicht zu belegen. Hier lässt sich nur ahnen, dass mit der Begründungspflicht der eigenen Kirchenmitgliedschaft – nicht umgekehrt des eigenen Austritts – eine neuartige Herausforderung für Kirchenmitglieder wächst. Es
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lohnt sich, mit Blick auf die Zukunft einige Aufmerksamkeit auf kommunikative Fähigkeiten der Kirchenmitglieder sowie auf die Verfügbarkeit diverser Begründungslogiken zu verwenden. 1.1.3.3 Subjekte und Objekte des Wandels in Haupt- und Ehrenamt In Abschnitt 1.1.2 waren bereits unterschiedliche Positionierungen zur eigenen Rolle im Veränderungsprozess sichtbar geworden. Ebenso ist deutlich, dass selbst der Kirche Hochverbundene zögern, sich selbst als Subjekt der Veränderung zu sehen, oder sich sogar explizit davon distanzieren. Dagegen lassen sich in einigen Altersgruppen und Lebensstilen209 Wünsche nach Beteiligung, Mitarbeit oder der Übernahme von Verantwortung ausmachen. Um Zuschreibungen und Positionierungen, vor allem im Kontrast von Haupt- und Ehrenamtlichen, in ihrem Entstehungskontext zu begreifen, möchte ich hier nun speziell nach den Subjekten der Wandlungsprozesse fragen und darstellen, wie Gestaltungsmacht und Nutzerinteressen einander zugeordnet werden. Die engagierten Überlegungen des Kunstvereins, vor allem mit Bezug auf Professionalität, Kontrolle und Leitungsfunktionen in einer sich wandelnden Kirche, waren schon zur Sprache gekommen. Nun erörtert die Gruppe anhand konkreter Beispiele die Rolle von Haupt- und Ehrenamtlichen im Prozess der Gemeindeentwicklung: Monika: Wir haben hier eine sehr äh kompakte Gruppe mit äh Krabbelgruppen, wo die jungen Frauen sich treffen in den drei Gemeindehäusern mit ihren Kindern. Die sind auch ganz aktiv, und die haben mehrfach im Jahr ihren Krabbelgottesdienst. Das ist also schon so eine Gruppe, die extra einen Gottesdienst, mehrere Gottesdienste im Laufe des Jahres bekommt. Ja, und dann wäre die nächste Stufe der Kindergottesdienst. Der ist hier schlicht eingeschlafen. /Eva: Mhm./ Ja. nicht, und es hat sich Eva: Na, es gibt die kirchlichen Kindergärten wieder, der kommt hier ein bisschen was, ne. Monika: Natürlich, es gibt den kirchlichen Kindergarten, und die machen natürlich intern was, aber es geht nicht jeder in den kirchlichen Kindergarten, […] Und jetzt hat es äh intensive Forderungen gegeben, nun scheint sich was zu entwickeln. Und das ist mein großer Kritikpunkt, dass im Grunde genommen äh nicht von den Amtsträgern gesehen wird, wo muss gearbeitet werden, wenn sich hier was zum Positiven .. entwickeln soll, sondern dass es im Grunde genommen herangetragen wird. Und gedrückt wird, und gesagt wird, also wir müssten doch aber mal, wir wollen das doch gerne. Das läuft verkehrt rum, meine ich [Kunstverein West: 1660 – 1684]
209 Vgl. die beiden Texte in Teil B (2.2 und 1.2) in diesem Band: »Kirche in der Vielfalt der Lebensstile« und »Junge Erwachsene in Kirche und Gemeinde« sowie Sammet, Vergemeinschaftung.
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Die »aktiven jungen Frauen« übernehmen selbstverständlich Funktionen in Gruppenleitung und Koordination, wo es um ein Treffen von Menschen in einer ähnlichen Lebenssituation in den Räumen der Ortsgemeinde geht. Wo dieses Treffen mit gottesdienstlichem Handeln verbunden wird, rücken Verantwortung und Gestaltung in den Bereich der Pfarrerin bzw. des Pfarrers: Die Gruppe »bekommt« einen »extra« Krabbelgottesdienst. Diese Vorstellung der Gruppe von einer Aufteilung der Zuständigkeiten wird nun dort besonders transparent, wo eine Situation in der Gemeinde als problematisch eingestuft wird: Ein kirchliches Angebot, das es noch nicht gibt, wird von Interessierten »gefordert« und als konkretes Anliegen an den Pfarrer »herangetragen«. Dies überhaupt tun zu müssen, erscheint in dieser Perspektive als ein »Drücken« und in gewissem Sinn als Betteln der Gemeindemitglieder. Auch wenn die Gruppe des Kunstvereins in dieser Diskussion insgesamt ausgesprochen selbstgewusst auftritt und dem einzelnen Kirchenmitglied an anderer Stelle durchaus eine wichtige Rolle zuweist, ist hier die pastorale Rolle im Prozess der Gemeindeentwicklung zentral: Pfarrerinnen und Pfarrer soll von sich aus Lücken in der Angebotspalette entdecken und die Bedürfnisse der Mitglieder erspüren, nicht erst auf Anfragen hin, sondern selbständig planend Strategien entwickeln und Beteiligungsmöglichkeiten gestalten. Dagegen ist es unangemessen, wenn Interessierte ihr Interesse erst anmelden und verdeutlichen müssen. Differenzen über die pastorale Rolle werden interpretativ einerseits mit dem Deutungsmuster von mangelnder Leitung und Kontrolle bearbeitet: Pfarrerinnen und Pfarrer werden, wenn sie ihre Arbeit nicht angemessen erledigen, von »oben« nicht korrigiert (vgl. 1.1.2.2). Ihrem Arbeitsstil sind Gemeindemitglieder ausgeliefert. Andererseits werden diese Differenzen durch Polarisierung verschärft: Dass Interessierte wie die »jungen Frauen« sich ihre Gruppen selbst schaffen, liegt hier offenbar diesseits einer unsichtbaren Grenze der Zuständigkeiten, das »Wollen« gegenüber einer neuen Veranstaltung aber jenseits. Sorgt der Pfarrer nicht für ein Gleichgewicht der Aktivitäten beider Parteien auf den beiden Seiten der Grenze, müssen die Betroffenen in den Bereich der pastoralen »Arbeit« vordringen und eigene Anliegen vorbringen oder gar durchsetzen. Dann wird aus dem Pfarrer ein »Amtsträger«, dessen Distanz zu den kirchlich Interessierten übergroß geworden ist. Die emotionale Komponente dieses Missverhältnisses wird jetzt unübersehbar : Ein Pfarrer, der nicht sieht oder spürt, was die Menschen brauchen, ist eine große Kränkung für alle Beteiligungswilligen in der Gemeinde und bildet hierin die affektive Grundlage des Klischees einer lebensfernen Kirche. Ein Gegenbeispiel für diese hohe Anforderung an pastorale Arbeit findet sich im Gemeindegesprächskreis in den neuen Bundesländern. Auch hier sehen sich
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die Mitglieder eher indirekt als Subjekte der Gestaltung von Kirche, sie setzen sich jedoch stark mit der (Macht-) Position von Hauptamtlichen auseinander : Markus: Wir haben gute Leute .. in der Kirche, die mit (unv.) Kirchenvorstand machen und so weiter und die .. die resignieren, die gehen gehen ja bald am Stock. /Mhm./ Das is das Schlimme. Bloß, wer soll dann das weitertragen? Armin: Nee niemand. Markus: Den Gedanken. Armin: Nach meiner Überzeugung kommt im Moment .. niemand. Markus: Es kommt, .. die Jugendlichen, die haben alle immer (unv.) Soll der Bischof alleine die Kirche Armin: machen. .. Oder die EKD. .. Sollen sich dann versammeln da in Berlin und sich freuen, dass se da sind. Markus: Und dann is der dann hör ich immer, dass die so genannten Laien dann die sollen mehr machen. (wird laut) /Mhm./ Ja, wir sollen missionieren. Wir sollen die Kirche erhalten. .. Ja die .. der die .. das Kirchenvolk. Elke: Gemeinde aufbauen, ahh. Markus: Es gibt kein Volk mehr richtig. .. /Elke: Mhm./ Es gibt noch Elke: Wir sind eine .. Minderheit. Markus: ?Kinder?, das haut nicht hin. Elke: Wir sind die Minderheit. [Gemeindegesprächskreis Ost: 1083 – 1102]
Auch hier findet sich eine Gegensatzanordnung von Aktiven in der Gemeinde einerseits und Hauptamtlichen andererseits, jedoch sind hier die »so genannten Laien« formal ebenfalls in leitender Stellung aktiv, etwa im Kirchenvorstand. Sie haben in den Augen der Gruppe eine enorme Gestaltungsmacht, leiden aber unter den Belastungen, die damit verbunden sind. An anderer Stelle im Gespräch werden konkrete Belastungen genannt, etwa Schwierigkeiten mit den Rahmenbedingungen von Strukturveränderungen, wo zeitliche, inhaltliche und personelle Entscheidungen undurchsichtig sind oder unsinnig erscheinen. Ärger entsteht dort, wo relevante Entscheidungen auf einer höheren Ebene fallen und sich etwa auf eine ganze Landeskirche beziehen, den ehrenamtlich Leitenden vor Ort dagegen die Aufgabe zukommt, entsprechend »Stöckchen hin und her zu schleppen« und die Beschlüsse mühsam umzusetzen [Gemeindegesprächskreis Ost, 1067]. Hier wird das Verhältnis der »Laien« in den Gemeinden gegenüber Pfarrerinnen und Pfarrern zum offenen Konflikt um Macht und Einfluss. Wo oben bereits mit dem Vokabular des Klassenkampfs ein Kontrast zwischen Hauptamtlichen (»gut genährt und ausgeruht«) und von der Arbeit ermüdeten Ehrenamtlichen skizziert war (vgl. 1.1.2.3), bezieht sich der Konflikt nun zugespitzt auf die Existenzberechtigung von »Laien«. Vorstellungen einer demokratischen Kirche sind hier in letzter Konsequenz gedacht: Wo die »Laien« ihre Kirche nicht mehr gestalten können, weil ihnen die Kraft oder die Beteiligungsmöglichkeiten
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fehlen, sind sie nicht mehr »das Volk«, aus dem sich Kirche bildet. Übrig bleiben die Hauptamtlichen, deren Handeln ohne ein »Volk« ad absurdum geführt wird. Ein Handeln ohne die Gemeinschaft, für die das geschieht, ist nur noch Selbstzweck: »Sollen […] sich freuen dass se da sind.« Interessanterweise sind in diesem Denkmuster vor allem (oder auch: nur) Kirchenmitglieder vorstellbar, die sich aktiv für die gemeinsame Kirche einsetzen. Geben Mitglieder des Kirchenvorstands »resigniert« ihr Amt auf und sind andere, etwa Jugendliche, nicht zur Übernahme solcher Ämter in der Lage, gibt es »kein Volk mehr richtig«. Ein Modell der Gemeinde aus Gestaltenden und Nutzenden, wie es Mitglieder des Kunstvereins beschrieben hatten, kommt für diese Gruppe nicht in Betracht. Man könnte zugespitzt formulieren: Kirchenvolk ist nur, wer Kirche auch selbst gestaltet. Wo Mitglieder solche Gestaltungsmöglichkeiten nicht in einer Form haben, die angesichts ihrer sonstigen, etwa beruflichen oder familiären Einbindung akzeptabel ist, oder wo sie nicht in ausreichendem Maß Einfluss auf die Entwicklung der Kirche erhalten, geraten sie in eine oft ungewollte innere Distanz zur Kirche, unabhängig von einer tatsächlichen Mitgliedschaft.
1.1.4 Rückblick Hier schließt sich nun der Kreis zum zuvor beschriebenen Phänomen einer »Distanzierung der Hochverbundenen«: Auf den ersten Blick wird unter den Befragten die Verantwortung für den Wandel innerhalb der Kirche bei den Hauptamtlichen gesehen, vor allem bei den Pfarrerinnen und Pfarrern. Dies scheint zunächst unabhängig davon, ob man selbst engagiert ist, etwa in einer Gemeinde, oder ob man diese Einschätzung aus der Distanz bzw. als jemand abgibt, der ein kirchliches Angebot nutzt. Die Hemmschwelle, sich als Kirchenmitglied automatisch auch als verantwortlich für die Entwicklung der Kirche und als Subjekt in Veränderungsprozessen zu bezeichnen oder sich aktiv um Einflussmöglichkeiten zu bemühen, scheint hoch. Eine solche Distanz in Form der Selbststilisierung als kritisches Gegenüber der tatsächlich Aktiven kann sich jedoch, speziell bei kirchenverbundenen Mitgliedern, mit einer Ambivalenz gegenüber eigenen Wünschen nach Macht und Einfluss in der Kirche verbinden. Sie geht dann in den befragten Gruppen mit kritischen Bewertungen kirchlicher Leitung einher und ist mit einem starken Selbstbewusstsein gepaart, was die Bedeutung der eigenen Zugehörigkeit anbelangt. Dass hier eine Wechselwirkung mit ambivalenten Gefühlen gegenüber einer kirchlichen Hierarchie vorliegt, lässt sich vermuten. Solche Ambivalenzen sind in nahezu allen befragten Gruppen zu beobachten. Bedenkt man, dass es aufgrund der immer geringer werdenden finanziellen
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Ressourcen für kirchliches Personal gerade die Hochverbundenen und immer stärker die unentgeltlich arbeitenden Mitglieder sind, die in Zukunft die Kirche gestalten werden, wären hier weitere Analysen angebracht, etwa was die Selbstund Fremdwahrnehmung als Subjekte der Veränderung anbetrifft oder die Konstruktion von Sinnzusammenhängen, in denen sich subjektive Handlungsspielräume eröffnen oder schließen. Weiter wären Überlegungen nötig dazu, wie die Kirche als Organisation in dieser ausdifferenzierten Problemlage angemessen agieren kann: Wie kann die Kirche etwa stark verbundene Mitglieder besser darin unterstützen, sich selbst verantwortlich zu sehen und sich beispielsweise leitend oder gestaltend zu engagieren? Wie kann das Verhältnis von Haupt- und Ehrenamtlichen, »Laien« und Pfarrerinnen und Pfarrern so gestaltet werden, dass sich Kompetenzen und Perspektiven gegenseitig bereichern und Fragen von Hierarchie bzw. Leitung von geistlichen Ämtern unabhängig bleiben?
1.2
Junge Erwachsene in Kirche und Gemeinde: Optionen, Hindernisse und der »Zahn der Zeit«210
Der Kontakt jüngerer Menschen mit der Kirche erscheint denen, die sich um eine attraktive Gestaltung der Kirche bemühen, oft als besonders schwierig. Während in Konfirmandenunterricht und kirchlicher Jugendarbeit Kirchenmitglieder bis etwa 20 Jahre noch relativ viele Anknüpfungspunkte finden, stellt die Lebenszeit direkt nach Abschluss von Schule oder Ausbildung ein Problem dar. Wer in einer Gemeinde über die Mitglieder unter 30 Jahren nachdenkt, ist häufig ratlos, wie man diese Altergruppe effektiv »erreichen« kann. Dass jüngere Mitglieder in der klassischen Angebotspalette einer Gemeinde nichts Passendes für sich finden, erstaunt nicht. Wer sich um spezifische Angebote für jüngere Kirchenmitglieder bemüht, stellt fest, dass diese Zielgruppe nicht alles nutzt, was sie reizvoll oder nützlich finden könnte. So bleibt der Verdacht, dass die als Distanz empfundene Haltung Jüngerer gegenüber der Kirche nicht direkt etwas mit den Angeboten zu tun hat, sondern mit grundsätzlichen Passungsschwierigkeiten, die im Zentrum dieses Beitrags stehen sollen. Die Lebensstilanalyse der vierten Mitgliedschafts-Erhebung hat gezeigt, dass es tatsächlich messbare Schwierigkeiten gibt, vor allem aus der Perspektive des jugendkulturell-modernen Lebensstiltyps, der 67 % aller Kirchenmitglieder unter 30 Jahre und immerhin noch 51 % der Mitglieder unter 40 Jahre umfasst:211 Institutionsbezogene Teilnahmeformen erreichen Mitglieder dieses 210 Ursprüngliche Publikation: Schulz, Jugend. 211 Für weitere Ergebnisse vgl. Benthaus-Apel, Zugänge, 224 – 227.
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Typs deutlich weniger als andere, sie sind hier oft nicht plausibel oder ausreichend attraktiv, um aus vereinzelten Kontakten eine zumindest durchschnittliche Kirchenbindung werden zu lassen. Eine christlich-religiöse Semantik findet in der Lebenswelt dieser Jüngeren wenig Entsprechung und erschwert eher den Zugang zur Kirche als dass sie Anreiz bietet oder neue Themenbereiche erschließt. Anhand von Gruppendiskussionen mit jüngeren Kirchenmitgliedern und Nichtmitgliedern sollen typische Muster für Zugänge und Distanzen entdeckt und auf konkrete Aspekte der Kirchenmitgliedschaft hin zugänglich gemacht werden. Dabei soll zunächst die Gemeinschaft innerhalb der Kirche im Mittelpunkt stehen und die Frage, welche Formen von Gemeinschaft auf welchen Wegen für jüngere Mitglieder zugänglich sind (Abschnitt 1: »Junge« Zugänge zur Gemeinschaft in der Kirche). Im zweiten Abschnitt kommen exemplarisch drei Bereiche zur Sprache, in denen die Gruppenmitglieder Kirche explizit als Bereicherung verstehen (»Junge« Zugänge zur Religion). Im dritten Abschnitt möchte ich umgekehrt exemplarische Hindernisse beschreiben, die jüngeren Menschen möglicherweise den Zugang zur Kirche erschweren (Typische Hindernisse für Jüngere). Die Zuordnung der befragten Gruppen zu den Lebensstiltypen ist notgedrungen unscharf. Darum stehen hier nun altersspezifische Übereinstimmungen und Differenzen in den untersuchten Gruppen im Mittelpunkt des Interesses, vor allem in Bezug auf die Lebenssituation und die Interessen der befragten jüngeren Menschen. Dies wird dann rückbezogen auf Beobachtungen, die sich aus dem Vergleich der Gruppen mit den Lebensstiltypen und speziell ihren Wertorientierungen und Präferenzen in der Freizeitgestaltung ergeben. Angeregt durch die Tatsache, dass sich in Deutschland viele Menschen weit jenseits der Adoleszenz mit der Typik des »Jugendkulturellen« verstehen lassen, habe ich vier Gruppen in diese Analyse einbezogen, die im Rahmen dieser Untersuchung in Gruppendiskussionen befragt wurden: eine kirchliche Jugendgruppe im Alter zwischen 16 und 22 Jahren,212 eine kirchliche Gesprächsgruppe junger Erwachsener, eine nicht-kirchliche Gruppe von Trainees in einem Konzern sowie Mitglieder eines nicht-kirchlichen Studierenden-Ensembles.213 Die Mitglieder der letzten drei Gruppen waren zum Zeitpunkt der Gruppendiskussion maximal 30 Jahre alt. Die beschriebenen Gruppen zeigen in mehr oder weniger deutlicher Ausprägung eine Verwandtschaft mit dem »jugendkulturellen Muster«, wie es in der 212 Diese Gruppe wurde bereits unter einer spezifisch theologischen Fragestellung untersucht in: Schulz/Wegner, Kommunikation. 213 Kornelia Sammet hat in ihrer Analyse einzelner Gruppen zum Teil Interpretationen desselben Materials unter anderen Fragestellungen vorgenommen. Vgl. Sammet, Vergemeinschaftung.
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Lebensstilanalyse beschrieben worden ist, indem für sie tatsächlich »jugendkulturelle« Präferenzen in Freizeitgestaltung, Norm- und Wertorientierung relevant werden.214 Sie benennen etwa ein großes Bedürfnis nach Lebensgenuss und aktiver und unabhängiger Gestaltung des eigenen Lebens, während Nachbarschaftskontakte, eine häuslich-familiäre Freizeitgestaltung oder die Fürsorge für andere in den Hintergrund treten. Dies ist jedoch keine Charakterisierung, die alle Gruppen in gleichem Maß trifft, sondern scheint stärker im allgemeinen Sinn auf Lebensphase und -situation bezogen zu sein. Die Mitglieder des Studierenden-Ensembles zeigen beispielsweise, wie auch einige Mitglieder der kirchlichen Gesprächsgruppe junger Erwachsener, außerdem zahlreiche Elemente des hochkulturellen Musters, etwa indem sie klassische Musik bevorzugen oder traditionelle Vorstellungen von Ehe und Familie kommunizieren. So wird in dieser Analyse unter anderem die Passung von Lebenssituationen junger Erwachsener und der Kirche in ihren verschiedenen Dimensionen im Vordergrund stehen, verbunden mit der Frage, wie Religion und Kirche in dieser Situation an Bedeutung gewinnen, welche konkreten Zugänge plausibel werden oder welche spezifischen Hindernisse sich ausmachen lassen.
1.2.1 »Wir sind hergekommen, weil wir hier Freunde sind« – »Junge« Zugänge zur Gemeinschaft in der Kirche In den beiden kirchlichen Gruppen finden sich überraschend deutliche Parallelen im Verständnis der Gemeinschaft, wie die Beteiligten sie in ihrer Gruppe erleben. Dabei sind beide Gruppen in Zusammensetzung, Aktivität und Lebenssituation sehr verschieden: Während die Jugendgruppe formal im klassischen Sinn ein offenes Angebot für Jugendliche im Umkreis einer Kirchengemeinde ist, hat sich der Kreis junger Erwachsener auf persönliche Einladung hin aus ehemaligen Aktiven der kirchlichen Jugendarbeit gebildet, die inzwischen fast alle aus dem Gemeindegebiet weggezogen sind und zum Teil in anderen Städten studieren oder arbeiten. Beide Gruppen sind sich jedoch darin einig, dass die persönlichen Beziehungen untereinander und das, was gerade durch diese möglich ist, die Attraktivität der Gruppe ausmachen. Inhaltliche Dimensionen, etwa das Angebot, über Sinnfragen und christliche Religion ins Gespräch zu kommen, kommen hierdurch erst ins Blickfeld. 214 Vgl. Benthaus-Apel, Zugänge, 226. Hiervon abzugrenzen ist der Begriff der »Jugendkultur« für bestimmte Szenen Jugendlicher und junger Erwachsener. Er beschreibt nicht die breite Masse dieser Altersgruppe, sondern diverse soziale Erscheinungen mit spezifischen Kennzeichen etwa in Kleidung und Musikgeschmack, zu denen sich jeweils nur ein kleiner Teil der Befragten zugehörig fühlt, während deutlich größere Gruppen die Randbereiche der Szenen ausmachen oder sich keiner »Jugendkultur« zugehörig fühlen.
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1.2.1.1 Gemeinschaft als Grundstruktur christlicher Religiosität In der Gruppe der jungen Erwachsenen kommt dieser hohe Wert des persönlichen Kontakts bereits in der ersten Runde zum Ausdruck, als die Gruppe die Frage beantwortet, was die Teilnehmenden »als Gruppe zusammenhält«. Hier zeigt sich, wie der Pastor der Gemeinde, »Herr Harms« genannt, mit seiner Einladung an die »Ehemaligen« einen akuten Bedarf erahnt hat: Äh ich heiß Steffi, und äh .. ich bin äh .. seit ?mal früher? hier äh in der Gemeinde gewesen, und ähm als Jugendleiter, also erst selbst als Teilnehmerin und dann als Jugendleiterin .. äh hier aktiv mitzugestalten in der Jungen Gemeinde, und .. wir sind jetzt eben von Herrn Harms äh eingeladen worden, zu diesem Ges- Gesprächskreis zu kommen. Und ich fand das für mich gut, dass man einfach wieder .. ein bisschen mehr .. äh Anknüpfungspunkte an die Kirche hat, äh .. also regelmäßig auch hat. Muss jetzt nicht nur mit Kirche zu tun haben, aber .. man öfter mit Freunden einfach äh .. ja also ?richtig? jetzt über bestimmte Themen einfach mal ernsthafter sich auseinandersetzt. […] Torben: (unv. …) Alte Freunde (lacht). Steffi: Ich will ja auch nicht alles vorwegnehmen .. (lacht leicht) (Laura lacht) Ja. .. Rolf: Ja. Ich bin Rolf. Ähm .. es ist bei mir ähnlich, ich bin .. lange Jahre hier Gruppenleiter gewesen in der Gemeinde, äh und hab halt .. auch über die Jahre mal so gemerkt, .. das ist .. es ist eine Sache, äh für für Jugendliche Dinge zu organisieren, zu machen, aber es fehlt dann irgendwo selber mal so ’n Kreis, wo man selber mal ’n Input äh .. für sich kriegt. […] (2) Mirja: […] (lacht) Also ich bin Mirja, und ich war hier auch lange Zeit, ähm erst als Teilnehmerin, und dann selber als Betreuerin, Gruppenleiterin, .. ähm und hab gemerkt, man wächst da irgendwann so raus. […] Und dann hatte ich auch äh ne Zeit lang irgendwie keine Anbindung mehr hier an die Gemeinde, was ich auch schade fand. Ja, und das ist eben gut ?da?, dass Herr Harms uns eingeladen hatte, dann so ’n Kreis zu machen. .. Ja, und das war auch schön, auch, dass man die Leute dann wiedersehen konnte, die ich jahrelang nicht gesehen hatte. (2) Torben: Ja. Ich bin Torben. Ähm .. ich hab äh äh war hier auch als als Teilnehmer, als Konfirmand in der Gemeinde, äh hab dann auch kurze Zeit mal ne Jungschargruppe selber geleitet, bin dann wie alle andern angesprochen worden, wieder hierher zu kommen, und fand, das war eigentlich spannend, die Leute wiederzutreffen, und aber auch eben vor allen Dingen sich mit äh .. ungefähr gleichaltrigen .. Leuten über äh aktuelle Themen .. oder auch .. kirchliche Themen oder auch .. ganz andere Themen zu unterhalten, um dann mal neben dem normalen normalen Freizeit mal ’n bisschen vielleicht halt ernste Gespräche über aktuelle Themen hier zu führen. (1) Laura: Ich bin Laura, und ähm .. bei mir war’s eben auch so, dass ich jetzt so die Gruppenleiterzeit eben vorbei .. äh is, […] die aktive Arbeit in der Gemeinde, und es war aber jetzt noch nicht irgendwie so, dass ich persönlich jetzt irgendwie Kinder habe, und dann wieder über Kindergottesdienst oder so ne .. Bindung an die Gemeinde. Und ich fand’s irgendwie so schade, dadurch, dass ich irgendwie meine ganze Jugend äh .. irgendwie hier verbracht hab, äh dass das dann so jäh abgebrochen ist. Und deswegen fand ich eben das Angebot, hier so ’n Kreis zualso daran teilzunehmen, sehr spannend. [Junge Erwachsene West: 83 – 135] Steffi:
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Diese Gruppe junger Erwachsener ist, mindestens durch die Zeit der eigenen aktiven Mitarbeit, stark kirchlich sozialisiert und misst der hier erfahrenen Gemeinschaft einen hohen Wert bei. Noch im ersten Gesprächsgang ergänzen oder korrigieren sich die Gruppenmitglieder gegenseitig und zeichnen ein hochkomplexes Bild einer »Logik kirchlicher Vergemeinschaftung«. Einer der Schlüsselbegriffe hierin ist der »Anknüpfungspunkt«. Er bezieht sich formal auf die Gemeinde als den Ort, mit dem die kirchliche Bindung der Diskutierenden eng verbunden ist, dahinter verbirgt sich jedoch ein größerer Bedeutungszusammenhang von persönlichen Beziehungen, einer biographischen Kontinuität und dem Bedarf an einer gewissen Regelmäßigkeit in Bezug auf die kirchlichen Kontaktpunkte. Eines der Gruppenmitglieder, Steffi genannt, leitet dies in ihrem Votum ein, markiert »Kirche« als den Ort, der besonders durch sein Angebot an Kontinuität einen solchen »Anknüpfungspunkt« bietet. Ihn zu nutzen, entspricht ihrem aktuellen Bedürfnis: »Ich fand das für mich gut«. Daraus entwickelt sich die Perspektive auf die konkreten Inhalte: Das Gespräch muss nicht unmittelbar auf christlich-kirchliche Themen bezogen sein. Zentral steht die Möglichkeit, sich in einem vertrauten Kreis und »ernsthaft« auszutauschen. Beides scheint einander zu bedingen: Nur weil die Vertrauensbasis und ein Konsens über das Interesse am »ernsten« Gespräch hergestellt sind, wird diese Austauschmöglichkeit relevant. Diese Definition wird von anderen Gruppenmitgliedern ergänzt. So beschreibt Rolf als weitere Erklärung für die Relevanz der Gruppe einen Mangel, der für ihn in seiner Rolle als Jugendgruppenleiter spürbar wurde: Er hatte zwar weiterhin einen guten Zugang zum thematischen Kontext der Glaubens- und Lebensfragen, es fehlte aber die Möglichkeit zum Austausch mit Gleichaltrigen und damit ein »Input« für die eigene Weiterentwicklung. Torben ergänzt dies weiter und beschreibt einen Bereich des Mangels innerhalb seiner »normalen« Freizeitgestaltung: Es wird offenbar ein thematischer Bereich ausgeblendet, den er mit »kirchliche Themen« oder auch »ganz andere Themen« umschreibt. Mit Blick auf das Themenspektrum der Gruppe, das Sinnfragen oder Fragen der individuellen Lebensgestaltung umfasst, kann man dies so interpretieren: Den jungen Erwachsenen mangelt es in ihrem Leben vermutlich nicht an Kontakten wie etwa zu Kommilitoninnen oder Arbeitskollegen, es fehlt jedoch die Möglichkeit, sich intensiv mit als privat erlebten Fragen der eigenen Entwicklung und Lebensführung auseinander zu setzen. Eine solche Möglichkeit bietet dann nicht nur eine Plattform zur inhaltlichen Debatte, sondern ist zugleich eine Rückbindung der eigenen Person an eine Gruppe, die als geschützter Bereich empfunden wird. Die Gesprächsgruppe ist tatsächlich mehr als ein Angebot zur thematischen Auseinandersetzung. Sie scheint zugleich eine emotional aufgeladene »Anbin-
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dung« an einen Bereich des eigenen Lebens zu sein, der nicht ohne weiteres zu erschließen ist. Laura ergänzt diese Deutung um eine interessante Einordnung in eine standardisierte Biographie und ihre typischen Zugänge zu Kirche: Zwischen der Phase der eigenen Aktivität als Jugendliche in der Gemeinde und einem Leben mit Kindern und den dadurch erschlossenen Zugangswegen definiert sie eine Zwischenphase mit dem entsprechenden Mangel an »Bindung« und dem Gefühl des Verlustes. Es wird deutlich: Es geht in der Gemeinschaft der Gruppe nicht um zusätzliche Kontaktmöglichkeiten, sondern um eine bestimmte Qualität von Kontakt, die explizit als »Freundschaft« bezeichnet wird, unabhängig davon, ob die Gruppenmitglieder im Alltag etwas miteinander zu tun haben. Die freundschaftliche Ebene wird durch den gemeinsamen Erfahrungsbereich in der Vergangenheit möglich. Für diese Kirchenmitglieder ist eine kontinuierliche Anbindung an die Kirche in allen Lebenssituationen selbstverständlich. Wo sich aufgrund der Lebenssituation keine Kontaktpunkte anbieten, wird dies als Mangel gedeutet. Dieser wird bezeichnenderweise nicht behoben, indem die Gruppenmitglieder sich am neuen Wohnort einer anderen Gemeinde anschließen oder sich anderweitig um Kontakte mit Kirche bemühen. Der Mangel an einer verbindlichen Beziehung, wie die Gruppenmitglieder sie als Jugendliche in ihrer Gemeinde erlebt hatten, lässt sich aus dieser Perspektive nicht durch Kontakte in fremden Gemeinden beheben. Dagegen ist für die Mitglieder der kirchlichen Jugendgruppe eine Anbindung an die Kirche alles andere als normal. Viele der Jugendlichen sind außerhalb der Kirche sozialisiert und haben christlich-religiöse Inhalte erst durch den Konfirmandenunterricht oder noch später kennen gelernt. Zum Teil sind sie nicht getauft und erschließen sich erst durch die Jugendarbeit der Gemeinde den Zugang zum christlichen Glauben. Der Wert der kirchlichen Gruppe wird den Gruppenmitgliedern vor allem dort plausibel, wo die Gemeinde bietet, was die Jugendlichen sonst nicht finden: überzeugende Persönlichkeiten, die die Jugendlichen ernst nehmen, und einen Ort, an dem sie sich ungestört treffen können. Marvin: Also, ich denke eigentlich, der Größte warum wir herkommen ist eigentlich, dass wir .. halt ähm .. erst mal ’n coolen Pastor hier haben, Pastor Asdorf, weil der is auch immer nett und alles drum und dran, und das zweite is halt auch, dass wir halt unten den Raum halt nutzen können mit unsern .. unsern Freunden halt, und auch eigentlich immer hier hergehen können, und so trifft man sich halt besser, so, weil, man kann schlecht irgendwie mit fünfzehn Leuten so .. fast jeden Tag bei sich zu Hause sitzen und so ?hier? (Ben? lacht) Da machen die Eltern dann schon ziemlich Stress (leises Lachen) Und .. na ja. Ja den Spruch hab ich von Ben. (Lachen) (lachend) Hat er mir mal erzählt gehabt. Ben: Das war der tolle Spruch, als wir äh irgendwie .. als ich wie ’n Geistesbehinderter in der fünften Klasse, ?bitte?,
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Fortsetzung (Kaya lacht) Ben: (leicht lachend) ?gebt mir mal? ’n Job? Nein, du redest von was anderem, den Spruch hab ich jetzt ich Marvin: Kaya: Aber es hat ja auch ?keinen Zusammenhang? Dina?: Ich finde .. ich finde ich denke, wir sind nicht hergekommen, weil’s die Kirche is. /Linda: Ja./ Wir sind halt hergekommen, weil wir hier Freunde sind, und weil hier ’n ziemlich starkes .. Miteinander ’n ziemlich starkes Zusammen ist, und .. dieses Nachdenken über die Kirche, Dustin?: Wir ziehen alle an einem Strang. Dina: Gott, oder so, das ist erst .. noch gar nicht so lange her, dass das eher so aufgekommen is, /Mhm./ dass man auch mal darüber einfach .. sinniert, /Mhm./ ?vielleicht in? Gedanken. [Jugendgruppe West: 695 – 724]
Die Freundschaft innerhalb der Gruppe beruht nicht auf gemeinsamen Erfahrungen in der Schule oder mit bestimmten Hobbys, sondern sie wächst aus dem konkreten Miteinander im Jugendkeller oder auf Freizeiten. Der Pastor der Gemeinde gehört für die Jugendlichen offenbar in den Bereich dieser günstigen Rahmenbedingungen: Er ist den Jugendlichen freundlich gesonnen und bewegt sich vor allem außerhalb des Alltagssystems der Jugendlichen, das hier wie noch öfter in der Diskussion mit dem Begriff »Stress« assoziiert wird. So gelingt es, Inhalte des christlichen Glaubens vom Bereich familiärer oder schulischer Ansprüche zu trennen und im Bereich des Freiwilligen zu verorten. Die beiden kirchlichen Gruppen unterscheiden sich darin in ihrer Bewertung: Während für die Jugendgruppe erst die Freiheit vom Zwang Elemente des christlichen Glaubens relevant werden lässt, begreifen die jungen Erwachsenen diese christlichen Gesprächsthemen als zentrale Bestandteile des Miteinanders. Im Vergleich beider Gruppe kann man vermuten: Unabhängig von der Intensität der Kirchenbindung oder dem grundsätzlichen Bedürfnis nach »ernsten« Gesprächen im vertrauten Kreis spielt dieser Kreis selbst für die Beteiligten die entscheidende Rolle. Christliche Inhalte erscheinen darin eingebettet oder auch innerhalb dieser Gemeinschaft erst ermöglicht zu sein, wie die Mitglieder der Jugendgruppe es prägnant ausdrücken: »Gott, oder so, das ist erst .. noch gar nicht so lange her, dass das eher so aufgekommen is«. 1.2.1.2 Religiosität als Kern kirchlicher Gemeinschaft Ein interessantes Gegenstück zu diesen beiden kirchlichen Gruppen bieten die Mitglieder des Studierenden-Ensembles: Sie stammen alle aus den alten Bundesländern und leben nun in einer ostdeutschen Großstadt. Sie hatten fast alle in
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ihrer Kindheit und Jugend Kontakt zur evangelischen oder katholischen Kirche, haben jetzt aber außer dem Besuch von Weihnachtsgottesdiensten schon einige Jahre keinen persönlichen Bezug mehr zu einer kirchlichen Gemeinschaft. Auffällig ist die Bewertung von relevanten und weniger relevanten Aspekten von Zugehörigkeit und Beteiligung in der Kirche gerade dort, wo sie ohne aktuelle Bezüge mit Blick in die Vergangenheit vorgenommen wird. Es lässt sich vermuten, dass Kirche in diesem Kontext nicht als »Kirche für mich heute«, sondern als »Kirche, wie sie für Menschen im Allgemeinen wichtig ist« behandelt wird. Die Mitglieder des Studierenden-Ensembles präsentieren, anders als die kirchlichen Gruppen, die christlichen Inhalte stärker als Kern kirchlicher Gemeinschaft. So rückt die Gemeinschaft innerhalb der Kirche hier als »Praxisfeld des Religiösen« in den Blick: Julia: also ich hab in der .. Jugend (lachend) sozusagen, also in der Schulzeit ähm sehr viel in der Kirche gemacht, also ich hab halt Kindergruppen geleitet und so was und auch mal Kindergottesdienst ab und zu gemacht. Ähm und für mich war immer der Kernpunkt eigentlich das Gelebte äh den eben wirklich diesen gelebten Glauben also eine Oase eigentlich zu haben, in dem man das, was man vielleicht in der Predigt hört, aber einfach auch versuchen kann zu praktizieren, das klingt natürlich jetzt sehr schwülstig und idealistisch, aber .. ähm also da war eigentlich, also Grundlage war eben, dass man diese ganzen Geschichten im Kindergottesdienst selbst mal gehört hatte und dass man im Konfirmandenunterricht da auch dann kritisch drüber refle- angefangen hat zu reflektieren, und dann aber eigentlich eben diese Phase, wo man anfing eigentlich selbst ähm wirklich dann sich seine eigene Gedanken zu machen und dann auch demnach sein Leben auszurichten und das eigentlich in der Kirchengemeinde äh das Gefühl hatte zu praktizieren oder praktizieren zu können mehr als wo anders. Das fand ich hat also das hat mir an Kirche einfach immer diesen diese besondere Wichtigkeit gegeben. Timo: Also die Kirche ist dazu da dir was beizubringen was du was du nur in der Kirche benutzen kannst? /Oliver : (lacht)/ So wie son Labor. .. Nee. Nein Julia: eben das is genau das so so sollte es natürlich nicht sein, /Timo: Mhm./ aber ich hab also komisches Bild ich hab, aber ich hab’s wirklich immer so‘n bisschen empfunden wie na ja wie so‘n .. also Übungsplatz oder so so ‘n bisschen also oder oder Auftanken, wo du auch wo wo das vielleicht alles ‘n bisschen in ner reineren Form wieder da is und du einfach auch, zum Beispiel wenn du eben sonntags in der Kirche gehst, einfach dich dadurch besinnst, dass du das alles einfach noch mal klarer vor dir siehst, was vielleicht wonach du vielleicht streben möchtest. Und ahm wenn du dann in die Woche gehst, .. ähm wirst du immer sehn, dass du das so alles wie du ’s am Sonntag gehört hast, einfach nicht möglich is, aber wenn du das nicht ab und zu mal wieder hörst dann verlierst du’s eben. Jonas: Das ist wieder die Sache mit den Idealen Julia: Ja. .. Ja ja. Timo: Das hohe Ideal, das man dann nicht erreicht und dann /Jonas: Mhm./ trotzdem immerhin’s noch sehen kann, wo man ?gerade is?
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Fortsetzung Julia: Aber das find ich strahlt halt eben aus, also dieses Gem- also macht man halt dieses Gemeindeleben, also das ist halt nicht in sich begrenzt, sondern es es prägt ja den Menschen einfach, und und und darin seh ich einfach auch ‘n Sinn, eben nicht nur die Predigt zu hören, sondern auch eben die Woche über Kinder in der Gemeinde zu haben und dass da was passiert, Frauenkreise, Elterntreffs oder was auch immer. [Studierenden-Ensemble Ost: 1206 – 1249]
Für Julia, die anhand eines Erfahrungsberichts den »Kernpunkt« der Bedeutung ihrer Ortsgemeinde beschreibt, sind Elemente christlicher Religiosität zentral. Das Miteinander in der Gemeinde ist deutlich nicht in der Beziehung der Mitglieder oder in Freundschaft untereinander begründet, sondern im »Glauben«, der sich vor allem am Sonntag in der Predigt unmittelbar bestätigt. Das Miteinander in der Gemeinde ist in dieser Vorstellung immer ein Miteinander der Glaubenden und bedeutet ein »Praktizieren« des Geglaubten. Mit einiger Vorsicht lässt sich diese Position so verstehen: Hier ist der Inhalt des Glaubens indirekt in der durch christliche Grundlagen geprägten Gemeinschaft selbst sichtbar. Im Rückblick wird diese Gemeinschaft als Ort der Erlebbarkeit des Geglaubten zum eigentlichen »Kernpunkt«: Am Miteinander der Verschiedenen ist die christliche Botschaft abzulesen. Die Gemeinschaft ist nicht die Botschaft, aber sie wird in keiner anderen Gestalt derart greifbar. Sicher ist, dass es Julia nicht um eine Gemeinschaft von Menschen in der gleichen Lebensphase und mit ähnlichen Fragestellungen der Lebensgestaltung geht. Es geht ihr aber, mit bleibender Relevanz für ihr weiteres Leben, um die kirchliche Gemeinschaft als Ort für alle Altersgruppen. Weil das Miteinander vom gemeinsamen Glauben geprägt ist, wird Gemeinde ein Ort zum »Auftanken«. Hier gewinnt eine Gemeinschaftserfahrung aus der Vergangenheit ihre aktuelle Funktion: Die Botschaft, das Aufgehobensein in einem gemeinschaftlich geteilten Sinnzusammenhang, wird nach wie vor in der Kirche transportiert. Wer dies einmal erlebt hat, behält weiterhin die Option auf einen Aufenthalt in der »Oase«. Kirche bzw. die Gemeinschaft unter ihrem Dach kann und muss darum auch ohne aktuelle Beteiligung als wertvolle Garantin für die Botschaft einschließlich ihrer Erfahrungsmöglichkeit gewürdigt werden. Die Gruppe nimmt das Votum Julias kritisch auf. Der Einspruch Timos ist als ironische Brechung formuliert: Mit der Konzentration auf die kirchliche Gemeinschaft wird die christliche Botschaft eine klassische Binnenlogik: Man teilt sie unter Gleichgesinnten und bildet zugleich mit diesen den Erfahrungsraum, in dem die Botschaft Anwendung findet. Insofern hat die Botschaft einen relativen Wert, weil man sie nur für einen kleinen Ausschnitt des Lebens »benutzen« kann. Julia verteidigt jedoch die allgemein hohe Bedeutung des Glaubens über die Gemeinde hinaus. Jonas bietet schließlich eine Deutung an, die in ihrem Ansatz
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konsensfähig ist: Die Gemeinde ist der Ort, an dem die christliche Botschaft in einer verhältnismäßig reinen Form Anwendung finden kann, während sie für das Leben außerhalb der Gemeinde als »Ideal« fungiert. Die Gruppe verbleibt darüber hinaus in unterschiedlichen Positionierungen: Die Gemeinschaft ist mehr als ein »Ideal« und als prägende Kraft auch für den nicht-kirchlichen Alltag relevant. Umgekehrt ist die christliche Botschaft auf die Gemeinschaft als Ort ihrer Erlebbarkeit angewiesen, weil sie sich im Lauf der Zeit und im Kontakt mit den Herausforderungen des Alltags »verliert« und ihre Relevanz immer wieder neu verstanden werden muss. Es zeigt sich im Vergleich der Gruppen, wie die Bedeutung der christlichen Gemeinschaft offenbar davon abhängt, ob sie aktuell für die eigene Lebensgestaltung relevant ist: Wo die Gruppenmitglieder in eine kirchliche Gemeinschaft integriert sind, empfinden sie tatsächlich eher die persönlichen Beziehungen als zentral, während für eine resümierende Deutung einer nichtaktuellen Erfahrung stärker der christliche Inhalt als »Kern« der Gemeinschaft erscheint. Hier spielen vermutlich auch die unterschiedlichen Lebenssituationen der Gruppenmitglieder eine wichtige Rolle. Im nächsten Schritt sollen nun die für jüngere Kirchenmitglieder attraktiven Inhalte des christlichen Glaubens bzw. der kirchlichen Gemeinschaft untersucht werden.
1.2.2 »Was das eigene Leben erweitert« – »Junge« Zugänge zur Religion Neben der Bedeutung einer religiösen Gruppe steht für die Befragten der Wert der Beschäftigung mit christlich-religiösen Fragen im Mittelpunkt. Dazu äußern sich die nicht kirchlich engagierten Mitglieder des Studierenden-Ensembles besonders ausführlich und bieten immer wieder Diskurse zu verschiedenen Aspekten von Religion und Kirche. An drei Beispielen, zugleich drei Erscheinungsformen kirchlicher Religiosität, möchte ich diese Diskurse der Gruppe in ihrer Dynamik darstellen und im Kontext des aktuellen Erlebens der Mitglieder untersuchen: 1.2.2.1 Das »ganz Andere« in Form der verfassten Kirche Die Mitglieder des Studierenden-Ensembles sind sich darüber einig, dass »die Kirche« gegenwärtig nicht (mehr) allen Menschen Halt, Orientierung und Lebenshilfe geben kann, obwohl sie, inhaltlich gesehen, das Potenzial dazu hätte. Weil die Gruppenmitglieder mit Blick auf ihre aktuelle Situation kein Bedürfnis nach Hilfestellung oder Orientierung verspüren, spielt dieser Wirkungsbereich von Kirche für sie keine wichtige Rolle. Grundsätzlich aber schreiben alle Gruppenmitglieder in einer Gesprächsphase mit hoher interaktiver Dichte der Kirche
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besonders als religiöse Instanz wichtige Funktionen zu, wenngleich sehr verschiedene. Als Hintergrund der Diskurse über die Kirche erscheinen aktuelle Fragen der eigenen Lebensgestaltung im Übergang vom Studium in den Beruf: Wie kann man sich auch unter einem hohen Leistungsdruck und angesichts festgefügter Berufsprofile selbst treu bleiben und die Orientierung an eigenen Überzeugungen bewahren, für das eigene Wohlergehen sorgen, flexibel bleiben und Neues lernen? Dabei erleben sich die meisten Gruppenmitglieder mit Blick auf den Status als Auszubildende oder Studierende als diejenigen, die vor allem selbst über ihr Leben entscheiden, zugleich sehen sie einem Berufsleben entgegen, das wenig Raum für persönliche Interessen lässt. Die Möglichkeit, auf das eigene Leben Einfluss zu nehmen, und darin die Grundfrage nach der eigenen Gestaltungsmacht, gerät auffallend ins Zentrum des Interesses. So dienen viele der Diskurse, auch und gerade über die Kirche, der Ergebnissicherung dessen, was aktuell wichtig ist, Orientierung gibt und als relevanter Lebensbereich unbedingt bewahrt werden muss. Oliver, innerhalb der Diskussion in der Rolle des rationalen Analytikers der Kirche, würdigt Kirche als Tradierungsinstanz christlicher Wertorientierung, die sich über die Jesusgeschichten und den daraus abgeleiteten ethischen Grundsätzen transportiert: Oliver: Die Kirche hat sich ja entwickelt .. aus dem Glauben an an die Bibel also die die christlichen Kirchen. /Timo: Mhm./ Und das war‘n ‘n großer Fortschritt, weil durch die Kirche und die Verwaltung über die Kirche war die Bibel plötzlich sehr vielen Menschen zugänglich, und diese diese Glaubenssätze, die ähm ich selber persönlich auch unheimlich wichtig finde, also nicht Glaubenssätze, aber diese Geschichten von Jesus und seine seine Ideale, wurden dadurch sehr vielen Menschen zugänglich. [Studierenden-Ensemble Ost: 861 – 868]
In dieser Würdigung wird zugleich ein Kontrast eröffnet zwischen »Glaubenssätzen«, die in der Gruppe an anderer Stelle »Dogmen« genannt werden, und dem Bereich religiös fundierter »Ideale«, transportiert über Jesusgeschichten. Letztere sind derart wichtig, dass in einer grundsätzlichen Bewertung Kirche als »Verwaltung« positiv bewertet wird. Im Weiteren diskutiert die Gruppe intensiv über die Aktualität des kirchlich-religiösen Angebots, den Gegensatz von Rationalität und Glaube sowie die Tragweite christlicher Gebote, wie etwa der Feindesliebe. Im Verlauf des Gesprächs zeichnet sich ab, dass andere Gruppenmitglieder daneben stärker eine aktuelle inhaltliche Bedeutung kirchlicher Arbeit sehen: Kirche ist ein Ort, an dem man etwas vom Alltag völlig Verschiedenes erlebt und auf diese Weise einzigartige Anregungen für die eigene Lebensführung erhält. Im Diskurs zeigt sich eine Differenz zwischen der am Beispiel Olivers beschriebe-
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nen Würdigung der Kirche als eine Instanz, die vor allem organisatorische oder auch pädagogische Aufgaben hat, und den Einschätzungen anderer Gruppenmitglieder, die stärker auch ihre inhaltlichen Leistungen schätzen: Oliver: Aber was ich denke is, dass es unheimlich wichtig is für Kinder .. ähm äh dass es ne Kirche gibt, aber auch aber auch für Leute jetzt zum Beispiel, die jetzt nicht so rational an die Welt ran gehen wie ich das mache, also ähm Menschen, die einfach nicht so viel ähm .. ähm wissenschaftlich über die Welt nachdenken […] wenn ich meine Kinder erziehen würde, würde ich immer versuchen, ihnen auch äh .. ähm von der Bibel zu erzählen, weil ich denke, dass das eben moralische Grundsätze sind, die ganz wichtig sind ähm für das menschliche Zusammenleben .. und die man als Kind irgendwann mal gehört haben muss, und dass es auch Weltbilder sind, die für‘n kindliches für‘n kindlichen Gedanken sehr gut sind, also ich hab auch mal ne Zeit lang eben sehr stark an Gott geglaubt, und das hat mir unheimlich geholfen, und als mein mein Kopf aber angefangen hat immer weiter nachzudenken und .. eigene wissenschaftliche Bilder zu entwickeln ähm, war der Gottesglaube plötzlich sinnlos, also der reine Gottesglaube und ähm es hat sich eben so ‘n bisschen verändert so. .. Aber es war trotzdem unheimlich wichtig, dass ich die die Kirche eben hatte als Grundlage als .. ähm .. ähm .. also für diese Lebensphase auch besonders, also für die kindliche Lebensphase. Jonas: Mhm genau so denk ich’s auch, dass es unheimlich wichtig is, in der Erziehung das mitzugeben, […] zu dem zweiten Teil der Frage, was äh was erwartest du von der Kirche? Das ist sicherlich ähm Bibelauslegung im Wesentlichen, denn wenn man eben ne Predigt über einen bestimmten Satz nur hören kann und das find ich immer wieder faszinierend einfach, wie viel da drin steckt und ähm was man sich da für Gedanken machen kann wo ?woran? muss ich auch nicht alles glauben, wenn man‘s mir gesagt hat, aber es sind immer wieder tolle Sachen einfach und was ja auch das eigene Leben erweitert. Timo: Denkanregungen mhm? Jonas: Denkanregungen. [Studierenden-Ensemble Ost: 1134 – 1175]
Neben seiner Wertschätzung für Kirche als moralisch-ethische Bildungsinstanz hört man im Statement Olivers den Wunsch, das kirchliche Angebot seinen Kindern zugänglich zu machen, wenn er es auch für sich selbst wegen seiner rationalen Weltsicht nicht mehr sinnvoll findet. So weist er, trotz eigener Distanz, dem christlichen »Weltbild« die Rolle zu, die Entwicklung seiner (zukünftigen) Kinder zu prägen. Andere Gruppenmitglieder beschreiben, wie sie im Gegensatz dazu für sich selbst einen großen Nutzen aus der kirchlichen Arbeit ziehen, vor allem im Gottesdienst und speziell in der Predigt. Sie wird vor allem als Erweiterung des eigenen Horizonts erlebt: Wie aus einer anderen Welt bekommt man Anstöße, die das eigene Denken und Erleben um bislang unberücksichtigte Dimensionen ergänzen. Hier ist Kirche »faszinierend« und in dieser Funktion offenbar ohne Konkurrenz. Interessant ist diese Würdigung kirchlichen Handelns, weil auch hier die Beteiligten dieses Gesprächsgangs geradezu ausschließen, die angebotene
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christliche Botschaft vollständig zu übernehmen. Man »muss nicht alles glauben« und erwartet es auch gar nicht erst. Man erlebt sich gestaltungsmächtig und ist selbst das Subjekt eines Gottesdienstes, indem man sich über das Gehörte selbst »Gedanken macht« und entscheidet, was davon für das eigene Leben eine Rolle spielen soll. Timo erweitert dieses Konzept um einen weiteren wesentlichen Aspekt: Timo: Ich finde auch, dass die Kirche wichtig ist als so gewissermaßen ne moralische Instanz, is glaub ich das falsche Wort, ähm einfach um als neutrale neutrale Instanz, die einem zeigt dass es auch ne andere Weltsicht gibt, weil man sich ja sonst .. sag mer mal im Alltag oder insgesamt in nem in ner modernen Weltsicht verrennt man sich ja in so’n bestimmtes Weltbild und hält das für absolut, und die Kirche find ich sollte so‘n bisschen außerhalb davon stehen und einem zeigen, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, die Welt zu sehen, auch wenn sie sich dabei einfach nur an tradierte Grundsätze hält und die mit Leben erfüllt, also was ja dann vielleicht .. kann man ja für langweilig halten und weil’s vor hundert Jahren genauso war, aber die Welt drumherum ändert sich ja und die Grundsätze müssen neu angewendet werden. .. Und das halt ich für wichtig, wobei ich eben nun auch nicht weiß, wie man die Kirche jetzt attraktiver machen sollte oder .. in die Gesellschaft tragen aber .. mir haben sehr häufig Predigten, in die ich zufällig (lachend) geraten bin, also Denkanregungen gegeben oder mir vermittelt, dass man Dinge auch ganz anders plötzlich sehen kann. [Studierenden-Ensemble Ost: 1176 – 1192]
In dieser Perspektive zeichnet sich Kirche gerade dadurch aus, dass sie gegenüber dem Leben ihrer Mitglieder eine »neutrale« Position bezieht. Sie ist eine »Instanz«, befindet sich also außerhalb des menschlichen Ringens um geeignete »Weltsichten« und bietet eine Außenansicht bzw. die Möglichkeit, das bisher sicher Geglaubte »ganz anders« zu sehen. Diese Position ist gezeichnet vom Wunsch nach Korrektur der eigenen »modernen Weltsicht«, in der man sich zeitweise eher »verrennt« als orientiert. Aus dieser Sicht präsentiert sich Kirche vorrangig als Institution (nicht: als Organisation), und bietet eine Orientierungshilfe, die sich strukturell von Argumenten oder komplexen Weltsichten unterscheidet. Gerade weil »tradierte Grundsätze« ihre Basis bilden, kann sie außerhalb aktueller Diskussionen bleiben und bietet darin ein einzigartiges Korrektiv. Dieses Korrektiv wirkt jedoch aus der Sicht der Gruppenmitglieder, auch im stark durch affektive Elemente geprägten Gottesdienst, nur dort, wo es von den Betreffenden bewusst angewendet wird. Kirche, speziell die Predigt, wirkt nicht unmittelbar, etwa indem sie aus eigener Kraft eine »Weltsicht« korrigiert. Dass Kirche »Möglichkeiten, die Welt zu sehen« bietet und nicht in die Deutung der Gottesdienstbesucher eingreift, scheint mir zentral in der Würdigung durch die Gruppe. Das beschriebene Verhältnis von »Anregungen« und »Korrektur« durch Kirche einerseits und Gestaltung der eigenen Weltsicht anderer-
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seits wird besonders dort brisant, wo stärker Aspekte umfassender Sinndeutung in den Blick geraten. 1.2.2.2 Der »alles überspannende Bogen« – Sinndeutung contra Anwendungsbezug Weniger kognitiv und stärker erfahrungsbezogen ist eine weitere Bedeutungsdimension von Kirche und Religion, die in der Gruppendiskussion mit Mitgliedern des Studierenden-Ensembles diskursiv zum Tragen kommt. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, ob und inwiefern Kirche die persönliche Gestaltung des Lebens unterstützen kann: Oliver: Na wenn ich so vorhin jetzt so bei erwachsenen arbeitstätigen Menschen grade in der heutigen Zeit, wo man eben sehr viel arbeitet und sehr viel sehr wenig Zeit hat für .. andere Dinge, also wo man einfach ja nen nen durchorganisierten Terminkalender hat oder wo das normal ist, dass man dass man keine Zeit hat für irgendwas anderes. Ähm dass man in dem Arbeitsleben eben permanent damit beschäftigt ist, irgendwelche Probleme zu lösen, also praktische Probleme, dass man wenn man arbeitet, muss man irgendwelche praktischen Probleme lösen, wenn man Kinder hat, muss man irgendwelche praktischen Probleme lösen, den ganzen Tag lang .. und .. ähm man hat aber keine .. äh also man hat glaub ich auch in dieser Gesellschaft, die ja relativ hohe Sch- .. äh also .. also ne relative Wo- Wohlstandsgesellschaft is, wo man wo’s einem relativ gut geht, hat man jetzt nicht Probleme, die man nicht lösen also gar nicht lösen kann oder nur selten Probleme, die ähm so unlösbar sind, dass man sie nicht praktisch angehen kann so also nicht praktisch ?lösbar?. Und ich denke die Kirche ist was, die die sich mehr also jetzt in Predigten oder in der Kirche beschäftigt man sich mehr mit .. abstrakten Problemen, also Probleme, die einfach unlösbar sind wie der Tod oder ähm .. oder ne Moral, die eben nicht durchsetzbar ist vielleicht also Timo: ?ne Zwickmühle eigentlich? Oliver: Ja. Und dass man dass man aber Aber auch viel konkrete Sachen .. /Timo: Ja?/ .. Also was du, ich mein was Julia: du als Kind lernst, sind doch einfach ganz konkrete Handlungsvorschläge. Jonas: (unv.) Dass du raus willst, ähm weil du sagtest im Täglichen man löst ständig alltägliche Probleme und dann ist ja eben so der Sonntag oder ja der der Sonntag und die Feiertage ist so ne ne große Linie dann eben so was Überspannendes ‘n Bogen da. Dann macht das plötzlich Sinn und sind nicht eben diese vielen Einzelprobleme die ich (unv.) löse ja. Zeit /Oliver : Ja./ zur Ruhe Zeit für Oliver: Ja das wäre schön, aber man man hat eben auch am Sonntag häufig dann keine Zeit mehr /Jonas: Ja./ und und diese diese Zeit, sich in die Kirche zu setzen, die würde einem dann fehlen quasi (unv.) dabei, um dann ‘n praktisches Problem zu lösen /Jonas: Mhm./ zum Beispiel. .. Und deswegen also das is glaub ich das Problem was vie- viele Arbeitstätige haben, dass sie ähm .. dass ne Kirche am Sonntag ihnen jetzt zum Beispiel nur noch‘n zusätzliches Problem aufdrücken würde. [Studierenden-Ensemble Ost: 1250 – 1287]
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In diesem Diskurs stehen sich wesentlich zwei Haltungen gegenüber : Während für die einen in der Bewertung religiöser Angebote die praktische Bewältigung des Lebens (»Probleme lösen«) im Vordergrund steht, eröffnen für andere Gruppenmitglieder religiöse Angebote umgekehrt die Möglichkeit, sich vom Alltag zu distanzieren und eine umfassende Sinndeutung vorzunehmen. Jonas, wichtigster Protagonist der zweiten Position, bildet eine Gegensatzanordnung von »Alltag« und »Sonntag«. Während der Alltag von der Beschäftigung mit aktuellen »Problemen« gekennzeichnet sein mag, dient der »Sonntag« dazu, »Einzelprobleme« in den Kontext eines größeren Sinnzusammenhangs einzuordnen. Es weicht dann auf angenehme Weise das Konkrete dem Übergeordneten. Gerade dieses Verständnis von Kirche als relevanter außeralltäglicher Lebensbereich macht den Dissens in der Gruppe aus: Oliver, Protagonist des Gegenpols, bestreitet die Relevanz eines solchen Lebensbereichs. Er zeichnet sein gegenwärtiges Leben sowie das ihm vor Augen stehende zukünftige Leben mit Kindern als »permanentes Lösen praktischer Probleme«, die fast immer auch lösbar sind. Zu etwas anderem jenseits der Arbeit und der Bewältigung familiärer »Probleme« hat er kaum Kapazitäten. Weil Kirche zur Bewältigung des Alltags nichts beiträgt und sich zudem mit nicht akuten und vor allem zumeist »unlösbaren«, »abstrakten Problemen« beschäftigt, kann er dort keine Zeit verbringen, etwa indem er einen Gottesdienst besucht. Stärker noch: Er ist in die Lösung alltäglicher »Probleme« derart verstrickt, dass er sich unmöglich mit dem thematischen Spektrum der Kirche befassen kann, auch wenn es grundsätzlich relevant sein mag: Es droht die Gefahr, sich damit neue »Probleme« zu suchen, die wiederum Kraft für ihre Bewältigung fordern. Innerhalb eines solchen Lebenskonzepts wird das Angebot der Kirche nicht wahrgenommen. In diesem Modell spielt die Frage der Gestaltungsmacht und Gestaltungsfreiheit des Menschen die zentrale Rolle: Für Oliver sind Angebote sinnvoll, die ihm helfen, sein Leben so zu führen, wie er es selbst entworfen oder gewählt hat. Auch die anderen Gruppenmitglieder sehen ausschließlich sich selbst als Gestaltende ihres Lebens, für sie bekommen Angebote wie das des Gottesdienstes die Aufgabe, sie in der Konzeption (nicht: der Bewältigung) des Lebens zu unterstützen. Die Gruppe findet keinen Konsens und verbleibt im Gegeneinander beider Deutungen. Möglicherweise, so versuchen einige Gruppenmitglieder eine Erklärung für diese Unvereinbarkeit der Positionen zu finden, ist die zweite Deutung des kirchlichen Angebots erst dann plausibel, wenn man den entsprechenden Effekt aus eigener Erfahrung nachvollziehen kann:
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Jonas: Ja das musst du einfach mal erfahren haben, das musst du einfach mal gesehen haben, dass es so is, dass du nicht ununterbrochen äh das machen kannst, sondern kurz mal da raus kommst und dann sehr viel besser sogar wieder auf deine anderen Sachen äh zurückkommen kannst. [Studierenden-Ensemble Ost: 1299 – 1303]
Auf diese Weise bleibt diese Bedeutung des kirchlichen Angebots außerhalb dessen, was sich argumentativ erfassen lässt. Wer hier keinen Zugang findet, wird ihn nicht über Erklärungen bekommen können, sondern allenfalls über ein eigenes Erleben. Dies gilt auch für einen dritten Bereich, der für die meisten Gruppemitgliedern als Kern kirchlicher Arbeit gilt: 1.2.2.3 »Spiritualität« im Vergleich von Gottesdienst und Musik Der Diskurs über einen möglichen Nutzen oder praktische Anwendungsbezüge des Kirchlichen wiederholt sich implizit auch in der Diskussion des Studierenden-Ensembles über eine spirituelle Funktion kirchlicher Angebote. Es findet sich eine ähnliche Gegensatzanordnung von Nutzwert und Sinndeutung wie im vorigen Abschnitt, jedoch entwickeln sich jetzt Ansätze für ein gemeinsames Verständnis. Als zentrales Beispiel dient der Gottesdienst und speziell seine liturgische Form: Oliver: In der protestantischen Kirche is ja sehr viel Liturgie. Einfach diese immer wieder dieser selbe Ablauf .. und dieses immer des sich immer wieder an dasselbe erinnern und ähm .. also des is so was, was mich zum Beispiel stört und was mich nervt, weil wenn ich dann in ner Kirche sitze und das höre dann hör ich auch zu also, das ist einfach so, wenn ich das hör, dann hör ich da auch hin irgendwie und kann nicht plötz- einfach nur abschalten und an was anderes denken, und ähm und damit ist’s was, was mir persönlich eher dann Zeit raubt einfach. Zeit die ich anders .. gerne einsetzen würde. Timo: Das ist eben das Problem, weil man vielleicht bestimmte Dinge, wenn sie denn nun wirklich stimmen, dann muss man sich vielleicht auch immer wieder an sie erinnern. /Julia: Mhm./ .. Ich weiß nicht zum Beispiel das Vaterunser ist ja der Inbegriff von wiederkehrender Liturgie /Oliver : Mhm./ und des sind ja alles relativ allgemein gehaltene Dinge, die stimmen. Und das kann man ja im Prinzip auch jeden Sonntag neu interpretieren .. für sich. […] Julia: Und manchmal hat’s dann einfach auch nur so was Meditatives, einfach diese diese Regelmäßigkeit diese teilweise Eintönigkeit (lachend) Dann ist es ja eigentlich auch Timo: keine Anstrengung. .. Kein Problem Oliver: Ja aber aber für Meditation find ich’s dann wiederum Julia: nicht gelungen? Oliver: nicht medita- tiv genug, ja also das /Julia: Ja ja./ find ich ja eben genau also nicht gelungen Wieso eigentlich nicht Omm? Timo: (Mehrere lachen)
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Fortsetzung Oliver: Also also wenn‘s nur Meditation wär, find ich könnte man‘s anders machen (lacht) und die Liturgie, also ich mein, ja das ist halt bei mir persönlich Also ich frag mich ja immer Julia: Oliver: einfach so, dass ich denke, das Vaterunser hab ich so häufig gesprochen, und ich hab mir .. so häufig da auch immer wieder drüber Gedanken gemacht, dass es für mich jetzt .. nichts mehr Neues bedeuten würde, noch mal das Vaterunser zu sprechen. Timo: Na ja ich meine Zähneputzen ist auch nichts Neues also Oliver: Ja das ist aber ne notwendige .. Notwendigkeit also Timo: Na ja des is is halt was Gegenständliches, was da gereinigt wird beim Zähneputzen. Vielleicht reinigt das Vaterunser ja was Seelisches oder Jonas: (unv.) befriedigt ein spirituelles Bedürfnis /Julia: Mhm./ das ist ja die gesamte Veranstaltung Gottesdienst das alles, ähm das is grade die ?Erhebung?, dass das rituell ?abläuft? Anders is isses ja so nicht denkbar ja. [Studierenden-Ensemble Ost: 1326 – 1370]
Zunächst bietet Oliver das bekannte Schema von primären Bewältigungsaufgaben und damit konkurrierenden, vorwiegend als nutzlos empfundenen kirchlichen Angeboten. Dagegen setzt Timo das Modell einer übergeordneten Wahrheit: Es lohnt sich, sich immer wieder mit den gleichen Inhalten wie mit einem Grundschema für das eigene Leben auseinander zu setzen und die Lebensführung daran zu überprüfen: »Hab ich mich da letzte Woche dran gehalten?« Im Gespräch ergänzen andere Gruppenmitglieder dieses Votum: Regelmäßigkeit und sogar Eintönigkeit bekommen ihren Reiz als Kontrast zum wenig reflektierten Alltagsleben. Kein Gruppenmitglied erwähnt aktuelle, regelmäßige Gottesdienstbesuche. Auch der Besuch des Weihnachtsgottesdienstes ist nicht für alle selbstverständlich. Der regelmäßige Gottesdienstbesuch erscheint darum stärker als ein Sinnbild für die Relevanz des Religiösen in seiner christlich-kirchlichen Erscheinungsform. Die Gruppenmitglieder nutzen das Beispiel Gottesdienst bzw. Liturgie geradezu als fiktive Plattform für ein tiefer liegendes Thema: Haben die im Gottesdienst angebotene Methode der Spiegelung und Korrektur des Alltagslebens, die dort zu findende Repräsentanz einer übergeordneten Wahrheit und die Möglichkeit einer transzendenten Erfahrung einen Wert im Kontext der Lebensführung? Für die Mitglieder der Gruppe ist die Notwendigkeit eines kontrastiven Lebensbereichs neben dem Alltag unbestritten. Selbst Oliver möchte gern »abschalten und an was anderes denken«, für ihn ist jedoch ein Gottesdienst mit seinem inhaltlichen Anspruch und mit seinen Wiederholungen des immer Gleichen dazu nicht geeignet. Eher wäre für ihn eine wie auch immer gestaltete »Meditation« attraktiv, die er im Gottesdienst nicht erlebt. Für andere ist dagegen das Prinzip der »wiederkehrenden Liturgie« positiv besetzt, etwa im Sinn
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der erwähnten »Instanz«, mit der sich das Leben überprüfen lässt. Immer gleiche Formulierungen wirken »reinigend« und fördert die eigenen Möglichkeiten, das Alltägliche loszulassen. Hier wird sichtbar, wie Bedürfnisse nach Entspannung, kognitiver Beschäftigung mit dem eigenen Leben und spirituellen Angeboten aufeinander treffen und, je nach Bedürfnislage, in einem Gottesdienst unterschiedlich gut befriedigt werden. Für Oliver bedeutet Meditation Entspannung. Sie passt nicht mit der Beschäftigung mit christlichen Inhalten zusammen, weil diese selbst in liturgischer Form »nicht meditativ genug« sind. Dagegen lösen bei anderen Gruppenmitgliedern gerade die christlichen Inhalte, vor allem die liturgisch vergegenwärtigten und in vertrauten Abläufen präsentierten, eine Entspannung im Sinne einer Distanz zum Alltag aus. Das »spirituelle Bedürfnis« scheint für alle Gruppenmitglieder zweifellos wichtig zu sein, die unterschiedlichen Bewertungen eines Gottesdienstes bestimmen aber, ob dieses Bedürfnis mit einem Gottesdienst befriedigt werden kann oder eher nicht. Mit dem Bedürfnis nach Entspannung scheint das Bedürfnis nach dem Erlebnis von etwas Neuem, in gewissem Sinn sogar das Bedürfnis nach Unterhaltung zu korrelieren. Wo Oliver dem Gottesdienst und vor allem der Liturgie vorwirft, mit wenig reizvollen, stereotypen Abläufen die Entspannung zu verhindern, vermisst er zugleich etwas »Neues«, das für ihn einen echten Anreiz bieten könnte. Wo Gruppenmitglieder eher die Distanz zum Alltäglichen in den Vordergrund stellen, scheint dieser Faktor der Unterhaltung keine Rolle zu spielen. Jetzt wird vielmehr die Abwesenheit von Unterhaltung als Basis des spirituellen Angebots verstanden. Dass sich diese Bewertungen auf Kirche beziehen und nicht allgemein auf Möglichkeiten, Distanz vom Alltag zu gewinnen und spirituelle Erfahrungen zu machen, zeigt der Vergleich mit der Musik, zu der die befragte Gruppe vor allem zusammen kommt. Im Anschluss an den Gesprächsgang über die Kirche stellen die Beteiligten den Gottesdienst und den stärker von Kommunikation und gemeinschaftlichem Erleben geprägten Bereich der Musik einander gegenüber :
Jonas: Was was genau wie bei uns is, is auch die Musik als so ne wesentliche verbindende Sache, wo doch alle jetzt erstmal ihre Gehirnströme wahrscheinlich in etwa gleich schwingen haben in dem Moment, ja? Und Ja aber es is ja es is doch wie eher Julia: dann wie ich würd es eher empfinden wie K- ‘n schönes Konzert oder so wo man Spaß hatte wo /Jonas: Ja. Ja./ man euphorisch euphorisiert wurde und wo Timo: Das is es eben früher gab’s Musik nur im Gottesdienst, ganz ganz früher /Julia: Ja./ und dann ist es ausgekoppelt worden /Jonas: Mhm./ Julia: Aber das ist eben, also da würde d- dieses meditative Element, das beruhigende ausgleichende auf jeden Fall funktionieren aus der Sicht
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Fortsetzung Oliver: Ja das ist das meditative E- Element, aber auch das das Rituelle und das Gemeinschaftliche, also man hat wenn man Musik hat man also wenn man Musik macht oder auch wenn man ‘n Konzert hört, also w- oder auch wenn‘s ‘n Orgel-Konzert is, da is einfach nen nen Gemeinschafts- äh Gefühl also einfach dieses Gefühl: Wir .. ham eine Idee oder oder Timo: Das ist ja im Prinzip auch was Vorbewusstes, also könnt auch irgendwie was Nachbewusstes, aber ich meine Musik is so was, was irgendwie na nichts Abstraktes eigentlich .. also is irgendwie was was Unwillkürliches also .. also jedenfalls etwas, was was einen bewegt ohne dass man genau sagen kann warum und so /Oliver : Mhm./ man kann‘s analysieren, aber das sagt eigentlich auch wieder nichts Oliver: Sagt nicht so viel aus ja. Timo: Und äh dass das aus der Kirche sozusagen rausgegangen ist, also dass man dass es nicht mehr das Monopol der Kirche war, hat glaub ich der Kirche geschadet genau wie /Julia: Mhm./ die Welt- Welterklärung so die Weltschöpfungserklärung, dass man gesagt hat, na gut das können wer jetzt auch mit Naturwissenschaft erklären. Na gut ‘n Konzert können wer jetzt auch im Schloss machen .. oder Oliver: (unv.) Julia: Genau ja dieses .. das hat ja auch alles so das Mystische, und das Mysti- sche ist ja einfach weg aus der Kirche. Aus der evangelischen zumindest. Früher hat man früher hatten die Leute kein Timo: Radio, sag ich mal ganz platt, dann mussten sie halt sonntags in die Kirche. /Oliver?: Mhm./ (Mehrere kichern) Julia: Ja also weil ich würd zum Beispiel bei mir sagen, dass auf jeden Fall .. bevor ich mich in die Kirche setze, spiel ich schon lieber halt ‘n Konzert selbst oder. Bringt mir irgendwie mehr. [Studierenden-Ensemble Ost: 1400 – 1441]
Alle Gruppenmitglieder sind sich darin einig, dass Musik in der Gruppe zuerst als Gemeinschaftsmoment fungiert, und zwar jenseits inhaltlicher Übereinstimmung im Bereich der »Gehirnströme«. An dieser Stelle lässt sich eine Parallele ausmachen zu den kirchlichen Gruppen, die ebenfalls die Gemeinschaftserfahrung dem inhaltlichen Bereich ihrer Gruppe vorgeordnet hatten. Im Vergleich mit Religion oder Gottesdienst ist Musik eher mit Begriffen wie »Spaß« oder »Euphorie« besetzt. Und während die Möglichkeit zur Meditation im Gottesdienst offenbar nicht unmittelbar oder nur eingeschränkt gegeben ist, ist sie das zentrale Element der Musik. Das Verhältnis von Musik und Kirche ist selbst Thema des Diskurses. Die Gruppenmitglieder sind sich darüber einig, dass Kirche in der Vergangenheit, als einziger Ort der öffentlichen Präsentation von Musik, in geradezu perfekter Form sowohl über inhaltlich-religiöse als auch über spirituell-meditative Elemente verfügte. Wo Kirche aber auf dem Gebiet der Musik Konkurrenz bekommen hat und Musik heute allenfalls zu den anreichernden Elementen gegenüber dem eigentlichen inhaltlichen Kern zählt, hat sie umgekehrt die un-
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mittelbare Verbindung zur Musik verloren. Dieser Verlust ist in den Augen der Gruppenmitglieder weitreichender als auf den ersten Blick sichtbar, denn Musik transportiert in vieler Hinsicht spirituelle Elemente besser, als Predigt oder Liturgie das können. Zugespitzt formuliert könnte man sagen: Aus der Perspektive der Gruppe bietet die Musik erstrebenswerte Erfahrungen wie Gemeinschaftsgefühl, Entspannung, Meditation, Mystik oder Spiritualität in reiner Form, während die Kirche eine abgeschwächte, kleine Form davon präsentiert. Diese ist dann für einige Gruppenmitglieder noch zugänglich und in gewissem Maß attraktiv, andere empfinden es als schwaches und wenig ansprechendes Abbild. Geraten beide in Konkurrenz, kann Kirche nur verlieren: »Bevor ich mich in die Kirche setze, spiel ich schon lieber halt ‘n Konzert selbst«. Und: »‘n Konzert können wer jetzt auch im Schloss machen.« Angesichts der unter 1.2.2.1 und 1.2.2.2 beschriebenen Gegensatzanordnung zwischen Anwendungs- und Sinnorientierung ist vor allem die Rolle des Protagonisten Oliver hochinteressant: Während man zunächst meinen könnte, Meditation oder ein Zugang zum Bereich des Überpersönlichen, ja Spirituellen sei für ihn irrelevant, kommt zum Thema Musik eine ganz andere Einschätzung zum Tragen: Weder das »Rituelle« regelmäßiger Vorgänge oder Verrichtungen noch die Wertschätzung des Emotionalen und Affektiven durch die anderen Gruppenmitglieder rufen bei ihm Ablehnung oder Widerspruch hervor. Im Gegenteil: Was die Musik anbelangt, stimmt er jetzt ausdrücklich zu und formuliert selbst überpersönliche und vom Alltag völlig abgekoppelte Aspekte des Gemeinschaftsgefühls: »Wir ham eine Idee«. Zwar hält er die Versuche, dies genau zu beschreiben, für wenig effektiv (»Sagt nicht so viel aus«), er beteiligt sich aber ebenso wie alle anderen engagiert daran:
Oliver: Und da- und es hat eben was äh das ‘n meditatives Element .. und es hat‘n ‘n rirituelles Element das man sich irgendwie zusammensetzt und irgendwelche Dinge macht auch Timo: Aber ist ja auch teilweise sogar christlich ganz (unv.), also .. also so jetzt nicht nur Bach, sondern auch Reger glaub ich. Jonas: (unv.) Oliver: Ja gut es gibt auch ritu- äh christlich (unv.) Na ich mein die der Akt des Julia: gemeinsamen Musizierens m- muss einfach nach christlichem Ideal erfolgen, weil sonst funktioniert’s nicht so, dass es Spaß macht, oder. Also so würd ich Timo: (unv.) (Alle lachen) Julia: Okay .. ’s ist schon mal ?aufdröselbar? … Timo: Und was mich an genau (unv.) Julia: Ja des .. man braucht Feindesliebe auf jeden Fall. /Jonas: Mhm./ Tschuldigung
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Fortsetzung Oliver:
Also es is‘n es is es is‘n Gemeinschaftserlebnis eben mit allen Kompromissen, die man auch schließen muss dabei .. /Julia: Mhm./ Und die nimmt man halt gerne hin, weil’s was ist was einem ne transzendente Erfahrung bringt. [Studierenden-Ensemble Ost: 1446 – 1468]
Obwohl für die Gruppe die Musik einen klaren Vorrang vor der Kirche hat, sehen und würdigen alle die Verbindung beider : Musik nutzt und transportiert christliche Inhalte, das Musizieren basiert auf einem christlichen Miteinander. Das Mehr, das durch die Musik möglich wird, ist schließlich im christlichreligiösen Sinn eine »transzendente Erfahrung«. Dieser Gesprächsgang ist in seiner dichten Form, in der hohen Beteiligung und engagierten Sprechweise aller zentral innerhalb der Gruppendiskussion. Mit der expliziten Verbindung zur Musik rückt das oben eher fiktiv oder anhand von Erfahrungen aus der Vergangenheit beschriebene Bedeutungsspektrum von Kirche jetzt ins Zentrum des aktuellen Interesses. Wo aktuelle Studien über das Verhältnis der Menschen an Religion gerade der jungen Generation ein großes Interesse an Spiritualität bescheinigen, wird jetzt, bei aller Vorsicht im Umgang mit diesen Daten und ohne Anspruch auf Repräsentativität, sichtbar : Dieses Interesse ist tatsächlich vorhanden, es wird sogar in dieser intellektuell geprägten und an Reflexion des eigenen Interesses gewöhnten Gruppe explizit in verschiedenen Dimensionen formuliert. Es wird aber nur sporadisch, von einzelnen Personen mit speziellen Vorerfahrungen, und auch nur mit Einschränkungen oder in fiktiver Form auf Kirche bezogen. Wer, wie hier im Beispiel des Studierenden-Ensembles, Kirche mit Spiritualität unmittelbar in Verbindung bringt, erlebt diese Verbindung nur eingeschränkt: »Das Mystische ist ja einfach weg aus der Kirche.« Auf einer höheren Abstraktionsebene ergibt sich nun die Beobachtung, dass religiöse bzw. spirituelle Erfahrung für die Befragten einerseits als Gemeinschaftserleben, andererseits auch jenseits der Gruppe stark individualisiert verstanden ist. So ist der Bezug zur Kirche – sowohl als Ort von Gemeinschaft als auch als dezidierter Nicht-Ort religiöser Erfahrung – zu klären, was Gegenstand des folgenden Abschnitts sein soll.
1.2.3 »So’n Problem bei der Kirche« – Typische Hindernisse für Jüngere Die Frage, welche Aspekte von Kirche gerade für jüngere Menschen Hindernisse im Zugang zur Kirche darstellen, ist aus den Gruppendiskussionen nicht leicht zu beantworten. Hier finden sich reichlich Klischees, deren Bedeutungsgehalt
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für die Diskutierenden nicht immer ersichtlich wird. An zwei Themenbereichen möchte ich solche Hindernisse beispielhaft darstellen und den Zusammenhang mit der spezifischen Bedürfnislage jüngerer Menschen überprüfen: am Beispiel der (mangelnden) Modernität der Kirche und am Beispiel ihrer (als unattraktiv empfundenen, ausschließlichen) Orientierung an Schwachen und Hilfsbedürftigen. 1.2.3.1 Die »veraltete« Kirche und die Anforderungen der Moderne Die These, Kirche sei »veraltet«, findet sich in nahezu jeder Gruppendiskussion wieder und darf angesichts der auffallend parallelen Formulierungen als Klischee bezeichnet werden. Der Aussagewert muss jedoch in jeder Gruppendiskussion neu überprüft und auf seine Bedeutung, etwa für den Gesprächsverlauf, untersucht werden. Zunächst beziehen sich die Formulierungen aus den Gruppendiskussionen ausschließlich auf die unzureichende Modernität der Kirche, wie im Beispiel der kirchlichen Jugendgruppe: Rico: also ich muss auch mal sagen, was die Jugendlichen von heute angeht, ist der Zeitgeist ein bisschen an der Kirche vorbeigelaufen. [Jugendgruppe West, 453 – 455]
Sehr ähnlich formuliert die kirchliche Gruppe der jungen Erwachsenen: Rolf: Ich denk, dass mh so ’n bisschen provokanter, dass die Kirche insgesamt so ’n bisschen den Zahn der Zeit verschlafen hat einfach. [Junge Erwachsene West, 520 – 521]
Und ebenso die Mitglieder des Studierenden-Ensembles: Julia: Ja ich empfind’s eben aber so, dass die Kirche dann irgendwo stehen geblieben is. [Studierenden-Ensemble Ost: 903 – 904]
In keiner der Gruppen bleibt eine solche Stellungnahme jedoch im Lauf der Diskussion unkommentiert. Das Studierenden-Ensemble rückt das Urteil Julias in den Kontext gesellschaftlicher und vor allem weltanschaulicher Veränderung. Wo damals der »naive« Glaube in »gewissen Grenzen« bleiben durfte, so dass die »Orientierung« jederzeit gegeben war, hat Kirche große Einflussbereiche ihrer Deutungsmacht eingebüßt, etwa in den Naturwissenschaften und der Psychologie. Obwohl die Gruppenmitglieder sich im positiven Sinn als durch den Rationalismus geprägt verstehen, blicken sie mit Wehmut auf die Zeit kirchlicher Weltdeutung zurück und kommentieren die Veränderung mit: »Is zum Teil aber auch schade.« [Studierenden-Ensemble Ost: 905 – 906] Somit ist die Bemerkung, Kirche habe sich nicht oder nur unzureichend weiterentwickelt, nicht primär
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kritisch, sondern als Beschreibung einer je nach Perspektive negativ oder positiv zu bewertenden Wirklichkeit gemeint. Die Entwicklungen der Naturwissenschaft und die Errungenschaften der Aufklärung haben sich überwiegend außerhalb der Kirche vollzogen. Möglichkeiten der Kirche, diese Einflussbereiche zu wahren, sieht die Gruppe nicht. Indem der Einfluss der Kirche jedoch durch die Jahrhunderte so stark zurückgegangen ist, verbinden heute selbst Menschen, die einen hohen Wert auf Moralvorstellungen legen, diese nicht mehr mit der Kirche: Julia: Na solange die Sinnfrage nicht geklärt is glaub ich, werden Menschen immer irgendeinen Halt suchen, aber heute is es halt nur noch‘n Bruchteil der Menschen, der diesen Halt /Jonas: Ja./ in der Gemeinde oder in der Kirche sucht. [Studierenden-Ensemble Ost: 948 – 951]
An dieser Stelle erscheint nun die problematische Situation der Kirche nicht durch die Kirche selbst, etwa durch das Verharren in alten Deutungsmustern verschuldet, sondern wird verständlich in der Nichtanpassung der Institution bzw. Organisation an die gesellschaftlichen Veränderungen. Ganz ähnlich deuten die Mitglieder der Gesprächsgruppe junger Erwachsener die Situation. Zwar hat die Kirche »den Zahn der Zeit verschlafen« und »präsentiert« sich mangelhaft »nach außen«, vor allem aber hat sich die Gesellschaft als ihr Wirkungsbereich stark verändert: Rolf: Also mh .. es es hat sich aus meiner Sicht sich die Gesellschaft eigentlich erheblich gewandelt in in den letzten zehn fünfzehn Jahren, durch .. ja .. vor allem durch durch unsere Medienwelt et cetera so. Jeder hat ein ein irres Angebot an Freizeitgestaltung im Prinzip [Junge Erwachsene West: 523 – 526]
Die Veränderung der Gesellschaft mindert in den Augen der Gruppenmitglieder die Möglichkeiten der Kirche, mit ihrer Botschaft eine Relevanz für die Menschen und ihre Lebenswirklichkeit zu behalten, ganz beträchtlich. Aufgabe der Kirche kann es keinesfalls sein, gegen diese Veränderungen anzuarbeiten, vielmehr muss sie versuchen, ihre Arbeit unter den veränderten Bedingungen zu leisten.215 Als Kern des Problems erscheint jetzt ihr öffentliches Auftreten oder gar ihr Image: Ohne die Wahrnehmungsgewohnheiten und Bedürfnisse der Menschen ändern zu wollen, muss Kirche dennoch neue Strategien finden, den Interessierten ihre Leistungen zu verdeutlichen und ihre Angebote plausibel zu machen. Eine Gruppe von Trainees in einem süddeutschen Konzern, die fast alle aus der Kirche ausgetreten sind, zeigt, wie die inhaltliche Botschaft der Kirche und 215 Zur These einer »Kirche in Konkurrenz« vgl. Schulz, Kirchenmitgliedschaft, 123 – 125.
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die Ebene der Präsentation ineinander verwoben sind. Interessanterweise beziehen sich diese Gruppenmitglieder, zum Teil trotz Herkunft aus der evangelischen Kirche, auf den Katholizismus, weil dort entscheidende Faktoren deutlicher sichtbar werden: Karin:
Ja, ich find sowieso, dass die [Kirche] sich in meinen Augen extrem wandeln muss, um überhaupt bei den jungen Leuten anzukommen, und auch, ich weiß nicht, manchmal habe ich den Eindruck, sie ist sich auch ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht so ganz bewusst, auch wenn, also gerade wenn es um Aussagen vom, vom Papst geht, was Verhütung anbelangt, was /Michael: (leises Lachen)/ ähm. Jaa (sich rechtfertigend), also ich mein /Michael: (bestätigend) Ja./ Das sind doch alles ganz wichtige Sachen, warum leben denn so viele in der Dritten Welt, ähm, werden so viele Kinder geboren in Armut und so weiter. Also die, das geht mir halt irgendwo nicht in den Kopf rein, ja. Also, es sind äh, es ist zum Beispiel ’n wichtiger Grund dafür, warum ich nicht in der Kirche bin, also (1) das, da äh gibt’s meines Erachtens so viele Sachen, die (1) die in der Kirche nicht richtig laufen. (2) Michael: (zustimmend) Mhm. (3) Stefanie: Ich weiß nicht, von Kirche, das fixiert sich jetzt also halt arg auf die katholische Kirche, weil bei der evangelischen sieht’s ja auch noch mal anders aus. Ist klar, okay. Mhm. Karin: [Trainees West: 1715 – 1733]
Kirche wäre aus der Perspektive dieser jungen Menschen dann eine ernst zu nehmende Organisation, wenn sie Glaubensaussagen im Bewusstsein gesellschaftlicher Probleme formulierte. Dies ist zum Beispiel bei der Stellungnahme der katholischen Kirche zur Frage der Empfängnisverhütung nicht der Fall. Hier werden Überzeugungen veröffentlicht, ohne die Konsequenzen für die Menschen in verschiedenen Ländern zu berücksichtigen. Eine Stellungnahme der Kirche heißt für diese Gruppe immer eine Stellungnahme angesichts der Situation, in die hinein formuliert wird. Ist die Differenz zu groß, gibt also die Botschaft unzureichende oder unpassende Antworten auf akute Fragen, kann sie nicht ernst genommen werden. In der weiteren Diskussion gerät die Differenz zwischen evangelischer und katholischer Kirche in den Mittelpunkt der Diskussion. Abgesehen von weiteren bekannten Klischees kommen jetzt die Wahrnehmungsgewohnheiten der Gruppe zum Tragen, die für stark medial beeinflusste jüngere Menschen vermutlich typisch sind: Michael: Stefanie: Michael: Stefanie: Karin:
Wie ischt ’n das in der evangelische? Ich kenn mich da ja nich so aus. Inwiefern? Ja, grad so, wie sie’s gsagt hat. Machet die mehr für junge Leut oder Das würd ich jetzt nicht sagen, aber es gibt zumindest, soweit ich das weiß, keine pauschalen Aussagen in dem Sinne von keine Verhütung und Ist ja auch ?anders?
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Fortsetzung Ja irgendwie, nehmen die Einfluss in Lateinamerika und Afrika? Schicken die da auch ab und zu so ’n Abgesandten hin, der vor Zehntausenden von Menschen spricht oder (1) Stefanie: Gute Frage. Also ich Jochen: Ja, ich seh immer nur den Papst mit seinem Gogomobil. (mehrere lachen durcheinander) Karin: (lacht) Gogomobil. (mehrere reden lebhaft durcheinander) Stefanie: Ja, das ist ja auch viel spektakulärer, wenn da so’n 90 Jähriger da durchgurkt und dann so macht, weil er sich kaum noch aus dem Bett rausheben kann, weil er schon halb tot ist, als wenn dann einer, was weiß ich, ’n Pfarrer von der evangelischen Kirche dahinmarschiert. (mehrere reden durcheinander) […] Michael: Also, da verstehe ich zum Beispiel auch vieles nicht nicht, was, was da vom Vatikan kommt. Ich meine, das sind halt die ganzen Sache, wo viele Leut dann de Kopf schütteln und sagen, es wäre eigentlich sinnvoll, wenn da was Neues kommt. Karin: Ich denk, die sind zu ab von der Welt. Jochen: Bräuchte man ’n neuen Marketingleiter. (alle lachen) [Trainees West: 1734 – 1799] Jochen:
Das von der Gruppe wahrgenommene kirchliche Engagement bezieht sich nicht primär auf christlich-religiöse Inhalte, auf Gottesdienste, Predigten, Seelsorge, Amtshandlungen oder Angebote in Kirchengemeinden, sondern auf ein Engagement in Ländern außerhalb Europas und der so genannten westlichen Welt. Dieses Engagement wird von den Diskutierenden nicht, wie man vermuten könnte, zuerst als soziales Engagement für Not leidende Menschen wahrgenommen. Kirche erscheint zunächst als Parallele zu staatlichen, vielleicht sogar wirtschaftlichen Organisationen und möchte »Einfluss nehmen«. So verschwindet auch eine mögliche konkrete Hilfe hinter dem Auftritt des »Abgesandten«, der medienwirksam eine möglichst große Gruppe von Menschen erreicht, in den betreffenden Ländern selbst und noch viel stärker das Publikum der globalisierten Welt vor dem Fernseher. Dass die Figur des Papstes in ihrer Wirksamkeit unbesehen alle Präsentationen anderer Glaubensgemeinschaften übertrifft, räumen auch Gruppenmitglieder ein, die zuvor die evangelische Kirche verteidigt haben. Die Gruppe verlässt jetzt die Ebene der sachlichen Diskussion und gibt sich, noch mit Bezug auf Johannes Paul II., mit einer Mischung aus Spott und Begeisterung dem »Erlebnis Papst« hin. Auch Gruppenmitglieder, die zuvor an der Diskussion über das Thema Kirche kaum beteiligt waren, lachen mit, verharren bei der Szene an der Grenze zur Skurrilität und bilden für einige Sekunden das Publikum für den Papst-Auftritt. So punktet die evangelische Kirche in der weiteren Diskussion mit eher zeitgemäßen Organisationsstrukturen und Handlungsformen (Frauen im Pfarramt, Zurückhaltung in moralischen Fragen etc.), während die katholi-
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sche Kirche selbst in dieser höchst kritischen Gruppe Respekt für ihre mediale Präsenz bekommt. In einem Zwischenschritt kehrt die Gruppe der Trainees zu inhaltlichen Fragen zurück. Michael, einziges Mitglied der Gruppe, das (noch) der katholischen Kirche angehört, kann sich auf der Basis des medialen Erlebnisses, das die Gruppe am Beispiel des Papstbesuchs präsentiert hat, die Plausibilität seiner Kirchenmitgliedschaft bewahren und muss lediglich eine Distanz zu päpstlichen Enzykliken markieren. Man könnte interpretieren: Wo ein Kirchenvertreter sich derart eindrücklich präsentiert, wird ihm möglicherweise verziehen, wenn inhaltliche Äußerungen mit der eigenen Lebenswirklichkeit nicht vereinbar sind. Die Konklusionen am Ende der Sequenz verschaffen der Gruppe einen Konsens: Kirche ist nicht grundsätzlich veraltet oder überflüssig, sondern einfach sehr weit von der Alltagswelt der Gruppenmitglieder entfernt. Von hier aus gilt der Kirche ein fast spöttischer Vorschlag der Gruppe über das »Marketing«, die Vermittlung (möglicher) Leistungen der Kirche an die Außenwelt unter Berücksichtigung ihrer Wahrnehmungsgewohnheiten. Interessant bleibt die Differenz zwischen dieser gegenüber der Kirche distanzierten Gruppe und den beiden anderen Gruppen im gleichen Alter auffällig: Während die Trainees den Abstand der Kirche zur Welt als Mangel beschreiben, ist dieser Abstand für die Mitglieder des Studierenden-Ensembles ebenso wie für die Gruppe der Jungen Erwachsenen eher eine kaum zu vermeidende Differenz, die zugleich positive Effekte hat, etwa indem hier das ganz Andere sichtbar wird. Was die Trainees in einer kritischen Wertung mit Blick auf die Gesamtbevölkerung formulieren, schildern die Mitglieder der (oben bereits eingeführten) kirchlichen Jugendgruppe mit Blick auf ihre eigenen Bedürfnisse innerhalb der Kirche. Hier wird die Außenperspektive der Trainees ergänzt: Die Jugendgruppe betrachtet Kirche von innen heraus – und dennoch mit einer erheblichen Distanz zur gesamten Organisation. Wo diese Diskutierenden zunächst Kirche allgemein als wenig zeitgemäß empfinden, zeigt sich im weiteren Gesprächsverlauf in einem Bericht der Jugendleiter, dass dieses Urteil auf die eigenen Altersgenossen und die Kirche außerhalb der eigenen Jugendgruppe gemünzt ist: Ben?:
De- dazu dazu kommen dann noch die Schwierigkeiten, in ?unfähigen? Gremien das äh .. die Evangelische Jugend o- oder so was, die einfach (Rico lacht) (lachend) ja ist doch so. Also wir sind selbst da drinne, so. Aber es is
(Lachen) Rico: ?Wird ja nicht? (unv.) Ben: Also was was .. einfach was man .. wo man denkt so, okay, das Rico?: Ja, wBen: Da da müssten eigentlich s- fitte Leute sin- so so Jugendarbeiter sein und so ’n, die wirklich die .. die C-Städter Kirche dann bisschen hochziehen wollen und dann wirklich was reißen wollen. Stattdessen diskutieren die da über so banale
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Fortsetzung Sachen, /Rico: Mhm. Genau./ was einfach nur lächerlich is. Und d- das Durchschnittsalter ist sechzehn, so. Marvin?: Na so was. (Lachen) Ben: Das geht einfach nicht. Dustin: Ich würde aufhören. [Jugendgruppe West: 465 – 484]
Der Jugendleiter Ben klagt nicht über eine Überalterung der Gremien, ebenso wenig über eine möglicherweise nicht mehr zeitgemäße Struktur, sondern über die wenig bewegliche Denkweise der anderen Mitglieder innerhalb der gestaltenden Gremien. Ob »banale Sachen« diskutiert werden oder die Beteiligten »was reißen wollen«, entscheidet für ihn darüber, ob das eigene Engagement als sinnvoll erlebt wird. In der Logik der Gruppe ist es nahe liegend, sich vorrangig auf die eigene Gruppe als positiven Erfahrungsraum für Kirche zu konzentrieren. Alles Engagement darüber hinaus ist wenig attraktiv, weil es wenig Gestaltungsmöglichkeiten verspricht und nicht die erhoffte Gemeinschaft mit Menschen, die Kirche bewegen oder »hochziehen« wollen. Diese deutlich kritisierte Erscheinungsform von Kirche oder kirchlichen Gremien bedeutet, das zeigt der weitere Gesprächsverlauf, nicht eine tatsächliche Distanz: Trotz großer Kritik bleiben die Jugendleiter in der Evangelischen Jugend engagiert. Möglicherweise entspricht die hier kritisierte Form der Gremienarbeit auch dem, was die Jugendleiter letztlich reizt, sich weiterhin zu beteiligen und um eine Identifikation zu ringen. Das Gremium und die Gruppe geraten in einen Gegensatz, in dem beide Elemente sich gegenseitig plausibel machen oder in ihrer Relevanz bestärken. Der Vorwurf mangelnder Beweglichkeit der Kirche ist keine spezifisch »junge« Erscheinung. Diese Kritik äußern zahlreiche Gruppen, vorrangig mit Blick auf Jüngere, und zwar je stärker desto mehr sich die Kritik auf Gremien oder Leitungsebenen bezieht, zu denen die Gruppenmitglieder keinen eigenen Kontakt haben. So äußern stark kirchenverbundene Mitglieder des Kunstvereins den Verdacht, die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung sei auf der Leitungsebene kein Anlass, die (möglicherweise veränderten) Interessen der Mitglieder zur Kenntnis zu nehmen und gegebenenfalls selbst etwas zu verändern: Eva: Und welchen Zweck hat das? Das möchte ich mal wissen. Ich meine, Sie äh haben ja schon gesagt, äh, äh, dass Sie gerne wissen möchten, wie wir über bestimmte Sachen denken und so was. Welche Folgen hat das .. für die Landeskirche? Macht die was da draus? […] Ändert sie sich zum Beispiel [Kunstverein West: 79 – 82]
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Als Erfahrungskontext benennt Eva frühere Mitgliedschaftsuntersuchungen: Eva: Denn es ist ja schon sehr häufig gemacht worden und, also ich muss sagen, äh, ich bin schon länger in dieser Landeskirche, und also so viele Folgen hab ich dann noch nicht gesehen. [Kunstverein West: 92 – 95]
Für ältere Kirchenmitglieder, das ist in den unterschiedlichen Gruppen immer wieder zu beobachten, ist die Beweglichkeit der Kirche vor allem dann ein Kriterium, wenn es um mögliche Zugänge für jüngere Menschen geht. Diese Menschen brauchen, so vermuten die Älteren, vor allem Halt und Orientierung. Dieses Bedürfnis äußert sich etwa im Interesse an Kirchentagen, wird aber in den wenig ansprechenden »normalen« kirchlichen Veranstaltungen nicht befriedigt: Beate: Und ich denke, das zeigt schon, dass auch gerade die jungen Leute irgendwo versuchen, äh ’n Halt oder Wurzeln irgendwo zu finden, aber so in dieser normalen, sagen wir mal normalen Kirche, wenn ich mir überlege, wenn man so am Sonntag in den Gottesdienst geht, dass sie, da kann ich keinem verdenken, dass er da nicht hingeht als junger Mensch, weil das bietet denen wirklich überhaupt gar nichts. Lisa: Das es bietet auch oft den Erwachsenen nichts. Beate: Das ist richtig. Ulrich: Genau. [Kunstverein West: 800 – 808]
Die Ausstrahlung des Gottesdienstes auf junge Menschen wird zum Kriterium für dessen Qualität, implizit auch mit Blick auf die eigenen Bedürfnisse. Ein Bedarf an Halt und Orientierung jedoch, den die Älteren bei den Jüngeren vermuten, wird von diesen nur in allgemeiner Form geäußert und ist an keiner Stelle zentrales Thema des Gesprächs im Kunstverein. Dass ein solcher Bedarf tatsächlich keine Rolle spielt, lässt sich in dieser indirekten Form und mit dem Instrument der Gruppendiskussion nicht belegen. Interessant ist es aber, dass er an keiner Stelle von einem Mitglied der befragten Gruppen mit Blick auf die eigene Person geäußert wird. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Diagnose, Kirche sei veraltet, unbeweglich und nicht bereit, sich gemäß der gesellschaftlichen Veränderung ebenfalls zu verändern, ist kein Vorwurf speziell junger Menschen. Dass Kirche einen großen Teil ihres Einflusses auf die Gesellschaft verloren hat, bedauern nahezu alle Diskutierenden. Ebenso halten dies aber alle für eine unveränderliche Situation, für die die Kirche nicht in jeder Hinsicht die Verantwortung trägt. Dass Kirche einen Halt im Leben bieten kann, betonen Mitglieder der verschiedenen Gruppen. Ein solcher Halt wird vor allem dort zugänglich, wo man ihn von den Eltern oder anderen Bezugspersonen in der Kindheit und
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Jugend vermittelt bekommt. Auf diese Weise ist es (aus der Perspektive der jüngeren Gruppenmitglieder) an keiner Stelle einem konkreten kirchlichen Angebot anzulasten, wenn Menschen hierzu keinen Zugang finden: Nur wer bereits einen wie auch immer gearteten Zugang hat, kann kirchliche Angebote nutzen, um dort für sich Orientierung, Unterstützung etc. zu bekommen. Nur implizit äußern die jüngeren Kirchenmitglieder die Erwartung, Kirche möge ihnen selbst Halt oder Orientierung bieten. Möglicherweise erklärt sich das durch den konsequent individualistischen Zugang der jüngeren Befragten zur Religion: Wo ich nur ganz persönlich etwas für mich Wesentliches erleben kann, ist dieses Erleben auch nur für mich nachzuvollziehen. Es ist kaum denkbar, dass ein kirchliches Angebot, z. B. ein Gottesdienst, Orientierung für alle Teilnehmenden oder gar für eine ganze Generation anbieten kann. Wo der Glaube ganz allein meine Sache ist, können Angebote maximal Anregungen bieten und meine Auseinandersetzung befördern. Auf die Zukunft hin gesehen ist es in den Augen kirchlicher Gruppen die Aufgabe der Kirche, ihre Anregungen zu individueller Aneignung religiöser Elemente und die entsprechenden Orte oder Erlebnismöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Dies ist besonders im Hinblick auf die Präsentation der Möglichkeiten von Kirche und ihre Vermittlung an Interessierte eine Herausforderung. Entscheidend ist, dass sich etwas Wichtiges bewegen und gestalten lässt. Wo das nicht der Fall ist, wirkt selbst ein mit Jugendlichen besetztes Gremium wie ein Kreis von Menschen, die stärker an der Bewahrung statt an der Gestaltung des Neuen Interesse haben. Nichtkirchliche Gruppen äußern diesen Anspruch an eine adäquate Vermittlung noch präziser : Ein gutes kirchliches Angebot, sei es stärker auf Inhalte oder stärker auf Handlungen bezogen, muss kontextbezogen vermittelt sein, also die Lebenssituation der Betroffenen berücksichtigen. Wo gesellschaftliche Themen oder veränderte Bedingungen einbezogen werden, ist dies gelungen. Am Beispiel des Papstes wird außerdem sichtbar : Eine gute Vermittlung des kirchlichen Angebots bietet ein (mediales) Erlebnis, dessen Charakter schließlich relevanter ist als die abstrakte, christlich-religiöse Botschaft. 1.2.3.2 »Kirche für andere« gegen den Wunsch nach Gestaltungsmacht Im quantitativen Teil der Untersuchung war die unabhängige Gestaltung des eigenen Lebens besonders bei Befragten unter 30 Jahren als relevant erschienen, ein »Leben, das in gleichmäßigen Bahnen verläuft«, dagegen als besonders unattraktiv.216 Daraus ergibt sich nun die Frage, ob sich denn Berührungspunkte 216 Vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, hier Bezug nehmend auf die Frage 41, 475.
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zwischen einem Bedarf der Jüngeren an der möglichst weit reichenden Gestaltung des eigenen Lebens einerseits und ihrer Bewertung von Kirche andererseits ausmachen lassen. In der Diskussion der kirchlichen Jugendgruppe war bereits zu Anfang in der Frage, was im Leben wichtig sei, die unübertroffen große Bedeutung der eigenen Lebensgestaltung beispielhaft plakativ benannt worden: Dass man einfach glücklich ist aus den Dingen, die man selbst macht, und .. (Seufzen) die ?man schon? Dustin: So wie ich zum Beispiel schon stolz bin, wenn wir unten den Raum fertig gestrichen haben. Ich hab vorher in meinem Leben noch nie so was gemacht. Rico: Ja, und ich bin auch der Meinung, dass Gestalten eines der wichtigsten Dinge ?über’s? Glück also zum Glück ist. Wenn ich nicht gestalte, oder keinen Raum fülle, dann kann ich .. fühl ich mich unglücklich, weil ich nichts .. erreicht habe. [Jugendgruppe West: 132 – 142] Rico:
»Glück« und eigene Gestaltung des Lebens sind für die Mitglieder der Jugendgruppe unmittelbar miteinander verknüpft. Die Mitglieder des (nicht-kirchlichen) Studierenden-Ensembles sind einige Jahre älter und formulieren dieses Motiv »Glück durch Gestaltung« bereits auf die eigene Zukunft hin. Hier kommt zum Aspekt des Gestaltens als Lebensziel noch der ebenso relevante Aspekt der Weiterentwicklung von etwas Neuem: Oliver: Na Familie seh ich eigentlich auch als Ziel in meinem Leben, also auch eigene Familie irgendwann zu gründen .. und es ist aber auch .. also ähm .. bei mir auch, ich denk auch immer mal so ‘n bisschen, wenn wenn man jetzt so sein Lebensziel ähm beschreiben sollte, ist bei mir auch immer so, dass ich immer irgend ne Entwicklung vor Augen habe, also dass ich mich immer freue, wenn ich irgend ne Entwicklung durchgemacht habe, und sei’s jetzt in der Musik, dass ich ähm was Neues erreicht habe ähm, also mich selber auf ne neue Stufe gebracht habe, aber auch ne Familie zu gründen, ist für mich ne Entwicklung einfach, ne. Ne neue neuen Lebensabschnitt .. und wo auch immer neue Dinge entstehen draus einfach Jonas: Ja das Entstehen /Julia: Ja./ ich denke das ist eines der Grundprinzipien /Julia: Genau./ des des Lebens ist das irgendwas schaffen, irgendwie was ‘n bleibenden Eindruck zu hinterlassen, auf irgend ne Art und Weise und /Timo: Mhm./ ähm ja irgendwas was was schaffen, für sich oder auch für die Nachwelt oder so/Timo: Mhm./ ja da ist das mit Familie im Prinzip Timo: ist ja das Einzige was bleibt Jonas: Ja, ja eben .. Oliver: Ja nicht unbedingt, also man schaffen oder oder ne Entwicklung, was da entstehen lassen, kann man ja auch in anderen Lebensbereichen, also wenn man zum Beispiel Musik macht und irgend nen Konzert hatte, .. dann ähm ist das ja für den Zuhörer auch nen Erlebnis /Timo: Mhm./ wo man sich aber erst, also wo man sich ganz lange für entwickeln muss, um zu diesem Ergebnis zu kommen, was was der Zuhörer dann erleben kann. .. Und .. oder auch wenn man, ich denke wenn man sich .. weiter bildet über irgend nen Thema … also wenn man wenn man über irgendwas liest.
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Fortsetzung nicht zweckgebunden Oliver: Ja genau .. dass dass man sich da auch mal wieder entwickelt in ne bestimmte Richtung, dass man auch mal wieder neue Gedankengänge findet .. Timo: Ja ich finde es wichtig, sich auch hin und wieder mal auf was Neues einzulassen, wo man vorher nicht weiß, was rauskommt, das ist ja zum Beispiel genau da musst ich dran denken, Familie, also (alle lachen) zum Beispiel, weil also ziemlich wahr Julia: Timo: weil das ähm weil man da ja vorher überhaupt nicht weiß, wie’s wird [Studierenden-Ensemble Ost: 120 – 157] Timo:
Die Mitglieder dieser Gruppe definieren den Menschen als ein Wesen, das immer in Entwicklung begriffen ist. Das Schaffen von etwas Neuem bedeutet damit das »Grundprinzip«: das immer wieder neue Erschaffen der eigenen Person sowie das Sichern von etwas, das am Ende des Lebens »bleibt« und als absoluter Wert gezählt und »hinterlassen« werden kann. Die Gründung einer eigenen Familie ist in dieser Hinsicht als doppeltes Ziel zu verstehen: Es bedeutet die Bewältigung eines neuen Lebensabschnitts und ist zugleich eine Begegnung mit dem Unvorhersehbaren. Vergleicht man nun diese Haltungen zum Thema »Lebensziel« mit den Einschätzungen der Situation der Kirche, verdeutlicht sich das Bild: Besonders in den Diskussionen in nicht-kirchlichen Gruppen werden nun Einschätzungen sichtbar, die die Leistungen der Kirche speziell für Menschen in Notsituationen oder in Krisenzeiten würdigen, jedoch kaum eine positive Einschätzungen für das Alltagsleben der Diskutierenden deutlich werden lassen. Dies lässt sich exemplarisch in der Diskussion mit den Trainees veranschaulichen: Özkan: Ich denk, ich denk, wir sind bei dem Abhängigkeitsgefühl. Wenn wir von der Kirche abhängig wären und Zuhilfe und Zuschutz und keine Ahnung etwas anderes bräuchten, dann wär auch der Trend dahingehend äh da, und ich glaub, dadurch, dass wir jetzt äh der Trend geht dahin, dass die Gesellschaft eigentlich gut lebt und sagt, ja, man braucht die Kirche nicht. [Trainees West: 1801 – 1805]
Oben war bereits in der Diskussion des Studierenden-Ensembles eine Deutung gezeigt worden, die die Welt des Alltags mit seinen lösbaren, praktischen Problemen der Welt der Kirche mit seinen unlösbaren, abstrakten Problemen gegenüberstellt worden (vgl. 2.2): In dieser Gesellschaft, die ja […] ne relative Wo- Wohlstandsgesellschaft is, […] hat man jetzt nicht Probleme, die man nicht lösen also gar nicht lösen kann […] in der Kirche beschäftigt man sich mehr mit .. abstrakten Problemen, also Probleme, die einfach unlösbar sind wie der Tod. [Studierenden-Ensemble Ost: 1260 – 1267]
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Kirche ist in dieser Deutung, unter der Bedingung des Wohlstands, eine Organisation, die zur Bewältigung des alltäglichen Lebens nichts beizutragen hat und sich Themen widmet, für die der mitten im Leben stehende Mensch keine Kapazitäten hat. Erst dort, wo Einfluss und Gestaltungsvermögen des Menschen in den Hintergrund rücken, weil das Leben selbst in Frage steht, kann Kirche eine Relevanz bekommen. Aus diesem Gesprächsgang wird nicht ersichtlich, ob eine solche Relevanz in den Augen der Befragten beispielsweise in Zeiten der Bedrohtheit des eigenen Lebens, bei einer schweren Krankheit oder in Krisenzeiten höher wäre. Sicher ist jedoch: Wo den Gruppenmitgliedern die Bewältigung des eigenen Lebens unproblematisch erscheint, fällt es schwer, der Kirche im Alltag eine relevante Funktion zuzuweisen. Im besten Fall kann Kirche, wie unter 2. beschrieben, zur umfassenden Deutung des Lebens jenseits des Alltagslebens Anregungen bieten oder den Raum für eine solche Reflexion zur Verfügung stellen. In dieser Hinsicht scheint Kirche aus der Sicht der Diskutierenden tatsächlich wenig Anknüpfungsmöglichkeiten für den Bedarf an eigener Gestaltung des Lebens zu bieten. Ein Auszug aus der Diskussion im Studierenden-Ensemble, der dies ausdrücklich als Missverhältnis benennt, soll das verdeutlichen: Julia: Also mhm das trifft sicherlich nicht allgemein zu, aber ich finde ähm ihr [der Kirche] wird schon die Rolle zugeschoben, dass wenn‘s mir schlecht geht, kann ich immer noch in die Kirche gehen. Und das ist ja eigentlich genau das, was Jesus nicht gepredigt hätte, also er hat natürlich gesagt, alle können zu mir kommen, auch wenn ihr böse seid, aber .. also soweit ich das den- also ich denke das funktioniert eigentlich nur mit nem kontinuierlichen Glauben dieser (lachend) Effekt, den man sich dann wünscht vielleicht auch. Ahm .. ja und also vor allem was auffällt ist, dass die Kirchen ja eigentlich fast nur mit Senioren bestückt sind oder halt oder der Kindergottesdienst mit jungen K- mit kleinen Kindern, die da Spaß finden, Beschäftigung .. aber das diese ganze Welt dazwischen, Jugendliche und vor allem die Arbeitswelt irgendwie sich aus Zeitgründen und auch einfach aus .. ähm mangelnder persönlicher Notwendigkeit offenbar da nicht mehr einfindet. [Studierenden-Ensemble Ost: 1115 – 1128]
Julia präsentiert zwei Sichtweisen auf Kirche und Glauben: Zum einen repräsentiert sie ihre eigene, aktuelle Sichtweise, mit der es verhältnismäßig unsinnig erscheint, als gesunder, mit der Ausbildung quasi berufstätiger Mensch in der Kirchengemeinde beheimatet zu sein. Aus dieser Perspektive gibt es einerseits die Menschen, denen es »schlecht geht«, weil sie in eine Krise geraten sind oder aus anderen Gründen Schutz oder Hilfe brauchen, und auf der anderen Seite Menschen, auf die das nicht zutrifft und die Julia interessanterweise nicht als die Starken, sondern als die »Bösen« bezeichnet. In dieser Perspektive ist man ist entweder Opfer der herrschenden Verhältnisse oder Täter. Entweder man gestaltet sein Leben oder man kann es noch nicht bzw. nicht mehr. Dann, als Kind
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oder als von Problemen belasteter oder älterer Mensch, hat man automatisch einen Zugang zur Kirche. Weil Julia lange Zeit durch das Leben in einer Kirchengemeinde geprägt wurde, kennt sie auch eine andere Sichtweise, die sie als Perspektive der Kirche identifiziert und die sie auch »eigentlich« für die richtige hält. »Alle können zu mir kommen« als Botschaft Jesu meint eine Integration aller Menschen. Dies umzusetzen, sich also auch als gestaltungsmächtiger Mensch am Leben einer Gemeinde zu beteiligen, erfordert einen »kontinuierlichen Glauben«, der vermutlich eine Art Wechsel der Denkgewohnheiten meint. Ohne dies empfindet Julia unwillkürlich eine »mangelnde persönliche Notwendigkeit«, was auch bedeutet, dass sie sich nicht um eine Integration in eine kirchliche Gemeinschaft bemüht. Man kann vermuten, dass diese Gruppenmitglieder, die sich selbst als gestaltungsmächtig empfinden, Schwierigkeiten haben, sich etwa in einer Gemeinde zu verordnen, wenn diese (in der Außenwahrnehmung) als Gemeinschaft der wenig Gestaltungsmächtigen oder der eher naiv Denkenden erscheint. Mit dieser Haltung korrespondiert die Kritik an anderer Stelle im Gespräch, Kommunikation innerhalb der Kirche, etwa im Gottesdienst, sei eben nicht das gewünschte soziale Ereignis, sondern nur ein passives Erleben der Beteiligten: Timo: Aber in gewisser Weise find ich eben seh ich auch so‘n Problem bei der Kirche, dass dass es irgendwie ‘n Haufen Leute da is, in deren Inneren jetzt was passieren soll oder vielleicht auch passiert, aber eigentlich kommunizieren die gar nicht untereinander, sondern es ist eben mehr so ne Berieselung. [Studierenden-Ensemble Ost: 1390 – 1394]
Wo die Diskutierenden als Beteiligte selbst nicht kommunizieren (sollen), selbst keine Rolle spielen können und bedient statt beteiligt werden, wird, so scheint es, eine gottesdienstliche Veranstaltung unattraktiv. Diese Gruppe, die sich durch das starke Engagement im Bereich der Musik sicherlich als besonders aktive Gruppe verstehen lässt, ist möglicherweise in ihren Ansprüchen an Gestaltungs-, Kommunikations- und Beteiligungsmöglichkeiten auch innerhalb der Kirche nicht repräsentativ für ihre Altersgruppe. Dennoch darf man die Problemanzeige als wichtigen Hinweis auf ein vermutlich wirklich problematisches Verhältnis verstehen: Eine Kirche, die sich explizit den Schwachen zuwendet und sich schließlich in ihrer Sozialform aus eben solchen Schwachen (bzw. den nicht Berufstätigen oder derart rational Denkenden) zusammensetzt, könnte in Gefahr stehen, tatsächlich ausschließlich »Kirche für andere« und nicht »Kirche mit anderen« zu sein. Sie könnte Menschen (oder ganzen Altersgruppen) den Zugang zur Kirche erschweren, die vor allem ihr Leben gestalten möchten und am Erfolg einer solchen Gestaltung das Gelingen ihres Lebens ablesen.
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1.2.4 Rückblick
Über die Ergebnisse der thematischen Schwerpunkte hinaus, die in den jeweiligen Kapiteln zusammengefasst sind, gibt es mit Blick auf jüngere Kirchenmitglieder Auffälligkeiten, die ich abschließend benennen möchte. In der quantitativen Erhebung waren jüngere Kirchenmitglieder, besonders solche mit einem jugendkulturell-modernen Lebensstil, als stark unterdurchschnittlich in ihre Nachbarschaft oder Wohnumgebung eingebunden erschienen.217 Dies bedeutet jedoch keinesfalls ein gegenüber älteren Mitgliedern verringertes Kontaktbedürfnis. Das Interesse der jungen Generation an Kontakten bezieht sich weniger auf die Familie oder die Wohnumgebung, sondern in erster Linie auf den Freundeskreis oder auch die (kirchliche) Gruppe Gleichgesinnter. In diesem Kontext wird die Gemeinschaft zur zentralen Erfahrung. Christliche Inhalte werden entweder dort relevant, wo sie vermittelt durch das Erlebnis von Gemeinschaft erfahrbar werden, oder indem sich die christliche Botschaft auf das Miteinander von Menschen auswirkt. Viele der oben beschriebenen Sichtweisen, Vorlieben oder Kritikpunkte in Bezug auf die Kirche sind unmittelbar mit der speziellen Lebenssituation Jugendlicher oder junger Erwachsener verknüpft. Dabei zeigt sich ein erheblicher Unterschied zwischen den Jugendlichen einerseits, die in der Regel noch bei ihren Eltern wohnen, die Schule besuchen oder eine Berufsausbildung absolvieren und den jungen Erwachsenen andererseits, die sich im Studium befinden oder nach dem Einstieg in den Beruf in einem eigenen Haushalt leben. Die Bindung an die Kirche ist für die Jugendlichen offenbar vor allem über ein regelmäßiges Engagement oder auch die Beheimatung in einer Gemeinschaft möglich, z. B. in einer kirchlichen Jugendgruppe. Eine solche Gemeinschaft kann interessanterweise in der anschließenden Lebensphase immer noch einen Anknüpfungspunkt an die Kirche bieten, auch wenn man nicht mehr oder nur noch selten in einer kirchlichen Gruppe zusammenkommt. In den Gruppendiskussionen mit (einige Jahre älteren) jungen Erwachsenen hatte sich eine unmittelbare Anbindung an die Kirche aufgelöst. Im Fall der kirchlichen Gesprächsgruppe Junger Erwachsener gab es ein neues Angebot mit etwa monatlichen Treffen, die deshalb besonders reizvoll sind, weil sich die Gruppenmitglieder bereits aus der Jugendzeit kennen. Ein Zugang zur Kirchengemeinde am neuen Wohnort ist dagegen eher unattraktiv : Auch wenn einige Mitglieder der kirchlichen Gruppe den Anschluss an die jeweilige Ortsgemeinde als normativ empfinden, suchen sie nicht aktiv nach einer Anbindung in der aktuellen Umgebung. Dies hängt mit Sicherheit mit der hohen Mobilität dieser Altersgruppe zusammen und einem Lebensgefühl, dass (noch) nicht auf 217 Vgl. Benthaus-Apel, Zugänge, 224 – 227.
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Kontinuität in Wohnen und Arbeiten ausgerichtet ist. Für diese Altersgruppe kommen spirituelle Dimensionen und die Rolle der Kirche als Repräsentantin des »ganz Anderen« oder der überpersönlichen Lebensdeutung zum Tragen. Im Alter zwischen 20 und 30 Jahren kommt ein weiteres Moment der Anbindung an die Kirche hinzu: ein vorweggenommener, gewissermaßen vorausgeahnter Zugang über die eigenen Kinder. Für ihre Entwicklung sind in den Augen der Gruppenmitglieder das christliche Weltbild, die christlichen Werte oder die besonderen Angebote einer Kirchengemeinde von großer Bedeutung. Hier sprechen die Diskutierenden nicht von einer Bedeutung der Kirche für sich selbst, sondern von einer Anbindung der eigenen Person über eine Relevanz des Kirchlichen für die Kinder und auf diesem Umweg für die Gesellschaft im Allgemeinen. Auf diese Weise scheint in Ansätzen die »Lücke in der biographischen Anbindung« zwischen etwa 20 und 35 Jahren überbrückbar zu sein, auch wenn sich natürlich aus den Gruppendiskussionen keine Aussagen über die Zukunft der hier Befragten machen lassen. Problematisch wird dies jedoch mit Sicherheit dort, wo ein Zugang zur Kirche primär an die Familiengründung geknüpft ist. Hier ließe sich, etwa im Hinblick auf die in Abschnitt 1.2.2 beschriebenen Bedeutungsebenen des Religiösen oder Kirchlichen, an alternativen Zugängen für junge Erwachsene arbeiten.
1.3
»Kirche ist doch kein Sportverein!« Dilemmata, Paradoxien und die Prekarität der Mitgliedschaft in der Organisation Kirche218
Eigentlich wissen wir schon alles über sie: Sie stellen kaum Ansprüche, zahlen regelmäßig ihre Beiträge und kommen so gut wie nie zur Versammlung der Mitglieder. Luhmann nennt sie »rechnerische Mitglieder«, und in seinem 1972 veröffentlichten Aufsatz »Die Organisierbarkeit von Religion und Kirchen«219 unterscheidet er sie von den »amtstragenden«, die durch ihren Beruf mit der Organisation verbunden sind, und den »aktiven« Mitgliedern, die in der Kirche manchmal »Kerngemeinde« heißen. Der Kirche geht es damit zunächst wie anderen Vereinen: Sie finanziert einen Teil ihrer Arbeit über Mitglieder, die ihre Leistungen nicht oder nur selten in Anspruch nehmen. Auf die Beiträge solcher »rechnerischen« Mitglieder ist man angewiesen, sonst wären zahllose Aktivitäten im Raum der Kirche kaum finanzierbar. Jedoch sind solche Mitglieder vielen Verantwortlichen und Engagierten innerhalb der Kirche eher suspekt – die 218 Ursprüngliche Publikation: Schulz, Organisation Kirche. 219 Luhmann, Organisierbarkeit.
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Logik einer solchen Mitgliedschaft ist oft nicht nachvollziehbar, erschließt sich aber, mit Luhmann, in einer komplexeren Sicht von Bindung und Zugehörigkeit, um die es hier nun gehen soll und die abschließend auf die Frage nach der allgemeinen »Organisierbarkeit« einer christlichen Kirche bezogen wird. Luhmann hat es auf den Punkt gebracht: »Empirisch gesehen ist die Motivlage auf Seiten der rechnerischen Mitglieder, wie überhaupt natürlich, sehr komplex und prekär.«220 Auch wenn »rechnerische« Mitglieder manchmal die dankbarsten sind, weil man sich um sie nicht zu kümmern braucht, bilden sie eine stete latente Bedrohung – für die Kirche wie für einen Sportverein: Die Motivlage dieser Mitglieder ist prekär, heute wie damals, denn die Zahlung (wenn nicht schon die Zugehörigkeit) braucht einen Gegenwert oder einen tieferen Sinn. Doch da stört etwas: Luhmanns »wie überhaupt natürlich«. Relativiert Luhmann hier das Gesagte? Ist es so, dass die besonders prekäre Motivation zur Mitgliedschaft bei den »rechnerischen Mitgliedern« nur eine Zuspitzung dessen ist, was sich allgemein über die Mitgliedschaft in der Kirche sagen lässt?221 Ohne Zweifel haben Mitglieder unterschiedliche Motive für ihre Mitgliedschaft, und selbstverständlich sind Mitglieder unterschiedlich stark mit der Kirche verbunden. Inwieweit ist diese Komplexität aber nun zugleich prekär? Luhmanns Aufsatz soll Anlass sein, die Perspektive von Mitgliedern auf ihre Kirche zu untersuchen, Grundfragen und manchmal paradoxe Probleme dieser Mitgliedschaft zu beschreiben. Darin zeigt sich nicht nur, dass die »rechnerischen« Mitglieder keineswegs anspruchslos sind, sondern dass auch die »aktiven« Mitglieder selbst mit der Prekarität von Mitgliedschaft zu tun haben und einen Teil des Problems ausmachen. Der hier zitierte Aufsatz Luhmann wurde zum Mittelpunkt eines umfangreichen Buchprojekts, in dem aus unterschiedlichen Perspektiven eine Annäherung an eine »Organisation Kirche« im Sinne Luhmanns stattfindet.222 Dieser Beitrag ist Teil dieses Projekts, legt den Aufsatz Luhmanns zugrunde und fokussiert speziell die Kirchenmitgliedschaft und Bezugnahme auf Erkenntnisse empirischer Forschung.
220 Ebd., 260. 221 Die EKD hat mit ihren Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen zunächst die gegenteilige Beobachtung in den Vordergrund gestellt: Trotz zahlreicher Austritte ist, in der ersten Studie 1972 wie 2002 in der jüngsten, der Großteil der Mitglieder weiterhin der Kirche verbunden, über ein Drittel sogar stark. Gleichzeitig beschreiben die Untersuchungen das krisenhafte Element, zugespitzt im Titel des Textes von Schloz, Kontinuität und Krise. 222 Vgl. der ursprüngliche Erscheinungsort dieses Textes: Hermelink/Wegner, Paradoxien.
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1.3.1 Grundlegendes über Mitgliedschaft in der Organisation Kirche Luhmann verortet Religion und damit die christliche Kirche auf drei Ebenen der Gesellschaft. Zuerst siedelt er sie auf der Ebene des Gesellschaftssystems an, quasi in ihrer Funktion als Volkskirche: Danach ist Religion schlicht Teil des gesellschaftlichen Lebens, hat eine hohe Nähe zu Topoi wie »Wert« und »Moral« und fungiert als eine für alle zugängliche, überindividuelle Sinngebung. Ob ein Gottesdienst den Beginn einer Legislaturperiode begleitet oder eine Einschulung: Er reicht in seiner Bedeutung über das Individuum, die Familie, die Schule oder die Politik hinaus, wirkt in medialer Form derart in der Breite, dass häufig das spezifisch Religiöse von anderen Funktionen der Gesellschaft nicht zu unterscheiden ist. Zweitens ist Religion ebenso deutlich auf der Ebene einfacher Sozialsysteme zu verorten, in der privaten Kommunikation und zahlreichen anderen, zumeist informellen Begegnungen zwischen Menschen. Diese beiden Ebenen bilden nach Luhmann eine Art Rahmen für die dritte Ebene, die hier im Vordergrund stehen soll: Auf einer Art mittlerer Ebene gesellschaftlicher Prozesse erscheint die Kirche als Organisation. In der Wahrnehmung der meisten Mitglieder christlicher Kirchen entfaltet sich Religion als organisiertes Sozialsystem in besonderer Weise und erfüllt jetzt typische Funktionen – wie auch ein Sportverein. Hier markiert die Mitgliedschaft den Innenbereich des Systems, und die Zwecke sowie die typischen Handlungsabläufe helfen, die Organisation von anderen zu unterscheiden: Wir sehen das Spezifische organisierter Sozialsysteme in der nicht kontingenten Verknüpfung zweier kontingenter Sachverhalte: der Entscheidung über Mitgliedschaft (also über Eintritt und Austritt) und der Festlegung der Strukturmerkmale (zum Beispiel Zweck, hierarchische Anordnung der Weisungsbefugnisse, Arbeitsentgelt), die im Falle einer Mitgliedschaft akzeptiert werden.223
Aus Sicht der christlichen Kirchen verknüpfen sich mit der Organisationsförmigkeit einer Kirche eine Zahl drängender Fragen, wobei hier die Frage der Mitgliedschaft im Vordergrund steht: Welcher Logik folgt die Zugehörigkeit – oder mit Luhmann gesprochen: Wie verhalten sich die Motivation zur formalen Mitgliedschaft und der Zweck der Organisation zueinander? Wie sind im Folgenden Teilhabe und Teilnahme aufeinander bezogen? Wie lassen sich die Perspektiven und Interessen der Mitglieder mit denen der Verantwortlichen für die Organisation vereinbaren? Am Eintritt und Austritt und damit an den Logiken der Mitgliedschaft in der Kirche scheint sich deren Situation zu verdeutlichen: Während in vergangenen Jahrzehnten vor allem die Quoten von Austritt und Austrittsneigung Interesse 223 Luhmann, Organisierbarkeit, 247.
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weckten, finden momentan die Eintritte besondere Aufmerksamkeit.224 Sie werden als Indikator dafür bewertet, dass die so genannte Entkirchlichung kein Automatismus ist, mit dem sich die Organisationswerdung der Kirche langfristig von selbst in deutlich geringeren Mitgliederzahlen auswirkt. Eher geht es um die Definition von Zugehörigkeit und die Steigerung ihrer Bedeutung – so vielschichtig diese für die Mitglieder auch sein mag. Zugleich fällt auf – gerade im Blick auf (wieder) eingetretene Mitglieder – dass ihre Mitgliedschaft zwar oft gepaart ist mit einer hohen Kirchenbindung, aber deutlich seltener mit einer Beteiligung am kirchlichen Leben. Dies verweist auf den zweiten der kontingenten Sachverhalte, den Luhmann als »Festlegung der Strukturmerkmale« hantiert, zum Beispiel als »Zweck der Organisation«: Zu welchem Zweck eine Organisation existiert und warum Menschen mit ihr verbunden sein möchten, bedarf einiger Klärung. Hierin steckt zuerst die Herausforderung an die Kirche, ihren Zweck gegenüber den Mitgliedern und der Außenwelt als einen nicht beliebigen zu beschreiben – und damit lässt sich jetzt ein Kerndilemma der Kirche beschreiben: In den Untersuchungen der EKD über Kirchenmitgliedschaft225 bestätigt sich alle zehn Jahre die Einsicht, dass die Mitgliedschaft für die Mehrzahl der Kirchenmitglieder an eher unspezifische Überzeugungen gebunden ist und in der Regel nicht mit einer bestimmten religiösen Praxis gekoppelt wird. Man könnte umgekehrt vermuten: Je unspezifischer ihr religiöses Profil und je unverbindlicher ihre Beteiligungsstrukturen, desto größer die Integrationskraft der Organisation Kirche. Hier kann sie auch solche Mitglieder an sich binden, die mit ihrem eigentlichen Zweck nur zum Teil oder auch überhaupt nicht mehr übereinstimmen, die jedoch aus anderen Gründen Mitglied bleiben möchten.226 Gleichzeitig gilt das Gegenteil: Mitglieder wie Nichtmitglieder erwarten von der Kirche, dass sie, wie eben eine gute Organisation, Stellung bezieht, sich zu wichtigen Fragen positioniert und klar zu erkennen gibt, wozu sie da ist. In den Gruppendiskussionen mit sehr unterschiedlichen Gruppen aus der Bevölkerung, die im Rahmen der jüngsten, vierten EKD-Studie geführt wurden, gibt es immer wieder Situationen, in denen die Teilnehmenden es genau wissen wollen: Was macht die Kirche eigentlich? Die Befragten ringen um klare Positionen, damit sie über den Sinn und Zweck einer Kirche diskutieren können. Dieser 224 So etwa in der 2005 abgeschlossenen Studie im Auftrag der Ev. Landeskirche in Baden unter der Leitung von Rainer Volz, vgl. ders., Kircheneintritte. 225 Zuletzt: Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung. 226 Hier ist v. a. das soziale Engagement der Kirche zu nennen. Dass dieses wichtig ist, bestätigen auch Mitglieder, die sich etwa mit religiösen Aussagen der Kirche nicht identifizieren können. Zu den differierenden Mitgliedschafts-Motiven von Mitgliedern mit unterschiedlicher starker Kirchenbindung vgl. den Beitrag von Detlef Pollack: Ders., Bindung, v. a. Abschnitt 2.
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Zweck ist, das zeigen die Befragungen, zunächst vom eigenen Erleben unabhängig gedacht: Auch wer im Fernsehen die Trauerfeier für einen hochrangigen Politiker im Berliner Dom verfolgt, wer in der eigenen Familie Taufen oder Trauungen erlebt, verlangt anderntags Aufklärung über den Zweck der Organisation Kirche. Auch wenn Kirche durchaus im öffentlichen Leben präsent ist, ist ihre Existenz alles andere als selbstverständlich. Luhmann formulierte das unmittelbar als Anspruch an die Organisation Kirche: Die Umwelt der Kirche organisiert sich in zunehmendem Maße, und Organisationen haben im Verkehr mit anderen Sozialsystemen im allgemeinen kein Verständnis dafür, daß ihre Partner keine Organisationen sind. So wird im Kontakt zwischen sozialen Systemen, zunehmend aber auch im Kontakt mit organisationsvertrauten Einzelpersonen von der Kirche nicht nur Interaktionsfähigkeit, sondern, gleichsam als Hintergrund, auch Organisiertheit der Interaktionsbereitschaft gleich miterwartet. Man unterstellt, daß es kompetente Stellen gibt, die innerhalb kurzer Zeit in geregelten internen Kommunikationsprozessen sachliche (nicht rein persönlich motivierte) Entscheidungen herbeiführen können, die die Kirche als Ganzes binden […].227
So lässt sich festhalten, dass sich die Kirche der Herausforderung stellen muss, sich wie eine »gute« Organisation zu verhalten und höchst professionell ihren Zweck gegenüber Mitgliedern und der Außenwelt als einen nicht beliebigen zu beschreiben. Darin weiß sie aber um die Interessen- und Motivlage der meisten Mitglieder : Ihnen erleichtert wohl nicht die Beliebigkeit, aber doch die Uneindeutigkeit kirchlicher Zwecke in der Kommunikation der Kirche mit ihren Mitgliedern, weiterhin Mitglieder zu bleiben. Dass die Kirche diese beiden Wahrheiten aufeinander beziehen muss und diese Bezüge unweigerlich Konsequenzen für Beteiligungsstrukturen und Spielräume kirchlichen Handelns haben werden, bleibt eine Herausforderung für alle Verantwortlichen.228
1.3.2 Das Dilemma der Mitglieder in einer zur Organisation werdenden Kirche Mitglieder wie Nichtmitglieder sehen die Kirche als ein soziales Gebilde, das einerseits Teil des gesamten Gesellschaftssystems ist, sich andererseits als Organisation von anderen abgrenzt und dazu seine Grenzen nach außen »bewacht«, um des Zwecks der Organisation und ihrer typischen Strukturen willen. Da ist es einerseits unsinnig, die Religionsgemeinschaft von der »Gesellschaft« trennen zu wollen. Andererseits entstehen Probleme dort, wo Unklarheit besteht 227 Luhmann, Organisierbarkeit, 265. 228 Vgl. Analysen milieuspezifischer Beteiligungsinteressen und darauf bezogene Reflexionen praktisch-theologischer Art, etwa im Text in Teil B (1.4) in diesem Band: »Exklusion, Bindung und Beteiligung in der Kirche«.
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über die Grenzen der Organisation und ihren spezifischen Nutzen. Am Beispiel der Kindertaufe und des Patenamts wird das beispielhaft deutlich: Das Patenamt hat selbst für Mitglieder häufig nur in zweiter Linie eine religiöse Funktion. Vielen geht es, zweifellos oft parallel zu einer religiösen Deutung der Situation, vor allem darum, dem Kind beiseite zu stehen, subsummiert in der Formel »… wenn den Eltern mal etwas passiert«. Für die meisten Kirchenmitglieder steht die Funktion der Taufe als Ritual an der Grenze der Organisation dem gegenüber im Hintergrund. So findet sich folgerichtig in offenen Befragungen von Mitgliedern und Nichtmitgliedern229 nur selten ein Zweifel am Sinn der Taufe, jedoch häufig die Diskussion um die Notwendigkeit, als Pate oder Patin einer Kirche anzugehören. An einem Beispiel aus der empirischen Forschung möchte ich das verdeutlichen und hier wie in den folgenden Abschnitten in der Sekundärauswertung von qualitativem Befragungsmaterial zeigen, welche Bezüge die Befragten zwischen Gesellschaft, Kirche und ihrem Binnenbereich, der Mitgliedschaft, herstellen. Die zitierten Texte stammen aus Gruppendiskussionen, in denen jeweils ein Gesprächsimpuls zur Situation und Bedeutung der Kirche gegeben wird, die Gruppen dann aber selbständig und größtenteils ohne Nachfragen über längere Zeit ihre Sicht auf die Kirche konstruieren. Aussagekräftig sind hier, neben den oft ausgesprochen prägnanten Einzelaussagen, vor allem die Prozesse der Konstruktion des Gesprächsgegenstands »Kirche«: Welche Aspekte werden in der Gruppe überhaupt als relevant erachtet und besprochen, was gibt Anlass zu Austausch und Auseinandersetzung? Wo fokussieren sich Themen? Und dann: Wo verlaufen Konfliktlinien innerhalb der Gruppe? Wo und wie entsteht ein Konsens?230 Im Folgenden greife ich jeweils zentrale Gesprächsausschnitte heraus und beschreibe an ihnen, was sich aus dem Geschehen in den Gruppen über Grundfragen lernen lässt. Das erste Beispiel zeigt eine Gruppe von Frauen zwischen 29 und 42 Jahren im ländlichen Raum,231 von denen die meisten Kirchenmitglieder sind und die Konfessionslosen unter ihnen früher evangelisch waren. Sie unterhalten sich zunächst locker über verschiedene Aspekte von Kirche und fokussieren nun das Thema Patenamt, an dem sich im Weiteren die Positionen der Befragten verdichten. Eine der Frauen, die ich hier Petra nenne, schildert im Vorfeld sehr klar ihre Gefühle gegenüber der Kirche und vor allem der Ortsgemeinde: »Ich find’s 229 Solche offenen Befragungen fanden in der dritten und vierten Mitgliederstudie der EKD statt sowie etwa in der Untersuchung: Vögele/Bremer/Vester, Soziale Milieus. 230 Zur Methode des Gruppendiskussionsverfahrens vgl. etwa Loos/Schäffer, Gruppendiskussionsverfahren. 231 Das Beispiel stammt aus den bisher unveröffentlichten Gruppendiskussionen der Untersuchung Vögele/Bremer/Vester, Soziale Milieus; einige Zitate und Analysen sind außerdem verfügbar in: Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus, 203 – 205 u. 214 – 216.
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drinne so trist, so kalt, es ist irgendwie so leblos da drinne.« In ihren Augen muss es in der Kirche so zugehen, »dass man gut aufgenommen wird, wenn man vielleicht wirklich mal die Kirche betritt, und man vielleicht nicht von oben bis unten angeguckt wird, dass so das Gefühl verbreitet wird, ob du überhaupt deine Kirchensteuern bezahlst oder nicht.« Interessanterweise erscheint in diesem Votum eines Kirchenmitglieds gerade die bedingungslose Akzeptanz aller Menschen als zentral für die Arbeit der Kirche. Petra formuliert eine Position, die man nach den Ergebnissen qualitativer Befragungen als typisch für viele Mitglieder beschreiben kann: Die gute Organisation zeichnet sich paradoxerweise dadurch aus, dass sie im Umgang mit den Menschen eben nicht zwischen Innen und Außen unterscheidet. Hiermit wäre gewissermaßen ein Zweck der Organisation (nämlich die Akzeptanz) in Struktur umgesetzt. Schwierig wird es logischerweise dort, wo Mitglieder (diejenigen, die bereit sind, die Kirche und ihre Struktur mit ihrer formalen Mitgliedschaft und wo möglich mit einem finanziellen Beitrag zu unterstützen) sich durch ihre Unterstützung von Nichtmitgliedern unterscheiden. Die Grenze zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern ist in den Augen der Frauen chiffriert durch die Bereitschaft zur finanziellen Unterstützung, nicht durch die grundsätzliche Zustimmung der Mitglieder zu einer durch die christliche Botschaft geprägten Intention der Kirche. Letztere kennzeichnet (in den Augen der Frauen) sehr häufig ebenso Nichtmitglieder. Innerhalb der Gruppe rückt das Thema der »Grenze der Organisation« immer stärker in den Mittelpunkt des Gesprächs. Die Frauen tragen Erfahrungen zusammen, um an ihnen ihre Positionen zu verdeutlichen. So befasst sich Petra mit der Frage der Bedeutung des Glaubens für die Mitgliedschaft und berichtet, wie ihr Schwager, aus der Kirche ausgetreten, nicht Pate werden konnte: »Er hat nichts gegen die Kirche und hat zwar seinen Glauben, aber er hat es halt nicht eingesehen, dass er so viel Geld bezahlen muss.« Der Schwager war bereit, wieder einzutreten, um Pate werden zu können, und da hat die Gemeinde gesagt, ob er überhaupt in der Lage wäre, in den christlichen Glauben eintreten zu können, und dann sollte er da irgendwelche Formulare ausfüllen, und da hat er gesagt, wissen Sie was, ich hab meinen Glauben, und das hat nichts irgendwie damit zu tun, und deswegen ist er draußen geblieben.
Das Gespräch der Frauen fokussiert immer stärker den Sinn und Unsinn der Grenzen der Organisation Kirche, hier sichtbar in der (von den Frauen kritisierten) formalen Entscheidung der Kirche bzw. Ortsgemeinde, die Mitgliedschaft an die Zahlung von Kirchensteuern zu koppeln und das Patenamt an die Kirchenmitgliedschaft. Nur eine der Frauen bildet vorsichtig eine Opposition dazu aus, betont im weiteren Gesprächsverlauf den religiösen Charakter des Patenamtes (der Pate soll die religiöse Erziehung unterstützen) und koppelt
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darin die Mitgliedschaft an die Religiosität des betreffenden Menschen. Andere stützen, manchmal klischeehaft, die kritische Position Petras und ergänzen dieses Beispiel um eigene Erfahrungen, die im Gespräch der Gruppe vor allem dazu dienen, die Grenzen der Organisation als unsinnig zu beschreiben: Sie berichten von einschlägigen Erlebnissen mit einer wenig toleranten Kirche oder mit Problemen wegen konfessioneller Unterschiede bei der Trauung. Die Mitgliedschaft in der Kirche bedeutet in dieser Logik zunächst einmal nicht primär, »in den christlichen Glauben einzutreten«, denn der Glaube selbst ist von den Frauen von einer Mitgliedschaft unabhängig gedacht. Ganz im Gegenteil scheint der formale Akt des Eintritts – das »Formulare ausfüllen« – geradezu die Schattenseite der gegenwärtigen kirchlichen Wirklichkeit zu enthüllen: Wo Kirche als Organisation agiert, klare Strukturen aufweist und Grenzen markiert, weicht sie – wiederum: in den Augen der Frauen – von ihrer eigentlichen Bestimmung ab. Was dieses Eigentliche anbetrifft, so erarbeitet die Gruppe der Frauen den Konsens, dass die eigene Mitgliedschaft dafür unerheblich sei. Der folgende Dialogausschnitt zeigt, wie die Frauen innerhalb des Konsenses die Plausibilität der Mitgliedschaft als Grenze der Organisation diskutieren: Wenn jetzt wirklich welche sagen, ich trete aus, weil, ob die Glocken läuten bei meiner Beerdigung, oder sie läuten nicht, das hör ich sowieso nicht mehr, von daher ist es mir völlig schnurze, ob ich drin bin. Ich mein, ich bin noch drin. Nicole: Das geht ja generell an dem vorbei. Ich bin nicht in der Kirche, und ich arbeite hier, also ehrenamtlich, und jetzt mal angenommen, hier wird ’ne Stelle frei. Und ich bin mir sicher, die finden zum Teil meine Arbeit gut, die ich hier mache. Mehrere werfen ein: Die nehmen dich aber nicht. Nicole: Und allein das Ding, dass ich nicht in der Kirche bin, und ich finde, das geht völlig am Leben vorbei. Petra: Aber die werden das noch gar nicht wissen, dass du nicht drin bist. Nicole: Mich hat nie einer gefragt. (berichtet über ihre ehrenamtliche Tätigkeit im kirchlichen Spielkreis, C.S.) Aber ich warte auf den Tag, dass das auffliegt, dass ich eben nicht hier in P. in der evangelischen Kirche bin, und ich stelle mir vor, dass es dann Menschen gibt, bestimmt nicht alle, aber es gibt Menschen, die dann sagen: Hmmm.
Petra:
Innerhalb dieser Gruppe nehmen sogar diejenigen Frauen, die wie Petra Mitglied der Kirche sind und selbst oder indirekt über ihren Ehepartner Kirchensteuer bezahlen, die Haltung der Beobachterin von außen ein. Die Verantwortlichen sind »die anderen«, denen man sich gegenüber sieht, obwohl man formal dazu gehört. Deren (vermutetes) Bedürfnis nach Unterscheidung von Mitgliedern und Nichtmitgliedern in der ehrenamtlichen Arbeit in der Gemeinde symbolisiert das Problem, das Kirche in den Augen der Gruppe hat: Statt Menschen voraussetzungslos in ihren Reihen zu akzeptieren, denkt und handelt sie »am Leben vorbei« und gründet ihren Sinn auf Angebote, die sich im Bereiche
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des Irrelevanten und Unnützen befinden wie im Beispiel des Glockenläuten für jemanden, der das nicht mehr hören kann. Solche Positionierungen wirken auf Verantwortliche in der Kirche in der Regel befremdlich, wecken Widerspruch und Ablehnung. Denn die Frauen haben gemeinsam im Gespräch eine Perspektive erarbeitet, die sachlichen Nachfragen kaum Stand halten dürfte. Wie soll sich denn eine Kirche zum Beispiel finanzieren, die nicht zumindest in weiten Teilen dafür sorgt, dass Menschen, die ihre Leistungen in Anspruch nehmen und ihre Räumlichkeiten nutzen, sie auch entsprechend unterstützen, durch Mitgliedschaft und gegebenenfalls Zahlung von Mitgliedsbeiträgen? Wie sollte eine Organisation akzeptieren können, dass ihre Arbeit öfter als in Ausnahmefällen von Menschen getragen wird, die ihr nicht angehören möchten, weil sie wichtige Bestandteile ihrer Strukturen und Abläufe und vielleicht sogar teilweise ihren Zweck ablehnen? Geht man davon aus, dass die Frauen sich hier auf eine reale Situation in ihrer Gemeinde beziehen, interessiert noch eine andere Frage: Warum kümmert sich wohl die Pfarrerin oder der Pfarrer dieser Gemeinde nicht darum, mit den Mitarbeitenden in ihren Gruppen und Kreise über deren (zumindest: formales) Verhältnis zur Organisation zu sprechen und sich darüber hinaus mit Widersprüchen und inhaltlichen Differenzen zu befassen? Scheint das zu bedrohlich, zum Beispiel für die – bislang gut funktionierende – Arbeit mit Kindern in der Gemeinde? Ist es zu aufwändig und im Rahmen der personellen Ressourcen nicht leistbar? Stellt es das gute Miteinander in Frage? Ist solch ein Nachfragen und Dahintersehen gar »verboten«, weil auch in den Augen der Hauptamtlichen die Kirche vor allem voraussetzungslos »für die Menschen da« ist? Und muss man darum feststellen, dass es die Organisation Kirche grundsätzlich überfordert, sich angemessen um ihre Grenzen zu kümmern? Hier – wie an vielen anderen Orten ihres Auftretens – ist Kirche in ein Dilemma geraten: Wo sie ihre Grenzen markiert, widerspricht das in den Augen zahlreicher Mitglieder ihrem eigentlichen Zweck, der vorbehaltlosen Zuwendung zum Menschen, ja führt ihn geradezu ad absurdum. Zugleich gewinnt Kirche ihre aktuelle Gestalt natürlich durch diejenigen, die Mitglied sind und sie unterstützen. So ist der Zustand, dass sich eine junge Frau innerhalb einer kirchlichen Gruppe ehrenamtlich engagiert, ohne Mitglied der Organisation zu sein, einerseits normal (weil prinzipiell jeder Mensch willkommen ist), andererseits in der systematischen Überschreitung von Grenzen für die Organisation langfristig bedrohlich.
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1.3.3 Die Prekarität der Kirchenmitgliedschaft im Tauschsystem In diesem Diskussionsgang lässt sich ablesen, was Luhmann als interne Differenzierung des Systems in unterschiedliche Mitgliederrollen beschrieben hat. Als Hintergrund zeichnet er eine zentrale Problemsituation der Kirche, die man größtenteils als nach wie vor aktuell beschreiben kann: Während der Kirche einerseits der Organisationsstatus quasi aufgedrängt wird, indem Mitglieder wie Nichtmitglieder klare Aussagen zum Organisationszweck und den Grenzen der Organisation fordern, kann sie andererseits ihre Funktion nicht ausreichend definieren. Dies hat zur Folge, dass Mitglieder zwar ihre Kirche als Organisation wahrnehmen und fragen, was ihr Zweck sei und worin sie sich von anderen unterscheidet, sich aber häufig nicht innerhalb des Systems verorten.232 So lässt sich im oben zitierten Textbeispiel beobachten, wie sich die Mitglieder im Gespräch mit Nichtmitgliedern mit diesen solidarisieren, ihre Kritik am Auftreten und den Ansprüchen der Kirche teilen und sich selbst als Distanzierte der Kirche gegenüber präsentieren, die gar nicht formulieren können, was eine Mitgliedschaft nützen soll. In Luhmanns Unterscheidung von »amtstragenden«, »aktiven« und »rechnerischen« Mitgliedern findet die wichtigste Abgrenzung zwischen »aktiven« und den »amtstragenden« Mitgliedern statt, wie im Textbeispiel nachvollziehbar : Letztere sind es, die Kontrolle ausüben und die Grenzen der Organisation bewachen, zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern unterscheiden, unabhängig von deren Aktivität. Der von den Frauen zitierte fiktive Entscheidungsfall (»mal angenommen, hier wird ’ne Stelle frei«) hilft bei der Chiffrierung dieser Grenze. Für Luhmann stellt die formale Mitgliedschaft die Grundbedingung für jede Teilhabe am System dar.233 Hört man jedoch den Frauen zu, ergibt sich eine andere, plausible Perspektive: Nichtmitglieder benehmen sich nicht selten in ihren Glaubensäußerungen sowie in ihrer praktischen Teilnahme am kirchlichen Leben so, als seien sie selbst Mitglied der Kirche. Mit Blick auf die zitierte Gruppendiskussion könnte man von einer »gefühlten Mitgliedschaft« sprechen. Sicherlich lässt sich nicht, ohne die Logik der Organisation zu verlassen, von einem Status des am kirchlichen Leben teilhabenden Nichtmitglieds sprechen, wie hier am Beispiel der Mutter, die in der Gemeinde seit Jahren ein Ehrenamt ausübt. Sicher ist aber ebenso, dass die eindeutigen Positionierungen von Nichtmitgliedern zugunsten der Kirche in einem wachsenden nichtkirchlichen Umfeld langfristig nach einer Entsprechung in den Strukturen der Kirche verlangt, nach Überlegungen bezüglich alternativen Mitgliedschaftsformen wie Fördermitgliedschaften. 232 Vgl. Luhmann, Organisierbarkeit, 258 ff. 233 Vgl. Luhmann, Organisation, 39.
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Analysen zur Kirchen- und Gemeindeentwicklung
Was die in empirischen Daten messbare Prekarität der Mitgliedschaft anbetrifft, lassen sich einige – erwartbare – Wirkungszusammenhänge belegen: Zum einen ist die Bereitschaft zum Kirchenaustritt umgekehrt proportional zur Bindung an die Kirche. In aller Regel treten also solche Mitglieder aus, deren Bindung an die Organisation ohnehin gering ist. Wer der Kirche hoch verbunden ist, bleibt ihr treu, unabhängig von der Zufriedenheit mit einzelnen Abläufen.234 Zum anderen ist die Akzeptanz der Kirchensteuerzahlung stark von der Bindung an die Kirche abhängig:235 Von den Kirchensteuern zahlenden Mitgliedern, die sich im Jahr 2002 der Kirche »sehr verbunden« fühlen, schätzen 88 % auch die Höhe ihrer Kirchensteuerzahlung als »angemessen« ein, nur 7 % finden den Betrag zu hoch. Das andere Ende der Verbundenheitsskala spiegelt dieses Ergebnis nahezu: Von den »überhaupt nicht« mit der Kirche verbundenen Mitgliedern finden 79 %, sie zahlten »zu viel« Kirchensteuer, nur noch 21 % betrachten die Höhe der Zahlung als »angemessen«. Ähnlich verhält es sich mit der Zustimmung zur Kopplung von Mitgliedschaft und Beitragszahlung: Vor allem die »sehr verbundenen« Mitglieder stimmen dem Satz »Wenn man evangelisch ist, sollte es selbstverständlich sein, dass man die Kirche auch finanziell durch die Kirchensteuer unterstützt« deutlich zu, und zwar zu 82 %.236 »Überhaupt nicht« verbundene Mitglieder befürworten diesen Satz nur noch zu 15 %, während 49 % ihn sogar deutlich ablehnen. Einerseits ist das Erheben von Mitgliedsbeiträgen als Kirchensteuer also etwas, das vor allem denen plausibel erscheint, die der Kirche hoch verbunden sind, während es umgekehrt die Prekarität der Mitgliedschaft derer verschärfen dürfte, deren Bindung an die Kirche schwach ist. Andererseits ist – im Durchschnitt der Befragten – insgesamt die Akzeptanz der Kirchensteuer unter der Mitgliedern in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen, wie sich allein im Vergleich der jüngsten EKD-Studien zeigen lässt: Waren 1992 noch 55 % der (zahlenden) Mitglieder in den alten Bundesländern der Meinung, die Höhe ihrer Kirchensteuerzahlung sei »angemessen«, sind es im Jahr 2002 dagegen 61 %. In den neuen Bundesländern stieg diese Zustimmung von 73 auf jetzt 78 %.237 So ist zu vermuten, dass eine Kritik von Mitgliedern an der Kirchensteuer zwar eine relative Distanz zur eigenen Organisation ausdrückt, die Prekarität der durch diese Distanz bedrohten Mitgliedschaft jedoch durchaus mehrschichtig ist. Wie bewältigt die evangelische Kirche nun aber die unterschiedlichen Nähen 234 Vgl. Schloz, Kontinuität und Krise, 57. 235 Die Basisauswertung der folgenden Fragen findet sich in der vierten EKD-Untersuchung: Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung; Fragen 24a und 24b, 460 f. 236 Als deutliche Zustimmung sind die Werte 6 und 7 auf einer 7-er Skala von 1=»stimme überhaupt nicht zu« bis 7=»stimme voll und ganz zu« gewertet, als deutliche Ablehnung entsprechend die Werte 1 und 2. 237 Für weitere Details vgl. Schloz, Kontinuität und Krise, 76 – 78.
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und Distanzen innerhalb ihres Mitgliederbestands? Wie lassen sich »rechnerische« Mitglieder auch ohne regelmäßige Teilnahme am kirchlichen Leben an die Organisation binden? Luhmann nimmt an, die Anbindung der »rechnerischen« Mitglieder, die für ihre Unterstützung des Systems keine direkte »Leistung« erhalten, weil sie die Angebote der Kirche nicht oder nur selten nutzen, geschehe innerhalb eines komplexen »Tauschsystems« über die Anbindung der »aktiven« Mitglieder an die »amtstragenden«: In unserem Fall scheint die Mitgliedschafts- und Beitragsbereitschaft der rechnerischen Mitglieder im wesentlichen darauf zu beruhen, daß die Interaktion zwischen den anderen, nämlich den aktiven und den amtstragenden Mitgliedern des Kirchensystems, funktioniert und damit Kontinuität von Religion symbolisiert – ein Tatbestand, der aus sehr unterschiedlichen Gründen geschätzt werden kann. Die rechnerischen Mitglieder werden nicht durch konkrete Befriedigung eigener religiöser Bedürfnisse motiviert. Sie geben generalisierte Unterstützung für ein anderes Tauschsystem im System und werden durch dessen sichtbare Präsenz im System gehalten.238
Bei Luhmann – wie auch im Gespräch der Frauen – wird deutlich, wie für die Organisation gerade der Kommunikation zwischen »aktiven« und »rechnerischen« Mitgliedern eine immense Bedeutung zukommt, ergänzt durch die Gruppe der interessierten oder sogar aktiven Nichtmitglieder : Nur dort, wo »aktive« Mitglieder vom Zweck der Organisation überzeugt sind und anderen ihre Überzeugung zugänglich machen, erscheint eine Zugehörigkeit zur Kirche plausibel. In unserem Fall – wie häufig in Befragungen von Kirchenmitgliedern und Nichtmitgliedern – ist genau diese Kommunikation der Zwecke misslungen. Viele Mitglieder äußern diffuse und zum Teil völlig unzutreffende Vorstellungen über den Zweck der Kirche. Das dürfte deren Bestand stärker gefährden als ein konkretes Versagen von Hauptamtlichen in schwer verständlichen Predigten, einer geringen Sensibilität für Lebenssituationen oder einem langweiligen Konfirmandenunterricht. Von so einem Versagen ist bezeichnenderweise im zitierten Gespräch an keiner Stelle die Rede. Die Frauen sind gar nicht darüber informiert, ob die Gemeindeleitung oder die Pfarrerin wirklich einem engagierten Nichtmitglied rigoros den Zugang zu einer »Stelle« verwehren würde. Wo in der Rede über die Kirche häufig zwischen Pfarrerinnen und Pfarrern einerseits und so genannten Laien andererseits unterschieden wird, gern mit Hilfe von Begriffen wie »Schlüsselqualifikation« oder »Kerngeschäft«, erscheint hier doch die zentrale Gruppe die der überzeugten und kommunikationsstarken Mitglieder zu sein. Gewiss ist es von erheblicher Bedeutung, ob Hauptamtliche und vor allem die Pfarrerinnen und Pfarrer ihre Kirche derart gestalten können, dass Zweck, Strukturen und konkrete Handlungen übereinstimmen und Kirche in diesem Sinn eine »gute« Organisation ist. Entscheidend für den inneren 238 Luhmann, Organisierbarkeit, 260.
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Zusammenhalt und die Bindungskraft der Organisation Kirche wird es jedoch sein, ob die »aktiven« Mitglieder in Luhmanns »Tauschsystem« an ihre Umwelt die Leistungen der Kirche vermitteln und Handlungen plausibel machen können. Allerdings muss ein solches Tauschsystem eindeutig und in ansprechender Form das Spezifische der religiösen Organisation Kirche belegen, um überzeugend zu sein. Diese Bedingung möchte ich beispielhaft anhand des Diskurses einer Gruppe von Männern im mittleren Lebensalter illustrieren, die miteinander in einem Sportverein trainieren und sich jetzt zu einem Gespräch über die Kirche zusammengefunden haben.239 Einige von ihnen sind noch Mitglied, andere sind ausgetreten, fast alle sind kirchlich sozialisiert. Sie diskutieren, als Gruppe aus nicht aktiven Mitgliedern, Nichtmitgliedern und einem aktiven Mitglied, eben jenes Tauschsystem. Es wird im Gespräch der Gruppe (hier noch ohne Zitat) schnell deutlich, dass die Männer durchaus etwas an der Kirche schätzen, etwa das soziale Engagement oder Angebote für Betreuungsbedürftige oder Jugendliche etc. Diese Männer haben zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs den Konsens erarbeitet, selbst am Angebot der Kirche nicht teilnehmen zu wollen – das aktive Mitglied bildet dabei eine Opposition, die man als zaghaft beschreiben möchte. Die Männer halten es aber durchaus für sinnvoll, dass andere das (im Sinne Luhmanns: für sie) tun: Das Engagement der gesamten Gruppe (auch der Männer mit einer hohen Distanz zur Kirche) in der Frage nach einem möglichen Zweck der Kirche zeigt, wie groß ihr Interesse an der Organisation Kirche ist. Die Männer erwarten jedoch, dass diese, durch die »kirchlichen« Menschen stellvertretend wahrgenommene Leistung zufriedenstellend repräsentiert wird. Wie sich diese Erwartung aber erfüllt, diskutieren sie anhand des gedanklichen Experiments: Wie leicht (und woran) lassen sich in einer willkürlich zusammengestellten Gruppe von Jugendlichen die »kirchlich interessierten« identifizieren? Tom:
Steffen: Tom: Steffen:
Und das Bittere ist ja dann auch, finde ich, dass man zum Beispiel die kirchlich engagierten Jugendlichen oder kirchlich interessierten Jugendlichen handverlesen aussuchen kann. Da können wir 25 Leute hinstellen, zehn sind dabei kirchlich interessiert, 15 nicht. Von den zehn, find ich so raus. Mhm. Stimmt. (lacht) Sieht man vom Aussehen her, vom Auftreten her. Stimmt. (lacht)
239 Diese Gruppendiskussion wurde im Rahmen der vierten Mitgliederstudie der EKD geführt. Beide Bände der Publikation enthalten Analysen dieser Diskussion: Huber/Friedrich/ Steinacker, EKD-Erhebung, 127 f; Hermelink/Lukatis/Wohlrab-Sahr, Lebensbezüge, 221 – 223. Diskussionsbeiträge aus dieser Gruppe finden sich auch im Text 1.1 »Kirche in Veränderung« in Teil B in diesem Band.
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Fortsetzung Tom: Ja, na klar. Heinrich: Ist doch total die Scheiße. (lacht) Jörn: Es wird keiner in Anführungszeichen in coolen Klamotten hin und her gehen und sagen, hey. Ich gehe jetzt in die Kirche und hab da richtig Spaß daran, und wat weiß ich, weiß ich nicht. (haut auf den Tisch) Interviewerin: Und was sollte die Kirche denn machen? Anders aussehen? Tom: Ja, anders aussehen. (…) Mit dem Bild, was sie nach außen präsentiert, spricht sie also selbst mich, obwohl ich ja auch der Ältere hier in der Runde bin, überhaupt nicht an, ganz im Gegenteil. Das erschreckt mich. Und des Einzige, was da wirklich ne Möglichkeit wäre, wäre eben die Kleinkirche, eben mit nem loseren Verbund, mit einem lockeren Verbund dann wirklich eine breitere Masse anzusprechen, um zum Beispiel auch einfach mal ein homogenes Abbild der Gesellschaft wieder in die Kirche zu bekommen. (…) Wir können uns hinstellen, würd ich drauf wetten, wir zusammen acht von den zehn finden wir raus. Und zehn von zehn nach den ersten drei Fragen. Ja, und das ist bitter. Also jedes Wirtschaftsunternehmen möchte eine so klar definierte Zielgruppe haben, aber ne Kirche nicht.
Die Kritik der Männer befindet sich hier auf mehreren Ebenen. Zum einen findet sie statt im symbolischen Gegensatz der beiden »Sorten« Jugendlicher, den die Männer hier präsentieren: Kirche kann es nicht schaffen, Jugendliche »in coolen Klamotten« zu integrieren und ihnen einen Raum zu bieten, in dem sie »Spaß« haben können, wie es ihrer Interessenlage (wohl stellvertretend für die Interessenlage der Männer) entspricht. In der (gedachten) Position solcher Jugendlicher ist der Tauschwert im Sinne Luhmanns nicht gegeben: Die Männer werden eben nicht stellvertretend in den Jugendlichen von der Kirche angesprochen und beteiligt. Sie werden in ihrer Wahrnehmung auf eine subtile Art ausgegrenzt. Das Bild der Kirche »erschreckt« und distanziert sie. Zum anderen formulieren die Männer mit beachtlicher Treffsicherheit, was Kirche als zielgruppenübergreifende Funktion zu bieten haben könnte: Wie keine andere Organisation sollte sie doch leisten, was die Männer tatsächlich anrühren und bewegen könnte – eine Integration der Verschiedenen in eine alles übergreifende Gemeinschaft.240 Kirche wäre demnach ein Raum, indem eben nicht »nach den ersten drei Fragen« schon die üblichen Fronten klar und das Gespräch beendet wäre, wie die Männer das im Beruf oder auch im Freizeitbereich erleben. Bei aller Vorsicht und mit Blick auf die erhebliche Distanz dieser Befragten zur Kirche könnte man formulieren: Die Männer halten eine Kirche dann für eine wichtige, nützliche und vielleicht sogar durch die eigene Mitgliedschaft zu unterstützende Organisation, wenn sie tatsächlich die Komplexität von Meinungen, Haltungen und Mentalitäten hantieren kann – und damit 240 Das Problem zielgruppenspezifischer und –übergreifender kirchlicher Arbeit ist z. B. reflektiert in: Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus, 256 – 258 u. 278 – 280.
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eine Funktion erfüllt, die keine andere Organisation erfüllt und in der damit tatsächlich das spezifisch Religiöse deutlich hervortritt. Kirche hat in den Augen der Männer in ihrer gegenwärtigen Gestalt eben nicht das Vermögen, die »Gesellschaft« abzubilden, damit auch sie selbst (projiziert auf Jugendliche) zu repräsentieren und (zumindest als »rechnerische« Mitglieder im Tauschsystem) zu integrieren. Stattdessen hat sie eine »klar definierte Zielgruppe«, zu der große Teile der Bevölkerung eben nicht gehören. Mit Blick auf andere Teile des Gesprächs, in denen die Männer der Kirche in ihrem sozialen Engagement durchaus eine gewisse Plausibilität zuweisen, zeigt sich jetzt: Die Kirche kann diese Männer selbst bei einer grundsätzlich einleuchtenden Funktion nicht in ein adäquates und zufrieden stellendes Tauschsystem einbeziehen. Hierin zeigt sich, was die Prekarität der Mitgliedschaft im Sinne Luhmanns ausmacht: Ferner dürfte die Erhaltung der Mitgliedschaft trotz Nichtbeteiligung auf eine ungewöhnlich konkrete, sinnfällige Rücksignalisierung der Präsenz von Kirche angewiesen sein, auf eine gewisse Publizität kirchlicher Aktivitäten, auf die Existenz kirchlicher Bauten, auf Besonderheiten der Sprache und des Tonfalls usw. Schließlich muß eine solche Teilhabe ohne Teilnahme legitimierbar bleiben. Alles in allem sind es übersehbare (nicht notwendig auch auf die Dauer lösbare!) Probleme, die in einem solchen System zur Erhaltung der Motivation akut werden.241
Nicht weil sie selbst keine »aktiven« Mitglieder sein wollen, sondern weil die aktiven Mitglieder eine ganz andere »Zielgruppe« sind und Kirche damit zur selektiven und ausgrenzenden Organisation wird, positionieren sich die Männer jenseits der Grenzen der Organisation – auch wenn sich einige von ihnen als »rechnerische Mitglieder« noch diesseits befinden. Hier sieht sich die Kirche einem Problem gegenüber, das als Problem der Zielgruppen-Orientierung (oder auch der Milieuverengung) weithin bekannt ist: Sie muss spezifisch arbeiten, um Menschen zu »erreichen« – und viele ihrer Angebote sind immer zielgruppenspezifisch gewesen. Eine spezifische Arbeit untergräbt aber in vieler Hinsicht das, was die Kirche an integrativen Kräften hat und womit sie für viele Menschen gerade so attraktiv ist. Nebenbei bemerkt dürfte es mit Blick auf die Zukunft der Kirche nachdenklich stimmen, dass in diesem Diskussionsgang wie auch in den meisten anderen in diesem Gespräch nicht ersichtlich ist, welcher der Männer nicht nur »rechnerisches«, sondern »aktives« Kirchenmitglied ist. Dass solche Aktiven und ihre Motivation zur Mitgliedschaft nicht sichtbar werden, dass sich der Zweck der Organisation über sie kaum vermittelt, scheint zum Wesen der aktuellen Prekarität von Kirchenmitgliedschaft zu gehören.
241 Luhmann, Organisierbarkeit, 260 f.
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1.3.4 Teilhabe ohne Teilnahme: Was Kirche vom Sportverein unterscheidet Was bedeutet es nun für die Kirche, wenn es in ihren Reihen unterschiedliche »Zielgruppen« gibt, deren Haltungen, Kommunikationsgewohnheiten oder Erwartungen so weit auseinander gehen, dass sie kaum miteinander vereinbar sind? Am Beispiel der Sportler war schon spürbar, wie wenig realistisch es ihnen scheint, Jugendliche mit unterschiedlichen Vorstellungen darüber, was Spaß macht und interessant ist, in einer Gruppe zu vereinen. Es ist in den Augen der Gruppe in der Kirche so wie überall: Spätestens »nach den ersten drei Fragen« sind die Unterschiede zwischen Menschen so groß, dass ein Konsens über das Miteinander kaum möglich scheint, von bereits äußerlich sichtbaren Unterschieden in den Mentalitäten gar nicht zu sprechen. Ebenso gravierend erscheinen die Unterschiede in den Teilhabelogiken der Kirchenmitglieder. Sie spiegelt sich eindrücklich in den Befragungsdaten wie denen der bereits genannten Erhebungen. Die Sportler sehen tatsächlich die Unterstützung der Kirche durch eine Mitgliedschaft und entsprechende finanzielle Leistungen als vollgültige Teilhabe. Teilnahme ist in ihren Augen nur etwas für besonders Engagierte, für Kinder, Jugendliche oder Ältere. Dagegen eröffnet beispielsweise die Gruppe der jungen Frauen ein derart großes Spektrum von Vorstellungen über Teilhabe und Teilnahme, dass ein Konsens schon innerhalb dieser ansonsten recht homogenen Gruppe nicht möglich ist:
Petra:
Nicole: Britta: Dörte:
Nicole:
Also ich mein, ist alles gut mit Familiengottesdienst sonntags morgens, aber wenn ich das Bedürfnis habe, in die Kirche zu gehen, dann kommt das bei mir spontan. Und wenn dieser Moment da ist, ist unsere Kirche zugeschlossen. Und das gefällt mir nicht. Ich meine, gut, mit Vandalismus alles gut und schön, aber ich möchte dann in die Kirche gehen können, wenn mir der Moment grad danach ist, und nicht, wenn es mir die Kirche vorschreibt. Und wenn ich jetzt so Urlaub gemacht hab, in Bayern unten, da sind die Kirchen auf, die kleinste Kapelle ist auf. Mein Mann erklärt mich schon für verrückt, weil ich da in fast jede reingegangen bin, und hab mich da erst mal für zehn Minuten hingesetzt. Und wenn ich jetzt zum Beispiel wegen meiner Oma das Gefühl hab, ich müsste mich jetzt da mal ’ne halbe Stunde hinsetzen, kann ich nicht, und das finde ich irgendwie schade. Ja, ich wollte sie mir auch mal ansehen, als wir hierher gezogen sind, man kommt nicht rein. Das ist wegen der Diebstähle, ganz einfach. Also ich weiß von Leuten, die dann wirklich auf die Pfarrer zugehen. Du kannst da ja hingehen und dir den Schlüssel geben lassen, das ist nicht das Problem. Also ich denk, man muss man schon die Initiative ergreifen, also das was einem wichtig ist, in Gang setzen. Dann ist es kein Problem. Aber es kommt drauf an, welche Schwelle man überwinden muss, hier ist es ja anders, das geht weg vom Gottesdienst, mehr Kirche als stillen Raum.
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Fortsetzung Ich mein, ich möchte da jetzt vielleicht allein sitzen, wo kein Pastor redet, wo kein Mensch da ist, wo ich nur alleine da sitze und halt meine Gedanken machen kann. Das wäre für mich jetzt wichtiger, als wenn da noch die halbe Gemeinde um mich rum sitzen würde. Dörte: Obwohl, ich muss sagen, für mich ist die Kirche ein Ort der Gemeinschaft. Ich seh das auch so im Glauben, dass da die Gemeinschaft gewünscht ist und auch angebracht ist, dass das nicht ein Alleinakt von uns Menschen ist. Petra:
In diesem Diskussionsgang stehen drei Vorstellungen über die Kirche, das Gebäude und die Ortsgemeinde in weiten Teilen unvermittelbar nebeneinander : Erstens ist die Rede von einer »Kirche als stiller Raum« und Angebot ohne die »Schwelle« einer Verknüpfung mit einer Gemeinschaft, in die religiöse Erlebnisse eingebettet sein müssen, oder konkreten Inhalten, die hier zu Sprache kommen (müssen). Zweitens wird Kirche sichtbar als die Organisation derer, die »die Initiative ergreifen« und sich für die eigenen (hier : spirituellen) Interessen einsetzen. Und drittens ist Kirche ein »Ort der Gemeinschaft«, die sich ganz zentral im Gottesdienst und der verbindlichen Teilnahme von Glaubenden an einschlägigen Veranstaltungen ausdrückt. Die Kirche wird all diesen Vorstellungen ja üblicherweise durchaus mit einer breiten Palette an Angeboten und Möglichkeiten gerecht – in der Citykirchenarbeit ebenso wie in individueller seelsorgerlich-spiritueller Begleitung, in gottesdienstlichen wie in Gemeinschaft vertiefenden Angeboten. So kann sie, etwa als multifunktionale Institution im Sinne Pollacks, ganz unterschiedliche Bedürfnisse erfüllen und sogar Menschen integrieren, die ihrem eigentlichen Zweck gar nicht zustimmen.242 Aber die Kirche kämpft als Organisation mit den Folgen dieser Differenzierung: Wie die Frauen nur bedingt von derselben Kirche sprechen, lässt sich schon bei dem begrenzten Thema »Besuch einer Kirche« kein Konsens mehr herstellen über den Zweck der Organisation. Im Diskurs der Frauen wird nachvollziehbar, warum das so ist: Was der einen als Bedürfnis nach individueller Andacht plausibel erscheint, bedeutet für die andere eine Ablehnung der Funktion der Ortsgemeinde als Gemeinschaft stiftende Organisation. Eine gewisse Nähe zu dieser Logik hat der Anspruch, man müsse doch selbstverständlich »auf die Pfarrer zugehen«, wenn einem der Besuch in der Kirche wirklich wichtig ist. Wer darauf verzichtet, dem fehlt eben das nötige Engagement. Hier lässt sich beobachten, wie unterschiedliche Teilhabelogiken zur wechselseitigen Abgrenzung (und zu den entsprechenden Ausgrenzungsmechanismen) führen. Man könnte formulieren: Was nützt es der Organisation werdenden Kirche, dass sie die Differenzierung der Gesellschaft nachzeichnet und den Anforde242 Vgl. Pollack, Bindung.
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rungen ganz unterschiedlicher Menschen durchaus gerecht wird, wenn ihre grundlegenden Zwecke schon in einem recht homogenen Kreis nicht mehr geteilt werden? Im weiteren Verlauf des Gesprächs spitzt sich dieses Problem weiter zu, jetzt stärker auf Inhalte und Kernaussagen fokussiert: Nicole: In jeder Kirchengemeinde finden unheimlich viele Sachen statt, die überhaupt nicht von der Kirche getragen sind, die weder christlich noch sonst was sind. Ist ja schön, dass man die Räumlichkeiten nutzt, aber damit bläst Kirche sich auch auf. Wenn sie sich da hinstellen, wir haben Gospelchor, wir machen Seniorentanztee und wir machen dies und machen das. Ja, wer taucht denn hier auf, oder wo ist das christlich, doch auf gar keinen Fall, und das ist eben auch verschleiert. Dörte: Ich finde das alles christlich, ich finde unsere Mutter-Kind-Gruppe auch christlich. (Durcheinanderreden) Britta: Dann muss man erst mal klären, was ist christlich. Petra: Wir haben vorhin doch gesagt, Gemeinschaft ist christlich. Nicole: Es geht doch aber auch um Inhalte, das ist doch kein Sportverein. Dörte: Doch ich finde, Gemeinschaft ist christlich.
Hier gerät die Gruppe jetzt in eine Kontroverse, deren Oppositionen sich nicht auflösen. Für die einen ist Kirche gerade in der Mischung aus klassisch kirchlichen Angeboten (Gottesdienst, Konfirmandenunterricht) und darüber hinausgehenden (Gymnastik-, Mutter-Kind-Gruppe) überzeugend. Die Überschrift für diese unverwechselbare Mischung ist es, Menschen Möglichkeiten zu eröffnen und Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Von anderen, hier ausgerechnet von Nicole, die sich als Nichtmitglied jenseits der Grenze der Organisation befindet, wird vor allem das inhaltliche Profil reklamiert und die Erkennbarkeit von Kirche als spezifisch »christlicher« Organisation: »Das ist doch kein Sportverein.« Hier gerät die Kirche gerade dadurch in die Kritik, dass sie – wie auch in ihrem Verhältnis zu Nichtmitgliedern innerhalb eigener Gruppen – Unklarheiten über ihre Funktion akzeptiert oder sogar selbst produziert. Wie kann also eine Organisation, die sich als »Gemeinschaft der Glaubenden« definiert, einen logischen Zusammenhang herstellen zwischen dem Glauben und dem Miteinander der Mitglieder? Luhmann benennt die Verwandlung von Kirche in einen »Verein für Geselligkeit«243 als Gefahr für die Organisation, weil Kirche damit ihre gesellschaftliche Funktion verliert und nur noch auf der Ebene einfacher Sozialsysteme agieren kann. Einigen der Frauen bedeutet jedoch die Geselligkeit mehr : Sie ist eine wertvolle »Gemeinschaft«, die eine Mutter-KindGruppe durchaus vom Sportverein unterscheidet. Ob dieser Unterschied durch die kirchlichen »Räumlichkeiten« markiert wird oder durch nicht weiter benannte, im Hintergrund präsente oder auch nur symbolisch repräsentierte »Inhalte«, verraten die Frauen an dieser Stelle nicht. Sicher ist aber : Die Organisation Kirche braucht eine plausible Definition 243 Luhmann, Organisierbarkeit, 258.
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ihres christlichen Grundgehalts – und eine Definition für die Art und Weise, auf die dieser Grundgehalt in Strukturen zum Ausdruck kommen soll. Mit einer solchen Definition wäre beiden Seiten gedient: Denen, die spüren, dass sich im profanen Miteinander von Müttern im Gemeindehaus durchaus eine religiöse Gemeinschaft spiegelt, dies aber nicht verbalisieren können, sowie denen, für die schon jetzt die Differenz zwischen Kirche und einem beliebigen anderen Verein nicht mehr plausibel ist. So muss die Kirche – wie jede Organisation – eine schwere Aufgabe lösen: Sie muss mit Blick auf die Vielfalt der Mitgliederinteressen die Entkopplung von Teilhabe (also Mitgliedschaft) von der unmittelbaren Teilnahme hantieren und das eine ohne das andere ermöglichen, ohne langfristig die eigene Existenz zu gefährden. Aus Sicht der Kirche entspricht der Gedanke einer Teilhabe ohne Teilnahme – als logische Konsequenz der Existenz unzähliger »rechnerischer Mitglieder« – ja immerhin dem, was an empirischen Befunden seit Jahrzehnten (oder auch: schon immer) existiert. Für die Kirche bestand die Herausforderung darin, im Anschluss an die Unterscheidung zwischen »aktiven« und »rechnerischen Mitgliedern« – oder auch: zwischen Kern- und Randgemeinde – die Legitimität der »rechnerischen Mitgliedschaft« nach innen zu kommunizieren und in der Praxis zu berücksichtigen. Die Entdeckung der »treuen Kirchenfernen«244 zeigt, wie diese Bemühungen in der Breite der innerkirchlichen Diskussion Früchte getragen haben.
1.3.5 Von der »Entkirchlichung« zur Vielfalt: Ein Rückblick Luhmann beschreibt es als problematisch, dass nicht mehr zweifelsfrei ersichtlich ist, in welchem Zusammenhang die »Dogmatik« der Kirche, also das Verständnis des christlichen Gehalts, und die Systemsteuerung der Organisation miteinander stehen. Die Kirche hat ein Problem gerade damit, dass es »keine »griffige« Übersetzung der gesellschaftlichen Funktion der Religion in die kirchliche Praxis gibt.«245 Wenn Mitglieder verschieden sind und verschiedene religiöse wie profane Interessen haben: Was bedeutet das für die Differenzierung kirchlicher Arbeit und für ihren theologischen Kern? Wo Zusammenhänge und Effekte unklar sind, folgt daraus ein gewisses Unverständnis seitens der Hauptamtlichen und deren hilflose Deutung der Situation als »Entkirchlichung«.246 Wo die Kirche die vielfältigen Einstellungen, Wünsche und Verhal244 Die Wertschätzung für die »treuen Kirchenfernen« gipfelte 1997 im Titel der Mitgliederstudie der EKD: »Fremde Heimat Kirche«. Vgl. Engelhardt/Loewenich/Steinacker, Fremde Heimat. 245 Luhmann, Organisierbarkeit, 261. 246 Ebd., 262.
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tensweisen ihrer Mitglieder nicht mehr mit theologischen Deutungen aufs Ganze der Organisation beziehen kann, muss sie mit ansehen, wie solche Differenzierungen dem religiösen System die Mobilität nehmen, die es dringend bräuchte. Dies lässt sich am Gespräch der Frauengruppe beobachten: Die Frauen nehmen die Vielfalt der kirchlichen Erscheinungsformen (die Möglichkeiten, eine Kirche zu nutzen, oder auch: die verschiedenen Sorten Gruppen und Angebote) nicht als bereichernde Vielfalt auf, sondern als verwirrende Vielzahl konkurrierender Konzepte. Luhmann selbst hat einige Jahre vor der Publikation des hier im Mittelpunkt stehenden Aufsatzes in seinem Werk »Funktionen und Folgen formaler Organisation«247 reflektiert, in welchem Verhältnis der Zweck der Organisation einerseits und die Motivation zur Mitgliedschaft in dieser Organisation andererseits zu einander stehen. Er beschreibt den (aus seiner Sicht ungünstigen) Fall, dass in einer Organisation beides zusammenfällt, indem der Zweck selbst Menschen zur Mitgliedschaft bewegt: Wenn eine Organisation ihren Zwecken Motivationsbedeutung beilegt, und sich darauf verläßt, macht sie sich in der Rationalstruktur ihres Handelns abhängig von den Faktoren, die die Motivationslage bei ihren Mitgliedern beeinflussen und die sie nicht voll beherrschen kann. Sie muß dann ihre Systeminteressen entsprechend definieren. Sie muß insbesondere ihre Zwecke so weich, unbestimmt und vieldeutig formulieren, daß sich möglichst viele heterogen motivierte Mitglieder darunter sammeln können.248
Hier kehren wir zurück zum Dilemma aus dem ersten Abschnitt dieses Textes: Mit Sicherheit kann die Kirche gar nicht anders, als die Vielfalt ihrer Mitglieder zu spiegeln und darin notgedrungen vage zu bleiben. Interne Differenzierung (und darin die Erhöhung von Komplexität) ist zunächst eine erhebliche Leistung des Systems, sie trägt aber kaum dazu bei, auf der anderen Seite den Mitgliedern bei der Reduktion von Komplexität zu helfen. Darum wird für die Zukunft eine wichtige Frage lauten: Wie kann die Kirche es schaffen, ohne Verzicht auf die innere Vielfalt ihren Zweck als nicht beliebig zu kommunizieren und in ihren Strukturen sichtbar zu machen? Warum ein Pate Kirchenmitglied sein muss, ist keine Frage der Grenzen der Organisation, sondern eine Frage nach der notwendigen Übereinstimmung von Motivation zur Mitgliedschaft und Organisationszweck. Es ist eine Frage der formalen Organisation von Kirche, nicht zuletzt auch eine Frage der Theologie, die sich unmittelbar auf Abläufe niederschlägt. Und hier ist eine Kirche vielleicht doch dem Sportverein sehr nah: Wo ein Sportverein eine große Zahl von Mitgliedern verzeichnet, die Sport gar nicht mögen, sich aber im Verein engagieren, weil sie beispielsweise Sport für ein gutes pädagogisches Angebot für Jugend247 Luhmann, Organisation. 248 Ebd., 101.
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liche halten, hat er es mit einem »heimlichen« zweiten Organisationszweck zu tun. Er ist damit in einer ähnlichen Lage wie die Kirche, die weiß, dass eine große Zahl ihrer Mitglieder vor allem aus dem diffusen Gefühl, es handle sich um eine gute Sache, weiterhin ihre Beiträge bezahlt. Wie oben gezeigt, stellt nicht in erster Linie die Existenz einer Mehrheit von »rechnerischen« Mitgliedern das Problem der Kirche dar, sondern die Integration dieser sehr unterschiedlichen Mitglieder in einem wie auch immer gearteten Tauschsystem. Dieses Problem wird eine christliche Kirche nur bewältigen mit einer nachhaltigen Lösung ihres »Zielgruppenproblems«: Zwar hat es beispielsweise die evangelische Kirche in ihrer zielgruppenspezifischen Arbeit in den letzten Jahren zweifellos zu großen Leistungen gebracht. Sie wird aber ihren besonderen Charme – und auch ihren theologischen Kern – nur entfalten können, wenn es gelingt, über persönliche Vorlieben und individuelle Interessen hinweg zu arbeiten und Menschen in eine Gemeinschaft zu integrieren, die Transzendenz erfahrbar macht. Dann wird die Kirche divergierende TeilhabeLogiken verarbeiten und dennoch ihren Mitgliedern verdeutlichen können, worin sie sich vom Sportverein unterscheidet.
1.4
Exklusion, Bindung und Beteiligung in der Kirche: Herausforderungen aus Geschlechter- und Milieufragen249
1.4.1 Einstieg Beim Stichwort »Exklusion« denken die meisten Menschen zunächst an das Problem der Armut. An diesem Phänomen lässt sich sehr gut verdeutlichen, wie Ausgrenzung funktioniert, und es lassen sich Anregungen dafür gewinnen, Ausgrenzung in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens wahrzunehmen, so auch im Raum der evangelischen Kirche. Hier sind die Ausgegrenzten synonym verstanden mit den »Entbehrlichen« und »Überflüssigen«.250 Im Problemkontext der Armut lassen sich gleichfalls Mechanismen von Exklusion verstehen: So wie die Gesellschaft funktioniert, oder besser : so wie die sozialen Gebilde in ihrem Inneren funktionieren, scheinen manche Menschen nicht hineinzupassen. Für die EKD habe ich in den Jahren 2006 und 2007, als empirisches Gegenstück zur Denkschrift »Gerechte Teilhabe«,251 ein Armutsforschungsprojekt durchgeführt.252 Es ging dabei um Teilhabe, um Inklusion und 249 250 251 252
Ursprüngliche Publikation: Schulz, Exklusion. So wörtlich im Aufmerksamkeit erregenden Titel von Bude/Willisch, Exklusion. Kirchenamt der EKD, Teilhabe. Schulz, Ausgegrenzt.
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Exklusion und damit um das Problem, dass manche Menschen in mancher Hinsicht von der Mehrheit der Gesellschaft so weit weg sind, dass es unmöglich zu sein scheint, sie an sozialen Prozessen umfassend zu beteiligen – unabhängig davon, ob wir hier über den Konfirmandenunterricht in einer Gemeinde sprechen oder über den Arbeitsmarkt. Das wichtigste Ergebnis dieser Studie war : Bei der Frage nach Inklusion und Exklusion geht es nicht in erster Linie ums Geld, sondern vor allem um die unterschiedlichen Welten, in denen Menschen leben, mit der Folge, dass man sich manchmal gar nicht verständigen kann, weil die Kontexte oder die Erfahrungsräume, in denen man sich bewegt, zu verschieden sind und weil die Menschen unterschiedliche Logiken anwenden, wenn sie eine Sache beurteilen. Die Debatte um »Exklusion« spielt entsprechend auch in anderen, verwandten Themenbereichen eine Rolle, zum Beispiel in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung. Auch diese sind oft nicht mit dabei, weil sie ebenso wie die anderen »Abgehängten« im Takt der Gesellschaft nicht mithalten können. Wir ahnen schon: Das Problem der Exklusion, betrachtet man es unabhängig von der Debatte um Armut und Benachteiligung, ist kein Spezialproblem einer Minderheit von besonders belasteten Menschen. Es betrifft, je nachdem, wie man den Begriff versteht, in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens insgesamt eine große Zahl von Menschen. In der wissenschaftlichen Diskussion um Exklusion werden deren Wirkungsebenen zunächst in der Auflösung sozialer Bindungen, sodann im Verlust von sozialen Teilhabemöglichkeiten sichtbar.253 Spätestens jetzt ist Exklusion potenziell ein Problem aller, die sich in einem ihrer Lebensbereiche von anderen derart unterscheiden, dass soziale Beziehungen schwächer und Teilhabechancen prekär werden. In diesem Beitrag geht es um die Frage, wie Inklusions- und Exklusionsmechanismen in der Kirche gehandhabt werden, und damit um die Frage: Wer ist dabei, wer nicht, wer ist »drinnen«, wer ist »draußen« und warum ist das so? Um die Parallele mit Armut und Behinderung wieder aufzugreifen: Was fehlt denn denen, die »draußen« sind? Oder was fehlt denen inmitten einer sozialen Gruppe, dass sie die anderen nicht beteiligen können oder wollen? Oder was fehlt dem gesamten System, dass es die einen beteiligt und bindet, die anderen abstößt und ausschließt? Warum können und wollen die einen mitmachen, die anderen nicht? All diese Fragen werden verschärft durch die Tatsache, dass in der Kirche per Definition niemand entbehrlich, überflüssig sein darf. Die Kirche soll und will grundsätzlich für alle da sein. Mit den Befragungsdaten aus den Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD kann man die Stabilität der Kirche ebenso belegen wie ihren drohenden 253 Vgl. Kronauer, Exklusion, 43 ff. Zu beachten sind hier Unterschiede zum systemtheoretischen Verständnis von Exklusion; vgl. etwa Farzin, Inklusion / Exklusion.
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Untergang.254 Man kann mit diesen Daten die Pfarrerinnen und Pfarrer als kirchliche Zentralgestalten der Zukunft beschreiben255 oder als armselige Repräsentantinnen und Repräsentanten einer zerfallenden »Institution« oder noch unvollständigen »Organisation Kirche«,256 von der viele Mitglieder schon jetzt gar nicht mehr wissen, was sie eigentlich macht. Entsprechend der Vielfalt der Ebenen von Exklusion stellt sich die Frage, wie es möglich ist, in Befragungsdaten ein »Drinnen« und »Draußen« zu diagnostizieren und daraus Schlüsse für zukunftsweisende Strategien zu ziehen. Frage ich: »Wer ist faktisch da? Wer macht mit?«, setze ich, etwa im handlungstheoretischen Sinn, voraus, dass jemand zu einer bestimmten Gelegenheit »da« sein soll, sich an etwas aktiv beteiligen oder gar Verantwortung übernehmen soll. Wie soll Kirche also sein? Ist sie zuerst Beteiligungskirche? Ist sie Kirche der Überzeugten (die es dann schwer hat mit den so genannten »treuen Kirchenfernen«)? Ist sie schlichtweg eine Organisation derer, die im weitesten Sinn mit ihrem Zweck übereinstimmen oder deren Motivation groß genug ist, bei einer konkreten Gelegenheit ab und an »dabei« zu sein? Was sind die Kriterien und Indikatoren für Teilhabe? Die verschiedenen Deutungsebenen von »Drinnen« und »Draußen« dienen als Suchkriterien für den Blick aufs empirische Material. So wähle ich einerseits den Zugang über die Verbundenheit evangelischer Kirchenmitglieder mit ihrer Kirche. Diese Verbundenheit ist etwa in den EKD-Erhebungen zur Kirchenmitgliedschaft in der subjektiven Selbsteinschätzung der Befragten zu ihrer Kirchenbindung erhoben worden. Ich wähle andererseits den Zugang über faktische Beteiligung der Kirchenmitglieder am kirchlichen Leben. Die lässt sich ebenfalls über den Umweg der Befragungsdaten und zum Teil anhand von Statistiken über das kirchliche Leben erfassen. Mit diesen beiden vorläufigen Suchkategorien analysiere ich das Material und konzentriere mich auf Differenzen zwischen Frauen und Männern, auf Momente der Beteiligung am kirchlichen Leben, auf die Bedeutung von Gemeinschaft bzw. Geselligkeit und die Bedeutung von Traditionsorientierung. Ich möchte zeigen, in welchen Dimensionen man ein »Innen« und »Außen« von Kirche verstehen kann, wo und wie Exklusion geschieht und welche Faktoren Menschen eher binden oder abstoßen oder beides, bei den einen stärker als bei den anderen, je nachdem, was Menschen sich wünschen, welchen Lebenswandel oder welche Vorlieben sie haben.
254 Zuletzt eindrücklich sichtbar bei Rüdiger Schloz in der jüngsten Mitgliederbefragung der EKD in: Ders., Kontinuität und Krise. 255 So etwa in der programmatischen Schrift Kirche der Freiheit: Kirchenamt der EKD, Perspektiven, 71 ff. 256 Vgl. Hauschildt, Evangelische Großkirche.
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1.4.2 Frauen – die bessere Hälfte der Kirche Wie inzwischen allgemein bekannt ist, ist Kirchenbindung unter anderem eine Frage des Alters. Ältere Menschen sind deutlich kirchenverbundener als jüngere, das zeigen die Mitgliedschaftsuntersuchungen der EKD, seit es sie gibt, ganz deutlich,257 auch wenn bisher die Ursachen und Wirkfaktoren noch nicht eindeutig geklärt sind. Es legt sich aus den Daten der vergangenen dreieinhalb Jahrzehnte die Vermutung nahe, dass sich möglicherweise eine stärkere Verbundenheit mit der Kirche im Lauf des Lebens einstellt und stabilisiert. Wenn man im fortgeschrittenen Alter noch Mitglied ist, ist man der Kirche auch verbundener als in jüngeren Jahren. Abgesehen davon ist Kirchenbindung wie auch Kirchenmitgliedschaft ebenso eine Frage des Geschlechts. In der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland finden sich 51 % Frauen und 49 % Männer.258 Die Evangelische Kirche in Deutschland besteht im Bundesdurchschnitt aus 55 % Frauen und 45 % Männern. In den östlichen Landeskirchen sind es 58 % Frauen und 42 % Männer.259 In den Städten ist ebenfalls der Frauenanteil deutlich erhöht. So hatte etwa die Bremische Evangelische Kirche im Jahr 2007 unter ihren Mitgliedern 58 % Frauen und 42 % Männer.260 Es gibt unter den evangelischen Kirchenmitgliedern zum einen mehr Frauen als Männer, weil in der Kirche die Älteren stärker repräsentiert sind als jüngere Menschen. Vor allem unter den über 70-Jährigen gibt es mehr Frauen als Männer in der Bevölkerung und entsprechend in der Kirche. Zum anderen ist in jedem Jahr auch der Anteil der Frauen an den Ausgetretenen geringer als der der Männer. Oft treten Väter aus, wohingegen die Mütter mit den Kindern in der Kirche bleiben. Was sagen nun die Daten zum Unterschied zwischen den Geschlechtern, wenn es um die Bindung an die Kirche und um eine konkrete Beteiligung geht? Ich ziehe hierfür nun die Daten der vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft mit dem Titel »Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge« heran, deren Daten im Jahr 2002 erhoben wurden261. Geschlechterfragen sind zugleich immer auch Fragen nach gesellschaftlicher Machtausübung: Wer bestimmt das soziale Feld, wer dominiert das Geschehen? Zunächst erscheinen Frauen als die »bessere Hälfte« der Kirchenmitglieder : Sie stimmen den klassisch-kirchlichen Aussagen deutlich öfter zu als Männer, 257 258 259 260 261
Vgl. Schloz, Kontinuität und Krise, Schaubild 4, 57. Statistisches Bundesamt, Stand der Daten: Ende 2007. Statistik der EKD, Stand der Daten: 2007. Mitgliederstatistik der Bremischen Evangelischen Kirche, Stand der Daten: 2007. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung; außerdem: Hermelink/Lukatis/WohlrabSahr, Lebensbezüge.
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etwa der Position, es gehöre zum Evangelischsein, den Gottesdienst zu besuchen und mitzubekommen, was in der Kirche passiert.262 Sie beten öfter und schätzen den persönlichen Kontakt zur Pfarrerein oder zum Pfarrer wesentlich stärker als Männer. Ihre Zustimmung zu diakonischen Aufgaben der Kirche und ihre Wertschätzung für den christlichen Glauben, etwa als »Trost und Hilfe in schweren Stunden«, übersteigen kontinuierlich die der Männer um viele Prozentpunkte, seit es Kirchenmitgliederbefragungen gibt. Überdies lässt sich festhalten, dass die Macht nach wie vor nicht gerecht verteilt ist: Frauen – vielleicht im Zuge ihrer im Vergleich zu Männern insgesamt deutlich höheren Kirchenverbundenheit – stellen 70 % der Mitglieder, die sich in der Kirche ehrenamtlich engagieren. Die Leitungspositionen spiegeln diese große Präsenz von Frauen in der Kirche und ihre offenbar deutlich höhere Zustimmung zur Kirche im Ganzen momentan noch nicht wider : Obwohl der Anteil der Pfarrerinnen stetig steigt und sich die Anzahl der Frauen in Kirchenvorständen, in der mittleren kirchlichen Leitungsebene, in Propsteien und Dezernaten, weiter erhöht, kann in den höheren Positionen und den entscheidenden Gremien von einem weiblichen Übergewicht noch keine Rede sein. Bundesweit übersteigt in kaum einer Landeskirche die Zahl der weiblichen Synodalen ein Drittel der Sitze.263 Es wäre sicherlich zu kurz gegriffen zu unterstellen, dass Männer Frauen von der Macht gezielt fernhalten. Es ist vielmehr zu beobachten, dass Frauen sich nicht ausreichend um höhere Leitungsämter bewerben. Die Strukturen und Arbeitsformen sind offenbar weiterhin so beschaffen, dass sich Männer häufiger als Frauen bereitfinden zu einer Kandidatur um leitende geistliche Ämter. Es geht hier um Struktur-, Status- und um Stilfragen und damit um die Frage, ob sich jemand in einem spezifischen beruflichen Setting wohl fühlt und sich gern engagiert oder eher nicht. Hier sind nach wie vor Geschlechterdifferenzen auszumachen. Die Frauen arbeiten viel in der Kirche, sie tragen im Wesentlichen die Ortsgemeinden und dominieren dort wiederum den Stil. Bei der Verteilung von Macht kommen sie aber zu kurz, unter anderem weil in den Sphären der Macht der Stil ein anderer ist, als der, den viele Frauen in der Kirche bevorzugen. Wir haben es hier mit dem Problem einer »Exklusion der Stile« zu tun, die es für Männer wie für Frauen erschwert, jeweils die Seite zu wechseln. So haben Männer und männliche Jugendliche auch deshalb ein Problem, einen Zugang zu Fragen des Glaubens zu finden und sich am kirchlichen Leben zu beteiligen, weil sie sich ständig einer Mehrzahl von Frauen gegenüber sehen 262 Vgl. die Grund-Auswertung der quantitativen Daten der vierten EKD-Studie, Huber/ Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, hier zitierte Fragen: 1, 26, 13, 20, 12. 263 Vgl. Globig, Art. Frau (Th).
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und damit zugleich auf Atmosphären, Kommunikationsstile und Umgangsformen treffen, die sie selbst vermutlich anders gestalten oder wählen würden. Um dieses Motiv einer »Exklusion durch Stile« zu verdeutlichen, betrachte ich nun die Beteiligungsformen mit Blick auf Frauen und Männer :
1.4.3 Wer macht mit – wer gehört dazu? Der Bindungsfaktor Beteiligung Die Repräsentativbefragung der EKD hat 2002 die Beteiligung von Kirchenmitgliedern ab 14 Jahren erhoben mit der Frage: »Abgesehen vom Gottesdienstbesuch – beteiligen Sie sich am kirchlichen Leben?«264 Zu verschiedenen Bereichen konnten die Befragten nun ihre Beteiligung benennen: von der Arbeit im Kirchenvorstand und in anderen Leitungsfunktionen über die Mitarbeit in Diensten, Gruppen oder Projekten, die Teilnahme an Veranstaltungen oder Kreisen bis hin zur Teilnahme an einmaligen und eher anspruchlosen Aktivitäten, wie ein Besuch eines Gemeindefestes oder die Teilnahme an einer Kirchenwahl sie darstellen. Hier sehen wir das, was wir schon ahnten: Beteiligung in der Kirche bedeutet tatsächlich vor allem eine Beteiligung für Frauen. 40 % der Mädchen und Frauen sind zumindest sporadisch beteiligt, aber nur 33 % der Jungen und Männer. Frauen beteiligen sich stärker als Männer an Kirchenwahlen, ihre Teilnahme an Gemeindeveranstaltungen aller Art ist in allen Altersgruppen größer als die der Männer. Sogar in Leitungsaufgaben sind (in der Gemeinde) die Frauen auf dem Vormarsch, soweit sich das aus den insgesamt eher kleinen Fallzahlen von Mitgliedern in leitenden ehrenamtlichen Funktionen ablesen lässt. Jüngere Frauen sind ebenso wie jüngere Männer deutlich seltener am kirchlichen Leben beteiligt als ältere Kirchenmitglieder beider Geschlechter. Betrachtet man zusätzlich zum Alter die Integration ins Erwerbsleben, so ergibt sich nach den Zahlen der aktuellen Kirchenmitgliedschafts-Studie das folgende Bild:265
264 Vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, Frage 19. 265 Natürlich wurden in der EKD-Studie auch teilweise erwerbstätige Männer und Hausmänner befragt. Ihre Zahl in der repräsentativen Erhebung war aber so gering, dass sie unberücksichtigt bleiben.
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Vollzeit Frauen Teilzeit Frauen Hausfrauen Rentnerinnen
Vollzeit Männer Rentner 0%
20% beteiligt
40%
60%
80%
100%
nicht beteiligt
Abbildung 1: Anteil der am kirchlichen Leben beteiligten Frauen und Männer nach Erwerbstätigkeit266
Mit der geringsten Wahrscheinlichkeit ist ein Mann ins kirchliche Leben integriert, der »in Vollzeit erwerbstätig« ist. Die höchste Wahrscheinlichkeit einer Beteiligung am kirchlichen Leben finden wir bei der Rentnerin oder Pensionärin, gefolgt vom Rentner oder Pensionär und der Hausfrau. Das ist zunächst keine echte Überraschung: »Wer nicht erwerbstätig ist, hat Zeit«, so lautet die allgemeine Annahme, Zeit, um sich und die eigenen Interessen ins Leben der Kirche einzubringen. Interessanterweise ist aber die »in Vollzeit erwerbstätige« Frau um fast zehn Prozentpunkte stärker am kirchlichen Leben beteiligt als der »in Vollzeit erwerbstätige« Mann. Erst jenseits der Erwerbsaltersgrenze verwischt der Unterschied zwischen den Geschlechtern. Man kann also festhalten: Vor allem in jüngeren Jahren scheint die Integration ins Erwerbsleben – vor allem für Männer – nicht so gut mit einer Integration ins kirchliche Leben zusammen zu passen. Was hier Ursache und was die Wirkung ist, lässt sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen. Entkräften lässt sich die Annahme, Beteiligung am kirchlichen Leben sei eine Frage der zur Verfügung stehenden Zeit. Erstens kostet die Teilnahme an einer Kirchenwahl kaum Zeit. Zweitens haben viele Hausfrauen nicht mehr freie Zeit als Erwerbstätige. Und drittens sind auch zeitlich stark verpflichtete Menschen bereit, für bestimmte Dinge, die sie interessieren, Zeit zu investieren. Erstaunlicherweise, das zeigen die höchst aufschlussreichen Daten der Freiwilligensurveys267, scheinen gerade solche Menschen prädestiniert für ein Ehrenamt 266 Datengrundlage ist die EKD-Erhebung, vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung. 267 Die detaillierten Ergebnisse der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und
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bzw. freiwilliges Engagement, von denen man üblicherweise annehmen könnte, sie hätten schon genug zu tun: Die am stärksten ehrenamtlich Aktiven sind erwerbstätige Männer um die 40 Jahre mit Familie und Hobbys. Gerade sie engagieren sich gern am Feierabend noch im Sportverein oder kümmern sich um die Lokalpolitik. Dies ist – ebenfalls eine Überraschung – unter Kirchenmitgliedern ganz genauso. Das zeigt die Frage der EKD-Studie nach dem ehrenamtlichen Engagement unabhängig von der Organisation, in der es stattfindet. Auch hier zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit und freiwilliger Mitarbeit. Offenbar scheint hier die oben beschriebene Logik, nach der eine Integration ins Erwerbsleben der Integration ins kirchliche Leben zuwiderläuft, umgedreht zu sein: Je stärker der Mensch, vor allem der Mann, erwerbstätig ist, desto öfter macht er mit, wenn es um die Sache der Gemeinschaft geht, um gesellschaftliche Anliegen und die Arbeit für einen guten Zweck: Vollzeit Frauen Teilzeit Frauen Hausfrauen Rentnerinnen
Vollzeit Männer Rentner 0%
20% beteiligt
40%
60%
80%
100%
nicht beteiligt
Abbildung 2: Ehrenamtliches Engagement der Mitglieder nach Frauen und Männern268
Das ehrenamtliche Engagement übt auf Männer, die voll ins Erwerbsleben integriert sind, offenbar einen Reiz aus, den das kirchliche Leben im Allgemeinen nicht ausübt. Und obwohl in der Kirche die Frauen den größten Teil der Jugend in den Jahren 1999, 2004 und 2009 durchgeführten Freiwilligensurveys sind zugänglich über http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/ Monitor-Engagement-Nr-2,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf für die Gesamtfassung und http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/PdfAnlagen/3._20Freiwilligensurvey-Hauptbericht,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf für den aktuellen Survey (letzter Zugriff: 20. 02. 2013). 268 Datengrundlage ist die EKD-Erhebung, vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung.
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ehrenamtlichen Arbeit erledigen, sind sie insgesamt, bezogen auf das Ehrenamt innerhalb und außerhalb der Kirche, vergleichsweise wenig engagiert. Hier ist dann auf einer anderen Ebene nach dem Verhältnis von Frauen und Männern zu fragen: Warum schaffen es die Männer, die woanders die Fußballjugend trainieren und dort viele Stunden ihrer Freizeit investieren, nicht zum Gemeindefest oder zur Kirchenwahl? Woher kommt der relativ große Abstand zwischen der Kirche und den Erwerbstätigen? Eine mögliche Antwort ist, dass eine Teilnahme an kirchlichen Angeboten in den Augen der meisten Mitglieder nicht die eigene aktive Mitarbeit nahe legt oder auch nur ermöglicht. Dass ich das Gemeindefest besuche, heißt nicht, dass ich hier auch die Würstchen braten darf oder noch besser : dass ich bestimmen kann, welche Würstchen es gibt, und im Kreis Gleichgesinnter das gute Gefühl haben kann: Dies hier ist »meine« Veranstaltung – diese Kirche ist »meine« Kirche. Eine Kirchenwahl ist hingegen nicht wirklich beteiligend, sie hat mit dem Leben der meisten Mitglieder kaum etwas zu tun, bezieht nur sehr wenige Aktive mit ein und setzt für die, die ihren Sinn umfassend verstehen wollen, einen tieferen Einblick in die personelle und strukturelle Situation der Kirche und ihrer Gemeinden voraus. Wer gestalten, sich einbringen, etwas selbst entwerfen, eine Leistung erbringen und sie gemeinsam feiern, seine Fähigkeiten aus dem Beruf oder seine körperlichen Fähigkeiten einsetzen will und kann, die und vor allem der geht oft lieber woanders hin.
1.4.4 Gemeinde als Gemeinschaft – der Bindungsfaktor Gemeinschaft bzw. Geselligkeit In den Mitgliederbefragungen der EKD geben Frauen sehr viel öfter als Männer an, Kirchenmitglied zu sein, weil sie »die Gemeinschaft brauchen«. Sie suchen auch im Gottesdienst deutlich häufiger das »Gefühl der Gemeinschaft mit anderen«.269 Es ist allerdings nicht leicht zu erfassen, was Gemeinschaft für die Menschen bedeutet, jedenfalls nicht in einer quantitativen Erhebung. Die Grenzlinie zwischen Gemeinschaft (Zusammengehörigkeit, Übereinstimmung) und Geselligkeit (Kontakt, Gemeinschaft mit anderen) ist schwer exakt zu ziehen. Wer jedoch etwa häufig Kontakt zu Menschen in seiner Wohnumgebung hat, wer sich häufig mit anderen trifft und Besuch bekommt, wer es mag, wenn etwas los ist, der nimmt nicht nur häufiger am Gemeindeleben teil, sondern stimmt auch deutlich häufiger zu, wenn (ganz unabhängig vom Sozialen) nach der Bedeutung von Kirche gefragt wird. »Es gehört unbedingt zum Evangelischsein, dass man die Bibel liest.« Das sagen 25 % aller Kirchenmitglieder – 269 Vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, Fragen 12 und 17.
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aber 34 % der so berechneten »geselligen, kontaktfreudigen« Menschen. »Für mich kommt ein Kirchenaustritt nicht in Frage« das sagen 62 % aller Kirchenmitglieder, aber 80 % der »geselligen, kontaktfreudigen« Mitglieder.270 Vollzeit Frauen Teilzeit Frauen Hausfrauen Rentnerinnen
Vollzeit Männer Rentner 0%
20% beteiligt
40%
60%
80%
100%
nicht beteiligt
Abbildung 3: Die Haltung geselliger, kontaktfreudiger Mitglieder zum Kirchenaustritt271
Diese Ergebnisse zeigen: Die Kirche hat es leichter mit Menschen, die gern mit anderen Kontakt haben. Und sie ist weniger attraktiv für solche, die nicht mit anderen »zusammensitzen und reden« wollen, außer über eine konkrete Sache und mit einem konkreten Ziel. Das Ideal einer »Beteiligungskirche« setzt in der Regel voraus, dass jemand, der wirklich bewegt ist vom Evangelium, sich entsprechend häufig in der Gemeinschaft mit anderen Christen aufhält. Diese an sich nachvollziehbare Unterstellung übersieht jedoch, dass es Menschen gibt, auch Christen, die nicht gut kommunizieren können oder nicht gern mit anderen zusammen sind, sich unterhalten und etwas gemeinsam unternehmen. Wie könnte für solche Menschen eine sinnvolle Verbindung von Evangelium und Gemeindeform aussehen?
1.4.5 Jenseits des Alters – der Bindungsfaktor Tradition Wenn ältere Menschen stärker mit der Kirche verbunden sind als jüngere, legt sich die Vermutung nahe, dass Exklusion in der Kirche sich allgemein auf etwas 270 Vgl. ebd., Fragen 1 und 21. Eine umfangreiche graphische Darstellung dieser Unterschiede findet sich in: Schulz, Zielgruppen-Orientierung, 302. 271 Datengrundlage ist die EKD-Erhebung, vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung.
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bezieht, was eine Sache des Alters ist. Ganz allgemein lässt sich beobachten: Die Angebotslandschaft in den Gemeinden spiegelt häufig das Teilnahmeinteresse und die Lebensstile der älteren Generation wider und schließt damit tendenziell Menschen mittleren und jüngeren Alters aus. Nun ist es selten das Alter selbst, das hier wirkt, sondern eher die recht hohe Traditionsbindung der älteren Generation. Traditionsbindung ist – das ist in den Daten nachweisbar – ein enormer Wirkfaktor für die Situation der Kirche. Welche Rolle spielt nun genau die Traditionsbindung für die Kirchenbindung und die Beteiligung? Hierfür legt sich wiederum ein getrennter Blick auf Männer und Frauen nahe. In der jüngsten EKD-Studie stimmen die befragten Frauen allen genannten Gründen für die Kirchenmitgliedschaft stärker zu als die befragten Männer, oft sogar deutlich stärker. Es gibt allerdings es einen Mitgliedschaftsgrund, dem die Männer etwas häufiger zustimmen als die Frauen. Der Unterschied beträgt nur zwei Prozentpunkte, weshalb ihm normalerweise kaum jemand eine Bedeutung beimessen würde. In dieser ungewöhnlichen Konstellation aber wird dieser Satz interessant. Er lautet: »Ich bin in der Kirche, weil sich das so gehört.«272 Es gibt offenbar, das bestätigen die Daten, einen deutlichen Zusammenhang zwischen einer einerseits hohen Kirchenbindung (die mit einer vergleichsweise starken Beteiligung am kirchlichen Leben korreliert) und einer andererseits vergleichsweise konservativen oder traditionellen Haltung. Dieser Zusammenhang ist bei männlichen Kirchenmitgliedern sehr viel stärker zu erkennen als bei weiblichen. Möchte man aus dem Datensatz der EKD-Studie tiefere Einsichten gewinnen, muss man zugleich Unsicherheiten in der Definition des Traditionellen eingestehen: Welche Bedingungen muss ein Mann oder eine Frau erfüllen, damit ich ihn oder sie analytisch mit Recht als traditionsorientiert oder konservativ einstufen kann? In der Bearbeitung des Datensatzes heißt das: Welche Fragen muss ein Mensch wie beantwortet haben, dass ich ihn als »traditionell« einstufen kann? Ein traditionell denkender Mensch könnte sich zum Beispiel dadurch zu erkennen geben, dass er findet, die Kindertaufe »gehört einfach dazu« oder es sei nach einer Familiengründung »für alle Beteiligten viel besser«, wenn die Frau zu Hause bleibt, die Hausarbeit erledigt und die Kinder betreut. Er könnte sich auch durch die starke Erwartung auszeichnen, Kirche solle »die christlich-abendländischen Werte verteidigen« und der Pfarrer möge in seinem »Lebenswandel ein Vorbild für die Gemeinde sein«.273 Wer das denkt, ist nun nicht zwingend konservativ oder traditionell im umfassenden Sinn. Arbeitet man aber probehalber mit diesen Kennzeichen, 272 Vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, Frage 12. 273 Vgl. ebd., Fragen 2, 36, 20 und 15.
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dann zeigt sich: Die so definierte traditionsorientierte Frau ist ein wenig kirchenverbundener und am kirchlichen Leben beteiligter als die weniger traditionsorientierte Frau. Hier sprechen wir jedoch von einem haarfeinen Abstand von einem oder zwei Prozentpunkten, je nachdem wie das »Suchdesign« für diese Traditionsorientierung aussieht. Dieses Ergebnis ist deshalb nicht aussagefähig. Betrachtet man aber die Männer mit demselben Instrument, wird der Unterschied überaus deutlich: Je stärker Männer traditionellen Aussagen zustimmen, desto stärker »wächst« ihre Kirchenverbundenheit einschließlich ihrer faktischen Beteiligung. Die durchschnittlich 33 % der am kirchlichen Leben beteiligten Männer lassen sich so, je nach empirischem »Design« des traditionsorientierten Mannes, auf 37 % oder auch auf 48 % Beteiligung steigern. Auch dieser Befund ist vorsichtig zu interpretieren. Es ist nicht klar : Zieht die Kirche vor allem die Traditionellen an oder macht die Kirche die Menschen gar selbst traditionell? Vielleicht vermag sie schlichtweg solchen Männern eher einen Zugang zu ihrer Welt zu eröffnen, die auf traditionelle Muster ansprechbar sind oder die in der Vielfalt der Angebote ausgerechnet in der Kirche nach entsprechenden, sie bestätigenden Impulsen suchen. Wie steht es aber nun um das Gegenteil? Sind nun im Umkehrschluss die besonders Liberalen, die explizit Modernen oder die so genannten Alternativen besonders kirchenfern und unbeteiligt? Die Daten zeigen: Dies ist nicht der Fall. Zunächst haben wir das gleiche Definitionsproblem wie eben: Wie konstruiert man anhand der Daten das Gegenteil eines traditionsorientierten Menschen? Zum Beispiel mit einem klaren Zuspruch für die gerechte Aufteilung von Erwerbs-und Betreuungsarbeit zwischen Mann und Frau, mit einer hohen Zustimmung zum kirchlichen Engagement für das Kirchenasyl oder einem Ritual für die »Homo-Ehe«? Alle diese Vorlieben und Interessen scheinen in der Analyse der Daten für die Bindung an die Kirche jedoch ohne Folgen zu sein. Interessant dürfte sein: Signifikant unterdurchschnittlich mit der Kirche verbunden fühlt sich das Mittelfeld, also all diejenigen, die keine bestimmten Meinungen haben über Mitgliedschaftsgründe und Funktionen der Kirche, die unentschlossen reagieren, wenn man ihnen Aussagen zum Glauben vorlegt. Daraus ergibt sich: Kirche ist als Anknüpfungspunkt besonders gut geeignet für Traditionelle und immerhin noch relativ erfolgreich bei Menschen mit einer Haltung und Überzeugung, gleich welcher Art. Die »Unentschlossenen« in Fragen der Norm, der Werte und Weltanschauungen tun sich hingegen schwer – und sie sind wiederum sehr viel häufiger männlich als weiblich! Dieses Ergebnis überrascht und lässt fragen, ob nicht doch möglicherweise, jenseits bestimmter Glaubensüberzeugungen, Menschen, die sich gern positionieren, eher einen Zugang zur Kirche finden als andere, denen es ganz allgemein im Leben weniger zusagt, klar Position zu beziehen, zu welchen Fragen auch immer.
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1.4.6 Ausblick: Milieus und ihre Dimensionen verdeutlichen Exklusion in der Kirche Die Faktoren von Kirchenbindung sind zentrale Dimensionen, in denen sich soziale Milieus oder auch Lebensstile voneinander unterscheiden lassen.274 Traditionsbindung, Geselligkeit bzw. Kontaktfreude und das Bedürfnis, nicht nur teilzunehmen, sondern selbst zu gestalten: Für alle dies gilt, dass Menschen solche Verhaltensformen entweder wünschen und praktizieren oder ausdrücklich nicht. Milieus – verstanden als soziale Gruppen, die sich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit in Lebensführung und Einstellung recht ähnlich sind, – sind immer geprägt durch eine bestimmte Haltung zur Tradition, zum zwischenmenschlichen Kontakt, zum Individuum und seinen Aufgaben in der Gesellschaft. Die Perspektive der Milieuanalyse fasst nun die verschiedenen Dimensionen zusammen und beschreibt Typen von Menschen, die wiederum typischerweise mehr oder weniger mit der Kirche verbunden sind und die jeweils in ihrer eigenen Logik und auf ihre Weise in der Kirche aktiv werden oder eher nicht. Für das Problem der Exklusion in der Kirche macht die Milieuperspektive deutlich: Es geht hier nicht in erster Linie darum, dass Kirche einzelne Menschen ausschließt, etwa indem im Einzelfall die Kommunikation misslingt. Es geht nicht um das Problem schlechter Predigten oder um einen pädagogisch wenig gehaltvollen Konfirmandenunterricht, auch wenn so etwas zuweilen vorkommen mag. Es geht darum, dass Kirche immer wieder (jenseits einer Anforderung durch das Evangelium!) Einstellungen, Kommunikationsvorlieben und Stile voraussetzt, die sehr viele Menschen nicht teilen. Wer keine Kontakte mag, der geht nicht zum Gemeindefest und erst recht nicht zum Bibelkreis oder Gesprächskreis. Er kommt auch nicht mehr zum Gottesdienst, wenn er befürchten muss, dass die Pfarrerin angesichts von nur zehn Teilnehmenden vorschlägt, einen Stuhlkreis im Altarraum zu bilden. Wen die Tradition in der Kirche hält, für den ist es nicht unerheblich, ob die Orgel spielt oder nicht und wie der Gottesdienst liturgisch gestaltet ist. Wenn eine Gemeinde das apostolische Glaubensbekenntnis dauerhaft durch ein im Leitbildprozess selbst entwickeltes Glaubensbekenntnis ersetzt, freut das die Einen und schließt dafür andere aus. Anziehungs- und Abstoßungseffekte in der Erscheinungsweise von Kirche lassen den Zugang zum Evangelium häufig exklusiv werden – und führen des Öfteren zur Exklusion. Die Unterschiede zwischen den Milieus spielen eine ähnliche Rolle wie die Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Die Zugangswege der Verschie274 Vgl. die auf die Belange von Kirche hin gestaltete Ausarbeitung von aktuellen Milieu- und Lebensstilstudien: Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus, 86 – 119.
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denen stellen viele momentan aktuellen Strategien in Frage, um Menschen für kirchliche Arbeit zu interessieren und eine Teilhabe an ihr zu befördern. Das Sozialwissenschaftliche Institut der EKD hat in einer Studie aus dem Jahr 2008 eindrücklich gezeigt, wie Kenntnisse über Milieus umgesetzt werden.275 Es gibt »milieuspezifische Gottesdienste« für konservative, relativ gering gebildete Ältere, für intellektuell geprägte, urbane Menschen mittleren Alters und so fort. Diese Veranstaltungen wurden wissenschaftlich evaluiert. Das Ergebnis: Die Angebote erreichen recht genau »ihre Zielgruppe« und stellen diese ziemlich gut zufrieden. Man könnte sagen: Kirche hat ihr Ziel erreicht. Sie kann sich durchaus hoch professionell auf die Verschiedenen einstellen. Aber zu einer milieuspezifischen kirchlichen Veranstaltung kommt nur, wer eine solche Einladung hört oder liest, wer offen ist für die Kirche und ihre Arbeit, wer sich nicht im Vorfeld schon abgestoßen fühlt von der Organisation (oder Institution?) Kirche, von der man nichts Interessantes erwartet. Kirche ist exklusiv – sie betreibt Exklusion, lange bevor ein Kontakt mit konkreten Menschen stattgefunden hat. Ob man das, was in solch einer Situation nötig ist, nun Mission nennen will, Öffentlichkeitsarbeit oder Marketing: Kirche muss, wenn sie zukünftig erfolgreich sein will, den Sprung nach draußen schaffen. Sie muss sich stärker als bisher auch solchen Menschen plausibel machen, die bislang nicht auf sie geachtet haben – darunter auch zahlreiche Mitglieder. Sind die Menschen erst einmal da, als Mitglieder, als Interessierte oder als Suchende, darf auch die Erscheinungsform der Botschaft niemals so spezifisch sein, dass großen Gruppen von Menschen der Zugang derart erschwert wird, wie das gegenwärtig der Fall ist. Nicht alles, was in manchen Gemeinden der gängige Stil ist, gehört deshalb schon zur Grundform des Evangeliums. Oder anders gesagt: Man kann das Evangelium auch außerhalb von geselligen Mustern hören und bewahren, man kann es auch außerhalb von traditionsorientierten Strukturen erleben. Hier gibt es keine Patentlösung außer einer erhöhten Sensibilität der Verantwortlichen im Hinblick auf die milieu- und genderspezifische Verschiedenheit der Menschen –, für gerechtere Zugangswege zum Glauben, für mehr und umfassende Teilhabe im religiösen Prekariat. Nur so ist ein inneres wie äußeres Wachstum einer Kirche möglich.
275 Ahrens/Wegner, Affinität sozialer Milieus.
© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-62426-5 — ISBN E-Book: 978-3-647-62426-6
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2. Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
2.1
Milieuspezifische Profilierung von Ortsgemeinden: Profilgemeinden als Modell zur Steigerung von Beteiligung und Kirchenbindung? Eine Untersuchung am Beispiel der Bremischen Evangelischen Kirche276
Die Ergebnisse der vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft bieten Ergebnisse, die viele Verantwortliche in der Kirche und ihren Gemeinden herausfordern. Die bekannten soziologischen Fakten einer Individualisierung der Gesellschaft und damit ihrer zunehmenden Ausdifferenzierung lassen sich auch unter Kirchenmitgliedern deutlich nachweisen – mit den entsprechenden Konsequenzen: Was die einen lockt, ist anderen ein Graus. Auf Kirchenmitgliedschaft hin formuliert: Was die einen in ihrer Meinung bestärkt, die Kirche sei »eine gute Sache«, vergrößert für andere die innere Distanz.277 Mögliche Reaktionen auf solche Erkenntnisse werden breit diskutiert. Die Parochie mit ihren enormen Chancen ihres wohnortnahen Angebots, aber auch mit der Begrenztheit ihrer Möglichkeiten steht dabei oft im Vordergrund, besonders wenn die Diskussion im Kontext von Strukturveränderungen und Sparmaßnahmen stattfindet.278 Eine zielgruppenorientierte Gemeindearbeit, die Mitglieder je nach ihrem Lebensstil oder ihrer Milieuzugehörigkeit anspricht und damit stärker an die Kirche bindet als das mit einer unspezifischen Arbeit der Fall wäre, bietet sich als mögliches Konzept. Dabei arbeiten die meisten Gemeinden bereits zielgruppenorientiert: Sie konzentrieren sich auf die Bedürfnisse der so genannten Kerngemeinde, die Interesse an der Gemeinde zeigt 276 Ursprüngliche Publikation: Schulz, Ortsgemeinden. 277 Erste prägnante Ergebnisse sowie eine Einführung in die Lebensstilanalyse finden sich in knapper Form im Magazin: Benthaus-Apel, Lebensstile. Eine detaillierte Analyse lebensstilspezifischer Orientierungen liegt seit 2006 mit der Monographie zur vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft vor: Benthaus-Apel, Zugänge. 278 Eine historische Übersicht bis zur gegenwärtigen Diskussion findet sich bei Pohl-Patalong, Ortsgemeinde.
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und bereit ist, ihre Arbeit mitzutragen. Dass die damit »bedienten« kirchlichen Lebensstile jedoch mit Blick auf die Kirche insgesamt häufig nur einen Ausschnitt aus den möglichen Zielgruppen darstellen und die Erosion der Kirche vorwiegend mit der Distanz der übrigen Mitglieder zusammenhängt, ist keine neue Erkenntnis, ebenso wie die »Milieuverengung«, in die die Kirche auf diese Weise geraten ist. So knüpft sich an das Konzept einer zielgruppenorientierten Arbeit meist die Hoffnung auf eine stärkere Berücksichtigung bislang vernachlässigter Lebensstile. Der (groß-) städtische Siedlungsraum erscheint als ideales Testgebiet für solche Versuche: Wer sich vom Profil einer anderen Gemeinde stärker angesprochen fühlt, hat keine großen Entfernungen zu überwinden. Wer umgekehrt mit dem Angebot der eigenen Gemeinde nicht mehr zufrieden ist, zum Beispiel weil hier jetzt »neue« Zielgruppen angesprochen werden, dem werden ebenfalls keine weiten Wege zugemutet, um Angebote zu finden, die den eigenen kirchlich-religiösen Vorlieben entsprechen. Während in dieser Logik grundsätzlich alle Großstädte ins Visier geraten, fällt Bremen durch den hohen Anteil von Mitgliedern auf, die hier zur so genannten Personalgemeinde gehören, d. h. sie sind nach ihrem Willen jetzt Mitglied einer Gemeinde, die nicht ihre Wohnsitzgemeinde ist. Da der Vorgang der Umgemeindung auch für das Kirchenmitglied einen gewissen (wenn auch geringen) Aufwand bedeutet, lässt sich annehmen, dass dahinter jeweils eine bewusste Entscheidung für eine bestimmte Gemeinde und deren Profil steht. Hier könnte, so die Vermutung, eine milieuspezifische Arbeit bereits blühen und gedeihen, die ihrerseits zu einer erhöhten Beteiligung der Mitglieder und einer intensiveren Kirchenbindung führt. Um eine Prüfung dieser These zu ermöglichen und zugleich die Bedeutung einer Profilierung von Gemeinden zu erhellen, gewährte mir die Bremische Evangelische Kirche in den Jahren 2004 und 2005 Einblicke in ihre Mitgliederdatei. Ebenso konnte ich Bewegungsdaten aus einzelnen Gemeinden nutzen, die für eine solche Untersuchung ihr Einverständnis gegeben haben.279 Ich möchte nun in zwei Auswertungsschritten Daten aus der Bremischen Evangelischen Kirche und die Ergebnisse einer Befragung von Engagierten in ausgewählten, personalgemeindestarken Gemeinden vergleichen. Mit Blick auf drei Beispielgemeinden und die Lebensstilanalyse der EKD-Erhebung lassen sich daraus Erkenntnisse über Chancen und Grenzen milieuspezifischer Arbeit gewinnen.
279 Diese Kooperation war zeitlich beschränkt, die Daten sind daher nicht ohne Wiederholung des kompletten Prozesses zu aktualisieren. Aus diesem Grund sind an dieser Stelle Vergleichsdaten, etwa aus der EKD-Statistik, belassen, zu denen eine Aktualisierung möglich gewesen wäre.
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2.1.1 Bedeutung der Lebensstilanalyse für die kirchliche Arbeit Die Erkenntnis der Ausdifferenzierung der Gesellschaft auch unter Kirchenmitgliedern in unterschiedliche Lebensstile mit entsprechend unterschiedlichen Vorlieben setzt sich in Deutschland seit den 1990-er Jahren durch.280 Die vierte EKD-Erhebung hat nun eine Datenbasis bereitgestellt, mit der sich diese Ausdifferenzierung auf konkrete Fragen von Kirchenmitgliedschaft und Glauben »umrechnen« lässt. Hier ist die Austrittsneigung ebenso zu differenzieren wie die jeweiligen Mitgliedschaftsgründe und Glaubensaussagen, die Erwartungen an den Gottesdienst oder einzelne Schwerpunkte wie Spiritualität, sozialpolitische Arbeit oder neue Formen im Gottesdienst.281 So lassen sich verschiedene Muster von Kirchenbindung und Religiosität beschreiben und darin die unterschiedlichen Interessen der Lebensstilgruppen abfragen.282 Relativ wenig überrascht das Ergebnis, dass einige Lebensstile »kirchlicher« sind als andere, indem sie etwa eine erhöhte Verbundenheit und eine dadurch bedingte, verminderte Austrittsneigung aufweisen und deutliche Erwartungen an die Kirche haben.283 Es gibt Ausnahmen von der beschriebenen »Verengung«, wie etwa die Gottesdienste zu hohen kirchlichen Feiertagen oder besonderen familiären Anlässen. Sie erreichen etwa 80 % der Kirchenmitglieder, unabhängig von lebensstilspezifischen Vorlieben. Der Großteil der übrigen Veranstaltungen ist aber deutlich spezifisch und richtet sich am häufigsten an zwei Zielgruppen: ältere, hochkulturell geprägte Mitglieder mit gehobener Bildung und ebenfalls ältere, weniger gebildete Mitglieder mit einem hohen Bedarf an Tradition und Geselligkeit innerhalb ihrer Ortsgemeinde.284 280 Wichtige Arbeiten waren hier etwa die Analyse von Eberhard Hauschildt, der die MilieuKonstruktion Schulzes mit Blick auf Milieus in der Kirche erweitert hat (Hauschildt, Milieus), oder die von Wolfgang Vögele, Helmut Bremer und Michael Vester herausgegebene Studie, die aus soziologischer Perspektive eine Milieudifferenzierung innerhalb der Kirche nachzeichnet: Dies., Soziale Milieus. 281 Milieuspezifische Perspektiven werden im nachfolgenden Beitrag 2.2 »Kirche in der Vielfalt der Lebensstile« weitgehender dargestellt. 282 In der Analyse der EKD-Erhebung wurde die Clusterbildung zunächst als LebensstilAnalyse vorgenommen. Durch Zuordnung sozialstruktureller Daten (Alter, Bildung etc.) werden diese Cluster (unter Berücksichtigung ihrer Entstehungsbedingungen) mit Milieudifferenzierungen anderer Veröffentlichungen kompatibel. 283 In der EKD-Erhebung lässt sich nachweisen, dass die Verbundenheit mit der Kirche und die Austrittsneigung umgekehrt proportional verlaufen, und zwar sowohl in der Gesamtheit der Mitglieder als auch in den Lebensstilgruppen. In dieser Bewegung lässt sich jeweils das eine als Verweis auf das andere verstehen. 284 In der von Friederike Benthaus-Apel entwickelten EKD- Typologie (2003) entspricht dies dem hochkulturell und sozial integrativen sowie dem geselligen und nachbarschaftsbezogenen Lebensstil (Cluster 1 und 2). Die Cluster wurden in späteren Bearbeitungen neu benannt (Benthaus-Apel, Zugänge). Die Bezeichnungen der Cluster sollen hier jedoch keine
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Dem entspricht die Erkenntnis der EKD-Erhebung, dass die austrittsgeneigten Mitglieder vor allem unter den übrigen Mitgliedern zu finden sind. So gehören 53 % der Mitglieder, die angeben, ihr Austritt sei im besten Fall »nur noch eine Frage der Zeit«, zum jugendkulturellen Lebensstiltypus und nur zu verschwindend geringen Teilen zu einer der beiden genannten Zielgruppen. Wo sich Vorlieben und Interessen so deutlich unterscheiden, droht einmal mehr der Abschied von volkskirchlichen Strukturen. Zwischen dem Wunsch, im volkskirchlichen Sinn »Kirche für alle« zu sein, und dem Bestreben, durch milieuspezifisches Arbeiten die Mitglieder direkter zu erreichen, entstehen deutliche Spannungen.
2.1.2 Die Bremische Evangelische Kirche – ein Modell für milieuspezifische Arbeit? In der Bremischen Evangelischen Kirche (BEK) mit ihren 245.165 Mitgliedern285 zählen 14,3 % der Kirchenmitglieder zur so genannten Personalgemeinde. Diese Zahl ist nicht nur EKD-weit die höchste, sondern auch im Vergleich etwa mit dem ähnlich strukturierten Stadtgebiet Hannover (185.000 Mitglieder) enorm hoch, wo sich nur 2 % der Mitglieder der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers um Zugehörigkeit zu einer anderen als der Wohnsitzgemeinde bemüht haben. Selbst im Kirchenkreis Alt-Hamburg, der rund 211.000 Mitglieder umfasst und mit der Nachbarschaft fünf weiterer Hamburger Kirchenkreise über ein hohes Potenzial an städtisch-mobilen Mitgliedern verfügt, liegt der Wert zum selben Zeitpunkt nur bei knapp 6 %. Zunächst ist die Entwicklung der protestantischen Bremer Gemeinden bis hin zur Bildung der BEK im Jahr 1920 als eine wichtige Ursache für die heutige Personalgemeindesituation zu deuten: Während die ersten Initiatoren der Reformation in Bremen lutherisch geprägt waren, erstarkte bis Ende des 16. Jahrhunderts die reformierte Theologie. Lutherische Christen wurden in den kommenden beiden Jahrhunderten der Domgemeinde zugerechnet, die durch Zuzüge von außerhalb Bremens ständig wuchs. Umgekehrt gab es in der Parochie der Domgemeinde reformierte Christen, die ebenfalls Mitglieder einer anderen als der Wohnsitzgemeinde wurden. Dies wurde für einige Gebiete Bremens zum Ausgangspunkt der starken Gemeindeorientierung und des seit 1860 bestehenden Personalgemeindemodells. Die klare Trennung der Konfessionen verschwand ab dem 19. Jahrhundert immer stärker, es entstanden zuRolle spielen. Wo Milieutypen verwendet werden, beschränke ich mich auf zentrale Dimensionen, die den jeweiligen Typus kennzeichnen und das Verständnis für milieuspezifische Anziehungs- und Abstoßungseffekte vertiefen sollen. 285 Stand: 01. 07. 2004.
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sätzlich »lutherische Pfarrstellen« in reformierten Gemeinden. Nur wenige Gemeinden haben bis heute ihre explizite Konfessionsbindung bewahrt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts haben jedoch immer wieder neue Konflikte um theologische Positionen – wie der zwischen »positiver« und »liberaler Theologie« – für Abgrenzungsbewegungen zwischen den Gemeinden gesorgt. Gemeindliche Positionierungen haben so über lange Zeit ein starkes Gemeindebewusstseins geprägt, auch wenn dieses für die meisten Kirchenmitglieder heute keine Rolle mehr spielt. Vieles davon findet sich in den aktuellen Rahmenbedingungen des kirchlichen Lebens in Bremen wieder : Die Gemeinden der BEK sind, mit allen Konsequenzen für Kirchenleitung und -entwicklung oder eine Dienstaufsicht für Pastorinnen und Pastoren, weitgehend selbständig. Die Formel der »Glaubens-, Gewissens- und Lehrfreiheit der Gemeinden«286 hatte 1920 ihren Zusammenschluss zu einer Landeskirche in ihrer besonderen Struktur ermöglicht. Bis heute entscheidet jede Gemeinde über ihre eigene Ordnung, die theologische Schwerpunkte setzt und Verfahrensfragen regelt.287 Die BEK begrüßt ausdrücklich die freie Gemeindewahl ihrer Mitglieder unabhängig von parochialer Zugehörigkeit.288 In der Zuweisung von Kirchensteuermitteln an eine Gemeinde wirkt sich deren Mitgliederzahl unmittelbar aus. Hierarchische Strukturen sind schwach ausgeprägt, gemeindeübergreifende Regelungen wenig gefragt und ausschließlich über den »Kirchentag«, das landeskirchliche Parlament, durchzusetzen. Entsprechend ist unter den engagierten oder am Gemeindeleben interessierten Mitgliedern ein Gefühl der Zugehörigkeit erwartbar, das sich stärker auf die Gemeinde als auf die Landeskirche oder die Evangelische Kirche im Allgemeinen richtet. Diese Situation spiegelt sich in der praktischen Regelung von Umgemeindungen wieder : Wer die Gemeinde wechseln möchte, bestimmt in Bremen mit dem Ausfüllen eines einfachen Formblatts seinen »Übertritt«, der den betroffenen Gemeinden nur noch gemeldet wird. Im Vergleich dazu definiert die benachbarte Ev.-luth. Landeskirche Hannovers die Gemeindezugehörigkeit rein parochial. Ein umgemeindungswilliges Kirchenmitglied ist ein Ausnahmefall 286 Vgl. Verfassung der Bremischen Evangelischen Kirche vom 14. Juni 1920 in der Fassung vom 14. Mai 2003. 287 So entsteht etwa ein enormes Spektrum an Beteiligungsformen in der Gemeindeleitung: Je nach Gemeindezugehörigkeit werden Mitglieder im klassischen Sinn zur Kirchenwahl aufgerufen, dürfen erst nach dem Eintrag in eine Wählerliste ein dem Kirchenvorstand vorgeordnetes, größeres Leitungsgremium wählen oder sie müssen persönlich die Aufnahme in dieses Gremium beantragen, wodurch jede allgemeine Kirchenwahl entfällt. Diesen Modellen ist noch heute das Ringen um Mitbestimmung einer größeren Personenzahl und zugleich die Sorge um das ungetrübte Bekenntnis abzuspüren. 288 So etwa nachzulesen auf der Homepage der Landeskirche unter der Rubrik »Kircheneintritt«: http://www.kirche-bremen.de/orte/kircheneintritt.php (letzter Zugriff: 20. 02. 2013).
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und muss einen »begründeten Antrag an den Kirchenvorstand der aufnehmenden Kirchengemeinde« stellen, der abgelehnt werden kann, wenn »kirchlich anzuerkennende Gründe« der Aufnahme »entgegenstehen«.289 Hier ist die Hürde für die tatsächliche Umsetzung eines Wunsches nach Umgemeindung deutlich höher und die Entscheidung liegt formal bei der Gemeindeleitung. Aus diesem ersten Befund lässt sich über die Bedeutung des hohen Personalgemeindeanteils eine Hypothese formulieren, die anhand des empirischen Materials zu prüfen ist: Im Wirkungsgefüge der strukturellen Bedingungen hat sich in Bremen ein durchschnittlich höheres Bewusstsein von Gemeindezugehörigkeit und möglicherweise sogar eine intensivere persönliche Bindung an eine Gemeinde entwickelt als in anderen Landeskirchen. Dies ließe ein Profil etlicher Ortsgemeinden vermuten, das gezielt mit dem »gewissen Unterschied« zwischen Gemeinden umgeht und milieuspezifische Arbeit im weitesten Sinn ermöglicht oder gezielt fördert.
2.1.2.1 Erste empirische Perspektive: Auswertung statistischer Daten Beim Blick in die Daten fällt zunächst auf, wie stark sich die Anteile der Personalgemeinde in den Bremer Gemeinden unterscheiden: Während die Vorstadtgemeinde Gröpelingen mit hohem Arbeiter- und Ausländeranteil einen Personalgemeindeanteil von knapp 2 % verzeichnet, lockt die traditionsreiche und theologisch profilierte Gemeinde St. Martini im historischen Stadtkern über zwei Drittel ihrer Mitglieder aus anderen Parochien. Der Personalgemeindebestand Bremens verteilt sich entsprechend ungleichmäßig: Die vier Gemeinden mit der höchsten absoluten Personalgemeindezahl führen ein Drittel aller umgemeindeten Mitglieder Bremens in ihrer Kartei, elf der insgesamt 69 Gemeinden bereits über die Hälfte. Nur zwölf Gemeinden führen weniger als 5 % ihrer Mitglieder als Personalgemeinde. Darin ist die BEK eine strukturelle Besonderheit, es lassen sich jedoch bereits spezifische Interessen vermuten, die Mitglieder zur Umgemeindung bewegen. Ein Rückblick in die beiden vergangenen Jahrzehnte zeigt, dass der enorm hohe Personalgemeindeanteil in Bremen keine neue Erscheinung ist. Er ist seit 1983 nur um einen halben Prozentpunkt angestiegen und damit sicher kein direkter Indikator für die Auswirkungen der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft auf die kirchlichen Strukturen. Vielmehr betrifft die Schrumpfung der BEK die Personalgemeinde ebenso wie die Wohnsitzgemeinde: In beiden beträgt der Mitgliederbestand heute nur noch knapp zwei 289 Vgl. Kirchengemeindeordnung (KGO) der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers in der Fassung vom 7. Dezember 1993, zuletzt geändert durch das Kirchengesetz vom 16. Juni 2000, § 8 u. 9.
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Drittel des Bestands von 1983.290 Viele der historischen Gemeinden Bremens, wie etwa St. Ansgarii oder der St. Petri-Dom, die seit Jahrzehnten einen großen Teil ihrer Klientel aus allen Bremer Stadtteilen anlocken, haben sogar einen überproportional großen Verlust an Personalgemeinde zu verzeichnen.291 Auch die explizit reformierten Gemeinden in Aumund und Blumenthal, die heute rund 40 % ihrer Mitglieder zur Personalgemeinde zählen, haben in diesem Bereich starke Verluste verzeichnen müssen,292 weit stärker als in ihrer Wohnsitzgemeinde. So lässt sich in Bremen weniger von einer Vertiefung der Umgemeindungspraxis sprechen als vielmehr von einer einschneidenden Verschiebung der Verhältnisse: Zwei Drittel der Bremer Gemeinden haben ihren Bestand an Personalgemeinde über die Jahre langsam erhöht, viele von ihnen um wenige Prozentpunkte. So gleichen sich insgesamt die Verluste anderer, traditionell personalgemeindestarker Gemeinden wieder aus. Die Zahl der Menschen, die sich für eine andere als die Wohnsitzgemeinde entscheiden, hat sich darin nicht erhöht, aber das Wahlverhalten erscheint weit differenzierter als noch in den 1980-er Jahren. Es wird im Folgenden anhand einiger Gemeinden zu zeigen sein, wie sich diese Differenzierung in unterschiedlichen, aber jeweils zielgruppenorientierten Profilen nachzeichnen lässt. Als weiterer Aspekt ist für die Analyse der Umgemeindungspraxis der Vergleich mit den Daten des kirchlichen Lebens anderer Gliedkirchen der EKD relevant. Unter der Annahme, dass ein bewusster Wechsel der Gemeinde auch mit einer erhöhten jeweiligen Bindung an Gemeinde und Kirche einhergeht, überrascht das Ergebnis: Die BEK erscheint in der Beteiligung ihrer Mitglieder gegenüber anderen Landeskirchen bestenfalls unauffällig:293 Angebote wie Kinder- und Jugendarbeit, Gruppen und Kreise oder andere Veranstaltungen sind normal bis unterdurchschnittlich besucht. In der Zahl der Ehrenamtlichen liegt Bremen etwas unter dem Durchschnitt (3,4 % gegenüber EKD-weit 3,9 % der Kirchenmitglieder). Der Gottesdienstbesuch ist mit 2,8 % der Mitglieder deutlich niedriger als EKD-weit (3,9 %). Ebenso deutlich sind die Austrittszahlen erhöht: 1,1 % der Mitglieder treten aus der BEK in einem Jahr aus (ge290 Der Bestand an Personalgemeinde-Mitgliedern in der BEK beträgt zum 1. 1. 2003 noch 64,6 % gegenüber dem 1. 1. 1983. Der Gesamtbestand an Mitgliedern ist im selben Zeitraum auf 62,3 % gesunken. Die Zahlen sind jedoch nicht direkt vergleichbar, weil zum Jahr 2000 Mitglieder mit Nebenwohnsitz in Bremen statistisch nicht mehr berücksichtigt werden, was sich vor allem auf den Gesamtbestand auswirkt. 291 Die Personalgemeinde umfasste 2004 in St. Ansgarii 49,5 % der Mitglieder (1983 noch 54 %), im St. Petri-Dom 33,9 % (1983 noch 40,6 %). 292 In Aumund sank zwischen 1983 und 2004 der Anteil an Personalgemeinde von 47,7 auf 39 %, in Blumenthal von 48,2 auf 41,4 %. 293 Hier sind die Zahlen der EKD-Statistik sowie der BEK-Statistik über das Jahr 2002 zugrunde gelegt.
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genüber EKD-weit 0,7 %). Dagegen ist die Anzahl der Aufnahmen, Übertritte und Wiederaufnahmen leicht erhöht; sie gleicht aber die hohen Mitgliederverluste nicht aus.294 Diese Zahlen lassen sich natürlich nur indirekt interpretieren, denn die großstädtische Situation Bremens ist schwer mit den Verhältnissen anderer Landeskirchen zu vergleichen.295 Während beispielsweise in der BEK annähernd so viele Taufen vollzogen werden wie EKD-weit (0,8 statt 0,9 je 100 Kirchenmitglieder), sind hier über 20 % davon Erwachsenentaufen – das sind nicht nur doppelt so viele wie EKD-weit, sondern auch mit Abstand mehr als in jeder anderen rein westlichen Gliedkirche. Hier ist die entkirchlichte Stadtsituation zu spüren, in der eine religiöse Sozialisation einschließlich Taufe bei konfessionslosen Erwachsenen nicht mehr vorausgesetzt werden kann. Der Umgang mit dieser Situation verändert zwangsläufig das kirchliche Arbeiten. Dem Datenmaterial sind jedoch keine Anzeichen dafür zu entnehmen, dass sich das kirchliche Leben in Bremen insgesamt bindungskräftiger oder beteiligungsintensiver darstellt, als das in anderen Landeskirchen der Fall ist. Die hohe Zahl der Umgemeindungen lässt zunächst lediglich vermuten, dass Bremer Kirchenmitglieder durchschnittlich öfter die Grenzen ihrer Parochie überschreiten, um eine Veranstaltung zu besuchen oder eine Amtshandlung in Anspruch zu nehmen. 2.1.2.2 Zweite empirische Perspektive: Befragung einzelner Gemeinden In der Befragung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Gemeinden hat sich überraschend ein einheitlicher Spitzenreiter der Umgemeindungsgründe herausgeschält, unabhängig davon, ob es sich um personalgemeindestarke oder -schwache Gemeinden handelte:296 Alle Befragten vermuteten als wichtigsten Grund die Stadtteil- oder auch Parochieverbundenheit ihrer Mitglieder, die sich bei oder nach einem Umzug in die frühere Gemeinde zurückmelden lassen.297 In diesem Sinn beobachten die Gemeinden zwar eine erhöhte Mobilität ihrer Personalgemeindemitglieder, die aber hier gerade durch die Verbundenheit mit 294 Die Zahl liegt EKD-weit bei 0,14 je 100 Mitglieder pro Jahr, in Bremen bei 0,21. 295 Dies zeigt ein Vergleich der Austrittszahlen von 2002 zwischen den Bundesländern Bremen und Hamburg: Hier verzeichnet das Land Bremen »nur« 1,3 % Kirchenaustritte, das Land Hamburg dagegen 1,7 %. 296 Hier handelt es sich um eine teilstandardisierte, im Jahr 2004 im persönlichen Interview durchgeführte Befragung von insgesamt 18 Haupt- und Ehrenamtlichen in Gemeinden mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Personalgemeinde-Mitgliedern. 297 Die Gründe für eine Umgemeindung werden im Verfahren der BEK nicht erfragt. Die genaue Motivationslage wäre in einer empirischen Erhebung unter PersonalgemeindeMitgliedern zu erfassen. Hier muss ich mich jedoch auf die Auswertung von gemeindespezifischen Einschätzungen beschränken.
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der vertrauten (kirchlichen) Umgebung motiviert ist und nicht auf neue Erfahrungsbereiche in sozialer oder »geistlicher« Hinsicht zielt. Der Zusammenhang mit einer Profilierung von Gemeinden ist vage. Auch lässt sich in den Gemeinden kaum beobachten, dass die aus diesem Grund Umgemeindeten in größerer Zahl als auffällig treue Gottesdienstgemeinde oder überdurchschnittlich aktive Mitglieder auftreten. Ein weiterer Faktor ist der Zusammenhang von Teilnahme und Gemeindezugehörigkeit, dem viele Gemeinden der BEK deutlich Beachtung schenken, was sich möglicherweise in den letzten Jahren durch die Mitgliederverluste und Einbrüche in den Kirchensteuermitteln weiter verstärkt hat. Ein Beispiel ist die St. Petri-Domgemeinde: Hier muss bei einer Hochzeit einer der Partner Mitglied der Domgemeinde sein; bei einer Taufe sollte ebenfalls ein Elternteil der Gemeinde angehören. Diese Regel wird deutlich kommuniziert.298 So versuchen die Verantwortlichen, die Amtshandlungen in der Gemeinde, die wegen des Gebäudes für Viele besonders attraktiv sind, nicht nur als Dienstleistungen für alle Bremerinnen und Bremer zu verstehen, sondern mit der Gemeinde enger zu verbinden. Hier spielt ebenso das Interesse mit hinein, arbeitsaufwändige Bereiche durch den entsprechenden Mitgliederbestand indirekt zu finanzieren. Diese Situation findet sich in vielen Gemeinden, die etwa im Bereich der Jugend- und Konfirmandenarbeit Leistungen über die Grenzen der Parochie hinaus erbringen oder mit besonderen Angeboten dauerhaft über ihre Gemeindegrenzen hinweg Menschen anziehen. Während sich in meiner Befragung das direkte Werben (oder besser : Abwerben) von Mitgliedern anderer Gemeinden als Tabu erwiesen hat, achten viele Gemeinden dennoch stark auf die Gemeindezugehörigkeit derer, die ihre Angebote nutzen. Darin, wie sich dies in direkten Aufforderungen zum Gemeindewechsel niederschlägt, gibt es unter den Bremer Gemeinden enorme Unterschiede. Die Verlockung eines gemeindlichen Angebots, in dessen Kontext ein Gemeindewechsel sinnvoll wird, ist eines der Motive zur Umgemeindung, die unmittelbar im Profil der Gemeinde begründet sind. Damit in vielen Fällen verwandt ist die Umgemeindung aus theologischen Gründen. Sie kann sich auf die historisch gewachsenen, konfessionellen Besonderheiten beziehen, die sich innerhalb der BEK in einigen Gemeinden explizit lutherischer oder reformierter Prägung bis heute erhalten haben.299 Sie kann sich ebenso auf ein theologischintellektuelles Gemeindeprofil beziehen, in dem Vorträge oder Seminare eine große Rolle spielen und überparochial attraktiv sind. Zu dieser Kategorie gehören auch Gemeinden, die sich mit einer stark bekenntnisorientierten oder 298 Vgl. http://www.stpetridom.de/index.php?id=55 und http://www.stpetridom.de/index. php?id=57 (letzter Zugriff: 20. 02. 2013). 299 Diese Gemeinden haben traditionell einen hohen Personalgemeindeanteil.
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evangelikalen Ausrichtung derart von anderen unterscheiden, dass sie Mitglieder aus ganz Bremen anziehen und andererseits eigene Mitglieder an benachbarte Gemeinden verlieren. In diesen Ergebnissen wird plausibel, dass die hohe Bedeutung des Mitgliederbestands für die Gemeinden und die allgemeine Aufmerksamkeit für die Gemeindezugehörigkeit der Mitglieder eine wichtige Ursache für den hohen Personalgemeindeanteil in der BEK darstellt. Dies steht aber nicht zwingend in Zusammenhang mit dem Personalgemeindebestand und dem diesbezüglichen Verhalten einer einzelnen Kirchengemeinde. So profitieren viele Gemeinden ungewollt vom Profil ihrer Nachbarn oder werden betroffen von den typischen Wanderungs- und Orientierungsbewegungen innerhalb Bremens. Die Umgemeindung aufgrund milieuspezifischer Vorlieben ist aus dieser Perspektive ebenso schwer zu verorten. Hier ist die Motivlage gewissermaßen »quer« zu den übrigen: Es finden sich Überschneidungen mit anderen Interessen, die anhand konkreter Beispiele aufgeschlüsselt werden müssen. Dies soll im folgenden Abschnitt geschehen. 2.1.2.3 Dritte empirische Perspektive: Beispiele für Profilierung und ihre Folgen In der Analyse von Gemeinden mit sehr hohem Personalgemeindebestand lässt sich vielfach ein deutlicher Zusammenhang beobachten zwischen der Arbeitsweise und dem Erscheinungsbild einer Gemeinde einerseits und ihrer Mitgliederentwicklung andererseits. Anhand dieser Einzelfälle lässt sich konkret auf die besonders angesprochenen Zielgruppen schließen und die Frage beantworten, ob und inwieweit milieuspezifisches Arbeiten hier die Beteiligung und Bindung von Kirchenmitgliedern begünstigt. Als Beispiele dienen hier drei sehr unterschiedliche Gemeinden mit einem überdurchschnittlich hohen Personalgemeindeanteil. Typ A: Bildungsbürgerlich-familienfreundliche Gemeinde Die St. Remberti-Gemeinde mit ihrem heutigen Personalgemeindeanteil von einem guten Drittel der Mitglieder hat eine historische Besonderheit: Das alte Kirchengebäude nahe des historischen Stadtkerns wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Die Gemeinde siedelte mit dem Neubau in den angrenzenden, damals stark wachsenden Stadtteil Schwachhausen um. Die Bevölkerung ist hier überdurchschnittlich gebildet und das durchschnittliche Einkommen ist hoch. Unter älteren Gemeindemitgliedern ist das Selbstbewusstsein einer bürgerlichen Innenstadtgemeinde trotz der Umsiedlung lebendig. Aus ihrer Geschichte heraus versteht sich die Gemeinde als uniert und hat sich einem »undogmatischen
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Christentum« verpflichtet,300 was sich in der Pflege theologischer und philosophischer Diskussionen auf hohem Niveau ausdrückt. Einen hohen Stellenwert im Gemeindekonzept hat die Gewissensfreiheit. Die Pastoren der Gemeinde sind formal auffällig breit qualifiziert, pflegen Kontakte zur Universität und mühen sich um Integration moderner Methoden in die Gemeindearbeit. Bildung spielt eine große Rolle, nicht nur in einem umfangreichen Forum für Information und Diskussion, sondern auch in der Kinderund Jugendarbeit oder in der Kirchenmusik. In dieser Struktur steht die ausdrückliche Modernität der Gemeinde in einem Spannungsverhältnis zu traditionellen Werten ihrer bildungsbürgerlichen Mitglieder. In der Lebensstil-Terminologie der aktuellen EKD-Erhebung ist diese Gemeindearbeit im besten Sinn als hochkulturell und sozial integrativ zu bezeichnen. Dabei zielt das Angebot auch auf Menschen in der Lebensmitte (und ihre Familien) mit einer liberalen Orientierung, vorausgesetzt, sie sind für Konzepte ansprechbar, in der Bildung und intellektuelle Auseinandersetzung zentral sind.301 Die Spannung zwischen Modernität und Tradition erscheint hier als Spannungsfeld auf den Schnittstellen zwischen Milieus und wird von der Gemeinde bewusst aufgegriffen und genutzt. Die Gründe für die Attraktivität dieser Gemeinde über die Parochiegrenzen hinweg302 lassen sich aus ihrer Geschichte und aktuellen Erscheinungsform erschließen: Für viele Mitglieder hat die Zugehörigkeit zur historischen Gemeinde noch eine Relevanz. Sie spiegelt sich in der Umgemeindung von Mitgliedern aus dem früheren Gemeindegebiet wider sowie in Rückmeldungen nach einem Umzug. Dazu kommen zwei stärker inhaltliche Beweggründe: In ihrer theologischen Diskussion mit explizit liberalen Vorzeichen hat die Gemeinde innerhalb Bremens wenig Konkurrenz. Mit gezielter Projektarbeit im Schwerpunkt Jugendarbeit hat sich die Gemeinde außerdem eine Anschlussmöglichkeit für Familien geschaffen, ohne die bildungsbürgerliche Logik zu verlassen. Hier wirkt sich das Teilnahmeverhalten unmittelbar auf den Mitgliederbestand aus.303 Während die Mitgliederverluste der Gemeinde sich in der Personalgemeinde wie der Wohnsitzgemeinde im BEK-Durchschnitt bewegen, ist hier doch ein erhöhter Wert an Taufen und Konfirmationen sowie eine große Zahl an Er-
300 Vgl. »Vorspruch« der Verfassung der St. Remberti-Gemeinde, http://www.remberti.de/typisch-remberti/verfassung/index.html (letzter Zugriff: 20. 02. 2013). 301 Dies meint eine Konzentration auf Cluster 1 mit Berücksichtigung der Cluster 4 und 5. 302 Die Gemeinde hat einen Personalgemeindebestand von 36,4 % ihrer Mitglieder. Er ist seit Jahrzehnten konstant. 303 Dies ist dort der Fall, wo sich Kirchenmitglieder aus anderen Parochien bei regelmäßiger Teilnahme an Veranstaltungen für einen Gemeindewechsel entscheiden.
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
wachsenentaufen zu verzeichnen,304 was sowohl eine traditionelle Prägung wie auch die bewusste Kommunikation über religiöse Themen im Erwachsenenalter spiegelt. Das Konzept dieser Gemeinde kann damit nicht als eines verstanden werden, das den Schrumpfungsprozess der Kirche effektiv verlangsamt. Dennoch scheint das Konzept so erfolgreich auf konkrete Bedürfnisse der ansässigen Personen zugeschnitten, dass eine kontinuierliche Bindung genau ihrer Milieus tatsächlich stattfindet, und zwar über die Grenzen der Parochie hinweg. Typ B: Alternativ-intellektuelle Gemeinde Die Friedensgemeinde im innenstadtnahen Steintorviertel zählt ein gutes Viertel ihrer Mitglieder zur Personalgemeinde, seit einigen Jahren mit steigender Tendenz. Ihre Entstehungsgeschichte, in der die Gemeinde Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Reißbrett für einen neuen Stadtteil geplant und später tatsächlich gegründet wurde, bescherte der Gemeinde eine parochiale Struktur, die heute kaum mehr den tatsächlichen sozialräumlichen Gegebenheiten entspricht. Der Stadtteil kann als Ort der alternativen Szene bezeichnet werden, an dem sich viele Wohngemeinschaften und Singlehaushalte finden, aber ebenso junge Paare mit Kindern leben. Das formale Bildungsniveau ist hoch. Interessanterweise ist das Steintorviertel von anderen Stadtteilen mit einer stärker hochkulturellen Bevölkerung umgeben. Deren Gemeinden umfassen nach der parochialen Neuaufteilung nach dem 2. Weltkrieg ebenfalls etliche Straßenzüge des Steintorviertels, was sicherlich eine der Ursachen für den hohen Personalgemeindeanteil ist. Viele Kirchenmitglieder, die bewusst im Quartier leben und sich dort kirchlich gebunden fühlen, möchten nicht zu einer der umliegenden Gemeinden mit vor allem bildungsbürgerlicher Ausstrahlung gehören. Die Gemeinde präsentiert sich ausdrücklich stadtteilbezogen und sieht die eigene Arbeit als Reflex auf die Bedürfnisse und Interessen der Menschen ihres Viertels, unabhängig von deren Religionszugehörigkeit. Das Motto der Gemeinde lautet »offen evangelisch«305 und kennzeichnet die Gemeinde als bekenntnisorientiertes Forum für alle Interessierten. Das persönliche Gespräch in einer netzwerkartigen Gemeinschaft hat einen großen Stellenwert im Gemeindekonzept und spiegelt sich in Projekten zu religiösen und gesellschaftlichen Themen für alle Generationen sowie im Angebot der offenen Lebensberatung. Der Zusammenhang mit (sozial-) politischer Arbeit ist ebenso offensichtlich wie der mit Kunst und Kultur. Im Jahr 2004 geriet die Gemeinde als Ort für die Aufführung der umstrittenen Inszenierung des Theaterstücks »Die zehn Gebote« 304 Während der Anteil an Erwachsenentaufen an den gesamten Taufen in der BEK bei 20 % liegt im Gegensatz zu knapp 10 % EKD-weit, liegt er in St. Remberti im Jahr 2002 bei 40 %. 305 Vgl. die Selbstdarstellung der Gemeinde, online verfügbar unter http://www.friedenskirche-bremen.de/fk_uberuns1.html (letzter Zugriff: 20. 02. 2013).
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Milieuspezifische Profilierung von Ortsgemeinden
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durch Johann Kresnik in die Schlagzeilen. Die Gemeinde versteht ihre Rolle in diesem Geschehen als die einer Instanz, die christliche Werte wieder ins Gespräch bringt, dem Diskurs einen Rahmen bietet und selbst Gesprächspartnerin ist. Die in Stadtteil und Kirchengemeinde am häufigsten vertretene Lebensstilgruppe mit ihrer liberal-intellektuellen Ausrichtung, überdurchschnittlichen Bildung und dem Trend zu linken oder liberalen Parteien hat eine starke hochkulturelle Orientierung. Dies spiegelt sich in der Gemeinde in dem hohen Bedarf an inhaltlicher Auseinandersetzung, im Interesse an Kunst und dem Engagement über das unmittelbare Lebensumfeld hinaus wieder. Zu diesem Lebensstil gehören aber ebenso jugendkulturelle Orientierungen, die sich im starken Interesse an projektförmigen Angeboten der Gemeinde, individueller Begleitung und leicht begrenzbaren Kontakten ausprägen.306 Neben dieser Profilierung der Gemeinde steht ein klassisch anmutender Bereich aus Angeboten für Kinder, Jugendliche, Senioren und kirchenmusikalisch Interessierte. Bei näheren Hinsehen zeigen sich verbindende Elemente: die Gottesdienstzeit von 11.00 Uhr, nicht nur für Familiengottesdienste, das Angebot eines Glaubenskurses mit der Ausgangszielgruppe der Konfirmandeneltern oder eine Kinderarbeit, in der die Erziehung zur Solidarität mit benachteiligten Gruppen in der Gesellschaft eine große Rolle spielt. Der hohe Personalgemeindeanteil dieser Gemeinde muss zum großen Teil auf die Passung von Lebenswelt der Wohnbevölkerung und Gemeindekonzeption zurückgeführt werden. Ihre Wirkung übt die Gemeinde zu einem wichtigen Teil auf Erwachsene aus: Während sie von Austritten überproportional betroffen ist,307 verzeichnet die Gemeinde zugleich eine gegenüber dem Bremer Durchschnitt verdreifachte Eintritts- bzw. Wiedereintrittsquote.308 Die Zahl der Erwachsenentaufen bewegt sich leicht über dem BEK-Durchschnitt.309 Ähnliche Effekte sind in der Konfirmanden- und Jugendarbeit zu verzeichnen: Die Gemeinde zieht über die eigene Parochie hinaus Konfirmanden an; sie werden, wenn sie noch nicht getauft sind, zu Mitgliedern der Personalgemeinde. Die Taufzahlen belegen dieses Phänomen umgekehrt: Während 2002 der Anteil der Säuglingstaufen (im ersten Lebensjahr des Kindes) an den gesamten Kindertaufen (bis 14 Jahren) in der gesamten BEK 59 % beträgt,310 sind es hier nur noch 33 %. Mit diesem Konzept und seinen sichtbaren Effekten kann diese Gemeinde ein 306 Die Lebensstiltypologie der EKD erfasst diesen liberal-urbanen Typ als Cluster 4. 307 Sie verlor z. B. im Jahr 2002 1,4 % ihrer Mitglieder (1,1 % BEK-weit, 0,7 % EKD-weit). 308 Die Wiedereintrittsquote der Gemeinde von 0,6 je 100 Kirchenmitglieder liegt nur knapp unter der jährlichen Austrittsquote im EKD-Durchschnitt. 309 Ihr Anteil beträgt 25 % der Taufen insgesamt (BEK-weit 20,1 % und EKD-weit 9,5 %). 310 EKD-weit sind es 69 % der Kindertaufen.
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
kontinuierliches Wachstum verzeichnen, das jedoch durch die starke Mobilität dieses Lebensstils, allein schon durch dessen Dispositionen in Alter und beruflicher Einbindung wieder verloren geht. Darüber hinaus wirkt sich die Neigung der Zielgruppe zu kritischer Reflexion und ihr gespaltenes Verhältnis zur Vergemeinschaftung, auch in kirchlich-religiöser Hinsicht, zwiespältig aus: Während die einen sich von dem profilierten Diskurs angezogen fühlen und das Angebot von (begrenzter) Gemeinschaft als wohltuend empfinden, grenzen sich andere Mitglieder derselben Lebensstilgruppe von der Kirche und ihrem Auftreten ab. Hierunter fallen sowohl Menschen, deren Vorstellungen die Arbeit dieser konkreten Gemeinde nicht entspricht, als auch solche, die ihre Haltung stärker auf Grund der medialen Präsenz von Kirche ausbilden und durch das Kontaktangebot vor Ort gar nicht erreicht werden. So zeigt das milieuspezifische Arbeiten hier einen deutlichen Erfolg, der aber in der Denk- und Lebensweise der Zielgruppe zwangsläufig seine Begrenzung erfährt. In der subjektiven Wahrnehmung der Verantwortlichen ist der Anteil der Menschen, die sich im Zuge einer Umgemeindung oder eines (Wieder-) Eintritts explizit für die Mitgliedschaft in der Gemeinde entschieden haben, an den aktiven Mitgliedern auffällig hoch, wenngleich die Gesamtzahl der Ehrenamtlichen nicht höher liegt als in anderen Gemeinden.311 Dies mag zu einer erhöhten Kirchenbindung dieser Gruppe von Mitgliedern führen. Möglicherweise verstärkt das Phänomen entsprechend die Dominanz des beschriebenen Lebensstils im Gemeindeleben und befördert damit das spezifische Auftreten der Gemeinde. Mit Blick auf deren Mitgliederentwicklung ist es jedoch stärker als Modell für einen spezifischen Zugang zu einer für Ortsgemeinden schwer erreichbaren Bevölkerungsgruppe zu verstehen denn als Modell für mehr Bindung und Beteiligung in der Breite des Kirchenmitgliederbestands. Die hohe Zahl an Personalgemeinde bringt in dieser Logik zum Ausdruck, wie hoch der Bedarf an selbstbestimmter Zugehörigkeit gerade in der hier angesprochenen Lebensstilgruppe ist. Typ C: Nachbarschaftlich-gesellige Gemeinde im sozialen Brennpunkt Die Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde in Bremen-Huchting ist eine der jungen Gemeinden Bremens. Sie entstand 1964 und zählt heute ein gutes Drittel ihrer Mitglieder zur Personalgemeinde. Die Bevölkerung des ehemals dörflichen, später durch Arbeiter und Handwerker geprägten Stadtteils stieg nach dem Zweiten Weltkrieg stark an und nimmt seit den 1970-er Jahren langsam wieder ab. Neben überwiegend älteren Bereichen des Stadtteils mit freistehenden Einfamilienhäusern findet sich ein großer Bestand an sozialem Wohnungsbau und einfachen Siedlungs- oder Reihenhäusern. Teile des Stadtteils haben sich zum 311 Dieses Phänomen ist in den anderen Beispielgemeinden so nicht zu beobachten.
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Milieuspezifische Profilierung von Ortsgemeinden
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sozialen Brennpunkt entwickelt. Ein Viertel der Bevölkerung lebt von Sozialleistungen und der Anteil der ausländischen Bevölkerung ist hoch. Der Stadtteil ist an seinen Rändern geographisch deutlich begrenzt; ihn umgibt eine Fläche ohne Wohnbebauung. In der kirchlichen Struktur Huchtings ist die Bonhoeffer-Gemeinde in einer besonderen Situation: Zwei der drei Nachbargemeinden gehören der Evangelischen Allianz an und haben sich unterschiedlich stark evangelikal profiliert. Diese beiden haben, verglichen mit der gesamten BEK, überdurchschnittlich viele am Ort wohnende Mitglieder verloren, ihren absoluten Personalgemeindebestand aber weitgehend bewahrt, was rechnerisch zu einem deutlichen Anstieg des Personalgemeindeanteils führte.312 Die dritte Nachbargemeinde bietet ein stärker liturgisches Profil und hat gleichfalls enorm an Mitgliedern verloren. In dieser Konstellation und mit Blick auf die geographische Lage lässt sich bereits vermuten, dass hier eine kirchliche Wanderungsbewegung innerhalb des Stadtteils stattgefunden hat. Ein Teil der Schrumpfung der Nachbargemeinden dürfte sich also heute im Personalgemeindebestand der BonhoefferGemeinde auswirken. Er ist seit Jahrzehnten stabil; die Mitgliederverluste bewegen sich noch etwas unter dem BEK-Durchschnitt. Die Arbeit der Bonhoeffer-Gemeinde war in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Gründung von den Zugezogenen und ihrer familiären Situation sowie von der linken politischen Bewegung geprägt. Diese Ausrichtung verschob sich mit der Alterung der Wohnbevölkerung, dem neuen Zuzug junger Familien und dem Anwachsen der sozialen Probleme des Stadtteils hin zu einer Gemeindearbeit aus traditionellen und stadtteil- sowie familienbezogenen Strukturen und Angeboten.313 Das integrative Kindertagesheim hat darin bis heute eine wichtige Funktion, weil hier soziale Unterschiede und entsprechende Konflikte vermehrt spürbar sind und Modelle für deren Entschärfung und Bewältigung initiiert und ausprobiert werden. Die Gemeinde präsentiert sich als »Ihre Gemeinde in der Nachbarschaft«314 und legt in ihrem Erscheinungsbild Wert auf einen Bezug zu den Gegebenheiten des Stadtteils. Mit einem »Caf¦ für alle Nachbarn« und einem hier angebotenen Mittagstisch stellt die Gemeinde eine Begegnungsmöglichkeit zur Verfügung und vermietet das Caf¦ in nutzungsfreien Zeiten. Etwas abweichend von der Wohnbevölkerung finden sich unter den Gemeindemitgliedern vor allem ältere Menschen mit einem traditionellen Lebensstil oder Menschen in der Lebensmitte (häufig mit Kindern) mit einer 312 Dies schließt nicht aus, dass sich darüber hinaus Menschen ohne formale Kirchenmitgliedschaft zu diesen Gemeinden zählen und sie auch finanziell unterstützen. 313 Dies wird sichtbar in der Palette aus Kinder-, Jugend-, Frauen- und Seniorenarbeit, gerahmt durch das Angebot an 10.00 Uhr-Gottesdiensten, Kirchenchor und Bibelkreis. 314 Vgl. http://www.kirche-bremen.de/gemeinden/43_dietrich_bonhoeffer/43_dietrich_bonhoeffer.html (letzter Zugriff: 20. 02. 2013).
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
moderneren Orientierung. Beide habe eine Affinität zu Vergemeinschaftung und Nachbarschaftsbezug, sie unterscheiden sich aber deutlich in Alter und Lebenssituation.315 Familienorientierte Angebote, etwa in Familiengottesdiensten, -ausflügen oder im Familienbildungskonzept des KTH bieten für dieses jüngere Milieu einen Anknüpfungspunkt. Für eine im Stadtteil ebenso stark vertretene Lebensstilgruppe, die für nachbarschaftlich-gesellige Veranstaltungen nicht zu gewinnen ist, bieten die Kinder- und Konfirmandenarbeit die wesentlichen Kontaktpunkte zur Gemeinde, wenn solche Menschen denn in Familienzusammenhängen leben und Interesse an entsprechenden Angeboten zeigen. Die erhöhten Zahlen für Taufen und Konfirmationen spiegeln diese beiden Bereiche als tatsächlichen Begegnungsraum aller sozialen Gruppen über die Grenzen der Gemeinde hinaus.316 In diesem Bereich der Kinder- und Jugendarbeit ist ein geringer, aber kontinuierlicher Zugewinn an neuen Mitgliedern in der Personalgemeinde zu verorten.317 Er geht überwiegend auf Kosten der Nachbargemeinden. Aus diesem Befund lässt sich schließen, dass mit der stadtteilbezogenen Arbeit dieser Gemeinde die Halbdistanz der meisten Kirchenmitglieder kaum verändert wird. Mitglieder, deren Lebenssituation und Interessenlage momentan mit den Arbeitsschwerpunkten der Gemeinde übereinstimmen oder deren Vorlieben das spezifische Angebot der Gemeinde trifft, finden hier leicht eine kirchliche Anbindung. Der Gemeinde bescheren ihre soziale Integrationsleistung und volkskirchliche Familienfreundlichkeit eine Anziehungskraft über die Parochie hinaus. Die Anteile an Personalgemeinde spiegeln dabei vor allem die Mehrheitsverhältnisse der Bedürfnisse im Stadtteil, kaum eine erhöhte Kirchenbindung oder gar Beteiligung der Gemeindemitglieder.
2.1.3 Ergebnisse und Konsequenzen Aus den Befunden wird zunächst deutlich, wie stark der hohe durchschnittliche Personalgemeindebestand in Bremen durch die Tradition der BEK und ihre Rahmenbedingungen bestimmt ist. Das in jeder Landeskirche bekannte Phänomen, dass Menschen sich nach einem Umzug weiterhin mit ihrem ehemaligen Wohnort oder ihrer früheren Gemeinde verbunden fühlen, wirkt sich darum in Bremen mit höherer Wahrscheinlichkeit in einer Umgemeindung aus als anderswo. Die Abhängigkeit der Bremer Gemeinden von ihrem jeweiligen Mit315 Sie bilden die Lebensstil-Cluster 2 und 5 der vierten EKD-Erhebung ab. 316 Die Taufen liegen bei 1,3, die Konfirmationen bei 1,4 pro 100 Kirchenmitglieder pro Jahr gegenüber dem BEK-Durchschnitt von 0,8 in beiden Bereichen. 317 Er wird durch natürliche Verluste wie Todesfälle und Wegzug wieder ausgeglichen.
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Milieuspezifische Profilierung von Ortsgemeinden
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gliederbestand steigert darüber hinaus die Aufmerksamkeit für den Zusammenhang von Teilnahmeverhalten und Gemeindezugehörigkeit der einzelnen Mitglieder bis hin zur Umgemeindung. Jenseits des für Bremen typischen, erhöhten Personalgemeindeanteils aller Gemeinden gibt es etliche Gemeinden mit einem selbst für die BEK überdurchschnittlich hohen Anteil oder starken Wachstum in diesem Bereich. Mit Blick auf die Beispielgemeinden lässt sich der Eindruck gewinnen, dass dies meist mit einem bestimmten Gemeindeprofil zusammenhängt. Die Beispielgemeinden sprechen (ohne selbst den Begriff »Milieu« zu verwenden oder diesen analytischen Zugang bewusst zu nutzen) Menschen aus bestimmten Milieus gezielt an bzw. erfüllen bestimmte Bedürfnisse besonders gut. Selbst dort, wo sie stärker vom Profil einer Nachbargemeinde als von ihrem eigenen profitieren, sind Profilierung und Konzentration entscheidende Faktoren für den Personalgemeindeanteil. Die Hypothese, im Wirkungsgefüge der strukturellen Bedingungen habe sich innerhalb der BEK ein durchschnittlich höheres Bewusstsein von Gemeindezugehörigkeit entwickelt, kann als tragend angenommen werden. Dass ein solches Bewusstsein jedoch zu einer durchschnittlich stärkeren Beteiligung oder einer grundsätzlich erhöhten Kirchenbindung nach einer Umgemeindung führe, lässt sich in dieser allgemeinen Form nicht belegen.318 Ebenso ergeht es der in diesem Zusammenhang häufig angestellten Vermutung, Personalgemeindemitglieder stellten üblicherweise den aktiven Kern einer Gemeinde dar. Hierfür wäre eine breite Untersuchung der Verhältnisse in den Ortsgemeinden lohnend. In den Beispielgemeinden gehören tatsächlich sehr viele der aktiven Mitglieder zur Personalgemeinde, was aber mit Blick auf die enormen Personalgemeindeanteile dieser Gemeinden nicht verwundert. Der Anteil der aktiven Mitglieder ist insgesamt in diesen Gemeinden nicht deutlich größer als in anderen Gemeinden. Vermutlich erhöht also nicht die Umgemeindung die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mitglied (noch stärker) kirchennah und engagiert wird, sondern es erhöhen umgekehrt Faktoren wie das Bedürfnis nach Beteiligung oder das Interesse an der Kirche die Wahrscheinlichkeit einer Umgemeindung. Stimmt diese These, dann löst die (Möglichkeit der) Umgemeindung nicht das Bindungsproblem der Kirche, sondern sie begünstigt eine noch effektivere Kirchenbindung einer begrenzten Gruppe von Kirchenmitgliedern,319 was ohne Frage eine enorme Leistung der Gemeinden bedeutet. Die in dieser Hinsicht 318 Dann wäre mit einer signifikant niedrigeren Austrittsquote oder dem durchschnittlichen geringeren Verlust der Gemeinden im Personalgemeindebestand gegenüber ihrem Wohnsitzgemeindebestand zu rechnen, was nicht der Fall ist. 319 Für diese stehen häufig andere Vereine in Konkurrenz zu Kirche und Gemeinde.
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
jedoch problematischen Mitglieder mit einer geringen Motivation zur eigenen Orientierung in der kirchlichen Landschaft werden durch eine mit der Profilierung womöglich verbesserte Ausstrahlung von Gemeinden nur indirekt erreicht. Ein deutlicher, BEK-weiter Anstieg an Personalgemeindemitgliedern ist damit zukünftig nur zu erwarten, wenn weitere Faktoren hinzukommen, etwa indem der Finanzdruck sich in einer stärkeren Konkurrenz der Gemeinden um die Mitglieder auswirkt. Eine milieuspezifische Ansprache scheint auf solche Mitglieder bindende Wirkung auszuüben, die Wert auf eine selbstbestimmte und individuell gestaltete Lebensführung legen, Erwartungen an die Kirche haben und nach geeigneten Orten für deren Befriedigung suchen, ohne auf parochialer Versorgung zu bestehen.320 Die milieuspezifische Arbeit, das zeigen die Portraits der Beispielgemeinden, hat in dieser Logik eine zentrale Bedeutung und verschafft der Kirche in der Großstadt relevante Angliederungsmöglichkeiten für unterschiedliche Mitgliederbedürfnisse. Ohne eine solche Arbeit wäre vermutlich die Austrittsquote hier noch höher als es der Fall ist. Wie schon das Urteil über die Effekte des Bremer Personalgemeindesystems erfährt auch diese Einschätzung der milieuspezifischen Arbeit von Ortsgemeinden zwei entscheidende Einschränkungen: Menschen, die unmittelbar vor Ort ein kirchliches Angebot nach ihrem Geschmack erwarten, werden von einer milieuspezifischen Profilierung unter Umständen eher enttäuscht. Im Beispiel der Gemeinde C und ihrer Nachbarn lässt sich verfolgen, dass die derart Frustrierten sich nur teilweise neu orientieren, sondern häufig den Kirchenaustritt wählen. Was noch schwerer wiegt: Das größte Problem der evangelischen Kirche ist nicht eine zu geringe Zufriedenheit ihrer Mitglieder mit dem konkreten Angebot der Ortsgemeinden, sondern eine langfristig zu große Entfernung zwischen alltäglicher Lebenswelt und Kirche. Dieses Problem ist durch milieuspezifische Arbeit nicht unmittelbar zu lösen: Wo Menschen zu wenig Berührungspunkte mit ihrer Kirche haben und entsprechend das Angebot kaum kennen, werden sie auch durch speziell auf sie zugeschnittene Angebote schwer erreicht. In der Logik der Lebensstilanalyse gesprochen: Es scheint größere Gruppen von Mitgliedern zu geben, die sich durch die Profilierung einer Gemeinde, egal in welcher Form, kaum für deren Arbeit interessieren lassen.321 Weitere Anforderungen, etwa an Mobilität, Reflexion oder Selbstbestimmtheit, verkompli320 Dies trifft besonders auf Teile der Cluster 4 und 5 mit dem Altersdurchschnitt in der Lebensmitte zu (links-liberale und gesellig-familienorientierte Mitglieder) sowie auf Teile des Clusters 1 (hochkultureller Lebensstil). Mitglieder der letzteren Gruppe treten aber mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit aus, wenn ihre Erwartungen enttäuscht werden. 321 Sie finden sich im vergleichsweise extrem austrittsgeneigten Cluster 3, im sozial gering integrierten Cluster 6 und in Teilen des Clusters 4.
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Milieuspezifische Profilierung von Ortsgemeinden
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zieren diese Situation weiter. Wenn man darüber hinaus die Angebotsformen berücksichtigt, mit denen die erfolgreich milieuspezifisch arbeitenden Gemeinden ihr Profil entwickelt haben, wird diese Problematik transparent: Intellektuell geprägte Angebote, kommunikative Elemente, Aspekte von Gemeinschaft bis hin zur Geselligkeit sowie eine familienbezogene Arbeit sprechen einige Milieus kaum an. An Beispielen wie dem Bedarf an Gemeinschaft, den die EKD-Erhebung bereits seit 1972 als vergleichsweise wenig relevanten Grund für die Kirchenmitgliedschaft ausweist, lässt sich dies leicht belegen:322 In der Lebensstilanalyse wird sichtbar, dass Gemeinschaft im kirchlichen Raum nicht nur für die Mehrheit wenig zentral, sondern auch nur in einigen Lebensstilgruppen erwünscht ist.323 Es ist darum zu vermuten, dass die Annahme, Mitglieder seien über Angebote und vor allem im Kontext von Gemeinden und ihrer oft vereinsähnlichen Dynamik anzusprechen und zu binden, für eine wirklich umfassend milieuspezifische Arbeit wenig zielführend ist. Nicht nur allgemein die Struktur gemeindlicher Arbeit, sondern vor allem deren Logik von Angeboten als Angelpunkt für Beteiligung und Kirchenbindung ist hier neu zu bedenken. Es steht außer Frage, dass die Angebotsstruktur etliche Mitglieder an die Kirche bindet, entweder weil sie tatsächlich teilnehmen oder weil bestimmte Angebote für sie unmittelbar mit Kirche assoziiert und darin für ihre Mitgliedschaft grundlegend sind. Angebote als Formen kirchlicher Präsenz sollten jedoch ergänzt werden um solche Formen, die stärker auf die lebensweltlichen Kontexte der Mitglieder, besonders der »kirchenfernen« Mitgliedergruppen hin, angelegt sind. Im Zentrum stehen hier die alltäglichen Denk- und Erlebniswelten der Mitglieder. Sie gilt es zu erschließen und die kirchliche Arbeit mit ihnen zu bereichern. Dabei dürfen gesellschaftliche Entwicklungen wie Individualisierung und Privatisierung als Bedrohung für die volkskirchlichen Strukturen gefürchtet, aber im Bemühen um kontextbezogene Formulierungen der christlichen Botschaft oder sinnvolle gemeindliche Strukturen nicht ausgeblendet werden. Typische Zuordnungen jüngerer Generationen wie die von Religiosität in den Bereich des Intimen oder die der Kirchengemeinde in den Freizeitbereich (als Gegensatz zu »privaten« Bereichen wie Familie, Beruf oder Weltanschauung) stellen die Kirche vor eine enorme Herausforderung: Will sie Kontaktpunkte des Evangeliums mit der gesamten Lebenswelt ihrer Mitglieder bieten, muss sie Wege suchen, damit dieses auch für die Bewältigung des Alltags oder Fragen der 322 Diesen Bedarf zählen 2002 nur 20 % der Mitglieder zu den relevanten Gründen ihrer Mitgliedschaft. Vgl. die Gesamtdarstellung in: Kirchenamt der EKD, EKD-Erhebung, 16. 323 Die extremen Zustimmungen zum Gemeinschaftsbedürfnis als Mitgliedschaftsgrund bewegen sich zwischen 6 % der Befragten (jugendkultureller Lebensstil – Cluster 3) und 45 % (hochkultureller Lebensstil – Cluster 1).
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
Lebensdeutung Relevanz behält oder aufs Neue gewinnt. Hier werden Mitglieder aus bislang für die Kirche schwer erreichbaren Milieus zu Experten und der Kontakt mit ihnen zum Ausgangspunkt gemeindlicher Strukturveränderung. Zum anderen rückt jetzt das äußere Erscheinungsbild der überwiegend durch Medien wahrgenommenen Kirche in den Blick. Sie befindet sich, auch für ihre Mitglieder, in Konkurrenz zu anderen Non-Profit-Organisationen, psychosozialen Dienstleistern etc., so dass sie sich nicht nur in ihrem optischen Auftreten, sondern auch in ihrer Sinnhaftigkeit, Transparenz und Glaubwürdigkeit mit ihnen messen lassen muss. Milieuspezifische Arbeit fällt hier zum Teil in den Bereich gesamtkirchlicher Aufgaben. Aber auch für Gemeinden bedeutet das, die Angebotsstruktur zu ergänzen oder teilweise zu ersetzen durch Arbeitsformen, die kirchliche Kommunikation an die Wahrnehmungsgewohnheiten der Menschen anpassen. Wo Mitglieder häufig kaum mehr eine Vorstellung davon haben, was die Kirche an Inhalten und Möglichkeiten zu bieten hat, könnte es etwa ein Zwischenziel bedeuten, dieses Wissen den Mitgliedern regelmäßig und in ihrer Sprache zugänglich zu machen, ohne Teilnahme oder Engagement zu fordern.
2.2
Kirche in der Vielfalt der Lebensstile: Spezifische Zugänge zur Kirche in Bindung, Erwartung und Beteiligung324
Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft hat die Vielfalt der Perspektiven, der Lebensstile und Weltsichten von Kirchenmitgliedern, aber auch von Menschen außerhalb der evangelischen Kirche, als ein zentrales Ergebnis präsentiert. Der erste Band hat dafür unter anderem eine ausführliche Analyse der Lebensstile geboten.325 Für Kirchenmitglieder unterschiedlicher Lebensstiltypen lassen sich damit jeweils eigene Zugänge zur Kirchenmitgliedschaft beschreiben – und jeweils eigene Schwierigkeiten damit, einen Zugang zur Kirche, ihrer Botschaft und ihren Tätigkeiten zu finden oder zu bewahren. An dieser Stelle möchte ich nun weitere Ergebnisse dieser, auf Basis der quantitativen Befragung durchgeführten Lebensstilanalyse vorstellen und anhand ausgewählter Daten veranschaulichen.326 Damit soll die Anwendung der Typologie 324 Ursprüngliche Publikation: Schulz, Lebensstile in der Kirche. 325 Vgl. Benthaus-Apel, Zugänge; Sammet, Lebensstile; und Schulz, Lebensstile. 326 Eine Tabelle der sechs Lebensstiltypen ist im Anschluss an diesen Beitrag im zweiten Band der EKD-Erhebung abgedruckt: Hermelink/Lukatis/Wohlrab-Sahr, Lebensbezüge, 56 f. Sie soll den Überblick über die im ersten Band der Untersuchung ausführlich vorgestellten Typen erleichtern und die wesentlichen Stilelemente mit Angaben zum Alter, typischem Bildungsstand, Beruf etc. in Erinnerung rufen. Eine verkürzte Tabelle findet sich im folgenden Beitrag 2.3 »Wie hätten Sie’s denn gern?«
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Kirche in der Vielfalt der Lebensstile
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auf aktuelle Fragen kirchlicher Arbeit erleichtert und ihr Nutzwert angesichts aktueller und möglicherweise brisanter Aspekte der Mitgliedschaft aufgezeigt werden.327
2.2.1 Kirchenbindung und Austrittsneigung Mit Blick auf die Verbundenheit der befragten Mitglieder mit ihrer Kirche war ein deutlicher Zusammenhang mit dem Alter aufgefallen: Das Gefühl der Verbundenheit scheint sich – vermutlich nicht durch das Alter an sich, sondern in der biographisch kumulierten Erfahrung durch die Jahre der Zugehörigkeit und Begegnungen mit Kirche in unterschiedlichster Gestalt – mit der Zeit zu intensivieren.328 Anhand der Lebensstilanalyse lässt sich dies deutlich präzisieren:329 In der EKD-Erhebung unter 1.838 evangelischen Kirchenmitgliedern im Jahr 2002 fühlen sich 60 % der Mitglieder ab 65 Jahre der Kirche »sehr« oder »ziemlich verbunden«. Vergleicht man diesen nicht lebensstilspezifischen Wert mit den spezifischen Voten der drei Lebensstiltypen, die die ältesten Kirchenmitglieder ab 65 Jahren repräsentieren,330 so ergibt sich folgendes Bild: Im hochkulturell-traditionsorientierten Lebensstil 1 fühlen sich 77 % der Mitglieder, im gesellig-traditionsorientierten Lebensstil 2 dagegen 55 % ihrer Kirche »sehr« oder »ziemlich verbunden«. Diese Lebensstiltypen weisen beide einen Altersdurchschnitt von 63 Jahren auf. Im traditionsorientierten, unauffälligen Lebensstil 6 hingegen, der bei einem Durchschnittsalter von 53 Jahren immer noch 19 % Kirchenmitglieder ab 65 Jahren repräsentiert, fühlen sich nur 23 % der Kirche »sehr« oder »ziemlich verbunden«. Mit Blick auf den hochkulturellmodernen, im Durchschnitt 19 Jahre jüngeren Lebensstil 4 (45 % hochverbundene Mitglieder) ist diese Zahl überraschend gering. Fragt man umgekehrt danach, wie sich die »sehr verbundenen« Mitglieder 327 An dieser Stelle werde ich die im Rahmen der EKD-Studie gewählten Typenbeschreibungen sowie die klare Bindung an die Lebensstilanalyse als methodischen Hintergrund beibehalten. In der Weiterarbeit ist diese Lebensstiltypologie, die ja über ihre Verwendung weiterer sozialstatistischer Daten eine große Nähe zur Milieuanalyse gewinnt, etwas unschärfer als Milieustudie hantiert und in der Bezeichnung der Typen verändert worden; vgl. Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus. So sind die hier verwendeten Typen unter Beibehalten ihrer Nummerierung in späteren Beiträgen anders benannt, aber mit den hier genannten inhaltlich identisch. 328 Dieser Effekt findet sich im ersten Band der Untersuchung in einer Graphik veranschaulicht; vgl. Schloz, Kontinuität und Krise, 57 (Schaubild 4). 329 Die folgenden Angaben sind als Kreuztabellen zu finden unter Benthaus-Apel, Zugänge, 232 f (Tabellen 2 und 3). 330 Kirchenmitglieder ab 65 Jahren verteilen sich prozentual wie folgt auf die Lebensstiltypen: Typ 1: 28 %; Typ 2: 43 %; Typ 3: 1 %; Typ 4: 6 %; Typ 5: 3 %; Typ 6: 19 %; (n=398).
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
aller Altersgruppen auf die Lebensstiltypen verteilen,331 zeigt sich, dass 39 % dieser Mitglieder aus dem Lebensstil 1 stammen, der jedoch insgesamt nur 13 % der Kirchenmitglieder repräsentiert. Der traditionsorientierte, unauffällige Typ 6, mit seinem Altersdurchschnitt von 53 Jahren zwischen den ersten beiden Typen und dem Typ 4 anzusiedeln, umfasst nur 6 % der Mitglieder mit höchster Verbundenheit. Entsprechend niedrig ist die Beteiligung, möglicherweise auch die Integration dieses Lebensstils in der Kirche. 1 - hochkulturell-tradiconsorientiert 9%
6%
2 - gesellig-tradiconsoriencert 39%
14% 1%
3 - jugendkulturell-modern 4 - hochkulturell-modern
31%
5 - von Do-it-yourself geprägt, modern 6 - tradiconsoriencert, unauffällig
Abbildung 4: Kirchenmitglieder mit dem höchsten Grad an Verbundenheit nach Lebensstiltyp (Frage 9)332
Dieser Befund führt zu folgender These: Die Verbundenheit mit der Kirche scheint erst in zweiter Linie eine Frage des Alters zu sein. Zentral ist vielmehr die Ausprägung des Lebensstils, die sich hier beobachten lässt. Der Lebensstil korreliert wiederum in der Alltagspraxis mit der tatsächlichen Nähe der jeweiligen Mitglieder zur Kirche und ihren Arbeitsbereichen. So zeigen Lebensstiltypen mit einem ähnlichen Durchschnittsalter, gefragt nach ihren Vorlieben und vor allem nach Mustern ihrer Beteiligung oder Mitarbeit, deutliche Differenzen, was in den folgenden Abschnitten immer wieder deutlich werden wird. Ein Beispiel im Vergleich der Lebensstiltypen 1 und 2, die mit 63 und 65 Jahren einen ähnlichen Altersdurchschnitt haben: Während mehr als die Hälfte der Mitglieder des Typs 1 mindestens einmal im Monat einen Gottesdienst besuchen, tun es nur 35 % der Mitglieder vom Typ 2. Der Typ 1 beteiligt sich zu 73 % am kirchlichen Leben, der Typ 2 nur zu 43 %, was mit Blick auf die Gesamtzahl der Mitglieder noch überdurchschnittlich ist. Die Unterschiede im Lebensstil
331 Hier handelt es sich um 14 % der Mitglieder, n=243. 332 Vgl. Frage 9 im Datenanhang von Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, 446. Differenzierung nach Lebensstiltypen: eigene Berechnung.
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Kirche in der Vielfalt der Lebensstile
überlagern so in vielen Bereichen die Gemeinsamkeiten des Alters – ein Phänomen, das sich auch mit Blick auf andere Altersgruppen zeigt. Abgesehen davon, dass Kirche offenbar »mit der Lebenszeit«, also über den Faktor »Alter«, ihre Mitglieder binden kann, kann sie es noch stärker über Affinitäten zu Lebensstil-Dimensionen, also in Wechselwirkung mit Elementen der Lebensführung und Werte- und Normorientierung. Die Auswirkungen sind überall dort beträchtlich, wo nach Berührungspunkten mit kirchlicher Arbeit gefragt wurde, sei es der Gottesdienstbesuch, eine konkrete Teilnahme oder Kontakte mit dem Pfarrer oder der Pfarrerin (vgl. Abschnitte 2.2.3 und 2.2.4). Fragt man nun umgekehrt nach Abstoßungs- oder Ausschließungseffekten, erhält man ebenso auffällige Ergebnisse: Nur wenige der Mitglieder, insgesamt 107 Personen (6 % der Befragten), geben an, »bestimmt so bald wie möglich« aus der evangelischen Kirche auszutreten bzw. »eigentlich schon fast entschlossen« zu sein, ihr Austritt sei nur noch »eine Frage der Zeit«.333 Diese Austrittsbereiten konzentrieren sich ausgesprochen einseitig in einigen Lebensstiltypen, 53 % von ihnen gehören zum Lebensstiltyp 3. Auch wenn hier die kleine Zahl der austrittsbereiten Befragten Vorsicht in der Interpretation der Werte nahe legt, fordern diese enormen Unterschiede zwischen den Lebensstiltypen Aufmerksamkeit: 4% 3% 9%
2 - gesellig-tradiconsoriencert
13% 18%
1 - hochkulturell-tradiconsorientiert
3 - jugendkulturell-modern 53%
4 - hochkulturell-modern 5 - von Do-it-yourself geprägt, modern 6 - tradiconsoriencert, unauffällig
Abbildung 5: Austrittsbereite Mitglieder nach Lebensstiltyp (Frage 21)334
333 Vgl. Frage 21 im Datenanhang von Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, 458. Differenzierung nach Lebensstiltypen: eigene Berechnung. 334 Ebd.
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
Ein schwacher Bezug zur Kirche drückt sich einerseits durch eine geringe »gefühlte Nähe« aus, wie die Abbildung 4 zeigt: Nur 1 % der stark verbundenen Mitglieder gehört diesem Lebensstiltyp 3 an. Andererseits ist diese geringe Nähe als faktische Verbindungslosigkeit zum kirchlichen Leben zu beobachten; sie macht den jugendkulturell-modernen Lebensstiltyp 3 zum typischen »Lebensstil des Kirchenaustritts«. 1 - hochkulturell-tradiconsorientiert
3% 21%
8%
2 - gesellig-tradiconsoriencert 3 - jugendkulturell-modern
16%
41% 11%
4 - hochkulturell-modern 5 - von Do-it-yourself geprägt, modern 6 - tradiconsoriencert, unauffällig
Abbildung 6: Nicht oder kaum verbundene Kirchenmitglieder nach Lebensstiltyp (Frage 9)335
Vergleicht man die Verteilung der Austrittsbereiten auf die Lebensstiltypen (Abbildung 5) mit der Verteilung der kaum oder gar nicht kirchenverbundenen Mitglieder, zeigt sich ein interessanter Umstand: Zu den Lebensstilen 3 und 4 gehören 41 % bzw. 11 % der nicht oder kaum verbundenen Mitglieder, obwohl sich in diesen Typen anteilig weit mehr, nämlich 53 % bzw. 18 % der austrittsbereiten Mitglieder finden. In diesen Lebensstiltypen scheint eine geringe Verbundenheit den Austritt direkt nahe zu legen, während umgekehrt für die Lebensstile 2, 5 und 6 eine geringe Kirchenbindung nicht unbedingt auch eine Austrittsbereitschaft bedeutet. In diesen Lebensstiltypen ist der Anteil der Austrittsbereiten deutlich kleiner als der Anteil der Nichtverbundenen. Für diese Mitglieder gibt es, so kann man vermuten, Einstellungen gegenüber der Kirche, die eine Mitgliedschaft nicht unmittelbar an bestimmte Erfahrungen oder die aktuelle Übereinstimmung mit der Organisation Kirche koppeln. Es lässt sich also zeigen: In einigen Lebensstilen wird die Zugehörigkeit zur Kirche auch dann eher nicht aufgegeben, wenn es momentan kaum inhaltliche Übereinstimmung oder faktische Anbindung an die Kirche gibt. Möglicherweise bedeutet Kirchenmitgliedschaft für solche »Kirchenfernen mit stabiler 335 Vgl. Frage 9 im Datenanhang von Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, 446. Differenzierung nach Lebensstiltypen: eigene Berechnung.
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Kirche in der Vielfalt der Lebensstile
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Mitgliedschaft« stärker eine Zugehörigkeit zur christlichen Wertegemeinschaft oder transportiert andere Logiken jenseits der kirchlichen Beteiligungsideale. Dagegen steht die Gruppe von »Kirchenfernen mit instabiler Mitgliedschaft«: Wo persönliche Bezüge zur Institution oder Organisation Kirche rationalisiert werden, wird ein Austritt wahrscheinlicher, wenn es an guten Gründen für eine Mitgliedschaft mangelt. Wie sich der Lebensstiltyp eines Mitglieds auf einzelne Dimensionen der Kirchenmitgliedschaft auswirkt, möchte ich in den folgenden Abschnitten zeigen.
2.2.2 Mitgliedschaftsgründe der Lebensstiltypen Idealerweise, könnte man denken, gibt die Lebensstilanalyse Hinweise darauf, welche Aspekte von Kirche, welche Veranstaltungsformen oder Kommunikationswege für die einzelnen Lebensstiltypen reizvoll sind und welche speziellen Bedürfnisse von Mitgliedern sich auf welche Weise befriedigen lassen. Auch in theologischer Hinsicht könnte das Verständnis der unterschiedlichen Zugänge und Denkweisen der Lebensstiltypen wertvolle Hinweise geben. Es lassen sich tatsächlich aus der Lebensstilanalyse zahlreiche Erkenntnisse über unterschiedliche Zugänge der Typen gewinnen. Dies ist häufig in indirekter Form möglich – jenseits der kirchlichen Denkmuster von Angebot und Beteiligung, wonach sich aus einzelnen Mitgliedschaftsgründen auf ein konkretes Interesse an kirchlichen Angeboten schließen ließe. Anhand der Frage nach den Gründen für die Kirchenmitgliedschaft möchte ich dies hier exemplarisch darstellen. Zu 13 der insgesamt 17 Mitgliedschaftsgründe336 »zeichnen« die sechs Lebensstiltypen ein Bild der abgestuften Zustimmung, wie es hier exemplarisch zu den Items »weil ich religiös bin« und »weil ich die Gemeinschaft brauche« sichtbar ist: Die zustimmungsstärksten Lebensstile 1 und 2 sind gefolgt durch die Typen 4, 5, 6 und 3. Diese Rangfolge des Interesses ist, wie ich noch zeigen werde, an einigen interessanten Stellen durchbrochen. Es findet sich also in den konkreten Aspekten von Kirche etwas wieder, das sich als »generalisierte Kirchennähe« bzw. »generalisierte Kirchenferne« von Lebensstilen bezeichnen lässt: Der bereits als am stärksten kirchennah beschriebene hochkulturell-traditionsorientierte Lebensstil 1 nimmt in seiner Zustimmung zu den im Fragebogen genannten Mitgliedschaftsgründen fast immer die Rolle des Spitzenreiters ein, gefolgt vom gesellig-traditionsorientierten Lebensstil 2. Man kann sagen: Die Kirchennähe dieser beiden Lebensstiltypen bezieht sich – wenn auch in unter336 Vgl. Frage 12 ebd., 449 f.
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
schiedlicher Gewichtung – verhältnismäßig unspezifisch auf das gesamte kirchliche Angebot. Umgekehrt gilt dies für die Kirchenferne der Lebensstile 3 und 6: Ihre Zurückhaltung gegenüber verschiedenen Mitgliedschaftsgründen erscheint (mit Ausnahmen) relativ unabhängig vom jeweiligen Bereich kirchlichen Handelns. Um dieses Verhältnis zu veranschaulichen, ist in den folgenden Balkendiagrammen die Reihenfolge der Typen umgekehrt und an einer Stelle verändert worden: Der jugendkulturelle Lebensstiltyp 3 ist als erster Typ ausgewiesen, anschließend finden sich die Typen in umgekehrter Reihenfolge, so dass der Typ 3 direkt vor dem ebenso kirchenfernen Lebensstiltyp 6 abgebildet ist und der Lebensstiltyp 1 mit der größten Kirchennähe das Schlusslicht bildet. Der »christliche Glaube« bildet für die Typen 1 und 4 den wichtigsten Mitgliedschaftsgrund unter den abgebildeten Items. Die Lebensbegleitung durch Kasualien erhält als Mitgliedschaftsgrund eine homogenere Zustimmung und scheint für die Typen 2, 5, 6 in dieser Hinsicht relevanter zu sein. Obwohl hier der jugendkulturell-moderne Typ 3 mit einer Zustimmung von 37 % der Befragten das Schlusslicht darstellt, ist diese Zustimmung angesichts der Begründungsstruktur des Lebensstils 3 insgesamt überdurchschnittlich stark.
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Kirche in der Vielfalt der Lebensstile
Ich bin in der Kirche, weil… mir der christliche Glaube etwas bedeutet
weil ich religiös bin
weil ich auf kirchliche Trauung oder Beerdigung nicht verzichten möchte
weil sie etwas für Arme, Alte und Kranke tut
weil ich die Gemeinscha_ brauche
weil meine Eltern auch in der Kirche sind / waren
sich das so gehört
0%
20%
40%
60%
80%
100%
1 - hochkulturell-tradiconsorientiert 2 - gesellig-tradiconsoriencert 4 - hochkulturell-modern 5 - von Do-it-yourself geprägt, modern 6 - tradiconsoriencert, unauffällig 3 - jugendkulturell-modern
Abbildung 7: Zustimmung der Lebensstiltypen zu ausgewählten Mitgliedschaftsgründen (Frage 12): »Ich bin in der Kirche, weil …«337
337 Befragungsdaten und Clusterbildung sind entnommen aus der EKD-Erhebung von 2002; vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung. Die Abbildung zeigt den Anteil der Be-
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
Der Grad der Zustimmung zu einzelnen Items liegt im Typ 3 grundsätzlich auf einem niedrigeren Niveau als bei anderen Typen. Er zeigt – geradezu als Spiegel des Lebensstils 1 – die geringste Zustimmung zu allen Antwortmöglichkeiten. Dies betrifft sowohl christlich-religiöse Begründungen als auch Aspekte der Diakonie und der Gemeinschaft innerhalb der Kirche. Eine Ausnahme bilden hier allerdings solche Items, die eine Orientierung an der (nur indirekt religiösen) Tradition ansprechen: »Weil meine Eltern auch in der Kirche sind bzw. waren« ist immerhin für 39 % der Mitglieder des Lebensstiltyps 3 offenbar eine Erklärung für die eigene Kirchenmitgliedschaft. Sogar der Mitgliedschaftsgrund »weil sich das so gehört«, für den man vom jugendkulturell-modernen Typ 3 nicht unbedingt Zustimmung erwartet, erhält hier eine, verglichen mit dem Durchschnitt aller Mitglieder, erhöhte Zustimmung. Möglicherweise spielt der Lebenskontext, in dem aus der Perspektive dieses Lebensstils 3 alles von der eigenen Gestaltung und dem eigenen Erfolg abhängt und in dem Wurzeln des eigenen Lebens und Beheimatung im weitesten Sinn relevant werden, hierbei eine wichtige Rolle. Dieses Interesse des Typs 3 bezieht sich jedoch deutlich nicht auf Religiosität oder die christliche Konnotationen einer solchen Beheimatung. Der hochkulturell-moderne Lebensstiltyp 4, der sonst durch seine im Vergleich mit den Typen 3, 5 und 6 relative Kirchennähe auffällt, votiert hier traditionskritisch. Die »Gemeinschaft« in der Kirche als Mitgliedschaftsgrund, die im Durchschnitt die Zustimmung von 20 % der Mitglieder erhält, erweist sich hier als deutlich lebensstilspezifisch: Für die Typen 3 und 6 ist diese Begründung kaum relevant, sie stimmen nur mit 6 bzw. 9 % zu. Das verwundert nicht, denn diese Typen zeigen im Vergleich ein geringes Interesse an Interaktion in lokalen Bezügen. Der von Do-it-yourself geprägte, moderne Lebensstiltyp 5 hat zwar in seiner Lebensführung eine deutliche Affinität zur Geselligkeit, die Gemeinschaft innerhalb einer Ortsgemeinde ist für diesen Typ jedoch offenbar vergleichsweise unattraktiv. Woran das liegt, lässt sich nur vermuten: Möglicherweise mangelt es dem Typ 5 durch seine berufliche, familiäre oder sozialräumliche Einbindung nicht an Kontakten. Ebenso könnten für den Lebensstil 5 (wie für andere Stile mit dem Altersschwerpunkt in der Lebensmitte) Schließungseffekte der Stile untereinander wirksam werden: Gemeinschaft innerhalb der Kirche könnte mit Gemeinschaftsangeboten assoziiert worden sein, wie sie aus der Ortsgemeinde bekannt sind, etwa in Seniorenkreisen. Diese sind aufgrund der Lebenssituation, aber auch aufgrund stilistischer Differenzen, für Typen der Lebensmitte nicht
fragten mit einer starken Zustimmungen (Antworten 6+7 auf einer 7-stufigen Skala von 1=»trifft überhaupt nicht zu« bis 7=« trifft voll und ganz zu«).
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Kirche in der Vielfalt der Lebensstile
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attraktiv, was nicht heißt, dass diese Mitglieder nicht auf spezifische, Gemeinschaft bietende Angebote ansprechbar sind. Sozial bzw. diakonisch formulierte Mitgliedschafsgründe bieten, nach Kasualien und einzelnen traditionsbezogenen Items, einen Begründungsbereich der Mitgliedschaft, in dem eine verhältnismäßig große Nähe unter den Lebensstiltypen auszumachen ist. Dass Kirche »etwas für Arme, Alte und Kranke tut«, ist für den Typ 6 nach den Kasualien der wichtigste Mitgliedschaftsgrund, für Typ 3 steht dieser Grund auf Platz 3 (hinter der Mitgliedschaft der Eltern und Kasualien). Damit haben offenbar Diakonie und soziales Handeln der Kirche eine stark integrative Funktion als lebensstilübergreifendes Argument für die Kirchenmitgliedschaft.
2.2.3 Beteiligung und Mitarbeit Grundsätzlich lässt sich vermuten, dass Mitglieder, die ihrem Lebensstiltyp gemäß eine hohe Kirchenbindung aufweisen, auch deutlich häufiger Interesse am kirchlichen Leben zeigen als Mitglieder mit geringer Kirchenbindung. Mit Blick auf die Möglichkeit der Mitarbeit in der Kirche als Mitgliedschaftsgrund ist dies auch ganz eindeutig der Fall: 43 % der Mitglieder des hochkulturell-traditionsorientierten Lebensstiltyps 1 stimmen dem zu, aber nur 8 % des jugendkulturell-modernen Typs 3. Dazwischen ist die typische Rangfolge der Zustimmung über die Typen 2, 4, 5 und 6 zu beobachten. Aber auch wenn die grundsätzlich weniger kirchenverbundenen Typen die Möglichkeit zur Mitarbeit nicht als Grund für eine Kirchenmitgliedschaft beschreiben, gibt es unter diesen Mitgliedern ein relatives Interesse am kirchlichen Leben. Dies wird in der tatsächlichen Beteiligung am kirchlichen Leben sichtbar :338
338 Die konkreten Beteiligungsformen der Lebensstiltypen sind nach der Teilnahme an Kirchenwahlen, Seminaren oder Gemeindefesten, der Übernahme von Leitungsaufgaben oder dem Besuch von Gruppen und Kreisen aufgeschlüsselt bei Benthaus-Apel, Zugänge, 235, Tabelle 5.
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
Ich bin in der Kirche, weil sie mir die Möglichkeit zu sinnvoller Mitarbeit gibt f12g Beteiligung am kirchlichen Leben f19 Pfarrer soll Haupt- und Ehrenamtliche an der Verantwortung beteiligen f15 0%
10%
20%
30%
40%
50%
60%
70%
1 - hochkulturell-tradiconsorientiert
2 - gesellig-tradiconsoriencert
4 - hochkulturell-modern
5 - von Do-it-yourself geprägt, modern
6 - tradiconsoriencert, unauffällig
3 - jugendkulturell-modern
80%
Abbildung 8: Zustimmung der Lebensstiltypen zu Aussagen mit Bezug auf Beteiligung und Mitarbeit339
Auch hier fällt der hochkulturell-traditionsorientierte Lebensstil 1 durch seine erhöhte Beteiligung am kirchlichen Leben auf. Mit dem konkreten Angebot der Kirche, in der Ortsgemeinde oder auch in anderen Zusammenhängen, ist dieser Typ offenbar überdurchschnittlich stark angesprochen. Daneben findet sich ein relativ homogenes Mittelfeld der Lebensstiltypen mit einer mittleren Kirchenbindung (Typen 2, 4 und 5), die sich ähnlich leicht (oder ähnlich mühsam) in das kirchliche Leben integrieren lassen. Die Lebensstile 3 und 6, deren Haltung häufig als kirchenfern und am kirchlichen Angebot desinteressiert gewertet wird, zeigen jedoch durchaus eine Erwartung gegenüber den Aktiven in der Kirche: Über ein Drittel der Befragten dieser Lebensstile möchte, dass Pfarrerinnen und Pfarrer »Haupt- und Ehrenamtliche« in die Gestaltung der Kirchengemeinde einbeziehen. Auch wenn rechnerisch die meisten der hier zustimmenden Mitglieder selbst nicht aktiv sind, repräsentieren sie häufig eine Norm von einer »Kirche als gemeinsamer 339 Befragungsdaten und Clusterbildung sind entnommen aus der EKD-Erhebung von 2002; vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung. Die Werte sind mit verschiedenen Methoden erhoben worden. In den Fragen 12 und 15 sind die Zustimmungen 6+7 auf der 7stufigen Skala von 1=»trifft überhaupt nicht zu« bzw. »völlig unwichtig« bis 7=»trifft voll und ganz zu« bzw. »sehr wichtig« erfasst. In Frage 19 sind alle Befragten gezählt, die mit »ja« geantwortet haben.
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Kirche in der Vielfalt der Lebensstile
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Sache« und verstehen Beteiligung nicht als Handlungsprinzip für sich selbst, sondern als wichtiges Kennzeichen einer grundsätzlich partizipatorischen Kirche. Hier zeigt sich das bereits bekannte Muster der fälschlicherweise, aufgrund ihrer geringen Beteiligung, »distanziert« genannten Mitglieder der Kirche: Auch wer sich nicht beteiligt oder beteiligen möchte, befürwortet häufig, dass die Kirche eine beteiligende und den Menschen zugewandte Arbeit für andere (oder für sie selbst in einer anderen Lebenssituation) tut. Ein Rückschluss von mangelnder Beteiligung auf mangelndes Interesse an Kirche und ihrem Handeln erweist sich hier als voreilig.340
2.2.4 Bedeutung der Pfarrerin / des Pfarrers Ob der persönliche Kontakt mit der Pfarrerin oder dem Pfarrer der eigenen Gemeinde als relevant eingestuft wird, ist – das war zu erwarten – abhängig vom Lebensstil der Befragten. Der Grad des Interesses korreliert deutlich mit den Faktoren Kirchenbindung, Gottesdienstbesuch, Beteiligung und Austrittsbereitschaft (hier mit negativer Korrelation). Die Relevanz des Pfarrerkontakts der Lebensstile 1 und 2 (60 und 46 % dieser Mitglieder finden den Kontakt »wichtig« oder »sehr wichtig«) ist mit Blick auf die Voten anderer Kirchenmitglieder außergewöhnlich. Nur noch ein Viertel der Mitglieder unter 40 Jahren äußert eine solche Wertschätzung. Auch wenn sich nicht voraussagen lässt, wie sich die Lebensstiltypen in Zukunft transformieren werden, kann man mit einiger Vorsicht vermuten, dass mit Blick auf das Durchschnittsalter der betreffenden Typen ein solcher persönlicher Kontakt in der Zukunft eher weniger wichtig sein könnte.
340 Für eine differenzierte Analyse lebensstilspezifischer Zugänge zum Ehrenamt vgl. der Text 3.1 in diesem Band: »Zwischen Altruismus und Lebensgenuss« (Schulz, Ehrenamt).
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
70% 60% 50% 40%
1 - hochkulturelltradiconsorientiert 2 - gesellig-tradiconsoriencert 4 - hochkulturell-modern
30%
5 - von Do-it-yourself geprägt, modern
20%
6 - tradiconsoriencert, unauffällig
10%
3 - jugendkulturell-modern
0%
Abbildung 9: Wichtigkeit des Kontakts zur Gemeindepfarrerin / zum Gemeindepfarrer nach Lebensstiltyp (Frage 13)341
Ordnet man die Lebensstile 1 und 2 als Stile der vor allem älteren Generation und die Stile 4 und 5 als Stile mit dem Altersschwerpunkt in der mittleren Lebensphase einander zu, so ist jeweils der Kontakt mit der Pfarrerin oder dem Pfarrer dort am wichtigsten, wo die höhere Kirchenbindung und zugleich die durchschnittlich größere Nähe zu Bildungsstand und Sozialprestige der Pfarrerinnen und Pfarrer vorhanden ist. Der Wunsch nach einem persönlichen Kontakt korreliert nicht so eindeutig mit den Ansprüchen an die Pfarrerin oder den Pfarrer, wie man erwarten könnte: Auch wer auf den persönlichen Kontakt verzichten kann, möchte häufig dennoch, dass Pfarrerinnen und Pfarrer bestimmte Dinge tun oder ein bestimmtes Profil kirchlichen Handelns repräsentieren. Die Bedeutung der Pfarrerin oder des Pfarrers ist im Wesentlichen durch die Erwartung an die Begleitung an Wendepunkten des Lebens sowie an seelsorgerlich-soziales und verkündigendes Handeln geprägt. Diese hohe Erwartung spiegelt sich in den zustimmungsstärksten Items »Pfarrerinnen und Pfarrer sollen Menschen an den Wendepunkten des Lebens begleiten« und »… sollen mit Menschen über ihre Nöte sprechen«: Selbst der hier am schwächsten positiv votierende Lebensstil 6 stimmt zu 70 bzw. 67 % der Aussage zu, dies sei »sehr wichtig« oder »wichtig«. Eine solche Erwartung ist, abgesehen von den üblichen, hier eher geringen Differenzen zwischen kirchennäheren und kirchenferneren Mitgliedern, verhältnismäßig unabhängig vom Lebensstiltyp. 341 Befragungsdaten und Clusterbildung sind entnommen aus der EKD-Erhebung von 2002; vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung. Die Abbildung zeigt den Anteil der befragten Kirchenmitglieder, die den Kontakt zum Gemeindepfarrer oder zur Gemeindepfarrerin als »sehr wichtig« oder »wichtig« einstufen (Antworten 1+2 von insgesamt 5), differenziert nach Lebensstiltyp.
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Kirche in der Vielfalt der Lebensstile
Pfarrer/innen sollen… Menschen an Wendepunkten begleiten
mit Menschen über ihre Nöte sprechen
die christliche Botscha_ verkündigen
Pfarrer Vorbild Lebenswandel
HA und EA an der Verantwortung beteiligen
Gespräch mit nichtchr. Religionen führen
Hausbesuche machen
Stellung nehmen zu policschen Konflikten 0% 20% 40% 1 - hochkulturell-tradiconsorientiert
60%
80%
100%
2 - gesellig-tradiconsoriencert 4 - hochkulturell-modern 5 - von Do-it-yourself geprägt, modern 6 - tradiconsoriencert, unauffällig 3 - jugendkulturell-modern
Abbildung 10: Erwartungen an die Pfarrerin / den Pfarrer (Frage 15): »Pfarrer/innen sollen…« – Anteil der Mitglieder mit einer starken Zustimmung nach Lebensstiltyp342
342 Befragungsdaten und Clusterbildung sind entnommen aus der EKD-Erhebung von 2002; vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung. Die Abbildung zeigt den Anteil der Be-
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
Vergleicht man die Erwartung der Lebensstiltypen im Bereich der Verkündigung mit der Erwartung an Begleitung an Wendepunkten und dem Bereich der Seelsorge, fällt auf: Die Erwartung an Verkündigungsarbeit differiert unter den kirchenverbundenen Mitgliedern vom Typ 1 und 2 und ebenso im Typ 4 nur um wenige Prozentpunkte von Erwartungen an Seelsorge und Lebensbegleitung, während die Erwartungen der Lebensstile 3 und 5 hier um 19 bzw. 14 % differieren. Ihre Erwartung bezieht sich zuerst auf den seelsorgerlich-sozialen Dienst im weitesten Sinn, erst in zweiter Linie gilt ihr Interesse den christlich-religiösen Inhalten als Kern der pastoralen Aufgabe. Auch hier kann man vermuten, dass das große Themengebiet kirchlicher Hinwendung zum Menschen in Krisen und Veränderungssituationen die insgesamt höchste Integrationskraft hat. Hier stimmen alle Lebensstiltypen zu, auch solche, deren Orientierung sich gerade dadurch auszeichnet, dass Abhängigkeit von anderen im weitesten Sinn als unattraktiv empfunden wird, oder solche, deren biographische Situation einen gewisse Distanz zu Kasualien bedeutet, weil sie ohne Partnerin bzw. Partner oder eigene Kinder leben (wollen). Einen ähnlich integrativen Bereich bildet die Erwartung an eine Vorbildfunktion der Pfarrerinnen und Pfarrer. Hier äußern, nicht überraschend, die Lebensstile 1 und 2 die höchsten Erwartungen. Auffällig aber ist, dass auch die »jüngeren« Lebensstile Mitglieder mit einer hohen Erwartung an den Pfarrer oder die Pfarrerin repräsentieren. Auch wer ansonsten wenig Kontakt zur Kirche hat und nur geringen Wert auf einen persönlichen Kontakt zur Pfarrerin der Ortsgemeinde oder gar auf Hausbesuche legt, äußert mit Blick auf diese Berufsgruppe klare Vorstellungen. Es wird deutlich: Für die Mehrheit der Mitglieder sind die Erwartungen an Pfarrerinnen und Pfarrer einerseits und konkrete Beziehungen zu ihnen andererseits voneinander verhältnismäßig unabhängig. Man könnte auch formulieren: Grundsätzlich sollen Pfarrerinnen und Pfarrer ein Vorbild sein, es geht jedoch nicht um ein im eigenen Kontakt überprüfbares lebenspraktisches Verhalten realer Personen, sondern um ein Bild vom Pfarramt und seine Bedeutung als Symbol für die Kirche und ihre möglichen Auswirkung auf die Gesellschaft. Dieses Bild kommt entweder in einer Gemeinde zum Tragen, in deren Leben man selbst kaum oder gar nicht integriert ist, oder aber in der medialen Präsenz der Pfarrerinnen und Pfarrer. Die Stellungnahme zu politischen Konflikten, der Hausbesuch und das Gespräch mit christlichen Religionen bilden die Schlusslichter in der Reihe der Erwartungen an Pfarrerinnen und Pfarrer. Während sich in der Frage der Hausbesuche aber recht exakt das Schema von Kirchennähe und Kirchenferne fragten mit einer starken Zustimmungen (Antworten 6+7 auf einer 7-stufigen Skala von 1=»völlig unwichtig« bis 7=»sehr wichtig«).
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Kirche in der Vielfalt der Lebensstile
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durchsetzt, nach dem es eine feste Abstufung der Zustimmung gibt vom Lebensstiltyp 1 bis zum Typ 3, zeigen sich in den beiden anderen ein lebensstiltypisches Interesse bzw. Desinteresse: Der interreligiöse Dialog wird vom politisch stark interessierten und überwiegend intellektuellen Lebensstil 4 überproportional stark als wichtige pastorale Aufgabe gesehen. Nur 5 % dieses Lebensstiltyps bezeichnen umgekehrt diese Tätigkeit als unwichtig für das pastorale Profil.343 Der eher unpolitische Lebensstil 2 stimmt hier klar unterdurchschnittlich zu. Vor allem aber ist für ihn eine Stellungnahme zu politischen Konflikten als Aufgabe einer Pfarrerin oder eines Pfarrers irrelevant.
2.2.5 Ausblick In dieser interpretativen Sichtung der Daten wird deutlich: Unter den Lebensstiltypen zeigen sich sehr unterschiedliche Grundhaltungen von Kirchennähe und Kirchenferne. Diese erweisen sich im Vergleich von Lebensstilen mit einem ähnlichen Altersdurchschnitt (Typen 1 / 2 oder 4 / 5) stärker als Stil- denn als Alterseffekte und differieren sich darüber hinaus in eine Vielfalt der Vorlieben, Zugangswege und Abstoßungseffekte aus. Nimmt man eine Haltung der Analyse im Hinblick auf kirchliches Handeln, also explizit im Interesse der evangelischen Kirche, ein, so scheinen diese Ergebnisse vor allem in drei Richtungen interessant: Zum einen lassen sich, wie am Beispiel diakonischer Arbeit, hoch integrative Wirkungsbereiche kirchlichen bzw. pastoralen Handelns ausmachen und im Rahmen der Kirchen- oder Gemeindeentwicklung für eine zukünftige Profilierung nutzen. Zum zweiten lassen sich Bereiche identifizieren, in denen Kirche stärker stilistische Affinitäten bereits bedient und ihre Stärken offenbar in lebensstilspezifischen Zugängen hat. Hier sind eine weitergehende Analyse und eine theologische Reflexion hilfreich, wenn diese Ergebnisse zur Basis von Veränderungskonzepten dienen sollen.344 Zum dritten wird mit den Ergebnissen der vorliegenden Analyse ansatzweise das Augenmerk auf Schließungs- und Abstoßungseffekte gerichtet: Wo kirchliche Angebote oder Arbeitsweisen einige Lebensstile deutlich ansprechen und bei anderen Desinteresse oder Widerspruch hervorrufen, sieht sich eine Volkskirche, die sich immer stärker organisationsförmig zeigt, großen Her343 Hier sind Zustimmungen zu den Werten 1+2 auf einer 7-stufigen Skala von 1=»völlig unwichtig« bis 7=»sehr wichtig« gezählt. 344 Solche Analysen finden sich in den Beiträgen dieses Bandes. Weitere Analysen hin auf einzelne kirchliche Handlungsfelder sowie eine Reflexion im Hinblick auf Kirchenentwicklung und Theologie finden sich in Zusammenarbeit mit Kollegen erstellt in: Schulz/ Hauschildt/Kohler, Milieus.
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
ausforderungen gegenüber : Aus deren Perspektive – mit Blick auf die zukünftige Gestaltung kirchlicher Arbeit – muss es darum gehen, zugleich klar profiliert zu arbeiten, die Interessen der Verschiedenen zu berücksichtigen und die Balance im System zu bewahren, ohne dass unnötige Schließungseffekte zum Tragen kommen.
2.3
Wie hätten Sie’s denn gern? Milieuspezifische Erwartungen gegenüber dem Gottesdienst und mögliche Konsequenzen345
2.3.1 Einstieg: Milieus und milieuspezifische Sichtweisen Wer sich mit Milieus beschäftigt, beobachtet zwangsläufig, dass die einen kaum ertragen können, was die anderen lieben. Dies bezieht sich auf unterschiedliche Bereiche des Lebens: Auf stilistische Fragen, Wohnraum, Kleidung und Musikgeschmack, aber auch auf Einstellungen und Werte oder auch Kommunikationsvorlieben, bevorzugte Lebensformen und die angestrebte sozialräumliche Einbindung. Wer im Blick auf die Kirche diese Perspektive der Vielfalt von Milieus wählt, kann dies durchaus als etwas Unangenehmes – als Zumutung – empfinden: Sie vergrößert auf den ersten Blick die Mühen ganz enorm, die es bedeutet, Verantwortung für das kirchliche Leben zu übernehmen, das ja allen Kirchenmitgliedern und auch anderen Interessierten darüber hinaus gerecht werden soll, und sie verspricht darin wenig echten, umfassenden Erfolg. Dagegen hilft ein Blick auf einen kirchlichen Arbeitsbereich, der inmitten des ortsgemeindlichen Lebens angesiedelt ist, und in dem andererseits die Milieuperspektive durchaus denen eine Hilfestellung in ihrer strategischen Planung oder sogar in ihrer praktischen Arbeit bietet, die die Nutzerinnen und Nutzer eines kirchliches Angebotes gern zufrieden sehen möchten. Der Blick geht ins »Zentrum der Gemeinde«, in den Gottesdienst. Auch hier ist spätestens seit der Lebensstilanalyse innerhalb der vierten Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD, der »Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge«346, bekannt, dass es unterschiedliche Vorlieben und Erwartungen gibt. Aber hier gibt es auch überraschende Erkenntnisse: Das Wichtigste am Gottesdienst sind eine »zeitgemäße Sprache«, eine »gute Predigt« und eine »fröhlich-zuversichtliche Stimmung«.347 Diese drei Erwartungen stehen bei den Mitgliedern, und zwar bei Mitgliedern aus allen Milieus, im Zentrum ihrer Erwartungen. Ein Gottesdienst, der das berücksichtigt, wird wenig Kritik hervorrufen, darf man vermuten. 345 Ursprüngliche Publikation: Schulz, Gottesdienst. 346 Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung. 347 Vgl. ebd., Frage 17.
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Milieuspezifische Erwartungen gegenüber dem Gottesdienst
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Und doch ist es nicht ganz so einfach: Was verstehen die Menschen zum Beispiel unter einer »guten Predigt«? Hier kommen nun die verschiedenen Interessen der unterschiedlichen Menschen zum Tragen. In der jüngsten EKDStudie ist eine Analyse von Lebensstilen erfolgt, die wie etliche andere Milieuund Lebensstilstudien Menschen danach untersucht, wie sie ihr Leben führen, was ihnen in ihrem Leben wichtig ist, welche Musik sie hören, was sie in ihrer Freizeit tun und wie ihre Interaktionsmuster üblicherweise verlaufen.348 So entstehen rechnerisch so genannte Idealtypen – Gruppen von Befragten, die sich in diesen Dimensionen sehr ähnlich sind.349 Anschließend lassen sich diese Idealtypen anhand aller weiterer Daten beschreiben, die über die jeweils zugerechneten Befragten aus dem Datensatz hervorgehen, wie es in der Abbildung 11 in einer knappen Form geschieht.350 Der besondere Gewinn dieser Typologie innerhalb der komplexen Mitgliederstudie ist es, dass nun anhand des Datensatzes der Erhebung die Typen nach ihren Vorlieben und Ansichten »befragt« werden können – in Bezug auf den Gottesdienst, aber ebenso mit Blick auf den Glauben, das Gemeindeleben, das Ehrenamt, Pfarrerinnen und Pfarrer und vieles andere mehr.351
348 Milieu- und Lebensstilstudien setzen unterschiedliche Akzente in der Bildung der Typen. Die Studie der EKD ist genau genommen eine Mischform aus Lebensstil- und Milieuanalyse, weshalb man in Annäherung an das alltagssprachliche Vokabular sowohl von Milieus als auch von Lebensstilen sprechen kann. Die Erkenntnisse der Repräsentativbefragung lassen sich hier sporadisch ergänzen durch qualitatives Material. Auf diese Gruppendiskussionen beziehen sich weitere Beiträge in diesem Buch. 349 Die Typologie der Lebensstile ist in der EKD-Studie für Mitglieder und Konfessionslose durchgeführt worden. Die darin konstruierten Typen von Mitgliedern und Nichtmitgliedern sind sich jedoch derart ähnlich, dass man hier – mit einiger Vorsicht – von einer allgemeinen Typologie sprechen kann. Allerdings sind in der Repräsentativbefragung zu speziellen Fragen des Gottesdienstes, etwa nach konkreten Erwartungen, nur Mitglieder befragt worden. 350 Ausführliche Beschreibungen der Typen, ihrer soziostrukturellen Merkmale und spezifischen Interessen finden sich innerhalb der EKD-Mitgliederstudie: Benthaus-Apel, Zugänge. 351 Wie sich diese Merkmale in konkreten Dimensionen verstehen lassen und wie man die Erkenntnisse für die kirchliche Praxis nutzen kann, ist Inhalt von Schulz/Hauschildt/ Kohler, Milieus.
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
1. Die Hochkulturellen: hochkulturell-traditionsorientiert – Altersdurchschnitt: 63 Jahre Musikgeschmack: klassische Musik, Oper, Jazz Wertorientierung: gesellschaftliches Ansehen, Altruismus, Engagement Freizeit: Ausstellungen, Konzerte, Bücher, Kontakte zu Familie und Freunden 2. Die Bodenständigen: gesellig-traditionsorientiert – Altersdurchschnitt: 65 Jahre Musikgeschmack: Volksmusik Wertorientierung: sparsam, oft altruistisch und naturverbunden Freizeit: Geselligkeit, Kontakt mit Familie, Freunden, Nachbarn 3. Die Mobilen: jugendkulturell-modern – Altersdurchschnitt: 29 Jahre Musikgeschmack: Rock- und Popmusik Wertorientierung: Unabhängigkeit, Lebensgenuss, Attraktivität Freizeit: Aktivsport, Kino, Computer und Internet, kaum Nachbarschaftskontakte 4. Die Kritischen: hochkulturell-modern – Altersdurchschnitt: 44 Jahre Musikgeschmack: keine Volksmusik Wertorientierung: eher modern, Altruismus, Engagement Freizeit: hochkulturell und jugendkulturell 5. Die Geselligen: von Do-it-yourself geprägt, modern – Altersdurchschnitt: 42 Jahre Musikgeschmack: eher Rock- und Popmusik Wertorientierung: oft altruistisch, meist modern Freizeit: Arbeit in Haus und Garten, Computer, Sport, Kino, Nachbarschaftskontakte 6. Die Zurückgezogenen: traditionsorientiert, unauffällig – Altersdurchschnitt: 53 Jahre Musikgeschmack: Volksmusik Wertorientierung: traditionell Freizeit: kaum Kontakte, zurückgezogen, eher passiv & unauffällig Abbildung 11: Milieus / Lebensstile evangelischer Kirchenmitglieder
2.3.2 Vorlieben der Milieus Was ist also eine gute Predigt? Kirchenmitglieder aus dem hochkulturellen Milieu (Typ 1) haben ihre eigenen Ansprüche: Die meisten von ihnen sind über 55 Jahre alt und vergleichsweise gebildet und einkommensstark. Sie schätzen das Christentum als Säule der abendländischen Kultur und die Bibel als weise Botschaft aus vergangenen Zeiten, von denen sich heute viel lernen lässt. Sie mögen es darum, wenn auch eine Predigt ein gewisses Niveau hat. Sie darf gern eine gelehrte Rede sein und komplexe Themen differenziert betrachten. Daneben findet sich ein zweites Milieu mit einer ganz ähnlichen Altersverteilung, das aber nicht nur weniger gebildet und deutlich einkommensschwächer ist, sondern das vor allem einen deutlich volkstümlichen Zugang zur Kirche findet. In
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Milieuspezifische Erwartungen gegenüber dem Gottesdienst
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diesem Milieu der »Bodenständigen«352 (Typ 2), durch Traditionsorientierung und großen Bedarf an geselligem Miteinander geprägt, ist das Interesse an Bildung »um ihrer selbst willen«, an philosophischen Betrachtungen und intellektueller Rede gering. Eine gute Predigt muss verständlich sein, etwas fürs Herz und konkrete Hilfestellung für den Alltag bieten. Zitate berühmter Theologen finden hier wenig Anklang, wenn sie keinen praktischen Nutzen und keinen Unterhaltungswert haben, nicht anrühren oder keine bewegenden Bilder transportieren. Bei diesen beiden ersten Typen hatten wir es mit Milieus von sehr kirchenverbundenen Mitgliedern zu tun, die noch vergleichsweise häufig Gottesdienste besuchen und stark traditionsorientiert sind. Dagegen kommen mit dem dritten, dem jugendkulturellen Milieu der »Mobilen«, ebenso wie übrigens mit dem sechsten, dem Milieu der »Zurückgezogenen« oder »Unauffälligen«,353 Mitglieder in den Blick, von denen ein Viertel angibt, überhaupt nie einen Gottesdienst zu besuchen, unabhängig vom Anlass. Die »Mobilen« (Typ 3), ein Milieu von jungen Menschen mit seinem Kern zwischen 14 und 40 Jahren und mit einem überdurchschnittlichen Interesse an Unabhängigkeit und Lebensgenuss, mögen im Gottesdienst die zeitgemäße Sprache und die gute Stimmung. Aus Gruppendiskussionen, wie sie ebenfalls in der jüngsten EKD-Studie und zuvor bereits durch Helmut Bremer und Christel Teiwes-Kügler durchgeführt wurden,354 erfährt man, dass Menschen in diesem Milieu ebenso eine überzeugende, authentische Persönlichkeit zu würdigen wissen, die den Gottesdienst stimmig »inszeniert« und in der Predigt etwas zu sagen hat. Andere Interessen sind dagegen deutlich schwächer ausgeprägt. Die »Zurückgezogenen« (Typ 6), stark traditionsgebundene Menschen aller Altergruppen über 30 Jahren mit einem enorm geringen Interesse an Geselligkeit und sozialem Miteinander, positionieren sich zu den meisten Fragen der EKD-Studie wenig deutlich – so auch beim Gottesdienst. Den beliebtesten Antworten stimmen sie zu, wenn auch vergleichsweise verhalten. Ganz anders ist das bei den »Kritischen« (Typ 4), einem Milieu von Menschen mit relativ deutlicher hochkultureller Ausrichtung, die überwiegend zwischen 30 und 65 Jahre alt sind, vergleichsweise gut gebildet und eher einkommensstark. Sie leben häufig im städtischen Kontext, viel öfter als andere Milieus in Lebensformen jenseits der Familie: als Single, als Paar ohne Kinder oder als Wohngemeinschaft. Sie haben ein vergleichsweise starkes Interesse am Gottesdienst, an inhaltlichen Auseinandersetzungen und unterschiedlichen Formen. 352 Die Namen der Typen sind hier angelehnt an: ebd.; die Übersicht über die sechs Typen erfasst daneben auch die Bezeichnungen der Mitgliederstudie. 353 Das Attribut »unauffällig« stammt aus der EKD-Studie, vgl. Benthaus-Apel, Zugänge. 354 Vögele/Bremer/Vester, Soziale Milieus.
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
Sie mögen Gottesdienste, wenn sie Stil haben, etwas Besonderes bieten, in geistiger, sinnlicher oder spiritueller Hinsicht. Ein weiteres Milieu mit dem Altersschwerpunkt in der Lebensmitte, die »Geselligen« (Typ 5), ist in seiner Wertorientierung ebenso modern und beschäftigt sich ausgesprochen häufig in seiner Freizeit rund um die eigene Wohnumgebung: mit Arbeiten in Haus und Garten, mit der Wohnungseinrichtung und ihrer möglichen Verschönerung, mit der Familie oder mit Kontakten in der Nachbarschaft. Solche Kirchenmitglieder mögen den Gottesdienst, wenn es dort fröhlich und modern zugeht, wenn das Gesagte anregend und verständlich ist. Im Überblick über die Milieus, ihre Erwartungen in einzelnen Bereichen des Gottesdienstes oder ihre Ablehnungen von bestimmten Erwartungen (Abbildung 2), ergeben sich wichtige Erkenntnisse über Mitglieder und ihre Unterschiedlichkeit: Es ist eben nicht so, dass sich Erwartungen diametral gegenüber stehen, indem die einen dieses mögen, während die anderen eher jenes schätzen. Es gibt zwar deutliche und für die Praxis wichtige Tendenzen, auf die ich anschließend eingehen werde. Grundsätzlich scheint aber das Interesse, das die Befragten überhaupt einzelnen Bereichen gottesdienstlicher Arbeit entgegen bringen, stark von ihrer Kirchenverbundenheit abzuhängen. Wer sich mit der Kirche insgesamt wenig verbunden fühlt oder – eine eigene Dimension – mit religiösen Dingen wenig anfangen kann, der mag eine gute Predigt schätzen oder einen Gottesdienst mit guter Stimmung. Insgesamt aber sind die Erwartungen eher schwach ausgeprägt, die Bedürfnisse sind latent oder abhängig von Situation und Stimmung. So liegt der Durchschnitt, mit dem Befragte aus den Milieus der »Mobilen« und »Zurückgezogenen« in der Repräsentativbefragung der jüngsten EKDStudie überhaupt einer ihnen angebotenen Erwartung an den Gottesdienst zustimmen, bei nur etwa 25 % – während etwa die »Hochkulturellen« durchschnittlich zu 60 % einer Antwortmöglichkeit deutlich zustimmen. Das mag man als grundsätzliches Desinteresse werten. Wahrscheinlicher ist aber, dass für diese Milieus mit geringen Zustimmungswerten Verschiedenes, das man von Gottesdienst erwarten kann oder auch nicht, derart wenig mit der eigenen Lebenswelt zu tun hat, dass Zustimmungen oder Ablehnungen sich meist im Mittelfeld bewegen – es ist ein bisschen wichtig oder eher unwichtig, spielt aber letztlich kaum eine große Rolle. Man mag meinen: Wer im Gottesdienst nicht auf seine Kosten kommt, weil er oder sie die Predigt zu schlecht, die Stimmung zu gedrückt oder die Musik zu langweilig findet, habe ein großes Interesse an Veränderung und stilistischen Alternativen. Aus den Befragungsdaten heraus betrachtet ist es vielmehr so, dass, wer im »normalen« Gottesdienst nicht auf seine Kosten kommt oder sich nicht wohl fühlt, selten Interesse äußert an einem »zweiten Programm« oder einem Geschehen, das den eigenen Vorlieben eher entspricht. Es bedarf einer
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insgesamt überdurchschnittlich hohen Erwartungshaltung gegenüber dem Gottesdienst, um bei Nichtgefallen nach einer Alternative zu suchen und etwas Fremdes auszuprobieren oder gar etwas Neues einzufordern. Möglicherweise wird der Gottesdienst als ein Geschehen betrachtet, bei dem nun einmal der eigene Musikgeschmack kaum getroffen und die eigenen Kommunikationsvorlieben wenig berührt werden. Da ist der Gottesdienst ein Ausflug in eine andere Welt des Ritus, der religiösen Gemeinschaft etc. Dem gegenüber mag man kaum die eigenen stilistischen oder musikalischen Vorlieben formulieren – sie haben, aus dieser Perspektive betrachtet, zu wenig mit dem Geschehen in der Kirche zu tun und sollen es vielleicht auch nicht. Hier sind zur Frage 17 der vierten EKD-Studie die deutlichen Zustimmungswerte (6 und 7) sowie die deutlichen Ablehnungswerte (1 und 2) erfasst auf der Skala von 1 (»völlig unwichtig«) bis 7 (»sehr wichtig«).
2.3.3 Das Interesse an Gemeinschaft im Gottesdienst Der persönliche Bedarf an Gemeinschaft ist seit der ersten Mitgliederstudie der EKD mit Daten aus dem Jahr 1972 ein dauerhaftes Schlusslicht unter den Gründen für die eigene Kirchenmitgliedschaft.355 In der Erhebung von 2002 stimmten nur 20 % der Befragten dem Item zu: »Ich bin in der Kirche, weil ich die Gemeinschaft brauche.«356 Wir erfahren aus dieser Zahl wenig über das grundsätzliche Bedürfnis an Gemeinschaft oder gar an einer Geselligkeit, wie sie in mancher Ortsgemeinde gepflegt wird. Hier wissen wir, etwa aus der Analyse der Freizeitvorlieben, dass Menschen aus dem Milieu der »Bodenständigen« und der »Geselligen« (Typen 2 und 5) überdurchschnittlich viel Zeit mit anderen Menschen und diversen gemeinsamen Unternehmungen verbringen. Offenbar scheint aber ein grundsätzlicher Bedarf der Menschen an Gemeinschaft nicht unmittelbar auf Kirche übertragbar zu sein. Hier erwartet man eben ganz andere Dinge als im »richtigen Leben«. Die Erwartung ist groß, in der Kirche ein Verkündigungshandeln zu erleben und bestimmte, gewohnte Rituale und Feiern. Die Erwartung, dass Dinge, die außerhalb von Kirche interessieren, durchaus auch innerhalb der Kirche erlebt werden könnten, ist dagegen gering. Mit Sicherheit kann man in diversen »neuen« Gottesdienstformen auch Gespräche, Musikimprovisationen oder schwungvolle Reden erleben, man würde sie hier nur gar nicht suchen. Wenn nun 46 % der Befragten angeben, der Gottesdienst solle ihnen »ein Gefühl der Gemeinschaft mit anderen geben«, verwirrt das in doppeltem Sinn: 355 Hild, Kirche. 356 Ebd., Frage 12, 449.
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
Der Gottesdienst soll… Zustimmungswerte nach Typen in Prozent: sehr wichtig (A) durch fröhlich-zuversichtliche Stimmung gekennzeichnet sein. (B) von einer zeitgemäßen Sprache geprägt sein. (C) mir ein Gefühl der Gemeinschaft mit Anderen geben. (D) mir helfen, Distanz zu meinem Alltag herzustellen. (E) mich etwas vom Heiligen erfahren lassen. (F) mir helfen, mein Leben zu meistern. (G) vor allem eine gute Predigt enthalten. (H) auch neue Formen wie Tanz, Theater, Pantomime enthalten. (J) in einer schönen Kirche stattfinden. (K) vor allem klassische Kirchenmusik beinhalten. Ablehnungswerte nach Typen in Prozent: völlig unwichtig (A) durch fröhlich-zuversichtliche Stimmung gekennzeichnet sein. (B) von einer zeitgemäßen Sprache geprägt sein. (C) mir ein Gefühl der Gemeinschaft mit Anderen geben. (D) mir helfen, Distanz zu meinem Alltag herzustellen. (E) mich etwas vom Heiligen erfahren lassen. (F) mir helfen, mein Leben zu meistern. (G) vor allem eine gute Predigt enthalten. (H) auch neue Formen wie Tanz, Theater, Pantomime enthalten. (J) in einer schönen Kirche stattfinden. (K) vor allem klassische Kirchenmusik beinhalten. Anteil der Hochverbundenen in Prozent
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Abbildung 12: Zustimmungs- und Ablehnungswerte der Milieus Der Gottesdienst soll…
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Milieuspezifische Erwartungen gegenüber dem Gottesdienst
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Zum einen steht diese Zahl – zunächst – in Widerspruch zu der geringen Bedeutung der Gemeinschaft als Mitgliedschaftsgrund, also als etwas, von dem Menschen denken, dass es die Kirche grundsätzlich attraktiv macht. Offenbar ist das »Gefühl der Gemeinschaft« im Gottesdienst etwas anderes als die Erfahrung von Gemeinschaft innerhalb der Kirche im Allgemeinen. Während Menschen in der Regel – immer : mit vielen Ausnahmen – wenig Bedarf haben an neuen Möglichkeiten, Gemeinschaft zu erleben, ist Gemeinschaft innerhalb des Gottesdienstes etwas Eigenes. Man kann vermuten, dass hier Gemeinschaft zu einem Teil der Botschaft wird: Wir gehören vor Gott zusammen. Wir teilen etwas Wesentliches – ohne darum auch Alltägliches teilen zu müssen. Zum anderen überrascht das Interesse an Gemeinschaft in einem Geschehen, in dem die Form üblicherweise wenig auf Gemeinschaft angelegt ist: Außer einem gemeinsam gesprochenen Psalm und Glaubensbekenntnis oder gemeinsam gesungenen Liedern, außer sporadischen Begrüßungen und Nachgesprächen findet verhältnismäßig wenig Interaktion im direkten Sinn statt, auch wenn Predigten heutzutage oft »dialogisch« gestaltet sind und Gottesdienste interaktiv, als kommunikatives Handeln Aller gedacht werden. Die Zustimmungswerte zum Satz, der Gottesdienst solle »ein Gefühl der Gemeinschaft mit anderen geben«, zeigen darüber hinaus, dass die Erwartung an eine solche Erfahrung stark von der Kirchenbindung im Allgemeinen abhängt: Je stärker man sich dem Gesamtzusammenhang Kirche zugehörig fühlt, je stärker man möglicherweise das Geschehen im Gottesdienst als in sich sinnvoll begreift, desto stärker deutet man offenbar die Erfahrung der Gruppe als Botschaft: den gemeinsamen Gesang oder die alle tragende liturgische Form. Eine »Hochkulturelle« bringt das ein einer Gruppendiskussion sehr emotional zum Ausdruck, als sie sich an eine Erfahrung als Kind im Gottesdienst erinnert: Ich habe nie an die Jungfrauengeburt geglaubt. Ich hab immer schon als Kind gewusst, das kann nicht sein […] muss ’n schönes Märchen sein oder so. Aber weil dieses Märchen allen gehört, […] hat ’n tieferen Sinn, das hat ’ne Bedeutung. Das gibt so, aber alle, allen gehört dieses Märchen. Alte, also ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, es gehört ihnen, sie gehören zusammen.357
In dieser Perspektive hat die Gemeinschaft – abgelöst von der Plausibilität ihres genauen Tuns – einen Verkündigungsgehalt. Es wird attraktiv, dazu zu gehören, einen liturgischen Text mitzusprechen und damit dessen tieferen Sinn auch für sich zu erschließen.
357 Die Textpassage stammt aus der Gruppendiskussion mit dem »Kunstverein« im Rahmen der vierten EKD-Studie und ist dort im ersten Band in ihrem Diskurszusammenhang dargestellt und interpretiert; vgl. Schulz, Kirchenmitgliedschaft, 116.
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
2.3.4 Das Interesse an einzelnen Elementen und Bedeutungsdimensionen Was nützt – aus der Perspektive von Mitgliedern unterschiedlicher Milieus – der Gottesdienst? Im Vergleich der beiden Milieus mit den insgesamt ältesten und kirchenverbundensten Mitgliedern wird sichtbar : Die »Hochkulturellen« (Typ 1) haben ganz allgemein deutlich höhere Erwartungen – man möchte sagen: deutlich höhere Ansprüche – an einen Gottesdienst. Alle Items finden unter ihnen eine stärkere deutliche Zustimmung als unter den »Bodenständigen« (Typ 2), manchmal sind es mehr als 20 Prozentpunkte, die diesen Unterschied ausmachen. Nicht ganz so groß ist der Unterschied dort, wo es um eine praktische Anforderung an den Gottesdienst geht: »Der Gottesdienst soll mir helfen, mein Leben zu meistern.« Interessanterweise wirkt in dieser Frage das Alter viel stärker als die Unterschiede zwischen den Milieus: Während – quer durch die Milieus – Menschen unter 50 Jahren nur zu etwa 25 % diesem Satz deutlich zustimmen, werden es darüber mit steigendem Alter immer mehr, in der Altersgruppe der Menschen über 65 Jahren sind es fast 49 % mit dieser Erwartung. Betrachtet man die Abbildung 2 unter diesem Gesichtspunkt, so fällt auf, dass die Ablehnung einer Unterstützung der eigenen Person durch den Gottesdienst, in der »Distanz zum Alltag« oder in einer Hilfestellung dabei, »das Leben zu meistern« in denjenigen Milieus enorm ist, deren Altersschwerpunkt sich unterhalb von 50 Jahren befindet, während gerade die Milieus mit vielen älteren Kirchenmitgliedern diesen Effekt kaum ablehnen. Vielleicht könnte man für den Durchschnitt der Mitglieder sagen: Je jünger der Mensch ist, desto stärker geht er zum Gottesdienst wegen des Stils, des Ambientes, wegen der »performance« oder einer wohltuenden Stimmung. Je älter er wird, desto stärker kommt es außerdem auf die Wirkung an, auf das Stärkende, Erbauliche oder Tröstende. Die Mitgliedschaftsuntersuchung der EKD als eine besonders breit angelegte Befragung enthält leider zu wenige detaillierte Fragen, um hier noch tiefer blicken zu können. So ist, wie an vielen anderen Stellen, bei der Frage nach dem »Heiligen« im Gottesdienst das Grundmuster sichtbar, das Kirche ganz allgemein zu schaffen macht: Das Milieu der jugendkulturell geprägten »Mobilen« (Typ 3) zeigt gegenüber vier der zehn angebotenen Erwartungen an den Gottesdienst deutliche Ablehnungswerte, die höher ausfallen als die Zustimmungswerte. Während auch in den anderen Milieus kaum jemand eine »gute Predigt«, eine »zeitgemäße Sprache«, eine »fröhliche Stimmung«, ein »Gefühl der Gemeinschaft« oder die Umgebung einer »schönen Kirche« als völlig unwichtig bezeichnet, werden die wenigen inhaltlichen Vorgaben in den übrigen Items bei den »Mobilen« unmittelbar zum Stein des Anstoßes. Der trifft am härtesten dort, wo es um den Kern geht, um das Heilige, das im Gottesdienst zu erfahren sei.
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Milieuspezifische Erwartungen gegenüber dem Gottesdienst
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Möglicherweise ist diese Formulierung der Antwortvorgabe besonders wenig auf die Sprache jüngerer Menschen zugeschnitten, möglicherweise liegt ein Teil der Distanzierungsbewegung lediglich hierin begründet. Der Satz, der Gottesdienst solle »mich etwas vom Heiligen erfahren lassen« führt jedoch auch bei fast allen anderen Typen, mit Ausnahme der beiden am höchsten kirchenverbundenen Typen 1 und 2, zu stärkerer Ablehnung als Zustimmung. Auch in den Zustimmungswerten zeigen sich häufig die innerhalb eines Typenprofils geringsten Werte. Zu vermuten ist darum, dass der Gottesdienst für viele Milieus eben diesen Anteil des Numinosen nicht besitzt oder womöglich auch gar nicht besitzen soll, jedenfalls nicht in dieser eindeutigen Form. Man darf formulieren: Wo solche Zahlen, mindestens für einige Milieus mit hoher Bedeutung für eine Kirche der Zukunft, derart deutlich sprechen, ist eine vertiefende Untersuchung dringend notwendig. Relativ unproblematisch erscheinen dagegen die Affinitäten und Distanzen beim Thema der neuen und alten Formen im Gottesdienst, des Theaters oder – quasi als Gegenentwurf – der klassischen Kirchenmusik. Hier finden sich einige erwartbare Verteilungen: Die durchschnittlich deutlich älteren, stark kirchenverbundenen Milieus der »Hochkulturellen« und »Bodenständigen« schätzen die klassische Kirchenmusik mit dem typischen »Kultur-Gefälle« zwischen den beiden Milieus, das sich im Übrigen zwischen den »Kritischen« und den »Geselligen«, »Zurückgezogenen« und schließlich den »Mobilen« noch einmal wiederholt. Es verwundert wenig, dass die »Bodenständigen« die geringste Zustimmung zu »neuen Formen« im Gottesdienst zeigen, jedoch die insgesamt höchste Ablehnung, während die »Mobilen« hier eine für ihre Verhältnisse hohe Zustimmung, aber diesmal die geringste Ablehnung zeigen. Interessant sind die Zwischentöne: Die insgesamt höchste Zustimmung zu den »neuen Formen« kommt von den »Geselligen« (Typ 5). Sie sind zwar nicht mehr so jung – im Durchschnitt bereits Mitte 40 –, aber ihre Kirchenbindung ist höher als die der »Mobilen«, und für viele von ihnen korrespondiert eine derartige »Modernisierung der Kirche« mit dem, was sie selbst für modern halten. Das, was sie in ihrer Freizeit schätzen, hält nun Einzug in den Kirchenraum. Die »Kritischen« (Typ 4) hingegen machen hier wie so oft ihrem Namen alle Ehre: Unter ihnen finden sich viele, die »neue Formen« schätzen – nach den »Geselligen« haben sie den zweithöchsten Zustimmungswert –, sie haben aber zugleich fast ebenso hohe Zustimmungswerte für die klassische Kirchenmusik, und, was noch schwerer wiegt, sie lehnen insgesamt nichts so stark ab wie »neue Formen« im Gottesdienst. Dieses scheinbare Paradox deutet auf einen hochinteressanten Sachverhalt hin: Gerade im Milieu der »Kritischen« finden sich offenbar sehr viele Interessierte an sehr vielen verschiedenen Richtungen gottesdienstlicher Gestaltung. Wenn böse Zungen behaupten, man könne diesem Milieu, das in Gerhard Schulzes »Erlebnisgesellschaft« den Namen »Selbstver-
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Analysen von Zielgruppen, Lebenswelt und Lebensstil
wirklichungsmilieu« davontrug,358 nichts recht machen, lässt sich das auch positiv sagen: In diesem Milieu finden sich, für Menschen in der Lebensmitte nicht selbstverständlich, zahlreiche Menschen mit einem hohen Interesse an verschiedensten gottesdienstlichen Formen. Sie sind überdurchschnittlich informiert und wagen es vergleichsweise oft, selbst mitzuwirken. Zu den »Kritischen« zählen vermutlich nicht nur viele Frauen, die sich an meditativem Tanz versuchen, sondern auch solche Menschen, denen Kirche als Gegenwelt wichtig geworden ist. Dass die insgesamt höchste Ablehnung einer »schönen Kirche« als für den Gottesdienst relevante Umgebung sich ausgerechnet hier findet, wo das kritische Hinterfragen seine Heimat hat, ist gewiss kein Zufall.
2.3.5 Rückblick Zwei Wahrheiten stehen unmittelbar nebeneinander. Erstens: Es gibt gewissermaßen einen »Gottesdienst für alle«, der einige umfassende Grundregeln beherzigt, der wenig Distanzsignale in Richtung der verschiedenen Milieus sendet, in diesem Sinn eine »gute Predigt« enthält, »durch eine fröhlich-zuversichtliche Stimmung gekennzeichnet ist« und in einer »zeitgemäßen Sprache« daherkommt. Auf dem Gebiet des Gottesdienstes ist der kleinste gemeinsame Nenner der Milieus so groß wie kaum in einem anderen Bereich kirchlichen Handelns. Zweitens: Es gibt keinen Gottesdienst für Menschen aller Milieus. Es ergeht dem Gottesdienst, wie es der Kirche in den meisten ihrer Arbeitsbereiche ergeht: Es gibt dafür von einigen Menschen großen Beifall, von den meisten ein vages Lob oder Interesse und von insgesamt eher wenigen eine konkrete Ablehnung – was nichts ändert an verhältnismäßig kleinen Beteiligungsquoten. Selbst wer in einer Befragung angibt, eine moderne Kirche mit Theater im Gottesdienst zu schätzen, geht noch lange nicht hin. So bleiben die Abstoßungseffekte dort gering, wo auch die Chancen gering sind, mehr Menschen für den Gottesdienst zu begeistern. Es differenzieren sich die Vorlieben, exemplarisch sichtbar in einer Differenzierung unterschiedlicher Milieus, wie sich die Klischees stabilisieren, in denen Gottesdienste »ganz nett« oder auch »langweilig« sind. Die Deutungsarbeit an empirischen Daten verlagert sich jetzt unweigerlich auf die Ebene der praktisch-theologischen Diskussion. Zum einen bedarf der Gottesdienst als Zentrum der Gemeinde langfristig einer neuen Diskussion, in der empirische Ergebnisse stärker mit Konzepten der Gemeinde- und Organisationsentwicklung zusammengeführt werden. Zum anderen stehen für Gemeinden, und mit Blick auf größere Nachhaltigkeit auch für größere organisa358 Schulze, Erlebnisgesellschaft.
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torische Einheiten der Kirche, Entscheidungen darüber aus, wie mit dem Problem der zunehmenden Differenzierung umzugehen sei.359 Das Wissen um die Verschiedenheit, über (milieu-)typische Affinitäten, Großherzigkeiten und Distanzierungen, verlangt nach Positionen im Spannungsfeld zwischen einer stetig steigenden Differenzierung kirchlicher Arbeit und der Suche nach tragfähigen gemeinsamen Nennern. Der Gottesdienst ist dann womöglich ein geeigneter Ausgangspunkt der Bemühungen um ein kirchliches Handeln, das tatsächlich einerseits einen breiten stilistischen Konsens zu nutzen vermag, andererseits spezifische Interessen wahrnimmt und ihnen – zumindest an einigen Orten – auch gerecht wird.
359 Erste modellhafte Ansätze finden sich etwa bei Hauschildt, Milieustudien.
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3. Analysen mit diakonischer Perspektive
3.1
Zwischen Altruismus und Lebensgenuss: Ehrenamtliche Arbeit bei Menschen unterschiedlicher Lebensstile360
Die Zahl der ehrenamtlich Mitarbeitenden in der evangelischen Kirche in Deutschland hat im Jahr 2000 die Millionengrenze überschritten und steigt weiter an.361 Empirische Erhebungen belegen ein ungebrochenes Interesse am freiwilligen Engagement.362 Auch sind viele der nicht Engagierten bereit, (wieder / vermehrt) ehrenamtlich aktiv zu werden – wenn die Arbeit reizvoll ist und die Rahmenbedingungen aus ihrer Sicht stimmen. Mit einem solchen Seitenblick auf Anreize, Interessen und Bedingungen ehrenamtlicher Arbeit befasst sich dieser Text.363 Hier werden Ergebnisse der bereits verwendeten Analyse von Lebensstilen aufgenommen, um die damit gewonnenen Einsichten in sozialstrukturelle Unterschiede nun auch für den Bereiche kirchlicher und darin zuweilen diakonischer Arbeit mit Ehrenamtlicher nutzbar zu machen. Der Blick auf die Rahmenbedingungen ehrenamtlicher Arbeit wird bedeutsam, wo diese überdacht, attraktiv oder noch attraktiver gestaltet werden soll, damit sich die bereits Aktiven ebenso wohlfühlen wie neue Zielgruppen, die für konkrete Aufgaben angesprochen werden sollen. Der Begriff »wohlfühlen« transportiert bereits einen wesentlichen Aspekt: Während sich die einen in ihrem Ehrenamt wohlfühlen oder in einer Gemeinschaft aufgenommen wissen
360 Ursprüngliche Publikation: Schulz, Ehrenamt. 361 Die EKD-Statistik über das Jahr 2009 verzeichnet 1.114.516 Ehrenamtliche, die in den verschiedenen Handlungsfeldern der Kirche aktiv sind; vgl. EKD-Statistik 2009, online verfügbar unter http://www.ekd.de/statistik/hauptamt_ehrenamt.html (letzter Zugriff: 20. 02. 2013). 362 Dies weist z. B. der Freiwilligensurvey seit 1999 nach. Vgl. zuletzt: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Hauptbericht. 363 Den Begriff »Ehrenamt« verwende ich an dieser Stelle als Synonym für zahlreiche andere Begriffe wie »freiwilliges Engagement« oder »bürgerschaftliches Engagement«, auch wenn diese in den Augen vieler Aktiver nicht in jeder Hinsicht deckungsgleich sind.
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wollen, geht es anderen stärker um die Herausforderung der Arbeit selbst, um Qualifikation, Spaß oder Erlebnis. Hohe Anreize und günstige Bedingungen lassen sich also kaum grundsätzlich und in allgemeiner Form beschreiben. Sie müssen zielgruppenspezifisch formuliert und umgesetzt werden. Eine Hilfestellung bietet die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD,364 und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen liefert sie eine Lebensstilanalyse, mit der sich unterschiedliche Typen und ihre Vorlieben und Interessen beschreiben lassen.365 Zum anderen bietet die Repräsentativerhebung Einsichten in Motivationsstrukturen für ehrenamtliches Engagement, über die Grenzen der Kirche hinaus. Auf diesem Weg lassen sich Erkenntnisse gewinnen, die zur Reflexion ehrenamtlicher Arbeit einladen und für die Planung von Projekten wertvoll sind. Die folgenden Abschnitte sollen Funktion und Bedeutung der Lebensstilanalyse für die kirchliche Praxis erläutern, relevante Daten präsentieren und Anregungen für ihre Nutzung geben.
3.1.1 Lebensstile evangelischer Kirchenmitglieder – eine Herausforderung Bei den Lebensstiltypen der EKD-Studie handelt es sich nicht um reale »Gruppen«, sondern um rechnerisch gebildete Einheiten von Menschen, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ihre Einstellungen und Vorlieben miteinander teilen: Sie hören dieselbe Musik, haben ähnliche Lebensziele, gehen ähnlichen Freizeitbeschäftigungen nach, haben ähnlich engen Kontakt zu Nachbarn und im Wohngebiet und sind ungefähr so konservativ oder modern wie andere Befragte ihres Lebensstils.366 In die Berechnung der Lebensstil-Typen sind sozialstrukturelle Daten nicht einbezogen. So bilden die Lebensstile keine Alters-, Bildung oder Einkommensgruppen ab, auch wenn sich einige Lebensstile mit einem typischen Alter oder Einkommen charakterisieren lassen. Die Berechnung der EKD-Studie hat sechs Lebensstiltypen ergeben, deren Bezeichnungen bereits die wichtigsten Merkmale der Typen zum Ausdruck bringen: der »hochkulturelltraditionsorientierte Lebensstiltyp« (1), der »gesellig-traditionsorientierte Lebensstiltyp« (2), der »jugendkulturell-moderne Lebensstiltyp« (3), der »hochkulturell-moderne Lebensstiltyp« (4), der »von Do-it-yourself geprägte, mo-
364 Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung. 365 Die Cluster wurden von Friederike Benthaus-Apel für die EKD berechnet und beschrieben. Eine Einführung in die Methodik und eine erste Übersicht über die umfangreichen Ergebnisse: dies., Zugänge. Zu den Chancen der Nutzung von Milieuanalyse für das kirchliche Handeln vgl. dies., Milieu. 366 Diese fünf Faktoren waren die Grundlage der Clusteranalyse.
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derne Lebensstiltyp« (5) und der »traditionsorientierte, unauffällige Lebensstiltyp« (6).367 Für die Interessen von Gemeinden und sozialen Einrichtungen ist die Lebensstiltypologie ein nützliches Instrument, denn Lebensstile unterscheiden sich stark in ihren Vorlieben und Verhaltensweisen. So stoßen viele kirchliche Arbeitsbereiche bei bestimmten Lebensstiltypen auf Zustimmung, bei anderen jedoch auf Ablehnung oder Unverständnis. Der Bedarf an Gemeinschaft in der Kirche ist ebenso lebensstilspezifisch wie der Wunsch nach Tanz und Theater im Gottesdienst, dem Hausbesuch eines Pastors oder einem Gespräch über Sinnfragen. Aus Interessen und Abneigungen ergeben sich lebensstiltypische Konstellationen. Es lohnt sich, diese gründlich wahr und ernst zu nehmen, wo kirchliche oder diakonische Arbeit geplant oder überdacht werden soll. Dies lässt sich am »jugendkulturell-modernen Lebensstiltyp« (3) verdeutlichen, der mit seinem Altersdurchschnitt von 29 Jahren der »jüngste« Lebensstiltyp innerhalb der Kirche ist und viele Schülerinnen und Schüler, Auszubildende, Studierende oder Menschen in der Anfangsphase der Berufstätigkeit umfasst. Während 60 % der Befragten des »hochkulturell-traditionsorientierten Lebensstiltyps« (1) den persönlichen Kontakt zur Pfarrerin bzw. zum Pfarrer wichtig oder sehr wichtig finden, sind es hier nur 8 %. Bezeichnenderweise gehören über die Hälfte der austrittsbereiten Kirchenmitglieder diesem Lebensstiltyp an.368 Das verdeutlicht, warum er ins Interesse kirchlicher Strategieentwicklung gerückt ist: Auch diese Mitglieder lassen sich durchaus an die Kirche binden, aber es ist nicht leicht, ihre Denkweise und Bedürfnislage zu verstehen. Anhand der Daten zu ehrenamtlicher Arbeit möchte ich nun zeigen, wie Unterschiede des Lebensstils sich bis in die Praxis hinein auswirken. Diese Ausführungen sollen beispielhaft sein, insofern solche Berechnungen natürlich auch für andere Arbeitsbereiche möglich und nützlich sind: für den Gottesdienst, für eine inhaltliche Arbeit an Glaubensfragen oder für das Nachdenken über Profile und Rollen der Pfarrerinnen und Pfarrer.369
367 Für eine ausführliche sozialstrukturelle Beschreibung der Lebensstiltypen vgl. BenthausApel, Zugänge, 212 – 217. Eine Übersicht findet sich im Text 2.3 »Wie hätten Sie’s denn gern?« 368 Als »austrittsbereit« sind hier alle Befragten mit den Stellungnahmen »Ich werde ganz bestimmt so bald wie möglich austreten« und »Eigentlich bin ich fast schon entschlossen, es ist nur noch eine Frage der Zeit« erfasst. 369 Dies ist geschehen in Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus.
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3.1.2 Ehrenamt – eine Sache des Lebensstils 3.1.2.1 Daten zum Ehrenamt aus der EKD-Studie 2002 Nach der Mitgliederstudie der EKD arbeiten 51 % der Kirchenmitglieder und 44 % der Konfessionslosen in gemeinnützigen Organisationen innerhalb und außerhalb der Kirche mit. Im Vergleich mit den Zahlen der Freiwilligensurveys erscheinen diese Werte sehr hoch.370 Möglicherweise haben in der EKD-Studie etliche Befragte ein Engagement in einem Verein oder einer Selbsthilfegruppe als »Mitarbeit« bewertet, das man streng genommen eher als »Teilnahme« bezeichnen müsste. Trotz dieser Unschärfen liefern die Zahlen wichtige Erkenntnisse über den Grad der Beteiligung und die Motivation dafür. Die ehrenamtlich engagierten evangelischen Kirchenmitglieder bezeichnen sich nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, als deutlich kirchenverbundener als nicht engagierte.371 Sie weisen auch keine wesentlich stärkere Religiosität oder Übereinstimmung mit christlichen Glaubenssätzen auf als diese.372 Die Gründe für ihre Kirchenmitgliedschaft sind kaum unterschieden von denen der nicht engagierten Kirchenmitglieder. Aktivität für Arme und Benachteiligte erwarten alle Mitglieder gleichermaßen von der Kirche, unabhängig davon, ob sie sich selbst engagieren. Nur in wenigen Punkten findet man Unterschiede: Den Satz »Ich mache mir über den Sinn des Lebens eigentlich keine Gedanken« lehnen 45 % der ehrenamtlich Engagierten deutlich ab, während nur 35 % der nicht Engagierten dies tun.373 Es lässt sich also ein gewisser Zusammenhang zwischen persönlichem Einsatz und dem Interesse an Sinnfragen feststellen. Aus Sicht der Ortsgemeinden interessiert außerdem die Frage, ob ehrenamtlich engagierte Mitglieder zugleich stärker am kirchlichen Leben beteiligt sind als nicht engagierte. Tatsächlich liegt der Anteil der hier beteiligten Mitglieder unter den Engagierten bei 47 %, unter den nicht Engagierten bei 27 %.374
370 Hier sind im Jahr 1999 34 % der Befragten engagiert, 2009 sind es 36 %. Dabei ist zwischen »freiwillig Engagierten« und »ohne ehrenamtliche Aufgaben Aktiven« unterschieden. 371 Bernhard von Rosenbladt beschreibt auf der Datenbasis des Freiwilligensurvey einen Zusammenhang von Kirchenbindung und Engagement; ders., Freiwilligensurvey, 62. Die EKD-Studie erweist zwar Kirchenmitglieder insgesamt als überdurchschnittlich häufig ehrenamtlich aktiv, die aktiven sind hier jedoch ihrer Kirche nicht signifikant höher verbunden als die nichtaktiven Mitglieder. 372 Die einzige Auffälligkeit findet sich unter den insgesamt 5 % der Kirchenmitglieder, die »weder an Gott noch an eine höhere Kraft« glauben oder sogar »überzeugt« sind, »dass es keinen Gott gibt«: Sie sind zu zwei Dritteln nicht aktiv. Die geringe Zahl von 92 Befragten lässt aber kaum ernsthafte Schlüsse aus diesem Sachverhalt zu. 373 Berücksichtigt wurden hier auf einer Skala von 1 (»stimme überhaupt nicht zu«) bis 7 (»stimme voll und ganz zu«) die deutlichen Ablehnungswerte 1 und 2. 374 Die Frage 19 der EKD-Studie erfragt diverse Formen der Beteiligung – von der Teilnahme
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Die Gruppe derer, die zwar ehrenamtlich engagiert sind, aber am kirchlichen Leben nicht beteiligt (etwa 53 % der Aktiven und insgesamt 26 % der Kirchenmitglieder), bilden ein hohes Potenzial fürs Gemeindeleben. Umgekehrt sind aber auch 37 % der am kirchlichen Leben Beteiligten nicht ehrenamtlich aktiv und bilden eine wichtige Potenzialgruppe für das Ehrenamt. 3.1.2.2 Lebensstiltypische Motivation in Ehrenamt und Diakonie Hier bietet sich nun ein Blick auf die Lebensstiltypen an.375 Zur Konstruktion der Typen wurde unter anderem die Frage nach der Wichtigkeit einzelner Lebensbereiche herangezogen. Mit Hilfe einer Skala von 1 (»völlig unwichtig«) bis 7 (»sehr wichtig«) lassen sich die Einstellungen vergleichen. Eine »Familie bzw. Kinder zu haben«, bezeichnen vor allem die Lebensstiltypen 1, 5 und 2 als sehr wichtig (zu 85 %, 79 % und 75 %).376 Auch für die anderen Lebensstile ist dies wichtig; hier verringert sich jedoch der Abstand zu anderen Items wie »das Leben genießen« oder ein »gutes, attraktives Aussehen« sehr deutlich. So lassen sich Muster von allgemeinen Motivationen und Lebenszielen erkennen: Der »hochkulturell-traditionsorientierte Lebensstil« (1), der eher ältere, gebildete und einkommensstarke Kirchenmitglieder mit einem Altersdurchschnitt von 63 Jahren repräsentiert, ist stark durch seine Familienorientierung und dem Wunsch nach einem »Leben, das in gleichmäßigen Bahnen verläuft« geprägt.377 Ebenso wichtig ist es für sie, »für andere da zu sein« und sich »aktiv für hilfsbedürftige Menschen einzusetzen«.378 So lässt sich dieser Lebensstil als der am stärksten altruistische beschreiben. Das Altruismus-Motiv findet sich ebenso im »hochkulturell-modernen Lebensstil« (4). Kirchenmitglieder dieses typischerweise städtischen Lebensstils sind ebenso gebildet und einkommensstark, aber deutlich jünger (durchschnittlich 44 Jahre) und in ihrer Normorientierung moderner. Ihre altruistische Haltung ist stärker (gesellschafts-)politisch ausgerichtet. In diesem Lebensstil ist der Anteil der freiwillig Engagierten mit 63 % der Befragten am höchsten. Wie auch im bereits beschriebenen »jugendkulturell-modernen Lebensstil« (3) findet sich hier ein Motiv, das man allgemein als »jugendkulturell« bezeichnen kann: Lebensgenuss, Unabhängigkeit und »attraktives Aussehen« spielen eine große Rolle. Das Interesse an der eigenen Familie oder Kindern relativiert sich gegenüber diesen Wünschen.
375 376 377 378
an Kirchenwahlen, Veranstaltungen oder Gruppen bis zur Übernahme von Verantwortung, etwa im Kirchenvorstand. Eine erste Darstellung lebensstilspezifischer Zugänge der Lebensstiltypen zum kirchlichen Handeln findet sich bei Benthaus-Apel, Zugänge. Unter »sehr wichtig« sind die Werte 6 und 7 erfasst. 78 % der Befragten dieses Lebensstils bezeichnen das als sehr wichtig (Wertungen 6 oder 7). Mit 79 % und 69 % Zustimmung mit den Werten 6 und 7.
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Auch der von »Do-it-yourself geprägte, moderne Lebensstil« (5) mit dem Altersdurchschnitt von 42 Jahren zeigt deutlich das jugendkulturelle Motiv, aber hier spielen die Familie, die Wohnumgebung und eine Stabilität der Lebensverhältnisse eine größere Rolle. Wie der Lebensstiltyp 4 ist auch dieser Lebensstil stark altruistisch, allerdings im Vergleich mit Typ 4 ohne dessen (gesellschafts-)politische Ausrichtung. Der Altruismus scheint hier stärker auf die nähere Umgebung in Familie und Lebenssituation bezogen. Besonders im »jugendkulturell-modernen Lebensstil« (3) finden sich Kirchenmitglieder, die sich ehrenamtlich engagieren, aber nicht am kirchlichen Leben beteiligen. Sie lassen sich offenbar für freiwillige und soziale Arbeit motivieren, aber nur schwer kirchlich binden. Wo hingegen der Altruismus Kennzeichen eines Lebensstils ist (Typen 1, 4 und 5), finden sich deutlich weniger am kirchlichen Leben beteiligte, aber nicht ehrenamtlich tätige Mitglieder. Neben diesen Grundmustern von allgemeinen Motivationen und Lebenszielen wurden in der EKD-Studie Gründe für ehrenamtliches Engagement erfragt.379 Mit ihnen lassen sich die beschriebenen Erkenntnisse vervollständigen. Ich beschränke mich in dieser Zusammenschau auf die vier am häufigsten ehrenamtlich aktiven Lebensstiltypen unter den evangelischen Kirchenmitgliedern:380
379 Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, Frage 31. 380 Auch der Frage 31 der EKD-Studie liegt eine 7-stufige Skala zugrunde. Die Abbildung erfasst die Werte 6 und 7 für starke Zustimmung.
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Zwischen Altruismus und Lebensgenuss 100%
Typ 1: hochkulturelltradiconsorientiert
90% 80% 70%
Typ 4: hochkulturellmodern
60% 50% 40%
Typ 5: von Do-ityourself geprägt, modern
30% 20%
Spaß haben
eigene Fähigkeiten einbringen und weiterentwickeln
prakcsche Nächstenliebe üben
anderen helfen
0%
Staat und Gemeinden helfen, Geld zu sparen
10%
Typ 3: jugendkulturellmodern
Abbildung 13: Motive der Lebensstiltypen für ehrenamtliches Engagement381
Höchste Zustimmungswerte finden die altruistischen Motive. Sie sind bei allen Lebensstiltypen vergleichsweise hoch, wie erwartet jedoch besonders bei den Typen 1, 4 und 5. Die spezifisch christliche Motivation »Nächstenliebe üben« erfährt beim Lebensstiltyp 1 nahezu die gleiche Zustimmung wie die allgemeine Form »anderen helfen«. Bei den anderen Typen, vor allem bei den Typen 5 und 3, erzielt sie jedoch deutlich geringere Zustimmungswerte. Möglicherweise sind für den Typ 1 Altruismus und Nächstenliebe tatsächlich als identisch verstanden oder zumindest als so eng verwandt, dass die Motivation zu helfen zumeist eine christliche ist. Die Möglichkeit, eigene Fähigkeiten einzubringen und weiterzuentwickeln, findet vor allem das Interesse der Lebensstiltypen 4 und 1.382 Dass ehrenamtliches Engagement »Staat und Gemeinden« hilft, »Geld zu sparen«, mag richtig sein; ein Motiv für das eigene Engagement ist es nur für wenige Befragte. Eine Ausnahme bildet der Lebensstiltyp1, für den dieses Motiv eine gewisse Bedeutung im Kontext der Gemeinwohlorientierung erhält. Der Lebensstiltyp 3 legt
381 Befragungsdaten und Clusterbildung sind entnommen aus der EKD-Erhebung von 2002; vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung. 382 Hier zeigen die Daten der EKD-Studie, dass dieses Motiv ebenso für ehrenamtlich engagierte Kirchenmitglieder von geringerer Bedeutung ist als für engagierte Konfessionslose.
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Analysen mit diakonischer Perspektive
den größten Wert auf »Spaß« bei der ehrenamtlichen Arbeit. Dieser rückt hier an die erste Stelle der Motivationsfaktoren.383 Angesichts dieser Zahlen mag man im Lebensstiltyp 3 und seiner Motivationslage den Typus des »neuen Ehrenamtlichen« sehen: Er rückt das eigene Interesse in den Vordergrund, fragt nicht nach seiner Pflicht oder der sozialen Notwendigkeit, sondern zuerst nach dem Gewinn seiner Tätigkeit und sucht vor allem Spaß und allenfalls ein »soziales Erlebnis«. Als maximaler Kontrast dient der Lebensstiltyp 1 als Sinnbild des »klassischen Ehrenamts«: Ihm geht es um die gute Tat, während der Spaß oder selbst eine indirekte Belohnung, etwa durch Weiterbildung, eine untergeordnete Rolle spielen. Zugespitzt könnte man dem Typ 3 vor allem Interesse an der eigenen Person und ihren Bedürfnissen zuschreiben, dem Typ 1 dagegen das echte Interesse an der Tätigkeit. Dass ein so simpler Gegensatz zwischen Gemeinwohlorientierung und Selbstbezug und damit zwischen »altem Ehrenamt« (altruistisch geprägt) und »neuem Ehrenamt« (selbstbezogen) keine empirische Grundlage hat, lässt sich erkennen, wenn man die komplexe Motivationslage einzelner Lebensstiltypen betrachtet: Zwar steht der Spaß für Typ 3 an erster Stelle, erreicht aber nur 2 % weniger Zustimmung als das Hilfe-Motiv (54 % gegenüber 52 %). Zwar äußert dieser Lebensstiltyp am stärksten sein Interesse an Spaß im Ehrenamt, ein Interesse an Vergnügen in der ehrenamtlichen Arbeit zeigen aber durchaus auch die stärker altruistischen Lebensstiltypen. Es spielt dort nur eine weniger zentrale Rolle im Ensemble der Motivationen. Die Ergebnisse zeigen: Eine Gegensatzanordnung von Motiven des Altruismus und des Selbstbezugs ist nicht nur wenig sinnvoll, sondern sie verhindert auch eine wertschätzende Wahrnehmung der Bedürfnisse von einzelnen Lebensstiltypen. Diese soll nun durch eine Analyse typischer Einsatzbereiche für die Lebensstile und eine abschließende Zusammenschau lebensstilspezifischer ehrenamtlicher Arbeit erleichtert werden:
3.1.2.3 Lebensstiltypische Einsatzbereiche Für alle Lebensstiltypen lassen sich Einsatzbereiche beschreiben, in denen die betreffenden Menschen sich besonders häufig engagieren und die für sie entsprechend besonders attraktiv sind. Die höchsten Werte für ehrenamtliches Engagement bekommt in der EKD-Studie der »Sportverein«: Je nach Lebensstil 383 In allen anderen Typen wird der Wunsch »anderen zu helfen« oder »Nächstenliebe zu üben« deutlich höher bewertet. Im Freiwilligensurvey dagegen stand der »Spaß« an der Tätigkeit an der Spitze der Erwartungen an das ehrenamtliche Engagement, gefolgt von dem Wunsch, »mit sympathischen Menschen« zusammenzukommen. Erst auf dem dritten Platz finden sich altruistische Motive; vgl. Rosenbladt, Freiwilligensurvey, 113.
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Zwischen Altruismus und Lebensgenuss
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geben zwischen 6 und 32 % der Kirchenmitglieder an, sich hier zu engagieren.384 Spitzenreiter sind die Typen 3 und 5 (32 %) und Typ 4 (28 %). Die wichtigsten der übrigen Einsatzbereiche und die Häufigkeit, mit der sich die Lebensstiltypen dort engagieren, sind der Abbildung 14 zu entnehmen. Im Folgenden möchte ich die Einsatzbereiche betrachten, in denen die Lebensstiltypen sich jeweils vorrangig engagieren, und die dahinter verborgene Logik des jeweiligen Engagements entschlüsseln. Auf diese Weise sollen die Erkenntnisse der EKD-Studie auf die verschiedenen Arbeitsbereiche kirchlichen oder diakonischen Handelns übertragbar werden: Der »hochkulturell-traditionsorientierte Lebensstiltyp« (1) verortet sein Engagement entsprechend seiner Orientierung auf Familie und die nähere soziale Umgebung und versteht es als Handeln des verantwortlichen Bürgers. Wichtigster Einsatzbereich ist die Nachbarschaftshilfe. Sein stark ausgeprägtes bürgerliches Verantwortungsbewusstsein und seine vergleichsweise hohe Bildung machen die Mitarbeit in Kulturvereinen und Bürgerinitiativen attraktiv. Demgegenüber scheint ein Engagement mit überregionaler und gesellschaftspolitischer Ausrichtung wie in einer Menschenrechtsorganisation wenig reizvoll.385 Der »jugendkulturell-moderne Lebensstiltyp« (3) fällt einerseits durch sein Interesse am erlebnisintensiven Bereich des Sports, andererseits durch sein oft unterdurchschnittliches Engagement auf. Seine deutliche Zustimmung zu altruistischen Motiven lässt vermuten, dass der Grund dafür nicht in einem Desinteresse am gemeinnützigen Engagement zu suchen ist, sondern vielmehr in der Schwierigkeit, lebensweltliche Bezüge und Herausforderungen zu finden. Wo es lokale oder personale Kontakte gibt, etwa zur freiwilligen Feuerwehr, oder wo ein intensives, konkretes Engagement möglich ist, etwa in einer Umweltschutzorganisation, einer Partei oder Menschenrechtsvereinigung, ist der Einsatz dieses Lebensstilstyps kaum geringer als der anderer Typen.
384 Mit Blick auf den Freiwilligensurvey lässt sich vermuten, dass sich besonders hier viele Befragte zu Unrecht als »engagiert« bezeichnen: Laut Survey sind 37 % der Befragten in Sportvereinen aktiv, aber nur 11 % ehrenamtlich engagiert; vgl. ebd., 45. 385 Hier liegt das Engagement dieses Lebensstiltyps bei 0 %.
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Analysen mit diakonischer Perspektive
18% 16%
Typ 1: hochkulturelltradiconsorientiert
14% 12%
Typ 4: hochkulturellmodern
10% 8% 6%
Typ 5: von Do-ityourself geprägt, modern
4%
Nachbarscha_shilfe (z.B. Einkaufen für ältere Menschen)
kultureller Verein, Förderkreis
Natur- oder Umweltschutzvereinigung, Bürgerinicacve
policsche Partei
Menschenrechtsvereinigung, eine Welt-Gruppe
0%
freiwillige Feuerwehr
2%
Typ 3: jugendkulturellmodern
Abbildung 14: Verschiedene Einsatzbereiche nach Lebensstiltypen386
Der »hochkulturell-moderne Lebensstiltyp« (4) zeigt sich nahezu überall überdurchschnittlich engagiert, aber klar profiliert: Besonders dort, wo der Einsatz eine überregionale oder globale Orientierung und Vernetzung erfordert, etwa in Menschenrechtsvereinigungen oder Umweltschutzverbänden, und dort, wo die Arbeit eine starke gesellschaftspolitische Ausrichtung hat, etwa in Förderkreisen, Bürgerinitiativen und Parteien, zeigt dieser Lebensstiltyp große Einsatzbereitschaft. Menschen dieses Lebensstiltyps engagieren sich als individualisierter Experte oder akademisch ausgebildete Beraterin. Schließlich lässt sich dieser Typ negativ beschreiben durch sein unterdurchschnittliches Engagement bei der freiwilligen Feuerwehr. Das kleinbürgerliche Image dieses Einsatzbereichs als »Bier-und-Bratwurst-Verein« schreckt diesen Lebensstil eher ab. Der »von Do-it-yourself geprägte, moderne Lebensstiltyp« (5) engagiert sich als »guter Nachbar« und ist anders als Typ 4 besonders dort aktiv, wo es um lokale Interessen geht: in der Nachbarschaftshilfe, der freiwilligen Feuerwehr oder einer Bürgerinitiative. Das Interesse an überregionalen Zusammenhängen ist schwach ausgeprägt,387 aber wo eine Gemeinde oder diakonische Einrichtung 386 Befragungsdaten und Clusterbildung sind entnommen aus der EKD-Erhebung von 2002; vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, 387 Das Engagement des Lebensstiltyps 5 liegt hier wie das des Typs 1 bei 0 %.
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Zwischen Altruismus und Lebensgenuss
eine Initiative für den Stadtteil plant und das Engagement als geselliges Geschehen konzipiert, kann sie Ehrenamtliche dieses Lebensstils gewinnen.
3.1.3 Stile der ehrenamtlichen Arbeit – Konsequenzen Die folgende Tabelle fasst die Typen ehrenamtlichen Engagements mit den für sie typischen Motivationen und Einsatzbereichen zusammen: Bezeichnung EA-Typ 1 hochkulturelltraditionsorientiert
Anteil typische Aktive Motivation verantwort- 60 % stark altruistisch, liche oft christliche Bürger Motive, Bildung, Spaß eher nachrangig
3 jugendkulturellmodern
EventHelfer
47 %
4 hochkulturellmodern
Experten und Berater
63 %
5 von Do-ityourself geprägt, modern
gute Nachbarn
59 %
typisches Engagement Nachbarschaftshilfe, oft Einsatz auf Vereins- und Verbandsebene: Wohlfahrtsverbände, Förderkreise, Heimat- oder Gesangsvereine, Frauengruppen. Spaß, Einbringen Aktivitäten müssen Beund Weiterentwi- züge zum eigenen Leben ckeln eigener Fä- aufweisen, bewegungshigkeiten. Altru- und erlebnisintensiv sein (Sportvereine, lokale ismus nachranHilfsorganisationen) gig, nicht unwichtig stark altruistisch, Einsatzbereiche mit überEinbringen und regionalen, gesellschaftsWeiterentwickeln politischen Zielsetzungen: eigener FähigParteien, Menschenrechtsund Umweltschutzorgakeiten nisationen, NGOs. stark altruistisch, Aktivitäten mit Bezug Spaß ebenso wie zur Lebensumgebung Einbringen und (Nachbarschaftshilfe, Weiterentwickeln freiwillige Feuerwehr, eigener FähigSportverein, Berufsverbände) keiten
Abbildung 15: Lebensstile und ehrenamtliches Engagement388
Die Ergebnisse zeigen erhebliche Unterschiede zwischen den Lebensstilen, die jeweiligen Schwerpunkte des Interesses und umgekehrt die größten Schwierigkeiten in der Motivation eines Lebensstiltyps zur ehrenamtlichen Mitarbeit. Daraus erschließen sich bereits die wichtigsten Anwendungsbereiche 388 Diese Tabelle auf der Basis der Befragungsdaten und der Clusterbildung der EKD-Erhebung (vgl. Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung) wurde in Bezug auf alle sechs Lebensstiltypen weiter ausgearbeitet in Schulz/Hauschildt/Kohler, Milieus, 286 f.
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Analysen mit diakonischer Perspektive
solcher Analysen: Will man das ehrenamtliche Engagement beispielsweise innerhalb einer Gemeinde oder zugunsten eines sozialen Projektes steigern, so besteht die größte Herausforderung nach meinem Eindruck darin, die Verantwortlichen für ehrenamtliche Arbeit in der Kirche für unterschiedliche Motivlagen und Logiken des Engagements zu sensibilisieren. Es steckt im Wesen eines jeden Lebensstils, das eigene Leben nach dem jeweils eigenen Denkmuster und den eigenen Vorlieben zu gestalten, und es gehört ein hohes Maß an Professionalität dazu, ein Projekt für Menschen fremder Lebensstile attraktiv zu gestalten. Weil jeder Lebensstil seinesgleichen sucht, empfiehlt es sich darum, in der Entwicklung von Projekten, in denen Freiwillige aus unterschiedlichen Lebensstiltypen angesprochen werden sollen, bereits für die Planungsphase Menschen unterschiedlicher Lebensstile zu gewinnen und sie in die Gestaltung möglichst konkret einzubeziehen. Denn ob zu einer Projektbesprechung per Brief, Mail, SMS oder im persönlichen Gespräch eingeladen wird, ist unter Umständen für Interessierte ein wichtiges Kriterium dafür, ob sie das Projekt als reizvoll oder eher abschreckend einschätzen. Ebenso müssen in lebensstilsensiblen Konzeptionen für ehrenamtliche Arbeit die jeweiligen Beteiligungsstrukturen den avisierten Lebensstiltypen angepasst werden: Für die einen, etwa für den Typ 4, ist ein umfassendes Mitbestimmungsrecht eine wichtige Voraussetzung zur freiwilligen Mitarbeit. Dieser Typ schätzt die Möglichkeit zur Mitgestaltung so sehr, dass für ihn das Ehrenamt – unabhängig von einer inhaltlichen Übereinstimmung – zum individuellen Zugang zu Kirche oder Gemeinde werden kann, vorausgesetzt, diese ist wirklich offen für konzeptionelle Mitgestaltung durch Ehrenamtliche. Andere empfinden es als bedrohlich, wenn sie im konzeptionellen Bereich mitarbeiten sollen; sie erwarten klare Aufgabenzuschreibungen und feste Rahmenbedingungen. Für die Analyse von Anziehungs- und Abstoßungskräften zwischen den Lebensstiltypen ist zu bedenken, dass Grenzen zwischen den Lebensstilen nicht immer ein Grund zur Distanz sind: Häufig wird gerade der Kontakt mit anderen Stilen als reizvoll beschrieben, wenn nur die jeweiligen Ideale nicht gefährdet sind. So lohnt es sich, die Einzelheiten des Projekts im Vorfeld durch die Brille derjenigen zu betrachten, die man gewinnen möchte. Über die beschriebenen Ergebnisse hinaus lassen sich Lebensstiltypen auch nach den in ihnen typischerweise vorhandenen Kompetenzen unterscheiden: Häufig finden sich beispielsweise Menschen mit der Fähigkeit und dem Mut zu Leitung und Koordination in bestimmten Lebensstilgruppen wieder. Eine fundierte Projektplanung ist darum gut beraten, für die verschiedenen Aufgabenbereiche gezielt bestimmte Lebensstiltypen anzusprechen.
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Der Beitrag der Diakonie zur Stabilisierung und Entwicklung der Organisation
3.2
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Der Beitrag der Diakonie zur Stabilisierung und Entwicklung der Organisation Evangelische Kirche und ihrer Gemeinden389
Die evangelische Kirche braucht ein klares Profil – so lautet eine Forderung, die in Prozessen der Organisationsentwicklung innerhalb der Kirche immer wieder laut wird. Sie braucht ein Profil, mit dem sie auch in Zukunft so überzeugend ist, dass sie nicht nur keine Mitglieder verliert, sondern gegen den Trend wächst, wie es z. B. im Reformprozess der EKD zum Motto geworden ist.390 Meine These ist dabei: Diakonie – als profilierte Soziale Arbeit auf dem Hintergrund des christlichen Glaubens – nützt der Kirche auf ihrer Suche nach Profil und in den Auseinandersetzungen, die das bedeutet. Auch von der anderen Seite, der Diakonie, aus betrachtet, ist diese These interessant: Aus der Perspektive der Diakonie und ihrer konkreten Arbeit in Gemeinden und Einrichtungen ist vielfach der Wunsch nach mehr Profil zu hören: Was unterscheidet denn beispielsweise eine Einrichtung der Diakonie in der Alten-, der Jugend- oder der Behindertenhilfe von einer weltlichen Einrichtung? Erst recht, wenn es um Gelder, um Wettbewerb und Qualität geht. Auch hier heißt es dann: Wir brauchen ein klares Profil. Und die Vermutung ist: Der klare Bezug zur Kirche und dem christlichen Glauben, aus dem das gute Werk entspringt, verschafft auch der Diakonie ein klares und freundliches Gesicht. Kirche und Diakonie nützen einander, sie sind gemeinsam entstanden und können nicht ohne einander, auch wenn die gegenwärtigen Strukturen etwa von Ortsgemeinde und diakonischer Einrichtung nicht immer kompatibel sind. Hier möchte ich mich nun konzentrieren auf das Erstere: Diakonie nützt der Kirche. Als Grundfunktion des christlichen Glaubens ist es zunächst selbstverständlich, wenn diakonisches Handeln der Kirche »nützlich« wird und ihr Profil schärft. Es lässt sich an vielen Stellen zeigen, welchen erheblichen Nutzen die Kirche aus einer profilierten diakonischen Arbeit bereits zieht – sowohl in den eigenen Organisationsformen der Diakonie wie etwa in den großen Anstalten als auch in der »kleinen Form« in Ortsgemeinden, der Bezirksdiakonie und anderswo. Darin vertieft sich das Verständnis für den »Marktwert der Diakonie«.
389 Ursprüngliche Publikation: Schulz, Diakonische Standortsuche. 390 Vgl. die Projektinformation der EKD: http://www.ekd.de/ekd_kirchen/reformprozess.html (letzter Zugriff: 20. 02. 2013) sowie die von Wilfried Härle u. a. herausgegebene Zusammenstellung »erfolgreicher Gemeinden«: Härle/Augenstein/Rolf/Siebert, Wachsen.
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Analysen mit diakonischer Perspektive
Im Folgenden möchte ich zuerst (1.) die Situation der Kirche – und damit meine ich hier : der Evangelischen Kirche in Deutschland391 – kurz beleuchten und (2.) anhand einiger wesentlicher Themen ihrer Entwicklung zeigen, wie Diakonie in diesem Kontext die Kirche stabilisiert. Anschließend (3.) soll aus organisationssoziologischer Perspektive Kirche anhand von Merkmalen einer Organisation betrachtet werden. Hier werden dann, auch im Vergleich von Kirche und Diakonie, wichtige Rahmenbedingungen der Arbeit deutlich sowie etliche der typischen Schwierigkeiten, bei deren Bewältigung die Diakonie der Kirche helfen kann. Wie dies geschehen kann, möchte ich darauf (4.) am Beispiel der Ortsgemeinde zeigen, an ihren Chancen und Möglichkeiten, aber auch an ihrem Bedarf an Entwicklung und Profilierung. Einige Konkretionen sollen diesen Abschnitt abrunden, bevor ich (5.) zusammenfassend einige typische Effekte diakonischer Arbeit auf eine positive Entwicklung von Kirche benenne.
3.2.1 Die Situation der Evangelischen Kirche in Deutschland Empirische Studien zeigen: Die Lage der evangelischen Kirche ist außergewöhnlich komplex.392 Die Krisendiagnostik der vergangenen 30 Jahre393 ist nach wie vor korrekt, die Mitglieder- und damit die Finanzentwicklung ist für den langfristigen Bestand der Kirche durchaus bedrohlich. Zugleich spricht man jedoch von Stabilität und Kontinuität.394 Zahlreiche Befunde der ersten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD mit ihren Daten aus dem Jahr 1972 finden sich in jeder neuen Studie in ähnlicher Form. Solche Untersuchungen bieten für die Kirche eine Doppelbotschaft, die nach tieferem Blick und gründlicher Interpretation verlangt: Zum einen lässt sich tatsächlich eine hohe Stabilität der Kirche als soziales Gebilde feststellen. Nach der »Austrittswelle« in den 1990er Jahren hat sich die Austrittsquote auf weniger als einen Prozentpunkt pro Jahr verringert.395 Momentan scheint sie wieder leicht anzusteigen, und völlig unabsehbar ist, welche Folgen zukünftige Veränderungen im Steuersystem haben werden. Zugleich gilt: Immer mehr Menschen treten (wieder) in die Kirche ein und gleichen damit – natürlich nur rechnerisch – je nach Region ein Drittel bis knapp die Hälfte der durch Austritt verursachten Mitgliederverluste 391 Wie sie sich zeigt auf der Ebene von Landeskirchen und EKD, aber ebenso in Gemeinden, Einrichtungen und anderen Organisationsformen. 392 Details und Deutungsansätze finden sich etwa in der aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung: Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung. 393 Beispielhaft nachzuvollziehen in den Einleitungen der vier EKD-Mitgliedschaftsuntersuchungen seit 1972. 394 Schloz, Kontinuität und Krise. 395 Kirchenamt der EKD, Statistik.
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wieder aus. So trifft der Mitgliederverlust die Kirche schon deutlich, aber eher mittel- bis langfristig. Fragt man die Mitglieder nach ihrer Verbundenheit mit der Kirche, so finden sich seit 1972 etwa zu Dritteln hochverbundene und geringverbundene Mitglieder sowie ein stabiles Mittelfeld. Zwar treten kontinuierlich Menschen aus der Kirche aus, das Verhältnis von hoch- und geringverbundenen Mitgliedern scheint davon aber insgesamt nicht betroffen zu sein. 2002
36
36
1992
37
33
26 29
1982
35
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1972
37
30
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0%
20% Hochverbundene
40% Mi^elwerte
60%
80%
100%
Geringverbundene
Abbildung 16: Stabile Verbundenheit der Mitglieder mit ihrer Kirche 1972 – 2002396
Offenbar ergeht es der Kirche wie jedem anderen sozialen Gebilde, wie zum Beispiel allen Vereinen: Es gibt die einen, die die Arbeit leisten und sich regelmäßig beteiligen, es gibt die anderen, die nie da sind und von denen man nicht weiß, was sie eigentlich im Verein noch hält. Und schließlich gibt es die Gruppe derer »im Mittelfeld«: Sie kommen zu besonderen Anlässen, haben eine gewisse Sympathie für ihren Verein und befinden sich die meiste Zeit in Halbdistanz. Trotz dieser enormen inneren Stabilität ist die evangelische Kirche vor allem langfristig bedroht durch den prozentual geringen, aber kontinuierlichen Mitgliederverlust durch Austritt. Noch stärker fällt der demographische Wandel ins Gewicht, wenn man bedenkt, dass Kirchenmitglieder heute bereits überdurchschnittlich alt sind.397 Die Zahl der Sterbefälle von Kirchenmitgliedern kann gar nicht mehr durch Taufen ausgeglichen werden, selbst wenn alle Kinder evangelischer Kirchenmitglieder getauft würden, ganz abgesehen davon, dass die »Generation des Kirchenaustritts«, die heute 30- bis 60-Jährigen, ihre Konfes-
396 Aus Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, Schaubild 3, 56. 397 Zur aktuell umfangreichsten Analyse von statistischen Mitgliederdaten der Kirche vgl. Eicken/Schmitz-Veltin, Kirchenmitglieder.
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sionslosigkeit ebenso an ihre Nachkommen weitergibt wie früher vor allem die Kirchenmitgliedschaft tradiert wurde. Seit 30 Jahren wachsen in Deutschland viele und immer mehr Kinder und Jugendliche auf, die ausgesprochen wenig über Religion und Kirche wissen, nicht zuletzt weil ihre Eltern ihnen keinerlei Informationen darüber weitergeben (können) und kein Vorbild in der Auseinandersetzung mit dem Glauben sind. So multipliziert sich in Deutschland nicht etwa die bewusste Distanz zur Kirche – der Anteil der distanzierten Mitglieder bleibt ja stabil. Es multipliziert sich etwas für die Kirche wesentlich Gefährlicheres, nämlich die Indifferenz, der Mangel an Bezugspunkten zur Religion, zu Glaube oder Kirche. Es multipliziert sich die Zahl der Menschen, die gar nicht wissen, was man mit religiösen Fragen anfangen oder wozu man sich mit ihnen beschäftigen sollte. Weitere gravierende, aktuelle Probleme der Kirche kann ich hier nur andeuten. Kirche hat, wie es seit Jahren bekannt ist und sich immer weiter verschärft, ein Zielgruppenproblem, vor allem, was jüngere Menschen und (oft damit deckungsgleich) Menschen mit einer weniger traditionellen Einstellung im Bereich der Werte und Normen betrifft. Zugleich kann die Kirche mit ihren Beteiligungsstrukturen wesentlich leichter Frauen als Männer erreichen und ebenso wesentlich leichter solche Menschen, die kommunikativ und gesellig sind und die gern und häufig andere Menschen treffen mögen. Ob sich deren geselliges Verhalten auf Kirche bezieht oder nicht: Sie finden die Arbeit der Kirche grundsätzlich plausibler. Umgekehrt: Wem an zwischenmenschlicher Kommunikation wenig gelegen ist, wer am liebsten allein zu Hause ist, der ist auch für Kirche, ihre Angebote und ihre Verkündigung enorm schwer zu erreichen.398 Und nicht zuletzt hat die Kirche nachweislich ein Zugangsproblem gegenüber Erwerbstätigen: Wer in Vollzeit erwerbstätig ist, kann mit der Arbeit der Kirche deutlich weniger anfangen als andere Menschen.399 In den Schnittmengen dieser Kriterien erscheint dann holzschnittartig der erwerbstätige, jüngere, wenig traditionsorientierte Mann als schlichte Problemzone der Kirche, in abgeschwächter Form lässt sich dies aber ebenso für andere Zielgruppen beschreiben. Als Teil dieses Zielgruppenproblems zeichnet sich ein Beteiligungsproblem ab: Vor allem jüngere Menschen haben »neue« Ansprüche an eine Beteiligung an der Arbeit der Kirche. Sie wollen nicht mehr bloß Angebote nutzen und an etwas fertig Gestaltetem teilnehmen. Sie wollen selbst gestalten, sich »ihren Glauben selbst suchen«, auch wenn dieser faktisch oft mit den bekannten Inhalten 398 Zu den Aspekten »Erwerbstätigkeit« und »Geschlecht« vgl. Schulz, Frauenkirche und Männerkirche. 399 Vgl. Schulz, Zielgruppen-Orientierung. Vgl. auch der Text 1.4 »Exklusion, Bindung und Beteiligung« in diesem Band.
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identisch ist oder in vertrauten Formen gelebt wird. Sie möchten Verantwortung haben an der Entwicklung ihrer Kirche und zumindest im Kleinen ihre Kirche »selbst bauen«. Nun kann das Ziel kirchlicher Arbeit nicht wesentlich in der Mitgliedschaft der Menschen bestehen. Die Binnenstruktur der Kirchenmitgliedschaft ist jedoch ein Forschungsfeld, in dem sich die Situation der Kirche gut erkunden lässt, und zudem ist die formale Zugehörigkeit eines Menschen eine kaum zu unterschätzende Ausgangslage, wenn es darum geht, den Glauben zu vermitteln, Menschen in ihrem geistlichen Leben zu unterstützen und eine »Gemeinschaft der Heiligen« zu pflegen. Hier lohnt sich nun ein Blick auf die Inhalte. Was hält die Menschen in der Kirche? Was bringt viele sogar dazu (wieder) einzutreten?
3.2.2 Diakonie als Stabilisatorin der Kirche Die Frage nach den Gründen für die Mitgliedschaft ist seit 1972 Bestandteil der Mitgliedschaftsuntersuchungen der EKD. In der repräsentativen Befragung werden verschiedene Gründe angeboten, zu denen die Befragten dann auf einer Skala von 1 (für »trifft überhaupt nicht zu«) bis 7 (für »trifft voll und ganz zu«) Stellung nehmen sollen. Seit 30 Jahren steht an der Spitze der Items, denen die Mitglieder am stärksten zustimmen, die Dreiheit von Kasualien als ritueller Rahmung des Lebens (»Ich bin in der Kirche, weil ich auf Taufe, Trauung, Beerdigung… nicht verzichten möchte«), Verkündigung und christlichen Inhalten (»… weil mir der christliche Glaube etwas bedeutet«) und sozialen Funktionen der Kirche (»… weil sie etwas für Arme, Alte und Kranke tut«).
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Ich bin in der Kirche, weil… ich auf Trauung/Beerdigung nicht verzichten möchte mir der christliche Glaube etwas bedeutet sie etwas für Arme, Alte und Kranke tut meine Eltern auch in der Kirche sind / waren sie mir Trost in schweren Stunden gibt sie mir Antwort auf die Sinnfrage gibt ich die Gemeinscha_ brauche sie mir Möglichkeit zu sinnvoller Mitarbeit gibt 0%
5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% 45% 50%
Abbildung 17: Gründe für die Kirchenmitgliedschaft: »Ich bin in der Kirche, weil …«400
Darin spiegeln sich deutlich drei der Grundfunktionen der Kirche, Leiturgia, Martyria und Diakonia, während sich die Koinonia – dies ist ebenfalls seit der ersten EKD-Mitgliederstudie im Jahr 1972 belegt – einen der letzten Plätze in der Rangliste der Erwartungen einnimmt. Für die meisten Kirchenmitglieder ist die Möglichkeit, in der Kirche Menschen zu treffen und Gemeinschaft zu erfahren, ebenso wenig ein Anreiz zur Mitgliedschaft wie die Möglichkeit zur Mitarbeit. Dies allein wäre bereits eine eigene Abhandlung wert, ganz abgesehen von der (aus dieser Perspektive) verhältnismäßig geringen Bedeutung von »Trost« und »Sinn«. Wählt man eine etwas andere Fragestellung und rückt man dabei stärker die konkreten Aufgaben von Kirche in den Mittelpunkt, so verschiebt sich die Rangfolge im Spitzenfeld noch einmal. Die meisten Kirchenmitglieder, so zeigt es sich an vielen Details in den einschlägigen Untersuchungen,401 verstehen Kirche als eine »Kirche für andere«. Kirche soll für Bedürftige dieses und jenes tun, während man selbst daran wenig Anteil hat und viele Leistungen der Kirche, vor allem die seelsorgerlichen oder sozialen, nur im Ausnahmefall selbst nutzen möchte. Fragt man auf diese Weise, was Kirche denn tun soll, rückt die soziale Arbeit der Kirche, die Zuwendung zu den Menschen und vor allem zu solchen, denen es schlecht geht, in den Mittelpunkt des Interesses und erhält noch eine 400 Daten der vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Hier sowie in der folgenden Abbildung sind nur einige Items wiedergegeben, eine Übersicht über alle Items in dieser Fragebatterie und einzelne Ergebnisse der Auswertung findet sich im ersten Band: Huber/ Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, 449. 401 Zum Verständnis der unterschiedlichen Perspektiven auf Kirche vgl. Schulz/Hauschildt/ Kohler, Milieus, z. B. 205 ff.
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etwas deutlichere Zustimmung als das gottesdienstliche und rituell-lebensbegleitende Element kirchlichen Handelns, wie die folgende Abbildung zeigt: Die Kirche soll… Alte, Kranke, Behinderte betreuen sich um Probleme v. Menschen in Notlagen kümmern Menschen an Wendepunkten d. Lebens begleiten Go^esdienste feiern sich gegen Fremdenfeindlichkeit wenden Entwicklungshilfe leisten die christlich-abendländischen Werte verteidigen kulturelle Angebote machen sich um Arbeitsalltag und Berufsleben kümmern sich zu policschen Grundsatzfragen äußern 0%
20%
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60%
80%
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Abbildung 18: Erwartungen an die Kirche: »Die Kirche soll …«402
Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen ergänzen seit 1992 die Daten aus der Repräsentativbefragung zusätzlich um qualitative Daten und befragen Menschen innerhalb und außerhalb von Kirche in offener Form. In der vierten Untersuchung wurden dafür unterschiedliche Gruppen von Menschen besucht und nach ihrer Weltsicht, ihren Werten und ihren Gedanken zur Kirche befragt.403 Aus diesen Gruppendiskussionen lassen sich Meinungen und Sichtweisen erheben, aber darüber hinaus vor allem beobachten, wie Menschen über Themen sprechen und in welchen Deutungskontexten sie Fragen diskutieren. Hier ergibt sich jetzt eine überraschende Perspektive auf die Kirche: Nur in wenigen Fällen in diesen offen geführten Diskussionen wurden Gottesdienste und Kasualien überhaupt erwähnt, nur in Ausnahmefällen und nur von Befragten im Alter von über 60 Jahren war der Gottesdienst als relevanter Arbeitsbereich von Kirche behandelt. Dagegen stand das soziale Handeln von Kirche fast überall im Mittelpunkt. Selbst bei den so genannten Distanzierten oder bei Ausgetretenen war Kirche als diakonische Kirche allgemein akzeptiert. 402 Daten der vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Eine Übersicht über alle Items in dieser Fragebatterie und die einzelnen Auswertungsergebnisse findet sich im ersten Band: Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, 457. 403 Davon war in anderen Texten in diesem Band bereits die Rede; vgl. die Texte 1.1 »Kirche in Veränderung«, 1.2 »Junge Erwachsene in Kirche und Gemeinde« und 2.4 »Bunt wie das Leben«. Dort finden sich auch Hinweise zur Methodologie der Gruppendiskussionen.
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Manche Befragten konnten sich über weite Strecken der Diskussion überhaupt nur an diesen einen Bereich kirchlicher Arbeit erinnern. Besonders plastisch wurde das am Beispiel einer Gruppe von Trainees in einem Konzern:404 junge Menschen zwischen 25 und 30 Jahren mit akademischer Ausbildung, die in einem internen Qualifikationsprogramm des Konzerns auf interne Führungsaufgaben vorbereitet werden, fast alle religiös sozialisiert mit entsprechenden Erfahrungen aus Religions- und Konfirmandenunterricht oder sogar aus der kirchlichen Jugendarbeit. Die meisten in dieser Gruppe von Trainees sind heute aus der Kirche ausgetreten, waren aber früher Mitglied der katholischen oder evangelischen Kirche. Während des Diskussionsverlaufs fragen sie mich als Interviewerin, was eigentlich der Zweck von Kirche sei. Zur Zurückhaltung verpflichtet, warte ich ab, was die Gruppe selbst auf diese Frage antwortet. Die Gruppe beginnt daraufhin, assoziativ Informationen zu sammeln, es werden »Projekte in Afrika« erwähnt und ausgelotet, ob dies vielleicht nur für die katholische Kirche zutreffe. Allmählich arbeitet sich die Gruppe dann zu ihren Kenntnissen kirchlicher Arbeit im eigenen Land vor, weiß von Schwangerschaftskonfliktberatung und Werkstätten für Menschen mit Behinderung und kommt zu dem Schluss, Kirche sei doch eigentlich schon »eine gute Sache«. In zahlreichen dieser Gruppendiskussionen erweist sich das soziale Handeln, die diakonische Arbeit der Kirche, als einzig plausible Aktivität der Kirche, während alle anderen Aspekte umstritten bleiben, als Ansichts- oder Glaubenssache. Daraus lässt sich lernen: Kirche hat nicht nur ein Mitgliederproblem, ein Zielgruppen- und Beteiligungsproblem, sondern sie hat das Problem, dass für die meisten Menschen, für Mitglieder wie Nichtmitglieder, die diakonische Seite ihres Handelns als Kern ihrer Arbeit erscheint, quasi als ihre zentrale Mission. Dies wird dann noch einmal mehr zum Problem, wo momentan an vielen Orten in der Kirche das Diakonische eher verkürzt als verstärkt wird: Erhebliche Kürzungen betreffen den sozialen Bereich in Gemeinden und Kirchenkreisen, Diakonenstellen in Gemeinden werden nicht wiederbesetzt, Sozialstationen werden aufgelöst, diakonische Arbeit verlagert sich auf die professionalisierte Diakonie und ihre »Anstalten«, während die Ortsgemeinde als Ort für die Verkündigung, das Ritual, die Seelsorge und die vereinsähnliche Gemeinschaft »zurückbleibt«. Darin spiegelt sich das, was Jürgen Moltmann in den 1980ern mit dem Ausdruck der »Entdiakonisierung der Gemeinde« erfasst hat.405
404 Eine Übersicht über die Gruppendiskussionen und die Leitfragen in der EKD-Studie findet sich bei Huber/Friedrich/Steinacker, EKD-Erhebung, 33 – 38. 405 Moltmann, Diakonie.
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3.2.3 Kirche verstanden als Organisation Um meine These weiter zuzuspitzen, nutze ich eine soziologische Sicht auf die Kirche, nämlich das Verständnis von Kirche (und ebenso Diakonie) als Organisation. Organisation ist, so zunächst eine Definition, ein soziales Gebilde, das zwischen Individuum und Gesellschaft angesiedelt ist. In der Moderne ist die Organisation das Wichtigste unter derartigen Gebilden.406 Zentrale Merkmale des sozialen Gebildes Organisation sind die folgenden: Eine Organisation besteht zur Verwirklichung bestimmter Zwecke, sie ist geprägt durch eine hierarchische Struktur und formalisierte Abläufe (neben informellen Elementen) und sie hat Mitglieder, deren Mitgliedschaft auf die Ziele der Organisation hin ausgerichtet ist. Organisationssoziologisch gesehen wandelt sich die Kirche (in den Augen ihrer Mitglieder, und ebenso in ihren tatsächlichen Strukturelementen) hin zu einer Organisation. Sie ist dies noch nicht vollständig, sie ist in vieler Hinsicht (noch) eher Volkskirche oder auch Institution. Sie wird jedoch immer organisationsförmiger, die Merkmale der Organisation werden immer bestimmender für ihre Gestalt und ihre Arbeit.407 Was das bedeutet, lässt sich anhand der genannten drei Merkmale nachvollziehen: Das erste Merkmal der Organisation Kirche, ihr »Zweck«, ist im weitesten Sinn an das Evangelium und seine Verkündigung gekoppelt. Eine (helfende) Zuwendung zum Menschen steht dagegen an zweiter Stelle, sie ist aus dem Primärzweck abgeleitet. Für ein Diakonisches Werk gestaltet sich dies etwas anders. Hier ist das Evangelium, das Menschen bewegt, zwar Voraussetzung, aber nicht (mehr) unmittelbar Zweck der Organisation. Das Diakonische Werk der EKD hat sich den Slogan »Stark für andere« gewählt. In der Rangordnung von Zwecken und Zielen der Arbeit bewegt man sich im Nachdenken über Kirche und Diakonie darum notwendigerweise in der Nachbarschaft der Debatte um das Verhältnis von Glauben und Werken. Auf der Suche nach dem rechten Bild für ein Zusammenspiel von Kirche und Diakonie prägte Wolfgang Huber das Bild vom Tandem, um auszudrücken, dass die Arbeit beider untrennbar miteinander verbunden ist. In der Diskussion, die sich daraufhin entwickelte, erhoben sich aufs Neue eben jene Fragen nach Prioritäten und Kräfteverhältnissen.408 406 Definition der Organisation z. B. bei Allmendinger/Hinz, Organisationssoziologie, v. a. 10 f. 407 Eberhard Hauschildt verwendet hier die »Hybridstruktur« als Bild für die Situation der Kirche: Ders., Evangelische Großkirche. Vgl. auch jüngere Untersuchung zur systemtheoretischen Sicht auf die Kirche: Hermelink/Wegner, Paradoxien. 408 Klaus-Dieter Kottnik greift das Bild vom Tandem und das in seinen Augen angemessenere Bild vom »Miteinandem« auf, um das Verhältnis von Diakonie und Kirche zu bestimmen: Ders., Versöhnt.
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Das zweite Merkmal der Organisation Kirche, die hierarchischen Strukturen und formalisierten Abläufe, lässt sich etwa im standardisierten Angebot von allsonntäglichen Gottesdiensten und wiedererkennbaren, in der Regel von Pfarrerinnen und Pfarrern durchgeführten Kasualien finden. Dass Mitglieder diese als wichtig benennen, ist in diesem Sinn kein Zeichen von akutem Interesse, sondern Ausdruck einer Übereinstimmung von Erwartungshaltung und (beobachtetem) Angebot. Ein Gottesdienst, an dem kaum jemand Teil nimmt, ist aus dieser Sicht durchaus eine sinnvolle Angelegenheit: Kirche wird hörbar und in einer immer wiederkehrenden Handlung für eine breite Masse wiedererkennbar. Das dritte Merkmal, eine auf die Zwecke der Organisation Kirche ausgerichtete Mitgliedschaft, erscheint zugleich als große Herausforderung für Kirche: Anders etwa als in einer volkskirchlichen Logik, wo die Zugehörigkeit zur Kirche in der Regel selbstverständlich zum Leben gehört, braucht ein Mitglied in der Organisation Kirche plausible Gründe für die Mitgliedschaft, und zwar Gründe, die in Zusammenhang mit den Zwecken der Organisation stehen. Eine solche Mitgliedschaft wirkt nun trennend zwischen den Menschen innerhalb und außerhalb der Organisation, was sich in der Tat bereits deutlich beobachten lässt: War früher der Austritt aus der Kirche begründungspflichtig, etwa im Familien- und Freundeskreis, trifft dies nun ebenso auf die Kirchenmitgliedschaft zu. Sie muss plausibel sein, man ist in einer organisationsförmigen Kirche »evangelisch aus gutem Grund«.409 Am bereits erwähnten Beispiel der Trainees lässt sich dies hervorragend beobachten. Die meisten der in dieser Gruppe befragten Menschen finden den christlichen Glauben insgesamt wenig plausibel, denn es geht hier darum, etwas zu glauben, das sich nicht rational nachvollziehen lässt. Das finden die Befragten in dieser Gruppe überwiegend wenig sinnvoll. Einer der Teilnehmer, wir haben ihn Jochen genannt, argumentiert in dieser Weise. Ein anderer Teilnehmer, er heißt hier Michael, versucht, das Gehörte zusammenzufassen, worauf das Gespräch eine interessante Wendung nimmt:410
409 Dieser Slogan wurde in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau entwickelt und ist inzwischen von anderen Landeskirchen übernommen worden. 410 Zitat aus einer der Gruppendiskussionen der vierten EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung, geführt im Jahr 2003. Der Text ist als CD-ROM zugänglich über das Kirchenamt der EKD, Hannover.
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Michael: Deshalb bischt aus der Kirche ausg’trete, weil du nicht glaubscht. Jochen: Das hat auch noch andere Gründe, weil ich gemerkt hab, dass ich mit dem Geld, was ich monatlich in die Kirche einbezahle, kann man andere gute Sachen machen, also natürlich brauchen auch andere karitative Einrichtungen äh haben ’nen gewissen Verwaltungsaufwand, aber bei der katholischen Kirche war mir einfach der Anteil, den sie für ihre Kirchen und weiß der Teufel was brauchen, viel zu hoch. Das hat weniger damit zu tun, dass ich sag: Boh, ich glaub nicht mehr, da muss ich raus, sondern ich versuch schon, relativ praktisch zu überlegen, was mit meinem Geld passiert, was ich so verteile.
Hier wird deutlich: Nicht alternative Ritualanbieter oder andere Sinnangebote sind die eigentliche Konkurrenz für die Kirche, sondern andere »karitative Einrichtungen«, etwa das Deutsche Rote Kreuz oder die Kindernothilfe. Sie können, in den Augen Jochens, besser, was Kirche auch bietet: Soziale Arbeit. Kirchen, Gebäude – und wie an anderer Stelle in dieser Diskussion deutlich wird, auch Pfarrerinnen und Pfarrer – gehören zum »Verwaltungsaufwand«, der nach Möglichkeit minimiert werden muss, damit Gelder direkt der Sozialen Arbeit zugeführt werden können. Mitglieder dieser Kirche sieht Jochen als Akteure, auch wenn sie »nur« Kirchensteuer bezahlen: Sie »investieren« Geld in kirchliche Aktivitäten wie in Immobilien und sind damit Gestalterinnen und Gestalter der Arbeit – vergleichbar den Ehrenamtlichen. Auf jeden Fall geht die so verstandene Aktivität durch Spenden oder Kirchensteuer über eine bloße Teilnahme an Veranstaltungen hinaus. Wo diese Befragten vermutlich gar nicht an Veranstaltungen teilnehmen möchten, müsste man genauer sagen: Ihre Aktivität ist eine ganz andere als die, die sich eine Ortsgemeinde in der Regel von ihren Mitgliedern wünscht. Und sie ist in erster Linie eine diakonische.
3.2.4 Die Ortsgemeinde als beispielhafter Ort diakonischer Arbeit In einer Ortsgemeinde findet in der Regel sowohl verkündigende als auch diakonische Arbeit statt. Sie ist immer noch ein zentraler Ort der Mitgliederbindung und ebenso der Ort für Diskussionen darum, was nun im Kern der Arbeit stehen soll und was eher den »Rand« des Geschehens abbildet. Betrachtet man die Mitglieder und ihre Bindung oder auch ihre Beteiligung, kann man sich die Nähen und Distanzen der Menschen gegenüber den Ortsgemeinden wie auf einer Skala der Beteiligung vorstellen: Auf der einen Seite sind die Menschen angesiedelt, die am Leben der Ortsgemeinde teilnehmen, vielleicht sogar daran mitarbeiten und selbst Verantwortung tragen. Dieser Bereich wird meist als
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»grüner Bereich« angesehen: So soll es sein, so sollten sich Kirchenmitglieder in den Augen der meisten Aktiven idealerweise verhalten.411 Am anderen Ende der Skala finden sich Menschen, deren Mitgliedschaft als instabil bezeichnet werden muss: Sie nehmen nicht am Gemeindeleben teil, oft wissen sie darüber auch nichts und finden das wiederum gar nicht bemerkenswert. Sie haben aber, und das macht diesen Abschnitt der Skala problematisch, gar keine Vorstellung mehr davon, »wofür Kirche gut ist«. Für sie ist die Mitgliedschaft kaum mehr plausibel. Dieser Bereich kann als der »rote Bereich« gesehen werden: Hier ist die Mitgliedschaft stark bedroht, vor allem gibt es für diese Menschen kaum noch inhaltliche Anknüpfungspunkte an die Kirche, sie sind mit der Verkündigungsarbeit kaum zu erreichen. Wir wissen von ihnen aber, dass sie eine diakonische Kirche durchaus plausibel finden: Kirche kümmert sich dort, wo Menschen durch das soziale Netz fallen, und dagegen ist nichts einzuwenden. Solche Mitglieder kommen unter Umständen durch eine Kenntnis diakonischer Arbeit der Kirche aus dem »roten Bereich« wieder heraus, schauen noch einmal genau hin, bevor sie sich noch weiter von der Kirche entfernen. In der Mitte befindet sich das breite Feld derer, für die Mitgliedschaft plausibel ist, die jedoch am Gemeindeleben nicht oder nur sporadisch teilnehmen. Die Gründe für die Kirchenmitgliedschaft in diesem Mittelfeld stammen entweder aus volkskirchlich-institutioneller Logik (nach der Kirche selbstverständlich zum Leben gehört) oder aus der Organisationslogik (etwa indem Kirche als »nützlich« oder »sinnvoll« angesehen wird), ohne dass dafür eine persönliche Bindung und Beteiligung oder ein Nutzen für die eigene Person notwendig ist. Für dieses Mittelfeld hat die diakonische Arbeit eine noch wichtigere Bedeutung: Dass hier eine gute Arbeit geleistet wird, die man doch unterstützen möchte, ist für viele Mitglieder der Kirche das zentrale Argument dafür, Mitglied zu bleiben – neben der Bindung an die Tradition und an die eigene Herkunft. Über das Ehrenamt im diakonischen Bereich einer Kirchengemeinde, über die Plausibilität diakonischer Arbeit, erschließt sich so manchem Mitglied dann auch das Deutungsangebot des christlichen Glaubens. Solche Mitglieder rücken dann vom Mittelfeld in den »grünen Bereich« der Beteiligung. Diese Verteilung von Kirchenmitgliedern auf der Skala der Beteiligung möchte ich nun einmal aus diakonischer Perspektive betrachten und fragen: Wo befinden sich denn hier solche Menschen, die in der Gesellschaft eher ausgegrenzt sind, die arm, hilfebedürftig, benachteiligt und wenig leistungsfähig sind? 411 Dieser »grüne Bereich« ist nicht identisch mit dem in Abschnitt 1 beschriebenen hochverbundenen Anteil von Kirchenmitgliedern. Solche sind zwar überproportional oft, aber durchaus nicht immer am Gemeindeleben auch aktiv beteiligt.
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Üblicherweise gehören diese Menschen nicht in den »grünen Bereich«. Meist sind sie nicht in der Lage, sich aktiv am Gemeindeleben zu beteiligen. Dies liegt häufig daran, dass ihre Lebenswelt so weit von der anderer Menschen entfernt ist, dass eine Kommunikation kaum stattfindet, schon gar nicht im Rahmen der oft vereinskirchlichen Strukturen der Ortsgemeinde, in Gruppen und Kreisen. In meinem Projekt der Armutsforschung in Hamburg-Wilhelmsburg412 habe ich diesen Effekt deutlich ausmachen können. Im Gespräch mit den Pastorinnen und Pastoren auf der Hamburger Elbinsel Wilhelmsburg war klar : Sie alle wissen, dass in der Gemeinde die Armen wenig präsent sind. Sie bringen ihre Kinder nicht zum Kindergottesdienst, sie melden sie selten zum Konfirmandenunterricht an, und sie selbst nutzen fast nie die Angebote der Gemeinde. Die Pastorinnen und Pastoren äußern viele Vermutungen, woran das liegen mag. Zum einen passen die Formen, in denen die Arbeit der Gemeinde stattfindet, nicht zur Lebenswirklichkeit aller Gemeindemitglieder : Nicht alle sind beispielsweise in der Lage, an einem bestimmten Wochentag und zu einer bestimmten Uhrzeit regelmäßig ihre Kinder irgendwo hin zu bringen. Nicht alle mögen es, fremde Leute kennen zu lernen, die ein ganz anderes Leben führen als man selbst. Diese Liste lässt sich beliebig verlängern. Der zentrale Punkt ist: Es gibt Menschen, die außerhalb des Blickfeldes der Gemeinden stehen, ob sie nun arm sind, eine Behinderung haben oder aus anderen Gründen Ausgrenzung erleben. Dass sie fehlen, merkt man nur indirekt, etwa indem man darüber nachdenkt, dass in einem Stadtteil mit überdurchschnittlich stark wirkenden sozialen Problemen doch eigentlich auch in der Gemeinde davon mehr zu spüren sein müsste. Es gibt in Europa eine immer größer werdende Zahl von Gemeinden, die einzelne diakonische Projekte beginnen oder die sich sogar in ihrem ganzen Erscheinungsbild zu einer »diakonischen Gemeinde« entwickeln. Dieser Weg ist mühsam und fällt nicht immer allen Beteiligten leicht. Eine größere Zahl solcher Projekte hat sich im Netzwerk Diakoniekirchen zusammengeschlossen. Sie wollen ihre vielschichtigen Erfahrungen anderen zugänglich machen und sich gegenseitig ermutigen, diesen Weg weiterzugehen.413 Ausgehend von solchen Beispielen, die ich hier nur am Rand erwähne, möchte ich zeigen, was diakonische Gemeinden für das Profil der Kirche austragen können. Entscheidet sich nun eine Gemeinde dafür, sich diakonisch zu engagieren, dann schafft sie es häufig, wenn auch nicht immer, die sozialen Herausforderungen erst einmal wahrzunehmen: Wie leben Familien, die keine regelmäßigen Termine einhalten können? Was fehlt ihnen – und wie gelingt es ihnen, das 412 Erfahrungsberichte aus dieser Forschungsarbeit und eine Diskussion der Ergebnisse für die Soziale Arbeit unter : Schulz, Ausgegrenzt. 413 Vgl. auch die ausführliche Zusammenstellung guter Vorbilder in: Grosse, Armut, u. a. 33 f.
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Leben zu bewältigen? Wo eine Gemeinde darüber nachdenkt, eine Tafel zu eröffnen, eine Hausaufgabenbetreuung anzubieten oder einen Mittagstisch für Schulkinder, fängt sie damit an, genau hinzusehen, was Menschen brauchen. In der Regel bedeutet das ja auch: verstehen, warum dieses oder jenes Hilfsangebot gar nicht so recht passt, warum es schwer ist zu helfen, ohne einen größeren Hilfekontext einzubeziehen wie etwa einen sozial intakten Stadtteil und öffentliche Räume für Begegnung und Kommunikation. Eine diakonische Ausrichtung der Ortsgemeinde schafft auf diese Weise, was die meisten Angebote in der Gemeinde nicht schaffen, und zwar in zwei Bereichen: Sie vergrößert erstens nachhaltig die Wahrnehmung der jeweils »anderen« Menschen und schafft Möglichkeiten für die »Schwachen«, in der Gemeinde sichtbar zu werden – ob es sich dabei um Kirchenmitglieder handelt oder nicht. Das heißt auch: Die Gemeinde erweitert das Verständnis zwischen den einen und den anderen, zwischen denen im grünen Bereich und denen im roten Bereich oder ganz am Rand. Sie schafft eine Wahrnehmung derer, die so oder so oder ganz anders leben und darum in ihrem Leben häufig oder auch gar nicht mit der Kirche in Berührung kommen. Die Milieuforschung beispielsweise hat sehr schön gezeigt, wie wichtig eben dieses Wahrnehmen ist: Menschen sind verschieden, das ist eine Tatsache, die soziologisch immer präziser ausgeleuchtet wird. Und eine Kirche, in der immer noch sehr viele ihrer Mitglieder im volkskirchlichen Sinn »einfach Mitglied sind«, vereint zwangsläufig sehr viel mehr Unterschiede in den eigenen Reihen als ein reiner Interessenverband, ein Tanzsportverein oder ein Golfclub. Menschen bleiben verschieden, das macht den meisten Gemeinden schwer zu schaffen, weil es nicht zu leisten ist, sich nach allen zu richten und für alle etwas zu bieten. Die Kunst besteht aber darin, diese Verschiedenheit zu sehen, zu achten und sie vielleicht sogar als Bereicherung zu deuten. Darin ist Kirche nämlich tatsächlich nahezu einzigartig: Hier kann man – oder : hier könnte man – den ganz anderen Menschen in einem geschützten Rahmen begegnen. Wo trifft die »Frau aus gutem Hause« schon mal Menschen, die ihre Kinder ohne Frühstück zur Schule schicken? Und ich behaupte: Eine solche Begegnung, das Entwickeln einer Vorstellung von der Lebenswelt anderer, ist der Kern einer effektiven Hilfeleistung. Dazu gehört noch eine stärker theologische Sicht auf eine »diakonische Gemeinde«: Sie entwickelt sich in der Regel nicht primär durch diakonische Aktivitäten »nach außen« hin, durch Hilfsprojekte und »gute Werke«. Dort wo Christinnen und Christen sich selbst als diejenigen betrachten, die von Gott angesehen sind, denen »geholfen wurde« und die einer gegenseitigen Unterstützung und eines Lebens in menschenfreundlichen Strukturen bedürftig sind, wird die Unterscheidung von »Starken« und »Schwachen« überwunden. Die
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Sicht verändert sich und die Aufmerksamkeit für Hilfebedürftigkeit wird geschult und damit gestärkt.414 Aber es gibt noch ein Zweites, was diakonische Gemeinden können, und dies ist ohne eine Beteiligung und direkte Begegnung möglich: Eine diakonische Ausrichtung der Ortsgemeinde macht Diakonie nach außen hin sichtbar und stärkt damit die Plausibilität der Mitgliedschaft, vor allem für Mitglieder im »roten Bereich« und im Mittelfeld. Für viele Mitglieder, die das diakonische Engagement der Kirche als deren zentrale Aufgabe ansehen, wird ein sichtbares diakonisches Engagement der Kirche zu etwas, das die Plausibilität der Mitgliedschaft stärkt oder zuerst schafft. Die meisten Gemeinden sind, oft in einer wenig konzeptualisierten Weise oder in Form des spontanen Helfens, bereits jetzt so diakonisch, wie die Mitglieder es sich wünschen: Es gibt eine »Diakoniekasse«, aus der Arme unterstützt werden, es gibt Beratungs- und Begleitungsangebote, Gruppen der Frauenhilfe, Besuchsdienste und Vieles mehr. Dass man »beim Pfarrer klingeln kann«, wenn man in Not ist, gehört schon nahezu zu den standardisierten Angeboten in der Kirchengemeinde. Dass all dies aber stattfindet, ist im konkreten Fall kaum bekannt. Wo Gemeinden eine solche Arbeit (schon vor einer umfassenden diakonischen Gemeindeentwicklung) zu ihren zentralen Tätigkeiten zählen, können sie dafür sorgen, dass dieser Teil auch hinreichend bekannt ist, etwa indem im Gemeindebrief eine regelmäßige Seite für diakonische Arbeit eingerichtet wird, in der diakonische Aktivitäten vorgestellt und Interessierte zur Beteiligung eingeladen werden. Konfirmandinnen und Konfirmanden können einen Teil ihres Unterrichts im »diakonischen Praktikum« in solchen Arbeitsbereichen verbringen. Dies finden sie nicht nur in der Regel höchst interessant, sie lernen dadurch das Helfen als Bestandteil kirchlicher Arbeit kennen, quasi als »Rückseite« der biblischen Botschaft, über die sie im Unterricht sprechen. Dies prägt sich ein, übrigens auch bei den Eltern, und ist in meinen Augen deutlich mehr als ein gutes Marketing für Kirche und ihre Botschaft. Bis hierhin hat mein Nachdenken über Mitgliedschaft, Plausibilität und Bindung bisher ein zentrales Problem von Kirche wenig beachtet: das Relevanzproblem, dem die Vermittlung des Evangeliums in vielen Fällen unterworfen ist. Wie die Trainees kaum eine Vorstellung davon haben, was der Glaube an etwas, das man nicht beweisen kann, im Leben »nützen« soll, finden selbst viele Kirchenmitglieder den Glauben »interessant« oder Glaubensaussagen anderer Menschen durchaus »authentisch«. Aber dieser Glaube hat kaum einen Bezug zu ihrem Leben, zu konkreten Fragen oder gar zum Alltagsleben. Wer die christliche Botschaft verkündigt, hat genau mit dieser Schwierigkeit zu kämpfen, dass die meisten Menschen eben nicht (oder nicht bewusst) auf der Suche sind 414 Vgl. Haas, Diakonie, 31 ff. Wertvolle Impulse auch bei: Götzelmann, Diakonische Kirche.
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nach einer religiösen Sicht der Dinge. Hier vermag diakonische Arbeit viel stärker als die meisten Tätigkeiten im Bereich der Gemeinden zu vermitteln, dass Glaube eine enorme Relevanz für das Leben besitzt, dass er sich unmittelbar auswirkt, zur Tat ruft oder zur persönlichen Haltung, und dass er schließlich die Menschen, die damit in Berührung kommen, unmittelbar angeht. Es wird deutlich: Eine diakonische Arbeit in Ortsgemeinden ist tatsächlich unglaublich effektiv für das Profil der Kirche – nach innen wie auch nach außen. Aber ich möchte zwei Einschränkungen nicht verschweigen, die tatsächlich sehr gravierend und in der Entwicklung der Gemeinden immer wieder hinderlich sind: Die eine bezieht sich auf die Haltung, die eine große Zahl der Kirchenmitglieder, wenn nicht die Mehrheit in Bezug auf die eigene Person im Kontext einer diakonischen Gemeinde hat. Menschen wollen, dass Kirche hilft, das steht außer Zweifel. Aber sehr viele wollen, dass diese Arbeit ohne ihr Zutun getan wird. Dies sind sie bereit, finanziell zu unterstützen, aber sie sehen sich nicht in der Rolle der unmittelbar Helfenden. Man könnte es so auf den Punkt bringen: Sie bezahlen dafür, dass sie nicht selbst aktiv werden müssen. »Ich könnte so eine Arbeit nicht tun!« Diesen Satz hören Diakoninnen und Sozialarbeiter immer wieder. »Gut, dass Sie es tun – und ich es nicht tun muss!« ist die implizite Bedeutung. Und eine Gemeinde, die erwartet, dass tatsächlich die Mehrzahl der Gemeindemitglieder diakonisch aktiv wird, wird enttäuscht werden. Es wird nicht gelingen, auf diakonischem Weg zur Beteiligungskirche zu werden, jedenfalls nicht in der Mehrzahl der Gemeinden. Kirchenmitgliedschaft ist immer noch für die Mehrheit keine Sache des Mitmachens – egal ob es um die gute Tat oder den Bibelgesprächskreis geht. In diesem Sinn verhält sich die Kirche als »gute Organisation«, wenn sie tatsächlich insgesamt den Zweck »diakonische Zuwendung« erfüllt und darin ihren Mitgliedern eine weitere Möglichkeit der Übereinstimmung mit »ihrer Kirche«. Und das Zweite: Armut und Elend stellen immer eine Belastung auch für solche Menschen dar, die nicht selbst betroffen sind. Nur wenige erfüllt es, sich damit im Detail zu befassen. Berührungspunkte sind selten wirklich erwünscht. Und so wird auch eine diakonische Gemeinde wie jede andere Gemeinde in der Kommunikation in der Ortsgemeinde zwangsläufig die einen Menschen anziehen und die anderen abstoßen. Wie klassische Musik den einen gefällt und den anderen zeigt, dass sie unter Umständen hier am falschen Ort sind, wird auch ein Gottesdienst mit einer Gruppe von Menschen ohne Wohnung auf etliche Menschen eher abschreckend wirken. Wo es der Diakonin einer Gemeinde endlich gelungen ist, auch eine Gruppe aus Kasachstan zugezogener Menschen zum Orgelkonzert einzuladen, stören sich andere Gemeindemitglieder daran, wenn die dann zwischendrin mit ihren Plastiktüten knistern. So etwas passiert jeder Gemeinde, mit oder ohne diakonische Prägung. Zu hoffen, dass Abstoßungs-
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effekte ausbleiben, wenn die Arbeit einen diakonischen Schwerpunkt hat, scheint mir naiv.
3.2.5 Rückblick und Konsequenzen Die Effekte einer diakonischen Arbeit insgesamt und hier speziell der diakonischen Arbeit in einer Gemeinde sind deutlich geworden: Sie stärken im Sinn einer Organisationslogik die Plausibilität der Kirchenmitgliedschaft. Dies begünstigt die Verkündigung, indem die Botschaft als relevant und praxisnah erscheint. Dies nutzt darüber hinaus im Rahmen konkreter Projekte das Beteiligungspotenzial von jüngeren, erwerbstätigen Menschen, die am Leben von Kirchengemeinden selten beteiligt sind. Und schließlich zeigt eine stärker auf die Gemeindeentwicklung fokussierte, diakonische Sicht die üblichen, positiven Effekte von Gemeindeentwicklung: Die Wahrnehmung des Stadtteils und seiner Menschen vertieft sich, die Verschiedenheit der Situationen und Mentalitäten kommt in den Blick und kann in der praktischen Arbeit leichter Berücksichtigung finden. Diakonie ist gewiss aus biblischer sowie aus kirchentheoretischer Sicht für eine Gemeinde unverzichtbarer Bestandteil. Sie ist Grundfunktion der Kirche und von der Verkündigung nicht zu trennen. Diese bekannten Wahrheiten sind hier andersherum gedacht: Diakonie nützt der Kirche – aus den genannten Gründen. Der Kirche und ihren Gemeinden wird darum daran gelegen sein, langfristig ihren diakonischen Aufgabenfeldern mehr Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu gönnen – und in der Folge notwendigerweise auch mehr finanzielle Mittel.
3.3
Vom Lebensgefühl der Armen und der Herausforderung, diakonische Kirche zu sein415
Während angesichts der Armuts- und Reichtumsberichte der Deutschen Bundesregierung416 in der Öffentlichkeit debattiert wird, wer denn jetzt vorrangig in der Pflicht sei, etwas gegen die Armut zu tun, scheint in der Kirche die Sache klar : Es gibt die »Option für die Armen« und den biblischen Auftrag zur Nächstenliebe und konkreten Hilfe. Dieser Auftrag richtet sich nicht nur an Organisationen und Instanzen, sondern er ergeht an alle Christen und damit auch an christliche Gemeinden. Doch diese Klarheit trügt – oder besser : Der 415 Ursprüngliche Publikation: Schulz, Lebensgefühl der Armen. 416 Zuletzt: Deutsche Bundesregierung, Lebenslagen.
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Weg von der Überzeugung zum tragfähigen Konzept ist weiter als gedacht. Was bedeutet denn Armut für die Kirche? Wo tritt Armut in ihrem Wirkungsbereich auf ? Was bedeutet sie für die Betroffenen – und was kann dementsprechend in welcher Hinsicht und für wen hilfreich sein? In einer empirischen Studie für das Sozialwissenschaftliche Institut (SI) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) habe ich am Beispiel eines Hamburger Stadtteils im Gespräch mit Betroffenen solche »Innenansichten der Armut« rekonstruiert. Die Ergebnisse sind zugleich ein Beitrag zur Debatte um geeignete Hilfekonzepte innerhalb der Kirche und ihren Gemeinden.417 Die Einschätzungen der Betroffenen stehen dabei in mancher Hinsicht im Kontrast zum guten Willen der kirchlich Engagierten und der Alltagswirklichkeit der Ortsgemeinden.
3.3.1 »Ihr könnt reden, was ihr wollt« – Der Blick auf die Lebenswelten Betroffener Die EKD hat sich im Herbst 2006 mit ihrer Denkschrift »Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität« klar positioniert: »Armut muss, wo möglich, vermieden und dort, wo es sie dennoch gibt, gelindert werden.«418 Mit dem Begriff der Teilhabe werden Ausgrenzungsprozesse als Grundübel der Armut markiert und über die rein materielle Unterversorgung hinaus problematisiert. Dem liegen Analysen zugrunde, wonach Menschen mit einem extrem niedrigen Einkommen in vieler Hinsicht unterversorgt sind419 : Man redet von Bildungsarmut, Netzwerkarmut oder kultureller Armut. Vor allem aber führt diese Unterversorgung dazu, dass die Betroffenen auf Dauer von gesellschaftlichen Prozessen abgekoppelt werden. Sie nehmen nicht mehr teil – und teilen mit der Zeit auch die Werte und Ziele anderer Menschen nicht mehr. Sie sind »abgehängt«, bilden manchmal eigene soziale Gruppen und verlieren nicht selten den Glauben an ein Leben ohne Not. Die Option der Kirche für die Armen, so auch die Position der EKD, müsste darum bedeuten, in erster Linie Teilhabe zu fördern, denn Teilhabe überwindet Ausgrenzung. In dieser Deutung liegt jedoch ein Problem, und zwar auf mehreren Ebenen: Erstens droht in der Debatte um Ausgrenzung und Teilhabe immer die ganz handfeste Seite der Armut, die materielle Unterversorgung der Betroffenen, aus dem Blick zu geraten. Plötzlich erscheint es dann als zentrales Problem, dass Kinder aus armen Familien nicht die Flötengruppe der Kir417 Umfangreiche Ergebnisse der Studie sind publiziert unter : Schulz, Ausgegrenzt. In der hier vorgestellten Analyse steht eine im Rahmen der Studie geführte Gruppendiskussion im Vordergrund. 418 Kirchenamt der EKD, Teilhabe, 7. 419 Böhnke, Am Rande.
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chengemeinde besuchen. Wenn nur alle gemeinsam dazugehören, so die implizite These, dann ist Armut im Wesentlichen überwunden. Die fast immer auch materielle Not, die den Betroffenen oft schwer zu schaffen macht, bleibt ausgeblendet. Das Gegenstück zu dieser Teilhabe-Perspektive bilden Denkmodelle, die materielle Aspekte der Armut fokussieren, sichtbar in zahllosen Zeitungsartikeln über Kinder, die morgens vor der Schule nicht einmal ein Frühstück bekommen haben. Und auch hier bleibt ein Teil des Problems ausgeblendet, denn jeder weiß, dass das mangelnde Geld nicht allein eine solche Situation herbeiführt. Zweitens bleibt in der Regel in der Teilhabedebatte unklar, worin die Ausgrenzung eigentlich besteht. Wo genau sind Menschen »abgehängt«? Wo und wie fühlen sich (oder sind) Arme ausgegrenzt? Was hindert sie immer wieder daran, sich an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen? Und was sind umgekehrt die Teilhabewünsche der Betroffenen? Manche bereits bekannten Teilhabewünsche – etwa Konsumwünsche – sind ja längst bekannt, werden als verständlich, aber insgesamt für die Bewältigung der Armut als wenig hilfreich angesehen. Was sind also angemessene Hilfestellungen? Wann kann man Projekte der Armutsbekämpfung als gelungen bezeichnen? Das Forschungsprojekt des Sozialwissenschaftlichen Instituts nahm explizit einen Perspektivwechsel vor und fragte nach den Hintergründen: Wie geht es Menschen, die man gemeinhin als arm oder ausgegrenzt beschreiben würde? Wie werden sie mit ihrer schwierigen Situation fertig? Wie bewältigen sie Belastungen? Welche Strategien kennen und nutzen sie schon? An welche Kompetenzen und Ressourcen könnte eine Teilhabeförderung also sinnvoll anknüpfen? In diesem Sinn sollte der Respekt vor der Lebenswelt der Befragten und ihrer spezifischen Sicht der Dinge die Untersuchung wesentlich prägen. Das qualitativ-empirische Projekt beschränkte sich auf den Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg als »sozialer Brennpunkt«, der zugleich stark durch die Vorbereitung auf die Internationale Bauausstellung im Jahr 2013 geprägt ist. Das hat vor allem für die Wahrnehmung des Stadtteils in der Öffentlichkeit enorme Folgen. Aus Sicht der zahlreichen Stadtteilinitiativen gibt es eine Art Aufbruchsstimmung, in der sich viele Verantwortliche die Überwindung von Ausgrenzung auf die Fahnen geschrieben haben und in dem es, jedenfalls in der Theorie, tatsächlich zahlreiche Möglichkeiten der Teilhabe gibt: Sprachkurse, interkulturelle Arbeit, erfolgreiche Kooperationen von Initiativen, Schulen und Kindertagesstätten etc. Die Untersuchung fand darum in Kooperation mit lokalen Akteuren statt: dem Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt, den Diakonischen Werken im Kirchenkreis Harburg und in Hamburg sowie der Koordinierungsstelle Bildungsoffensive Elbinseln der IBA Hamburg GmbH. Kern der Untersuchung waren neun Gruppendiskussionen, die Ende 2006 bis Sommer 2007 mit Menschen geführt wurden, die in Hamburg-Wilhelmsburg
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leben und ganz unterschiedliche Perspektiven auf die Problematik von Armut und Ausgrenzung haben: ältere und jüngere Menschen mit geringem Einkommen, Jugendliche, Langzeitarbeitslose mit einem »Ein-Euro-Job« oder Menschen mit einer Arbeit, die ihre Existenz nicht sichert (Working Poor). Diese unterschiedlichen Gruppen von vier bis sechs Teilnehmenden diskutierten nach einem Leitfaden über das, was sie bewegt: ihre Arbeits- und Lebensumstände, Ängste und Zukunftsperspektiven. Hier soll nun eine der Gruppendiskussionen im Mittelpunkt stehen: das Gespräch mit einer Gruppe älterer Frauen zwischen 60 und 70 Jahren. Sie sind mit einer der örtlichen evangelischen Kirchengemeinden im Stadtteil eng verbunden, unter anderem indem sie als Ehrenamtliche einmal wöchentlich ein kostenloses Frühstück im Gemeindehaus herrichten. Ihre Perspektive – als Betroffene und zugleich für andere Engagierte – liefert mit Blick auf das Handeln der kirchlichen Ortsgemeinden interessante Ergebnisse. Bei diesen Frauen findet sich eine Haltung, die bei vielen der Befragten auszumachen war : eine Kombination aus scharfer Kritik gegenüber dem Handeln von Kirche und anderen Trägerinnen sozialer Arbeit einerseits und andererseits einer tiefen Dankbarkeit gegenüber dem, was sie im Rahmen solcher Hilfestellungen bereits zur Bewältigung ihrer Situation erreicht und gewonnen haben. Ein Auszug aus einem Gesprächsgang soll dieses Spannungsverhältnis erläutern. Die Frauen diskutieren hier über den Sinn der Kleiderkammer :420 Ursula:
Wenn sie die Kleiderkammer haben, auch selbst hier, unten im Gemeindehaus, da brauchst du auch wieder Bargeld, wenn du dir ein Stück da rausziehst. Das ist doch keine Hilfe. Anna: Moralische Hilfe zum Beispiel Gertrud: Und es ist günstiger, aber es ist ja günstiger. Ursula: Ja günstiger, das sind auch Sachen von 1950. Gertrud: Das stimmt. Ursula: Aber du musst sie trotzdem bezahlen, und das tut dir auch schon weh, wenn du sie bezahlen musst. Was ist denn das für ne Hilfe? Früher, da kriegtest du das Zeug, was du brauchtest, das bekamst du. Heute wollen sie überall Geld haben. Selbst bei der Kirche, beim Roten Kreuz, überall. Anna: Moralisch zum Beispiel. Sie kommen, sie beruhigen bisschen. Das ist auch schon Hilfe. Ursula: Ja, moralisch. Man kriegt keine warmen Füße fürs Moralische. (…) Denn wenn ich n Paar Schuhe brauch, denn muss mein Sohn sehen, dass die Sohlen dünn sind, dass er Mitleid hat und kauft mir mal n Paar neue Schuhe. (…) Das ist Almosen, wenn du so willst. Das ist peinlich genug. Aber das kommt immer wieder auf dasselbe Thema. Ihr könnt reden, egal was ihr wollt. Wir kommen immer wieder bei der gleichen Schlange an.
420 Dieser Textausschnitt aus der erwähnten Studie (Schulz, Ausgegrenzt) ist bislang nicht veröffentlicht.
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Auch dieses Gespräch spiegelt das Spannungsverhältnis von Teilhabelogik und Reduktion der Problematik auf die materielle Armut. Ob für Ursula die Veränderungen im Hilfesystem durch die Hartz-IV-Gesetzgebung im Zentrum der Kritik stehen oder eher grundsätzlich eine Haltung der Helfenden »heute«, nach der die Bedürftigen immer selbst etwas beitragen sollen, bleibt unklar. Deutlich ist aber : Wo auch immer die Frauen Möglichkeiten diskutieren, ihre Lage zu verbessern, kehren sie nach wenigen Minuten auf den Aspekt des Finanziellen zurück. Er bildet eine Art Überschrift für das Problem, auch wenn in der Analyse der Gruppendiskussion sichtbar wird, wie sich die Ambitionen der Frauen durchaus auf andere Aspekte beziehen. Dass die Kleiderkammer den Frauen etwas nützt, dass sie etwa vergünstigte Kleidung und Wertschätzung durch die Mitarbeiterinnen erhalten, steht außer Frage. Aber immer steht hinter einer neuen Teilhabe-Chance für mindestens eine der Frauen der finanzielle Aspekt als Hindernis.
3.3.2 »Mich beschäftigt, dass ich nirgends teilnehmen kann« – Warum die Armen in der Kirche kaum zu sehen sind Gespräche mit Pfarrerinnen und Pfarrern im Stadtteil gehörten zur ersten Phase der Untersuchung und verdeutlichten das Dilemma des kirchlichen Helfens: Sie alle kannten das Problem der Armut auch in ihren Gemeinden. Sie kannten es jedoch vor allem als ein Problem des nicht stattfindenden Kontakts, der ausbleibenden Begegnung: Die Armen tauchen nicht auf, so ihre Diagnose. Im Konfirmandenunterricht fehlen die Kinder aus bestimmten Straßenzügen. Sie folgen keiner Einladung und müssten einzeln besucht werden, sollten sie zur Teilnahme effektiv eingeladen werden. Natürlich verfügen die Gemeinden über die klassischen Hilfsangebote: Wo ein notleidender Mensch klingelt, erhält er meist unbürokratische Hilfe. Die Gemeinden haben Diakoniekassen und leisten finanzielle Unterstützung, wenn in einer betroffenen Familie die Eltern den Beitrag für die Konfirmandenfreizeit nicht bezahlen können. Aber Diakone und Pfarrerinnen kennen auch das Problem, dass Armut ihre eigene Logik hat: Nur selten bittet ein Gemeindemitglied um Hilfe. Höchst selten melden sich Konfirmandeneltern und bitten um eine Ermäßigung der Kosten für die Freizeit. Viel eher melden sie ihre Kinder gar nicht erst an, geben vor, andere Verpflichtungen zu haben. Oder sie sind gar nicht erst in der Lage, die Kinder beim Besuch einer so regelmäßigen Veranstaltung wie dem Konfirmandenunterricht zu unterstützen, und kümmern sich nicht um eine solche Teilhabe-Chance für ihre Kinder. Das Beispiel zeigt: Nicht immer kann von einer Ausgrenzung die Rede sein, deren Subjekt sich leicht ausmachen lässt. Die hier von Pfarrerinnen und
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Pfarrern beobachtete Ausgrenzung scheint durch niemanden betrieben worden zu sein. Auch Arme könnten teilnehmen – und haben doch zumeist keinen echten Anteil am gemeinsamen Leben in der Ortsgemeinde wie auch in den meisten Vereinen und Initiativen. Manchmal scheint es, als ob sich die von Armut Betroffenen eher selbst ausgrenzten: Sie halten sich raus und ziehen sich zurück. Was bedeutet es nun, wenn Innen- und Außenansichten der Armut nicht recht zusammen passen? Wie ist Verständigung möglich und eine echte Teilhabe, die mittelfristig auch materielle Armut überwinden hilft? Im Gegensatz zu der Vielzahl von Kirchengemeinden, die Diakoniekassen aufrechterhalten, ist die Zahl der Gemeinden eher klein, die mit einem speziellen diakonischen Profil versuchen, die Perspektiven der von Armut Betroffenen ins Gemeindeleben einzubinden und neue Formen und Wege der Teilhabe zu suchen. Ein Grund dafür ist mit Sicherheit das mangelnde Verständnis für die Lebensdeutungen der Betroffenen. Ein Beispiel: Die Frauen in der Gruppendiskussion der EKD-Studie formulieren als eins ihrer Kernprobleme die Ausgrenzung aus gesellschaftlichen Prozessen. Auf die erste Frage des Gesprächsleitfadens, was die Frauen im Moment am meisten beschäftigt, antwortet Ursula spontan und gibt damit bereits eine Art Zusammenfassung für das Lebensgefühl der befragten Frauen: Was mich beschäftigt, kann ich nur sagen, mich beschäftigt sehr, dass ich erst mal ganz ganz unten sitze, von Altenhilfe lebe. (…) Dass ich nirgends teilnehmen kann, egal was es auch ist. Es kostet Fahrgeld, es kostet Eintritt. Man hat keine Kultur mehr. Man ist überhaupt kein Mensch mehr. Man vegetiert in seinen vier Wänden. Und das beschäftigt mich sehr. Es ist nichts mehr für mich da.421
Eine interessante Wendung nimmt das Gespräch, als die Interviewerin die so genannte Wunderfrage stellt: »Stellen Sie sich vor, morgen früh wachen Sie auf und merken: Über Nacht ist ein Wunder geschehen. Alles ist genauso geworden, wie Sie es sich gewünscht haben. Wie sieht Ihr Leben jetzt aus?«422 Hier assoziieren die Frauen zuerst (wie erwartet) den finanziellen Aspekt und die Möglichkeit, dann stärker für andere engagiert sein zu können (siehe Abschnitt 3.). Große Einigkeit und ein besonders intensiver Austausch in der Gruppe entsteht aber, wo die Frauen sich dann über die Gestaltung ihres »neuen Lebens nach dem Wunder« austauschen: Sie alle wünschen sich sehnlichst Besuche im Theater, im Orgelkonzert oder Musical. Aus der Perspektive der an der Studie beteiligten Aktiven aus Ortsgemeinden war diese Einschätzung der Frauen auf ihre Möglichkeiten, kulturelle Angebote wahrzunehmen, erschreckend: Während der Musicalbesuch ja meist tatsächlich 421 Das Zitat ist als kompletter Auszug aus dem Gespräch nachzulesen bei Schulz, Ausgegrenzt, 63 f. 422 Diese Methode ist in ihrer Funktion für die Untersuchung beschrieben in: ebd., 13 f.
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durch hohe und sozial nicht variable Eintrittsgelder stark selektiv ist, sind etwa zahlreiche Orgelkonzerte und auch Theaterbesuche (etwa zu Generalproben) kostenlos. Prinzipiell bietet ja gerade die Großstadt eine derartige Vielfalt auch kostenloser oder ausgesprochen kostengünstiger Angebote, dass sich für Viele kaum nachvollziehen lässt, wie es zu einer solchen Sicht kommt. Wie kann es sein, dass eine Gruppe von durchaus aktiven und kommunikativen Frauen ein derart hohes Interesse an kulturellen Angeboten hat, sich innerhalb der Gruppe derart engagiert, aber über die eigenen Möglichkeiten so wenig Bescheid weiß? Wie kann es sein, dass derart aufmerksame Frauen nichts mitbekommen von den zahllosen Chancen, die ihnen speziell ihr eigener Stadtteil momentan bietet? Es fällt dabei auf: Den Besuch kultureller Veranstaltungen verorten die Frauen in der Kategorie des Luxus – nicht im Bereich der normalen Lebensgestaltung, auf die jeder Mensch das gleiche Recht hat. Dass die Eintrittskarte für das Musical für sie unbezahlbar ist, erfüllt die Frauen nicht mit Ärger. Vielmehr ist es für sie selbstverständlich, dass so etwas in ihrem bescheidenen Leben nicht vorkommt. Und dass sie den Besuch kultureller Veranstaltungen nicht für realistisch halten, spiegelt nicht nur die Armut der Frauen wieder, sondern vor allem ihre Sicht auf soziale Zugehörigkeit, auf eigene Ansprüche und Möglichkeiten. Die innere Zurückgezogenheit und die Anspruchslosigkeit der Frauen macht ratlos: Es reicht offenbar nicht, wenn eine Gemeinde für ihr Orgelkonzert keinen Eintritt verlangt. Es erfordert eine Art Öffentlichkeitsarbeit für mehr Teilhabe, damit eben auch Menschen, die sich so ein Konzert »auf dem freien Markt« nicht leisten könnten, so ein Angebot nutzen. Wie die sozial benachteiligten Eltern möglicher Konfirmanden gezielt besucht und eingeladen werden müssen, so müsste auch das Publikum für das Orgelkonzert gesondert eingeladen werden, möchte die Gemeinde es auch aus den Reihen der sozial Benachteiligten gewinnen. Möglicherweise, zu diesem Schluss kamen die an der Studie beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, besteht die eigentliche Kluft nicht zwischen denen, die sich einen Konzertbesuch üblicherweise leisten können, und denen, bei denen das nicht der Fall ist, sondern zwischen denen, zu deren Lebensgefühl und Selbstbild ein solcher Konzertbesuch gehört, und denen, bei denen eben das nicht (mehr) der Fall ist. So bleibt der Konzertbesuch für die befragten Frauen ein Traum – und der Traum dreht sich nicht vorrangig um das Konzert, sondern um das Gefühl, sich etwas leisten zu können oder sich etwas zu gönnen. Ziel ist nicht das Geschenkte oder Kostenlose, sondern das selbst gekaufte Luxusgut und das damit »erworbene« Lebensgefühl.
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3.3.3 »Nicht nur für sich selbst« – Das Problem mangelnder Orte und Funktionen Das Lebensgefühl ist so auch für die befragten Frauen das Wichtigste, was sich zu einer befriedigenden Bewältigung ihrer Situation ändern müsste. Die Frage nach dem »Traum« (»Alles ist genauso geworden, wie Sie es sich gewünscht haben«) fördert das eindrücklich zutage. Zuerst ist es der »Lottogewinn«, danach die klassische Musik und der kulturelle Genuss, über den die Frauen sprechen. Schließlich bewegt sich das Gespräch aber auf eine Meta-Ebene und zeigt eine weitere Perspektive ihrer Selbstwahrnehmung:423 Die Sicherheit ist doch schon ein anderes Lebensgefühl. Genau das ist es. Ja, Freiheit. Dann vielleicht auch mal großzügig sein. Ja sag ich doch. Dieses ganze Lebensgefühl Nicht nur für sich selbst, sondern auch so den Enkelkindern mal was kaufen, was nicht unbedingt jetzt zum Geburtstag ist, sondern so aus der Reihe. (…) Ursula: Man hat n ganz anderes Lebensgefühl. Man lebt auch ganz frei, man kann doch ganz anders auftreten, wenn die Sicherheit im Rücken ist. Gertrud: Ja, ja. Ein sicheres Auftreten hab ich immer, ich pack mir morgens immer den Bügel hier rein (deutet auf die Schulterblätter). Ursula: Ja, ist auch am besten. Du, ich bleib gleich in meinen vier Wänden, dann sieht das keiner. (lacht) Gertrud: Ja ja. Dann kannst mit hängenden Schultern sitzen. Ursula: Gertrud: Anna: Gertrud: Ursula: Gertrud:
Die gegenwärtige Bedrückung der Frauen bleibt unausgesprochen: die Notwendigkeit, auf sich selbst konzentriert »un-großzügig« zu leben, die durch den Mangel bedingte enorme Unfreiheit, die Unsicherheit der Frauen, die sich im Bedarf an Stabilität durch eine »gedachte« Rückenstärkung ausdrückt, und schließlich die implizite, geringe Mobilität durch die Beschränkung auf die eigenen »vier Wände«. Die eigene Wohnung ist schließlich für die Frauen zugleich Schutzraum und Gefängnis. Ausgrenzung bedeutet hier nicht nur, sich die Teilnahme an den meisten Aktivitäten nicht leisten zu können, sondern auch und vor allem, im eigenen Lebensgefühl von dieser Erfahrung wesentlich geprägt zu sein, wie Ursula es an anderer Stelle im Gespräch auf den Punkt bringt: Man sitzt den lieben langen Tag in seinen vier Wänden. Halb acht Becher Kaffee, Zigarette, Fernseher an. Und so sitz ich abends und warte, dass ich ins Bett kann. Dann kann ich zu Bett, dann kann ich aber nicht schlafen, weil ich keine Energie verbraucht hab. Dann denkst du, och gehst mal raus, du musst ja mal frische Luft haben. Mach ich
423 Ein Teil dieses Textausschnittes ist veröffentlicht: ebd., 75 f.
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ja auch. Dann geh ich einmal die Runde, ist aber keine Stunde, dann sitz ich wieder aufm Stuhl. Und so zieht sich das wie Kaugummi übern Tag.424
Im Gegensatz dazu kommt jetzt die Funktion der Kirchengemeinde, in der sich die befragten Frauen aufhalten, so deutlich und vielfältig wie sonst kaum zum Tragen: Hier haben die Frauen einen Ort, an dem sie sich aufhalten dürfen, ohne dafür Geld bezahlen zu müssen. Zwischen Gleichgesinnten – und gleichfalls von Armut Betroffenen – brauchen sie keine vom »Bügel im Kreuz« entliehene Stabilität, sondern sie können zeigen, wie es ihnen geht. Der Clou aber liegt offenbar in ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit. Hierin können sie, was sie sich ebenfalls anderswo nicht leisten können: von sich selbst absehen und sich anderen zuwenden.425 Ich mache noch den Gemeindefrühstück. Für die armen Leute. Und da merk ich schon, zu uns kommen auch solche zum Frühstück. Und die Leute freuen sich, na ja natürlich, wir bemühen uns immer, Eier kochen oder so was, weißt du. Da ist ganz viele Sachen und die essen, essen ohne Ende, weil sie wissen schon Bescheid, dass am Freitag gibt’s was. Als ich angefangen habe, da waren vielleicht fünf, sechs Leute nur hier. Jetzt kommen und kommen. Gertrud: Das liegt vielleicht auch ’n bisschen daran, manche sind zu Hause einsam. Ursula: Das geht mir auch so. Man ja ’n Ziel, man kommt hier freitags her, man kann seine Tasse Tee trinken, man kann bisschen schnattern. Anna: Ja, das ist es auch. Aber ich wollte sagen, dass kommen auch von die Arme, die haben zu Hause nicht so was Schönes, was stellen wir da hin. (…) Gertrud: Es ist irgendwie schon so ein Teil geworden. Weil man schon so lange kommt. (…) Und wenn ich krank gewesen bin, dann brauch ich das (leicht lachend) hinterher. Dieser Kontakt fehlt. Vor allen Dingen, es ist eine ungezwungene Runde, wir können lachen, wir bringen die Ironie rüber. Verarschen bisschen die Leute auch, und so. .. Das ist so mein Spezialgebiet, muss ich dazu sagen. Und da ergänzen wir uns aber auch. Keiner fühlt sich auf ’n Schlips getreten, sondern haut noch einen oben drauf, also das braucht man. Wo man so richtig Freude dran haben kann. Und das macht es aus (mehrere reden durcheinander, lachen) (…) Ja, das ist immer so. Ursula: Wir haben unser Lachen, ’n freien Schnack, wir sind alle in der gleichen Lage, da passiert nix. Anna:
In dieser Darstellung ihres Ehrenamts verwischt ganz deutlich die Grenze zwischen den Helferinnen und der Klientel ihrer Hilfe. Zum einen erleben die Frauen, finanziert von der Gemeinde, den Luxus, von sich selbst und der eigenen Bedürftigkeit absehen zu können. Sie bereiten anderen ein Frühstück von einer Güte, die die Eingeladenen – und ebenso sie selbst – sonst nicht erleben. Zum anderen ist der Eindruck der eigenen Bedürftigkeit für die Frauen keineswegs von der Helferinnen-Pose überlagert. Sie selbst spüren, was das Freitags-Frühstück ihnen bietet: Gemeinschaft, Spaß, Freiheit, Verlässlichkeit und die Si424 Der Textausschnitt ist veröffentlicht ebd., 71. 425 Ein Teil dieses Textausschnittes ist veröffentlicht ebd., 66 f.
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cherheit der Kommunikation im geschützten Raum. Man kann vermuten, dass dieses Frühstück unter anderem so erfolgreich ist, weil das Angebot von Menschen kommt, die sich selbst darüber freuen. Die Hilfeleistung für die befragten Frauen besteht von Seiten der Gemeinde in der Finanzierung der Lebensmittel für das Frühstück sowie in der Beauftragung der Frauen und einer Begleitung durch eine Sozialpädagogin. An der Bedeutung, die das Projekt für die Frauen hat, wird sichtbar, wie sehr sich dieses Modell der Hilfe von anderen, wie etwa dem der Kleiderkammer, unterscheidet. Vermutlich kann man sagen: Wo es Gemeinden gelingt, auf diese Weise die Betroffenen selbst in die Hilfeleistung zu integrieren, gelingt ihnen zugleich die Überwindung der Selbstausgrenzung, die ich in den oberen Abschnitten beschrieben habe. Denn das Selbstbewusstsein der Befragten in dieser Gruppendiskussion ist an keiner Stelle stärker wahrnehmbar als in dieser Passage, in der sich die Frauen als die Aktiven dieses Angebots präsentieren.
3.3.4 »Ein ganz andres Lebensgefühl« – Warum »Armutsmilieus« problematisch sind In den vergangenen Jahrzehnten haben verschiedene Konzepte von Lebensstil, Milieu, Weltsicht oder Habitus die Faktoren sozialer Ungleichheit benannt und die Unterschiede zwischen Menschen beschrieben.426 Was hingegen umgangssprachlich als »Armutsmilieus« bezeichnet wird, hat zu solchen soziologischen Konzepten nur einen indirekten Bezug.427 Trotzdem möchte ich diesen Begriff hier aufgreifen, denn er beschreibt etwas, das in der kleinräumigen Analyse des Armutsproblems als typisch erscheint: kleine, reale Gruppen mit einem relativ homogenen Lebensgefühl, das häufig in bestimmten, sozial besonders stark belasteten Wohnquartieren erfassbar ist. Zentral für dieses Lebensgefühl ist die ständige Begegnung mit vielen anderen sozial Benachteiligten in einem Stadtteil, dessen Häusern man den niedrigen sozialen Status seiner Bevölkerung schon ansieht, aus dem sich viele »Bessergestellte« verabschiedet haben und in dem die Chancen auf einen Schulabschluss, einen Arbeitsplatz, hochwertigen Wohnraum oder auch nur auf ein Leben ohne den Bezug von Transferleistungen statistisch stark unterdurchschnittlich sind.428 426 Hradil, Ungleichheit. 427 Milieuanalysen basieren ja nicht nur auf der Wahrnehmung des sozialen Status, sondern bilden ein komplexes Gefüge von Einstellungen und Merkmalen der Lebensführung ab. So gibt es entsprechend keine »armen Milieus«, sondern nur einen jeweils größeren oder kleineren Anteil von Menschen in jedem Milieutyp, die vom Problem der Armut betroffen sind. 428 Vgl. Häußermann/Kronauer/Siebel, Armut.
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Im Gespräch mit den Frauen erscheint das Lebensgefühl als etwas, mit dem sich dann auch das Problem der Armut dieser Befragten besonders gut beschreiben lässt: Die befragten Frauen sind sich wie viele andere der befragten Gruppen darin einig, dass sich an ihrer schwierigen Situation nichts Wesentliches ändern lässt. Hier lässt sich die Funktion des »Armutsmilieus« klar erspüren – und hier funktioniert tatsächlich die Gemeinschaft der Ausgegrenzten wie ein Milieu: die Stabilisierung des Lebens in der Gemeinschaft der Gleichgesinnten und Gleichgestellten, die in aller Regel einhergeht mit geringen Erwartungen, einem geringen Selbstbewusstsein und einer geringen Orientierung auf eigene Ansprüche, im Beispiel dieser Frauen etwa auf die Teilnahme am kulturellen Leben. Aber auch der umgekehrte Weg ist möglich: Wo das Gespräch eine hohe interaktive Dichte erreicht, wo sich mehrere Frauen mit engagierten Wortbeiträgen ergänzen und darin gegenseitig »hochschaukeln«, wo das Gelächter beginnt und Spott und Ironie sich in die reinen Beschreibungen der Situation mischt, wird schließlich greifbar, was den Frauen hilft, diese Situation zu bewältigen. Hier wiederum ist der »Boden des Materiellen« verlassen, hier wird nun tatsächlich die finanzielle Unterversorgung zum Nebenschauplatz. Das positive Lebensgefühl der Frauen ist geprägt durch die Körperhaltung – mit oder ohne »gedachten« Stützbügel im Kreuz, durch die Haltung zum Raum, das Bewusstsein einer Funktion als Ehrenamtliche und der gefühlten Sicherheit, in der eine Kommunikation miteinander stattfinden kann. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis diskutierten die an der Studie Beteiligten in Workshops mit anderen Aktiven sowie Betroffenen im Stadtteil Wilhelmsburg, wie denn eine geeignete Hilfeleistung beschaffen sein müsste.429 Einig waren sie sich darin: Es geht nicht in erster Linie darum, die Betroffenen einfach materiell zu unterstützen, auch wenn das für Viele eine große Hilfe bedeutet. Es geht auch nicht zuerst darum, Eintrittspreise zu verbilligen, »Sozialtickets« zu ermöglichen und emotionale, »moralische« Unterstützung zu bieten. Auch hierin muss die Auswirkung von »Armutsmilieus« berücksichtigt werden: Wo Familien durch ihr Lebensgefühl die Intention verloren haben, am Wochenende etwas miteinander zu unternehmen, wo durch Arbeitsplatzverlust und soziale Benachteiligung über Generationen hinweg der Takt des Alltäglichen und des Besonderen verloren gegangen ist, ist das Bedürfnis, das Kino, das Schwimmbad oder das Konzert zu besuchen, häufig verschüttet. Solche Familien gehen nicht mehr ins Kino und fahren selten in andere Stadtteile. Sie begnügen
429 Die Ergebnisse dieser Diskussion, in der am Beispiel eines Musicalbesuchs mögliche Spielräume und Handlungsoptionen reflektiert wurden, sind dokumentiert im Abschnitt »Der »König der Löwen« für alle?« bei Schulz, Ausgegrenzt, 120 – 123.
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sich mit »ihrer Welt« und unterscheiden davon die Traumwelt, zu der sie nur Zugang haben, »wenn ein Wunder geschieht«. Auf der gleichen Ebene sorgt sich die mediale Öffentlichkeit vor allem um Kinder, die hungrig in die Schule kommen, während man mit Blick auf »Armutsmilieus« darüber nachdenken müsste, dass hier Eltern in der zweiten Generation schon nicht mehr davon ausgehen, dass »man« morgens ein Frühstück zu sich nimmt, und was dies für die Gesellschaft bedeutet. Zielpunkt eines Engagements gegen die Ausgrenzung zahlreicher Menschen aus dem gesellschaftlichen Leben ist der Widerstand gegen die Spaltung der Gesellschaft. Hier geht es weniger um eine »Schere zwischen Arm und Reich«, sondern stärker um das Nebeneinander – die Unvereinbarkeit unterschiedlicher Sichten auf das Leben.
3.3.5 »Bei der Kirche – beim Roten Kreuz – überall« – Ein Resümee der Herausforderungen für die Kirche und ihre Ortsgemeinden Die Kirche hat – vor allem in ihrer Erscheinungsform als Ortsgemeinde – den Anspruch, alle Menschen zu »erreichen« und prinzipiell für andere da zu sein. Dass ihr dies nicht gelingt, dass sie, wie jeder Sportverein und sogar wie jede soziale Einrichtung, mit einem Zielgruppenproblem kämpft, einer »Milieuverengung«430, die manche auch als eine Orientierung auf die Mittelschicht wahrnehmen, ist seit Jahren bekannt. Stellt die Kirche sich jedoch dem Problem der Armut, verschärft sich dieses Zielgruppenproblem noch einmal.431 Denn angesichts der so genannten »Armutsmilieus« handelt es sich hier um ein Problem in doppelter Hinsicht: Zum einen geht es um ein – bereits bekanntes – Problem der nur selten gelingenden Ansprache solcher Gruppen im Hinblick auf die Verkündigung des Evangeliums. Zum anderen scheitert so manche Ortsgemeinde zudem in der Wahrnehmung von Menschen in prekären Lebenslagen, deren Lebensgefühl sich weitab von jenem Lebensgefühl befindet, das die meisten Menschen in einer Ortsgemeinde miteinander teilen. Aus praktisch-theologischer Sicht ist es dann wenig akzeptabel, wenn es »bei der Kirche« zugeht wie »beim Roten Kreuz, überall«432, wenn es die einen gibt, die Hilfe brauchen, und die anderen, die nach ihren jeweils aktuellen Konzepten Hilfe anbieten. Kirche hat eben nicht so gut wie möglich eine Zielgruppe zu »bedienen«, sondern sie verfügt über die besondere Möglichkeit, gerade auch die Zielgruppen ihrer Hilfeleistung potenziell als Mitglieder in ihren eigenen 430 Bismarck, Kirche und Gemeinde. 431 Vgl. Grosse, Armut. 432 Vgl. Zitat Abschnitt 1.
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Reihen zu haben. In der Kirche liegt die Wahrnehmung eines fremden Lebensgefühls, der Denkweise von Menschen eines anderen Milieus näher als anderswo. Man könnte auch sagen: Hier liegt – zumindest potenziell – der erste Schritt zur Hilfeleistung deutlich näher als anderswo. In der Perspektive der befragten Frauen wird sichtbar : Nicht nur das Gelingen einer Kommunikation des Evangeliums ist von einem miteinander geteilten Lebensgefühl abhängig, sondern auch das Gelingen diakonischer Arbeit. Wenn Menschen hier nicht »erreicht« werden, sind sie nicht nur ins gesellige Leben einer Ortsgemeinde nicht integrierbar, so dass ihre Kinder wenig Gelegenheit haben, an der Jugendfreizeit und der Flötengruppe Teil zu nehmen. Sie sind auch aus dem Gemeindeleben ausgeschlossen, das ja, zumindest theoretisch, gerade der Ort für eine Begegnung der Verschiedenen sein sollte. Plausibel wäre es darum, wenn sich jede Ortsgemeinde tatsächlich als diakonische Gemeinde entwickelte433 und das Lebensgefühl der unterschiedlichen Menschen in ihrer Umgebung aktiv wahrnehmen würde, und zwar nicht nur in Person der Hauptamtlichen, sondern durch zahlreiche Mitglieder innerhalb dieser Gemeinde? Modellhafte Projekte sehen beispielsweise vor, dass beispielsweise hundert Gemeindemitglieder einmal eine andere Person zu einer staatlichen Einrichtung begleiteten, um etwa einen Antrag auf Arbeitslosengeld II abzugeben oder um sich über Fördermöglichkeiten für Jugendliche ohne Schulabschluss zu informieren. Abgesehen davon, dass die Präsenz von Begleitpersonen üblicherweise die gegenseitige Wertschätzung bei solchen Begegnungen in Behörden erheblich erhöht, könnten bei dieser Gelegenheit etliche der Begleiteten davon erfahren, dass ihre Gemeinde u. a. regelmäßig kostenlose Orgelkonzerte anbietet. Sie hätten das Gefühl, dort unter den anderen Zuhörenden und Beteiligten schon jemanden zu kennen. Und die Gemeinde hätte ganz nebenbei verstanden, warum eine bestimmte Form des Konfirmandenunterrichts etliche Jugendliche ausschließt, noch bevor er begonnen hat. Auf diesem Weg sind dann tatsächlich Prozesse der Selbstausgrenzung von Betroffenen produktiv zu stören und erste Schritte für eine Teilhabe auch in der Mitverantwortung für die Gemeinde insgesamt und das gemeinsame Gestalten zu erreichen.
433 Haas, Diakonie; Götzelmann, Diakonische Kirche.
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