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German Pages XIII, 317 [322] Year 2020
Christof Kuhbandner Iris Schelhorn
Emotionale Kompetenz im Lehrberuf Grundwissen, Anleitungen und Übungsmaterialien – ein Lehrbuch für Studium und Unterrichtspraxis
Emotionale Kompetenz im Lehrberuf
Christof Kuhbandner • Iris Schelhorn
Emotionale Kompetenz im Lehrberuf Grundwissen, Anleitungen & Übungsmaterialien – ein Lehrbuch für Studium und Unterrichtspraxis
Christof Kuhbandner Institut für Psychologie Universität Regensburg Regensburg, Deutschland
Iris Schelhorn Institut für Psychologie Universität Regensburg Regensburg, Deutschland
ISBN 978-3-658-26983-8 ISBN 978-3-658-26984-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Lisa Bender Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
V
Vorwort Die Psychologie als Wissenschaft versucht zu verstehen, warum Menschen in bestimmten Situationen ein bestimmtes Erleben und Verhalten an den Tag legen. Im Laufe der Forschung wurde eine kaum zu überblickende Fülle an inneren Mechanismen entdeckt, welche Einfluss auf unser Erleben und Verhalten nehmen. Dieses umfangreiche Wissen möchten wir in diesem Buch mit dem Ziel aufbereiten, dass man es durchdringen und nutzen kann, um zu einer emotional kompetenten Persönlichkeit zu werden. Das Buch zeichnet sich dabei durch vier Besonderheiten aus. Die erste Besonderheit betrifft die Art der Wissensvermittlung. Es gibt inzwischen hunderte von Lehrbüchern, in denen auf tausenden von Seiten versucht wird, das im Laufe der psychologischen Forschung erzeugte „Wissen“ zu vermitteln. Allerdings sind viele dieser Bücher so geschrieben, als seien die dargestellten Theorien und die zugehörigen Autoren das Entscheidende, das es zu „wissen“ gilt – anstatt Theorien so zu vermitteln, dass man sie wirklich benutzen kann, um sich selbst und andere besser zu verstehen. Weiterhin werden oft nur zahlreiche Theorien aneinandergereiht, die jeweils nur einen kleinen Ausschnitt der psychologischen Wirklichkeit isoliert herausgreifen – ohne diese zu einem sinnvollen Netzwerk zu verweben, welches es erlaubt, den Menschen in seiner Komplexität wirklich zu verstehen. Schließlich werden die einzelnen Theorien oft in einer „Fachsprache“ vermittelt, die sich nicht sofort erschließt, obwohl die Kernaussagen fast aller psychologischen Theorien von jedem Laien auch ohne die Kenntnis spezieller Fachbegriffe nachvollziehbar wären. Daher wird in diesem Buch ein anderer Weg der Wissensvermittlung beschritten: Ausgehend von konkreten realen und alltäglichen Phänomenen werden wir weitgehend ohne Fachjargon in Alltagssprache das, was in unserer psychischen Innenwelt abläuft, erkunden und aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten, immer wieder gepaart mit der Einladung, sich selbst im Lichte des jeweils vermittelten Wissens zu betrachten. Die zweite Besonderheit des Buches ist das Verständnis von emotionaler Kompetenz. Es gibt zahlreiche Ansätze dazu, was einen kompetenten Umgang mit Emotionen ausmacht. Allerdings wird der Fokus oft ausschließlich auf den Bereich der Emotionen gelegt, ohne auf weitere psychische Mechanismen einzugehen, welche unseren Emotionen zugrunde liegen. Aber schon allein die Tatsache, dass unsere emotionalen Reaktionen in vielen Situationen unsere Bedürfnisse und Ziele widerspiegeln, macht klar, wie wichtig es ist, bei der Entwicklung einer wirklichen emotionalen Kompetenz einen erweiterten Blickwinkel auf verschiedenste psychische Prozesse zu haben. Eine hohe emotionale Kompetenz zeichnet sich demnach nicht nur durch Wissen über das emotionale Geschehen und die Fähigkeit zur Regulation von momentan erlebten Emotionen aus. Vielmehr gilt es, als gesamte Person auf allen Ebenen der Psyche Gewohnheiten und Muster zu entwickeln, welche für das emotionale Wohlbefinden förderlich sind. Dementsprechend wird in diesem Buch ein Abriss der kompletten menschlichen Psyche vermittelt – angefangen von der Wahrnehmung der Welt über die uns steuernden Bedürfnisse und Ziele bis hin zu unserem Selbst.
VI Vorwort
Als dritte Besonderheit werden im zweiten Teil des Buches zahlreiche Übungen und Materialien vorgestellt, mittels derer man das eigene emotionale Geschehen beobachten, darüber reflektieren und es regulieren kann. Im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekts der Universität Regensburg zur Qualitätsoffensive Lehrerbildung („KOLEG – Kooperative Lehrerbildung Gestalten“) wurde von uns von 2015 bis 2018 ein auf den Lehrberuf abgestimmtes Training emotionaler Kompetenzen entwickelt, in dem über emotionale Erfahrungen in erzieherischen Kontexten reflektiert und individuelle Entwicklungsziele herausgearbeitet werden. Für dieses Training wurden zahlreiche Übungen und Materialien konzipiert, die in diesem Buch in Form eines reichhaltigen Werkzeugkastens verfügbar gemacht werden. Wie im letzten Absatz angeklungen, ist die vierte Besonderheit des Buches die Einbettung in den Kontext des Lehrberufs. Hierzu ist uns insbesondere die Aussage einer Studentin in Erinnerung geblieben, die nach der Teilnahme an einem Training Emotionaler Kompetenzen meinte: „Das war mir gar nicht klar, dass man Schule und Lehren unter diesem doch sehr anderen Blickwinkel betrachten kann. “Sie hatte auf den Punkt gebracht, was wir gerne mit diesem Buch erreichen möchten: Wir würden gerne eine andere Perspektive schaffen, unter der Schule, Lehren und Lernen auch gesehen werden können. Nach unseren Erfahrungen stehen bei Lehrkräften in erster Linie Themen wie die Optimierung der Wissensvermittlung, die Aneignung von Fachwissen oder eine effektive Klassenführung im Vordergrund. Die Lehrkräfte selbst als Personen mit ihren eigenen Zielen, Werten und Emotionen sind dagegen sehr selten Thema. Das ist eigentlich erstaunlich, denn im Berufsalltag einer Lehrkraft spielt sicherlich die Wissensvermittlung eine wichtige Rolle, allerdings mindestens ebenso relevant ist die Ausgestaltung von Beziehungen zu Schülern, anderen Lehrkräften, Eltern und Schulleitung. Und gerade der Lehrberuf kann als emotional herausfordernder im Vergleich mit vielen anderen Berufen eingestuft werden. Wir hoffen dementsprechend, dass wir mit diesem Buch beginnen, diese Lücke zu schließen. Eine abschließende Bemerkung zur Terminologie: Es gibt verschiedene Wege, das Problem unangemessener geschlechtsspezifischer Begrifflichkeiten zu lösen. Wir haben uns in diesem Buch dafür entschieden, sofern die Geschlechtszugehörigkeit keine spezielle Rolle spielt, Begriffe wie „Schüler“ oder „Kollege“ grundsätzlich geschlechtsneutral zu verwenden. Es sind in solchen Fällen also immer beide Geschlechter – also beispielsweise Schüler und Schülerinnen oder Kolleginnen und Kollegen – gemeint.
VII
Danksagungen Unser Dank gilt an erster Stelle unserer Graphikzeichnerin Barbara Alsu (7 https:// www.deviantart.com/misssasori/about). Ohne ihren Einsatz, ihre Kreativität, ihre Eigenständigkeit und ihre künstlerische Geschicklichkeit beim Zeichnen wäre dieses Buch nicht zu dem geworden, was es jetzt ist. Wir sind überzeugt davon, dass wir uns sehr glücklich schätzen können, dass sie uns dabei unterstützt hat, Komplexes zu veranschaulichen, Inhalte kreativ und mutig auszugestalten und Figuren zum Leben erweckt hat.
Wir möchten an dieser Stelle auch unseren Dank aussprechen gegenüber Roland Mayrhofer und Nina Wildfeuer, die beide durch ihre Klugheit, Initiative, Genauigkeit und Schnelligkeit beim Korrekturlesen die Zahl unserer Schreib-, Logik- und Denkfehler deutlich verringert haben. Wir danken ihnen insbesondere für Zuverlässigkeit, für vereinfachende, strukturierende und inhaltliche Hinweise, für elegante Formulierungen und jede Menge Anregungen. Danken möchten wir weiterhin Markus Forster für stetige kollegiale Unterstützung bei der Durchführung der Trainings und für diverse Anregungen in Bezug auf die Übungen. Ein großer Dank geht auch an die (ehemaligen) Leiterinnen des Seminars „Deeskalationsstrategien“, Monika Schanderl und Nicola Stahl, die Ideengeber für einige Inhalte der Rollenspiele waren. Selbstverständlich auch bedanken möchten wir uns bei allen Mitgliedern unseres Lehrstuhls, Kolleg∗Innen, die man sich hilfsbereiter, ausgleichender und unterhaltsamer kaum wünschen kann. Ein großer Dank deshalb an Markus Forster, Julia Haager, Fabian Hutmacher, Ferdinand Kosak, Lisa Kugler, Roland Mayrhofer, Regina Reichardt, Marlis Reindl, Elizabeth Rosas-Corona und Monika Schanderl, sowohl für inhaltliche als auch für emotionale Unterstützung. Hervorheben möchten wir außerdem noch die stetig währende Unterstützung, Unermüdlichkeit, Cleverness und das Durchhaltevermögen von Angelika Ecker, die sowohl an der Konzeption und Durchführung der Rollenspiele maßgeblich beteiligt war, als auch durch Literaturrecherchen und durch das wiederholte Bereitstellen von Lösungen für Probleme statistischer, programmatorischer und mathematischer Art entscheidend in der Anfangsphase der Bucherstellung und der Auswertungsphase der Trainingsdaten zum Fortkommen beigetragen hat. Für die Unterstützung unserer Forschung zur Entwicklung eines Trainings Emotionaler Kompetenzen für angehende Lehrkräfte durch Sachbeihilfen und Personalmittel danken wir dem deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF). Zu guter Letzt bedanken möchten wir uns bei den Kolleginnen Lisa Bender, Joachim Coch und Sonja Trautwein vom Springer-Verlag, die uns immer hilfsbereit und motivierend zur Seite standen, auch bei wiederholtem Nachfragen. Besten Dank für die tatkräftige Unterstützung!
IX
Inhaltsverzeichnis 1
Einführung��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 1
1.1 Emotionale Kompetenz: Was ist das eigentlich?������������������������������������������������������������������� 6 .2 1 Der Weg zur Kompetenz – eine Grundeinstellung����������������������������������������������������������������� 9 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 11
I Grundlagen W ie wir die Welt wahrnehmen��������������������������������������������������������������������������������������������� 15 2.1 Die drei Formen der innerlichen Repräsentation der Umwelt����������������������������������������� 16 2.2 Aufmerksamkeit: Die Filterung unserer Wahrnehmungen����������������������������������������������� 23 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 26
2
3 Die drei psychischen Kräfte in uns����������������������������������������������������������������������������������� 29
Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 32
Das Bedürfnissystem����������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 33 .1 Die bedürfnisbezogenen Soll-Werte����������������������������������������������������������������������������������������� 35 4 4.2 Die Bedürfnislandkarte������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 37 4.3 Das optimale Bedürfnissystem ��������������������������������������������������������������������������������������������������� 39 4.4 Bedürfnisbezogene Kompetenzen��������������������������������������������������������������������������������������������� 40 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 43 4
5 Das Emotionale System����������������������������������������������������������������������������������������������������������� 45
5.1 Was sind eigentlich Emotionen?������������������������������������������������������������������������������������������������� 48 .2 5 Die verschiedenen Arten von Emotionen ������������������������������������������������������������������������������� 55 5.2.1 Grundgefühl���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 56 5.2.2 Basisemotionen ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 59 5.2.3 Bewertungsemotionen��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 62 5.2.4 Selbstwert-Emotionen��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 68 5.2.5 Die Grundthemen unserer Emotionen – ein Überblick ��������������������������������������������������������� 69 5.2.6 Emotionen im Kontext Schule������������������������������������������������������������������������������������������������������� 69
5.3 Wie werden Emotionen ausgelöst? – Die emotionale Landkarte����������������������������������� 71 5.4 Wirkungen von Emotionen����������������������������������������������������������������������������������������������������������� 78 5.4.1 Gefühlsebene ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 78 5.4.2 Kognitive Ebene��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 80 5.4.3 Motivationale Ebene������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 94 5.4.4 Physiologische Ebene����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 98 5.4.5 Expressive Ebene������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 100 5.4.6 Wirkungen von Lehreremotionen���������������������������������������������������������������������������������������������������� 102 Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 103
Das Rationale System������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 109 6.1 Wissen über die Welt – die begriffliche Landkarte ������������������������������������������������������������������� 111 6.1.1 Die Unschärfe der begrifflichen Landkarte������������������������������������������������������������������������������������� 112 6
X Inhaltsverzeichnis
6.1.2 Die Zuverlässigkeit der begrifflichen Landkarte ������������������������������������������������������������������������������116 6.1.3 Die momentane Begrenztheit der begrifflichen Landkarte����������������������������������������������������������118 6.1.4 Die Bewertung der begrifflich abgebildeten Welt ��������������������������������������������������������������������������125 6.2 Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept����������������������������������������������������������������������������������128 6.2.1 Die Struktur des Selbstkonzepts������������������������������������������������������������������������������������������������������������129 6.2.2 Der Inhalt des Selbstkonzepts����������������������������������������������������������������������������������������������������������������133 6.2.3 Die Bewertung des Selbstkonzepts – Selbstwert����������������������������������������������������������������������������151 6.2.4 Selbstkonzept und Persönlichkeitswachstum����������������������������������������������������������������������������������163 Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 185 7 Emotionale Kompetenz: Was ist das eigentlich? – Revisited����������������������������� 191 8
Die Regulation von Emotionen��������������������������������������������������������������������������������������������� 195
8.1 Die Fähigkeit der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment������������������������������������196 8.1.1 Situationsselektion��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������200 8.1.2 Situationsveränderung������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������203 8.1.3 Aufmerksamkeitslenkung������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������204 8.1.4 Situationsumdeutung��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������207 8.1.5 Einflussnahme auf Emotionskomponenten ��������������������������������������������������������������������������������������229 8.1.6 Emotionen im gegenwärtigen Moment aushalten ������������������������������������������������������������������������235 8.2 Langfristige Emotionsregulation��������������������������������������������������������������������������������������������������������236 8.2.1 Die Veränderung emotionaler Reaktionsgewohnheiten ��������������������������������������������������������������237 8.2.2 Die Akzeptanz emotionaler Reaktionsgewohnheiten��������������������������������������������������������������������243 Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 246
II Methoden 9 Wahrnehmung – Werkzeuge��������������������������������������������������������������������������������������������������� 253 9.1 Wahrnehmungsgewohnheiten������������������������������������������������������������������������������������������������������������254 9.1.1 Im Alltag����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������254 9.1.2 Klassenbeobachtung����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������255 9.2 Wahrnehmung lenken������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������256 9.2.1 Achtsamkeitsklassiker��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������256 9.2.2 Die Beschreib-Übung ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������258 9.2.3 Metta-Meditation����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������259 9.3 Arbeitsblätter����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������261 Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 261 10
Bedürfnisse – Werkzeuge��������������������������������������������������������������������������������������������������������� 263
10.1 Bedürfnisse reflektieren��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������264 10.1.1 Grundbedürfnisse aller Art����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������264 10.1.2 Bedürfnisse im zwischenmenschlichen Kontext������������������������������������������������������������������������������266 10.2 Umgang mit Bedürfnissen����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������268 10.2.1 Bedürfniskuchen������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������268 10.2.2 Kleine Schule der Bedürfniskommunikation ������������������������������������������������������������������������������������269 10.3 Arbeitsblätter����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������270 Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 270
XI Inhaltsverzeichnis
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Emotionen – Werkzeuge����������������������������������������������������������������������������������������������������������� 271
11.1 Eigene Emotionen wahrnehmen ��������������������������������������������������������������������������������������������������������272 11.1.1 Emotionspantomime���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������272 11.1.2 Genau geschaut – Lehreremotionen����������������������������������������������������������������������������������������������������273 11.1.3 Emotionsrad��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������273 11.1.4 Komponentenübung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������274 11.1.5 Die Welt meiner Emotionen ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������275 11.1.6 Zu dritt������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������276 11.2 Wahrnehmung von Emotionen bei anderen����������������������������������������������������������������������������������277 11.2.1 Gedankenlesen��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������277 11.2.2 Der Werdegang eines Sehers������������������������������������������������������������������������������������������������������������������278 11.2.3 Seherische Fähigkeiten������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������278 11.2.4 Probier’s mal digital! – Cognitive Bias Modification������������������������������������������������������������������������279 11.2.5 Kleine Schule der Empathie ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������280 11.3 Emotionsauslöser ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������281 11.3.1 Emotionale Alarmdatenbank������������������������������������������������������������������������������������������������������������������281 11.3.2 Auslöser im Klassenzimmer����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������282 11.3.3 Mythenquiz����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������283 11.3.4 Quellen der Freude im Unterricht����������������������������������������������������������������������������������������������������������283 11.4 Arbeitsblätter����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������284 Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 284 12
Verstand – Werkzeuge ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 287
12.1 Wissen über die Welt��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������288 12.1.1 Denkgewohnheiten������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������288 12.1.2 Wissen über Emotionen����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������290 12.2 Wissen über uns selbst – Selbstkonzept ������������������������������������������������������������������������������������������291 12.2.1 Selbstkonzept ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������291 12.2.2 Selbstkonzept und Persönlichkeitswachstum����������������������������������������������������������������������������������295 12.3 Arbeitsblätter����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������297 Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 297 1 3
Emotionen regulieren - Werkzeuge����������������������������������������������������������������������������������� 299
13.1 Emotionsregulation����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������300 13.1.1 Eigene Regulationsstrategien beobachten����������������������������������������������������������������������������������������300 13.1.2 Situationsselektion und Situationsveränderung������������������������������������������������������������������������������302 13.1.3 Aufmerksamkeitslenkung������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������304 13.1.4 Situationsumdeutung��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������305 13.1.5 Einflussnahme auf Emotionskomponenten ��������������������������������������������������������������������������������������309 13.2 Emotionsakzeptanz����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������315 13.2.1 Wir brauchen Dich!��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������315 13.2.2 Der Geschafft-Koffer ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������315 13.2.3 Dennoch: Wer kann, der schafft auch das!������������������������������������������������������������������������������������������316 13.3 Arbeitsblätter������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������317 Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 317
XIII
Über die Autoren Prof. Dr. Christof Kuhbandner ist Leiter des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie an der Universität Regensburg. Er forschte und lehrte in den Bereichen der Allgemeinen Psychologie, der Entwicklungspsychologie, der Persönlichkeitspsychologie und der Pädagogischen Psychologie an der Ludwig- Maximilians-Universität München, der International University Bremen und der Universität Regensburg. Seine Forschungsgebiete sind die Themen Emotionen, Lernen und Wissenserwerb, Motivation, Kreativität sowie Humor. In der Lehre ist er sowohl für die Studienfächer Bachelor und Master Psychologie als auch für die erziehungswissenschaftliche Ausbildung im Lehramtsstudium und die Ausbildung von Beratungslehrkräften zuständig.
Iris Schelhorn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie an der Universität Regensburg und psychologische Psychotherapeutin (Kognitive Verhaltenstherapie). Ihr Forschungsgebiet ist emotionale Kompetenz im Lehrberuf. Sie forschte auch im Bereich Angststörungen in der klinischen Psychologie. Sie leitet Trainings emotionaler Kompetenzen für angehende Lehrkräfte und Seminare zum Thema Emotionale Kompetenz für den Bachelor Psychologie und lehrt im Bereich der klinischen Psychologie in Einführungsveranstaltungen und Seminaren zur Entstehung und Behandlung psychischer Auffälligkeiten.
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Einführung Inhaltsverzeichnis 1.1
Emotionale Kompetenz: Was ist das eigentlich? – 6
1.2
Der Weg zur Kompetenz – eine Grundeinstellung – 9 Literatur – 11
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kuhbandner, I. Schelhorn, Emotionale Kompetenz im Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_1
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Kapitel 1 · Einführung
Worum es in diesem Kapitel geht Das Einführungskapitel enthält Informationen zum Aufbau des Buches sowie eine erste Annäherung daran, was in diesem Buch unter „Emotionaler Kompetenz“ verstanden wird. Weiterhin werden zwei Charaktere vorgestellt, die den Leser durch das gesamte Buch begleiten und den Text mit interessanten Informationen, Beispielen und zum Nachdenken anregenden Ideen anreichern werden. Schließlich wird eine hilfreiche Grundeinstellung vermittelt, wenn man sich auf den Weg machen möchte, an der eigenen emotionalen Kompetenz zu arbeiten.
zz Ein ganz normaler Donnerstag – Aufzeichnung einer Lehrerin
(Grundschule in Bayern – 3. Klasse – 23 Schüler und Schülerinnen) ii
7.10 Uhr:
Unterrichtsmaterialien kopieren. Lange Schlange am Gerät. Das Klassenzimmer vorbereiten.
Gefühl:
Anspannung, Stress
7.30 Uhr:
Information: Anstatt wie im Stundenplan vorgesehen in einer schwierigen Klasse zu differenzieren (als zweite Lehrkraft anwesend zu sein), mit einer mir völlig unbekannten 2. Klasse einen Unterrichtsgang zum Zahnarzt durchführen (Lehrerin erkrankt).
Gefühl:
Anspannung, Stress
7.45 Uhr:
Aufsicht in dieser Klasse.
8.00 Uhr:
Unterrichtsgang zum Zahnarzt: Kinder hören nicht, Praxis ist schlecht vorbereitet, ein Kind bockt, das andere weint, weil es nicht auf den Zahnarztstuhl darf; Kinder sind viel zu laut.
Gefühl:
Scham (weil ich die Klasse nicht im Griff habe), Überforderung (weil ich die Kinder nicht kenne), Neid (auf die Helferinnen, die entspannt durch die Praxis laufen), Fluchtgedanken (möchte nur noch weg)
9.30 Uhr:
Pausenaufsicht. Alleine mit über 200 Kindern: Kollegin versäumte, für zweite Ersatzpausenaufsicht zu sorgen. Ein Junge wird mit dem Fuß in den Bauch getreten und geht, sich vor Schmerzen krümmend, zu Boden. Beide zur Innenaufsicht geschickt.
Gefühl:
Totale Überforderung
9.50 Uhr:
Alle Schüler und Schülerinnen befinden sich wieder im Schulhaus.
Gefühl:
Erleichterung
9.55 Uhr:
Beschwerde über alleinige Pausenaufsicht, Schilderung des Vorfalls.
Gefühl:
Wut, Ärger
9.55 Uhr:
Unterricht in der eigenen 3. Klasse. Fach: Heimat- und Sachunterricht: Thema: „Was können meine Augen?“; Schüler und Schülerinnen sehr motiviert, führen Versuche engagiert durch.
Gefühl:
Freude, Stolz, Zufriedenheit
10.25 Uhr:
Fach Deutsch: Übung zu den Pronomen. Stunde läuft gut, plötzlich eine Schülerin tränenüberströmt: „Ich werde gemobbt.“ Versuch, die Situation mit den beiden „Mobberinnen“ zu klären und weitere Infos zu erfragen. Unruhe in der Klasse: Jeder will zu dem Vorfall etwas beitragen.
Gefühl:
Anspannung und Zweifel (Ist es wirklich Mobbing?)
3 Einführung
11.20 Uhr:
2. Pause. Schülerin erzählt, dass sie gestern von der Mutter heftig geschlagen wurde. Versuch, näheres zu erfahren.
Gefühl:
Entsetzen
11.30 Uhr:
Gespräch mit Konrektorin: Dem Schläger aus der ersten Pause einen Verweis schreiben. Nochmal mit ihm sprechen, um ihn sicher zu identifizieren. Daher Zu-spät-Kommen zur nächsten Stunde. Schüler bereits schreiend am Gang.
Gefühl:
Stress
11.35 Uhr:
Fach Mathematik: Schüler und Schülerinnen arbeiten gut und auch einigermaßen ruhig
Gefühl:
Entspannung, Freude, Stolz, Zufriedenheit (es klappt ja doch)
12.15 Uhr:
Englisch in einer anderen 3. Klasse (sehr unruhig und anstrengend)
Gefühl:
Anspannung, Müdigkeit
12.30 Uhr:
Ständiges Ermahnen, Partnerarbeit nicht möglich. Ein Schüler geht auf die Toilette und verkündet lautstark, dass dort alles verdreckt ist. Jetzt wollen alle auf die Toilette, um sich selbst ein Bild zu machen. Die Unruhe verstärkt sich. Schreien, um Ruhe wiederherzustellen. Verbot weiterer Gänge zu dieser Toilette.
Gefühl:
Nervosität, Anspannung, Ärger
13.00 Uhr:
Lese-Arbeitsgemeinschaft: Vorfreude der Schüler und Schülerinnen, sehr motiviert.
Gefühl:
Freude, Spaß, Ansporn, Zufriedenheit
13.45 Uhr:
Gespräch mit der Jugendsozialarbeiterin über das Mädchen, das geschlagen wird; Gesprächstermin mit beiden für den nächsten Tag vereinbart.
14.15 Uhr:
Zu Hause.
Gefühl:
Grenzenlose Erschöpfung
Diese Aufzeichnungen aus dem Berufsleben einer Lehrerin zeigen sehr eindrücklich, dass das Leben einer Lehrkraft durchwirkt ist von Emotionen. Manchmal bereichern Sie unser Leben, manchmal sind sie ein unangenehmes Anhängsel, und manchmal wird man schier hinweggerissen von ihrer Kraft. Dieses Praxisbuch soll eine Orientierungshilfe bieten im Wirrwarr unserer Emotionen, verbunden mit dem Ziel, als Person emotional kompetent zu werden. zz Aufbau des Buches
Das Buch besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil wird es um die Vermittlung von Wissen zu Emotionen und emotionaler Kompetenz gehen: Was sind Emotionen eigentlich? Wie und warum entstehen sie? Welche Wirkungen können sie entfalten? Was ist emotionale Kompetenz? Und wie können wir sie in unserem Alltag umsetzen? Ein reichhaltiges Wissen zu besitzen ist deshalb so wichtig, weil wir damit auf unser Leben schauen und besser verstehen und reflektieren können: Woher kommen eigentlich meine Emotionen? In welchen Situationen entstehen meine Emotionen typischerweise? Welche Wirkungen entfalten sie in meinem Leben? Handelt es sich bei den bei mir auftretenden verschiedenen Emotionen jeweils um hilfreiche oder hinderliche Emotionen? Und welchen Emotionen will ich in meinem Leben mehr oder weniger Raum geben? Fragen, deren Beantwortung einiges an Reflexion und Selbsterfahrung benötigen
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Kapitel 1 · Einführung
wird – was wiederum möglicherweise noch viel fundamentalere Fragen aufwerfen wird, wie zum Beispiel: Wer bin ich eigentlich, was ist mir wichtig und wie möchte ich sein? Im zweiten Teil des Buches wird es dann um Methoden der emotionalen Kompetenz gehen. Darin werden zahlreiche Übungen und Materialien vorgestellt, mittels derer man das eigene emotionale Geschehen beobachten, darüber reflektieren und regulieren kann: Wie kann man lernen, sich und andere gut wahrzunehmen und Emotionen genau zu identifizieren? Wie kann man sich angewöhnen, die Ausgangssituation und die möglichen Wirkungen von Emotionen genauer zu betrachten, ohne durch diese verblendet zu werden? Welche Methoden gibt es, um über das eigene emotionale Geschehen und sich selbst zu reflektieren? Und mit welchen Techniken kann man erwünschte Emotionen heraufregulieren bzw. unerwünschte Emotionen herabregulieren? Bei der Beantwortung dieser Fragen werden uns durch das Buch dabei zwei Figuren begleiten, die zum einen wissenschaftliche Hintergründe vertiefen und zum anderen Praxisbezüge und Verknüpfungen zum „echten Leben“ herstellen werden. Wir wollen die beiden Figuren an dieser Stelle kennenlernen:
Marta, Wissenschaftlerin
„Nun, ich denke, ich kann von mir behaupten, über Lehrkräfte habe ich sehr viel gelesen. Zahllose Bücher habe ich gewälzt, Zeitschrift um Zeitschrift durchgeblättert, das Internet ausgiebig durchforstet. Danach setzte ich mir zum Ziel, mir ein breites Wissen über Emotionen anzueignen – und, ich muss sagen, zunächst war meine Freude groß. Ich entdeckte einen schier unendlichen Reichtum an Theorien, Modellen, Meinungen. Ich warf mich mitten hinein und jubelte ob des Gefühls, dies alles aufsaugen zu dürfen, ob des Gefühls, ein riesiger Staubsauger zu sein. Ich nahm alles mit. Die größte und die kleinste Theorie, Tabellen über Tabellen mit Zahlen über Zahlen, komplex verschachtelte Sätze. Ich gebe zu, ich war ein Vielfraß gewesen. Aber eines Tages wachte ich dann auf und war schlichtweg überwältigt. Ich hatte Kopfschmerzen und ein endloses Völlegefühl. Die Zahlen drehten sich wild in meinem Kopf, bis mir ganz schwindlig wurde. Begriffe verschmolzen zu mir unbekannten Neologismen und eine Wolke aus Theorien vernebelte mir die Sicht. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Ich hatte das Gefühl, trotz meines umfassenden theoretischen „Wissens“ eigentlich in Wirklichkeit gar nichts zu wissen. Tagelang wurde dieses Gefühl zu meinem stetigen Begleiter. Es zog sich über mir zusammen gleich einem Gewitter und ließ meine Gedanken Karussell fahren.
5 Einführung
Aber dieses Gefühl veranlasste mich dazu, mir Zeit dafür zu nehmen und die Dinge noch einmal ganz neu zu betrachten: Wie wäre es, wenn man wirkliches Licht ins Dunkel des theoretischen Wirrwarrs brächte? Wenn man Wichtiges von Unwichtigem trennt? Angenommen, man könnte das alles ordnen, verkürzen, verdeutlichen, auf den Punkt bringen… Lücken aufdecken oder schließen… zähe Theorie veranschaulichen… Zugänglichkeit schaffen… Theorie in Praxis verwandeln oder beides miteinander verbinden… ein wirklich ehrgeiziges Vorhaben. Mein Fazit? Nun, ich denke, ich kann stolz von mir behaupten, mir ist es gelungen, zumindest für mich Licht ins Dunkel zu bringen. Doch an dieser Stelle ist die Frage nach dem Fazit, glaube ich, nicht unbedingt die richtige. Eine richtigere Frage wäre eher: An welcher Stelle sollte ein interessierter Leser beginnen? Ich empfehle, bei der simpel anmutenden Einsicht, dass Emotionen überall dort sind, wo auch Menschen sind. In jedem dunklen Winkel, in jedem offenen Haus, in jedem Büro und – selbstverständlich auch in jedem Klassenzimmer. Ja, ich denke, dies ist ein würdiger Gedanke für einen Anfang: Emotionen sind überall.“
Robert, Lehrkraft
„Erst einmal freue ich mich sehr, dass Sie dieses Buch lesen. Denn für mich selbst war es sehr spannend, meinen Berufsalltag – ja ich möchte fast sagen mein Leben generell – aus einem für mich neuen Blickwinkel zu betrachten. In diesem Buch geht es nicht um Didaktik, nicht um Fachwissen in bestimmten Schulfächern, nicht darum, wie man Schüler motiviert, fördert, verbessert. Was natürlich nicht heißt – dies nur am Rande –, dass die Anwendung des Wissens in diesem Buch nicht auch das Verhalten Ihrer Schüler positiv beeinflussen kann. In diesem Buch – das habe ich im Verlauf immer mehr bemerkt – geht es in erster Linie um die Person, die es liest: Die Lehrkraft, den Trainer, den Fortbildungsleiter, den Studierenden, den neugierigen Leser. Um deren Persönlichkeit, deren Erleben, deren Verhalten, deren Ideale, zusammengefasst unter dem Begriff der emotionalen Kompetenz. Ein Thema, das im Kontext Schule bisher kaum auftaucht. Dieses Buch ist ein Versuch, das viele Wissen, das Wissenschaftler*Innen im Laufe der Zeit in zahllosen Studien über die Funktionsweise der menschlichen Psyche zusammengetragen haben, für den Anwender wirklich greifbar zu machen. Und da habe ich mir gedacht: An dieser Stelle kann ich hilfreich einspringen. Zuallererst
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Kapitel 1 · Einführung
werde ich meine Erfahrungen als Lehrer, als Pädagoge und Didaktiker nutzen, um manche Inhalte anschaulicher darzustellen und Beispiele aus dem Schulkontext einzuflechten. Im Laufe meiner Zeit als Lehrer habe ich auch eine gute Intuition dafür erworben, wann Inhalte drohen zu kompliziert zu werden. So werde ich an komplexen Textstellen einschreiten, um Wichtiges hervorzuheben. Und manchmal zu versuchen, komplizierte Dinge noch einmal einfacher oder anhand von Beispielen und eigenen Erfahrungen auf den Punkt zu bringen. Außerdem ist mir noch etwas aufgefallen: In diesem Buch wird zwar psychologisches Wissen vermittelt, aber immer wieder entdecke ich Verbindungen zu anderen Bereichen, zur Pädagogik zum Beispiel. Auch auf solche Schnittstellen werde ich hinweisen. Zum Schluss bleibt noch ein persönlicher Wunsch von mir: Ich wünsche mir, dass dieses Buch für Sie inspirierend und aufschlussreich sein wird.“
>>Wichtig Auch ich möchte mich kurz vorstellen: Ich bin ein sogenannter „Wichtig-Absatz“. Mich wird man an verschiedenen Stellen im ersten Teil des Buches finden. Mein Ziel ist, jeweils die Relevanz der vorgestellten psychischen Mechanismen für die emotionale Kompetenz prägnant zusammenzufassen und auf die dazu passenden Werkzeuge im zweiten Teil ab 7 Kap. 9 dieses Buches zu verweisen.
1.1 Emotionale Kompetenz: Was ist das eigentlich?
Zu Beginn eines Buches zur „Emotionalen Kompetenz“ stellt man sich sicherlich die Frage, was denn „Emotionale Kompetenz“ eigentlich ist. Allerdings stößt man hier als Autor auf ein Problem: Eine wirkliche Antwort kann man an dieser Stelle des Buches nicht geben. Denn dazu müsste man erst erklären, was Emotionen sind, wie und warum sie entstehen, und wovon es abhängt, ob eine Emotion für das eigene Fortkommen hilfreich ist oder nicht. Man kann diese Frage also eigentlich erst zufriedenstellend beantworten, nachdem ein tieferes Verständnis von Emotionen vermittelt wurde. Würde man diese Frage an dieser Stelle des Buches beantworten, dann würde man so tun, als wäre eine Antwort einfach – was der Vielschichtigkeit der emotionalen Kompetenz nicht gerecht würde. Deswegen werden wir diese Frage später noch einmal aufgreifen, nachdem wir beleuchtet haben, was Emotionen sind und wie sie uns im Zusammenspiel mit anderen psychischen Kräften beeinflussen (7 Kap. 7). Wir möchten aber zu Beginn eine Intuition dazu vermitteln, was in diesem Buch mit emotionaler Kompetenz gemeint ist und auf welche Weise diese hilfreich sein kann. Wir wollen dies am Beispiel einer Lehrkraft verdeutlichen. In . Abb. 1.1 ist auf der linken Seite eine Schulklasse und auf der rechten Seite das emotionale Erleben der zugehörigen Lehrkraft dargestellt. Wenn wir das Geschehen in . Abb. 1.1 betrachten, gibt es prinzipiell zwei Möglichkeiten, wie die Lehrkraft das eigene emotionale Geschehen positiv beeinflussen kann: Sie kann einerseits auf Seiten der Schüler Maßnahmen ergreifen, mit dem Ziel, Problemverhalten zu reduzieren und erwünschtes Verhalten zu fördern. Die dafür nötigen Kompetenzen werden als pädagogische Kompetenzen bezeichnet. Sich hier
7 1.1 · Emotionale Kompetenz: Was ist das eigentlich?
.. Abb. 1.1 Emotionale Kompetenz. Klassenzimmer: © cookart/7 stock. adobe.com
eine hohe „äußere Stärke“ anzueignen, ist ein wichtiges Ziel. Da es aber hierfür schon zahlreiche Bücher gibt, werden wir dieses Thema in diesem Buch nur ab und zu streifen. Andererseits kann die Lehrkraft ihr eigenes emotionales Geschehen aber auch dadurch positiv beeinflussen, dass sie versucht, ihre eigenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten auf Ereignisse in der Klasse zu verändern. Das Ziel ist hier sozusagen, eine hohe „innere Stärke“ zu erreichen. Dies kann beispielsweise bedeuten, dass man dazu fähig ist, mit Gelassenheit zu reagieren, wenn Schüler trotz äußerer Maßnahmen ein schwieriges Verhalten an den Tag legen oder beim Lernen keine Fortschritte zeigen. Es kann bedeuten, den Mut zu besitzen, sich emotional zu öffnen – oder genau das Gegenteil, die Kraft zu besitzen, Emotionen hintanzustellen. Oder es kann auch bedeuten, Glück und Freude bei sich und anderen verstärken zu können, zum Beispiel, wenn Erfolge erzielt wurden. Eine solche innere Stärke zu besitzen – genau das ist in diesem Buch mit emotionaler Kompetenz gemeint. Eine hohe innere Stärke kann auch präventive Wirkungen entfalten, sodass eine Regulation über äußere Maßnahmen weniger nötig wird. Ein Beispiel ist das Störungsverhalten von Schülern. Manchmal verfolgen Schüler mit einem solchen Verhalten das Ziel, beim Lehrer Emotionen auszulösen, weil sie sich dadurch als „stark“ erleben und Anerkennung von anderen bekommen wollen. Lässt sich eine Lehrkraft in einem solchen Fall nicht aus der Ruhe bringen, wird dieser Weg des Anerkennungsgewinns vom Schüler als wenig effektiv erlebt, damit also nicht verstärkt, und in der Konsequenz seltener beschritten. Weiterhin eröffnet eine hohe innere Stärke auch pädagogische Möglichkeiten, die weit über die restriktiven Effekte einer Regulation über äußere Maßnahmen hinausgehen. Wir wollen das anhand einer Geschichte veranschaulichen, die Terry Dobson, der einer der ersten Amerikaner war, der nach Japan reiste, um die Kampfkunst Aikido zu lernen, seinem Freund Daniel Goleman erzählte (nach Goleman 1995, S. 124–126):
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Kapitel 1 · Einführung
»» Eines Nachmittags fuhr ich in einem Vorortzug von Tokio nach Hause, als ein massiger,
kampfeslüsterner und stark betrunkener Arbeiter einstieg. Der Mann begann, die Fahrgäste einzuschüchtern. Schimpfend und fluchend schlug er nach einer Frau, sodass sie auf dem Schoß eines älteren Ehepaares landete, das daraufhin aufsprang und mit den übrigen Fahrgästen ans Ende des Wagens flüchtete. Als der Betrunkene nach einigen weiteren Fahrgästen schlug, die er in seiner Wut verfehlte, packte er unter wüstem Gebrüll die Metallstange in der Mitte des Wagens und versuchte, sie aus der Verankerung zu reißen. An diesem Punkt glaubte ich, der ich durch tägliche achtstündige Aikido-Übungen in bester körperlicher Verfassung war, eingreifen zu müssen. Ich stand langsam und bedächtig auf, während die übrigen Fahrgäste wie erstarrt auf ihren Sitzen saßen. Als der Betrunkene mich erblickte, brüllte er: „Oh, ein Ausländer! Dir werde ich japanische Manieren beibringen!“, und schickte sich an, es mit mir aufzunehmen. Doch in diesem Moment stieß jemand einen ohrenbetäubenden, merkwürdig fröhlichen Schrei aus: „Hey!“ Der Schrei klang so vergnügt, als habe jemand plötzlich einen lieben Freund entdeckt. Erstaunt drehte der Betrunkene sich um, und erblickte ein kleines japanisches Männlein, das in den Siebzigern sein mochte und in einem Kimono dasaß. Der alte Mann strahlte den Betrunkenen erfreut an und winkte ihn mit einer leichten Handbewegung und einem flotten „Komm her“ zu sich. Der Betrunkene setzte sich mit staksigen Schritten in Bewegung, wobei er wütend knurrte: „Wieso soll ich mit Dir reden, verdammt noch mal?“ „Was hast Du getrunken?“, fragte der alte Mann und strahlte den betrunkenen Arbeiter an. „Ich habe Sake getrunken, und das geht Dich einen Dreck an“, brüllte der Betrunkene. „Oh, das ist wunderbar, absolut wunderbar“, erwiderte der alte Mann mit freundlicher Stimme. „Weißt Du, ich liebe auch Sake. Meine Frau und ich – sie ist 76, musst Du wissen – wärmen uns jeden Abend ein Fläschchen Sake und nehmen es mit in den Garten, und wir setzen uns auf eine alte Holzbank …“ Und er erzählte weiter von dem Dattelpflaumenbaum in seinem Hof und den Schätzen seines Gartens. Das Gesicht des Betrunkenen wurde allmählich sanfter, während er dem alten Mann lauschte, seine Fäuste öffneten sich. „Tja … ich liebe auch Dattelpflaumen“, sagte er und seine Stimme verlor sich. „Ja“, sagte der alte Mann munter, „und Du hast sicher eine wunderbare Frau.“ „Nein“, sagte der Arbeiter, „meine Frau ist gestorben.“ Und begann schluchzend die traurige Geschichte zu erzählen, wie er seine Frau, sein Haus und seine Arbeit verloren hatte, und dass er sich schäme. In diesem Augenblick fuhr der Zug in den Bahnhof ein, wo Terry aussteigen musste, und während er zur Tür ging, hörte er noch, wie der alte Mann den Betrunkenen einlud, mit ihm zu kommen und ihm alles zu erzählen, und als er sich umdrehte, sah er noch, wie der Betrunkene sich auf dem Sitz ausstreckte, den Kopf auf dem Schoß des alten Mannes.
Diese eindrucksvolle Geschichte beschreibt etwas, das von Daniel Goleman als „emotionales Judo“ bezeichnet wird und als hohe Kunst der pädagogischen Begleitung angesehen werden kann: In Situationen, in denen jemand emotional überreagiert, selbst weder mit Angst zu reagieren noch sich emotional anstecken zu lassen, dadurch offen zu werden, um überhaupt erkennen zu können, was diese Person in Wirklichkeit antreibt, und um dann darauf aufbauend die emotionalen Energien der Person in eine sinnvolle Richtung zu lenken – übertragen auf den Schulkontext womöglich eine pädagogische Fähigkeit von unschätzbarem Wert.
9 1.2 · Der Weg zur Kompetenz – eine Grundeinstellung
Professionelle Kompetenzen von Lehrkräften
„Man kann die emotionale Kompetenz auch in existierende umfassendere Modelle zu professionellen Kompetenzen von Lehrkräften einordnen. Solche Modelle haben zum Ziel, Kompetenzen zu identifizieren, die Lehrkräfte für die erfolgreiche Bewältigung ihrer Aufgaben benötigen. Typischerweise werden in solchen Modellen zum einen Kompetenzen im Bereich des Professionswissens postuliert, wobei meist zwischen Fachwissen, fachdidaktischem Wissen, psychologisch-pädagogischem Wissen und Schulorganisationswissen unterschieden wird. Zum anderen werden personale Kompetenzen postuliert, welche die Persönlichkeit der Lehrkraft betreffen (z. B. Baumert und Kunter 2011). In Anlehnung an klassische Theorien zur Persönlichkeit kann man hier zwischen kognitiven (z. B. Werthaltungen und Einstellungen), motivationalen (z. B. motivationale Orientierungen und Selbstregulation) und emotionalen Kompetenzen unterscheiden. Wie wir allerdings im Verlauf des Buches sehen werden, gibt es Überschneidungsbereiche zwischen den kognitiven, motivationalen und emotionalen Kompetenzen, sodass diese sich zum Teil überlappen und damit gegenseitig beeinflussen. In der folgenden Abbildung findet sich eine entsprechende Illustration.“
Personale Kompetenzen Kognitive Kompetenz
Motivationale Kompetenz
Emotionale Kompetenz
Professions wissen Fach wissen
Psychologie Pädagogik
Didaktik
Schul organisation
1.2 Der Weg zur Kompetenz – eine Grundeinstellung
Wenn man an seiner emotionalen Kompetenz arbeiten möchte, ist es hilfreich, zu Beginn noch eine Frage zu stellen: Gibt es vielleicht eine bestimmte Grundeinstellung, mit der man sich auf den Weg machen sollte? An emotionalen Kompetenzen zu arbeiten ist keine leichte Aufgabe: Denn es kann bedeuten, gewohnte Erlebens- und
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Kapitel 1 · Einführung
.. Abb. 1.2 Der Kompetenzkreislauf
Verhaltensweisen nicht nur besser erkennen und verstehen zu lernen, sondern diese auch wirklich im Alltag und Trubel des echten Lebens zu verändern. Wie wir noch genauer sehen werden, sind unsere Gewohnheiten oft tief in uns verankert und werden schnell und automatisch in Situationen ausgelöst, ohne dass wir das notwendigerweise bewusst mitbekommen. Dementsprechend ist es wichtig, sich von Anfang an klar zu machen: Wenn man an sich arbeiten möchte, dann reicht es nicht aus, das entsprechende Wissen und die entsprechenden Methoden zu erwerben. Vielmehr kann es bedeuten, dass man einigen Dingen in seinem Leben Raum geben muss, die vielleicht bisher dort nicht wirklich Platz hatten. Es kann bedeuten, offen zu sein und bereit für Veränderung. Wir möchten die in unseren Augen nötigen Schritte beim Arbeiten an den eigenen emotionalen Kompetenzen in Form eines Kreislaufs darstellen – wir wollen diesen den „Kompetenzkreislauf“ nennen (. Abb. 1.2). Dieser Kreislauf impliziert, dass wir zur Veränderung unserer Erlebens- und Verhaltensgewohnheiten drei Dingen in unserem Alltag mehr Raum geben: Beim ersten Punkt im Kompetenzkreislauf – Wahrnehmen – geht es darum, die aktuelle Situation genauer wahrzunehmen als bisher. Typischerweise sind wir so von unseren Sehgewohnheiten geprägt, dass wir manche Dinge gar nicht mehr richtig wahrnehmen oder gar komplett blind für manche Dinge sind. Hier geht es darum, sich eine zweite Sehgewohnheit zuzulegen: Die Gewohnheit, genauer hinzublicken als bisher. Für den zweiten und dritten Punkt im Kompetenzkreislauf (Reflektieren und Planen) ist eine weitere neue Gewohnheit erforderlich: Sich nach der eigentlichen Situation die Zeit zu nehmen, über das Geschehen und die eigenen Erlebens- und Verhaltensreaktionen noch einmal genauer nachzudenken. Emotionsrelevante Situationen sind oft dadurch gekennzeichnet, dass dringliches Handeln gefordert ist, sodass wenig Zeit zum Nachdenken bleibt. Weiterhin ist es ein Charakteristikum vieler Emotionen, dass sie unser Denken in eine bestimmte Richtung verzerren, weshalb ein klares und umfassendes Nachdenken im Moment des Erlebens einer Emotion gar nicht möglich ist. Beim Reflektieren geht es darum, nach einer Situation darüber nachzudenken, was genau geschehen ist und was man sich eigentlich gewünscht hätte. Das anschließende Planen beinhaltet, basierend auf dem Ergebnis der Reflexion, einen Plan zu machen: Mit welcher neuen Strategie will ich das nächste Mal in die entsprechende Situation gehen? Welche Werkzeuge – im Sinne von Strategien – brauche ich, um meinen Plan umzusetzen? Muss ich vorher üben? Wichtig ist noch, sich dabei einen zentralen Punkt klarzumachen: Man wird vorher nie mit Sicherheit wissen, ob ein Werkzeug wirklich Früchte tragen wird. Viel
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mehr ist es wichtig, das Wort „Kreislauf“ zu betonen. So wird man vielleicht erleben, dass ein Werkzeug in der einen Situation funktioniert, aber in einer anderen nicht. Oder sogar, dass dasselbe Werkzeug in derselben Situation heute hilfreich ist, zwei Wochen später aber nicht mehr. Der Grund dafür ist ganz einfach: Wir Menschen sind zu komplex, als dass es einfache Lösungen gäbe. Wenn ein Werkzeug nicht funktioniert, ist das nicht unbedingt etwas Schlechtes. Vielmehr birgt das die Chance, sich selbst und die verschiedenen Situationen, in denen man sich bewegt, immer besser kennenzulernen und zu verstehen. Wenn wir also wiederholt den Kreislauf durchlaufen, werden wir ein immer differenzierteres und genaueres Wissen über uns selbst und über die uns umgebende Welt aufbauen – und damit zunehmend immer kompetenter werden. Mit dieser Grundeinstellung wollen wir uns nun in die faszinierende Welt unseres menschlichen Innenlebens – und insbesondere der dort zu findenden Emotionen – begeben. Kapitelzusammenfassung In diesem Kapitel wurde eine kurze Einführung in das Thema „Emotionale Kompetenz“ gegeben. Unter emotionaler Kompetenz wird in diesem Buch die Fähigkeit einer Person verstanden, das eigene emotionale Geschehen entweder den eigenen Wünschen entsprechend beeinflussen oder gegebenenfalls aushalten zu können. Dies kann erreicht werden, indem man die eigenen Denk- und Reaktionsgewohnheiten auf Ereignisse, Personen und Situationen verändert. Wenn man sich auf den Weg machen möchte, die eigene emotionale Kompetenz zu erhöhen, sind drei Schritte hilfreich: Zunächst ist wichtig, im gegenwärtigen Moment die Situation und die eigenen Reaktionen darauf genau wahrzunehmen. Nach der Situation gilt es, über das Geschehen und die eigenen Erlebens- und Verhaltensreaktionen zu reflektieren und sich die Frage zu stellen, was man sich eigentlich wünschen würde. Will man etwas verändern, muss schließlich ein guter Plan hierfür entwickelt werden.
Literatur Baumert, J., & Kunter, M. (2011). Das Kompetenzmodell von COAKTIV. In M. Kunter, J. Baumert, W. Blum, U. Klusmann, S. Krauss, & M. Neubrand (Hrsg.), Professionelle Kompetenz von Lehrkräften (S. 31–53). Münster: Waxmann. Goleman, D. (1995). Emotional intelligence. New York: Bantam.
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Grundlagen Unsere Emotionen sind einer der zentralen Bestandteile unseres psychischen Innenlebens, das dafür verantwortlich ist, wie wir auf Situationen und Ereignisse reagieren. Im ersten Teil dieses Buches wird es darum gehen, dieses Innenleben kennenzulernen und die psychischen Kräfte zu verstehen, die unser Erleben und Verhalten bestimmen. Um uns der Frage anzunähern, wie wir funktionieren, wollen wir uns zunächst eine Situation ansehen, die man als Lehrkraft vermutlich jeden Tag erlebt: In exakt derselben Situation verhalten sich Schüler sehr unterschiedlich – einmal so, wie man es gerne hätte, und einmal schwierig (siehe . Abb. 1.3).
Offenbar gibt es also bei der Verarbeitung einer Situation im Kopf etwas, das Unterschiede im resultierenden Erleben und Verhalten erzeugt. Will man verstehen, warum Menschen ein bestimmtes Erleben oder Verhalten an den Tag legen, muss man also die Mechanismen – die „Zahnräder“ – in unseren Köpfen kennen, die zwischen der Situation und dem resultierenden Erleben und Verhalten vermitteln. Bei der Verarbeitung einer Situation im Kopf muss man zwischen zwei grundlegenden Schritten unterscheiden. Der erste Schritt besteht darin, die Situation wahrzunehmen. Allerdings können wir die äußere Welt nicht direkt wahrnehmen, sondern wir müssen das, was uns umgibt, innerlich abbilden und repräsentieren. Wie wir sehen werden, wird die uns
.. Abb. 1.3 Unterschiedliches Verhalten verschiedener Menschen in exakt derselben Situation. Schüler: © Barbara Alsu
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umgebende Welt dabei nicht nur einmal innerlich abgebildet, sondern auf drei verschiedenen Ebenen jeweils auf unterschiedliche Art und Weise. Da alle weiteren Mechanismen auf der anfänglichen innerlichen Abbildung einer Situation aufbauen, wollen wir uns in 7 Kap. 2 zunächst genauer ansehen, wie wir eigentlich die Welt wahrnehmen.
Der zweite Schritt bei der Verarbeitung einer Situation besteht darin, aus den wahrgenommenen Inhalten das optimale Verhalten abzuleiten. Wie wir in 7 Kap. 3 sehen werden, gibt es hier drei große psychische Kräfte in uns, die das an den Tag gelegte Erleben und Verhalten zu bestimmen versuchen: Unsere Bedürfnisse, unsere Emotionen und unsere rationalen Ziele. Wenn wir unser emotionales Geschehen verstehen wollen, müssen wir alle drei Kräfte kennen, da diese nicht losgelöst voneinander funktionieren. Deswegen werden wir uns in den 7 Kap. 4, 5 und 6 die Mechanismen genauer ansehen, die hinter unserer bedürfnisbezogenen, emotionalen und rationalen Verhaltenssteuerung stecken.
Aufbauend auf diesem Wissen werden wir dann in 7 Kap. 7 noch einmal die Frage stellen, was emotionale Kompetenz ist, und uns ein tieferes Verständnis erarbeiten. In 7 Kap. 8 werden wir schließlich die verschiedenen Strategien kennenlernen, mittels derer man Emotionen regulieren kann.
Inhaltsverzeichnis Kapitel 2
Wie wir die Welt wahrnehmen – 15
Kapitel 3
Die drei psychischen Kräfte in uns – 29
Kapitel 4
Das Bedürfnissystem – 33
Kapitel 5
Das Emotionale System – 45
Kapitel 6
Das Rationale System – 109
Kapitel 7 Emotionale Kompetenz: Was ist das eigentlich? – Revisited – 191 Kapitel 8
Die Regulation von Emotionen – 195
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Wie wir die Welt wahrnehmen Inhaltsverzeichnis 2.1
ie drei Formen der innerlichen Repräsentation D der Umwelt – 16
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ufmerksamkeit: Die Filterung unserer A Wahrnehmungen – 23 Literatur – 26
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kuhbandner, I. Schelhorn, Emotionale Kompetenz im Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_2
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Kapitel 2 · Wie wir die Welt wahrnehmen
Worum es in diesem Kapitel geht
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Jeder in einer Situation ausgelösten Emotion geht eine Wahrnehmung der Situation vo raus. Allerdings ist unsere Wahrnehmung nicht einfach nur ein Abbild der Situation. Statt dessen werden die einströmenden Sinnesreize mittels innerer „mentaler Landkarten“ inter pretiert, die im Laufe des Lebens individuell angelegt wurden. Als Konsequenz wird bevorzugt das wahrgenommen, was in den inneren Landkarten bereits enthalten ist. Für eine hohe emotionale Kompetenz ist es demnach wichtig, die eigenen Wahrnehmungsge wohnheiten zu kennen. In diesem Kapitel wird dafür hilfreiches Wissen zur Funktions weise unserer Wahrnehmung vermittelt. Wie wir sehen werden, wird die Umwelt auf drei Ebenen im Gehirn abgebildet und repräsentiert: Auf der ersten Ebene in Form von einzel nen perzeptuellen Bausteinen, auf der zweiten Ebene in Form von bewusst wahrgenomme nen mentalen Bildern und auf der dritten Ebene in Form von verbalen Begriffsnetzwerken. Weiterhin wird erklärt, warum man im gegenwärtigen Moment nur einen kleinen Aus schnitt der Gesamtsituation bewusst wahrnehmen kann, und man manchmal sogar blind sein kann für Dinge, die außerhalb des Aufmerksamkeitsfokus liegen.
2.1 Die drei Formen der innerlichen Repräsentation der Umwelt
In diesem Kapitel wird es darum gehen, wie wir die Welt wahrnehmen und innerlich abbilden. Um uns die Besonderheiten bei der innerlichen Repräsentation einer äuße ren Situation im Kopf genauer anzusehen, wollen wir eine einfache Situation be trachten: Stellen Sie sich vor, Sie beobachten einen Schüler, der von links nach rechts läuft (siehe . Abb. 2.1, linkes Bild). Im Alltag wird man den Eindruck haben, ein zusammenhängendes und sehr plas tisches Bild des sich bewegenden Schülers innerlich wahrzunehmen. Ein genauerer Blick zeigt aber etwas Überraschendes: In Wirklichkeit ist das eigentlich eine Illusion unseres Gehirns. Zeichnet man den Weg von einem äußeren Ereignis hin zur Wahr nehmung nach, so besteht das Signal, das unser Gehirn von außen erhält, in Wirk lichkeit zunächst aus einer Ansammlung von Lichtpunkten. Das Bild des Schülers fällt ja in unserem Auge auf die Netzhaut, die Millionen von kleinen lichtsensiblen Zellen enthält, die alle punktuell Lichtveränderungen aufzeichnen. Unser Gehirn muss demnach diese vielen Punkte innerlich erst wieder zu einem zusammenhängen den Bild zusammenfügen. Man kann sich die Tatsache, dass es sich bei den innerlich
.. Abb. 2.1 Die drei verschiedenen Formen der innerlichen Repräsentation einer äußeren Situation im Kopf. Schüler: © Barbara Alsu
17 2.1 · Die drei Formen der innerlichen Repräsentation der Umwelt
zusammengesetzten Bildern eigentlich um Illusionen handelt, mit dem Selbstversuch in der folgenden Box klarmachen. ►►Selbstversuch
Nehmen Sie eine Lupe zur Hand und betrachten Sie damit ein auf einem Bildschirm ge zeigtes Foto. Wie Sie bemerken werden, besteht das Foto, das Sie bildlich wahrnehmen, in Wirklichkeit aus tausenden von roten, grünen und blauen Farbpunkten. ◄
Unsere Wahrnehmung des sich bewegenden Schülers in Form eines zusammenhän genden plastischen Bildes ist also ein von unserem Gehirn konstruiertes Bild. Die Wahrnehmungsforschung hat aber sogar etwas womöglich noch Überraschenderes gezeigt: Es ist nämlich so, dass die Form der innerlichen Abbildung der äußeren Welt in Form von plastischen Bildern nur eine von mehreren innerlichen Repräsentatio nen ist, die unser Gehirn anlegt. Wie . Abb. 2.1 veranschaulicht, werden von unse rem Gehirn sogar drei verschiedene Abbildungen der Umwelt aus den eingehenden Sinnessignalen konstruiert. Wir wollen uns die drei Formen der Repräsentation et was genauer ansehen.
zz Die erste Form der Repräsentation: Die unbewusste Welt der perzeptuellen Bausteine
Interessanterweise funktioniert das Zusammensetzen eines inneren Bildes aus den von unserer Netzhaut aufgezeichneten Lichtpunkten nicht wie beispielsweise bei ei nem Puzzle, bei dem alle Einzelteile einfach wieder zu einem vollständigen Bild zu sammengesetzt werden. Stattdessen gibt es beim Auslesen der Sinnessignale noch eine vorgeschaltete Ebene, auf der die Umwelt „bilderlos“ repräsentiert wird. Dort werden die verschiedenen Charakteristiken der einströmenden Lichtpunkte in Form von einzelnen perzeptuellen Bausteinen getrennt an verschiedenen Stellen im Gehirn verarbeitet, wie beispielsweise die enthaltenen Formen, Farben oder Bewegungen (Zeki und Bartels 1998). Wenn wir also den sich von links nach rechts bewegenden Schüler in . Abb. 2.1 beobachten, wird diese Situation in einem ersten Schritt inner lich so repräsentiert, dass eine bestimmte Gruppe von Gehirnzellen signalisiert „da ist eine unregelmäßige Form“ (die Haare des Schülers), „da ist eine rechteckige Form“ (Rucksack des Schülers), „da ist eine breite umgekehrt-L-förmige Form“ (Är mel des T-Shirts des Schülers) …, eine andere Gruppe von Gehirnzellen „da ist etwas Hellrotes“, „da ist etwas Grünes“, „da ist etwas Blaues“ … und noch eine andere Gruppe von Gehirnzellen „da bewegt sich etwas von links nach rechts“ (. Abb. 2.1, Stufe „Perzeptuelle Bausteine“). Die innere Repräsentation der äußeren Welt in Form von perzeptuellen Baustei nen ist die evolutionär älteste Repräsentationsform. Da auf dieser frühen Ebene die in einer Situation enthaltenen Bausteine getrennt voneinander repräsentiert werden, existiert der „Schüler“ dort in dem Sinne gar nicht, wie er von uns dann später als inneres Bild bewusst wahrgenommen wird. Hilfreich für ein Verständnis der damit verbundenen Tragweite ist die Analogie zu einem Computer: Wenn Ihr Computer Ihnen am Bildschirm ein Foto von einem Schüler zeigt, existiert der Schüler als Bild nur in Ihrem Kopf. Auf der Festplatte des Computers ist das Bild des Schülers in Wirklichkeit nur in Form von Nullen und Einsen gespeichert. Und genau so kann man sich auch die Art vorstellen, wie der Schüler auf der ältesten Stufe der Wahr nehmung repräsentiert wird: Als Ansammlung von „schülerlosen“ perzeptuellen
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Kapitel 2 · Wie wir die Welt wahrnehmen
„Nullen und Einsen“. Die früheste und unbewusste Stufe der Wahrnehmung besteht also aus perzeptuellen Bausteinen, die noch nicht zu einem Gesamtkonzept zusam mengefügt sind. Wie wir später sehen werden, kann aber selbst ein nicht bewusst wahrgenommener kleiner perzeptueller Baustein ein Verhalten oder eine Emotion auslösen, was es erschweren kann, die wahren Ursachen unseres Erlebens und Ver haltens zu erkennen. zz Die zweite Form der Repräsentation: Die bewusst erlebte Welt der mentalen Bilder
Vermutlich gemeinsam mit der evolutionären Entwicklung unserer Emotionen hat sich eine äußerst interessante Fähigkeit entwickelt, die bis heute noch nicht vollstän dig entschlüsselt ist: Die Fähigkeit, die einströmenden Lichtpunkte auf unserer Netz haut nicht nur in Form von kleinen perzeptuellen Bausteinen, sondern in Form von zusammenhängenden Objekten und Personen innerlich zu repräsentieren und diese bewusst als anscheinend unmittelbar gegebene Erscheinungen wahrzunehmen (Kosslyn et al. 2006). Dazu müssen die auf der ersten Wahrnehmungsstufe extrahier ten „schülerlosen“ perzeptuellen Bausteine zu einem zusammenhängenden mentalen Bild des Schülers zusammengefügt werden. Auf den ersten Blick mag das als eine relativ einfache Aufgabe erscheinen. Ein genauerer Blick offenbart aber, dass dieser Schritt schwierig ist und in Wirklichkeit anders erfolgt als man vielleicht zunächst vermutet: Die Schwierigkeit besteht darin, dass die einzelnen Bausteine auf der Wahrnehmungsstufe vorher unabhängig voneinander repräsentiert werden, sodass mehrere Möglichkeiten existieren, sie zu mentalen Bildern zusammenzusetzen. Man kann sich das so vorstellen, als müsste man die richtige Lösung bei einem Puzzle finden, das aus Puzzleteilen besteht, die man beliebig zu verschiedenen Gesamtbil dern zusammenfügen kann, die alle Sinn ergeben. Unser Wahrnehmungssystem löst dieses Problem nun so, dass es eine innere men tale Landkarte benutzt, die mentale Bilder von Objekten und Personen enthält, die normalerweise in Situationen vorkommen. Mittels dieser Landkarte versucht unser Wahrnehmungssystem nun, die auf der vorherigen Wahrnehmungsstufe repräsen tierten Bausteine zu interpretieren. Das in der Landkarte enthaltene mentale Bild, das am besten zu dem Muster an wahrgenommenen Bausteinen passt, wird schließ lich darübergestülpt und bewusst wahrgenommen (Riesenhuber und Poggio 1999). Unsere bewusste Wahrnehmung spiegelt also in Wirklichkeit unsere vorher existie renden Vermutungen und Annahmen über die Welt wider. Diese vielleicht überra schende Tatsache kann man sich an einem bekannten Phänomen klarmachen: den optischen Täuschungen. In . Abb. 2.2 sehen Sie ein eindrucksvolles Beispiel: Man meint, zwei unterschiedlich große Flächen zu sehen, obwohl die Flächen in Wirklich keit genau gleich groß sind (zur Nachprüfung kann man ein Stück Papier zuschnei den und auf die beiden Flächen legen). Wir verfügen also über umfangreiche innere mentale Wahrnehmungslandkarten, die aus einer Unmenge an mentalen Bildern, Geräuschen, Gerüchen usw. bestehen. Diese benutzen wir, um die von unseren Sinnesorganen aufgezeichneten Signale aus der Umwelt zu repräsentieren und bewusst in Form von zusammenhängenden men talen Bildern von Objekten wahrzunehmen. Wir erleben diese inneren Wahrneh
19 2.1 · Die drei Formen der innerlichen Repräsentation der Umwelt
.. Abb. 2.2 Beispiel einer optischen Täuschung
mungslandkarten in ihrer Reinform jede Nacht, wenn wir meinen, uns in Träumen durch äußerst real erscheinende Welten zu bewegen, die in Wirklichkeit aber völlig unabhängig von den Sinnessignalen aus der äußeren Welt entstehen. Interessanter weise ist uns bei Träumen klar, dass wir eigentlich nur unsere inneren Wahrneh mungslandkarten wahrnehmen (Hobson et al. 2014). Wenn wir aber wach sind, ha ben wir dagegen den Eindruck, die echte Welt bewusst so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist, obwohl wir auch hier eigentlich nur unsere inneren Wahrnehmungsland karten wahrnehmen. Man kann sich diese überraschende Tatsache mit dem Selbst versuch in der folgenden Box klarmachen. ►►Selbstversuch
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Betrachten Sie das Bild. Was sehen Sie? Wenn es Ihnen wie den meisten Menschen geht, werden Sie vermutlich das Gesicht einer Frau wahrnehmen. Fragt man allerdings einen Musiker, so wird dieser vielleicht etwas anderes wahrnehmen: Die Silhouette eines Saxo
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Kapitel 2 · Wie wir die Welt wahrnehmen
phonspielers. Unsere Wahrnehmung der Welt hängt also davon ab, welches innerliche mentale Bild wir über die einströmenden Sinnessignale stülpen. Und wie dieses Beispiel demonstriert, können verschiedene Personen in derselben Situation sehr unterschiedliche Dinge wahrnehmen. ◄
Mit Blick auf die Steuerung des Verhaltens erachten wir einen Punkt noch als wich tig, den man sich anhand des Beispiels optischer Täuschungen klarmachen kann: Die Steuerung von spezifischen Verhaltensweisen in Bezug auf ein Objekt kann nicht auf der Stufe der bewussten Wahrnehmung erfolgen. Würden wir beispielsweise bei der obigen optischen Illusion der Flächen gesteuert über unsere bewusst wahrge nommenen Bilder nach den Flächen greifen, so würden unsere Hände falsche Greif bewegungen machen. Für eine exakte Steuerung des Verhaltens sind somit die auf der ersten Wahrnehmungsstufe repräsentierten perzeptuellen Bausteine ausschlag gebend, welche die uns umgebende Welt viel detaillierter abbilden. Die Funktion unserer bewussten Wahrnehmung ist dagegen eine andere: Sie erlaubt es, die uns umgebende Welt unabhängig von Wahrnehmungsdetails zu repräsentieren, die zwar auf der Ebene des spezifischen Verhaltens in Bezug auf ein Objekt einen Unterschied machen können, nicht aber in Bezug auf die Be wertung des Objekts an sich. So bleibt ein leckerer Apfel ein leckerer Apfel, un abhängig davon, von welchem spezifischen Blickwinkel aus wir ihn betrachten und ergreifen müssen. Die Welt der bewussten Wahrnehmung ist also zwar un schärfer als die unbewusste Welt der perzeptuellen Details, aber gerade mittels dieser größeren Unschärfe schafft es unser Wahrnehmungssystem, nicht im „Rauschen“ der Details verlorenzugehen, sondern stattdessen sinnhafte Gesetz mäßigkeiten zu entdecken, die eine Verhaltenssteuerung über das Ausagieren spe zifischer Verhaltensweisen hinaus erlauben. zz Die dritte Form der Repräsentation: Die theoretisch rekonstruierte Welt der Begriffe
Mit der Entwicklung des rationalen Verstandes hat sich schließlich eine dritte Form der innerlichen Repräsentation einer Situation entwickelt, die erneut bahnbrechend war: Die Abbildung einer Situation mittels verbaler Laute – also mittels sogenannter „Begriffe“ (Goldstone et al. 2003). Das visuell wahrgenommene Bild des Schülers wird also beispielsweise in den verbalen Begriff „Schüler“ übersetzt. Diese Neuerung hört sich auf den ersten Blick wenig bahnbrechend an, ermöglicht uns Menschen aber etwas, das vorher nicht möglich war: einen Blick in die Zukunft. Wenn wir eine Situation in Form von mentalen Bildern wahrnehmen, dann ist unser Bewusstsein immer vollständig mit den von der aktuellen Situation ausgelösten Bildern ausge füllt. Wenn man einmal um sich blickt und auf die entstehenden Bilder achtet, kann man sich das sehr leicht klarmachen. Nur mit Hilfe unserer mentalen Bilder kann man also nicht gleichzeitig die aktuelle Situation wahrnehmen und sich bildlich mög liche zukünftige Situationen vorstellen. Würden wir die Welt nur in Form von men talen Bildern wahrnehmen, so würden wir immer im Jetzt verhaftet bleiben und nicht die mögliche Zukunft abschätzen können.
21 2.1 · Die drei Formen der innerlichen Repräsentation der Umwelt
Das „immerwährende Jetzt“ meines Hundes
„Ich muss hier an eine überraschende Beobachtung denken, die ich gemacht habe, als ich mit meinem Hund im Wald spazieren ging. Immer dann, wenn uns ein ande rer Hund entgegenkam, musste ich meinen Hund an die Leine nehmen, weil er nur noch mit dem anderen Hund spielen und nicht mit mir weiterlaufen wollte. Sobald wir aber hinter der nächsten Wegbiegung verschwanden und der andere Hund au ßer Sichtweise war, konnte ich ihn wieder von der Leine nehmen, und er lief fried lich neben mir weiter. Jedes Mal habe ich mich wieder gewundert, dass er nicht einfach wieder zurücklief, sobald ich ihn von der Leine losgemacht hatte, denn das aufregende Ereignis war ja erst ein paar Sekunden her. Jetzt aber wird mir klar, dass man sich ohne eine begriffliche Abbildung der Welt einfach nicht ausmalen kann, was eben noch passiert ist oder in Zukunft passieren könnte. Mein Hund lebt offenbar also im ‚immerwährenden Jetzt‘ seiner aktuell wahrgenommenen menta len Bilder.“
Vielleicht mag hier jemand noch einwenden, man könne doch die Augen schlie ßen und mit Hilfe der Phantasie eine bildliche Zeitreise machen. Wenn man sich aber dabei genau beobachtet, wird man bemerken, dass man dabei verbale Be griffe benutzt, um die inneren Bilder zu steuern. Und damit stoßen wir genau auf die große Stärke des rationalen Verstandes: Mit Hilfe von Begriffen können wir die aktuelle Situation mit möglichen zukünftigen Situationen verknüpfen (siehe . Abb. 2.3). Wie . Abb. 2.3 illustriert, besteht der Kern der Fähigkeit zur Zukunftsabschät zung darin, einen bestimmten Begriff („Kuchen“) mit Hilfe einer „Wenn-Dann- Regel“ mit einem weiteren Begriff („dick“) zu verknüpfen („Wenn zu viel Kuchen, dann dick“). Wir stoßen hier auf den eigentlichen Kern des rationalen Verstandes: Dort wird versucht, die Welt mit Hilfe eines Begriffsnetzwerks so zu beschreiben, dass ihre Struktur und Zusammenhänge möglichst gut abgebildet werden. So haben Sie möglicherweise ein Begriffsnetzwerk im Kopf gespeichert, in dem ein „SCHÜ LER“ in Zusammenhang mit „NOTEN“ bei Ihnen „STRESS“ auslöst, vor allem, wenn dessen „ELTERN“ mit ins Spiel kommen (siehe . Abb. 2.1, Stufe „Verbale Begriffe“). In Bezug auf den Aspekt „möglichst gut abbilden“ stößt man hier interessan terweise wieder auf das Phänomen der Unschärfe. Wie schon bei der Zuordnung von perzeptuellen Bausteinen zu mentalen Bildern gehen auch bei der Zuord nung von mentalen Bildern zu Begriffen Details verloren. Ein Beispiel ist der Satz
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Kapitel 2 · Wie wir die Welt wahrnehmen
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.. Abb. 2.3 Der Blick in die Zukunft mittels der Verknüpfung von mentalen Bildern mit verbalen Lauten („Begriffen“). Kuchen und Waage: © Barbara Alsu
„Wenn zu viel Kuchen, dann dick“. Dieser Satz scheint offenbar zu gelten, egal ob man Schokokuchen, Käsekuchen, Obstkuchen etc. zu sich nimmt. Der Begriff „Kuchen“ wird also als gemeinsamer verbaler Oberbegriff für ganz verschiedene mentale Bilder von verschiedenen Kuchen benutzt. Wie wir im Kapitel zum Ra tionalen System (7 Kap. 6) noch genauer sehen werden, wird ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur emotionalen Kompetenz darin bestehen, sich folgende Frage zu stellen: Wie gut – im Sinne von (un)scharf und vernetzt – bildet eigentlich mein aktuell vorhandenes Begriffsnetzwerk sowohl die äußere als auch meine innere Welt ab?
Begriffsnetzwerke für Schüler
„Ja, hierzu kann ich eine Geschichte aus meinem Lehrerleben an einer mittelame rikanischen Schule erzählen. Ich hatte einst zwei Schülerinnen, Schwestern, Cindy und Coral. Coral war die ältere, ein stämmiges Mädchen, ruhig, bedacht, erzogen, um auf die jüngere Schwester aufzupassen. Cindy hingegen war der Liebling aller – Lehrer und älterer Schüler gleichermaßen. Ein zierliches Mädchen, mit hübschem Gesicht, immer aufgeweckt, immer auf andere zugehend. Jeder musste sie ins Herz schließen. Der vorherige Lehrer schwärmte mir in höchsten Tönen von ihr (und ihren guten Leistungen) vor, während Coral kaum erwähnt wurde. Man könnte fast sagen, er blickte auf die beiden Mädchen mit einem sehr emotional eingefärb
23 2.2 · Aufmerksamkeit: Die Filterung unserer Wahrnehmungen
ten Blick. Ich muss gestehen, Cindys Auftreten und die Geschichten um sie führten dazu, dass ich das vorgegebene „Bild“ von ihr übernahm. Darum herum bildete sich selbstverständlich auch eine Art Begriffsnetzwerk, im Sinne von Eigenschaf ten, die ich ihr zuschrieb: „liebenswert“, „nett“, „freundlich“, „aufgeschlossen“, aber auch „schlau“, „clever“, „leistungsstark“. Gut, dass meine Herangehensweise im Unterricht sehr strukturiert und fair ist. Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Coral erstrahlte ganz neu, denn sie be arbeitete die meisten Aufgaben fehlerfrei. Von Cindy fiel dagegen ein wenig von ihrem Glanz ab, sobald ich mein Begriffsnetzwerk für Cindy um die Eigenschaften „unkonzentriert“ und „ungenau“ erweiterte. Seit dieser Erfahrung frage ich mich immer wieder mal: Wie gut bildet eigentlich mein mentales Bild von einem Schüler, das sich bei mir über die Zeit eingebürgert hat, wirklich dessen tatsächliche Eigen schaften ab?“
>>Wichtig! Für eine hohe emotionale Kompetenz ist es hilfreich, sich bewusst zu sein, dass es sich bei der Wahrnehmung eines Ereignisses oder einer Person nicht um ein Abbild der äußeren Realität handelt. Stattdessen wird die Umwelt mittels mentaler Land karten auf drei verschiedene Arten innerlich interpretiert. Da jede der drei Abbil dungsebenen der Ursprung einer emotionalen Reaktion sein kann, ist es wichtig, die individuell ausgebildeten Wahrnehmungsgewohnheiten zu kennen. Dazu werden im zweiten Teil des Buches im Kap. 9 zwei hilfreiche Übungen vorgestellt (siehe Teil 2 7 Abschn. 9.1), mittels derer man die eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten im Alltag und im Klassenzimmer kennenlernen kann.
2.2 Aufmerksamkeit: Die Filterung unserer Wahrnehmungen
Wir haben bisher die innerliche Repräsentation eines Objektes oder einer Person ge nauer betrachtet. Doch was macht nun unser Wahrnehmungssystem eigentlich in einer Situation, in der gleichzeitig mehrere Objekte anwesend sind? . Abb. 2.4 ve ranschaulicht eine solche Situation am Beispiel einer Schulklasse.
.. Abb. 2.4 Der Filter der bewussten Wahrnehmung: Die Repräsentation einer Situation auf den verschie denen Ebenen unserer Wahrnehmung. Klassenzim mer: © cookart/ 7 stock. adobe.com
Verbale Begriffe
Mentale Bilder Perzeptuelle Bausteine
„stört“ „Hans“
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Kapitel 2 · Wie wir die Welt wahrnehmen
Wenn man seine Augen über die Schüler der Schulklasse streifen lässt, wird man bemerken, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt immer nur ein bestimmter Ausschnitt der Klasse von uns scharf wahrgenommen wird, während die restliche Klasse verschwommen im Hintergrund bleibt. Was man hier subjektiv erlebt, ist ein Grundprinzip unserer bewussten Wahrnehmung der Welt: Zu einem bestimm ten Zeitpunkt können wir immer nur einen bestimmten Ausschnitt der Situation in Form von bewusst erlebbaren mentalen Bildern wahrnehmen und damit auch mit Hilfe verbaler Begriffe genauer analysieren (Serences und Kastner 2014). Unser Bewusstsein funktioniert dadurch wie eine Art Filter, der nur einen klei nen Teil der Vielzahl von auf uns einströmenden Sinnesreizen zur vertieften Wei terverarbeitung durchlässt. Die Filterung kann dabei sogar so stark sein, dass die nicht fokussierten Objekte nicht nur unscharf, sondern überhaupt nicht bewusst wahrgenommen werden, ein Phänomen, das man als Unaufmerksamkeitsblindheit bezeichnet.
„Gorillas in unserer Mitte“
„So heißt eine der bekanntesten Studien zur Unaufmerksamkeitsblindheit (Simons und Chabris 1999). Sie können das selbst einmal ausprobieren. Dazu müssen Sie nur – bevor Sie weiterlesen – im Internet auf die Website 7 http://www.dansimons.com/ videos.html gehen, und dort das oberste Video („selective attention test“) anklicken und den Instruktionen folgen. Die Aufmerksamkeitsforscher Daniel Simons und Christopher Chabris haben dieses Video 1999 zahlreichen Versuchspersonen gezeigt und festgestellt, dass gerade einmal 42 % der Versuchspersonen den Gorilla entdeck ten, der irgendwann für fünf Sekunden mitten durch die Gruppe der ballspielenden Personen läuft. Auf den ersten Blick mag das als ein belustigendes Phänomen erschei nen. Diese Unaufmerksamkeitsblindheit kann aber weitreichende Konsequenzen ha ben: Beispielsweise beim Autofahren, wenn man einen Fahrradfahrer übersieht, weil der Aufmerksamkeitsfokus gerade auf etwas Anderes gerichtet war. Tatsächlich würde ein ähnliches Video von der Dachorganisation „Transport for London“, die das Ver kehrssystem in London koordiniert, eingesetzt, um für die Sicherheit von Fahrradfah rern zu sensibilisieren. Das Video wurde über verschiedene Internet-Portale verbreitet und binnen kürzester Zeit über 10 Millionen Mal angeklickt. Aber selbst, wenn unsere Aufmerksamkeit auf ein Objekt gefallen ist, muss das nicht heißen, dass wir dieses wirklich wahrnehmen. Das zeigt das Phänomen der Veränderungsblindheit. Eindrücklich ist hier beispielsweise ein Experiment, in dem Pro banden zwei Karten mit jeweils einem weiblichen Gesicht gezeigt wurden, mit der Aufgabe zu wählen, welches denn attraktiver sein. Die ausgewählte Karte wurde da nach ausgehändigt, dabei aber heimlich mit der nicht ausgewählten vertauscht. Die
25 2.2 · Aufmerksamkeit: Die Filterung unserer Wahrnehmungen
Hälfte der Probanden bemerkte das nicht, erfanden aber Erklärungen dafür, warum ihnen das Gesicht auf der ausgehändigten Karte bei der Wahl attraktiver erschienen sei (Johansson et al. 2005). Wer sich hier einmal selbst testen möchte, findet auf You tube ein sehenswertes Video unter dem Stichwort ‚ Whodunnit‘.“
Unser Organismus hat damit ein interessantes Problem zu lösen, das allgemein als „Aufmerksamkeit“ bezeichnet wird: Welcher Ausschnitt soll eigentlich zur be wussten Verarbeitung ausgewählt werden? Wie wir noch sehen werden, spielen dafür unsere Bedürfnisse und Emotionen eine wichtige Rolle. Und wie bei der Vorstellung des Kompetenzkreislaufs eingangs erwähnt, liegt genau hier ein erster zentraler Schlüssel zur emotionalen Kompetenz: Man muss sich die eigenen Aufmerksam keitsgewohnheiten bewusstmachen und es sich zur zweiten Sehgewohnheit machen, auch die Dinge wahrzunehmen, die außerhalb unseres gewohnten Aufmerksamkeits fokus liegen. Die „Allgegenwärtigkeit“ bei der Klassenführung
„Nicht einfach … aber ich könnte mir tatsächlich vorstellen, dass eine solche ‚zweite Sehgewohnheit‘ tatsächlich oft im Schulalltag hilft. Jacob Kounin (Kounin 2006) be nannte sie in seinen Vorschlägen zur effektiven Klassenführung als eines der zentralen Merkmale einer guten Lehrkraft: Allgegenwärtigkeit. Das heißt, zu signalisieren: Ich bin stets über alle Vorgänge im Klassenzimmer informiert und werde gegebenenfalls einschreiten! Kounin selbst hat das mit einem prägnanten Unterrichtsbeispiel veran schaulicht (Kosslyn et al. 2006, S. 93):
»» Der Lehrer arbeitet mit einer Lesegruppe, und Mary liest gerade vor. John und Richard, beide dem Stillarbeitsbereich zugeteilt, unterhalten sich vernehmlich. Der Lehrer schaut zu ihnen und sagt: „Mary, lies weiter, ich höre dir zu“, und fast gleichzeitig „John und Richard, ich höre euch reden. Dreht euch jetzt um und macht eure Arbeit!“
Unsere bewusste Wahrnehmung ist also immer selektiv – in manchen Kontexten, wie beispielsweise in der Schule, kann das unerwünschte Konsequenzen haben. Eine interessante Frage ist nun: Was passiert eigentlich mit den Dingen, die zwar unsere Sinnesorgane verarbeitet haben, aber von uns nicht bewusst wahrgenommen wer den? Wir stoßen hier auf ein Phänomen, das als eine der bahnbrechendsten Entde ckungen der Psychologie gilt: Glaubt man seiner bewussten Wahrnehmung, so scheint es so zu sein, dass wirklich nur der bewusst wahrgenommene Ausschnitt von unserem psychischen System verarbeitet wird. Zahlreiche Studien weisen aber da
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Kapitel 2 · Wie wir die Welt wahrnehmen
rauf hin, dass dem gar nicht so ist. So konnte gezeigt werden, dass Reize wie bei spielsweise das Bild eines freundlichen oder wütenden Gesichts, die so kurz dargebo ten wurden, dass sie nicht bewusst wahrgenommen werden können, die nachherige Bewertung von Objekten entsprechend in die jeweilige Richtung verzerren (Murphy und Zajonc 1993). Ebenso konnte gezeigt werden, dass sehr kurz präsentierte und damit nicht bewusst wahrgenommene Bilder von Schlangen oder Spinnen Furchtre aktionen auslösen konnten (Öhman und Soares 1994). Nicht bewusst wahrgenom mene Objekte oder Personen werden also dennoch auf der Ebene der perzeptuellen Bausteine innerlich repräsentiert. Deshalb können sie auch Emotionen und Verhal ten auslösen. Wie das funktioniert, werden wir uns im folgenden Kapitel noch ge nauer anschauen. >>Wichtig! Wir nehmen in jedem Moment nur einen kleinen Ausschnitt der gegenwärtigen Situ ation wahr. Da aber auch nicht bewusst wahrgenommene Ausschnitte die Quelle ei ner erlebten Emotion sein können oder aber emotionsrelevante Personen oder Ob jekte übersehen werden können, ist es für eine hohe emotionale Kompetenz hilfreich, es sich zur Sehgewohnheit zu machen, auch Dinge wahrzunehmen, die außerhalb des gewohnten Aufmerksamkeitsfokus liegen. Dazu werden wir im zweiten Teil des Bu ches im Kap. 9 hilfreiche Übungen kennenlernen (siehe Teil 2 7 Abschn. 9.2). Um die Wahrnehmungslenkung zu trainieren, werden Sie dort klassische Achtsamkeits übungen, eine Übung zur bewertungsfreien Wahrnehmung und eine Meditations übung finden.
Kapitelzusammenfassung In diesem Kapitel haben wir gesehen, dass wir die Umwelt nicht direkt so wahrneh men, wie sie ist. Stattdessen wird die Umwelt auf drei Ebenen im Gehirn abgebildet und repräsentiert: Auf der ersten Ebene in Form von einzelnen perzeptuellen Baustei nen, auf der zweiten Ebene in Form von bewusst wahrgenommenen mentalen Bildern und auf der dritten Ebene in Form von verbalen Begriffsnetzwerken. Wir verfügen dazu über innere mentale Landkarten, mittels derer die Repräsentationen auf der vor herigen Stufe neu interpretiert werden. Die Konsequenz ist, dass wir bevorzugt das bewusst wahrnehmen, was unsere inneren Landkarten bereits enthalten, selbst wenn auch andere Interpretationen möglich wären. Weiterhin haben wir gesehen, dass nur ein kleiner Ausschnitt der Gesamtsituation bewusst wahrgenommen wird und wir manchmal sogar blind sein können für Dinge, die außerhalb unseres Aufmerksam keitsfokus liegen.
Literatur Goldstone, R. L., Kersten, A., & Carvalho, P. F. (2003). Concepts and categorization. In F. H. Alice, W. P. Robert, & B. W. Irving (Hrsg.), Handbook of psychology, experimental psychology (S. 597– 621). New Jersey: Wiley. Hobson, J. A., Hong, C. C.-H., & Friston, K. J. (2014). Virtual reality and consciousness inference in dreaming. Frontiers in Psychology, 5, 1133.
27 Literatur
Johansson, P., Hall, L., Sikström, S., & Olsson, A. (2005). Failure to detect mismatches between inten tion and outcome in a simple decision task. Science, 310, 116–119. Kosslyn, S. M., Thompson, W. L., & Ganis, G. (2006). The case for mental imagery. New York: Oxford University Press. Kounin, J. S. (2006). Techniken der Klassenführung. Standardwerke aus Psychologie und Pädagogik, Re prints (Bd. 3). Münster: Waxmann. Murphy, S. T., & Zajonc, R. B. (1993). Affect, cognition, and awareness: Affective priming with optimal and suboptimal stimulus exposures. Journal of Personality and Social Psychology, 64, 723–739. Öhman, A., & Soares, J. F. (1994). „Unconscious anxiety“: Phobic responses to masked stimuli. Journal of Abnormal Psychology, 103, 231–240. Riesenhuber, M., & Poggio, T. (1999). Hierarchical models of object recognition in cortex. Nature Neuroscience, 2, 1019–1025. Serences, J. T., & Kastner, S. (2014). A multi-level account of selective attention. In K. Nobre & S. Kast ner (Hrsg.), The Oxford handbook of attention (S. 76–104). Oxford: Oxford University Press. Simons, D. J., & Chabris, C. F. (1999). Gorillas in our midst: Sustained inattentional blindness for dy namic events. Perception, 28, 1059–1074. Zeki, S., & Bartels, A. (1998). The asynchrony of consciousness. Proceedings of the Royal Society of London B, 265, 1583–1585.
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Die drei psychischen Kräfte in uns Inhaltsverzeichnis Literatur – 32
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kuhbandner, I. Schelhorn, Emotionale Kompetenz im Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_3
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Kapitel 3 · Die drei psychischen Kräfte in uns
Worum es in diesem Kapitel geht
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In diesem Kapitel wird ein kurzer Überblick über die drei grundlegenden psychischen Sys teme gegeben, mittels derer unser Organismus aus den Inhalten seiner Wahrnehmungen Verhalten ableitet: Das Bedürfnissystem, das emotionale System und das rationale System. Die drei psychischen Systeme werden mittels einer älteren Theorie zur evolutionären Ge hirnentwicklung – der Theorie des „dreieinigen Gehirns“ – veranschaulicht. In den nach folgenden Kapiteln 7 Kap. 4, 5 und 6 werden diese Systeme genau beleuchtet.
Will man verstehen, warum Menschen ein bestimmtes Erleben oder Verhalten an den Tag legen, so ist die Art und Weise, wie jemand eine Situation wahrnimmt, der Grundbaustein, auf dem alle weiteren Mechanismen in unseren Köpfen aufbauen. Deswegen haben wir uns im vorangegangenen Kapitel mit unseren Wahrnehmungs gewohnheiten beschäftigt. Nun wollen wir uns den eigentlichen Kräften in uns zuwenden, die unser Erleben und Verhalten bestimmen. Diese greifen auf die inner lichen Repräsentationen einer Situation zu und versuchen, unser Verhalten in eine bestimmte Richtung zu bewegen. Wie eingangs bereits erwähnt, sind unsere Emotio nen eine von drei großen Kräften, die unser Erleben und Verhalten bestimmen. Wir wollen zu Beginn die drei Kräfte kurz vorstellen, mit einem Blick auf unsere evolu tionäre Vergangenheit. Vielleicht haben Sie sich schon einmal gefragt, warum unser Gehirn im Ver lauf der Evolution eigentlich so groß geworden ist. Laut einer älteren Theorie von McLean (MacLean 1973) – der Theorie vom „dreieinigen Gehirn“ – ist un ser Gehirn nicht kontinuierlich gewachsen. Stattdessen hat sich unser Gehirn mehrmals sprunghaft weiterentwickelt. Mit jedem Sprung entstand dabei – me taphorisch gesprochen – ein neues „Gehirn“, das auf eine völlig neue Art und Weise versucht, unser Verhalten zu beeinflussen. Ein wichtiger Punkt ist, dass die älteren Kräfte dabei aber nicht verloren gingen. Metaphorisch ausgedrückt ha ben wir Menschen also verschiedene „Gehirne“ in uns, von denen jedes versucht, unser Verhalten auf seine besondere Art und Weise zu beeinflussen. In der . Abb. 3.1 sind die nach MacLean im Laufe der Evolution entstandenen drei „Gehirne“ mit dem jeweils zugehörigen Mechanismus der Verhaltenssteuerung dargestellt. Wie . Abb. 3.1 illustriert, gibt es also drei Verhaltenssteuerungssysteme in uns: 55 Ein Bedürfnissystem, das unser Verhalten über das Auslösen von Verhal tensimpulsen steuert, welche die Erfüllung von evolutionär geprägten Bedürfnissen versprechen.
.. Abb. 3.1 Die im Laufe der evolutionären Entwicklung herausgebildeten drei „Gehirne“ des Men schen nach MacLean ([1]) und die jeweiligen Prinzipien der Verhaltenssteuerung
31 Die drei psychischen Kräfte in uns
55 Ein Emotionales System, das unser Verhalten über das Auslösen von Emotionen steuert, welche im Laufe der individuellen Lebensgeschichte mit ähnlichen Situationen verknüpft wurden. 55 Ein Rationales System, das unser Verhalten dadurch steuert, dass Verhaltensweisen danach beurteilt werden, inwiefern damit in der Situation rational erwünschte zukünftige Zielzustände erreicht werden. Dass jedes der drei Verhaltenssteuerungssysteme auf eine eigenständige Art und Weise versucht, unser Verhalten zu beeinflussen, führt zu einer interessanten Konse quenz: Die drei Systeme müssen nicht immer gut zusammenarbeiten, sondern ein bestimmtes System kann im Moment oder auch generell im Vordergrund stehen, und die drei Systeme können auch in Konflikt miteinander stehen. Erschwerend kommt hinzu, dass uns die Einflusskräfte insbesondere unserer älteren Steuerungssysteme nicht notwendigerweise bewusst sind. Will man also besser verstehen, warum man in einer bestimmten Situation ein bestimmtes Verhalten zeigt, kann es sinnvoll sein, die Situation aus den Perspektiven der jeweiligen Systeme zu betrachten.
Die drei „Gehirne“ in der Schule
„Ich habe den Eindruck, dass man das Wirken der verschiedenen Gehirne vor allem im Schulalltag immer wieder gut beobachten kann. Bei mir ist hier beispielsweise eine der eingangs von der Grundschullehrerin geschilderten Situationen hängengeblieben: Die Situation, dass alle Schüler unbedingt die verdreckte Toilette sehen wollen. Auf den ersten Blick wirkt das doch etwas seltsam, oder? Aber vielleicht stecken da ja irgend welche alten evolutionären Bedürfnisse dahinter. Was ich selbst immer wieder erlebe, ist, dass Schüler aufgrund von Vorfreude oder Aufregung nicht stillsitzen können. Oder dass sie sich nicht konzentrieren können, wenn sie wütend sind. Hier scheint das emotionale System seine Finger im Spiel zu haben. Andere wiederum scheinen von ihren Emotionen gar nichts mitzubekommen, obwohl sie in meinen Augen in Wirklich keit sehr emotional reagieren, so dass sie rational wenig Einsicht zeigen. “
In den folgenden Kapiteln wollen wir nun die drei Systeme der Verhaltenssteuerung genauer kennenlernen. Bevor wir uns auf den Weg machen, ist aber noch ein Punkt wichtig: Jedes der Verhaltenssteuerungssysteme wird im Laufe des Lebens einer Per son individuell angelegt, in Abhängigkeit von den jeweiligen Umwelterfahrungen. Wenn wir also uns selbst oder andere Personen besser verstehen wollen, dürfen wir nicht von uns auf andere oder von einer Person auf eine andere Person schließen. Stattdessen müssen wir bei jeder Person jedes Verhaltenssteuerungssystem immer in dividuell erkunden und versuchen zu verstehen. Erschwerend kommt hinzu, dass, wie bereits angeklungen, insbesondere die älteren Steuerungsmechanismen uns nicht notwendigerweise bewusst sind oder unser rationaler Verstand sogar irrige Meinun gen über die Vorgänge im Bedürfnissystem oder im emotionalen System hat. Die drei
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Kapitel 3 · Die drei psychischen Kräfte in uns
psychischen Kräfte in sich zu erkunden, ist also nicht einfach, sondern erfordert viel Zeit und manchmal auch etwas Mut. >>Wichtig!
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Wichtig zu wissen ist also, dass sowohl Emotionen, als auch Bedürfnisse und der rationale Verstand das Verhalten steuern.
Kapitelzusammenfassung In diesem Kapitel wurde ein einführender Überblick über die drei grundlegenden psy chischen Systeme gegeben, mittels derer unser Organismus sein Verhalten steuert. Das Bedürfnissystem steuert uns über das Auslösen von Verhaltensimpulsen zur Erfüllung evolutionär geprägter Bedürfnisse, das emotionale System über das Auslösen von er worbenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten und das rationale System über die ra tionale Beurteilung der Situation hinsichtlich erwünschter zukünftiger Zielzustände. Alle drei Systeme funktionieren jeweils auf eine eigene Art und Weise und müssen demnach nicht notwendigerweise gut zusammenarbeiten.
Literatur MacLean, P. D. (1973). A triune concept of the brain and behaviour. Toronto: University of Toronto Press.
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Das Bedürfnissystem Inhaltsverzeichnis 4.1
Die bedürfnisbezogenen Soll-Werte – 35
4.2
Die Bedürfnislandkarte – 37
4.3
Das optimale Bedürfnissystem – 39
4.4
Bedürfnisbezogene Kompetenzen – 40 Literatur – 43
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kuhbandner, I. Schelhorn, Emotionale Kompetenz im Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_4
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Kapitel 4 · Das Bedürfnissystem
Worum es in diesem Kapitel geht
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Eine wichtige Grundlage, auf der unsere Emotionen entstehen, sind die im Bedürfnissystem verankerten Bedürfnisse. Deswegen ist es für eine hohe emotionale Kompetenz wichtig, die Funktionsweise des Bedürfnissystems zu kennen. In diesem Kapitel wird hilfreiches Wissen hierfür vermittelt. Im Rahmen der evolutionären Entwicklung des Menschen wurden verschiedene Bedürfnisse in Form von zu erreichenden Soll-Werten angelegt, die unser Verhalten oft unbewusst prägen, und deren Erfüllung bzw. Nichterfüllung unser emotionales Erleben beeinflusst. Zunächst wird die Funktionsweise des Bedürfnissystems erklärt und die verschiedenen in uns Menschen vorhandenen Bedürfnisse vorgestellt. Anschließend wird thematisiert, was ein optimales Bedürfnissystem ausmachen könnte. Den Abschluss bilden hilfreiche Strategien zum Umgang mit Bedürfnissen.
Im Bedürfnissystem ist die älteste und oft am schwersten kontrollierbare Verhaltenssteuerung angesiedelt. Das dort verankerte allgemeine Ziel besteht darin, Verhaltensweisen zu aktivieren, die der Erfüllung von evolutionär angelegten Bedürfnissen dienen. Um die Funktionsweise des Bedürfnissystems zu verstehen, wollen wir uns zunächst ein Alltagsbeispiel anschauen, das Sie vielleicht selbst schon des Öfteren erlebt haben: Auf dem Tisch vor Ihnen steht ein Teller mit Keksen, und Sie ertappen sich ab und an dabei, wie Sie sich nebenbei einen Keks in den Mund schieben. Die interessante Frage dabei: Warum um alles in der Welt machen wir das eigentlich? Typischerweise empfindet man dabei keine großen angenehmen Gefühle, das Erreichen angenehmer Emotionen kann also nicht der Grund sein. Meist hat man sich eigentlich sogar vorgenommen, weniger Süßes zu essen, sodass unsere rationalen Ziele also auch nicht der Grund sein können. Diese Absurdität unseres menschlichen Verhaltens wird auch auf gesellschaftlicher Ebene sichtbar: Eigentlich sollte der Anteil zuckerhaltiger Lebensmittel in unserer Ernährung laut Ernährungsempfehlungen nur einige wenige Prozent betragen (z. B. WHO 2000). Trotzdem sind ganze Regalreihen von Supermärkten mit Süßigkeiten gefüllt, und in über 98 % der nahrungsmittelbezogenen Fernsehwerbespots für Kinder wird für ungesunde Produkte wie Süßigkeiten oder andere zuckerhaltige Produkte geworben (Effertz und Wilcke 2012). Der Grund für diesen seltsamen Umgang mit Zucker ist, dass im Rahmen unserer evolutionären Vergangenheit in unserem Bedürfnissystem eine Reihe von Soll- Zuständen etabliert wurden, die unser Organismus nach wie vor ständig anzustreben versucht. Im Beispiel der Süßigkeiten wäre also ein hoher Blutzuckerspiegel als ein zu erreichender Soll-Wert evolutionär angelegt. Diese evolutionäre Prägung ergab früher tatsächlich auch Sinn: Die Verfügbarkeit von kalorienreicher Nahrung wie Zucker war ein seltenes Ereignis, und ein hoher Blutzucker-Soll-Wert stellte damit sicher, dass jede verfügbare Zuckerquelle möglichst gut ausgeschöpft wurde, um Mangelzeiten vorzubeugen (Sclafani 2013). Heutzutage ist ein solcher Soll-Wert meist unnötig, da in vielen Gesellschaften Zucker überall im Überfluss verfügbar ist. Stattdessen nehmen viele Menschen zu viel Zucker zu sich, verbunden mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen. Da aber die Anpassung evolutionär bedingter Mechanismen an neue Umwelten bei so langen Fortpflanzungszyklen wie bei uns Menschen mehrere tausend Jahre dauern kann, strebt unser Bedürfnissystem nach wie vor diesen nicht mehr funktionalen Blutzucker-Soll-Wert an. Es kann also sein, dass die im Bedürfnissystem evolutionär angelegten Soll-Werte heutzutage nicht mehr funktional sind. Unser Bedürfnissystem strebt also als Ziel die Erfüllung evolutionär angelegter Soll-Werte an. Wie funktioniert aber nun genau der Weg der Aktivierung des dazu dienlichen Verhaltens? Hier ist es so, dass es für jeden Soll-Wert einen entsprechenden
35 4.1 · Die bedürfnisbezogenen Soll-Werte
Messfühler gibt, der fortlaufend signalisiert, wie weit unser Ist-Zustand vom zu erreichenden Soll-Zustand entfernt ist. Bemerken diese Messfühler eine Abweichung, wird die Umwelt ständig danach abgesucht, ob ein bestimmtes Verhalten eine Annäherung an den Soll-Wert herbeiführen kann. Wird ein solches Verhalten identifiziert, wird automatisch ein Impuls ausgelöst, dieses Verhalten zu zeigen. Wenn man sich selbst in der Situation mit dem Keksteller genau beobachtet, wird man bemerken, wie die eigene Hand immer wieder versucht, nach einem Keks zu greifen. Hat man aber nach einiger Zeit mehrere Kekse gegessen, so wird man diesen Impuls seltener beobachten, denn dann hat sich unser Ist-Blutzuckerspiegel dem Soll-Blutzuckerspiegel angenähert, so dass kaum noch Verhaltensimpulse ausgelöst werden. 4.1 Die bedürfnisbezogenen Soll-Werte
Beim Blutzucker-Soll-Wert handelt es sich um einen sehr spezifischen Soll-Wert, der unser Verhalten nur in einer sehr spezifischen Situation erklärt. Um den Einfluss des Bedürfnissystems auf unser Verhalten allgemeiner zu verstehen, wollen wir uns folgende Frage stellen: Welche Soll-Werte sind über den Blutzuckerspiegel hinaus bei uns Menschen im Bedürfnissystem verankert? Bevor wir die Welt unserer bedürfnisbezogenen Soll-Werte genauer erkunden, gilt es sich noch einen wichtigen Punkt klarzumachen: Manche Soll-Werte sind für das Überleben wichtiger als andere. Als Konsequenz daraus werden die für das Überleben weniger wichtigen Soll-Werte erst dann angestrebt, wenn die für das Überleben wichtigeren Soll-Werte in ausreichendem Maße erfüllt sind. Als Hilfe für ein besseres Verständnis unserer Welt der Bedürfnisse kann man dementsprechend die in uns verankerten Soll-Werte in Form von aufeinander aufbauenden Stufen darstellen, bei der die höherstufigen Soll-Werte erst dann angestrebt werden, wenn diejenigen auf den vorherigen Stufen ausreichend erfüllt sind (Maslow 1942, für eine Illustration siehe folgender Kasten). Eine Hierarchie der in uns angelegten Bedürfnisse 55 55 55 55 55 55
Selbstentfaltung Selbstwert Exploration Soziale Beziehungen Sicherheit und Wirksamkeit Physiologische Bedürfnisse
Um uns die verschiedenen Bedürfnisse genauer vorzustellen, wollen wir eine Entwicklungsperspektive einnehmen. Bei der Entwicklung eines Kindes werden die Stufen üblicherweise von unten nach oben durchschritten, weil das Kind sicherstellen muss, dass die für das Überleben wichtigeren Bedürfnisse zuverlässig in ausreichendem Maße erfüllbar sind, bevor es sich um die Erfüllung weiterer Bedürfnisse kümmern kann. So steht für einen Säugling zunächst die Frage im Vordergrund, ob die für das Überleben wichtigen physiologischen Bedürfnisse (Soll-Werte in Bezug auf Ernährung und körperliche Gesundheit) von der Umwelt erfüllt werden. Ist das der Fall, treten sicherheitsbezogene Bedürfnisse in den Vordergrund, bei denen Zustände angestrebt werden, in denen keine Gefahren für Leib und Leben drohen. Dies betrifft auf der Seite der Umwelt
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Kapitel 4 · Das Bedürfnissystem
das Streben nach sicheren und gut einschätzbaren Umwelten (Sicherheit) und auf der Seite der Person das Streben danach, sich als jemand zu erleben, der die Umwelt in Richtung der eigenen Bedürfnisse und Ziele beeinflussen kann (Wirksamkeit). Sind die Soll-Werte nach Sicherheit und Wirksamkeit ausreichend erfüllt, treten soziale Bedürfnisse in den Vordergrund. Zentrale Soll-Werte sind hier die Herstellung zwischenmenschlicher Beziehungen und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe (sozialer Anschluss). Entwicklungspsychologisch relevant ist hier vor allem das Erleben einer „sicheren Bindung“ in Bezug auf Personen, die sich um das Kind kümmern. „Sicher“ bedeutet hier, dass die Bindungsperson verfügbar ist, wenn das Kind sie braucht, und hilfreich auf die vom Kind signalisierten Bedürfnisse reagiert. Dieser bindungsbezogene Soll-Wert wird nur dann erreicht, wenn auf den vorherigen Stufen die Bindungsperson die physiologischen und sicherheitsbezogenen Bedürfnisse des Kindes erfüllt und die vom Kind zur Umweltsteuerung ausgesendeten Signale wahrnimmt, richtig interpretiert und angemessen und prompt darauf reagiert, sodass beim Kind dem Bedürfnis nach dem Erleben von Wirksamkeit ausreichend entsprochen wird. Ist der Soll-Wert einer sicheren Bindung ausreichend erfüllt, wird ein weiterer SollWert bedeutsam: Das Bedürfnis nach Erkundung der Umwelt und anderer Personen, um neue Dinge zu entdecken. Die Erfüllung dieses Explorationsbedürfnisses ist wiederum Voraussetzung dafür, dass eine Person ihre individuelle Persönlichkeit in der sie umgebenden Welt entfalten kann, was den zentralen Soll-Wert auf der höchsten Stufe darstellt: Das Selbstentfaltungsbedürfnis. Auf dem Weg dahin und auch darüber hinaus spielt ein weiterer Soll-Wert eine wichtige Rolle, dessen Nicht-Erfüllung oder falsche Erfüllung ein Hindernis für die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit darstellen kann: das Selbstwertbedürfnis mit dem Soll-Wert, sich selbst als positiv bewertet zu erleben. Speziellere Bedürfnismodelle
„Die beschriebene Bedürfnishierarchie ist an das Bedürfnismodell des Psychologen Abraham Maslow angelehnt, der im Jahre 1943 eine der ersten Motivationstheorien entwickelte. Er selbst betonte bereits, dass die Bedürfnishierachie nicht zu statisch interpretiert werden darf. So können durchaus verschiedene Bedürfnisse auch gleichzeitig angestrebt werden, und ein Bedürfnis muss nicht zu 100 % erfüllt sein, bevor ein neues entsteht. Bis heute sind sich Forscher wenig darüber einig, wie man die psychologischen Bedürfnisse (ab Stufe 2) inhaltlich genau fassen soll. Eine der bekanntesten Theorien zur Existenz psychologischer Bedürfnisse – die Selbstbestimmungstheorie von Ryan und Deci (2000) – geht beispielsweise davon aus, dass für die optimale Entfaltung eines Kindes zwingend drei Grundbedürfnisse gleichzeitig ausreichend erfüllt sein müssen, wofür Lehrkräfte, Erzieher oder Eltern dementsprechend Sorge zu tragen haben: Ein Kind muss nach eigenen inneren Maßstäben die Umwelt erkunden können („Autonomie“ auf der Stufe des Explorationsbedürfnisses), es muss sich dabei als kompetent erleben, die dort selbstgewählten Ziele auch zu erreichen („Kompetenz“ auf der Stufe des Bedürfnisses nach Sicherheit und Wirksamkeit) und die selbstgewählten Ziele müssen
37 4.2 · Die Bedürfnislandkarte
auch von anderen Menschen w ertgeschätzt werden („Soziale Eingebundenheit“ auf der Stufe des Bedürfnisses nach sozialen Beziehungen). Weiterhin wurden speziellere Bedürfnismodelle für konkretere Kontexte entwickelt, wie beispielsweise den Bereich der sozialen Beziehungen. Die zentrale Kraft ist hier zwar das Bedürfnis, den Soll-Wert nach sozialem Anschluss zu erfüllen. Das heißt aber nicht, dass Menschen in sozialen Beziehungen nur dieses Bedürfnis verfolgen. Vielmehr ist es so, dass Bedürfnisse auf allen Stufen bei einer sozialen Interaktion mit anderen Menschen von Personen verfolgt werden können. In sozialen Situationen ist somit das Bedürfnis nach sozialem Anschluss nur eines von mehreren Soll-Werten, die jemand anstreben kann. Vom Bochumer Psychologieprofessor Rainer Sachse (2003) wurde hier ein spezielles Bedürfnismodell für soziale Beziehungen entwickelt, das sechs Bedürfnisse herausarbeitet: 55 Stufe des Selbstwertbedürfnisses: Anerkennung erleben (vom Interaktionspartner geschätzt und respektiert werden), Wichtigkeit erleben (im Leben eines Interaktionspartners eine Rolle zu spielen). 55 Stufe des Bedürfnisses nach sozialen Beziehungen: Verlässlichkeit erleben (Beziehung zum Interaktionspartner ist verlässlich und wird nicht durch Krisen in Frage gestellt), Solidarität erleben (vom Interaktionspartner Schutz und Unterstützung bekommen, wenn gebraucht). 55 Stufe der Bedürfnisse nach Sicherheit und Wirksamkeit: Autonomie erleben (das eigene Leben selbst bestimmen, unabhängig vom Interaktionspartner), Einhalten von Grenzen erleben (Interaktionspartner darf bestimmte Dinge bei mir nicht beeinflussen).“
►►Selbstversuch
Blicken Sie auf den bisherigen Tag zurück und überlegen Sie: Gibt es vielleicht eine Situation, in der Sie sich über Ihr Verhalten im Nachhinein etwas gewundert haben? Oder wo Sie sich nicht über „richtig“ oder „falsch“ im Klaren waren? Betrachten Sie sich anschließend durch die Brille der beschriebenen Bedürfnisse: Könnte vielleicht eines davon die treibende Kraft gewesen sein? ◄
>>Wichtig! Da die Erfüllung bzw. Nichterfüllung von Bedürfnissen unsere Emotionen beeinflusst, ist die Sicherstellung, wichtige eigene Bedürfnisse zu befriedigen, eine wichtige Komponente des emotionalen Wohlergehens. Übungen zur Verdeutlichung und Auseinandersetzung mit den eigenen Bedürfnissen werden im zweiten Teil des Buches behandelt (siehe Teil 2 7 Kap. 10).
4.2 Die Bedürfnislandkarte
Eine wichtige Frage ist aber bisher noch offengeblieben: Woher weiß das Bedürfnissystem überhaupt, in welcher Situation welches Verhalten der Erfüllung evolutionärer Soll-Werte dienlich ist? Wir stoßen hier auf das zweite Herzstück des Bedürfnissystems: Eine dort angelegte Datenbank, die Angaben darüber enthält, welches Verhalten bisher in welchen Situationen erfolgreich war und die in uns angelegten
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Kapitel 4 · Das Bedürfnissystem
Soll-Werte erfüllt hat. Wir wollen diese Datenbank metaphorisch als unsere „Bedürfnislandkarte“ bezeichnen. Befüllt wird diese Landkarte durch Lernerfahrungen im Verlauf des Lebens. Haben wir gelernt, dass ein Verhalten in einer Situation uns einem Soll-Wert näherbringt, wird dieses Verhalten mit den im Gehirn repräsentierten perzeptuellen Bausteinen der Situation verknüpft. Trifft man später erneut auf die in der Situation vorhandenen perzeptuellen Bausteine, wird automatisch das verknüpfte Verhalten erneut ausgelöst. Was dabei entsteht, sind Verhaltensgewohnheiten. . Abb. 4.1 illustriert diesen Prozess in Form einer Gewohnheitsschleife.
►►Reflexion
Wie einfach ist es für Sie, im Alltag entstandene Verhaltensgewohnheiten zu durchschauen und zu ändern? ◄
Möglicherweise haben Sie diese Frage mit „Gar nicht so einfach!“ beantwortet. Aber warum sind Verhaltensgewohnheiten eigentlich oft schwer zu durchschauen und noch schwerer zu ändern? Der erste Grund ist, dass die Bedürfnislandkarte auf der Ebene der Repräsentation der äußeren Welt in Form von „objektlosen“ perzeptuellen Bausteinen angesiedelt ist und damit unterhalb der Ebene unserer bewussten Wahrnehmung – und damit auch der Ebene von Objekten – funktioniert. Es ist also zum einen relativ schwierig, die konkreten Schlüsselreize zu identifizieren, die das Verhalten auslösen. Zum anderen ist es oft auch nicht leicht zu erkennen, welches spezifische Bedürfnis eigentlich die treibende Kraft hinter der Verknüpfung zwischen bestimmten perzeptuellen Bausteinen und einem Verhalten war. Der zweite Grund ist die Geschwindigkeit, denn in der Bedürfnislandkarte werden die perzeptuellen Bausteine direkt mit dem Verhalten verknüpft. Daher wird automatisch und sofort ein entsprechender Verhaltensimpuls ausgelöst, sobald die aus der Umwelt einströmenden sensorischen Signale zu den in der Landkarte gespeicherten perzeptuellen Bausteinen passen. Demgegenüber dauert es weitaus länger, bis wir eine Situation bewusst wahrgenommen und mit Hilfe unseres rationalen Systems analysiert haben. Verhaltensimpulse können also ausgelöst werden, bevor uns die Ursachen bewusst sind (für einen Überblick siehe Wood 2017).
.. Abb. 4.1 Die Gewohnheitsschleife: Die Entstehung von Verknüpfungen zwischen perzeptuellen Bausteinen mit Verhalten im Falle einer Bedürfnisbefriedigung
39 4.3 · Das optimale Bedürfnissystem
>>Wichtig! Eine hohe emotionale Kompetenz zeichnet sich also durch gute Kenntnis der eigenen Verhaltensgewohnheiten aus. Dafür ist zum einen das Wissen wichtig, welche Schlüsselreize in der eigenen Bedürfnislandkarte mit welchen Verhaltensimpulsen verknüpft sind. Zum anderen ist es hilfreich, das dahinterliegende Bedürfnis zu kennen. Übungen hierzu werden im zweiten Teil des Buches (siehe Teil 2 7 Abschn. 10.1), darunter eine auf den Kontext Klassenzimmer zugeschnittene Reflexionsübung, eine Diskussionsrunde und eine Reflexionsübung zu Bedürfnissen im sozialen Kontext.
4.3 Das optimale Bedürfnissystem
Vielleicht haben Sie sich schon die Frage gestellt, wie denn nun ein optimales Bedürfnissystem aussehen könnte. Um diese Frage zu beantworten, wollen wir uns zunächst einen wichtigen Punkt klarmachen: Nach dem Erreichen einer höheren Bedürfnisstufe bleiben die Bedürfnisse auf den niedrigeren Stufen weiterhin relevant. Wir können uns das Bedürfnissystem also in etwa so vorstellen wie einen Raum, in dem viele Stimmen gleichzeitig singen und jede davon am lautesten klingen möchte. Damit können wir die Frage nach dem optimalen Bedürfnissystem etwas genauer stellen: Wie könnte ein optimales und harmonisches Zusammenspiel aller dieser Stimmen – unserer Bedürfnisse – aussehen? Um darauf eine Antwort zu finden, wollen wir die Frage andersherum stellen: Wo liegen eigentlich überhaupt die Probleme auf der Ebene des Bedürfnissystems? Die erste Antwort haben wir schon am Eingangsbeispiel zum Thema „Süßigkeiten“ beleuchtet: Manche der in uns von der Evolution angelegten Soll-Werte sind einfach nicht mehr funktional in der heutigen Welt. Wir müssen also lernen, bestimmte Soll-Werte zu kontrollieren. Die zweite Antwort ist etwas komplizierter: Ein in einer Situation vom Bedürfnissystem angestrebter Soll-Wert kann Nachteile für weitere Bedürfnisse mit sich bringen, die in der Situation gerade weniger stark aktiviert sind. Wirklich problematisch wird das dann, wenn ein solcher Soll-Wert chronisch überaktiviert ist. Wir wollen uns das an einem Beispiel ansehen, das Lehrkräfte vermutlich öfter erleben: Der Anstrengungsverweigerung. Darunter wird das Phänomen verstanden, dass ein Kind eine zumutbare Anstrengung – also beispielsweise das Aufräumen oder eine zu erledigende einfache Aufgabe – unglaublich hartnäckig verweigert. Die Verweigerung kostet das Kind dabei weitaus mehr Kraft, als wenn es einfach der geforderten Handlung nachkommen würde. ►►Jetzt häng‘ bitte Deine Jacke auf!
Von der Ärztin und Erzieherin Barbara Bonus, die Familien mit problematischen Adoptivund Pflegekindern begleitet, wird zur Illustration häufig dieses Beispiel benutzt (Bonus 2008): Man bittet ein Kind, seine Jacke aufzuhängen. Anstatt die geforderte und praktisch äußerst unaufwendige Handlung auszuführen – das Kind müsste nur eine kleine Handbewegung machen – verweigert es sich unglaublich hartnäckig dieser Aufforderung. Die Eltern fangen an lauter zu werden, beginnen zu schimpfen und drohen schließlich vielleicht sogar Strafen an, aber das Kind verweigert sich nur umso mehr. ◄
Barbara Bonus erlebt solche Beispiele in ihrer Arbeit immer wieder, und die von ihr betreuten Adoptiveltern sind oft völlig verzweifelt und kurz davor, das Kind wieder wegzugeben. Das Kind geht also soweit, dass es sogar die Nichterfüllung so grundle-
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Kapitel 4 · Das Bedürfnissystem
gender Bedürfnisse wie eine sichere Bindung in Kauf nimmt. Auf den ersten Blick ist das Verhalten des Kindes deswegen schwer zu verstehen. Betrachtet man die Situation aber aus der Perspektive des Kindes und setzt sich die Brille dessen Bedürfnissystems auf, so wird dieses Verhalten plötzlich verständlicher. Die von Barbara Bonus begleiteten Kinder haben häufig traumatisierende Erfahrungen erlebt, in denen sie einen extremen Kontrollverlust hinnehmen mussten. Als Folge hat sich ein chronisch überaktiviertes Bedürfnis nach Kontrollerleben entwickelt. Das Kind versucht sich also ständig als jemand zu erleben, der die Umwelt in Richtung der eigenen Bedürfnisse und Ziele beeinflussen kann, denn solange man die Umwelt kontrolliert, wird so etwas Schlimmes nicht mehr passieren. Durch die Verweigerung, die Jacke aufzuhängen, erlebt das Kind nun Kontrolle. Zum einen behält es so die Kontrolle über das eigene Handeln, denn es macht nicht das, was jemand anderes von ihm fordert. Zum anderen erlebt es Kontrolle über das Handeln der anderen, denn wenn Schimpfen oder gar Strafe eintreten, macht das Gegenüber genau das, was das Kind erwartet hat. Dass durch das Verweigern andere Bedürfnisse wie das nach einer sicheren Bindung leiden, wird als unwichtig erlebt, da die eintretenden Verhaltenskonsequenzen nur aus der Perspektive des überaktivierten Kontrollbedürfnisses beurteilt werden. Ein chronisch überaktiviertes Bedürfnis kann sich aber nicht nur durch traumatische Erfahrungen herausbilden. Wie wir gesehen haben, wird die Hierarchie der Bedürfnisse bei der Entwicklung eines Kindes von unten nach oben durchlaufen, und die nächsthöhere Stufe wird nur erreicht, wenn die vorherige Stufe als ausreichend erfüllbar erlebt wird. Wächst ein Kind nun in einer Entwicklungsumgebung auf, in der ein bestimmter Soll-Wert auf einer Stufe vom Kind nicht ausreichend erfüllt wird, kann das entsprechende Bedürfnis ebenso chronisch überaktiviert werden (z. B. Kasser und Ryan 1996). Erlebt sich beispielsweise ein Kind während des Heranwachsens nicht als wirksam gegenüber seiner Umwelt, kann sich dadurch ebenfalls ein chronisch überaktiviertes Bedürfnis nach Kontrolle entwickeln. Ähnlich ist es, wenn auf der nächsten Stufe der sozialen Bedürfnisse das Bedürfnis nach einer sicheren Bindung während des Heranwachsens nicht ausreichend erfüllt wird. Eine solche Person wird dann möglicherweise ein chronisch überaktiviertes Bedürfnis nach sozialem Anschluss entwickeln. Entwicklungspsychologisch betrachtet lässt sich daraus die Persönlichkeitsreife einer Person bestimmen, die daran ablesbar ist, welche Bedürfnisstufe Laufe des Heranwachsens erreicht wird. Damit können wir das optimale Bedürfnissystem folgendermaßen beschreiben: Zum einen wurde die höchste Bedürfnisstufe im Laufe der Entwicklung erreicht, zum anderen hat sich dabei eine Bedürfnislandkarte herausgebildet, mittels derer eine Person alle Bedürfnisse ausgewogen erfüllen kann (siehe . Abb. 4.2 für eine Illustration).
4.4 Bedürfnisbezogene Kompetenzen
Abschließend wollen wir uns noch die Frage stellen, was man tun kann, um eine Bedürfnislandkarte zu entwickeln, mittels derer alle im Bedürfnissystem angelegten Bedürfnisse ausgewogen erfüllt werden. Zwei Schritte erachten wir auf dem Weg dorthin als notwendig: Der erste Schritt besteht darin, die bisher ausgebildete Bedürfnislandkarte überhaupt erst kennenzulernen, der zweite Schritt darin, die Bedürfnislandkarte gegebenenfalls zu verändern.
41 4.4 · Bedürfnisbezogene Kompetenzen
.. Abb. 4.2 Das optimale Bedürfnissystem: Von chronisch überaktivierten Bedürfnissen zur reifen Persönlichkeit
Wir wollen uns zuerst die für den ersten Schritt nötigen Kompetenzen genauer anschauen. Wie bereits beschrieben, operiert unsere Bedürfnislandkarte unterhalb unseres Bewusstseins, sodass sowohl der eigentliche Schlüsselreiz für die Auslösung eines bedürfnisbezogenen Verhaltens als auch das dahinterstehende spezifische Bedürfnis nur schwer zu erkennen sind. Ein hilfreiches Werkzeug ist hier die in . Abb. 4.1 dargestellte Gewohnheitsschleife. Um die bedürfnisbezogene Steuerung hinter einem bestimmten Verhalten zu verstehen, müssen wir die vier Kästchen mit konkreten Inhalten füllen. Wir wollen das anhand eines Beispiels von Charles Duhigg, dem Autor des lesenswerten Buches „Die Macht der Gewohnheiten: Warum wir tun, was wir tun.“, illustrieren: Der schlechten Gewohnheit, jeden Nachmittag in die Cafeteria zu gehen und sich einen Muffin zu kaufen (Duhigg 2014). Das Kästchen „Verhalten“ ist einfach zu füllen, denn das ist ja genau das, was wir besser verstehen wollen: In die Cafeteria gehen und einen Muffin kaufen. Schwieriger wird es schon beim Ergebnis. Zunächst mag es einfach erscheinen: Wir essen einen Muffin. Ein genauerer Blick offenbart aber, dass das Verhalten noch eine ganze Reihe weiterer Ergebnisse mit sich bringt: Man verlässt seinen langweiligen Arbeitsplatz, man lenkt sich von seiner aktuellen Tätigkeit ab und man trifft vielleicht Kollegen. Hier gilt es, alle Konsequenzen eines Verhaltens möglichst detailliert aufzuschreiben, auch wenn eine Konsequenz auf den ersten Blick als unwichtig erscheint. Noch schwieriger ist es dann, auf das zugrundeliegende Bedürfnis zu schließen: Steckt hinter meinem Gang in die Cafeteria das Bedürfnis nach einem erhöhten Blutzuckerspiegel? Oder nach Exploration? Oder vielleicht nach sozialem Anschluss? Um hier die wahre treibende Kraft herauszufinden, muss man die Situation durch die Brille der verschiedenen Bedürfnisse betrachten und die einzelnen Stufen danach durchgehen, welche der Bedürfnisse durch eines der aufgezeichneten Ergebnisse bei einem angesprochen werden könnten. Falls man sich nicht sicher ist, welches der möglichen Bedürfnisse wirklich dahintersteckt, kann man anfangen, tageweise zu experimentieren und die verschiedenen Ergebnisse des Verhaltens isoliert hervorzurufen. So kann man sich zum Beispiel am Tag 1 einen Muffin schon am Morgen mitnehmen und am Nachmittag dann essen. Am Tag 2 geht man dann in die Cafeteria und kauft anstatt eines Muffins etwas nicht Süßes. Am Tag 3 schließlich geht man anstatt in die Cafeteria ins Büro nebenan und redet
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Kapitel 4 · Das Bedürfnissystem
10 Minuten mit dem Kollegen dort. Hat man die jeweilige Tätigkeit beendet, stellt man eine Alarmzeit auf 15 Minuten ein und arbeitet weiter. Wenn der Alarm klingelt, horcht man in sich hinein, ob man noch immer den Verhaltensdrang verspürt, den Arbeitsplatz zu verlassen. Wenn nicht, dann steckt vermutlich das getestete Bedürfnis hinter dem Verhalten – wenn doch, dann ist ein anderes Bedürfnis die treibende Kraft. Hat man das dahintersteckende Bedürfnis entdeckt, muss man sich als nächstes auf die Suche danach begeben, welcher konkrete Schlüsselreiz in der Situation eigentlich das unerwünschte Verhalten auslöst. Da die ganze Situation reichhaltig in Form von perzeptuellen Bausteinen im Gehirn repräsentiert wird, unser Bewusstsein aber nur einen Ausschnitt jeweils in Form von Objekten wahrnimmt, ist das nicht leicht zu erkennen. Hilfreich ist hier, die Situation mittels der folgenden fünf Kategorien zu durchforsten: So kann der Schlüsselreiz ein in der Situation anwesendes Objekt oder eine anwesende Person sein. Es kann aber auch ein bestimmtes Verhalten von mir in der Situation oder mein innerer Zustand sein, der das Verhalten auslöst; oder aber etwas eigentlich Situationsunabhängiges wie eine bestimmte Uhrzeit. Will man den Schlüsselreiz herausfinden, so kann man mehrere Tage hintereinander immer dann, wenn einem der Verhaltensimpuls, in die Cafeteria zu gehen, bewusstwird, kurz notieren, was bei den genannten fünf Kategorien aktuell der Fall ist. Der Aspekt, der immer wieder auftaucht, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit der tatsächliche Auslöser sein. Objekte, Personen, Verhalten, innerer Zustand
„Also, um das noch einmal zu verdeutlichen: Ein anwesendes Objekt könnte z. B. eine Kaffeetasse sein – einen Kaffee kombiniere ich eben gerne mit einem Muffin. Eine anwesende Person könnte ein Kollege von mir sein, mit dem ich öfters in die Cafeteria gehe. Ein Verhalten, nach dem ich mir häufig einen Muffin (als Belohnung) hole, ist, wenn ich einen Stapel Schulaufgaben korrigiert habe. Ein innerer Zustand, in dem ich gerne einen Muffin hole, wäre beispielsweise Entspannung oder auch Hunger.“
Hat man das hinter einem unerwünschten Verhalten steckende Bedürfnis und den auslösenden Schlüsselreiz entdeckt, besteht der nächste Schritt darin, die aktuelle Bedürfnislandkarte zu verändern. Allein der willentliche Vorsatz, das unerwünschte Verhalten nicht mehr zu zeigen, reicht hier oft nicht aus. Wie wir bereits gesehen haben, kann die Verhaltensaktivierung erfolgen, bevor uns die auslösenden Reize überhaupt bewusst und damit einer willentlichen Steuerung zugänglich werden. Es gibt aber zwei Stellen in der Gewohnheitsschleife, an denen man versuchen kann anzusetzen. Die erste Möglichkeit besteht darin, den Schlüsselreiz zu entfernen. So könnte man zum Beispiel beim nachmittäglichen Verlassen des Büros einen neuen Weg wählen, der nicht an der Cafeteria vorbeiführt, sodass man nicht zum Kauf eines Muffins verleitet wird. Allerdings ist das nicht immer möglich oder sinnvoll. Die zweite Möglichkeit besteht darin, ein neues Verhalten zu etablieren, welches das involvierte Be-
43 Literatur
dürfnis zwar ebenso befriedigt, aber weniger problematische Nebenwirkungen auf andere Bedürfnisse hat. Findet man beispielsweise heraus, dass hinter dem Gang in die Cafeteria eigentlich ein soziales Bedürfnis steckt, so kann man beispielsweise den Plan fassen, auf den Schlüsselreiz hin anstatt in die Cafeteria zum Büronachbar zu gehen und ein 10-minütiges Gespräch zu führen. >>Wichtig! An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, warum Bedürfnisse vor allem für die Emotionsregulation von Bedeutung sind: Sie erzeugen Emotionen, die dann unter Umständen akzeptiert oder reguliert werden müssen. Insbesondere sich rational gegen die Wünsche des Bedürfnissystems zu entscheiden, kostet viel regulatorische Kraft und Fähigkeiten. Im zweiten Teil des Buches finden sich hierfür (siehe Teil 2 7 Abschn. 10.2) zwei Übungen, in denen ein funktionaler Umgang mit Bedürfnissen thematisiert wird. Bei der ersten Übung geht es darum, zu reflektieren, wie viel Raum bestimmte Bedürfnisse im Leben einnehmen, und dies gegebenenfalls zu verändern. Die zweite Übung beschäftigt sich mit der Kommunikation von Bedürfnissen.
Kapitelzusammenfassung In diesem Kapitel haben wir die erste psychische Kraft kennengelernt, die unser Verhalten steuert: unsere Bedürfnisse. Im Rahmen unserer evolutionären Vergangenheit wurden in uns verschiedene Bedürfnisse in Form von Soll-Werten angelegt, die wir ständig zu erreichen versuchen. Jedes Bedürfnis verfügt dazu über einen Messfühler, der fortlaufend signalisiert, wie weit unser Ist-Zustand vom zu erreichenden Soll- Zustand entfernt ist. Bemerken diese Messfühler eine Abweichung, wird die Umwelt danach abgesucht, ob dort ein bestimmtes Verhalten eine Annäherung an den Soll- Wert herbeiführen kann. Wird ein solches Verhalten identifiziert, wird automatisch ein Impuls ausgelöst, dieses Verhalten zu zeigen. Die verschiedenen Bedürfnisse von uns Menschen lassen sich dabei in Abhängigkeit von der Wichtigkeit für das Überleben des Organismus in Form einer Hierarchie anordnen. Welches Verhalten wiederum ein Bedürfnis befriedigen kann, ist in einer Bedürfnislandkarte gespeichert, die wir im Laufe unseres Lebens mit unseren bedürfnisbezogenen Erfahrungen füllen. Optimal ist eine Bedürfnislandkarte dann, wenn mittels der herausgebildeten Verhaltensgewohnheiten alle Bedürfnisse ausgewogen erfüllt werden.
Literatur Bonus, B. (2008). Mit den Augen eines Kindes sehen lernen. Band 2: Die Anstrengungsverweigerung. Norderstedt: Books on Demand. Duhigg, C. (2014). Die Macht der Gewohnheiten. Warum wir tun, was wir tun. München: Piper. Effertz, T., & Wilcke, A. C. (2012). Do television food commercials target children in Germany? Public Health Nutrition, 15, 1466–1473. Kasser, T., & Ryan, R. M. (1996). Further examining the American dream: Differential correlates of intrinsic and extrinsic goals. Personality and Social Psychology Bulletin, 22, 281–288. Maslow, A. H. (1942). A theory of human motivation. Psychological Review, 50, 370–396. Ryan, R. M., & Deci, E. L. (2000). Self-determination theory and the facilitation of intrinsic motivation, social development, and well-being. American Psychologist, 55, 68–78.
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Kapitel 4 · Das Bedürfnissystem
Sachse, R., Breil, J., Fasbender, J., & Püschel, O. (2003). Klärungsorientierte Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Sclafani, A. (2013). Gut-brain nutrient signaling: Appetition vs satiation. Appetite, 71, 454–458. WHO. (2000). CINDI dietary guide. WHO Regional Office for Europe, EUR 00/50/5018028. Wood, W. (2017). Habit in personality and social psychology. Personality and Social Psychology Review, 21, 389–403.
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Das Emotionale System Inhaltsverzeichnis 5.1
Was sind eigentlich Emotionen? – 48
5.2
Die verschiedenen Arten von Emotionen – 55
5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6
Grundgefühl – 56 Basisemotionen – 59 Bewertungsemotionen – 62 Selbstwert-Emotionen – 68 Die Grundthemen unserer Emotionen – ein Überblick – 69 Emotionen im Kontext Schule – 69
5.3
ie werden Emotionen ausgelöst? – Die emotionale W Landkarte – 71
5.4
Wirkungen von Emotionen – 78
5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.4.6
Gefühlsebene – 78 Kognitive Ebene – 80 Motivationale Ebene – 94 Physiologische Ebene – 98 Expressive Ebene – 100 Wirkungen von Lehreremotionen – 102
Literatur – 103
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kuhbandner, I. Schelhorn, Emotionale Kompetenz im Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_5
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
Worum es in diesem Kapitel geht
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Der Inhalt dieses Kapitels ist die Welt unserer Emotionen. Jede unserer Emotionen ist dadurch charakterisiert, dass sie unseren Organismus in Reaktion auf ein Ereignis auf seinen verschiedenen Funktionsebenen auf eine ganz bestimmte Art und Weise einstellt. Das Ziel dabei ist, den Organismus auf die potentiellen Konsequenzen des Ereignisses möglichst optimal vorzubereiten. Zunächst wird die Funktionsweise des emotionalen Systems erklärt. Anschließend werden vier unterschiedliche Arten von Emotionen vorgestellt, die jeweils auf eigenständigen Wegen entstehen: Das Grundgefühl, die Basisemotionen, die Bewertungsemotionen und die Selbstwert-Emotionen. Weiterhin werden die Wirkungen unserer Emotionen auf den verschiedenen Funktionsebenen beschrieben: Der Gefühlsebene, der kognitiven Ebene (Wahrnehmung, Gedächtnis und Erinnerung, Denken und Problemlösen und Bewerten), der motivationalen Ebene, der physiologischen Ebene und der expressiven Ebene.
Wie wir im vorherigen Kapitel gesehen haben, versucht unser Bedürfnissystem fortwährend Verhalten zu aktivieren, das uns evolutionär bedingten Soll-Werten näherbringt. Mit Blick auf die Anpassung an sich verändernde Umwelten ist eine solche Verhaltenssteuerung allerdings nur bedingt flexibel. Wir können zwar lernen, als Reaktion auf Objekte und Personen neue Verhaltensweisen zu zeigen. Die treibenden Kräfte dahinter stammen aber aus unserer evolutionären Vergangenheit und sind nur über sehr lange andauernde evolutionäre Anpassungsprozesse veränderbar. Ein bereits beschriebenes Beispiel ist unser hoher Soll-Wert für Blutzucker, der zwar in unserer evolutionären Vergangenheit für unser Überleben notwendig war, uns heute aber stattdessen zu einer ungesunden Ernährung verleitet. Mit der Entwicklung des emotionalen Verhaltenssteuerungssystems ergab sich deshalb eine bahnbrechende Neuerung: Es wurde ein neuer Wertmaßstab etabliert, der die Konsequenzen eines Ereignisses nicht in Bezug auf die Erfüllung evolutionär etablierter Soll-Werte bemisst, sondern in Bezug darauf, wie sich die Konsequenzen eines Ereignisses emotional anfühlen. Auf den ersten Blick mag sich dieser neue Wertmaßstab vielleicht nicht so anhören, als sei hier wirklich etwas Neues hinzugekommen. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen einem bedürfnisbezogenen und einem emotionsbezogenen Wertmaßstab gibt: Hinter dem bedürfnisbezogenen Wertmaßstab stecken Verhaltenssteuerungsprozesse, die mechanisch ablaufen, ohne notwendigerweise von bewussten Erfahrungen begleitet zu sein. Die hinter dem emotionsbezogenen Wertmaßstab steckenden Gefühle sind uns dagegen notwendigerweise bewusst. Die für das Verhalten bahnbrechende Konsequenz ist, dass sich darauf eine weitaus anpassungsfähigere Verhaltenssteuerung aufbauen lässt. Wir wollen im Folgenden genauer kennenlernen, was Gefühle und Emotionen genau sind, und wie sie uns lenken.
Verwirrende Begrifflichkeiten: „Belohnungszentrum“ und „Glück“
47 Das Emotionale System
„Die Abgrenzung von Bedürfnissen und Emotionen ist leider häufig verwirrend, weil in vielen Büchern unklare Begrifflichkeiten zur Beschreibung der Funktionsweise unserer Bedürfnisse verwendet werden. So wird das Gehirnareal, das die Erfüllung eines Bedürfnisses signalisiert, meist ‚Belohnungszentrum‘ genannt und so beschrieben, dass dessen Aktivierung ‚Glück‘ auslösen würde, also ein angenehmes Gefühl, wie beispielhaft folgende Graphik auf der Seite des Projekts ‚dasgehirn.info‘ zeigt, welches zum Ziel hat, die psychischen Funktionen des Gehirns anschaulich für Allgemeinheit aufzubereiten (Projekt der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung und der Neurowissenschaftlichen Gesellschaft e.V. in Zusammenarbeit mit dem ZKM|Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe):
Die Absurdität einer solchen Beschreibung lässt sich anhand des in der Graphik dargestellten Experiments illustrieren, das zur zufälligen Entdeckung des „Belohnungszentrums“ geführt hat. Die Neurowissenschaftler James Olds und Peter Milner hatten 1954 Ratten eine Elektrode im Gehirn eingepflanzt, welche die Tiere mit einem Hebeldruck selbst stimulieren konnten, und zwar zufällig genau in diesem Gehirnareal (Olds und Milner 1954). Zur Überraschung der Forscher drückten die Ratten den Hebel über Stunden hinweg immer wieder mit einer schier unglaublichen Frequenz von mehreren tausend Mal pro Stunde. Die Ratten hörten dabei auf zu essen und zu trinken und drückten manchmal bis zur absoluten Erschöpfung. Es ist schwerlich vorstellbar, dass ein solcher Zustand als Glückszustand erlebt wird. In
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
der Tat haben nachfolgende Studien an Menschen gezeigt, dass Probanden, die sich im Rahmen von anstehenden Gehirnoperationen bereit erklärt hatten, an einer solchen Studie zur Selbststimulation des Belohnungszentrums teilzunehmen, ihr dadurch ausgelöstes Drückverhalten kaum mit den Begriffen „Freude“ oder „ekstatisches Gefühl“ in Zusammenhang brachten. Stattdessen wurde meist von nachlassender Spannung gesprochen, und manche Personen empfanden gar nichts dabei und konnten auch nicht sagen, warum sie andauernd den Hebel drückten (Ganong 1979).“
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5.1 Was sind eigentlich Emotionen? zz Emotionen als übergreifende Systemzustände unseres Organismus
Um zu verstehen, was mit dem Begriff „Emotion“ eigentlich gemeint ist, wollen wir uns einen Auszug aus einem Beitrag zur Spiegel-Online-Rubrik „Lehrergeständnisse – Wie Schule wirklich ist“ genauer anschauen, in dem eine Lehrkraft ihr emotionales Erleben beschreibt (Ulbricht 2015):
»» Ich habe mal gelesen, dass sich Unterricht in einer lauten Klasse anfühle, als säße man
an einer Autobahn. Genau dieses Gefühl hatte ich. Irgendwann platzte ich. Erst brüllte ich die ganze Klasse an. Dann pickte ich mir eine besonders nervtötende Schülerin aus dem lärmenden Klassenkollektiv heraus und – im Rückblick muss ich gestehen – machte sie fertig. Obwohl die Klasse anschließend ruhig wurde, war ich für den Rest des Tages derart schlecht gelaunt, dass ich auch meinen damals fünfjährigen Sohn nachmittags anpöbelte, als er keine Lust hatte, sich in sein Zimmer zu verkriechen.
Schaut man sich diese Beschreibung des emotionalen Erlebens einer Lehrkraft genauer an, fallen drei Dinge auf: Zuerst stößt man auf einen Aspekt, den wir schon kennen: Ein Bestandteil einer emotionalen Reaktion scheint ein innerliches Gefühl zu sein, etwas, das von uns bewusst als innerlich unmittelbar gegeben erlebt wird und nur der erlebenden Person direkt zugänglich ist. Wenn der Lehrer nicht sein Gefühl beschreiben und sagen würde „Genau dieses Gefühl hatte ich“, wüssten wir nichts über sein innerliches Erleben. Eine zweite interessante Beobachtung ist, dass sich gemeinsam mit dem vom Lehrer berichteten Gefühl eine Reihe von Veränderungen auf weiteren psychischen Funktionsebenen ergeben. So hat sich offenbar auf der Wahrnehmungsebene der Aufmerksamkeitsfokus verengt („Dann pickte ich mir eine besonders nervtötende Schülerin aus dem lärmenden Klassenkollektiv heraus“), auf der physiologischen Ebene haben sich Herzschlag und Blutdruck erhöht („Irgendwann platzte ich“) und auf der motivationalen Ebene wurde das angriffsorientierte Vermeidungsmotivationssystem aktiviert („machte [die Schülerin] fertig“). Würde man den Lehrer von außen betrachten, würde man vermutlich zusätzlich im Gesicht bemerken, dass die Augenbrauen heruntergezogen und die Augen zusammengekniffen sind, die Nasenflügel weit auseinander stehen und die Lippen oder Zähne mit Druck geschlossen sind.
49 5.1 · Was sind eigentlich Emotionen?
Die dritte Beobachtung ist, dass diese Veränderungen auf den verschiedenen Funktionsebenen in der Klasse etwas bewirkt haben: Die Klasse ist anschließend ruhig. Offenbar hat der Lehrer damit ein von ihm angestrebtes Ergebnis erreicht. Bringt man diese drei Beobachtungen zusammen, ergibt sich das in . Abb. 5.1 dargestellte Bild. In . Abb. 5.1 stoßen wir also auf die Kernelemente einer Emotion: Eine Emotion signalisiert uns, welche möglichen Konsequenzen eine Situation für die Erfüllung unser Bedürfnisse und Ziele hat, indem sie uns auf allen Funktionsebenen in einen bestimmten Zustand bringt, der dem Erfüllen der betroffenen Bedürfnisse und Ziele möglichst dienlich ist. Die Emotion, um die es sich hier handelt, ist Ärger: Die laute Schulklasse (Situation) wird als Hindernis für die Erfüllung des Ziels eines geregelten
.. Abb. 5.1 Die Kernelemente einer emotionalen Reaktion. Klassenzimmer links: © cookart/stock. adobe.com; Gesicht unten: © Ebner, N. C., Riediger, M., & Lindenberger, U., (2010). FACES – A database of facial expressions in young, middle-aged, and older men and women: Development and validation. Behavior Research Methods, 42, 351–362; Klassenzimmer rechts: © Barbara Alsu
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
Unterrichts empfunden (Konsequenz), mit dem Effekt, dass der Organismus des Lehrers so eingestellt wird, dass dieses Hindernis möglichst beseitigt werden kann (Systemzustand). Wir wollen dies noch anhand einer weiteren Emotion verdeutlichen (siehe . Abb. 5.2). Das Antreffen einer Schlange (Situation) wird als potentielle Gefahr für Leib und Leben erlebt (Konsequenz), mit dem Effekt, dass der Organismus in einen Systemzustand versetzt wird, welcher der Abwehr dieser drohenden Gefahr möglichst dien
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.. Abb. 5.2 Die Emotion „Angst“. Gesicht unten: © Ebner, N. C., Riediger, M., & Lindenberger, U., (2010). FACES – A database of facial expressions in young, middle-aged, and older men and women: Development and validation. Behavior Research Methods, 42, 351–362; Schlangenbiss rechts: © Barbara Alsu
51 5.1 · Was sind eigentlich Emotionen?
lich ist: Auf der Gefühlsebene wird der innerliche Zustand einer hohen aversiven Erregtheit erlebt, die Aufmerksamkeit wird auf das bedrohliche Objekt gerichtet, auf der physiologischen Ebene erhöhen sich der Herzschlag und der Blutdruck um Energie zu mobilisieren, auf der motivationalen Ebene wird das fluchtorientierte Vermeidungsmotivationssystem aktiviert und im Gesicht zeigt sich ein Aufreißen von Augen und Mund. Es wird also ein für die Emotion „Angst“ typisches Reaktionsmuster ausgelöst. Damit haben wir herausgearbeitet, was eine Emotion ist: Definition Emotionen sind Reaktionen auf Situationen, die sich darin manifestieren, dass unser gesamter Organismus auf verschiedenen Funktionsebenen (Gefühl, Kognition, physiologische Regulation, Motivation, expressiver Ausdruck) systematisch in einen bestimmten Zustand geht, welcher hinsichtlich der sich aus der Situation potentiell ergebenden Konsequenzen für unsere Bedürfnisse und Ziele möglichst optimal ist (nach Kuhbandner und Frenzel 2019; Scherer 1993). Wir werden diese Funktionsebenen im weiteren Verlauf als Emotionskomponenten bezeichnen.
Begriffliche Entwirrung
„Wenn man sich die . Abb. 5.1 und 5.2 genauer anschaut, entdeckt man einen interessanten Punkt: „Emotionen“ und „Gefühle“ sind offenbar zwei unterschiedliche Dinge. Der Begriff „Emotion“ bezieht sich auf das Gesamtmuster, das sich beim Erleben einer bestimmten Emotion auf den verschiedenen Funktionsebenen einer Person einstellt. Der Begriff „Gefühl“ bezieht sich dagegen auf die innerlich bewusst erlebte Seite einer Emotion und beschreibt damit nur die emotionsbedingte Veränderung auf einer von mehreren Funktionsebenen (bewusstes Empfinden). Eine solche Unterscheidung ergibt tatsächlich auch viel Sinn. Wie wir später noch genauer sehen werden, kann es Situationen geben, in denen wir emotional reagieren, dies aber nicht bewusst als Gefühl wahrnehmen. Durchforstet man unsere Alltagssprache, stößt man sogar noch auf zwei weitere Begriffe, die recht ähnlich zu den Begriffen „Emotion“ und „Gefühl“ klingen: „Stimmung“ und „Affekt“. Auf das als „Stimmung“ bezeichnete Phänomen trifft man auch bei der obigen Beschreibung des Lehrers, wenn er schreibt: „Ich war für den Rest des Tages derart schlecht gelaunt“. Ein emotionaler Zustand kann sich also auch vom ursprünglichen emotionsauslösenden Ereignis abkoppeln und länger anhalten, wobei die Intensität der erlebten Emotion meist geringer ausfällt. Diese Sonderform eines emotionalen Zustands wird als „Stimmung“ bezeichnet. Auch der Begriff „Affekt“ bezeichnet eine Sonderform eines emotionalen Zustands, der hinsichtlich Dauer und Intensität genau gegenteilig zur Stimmung ist: Einen Emo
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
tionszustand von kurzer Zeitdauer und hoher Intensität, der insbesondere durch eine starke Verhaltenstendenz charakterisiert ist („Handeln im Affekt“; „siehe auch Kuhbandner und Frenzel 2019; Sokolowski 2008).“
>>Wichtig!
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Die verschiedenen und oft ungenauen emotionalen Begriffe unserer Alltagssprache zu hinterfragen, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur emotionalen Kompetenz. Denn wenn wir unsere Emotionen verstehen wollen, müssen wir oft eine genauere Sprache verwenden, als wir es im Alltag tun. Übungen zur Emotionsdifferenzierung finden sich deshalb im zweiten Teil des Buches in 7 Abschn. 11.1.
zz Die informatorische Funktion unserer Emotionen
Das emotionale System ermöglicht also, dass eine Situation nicht nur ein Verhalten auslöst, sondern zusätzlich auch noch eine Emotion, die darin besteht, dass sich auf den verschiedenen Funktionssystemen einer Person eine systematische Einstellung zeigt. Eine Emotion steuert unser Verhalten also nicht darüber, dass sie mit einem ganz konkreten Verhalten verknüpft wäre. So funktioniert unser Bedürfnissystem. Stattdessen steuern uns unsere Emotionen, indem sie uns die potentiellen Konsequenzen einer Situation für unsere Bedürfnisse und Ziele mitteilen – also über ihre informatorische Funktion. Emotionen und Verhalten sind zwei verschiedene Dinge
„Zwischen Emotionen und Verhalten unterscheiden zu lernen, ist ein wichtiges Ziel bei der emotionalen Entwicklung von Kindern. Kinder müssen lernen, dass jede Emotion eine hilfreiche Informationsquelle über die Relevanz der aktuellen Situation für die eigenen Bedürfnisse und Ziele sein kann, dass aber nicht jeder Verhaltensimpuls hilfreich ist. Sich über jemanden zu ärgern, ist eine wichtige Information darüber, dass ein anderes Kind das eigene Fortkommen behindert. Dem Verhaltensimpuls des Zuschlagens nachzugeben, um das „Hindernis“ zu ‚zerstören‘, ist dagegen selten sinnvoll. Diese Unterscheidung treffen zu können, ist eines der Hauptziele in Programmen zur Förderung der emotionalen Kompetenz von Kindern. So lautet beispielsweise einer der vier Leitsätze des emotionalen Kompetenztrainings „PFADE – Programm zur Förderung Alternativer Denkstrategien“ (Greenberg und Kusche 2006):
»» Alle Gefühle sind okay, aber nicht jedes Verhalten ist okay! Mit Hilfe einer Ampel-Metapher wird dabei versucht, Kindern eine hilfreiche Verhaltenssequenz beim Erleben einer Emotion beizubringen. Wenn eine Emotion erlebt wird, besteht der erste Schritt („Rot“) darin, nicht gleich zu handeln, sondern sich zunächst durch tiefes Einatmen zu beruhigen und das Problem und Gefühl zu benennen.
53 5.1 · Was sind eigentlich Emotionen?
Anschließend („Gelb“) sollen Handlungsideen gesammelt und anhand einer Reihe von mit den Kindern erarbeiteten Kriterien bewerten werden, wie beispielsweise „Machbarkeit?“ oder „Gefühle von anderen?“. Schließlich („Grün“) soll die beste Idee ausprobiert und abschließend bewertet werden. Zahlreiche Evaluationsstudien zeigen, dass Kinder dadurch in der Tat ein besseres Verständnis von Emotionen und erhöhte Fähigkeiten zur Selbstkontrolle erlangen können (z. B. Curtis und Norgate 2007).“
Um die informatorische Funktion unserer Emotionen noch genauer zu verstehen, wollen wir uns ein Problem klarmachen, vor dem komplexe Wesen wie wir Menschen stehen: Wir zeichnen uns dadurch aus, dass wir die Umwelt sehr reichhaltig wahrnehmen und darauf mit nahezu unendlich vielen Verhaltensweisen reagieren können. Wie schafft man es nun, sich nicht in dieser Vielfalt der möglichen Optionen zu verlieren? Eine Möglichkeit ist, eine übergreifende Ordnungsstruktur zu etablieren, welche zum einen die zahllosen wahrnehmbaren Objekte und möglichen Verhaltensweisen nach Gemeinsamkeiten gruppiert, und zum anderen je nach aktuellem Kontext die relevanten Gruppen von Objekten und Verhaltensweisen hervorhebt und alles andere in den Hintergrund schiebt. Über unsere Emotionen wird nun genau eine solche Ordnungsstruktur etabliert. Vielleicht ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass es zwar praktisch fast unendlich viele Situationen, Objekte und Personen in der Welt gibt und ebenso unendlich viele Verhaltensweisen, aber nur einige wenige Emotionen. Der Grund ist, dass hinter jeder Emotion ein Grundthema steht: Dieselbe Emotion kann durch unterschiedliche Situationen ausgelöst werden, die jeweils unterschiedliche Arten von Bedürfnissen und Zielen ansprechen. . Abb. 5.3 veranschaulicht das am Beispiel der Angst. Diese wird durch so unterschiedliche Situationen wie Kontakt mit einer Schlange, das drohende Ende einer sozialen Beziehung oder eine Aufzugfahrt in die Höhe ausgelöst. Das gemeinsame Grundthema ist hier die Existenz einer Bedrohung, welche die Erfüllung unserer Bedürfnisse gefährdet (im Beispiel hier sicherheitsbezogene, soziale und selbstwertbezogene Bedürfnisse) und möglicherweise nicht abgewehrt werden kann (für einen Überblick zu den Grundthemen weiterer Emotionen siehe . Tab. 5.3).
.. Abb. 5.3 Die informatorische Funktion einer Emotion
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
Wird eine Emotion ausgelöst, signalisiert uns das wiederum, dass die aktuelle Situation mögliche Konsequenzen für das hinter der Emotion stehende Grundthema hat. In der Folge werden die mit dem Grundthema in Zusammenhang stehenden Objekte und Ereignisse mit einem Wichtigkeitsstempel versehen, um diese aus der Unmenge an wahrgenommenen Objekten herauszuheben. Wie . Abb. 5.3 weiterhin illustriert, sorgt das Auslösen einer Emotion dafür, dass aus der Bandbreite an möglichen Reaktionen ein bestimmter Ausschnitt festlegt wird, der sich bezogen auf das Grundthema als besonders funktional erwiesen hat. Dies hat zur Folge, dass sich in sehr unterschiedlichen Situationen immer dieselbe Reaktionscharakteristik einstellt.
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Die Einfachheit der Innenwelt einfacherer Lebewesen
„Vielleicht haben Sie sich gefragt, wie eigentlich das Problem, sich nicht in der Reichhaltigkeit der Umwelt zu verlieren, von weniger komplexen Lebewesen gelöst wird. Hier erschien im Jahr 1959 von Jerome Lettvin und Kollegen eine Studie mit dem Titel „Was das Froschauge dem Froschhirn mitteilt“, die zu einer der bahnbrechendsten Studien zur Verarbeitung der äußeren Welt im Gehirn überhaupt werden sollte (Lettvin et al. 1959). Dabei wiesen die Forscher nach, dass das Gehirn eines Frosches die ihn umgebende Umwelt nur auf eine sehr reduzierte Weise innerlich abbildet: Was im Gehirn des Frosches von den Augen ankommt, ist keine präzise Kopie der von den Augen aufgezeichneten Lichtpunkte. Stattdessen wird bereits auf der Ebene des Auges die eintreffende Information so vorverarbeitet, dass dem Gehirn nur das Auftreten von vier Dingen im Gesichtsfeld mitgeteilt wird: 1. Deutliche Kontrastlinien (Wo ist der Horizont?) 2. Plötzliche Veränderungen der Lichtverhältnisse (Nähert sich ein Storch?) 3. Sich bewegende Ränder (Wo genau ist der Storch?) 4. Kleine dunkle Objekte (Da ist ein Insekt!) Das Gehirn eines Frosches kann die Reichhaltigkeit der wirklichen Umwelt also gar nicht erkennen. Stattdessen nimmt es in der umgebenden Welt ausschließlich die wenigen Dinge wahr, die für das Überleben des Frosches von Relevanz sind. Dementsprechend kommt ein Frosch auch ohne zusätzliche emotionale Ordnungsstrukturen gut zurecht.“
>>Wichtig! Die informatorische Funktion unserer Emotionen spielt auch bei der Entwicklung von emotionaler Kompetenz eine wichtige Rolle. Ähnlich wie beim Begriffsnetzwerk unseres rationalen Systems, gibt es einen individuellen Spielraum der Unschärfe, mit dem Emotionen die Welt einer Person strukturieren. Die relevante Frage ist hier, wie differenziert verschiedene Emotionen im Lauf des Lebens mit Situationen verknüpft wurden. Diesen Punkt werden wir uns später bei der Betrachtung der dabei entstehenden emotionalen
55 5.2 · Die verschiedenen Arten von Emotionen
Landkarten in 7 Abschn. 5.3 noch genauer ansehen. Zur Reflexion über die eigenen individuellen Auslöser von Emotionen und damit auch zur Reflexion der eigenen emotionalen Lerngeschichte gibt es im zweiten Teil des Buches in 7 Abschn. 11.3.
5.2 Die verschiedenen Arten von Emotionen
Eine Emotion ist also dadurch charakterisiert, dass sich ein bestimmtes Zustandsmuster auf den verschiedenen Funktionsebenen unseres Organismus einstellt. Zwei solcher Zustandsmuster haben wir schon kennengelernt – die Emotionen Ärger und Angst (siehe . Abb. 5.1 und 5.2). Die Frage ist nun, wie viele verschiedene Zustandsmuster sich eigentlich im Laufe der Zeit herausgebildet haben – oder anders ausgedrückt: Wie viele verschiedene Emotionen gibt es?
Wie viele Emotionen gibt es eigentlich?
„Nun, diese Frage ist nicht wirklich zu beantworten, da die Anzahl verschiedener emotionaler Systemzustände – und damit die Anzahl von Emotionen – prinzipiell nach oben offen ist, je nachdem wie feinkörnig die angelegten Unterscheidungskriterien sind. Insofern ist es nicht überraschend, dass im Verlauf der Forschung verschiedene Vorschläge gemacht wurden, wie viele Emotionen denn „wirklich“ unterschieden werden können. Einige dieser Vorschläge werden wir gleich kennenlernen. Auf den ersten Blick mag das verwirrend wirken, und in der Tat wurde in der Wissenschaft schon häufig und kontrovers darüber diskutiert. Möglicherweise ist die Perspektive von „richtig“ oder „falsch“ aber hier generell fehl am Platz. Vielmehr hängt es vom jeweiligen Kontext ab, ob eine feinere oder gröbere Auflösung zielführender ist.“
Um uns der Frage, welche Emotionen es gibt, anzunähern, wollen wir zunächst einen Blick in unsere Alltagssprache werfen: . Tab. 5.1 zeigt einen Ausschnitt aus einer Sammlung von Begriffen, die verschiedene emotionale Zustände beschreiben. Obwohl es sich bei den in . Tab. 5.1 aufgeführten Emotionsbegriffen nur um einen Ausschnitt handelt, ging es Ihnen vielleicht bereits so, dass Sie sich angesichts dieser Reichhaltigkeit etwas überwältigt oder gar verwirrt fühlen. Die Fülle an Emotionsbegriffen ist aber sogar noch weitaus größer. So wurden beispielsweise von Studierenden in einer offenen Befragung von Fehr und Russell (1984) zu ihnen bekannten Emotionsbegriffen insgesamt 383 verschiedene Wörter genannt. Angesichts dieser Vielfalt stellt sich die Frage: Beschreibt unsere Alltagssprache unser emotionales Erleben eigentlich wirklich gut? Oder kann diese reichhaltige Welt vielleicht einfacher durch nur einige wenige fundamentalere emotionale Mechanismen beschrieben werden? Genau diese Frage haben sich Psychologen seit Jahrzehnten gestellt.
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
.. Tab. 5.1 Begriffe in unserer Alltagssprache, die verschiedene emotionale Zustände beschreiben
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aufgeregt
wütend
interessiert
zufrieden
schläfrig
waghalsig
elend
bestürzt
andächtig
nachdenklich
entspannt
beschämt
melancholisch
deprimiert
teilnahmslos
ungeduldig
beunruhigt
gelangweilt
verzweifelt
beeindruckt
schlaff
sehnsüchtig
glücklich
erfreut
mutig
erstaunt
friedvoll
müde
verärgert
überzeugt
hoffnungsvoll
gelangweilt
besorgt
beleidigt
erschrocken
frustriert
arrogant
traurig
verliebt
ernst
froh
bedächtig
heiter
leidenschaftlich
.. Abb. 5.4 Die vier Arten von Emotionen
Wie sich im Laufe der Forschung herausgestellt hat, lassen sich vier verschiedene übergreifende Arten von emotionalen Zuständen unterscheiden, die jeweils auf eine eigene Art und Weise entstehen. . Abb. 5.4 zeigt die vier Emotionsarten in Abhängigkeit vom zeitlichen Verlauf bei der Verarbeitung eines Ereignisses.
5.2.1 Grundgefühl ►►Selbstversuch
Wie fühlen Sie sich eigentlich gerade, während Sie dieses Buch lesen? Hören Sie einmal in sich hinein: Fühlen Sie sich momentan eher angenehm oder unangenehm? Fühlen Sie sich eher entspannt oder eher angespannt? ◄
57 5.2 · Die verschiedenen Arten von Emotionen
Wie Sie beim Selbstversuch vermutlich erleben konnten, befinden wir uns in jedem Moment unseres Lebens in einer bestimmten Stimmung, selbst wenn gerade keine emotionsauslösenden Objekte oder Personen anwesend sind. Was wir in solchen Situationen innerlich erleben, ist unser sogenanntes Grundgefühl. Wir sind auf dieses Phänomen schon beim Eingangsbeispiel des verärgerten Lehrers gestoßen. Der Lehrer schreibt dort: „Ich war für den Rest des Tages derart schlecht gelaunt, dass ich auch meinen damals fünfjährigen Sohn nachmittags anpöbelte.“ Obwohl also das ursprüngliche Ereignis (störende Schüler) schon lange nicht mehr präsent ist, befindet sich der Lehrer noch immer in einer unangenehmen Stimmung (schlechte Laune). Doch durch welchen Mechanismus entstehen die dabei erlebten Grundgefühle? Da ja in der aktuellen Situation gar kein konkretes emotionsauslösendes Ereignis vorhanden ist, können es nicht die Konsequenzen eines Ereignisses für unsere Bedürfnisse und Ziele – wie bei einer vollständig ausgeprägten Emotion – sein. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst ein grundlegendes Prinzip unserer Handlungssteuerung klarmachen. In Bezug auf möglicherweise eintretende Ereignisse können wir grundsätzlich auf zwei Arten reagieren: Man kann entweder versuchen das Eintreten des Ereignisses herbeizuführen (Annäherung), oder man kann versuchen das Eintreten des Ereignisses zu verhindern (Vermeidung). Entsprechend dieser fundamentalen Unterscheidung haben sich zwei basale motivationale Handlungssysteme in uns herausgebildet: Ein Annäherungssystem, das aktiviert wird, wenn wir Ereignisse herbeiführen wollen, und ein Vermeidungssystem, das aktiviert wird, wenn wir Ereignisse verhindern wollen. Beide Systeme funktionieren unabhängig voneinander und weisen permanent einen bestimmten Aktivierungsgrad auf. Man ist also in jedem Moment seines Lebens zu einem bestimmten Ausmaß annäherungsorientiert oder vermeidungsorientiert eingestellt. Die Aktivität dieser beiden Systeme übersetzt sich nun in ein inneres Gefühl: Eine Aktivierung des Vermeidungssystems fühlt sich unangenehm an (es drohen Ereignisse einzutreten, die man gerne vermeiden würde), eine Aktivierung des Annäherungssystems angenehm (es stehen Ereignisse in Aussicht, die man gerne herbeiführen würde). Umgekehrt ist es bei einer Deaktivierung. Diese fühlt sich beim Vermeidungssystem angenehm an (aktuell drohen keine Ereignisse einzutreten, die man gerne vermeiden würde) und beim Annäherungssystem unangenehm (aktuell stehen keine Ereignisse in Aussicht, die man gerne herbeiführen würde). In beiden Fällen ist es wiederum so, dass das erlebte Gefühl umso intensiver ist, je stärker das jeweilige System aktiviert ist. Die jeweilige Aktivität der beiden motivationalen Handlungssysteme übersetzt sich also in ein bestimmtes Gefühl. Aus der Kombination der beiden Handlungssysteme ergibt sich damit eine „Gefühlslandschaft“. In . Abb. 5.5 ist diese Gefühlslandschaft auf der linken Seite illustriert. In Abhängigkeit davon, wie stark gerade unser Annäherungs- und Vermeidungssystem aktiviert ist, befinden wir uns also zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens an einem ganz bestimmten Punkt in dieser Gefühlslandschaft, selbst wenn aktuell gar kein emotionsrelevantes Ereignis vorhanden ist – dieser Punkt entspricht unserem Grundgefühl. Betrachtet man die Gefühlslandschaft auf der lin
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
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.. Abb. 5.5 Die Landschaft unserer Grundstimmung (links) und die Verortung der Emotionsbegriffe unserer Alltagssprache
ken Seite in . Abb. 5.5, fällt auf, dass das Grundgefühl umso angenehmer ist, je weiter rechts man sich in der Landschaft befindet. Je weiter oben man sich in der Landschaft befindet und umso emotional erregter fühlt man sich. Jeder Punkt in der Landschaft – und damit das aktuelle Grundgefühl – ist also durch einen bestimmten Ausprägungsgrad auf der Achse „angenehm – unangenehm“ (Valenz) und einen bestimmten Ausprägungsgrad der Achse „ruhig – erregt (Aktiviertheitsgrad)“ gekennzeichnet. Man kann die Dynamik unserer Grundgefühle am Beispiel des verärgerten Lehrers illustrieren: Bei ihm ist offenbar nach dem Verlassen der von ihm als störend empfundenen Klasse nach wie vor das Vermeidungssystem aktiv. Dementsprechend befindet er sich im oberen linken Feld, was er als schlechte Laune erlebt (unangenehm und erregt). Würde sich im Laufe des Abends beim Lehrer eine Deaktivierung des Vermeidungssystems ergeben, würde er sich in Richtung des unteren rechten Feldes bewegen, was er vermutlich als Entspannung erleben würde (angenehm und ruhig). Vielleicht würde dann irgendwann sein Annäherungssystem anspringen, so dass er sich in Richtung des rechten oberen Feldes bewegen und Freude erleben würde (angenehm und erregt). Abschließend gibt es noch einen interessanten Punkt: Wenn man jetzt auf die in . Tab. 5.1 aufgeführten emotionalen Alltagsbegriffe zurückblickt, fällt auf, dass sich diese ebenfalls jeweils an ganz bestimmten Orten in der Gefühlslandschaft verorten lassen (siehe rechte Seite der . Abb. 5.5). Mit Hilfe der beiden Achsen Valenz (angenehm – unangenehm) und Aktiviertheitsgrad (ruhig – erregt) lässt sich also tatsächlich auch die Fülle der Emotionsbegriffe in unserer Alltagssprache sinnvoll strukturieren.
59 5.2 · Die verschiedenen Arten von Emotionen
Das Grundgefühl
„Ich fasse also kurz zusammen: Wenn ich frühmorgens aufstehe und mich frisch, gut gelaunt und ausgeruht fühle, erlebe ich mein aktuelles Grundgefühl. Wenn keine emotionsrelevanten Ereignisse stattfinden, kann diese Stimmung länger anhalten. Dementsprechend kann es sein, dass ich den gesamten Tag lang angenehm gestimmt bin und mich dazu motiviert fühle, auf andere zuzugehen und Initiativen zu ergreifen, da mein Grundgefühl mein aktiviertes Annäherungssystem widerspiegelt.“
5.2.2 Basisemotionen
So lange kein emotionsrelevantes Ereignis eintritt, wird man sich nicht in den extremeren Bereichen der Gefühlslandschaft bewegen. Dies kann sich aber schlagartig ändern. Möglicherweise ist es Ihnen schon des Öfteren so ergangen, dass Sie auf ein emotional relevantes Ereignis hin binnen eines Bruchteils einer Sekunde in einen bestimmten Emotionszustand geraten sind. Ein Beispiel ist das oben beschriebene Antreffen einer Schlange. Vielleicht haben Sie etwas Ähnliches auch schon im schulischen Kontext erlebt, beispielsweise wenn ein Schüler unerwartet einen Sportunfall hatte, oder wenn Sie einen Papierflieger durchs Klassenzimmer segeln sahen. ►►Reflexion
Überlegen Sie kurz: Gibt es bei Ihnen im Schulkontext Situationen, in denen Sie von einem Moment auf den anderen in einen bestimmten Emotionszustand geraten? Stellen Sie sich eine dieser Situationen konkret vor. Versuchen Sie herauszufinden: Wie stellen sich bei Ihnen die verschiedenen Reaktionskomponenten ein (Gefühlsebene, kognitive Ebene, physiologische Ebene, motivationale Ebene, expressive Ebene)? ◄
Was wir in solchen Situationen erleben, sind Basisemotionen. Dabei handelt es sich um relativ starre Emotionsprogramme, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben, um schnell und optimal auf bedürfnisrelevante Reizereignisse reagieren zu können. Basisemotionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine angeborene Basis haben, unter ähnlichen Umständen bei allen Menschen auftreten, ein spezifisches Muster an Emotionskomponenten aufweisen und schnell und automatisch ausgelöst werden (Ekman 1992). Wie wir in 7 Abschn. 5.3 noch genauer sehen werden, werden diese grundlegenden Emotionen im Laufe der individuellen Entwicklung einer Person in Abhängigkeit von den gemachten Erfahrungen mit bestimmten Auslösereizen verknüpft. Der konkrete Mechanismus der Emotionsauslösung funktioniert
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
dann so, dass wir unsere Umwelt ständig nach emotionalen Auslösereizen absuchen. Wird ein relevanter Auslösereiz entdeckt, wird das entsprechende Emotionsprogramm aktiviert, mit dem Effekt, dass sich auf den verschiedenen Emotionskomponenten automatisch das für die Emotion charakteristische Reaktionsmuster einstellt. Wir wollen uns das genauer am Beispiel der Basisemotion Angst anschauen, für welche der zugrundeliegende neuronale Mechanismus am besten nachgewiesen ist (siehe . Abb. 5.6). Wie . Abb. 5.6 zeigt, erreichen die von unseren Sinnesorganen aufgezeichneten Signale zuerst den Thalamus, den sogenannten „Türöffner“ zum Gehirn, der alle Sinnessignale empfängt und weiterleitet (grüner Pfad). Das Emotionsprogramm für die Basisemotion Angst ist in roter Farbe eingezeichnet. Das eigentliche Herzstück ist ein kleines Areal in unserem Gehirn, die sogenannte Amygdala. Ihre Aktivierung ruft automatisch das typische Reaktionsmuster der Angst auf den verschiedenen Emotionskomponenten hervor, welches wir beim obigen Beispiel der Schlange bereits kennengelernt haben. Weiterer Bestandteil des Emotionsprogramms ist eine kurze und schnelle Verbindung zwischen Thalamus und Amygdala (roter Pfad), worüber die einströmenden Sinnessignale die Amygdala direkt erreichen. Vom Thalamus aus gibt es schließlich noch einen zweiten Pfad, über den die Sinnessignale in höherstufige Gehirnregionen weitergeleitet und dort zusätzlich verarbeitet und rational bewertet werden können (erster Pfeil des blauen Pfades). Von dort aus kann über eine Verbindung zur Amygdala ebenfalls eine Angstreaktion ausgelöst
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.. Abb. 5.6 Das Emotionsprogramm für die Basisemotion Angst im Gehirn (in roter Farbe eingezeichnet); der blaue Pfad illustriert die Entstehung von Bewertungsemotionen (nach LeDoux 1996). Gesicht Mitte: © Ebner, N. C., Riediger, M., & Lindenberger, U., (2010). FACES – A database of facial expressions in young, middle-aged, and older men and women: Development and validation. Behavior Research Methods, 42, 351–362
61 5.2 · Die verschiedenen Arten von Emotionen
werden (zweiter Pfeil des blauen Pfades). Diesen Pfad werden wir uns bei den Bewertungsemotionen noch genauer ansehen. Die Tatsache, dass der basisemotionale Weg zur Amygdala sehr früh abzweigt und sehr kurz ist, bringt zwei wichtige Konsequenzen mit sich: Die erste Konsequenz ist, dass die eingehenden Sinnessignale nur sehr grob ausgewertet werden können und damit die Amygdala auf relativ grobe Reizschemata reagiert (Vuilleumier et al. 2003). Im Falle einer Schlange reicht demnach bereits ein grob schlangenförmiges Muster aus, damit unser Angstzentrum im Gehirn anspringt. Dementsprechend kann Angst durch Objekte und Personen ausgelöst werden, die in der Vergangenheit überhaupt nicht mit der entsprechenden Emotion verknüpft wurden und für welche die emotionale Reaktion auch gar keinen Sinn ergibt. So kann beispielsweise auch ein Gartenschlauch in der Wiese aufgrund seiner visuellen Ähnlichkeit zu einer Schlange eine Angstreaktion auslösen. Die zweite Konsequenz ist, dass angstauslösende Reize die Amygdala äußerst schnell erreichen. Laut Schätzungen wird die Amygdala bereits nach 80 Millisekunden aktiviert (Bayle et al. 2009). Da es in etwa dreimal so lang dauert, bis wir etwas bewusst wahrnehmen (Sekar et al. 2013), können also angstauslösende Reizmerkmale eine Angstreaktion hervorrufen, noch bevor wir überhaupt mitbekommen, dass die entsprechenden Reizmerkmale in einer Situation anwesend sind. Ähnlich wie bei der bedürfnisbezogenen Verhaltenssteuerung ist für die Auslösung von Basisemotionen demnach keine höherstufige innerliche Repräsentation in Form von bewusst wahrnehmbaren mentalen Bildern oder rationalen Begriffen nötig. ►►Selbstversuch
Man kann das Phänomen, dass wir emotional reagieren, bevor wir überhaupt den verursachenden Reiz bewusst wahrnehmen können, sogar in einem Selbstversuch nachempfinden. Dazu schließen Sie die Augen und bitten eine andere Person, irgendwann so laut in die Hände zu klatschen, dass Sie zusammenzucken. Achten Sie dabei auf Ihre Empfindungen: Was haben Sie zuerst bemerkt? Das Zusammenzucken oder den Knall? Wenn Sie genau in sich hineinhören, werden Sie zuerst das Zusammenzucken bemerken und dann erst den Knall hören. ◄
Während die Existenz der Basisemotion Angst empirisch überzeugend nachgewiesen werden konnte, ist allerdings nach wie vor umstritten, wie viele sonstige Basisemotionen es gibt. Auf der Suche nach weiteren entsprechenden Emotionsprogrammen wurden von verschiedenen Forschern die verschiedenen emotionalen Reaktionskomponenten danach abgeklopft, ob sich dort weitere Emotionen mit basisemotionalen Charakteristiken (angeborene Basis, Auslösung durch ähnliche Umstände bei allen Menschen, spezifisches Muster auf den Emotionskomponenten, schnelle und automatische Auslösung) abgrenzen lassen. So untersuchte beispielsweise der Emotionsforscher Paul Ekman emotionale Gesichtsausdrücke danach, inwiefern diese in verschiedenen Kulturen ähnlich ausfallen und durch vergleichbare Ursachen ausgelöst werden. Der Emotionspsychologe Caroll Izard versuchte dagegen, basierend auf einer Analyse angeborener Motivationstendenzen verschiedene darauf bezogene Basisemotionen abzuleiten. Der Gehirnforscher Jaak Panksepp wiederum versuchte, weitere abgrenzbare Emotionsprogramme im Gehirn nachzuweisen. Wie in . Tab. 5.2 dargestellt, ergaben sich hinsichtlich der jeweils postulierten Basisemotionen allerdings unterschiedliche Vorschläge.
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
.. Tab. 5.2 Drei Theorien zur Existenz verschiedener Basisemotionen
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Ekman et al. (1972) (Expressive Ebene)
Izard (1981) (Motivationale Ebene)
Panksepp und Biven (2012) (Gehirnareale)
Angst
Angst
Angst
Ärger
Ärger
Ärger
Trauer
Trauer
Trauer
Freude
Freude
Belohnung
Ekel
Ekel
Fürsorge
Überraschung
Überraschung
Sexuelle Lust
Interesse
Spiel
Verachtung Scham Schuld
Basisemotionen
„Ich fasse wieder kurz zusammen: Wenn mich also Schüler von einem Moment auf den anderen durch ihr Verhalten in Rage bringen oder die Angst in mir hochschießt, weil ich einen schwierigen Schüler einfach nicht in den Griff bekomme, erlebe ich Basisemotionen. Das Tückische daran ist, dass das so schnell gehen kann, dass ich den konkreten Auslöser der Emotion unter Umständen gar nicht wirklich mitbekommen habe und ich manchmal sogar eine schemenhafte Wahrnehmung eines mir als äußerst schwierig bekannten Schülers ausreicht, um die Emotion bei mir auszulösen.“
5.2.3 Bewertungsemotionen
Wie in . Abb. 5.6 bereits angeklungen, gibt es neben der schnellen und automatischen Auslösung von Basisemotionen noch einen zweiten Weg der Emotionsauslösung, der mit der Entwicklung des rationalen Systems (7 Kap. 6) entstanden ist. Mit Hilfe unseres rationalen Denkens kann man sich mögliche Ereignisse und Konsequenzen ausmalen und bewerten, wodurch ebenfalls Emotionen ausgelöst werden können. Ein erster Weg der Emotionsauslösung besteht darin, dass man sich be
63 5.2 · Die verschiedenen Arten von Emotionen
stimmte Ereignisse mit Hilfe der Aktivierung mentaler Bilder über die zugehörigen Begriffe innerlich vorstellt. ►►Selbstversuch
Schließen Sie die Augen und denken Sie an den letzten schönen Urlaub. Welche Emotionen werden dabei bei Ihnen ausgelöst? Versuchen Sie anschließend, sich eine Situation ins Gedächtnis zu rufen, in der die eigenen Pläne von jemand anderem durchkreuzt wurden. Welche Emotion wird bei Ihnen jetzt ausgelöst? ◄
Am Beispiel der Emotionsauslösung durch mentale Zeitreisen kann man sich auch gut klarmachen, warum das emotionale Geschehen auf der Ebene der Bewertungsemotionen komplexer sein kann als auf der Ebene der Basisemotionen. Vielleicht ist es Ihnen bei der Erinnerung an den letzten Urlaub so gegangen, dass Sie nicht nur angenehme Gefühle erlebt, sondern gleichzeitig Trauer verspürt haben, weil diese schöne Zeit vergangen ist und Sie sie nicht festhalten können – in anderen Worten: Sie haben vielleicht „Nostalgie“ erlebt. Das Besondere an der Emotion Nostalgie ist, dass es sich dabei um eine gemischte Emotion handelt, die sich aus zwei grundlegenderen Emotionen zusammensetzt: Aus Freude und Trauer. Das emotionale Geschehen auf der Ebene von Bewertungsemotionen kann also deshalb komplexer sein, weil sich im Zuge einer rationalen Rekonstruktion von Ereignissen mittels gespeicherter Begriffsnetzwerke komplexere Emotionen einstellen können, die sich aus der Vermischung verschiedener grundlegender Emotionen ergeben. Die Ambivalenz der Emotion Nostalgie
„Eine interessante Frage ist, ob es sich bei Nostalgie eigentlich um eine funktionale oder dysfunktionale Emotion handelt. Man stößt hier auf eine sehr wechselhafte Geschichte, je nachdem, ob die freudebezogene oder trauerbezogene Seite betont wurde. So wurde Nostalgie sogar als psychische Krankheit gehandelt, charakterisiert durch Gefühle von Verlust und Rückzug aus der Gegenwart (Fodor 1950). Aktuellere Studien zeigen dagegen, dass das Erleben von Nostalgie eine wichtige Ressource in schwierigen Zeiten des Lebens sein kann (Wildschut et al. 2006). Sehr eindrücklich wurde das von Viktor Frankl 1982, dem Begründer der Logotherapie, formuliert, der während seiner Inhaftierung in verschiedenen Konzentrationslagern Nostalgie als Instrument einsetzte, um Menschen Trost zu spenden (Franke-Gricksch und Heimann 2015, S. 124):
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
»» Aber ich sprach nicht nur von der Zukunft und von dem Dunkel, in das sie
glücklicherweise gehüllt war, und von der Gegenwart mit all ihren Leiden, sondern ich sprach auch von der Vergangenheit – von all ihren Freuden und dem Licht, das sie noch in die Finsternis unserer Tage spendete. Was wir in der Fülle unseres vergangenen Lebens, in dessen Erlebnisfülle verwirklicht haben, diesen inneren Reichtum kann uns nichts und niemand mehr nehmen.
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Allerdings zeigen neuere Studien nach wie vor die Ambivalenz von Nostalgie. So scheint das Schwelgen in alten Erinnerungen sowohl funktional als auch dysfunktional zu sein, je nachdem, ob sich Gegenwart und Vergangenheit ähnlich sind oder nicht. Besteht beispielsweise ein Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart, kann Nos talgie ein Hemmschuh für die Weiterentwicklung in der neuen Umgebung zu sein, weil es schwerer fällt, die Vergangenheit hinter sich zu lassen (Iyer und Jetten 2011).“
zz Die beiden Bestimmungsstücke einer Bewertungsemotion: Wert und Kontrollierbarkeit
Obwohl ein Schwelgen in vergangenen Erinnerungen also durchaus auch seine Funktionalität haben kann, war der große Vorteil der Entwicklung unseres rationalen Verstandes ein anderer: Man kann sich damit zukünftige Ereignisse mental ausmalen und diese jeweils mit Hilfe rationaler Wertmaßstäbe hinsichtlich der damit verbundenen Konsequenzen, die sich daraus möglicherweise ergeben, bewerten. Die dabei entstehenden Emotionen werden dementsprechend „Bewertungsemotionen“ genannt. Um die Entstehung solcher Emotionen genauer zu verstehen, wollen wir uns zunächst ein Beispiel ansehen. ►►Reflexion
Ihre Schulleiterin hat sich für heute in Ihrer Klasse angekündigt, weil Ihre nächste Beurteilung ansteht, von der Ihre weitere Karriere abhängen wird. Welche Emotionen könnten sich bei Ihnen einstellen? ◄
Wie Sie vermutlich in der Reflexionsaufgabe festgestellt haben, besteht der erste Schritt bei der Entstehung einer Bewertungsemotion darin, sich mental auszumalen, welches Ereignis in der Zukunft eintreten könnte. Im Falle der anstehenden Beurteilung durch die Schulleiterin haben Sie sich vielleicht vorgestellt, dass Sie eine gute Beurteilung erhalten könnten, was wiederum für Ihr weiteres berufliches Fortkommen förderlich wäre. Möglicherweise haben Sie sich aber auch vorgestellt, dass Sie eine schlechte Beurteilung erhalten könnten, was wiederum für Ihre weitere berufliche Entwicklung nachteilig wäre. Eine gute Beurteilung wäre also für Sie ein erwünschtes Ereignis, eine schlechte Beurteilung ein nicht erwünschtes Ereignis. Vielleicht haben Sie sogar noch weitergedacht und sich überlegt, wie wichtig Ihnen eigentlich Ihr berufliches Fortkommen ist. Je nach Wichtigkeit haben Sie den Wunsch nach einer guten Beurteilung bzw. nach dem Vermeiden einer schlechten Beurteilung vielleicht intensiver oder weniger intensiv erlebt. Wir stoßen hier auf das erste Bestimmungsstück einer Bewertungsemotion: Die subjektiv empfundene Wünschbarkeit eines Ereignisses – den sogenannten „Wert“. Wie wir am Beispiel gesehen haben, kann man hier zunächst zwischen zwei Arten
65 5.2 · Die verschiedenen Arten von Emotionen
von Wert unterscheiden, einem positiven Wert und einem negativen Wert. Bei Ereignissen mit positivem Wert handelt es sich um Ereignisse, die man gerne erleben würde, bei Ereignissen mit negativem Wert um Ereignisse, die man gerne vermeiden würde. Der positive bzw. negative Wert fällt dabei umso höher aus, je wichtiger man das jeweilige Ereignis für das eigene Wohlbefinden und Fortkommen einschätzt. Wie das Beispiel auch zeigt, hängen solche Werturteile von der individuellen E inschätzung einer Person ab. So kann einer Lehrkraft das berufliche Fortkommen sehr wichtig sein, einer anderen aber nicht, mit dem Effekt, dass der Ausgang der Beurteilung einmal einen höheren und einmal einen niedrigeren Wert hat. Allerdings hängen die sich einstellenden Emotionen von einer zweiten Bewertung ab: Der subjektiven Einschätzung, wie wahrscheinlich ein Ereignis eintreten wird, und wie stark man meint, diese Wahrscheinlichkeit beeinflussen zu können – der sogenannten „Kontrollierbarkeit“. Es ist nämlich nicht so, dass ein bevorstehendes Ereignis mit einem positiven bzw. negativen Wert automatisch auch eine angenehme bzw. unangenehme Emotion auslöst. Vielleicht haben Sie im Selbstversuch durchaus einer guten Beurteilung einen hohen positiven Wert zugeordnet, weil Ihnen Ihr berufliches Fortkommen persönlich sehr wichtig ist. Aber gleichzeitig haben Sie sich ausgemalt, dass Ihre Schulleiterin praktisch nie gute Beurteilungen vergibt, egal, was man macht (geringe Kontrollierbarkeit). Als emotionale Konsequenz würde sich dann möglicherweise „Hoffnungslosigkeit“ einstellen. Oder Sie haben zwar einer schlechten Beurteilung einen hohen negativen Wert zugeordnet, aber sich klargemacht, dass das angesichts Ihrer guten Vorbereitung eine schlechte Beurteilung äußerst unwahrscheinlich ist (hohe Kontrollierbarkeit), sodass Sie möglicherweise die Emotion „Erleichterung“ erlebt haben. . Abb. 5.7 zeigt noch einmal zusammenfassend die drei Schritte auf dem Weg zum Erleben einer Bewertungsemotion. Bei der Entstehung von Bewertungsemotionen wird also der empfundene Wert eines Ereignisses mit der empfundenen Kontrollierbarkeit des Eintretens des Ereignisses verrechnet. Welche weiteren Bewertungsemotionen könnte es nun noch geben? Prinzipiell kann sowohl der Wert eines Ereignisses als auch die Kontrollierbarkeit des Eintretens kontinuierlich zwischen zwei Polen variieren: Der Wert von sehr negativ bis sehr positiv und die Kontrollierbarkeit von sehr gering bis sehr hoch. Durch die Kombination beider Bewertungsmaßstäbe ergibt sich damit wieder eine emotionale Landschaft (für eine Illustration siehe . Abb. 5.8, links). Betrachtet man die Landschaft der Bewertungsemotionen auf der linken Seite der . Abb. 5.8, wird klar, dass sich die Frage, wie viele Bewertungsemotionen denn nun wirklich existieren, eigentlich nicht beantworten lässt. Wenn wir die Frage nach der Anzahl stellen, müssen wir die kontinuierliche Landschaft in abgrenzbare Kästen
Mögliche Ereignisse?
Wert?
Kontrollierbarkeit
Bewertungsemotionen .. Abb. 5.7 Die drei Schritte auf dem Weg zum Erleben einer Bewertungsemotion. Denkendes Mädchen: © Barbara Alsu
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
5 .. Abb. 5.8 Die beiden Bewertungsmaßstäbe Wert und Kontrollierbarkeit und die dadurch entstehende Landschaft unserer Bewertungsemotionen
unterteilen – und damit hängt die Anzahl der Bewertungsemotionen davon ab, wie grob oder fein wir die Landschaft begrifflich auflösen. Auf der rechten Seite der . Abb. 5.8 ist beispielsweise ein Vorschlag des Leistungsemotionsforschers Reinhard Pekrun (Pekrun 2006) dargestellt. Auf der Wertachse wird hier aufgrund der Tatsache, dass sich beim Übergang von negativ auf positiv qualitativ etwas ändert – im Bereich negativer Werte geht es um zu vermeidende Ereignisse, im Bereich positiver Werte um anzustrebende Ereignisse – eine Zweiteilung vorgenommen. Auf der Kontrollierbarkeitsachse wird eine Dreiteilung vorgenommen (geringe vs. mittlere vs. hohe Kontrolle). Bei gering empfundener Kontrollierbarkeit geht man davon aus, dass man das Auftreten eines Ereignisses aus eigenen Kräften nicht herbeiführen bzw. verhindern kann. Dementsprechend kann sowohl bei Ereignissen mit positivem als auch negativem Wert die Emotion Hoffnungslosigkeit erlebt werden. Bei mittelmäßig empfundener Kontrollierbarkeit geht man davon aus, dass man das Eintreten oder Ausbleiben von Ereignissen in gewissem Ausmaß beeinflussen kann. Dementsprechend erlebt man bei Ereignissen mit positivem Wert anstatt Hoffnungslosigkeit nun Hoffnung, weil die erwünschten Konsequenzen ja vielleicht doch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erreicht werden können. Bei Ereignissen mit negativem Wert erlebt man anstelle von Hoffnungslosigkeit Angst, weil zwar nach wie vor unerwünschte Konsequenzen drohen, die aber möglicherweise noch durch entsprechendes Handeln vermieden werden können. Bei hoch empfundener Kontrolle geht man davon aus, dass man das Auftreten eines Ereignisses aus eigenen Kräften sicher herbeiführen bzw. verhindern kann. Daher wird bei Ereignissen mit positivem Wert die Emotion Vorfreude erlebt, bei Ereignissen mit negativem Wert die Emotion Erleichterung.
zz Eine zweite Ebene des Kontrollempfindens
Es lohnt sich, sich den Selbstversuch zur Beurteilung durch die Schulleitung noch einmal genauer anzuschauen. Bisher sind wir davon ausgegangen, dass eine Person Hoffnungslosigkeit erlebt, wenn die Schulleiterin praktisch nie gute Beurteilungen vergibt, egal was man macht (geringe Kontrollierbarkeit). Vielleicht ist es Ihnen beim Ausmalen einer solchen Situation aber gar nicht so ergangen, sondern Sie haben stattdessen eine ganz andere Emotion erlebt: Ärger auf die Schulleiterin. Man stößt
67 5.2 · Die verschiedenen Arten von Emotionen
hier auf einen interessanten Punkt. Wenn man feststellt, dass man in einer Situation das Eintreten unerwünschter oder das Ausbleiben erwünschter Ereignisse nicht beeinflussen kann, gibt es noch eine zweite Ebene des Kontrollempfindens: Man kann sich auf die Suche machen, ob sich für das Eintreten unerwünschter oder Ausbleiben erwünschter Konsequenzen eine andere Person oder ein Objekt verantwortlich machen lässt. Ist dem so, taucht die Frage auf, ob man das empfundene Hindernis beseitigen kann. Wird hier wiederum die Kontrollierbarkeit hoch eingeschätzt, wird anstatt Hoffnungslosigkeit die Emotion Ärger erlebt, die unseren Organismus so einstellt, dass das Hindernis möglichst überwunden werden kann.
Ärger und Angst: Basisemotionen oder Bewertungsemotionen?
„Vielleicht waren Sie überrascht, dass die Emotionen Ärger und Angst bei den Basisemotionen wie auch bei den Bewertungsemotionen aufgetaucht sind. Interessanterweise können beide Emotionen sowohl automatisch und schnell durch wahrgenommene Objektmerkmale (Basisemotion) als auch als Reaktion auf rationale Bewertungsprozesse (Bewertungsemotion) ausgelöst werden. Eine Verknüpfung einer basisemotionalen Ärger- oder Angstreaktion kann sich sogar daraus entwickeln, dass man zunächst Ärger oder Angst bewertungsbezogen erlebt hat. Ein Beispiel ist die Prüfungsangst. So kann ein Schüler aufgrund der Bewertung einer bevorstehenden Prüfung in Form eines hohen negativen Wertes („Wenn ich durchfalle, drohen schlimme Konsequenzen.“) kombiniert mit einer als gering empfundenen Kontrollierbarkeit („Die Stofffülle ist einfach zu groß, als dass ich alle Inhalte gut vorbereiten könnte.“) jedes Mal, wenn er sich an seinen Schreibtisch zum Lernen setzt, Prüfungsangst empfinden. Mit der Zeit wird der Schreibtisch durch assoziatives Lernen mit der Angstreaktion verknüpft, so dass irgendwann schon allein das Setzen an den Schreibtisch ausreicht, um eine Angstreaktion auszulösen.“
Bewertungsemotionen
„Ich fasse wieder zusammen: Wenn ich mir ausmale, dass es wohl morgen in der Klasse wieder unangenehm laut zugehen wird (Wert), und ich mir nicht sicher bin, ob ich es hinbekommen werde, für Ruhe zu sorgen (Kontrollierbarkeit), werde ich mich wahr-
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
scheinlich ängstlich fühlen. Wenn ich mir dann ein paar Strategien zurechtlege, von denen ich recht sicher weiß, dass sie funktionieren, werde ich mich erleichtert fühlen. Da diese Emotionen durch gedankliche Bewertungsvorgänge entstehen, handelt es sich um Bewertungsemotionen.“
5.2.4 Selbstwert-Emotionen
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Die bisher beschriebenen Bewertungsemotionen haben eine Gemeinsamkeit: Immer ging es darum, Dinge in der Umwelt danach zu bewerten, inwiefern sie förderlich oder hinderlich für unser Fortkommen sind. Wir können mit Hilfe der Begriffsnetzwerke unseres rationalen Systems aber nicht nur die Welt abbilden und bewerten, sondern auch uns selbst. Interessanterweise haben sich diesbezüglich völlig eigenständige Bewertungsemotionen entwickelt. Der Grund dafür ist, dass diese durch eigenständige Bedürfnisse gespeist werden, deren Erfüllung bzw. Nichterfüllung uns diese Emotionen innerlich bewusst erlebbar macht: unsere Bedürfnisse nach Selbstwert und Selbstentfaltung. Wie wir im Kap. 6 (7 Abschn. 6.2) noch sehen werden, ergibt sich unser Selbstwert daraus, dass wir uns selbst mit Hilfe von Begriffen repräsentieren und das entstehende Selbstbild mit Rückgriff auf selbstwertbezogene Wertmaßstäbe bewerten. Je nachdem, wie diese Bewertung ausfällt, erleben wir selbstwertbezogene Emotionen. Wird ein Wertmaßstab erfüllt oder gar übertroffen, wird die Emotion Stolz erlebt. Bleibt man hinter einem Wertmaßstab zurück, kommt zunächst eine kontrollbezogene Bewertung ins Spiel, nämlich ob man meint, man hätte den Wertmaßstab eigentlich erreichen können oder nicht. Im ersten Fall bewertet man sein in der Situation gezeigtes Verhalten negativ, da man eigentlich zu einem besseren Verhalten fähig gewesen wäre, sodass Schuld erlebt wird. Im zweiten Fall bewertet man sich als Person negativ, da man offenbar nicht über die gewünschten Fähigkeiten verfügt, sodass Scham erlebt wird. Obwohl beide Emotionen durch ein relativ ähnliches Zustandsmuster charakterisiert sind, gibt es einen zentralen Unterschied: Scham ist mit Deaktivierung und sozialem Rückzug verbunden, um das Zurückbleiben hinter dem Wertmaßstab möglichst nicht offenbar werden zu lassen und die selbstwertbezogenen Wertmaßstäbe neu zu adjustieren. Schuld dagegen ist mit einer Aktivierung verbunden, einerseits um den Wertmaßstab in Zukunft zu erreichen, andererseits um gegebenenfalls sozialen Anschluss durch Wiedergutmachung sicherzustellen oder wiederherzustellen (siehe Lewis 2000).
Langeweile: Eine durchaus interessante Emotion
„Aus evolutionärer Perspektive bahnbrechend war schließlich, dass sich über Stolz, Scham und Schuld hinaus noch eine vierte Emotion entwickelt hat, die ausgelöst wird, wenn wir uns in einer Situation befinden, die aus der Perspektive unserer Wertmaßstäbe als wertlos empfunden wird. In solchen Situationen erleben wir die Emotion Lan-
69 5.2 · Die verschiedenen Arten von Emotionen
geweile. Im Zusammenspiel mit den drei anderen selbstwertbezogenen Emotionen ergab sich daraus ein fundamentaler Selektionsvorteil: Wenn gerade alle Bedürfnisse erfüllt sind, gibt es nun eine Kraft in uns, die uns dazu bringt, dann nicht einfach nichts zu tun, sondern stattdessen die freigewordenen Ressourcen zu nutzen, um unsere Kompetenzen für zukünftige Situationen zu erweitern und uns selbst zu entfalten.“
Selbstwert-Emotion
„Ich fasse also noch einmal zusammen: Immer wenn eine Emotion damit zu tun hat, dass ich ein Ereignis in Bezug auf mich selbst bewerte, erlebe ich Selbstwert-Emotionen. Manchmal fühle ich beispielsweise Stolz, wenn ich den Eindruck habe, ein Schüler hat es wirklich durch meine Unterstützung geschafft, bessere Noten zu erzielen. Manchmal ertappe ich mich aber auch dabei, dass ich mich schuldig fühle, wenn mir Eltern beim Elterngespräch mit Tränen in den Augen vorwerfen, ich würde nicht genügend für ihr Kind tun.“
5.2.5 Die Grundthemen unserer Emotionen – ein Überblick
Im Verlauf des Kapitels wurde nun bereits eine Reihe von Emotionen beschrieben. Diese wollen wir abschließend noch einmal überblicksmäßig darstellen. Wie bereits erwähnt, liegt jeder Emotion ein bestimmtes Grundthema in Bezug auf die Erfüllung oder Gefährdung unserer Bedürfnisse und Ziele zugrunde. Die folgende Tabelle zeigt zusammenfassend für die verschiedenen Emotionen das jeweilige Grundthema, illustriert durch Beispiele aus dem Lehreralltag. 5.2.6 Emotionen im Kontext Schule
„Emotionen sind überall – so auch im Klassenzimmer“, sagte Marta zu Beginn dieses Buches. Allerdings blieb die Frage, inwiefern Lehreremotionen einen besonderen Stellenwert besitzen, bisher unbeantwortet. Beim Durchstöbern von Ausbildungseinheiten für angehende Lehrkräfte, beim Durchforsten von Fortbildungsangeboten oder auch beim Besuch von Konferenzen zur Verbesserung des Schulsystems und der Ausbildung von Lehrkräften fällt auf: Lehreremotionen werden – wenn überhaupt – nur am Rande thematisiert. Ein ähnliches Vakuum tut sich in der Forschung auf – auch hier waren bis vor kurzem Lehreremotionen und ihre Bedeutung und Wirkung ein weitgehend unerforschtes Feld. Paul Schutz und Reinhard Pekrun, Herausgeber des im Jahre 2007 veröffentlichten Buches „Emotion in Education“, formulieren in ihrem Einführungskapitel auf die Frage, was die Forschergemeinschaft über Lehreremotionen weiß, eine simple Antwort: „Until recently, […] next to nothing“ (S. 3).
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
Dies geschah vor 12 Jahren. Mittlerweile kommt allerdings immer mehr Bewegung in ein schlummerndes und brachliegendes Forschungsgebiet. Nach vielem, was man in den öffentlichen Medien liest, könnte man glauben, dass Lehrkräfte in ihrem Beruf ständig Ärger und Enttäuschung erleben. Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen jedoch ein anderes Bild: In einer Studie mit 270 Lehrkräften gaben diese an, in 96 % Ihrer Unterrichtsstunden Freude, in 38 % Ärger und in 19 % Unsicherheit zu erleben (Frenzel et al. 2015). In einer weiteren Studie wurden 22 Lehrkräfte über einen Zeitraum von zwei Wochen regelmäßig zu ihrem emotionalen Status befragt, sodass insgesamt 352 Statusberichte analysiert wurden (Hensley et al. 2014). Die Lehrkräfte in dieser Studie berichteten ebenso, dass sie im Schnitt am Intensivsten Freude erlebten, gefolgt von Stolz, Ärger und Langeweile. Erleben von Scham und Unsicherheit wurde hingegen kaum berichtet. Noch viel deutlicher in den Kinderschuhen steckt die Forschung zu den Emotionsauslösern im Klassenzimmer. Es gibt jedoch mittlerweile einige Studien, die sich mit dem Zusammenhang von Schülerverhalten und Lehreremotionen befassen. Untersucht wurde beispielsweise, inwiefern das Erleben von Ärger oder Freude auf Lehrerseite von der Motivation und Disziplin der Schüler abhängen. Es konnte in einer Studie von Becker et al. (2015) gezeigt werden, dass Lehrkräfte mehr Freude berichten, wenn Schüler motiviert und engagiert sind. Das Auftreten von Ärger war hingegen sehr stark mit dem Auftreten von Disziplinschwierigkeiten verbunden. Besonders wichtig – und für dieses Buch auch besonders relevant – ist dabei allerdings der weitere Befund, dass neben den konkreten Ereignissen auch die Bewertung dieser Ereignisse durch die Lehrkraft einen Einfluss auf die Emotion hat. Mittlerweile ist auch die Bedeutsamkeit der Zielkongruenz von Ereignissen an Lehrkräften untersucht. So sind Ereignisse, die den persönlichen Zielen nicht zuträglich sind, erwartungsgemäß auch bei Lehrkräften ausschlaggebend für das Erleben von unangenehmen Emotionen (Chang 2013). Genauer erforscht sind auch selbstwertbezogene Ziele von Lehrkräften: Frenzel et al. (2008) gehen davon aus, dass Lehrkräfte sich als kompetent erleben, wenn sie ihr Unterrichtshandeln als erfolgreich bewerten. Demzufolge sollten Lehreremotionen eng mit Unterrichtsergebnissen verknüpft sein. Frenzel et al. (2008) benennen in diesem Zusammenhang drei zu erreichende Ziele: Lernzuwächse bei Schülern, motivierte Schüler, die Interesse signalisieren, und Unterrichtsdisziplin. Obwohl in Interviewstudien berichtet wird, dass Lernerfolge schwacher Schüler angenehme Emotionen auslösen können, scheint die generelle Leistungsfähigkeit von Schülern allerdings nicht ausschlaggebend für Lehreremotionen zu sein. Die Motivation von Schülern hingegen schon: Mangelnde Anstrengung von Schülern wird häufig als Auslöser von Lehrerärger genannt, umgekehrt rufen engagierte Schüler eher angenehme Emotionen hervor (Hagenauer et al. 2015). Disziplinschwierigkeiten im Unterricht gelten als prominenter Auslöser von Lehrerärger. Aber auch hier ist nicht das Ereignis an sich unbedingt entscheidend für die resultierende Emotion. Es liegt z. B. unter anderem eine Studie von Chang (2013) vor, laut welcher eine empfundene fehlende Wirksamkeit bei Disziplinschwierigkeiten im Klassenzimmer das Auftreten von Ärger und Frustration beeinflusst und eben nicht (nur) die fehlende Disziplin im Unterricht. Die empfundene Kontrollierbarkeit bestimmt hier also die Intensität und Ausprägung der Emotion mit.
71 5.3 · Wie werden Emotionen ausgelöst? – Die emotionale Landkarte
Lehreremotionen und Lehrer-Schüler-Beziehung
„Das würde dann ja bedeuten, dass ich selbst in einer Klasse, die sehr undiszipliniert ist, zu einem gewissen Grad steuern kann, ob ich Ärger empfinde. Und dass meine eigene Einschätzung meiner didaktisch-pädagogischen Fähigkeiten mitbestimmt, wie ich mich fühle. Das steigert auf jeden Fall mein persönliches Kontrollempfinden. Noch eine Sache, die mich als Lehrkraft schon des Öfteren beschäftigt hat, ist die persönliche Nähe bzw. Distanz zwischen Lehrkraft und Schüler. Die Frage, die ich mir hier schon oft gestellt habe, ist: Wie viel Nähe möchte ich zwischen mir und meinen Schülern zulassen? Wie viel Energie möchte ich von meiner Seite aus in die persönliche Beziehung zwischen mir und meinen Schülern investieren? Lohnt es sich, möglichst enge Beziehungen aufzubauen, oder ist Distanzierung der sinnvollere Weg? Sieht man sich die Literatur durch, so findet man an dieser Stelle ermutigende Befunde, die für Investitionen in Lehrer-Schüler-Beziehungen sprechen. Denn: Die Lehrer-Schüler-Beziehung scheint Auswirkungen auf das emotionale Erleben von Lehrkräften zu haben. Man geht davon aus – und Befunde deuten in diese Richtung –, dass enge Bindungen und vertrauensvolle Lehrer-Schüler-Beziehungen Quellen angenehmer Emotionen von Lehrkräften sind (Spilt et al. 2011).“
>>Wichtig! Für die emotionale Kompetenz ist es wichtig, die verschiedenen Arten von Emotionen zu kennen und voneinander abgrenzen zu können. Da die verschiedenen Arten von Emotionen über jeweils eigenständige Mechanismen entstehen, können nämlich aus der Identifikation der Art der aktuell erlebten Emotion Schlussfolgerungen über den Auslöser und die mögliche Regulation gezogen werden. Übungen zur Emotionsdifferenzierung finden sich im zweiten Teil des Buches unter 7 Abschn. 11.1, da runter vor allem Reflexionsübungen zur Unterscheidung und Wahrnehmung der Emotionskomponenten, und eine Übung bezieht sich direkt auf im Klassenzimmer auftretende Emotionen.
5.3 Wie werden Emotionen ausgelöst? – Die emotionale
Landkarte
Wie wir bereits wissen, steuern uns unsere Emotionen darüber, dass sie unseren Organismus auf verschiedenen Funktionsebenen auf eine bestimmte Art und Weise einstellen. Aber woher weiß unser Organismus nun, auf welches Ereignis hin eine bestimmte Emotion ausgelöst werden soll? Ähnlich wie beim Bedürfnissystem stoßen wir auch im emotionalen System auf eine mentale Landkarte – wir wollen
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
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.. Abb. 5.9 Die Funktionsweise der emotionalen Landkarte. Bildansammlung: © Pixabay, illustriert von Simon. 7 https://pixabay.com/photos/images-photos-photo-collection-382006/ (abgerufen am 07.08.2019). Gesicht rechts: © Ebner, N. C., Riediger, M., & Lindenberger, U., (2010). FACES – A database of facial expressions in young, middle-aged, and older men and women: Development and validation. Behavior Research Methods, 42, 351–362
diese hier unsere „emotionale Landkarte“ nennen. Diese Landkarte enthält alle Situationsmerkmale, die man im Laufe des Lebens im Gehirn gespeichert hat, und legt fest, auf welche Merkmale hin mit einer bestimmten Emotion reagiert werden soll. Wird die Anwesenheit eines in der Landkarte gespeicherten und mit einer bestimmten Emotion verknüpften Situationsmerkmals in der Umwelt registriert, wird die damit verknüpfte Emotion ausgelöst. . Abb. 5.9 veranschaulicht die Funktionsweise am Beispiel der emotionalen Landkarte einer Person, die Angst vor Mathematik hat.
►►Reflexion
Mittels der emotionalen Landkarte durchforstet das emotionale System permanent die Umwelt auf der Suche nach den dort gespeicherten emotionalen Schlüsselreizen – unseren roten (Auslösung unangenehmer Emotionen) und grünen (Auslösung angenehmer Emotionen) „Hot Spots“. Durchforsten Sie kurz Ihren Alltag: Was sind Ihre persönlichen roten und grünen Hot Spots in Ihrer emotionalen Landkarte? ◄
Die emotionale Landkarte entsteht in Abhängigkeit von den individuellen emotionalen Erfahrungen, die eine Person im Laufe des Lebens in ihrer Umwelt gemacht hat. Tritt in einer zunächst als neutral empfundenen Situation ein Ereignis ein, das eine bestimmte Emotion auslöst, so wird diese Emotion im Nachhinein mit den von der neutralen Situation im Gedächtnis gespeicherten Merkmalen verknüpft. Trifft man nun erneut auf die entsprechenden Situationsmerkmale, wird sofort die damit
73 5.3 · Wie werden Emotionen ausgelöst? – Die emotionale Landkarte
.. Abb. 5.10 Die Entstehung unserer emotionalen Landkarte durch die erfahrungsabhängige Verknüpfung von Situationsmerkmalen und Emotionen (emotionale Konditionierung). Hund links: © New Africa/7 stock.adobe.com; Gesicht rechts: © Ebner, N. C., Riediger, M., & Lindenberger, U., (2010). FACES – A database of facial expressions in young, middle-aged, and older men and women: Development and validation. Behavior Research Methods, 42, 351–362
verknüpfte Emotion ausgelöst. . Abb. 5.10 illustriert diese sogenannte emotionale Konditionierung am Beispiel der Entstehung einer Angst vor Hunden. Auf zwei weitere Besonderheiten der emotionalen Konditionierung möchten wir an dieser Stelle noch aufmerksam machen. Eine erste Besonderheit ist, dass aufgrund unserer evolutionären Vergangenheit manche Emotionen besonders leicht an bestimmte Objekte geknüpft werden können. Man kann das anhand folgender Geschichte illustrieren (nach Marks 1987):
►►Beispiel
Ein Kind spielt im Sandkasten, entdeckt dort eine Schlange und erschrickt fürchterlich. Es rennt so schnell es kann zum Auto der Eltern, schlägt die Tür zu und klemmt sich schmerzhaft die Finger ein. In der Folge entwickelt das Kind eine Angst vor Schlangen, aber nicht vor Autotüren. ◄
Bestätigt wird dies durch Studien, in denen versucht wurde, sowohl Bilder von Spinnen und Schlangen als auch Bilder von Blumen und Pilzen mit der Emotion Angst zu verknüpfen, indem die Bilder mit elektrischen Stromschlägen gepaart wurden. Es zeigte sich, dass eine Verknüpfung mit Angst für Spinnen- und Schlangenbildern deutlich schneller erfolgte und auch deutlich schlechter anschließend wieder rückgängig gemacht werden konnte (für einen Überblick siehe Öhman und Mineka 2001). Wie diese Studien zeigen, kann in solchen Fällen sogar eine einzige emotionale Erfahrung ausreichend sein für die Ausbildung einer Reiz-Emotions-Verknüpfung („One-Trial-Learning“; Öhman et al. 1975).
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
5 .. Abb. 5.11 Emotionale Landkarten mit breiter (links) und enger (rechts) Generalisierung. Hunde Mitte: © New Africa/7 stock.adobe.com
Eine zweite Besonderheit betrifft die Frage, wie bei einer emotionalen Erfahrung mit einem bestimmten Objekt auf ähnliche Objekte generalisiert wird. Man kann das allgemeine Prinzip der Generalisierung anhand einer klassischen Studie zur Angstkonditionierung illustrieren, die aufgrund ihrer moralischen Fragwürdigkeit in die Geschichte der Psychologie eingegangen ist – dem Experiment „Der kleine Albert“ (Watson und Rayner 1920). Beim kleinen Albert handelt es sich um einen neun Monate alten Jungen, der im Rahmen eines Experiments eine Angst vor einer weißen Ratte erworben hatte. Immer dann, wenn er die Ratte erblickte, wurde hinter seinem Rücken mit einem Hammer laut auf ein Eisenrohr geschlagen. Wie sich weiterhin zeigte, entwickelte er dadurch nicht nur eine Angst vor weißen Ratten. Er reagierte auch auf ein Kaninchen, auf die Haare des Versuchsleiters und auf eine bärtige Nikolausmaske mit Angst – die Angst wurde also auf ähnliche Objekte generalisiert. Im Hinblick auf die emotionale Kompetenz sind bei der Generalisierung vor allem zwei Aspekte von Bedeutung. Der erste Aspekt betrifft die Frage, wie breit eigentlich von einer emotionalen Erfahrung mit einem bestimmten Ereignis auf weitere Ereignisse generalisiert wird. . Abb. 5.11 illustriert diesen Aspekt am Beispiel des bissigen Hundes aus . Abb. 5.10. Hier kann man sich die Frage stellen, ob die bei einer Person vorliegende Breite der Generalisierung über bestimmte Situationen oder Objekte hinweg eigentlich wirklich funktional ist. Der zweite Aspekt betrifft die Frage, wie gut wir die in unseren emotionalen Landkarten gespeicherten Situations-Emotions-Verknüpfungen durchschauen können. Betrachtet man die Generalisierung beim kleinen Albert genauer, fällt auf, dass die Objekte, auf welche die Angst generalisiert wird, sich zwar hinsichtlich spezifischer Merkmale ähnlich sind (alle sind „haarig“). Sie gehören aber zu sehr unterschiedlichen Objektklassen (Tier/Mensch/Objekt). Diese Beobachtung legt eine spannende Vermutung nahe: Offenbar können emotionale Reaktionen auf der Ebene von perzeptuellen Bausteinen generalisiert werden, selbst wenn die zugehörigen Objekte recht unähnlich sind. Für die Suche nach Emotionsauslösern bringt diese Eigenschaft eine Schwierigkeit mit sich: Da unser autobiographisches Gedächtnis unsere Erfahrungen nicht in Form von perzeptuellen Bausteinen, sondern in Form von mentalen Bildern von Objekten und verbalen Begriffen abspeichert, ist es uns manchmal ein Rätsel, warum wir auf ein be
75 5.3 · Wie werden Emotionen ausgelöst? – Die emotionale Landkarte
stimmtes Objekt emotional reagieren. Nehmen wir beispielsweise an, der kleine Albert würde nach seinem Erlebnis mit der Ratte irgendwann später auf einen Nikolaus treffen und Angst empfinden. Es wäre für ihn vermutlich ein unlösbares Rätsel, woher die Angst vor dem Nikolaus eigentlich kommt. Weder in seiner aktuellen bewussten Wahrnehmung des Nikolaus noch in seiner autobiographischen Erinnerung an das Rattenerlebnis spielt das Merkmal „haarig“ vermutlich eine Rolle, weshalb er nicht verstehen kann, dass die Angst auf der Ebene dieses spezifischen Merkmals übertragen wurde. Zur Generalisierung von Generalisierbarkeit
„Generell kann gesagt werden, dass auch im Kontext Schule ständig Generalisierungen vorgenommen werden – denn dies dient schließlich einer notwendigen Kategorisierung unserer Welt. Bekannte Generalisierungseffekte sind z. B. der Halo-Effekt, bei dem die Bewertung eines bestimmten Merkmals einer Person auf andere Merkmale dieser Person übertragen wird oder auch soziale Stereotype (für einen Überblick siehe Lukesch 1998, S. 180). Generalisierungseffekte scheinen also in unterschiedlichen Bereichen aufzutreten. Ob bei Emotionen wie Freude oder Ärger auch Generalisierungseffekte auftreten, ist wissenschaftlich noch wenig erforscht. Vorstellen könnte ich es mir ja, denn mir persönlich ist es tatsächlich bereits passiert, dass ich verärgert war wegen des Verhaltens eines Schülers und danach bemerkte, dass ich mich kurzzeitig auch über andere Schüler ärgerte, ohne dass diese irgendein unangemessenes Verhalten gezeigt hätten.“
zz Die optimale emotionale Landkarte
Wie schon beim Bedürfnissystem wollen wir uns auch hier wieder fragen, wie eine optimale emotionale Landkarte aussehen könnte. Wie beschrieben, entwickeln sich unsere emotionalen Landkarten in Abhängigkeit von den individuellen Lebenserfahrungen. Ähnlich wie bei der Entstehung chronisch überaktivierter Bedürfnisse im Bedürfnissystem können damit auch im emotionalen System bestimmte Emotionen chronisch im Vordergrund stehen. Wächst eine Person in einer Umwelt heran, in der eine bestimmte Emotion sehr häufig empfunden wird, können emotionale Landkarten entstehen, die schwerpunktmäßig diese Emotion enthalten. Als Konsequenz steht die entsprechende Emotion chronisch im Vordergrund, während weitere Emotionen selten oder vielleicht gar nicht erlebt werden, was eine flexible Handlungssteuerung beeinträchtigt. Eine in eine bestimmte Richtung verschobene oder eine unflexible emotionale Landkarte ist also wenig funktional. Aber wie emotional differenziert sollte dann eine emotionale Landkarte inhaltlich optimalerweise sein? Wir wollen uns das anhand einer Studie anschauen, in der bei über 37.000 Personen sowohl die Häufigkeit des Empfindens verschiedener Emotionen als auch Indikatoren für die psychische
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
5 .. Abb. 5.12 Emotionale Komplexität und psychische Gesundheit (nach Quoidbach et al. 2014)
und physische Gesundheit gemessen wurden (Porter 1913; Quoidbach et al. 2014). Auf der linken Seite der . Abb. 5.12 sind beispielhaft die emotionalen Landkarten von zwei verschiedenen Personen abgebildet. Jede der in der Studie gemessenen Emotionen ist in einer bestimmten Farbe dargestellt, unangenehme Emotionen in rötlichen und angenehme Emotionen in grünlichen Farbtönen. Die Größe eines Kreissegments entspricht jeweils dem Anteil, wie häufig die entsprechende Emotion im Verhältnis zu den anderen Emotionen erlebt wird. Je größer ein Kreissegment, desto mehr Raum nimmt also die entsprechende Emotion in der emotionalen Landkarte ein. Betrachtet man die beiden emotionalen Landkarten, fallen verschiedene Charakteristiken auf: Eine erste Charakteristik ist die Reichhaltigkeit: Die linke Landkarte enthält weniger Emotionen als die rechte. Eine zweite Charakteristik ist die Art der Verteilung: In der linken Landkarte sind die Emotionen ungleichmäßiger verteilt, in der rechten Landkarte gleichmäßiger. Beides zusammengenommen wird auch als „Komplexität“ bezeichnet. Die Komplexität einer Landkarte ist dann hoch, wenn die enthaltenen Emotionen gleichzeitig reichhaltiger und gleichmäßiger verteilt ausfallen. Die linke Landkarte ist also weniger komplex als die rechte. Was bei den beiden emotionalen Landkarten ähnlich ausfällt, ist die dritte Charakteristik: der Anteil an unangenehmen Emotionen im Vergleich zu den angenehmen Emotionen. Auf der rechten Seite der . Abb. 5.12 sind die Ergebnisse der Studie von Quoidbach et al. (2014) für die psychische Gesundheit dargestellt. Als Maß für die psychische Gesundheit ist das Depressionslevel einer Person abgebildet, in Abhängigkeit davon, ob die emotionale Landkarte einer Person einen hohen oder geringen Anteil an unangenehmen bzw. angenehmen Emotionen aufweist. Unabhängig vom Anteil unangenehmer bzw. angenehmer Emotionen zeigt sich ein deutlicher Trend: Je höher die Komplexität einer emotionalen Landkarte, desto niedriger das Depressionslevel und desto höher die psychische Gesundheit einer Person. Weiterhin spielt der Anteil an unangenehmen und angenehmen Gefühlen eine wichtige Rolle: Je geringer der Anteil unangenehmer Gefühle und je größer der Anteil angenehmer Gefühle, desto höher die psychische Gesundheit. Ein vergleichbares Muster zeigte sich in der Studie auch für die physische Gesundheit. Zusammenfassend kann also der folgende Schluss
77 5.3 · Wie werden Emotionen ausgelöst? – Die emotionale Landkarte
gezogen werden: Eine emotionale Landkarte ist umso optimaler, je größer der Anteil an angenehmen Emotionen und je geringer der Anteil an unangenehmen Emotionen ist, und je reichhaltiger und gleichmäßiger verteilt die Emotionen sind.
Angenehme Emotionen = gut und unangenehme Emotionen = schlecht?
Die Studie von Quoidbach et al. (2014) scheint eine einfache und intuitiv recht überzeugende Annahme zu stützen: Angenehme Emotionen sind etwas „Gutes“ und unangenehme Emotionen etwas „Schlechtes“. In der Tat findet sich diese Annahme auch in der „Glücksforschung“ wieder. So wird „Glück“ von vielen Vertretern dort als „subjektives Wohlbefinden“ konzeptualisiert, das aus einer rationalen und einer emotionalen Komponente besteht (Diener 1984). Während die rationale Komponente das Urteil über die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben umschreibt, gilt man emotional betrachtet als umso „glücklicher“, je mehr angenehme und je weniger unangenehme Emotionen man erlebt. Angesichts solcher Glücksdefinitionen könnte man also auf die Idee kommen, dass unangenehme Emotionen dem „Glück“ abträglich sind. Jedoch beziehen sich die aktuell erlebten Emotionen einer Person immer auf den gegenwärtigen Stand ihrer Persönlichkeitsentwicklung. Macht man „Glück“ nun nicht am aktuell empfundenen „subjektiven Wohlbefinden“ fest, sondern daran, ob eine Person einen bestimmten Stand des Persönlichkeitswachstums erreicht hat, ergibt sich ein anderer Blickwinkel: Manche Emotionen mögen sich zwar im Moment unangenehm anfühlen, aber sie können eine treibende Kraft für die Weiterentwicklung der Persönlichkeit sein, weil sie signalisieren, dass wichtige Lebensaspekte noch nicht zufriedenstellend mit der aktuell ausgebildeten Persönlichkeit gelebt werden können. Aus der Perspektive eines so verstandenen „Glücks“ sind somit unangenehme Emotionen nicht notwendigerweise dem „Glück“ abträglich, sondern können auch ein Begleiter sein auf dem Weg zum „wahren Glück“.
zz Eine zweite emotionsrelevante Landkarte
Wie wir bei den Bewertungsemotionen gesehen haben, können Emotionen auch ausgelöst werden, wenn man die sich aus einer Situation möglicherweise ergebenden Ereignisse mental ausmalt und die Konsequenzen rational bewertet. Wie bereits angeklungen, handelt es sich bei den ausgemalten Möglichkeiten und Bewertungen nicht um objektive Tatsachen, sondern um subjektive Überzeugungen, die im Laufe eines Lebens individuell erworben werden, in Abhängigkeit von den gemachten Erfahrungen. Hier stoßen wir auf eine weitere mentale Landkarte, die für die Entstehung von Emotionen relevant ist: Die rationale Landkarte, welche die Begriffsnetzwerke enthält, mit denen wir die äußere Welt und uns selbst rational repräsentieren und bewerten.
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
>>Wichtig! Für eine hohe emotionale Kompetenz ist es also wichtig, die eigene emotionale Lerngeschichte zu erkunden, die widerspiegelt, welche emotionalen Erfahrungen man mit Objekten und Personen bisher gemacht hat. Zur Reflexion der eigenen Lerngeschichte kann die Übung „Emotionale Alarmdatenbank“ im zweiten Teil des Buches unter 7 Abschn. 11.3.1 hilfreich sein.
5.4 Wirkungen von Emotionen
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Nachdem wir nun die verschiedenen Arten von Emotionen kennengelernt haben und wissen, wie Emotionen ausgelöst werden, wollen wir uns im folgenden Abschnitt mit den Wirkungen von Emotionen beschäftigen. Dazu werden wir den Einfluss unserer Emotionen auf die in 7 Abschn. 5.1 bereits kurz vorgestellten Emotionskomponenten genauer betrachten.
>>Wichtig! Für die emotionale Kompetenz ist das Wissen dieses Abschnitts aus zwei Gründen hilfreich. Zum einen hilft es, den aktuellen emotionalen Zustand besser wahrzunehmen und in seinen Wirkungen besser einzuschätzen. Zum anderen kann man daraus ableiten, welcher emotionale Zustand hinsichtlich der aktuell gegebenen Situationsanforderungen optimal wäre, sodass man versuchen kann, diesen Zustand gezielt herzustellen.
5.4.1 Gefühlsebene
Die Wirkung auf der Gefühlsebene haben wir schon kennengelernt: Unsere Emotionen werden von uns bewusst erlebt, indem sie sich innerlich auf eine bestimmte Art und Weise anfühlen. Jede Emotion geht also mit einem ganz bestimmten innerlich erlebten Gefühl einher und informiert uns damit über die Konsequenzen der aktuellen Situation für unsere Bedürfnisse und Ziele. Allerdings hängen die Wirkungen von einer Reihe von Faktoren ab: Ein erster Faktor ist die Reichhaltigkeit, mit der die von einer Person erlebten Emotionen durch sprachliche Begriffe abgebildet werden: Je differenzierter das emotionsbezogene Vokabular, umso zielgerichteter und spezifischer kann man über die möglichen Ursachen und Konsequenzen reflektieren. Studien zeigen, dass es diesbezüglich große Unterschiede zwischen Personen gibt. Ein prägnantes Beispiel findet sich in der bereits erwähnten Studie von Fehr und Russell (1984), in der von Studierenden insgesamt 383 verschiedene Emotionsbegriffe genannt wurden. Interessant ist, dass ungefähr die Hälfte der Begriffe von einer einzigen Person stammte, während andere Personen weniger als zehn Emotionsbegriffe nannten. Personen unterscheiden sich also hinsichtlich der Reichhaltigkeit ihres Emotionsvokabulars. Ein zweiter Faktor hat mit dem Phänomen zu tun, dass sich Gefühle und Emotionen voneinander abkoppeln können: Es kann sein, dass eine Person zwar eine bestimmte emotionale Reaktion auf allen anderen Emotionskomponenten zeigt, auf der Gefühlsebene aber kein passendes oder sogar gar kein Gefühl erlebt. Eine solche
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Person bekommt also gar nicht mit, dass sie sich gerade in einem bestimmten emotionalen Zustand befindet. Entdeckt wurde dieses Phänomen, als man der Vermutung nachging, dass es zwei Persönlichkeitstypen beim Umgang mit unangenehmen Gefühlen geben könnte: Einen Typ, der Gefühlen besonders viel Aufmerksamkeit schenkt und damit intensiver erlebt, um das zugrundeliegenden Problem besser lösen zu können, und einen Typ, der Gefühle verdrängt um sie nicht bewusst erleben zu müssen (für einen Überblick siehe Krohne 1996).
Der „Körperpanzer“
„Eine interessante Frage ist, auf welche Weise Emotionen eigentlich aus dem Bewusstsein verdrängt werden können. Hierzu müssen wir uns eine spannende Charakteristik unserer Emotionen klarmachen. Wie wir gesehen haben, sind unsere Emotionen dadurch charakterisiert, dass unser Organismus auf den verschiedenen Emotionskomponenten in einen für die jeweilige Emotion spezifischen Zustand geht. Was passiert nun eigentlich, wenn man an einer einzigen Emotionskomponente dreht und diese verändert? Wie die Forschung gezeigt hat, ändert sich damit auch der emotionale Gesamtzustand – und damit auch das erlebte Gefühl. So kann man beispielsweise durch das Einnehmen bestimmter Körperhaltungen das erlebte Gefühl verstärken oder abschwächen (Veenstra et al. 2017). Aufbauend auf solchen Ideen wurde schon in den 1930er-Jahren vom Psychoanalytiker Wilhelm Reich vermutet, dass sich hier chronifizierte Verdrängungsprozesse entwickeln können (Reich 1933): Um eine bestimmte Emotion wie beispielsweise Angst nicht bewusst wahrnehmen zu müssen, werden die zu einer körperlichen Angstreaktion antagonistischen Muskeln angespannt. Daraus können sich chronifizierte körperliche Verspannungen entwickeln – von Wilhelm Reich „Körperpanzer“ genannt –, welche verhindern, dass erlebte Ängste bewusst wahrgenommen werden. Diese Idee wurde in Rahmen körperorientierter Psychotherapieverfahren aufgegriffen und weiterentwickelt, mit dem Ziel, den Körper als Möglichkeit zur Aufdeckung unbewusster psychischer Prozesse zu nutzen (Geuter 2015). Eine ähnliche Idee findet sich in der Meditationstechnik Yoga. Vielleicht haben Sie sich schon einmal gefragt, warum man dort so seltsame körperliche Verrenkungen und Atemtechniken macht. Yoga heißt übersetzt ‚Das Anschirren des Körpers an die Seele‘ (Franke-Gricksch und Heimann 2015, S. 79). Die grundlegende Idee dabei ist, dass für einen wirklichen Zugang zu den eigenen inneren Kräften und eine darauf aufbauende Veränderung dieser Kräfte der Körper zunächst mit Hilfe von körperlichen Dehnübungen und bestimmten Atemtechniken flexibilisiert werden muss.“
Allerdings ist wichtig anzumerken, dass auch die andere Extremform – also das zu intensive Erleben eines Gefühls – nicht funktional ist, denn auch diese spiegelt die eigentlich ausgelöste Emotion nicht adäquat wider.
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Schüler bei der Abfrage
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„Beides – also sowohl dass Schüler ihren eigentlichen emotionalen Zustand gar nicht mitbekommen oder aber übertrieben als Gefühl wahrnehmen – habe ich des Öfteren schon beim Abfragen oder bei Referaten erlebt. Danach frage ich meine Schüler manchmal, wie sie sich denn währenddessen gefühlt haben. Immer wieder kommt es dann vor, dass Schüler beispielsweise der Überzeugung sind, sie hätten gar keine Angst gehabt, obwohl nach meiner Beobachtung auf physiologischer, motivationaler oder kognitiver Ebene deutliche Anzeichen von Prüfungsangst erkennbar waren. Oder sie meinen, sehr ängstlich bei einem Referat gewirkt zu haben, obwohl mein Eindruck eigentlich war, dass es sich um einen relativ sicheren Auftritt gehandelt hat.“
>>Wichtig! Mit Blick auf die emotionale Kompetenz ist es deshalb wichtig, dafür Sorge zu tragen, dass die erlebten Gefühle den tatsächlich gegebenen emotionalen Zustand möglichst genau widerspiegeln. Hilfreich dafür ist die Entwicklung eines reichhaltigen und gut verstandenen Emotionsvokabulars. Als Übung zur Anreicherung des Emotionsvokabulars ist vor allen Dingen das „Emotionsrad“ im zweiten Teil des Buches in 7 Abschn. 11.1 hilfreich.
5.4.2 Kognitive Ebene
Unter dem Begriff „Kognition“ werden alle Prozesse zusammengefasst, mittels derer unser Gehirn Ereignisse wahrnimmt und innerlich repräsentiert (Wahrnehmung und Aufmerksamkeit), gemachte Erfahrungen abspeichert und wieder abruft (Gedächtnis), auftretende Probleme auf eine neue Weise zu lösen versucht (Denken und Pro blemlösen) und Ereignisse bewertet (Bewertung). Die Wirkungen unserer Emotionen auf diesen Ebenen wollen wir uns im Folgenden genauer ansehen. 5.4.2.1 Wahrnehmung und Aufmerksamkeit
Die Grundlage, auf der alle in uns ablaufenden psychischen Prozesse aufbauen, ist die anfängliche Wahrnehmung und innerliche Abbildung der uns umgebenden Welt. Bereits auf dieser Ebene können Emotionen Wirkungen hervorrufen. zz Der Auflösungsgrad der Wahrnehmung
Bei der Wahrnehmung stellt sich zunächst die Frage, wie viel von der äußeren Welt wir überhaupt in unsere Köpfe einströmen lassen. Man kann sich unsere Aufmerksamkeit auf dieser Ebene wie den Scheinwerferkegel einer Taschenlampe vorstellen, den man breiter und enger einstellen kann.
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.. Abb. 5.13 Der Scheinwerferkegel unserer Aufmerksamkeit. Bäume: © Barbara Alsu
►►Selbstversuch
Sehen Sie sich in . Abb. 5.13 das Bild von den Bäumen auf der linken Seite an. Versuchen Sie, Ihren Aufmerksamkeitskegel zunächst einmal sehr breit einzustellen und möglichst viele Bäume auf einmal wahrzunehmen. Versuchen Sie anschließend, ihren Aufmerksamkeitskegel auf eng einzustellen, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit auf einen kleineren Bildausschnitt ausrichten. Beobachten Sie die Qualität Ihrer Wahrnehmungen: Nehmen Sie qualitative Veränderungen wahr? ◄
Wenn Sie genau auf die Qualität Ihrer Wahrnehmungen geachtet haben, dann ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass sich mit der Veränderung der Breite des Aufmerksamkeitskegels auch die Qualität Ihrer Wahrnehmungen verändert hat. Wir treffen hier auf eine interessante Charakteristik unseres Wahrnehmungssystems, die sich daraus ergibt, dass unsere Wahrnehmungsressourcen insgesamt begrenzt sind. Bei einem breiten Aufmerksamkeitskegel müssen die verfügbaren Ressourcen auf mehr Objekte verteilt werden als bei einem engen Aufmerksamkeitskegel. Die Konsequenz ist, dass bei einem breiten Aufmerksamkeitskegel Objekte weniger genau wahrgenommen werden als bei einem engen Aufmerksamkeitskegel. Wir stoßen hier also auf einen Trade-Off, den wir in Bezug auf die Wahrnehmung einer Situation machen müssen: Wir können eine Situation entweder breiter, dafür aber ungenauer, oder aber weniger breit, dafür aber genauer wahrnehmen. Genau darauf nehmen nun unsere Emotionen Einfluss. Wie wir im Abschnitt zum Grundgefühl gesehen haben (7 Abschn. 5.2.1), lässt sich dieses durch die beiden Faktoren Valenz (Wie angenehm bzw. unangenehm ist die Stimmung?) und Aktiviertheitsgrad (Wie ruhig bzw. erregt bin ich?) beschreiben. Wie sich in Studien gezeigt hat, beeinflussen beide Faktoren die Einstellung des Trade-Offs zwischen der Breite des Aufmerksamkeitskegels und der Genauigkeit der wahrgenommenen Situationsmerkmale (siehe . Abb. 5.13 rechts). Die Umwelt wird umso weniger breit, aber dafür genauer wahrgenommen, je unangenehmer und aktivierter man sich fühlt, und umso breiter und ungenauer, je angenehmer und deaktivierter man sich fühlt (Easterbrook 1959; Spachtholz et al. 2014). Unsere Emotionen beeinflussen also, wie breit und wie genau die äußere Welt in unsere Köpfe einströmt.
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.. Abb. 5.14 Detailorientierte versus globale Wahrnehmung. Bäume: © Barbara Alsu
Der nächste Schritt im Wahrnehmungsprozess besteht darin, die einströmenden Sinnessignale innerlich abzubilden und zu repräsentieren. Auch hierauf nehmen Emotionen Einfluss. ►►Selbstversuch
In der . Abb. 5.14 sehen Sie links ein Bild mit mehreren Bäumen. Vergleichen Sie dieses Bild mit den beiden Bildern rechts daneben: Welches der beiden Bilder ist dem linken Bild ähnlicher? ◄
Interessanterweise sind beide der rechts abgebildeten Bilder in . Abb. 5.14 dem linken Bild ähnlich, nur auf verschiedenen Ebenen – das obere auf der Ebene der Details („die Bäume“) und das untere auf der Ebene der globalen Form („der Wald“). Je nachdem, wie Sie sich entschieden haben, hatten Sie das linke Bild demnach auf eine bestimmte Art und Weise innerlich repräsentiert: Wenn Sie sich für „oben“ entschieden haben, eher detailorientiert, wenn Sie sich für „unten“ entschieden haben, eher global orientiert. Auch hierauf nehmen unsere Emotionen Einfluss: Je unangenehmer und je aktivierter man sich fühlt, desto detailorientierter werden die eingehenden Sinnessignale innerlich repräsentiert, und je angenehmer und deaktivierter, desto globaler (Schwarz und Clore 2007). In unangenehmer Stimmung sehen wir also eher die Bäume und in angenehmer Stimmung eher den Wald.
zz Die Fokussierung der Wahrnehmung
Wie wir im Kapitel zur Aufmerksamkeit gesehen haben (7 Abschn. 2.2), kann nur ein kleiner Teil der Vielzahl der auf uns einströmenden Sinnesreize bewusst wahrgenommen und begrifflich verarbeitet werden. Unser Wahrnehmungssystem muss hier also eine Auswahl treffen.
►►Reflexion
Blicken Sie kurz auf den heutigen Schultag zurück. Welche Ereignisse sind bei Ihnen besonders hängengeblieben? Gab es Schüler, die heute im Fokus der Aufmerksamkeit standen? Und gab es vielleicht auch Schüler, von denen Sie gar nicht sagen können, was diese heute so im Unterricht gemacht haben? ◄
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.. Abb. 5.15 Eine Gruppe von Gesichtern
Wenn Sie die Ereignisse und Schüler durchgehen, die am heutigen Schultag bei Ihnen besonders im Fokus standen: Welche übergreifende Gemeinsamkeit fällt Ihnen auf ? Möglicherweise haben diese alle bei Ihnen bestimmte Emotionen ausgelöst. Wir stoßen hier auf ein Phänomen, das durch zahlreiche Studien belegt ist: Sind in einer Situation emotionsauslösende Objekte oder Personen anwesend, wird der Fokus der Wahrnehmung bevorzugt darauf gelegt (Vuilleumier 2005). Dahinter steckt die bereits beschriebene informative Funktion unserer Emotionen: Diese sagen unserem kognitiven System, welche Ereignisse, Personen oder Objekte in unserer Umgebung relevant sind und welche nicht. ►►Selbstversuch
Bitte warten Sie, bevor Sie sich die . Abb. 5.15 unten ansehen, lesen Sie zuerst den Text: In der Abbildung sind neutrale Gesichter abgebildet, bis auf eines. Bei diesem einen handelt es sich entweder um ein fröhliches oder ein trauriges Gesicht. Ihre Aufgabe besteht nun darin, möglichst schnell herauszufinden, ob die Menge von Gesichtern ein fröhliches oder ein trauriges Gesicht enthält. Sehen Sie sich nun die Abbildung an. Wie Sie vermutlich bemerkt haben, ist sowohl ein freudiges als auch ein trauriges Gesicht in der Abbildung enthalten. Welches haben Sie als erstes wahrgenommen? ◄
Es ist sehr wahrscheinlich, dass im Selbstversuch das ärgerliche Gesicht Ihre Aufmerksamkeit stärker auf sich gezogen hat als das freudige Gesicht. Man stößt hier auf ein weiteres Phänomen, das in zahlreichen Studien nachgewiesen und in einem Überblicksartikel sehr treffend in folgendem Satz zusammengefasst wurde (Baumeister et al. 2001):
»» „Bad is stronger than good“ Eine bevorzugte Wahrnehmung von unangenehmen gegenüber angenehmen Objekten findet sich für so unterschiedliche Objekte wie Gesichter, Düfte, Tiere oder Persönlichkeitsmerkmale. Diese Bevorzugung zeigt sich dabei nicht nur darin, dass unangenehme Ereignisse stärker die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sondern auch, dass diese die Aufmerksamkeit länger binden (Fox et al. 2001; Kuhbandner et al. 2011b). Ein ähnlicher Effekt findet sich zudem über den Bereich der Wahrnehmung hinaus. So werden beispielsweise Verhaltensweisen schneller erworben, wenn damit drohende Strafen vermieden werden können, als wenn damit in Aussicht stehende
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Belohnungen erreicht werden können (Spence und Segner 1967). Ähnliche Ergebnisse finden sich bei der Bewertung von Ereignissen: So sind die unangenehmen Gefühle bei einem Verlust von 100 Euro stärker als die angenehmen Gefühle bei einem Gewinn von 100 Euro (Kahneman und Tversky 1984). Auch im Bereich der sozialen Beziehungen findet sich ein vergleichbares Muster: So wirken sich im Vergleich negative Handlungen stärker auf die Zufriedenheit und Haltbarkeit sozialer Beziehungen aus als positive Handlungen. Hier wurde sogar ein Index postuliert, nach dem für den Ausgleich einer negativen Handlung fünf positive nötig seien (Geuter 2015). Aber warum ist das so? Der Grund findet sich in unserer evolutionären Vergangenheit: Eine stärkere Fokussierung auf bedrohliche Objekte ist für das Überleben vorteilhafter. Man kann sich das an den unterschiedlich weitreichenden Konsequenzen klarmachen, die die Nichtbeachtung eines unangenehmen versus angenehmen Objektes haben kann. Während die Nichtbeachtung eines unangenehmen Objektes im Extremfall zum Tod führen kann, lebt man beim Verpassen eines angenehmen Objektes weiter, und man kann versuchen, es bei der nächsten Möglichkeit doch noch zu erreichen. Was könnten mögliche Konsequenzen in der Schule sein? Auf der Ebene einer Schulklasse ist es daher sehr wahrscheinlich, dass Schüler, die unerwünschtes Verhalten zeigen, stärker wahrgenommen werden und mehr Ressourcen binden als Schüler, die erwünschtes Verhalten zeigen. Eine erste Konsequenz kann hier sein, dass man die Klasse insgesamt negativer bewertet, obwohl diese Bewertung in Wirklichkeit nur auf dem Verhalten einiger weniger Schüler basiert. Im obigen zitierten Beitrag unseres Lehrers spricht dieser beispielsweise vom „lärmenden Klassenkollektiv“. Hier könnte es durchaus sein, dass eine solche negative Übergeneralisierung stattfindet. Eine zweite Konsequenz kann sein, dass nicht störende Schüler vernachlässigt werden. Auf der Ebene individueller Schüler kann es ebenfalls zu verzerrten Wahrnehmungen kommen, indem Schwächen stärker wahrgenommen werden als Stärken – eine Dynamik, die sogar bei der Bewertung der eigenen Person zum Tragen kommen kann. Das „Anna-Karenina-Prinzip“: Die unerträgliche Leichtigkeit des Auslösens negativer Emotionen
„Die Tatsache, dass unangenehme Ereignisse unsere Aufmerksamkeit stärker auf sich ziehen, ist vor allem auch für den Unterricht mit problematischen Konsequenzen verbunden. Wie bei der Beschreibung des Bedürfnissystems geschildert, besteht ein zen trales Bedürfnis darin, sich als jemand zu erleben, der die soziale Umwelt beeinflussen kann. Im Unterricht kann das dadurch erfüllt werden, dass man die Aufmerksamkeit der anderen auf sich zieht. Prinzipiell könnte ein Schüler nun entweder durch angenehme Handlungen wie beispielsweise einer guten Mitarbeit am Unterricht oder durch unangenehme Handlungen wie das Stören des Unterrichts Aufmerksamkeit auf sich
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ziehen. Der eben beschriebene Aufmerksamkeitsvorteil für unangenehme Ereignisse bringt das Problem mit sich, dass das Zeigen unangenehmer Verhaltensweisen mit höherer Wahrscheinlichkeit zum Erfolg führt als das Zeigen angenehmer Verhaltensweisen. Fundamental verstärkt wird diese Problematik aber noch durch einen weiteren Unterschied zwischen unangenehmen und angenehmen Ereignissen, der in Anlehnung an den ersten Satz des bekannten Romans „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi auch als das „Anna-Karenina-Prinzip“ bezeichnet wird. Der Satz lautet (Tolstoi 2010, S. 1):
»» „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“
Was sich zunächst nur nach einer Alltagsweisheit anhört, ist in der Tat durch zahlreiche Studien bestätigt. Beispielsweise ähneln sich Beschreibungen der Eigenschaften von Freunden mehr als die Beschreibungen der Eigenschaften von Feinden (Alves et al. 2016). Hinter dem Prinzip steckt ein interessanter Mechanismus: Während für das Gelingen einer Sache typischerweise gleichzeitig viele Bedingungen erfüllt werden müssen, reicht es für das Misslingen oft aus, wenn eine einzige Bedingung nicht erfüllt ist. Ein gutes Beispiel ist die Schule. Um die Aufmerksamkeit durch eine gute Mitarbeit am Unterricht auf sich zu ziehen, sind zahlreiche Vorbedingungen zu erfüllen. So muss der Schüler beispielsweise Interesse am Lernstoff mitbringen, er muss sich diesen bisher gut angeeignet haben, er muss in der Stunde konzentriert sein und er muss ein hohes Selbstkonzept ausgebildet haben. Um dagegen die Aufmerksamkeit durch eine Störung des Unterrichts auf sich zu ziehen, sind praktisch keine Vorbedingungen zu erfüllen, denn hier kann aus einer Vielzahl von unangenehmen Verhaltensweisen gewählt werden, die alle ohne großen Aufwand einfach ausgeführt werden können. Zusammenfassend ergibt sich damit eine unangenehme Dynamik: Geht es um Aufmerksamkeit, so kann diese nicht nur stärker durch das Auslösen unangenehmer Emotionen erreicht werden, sondern das Auslösen unangenehmer Emotionen ist oft auch noch mit weitaus weniger Aufwand verbunden.“
5.4.2.2 Gedächtnis
Die Erinnerungen an unsere bisher gemachten Erfahrungen mit der Welt sind einer der zentralen Einflussfaktoren, die unser gegenwärtiges Erleben und Handeln prägen, weil sie die bisherigen Erfahrungen mit der Welt in der Gegenwart verfügbar machen. Wie wir unsere Erfahrungen erinnern, hängt von drei Aspekten ab, die alle von unseren Emotionen beeinflusst werden: (1) Wie werden Erfahrungen anfänglich im Gedächtnis abgespeichert? (2) Wie gut werden die abgespeicherten Erinnerungen über die Zeit hinweg im Gedächtnis behalten? (3) Welche Erinnerungen werden in der Gegenwart aus dem Gedächtnis abgerufen? zz Die anfängliche Abspeicherung von Ereignissen als Erinnerungen
Die erste Charakteristik betrifft die Frage, wie die von uns erlebten Ereignisse als Erinnerungen im Gedächtnis gespeichert werden. Je nachdem, wie wir unsere Erfahrungen mit der Welt speichern, werden diese uns später beeinflussen können. Prinzi-
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piell gibt es hier zwei wichtige Aspekte: Der erste betrifft die Frage, welche der zahllosen erlebten Ereignisse überhaupt Eingang in unser Gedächtnissystem finden. Der zweite betrifft die Frage, mit welcher Qualität die als abspeicherungswürdig erachteten Ereignisse im Gedächtnis gespeichert werden. Prinzipiell spiegeln die emotionalen Effekte auf der Ebene des Gedächtnisses die emotionalen Effekte auf der Ebene der Wahrnehmung wider, da nur das im Gedächtnis gespeichert werden kann, was anfänglich auch wahrgenommen und innerlich repräsentiert wurde. Hinsichtlich der Frage, welche Ereignisse bevorzugt abgespeichert werden, zeigen zahlreiche Studien, dass Objekte, Personen und Ereignisse vor allem dann als Erinnerungen abgespeichert werden, wenn sie mit dem Erleben einer Emotion einhergehen (Murray et al. 2013). Ist beispielsweise in einer Situation ein emotionsauslösendes Objekt anwesend, wird dieses detaillierter behalten, während weitere anwesende Objekte nur oberflächlich oder gar nicht abgespeichert werden (Marks 1987). Ein gut dokumentiertes Beispiel ist der sogenannte „Waffenfokus“, welcher das Phänomen beschreibt, dass Zeugen von Verbrechen sich später häufig zwar lebhaft an die Waffe erinnern können, kaum aber an weitere Details wie die Kleidung oder das Gesicht des Täters (z. B. Loftus et al. 1987). Ähnlich ist es Ihnen möglicherweise bei der obigen Selbstreflexion gegangen, bei der Sie sich die Frage gestellt haben, welche schulischen Ereignisse bei Ihnen hängengeblieben sind. Sie haben möglicherweise emotionsauslösende Schüler gut erinnert, während Sie kaum mehr wissen, was unauffällige Schüler gemacht haben. Hinsichtlich der Qualität der Abspeicherung treffen wir auf dasselbe Muster wie bei der Wahrnehmung: Ereignisse werden umso detailbezogener im Gedächtnis gespeichert, je unangenehmer und aktivierter man gestimmt ist. Ein eindrückliches Beispiel sind sogenannte „Blitzlichterinnerungen“, welche das Phänomen beschreiben, dass traumatische Erlebnisse äußerst detailreich gespeichert werden (Brown und Kulik 1977). Beispielsweise erinnern Sie sich möglicherweise noch relativ genau daran, was sie getan haben, als Sie die Nachricht vom Terroranschlag auf das World Trade Center in New York erfahren haben (für entsprechende Befunde siehe Conway et al. 2009). Die Abspeicherung kann dabei sogar so detailbezogen ausfallen, dass bereits das bloße Antreffen eines bestimmten Wahrnehmungsdetails (z. B. ein bestimmter Klang) ausreichend sein kann, um eine komplette hochemotionale Erinnerung an das damalige Erlebnis auszulösen (Ehlers et al. 2004). In angenehmer Stimmung wird beim Speichern von Ereignissen dagegen von perzeptuellen Details abstrahiert. Stattdessen werden die angetroffenen Ereignisse mit Hilfe unserer bereits abgespeicherten inneren mentalen Landkarten gespeichert, welche die uns umgebende Welt objektbezogen unabhängig von konkreten perzeptuellen Details repräsentieren (Spachtholz und Kuhbandner 2017). zz Das Behalten von Erinnerungen über die Zeit
Haben Ereignisse in Form von Erinnerungen Eingang in unser Gedächtnissystem gefunden, stellt sich eine weitere Frage: Wie gut werden diese Erinnerungen über die Zeit hinweg im Gedächtnis behalten? Hier stoßen wir auf eine interessante Ausnahme zur Regel „Bad is stronger than good“: Zahlreiche Studien zeigen, dass Personen mehr angenehme als unangenehme Ereignisse aus der persönlichen Vergangenheit erinnern, selbst wenn die erlebte Anzahl an angenehmen und unangenehmen Ereignissen vergleichbar war (Walker et al. 2003).
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►►Reflexion
Vielleicht kennen Sie dieses Phänomen in Bezug auf die Erinnerung an den letzten Urlaub: Denken Sie zunächst einfach nur kurz an Ihren letzten Urlaub: Wie ist er Ihnen insgesamt in Erinnerung geblieben? Versuchen Sie danach, sich konkrete Erlebnisse ins Gedächtnis zu rufen: Handelt es sich dabei eher um unangenehme oder angenehme Ereignisse? Eine häufige Beobachtung ist, dass der Urlaub rückblickend insgesamt als angenehm in Erinnerung bleibt, obwohl währenddessen durchaus auch unangenehme Erlebnisse aufgetreten sind. ◄
Unangenehme Ereignisse scheinen also über die Zeit hinweg schneller vergessen zu werden als angenehme Ereignisse. Aber warum ist das so? Ein Grund dafür ist, dass unangenehme und angenehme Emotionen unterschiedliche Dinge signalisieren: Unangenehme Emotionen warnen uns, dass ein Ereignis bzw. die sich daraus ergebenden Konsequenzen unerwünscht sind und das Ereignis oder die Konsequenzen mit den aktuell vorhandenen Verhaltensmöglichkeiten noch nicht erfolgreich vermieden werden können. Dementsprechend wird das Ereignis genau abgespeichert, um Lösungsmöglichkeiten entwickeln zu können. Sobald zufriedenstellende Lösungen entwickelt und im Verhalten etabliert worden sind, wird das Ereignis oder die Konsequenz als weniger belastend erlebt. Die detaillierte Erinnerung an das Ereignis verliert damit ihre Wichtigkeit und kann wieder vergessen werden. Angenehme Emotionen signalisieren dagegen, dass ein Ereignis bzw. die sich daraus ergebenden Konsequenzen erwünscht sind und mit den aktuell vorhandenen Verhaltensmöglichkeiten erfolgreich herbeigeführt werden können. Solange sich Bedürfnisse und Motive nicht ändern, bleibt das Herbeiführen des Ereignisses ein attraktives Ziel, sodass die Erinnerung daran langfristig erhalten bleibt. Das Pollyanna-Prinzip
„Im Jahr 1969 wurde von den Forschern Boucher und Osgood die Hypothese aufgestellt, dass auch die menschliche Kommunikation eine Ausnahme von der Regel „Bad is stronger than good“ darstellen könnte, basierend auf dem Befund, dass positive Wörter häufiger verwendet werden als negative Wörter. Von Matlin und Stang wurde diese Hypothese 1978 zu einem allgemeinen Prinzip erweitert – dem sogenannten „Pollyanna-Prinzip“. Aufbauend auf einer Sammlung diverser Befunde schlossen die beiden Forscher, dass es eine prinzipielle menschliche Tendenz gäbe, angenehmen Dingen den Vorzug vor unangenehmen Dingen zu geben. Der Begriff „Pollyanna“ wurde dabei einem Kinderbuch der US-amerikanischen Autorin Eleanor Porter (1913) entnommen, in dem ein Mädchen namens Pollyanna beschrieben wird, das selbst in widrigsten Umständen immer das Positive sieht. Als das Mädchen beispielsweise wegen eines Beinbruchs ins Krankenhaus muss, ist sie nicht etwa traurig, sondern stattdessen froh, dass sie nun endlich Zeit hat, all die Bücher zu lesen, die sie schon immer mal lesen wollte. In einer umfangreichen länderübergreifenden Studie wurde das Pollyanna-Prin-
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zip kürzlich eindrücklich für den Bereich der Kommunikation bestätigt. Dazu wurden in zehn verschiedenen Sprachen anhand von Büchern, Filmen, Zeitungen, dem Internet und sozialen Netzwerken jeweils die 10.000 am häufigsten verwendeten Wörter bestimmt und von Muttersprachlern hinsichtlich ihres Emotionsgehalts beurteilt. Übereinstimmend zeigte sich in allen zehn Sprachen, dass positive Wörter deutlich häufiger verwendet werden als negative Wörter (Dodds et al. 2015).“
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zz Das Abrufen von Erinnerungen in der Gegenwart
Die dritte Frage, die sich in Bezug auf den Einfluss unserer Erinnerungen auf unser gegenwärtiges Erleben und Verhalten stellt, ist: Welche der zahlreichen gespeicherten Erinnerungen werden im gegenwärtigen Moment eigentlich abgerufen? Zunächst könnte man meinen, dass die Antwort recht einfach sei: Die Erinnerung, die am besten zur aktuellen Situation passt. Allerdings sind unsere Erinnerungen so zahllos, dass sich auch hier eine übergreifende Ordnungsstruktur herausgebildet hat, für die – neben weiteren Faktoren – unsere Emotionen ausschlaggebend sind. Aufgestellt wurde diese Hypothese anfänglich von Gordon Bower (1981), der annahm, dass Ereignisse zusammen mit den währenddessen erlebten Emotionen abgespeichert werden. Die Konsequenz ist, dass unsere Emotionen unsere Erinnerungen strukturieren: Wenn man sich in der Gegenwart in einem bestimmten emotionalen Zustand befinden, werden bevorzugt Erinnerungen abgerufen, die mit derselben Emotion verknüpft sind. Je nachdem, ob man beispielsweise gerade angenehm oder unangenehm gestimmt ist, werden eher angenehme oder unangenehme vergangene Ereignisse erinnert (Eich und Forgas 2003). Da wir unsere Erinnerungen benutzen, um die gegenwärtig einströmenden Sinnesreize nach Relevanz zu filtern (siehe 7 Abschn. 2.2), ergeben sich daraus auch Konsequenzen für die Wahrnehmung von Situationen. Befinden wir uns aktuell in einem bestimmten Emotionszustand, werden bevorzugt die Objekte, Personen oder Ereignisse wahrgenommen, die mit der erlebten Emotion übereinstimmen (Niedenthal und Setterlund 1994). Ist man als Lehrkraft beispielsweise aktuell ärgerlich gestimmt, nimmt man ärgerbezogene Verhaltensweisen von Schülern intensiver war. Der Effekt kann sein, dass man auf Verhaltensweisen reagiert, die man normalerweise eigentlich gar nicht als so extrem störend empfindet, oder dass man die gesamte Klasse so wahrnimmt, als sei sie heute besonders störend, obwohl eigentlich alles wie immer ist. An sich ist ein solches Prinzip durchaus funktional, weil dadurch die für den aktuellen Kontext relevanten Erinnerungen bereitgestellt werden. Allerdings ist damit eine Gefahr verbunden, der man sich bewusst sein sollte. Wie wir in 7 Abschn. 2.2 zum Thema Wahrnehmung gesehen haben, können wir zu einem bestimmten Zeitpunkt immer nur einen bestimmten Ausschnitt einer Situation bewusst wahrnehmen, weshalb wir „blind“ für Situationsaspekte sind, die sich aktuell nicht in unserem Bewusstsein befinden. Das gleiche Phänomen existiert im Bereich unserer Erinnerungen. Wenn wir eine bestimmte Erinnerung erleben, füllt diese vollständig unser Bewusstsein aus, mit dem Effekt, dass wir im gegenwärtigen Moment nur einen Ausschnitt unserer Lebenserinnerungen wahrnehmen und für die tatsächliche Vielfalt unserer vergangenen Erlebnisse blind sind. Solange der Abruf von Erinnerungen von
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.. Abb. 5.16 Die emotionsbedingte Verzerrung unserer Erinnerungen. Klassenzimmer: © cookart/ stock.adobe.com
Moment zu Moment flexibel ist, ist damit kein Problem verbunden. Sobald aber bestimmte Erinnerungen chronisch im Vordergrund stehen, wird die eigene Vergangenheit und damit die eigene Person und die Umwelt einseitig wahrgenommen (für eine Illustration siehe . Abb. 5.16).
5.4.2.3 Denken und Problemlösen
Beim Denken und Problemlösen geht es darum, einen gegebenen Anfangszustand in einen erwünschten Zielzustand zu überführen, mit Hilfe der gezielten Anwendung oder Weiterentwicklung unseres begrifflichen Wissens von der Welt. Ausgangspunkt dafür sind zum einen die aktuell wahrgenommenen und innerlich abgebildeten Gegebenheiten und die aus dem Gedächtnis abgerufenen Informationen über die bisherigen Erfahrungen und Kenntnisse. Darauf aufbauend wird mittels Denkoperationen wie beispielsweise dem logischen Schließen oder der mentalen Simulation versucht, gedankliche Repräsentationen möglicher Wege vom Ausgangs- zum Zielzustand zu entwickeln. Hinsichtlich der Wirkung von Emotionen gibt es eine Reihe von Effekten, von denen wir einen bereits kennen: Dadurch dass Emotionen die Wahrnehmung der aktuellen Situation und das Abrufen von Erinnerungen beeinflussen, können sowohl die Wahrnehmung der aktuellen Situation als auch der Abruf von Informationen aus dem Gedächtnis in Richtung der erlebten Emotion eingefärbt sein, was manchmal für eine umfassende und unbefangene Analyse der Situation hinderlich sein kann. Ein zweiter emotionaler Effekt beruht darauf, dass die Kapazität unserer mentalen Prozesse sehr begrenzt ist. So spielt das Arbeitsgedächtnis für das Denken eine wichtige Rolle, denn dort werden die relevanten mentalen Inhalte aktiv gehalten und neu kombiniert. Allerdings stehen dort im verbalen Bereich nur etwa sieben Speichereinheiten zur Verfügung (Miller 1956) und im visuellen Bereich sogar nur etwa vier Speichereinheiten (Cowan 2001). Ein Pro blem, das sich beim Erleben einer Emotion ergeben kann, ist, dass Speichereinheiten durch emotionsbezogene Gedanken wie beispielsweise drohende Konsequenzen blockiert werden (Ellis und Ashbrook 1988). Sind diese Gedanken für das eigentlich zu lösende Problem irrelevant, ist die Denkleistung aufgrund der emotional blockierten Speichereinheiten reduziert. . Abb. 5.17 veranschaulicht dies am Beispiel der Wirkung des Empfindens von Angst während einer Prüfung (für einen Überblick siehe Pekrun und Götz 2006).
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.. Abb. 5.17 Die Reduktion von kognitiven Ressourcen bei Prüfungsangst. Gesicht: © Ebner, N. C., Riediger, M., & Lindenberger, U., (2010). FACES – A database of facial expressions in young, middle- aged, and older men and women: Development and validation. Behavior Research Methods, 42, 351–362
Das Erleben von Emotionen kann sich weiterhin auf Situationen auswirken, in denen es darum geht, neue und originelle Lösungen zu finden, was als „Kreativität“ bezeichnet wird. Angenehme Emotionen signalisieren, dass die aktuellen Bedürfnisse und Ziele mittels der aktuell verfügbaren Verhaltensgewohnheiten zufriedenstellend erreicht werden können. Dementsprechend müssen die verfügbaren mentalen Ressourcen nicht zielgerichtet für die Lösung eines bestimmten Pro blems eingesetzt werden, sondern können stattdessen dazu genutzt werden, das bestehende Verhaltensrepertoire um neue Möglichkeiten zu erweitern (Franke- Gricksch und Heimann 2015). In der Tat zeigen Studien, dass das Erleben angenehmer Emotionen das Erkennen neuer Verhaltensmöglichkeiten fördert, selbst wenn bereits starke Verhaltensgewohnheiten etabliert sind (Haager et al. 2014). Um neue Wege des Verhaltens finden zu können, ist es wiederum hilfreich, auch entferntere Gedächtnisinhalte zu aktivieren, die nicht direkt mit der gegebenen Situation in Zusammenhang stehen. Zahlreiche Studien belegen, dass genau ein solcher Denkstil mit dem Erleben von angenehmen Emotionen einhergeht (Fredrickson und Branigan 2005). 5.4.2.4 Bewerten
Beim Bewerten geht es schließlich darum, aktuelle oder zukünftige mögliche Ereignisse hinsichtlich ihrer Konsequenzen zu bewerten. Auch hierauf nehmen unsere Emotionen Einfluss. Den ersten Einfluss haben wir schon bei den Wirkungen auf das Gedächtnis kennengelernt: Dadurch, dass über unsere Emotionen bestimmte damit verknüpfte vergangene Ereignisse im Gedächtnis aktiviert werden, kann die Bewertung eines Ereignisses in Richtung des Grundthemas der gerade erlebten Emotion verzerrt werden. Wenn wir beispielsweise gerade Angst erleben, werden Objekte oder Personen schwerpunktmäßig danach bewertet, welche bedrohlichen Konsequenzen sie haben könnten. Erleben
91 5.4 · Wirkungen von Emotionen
wir Ärger, beurteilen wir Objekte oder Personen danach, ob sie Hindernisse für unsere Ziele darstellen könnten. Erleben wir Freude, achten wir bei unseren Bewertungen eher darauf, wie gut Objekte oder Personen unsere Motive und Bedürfnisse erfüllen. Der Einfluss von Emotionen auf ökonomische Entscheidungen
„Das Bewerten von Dingen spielt im Bereich ökonomischer Entscheidungen eine wichtige Rolle, denn der eingeschätzte Wert bestimmt, wie viel Geld wir für Dinge ausgeben oder erhalten wollen. Man findet hier verschiedene Effekte von Emotionen. Einen ersten emotionalen Effekt haben wir schon im Zusammenhang mit der Regel „Bad is stronger than good“ im 7 Abschn. 5.4.2.1 kennengelernt: Wenn wir den Wert eines Ereignisses an den sich daraus ergebenden emotionalen Konsequenzen festmachen, gibt es den Effekt, dass Verluste intensivere Emotionen auslösen – und damit einen höheren (negativen) Wert besitzen – als Gewinne desselben Ausmaßes. Aus dieser emotionalen Wirkung ergibt sich ein eigentümlicher Effekt – der sogenannte „Besitztumseffekt“ (Thaler 1980). Dieser besagt, dass man ein Objekt als wertvoller einschätzt, wenn man es besitzt, im Vergleich dazu, wenn man es kaufen möchte. Beispielsweise wurde in einer Studie eine Gruppe von Personen gefragt, für welchen Preis sie eine zuvor erhaltene Tasse verkaufen würden, während eine zweite Gruppe von Personen gefragt wurde, zu welchem Preis sie die Tasse kaufen würden. Während der von der Verkaufsgruppe verlangte Preis im Schnitt bei etwas über 7 Dollar lag, wollten die Personen der Kaufgruppe nur knapp 3 Dollar bezahlen, sodass kaum Geschäfte zustande kamen (Kahneman et al. 1990). Der Grund ist, dass das Weggeben eines Objekts als Verlust und das Erhalten eines Objekts als Gewinn interpretiert wird. Da wir Verluste intensiver empfinden als Gewinne, wollen wir für den Verkauf mehr Geldwert als Ausgleich für den „verlorenen“ Wert als wir für den Kauf und damit den „gewonnenen“ Wert zu zahlen bereit sind. Der über die emotionalen Konsequenzen bestimmende Wert eines Ereignisses wird wiederum von der aktuellen Stimmung einer Person beeinflusst. So dreht sich der Besitztumseffekt beispielsweise in trauriger Stimmung um (Lerner et al. 2004). Der Grund ist der eingangs beschriebene Mechanismus, dass die Bewertung eines Ereignisses in Richtung des Grundthemas der gerade erlebten Emotion verzerrt wird. Wie in . Tab. 5.3 beschrieben, ist das Grundthema der Emotion Trauer, dass ein wichtiges Ziel aufgrund eines Verlusts nicht mehr erreicht werden kann. Um dieses Grundthema lösen zu können, stellt die Trauer uns innerlich so ein, dass eine Änderung der aktuellen Lebensumstände angestrebt wird (Lazarus 1991). Dementsprechend sinkt der empfundene „verlorene“ Wert beim Weggeben eines Objekts und steigt der empfundene „Gewinn“ beim Erhalt eines Objekts.“
Das Beispiel des Besitztumseffekts illustriert bereits die zweite Wirkung von Emotionen auf die Bewertung: Unsere Emotionen informieren uns bei der Bewertung von Ereignissen darüber, ob wir ein Ereignis anstreben sollen oder nicht. Viel-
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
.. Tab. 5.3 Die Grundthemen wichtiger Emotionen (nach Berking 2017; Lazarus 1991)
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Emotion
Grundthema
Beispiel aus dem Lehreralltag
Angst
Bedrohung wichtiger Ziele, deren Abwehr unsicher ist
Angst davor, dass ein Schüler sich beim Reckturnen verletzen könnte.
Ärger
Selbst- oder fremdverschuldetes Nichterreichen wichtiger Ziele
Ärger darüber, dass wegen eines wichtigen externen Ereignisses Schulstunden ausfallen, wodurch der Stoff nicht vollständig durchgenommen werden kann.
Freude
Fortschritt in Richtung annäherungsbezogener Ziele
Freude darüber, ein komplexes Thema in einem Tafelbild anschaulich dargestellt zu haben.
Ekel
Vermeidung einer Verunreinigung oder (gesundheitlichen) Schädigung
Ekel über an Tischen klebende Kaugummis.
Trauer
Nichterreichen eines wichtigen Ziels aufgrund eines Verlusts
Trauer darüber, dass ein netter Kollege die Schule verlassen wird.
Überraschung
Unerwartetes Auftreten eines Objektes oder Ereignisses
Überraschung darüber, dass ein Schüler sich um vier Notenstufen verbessert hat.
Erleichterung
Erfolgreiche Vermeidung negativ bewerteter Ereignisse
Erleichterung darüber, dass sich eine schwierige (?) Klasse am Wandertag diszipliniert verhalten hat.
Hoffnung
Aussicht auf Erreichung erwünschter Ziele
Hoffnung darauf, bis zum Ende des Schuljahres den vorgeschriebenen Unterrichtsstoff bewältigt zu haben.
Hoffnungslosigkeit
Nichterreichen eines erwünschten Ziels, fehlende Möglichkeit zur Vermeidung eines unerwünschten Ziels
Hoffnungslosigkeit hinsichtlich gewünschter Veränderungen im eigenen Stundenplan, die laut Schulleitung nicht umgesetzt werden können.
Langeweile
Fehlen von Möglichkeiten zur Erreichung von wichtigen Zielen
Langeweile aufgrund wiederholter Abhandlung derselben Themen.
Scham
Nichterreichbarkeit einer als wichtig erlebten Norm aufgrund eigener Unzulänglichkeiten
Scham darüber, es einfach nicht zu schaffen, eine schwierige Klasse in den Griff zu bekommen.
Schuld
Nichterreichung einer als wichtig erlebten Norm aufgrund fehlenden Engagements
Schuldgefühle angesichts der Unterlassung eines frühen Eingriffs in einen Streit zwischen zwei Schülern, bei dem ein Schüler am Ende verletzt wurde.
Stolz
Erreichung eines normativ hoch bewerteten Ziels durch eigene Anstrengung
Stolz über eine hervorragende Bewertung durch die Schulleitung.
93 5.4 · Wirkungen von Emotionen
leicht haben Sie sich bei den Bewertungsemotionen schon gefragt, woran wir genau den Wert eines Ereignisses festmachen – also ob wir ein Ereignis als erwünscht (positiver Wert) oder unerwünscht (negativer Wert) einschätzen. Eine zentrale Quelle dieser Einschätzung sind die zu erwartenden Gefühle: Wird sich ein Ereignis angenehm oder unangenehm anfühlen? Unsere erlebten Gefühle können sich also auch auf die Auswahl der von uns als erstrebenswert angesehenen Handlungsziele auswirken. Hier gibt es eine Reihe von Fallstricken, die man kennen sollte, damit man aus einem Gefühl den Wert eines Ereignisses kompetent ableiten kann. ►►Reflexion
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen zu Hause an Ihrem Schreibtisch und haben sich vorgenommen, dieses Buch durchzuarbeiten, um an Ihren emotionalen Kompetenzen zu arbeiten. Plötzlich ruft eine Freundin an und fragt, ob Sie mit ins Café gehen – mit dem Effekt, dass Sie ins Café gehen, anstatt das Buch weiter durchzuarbeiten. Was könnten Gründe dafür sein, dass Sie sich so entscheiden? ◄
Bei diesem Beispiel handelt es sich um eine Situation, in der man zwischen zwei Handlungsoptionen – dem Durcharbeiten des Buches oder einem Cafébesuch – schwankt. Das Interessante daran ist, dass beide Handlungen zu Ergebnissen führen, die angenehme Gefühle auslösen – das Durcharbeiten des Buches führt zu einer Erhöhung der emotionalen Kompetenz, was Freude auslösen kann, und der Cafébesuch führt zu einem Treffen mit Freunden, was ebenso Freude auslösen kann. Die Frage ist nun, was passiert, wenn wir zur Wertabschätzung die jeweils resultierenden „Freuden“ miteinander vergleichen. Der naheliegende Maßstab zur Abschätzung des Wertes eines Ereignisses ist die Intensität der bei der mentalen Vorwegnahme des Ereignisses erlebten Gefühle. Allerdings gibt es eine Reihe von Einflussfaktoren, die eine zuverlässige Ableitung von Werten aus Gefühlen erschweren. Ein erster erschwerender Einflussfaktor ist die zeitliche Nähe des zukünftigen Ereignisses. Das von einem zukünftigen Ereignis aktuell ausgelöste Gefühl entspricht nicht dem später tatsächlich erlebten Gefühl, sondern ist umso schwächer, je weiter das Ereignis in der Zukunft liegt (Porter 1913). So mag die Freude über eine erhöhte emotionale Kompetenz zwar höher sein als die Freude an einem Cafébesuch mit Freunden. Man geht aber trotzdem ins Café, weil der Cafébesuch näher in der Zukunft liegt als das Erreichen einer erhöhten emotionalen Kompetenz, sodass die mit dem Cafébesuch verbundene Freude aktuell stärker empfunden wird. Ein zweiter erschwerender Einflussfaktor ist die Konkretheit der ausgemalten Konsequenzen. Je konkreter eine zukünftige Konsequenz mental ausgemalt wird, umso zuverlässiger und stärker ist die Abschätzung der damit verbundenen Gefühle. Zum einen spielt hier wieder die zeitliche Nähe eine wichtige Rolle. Typischerweise sind die Vorstellungen von zeitlich näherliegenden Ereignissen konkreter und die von zeitlich weiter weg liegenden Ereignissen abstrakter, mit dem Effekt, dass die ausgelösten Gefühle bei zeitlich näheren Ereignissen stärker sind als bei zeitlich entfernteren. Zum anderen sind bereits schon einmal erlebte Ereignisse besser vorstellbar als noch nicht erlebte. So kann man sich den Cafébesuch mit Freunden klarer und konkreter ausmalen – was es eigentlich genau heißen könnte, eine erhöhte emotionale Kompetenz zu haben, dagegen weniger.
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
Ein dritter erschwerender Einflussfaktor ist die Unmittelbarkeit der Verknüpfung zwischen Ereignissen und Emotionen. Ereignisse können entweder direkt mit Emotionen verbunden sein und damit in der Vorstellung stärkere Emotionen auslösen, oder aber nur ein Mittel zum Zweck des Erreichens des angestrebten Zielereignisses, weshalb sie schwächere oder möglicherweise sogar gegenteilige Emotionen auslösen. So ist das Durcharbeiten dieses Buches beispielsweise nur ein Mittel zum Zweck des Erreichens einer höheren emotionalen Kompetenz. Das Erreichen dieses Ziels mag nun durchaus starke Freude bei Ihnen auslösen. Das Durcharbeiten des Buches und das Arbeiten an den eigenen Kompetenzen mag aber manchmal auch als anstrengend empfunden werden. Der Cafébesuch ist im Vergleich dazu viel direkter mit dem Gefühl Freude verknüpft, was dazu verleiten kann, diesen dem Durcharbeiten des Buches vorzuziehen. >>Wichtig! Mit Blick auf die emotionale Kompetenz ist es wichtig, sich bewusst zu sein, dass Emotionen unsere Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedanken und Problemlösungsstrategien auf eine bestimmte Art und Weise einfärben. Jemand, der sich dieser Tatsache bewusst ist, kann im Moment des Auftretens einer Emotion sich dann von gegebenenfalls ungewollten Erscheinungen besser distanzieren oder Emotionen gezielt hervorrufen, um bestimmte kognitive Wirkungen zu erzeugen. Übungen, die der Bewusstmachung der Einflüsse von Emotionen auf kognitiver Ebene dienen, finden sich im zweiten Teil des Buches in 7 Abschn. 11.1.
5.4.3 Motivationale Ebene
In 7 Abschn. 5.1 wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei Emotionen und Verhalten um zwei verschiedene Dinge handelt. Emotionen sind nicht mit konkreten Verhaltensweisen verknüpft, stattdessen fungieren sie als übergreifende Handlungssteuerungsinstanz, die unser Verhalten allgemein in bestimmte Richtungen ausrichten. In diesem Abschnitt möchten wir uns damit beschäftigen, wie unsere Emotionen unsere motivationalen Impulse konkret beeinflussen können.
zz Annäherung versus Vermeidung
Auf eine erste übergreifende Unterscheidung bei unserer Handlungssteuerung sind wir bereits in 7 Abschn. 5.2.1 bei der Beschreibung unseres Grundgefühls gestoßen: Es gibt zwei Handlungssteuerungssysteme in uns, die unabhängig voneinander funktionieren: Ein Annäherungssystem, welches das Eintreten von Ereignissen herbeizuführen versucht, und ein Vermeidungssystem, welches das Eintreten von Ereignissen zu verhindern versucht. Unsere Emotionen beeinflussen nun, welches der beiden Handlungssteuerungssysteme aktiviert wird. Zahlreiche Studien demonstrieren, dass Menschen auf Ereignisse, die angenehme Emotionen auslösen, mit Annäherungsverhalten, und auf Ereignisse, die unangenehme Emotionen auslösen, mit Vermeidungsverhalten reagieren (Phaf et al. 2014). Wichtig ist dabei sich klarzumachen, dass sich die Begriffe „Annäherung“ und „Vermeidung“ nicht auf spezifische Verhaltensweisen wie zum Beispiel die räumliche Annäherung an ein Objekt oder Weglaufen beziehen. Vielmehr beschreiben sie, ob mit einem Verhalten ein erwünschtes Ereignis angestrebt bzw. ein unerwünschtes Ereignis verhindert werden kann. Die Emotion Angst macht beispielsweise eine Band
95 5.4 · Wirkungen von Emotionen
breite von Verhaltensweisen verfügbar, die von Angriff über Flucht bis hin zur Verhaltensstarre reichen können, die alle der Vermeidung von Ereignissen dienlich sein können (Gray und McNaughton 2000). Vermeidungsstrategien bei Prüfungsangst
„Ich möchte noch einmal auf das Beispiel der Schülerin mit der Prüfungsangst zurückkommen. Bei Schülern mit Prüfungsangst kann man die verschiedenen vermeidungsbezogenen Verhaltensmöglichkeiten gut beobachten. Generell versuchen Schüler mit Prüfungsangst mit ihrem Handeln das Auftreten eines gefürchteten Ereignisses – ein Versagen in der Prüfung – zu verhindern. Manche Schüler versuchen dieses Ziel mit einer Distanzvergrößerung zu erreichen. Solche Schüler versuchen, sich der Prüfungssituation zu entziehen, indem sie beispielsweise die Schule schwänzen. Andere Schüler wiederum versuchen, dieses Ziel mit einer Distanzverringerung zu erreichen. Solche Schüler versuchen, sich besonders intensiv auf die Prüfung vorzubereiten, um ein Versagen zu vermeiden. Ich habe auch schon erlebt, dass Schüler bei einer mündlichen Prüfung regelrecht erstarren und gar nichts sinnvolles mehr sagen können.“
Der Unterschied zwischen „Angst“ und „Furcht“
„Haben Sie sich schon einmal nach dem Unterschied zwischen den Emotionsbegriffen „Angst“ und „Furcht“ gefragt? Beide beziehen sich ja auf dasselbe Grundthema der Bedrohung wichtiger Ziele. Handelt es sich also einfach um zwei Begriffe, welche dieselbe Emotion beschreiben? Oder gibt es vielleicht doch einen feineren Unterschied? Laut einer einflussreichen Theorie zur Wirkung von Emotionen auf das Verhalten beruht der Unterschied zwischen Angst und Furcht darauf, dass es zwei getrennte Vermeidungssysteme gibt (Gray und McNaughton 2000): Ein aktivierendes System, das vermeidungsbezogenes Verhalten aktiviert, und ein inhibierendes System, das Verhalten übergreifend hemmt. Bei einer wahrgenommenen Bedrohung kann nun entweder das aktivierende System anspringen oder aber das inhibierende System – und damit entweder die Emotion „Furcht“ (aktivierendes System) oder „Angst“ (inhibierendes System) erlebt werden. Im ersten Fall wird auf das bedrohliche Ereignis schnell mit einem vermeidungsbezogenen Verhalten reagiert, im zweiten Fall wird das aktuelle Verhalten unterbrochen und zunächst die bedrohliche Situation und die bisherige Re-
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
aktion darauf genauer analysiert und darüber reflektiert. Demnach ist also „Furcht“ durch eine Verhaltensaktivierung gekennzeichnet, „Angst“ dagegen durch eine Verhaltenshemmung.“
zz Automatisches versus reflexives Handeln
Eine zweite übergreifende Unterscheidung bei unserer Handlungssteuerung betrifft den Weg, über den ein konkretes Verhalten ausgelöst wird. Wie bereits in 7 Kap. 3 erwähnt, gibt es dazu zwei unterschiedliche Möglichkeiten: Über den einen Weg werden automatisch die Verhaltensweisen aktiviert, die mit den in einer Situation anwesenden Objekten und Personen bisher verknüpft sind, über den anderen Weg wird die wahrgenommene Situation vor der Verhaltensausführung rational analysiert und bewertet. Unsere Emotionen steuern nun, welcher der beiden Wege in einer Situation beschritten wird. Befindet man sich in einer positiven Stimmung, signalisiert das, dass aktuell kein Problem existiert und die Situation mit den gewohnten Verhaltensweisen zufriedenstellend bearbeitet werden kann. Dementsprechend wird das Verhalten in positiver Stimmung über die vorhandenen Verhaltensroutinen automatisiert gesteuert. Negative Stimmung signalisiert dagegen, dass aktuell ein Problem existiert, das man mit den gewohnten Verhaltensweisen offenbar nicht lösen kann. Dementsprechend wird das Verhalten nicht über die vorhandenen Verhaltensroutinen gesteuert, sondern stattdessen die Situation genauer analysiert und reflexiv gehandelt (Schwarz 1990). Bei der reflexiven Handlungssteuerung gibt es noch eine weitere Besonderheit: Sind in der aktuellen Situation Personen oder Objekte vorhanden, die über den automatisierten Weg Handlungsimpulse auslösen, muss man sich gegenüber diesen abschirmen, um ein impulsives Verhalten zu verhindern. Auch darauf nimmt unsere Stimmung Einfluss. Ausschlaggebend ist hier nicht die Valenz, sondern der Aktiviertheitsgrad: Sowohl in positiver wie in negativer Stimmung fällt die Abschirmung mit steigendem Erregungsgrad immer schwerer, sodass zunehmend impulsiver gehandelt wird. Die Valenz wiederum beeinflusst dagegen, wie lange die Abschirmung über die Zeit hinweg aufrechterhalten wird: Diese kann umso länger aufrechterhalten werden, je negativer die Stimmung ist, unabhängig vom Aktiviertheitsgrad, sodass zunehmend reflexiver gehandelt wird (Kuhbandner und Zehetleitner 2011). Vielleicht haben Sie sich gefragt, inwiefern es funktional sein kann, in negativer Stimmung eher reflexiv zu handeln. Eine Unterdrückung automatischer Verhaltenstendenzen zu Gunsten einer genaueren rationalen Situationsanalyse wäre ja beispielsweise in Bezug auf angstauslösende Objekte wie eine Schlange absolut fatal. Hier muss man sich den Unterschied zwischen einer voll ausgeprägten Emotion und einer Stimmung bewusstmachen. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, dass in den letzten Absätzen von Stimmungseffekten gesprochen wurde. Wie beschrieben, handelt es sich bei einer Stimmung um einen länger anhaltenden Emotionszustand, der über das ursprünglich emotionsauslösende Ereignis hinaus andauert. Da das emotionsauslösende Ereignis nicht mehr vorhanden ist, ist auch kein dringliches Handeln mehr nötig. Stattdessen fördert die anhaltende negative Stimmung die nachgeschaltete Reflexion, wie man in Zukunft besser mit dem emotionsauslösenden Ereignis
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97 5.4 · Wirkungen von Emotionen
.. Tab. 5.4 Spezifischere emotionale Handlungstendenzen nach (Plutchik 2001) Emotion
Ereignis
Verhalten
Funktion
Furcht
Bedrohung
Flucht
Schutz
Ärger
Hindernis
Angriff
Zerstörung des Hindernisses
Freude
Erwerb eines Objekts
Behalten, Wiederholen
Ressourcenvermehrung
Traurigkeit
Verlust eines Objekts
Hilferuf
Wiedervereinigung
Ekel
Ungenießbares Objekt
Ausspucken
Zurückweisung
Akzeptanz
Gruppenmitglied
Umsorgen, Teilen
Gegenseitige Unterstützung
Antizipation
Neues Territorium
Erkunden
Exploration
Überraschung
Unerwartetes Ereignis
Stoppen
Orientierung
umgehen könnte, was sehr funktional ist. Die oben beschriebenen Wirkmechanismen treffen demnach nur auf Situationen zu, in denen kein emotionsauslösender Reiz anwesend ist. Ist dagegen ein emotionsauslösender Reiz vorhanden, können sich spezifischere emotionale Wirkungen auf das Verhalten ergeben. Diese wollen wir uns abschließend noch ansehen. zz Spezifischere emotionale Wirkungen
Zur Frage nach spezifischeren emotionalen Wirkungen ist ein bekannteres neueres Emotionsmodell beispielhaft in . Tab. 5.4 dargestellt (Plutchik 2001). Dort werden acht Emotionen unterschieden hinsichtlich spezifischer Gruppen von auslösenden Ereignissen und Verhaltensweisen. Jede emotionale Reaktion soll dabei eine bestimmte Funktion für ein Problem in unserer evolutionären Geschichte haben. Allerdings wird in . Tab. 5.4 auch das Problem solcher Modelle sichtbar: Das tatsächlich gezeigte Verhalten ist oft weitaus heterogener als in solchen Modellen theoretisch postuliert wird. Beispielsweise gehen, wie bereits beschrieben, Menschen in Bedrohungssituationen auch manchmal zum Angriff über anstatt zu fliehen, oder oft geht man einem Ärgernis auch lieber aus dem Weg anstatt zum Angriff überzugehen.
>>Wichtig! Für die emotionale Kompetenz ist es wichtig, sich der emotionalen Einfärbung unserer Handlungssteuerung bewusst zu sein. Unangenehme Stimmungen können hier sogar hilfreich sein, da diese uns dazu anregen, über Situationen und uns selbst zu reflektieren, anstatt impulsiv zu handeln. Allerdings ist dabei zu beachten, dass in solchen Zuständen vermeidungsbezogene Handlungstendenzen im Vordergrund stehen können, was umfassende Reflexionsprozesse verzerren kann. Übungen, die der Bewusstwerdung der Einflüsse von Emotionen auf die motivationale Ebene dienen finden sich im zweiten Teil des Buches in 7 Abschn. 11.1.
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
5.4.4 Physiologische Ebene
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Physiologisch beeinflussen uns Emotionen dahingehend, dass sie den Körper mehr oder weniger Energie bereitstellen lassen. Als regulierende Instanz der Energiebereitstellung hat sich das sogenannte vegetative Nervensystem herausgebildet. Dieses besteht aus zwei Untersystemen, dem sympathischen und dem parasympathischen Nervensystem. Wird der Sympathikus aktiviert, wird übergreifend auf verschiedensten Ebenen des Körpers Energie mobilisiert (z. B. durch eine Erhöhung der Herzfrequenz, des Blutdrucks und der Atemfrequenz). Wird der Parasympathikus aktiviert, wird übergreifend auf verschiedensten Ebenen des Körpers Energie konserviert und Entspannung und Erholung gefördert (z. B. durch eine Erniedrigung der Herzfrequenz, des Blutdrucks und der Atemfrequenz). Der Sympathikus kann also metaphorisch als unser „neuronales Gaspedal“ bezeichnet werden und der Parasympathikus als unsere „neuronale Bremse“. Die beiden Systeme arbeiten antagonistisch zusammen, was heißt, dass das eine System automatisch heruntergefahren wird, wenn das andere System hochgefahren wird. Jede Emotion ist mit einem typischen Aktivierungsgrad des Körpers verknüpft und stellt damit unser Gaspedal und unsere Bremse auf eine bestimmte Weise ein. Beispielsweise erhöht sich beim Auftreten der Emotion Ärger die Herzfrequenz, der Blutdruck, die Atemfrequenz und die Muskelanspannung – der Körper wird optimal darauf vorbereitet, das Hindernis zu zerstören, das der Zielerreichung im Wege steht. Über die allgemeine Wirkung auf die Mobilisierung von Energie hinaus wurde weiterhin postuliert, dass sich spezifischere Aktivierungsmuster je nach Emotion unterscheiden lassen. In . Abb. 5.18 sind beispielhaft die Ergebnisse der damaligen Pionierstudie von (Ekman et al. 1983) dargestellt, in der für die Emotionen Angst, Ärger, Ekel, Freude, Trauer und Überraschung die physiologischen Merkmale Herzfrequenz, Hauttemperatur, Hautleitfähigkeit und Muskelspannung im Arm gemessen wurden. Im Laufe der Zeit wurde sogar die Existenz noch spezifischerer physiologischer Muster in Betracht gezogen. So schreibt Goleman in seinem Buch „Emotionale Intelligenz“, dass bei Zorn das Blut eher in die Hände fließen würde, um das Greifen zur Waffe und das Schlagen eines Feindes zu erleichtern, während bei Furcht das Blut eher in die Beine fließen würde, um eine schnelle Flucht zu begünstigen (Goleman 1996). Allerdings ließen sich solche Befunde in Nachfolgestudien nicht immer replizieren (Cacioppo et al. 2000). Vielmehr legen neuere Befunde nahe, dass es innerhalb derselben Emotion je nach Kontext unterschiedliche physiologische Aktivierungsmuster geben kann. So geht beispielsweise Trauer mit einer Aktivierung einher,
.. Abb. 5.18 Verschiedene emotionale Aktivierungsmuster nach (Ekman et al. 1983)
Hoch
Herzrate
Haut temperatur
Niedrig:
Freude Ekel Überraschung
Hoch:
Ärger
Niedrig: Angst Trauer
99 5.4 · Wirkungen von Emotionen
.. Abb. 5.19 Herzratenvariabilität und emotionales Wohlbefinden (nach Mück-Weymann und Beise 2005)
Stress
Entspannung
Herzfrequenz
(Herzvariabilitätstraining)
Zeit (Minuten)
wenn eine Person weint, oder aber mit einer Deaktivierung, wenn sich eine Person still zurückzieht. Bei Furcht scheint es so zu sein, dass sich die Herzfrequenz verlangsamt, wenn der Auslöser eine konkrete aktuelle Bedrohung (z. B. eine Waffe) ist, sich aber beschleunigt, wenn der Auslöser ein erwartetes unangenehmes Ereignis in der Zukunft (z. B. erwarteter elektrischer Schlag) ist (Kreibig 2010). Das längerfristige Zusammenspiel des sympathischen und parasympathischen Nervensystems scheint zudem hinsichtlich des übergreifenden emotionalen Wohlbefindens einer Person eine wichtige Rolle zu spielen: Emotionales Wohlbefinden stellt sich dann ein, wenn das neuronale Gaspedal und die neuronale Bremse sich dynamisch im Gleichgewicht halten, sodass man je nach Bedarf reibungslos zwischen Aktivierung und Entspannung pendeln kann. Geraten die beiden Systeme dagegen außer Takt, stellt sich emotionales Unwohlsein ein. Dieses Zusammenspiel kann man messen, indem man die Herzfrequenz über die Zeit aufzeichnet und die sogenannte Herzratenvariabilität betrachtet. Halten sich Sympathikus und P arasympathikus dynamisch im Gleichgewicht, lässt sich ein regelmäßiges Hin-und-Her-Schwingen zwischen einer Beschleunigung (Gaspedal) und einer Verlangsamung (Bremse) der Herzfrequenz beobachten, sodass sich eine sinusförmige Schwingungskurve ergibt. Sind die beiden Systeme außer Takt geraten, tritt dagegen ein chaotisches Muster auf. Ersteres geht mit Wohlbefinden und Entspannung einher, letzteres mit Stress und Angst (für eine Illustration siehe . Abb. 5.19). Aufbauend auf solchen Befunden wurden sogar Biofeedback-Trainings entwickelt, um das Zusammenspiel zwischen Sympathikus und Parasympathikus zu verbessern. Dabei wird die aktuelle Herzratenvariabilität beispielsweise mittels eines Heißluftballons rückgemeldet, der umso höher fliegt, je sinusförmiger die gemessene Herzratenvariabilität ausfällt (Mück-Weymann und Beise 2005).
>>Wichtig! Emotionen nehmen also auch Einfluss auf unseren Körper und die Signale, die er aussendet. Sich dessen bewusst zu sein, ist ebenfalls von Bedeutung, denn einerseits liefert der Körper wichtige Hinweise darüber, wie wir uns fühlen, und andererseits kann der Körper auch ein wichtiger Ansatzpunkt für die Regulation sein. Übungen, die der Bewusstwerdung der Einflüsse von Emotionen auf die physiologische Ebene dienen, finden sich im zweiten Teil des Buches in 7 Abschn. 11.1.
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
5.4.5 Expressive Ebene
Die soziale Funktion von Emotionen Reflexion Wenn Sie eine Emotion erleben, woran würde das jemand, der Sie beobachtet, erkennen?
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Wenn wir eine Emotion erleben, zeigt sich das auch in unserem Gesicht. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen bringen Wirkungen auf einer völlig neuen Ebene hervor – der sozialen Ebene: Wir teilen damit anderen Menschen unseren inneren emotionalen Zustand mit. Um zu verstehen, wie weitreichend die damit verbundenen Konsequenzen sind, wollen wir uns zunächst ansehen, woher unsere emotionalen Gesichtsausdrücke eigentlich kommen. Vielleicht haben Sie sich schon einmal gefragt, warum wir eigentlich so „komische Dinge“ mit unserem Gesicht machen, wenn wir Emotionen erleben – beispielsweise reißen wir Augen und Mund auf, wenn wir Angst empfinden oder ziehen die Mundwinkel nach oben, wenn wir uns freuen. Im Zorn zeigen wir die Zähne und spannen die Muskeln um den Mund an. Interessanterweise ist das nicht nur in unserer Kultur so: Anders als bei Gesten, die zwischen verschiedenen Kulturen variieren, zeigen überall auf der Welt Personen beim Erleben bestimmter Emotionen die gleichen Gesichtsausdrücke (Ekman et al. 1972). Aber warum ist das so? Emotionale Gesichtsausdrücke haben sich ursprünglich nicht e ntwickelt, um anderen den inneren Emotionszustand mitzuteilen. Stattdessen handelt es sich bei den emotionalen Reaktionen der Gesichtsmuskulatur um Verhaltensweisen, die für das Grundthema der jeweiligen Emotion optimal sind. Beispielsweise ist die Emotion Angst eine Reaktion auf eine Bedrohungssituation. Dementsprechend ist es wichtig, die Situation möglichst gut wahrzunehmen und viel Sauerstoff aufzunehmen, was durch ein Aufreißen von Augen und Mund optimiert wird (Susskind et al. 2008). Aufgrund dieser eigentlichen Entstehungszusammenhänge unserer emotionalen Gesichtsausdrücke gibt es eine Reihe von Aspekten, welche die Kommunikation unseres inneren emotionalen Zustands nach außen über unser Gesicht besonders machen. Die erste Besonderheit ist, dass wir Menschen aufgrund der Universalität unserer emotionalen Gesichtsausdrücke weltweit miteinander kommunizieren können, selbst wenn man nicht dieselbe Sprache spricht. Die zweite Besonderheit ist, dass emotionale Gesichtsausdrücke subkognitiv entstehen und uns daher nicht bewusst sind. Die Konsequenz ist, dass emotionale Gesichtsausdrücke nur schwer willentlich kontrolliert oder künstlich hervorgerufen werden können. Wir können andere Personen also nur schwer über unseren wahren inneren Zustand täuschen. So erkennen wir relativ leicht ein unechtes Lächeln, weil die bei einem echten Lächeln zu beobachtenden Lachfalten um die Augen nicht willentlich erzeugt werden können (Ekman 1985). Eine dritte, damit zusammenhängende Besonderheit ergibt sich daraus, dass unsere Emotionen bestimmte Verhaltensweisen wahrscheinlicher machen. Wir können also aus einem emotionalen Gesichtsausdruck auch herauslesen, auf welche Weise eine Person vermutlich handeln wird. Über den Gesichtsausdruck werden also nicht nur innere Gefühlszustände kommuniziert, sondern auch mögliche Verhaltensweisen. Handelt es sich um Emotionen, die ein mögliches impulsives Handeln wahrscheinli-
101 5.4 · Wirkungen von Emotionen
.. Abb. 5.20 Emotion und Körperhaltung. © Nikolaus Troje, Biomotion Lab, York University. Troje, N. F., (2002). Decomposing biological motion: A framework for analysis and synthesis of human gait patterns. Journal of Vision, 2(5)
cher machen, kommt noch eine weitere soziale Funktion hinzu. Dann kommuniziert der Gesichtsausdruck zusätzlich, welches Verhalten von der anderen Person erwartet wird. Der Mechanismus ähnelt einer Art „Bedrohungsszenario“: Weiß man beispielsweise, dass eine andere Person aktuell Ärger empfindet, ist damit zu rechnen, dass die Person möglicherweise unkontrolliert und damit unabhängig von ihren eigentlichen Verhaltensnormen auf unerwünschtes Verhalten reagieren wird (Horstmann 2003). Wichtig ist noch darauf hinzuweisen, dass sich Emotionen über den Gesichtsausdruck hinaus auch in weiteren motorischen Aspekten wie beispielsweise der Körperhaltung und der Stimme ausdrücken. Das kann man beispielsweise an Schülern beobachten, die gerade Prüfungsangst erleben. Man kann die Prüfungsangst nicht nur am ängstlichen Gesichtsausdruck erkennen, sondern auch an einer geduckten Körperhaltung und einer zittrigen, schwachen und höheren Stimme. Für die Körperhaltung wurden hierfür beispielsweise illustrative Computerprogramme entwickelt, in denen Schauspieler Lichtpunkte am Körper trugen und sich im Dunkeln in verschiedenen emotionalen Zuständen durch den Raum bewegten. Ein solches Programm ist in . Abb. 5.20 dargestellt. Wer eine Demoversion davon einmal selbst ausprobieren möchte, kann im Internet die Website 7 https://www.biomotionlab.ca/demos/ besuchen.
>>Wichtig! Es ist also wichtig, die Wirkungen des eigenen emotionalen Ausdrucks auf andere zu kennen und diesen gegebenenfalls gezielt regulieren zu können. Mit Blick auf die emotionale Kompetenz ist es außerdem hilfreich, eine hohe Fähigkeit darin zu entwickeln, Emotionen bei anderen korrekt wahrzunehmen, um deren innere emotionale Zustände und Verhaltensabsichten zuverlässig erkennen zu können. Übungen, die der Bewusstwerdung der Einflüsse der eigenen Emotionen auf der expressiven Ebene dienen, finden sich im zweiten Teil des Buches in 7 Abschn. 11.1.
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
Übungen zur Wahrnehmung von Emotionen bei anderen sind in 7 Abschn. 11.2 zu finden. Dort gibt es auch eine Übung zum empathischen Umgang mit Emotionen anderer.
5.4.6 Wirkungen von Lehreremotionen
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Selbstverständlich entfalten auch Lehreremotionen die bereits aus den vorangehenden Abschnitten bekannten Wirkungen. Es ist also davon auszugehen, dass sich auch Lehreremotionen sowohl auf die Lehrkraft selbst als auch auf den Unterricht und alle Anwesenden auswirken. Lehrkräfte selbst gehen davon aus, dass der Ausdruck angenehmer Emotionen die eigene Effizienz erhöht und dass Begeisterung und Freude am Unterrichten zu überdurchschnittlich gutem Unterricht führen (Frenzel et al. 2008) – Vermutungen, deren empirische Bestätigung noch aussteht. Erwiesen sind allerdings bereits Prozesse von emotionaler Ansteckung: Emotionen, die bei der Lehrkraft auftreten, kommen auch mit höherer Wahrscheinlichkeit bei den Schülern vor (Becker et al. 2014). Vor diesem Hintergrund könnte es zielführend sein, wenn die Lehrkraft und in Konsequenz auch die Schüler häufig angenehme Emotionen empfinden. Denn: Zusammenhangsanalysen zeigen, dass Freude am Lernen zeitgleich mit höherer extrinsischer und intrinsischer Motivation auftritt und häufig auch mit besseren Leistungen auf Schülerseite einhergeht (Pekrun 2006). Demgegenüber senken Langeweile oder Hoffnungslosigkeit sowohl intrinsische als auch extrinsische Motivation (Frenzel und Stephens 2011), und Ärger beeinträchtigt beispielsweise durch den Verbrauch kognitiver Ressourcen die Aufgabenbearbeitung (Götz 2004). Findige Forscher haben außerdem aus den unter 7 Abschn. 5.4.2 angeführten Befunde zur Auswirkung von angenehmen und unangenehmen emotionalen Zuständen auf das Denken und zur Kreativität die Hypothese abgeleitet, dass sich emotionale Zustände auch auf die Art der Lehrmethodik auswirken könnten. Es scheint hier tatsächlich so, dass Freude mit einem abwechslungsreicheren Unterrichtsstil gekoppelt ist, wohingegen Ärger und Angst damit in negativem Zusammenhang stehen und mit einem monotoneren Unterrichtsstil assoziiert sind (Frenzel et al. 2008). Auch die Beziehung zwischen Schülern und Lehrkraft wird von Lehreremotionen beeinflusst. Nach einer aktuellen Theorie von Hagenauer und Volet (2014) wird die Lehrer-Schüler-Beziehung in zwei voneinander abgrenzbare Schauplätze eingeteilt: Eine professionelle Beziehung, innerhalb derer Schüler und Lehrkraft in eine unterstützende Lernumgebung investieren, und eine emotionale Beziehung, die etwas über die Wärme, gegenseitige Rücksichtnahme und das gegenseitige Vertrauen aussagt. Letztere ist besonders relevant für die Auswirkungen von Emotionen. Wie bereits unter 7 Abschn. 5.2.6 erwähnt, beeinflusst diese Beziehung ihrerseits Lehreremotionen. Andersherum ist auch zu erwarten, dass das Auftreten und auch der Umgang mit Emotionen auf ebendiese Nähe innerhalb der Lehrer-Schüler-Beziehung einwirken und das Auftreten und der Ausdruck angenehmer oder Verletzlichkeit zeigender Emotionen, wie beispielsweise Trauer oder Unsicherheit, Nähe herstellen, wohingegen der Ausdruck von Ärger eher Distanz schafft. Viel diskutiert ist zu guter Letzt der Aspekt, dass emotionale Erschöpfung von Lehrkräften häufig mit dem Auftreten von unangenehmen Emotionen, insbesondere Ärger, einhergeht und selten mit dem Auftreten von Freude (Becker et al. 2015). Da
103 Literatur
raus wurde die Hypothese abgeleitet und später auch bestätigt, dass das regelmäßige Erleben von Freude vor emotionaler Erschöpfung schützt, während das regelmäßige Erleben von Ärger dafür anfälliger macht (Taxer et al. 2019). Kapitelzusammenfassung In diesem Kapitel haben wir erfahren, dass Emotionen unseren Organismus darauf vorbereiten, mit den potentiellen Konsequenzen einer Situation für unsere Bedürfnisse und Ziele möglichst optimal umzugehen. Dazu ruft jede Emotion auf unseren verschiedenen Funktionsebenen – den Emotionskomponenten – bestimmte systematische Wirkungen hervor, die unser Erleben und Verhalten prägen. Unsere Emotionen verändern dabei unsere innerlich erlebten Gefühle (Emotionskomponente „Gefühl“), die Breite und inhaltliche Fokussierung unserer Wahrnehmung, die Abspeicherung von Erinnerungen und deren Abruf, unser Denken und Problemlösen und unsere Bewertung von Ereignissen (Emotionskomponente „Kognition“), die Bereitstellung von Energie durch den Körper (Emotionskomponente „physiologische Regulation“), unseren Annäherungs- bzw. Vermeidungszustand und unser automatisches versus reflexives Handeln (Emotionskomponente „Motivation“) sowie unseren expressiven Ausdruck in Gesicht und Körper (Emotionskomponente „expressiver Ausdruck“). Weiterhin haben wir gesehen, dass es unterschiedliche Arten von Emotionen gibt, die jeweils auf eigenständigen Wegen entstehen: Das Grundgefühl, das wir in jedem Moment erleben, die Basisemotionen, die sich als unmittelbare Reaktionen auf bestimmte erlernte Auslöser einstellen, die Bewertungsemotionen, die sich aus der gedanklichen Bewertung des Wertes und der Kontrollierbarkeit eines Ereignisses ergeben, und die Selbstwert-Emotionen, die entstehen, wenn ein Ereignis in Bezug auf die damit verbundenen Konsequenzen für den Selbstwert bewertet wird. Alle diese verschiedenen Arten von Emotionen treten auch im Kontext der Schule auf. Welche Merkmale einer Situation oder welche mentalen Vorstellungen konkret Emotionen auslösen, ist in einer emotionalen Landkarte gespeichert, die wir im Laufe unseres Lebens mit unseren emotionalen Erfahrungen befüllen. Mittels dieser Landkarte wird jede Situation nach emotionalen Auslösereizen abgesucht. Wird ein mit einer Emotion verknüpftes Merkmal oder eine Vorstellung entdeckt, geht unser Organismus relativ automatisch in den entsprechenden emotionalen Zustand über. Die in der Landkarte enthaltenen Verknüpfungen zwischen Auslöser und Emotion müssen dabei nicht unbedingt besonders spezifisch sein, sondern emotionale Reaktionen können auch über ähnliche Objekte hinweg generalisiert werden. Weiterhin kann es sein, dass wir uns der eigentlichen Auslöser einer Emotion gar nicht wirklich bewusst sind, weil emotionale Verknüpfungen auch auf der Ebene der unbewussten Welt der perzeptuellen Bausteine angesiedelt sein können.
Literatur Alves, H., Koch, A., & Unkelbach, C. (2016). My friends are all alike – the relation between liking and perceived similarity in person perception. Journal of Experimental Social Psychology, 62, 103–117. Baumeister, R. F., Bratslavsky, E., Finkenauer, C., & Vohs, K. D. (2001). Bad is stronger than good. Review of General Psychology, 5, 323–370.
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Kapitel 5 · Das Emotionale System
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Das Rationale System Inhaltsverzeichnis 6.1
Wissen über die Welt – die begriffliche Landkarte – 111
6.1.1 6.1.2 6.1.3
ie Unschärfe der begrifflichen Landkarte – 112 D Die Zuverlässigkeit der begrifflichen Landkarte – 116 Die momentane Begrenztheit der begrifflichen Landkarte – 118 Die Bewertung der begrifflich abgebildeten Welt – 125
6.1.4
6.2
Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept – 128
6.2.1 6.2.2 6.2.3 6.2.4
ie Struktur des Selbstkonzepts – 129 D Der Inhalt des Selbstkonzepts – 133 Die Bewertung des Selbstkonzepts – Selbstwert – 151 Selbstkonzept und Persönlichkeitswachstum – 163
Literatur – 185
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kuhbandner, I. Schelhorn, Emotionale Kompetenz im Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_6
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Kapitel 6 · Das Rationale System
Worum es in diesem Kapitel geht
6
In diesem Kapitel geht es zuerst darum, wie unsere Gedanken bezüglich Zielen, Werten und Idealen das emotionale Erleben und Verhalten beeinflussen. Das rationale System ist dadurch charakterisiert, dass wir die Welt und uns selbst mit Hilfe von Begriffen abbilden, über sie nachdenken, rational bewerten und gezielt durch geplantes Handeln beeinflussen können. Durch die Anwendung auf uns selbst befähigt uns das rationale System zur Selbsterkenntnis, Selbstreflexion, Selbstbewertung und Selbstregulation. Zunächst wird die Funktionsweise des rationalen Systems erklärt, wobei auf die Unschärfe, die Zuverlässigkeit, die momentane Begrenztheit und die Bewertung der begrifflichen Abbildung eingegangen wird. Diese Mechanismen werden anschließend hinsichtlich der Abbildung von uns selbst – unserem Selbstkonzept – genauer betrachtet. Aufgrund der tragenden Rolle der Vorstellungen von uns selbst für das emotionale Geschehen werden anschließend die Inhalte unseres Selbstkonzepts anhand folgender Leitfragen genauer beleuchtet: „Wer bin ich und wer möchte ich sein?“ (Selbstbild), „Was kann ich bewirken?“ (Selbstwirksamkeit) und „Wie bewerte ich mich?“ (Selbstwert). Abschließend wird thematisiert, wie ein optimales Selbst bzw. eine reife Persönlichkeit aussehen könnte. Dabei werden wir einen Blick in die „Glücksforschung“ werfen, die Identitätsentwicklung betrachten und die Frage stellen, was „authentisch sein“ heißt.
In 7 Kap. 4 und 5 haben wir zwei der in uns existierenden psychischen Systeme kennengelernt, die unser Verhalten steuern – das erste über das Auslösen evolutionär geprägter Verhaltensimpulse, das zweite über das Auslösen von Emotionen, die im Laufe des individuellen Lebens mit Personen, Objekten und Ereignissen verknüpft wurden. In diesem Kapitel wollen wir die dritte große Kraft kennenlernen, die unser Erleben und Verhalten – und damit auch unsere Emotionen – beeinflusst: Das rationale System. Das rationale System steuert uns auf eine völlig andere Art als unsere Bedürfnisse und Emotionen: Wie bereits in 7 Kap. 3 kurz beschrieben, können wir mit Hilfe unseres rationalen Systems die Welt in Form von Begriffen abbilden und mit Hilfe dieser Begriffe mögliche zukünftige Ereignisse und Konsequenzen abschätzen und bewerten – mit anderen Worten: Wir können über die Welt und uns selbst nachdenken und zukunftsorientiert und geplant handeln. Damit sind drei fundamentale Vorteile verbunden: Zum einen ermöglicht das uns eine fast unbegrenzte Flexibilisierung des Verhaltens. Zum anderen wurden durch die Möglichkeit, sich mit anderen Individuen mittels sprachlicher Begriffe auszutauschen, ganz neue Formen des Zusammenlebens und der gemeinschaftlichen Weiterentwicklung als Spezies ermöglicht. Die Entdeckung, dass man mittels des rationalen Systems nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst mit Begriffen abbilden kann, brachte schließlich einen dritten bahnbrechenden Fortschritt mit sich: Man kann sich damit die in einem selbst wirkenden psychischen Kräfte bewusstmachen, diese hinterfragen und beeinflussen – wir Menschen wurden damit also zur Selbsterkenntnis, Selbstreflexion und Selbstregulation fähig. Mit Blick auf unser emotionales Geschehen haben wir bereits in 7 Abschn. 5.2.3 gesehen, dass mit der Entwicklung des rationalen Systems auch neue Arten von Emotionen entstanden sind: Bewertungsemotionen und Selbstwert-Emotionen. Wie wir im Verlauf dieses Kapitels sehen werden, beeinflusst die Art und Weise, wie wir rational die Welt abbilden, aber unser gesamtes emotionales Geschehen. Deswegen
111 6.1 · Wissen über die Welt – die begriffliche Landkarte
ist es für die emotionale Kompetenz wichtig, die Funktionsweise unseres rationalen Systems zu kennen und sich der dort ablaufenden Dynamiken bewusst zu sein. Wir werden uns dabei zunächst ansehen, wie wir die äußere Welt mit Begriffen abbilden und wie dies unser Erleben und Verhalten beeinflusst. Danach werden wir betrachten, wie wir uns selbst innerlich abbilden und wie sich das auf uns auswirkt. 6.1 Wissen über die Welt – die begriffliche Landkarte
In 7 Abschn. 2.1 haben wir die grundlegende Funktionsweise unseres rationalen Systems schon bei der Beschreibung der innerlichen Repräsentation der Welt mittels Begriffen kennengelernt: Im rationalen System wird eine Situation mit Hilfe von Begriffen abgebildet. Durch die gedankliche Abschätzung von Konsequenzen über begriffliche Wenn-Dann-Verknüpfungen kann man sich ausmalen, was sich aus einer Situation alles ergeben könnte, und diese Konsequenzen bewerten. Das rationale System entspricht also der Welt, die wir meinen wahrzunehmen, wenn wir anfangen über sie nachzudenken. Die dabei vollzogenen drei Schritte haben wir schon in 7 Abschn. 5.2.3 bei den Bewertungsemotionen kennengelernt, und sie sind in . Abb. 6.1 noch einmal veranschaulicht. Die Basis all dieser Schritte und der damit verbundenen Prozesse ist ein gespeichertes Begriffsnetzwerk, mittels dessen versucht wird, die Welt so zu beschreiben, dass deren Struktur und Zusammenhänge möglichst gut abgebildet werden – analog zur Bedürfnislandkarte (7 Abschn. 4.2) und zur emotionalen Landkarte (7 Abschn. 5.3) wollen wir dieses Begriffsnetzwerk unsere „begriffliche Landkarte“ nennen. Im Folgenden wollen wir die Funktionsweise der begrifflichen Landkarte kennenlernen.
SCHRITT 1 Begriffliche Repräsentation der gegebenen Situation
SCHRITT 2 Abschätzung möglicher Konsequenzen
SCHRITT 3 Bewertung der möglichen Konsequenzen Wert? X Kontrolle?
Möglichkeit 1 Wert? X Kontrolle? Möglichkeit 2 Wert? X Kontrolle?
WERT Konsequenz erwünscht oder nicht erwünscht?
KONTROLLE Wie wahrscheinlich erreichbar oder vermeidbar?
Möglichkeit 3
.. Abb. 6.1 Die drei Schritte der rationalen Verhaltenssteuerung. Klassenzimmer: © cookart/7 stock. adobe.com
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Kapitel 6 · Das Rationale System
6.1.1 Die Unschärfe der begrifflichen Landkarte
Um die Funktionsweise unserer begrifflichen Landkarte besser zu verstehen, wollen mit folgender Frage beginnen: Was genau ist mit einer „besonders guten Abbildung“ eigentlich gemeint? Zunächst könnte man meinen, die Antwort auf diese Frage sei recht einfach: Eine begriffliche Landkarte bildet die Welt dann gut ab, wenn sie mit der „Realität“ möglichst gut übereinstimmt. Eine genauere Betrachtung zeigt allerdings, dass die Dinge hier doch komplizierter sind. Das hat mit dem bereits beschriebenen Phänomen der „Unschärfe“ zu tun – also dass Details bei der Übersetzung von perzeptuellen Bausteinen und mentalen Bildern in Begriffe verlorengehen. Wir wollen uns dazu noch einmal das Beispiel des Satzes „Wenn zu viel Kuchen, dann dick.“ anschauen. Wie in . Abb. 6.2 illustriert, ist der Begriff „Kuchen“ ein allgemeiner begrifflicher Platzhalter für ganz verschiedene Arten von Kuchen (Schokoladenkuchen, Erdbeerkuchen, Käsekuchen etc.). Mit dem Begriff „Kuchen“ wird also die äußere Welt gröber aufgelöst als wir es auf der Ebene der mentalen Bilder tun. Das führt uns zu einer interessanten Frage: Wie grobkörnig soll die begriffliche Rekonstruktion der Welt eigentlich ausfallen? So könnte man die Welt der Kuchen auch viel feiner auflösen und für jede spezifische Kuchenart Wenn-Dann Regeln formulieren (z. B. „Wenn zu viel Käsekuchen, dann sehr dick.“). Das könnte durchaus Sinn ergeben, da unterschiedliche Kuchen unterschiedlich dick machen könnten. Man könnte die Welt hier aber auch noch viel gröber auflösen und im Wenn-Teil einen noch gröberen Begriff verwenden, der neben Kuchen noch weitere Nahrungsmittel enthält, die ebenfalls dick machen (z. B. „Wenn zu viele süße Sachen, dann dick.“). Hier handelt es sich keineswegs nur um ein Problem im Alltagsdenken, sondern auch um ein relevantes Phänomen innerhalb der Wissenschaft. Wir wollen uns das am Beispiel eines der am meisten erforschten Persönlichkeitsmerkmale anschauen: Der „Intelligenz“. In . Abb. 6.3 ist ein hinter diesem Persönlichkeitsmerkmal liegendes klassisches begriffliches Modell dargestellt (z. B. Neyer und Asendorpf 2018, Abschn.. 4.3.1). Wie . Abb. 6.3 zeigt, ist der Begriff „Intelligenz“ ein Sammelbegriff (oberste Ebene), der zwei verschiedene Arten von Fähigkeiten in sich vereint (mittlere Ebene): „Biologisch vermittelte Fähigkeiten“ („Hardware“) und „im Laufe des Lebens erworbene Fähigkeiten“ („Software“). Jeder der Begriffe auf der mittleren Ebene ist wiederum auch ein Sammelbegriff, der eine Reihe von noch spezifischeren Fähigkeiten in sich vereint (untere Ebene). So vereint der Begriff „Hardware“ verschiedene biologisch vermittelte Fähigkeiten in sich wie beispielsweise die Verarbeitungsge
6
.. Abb. 6.2 Die Unschärfe unserer Begriffe. Unterschiedliche Kuchen: © Barbara Alsu
BEGRIFFE
MENTALE BILDER
„Kuchen“
113 6.1 · Wissen über die Welt – die begriffliche Landkarte
.. Abb. 6.3 Ein begriffliches Modell des Persönlichkeitsmerkmals „Intelligenz“
schwindigkeit, die Speicherkapazität und das Arbeitsgedächtnis. Der Begriff „Software“ beinhaltet verschiedene erlernte Fähigkeiten wie das erworbene Wissen, erworbene Verhaltensstrategien oder metakognitives Wissen. Man könnte die Begriffe auf der unteren Ebene jeweils sogar noch weiter unterteilen (z. B. „Wissen“ in „Mathematisches Wissen“, „Sprachliches Wissen“ etc.), und auch diese Begriffe könnte man jeweils wiederum noch weiter unterteilen (z. B. „Mathematisches Wissen“ in „Wissen in Algebra“, „Wissen in Geometrie“ etc.). Intelligenz als Teil der menschlichen Persönlichkeit kann also begrifflich unterschiedlich aufgelöst werden, von sehr grob („Intelligenz“) bis sehr detailliert („Erworbene Lernstrategien“). Will man nun damit Verhalten erklären, kann man dies je nach gewählter begrifflicher Auflösung auf eine eher gröbere Weise („Ich habe weniger gut abgeschnitten, weil ich weniger intelligent bin.“) oder detailliertere Weise („Ich habe weniger gut abgeschnitten, weil ich schlechte Lernstrategien benutzt habe.“) tun. Das wirkt sich auch auf die Vorhersage möglicher Konsequenzen aus. Wird grob aufgelöst, so wird dieselbe Konsequenz erwartet, egal welche spezifische Fähigkeit eigentlich genau involviert ist („Wenn jemand weniger intelligent ist, dann wird er überall schlechter abschneiden.“). Wird detaillierter aufgelöst, können je nach involvierter spezifischerer Fähigkeit spezifischere Konsequenzen vorhergesagt werden („Wenn jemand eine geringere Verarbeitungsgeschwindigkeit hat, dann kann er trotzdem sehr viel Wissen erwerben und zum Experten werden.“). Alltagswissen und wissenschaftlich fundiertes Wissen
„In den vorangegangenen Absätzen wurde zwischen Alltagswissen (Das Beispiel zum Kuchenessen) und wissenschaftlichem Wissen (Das Beispiel zur Intelligenz) unterschieden. Wo genau liegt der Unterschied zwischen beiden Arten von Wissen? Ein erster Unterschied ist: An wissenschaftliche Theorien werden besondere inhaltliche Ansprüche gestellt. So dürfen wissenschaftliche Theorien keine widersprüchlichen Aussagen machen. Unser Alltagswissen enthält dagegen häufig widersprüchliche All-
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Kapitel 6 · Das Rationale System
tagstheorien wie beispielsweise „Gleich und gleich gesellt sich gern!“ und „Gegensätze ziehen sich an!“. Wissenschaftlich betrachtet ist dies nicht sinnvoll, denn mit widersprüchlichen Theorien könnte man alles erklären, wenn man einfach je nach Situation die eine oder andere Theorie anwendet. In Wirklichkeit wird jedoch damit gar nichts erklärt. Ein zweiter Unterschied ist: Wissenschaftliche Theorien dürfen keine zirkulären Wenn-Dann-Regeln beinhalten. Betrachtet man dagegen unsere Alltagstheorien genauer, finden sich des Öfteren zirkuläre Wenn-Dann-Regeln. Fragt man zum Beispiel, warum manche Personen bessere Leistungen erzielen als andere, lautet eine häufige Antwort: „Weil diese Personen intelligenter sind!“ (Wenn-Dann-Regel: „Wenn intelligent, dann gute Leistung“). Fragt man dann, woher man eigentlich weiß, dass diese Personen intelligenter sind, so lautet die Antwort: „Na, weil diese Personen bessere Leistungen erzielen“ (Wenn-Dann-Regel: „Wenn gute Leistung, dann intelligent“). Das Problem ist, dass mit solchen zirkulären Wenn-Dann-Regeln in Wirklichkeit gar nichts erklärt wird. Ein dritter Unterschied ist schließlich: Wissenschaftliche Theorien müssen sich in empirischen Studien als gültig erwiesen haben. Es handelt sich also nicht nur um subjektive Überzeugungen, sondern die Verlässlichkeit der Vorhersagen wurde an größeren Personengruppen nachgewiesen. Mit Blick auf der Qualität unserer begrifflichen Landkarte lässt sich daraus eine Schlussfolgerung ziehen: Man kann die Qualität der begrifflichen Landkarte erhöhen, indem man versucht, sich an empirisch bestätigten wissenschaftlichen Theorien zu orientieren. In der Tat ist es ein zentrales Ziel in der Lehrerbildung, Lehrkräfte dazu zu befähigen, beim Handeln bewährte wissenschaftliche Befunde und Theorien zu berücksichtigen, was als „evidenzbasierte Praxis“ bezeichnet wird (Bromme et al. 2014). Wie wir in 7 Abschn. 6.1.2 gleich noch genauer sehen werden, heißt das aber nicht, dass einem ein Wissenschaftler sagen könnte, was der jeweils beste Weg ist. Vielmehr gilt es, mittels einer wissenschaftlich fundierten Landkarte auf jede Person individuell zu blicken und in der Landkarte den individuell besten Weg zu identifizieren.“
Wir wollen auf unsere Eingangsfrage zurückkommen: Was ist nun eigentlich die richtige Auflösung der inneren begrifflichen Landkarte? Hier könnte man zunächst meinen, dass man das einfach durch wissenschaftliche Studien herausfinden kann: Es ergibt ja nur Sinn, verschiedene spezifischere Fähigkeiten („Verarbeitungsgeschwindigkeit“, „Wissen“, „Lernstrategien“ …) in einen gemeinsamen allgemeineren Begriff („Intelligenz“) zusammenzufassen, wenn die spezifischeren Fähigkeiten immer vergleichbar ausgeprägt sind und ähnlich auf dieselben Maßnahmen reagieren. Und das müsste man doch eigentlich ganz einfach empirisch überprüfen können. Das Beispiel Intelligenz zeigt aber, dass das doch nicht so leicht ist. Inzwischen gibt es tausende wissenschaftliche Publikationen zum Thema Intelligenz, und man könnte vermuten, dass man dieses Persönlichkeitsmerkmal damit im Laufe der Zeit immer besser verstanden hat. Der Titel einer Überblicksarbeit des bekannten Intelligenzforschers Robert Sternberg zeichnet aber ein anderes Bild (Sternberg 1999, Übersetzung durch die Autoren):
»» Intelligenz: Ein Fallbeispiel, wie mehr und mehr Forschung dazu führen kann, dass man immer weniger über ein psychologisches Phänomen weiß, bis man schließlich weniger weiß, als zu dem Zeitpunkt, als man angefangen hatte darüber zu forschen.
115 6.1 · Wissen über die Welt – die begriffliche Landkarte
Der Grund für das Problem, die Sinnhaftigkeit gröber auflösender begrifflicher Landkarten wissenschaftlich nachzuweisen, ist eigentlich ziemlich trivial: Je gröber die Brille ist, mit der man auf die Welt blickt, desto ungenauer ist die Wahrnehmung der Welt – und je ungenauer die Wahrnehmung der Welt, desto unzuverlässiger die daraus abgeleiteten Konsequenzen und Handlungsempfehlungen. Mit anderen Worten: Wenn wir eine ungenaue Landkarte beim Wandern benutzen, werden wir uns öfters verlaufen. Warum verwenden wir dann aber überhaupt manchmal grob auflösende Landkarten? Das hat einen ökonomischen Grund: Anstatt mit vielen spezifischen Begriffen und darauf aufbauenden Wenn-Dann-Regeln zu arbeiten, ist es einfacher, mit einigen wenigen allgemeineren Begriffen und Wenn-Dann-Regeln zu arbeiten. Anstelle vieler spezifischer Intelligenztests ist es ökonomischer, nur einen einzigen allgemeinen Intelligenztest durchzuführen. Wie bereits beschrieben, geht dieser ökonomische Nutzen aber mit Abstrichen in der Genauigkeit einher. Man bekommt dann auch nur ein grobes Bild von der Leistungsfähigkeit einer Person, sodass die daraus abgeleiteten Konsequenzen und Handlungsempfehlungen unzuverlässiger sind. Wir stoßen hier auf einen „Trade-Off“: Man kann die Welt entweder ökonomischer und schneller begrifflich abbilden – dafür aber ungenauer und unzuverlässiger, oder aber man kann die Welt genauer und zuverlässiger abbilden – dafür aber unökonomischer und langsamer. Das hat eine interessante Konsequenz: Die Frage, ob denn eine detaillierte oder grob auflösende begriffliche Landkarte „besser“ sei, ist falsch gestellt. Vielmehr bedeutet „gut abbilden“, den Grad an Genauigkeit und Schnelligkeit zu verwenden, der in der momentanen Situation funktional ist. Die allgemeine Regel dabei lautet: Der Auflösungsgrad im Wenn-Teil muss dem Auflösungsgrad im Dann-Teil der Regel entsprechen. Ein genereller Fehler wäre es zu versuchen, aus einer groben Abbildung der Situation detaillierte Konsequenzen abzuleiten. Hunderte von Wanderkarten
„Man kann sich das anhand der Frage nach der optimalen geographischen Landkarte klarmachen (für eine Illustration siehe . Abb. 6.4): Will man beispielsweise von München nach Hamburg fahren, so ist eine grob auflösende Landkarte optimal, auf der nur Autobahnen und große Straßen eingezeichnet sind. Mit hunderten von Wanderkarten nach Hamburg zu fahren, in denen jeder kleinste Pfad genau eingezeichnet ist, wäre wenig funktional. Will man dagegen in den Bergen wandern, so wäre eine Autobahnkarte unnütz, stattdessen würde man sich eine genaue Wanderkarte zulegen. Sich dabei die Frage zu stellen, welche Landkarte „besser“ die Welt abbildet und damit eher der „Wahrheit“ entspricht, würde keinen Sinn ergeben.“
>>Wichtig! Rationale Fehlurteile sind nicht selten der Ursprung von ausgelösten Emotionen. Zur Erhöhung der emotionalen Kompetenz ist es deshalb wichtig, die Qualität unserer individuellen begrifflichen Landkarte zu erhöhen, indem wir uns fundiertes Wis-
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Kapitel 6 · Das Rationale System
.. Abb. 6.4 Welcher Auflösungsgrad ist „besser“? Deutschlandkarte: © Artalis-Kartographie/7 stock. adobe.com; Rotweinwanderweg: „Karte Rotweinwanderweg“; ©NordNordWest, diese Datei ist unter der Creative-Commons-Lizenz „Attribution-Share Alike 3.0 Germany“ lizenziert: CC BY-SA 3.0 DE; 7 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode. Die Autoren übernehmen keinerlei Gewähr für die Aktualität, Richtigkeit und Vollständigkeit der durch die Graphik bereitgestellten Informationen. 7 https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Karte_Rotweinwanderweg.png, abgerufen am 12.07.2019. Das Bild wurde unverändert übernommen
sen aneignen und uns dabei an bewährten wissenschaftlichen Theorien orientieren. Weiterhin ist es wichtig, sich eine Landkarte zuzulegen, in die man je nach Kontext und Situation hineinzoomen oder herauszoomen kann. Hilfreich ist, sich immer wieder die Frage zu stellen, ob der gewählte Auflösungsgrad in der aktuellen Situation angemessen ist. Dadurch wird Erfahrungswissen darüber aufgebaut, wann welcher Auflösungsgrad optimal ist. Insbesondere für Lehrkräfte hilfreich ist hier im zweiten Teil des Buches ein Mythenquiz zu vermuteten Wirkungen von Emotionen im Schulkontext in 7 Abschn. 11.3.4.
6.1.2 Die Zuverlässigkeit der begrifflichen Landkarte
Wie wir am Beispiel des Begriffs „Intelligenz“ gesehen haben, sind bei der Verwendung gröber auflösender begrifflicher Landkarten die daraus abgeleiteten Vorhersagen unzuverlässiger. Wir wollen den Aspekt der Zuverlässigkeit noch etwas genauer betrachten. Ähnlich wie bei grob auflösenden geographischen Landkarten könnte man auch im Bereich begrifflicher Landkarten zum psychischen Funktionieren erwarten, dass bei grob auflösenden Begriffen wie „Intelligenz“ wenigstens immer die grobe Richtung der Vorhersage stimmt. Dem ist allerdings nicht so: Beispielsweise können Personen mit geringer „Intelligenz“ trotzdem eine hohe Expertise in einem Fachgebiet erreichen. Extrembeispiele sind sogenannte „Savants“, die trotz starker mentaler Beeinträchtigungen äußerst außergewöhnliche Leistungen in kleinen Teilbereichen vollbringen können. Ein eindrückliches Beispiel ist der Savant Kim Peek. Obwohl sein Gesamt-IQ nur bei 87 lag (der durchschnittliche IQ beträgt 100) und er unter massiven mentalen Defiziten litt, konnte er den Inhalt von 12.000 Büchern nahezu auswendig. Dazu musste er ein Buch nur ein einziges Mal lesen, wobei er sich
117 6.1 · Wissen über die Welt – die begriffliche Landkarte
.. Abb. 6.5 Die Komplexität unseres psychischen Systems
eine Seite nur ca. acht Sekunden ansehen musste, um danach 99 % der Sätze korrekt wiedergeben zu können (Hughes 2010). Der Grund für die unterschiedliche Zuverlässigkeit geographischer und psychologischer Landkarten liegt darin, dass ein geographisches System ein einfaches System ist, während man es in der Psychologie mit einem hochkomplexen System zu tun hat, in dem zahlreiche Faktoren miteinander vernetzt zusammenwirken. . Abb. 6.5 illustriert das am Beispiel verschiedener Einflussfaktoren auf die Leistung. Dabei ist anzumerken, dass nur ein Ausschnitt psychischer Einflussfaktoren dargestellt ist. Weiterhin wurde vernachlässigt, dass die erzielte Leistung wiederum auch wieder auf die verschiedenen Einflussfaktoren zurückwirkt. So kann beispielsweise das Erzielen schlechter Leistungen die Angst vor Prüfungen erhöhen. Man kann sich unser psychisches System also wie ein Räderwerk aus ineinandergreifenden Zahnrädern vorstellen. Wenn wir also beispielsweise an der Schraube „Emotionen“ drehen, ändert sich das gesamte System auf eine hochkomplexe Weise. Als Folge lässt sich praktisch unmöglich vorhersagen, was generell passieren wird, wenn man bei Personen bestimmte Einflussfaktoren ändert. Je nach individuell ausgeprägtem Netzwerk und momentanem Zustand können sich hier komplett unterschiedliche Konsequenzen ergeben. Wir stoßen hier auf eine fundamentale Grenze der Wissenschaft: Als psychologische Wissenschaftler können wir zwar erforschen, ob ein bestimmtes Zahnrad in unserem psychischen System an sich existiert. Wie sich das Drehen an diesem Zahnrad aber im Zusammenspiel mit allen anderen Zahnrädern im individuellen Einzelfall auswirkt, kann wissenschaftlich nicht vorhergesagt werden. Man kennt dieses Phänomen beim Vorhersagen des Wetters: Obwohl man inzwischen zahlreiche Einflussfaktoren kennt und genau messen kann, lässt sich das Wetter nicht wirklich verlässlich über mehr als ein bis zwei Tage vorhersagen. Angesichts der Tatsache, dass menschliches Verhalten auf der Basis psychologischer Theorien meist nicht allgemein vorhergesagt werden kann, reicht der Besitz einer allgemeinen begrifflichen Landkarte zur Psyche des Menschen nicht aus. Stattdessen muss man mittels dieser allgemeinen Landkarte jedes Individuum anschauen und für jedes Individuum speziellere Landkarten anlegen, die das Erfahrungswissen mit der jeweiligen Person enthalten. In . Abb. 6.6 wird das anhand der Anwendung der obigen begrifflichen Landkarte zur Leistung auf verschiedene Schüler illustriert. Man kann das mit der individuellen Verwendung geographischer Landkarten veranschaulichen: Ein guter Bergführer hat eine sehr genaue Landkarte im Kopf, und je
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Kapitel 6 · Das Rationale System
.. Abb. 6.6 Der Aufbau individuellen Erfahrungswissens. Klassenzimmer: © cookart/7 stock.adobe. com
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nach Individuum wird er entweder den Panoramaweg, die Nordwand oder den schnellsten Weg zu Gipfel nehmen. 6.1.3 Die momentane Begrenztheit der begrifflichen Landkarte
Das Anlegen einer reichhaltigen begrifflichen Landkarte zur Abbildung der Welt ist eine zentrale Grundlage für eine optimale Steuerung durch das rationale System. Bei der Benutzung der begrifflichen Landkarte gibt es aber eine fundamentale Einschränkung: Unser Bewusstsein ist so gestrickt, dass uns im Moment immer nur einige wenige Elemente unserer begrifflichen Landkarte bewusst präsent sind. So können in unserem verbalen Arbeitsgedächtnis gerade einmal ungefähr sieben Begriffe aktiv gehalten und für die rationale Analyse der momentanen Situation verfügbar gemacht werden (Miller 1956). Das Problem ist dabei, dass wir uns – ähnlich wie bei der in 7 Abschn. 2.2 beschriebenen Unaufmerksamkeitsblindheit – der aktuell nicht aktivierten Inhalte unserer Landkarte nicht bewusst sind und diese bei der rationalen Analyse einer Situation somit nicht notwendigerweise berücksichtigen. Wir wollen das anhand einer Anekdote illustrieren, deren Kern durch experimentelle Studien tatsächlich belegt werden konnte (Goodwin et al. 1969):
»» Ein Alkoholiker versteckt, als er nüchtern ist, seinen Geldbeutel, damit er sich betrun-
ken keinen Schnaps mehr kaufen kann. Als er betrunken ist, versteckt er eine Schnapsflasche, damit er sie nicht wegwerfen kann, wenn er wieder nüchtern ist.
In der begrifflichen Landkarte des Alkoholikers ist also sowohl das Versteck des Geldbeutels als auch das Versteck der Schnapsflasche abgespeichert. Allerdings ist im jeweiligen nüchternen bzw. betrunkenen Zustand immer nur ein bestimmter Teil der Landkarte aktiviert, während der andere Teil nicht ins Bewusstsein dringt. Zum einen ist ein solcher Mechanismus grundlegend notwendig, um sinnvoll handeln zu können. Wären wir uns ständig unserer kompletten begrifflichen Landkarte bewusst, anstatt zwischen momentan relevanten und momentan irrelevanten Inhalten zu unterscheiden, wären wir gar nicht mehr handlungsfähig. Zum anderen ist damit aber ein Risiko verbunden: Es kann sein, dass wir zwar eine Situation viel reichhaltiger und vielschichtiger rational abbilden könnten, wir im Moment aber nur eine bestimmte Sichtweise sehen und möglicherweise deswegen fehlgeleitet handeln.
119 6.1 · Wissen über die Welt – die begriffliche Landkarte
zz Der Einfluss von Denkgewohnheiten
Wovon hängt es nun ab, welche Ausschnitte unserer begrifflichen Landkarte uns aktuell ins Bewusstsein treten? Zunächst spielen die in der gegenwärtigen Situation anwesenden Objekte und Personen eine wichtige Rolle. Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Faktoren innerhalb der Person, die beeinflussen, welcher konkrete Ausschnitt der Landkarte in Reaktion auf eine Situation aktiviert wird. Ein erster Faktor sind unsere Denkgewohnheiten. Anstatt Situationen oder Personen genau zu beobachten und ausführlicher zu analysieren, machen wir uns im Alltag meist relativ schnell ein Bild und ordnen das Wahrgenommene in Raster und Schubladen ein. Wir wollen uns das in einem Selbstversuch am Beispiel eines bekannten „Witzes“ anschauen. ►►Selbstversuch
Zunächst wollen wir eine erste Frage stellen:
»» Kommt ein Taubstummer in eine Tierhandlung und möchte einen Vogel kaufen – Was macht er?
Vermutlich haben Sie mit den Händen das Schlagen von Flügeln nachgemacht. Als nächstes wollen wir eine zweite Frage stellen:
»» Kommt ein Blinder in eine Tierhandlung und möchte einen Hund kaufen – Was macht er?
Möglicherweise haben Sie ein Bellen nachgeahmt oder „Wau Wau“ gesagt. Dabei würde der Blinde etwas ganz Anderes machen: Er würde einfach sagen: „Ich möchte einen Hund kaufen“. Wenn Sie diesen „Witz“ einmal bei anderen ausprobieren, werden Sie bemerken, wie häufig Menschen in der Tat bellen. ◄
Die Art von Schublade, auf die wir hier treffen, sind generalisierte und vereinfachte Vorstellungen über bestimmte Personen oder Gruppen, die unser Denken und Handeln gegenüber diesen Personen prägen – sogenannte Stereotype. Im Selbstversuch wird beispielsweise durch den „Taubstummen“ das Stereotyp eines Menschen mit Behinderung aktiviert. Wenn dann in der zweiten Frage ein „Blinder“ auftritt, wird unser Denken durch die mit dem Stereotyp verknüpfte Erwartungshaltung geprägt, dass solche Menschen eine Beeinträchtigung aufweisen müssen, sodass man bellt. Um zu demonstrieren, wie stark solche Stereotype sein können, wollen wir noch einen zweiten Selbstversuch in Form eines Rätsels machen (nach Hofstadter 1983): ►►Selbstversuch
Auf dem Weg zu einem Fußballspiel wird ein Vater wird mit seinem Sohn in einen furchtbaren Verkehrsunfall verwickelt. Der Vater stirbt noch am Unfallort. Der Sohn wird schwer verletzt mit Blaulicht in die nächste Klinik eingeliefert und sofort in den Operationssaal geschoben, wo die Chirurgen bereits warten. Als sie sich jedoch über den Jungen beugen, erbleicht jemand vom Chirurgenteam und stammelt mit erschrockener Stimme: „Ich kann nicht mitoperieren, das ist mein Sohn!“ Wie ist das möglich? ◄
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Kapitel 6 · Das Rationale System
Manche Personen spekulieren hier zunächst, dass es sich vielleicht um eine Verwechslung gehandelt haben könnte, oder dass der Tote vielleicht der Adoptivvater des Jungen war und der Chirurg der wirkliche Vater. Des Rätsels Lösung hat aber wieder mit unseren Stereotypen zu tun. Falls Sie auf dieses Rätsel auch spontan verblüfft reagiert haben, liegt das daran, dass viele Menschen automatisch an einen Mann denken, wenn sie „Chirurgen“ lesen. Bekannt ist dieses Rätsel vor allem im englischen Sprachraum, denn dort gibt es für den Begriff „Chirurg“ (englisch: „surgeon“), anders als bei uns, keine eigene weibliche Form. Hier verdeckt also das Stereotyp, dass ein Sammelbegriff wie „Chirurgen“ nicht nur das männliche, sondern auch das weibliche Geschlecht umfasst – und das ist des Rätsels Lösung: Es war die Mutter des verletzten Jungen, die ihn operieren sollte. Geschlechterstereotype finden sich nicht nur im Alltag, sondern auch bei Lehrkräften. Ein Beispiel ist das Stereotyp, dass Mädchen in Mathematik weniger begabt seien als Jungen. Vergleicht man die von Lehrkräften für Mädchen und Jungen aufgestellten Notenschlüssel, zeigt sich, dass für gute Noten von Mädchen weniger Leistung erwartet wird als von Jungen (Lehmann et al. 1999). In einem Band des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zum Thema Mathematikunterricht und Geschlecht (Bildungsforschung, Band 30: Budde 2008) heißt es hierzu zusammenfassend:
»» Sie [die Lehrpersonen] beurteilen Jungen als kreativer und Mädchen als fleißiger, er-
klären männliche Leistungsdefizite schneller mit fehlendem Willen und weibliche mit intellektuellen Mängeln, setzen größere Leistungsdifferenzen voraus als vorhanden und fördern damit geschlechtsspezifische Selbstbilder. Je mehr die Lehrpersonen Mathematik als „Jungenfach“ vermitteln, desto geringer ist das Selbstvertrauen der Schülerinnen. Ein Bild, das auch von Elternseite mehrheitlich gestützt wird.
Solche Stereotype können die Entwicklung von Personen beeinträchtigen. Wir stoßen hier auf eines der fatalsten Hindernisse der Persönlichkeitsentwicklung – sogenannte selbsterfüllende Prophezeiungen (für den Bereich der Schule siehe Jussim und Harber 2005). Wenn man der Überzeugung ist, etwas beispielsweise aufgrund des Geschlechts einfach nicht zu können, wird man es auch weniger intensiv versuchen. Da man es weniger intensiv versucht, wird man eine geringere Leistung entwickeln. Dieses Ergebnis stützt also vordergründig die Überzeugung, es aufgrund des Geschlechts einfach nicht zu können – obwohl es mit dem wahren Potential nicht das Geringste zu tun hat. Wie wir später beim Selbstbild in 7 Abschn. 6.2.4 noch sehen werden, ist das Hinterfragen von persönlichen Überzeugungen zur eigenen Person eine Quelle des Persönlichkeitswachstums. Unsere begriffliche Landkarte enthält nicht nur Schubladen, in die wir Situationen und Personen gewohnheitsmäßig ohne weiter nachzudenken einordnen, sondern auch Schubladen, die das darauf bezogene Handeln gewohnheitsmäßig organisieren – sogenannte Skripte. So haben wir beispielsweise Vorstellungen über den typischen Ablauf von Schulstunden oder Lehrerkonferenzen in unseren Landkarten abgespeichert. Da wir diese Vorstellungen meist mit den anderen beteiligten Personen teilen, sind wir uns dessen oft gar nicht bewusst und kommen nicht darauf, dass es vielleicht auch ganz anders sein könnte.
121 6.1 · Wissen über die Welt – die begriffliche Landkarte
Kulturelle Unterschiede
„Bewusst wird man sich seiner Skripte oft im interkulturellen Kontext, wenn wir uns über das Handeln anderer wundern. Wir wollen uns hierzu ein eindrückliches Beispiel ansehen, das auch zeigt, wie stark sich solche Skripte auf unsere Emotionen auswirken können. Vielleicht erinnern Sie sich an eine der rätselhaftesten Szenen im Fußball: Dem Kopfstoß von Frankreichs Superstar Zinédine Zidane gegen den Italiener Marco Materazzi im Finale der WM 2006. Es war Zidanes letztes Spiel in der Nationalmannschaft, die 110. Minute lief, es stand 1:1, er stand kurz vor der absoluten Krönung seiner Karriere und war vorher schon zum wichtigsten Spieler des gesamten Turniers gewählt worden. Und dann zerstört er all das mit einem Kopfstoß, ausgelöst durch folgenden Vorfall (laut eines Interviews mit Materazzi in der Gazzetta dello Sport) (O. V 2006):
»» Ich [Matterazzi] habe an seinem Trikot gezogen. Da hat er [Zidane] gesagt: Wenn ich sein Trikot unbedingt haben wolle, könne ich es ja nach dem Abpfiff haben. Ich habe darauf geantwortet, dass mir seine Schwester lieber wäre.
Auf den ersten Blick erscheint Zidanes Verhalten absolut unverständlich. Er selbst hat später versucht, das folgendermaßen zu erklären (laut eines Interviews mit Canal Plus, Fichtner 2006):
»» Das betrifft meine Mutter, meine Schwester. Wissen Sie, das waren wirklich harte
Worte, ich hätte lieber eine Faust in die Fresse genommen als das zu hören. Ich entschuldige mich bei den Kindern, die das gesehen haben. Aber ich kann meine Handlung nicht bedauern, weil das bedeuten würde, dass er Recht hatte, es zu sagen. Ich kann es nicht, ich kann es nicht, ich kann es nicht sagen. Nein, er hatte kein Recht, das zu sagen, was er gesagt hat.
Was sich hier offenbart, ist ein Skript, das mit dem für unseren Kulturkreis typischen Skript nicht übereinstimmt: Während bei Zidane in der Hierarchie die körperliche Tätlichkeit vor der verbalen Beleidigung der Familie kommt, ist es in unserem Kulturkreis umgekehrt. Ähnlich unterschiedlich sind die Erwartungen hinsichtlich der nachherigen Entschuldigung. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Fallbeispiel aus einem Handbuch zur Übungsleiterausbildung im Projekt „Integration durch Sport“, das interessanterweise bereits vor dem Vorfall mit Zidane veröffentlicht wurde:
»» Der deutsche Fußballspieler ist mit seiner ihm „normal“ erscheinenden Beleidi-
gung wie „motherfucker“ am oberen Limit der Beleidigungsskala eines türkischen Jungen angelangt und kann deshalb eine gewalttätige Reaktion erwarten, da in den Augen des Jungen die Ehre der Familie in Gefahr ist. Unterschiedliche Bewertung derartiger verbaler Gewalt wird nicht angesprochen, sondern gewaltförmig oder mittels Rückzug geäußert. Hinzu kommt die Furcht, das Gesicht zu verlieren, wenn es darum geht, nach Entgleisungen – die erkannt und bedauert werden – eine Entschuldigung auszusprechen.“
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Kapitel 6 · Das Rationale System
zz Der Einfluss unseres momentanen Zustands
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Neben unseren Denkgewohnheiten nimmt auch unser aktueller innerer Zustand Einfluss darauf, welche Ausschnitte unserer begrifflichen Landkarte wir verwenden, um Situationen zu interpretieren. So wird unsere Interpretation von Ereignissen und Personen davon beeinflusst, was wir direkt zuvor gedacht haben. Wir haben dieses Phänomen schon beim obigen Selbstversuch mit dem Witz kennengelernt: Wenn vor der Frage zu der blinden Person nicht das Stereotyp „Menschen mit Behinderung“ durch die Frage zu der taubstummen Person aktiviert worden wäre, hätte man vermutlich auch nicht gebellt. Solche Dynamiken können sich sogar auf solch globale Dinge wie die Einschätzung der allgemeinen Zufriedenheit mit dem eigenen Leben auswirken. Bittet man beispielsweise Personen vor der Beurteilung ihrer Zufriedenheit mit dem aktuellen Leben drei positive bzw. negative aktuelle Lebensereignisse zu berichten, fallen die Urteile bei positiven Ereignissen besser und bei negativen Ereignissen schlechter aus. Bittet man Personen dagegen, zuvor drei positive bzw. negative vergangene Lebensereignisse zu berichten, findet man das spiegelbildliche Muster. Dann fallen bei negativen Ereignissen die Urteile besser aus und bei positiven Ereignissen schlechter (Strack et al. 1985). Wie die Anekdote zum Alkoholiker oben zeigt, kann die Aktivierung der Landkarte auch vom aktuellen körperlichen Zustand abhängen: In nüchternem Zustand werden andere Ausschnitte der Landkarte aktiviert als im alkoholisierten Zustand. Wie bereits in 7 Abschn. 4.2 bei der Beschreibung unserer Bedürfnislandkarte erwähnt, können sich auch momentan aktivierte Bedürfnisse auf die begriffliche Landkarte und damit unsere Denktendenzen auswirken: Je mehr Hunger wir beispielsweise haben, umso mehr analysieren wir unsere Umwelt mit den nahrungsmittelbezogenen Ausschnitten unserer begrifflichen Landkarte. Steht ein bestimmtes Bedürfnis chronisch im Vordergrund, kann das sogar dazu führen, dass die bedürfnisbezogenen Ausschnitte chronisch überaktiviert sind und andere Ausschnitte chronisch unteraktiviert. So kann es sein, dass eine Person, die permanent fürchtet, dass ihr Bedürfnis nach sozialem Anschluss nicht erfüllt werden könnte, Situationen nur noch mit dem Ausschnitt ihrer begrifflichen Landkarte interpretiert, der soziale Aspekte abbildet (Edelstein 2006). Eine ähnliche Wirkung können auch unsere Emotionen haben, wie wir bereits in 7 Abschn. 5.4.2 bei der Beschreibung der Wirkungen von Emotionen auf das Gedächtnis kennengelernt haben: Wenn man sich gegenwärtig in einem bestimmten emotionalen Zustand befindet, werden bevorzugt Inhalte der Landkarte aktiviert, die mit derselben Emotion verknüpft sind. Hierzu gibt es eindrückliche Studien. Bittet man beispielsweise Personen, auf ein vorgegebenes Wort hin die ersten Gedanken zu nennen, die ihnen in den Kopf kommen, können sich die genannten Assoziationen je nach momentanem emotionalem Zustand deutlich unterscheiden. Beispielsweise findet man auf das vorgegebene Wort „Leben“ bei Personen in glücklicher Stimmung Gedankenketten wie „Liebe … Freiheit … Spaß … Freude“ und bei Personen in verärgerter Stimmung Gedankenketten wie „Anstrengung … mühevoll … Kampf … Wettbewerb“ (Bower 1981).
123 6.1 · Wissen über die Welt – die begriffliche Landkarte
Emotionen und Denken in der Schule
„Wenn ich darüber nachdenke, kann ich mir gut vorstellen, dass auch ein bestimmter emotionaler Zustand beeinflusst, wie ich gerade denke. Beispielsweise ist mir schon häufiger aufgefallen, dass ich, wenn ich mich vor der Klasse freue, häufig gleichzeitig denke, dass die Klasse und ich bestimmt alle die Ziele, die wir uns gesetzt haben, auch erreichen werden. Freude löst in mir also eine optimistische Denktendenz aus. Bei Schülern hingegen habe ich häufig beim Abfragen beobachtet, dass sie, wenn sie große Angst haben, gedanklich nur noch damit beschäftigt zu sein scheinen, was sie alles nicht können oder welche Fehler sie gerade machen könnten – völlig unabhängig von ihrem generellen Leistungsniveau. Hier scheint der Angstzustand also auch eine ganz bestimmte begriffliche Welt freizusetzen.“
zz Der Einfluss des momentanen Kontextes
Auch der äußere Kontext, wie beispielsweise das soziale Setting, spielt für die Aktivierung unserer begrifflichen Landkarte eine wichtige Rolle. So werden Sie vermutlich über einen Schüler, der ein problematisches Verhalten gezeigt hat, unterschiedlich diskutieren, je nachdem, ob Sie in der Lehrerkonferenz darüber sprechen oder mit guten Freunden. Auch die räumliche Umgebung kann darauf Einfluss nehmen. Wenn Sie im Klassenzimmer über das Verhalten eines Schülers nachdenken, liefert die räumliche Umgebung viele Erinnerungsstützen, sodass Sie über das Verhalten genauer reflektieren können als wenn Sie das zu Hause im Wohnzimmer machen würden, wo diese Erinnerungsstützen fehlen (Smith und Vela 2001). zz Risikominimierung
Was kann man nun unternehmen, um das Risiko zu minimieren, dass wir im Moment nur eine bestimmte Sichtweise sehen und deswegen fehlgeleitet handeln? Wir wollen uns dazu aus der Expertiseforschung inspirieren lassen. Dort hat man lange über das sogenannte „Paradox der Expertise“ gerätselt: Studien hatten gezeigt, dass wenn man immer mehr Wissensdetails an ein übergreifendes Konzept knüpft, der Abruf eines Details aus dem Gedächtnis den Abruf weiterer Details beeinträchtigt. Der Grund ist, dass für den gezielten Abruf eines bestimmten Details konkurrierende Details unterdrückt werden müssen, was den nachfolgenden Abruf der unterdrückten Details beeinträchtigt (Adlehm 2011). Aber wie sollte es dann möglich sein, sich Expertenwissen zuzulegen und anzuwenden? Des Rätsels Lösung war schließlich: Sobald man Verknüpfungen zwischen den Details anlegt, verschwinden solche Beeinträchtigungen beim Abruf des Wissens (Anderson und McCulloch 1999). Genau diese Strategie ist hilfreich, um das Risiko der nur ausschnitthaften Aktivierung der begrifflichen Landkarte zu minimieren: Sobald die Begriffe in der Landkarte nicht nur detailliert, sondern auch noch sinnhaft und integrativ miteinander verknüpft sind, werden mit der Aktivierung eines bestimmten Begriffs automatisch alle
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Kapitel 6 · Das Rationale System
damit verknüpften Begriffe mitaktiviert und über die Zeit hinweg bei der Analyse der gegenwärtigen Situation ebenfalls in Betracht gezogen. Die Grenzen des Individuums
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„Wie beschrieben wäre es eigentlich ideal, über sehr detaillierte begriffliche Landkarten zu verfügen, um damit die Welt und sich selbst detailliert abbilden und damit sehr genau verstehen, vorhersagen und positiv beeinflussen zu können. Aber wie realistisch ist es, ein solches Ideal zu erreichen? Man kann das Problem am Beispiel der Lehramtsausbildung verdeutlichen: Auf den ersten Blick könnte man meinen – und das wird selbst von Fachexperten häufig auch so gefordert –, dass Lehrkräfte über eine detaillierte begriffliche Landkarte im Bereich der Psychologie verfügen sollten. Allerdings wird hier meist ein zentraler Aspekt übersehen, nämlich der Zeitaufwand, der für den Erwerb einer begrifflichen Landkarte mit einer solchen Qualität nötig ist. Schlägt man beispielsweise ein aktuelles Lehrbuch zu einem Teilgebiet der Psychologie wie der Allgemeinen Psychologie oder der Pädagogischen Psychologie auf, trifft man inzwischen nicht selten auf annähernd 1000 Seiten. Macht man sich zusätzlich bewusst, dass ein sinnvoller Wissenserwerb nicht einfach nur darin besteht, leere Worthülsen miteinander zu verknüpfen („Auswendiglernen“), sondern darin, die gelesenen Inhalte wirklich zu durchdringen und damit die Welt und sich selbst besser zu verstehen, wird klar, dass das ein sehr aufwendiger Prozess ist. So zeigt die Expertiseforschung, dass für den Erwerb von Expertise in einem Bereich um die 10.000 Stunden nötig sind (Ericsson et al. 1993), was bei einer täglichen 8-stündigen Beschäftigung mit dem Thema an fünf Tagen pro Woche in etwa fünf Jahren entspricht. Will man sich also eine detaillierte und benutzbare begriffliche Landkarte im Bereich der Psychologie zulegen, wäre dafür mindestens ein komplettes Psychologiestudium nötig. Allerdings hätte man dann noch kein Wissen über die Inhalte anderer Fachgebiete und über das Unterrichten dieser Inhalte erworben. Wir stoßen hier auf eine Grenze: Ein individuelles Leben ist einfach zu kurz, als dass man sich in allen Bereichen fein auflösende begriffliche Landkarten zulegen könnte. Wie kann man dieses Problem lösen? Wir wollen uns hier anregen lassen von einer Rede des Hirnforschers und Unternehmensberaters Peter Kruse auf dem ZEITZEICHEN Kongress (Kruse 2015):
»» Ich glaube wir sind in einer Situation, wo die kulturelle Komplexität so groß ist,
dass wir als Einzelne nicht mehr die sind, die es machen können, sondern wir sind angewiesen auf das Team, oder wir sind angewiesen auf das Netzwerk, die Intelligenz muss größer sein als ein einziger Kopf.
Was Peter Kruse hier anspricht: Auf individueller Ebene ist dieses Problem nicht lösbar. Vielmehr müssen wir in Netzwerken von Personen denken, die in verschiedenen Bereichen über detailliert auflösende begriffliche Landkarten verfügen und gemeinsam die Welt in ihrer Vielschichtigkeit und Reichhaltigkeit abbilden. Eine im Bereich der
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Schule diskutierte Umsetzung ist beispielsweise die Einrichtung von sogenannten multiprofessionellen Teams, wie beispielsweise vor kurzem an prominenter Stelle – der Seite 1 – in der ZEIT gefordert (Hartung 2018):
»» Drittens erwartet diese Gesellschaft von den Lehrern, dass sie alles schaffen: Wis-
sen vermitteln, Kompetenzen lehren, Kinder erziehen, Inklusion meistern. Das überfordert sie. Warum sollte es einer Bildungsgesellschaft nicht gelingen, doppelt so viele Menschen in den Schulen zu beschäftigen? „Multiprofessionelle Teams“ kümmern sich dann um die Kinder: Lehrer, Sozialarbeiter, Coaches, Physiotherapeuten – neue Jobs entstehen, die nicht digitalisierbar sind, Mensch an Mensch.
Für eine gute Zusammenarbeit in solchen Teams und Netzwerken sind aber einige Vorbedingungen zu erfüllen. Auf der Ebene des Netzwerkes sind es gemeinsam geteilte grob auflösende Begriffe, damit sich Personen mit unterschiedlicher Expertise sinnvoll verständigen können. Beispielsweise müssen die Begriffe, die man als Lehrkraft benutzt um das Verhalten von Kindern zu beschreiben, von psychologischen Fachkräften verstanden werden, obwohl diese den Bereich viel detaillierter begrifflich abbilden. Umgekehrt müssen psychologische Fachkräfte in der Lage sein, trotz ihrer detaillierteren begrifflichen Abbildung mit gröber auflösenden Begriffen über eine Situation so zu sprechen, dass Lehrkräfte damit etwas anfangen können. Auf der Ebene des Individuums wiederum ist es wichtig, sich eine grobe begriffliche Landkarte in den verschiedenen Bereichen zuzulegen und einen Sinn für die verschiedenen Auflösungsgrade zu entwickeln – also beispielsweise eine Vorstellung davon zu haben, was hinter dem Begriff „Intelligenz“ steckt, und gleichzeitig zu wissen, dass man das dahintersteckende Phänomen noch viel detaillierter begrifflich auslösen könnte.“
>>Wichtig! Für eine hohe emotionale Kompetenz ist es wichtig, sich der begrenzten Abbildungskapazität des rationalen Systems im gegenwärtigen Moment immer bewusst zu sein. Weiterhin ist es hilfreich, die Einflüsse von stereotypen Denkgewohnheiten, von vorangegangenen Ereignissen, des aktuellen inneren Zustands und des äußeren Kontextes zu kennen. Um das damit verbundene Risiko, nur einen Ausschnitt der Realität zu betrachten, zu verringern, ist es wichtig, sich nicht nur detaillierte begriffliche Landkarten zuzulegen, sondern die Inhalte zusätzlich auch integrativ miteinander zu verknüpfen. Da man als einzelnes Individuen nur für einen bestimmten Ausschnitt der Welt eine hohe Expertise erwerben kann, ist der Aufbau eines Netzwerks von Personen mit unterschiedlicher Expertise hilfreich, mit denen man gemeinsam die Welt in ihrer Reichhaltigkeit detailliert abbilden kann. Im zweiten Teil des Buches finden sich Übungen zur Aufdeckung der eigenen Denkgewohnheiten im Unterkapitel „Wissen über die Welt“ in 7 Abschn. 12.1.1, ebenso wie Übungen zum Wissen über Emotionen in 7 Abschn. 12.1.2.
6.1.4 Die Bewertung der begrifflich abgebildeten Welt
Nachdem mit Hilfe der begrifflichen Landkarte die gegenwärtige Situation abgebildet und mögliche Konsequenzen abgeleitet wurden, geht es darum, diese zu bewerten. Für die Bewertung sind zwei verschiedene Maßstäbe ausschlaggebend, die wir
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Kapitel 6 · Das Rationale System
bereits in 7 Abschn. 5.2.3 bei der Beschreibung der Bewertungsemotionen kennengelernt haben: Der Maßstab „Wert“ – also die subjektive Wünschbarkeit einer Konsequenz – und der Maßstab „Kontrollierbarkeit“ – also die subjektive Einschätzung, wie wahrscheinlich ein Ereignis eintreten wird, und wie stark man meint, diese Wahrscheinlichkeit beeinflussen zu können. Hinsichtlich der Konsequenzen auf unser Handeln werden im rationalen System beide Maßstäbe miteinander verrechnet, indem die beiden Maßzahlen miteinander multipliziert werden. Das hat eine interessante Konsequenz: Sobald einer der beiden Maßstäbe „Null“ beträgt, resultiert keine Handlungsmotivation: Unabhängig davon, wie positiv oder negativ der Wert einer Konsequenz eingeschätzt werden mag, sobald die Eintrittswahrscheinlichkeit gleich Null ist, lohnt sich kein Handeln. Und unabhängig davon, wie hoch die Eintrittswahrscheinlichkeit einer Konsequenz sein mag, wenn der empfundene Wert gleich Null ist, lohnt sich ebenfalls kein Handeln. Hinsichtlich des Wertmaßstabs haben wir in 7 Abschn. 5.4.2.4 bei der Beschreibung der Wirkung von Emotionen auf Bewertungsprozesse auch schon gesehen, dass unsere Emotionen eine der Quellen sind, aus denen wir die Wünschbarkeit einer Konsequenz ableiten. Vermuten wir, dass sich eine Konsequenz angenehm anfühlen wird, hat diese für uns einen positiven Wert; vermuten wir hingegen, dass sich eine Konsequenz unangenehm anfühlen wird, hat diese für uns einen negativen Wert. Sind mit einer Konsequenz keine Emotionen verbunden, ergibt sich ein Wert von Null. Wie wir bereits gesehen haben, gibt es dabei eine Reihe von Fallstricken, die man kennen sollte, damit man aus einem Gefühl den Wert eines Ereignisses kompetent ableiten kann. Ähnliches gilt für unsere Bedürfnisse. Vermuten wir, dass eine Konsequenz uns einem bedürfnisbezogenen Soll-Wert näherbringt, hat diese für uns einen positiven Wert; vermuten wir, dass eine Konsequenz die Distanz zu einem bedürfnisbezogenen Soll-Wert vergrößert, hat diese für uns einen negativen Wert. Neben unseren Emotionen und Bedürfnissen gibt es aber noch eine dritte Quelle, aus der wir den Wert einer Konsequenz ableiten. Wie wir in 7 Abschn. 6.2 zum Wissen über uns selbst noch genauer sehen werden, existiert im rationalen System neben einer Landkarte für die Welt auch eine Landkarte von uns selbst. Neben einer begrifflichen Abbildung davon, wie wir meinen zu sein, enthält diese Landkarte auch die Zielzustände, die wir meinen anstreben zu müssen – unsere rationalen Ziele. Unsere rationalen Ziele müssen nicht notwendigerweise aus den damit verbundenen emotionalen oder bedürfnisbezogenen Konsequenzen abgeleitet sein, sondern können auch rein rational als wünschbar angesehen werden, unabhängig von Emotionen und Bedürfnissen. Beispielsweise können Ziele im Rahmen der Sozialisation von Eltern oder Freunden übernommen worden sein. Damit kann man den Wert einer Konsequenz auch daran festmachen, inwiefern sie uns unseren rationalen Zielen näherbringt oder nicht. Da unsere rationalen Ziele einen der Kerne unseres Wissens von uns selbst ausmachen, wollen wir uns diese erst im folgenden 7 Abschn. 6.2.2 genauer anschauen. In diesem Abschnitt wollen wir noch zwei Charakteristiken kennenlernen, welche die Bewertung des Wertes und der Kontrollierbarkeit von Konsequenzen übergreifend prägen. Wie wir bereits gesehen haben, handelt es sich bei der Einschätzung von Wert und Kontrollierbarkeit um subjektive Einschätzungen, nicht um objektive Tatsachen. Wie zahlreiche Studien gezeigt haben, gibt es bei der Umrechnung von objektiv gegebenen Tatsachen in subjektive Einschätzungen bestimmte systematische Verzerrungen (Tversky und Kahneman 1992). Diese sind in . Abb. 6.7 dargestellt.
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127 6.1 · Wissen über die Welt – die begriffliche Landkarte
.. Abb. 6.7 Die Umrechnung von objektiven Tatsachen in subjektiv empfundene Werte und Kontrollierbarkeiten
Die Verzerrung bei der Abschätzung des subjektiven Wertes aus objektiven gegebenen Werten (linke Graphik in . Abb. 6.7) haben wir schon in 7 Abschn. 5.4.2 beim Phänomen „Bad is stronger than good“ kennengelernt: Die Umrechnungskurve ist im Bereich negativer Werte steiler als im Bereich positiver Werte – das heißt: Derselbe objektive Wert wird im negativen Bereich in einen höheren subjektiven Wert umgerechnet als im positiven Bereich. Beispielsweise sind die unangenehmen Gefühle bei einem Verlust von 100 Euro stärker als die angenehmen Gefühle bei einem Gewinn von 100 Euro. Die Abschätzung der subjektiv empfundenen Eintrittswahrscheinlichkeit einer Konsequenz aus objektiv gegebenen Eintrittswahrscheinlichkeiten (rechte Graphik in . Abb. 6.7) ist so verzerrt, dass das Eintreten objektiv sehr unwahrscheinlicher Ereignisse subjektiv überschätzt und das Eintreten objektiv sehr wahrscheinlicher Ereignisse subjektiv unterschätzt wird. Objektiv gesehen sollten wir eigentlich niemals Lotto spielen, weil die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Lottogewinns gegen Null geht. Trotzdem spielen Hundertausende von Menschen jede Woche Lotto, weil die extrem geringe Gewinnwahrscheinlichkeit subjektiv höher empfunden wird. Ähnlich ist es bei der Furcht vor schlimmen Ereignissen wie beispielsweise des Erlebens eines Einbruchs. Obwohl die Wahrscheinlichkeit extrem gering ist, wird viel Geld für Sicherheitsmaßnahmen wie Alarmanlagen ausgegeben. Aus einer evolutionären Per spektive heraus ist dies zweckmäßig: Trotz der geringen Wahrscheinlichkeiten kann ein solches Ereignis ja trotzdem eintreten, und wenn es eintritt, sind der Nutzen bzw. die Kosten so extrem hoch, dass es sich trotzdem lohnt, in die Prävention zu investieren. Ähnlich ist es im Bereich äußerst wahrscheinlich eintretender Ereignisse. Handelt es sich beispielsweise um negative Ereignisse, geben wir die Hoffnung trotzdem nicht auf, weil wir die Eintrittswahrscheinlichkeit subjektiv niedriger empfinden.
>>Wichtig! Auch die Bewertung der Konsequenzen von möglichen Ereignissen ist von besonderer Wichtigkeit für die Emotionsregulation. Hier muss man sich bewusstmachen, dass wir auch dort stärker die möglicherweise drohenden negativen Konsequenzen sehen als die möglicherweise in Aussicht stehenden positiven Konsequenzen. Weiter-
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Kapitel 6 · Das Rationale System
hin ist es wichtig zu wissen, dass wir das Eintreten unwahrscheinlicher Ereignisse subjektiv oft überschätzen und das Eintreten sehr wahrscheinlicher Ereignisse subjektiv oft unterschätzen. Eine Übung zur Überprüfung solcher Verzerrungen bei der Bewertung findet sich im zweiten Teil des Buches im Unterkapitel zur Emotionsregulation unter 7 Abschn. 13.1.3.3.
6.2 Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept
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Bisher ging es darum, wie wir mittels unseres rationalen Systems die Welt abbilden, diese besser verstehen und damit besser handeln können. Wir können unser rationales System aber auch dazu benutzen, uns selbst abzubilden, dieses Bild zu reflektieren und zu beeinflussen. Wie wir in 7 Abschn. 5.2.4 gesehen haben, gehen mit der Abbildung von uns selbst eigenständige Emotionen einher wie Stolz, Schuld oder Scham. Und wie wir im Verlauf dieses Kapitels sehen werden, spielt die Art und Weise, wie wir uns selbst abbilden, auch bei vielen weiteren Emotionen eine wichtige Rolle. Da unser rationales Selbstbild den Kern dessen darstellt, was in unserer Selbstwahrnehmung uns als Person ausmacht, haben viele Emotionen selbstbezogene Aspekte zum Inhalt. So kann man sich beispielsweise über sich selbst ärgern oder Angst davor haben, sich selbst zu verlieren, oder traurig darüber sein, bestimmte Eigenschaften nicht zu besitzen. Deswegen ist es für die emotionale Kompetenz wichtig, die Funktionsweise unseres Selbstkonzepts zu kennen und zu wissen, wie man die dort ablaufenden Dynamiken beeinflussen und sich selbst möglichst funktional abbilden kann. Das Grundprinzip bei der Abbildung von uns selbst ist dasselbe wie bei der Abbildung der Welt: Wir verfügen in uns über ein Netzwerk an Begriffen, das abbildet, wie wir meinen als Person zu sein – unser sogenanntes Selbstkonzept (siehe . Abb. 6.8 für eine Illustration). Grundsätzlich funktioniert unser Begriffsnetzwerk zur Abbildung von uns selbst genauso wie unser Begriffsnetzwerk zur Abbildung der Welt. All das, was wir bereits im vorherigen Abschnitt zu unserem Wissen über die Welt betrachtet haben, kann man also direkt auch auf unser Selbstkonzept übertragen. Allerdings gibt es eine Reihe von Besonderheiten, die insbesondere für die Frage nach dem optimalen Selbstkonzept relevant sind. Diese wollen wir uns im Folgenden genauer anschauen.
.. Abb. 6.8 Das Selbstkonzept
Fach
Schule
Sohn Partner
Emotionen Schüler
Rektor
Werte Persönlichkeit
Karriere
Familie Hobby
Freunde
129 6.2 · Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept
6.2.1 Die Struktur des Selbstkonzepts
Wie bei unserer begrifflichen Landkarte zum besseren Verstehen der Welt (7 Abschn. 6.1) ist es auch in Bezug auf unser Selbstkonzept hilfreich, über eine differenzierte Landkarte von sich selbst zu verfügen. Eine differenziertere Abbildung von sich selbst ermöglicht eine genauere Wahrnehmung der eigenen Person, sodass die auf das Selbstkonzept bezogenen Emotionen differenzierter und kontextbezogener ausfallen, besser verstanden werden können und gegebenenfalls flexibler reguliert werden können. Weiterhin ist – wie auch bei unserem Wissen über die Welt (7 Abschn. 6.1.3) – auch in unserem Begriffsnetzwerk zur Abbildung von uns selbst in jedem gegenwärtigen Moment immer nur ein kleiner Teilausschnitt aktiviert, sodass uns immer nur ein Teil unseres Selbstkonzepts bewusst ist. In Anlehnung an das Arbeitsgedächtnis wird der aktuell aktivierte Teil des Selbstkonzepts als „Arbeitsselbst“ bezeichnet. Wir haben dieses Phänomen schon weiter oben bei der Anekdote über einen Alkoholiker kennengelernt, der vom Geldbeutel nichts weiß, den er versteckt hat, als er nüchtern war.
►►Selbstversuch
Malen Sie sich aus, wie Sie vor Ihrer Klasse stehen und eine Stunde halten. Malen Sie sich anschließend aus, wie Sie mit guten Freunden einen netten Abend in einer Kneipe verbringen. Vergleichen Sie anschließend die beiden Personen – Sie vor Schülern in der Klasse und Sie mit Freunden in der Kneipe: Handelt es sich um dieselbe Person? ◄
Wie Sie vielleicht im Selbstversuch erlebt haben, kann es uns im Alltag ähnlich gehen wie dem Alkoholiker in der Anekdote. Es kann der illusionäre Eindruck entstehen, dass die eigene Person dem aktuell aktivierten Teilausschnitt entspricht, verbunden mit der Konsequenz, dass weitere Facetten der eigenen Person beim selbstbezogenen Bewerten und Handeln vernachlässigt werden. Ein eindrückliches Beispiel für die Verzerrung durch die im Moment aktivierten Selbstkonzeptinhalte ist die Beurteilung der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben. Fragt man beispielsweise Studierende zuerst nach ihrer Zufriedenheit mit dem eigenen Leben und erst danach nach der Anzahl romantischer „Dates“, ist die eingeschätzte Lebenszufriedenheit unabhängig von der Anzahl der Dates. Dreht man die Reihenfolge aber um und fragt zunächst nach der Anzahl der Dates und erst anschließend nach der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben, so ergibt sich ein hoher Zusammenhang (Strack et al. 1988). Die Beurteilung der Zufriedenheit mit dem eigenen Leben als Ganzes kann also durch den gerade aktivierten Ausschnitt unseres Selbstkonzepts substantiell beeinflusst werden. Wir stoßen hier auf einen Mechanismus, den wir schon beim Wissen über die Welt kennengelernt haben (7 Abschn. 6.1.3): Der momentan aktivierte Ausschnitt des Selbstkonzepts beeinflusst unser Bild von uns selbst in der aktuellen Situation. Auch die weiteren Mechanismen, die wir kennengelernt haben, finden wir im Selbstkonzept wieder. So haben sich auch dort Denkgewohnheiten entwickelt: Anstatt uns selbst genau zu beobachten und uns ausführlicher zu analysieren, benutzen wir im Alltag meist auf unser Selbst bezogene Schubladen – sogenannte Selbstschemata –, in die wir unsere Selbstwahrnehmungen schnell und unreflektiert einordnen. Problematisch ist das dann, wenn sich daraus chronische dysfunktionale Denk- und Verhaltensweisen ergeben.
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Kapitel 6 · Das Rationale System
Dysfunktionale Denkschemata
„Zur Illustration wollen wir uns kurz einige Beispiele anschauen (nach Parfy et al. 2016, 7 Abschn. 2.4): 55 Selektive Verallgemeinerung: Eine einzelne Unaufmerksamkeit des Gesprächs partners wird als grundsätzliches Desinteresse an der eigenen Person gewertet, obwohl viele andere Verhaltensweisen des Gegenübers darauf hindeuten, dass eine hohe Wertschätzung besteht. 55 Unangemessene Schlussfolgerungen: Jemand kann davon überzeigt sein, in der Gruppe abgelehnt zu werden, obwohl die anderen nicht nur keinen Anlass dafür bieten, sondern sich sogar um eine gute Beziehung bemühen. 55 Negative Ursachenzuschreibung: Positive Erlebnisse werden der Gunst der Umwelt oder dem Können anderer zugeschrieben, negative Erlebnisse der eigenen Verantwortung. 55 Maximierung – Minimierung: Erreichte Leistungen werden geringgeschätzt („Dass ich das Studium abgeschlossen habe, ist doch das mindeste!“), nicht erreichte Leistungen als hoch eingeschätzt („Dass ich es bisher nicht geschafft habe, die letzte Schulaufgabe zu korrigieren, ist eine Katastrophe!“), unabhängig vom eigentlichen Wert.“
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Häufig gehen mit solchen Selbstschemata negative Bewertungen der eigenen Person einher, die aufgrund ihrer Vertrautheit und einfachen Aktivierbarkeit aufrechterhalten werden. Daraus können sich wiederum bestimmte Denk- und Verhaltensweisen sowie ein daran gekoppeltes emotionales Erleben ergeben. So könnte beispielsweise ein selektiv verallgemeinerndes Selbstschema wie „Ich bin uninteressant“ zur Meidung sozialer Situationen führen und die Emotion Traurigkeit auslösen. Solche Schemata und ihre negativen Konsequenzen werden weiterhin häufig aus dem Bewusstsein verdrängt („Ich will gar nicht darüber nachdenken!“), was wiederum zu deren Aufrechterhaltung beiträgt. Es haben sich also Kompensationsmechanismen herausgebildet, die es einfacher erscheinen lassen, sich den damit verbundenen negativen Bewertungen der eigenen Person auszusetzen als sich auf den Aufwand und den ungewissen Ausgang einer persönlichen Neubewertung einzulassen. Schließlich hängt der momentan aktivierte Ausschnitt unseres Selbstkonzepts auch von unserem aktuellen Bedürfniszustand und den aktuell erlebten Emotionen ab. Ein Beispiel haben wir schon in 7 Abschn. 5.4.2 zu den Auswirkungen des emotionalen Zustands auf unsere autobiografischen Erinnerungen kennengelernt: Befinden wir uns aktuell in einem bestimmten emotionalen Zustand, so werden bevorzugt Lebenserinnerungen abgerufen, in denen wir ähnliche Emotionen erlebt haben. Das kann dazu führen, dass wir unsere persönliche Vergangenheit in Richtung der erlebten Emotion verzerrt erinnern und für die tatsächliche Vielfalt unserer vergangenen Erlebnisse blind sind, was insbesondere im Falle unangenehmer Emotionen problematisch sein kann (Teasdale 1983). Um solche Risiken zu vermindern und als
131 6.2 · Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept
Person nicht in „Einzelteile“ zu zerfallen, haben wir im vorherigen Abschnitt zu unserem Wissen zur Welt bereits ein Mittel kennengelernt: Es ist hilfreich, die einzelnen Elemente des Selbstkonzepts integrativ miteinander zu verknüpfen, sodass bei einer Aktivierung eines bestimmten Ausschnitts unseres Selbstkonzepts automatisch die weiteren Bestandteile des Selbstkonzepts mitaktiviert werden. Es gibt aber noch einen dritten Aspekt, der bei der Erforschung hoch kreativer Menschen entdeckt wurde (Csikszentmihalyi 1996). Diese Personen waren nicht etwa dadurch charakterisiert, dass ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal besonders hoch oder niedrig ausgeprägt war, sondern dadurch, dass sie komplementäre Persönlichkeitsmerkmale in sich vereinten, die eigentlich nicht zusammenpassen. So beschrieben sich diese Personen beispielsweise gleichzeitig als diszipliniert und spielerisch, als phantasiereich und realitätsbezogen oder als extravertiert und introvertiert. Der Vorteil einer solchen Persönlichkeitsstruktur ist: Man kann je nach Kontext hin- oder herschalten und sich damit sehr gut auf unterschiedliche Situationen und Anforderungen einstellen. So muss man etwa um Neues zu entdecken sich einerseits spielerisch und phantasiereich in Gedanken verlieren können, ohne an mögliche Realitäten oder Umsetzbarkeiten zu denken. Die gefundenen Ideen müssen aber anschließend auf ihre Sinnhaftigkeit hin überprüft und umgesetzt werden, wofür Disziplin und Realitätsbezogenheit notwendig sind. Eine Person, die nur über die Persönlichkeitsmerkmale „spielerisch und phantasiereich“ verfügt, wird zwar Ideen entwickeln, diese aber nicht umsetzen. Eine Person, die nur über die Persönlichkeitsmerkmale „diszipliniert und realitätsbezogen“ verfügt, wird wiederum keine kreativen Ideen entwickeln, die sie umsetzen könnte. Von Csikszentmihalyi wurde dieses Prinzip auf das Selbstkonzept übertragen und mit den beiden weiteren Aspekten der Differenzierung und Integration kombiniert (Csikszentmihalyi und Rathunde 1998). Demnach ist ein optimales Selbstkonzept durch drei Charakteristiken geprägt: Durch einen hohen Grad an Differenzierung, Integration und Komplementarität – was von Csikszentmihalyi als „Selbstkomplexität“ bezeichnet wird. Studien belegen in der Tat, dass eine hohe Selbstkomplexität förderlich für die psychische Gesundheit ist (Linville 1987). In . Abb. 6.9 sind diese drei Charakteristiken illustriert.
Selbstkomplexität versus Selbstfragmentierung
„Vielleicht haben Sie sich beim Durchlesen der komplementären Persönlichkeitsmerkmale von hoch kreativen Personen gefragt, ob es sich hier nicht in Wirklichkeit um gespaltene Persönlichkeiten handelt. In der Tat zeigen Studien, dass das Vorhandensein komplementärer Persönlichkeitseigenschaften für psychisches Wohlbefinden allein nicht ausreicht. Wenn solche Eigenschaften nicht sinnvoll aufeinander bezogen und in Einklang gebracht werden, wird das als eine Fragmentierung des Selbstkonzepts empfunden, verbunden mit Problemen wie Rollenkonflikten und Identitätsunsicherheiten, was sich nachteilig auf den Selbstwert auswirken kann und die Anfälligkeit
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Kapitel 6 · Das Rationale System
für Depressionen erhöht (Donahue et al. 1993). Eine hohe Komplementarität im Selbstkonzept muss also immer gleichzeitig mit einer hohen Integration einhergehen. Weiterhin zeigen Studien, dass auch ein einfaches und wenig komplementäres Selbstkonzept mit hohem psychischen Wohlbefinden einhergehen kann, wenn eine Person sich in einem Kontext bewegt, in dem genau diese Ausprägung funktional ist (McConnell et al. 2009). Ändert sich allerdings der Kontext, kann eine solche Person sich nur sehr schwer anpassen. Der Vorteil einer hohen Selbstkomplexität zeigt sich also insbesondere in einer größeren Anpassungsfähigkeit über die Zeit und verschiedene Situationen hinweg. Schließlich zeigen Studien, dass eine hohe Selbstkomplexität allein nicht ausreichend ist. Wichtig ist zudem, dass die verschiedenen Elemente im Selbstkonzept zusätzlich einen hohen Grad an Authentizität aufweisen, was heißt, dass diese den „wahren Kern“ der Person repräsentieren (Ryan et al. 2005). Was das eigentlich genau heißt, werden wir in 7 Abschn. 6.2.4 beim Thema Selbstkonzept und Persönlichkeitswachstum erkunden.“
.. Abb. 6.9 Die drei strukturellen Charakteristika des Selbstkonzepts
133 6.2 · Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept
>>Wichtig! Da unsere Gedanken über uns Selbst eine wichtige Quelle unserer Emotionen sind, können wir mit Blick auf die emotionale Kompetenz festhalten: Förderlich ist die Herausbildung eines Selbstkonzepts, das die eigene Person möglichst differenziert und gleichzeitig integriert abbildet. Dabei ist es wichtig, komplementäre Eigenschaften und widerstreitende innere Kräfte sinnvoll und kontextbezogen in Balance zu bringen. Übungen zur Reflexion des eigenen Selbstkonzepts – unter anderem Diskussionsrunden zu den eigenen Idealen und den Leitbildern im Lehrberuf – finden sich im zweiten Teil des Buches in 7 Abschn. 12.2.1.
6.2.2 Der Inhalt des Selbstkonzepts
Bisher haben wir uns die Struktur des Selbstkonzepts angesehen. Offen geblieben ist bisher die Frage: Was genau ist dessen Inhalt? Was ist es denn alles, was uns als Person ausmacht? Stellt man diese Frage an Personen im Alltag, findet man ein Sammelsurium an Antworten. Personen zählen dann vielleicht die wichtigsten persönlichen Lebensziele auf oder nennen die Werthaltungen, für die sie einstehen. Oder sie greifen zurück auf allgemeine Persönlichkeitsmerkmale wie „Ich bin eher introvertiert“ oder „Mich bringt so leicht nichts aus der Ruhe“. Oder Personen fangen an, von den wichtigsten autobiografischen Erlebnissen zu erzählen. Unsere Alltagssprache bildet hier ein Netzwerk aus unscharfen Begriffsfeldern und Vorstellungsfragmenten, die sich wolkenförmig um bestimmte Kerne verdichten. Blickt man in die aktuelle wissenschaftliche Literatur, findet man ebenso wenig begriffliche Schärfe. Dort wird der Inhalt des Selbstkonzepts beispielsweise so spezifiziert (Thomsen et al. 2018, S. 93):
»» Das Selbstkonzept […] besteht aus einer Vielzahl an Selbstbeschreibungen, die das
Gesamtwissen über die eigene Person ausmachen. Dieses selbstbezogene Wissen, welches das Individuum im Laufe seines Lebens sammelt und im Gedächtnis speichert, beinhaltet nicht nur Wissen um Eigenschaften und Fähigkeiten, sondern auch um Fakten, Interessen und Gewohnheiten. Es umfasst dabei nicht nur Wissen über die gegenwärtige Person, sondern auch biografische sowie zukünftige Selbstbeschreibungen.
Obwohl solche Definitionen das Sammelsurium an alltagsbezogenen Selbstbeschreibungen gut abbilden, sind solche Sammelsurien schwammig und oft sehr im alltagspsychologischen Denken verhaftet. Will man das eigene Erleben und Verhalten wirklich verstehen, muss man hinter die Oberfläche solcher Sammelsurien schauen und die in der Tiefe darunter wirkenden psychischen Kräfte bei sich selbst erkunden. Weiterhin reicht eine bloße Sammlung der einzelnen Kräfte nicht aus, sondern man muss sie in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Sigmund Freud hat diesen Prozess mit den schönen Worten zusammengefasst (Freud 1933/1975, S. 516):
»» Wo Es [= das Unbewusste] war, soll Ich [= das Bewusste] werden. Hilfreich hierfür ist, drei inhaltliche Bereiche im Selbstkonzept voneinander abzugrenzen, die man durch drei verschiedene Fragen charakterisieren kann: „Wer bin ich eigentlich?“ (Selbstbild), „Was kann ich in der Welt bewirken?“ (Selbstwirksamkeitsüberzeugung) und „Wie bewerte ich mich selbst?“ (Selbstwert). In . Abb. 6.10 sind die drei Inhaltsbereiche illustriert, die wir im Folgenden genauer kennenlernen wollen.
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Kapitel 6 · Das Rationale System
.. Abb. 6.10 Die drei Inhaltsbereiche des Selbstkonzepts
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6.2.2.1 Wer bin ich und was will ich? – Selbstbild
Der Kern unseres Selbstkonzepts ist das Bild, das wir uns rational von uns machen: Wer wir meinen zu sein und was wir meinen zu wollen. Wenn man sich im Alltag die Frage stellt, wie man so ist, wird man bei der Antwort typischerweise auf persönlichkeitsbeschreibende Begriffe unserer Alltagssprache zurückgreifen. So sagt man sich dann vielleicht: „Ich gehe gerne auf Leute zu und habe immer ein paar originelle Ideen im Kopf, bin aber manchmal etwas launisch und spontan, trotzdem aber immer hilfsbereit.“. In der Wissenschaft findet man tatsächlich recht ähnliche Versuche, Menschen zu beschreiben. Aufbauend auf solchen persönlichkeitsbezogenen Alltagsbeschreibungen wurde beispielsweise eines der bekanntesten Persönlichkeitsmodelle entwickelt – das sogenannte „Big Five“-Modell (John und Srivastava 1999). Die Grundannahme dieses Modells besteht darin, dass die reichhaltigen Persönlichkeitsbeschreibungen unserer Alltagssprache letztendlich nur Facetten von fünf grundlegenden Kerneigenschaften unserer Persönlichkeit widerspiegeln. Zur Veranschaulichung der fünf Kerneigenschaften wollen wir einen Selbstversuch machen. ►►Selbstversuch
Stellen Sie sich vor, im Lehrerkollegium stellt sich ein neuer Kollege vor, mit dem Sie in Zukunft des Öfteren zusammenarbeiten werden. Was sind die fünf Fragen, die Sie sich für eine erste Einschätzung von dessen Persönlichkeit als erstes stellen würden? ◄
Möglicherweise haben Sie sich im Selbstversuch einige der folgenden Fragen gestellt, die jeweils eine der fünf Kerneigenschaften einer Person betreffen (in Klammern steht jeweils die gängige Bezeichnung für die entsprechende Kerneigenschaft): 55 Ist die Person gesellig und sozial durchsetzungsfähig? (Extraversion) 55 Ist die Person launisch und emotional instabil? (Neurotizismus) 55 Ist die Person freundlich und kooperativ? (Verträglichkeit)
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55 Kann ich der Person vertrauen und mich auf ihre Zusagen verlassen? (Gewis senhaftigkeit) 55 Ist die Person offen für persönliche Veränderung und Lernen? (Offenheit) Solche Persönlichkeitsmodelle können durchaus hilfreich sein, wenn es darum geht, eine Person oberflächlich kennenzulernen. Dementsprechend existieren auch validierte Fragebögen, mittels derer man die Ausprägung der fünf Kerneigenschaften zuverlässig messen kann (z. B. der NEO-FFI nach Borkenau und Ostendorf 2008). Allerdings handelt es sich hierbei um eine sehr grobe begriffliche Auflösung, die nur eine ungefähre erste Orientierung über die individuellen Besonderheiten im Erleben und Verhalten eines Menschen liefern kann. Vom Persönlichkeitspsychologen Dan McAdams (1995) wurden solche Persönlichkeitsmodelle treffend als „Psychologie von einem Fremden“ bezeichnet, denn solche Persönlichkeitsbeschreibungen machen nur grobe Vorhersagen darüber, wie sich eine Person über viele Situationen hinweg allgemein verhält. Gibt es die ideale Lehrerpersönlichkeit?
„Ein seit Jahrzehnten in der Forschung verfolgtes Ziel ist die Suche nach den besonderen Personenmerkmalen von „guten Lehrkräften“ – also Lehrkräften, die es schaffen, bei ihren Schülern die Leistung, die Lernfreude und den Glauben an ihre Fähigkeiten zu erhöhen und selbst dabei psychisch gesund zu bleiben. Angesichts von Persönlichkeitsmodellen wie den „Big Five“ erschien es zunächst naheliegend, dass es so etwas wie eine „ideale Lehrerpersönlichkeit“ geben könnte. In der Tat scheinen Studien dies auf den ersten Blick auch zu bestätigen: Eine geringere Extraversion und Gewissenhaftigkeit und ein höherer Neurotizismus scheint mit weniger funktionalem Lehrerhandeln und geringerem beruflichen Wohlbefinden einherzugehen (Mayr 2011). Ein genauerer Blick zeigt aber, dass diese Zusammenhänge gering sind und auf den Effekt von Extremausprägungen zurückgehen: Nur dann, wenn bestimmte, relativ hohe Schwellenwerte überschritten werden, zeigt sich ein erhöhtes Risiko für dysfunktionales Lehrerhandeln und geringeres berufliches Wohlbefinden, während sich über einen weiten Bereich von Ausprägungsgraden kein Einfluss der Big-Five-Persönlichkeit finden lässt. Einen ersten Grund für die geringe Erklärungskraft des Big-Five- Persönlichkeitsprofils kennen wir bereits: Aufgrund der groben Beschreibungsebene ist man weit weg von konkreten Lehrer-Schüler-Interaktionen, sodass man spezifisches Erleben und Verhalten nicht vorhersagen kann. Es gibt aber noch einen zweiten Grund: So unterschiedlich wie die Persönlichkeiten von Lehrkräften sind, so unterschiedlich sind auch die der Schüler. Dementsprechend ist es ziemlich naiv zu vermuten, dass es ein bestimmtes Lehrer-Persönlichkeitsprofil geben könnte, das für alle Schüler gleich ideal ist. In der Tat zeigen Studien, dass Schüler erhebliche Unterschiede in ihren Erwartungen an eine „gute“ Lehrkraft aufweisen. Beispielsweise stehen für jüngere Schü-
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Kapitel 6 · Das Rationale System
ler anstatt der Persönlichkeit („Ist eher ruhig“) eher Fähigkeiten im Vordergrund („Kann alle Fächer unterrichten“), während bei älteren Schülern Beziehungsaspekte („Ist offen im Kontakt“) hinzukommen (Beishuizen et al. 2001).“
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Will man also das eigene Erleben und Verhalten in konkreten Situationen verstehen, helfen grobe Persönlichkeitsbeschreibungen nicht wirklich weiter. Stattdessen braucht man detaillierteres Wissen darüber, welche psychischen Kräfte innerhalb der eigenen Person wirken. Dafür hilfreiche Werkzeuge haben wir schon kennengelernt: Wir wissen bereits, wie unser Bedürfnissystem, unser emotionales System und unser rationales System funktionieren und unser Erleben und Verhalten beeinflussen. Um uns selbst also besser zu verstehen, müssen wir eigentlich nur dieses Wissen auf uns selbst anwenden und versuchen, die in uns vorhandene Bedürfnislandkarte, emotionale Landkarte und begriffliche Landkarte kennenzulernen. . Abb. 6.11 illustriert diesen Prozess und zeigt noch eine wichtige Erweiterung: Es reicht nicht aus, sich nur der individuellen Wirkungen unserer Bedürfnisse, Emotionen und rationalen Ziele bewusst zu werden (Selbsterkenntnis). Darüber hinaus können wir uns mit Hilfe unseres rationalen Systems auch selbst hinterfragen (Selbstreflexion) und versuchen, auf die eigenen Bedürfnisse, Emotionen und Ziele gezielt einzuwirken (Selbstregulation). Die beiden Aspekte Selbstreflexion und Selbstregulation („Wer möchte ich sein?“) werden wir in 7 Abschn. 6.2.4 beim Thema Selbstkonzept und Persönlichkeitswachstum noch genauer betrachten. Was uns in Bezug auf Selbsterkenntnis noch fehlt, ist ein tieferes Verständnis davon, wie sich unsere rationalen Ziele herausbilden. Darum wird es im Folgenden gehen.
.. Abb. 6.11 Das Selbstbild und seine Dynamik
137 6.2 · Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept
zz Intrinsische und extrinsische Ziele
Wie bereits in 7 Abschn. 6.1.4 kurz erwähnt, hat jeder Mensch bestimmte rationale Vorstellungen darüber, welche Zielzustände er anstreben will und welche nicht. Da diese Ziele unseren erwünschten individuellen Entwicklungsraum rational abbilden, sind sie eines der Kernelemente unserer individuellen Persönlichkeit. Um hier ein genaueres Verständnis zu entwickeln, wollen wir uns eine Frage stellen: Woher kommen eigentlich die in mir vorhandenen Ziele? Grundsätzlich lassen sich hier zwei Arten von Zielen unterscheiden: 55 Intrinsische Ziele: Diese Zielart haben wir schon in 7 Abschn. 6.1.4 kennengelernt: Wir können ein Ziel verfolgen, weil wir uns erhoffen, dass mit dem Eintreten des Zielzustands bestimmte Emotionen oder die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse einhergeht. So kann jemand beispielsweise das Berufsziel „Lehrkraft“ verfolgen, weil er Freude dabei erlebt, Kinder in ihrer Entwicklung voranzubringen. Solche Ziele beziehen ihre Kraft also aus der Person selbst. 55 Extrinsische Ziele: Diese Zielart bezieht ihre Kraft nicht aus der Person selbst, sondern aus der Umwelt. Solche Ziele werden nicht deswegen verfolgt, weil damit bestimmte innere emotionale oder bedürfnisbezogene Konsequenzen verbunden sind. Stattdessen ist eine äußere Kraft vorhanden, die uns dazu bringt, diese Ziele zu verfolgen, unabhängig davon, was das Erreichen des Zielzustands innerlich auf der Ebene der Emotionen oder Bedürfnisse bewirkt. So kann jemand beispielsweise das Berufsziel „Lehrkraft“ verfolgen, weil die Eltern und Großeltern auch schon Lehrkräfte waren, obwohl ihn die Arbeit mit Kindern eigentlich nicht wirklich interessiert.
Wie kann uns die Umwelt überhaupt dazu bringen, Ziele zu verfolgen, die in uns eigentlich gar nichts auslösen? Der „Trick“ ist, dass an die Erfüllung extrinsischer Ziele von einer äußeren Instanz Konsequenzen geknüpft werden, die unsere Emotionen und Bedürfnisse ansprechen. So kann man Menschen relativ leicht durch Belohnungen oder Bestrafungen dazu bringen, extrinsische Ziele anzustreben. Der hinter der Wirkung von Belohnungen und Bestrafungen stehende Mechanismus beruht dabei auf unseren Emotionen und Bedürfnissen: Belohnungen wirken, weil bei Zielerreichung angenehme Emotionen oder die Erfüllung von Bedürfnissen in Aussicht gestellt werden („Wenn du deine Mathehausaufgaben machst, darfst du danach am Computer spielen!“), Bestrafungen wirken, weil beim Nichterreichen des Ziels unangenehme Emotionen oder die Nicht-Erfüllung von Bedürfnissen angedroht wird („Wenn du Deine Mathehausaufgaben nicht machst, wird das Computerspielen danach gestrichen!“). In . Abb. 6.12 sind die hinter unseren intrinsischen und extrinsischen Zielen steckenden Mechanismen illustriert.
Berufswahlmotivation von Lehrkräften
„Auch bei der Berufswahl von Lehrkräften zeigen Forschungsergebnisse, dass dabei sowohl intrinsische als auch extrinsische Ziele genannt werden (Pohlmann und Möller 2010). Beispielsweise konnte man bei der Befragung von Lehramtsstudierenden sechs
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Kapitel 6 · Das Rationale System
übergreifende Gruppen von Motiven identifizieren, die sich jeweils intrinsischen und extrinsischen Zielsetzungen zuordnen lassen. Auf der intrinsischen Seite sind das ein hohes pädagogisches Interesse (z. B. „Ich habe das Lehramtsstudium gewählt, weil es mir Spaß macht, die Erziehung von Kindern und Jugendlichen mitzugestalten.“), hohes fachliches Interesse („z. B. „Ich habe das Lehramtsstudium gewählt, weil ich mich gern mit den Inhalten meiner Fächer beschäftige.“) und die Überzeugung der besonde ren Befähigung zum Beruf der Lehrkraft (z. B. „Ich habe das Lehramtsstudium gewählt, weil ich denke, dass ich eine gute Lehrkraft sein werde.“). Auf der extrinsischen Seite sind das ein Nutzen unabhängig von der Tätigkeit des Unterrichtens („z. B. „Ich habe das Lehramtsstudium gewählt, weil ich in keinem anderen Beruf so viel Ferien habe wie im Lehrerberuf.“), soziale Einflüsse (z. B. „Ich habe das Lehramtsstudium gewählt, weil mir in der Familie nahegelegt wurde, das Lehramtsstudium aufzunehmen.“) und die – angeblich! – geringe Schwierigkeit des Lehramtsstudiums (z. B. „Ich habe das Lehramtsstudium gewählt, weil das Studium nicht so anstrengend ist.“). Wie sich wiederum gezeigt hat, ist eine intrinsische Berufswahlmotivation sowohl für die Berufszufriedenheit als auch die Qualität des Unterrichtens förderlicher (Bleck 2019; Watt und Richardson 2007).“
Intrinsische Ziele sind also für das Wohlbefinden und die Kompetenzentwicklung förderlicher als extrinsische Ziele. Das liegt daran, dass die Beschäftigung mit einem Gegenstand bei intrinsischen Zielen Emotionen wie Freude auslöst oder Bedürfnisse wie Selbstverwirklichung befriedigt, sodass aus persönlichem Antrieb heraus eine intensivere Auseinandersetzung mit den Inhalten erfolgt. Beschäftigt man sich dagegen aus extrinsischen Gründen wie dem Erhalt einer Belohnung bei Zielerreichung mit einem Gegenstand, so macht man das nur in dem Ausmaß, wie es von der externen Instanz für das Erreichen der Belohnung oder das Vermeiden einer Bestrafung vorgeschrieben ist (geringere Qualität). Weiterhin hört man mit der Beschäftigung mit den Inhalten auf, sobald keine weiteren Belohnungen oder drohende Bestrafungen mehr in Aussicht stehen (geringere Nachhaltigkeit).
Von innen abgeleitet
Intrinsische Ziele
Extrinsische Ziele
Meine Emotionen
Meine Bedürfnisse
.. Abb. 6.12 Intrinsische versus extrinsische Ziele
Von außen eingepflanzt
Wenn Ziel erreicht, dann…
Äußere Instanz
139 6.2 · Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept
.. Abb. 6.13 Die verschiedenen Arten von „extrinsischen“ Zielen
Angesichts der Vorteile von intrinsischen gegenüber extrinsischen Zielen könnte man sich nun fragen, ob es nicht an sich besser wäre, nur intrinsische Ziele zu verfolgen und extrinsische Ziele möglichst zu vermeiden. Allerdings liegt es in der Natur von uns Menschen als soziale Wesen, dass wir auch extrinsische Ziele verfolgen müssen. Sobald man mit anderen Menschen als Gruppe gemeinsam leben will, sind dafür bestimmte gemeinsam geteilte Ziele eine notwendige Grundvoraussetzung. So ist es beispielsweise so, dass für eine Teilnahme am gesellschaftlichen und politischen Leben bestimmte Grundtechniken wie Lesen oder Rechnen und ein gewisses Ausmaß an Wissen in verschiedenen Bereichen notwendige Voraussetzungen sind. Interessanterweise ist das Erkennen und Anerkennen dieser Notwendigkeit ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Selbstentwicklung. Entwicklungspsychologisch gesehen kann man hier verschiedene Arten von extrinsischen Zielen festmachen, die bei der Entwicklung nacheinander durchschritten werden. In . Abb. 6.13 sind die verschiedenen Arten illustriert (nach Ryan und Deci 2000). Zunächst werden extrinsische Ziele aufgrund der Anwesenheit einer äußeren Instanz übernommen, die bei Zielerreichung beispielsweise Belohnungen verspricht oder beim Nichterreichen eines Ziels Bestrafungen androht. Damit das entsprechende Ziel wirklich verfolgt wird, ist zunächst die Anwesenheit der äußeren Instanz notwendig: Sobald diese abwesend ist und nicht mehr belohnt oder bestraft, wird auch das Ziel nicht mehr verfolgt (externale Regulation). Mit der Zeit werden die Belohnungen und Bestrafungen verinnerlicht, indem unabhängig von der Anwesenheit der äußeren Instanz entsprechende Emotionen ausgelöst werden: Wird das Ziel erreicht, werden angenehme Emotionen empfunden, wird das Ziel nicht erreicht, werden unangenehme Emotionen empfunden (Introjektion). Im nächsten Schritt werden diese emotionalen Dynamiken auf der Ebene der rationalen Ziele erkannt und reflektiert, und je nach Reflexionsergebnis als persönlich sinnvoll anerkannte extrinsische Ziele ins Selbstkonzept aufgenommen oder nicht (Identifikation). Schließlich müssen die als sinnvoll anerkannten extrinsischen Ziele noch mit den vorhandenen intrinsischen Zielen in Einklang gebracht und integriert werden (Integration), was die höchste Stufe der Selbstentwicklung in Bezug auf die Ziellandkarte darstellt.
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Kapitel 6 · Das Rationale System
Werthaltungen
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„Es gibt noch einen übergeordneten Orientierungsrahmen für die Herausbildung unserer Ziele: Die Werthaltungen einer Person. Dabei handelt es sich um allgemeine Leitlinien, die das Handeln einer Person zielübergreifend prägen. Im Gegensatz zu Zielen haben Werthaltungen einen normativen Charakter – Werthaltungen schreiben also nicht nur vor, wie man selbst sich verhalten sollte, sondern auch, wie sich andere Personen verhalten sollten. Weiterhin sind Werthaltungen breiter gefasst als Ziele. Anstatt einen konkreten Zielzustand zu spezifizieren, stellen Werte einen übergeordneten Maßstab dar, dem verschiedene Ziele gerecht werden sollten. Wenn man also „Freiheit“ als einen hohen Wert ansieht, wird man sich nicht nur in der Schule freiheitsfördernde Ziele setzen, sondern auch zu Hause und in der Freizeit. Es gibt zahlreiche Versuche, genauer zu spezifizieren, welche verschiedenen Werte es eigentlich gibt. Allerdings stößt man hier auf ein ähnliches Problem wie bei der Frage, wie viele Emotionen es eigentlich gibt (7 Abschn. 5.2): Je nachdem, wie feinkörnig die angelegten Unterscheidungskriterien sind, kommt man zu anderen Anzahlen von Werten. Dementsprechend ist es auch hier so, dass im Verlauf der Forschung verschiedene Vorschläge gemacht wurden, wie viele Werte denn „wirklich“ unterschieden werden können. In einer Interviewstudie wurden von Lehrkräften beispielsweise folgende Werte am häufigsten genannt (in absteigender Reihenfolge, Felser 2019):
»» Respekt, Anerkennung/Wertschätzung, Verantwortung, Selbstständigkeit, Achtung/
Toleranz, Ehrlichkeit, Ordnung/Disziplin, Rücksicht, Konfliktfähigkeit, Freude/Vergnügen, Vertrauen, Menschenwürde, Offenheit, Freiheit, Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft, Hilfsbereitschaft, Höflichkeit.
In Bezug auf den Einfluss von Werthaltungen auf das Verhalten von Personen gibt es noch zwei wichtige Aspekte: Zum einen reicht eine bestimmte Werthaltung allein nicht aus, um entsprechendes Verhalten zu zeigen. Dazu muss eine Person auch konkrete wertbezogene Ziele ausbilden, über die dann Verhalten beeinflusst wird. Zum anderen wird unser Verhalten nicht nur von persönlichen Werten geprägt, sondern auch von gesellschaftlichen Normen. Wie wir bereits in 7 Abschn. 6.1.3 am Beispiel des Kopfstoßes des Fußballers Zinédine Zidane gesehen haben, sind wir uns des Einflusses gesellschaftlicher Normen manchmal gar nicht bewusst, weil wir diese mit allen anderen Personen aus unserer Gesellschaft teilen und daher nicht darauf kommen, dass man sich auch anders verhalten könnte. Gesellschaftliche Normen können also unser Verhalten prägen, ohne dass wir diese notwendigerweise auch subjektiv als einen hohen Wert betrachten.“
kInstrumentelle Ziele
Neben intrinsischen und extrinsischen Zielen gibt es noch eine dritte Zielart. Manche Ziele verfolgen wir nicht, weil damit das Erleben bestimmter Emotionen oder die Erfüllung bestimmter Bedürfnisse oder Belohnungen und Bestrafungen verknüpft sind,
141 6.2 · Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept
Interessanten Beruf ausüben
Definition eines Endzustands der wünschenswert erscheint (intrinsisch oder extrinsisch)
Staatsexamen abschließen
Rationale Ableitung
Prüfungsstoff aneignen Lehrbuch lesen
Notwendige Zwischenziele (instrumentell)
Zur Bibliothek gehen Buch aus Regal nehmen Arm ausstrecken Muskeln kontrahieren .. Abb. 6.14 Instrumentelle Ziele
sondern weil sie ein notwendiges Zwischenziel auf dem Weg zum eigentlichen Endziel darstellen – sogenannte instrumentelle Ziele. In . Abb. 6.14 sind die einem Endziel vorgeschalteten notwendigen Zwischenziele am Beispiel des Berufsziels „Lehrkraft“ illustriert. Wie sich gezeigt hat, ist es für das Erreichen von intrinsisch oder extrinsisch motivierten Endzielen nicht ausreichend, diese einfach nur zu haben. Dafür ist zudem das Vorhandensein von instrumentellen Zielen notwendig, welche die konkreten Schritte spezifizieren, die zum Erreichen des gewünschten Endzustands gemacht werden müssen. Als besonders optimal hat sich erwiesen, wenn instrumentelle Ziele in konkreten Wenn-Dann-Regeln formuliert sind, die genau festlegen, was in welcher Situation wie gemacht werden soll (Gollwitzer 1999). Eine wichtige Frage ist noch, ob denn die intrinsische Motivation wirklich nur auf das oberste Ziel der Zielhierarchie begrenzt ist, was die Konsequenz hätte, dass alle darunterliegenden Ziele uns ausschließlich instrumentell steuern würden. Wenn dem so wäre, würde das für die Qualität des Lernens ein potentielles Problem mit sich bringen, das wir schon im vorherigen Abschnitt zur nachteiligen Wirkung extrinsischer Ziele kennengelernt haben: Im Beispiel in . Abb. 6.14 würde man sich dann beispielsweise mit einem Lehrbuch nur so weit beschäftigen, wie es für die anstehende Prüfung relevant ist, sodass möglicherweise die Lernqualität sinkt. Es ist hier wichtig sich klar zu machen, dass instrumentell und intrinsisch sich nicht ausschließen müssen. So kann ein Ziel („Lehrbuch lesen“) sowohl einen wichtigen Schritt in Richtung eines Endziels darstellen („interessanten Beruf ausüben“), aber gleichzeitig
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Kapitel 6 · Das Rationale System
auch angenehme Emotionen auslösen („Lernfreude“) oder Bedürfnisse erfüllen („Erweiterung der persönlichen Kompetenz“). Interessanterweise ist es so, dass die Qualität des Unterrichtens sogar daran gemessen wird, inwiefern bei Schülern beide Zielarten gleichzeitig erfüllt werden (Weinert und Helmke 1996). kSprachliche Formulierung von Zielen
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Abschließend wollen wir uns noch eine sprachliche Charakteristik bewusstmachen, welche die Wirkung von Zielen allgemein prägt. Rationale Ziele werden ja mittels unserer begrifflichen Sprache formuliert, und hier gibt es zwei Möglichkeiten. So kann man beispielsweise in Bezug auf bevorstehende Prüfungen sagen: „Ich möchte die Prüfung gut bestehen.“ oder aber „Ich möchte nicht durchfallen.“. In Bezug auf eine bevorstehende Schulstunde kann man sich beispielsweise wünschen: „Ich möchte, dass die Stunde gut läuft.“ oder „Ich möchte, dass nicht wieder jemand stört.“. Im ersten Fall werden Ziele so formuliert, dass ein Zielzustand spezifiziert wird, dessen Eintreten man gerne erleben möchte (Annäherungsziele), im zweiten Fall so, dass ein Zielzustand spezifiziert wird, dessen Eintreten man auf keinen Fall erleben möchte (Vermeidungsziele). Das hat wiederum Konsequenzen für die motivationale Grundeinstellung unseres Organismus: Im ersten Fall wird das motivationale Annäherungssystem aktiviert, im zweiten Fall das motivationale Vermeidungssystem. Annäherungsbezogen formulierte Ziele stellen uns also annäherungsorientiert ein, vermeidungsbezogen formulierte Ziele vermeidungsorientiert. Wie wir in 7 Abschn. 5.2.1 zum Grundgefühl gesehen haben, verändert das die bei der Zielverfolgung erlebten Emotionen: Bei Annäherungszielen achtet man eher auf Fortschritte, ist zuversichtlicher und erlebt bei Eintreten des Ziels Freude. Bei Vermeidungszielen achtet man eher auf Hindernisse, ist misstrauischer und erlebt beim erfolgreichen Vermeiden des Ziels Erleichterung anstatt von Freude. Neben den Vorteilen auf der Ebene des emotionalen Erlebens bringen Annäherungsziele einen weiteren positiven Aspekt auf der Ebene der Handlungssteuerung mit sich: Annäherungsziele spezifizieren ein konkretes Handlungsziel und geben dem Handeln damit eine konkrete Richtung vor. Vermeidungsziele spezifizieren dagegen nur, welchen Zustand man nicht erreichen möchte, ohne zu sagen, wohin man stattdessen möchte. Anders als Annäherungsziele geben Vermeidungsziele also dem Handeln keine Richtung vor. Wenn ich nur weiß, was ich im Leben nicht haben möchte, weiß ich noch nicht, was mein Leben mit Sinn erfüllt.
Denken Sie jetzt bitte nicht an einen rosa Elefanten!
„In Bezug auf das Wort „nicht“ gibt es noch eine weitere Besonderheit, die man mit folgender Aufforderung verdeutlichen kann: „Denken Sie jetzt bitte nicht an einen rosa Elefanten!“ Das Ironische an solchen Aufforderungen mit dem Wort „nicht“ ist, dass man damit das Gegenteil erreicht: Vorher hatten Sie vermutlich keinen rosa Elefanten im Kopf, aber die Aufforderung hat sie erst auf diesen Gedanken gebracht. Insbeson-
143 6.2 · Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept
dere zeigen Studien, dass nach solchen Aufforderungen der eigentlich zu unterdrückende Gedanke immer wiederkehrt (Wegner et al. 1987). Solche Effekte beeinflussen sogar unser Verhalten. Bittet man Personen, ein Pendel möglichst nicht nach links und rechts zu bewegen, tritt genau eine solche Pendelbewegung verstärkt auf (Wegner et al. 1998). Der Grund dafür ist, dass wir etwas nicht „Nicht-Denken“ können, ohne den betroffenen Gedanken zunächst einmal zu denken. Dadurch wird aber dessen Repräsentation in unserem Kopf und das darauf bezogene Verhalten aktiviert, was dazu führen kann, dass wir dadurch erst recht entsprechend denken und handeln. Hilfreich ist hier, Aufforderungen so zu formulieren, dass nicht der zu vermeidende Gedanke oder das zu vermeidende Verhalten thematisiert wird, sondern alternative Gedanken oder Verhaltensweisen, welche die eigentlich zu vermeidenden Inhalte gar nicht erst aktivieren.“
>>Wichtig! Für eine hohe emotionale Kompetenz ist es hilfreich, wenn Ziele durch eine intrinsische Motivation gestützt sind. Um Annäherungsverhalten und die damit verbundenen Emotionen wie Hoffnung und Vorfreude zu aktivieren, ist es zielführend, Ziele annäherungsorientiert („Welchen Zielzustand will ich erreichen?“) anstatt vermeidungsorientiert („Welchen Zielzustand möchte ich vermeiden?“) zu formulieren. Allerdings ist es für das Zusammenleben von Menschen in einer Gruppe notwendig, dass bestimmte Ziele gemeinsam geteilt werden, unabhängig von den jeweiligen intrinsischen Zielen. Diese Notwendigkeit zu erkennen und die damit verbundenen extrinsischen Ziele mit den eigenen intrinsischen Zielen in Einklang zu bringen, ist ein wichtiger Entwicklungsschritt. Weiterhin ist es wichtig, die eigenen Werthaltungen zu kennen, und zu prüfen, inwiefern diese mit den eigenen Zielen und gesellschaftlichen Normen übereinstimmen. Um Ziele zu erreichen, müssen auch die dafür notwendigen instrumentellen Zwischenziele im Selbstkonzept verankert sein. Eine besondere Übung zur Formulierung und zur Auseinandersetzung mit den eigenen Zielen in Bezug auf den Lehrberuf findet sich im zweiten Teil des Buches in 7 Abschn. 12.2.2.3 („Entwicklungsgespräch“).
6.2.2.2 Was kann ich bewirken? – Selbstwirksamkeit zz Selbstwirksamkeitsüberzeugung
Unser Selbstbild beinhaltet unsere Gedanken darüber, wie wir meinen als Person zu sein und welche Zielzustände wir gerne erreichen würden. Allerdings heißt das nicht, dass wir durch unser Verhalten in der Welt die im Selbstbild verankerten Zielzustände auch wirklich verfolgen. Das muss selbst dann nicht der Fall sein, wenn unser Selbstbild alle intrinsischen und extrinsischen Kräfte gut abbildet und auch alle notwendigen instrumentellen Ziele ausgebildet sind. Wir wollen uns hierzu ein eindrückliches Beispiel ansehen. ►►Reflexion
Es war einer der größten Träume vieler Fußballer: Bayern München hatte es 2012 ins Finale der Champions League geschafft, und der Ort des Finales war München – das erträumte „Finale dahoam“ (= „daheim“). Nach Verlängerung stand es 1:1 und das Spiel
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Kapitel 6 · Das Rationale System
musste im Elfmeterschießen entschieden werden. Auf dem Platz waren zahlreiche erfahrene Spieler – beispielsweise Anatoli Timoschtschuk, Kapitän der ukrainischen Nationalmannschaft, die deutschen Nationalspieler Toni Kroos und Jerome Boateng und der belgische Nationalspieler Daniel van Buyten – und nun stand die Frage im Raum, wer als Elfmeterschütze antreten sollte. Betrachtet man die Situation aus motivationaler Perspektive, scheint alles klar zu sein: Der zu erreichende Zielzustand könnte attraktiver nicht sein – man wäre der Held, der „dahoam“ das entscheidende Tor zum Gewinn der Champions League geschossen hat. Das instrumentelle Ziel ist auch absolut eindeutig – Wenn man hart und hoch in eine der Ecken schießt, liegt laut wissenschaftlichen Studien die Trefferquote praktisch bei 100 %. Und die Fähigkeit, dieses Verhalten auch sicher auszuführen, sollte bei der Qualität der Fußballer auch ebenfalls bei praktisch 100 % liegen. Die Spieler sollten sich also eigentlich darum streiten, wer schießen darf. Allerdings war die Realität anders (laut einem Artikel in der FAZ):
»» Thomas Müller redete auf Anatoli Timoschtschuk ein wie auf ein krankes Pferd. Es
half nichts, er scheute. Auch andere Spieler des FC Bayern verweigerten. „Mit einigen habe ich dreimal gesprochen, aber du kannst sie nicht zwingen“, erzählt Trainer Jupp Heynckes. Schließlich musste Manuel Neuer, der Torhüter, antreten, obwohl Torhüter aufgrund ihrer fehlenden Torschusserfahrungen als Schützen zumeist erst dann gefragt sind, wenn kein Feldspieler mehr übrig ist. Wie könnte man dieses eigenartige Verhalten der Spieler erklären? (Manuel Neuer hat übrigens getroffen, allerdings verlor Bayern München schließlich trotzdem, weil Bastian Schweinsteiger am Ende nur den Pfosten traf.) ◄
Wir stoßen hier auf eine seltsame Eigenart von uns Menschen: Selbst ein hochattraktives Ziel und eine eigentlich hoch ausgeprägte Fähigkeit, dieses Ziel auch erreichen zu können, sind nicht notwendigerweise dafür ausreichend, dass das Ziel auch angestrebt wird. Diese Eigenart hat damit zu tun, dass in unserem Selbstkonzept nicht nur ein Bild davon gespeichert ist, welche Ziele wir persönlich als attraktiv einschätzen, sondern auch ein Bild davon, wie hoch wir subjektiv unsere Kompetenzen einschätzen, die für die Zielerreichung nötigen Handlungen ausführen zu können. Diese subjektive Überzeugung in Bezug auf unsere vorhandenen Kompetenzen kann sich stärker auf unser Handeln auswirken als die eigentlich objektiv vorhandenen Kompetenzen. Im Beispiel des Elfmeterschießens ist genau das des Rätsels Lösung: Offenbar fehlte vielen Spielern die Überzeugung, die nötige Handlung zur Zielerreichung (hart und hoch in die Ecke schießen) in der gegebenen Situation wirklich ausführen zu können. Allgemein spricht man hier von Selbstwirksamkeitsüberzeugung – der inneren Überzeugung, die Welt so beeinflussen zu können, dass man die im Selbstbild verankerten Ziele auch erreichen kann. Ein Mensch, der daran glaubt, selbst etwas bewirken und die gewünschten Ziele durch eigenes Handeln erreichen zu können, hat demnach eine hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung. Hinsichtlich unserer Emotionen kann das Ausmaß an empfundener Selbstwirksamkeit tiefgreifende Effekte haben. Ein Beispiel ist das oben erwähnte Elfmeterschießen: Bei hoher Selbstwirksamkeitsüberzeugung tritt ein Spieler an und wird danach als Held gefeiert, bei niedriger Selbstwirksamkeitsüberzeugung tritt ein Spieler nicht an, mit dem Effekt, dass positive Emotionen ausbleiben und stattdessen negative Emotionen drohen, beispiels-
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weise durch die negative Kritik durch andere. So sagte der damalige Bayern-Chefberater Paul Breitner nach dem Spiel in einem Interview mit dem Bayerischen Rundfunk (O. V 2012):
»» Ich bin tief traurig und maßlos enttäuscht, dass Spieler es zulassen, dass ein erst kurz vorher eingewechselter Ivica Olic, der überhaupt noch nicht warmgelaufen ist, einen Elfmeter schießen muss.
Über die Auswirkungen auf die Emotionen im Moment hinaus können sich aus einer geringen Selbstwirksamkeitsüberzeugung aber auch langfristige negative Konsequenzen für das emotionale Geschehen ergeben. So kann eine geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung eine Person in der Umsetzung ihrer innerlich angestrebten Ziele behindern, was das Wohlbefinden verringert, die Anfälligkeit für Angststörungen und Depressionen erhöht und mit geringeren Erfolgen im Berufsleben einhergeht (Bandura 1982). Ein besonders frappierender Mechanismus dabei sind selbsterfüllende Prophezeiungen: Indem man aufgrund einer geringen Selbstwirksamkeitsüberzeugung es gar nicht erst versucht, wird die Entwicklung der für die Zielerreichung nötigen Kompetenzen verhindert. Die sich daraus ergebenden geringeren Kompetenzen bestätigen anscheinend die geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung – obwohl die geringeren Kompetenzen nichts mit dem eigentlichen persönlichen Potential zu tun haben, sondern in Wirklichkeit das Fehlen von Lerngelegenheiten widerspiegeln. In . Abb. 6.15 sind solche selbsterfüllenden Prophezeiungen am Beispiel der Entwicklung des Glaubens an die eigenen Lernfähigkeiten illustriert. Woher weiß man, wie selbstwirksam man ist? Es gibt hier eine Reihe von Quellen, die unsere Selbstwirksamkeitsüberzeugungen speisen: 55 Eigene bisherige Erfahrungen: Was habe ich bisher in der Welt bewirkt? 55 Modelllernen: Was bewirken andere mir ähnliche Personen in der Welt? 55 Soziale Überzeugungen: Was glauben andere Personen, dass ich in der Welt bewirken kann? 55 Physiologischer Zustand: Was lässt sich aus meinem aktuellen physiologischen Erregungszustand über meine Wirksamkeit schließen?
„Daran glauben, dass man Dinge leicht lernen kann“
Mehr Erfolg
Mehr Anstrengung
Aufwärtsspirale
„Nicht daran glauben, dass man Dinge leicht lernen kann“
Weniger Erfolg
Weniger Anstrengung
Abwärtsspirale
.. Abb. 6.15 Selbstwirksamkeit und selbsterfüllende Prophezeiungen
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Kapitel 6 · Das Rationale System
Hinsichtlich all dieser Quellen ist zu beachten, dass bei einer geringen Selbstwirksamkeitsüberzeugung problematische Dynamiken ähnlich den oben beschriebenen selbsterfüllenden Prophezeiungen auftreten können. Aufgrund von solchen selbsterfüllenden Prophezeiungen macht man zunehmend weniger selbstwirksame Erfahrungen, man beginnt, sich zunehmend an Personen zu orientieren, die auch eine geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung haben, andere Menschen beginnen auch weniger an einen zu glauben, und in Leistungssituationen steigt die Furcht zu versagen, mit entsprechenden Konsequenzen auf physiologischer Ebene. Die Auswirkungen der Selbstwirksamkeitsüberzeugung von Lehrkräften
6 „Zahlreiche Studien belegen, dass Lehrkräfte, die subjektiv stärker daran glauben, Schülern etwas beibringen zu können, bessere Lernumgebungen schaffen. So nutzen Lehrkräfte mit hoher Selbstwirksamkeitsüberzeugung die Unterrichtszeit effektiver, bringen Schüler mit Lernschwierigkeiten besser vorwärts, loben häufiger anstatt zu tadeln und fördern stärker ein intrinsisch motiviertes Lernen. Lehrkräfte mit geringer Selbstwirksamkeitsüberzeugung nutzen dagegen die Unterrichtszeit schlechter, geben bei Schülern mit Lernschwierigkeiten früher auf, tadeln häufiger anstatt zu loben und setzen häufiger extrinsische Motivationsquellen ein (Bandura 1993). Angesichts der beschriebenen Vorteile einer hohen Selbstwirksamkeitsüberzeugung sind solche Befunde wenig überraschend. Es gibt aber noch einen weitaus überraschenderen Befund. Wir wollen uns dazu die Ergebnisse des neuseeländischen Unterrichtsforschers John Hattie ansehen. Dessen Forschungsziel besteht darin, die aktuell existierenden Studien zu Einflussfaktoren auf den schulischen Lernerfolg in Form einer Rangliste zusammenzufassen (Hattie 2013). Aktuell führt er 252 Einflussfaktoren an, basierend auf 80.000 Studien an insgesamt 300 Millionen Schülern, mit folgendem Ergebnis (geordnet nach der Stärke des Effektes) (. Tab. 6.1): Der mit Abstand stärkste Einflussfaktor liegt überraschenderweise weder auf Schülerebene noch auf der Ebene der individuellen Lehrkraft oder der Eltern, sondern auf Schulebene: Die kollektive Selbstwirksamkeitsüberzeugung einer Schule – also die von den Lehrkräften einer Schule geteilte Überzeugung, eine Schule zu sein, welche Schüler im Lernen voranbringt, unabhängig davon, welches „Paket“ ein Schüler aufgrund seines persönlichen Hintergrundes mitbringt. Dies ist umso beeindruckender, angesichts der Einflussfaktoren auf Platz 2 und Platz 3: Aus dem Ausmaß an kollektiver Selbstwirksamkeitsüberzeugung einer Schule lässt sich die Leistungen von Schülern besser vorhersagen als wenn man dazu die von Schülern berichteten Noten benutzt oder die Urteile, die Lehrkräfte über die Leistung eines Schülers abgeben. Die kollektive Selbstwirksamkeitsüberzeugung ist dabei mehr als die Summe der individuellen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der einzelnen Lehrkräfte: Hinzu kommt die gemeinsam geteilte Einstellung, als Gruppe von Lehrkräften kooperativ etwas bewirken zu können. Gelingende Kooperationen von Lehrkräften auf Schulebene sind also eine zentrale Grundbedingung für eine hohe kollektive Selbstwirksam
147 6.2 · Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept
.. Tab. 6.1 Rangliste von John Hattie (Dezember 2017, 7
visiblelearningplus.com)
Einflussfaktor
Effektstärke (d)
Platz 1
Kollektive Selbstwirksamkeitsüberzeugung einer Schule
1,57
Platz 2
Von Schülern berichtete Noten
1,33
Platz 3
Lehrkräfteurteil über Schülerleistung
1,29
…
…
…
Platz 12
Glaubwürdigkeit der Lehrkraft
0,90
… Platz 32
… Feedback
0,70
Sozioökonomischer Status
0,52
… Platz 73 … Platz 238
… Schlafmangel (Schüler)
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keitsüberzeugung – und damit für ein hohes emotionales Wohlbefinden bei Lehrkräften. Die Forscherin und Autorin Jenni Donohoo nennt in einem Blog-Beitrag sechs dafür förderliche Bedingungen auf Schulebene (Donohoo 2017): 55 Einbeziehung von Lehrkräften in schulweite Entscheidungen 55 Gemeinsame Ziele 55 Wissen um aktuelle Arbeiten von Kolleginnen und Kollegen 55 Übereinstimmung in didaktischen Grundsätzen innerhalb des Kollegiums 55 Ansprechbarkeit der Schulleitung 55 Effektives Hilfe- und Interventionssystem.“
Bisher wurden nur die negativen Auswirkungen einer zu geringen Selbstwirksamkeitsüberzeugung thematisiert. Aber können sich auch aus einer zu hohen Selbstwirksamkeitsüberzeugung negative Konsequenzen ergeben? Schaut man sich die Selbstwirksamkeitsüberzeugungen von Menschen an, findet man folgendes Muster: Menschen überschätzen ihre Selbstwirksamkeit in fast allen Bereichen. Bittet man Personen beispielsweise ihre eigene Leistungsfähigkeit einzuschätzen, wird diese typischerweise höher eingeschätzt als sie objektiv ist. Diese Selbstüberschätzung ist umso stärker, je jünger Kinder sind, und sie pendelt sich im Erwachsenenalter schließlich auf mäßigem Niveau ein (Helmke 1992). Bekannt wurde hier vor allem das Phänomen der sogenannten „Illusorischen Überlegenheit“: Fragt man Personen, wie sie ihre eigenen Kompetenzen im Vergleich zu anderen Personen einschätzen, werden die eigenen Kompetenzen typischerweise überschätzt. Ein illustratives Beispiel ist die Frage: „Gehören Sie zur besseren Hälfte der Autofahrer?“. Die große Mehrheit der Personen antwortet darauf mit ja, obwohl bei realistischer Einschätzung nur 50 % der Personen dieser Frage zustimmen sollten (Svenson 1981). Ähnliche Effekte zeigen sich in vielen anderen Bereichen, wie der kognitiven Leistungsfähigkeit, der sozialen Fähigkeiten und auch bei Urteilen von Lehrkräften
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Kapitel 6 · Das Rationale System
über ihre Lehrfähigkeiten: In einer Umfrage an der Universität Nebraska-Lincoln meinten 90 % der Lehrpersonen, dass sie zu den besten 50 % aller Lehrpersonen gehören würden, und 68 % meinten sogar, dass sie zu den besten 25 % gehören würden (Cross 1977). Angesichts der Tatsache, dass sich Menschen hinsichtlich ihrer Selbstwirksamkeit meist überschätzen, scheint also nicht eine realistische Selbsteinschätzung, sondern eine Selbstüberschätzung funktional zu sein. Das ergibt in der Tat Sinn: Eine Überschätzung der eigenen Fähigkeiten ist ein Entwicklungsmotor, denn dadurch öffnet sich ein Entwicklungsspielraum, innerhalb dessen man die aktuell vorhandenen Fähigkeiten weiterentwickeln kann. Würde man die eigene Wirksamkeit nur daraufhin beurteilen, was man aktuell schon kann, würde man in seiner Entwicklung stehenbleiben. Allerdings gilt das nur für eine mäßige Überschätzung der eigenen Selbstwirksamkeit. Eine zu starke Selbstüberschätzung ist auch wenig funktional, denn: Zum einen kann eine unrealistisch hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung zu falschen Entscheidungen und Fehlhandlungen führen. Zum anderen besteht die Gefahr, weniger Anstrengung einzusetzen, was die Entwicklung von tatsächlichen Kompetenzen hemmen kann. Die negativen Auswirkungen der „intellektuellen Brillanz“
„Eine inzwischen langjährige Beobachtung ist, dass Jungen im Schnitt weniger Erfolg in der Schule zeigen als Mädchen. So wechseln mehr Mädchen als Jungen nach der Grundschule auf das Gymnasium, ebenso machen mehr Mädchen Abitur (Blossfeld et al. 2009). Auf der Suche nach möglichen Erklärungen wurde in den letzten Jahren ein Geschlechterstereotyp entdeckt, das etwa im Alter von sechs Jahren bei Kindern auftaucht: Das Stereotyp, dass Jungen häufiger eine herausragende intellektuelle Begabung – eine höhere „intellektuelle Brillanz“ – zugeschrieben wird als Mädchen. Erzählt man beispielsweise Kindern eine kurze Geschichte über eine Person mit hoher intellektueller Brillanz und fragt sie danach, ob die Person wohl ein Mann oder eine Frau ist, wählen Kinder im Alter von fünf Jahren noch bevorzugt das eigene Geschlecht. Ab dem Alter von sechs Jahren ändert sich das: Jungen wählen noch immer das eigene Geschlecht, Mädchen dagegen plötzlich das andere Geschlecht. Solche Stereotype wirken sich wiederum auf das Lernen aus. Fragt man die sechsjährigen Kinder, ob sie lieber ein Spiel für Kinder spielen wollen, die „wirklich wirklich schlau“ sind, oder aber eines für Kinder, die sich „wirklich wirklich anstrengen“ wollen, wählen Jungen eher das erste Spiel, Mädchen hingegen eher das zweite (Bian et al. 2017). Was sich hier sehr früh abzeichnet, kann langfristige Auswirkungen auf die gesamte Schulkarriere haben: Aufgrund der subjektiven Überzeugung, eine höhere intellektuelle Brillanz zu haben, meinen Jungen oft, dass sie sich weniger anstrengen müssen, während Mädchen meinen, ihre vermutete geringere intellektuelle Brillanz durch mehr Anstrengung wettmachen zu müssen. Da sich Jungen und Mädchen allerdings nachgewiese-
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nermaßen in Wirklichkeit in ihren angeborenen Fähigkeiten gar nicht unterscheiden (Hyde und Mertz 2009), ergibt sich langfristig durch die erhöhte Anstrengung und mehr Fleiß ein schulischer Vorteil für Mädchen gegenüber Jungen.“
Emotional betrachtet kann also aus einer hohen Selbstwirksamkeitserwartung mehr Aktivität und Initiative entstehen, somit auch mehr Erfolgserlebnisse und nachfolgende angenehme Emotionen. Aus einer zu niedrigen Selbstwirksamkeitserwartung resultiert dagegen häufig Passivität und daraus wiederum ein Mangel an (Erfolgs-)Erlebnissen und eine Zunahme an unangenehmen Emotionen. Aufgrund einer extrem überhöhten Selbstwirksamkeitsüberzeugung und der daraus resultierenden Passivität können langfristig gesehen ebenfalls eine Anhäufung von Misserfolgserlebnissen mit unangenehmen Folgeemotionen erwachsen. zz Die Zuschreibung von Ursachen zu Ereignissen
Wie wir gesehen haben, spielen die eigenen Erfahrungen für die Ausbildung einer bestimmten Selbstwirksamkeitsüberzeugung eine wichtige Rolle. Allerdings gibt es hier einen wichtigen Faktor, der die empfundene Selbstwirksamkeit unabhängig davon beeinflusst, ob wir mit unseren Handlungen das erwünschte Ereignis erreichen oder nicht: Die Einschätzung, wer für das Eintreten von Ereignissen „in Wirklichkeit“ verantwortlich ist. „In Wirklichkeit“ steht hier deswegen in Anführungszeichen, weil es sich auch bei solchen Einschätzungen um im Selbstkonzept verankerte subjektive Überzeugungen handelt: Überzeugungen darüber, an wem oder was es liegt, wenn bestimmte Ereignisse eintreten – sogenannte Kausalattributionen (Stiensmeier-Pelster und Heckhausen 2010). ►►Reflexion
Rufen Sie sich eine Situation ins Gedächtnis, in der ihre Klasse sehr laut war und es Ihnen nicht gelungen ist, sie zu beruhigen. Was schließen Sie daraus über ihre Fähigkeiten als Lehrkraft? ◄
Wenn man es einmal nicht schafft, eine laute Klasse zu beruhigen, kann man zwei verschiedene Arten von Einschätzungen über die Ursachen machen. Man kann sich zum einen fragen: Woran liegt es – an mir (internale Ursache) oder an der Situation (externale Ursache)? Zum anderen kann man sich fragen: Kann ich die Ursache beeinflussen und ändern – ja (kontrollierbare Ursache) oder nein (nicht kontrollierbare Ursache)? Kombiniert man die beiden Einschätzungen, so erhält man eine Vierfeldertafel der Ursachenzuschreibung – eine sogenannte Attributionsmatrix: Es kann entweder an mir liegen, und das kann ich ändern oder nicht, oder es kann an der Situation liegen, und das kann ich ändern oder nicht. In . Abb. 6.16 ist die Attributionsmatrix anhand von Beispielen illustriert. Im Selbstkonzept ist nun verankert, wo auf der Attributionsmatrix wir uns bei Ursachenzuschreibungen von Ereignissen befinden. Wie die farbliche Kodierung in . Abb. 6.16 zeigt, hat das Konsequenzen darauf, wie gut und flexibel wir meinen mit Ereignissen umgehen zu können. Relevant ist das vor allem dann, wenn es sich um misserfolgsbezogene Ereignisse handelt. Wer meint, Misserfolge liegen an den eigenen Fähigkeiten, und diese wiederum lassen sich nicht ändern, wird versuchen, Miss
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Kapitel 6 · Das Rationale System
.. Abb. 6.16 Die Attributionsmatrix
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erfolge hinzunehmen und damit zu leben, mit negativen Konsequenzen für das emotionale Wohlergehen. Ist man dagegen der Meinung, die einem Misserfolg zugrundeliegenden Ursachen kann man ändern, wird man den Misserfolg nicht hinnehmen und stattdessen versuchen, die Ursachen positiv zu beeinflussen. Eine internale und kontrollierbare Ursachenzuschreibung ist also förderlich für die persönliche Weiterentwicklung, eine internale und nicht kontrollierbare Ursachenzuschreibung hingegen ein Hemmnis für die persönliche Weiterentwicklung. Weiterhin besteht die Gefahr selbsterfüllender Prophezeiungen: Wer der Überzeugung ist, eine unfähige Lehrkraft zu sein, wird gar nicht erst etwas Neues ausprobieren, sodass sich die eigenen Unterrichtskompetenzen nicht ändern, was wiederum die anfängliche negative Überzeugung stützt. Bei erfolgsbezogenen Ereignissen ist die Frage der Beeinflussbarkeit weniger wichtig, denn der Erfolg wurde ja im Rahmen der aktuell gegebenen Bedingungen auf der Ebene der Ursachen erreicht. Dementsprechend besteht der Wunsch gar nicht, diese zu ändern. Wichtiger ist hier, ob man meint, den Erfolg aus eigenen Kräften erzielt zu haben, oder ob man es nur der Situation zu verdanken hat. Bei einer internalen Ursachenzuschreibung wird man zuversichtlicher sein, auch in Zukunft ähnliche Erfolge aus eigener Kraft erreichen zu können und nicht auf günstige situative Gegebenheiten warten zu müssen. ►►Reflexion
Überlegen Sie kurz: Wie ist es eigentlich typischerweise bei Ihnen, wenn Dinge in der Schule einmal nicht so klappen wie erwünscht? Wo befinden Sie sich auf der Attributionsmatrix? Sind Sie dann meist der Überzeugung, es liegt an Ihnen? Oder an der Situation oder an anderen Personen? Und meinen Sie, die Dinge beeinflussen zu können, oder eher nicht? ◄
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Emotionale Konsequenzen, die aus einer bestimmten Ursachenzuschreibung erwachsen, sind vielfältig. Insbesondere zur Ursachenzuschreibung bei Misserfolg gibt es einige Studien, die zeigen, dass gerade Personen, die zur Depressivität neigen, auch dazu tendieren, Misserfolge eher internal und unkontrollierbar zu interpretieren (Rubenstein et al. 2016). Daraus abgeleitet könnte man vermuten, dass eine internal-unkontrollierbare Ursachenzuschreibung auch eher unangenehmen Emotionen mit sich bringt, genauso wie eine allgemeine externale Zuschreibung von Erfolg langfristig zu einem Ausbleiben von angenehmen Emotionen führen kann. >>Wichtig! Selbstwirksamkeitsüberzeugungen beeinflussen unsere Emotionen erheblich. In Hinblick auf die emotionale Kompetenz ist es wichtig, sich der der eigenen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und der eigenen Gewohnheiten bei der Zuschreibung von Ursachen zu Ereignissen bewusst zu sein. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf der Gefahr von selbsterfüllenden Prophezeiungen bei geringen Überzeugungen zu den eigenen Fähigkeiten liegen, um möglichen „Teufelskreisen“ entgegenzuwirken. Eine mäßige Überschätzung der eigenen Selbstwirksamkeit kann funktional sein, allerdings ist eine zu hohe Überschätzung mit Risiken verbunden. Auf Schulebene ist es förderlich, als ganze Schulgemeinschaft davon überzeugt zu sein, Schüler unabhängig von deren persönlichen Vorgeschichten in ihrer Entwicklung weiterbringen zu können.
6.2.3 Die Bewertung des Selbstkonzepts – Selbstwert
Das Bild, das wir von uns selbst und unserer Wirksamkeit in der Welt haben, ist zunächst nur eine Beschreibung davon, wie wir meinen als Person zu sein. Auswirkungen auf unsere Emotionen hat insbesondere ein darauf aufbauender psychischer Prozess: Wir bewerten unser Bild von uns selbst hinsichtlich dessen, ob wir mit uns zufrieden sind oder nicht – eine Bewertung, aus der unser Selbstwert resultiert. Ein niedriger Selbstwert zieht im Vergleich mit einem hohen Selbstwert eher Emotionen wie Traurigkeit oder Frustration nach sich. Es ist also nicht verwunderlich, dass der allgemeine Selbstwert – also die allgemeine Zufriedenheit mit sich selbst – einer der zentralen Einflussfaktoren auf die Lebenszufriedenheit (Diener et al. 2003) und die Anfälligkeit für Depressionen (Sowislo und Orth 2013) ist. Über die Wirkung auf unser emotionales Wohlbefinden hinaus spielt unser Selbstwert eine wichtige Rolle bei zahlreichen weiteren psychischen Prozessen. So sind wir bereits in 7 Kap. 4 bei der Beschreibung der uns antreibenden Bedürfnisse auf den Selbstwert gestoßen: Der Selbstwert stellt in der dort beschriebenen Bedürfnishierarchie eine eigenständige Stufe dar. Das Erreichen eines hohen Selbstwerts bzw. das Vermeiden eines geringen Selbstwerts ist also einer der zentralen Soll-Werte, die unser Bedürfnissystem ständig anzustreben versucht. Weiterhin zeigen Längsschnittstudien, dass sich ein hoher Selbstwert auf das Fortkommen in zahlreichen Lebensbereichen wie sozialen Beziehungen, Beruf und Gesundheit positiv auswirkt (Nolen-Hoeksema 2000).
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Kapitel 6 · Das Rationale System
Die Messung des allgemeinen Selbstwerts
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„Um sich einen Eindruck zu verschaffen, was genau unter dem allgemeinen Selbstwert einer Person verstanden wird, ist es hilfreich, sich einen der bekanntesten Fragebögen anzuschauen, der in wissenschaftlichen Studien zur Messung des allgemeinen Selbstwerts benutzt wird (von Collani und Herzberg 2003). Dort werden Personen gebeten, sich selbst in Bezug auf folgende Aussagen einzuschätzen (vierstufige Skala von „trifft gar nicht zu“ bis „trifft vollkommen zu“; ein „(-)“ hinter einer Aussage bedeutet, dass bei diesen Aussagen ein hoher Ankreuzwert auf einen niedrigen Selbstwert hinweist): 55 Alles in allem bin ich mit mir selbst zufrieden. 55 Hin und wieder denke ich, dass ich gar nichts tauge. (–) 55 Ich besitze eine Reihe guter Eigenschaften. 55 Ich kann vieles genauso gut wie die meisten anderen Menschen auch. 55 Ich fürchte, es gibt nicht viel, worauf ich stolz sein kann. (–) 55 Ich fühle mich von Zeit zu Zeit richtig nutzlos. (–) 55 Ich halte mich für einen wertvollen Menschen, jedenfalls bin ich nicht weniger wertvoll als andere auch. 55 Ich wünschte, ich könnte vor mir selbst mehr Achtung haben. (–) 55 Alles in allem neige ich dazu, mich für einen Versager zu halten. (–) 55 Ich habe eine positive Einstellung zu mir selbst gefunden.“
Eine alleinige Betrachtung des allgemeinen Selbstwerts ist allerdings nicht ausreichend. Der Selbstwert einer Person kann je nach betrachtetem Eigenschaftsbereich unterschiedlich ausfallen. So zeigen beispielsweise Studien, dass die Zufriedenheit einer Person mit sich selbst unterschiedlich ausfällt, je nachdem ob es um die Bewertung intellektueller, sozialer, emotionaler oder physischer Charakteristiken geht (Orth und Robins 2014). Insbesondere entspricht der allgemeine Selbstwert nicht einfach dem Durchschnitt über die verschiedenen bereichsspezifischen Selbstwerte hinweg. Vielmehr werden die bereichsspezifischen Selbstwerte subjektiv als mehr oder weniger wichtig gewertet, je nachdem, welchen Stellenwert der jeweilige Bereich im Selbstkonzept einer Person einnimmt. Wer beispielsweise einen geringen Selbstwert in Bezug auf die eigenen physischen Merkmale hat, kann trotzdem einen hohen allgemeinen Selbstwert haben, wenn physischen Merkmalen keine große Wichtigkeit beigemessen wird. 6.2.3.1 Quellen der Selbstbewertung zz Bedingter und unbedingter Selbstwert
Woher wissen wir nun eigentlich, wann wir mit uns zufrieden sein können und wann nicht? Hier ist es wichtig, zunächst zwischen zwei grundlegend verschiedenen Arten von Selbstwerten zu unterscheiden (Deci und Ryan 1995): Die erste Art – der sogenannte bedingte Selbstwert – ist an bestimmte zu erreichende Standards geknüpft.
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Die Maßstäbe, die wir hierfür benutzen, werden wir uns gleich noch genauer ansehen. Die zweite Art – der sogenannte unbedingte Selbstwert – spiegelt die Einschätzung wider, als Person allgemein etwas wert zu sein, unabhängig davon, ob bestimmte Standards erreicht werden. Prägend für den unbedingten Selbstwert können beispielsweise Erfahrungen mit wichtigen Bezugspersonen sein: Wenn man die Erfahrung macht, von anderen unabhängig vom Erreichen bestimmter Standards wertgeschätzt zu werden, kann daraus ein hoher unbedingter Selbstwert resultieren, ein Effekt, der für die Selbstwertentwicklung bei Kindern eine wichtige Rolle spielt und lebenslang prägend sein kann (Brown et al. 2001). Weiterhin können sich der bedingte und unbedingte Selbstwert auch wechselseitig beeinflussen. Macht man des Öfteren die Erfahrung, bestimmte selbstwertbezogene Standards zu erfüllen, kann sich daraus ein generalisierter hoher unbedingter Selbstwert entwickeln. Ein hoher unbedingter Selbstwert wiederum kann eine förderliche Triebfeder für die Entwicklung einer Person sein, mit positiven Effekten auf das Erreichen selbstwertbezogener Standards. zz Extrinsischer und intrinsischer Selbstwert
Bei der Selbstbewertung mittels Maßstäben gibt es zwei grundlegende Arten von Bewertungsmaßstäben. Entsprechend der Unterscheidung zwischen extrinsischen und intrinsischen Zielen (7 Abschn. 6.2.2.1) kann man auch zwischen extrinsischen und intrinsischen Selbstbewertungsmaßstäben unterscheiden: Wir können äußere Bewertungsmaßstäbe benutzen und unseren Selbstwert daraus schöpfen, dass wir uns aus den Augen anderer betrachten und uns mit deren Wertmaßstäben bewerten (extrin sischer Selbstwert). Wir können aber auch innere Maßstäbe benutzen und unseren Selbstwert daraus schöpfen, dass wir uns anhand von Wertmaßstäben betrachten und bewerten, mit denen wir uns persönlich identifizieren (intrinsischer Selbstwert). Ähnlich wie bei extrinsischen Zielen kann auch ein sich aus extrinsischen Quellen speisender Selbstwert mit nachteiligen Wirkungen verbunden sein. Das hat vor allem damit zu tun, dass das Erreichen eines hohen Selbstwertes eines unserer zentralen Grundbedürfnisse ist. Wie wir bei der Beschreibung des Bedürfnissystems gesehen haben (7 Abschn. 4.2), versucht unser Bedürfnissystem ständig das Verhalten auszulösen, das unsere Grundbedürfnisse erfüllt, unabhängig davon, was wir aktuell fühlen oder denken. Ist der Selbstwert aus intrinsischen Quellen gespeist, wird Verhalten ausgelöst, das mit den weiteren in uns wirkenden Bedürfnissen und Emotionen im Einklang steht. Ist der Selbstwert dagegen aus extrinsischen Quellen gespeist, wird Verhalten ausgelöst, das für unsere weiteren Bedürfnisse und Emotionen nicht notwendigerweise Relevanz besitzt oder diesen sogar widerspricht. Die sich daraus ergebenden problematischen Konsequenzen werden sehr anschaulich in einem Interview mit dem Psychotherapeuten Hans-Joachim Maaz in der Süddeutschen Zeitung dargestellt bei der Beschreibung der von ihm so bezeichneten „narzisstischen Störung“ (Crocoll und Hagelüken 2013):
»» Wollen Sie sagen, wir sind gestört?
Ja, viele von uns. Eine narzisstische Störung entsteht, wenn frühkindliche Bestätigung fehlt. Je weniger die Eltern einem Kleinkind zeigen: „Wir lieben dich, auch wenn du vielleicht nicht alles hast, was wir uns wünschen“, desto stärker wächst das Bedürfnis danach, im späteren Leben beweisen zu wollen, dass man doch gut ist. Dass man es doch verdient hat, geliebt zu werden. Jemand mit einer narzisstischen Störung ist oft so unsicher, dass er nur das macht, was von ihm verlangt wird, oder
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was andere tun. Oder er strebt nach immer mehr, um das Minderwertigkeitsgefühl zu beschwichtigen. Wie viele narzisstisch gestörte Menschen schaffen es denn, später als Erwachsene für das geliebt zu werden, was sie tun? Das tragische Schicksal ist, dass man durch seine Störung Weltmeister werden, sehr berühmt werden und sehr viel Geld verdienen kann. Aber es hilft nicht, die frühe Schmach zu tilgen. Die bleibt. Viele Erfolgreiche geben vor, ziemlich glücklich zu sein. Man fühlt sich sekundär zufrieden, wenn man erfolgreich ist, Geld hat, Action und Partys. Wenn man genauer hinschaut, geht es nicht um echte Freude, sondern um aufgesetzte, oft alkoholisierte. Diese Leute leben in einem Mainstream der Ersatzbefriedigung. Ein paar Jahre kann das gehen. Irgendwann kriegen sie Probleme mit ihren Beziehungen, die Sexualität klappt nicht mehr, sie sind beruflich nicht mehr erfolgreich oder verlieren die Arbeit. Dann kommt die narzisstische Krise. Sie merken: So kann ich nicht weitermachen.
Auf was wir hier also stoßen ist – neben der Belohnung oder Bestrafung durch äußere Instanzen – ein weiterer Mechanismus, wie uns die Umwelt dazu bringen kann, Ziele zu verfolgen, die in uns eigentlich gar nichts auslösen: Eine Definition des eigenen Selbstwerts über extrinsische Bewertungsmaßstäbe. Das kann dazu führen, dass man extrinsische Ziele übernimmt und die Herausbildung intrinsischer Ziele, die mit der eigenen Persönlichkeit im Einklang stehen, vernachlässigt. So lange es funktioniert, den Selbstwert aus extrinsischen Quellen zu schöpfen, fällt das nicht notwendigerweise weiter auf, denn man fühlt sich als Person ja gut. Wenn allerdings aus irgendwelchen Gründen die extrinsische Selbstwertquelle wegfällt, stürzt der Selbstwert von einem Moment auf den anderen ins Bodenlose, da auf der intrinsischen Seite nichts aufgebaut wurde, woraus man Selbstwert schöpfen könnte – man erlebt also eine „narzisstische Krise“. Der Zusammenbruch von Karl Schmidt
„Mich erinnert das an das Ende eines Romans, den ich vor kurzem gelesen habe: „Herr Lehmann“, von Sven Regener. Der Roman thematisiert das Lebensgefühl junger Erwachsener in West-Berlin kurz vor dem Fall der Berliner Mauer. Hauptfigur ist der 29-jährige Frank Lehmann, der in Berlin-Kreuzberg lebt und dort in einer Kneipe arbeitet. Sein bester Freund ist Karl Schmidt, ein Künstler, den er für seine offenbare Persönlichkeitsstärke und Freiheit im Denken bewundert. Allerdings muss Frank Lehmann am Ende miterleben, wie Karl Schmidt kurz vor der Eröffnung seiner ersten Ausstellung psychisch zusammenbricht und all seine Kunstwerke zerstört. Karl Schmidt wird dann von Herrn Lehmann ins Krankenhaus gebracht, und Herr Lehmann möchte vom Arzt wissen, was Karl Schmidt eigentlich fehlt. Der Arzt erklärt den Zusammenbruch von Karl Schmidt mit folgender Ursache (Regener 2003, S. 268, leicht gekürzt):
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»» „Was ist denn nun mit ihm?“ fragte Herr Lehmann ungeduldig.
„Ihr Freund hat wahrscheinlich eine Mischung aus Depression und Nervenzusammenbruch. Das haben wir hier öfter.“ „Aber wo kommt das denn her?“ „Na ja“, sagte der Arzt und lehnte sich auf seinem Hocker zurück. „Oft hängt das mit dem Zerbrechen des Selbstbildes zusammen. So erkläre ich mir das. Vielleicht hat ihr Freund herausgefunden, dass er nicht der ist, der er die ganze Zeit zu sein glaubte.“ „Wieso sollte er nicht sein, was er zu sein glaubte?“ „Gute Frage. Ich würde mal vermuten, dass er ein depressiver Typ ist. Nehmen Sie mal diese Kunstsache, das mit der Ausstellung. Vielleicht war diese Ausstellung eine Art Stunde der Wahrheit, und er hat Angst bekommen.“ „Was denn für eine Angst?“ fragte Herr Lehmann. „Dass er versagt. Dass für ihn dabei herauskommt, dass er vielleicht gar kein richtiger Künstler ist. Dann bricht vielleicht alles andere auch zusammen. Das Leben hier in der Gegend ist leicht, wenn man jung ist: ein bisschen arbeiten, billige Wohnungen, viel Spaß. Aber die meisten brauchen auf Dauer etwas, wodurch das legitimiert wird. Wenn das wegbricht … buff!“ Der Arzt warf seine Hände zu seinem letzten Wort in die Luft, wie um eine Explosion darzustellen. Herr Lehmann kämpfte mit den Tränen. Jetzt werde ich selber noch labil, dachte er. Wenn das so weitergeht, dachte er, und: buff!“
Allerdings müssen mit einem extrinsischen Selbstwert nicht notwendigerweise negative Dynamiken verbunden sein. Wie wir bei den extrinsischen Zielen bereits gesehen haben (7 Abschn. 6.2.2.1), ist die Übernahme solcher Ziele ein notwendiger Prozess, da wir Menschen als soziale Wesen in Gruppen zusammenleben, wofür das Teilen bestimmter gemeinsamer Ziele eine notwendige Grundvoraussetzung darstellt. Dementsprechend ist es für die Entwicklung einer Person wichtig, sich mit notwendigen extrinsischen Zielen persönlich zu identifizieren und diese mit den eigenen intrinsischen Zielen zu integrieren. Dasselbe gilt auch für den Selbstwert: Wenn man sich mit einem extrinsischen Bewertungsmaßstab persönlich identifiziert und diesen mit den eigenen intrinsischen Maßstäben integriert hat, ergeben sich keine negativen Konsequenzen. Im Gegenteil: Das ist eigentlich der Zustand, der bei der selbstwertbezogenen Entwicklung einer Person als Ziel stehen sollte.
zz Unterschiedliche Bezugsrahmen der Bewertung
Neben der Unterscheidung intrinsisch/extrinsisch gibt es aber noch einen weiteren wichtigen Unterschied bei den von uns verwendeten selbstwertbezogenen Maßstäben. Die Unterscheidung zwischen intrinsischen und extrinsischen Maßstäben bezieht sich ja nur darauf, ob wir uns mit einem Maßstab persönlich identifizieren oder uns mit den Maßstäben anderer bewerten. Woher genau ein Maßstab aber seinen Wert bezieht, ist bisher noch offengeblieben. Prinzipiell ist es so, dass jeder Bewertung ein bestimmter normativer Rahmen zugrunde liegt, anhand dessen wir uns bewerten. Interessanterweise gibt es unterschiedliche Bezugsrahmen, was dazu führt, dass je nach Rahmen eine unterschiedliche Bewertung resultieren kann. Wir wollen uns das anhand des Beispiels der Selbstwertentwicklung im Alter ansehen.
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Das Paradox des Wohlbefindens im Alter
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„Betrachtet man die Entwicklung des Menschen über die Lebensspanne hinweg, gibt es ein recht eigenartiges Phänomen: In so gut wie allen Bereichen findet sich mit steigendem Lebensalter ein Abbau – beispielsweise wird die kognitive Leistungsfähigkeit geringer, die körperliche Gesundheit wird schlechter und das soziale Netzwerk wird aufgrund des Todes von Bekannten immer kleiner –, mit Ausnahme eines einzigen Bereichs: Trotz der zunehmenden Verlusterfahrungen in verschiedensten Bereichen nimmt die subjektive Zufriedenheit mit dem eigenen Leben und das emotionale Wohlbefinden mit dem Alter nicht ab, sondern im Durchschnitt sogar zu – ein Phänomen, welches als das „Paradox des Wohlbefindens“ bezeichnet wird (Staudinger 2000). Was könnte dieses eigenartige Phänomen erklären – oder anders ausgedrückt: Was kann man hier von älteren Personen lernen? Auf der Suche nach möglichen Erklärungen ist man darauf gestoßen, dass sich im Alter Veränderungen auf der Ebene der Bezugsrahmen ergeben, die zur Bewertung des eigenen Lebens herangezogen werden (Staudinger und Kessler 2012). Ein erster Punkt betrifft den sozialen Vergleich: In jüngeren Jahren vergleichen sich Menschen eher mit Personen, die ihnen voraus sind (Aufwärtsvergleiche), was dem Ziel der Weiterentwicklung der eigenen Kompetenzen dienlich ist. Im Alter vergleichen sich Menschen dagegen eher mit Personen, denen es schlechter geht (Abwärtsvergleiche), was zwar für die eigene Weiterentwicklung nicht hilfreich ist, aber die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben erhöht. Ein zweiter Punkt betrifft Veränderungen im Anspruchsniveau: Man passt im Alter das Niveau an, dass man angesichts typischer Altersentwicklungen realistisch erreichen kann, sodass trotz geringerer Leistung der Selbstwert aufrechterhalten werden kann. Ein dritter Punkt betrifft schließlich innere Veränderungen im Selbst bild: Im Alter erfolgt eine Verschiebung und Einschränkung des selbstwertbezogenen Bezugsrahmens auf weniger Bereiche, und zwar auf diejenigen, in welchen man Stärken hat, was den Selbstwert stabil hält.“
Wie das Paradox des Wohlbefindens im Alter zeigt, gibt es drei verschiedene Arten von Bezugsrahmen, hinsichtlich derer wir uns selbst bewerten können (für eine Illustration siehe . Abb. 6.17). Bei jedem Bezugsrahmen besteht wiederum einen Spielraum dafür, auf welche Weise daraus selbstbezogene Bewertungen abgeleitet werden. Insbesondere kann man diesen Spielraum „selbstwertdienlich“ nutzen: 55 Sozialer Bezugsrahmen: Wir vergleichen uns mit anderen Personen, beispielsweise mit uns ähnlichen Personen oder mit der durchschnittlichen Person. Hier hängt das Ergebnis des Bewertungsprozesses davon ab, mit wem wir uns vergleichen, und Abwärtsvergleiche können den Selbstwert erhöhen. 55 Kriteriumsorientierter Bezugsrahmen: Wir vergleichen uns mit bestimmten äußeren Standards, beispielsweise damit, was man laut bestimmter Normen können sollte. Hier hängt das Ergebnis des Bewertungsprozesses davon ab, welche
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.. Abb. 6.17 Die drei selbstwertrelevanten Bezugsrahmen
Normwerte wir für uns als relevant ansehen, und geringere Normwerte können den Selbstwert erhöhen. 55 Individueller Bezugsrahmen: Wir vergleichen uns damit, wie wir selbst bisher waren oder in Zukunft gerne sein wollen. Hier hängt das Ergebnis davon ab, welche persönlichen Eigenschaften und Ziele von uns als selbstwertrelevant angesehen werden, und eine Einschränkung auf unsere wahrgenommenen Stärken kann den Selbstwert erhöhen. Betrachtet man die „selbstwertdienliche“ Nutzung der Spielräume, wird klar, warum „selbstwertdienlich“ hier in Anführungszeichen geschrieben ist. Eine Nutzung des Spielraums zur Selbstwerterhöhung kann gleichzeitig ein Hemmschuh sein für die Weiterentwicklung einer Person. Wie wir bereits bei der Beschreibung des Paradoxes des Wohlbefindens im Alter gesehen haben, findet man in jüngerem Alter typischerweise eher Aufwärtsvergleiche, was eine wichtige Quelle der Motivation zur persönlichen Weiterentwicklung ist. Ähnliches gilt für den kriteriumsorientierten und den individuellen Bezugsrahmen: Eine Orientierung an geringeren Normwerten kann die Herausbildung eigentlich vorhandener Kompetenzen beeinträchtigen, ebenso kann eine Fokussierung auf die wahrgenommenen Stärken dazu führen, dass man Schwächen hinnimmt anstatt an ihnen zu arbeiten. Bei der Bewertung der eigenen Person mittels Maßstäben gibt es noch eine Dynamik, die mit paradoxen Konsequenzen verbunden ist und demonstriert, dass der empfundene Selbstwert nicht notwendigerweise mit den objektiv vorhandenen Eigenschaften und Fähigkeiten übereinstimmen muss. Wir wollen uns das anhand eines Beispiels im Bereich der Fähigkeiten ansehen (Marsh und Hau 2004): Misst man die mathematischen und verbalen Fähigkeiten von Schülern, so ergeben sich hohe Zusammenhänge: Schüler, die gut in Mathematik sind, verfügen meist auch über gute verbale Fähigkeiten. Würde nun der Selbstwert einfach die objektive Fähigkeit widerspiegeln, müssten die jeweiligen Selbstwerte – also die jeweilige persönliche Zufriedenheit mit der eigenen Leistungsfähigkeit – ähnlich hoch zusammenhängen. Dem ist allerdings nicht so: Der empfundene mathematische und verbale Selbstwert hängen praktisch nicht zusammen.
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Der Grund für diese überraschende Beobachtung ist: Wenn wir uns selbst bewerten, vergleichen wir eine bestimmte Eigenschaft nicht nur mit den Eigenschaften anderer („Wie gut bin ich im Vergleich zu anderen?“), sondern auch mit anderen Eigenschaften von uns selbst („Wie gut bin ich im mathematischen Bereich verglichen mit dem verbalen Bereich?“). Meint man nun beispielsweise im mathematischen Bereich besser zu sein als im verbalen Bereich, verringert das den Selbstwert im verbalen Bereich – obwohl man dort möglicherweise weitaus besser ist als viele andere. Paradoxerweise kann man also in Bezug auf eine bestimmte Eigenschaft einen geringen Selbstwert haben, obwohl ein Vergleich mit anderen zu einer positiveren Selbstwerteinschätzung führen würde.
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Eigenschaften versus Fähigkeiten
„In der Persönlichkeitspsychologie wird typischerweise zwischen zwei Arten von Persönlichkeitsmerkmalen unterschieden: Den Eigenschaften einer Person wie beispielsweise dem Grad an Extraversion oder Verträglichkeit (7 Abschn. 6.2.2.1) und den Fähigkeiten einer Person wie beispielsweise der Intelligenz. Der Unterschied zwischen beiden Arten von Persönlichkeitsmerkmalen ist normativer Natur. Bei Fähigkeiten gibt es einen absoluten normativen Maßstab, was allgemein als besser angesehen wird: Je intelligenter umso besser, was beispielsweise damit begründet wird, dass intelligente Personen einen höheren sozioökonomischen Status erreichen (Strenze 2007). Bei Eigenschaften ist das hingegen anders: Dort gibt es keinen absolut bestimmbaren Maßstab, was „besser“ ist. Die Frage, ob eine extravertierte Person allgemein „besser“ sei als eine introvertierte Person macht keinen Sinn. Stattdessen ist die Funktionalität solcher Eigenschaften kontextabhängig: In Kontext A ist eine höhere Introvertiertheit besser, in Kontext B eine höhere Extravertiertheit. Die Persönlichkeitseigenschaften der eigenen Person als allgemein „gut“ oder „schlecht“ zu bewerten, ist also wenig sinnvoll. Allerdings spiegelt sich diese eigentliche Normfreiheit von Persönlichkeitseigenschaften oft nicht in gesellschaftlichen Alltagsbewertungen wider, denn dort werden bestimmte Eigenschaftsausprägungen trotzdem als allgemein „besser“ betrachtet. Eindrücklich zeigt sich das beispielsweise auf dem Buchmarkt: In den letzten Jahren sind zahlreiche Ratgeber für introvertierte Personen erschienen, mit Titeln wie „Powerstrategien für Introvertierte: Karrieretipps, Small-Talk und unbeschwert Partys genießen für Introvertierte“, „Kopfsache: Liebe den Introvertierten in dir“ oder „Still: Die Kraft der Introvertierten“ – letzterer beispielsweise beworben mit dem Klappentext (Cain 2013):
»» Mehr als ein Drittel aller Menschen sind introvertiert. Ihre Eigenschaften wie Ernsthaftigkeit, Sensibilität und Scheu gelten heute eher als Krankheitssymptome denn als Qualitäten. Zu Unrecht, sagt Susan Cain, und argumentiert gegen den Trend vieler Ratgeber, die „selbstbewusstes Auftreten“ verherrlichen.“
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>>Wichtig! Für die emotionale Kompetenz ist es also wichtig sich klarzumachen, dass ein hoher Selbstwert nur eines von mehreren Bedürfnissen ist, das wir anstreben könnten, und dass man manchmal auch ein geringeres Selbstwertgefühl aushalten können muss, um langfristig ein wirklich hohes Selbstwertgefühl zu erreichen. Wichtig ist hier unterscheiden zu lernen zwischen Eigenschaften, die man ändern und weiterentwickeln kann, und Eigenschaften, die man nicht ändern kann, sondern als ein festes Merkmal der eigenen Person anerkennen muss. Wie man diese Unterscheidung treffen kann, werden wir uns noch genauer in 7 Abschn. 6.2.4 beim Thema Persönlichkeitswachstum ansehen.
6.2.3.2 Soziale Dynamiken
Wie wir bereits gesehen haben, gibt es bei der Herausbildung des Selbstwerts eine extrinsische Quelle: Wir betrachten uns aus den Augen anderer und bewerten uns mit deren Wertmaßstäben. Solche Bewertungsprozesse können zum einen im Privaten stattfinden, basierend auf Vermutungen darüber, welche Bewertungsmaßstäbe andere wohl haben. Zum anderen können solche Bewertungsprozesse aber auch in sozialen Kontexten stattfinden, wobei man aus dem Verhalten anderer direkt zu erschließen versucht, wie diese einen selbst wohl bewerten. Daraus ergeben sich zwei Faktoren, die den Selbstwert beeinflussen können: Die Selbstdarstellung und die Selbstaufmerksamkeit. Bei der Selbstdarstellung geht es darum, dass man versuchen kann, sich in sozialen Kontexten auf eine gewisse Art und Weise darzustellen. Im Alltag ist der Begriff „Selbstdarstellung“ meist negativ besetzt. So heißt es beispielsweise im Wikipedia- Eintrag zur „Selbstdarstellung“ (Wikipedia 2019):
»» Selbstdarstellung ist die Art und Weise, wie sich ein Selbst, ein Ich, eine Person, eine
soziale Gruppe oder eine Institution anderen gegenüber darstellt. Typische Ausdrucksmittel der Selbstdarstellung sind Sprachform, nonverbales Verhalten (Körpersprache) sowie unmittelbares oder medial vermitteltes ästhetisches Erscheinungsbild. Eine Inszenierungsstrategie, um ein bestimmtes Ansehen bei anderen herzustellen. Ziel der Inszenierung: ein erwünschtes Selbst mit der wesentlichen Funktion, den sozialen Einfluss zu vergrößern.
Man kann die Selbstdarstellung allerdings auch als Fähigkeit im Sinne einer sozialen Kompetenz betrachten: Die Kompetenz, in sozialen Kontexten einen solchen Eindruck bei anderen zu hinterlassen, der möglichst mit dem tatsächlichen eigenen Selbstkonzept übereinstimmt. Was wir im Alltag bei der negativ besetzten Interpretation des Begriffs im Auge haben, ist eine andere Sichtweise: Die Betrachtung der Selbstdarstellung als Bedürfnis in dem Sinne, dass jemand versucht, in sozialen Situationen einen selbstwertdienlichen Eindruck von der eigenen Person bei anderen zu hinterlassen. Ein hohes Bedürfnis nach Selbstdarstellung kann demnach die bereits beschriebenen nachteiligen Wirkungen einer extrinsisch motivierten Selbstbewertung verstärken. Beispielsweise kann der Versuch, sich in sozialen Situationen so darzustellen, dass man von anderen als positiv bewertet wird, dazu führen, dass in Wirklichkeit erlebte Emotionen weniger zum Ausdruck gebracht und die eigentlichen intrinsischen Ziele weniger verfolgt werden.
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Kapitel 6 · Das Rationale System
Über solche nachteiligen Wirkungen hinaus können sich aber noch weitere dysfunktionale Dynamiken ergeben. Um mitzubekommen, wie man bei anderen wirkt, muss man in sozialen Situationen seine Aufmerksamkeit darauf ausrichten, welchen Eindruck das eigene Verhalten bei anderen auslöst. Eine solche öffentliche Selbstauf merksamkeit kann zwei negative Konsequenzen haben. Die erste negative Konsequenz hat mit den begrenzten Ressourcen unserer Aufmerksamkeit zu tun (siehe 7 Abschn. 2.2): Wenn wir einen Teil unserer Aufmerksamkeit auf eine Sache richten, steht für andere Dinge gleichzeitig weniger Aufmerksamkeit zur Verfügung. Durch die erhöhte Überwachung des eigenen Eindrucks bei anderen stehen also weniger Aufmerksamkeitsressourcen für weitere Denk- und Handlungsprozesse zur Verfügung, was deren Ausführung beeinträchtigen kann. Die zweite negative Konsequenz kennt man aus Situationen mit hohem Leistungsdruck, wenn Personen bereits hoch automatisierte Verhaltensweisen plötzlich schlechter abrufen können als sie es sonst tun. Gut belegt ist das beispielsweise im Sport: In so verschiedenen Disziplinen wie Baseball, Golf oder Hockey werden hoch trainierte Bewegungsabläufe plötzlich schlechter ausgeführt, wenn Personen hohen Leistungsdruck empfinden (Mesagno und Beckmann 2017). Der Grund ist, dass plötzlich eine höhere Selbstaufmerksamkeit darauf gerichtet wird, ob die eigenen Bewegungsabläufe möglichst optimal ausgeführt werden, was ironischerweise deren Ausführung beeinträchtigt (Beilock und Carr 2001). Eine eindrückliche Illustration solcher Mechanismen findet sich in einer von Michael Ende in einem Vortrag nacherzählten Fabel von Gustav Meyrink („Über das Ewig-Kindliche“, gehalten in Tokio am 19. August 1980, Ende 2011, S. 177):
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»» Der Tanz des Tausendfüßlers
Auf einem großen glatten Stein tanzte jeden Tag, wenn die Sonne schien, zu einer bestimmten Stunde ein Tausendfüßler. Die anderen Tiere kamen von weit her, um ihm zuzusehen, wie er auf unnachahmlich anmutige Art seine Schleifen und Spiralen beschrieb, wobei sein Körper im Licht funkelte und glänzte, als wäre er aus Edelsteinen zusammengesetzt. Es war eine Lust, ihm zuzusehen, und alle Tiere lobten seine Kunst und Grazie. Doch der Tausendfüßler tanzte nicht um des Ruhmes und der Bewunderung der anderen willen. Er merkte kaum etwas von seinen Zuschauern, so versunken war er in seinen Tanz. Nun lebte ganz in der Nähe eine große, dicke Kröte unter einer Baumwurzel, die ärgerte sich über das, was der Tausendfüßler tat. Sei es, dass sie neidisch auf seine Anmut und seine Grazie war, sei es, dass sie überhaupt etwas gegen solche zwecklosen Tätigkeiten wie Tanzen hatte, jedenfalls hatte sie beschlossen, dem Tausendfüßler sein Spiel zu verderben. Das war nun freilich nicht ganz einfach, denn sie wollte sich dabei nicht dem Tadel und den Vorwürfen der anderen Tiere aussetzen. Sie dachte sehr lange nach, und eines Tages hatte sie eine glänzende Idee. Sie schrieb dem Tausendfüßler einen Brief etwa des folgenden Inhalts: „O du Bewundernswerter, du Meister des anmutigen Tanzes und der komplizierten Schleifen und Spiralen! Ich bin nur ein Armes, Nasses, Schlüpfriges, und habe nur vier plumpe und ungeschickte Beine. Darum bewundere ich dich über alle Maßen, der du es fertigbringst, deine tausend Füße so in wunderbarer Ordnung zu bewegen. Ich möchte so gerne nur ein ganz klein wenig von dir lernen. Darum sage mir doch, du Bewundernswerter, wenn du deinen Tanz beginnst, bewegst du dann zuerst den ersten linken Fuß und dann den neunhundertneunundneunzigsten
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rechten? Oder beginnst du mit dem tausendsten linken und nimmst dann den fünfhundertdreiundzwanzigsten rechten, worauf du als nächsten den siebenunddreißigsten linken bewegst, und danach den siebenhundertzwölften rechten? Oder machst du es umgekehrt? Erkläre doch bitte mir Armem, Nassem, Schlüpfrigem, das nur vier Beine hat, wie du es anstellst, auf dass auch ich unwürdiges Krabbeltier ein wenig Anmut erlerne.“ Diesen Brief legte die Kröte auf den Stein, und als der Tausendfüßler das nächste Mal kam, um zu tanzen, fand er ihn und las ihn. Er begann nachzudenken, wie er es anstellte. Er bewegte dieses Bein und dann jenes Bein und versuchte sich zu erinnern, wie er es bisher gemacht hatte. Und er musste feststellen, dass er es nicht wusste. Er konnte sich überhaupt nicht mehr von der Stelle bewegen. Er lag da und dachte nach und bewegte hin und wieder zaghaft irgendeines seiner tausend Beine, aber tanzen konnte er nicht mehr. Ja, mit seinem Tanz war es ein für alle Mal vorbei.
Allerdings ist auch in Bezug auf die Effekte einer erhöhten Selbstaufmerksamkeit eine differenziertere Betrachtung nötig. So kann man zwischen einer öffentlichen und einer privaten Selbstaufmerksamkeit unterscheiden (Fenigstein et al. 1975). Während eine hohe öffentliche Selbstaufmerksamkeit die Tendenz beschreibt, verstärkt über den eigenen Eindruck bei anderen besorgt zu sein, beschreibt eine hohe private Selbstaufmerksamkeit die Tendenz, verstärkt über sich selbst zu reflektieren und sich selbst besser zu verstehen. Zur Illustration des Unterschieds zwischen der öffentlichen und privaten Selbstaufmerksamkeit sind in der folgenden . Tab. 6.2 beispielhaft Aussagen aufgeführt, die von Personen mit jeweils hoher öffentlicher bzw. privater Selbstaufmerksamkeit als für sie besonders treffend gehalten werden. Eine erhöhte private Selbstaufmerksamkeit kann eine Grundlage dafür sein, sich als Person zunehmend besser zu verstehen, was für die Herausbildung intrinsischer Ziele und die Persönlichkeitsentwicklung förderlich sein kann. Allerdings ist damit auch ein Risiko verbunden, dass die erhöhte private Selbstaufmerksamkeit um ungelöste Probleme kreist und anfängt exzessiv zu werden – was auch als „Grübeln“ bezeichnet wird. Durch solche Grübeleien können sich die mit den zugrundeliegen
.. Tab. 6.2 Öffentliche versus private Selbstaufmerksamkeit (nach Fenigstein et al. 1975) Öffentliche Selbstaufmerksamkeit
Private Selbstaufmerksamkeit
„Ich achte darauf, wie ich mich präsentiere.“
„Ich versuche immer, mich selbst zu verstehen.“
„Ich bin mir dessen bewusst, wie ich gerade aussehe.“
„Ich denke viel über mich nach.“
„Normalerweise ist es mir wichtig, einen guten Eindruck zu hinterlassen.“
„Ich bin aufmerksam gegenüber meinen inneren Gefühlen.“
„Ich mache mir Sorgen darüber, was andere über mich denken.“
„Ich hinterfrage fortwährend meine Motive.“
„Bevor ich aus dem Haus gehe, schaue ich in den Spiegel.“
„Ich bin sensibel für Veränderungen meiner Stimmungslage.“
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Kapitel 6 · Das Rationale System
den Problemen verbundenen unangenehmen Emotionen aufschaukeln und zunehmend intensiver werden, was einen Risikofaktor für das Erleben depressiver und ängstlicher Stimmung darstellt (Nolen-Hoeksema 2000). Zur Unterscheidung, ob man funktional über sich selbst nachdenkt oder bereits grübelt, kann ein einfacher Zwei-Minuten-Test hilfreich sein (Teismann 2014): Man beobachtet die eigenen Gedanken für zwei Minuten und stellt sich dann folgende Fragen: Bin ich einer Lösung nähergekommen? Habe ich etwas verstanden, was mir vorher nicht klar war? Hat sich im Verlauf meine Stimmung verbessert? Wenn man keine der Fragen mit ja beantworten kann, besteht die Gefahr, dass man grübelt. Schreiben statt Grübeln
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„In den 80er-Jahren machte der Psychologe James Pennebaker eine Entdeckung, aus der sich eine der am besten untersuchten Techniken zur Selbsthilfe entwickeln sollte (Pennebaker und Beall 1986): Er bat Probanden, an vier aufeinanderfolgenden Tagen jeweils für 15 Minuten über ein persönliches belastendes Erlebnis zu schreiben. Das Schreiben selbst war durchaus von unangenehmen Emotionen wie beispielsweise Trauer begleitet. Allerdings zeigten sich in den Wochen nach dem Schreiben erstaunliche Wirkungen: Verglichen mit Probanden, die über ein belangloses Ereignis geschrieben hatten, gingen Probanden, die über ein belastendes Erlebnis geschrieben hatten, in den folgenden sechs Monaten seltener zum Arzt – sie waren also körperlich gesünder. Wie sich in vielen nachfolgenden Studien zeigte, gibt es auch auf der psychischen Ebene zahlreiche positive Wirkungen: Beispielsweise zeigen sich weniger depressive Symptome, die Ängstlichkeit reduziert sich, die Zufriedenheit steigt und das soziale Wohlbefinden nimmt zu (Pennebaker und Chung 2007). Was könnte hier der Vorteil des Schreibens gegenüber dem bloßen Nachdenken sein? Beim Nachdenken sind wir aufgrund der begrenzten Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses äußerst eingeschränkt: Da wir im Arbeitsgedächtnis immer nur einige wenige Dinge gleichzeitig aktiv halten können, ist uns im Moment meist immer nur ein bestimmtes Erlebnis präsent (7 Abschn. 6.1.3). Dementsprechend fällt es uns beim bloßen Nachdenken schwer, verschiedene Erlebnisse im Zusammenhang miteinander und vor dem Hintergrund unserer Bedürfnisse, Emotionen und Ziele zu betrachten. Indem man die Dinge aufschreibt, kann man sich die in unseren Köpfen herumschwirrenden losen Fragmente von Erinnerungen, Gefühlen und Gedanken in ihrer Gesamtheit bewusstmachen und zu einer kohärenten Geschichte zusammenfügen, die Erlebnissen einen tieferen Sinn verleiht und diese in unser Selbstkonzept und unsere Lebensgeschichte integriert. Durch diese Art der Verarbeitung sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass uns unverarbeitete Erinnerungsbruchstücke immer wieder ins Bewusstsein treten, was „Grübelschleifen“ und die damit verbundenen negativen Wirkungen auf unser emotionales Wohlergehen reduziert. Wer sich mehr mit diesem Thema beschäftigen möchte, kann einen Blick in das Buch „Heilung durch Schreiben. Ein Arbeitsbuch zur Selbsthilfe“ von (Peake et al. 2018; Pennebaker 2009) werfen.“
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6.2.3.3 Der optimale Selbstwert
Wie wir gesehen haben, spielt der Selbstwert eine tragende Rolle beim emotionalen Wohlergehen. Was könnte aber nun so etwas wie ein „optimaler Selbstwert“ sein? Angesichts der Tatsache, dass ein hoher Selbstwert eines der zentralen Bedürfnisse von Menschen ist, können wir uns davon inspirieren lassen, was eigentlich mit einem Bedürfnis passiert, wenn es erfüllt ist 7 Abschn. 4.2): Das Bedürfnis verschwindet dann einfach, und ist weder in seinen Wirkungen in der Welt der Emotionen noch in der Welt der Gedanken mehr präsent. Wenn wir Hunger haben, drehen sich unsere Gedanken um dieses Thema, doch sobald wir satt sind, verschwinden diese Gedanken aus unserem Bewusstsein. Dementsprechend ist ein Selbstwert dann optimal, wenn er in unseren Emotionen und Gedanken keine Rolle mehr spielt. Sehr schön illustriert wird das von Viktor Frankl, dem Begründer der Logotherapie, in einem Interview (HumanyMe 2010):
»» Die Fähigkeit meines Auges, die Welt optisch wahrzunehmen, steht und fällt mit der
Unfähigkeit, sich selbst wahrzunehmen. In dem Maße, in dem mein Auge etwas von sich selbst bemerkt und sieht, ist es krank. Wenn ich da Wolken sehe, ist es mein grauer Star. Wenn ich Regenbogenhöfe um die Lampen sehe, dann ist es mein Grüner Star. Das normale Auge sieht nicht sich selbst. Genauso ist es mit dem Menschsein. Selbsttranszendenz heißt, dass der Mensch ganz er selbst wird und ganz Mensch ist, genau in dem Maße, in dem er sich übersieht und vergisst.
Das können wir allerdings nicht durch ein Verdrängen des Bedürfnisses nach Selbstwert aus unserem Bewusstsein erreichen – dann nämlich nimmt dessen Kraft unter Umständen nur zu (siehe das Beispiel „Denken Sie jetzt bitte nicht an einen rosa Elefanten“ in 7 Abschn. 6.2.2.1). Stattdessen müssen wir durch eine sinnvolle private Selbstaufmerksamkeit dahinkommen, uns selbst wirklich zu erkennen und anzunehmen – und damit zu „vergessen“. Im folgenden Abschnitt werden wir uns ausführlicher mit diesem Thema beschäftigen.
>>Wichtig! Unser Selbstwert spielt eine tragende Rolle für das emotionale Wohlergehen. Hilfreich kann sein, sich darüber klar zu werden, ob es sich bei einem empfundenen Selbstwert um einen bedingten oder unbedingten Selbstwert handelt. Wichtig ist weiterhin, sich bewusst zu sein, dass man für die Bewertung der eigenen Person unterschiedliche Bezugsrahmen verwenden kann (sozialer, kriteriumsorientierter und individueller Bezugsrahmen), wobei man sich mit dem jeweiligen Maßstab persönlich identifizieren sollte. In Bezug auf jeden Bezugsrahmen kann man sich selbstwertdienlich bewerten (sozialer Abwärtsvergleich, geringere Normwerte, Fokussierung auf eigene Stärken), allerdings kann das mit Nachteilen für die weitere Persönlichkeitsentwicklung verbunden sein. Diesbezüglich ist hilfreich, sich mittels einer sinnvollen privaten Selbstaufmerksamkeit selbst zu erkennen und in seiner Individualität anzunehmen.
6.2.4 Selbstkonzept und Persönlichkeitswachstum
Allein die Tatsache, wie oft im Verlauf des Buches bereits hierauf verwiesen wurde (7 Abschn. 5.3, 6.1.3, 6.2.1 und 6.2.2), zeigt die große Relevanz des Themas dieses Abschnitts für die emotionale Kompetenz: Was ist eigentlich „Persönlichkeitswachstum“
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Kapitel 6 · Das Rationale System
und was macht eine „reife Persönlichkeit“ aus? In Bezug auf das Selbstkonzept hatten wir diese Fragen eingangs so formuliert: „Wer möchte ich sein?“ (Selbstreflexion) und „Wie komme ich dorthin?“ (Selbstregulation). Die Relevanz für die emotionale Kompetenz kann man mit der Metapher eines Baumes illustrieren: Wenn ich starke Wurzeln habe (Persönlichkeitsreife) und weiß wer ich bin, was ich will und wofür ich stehe (Selbstreflexion), dann werden aufkommende Emotionen nur einen kurzen Windstoß in meinen Blättern hervorrufen, aber sie werden mich niemals umwerfen. Ob ein Baum starke Wurzeln ausbildet (Persönlichkeitswachstum und Selbstregulation), hängt wiederum von den Faktoren ab, die das Wachstum des Baumes beeinflussen. 6.2.4.1 „Glücksforschung“ – subjektives Wohlbefinden
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Um eine Antwort auf die Frage zu finden, was eine reife Persönlichkeit ausmacht, kann man zunächst einen Blick in die empirische „Glücksforschung“ werfen. Dort wird untersucht, welche Zustände beim Menschen mit „Glücksempfinden“ einhergehen. Diese Zustände könnte man dann zur Definition einer „reifen Persönlichkeit“ benutzen: Jemand hätte demnach dann eine „reife Persönlichkeit“, wenn er es geschafft hat, in seinem Leben die Zustände herzustellen, die mit Glücksempfinden einhergehen. Und „Persönlichkeitswachstum“ wäre dann der Weg, den man gehen muss, um dorthin zu kommen. Wie wir allerdings bereits gesehen haben (7 Abschn. 5.3), wird „Glück“ in der „Glücksforschung“ auf eine bestimmte Art und Weise definiert, was die Fruchtbarkeit der Glücksforschung für die Frage nach der reifen Persönlichkeit begrenzt. Wir wollen das Problem noch einmal kurz genauer beleuchten: „Glück“ wird in der „Glücksforschung“ als „subjektives Wohlbefinden“ definiert, welches sich aus einer emotionalen und einer rationalen Komponente zusammensetzt (Diener et al. 2003): Auf emotionaler Ebene gilt man als umso „glücklicher“, je mehr angenehme und je weniger unangenehme Emotionen man erlebt. Auf rationaler Ebene gilt man als umso „glücklicher“, je zufriedener man rational das aktuelle eigene Leben bewertet. In . Abb. 6.18 wird diese Sichtweise illustriert. Die emotionale Komponente des subjektiven Wohlbefindens ist einfach zu verstehen: Um emotional „glücklich“ zu sein, muss man es schaffen, mehr angenehme als unangenehme Emotionen zu erleben. Um einen Eindruck davon zu bekommen, was mit der „rationalen Zufriedenheit“ mit dem eigenen Leben genau gemeint ist, wollen wir uns einen der bekanntesten Fragebögen dazu anschauen, die sogenannte „Lebenszufriedenheits-Skala“ (Diener et al. 1985). Dort wird man aufgefordert zu beurteilen, wie stark man folgenden Aussagen zustimmt:
.. Abb. 6.18 „Glück“ als subjektives Wohlbefinden
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55 In den meisten Bereichen entspricht mein Leben meinen Idealvorstellungen. 55 Meine Lebensbedingungen sind ausgezeichnet. 55 Ich bin mit meinem Leben zufrieden. 55 Bisher habe ich die wesentlichen Dinge erreicht, die ich mir für mein Leben wünsche. 55 Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich kaum etwas ändern. Betrachtet man die Aussagen genauer, wird klar, warum das subjektive Wohlbefinden zwar das aktuelle Befinden einer Person beschreibt, nicht aber deren Persönlichkeitsreife. Die erste Aussage illustriert dies besonders deutlich: Der Bezugsrahmen der Beurteilung der Lebenszufriedenheit wird hier durch „meine Idealvorstellungen“ geprägt – unabhängig davon, um welche Ideale es sich handelt. Das erste Problem ist, dass damit auch Personen „glücklich“ sein können, deren Persönlichkeitsreife äußerst gering ausgebildet ist. So wäre demnach beispielsweise auch jemand, der ausschließlich nach Macht und Geld strebt und dabei erfolgreich ist, als „glückliche Person“ einzustufen, obwohl wichtige weitere Persönlichkeitsbereiche dabei vernachlässigt und soziale Beziehungen beeinträchtigt werden. Das zweite Problem ist, dass mit solchen Fragebögen Persönlichkeitsentwicklungen nicht abgebildet werden können. Aufgrund ihrer erfolgreich erfüllten momentanen Lebensziele – Macht und Geld – würde die eben erwähnte Person auf der Lebenszufriedenheits-Skala überall den Maximalwert ankreuzen. Nehmen wir nun an, aufgrund von Entwicklungsprozessen würde die Person sinnstiftendere Lebensziele entwickeln und diese auch irgendwann erfüllen. Die Person würde dann möglicherweise sagen, dass sie nun viel glücklicher als damals ist – aber im Fragebogen kann sie das nicht angeben, da sie ja damals schon Maximalwerte angekreuzt hat. Wir wollen die sich daraus ergebenden Paradoxien der „Glücksforschung“ an einem Beispiel illustrieren: Dem sogenannten „Freiheitsparadox“. Das Freiheitsparadox
„Wenn man auf die letzten 60 Jahre zurückblickt, hat sich die Rolle der Frau in westlichen Gesellschaften substantiell verändert. Die langjährige Rollenverteilung war, dass Frauen entweder zu Hause blieben und sich um die Kinder und den nach Hause kommenden Mann kümmerten, oder, wenn sie sich außer Haus bewegten, typische „Frauenberufe“ wie Sekretärin oder Krankenschwester ergriffen. Im Zuge der Frauenbewegung hat sich dieses Rollenbild substantiell verändert, was zu einer fundamentalen Erweiterung der Freiheiten und Wahlmöglichkeiten für Frauen geführt hat. Eine interessante Frage ist nun, wie sich diese fundamentalen Verbesserungen auf das subjektive Wohlbefinden ausgewirkt haben. Sehr wahrscheinlich hätte man eine ähnliche Intuition wie der Wissenschaftsjournalist Bas Kast (Kast 2012, S. 27):
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Kapitel 6 · Das Rationale System
»» Jeder halbwegs aufgeklärte Mensch würde doch selbstverständlich davon ausge-
hen, dass eine Erweiterung von Freiheit und Wahlmöglichkeiten zu unser aller Glück beitragen.
Betrachtet man allerdings die Ergebnisse aus Befragungen zum subjektiven Wohlbefinden, zeigt sich paradoxerweise ein gegensätzliches Bild (Stevenson und Wolfers 2009; Befunde für die USA, ein vergleichbares Muster findet sich in praktisch allen westlichen Nationen):
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Während das subjektive Wohlbefinden von Männern über die Zeit hinweg auf einem etwas niedrigeren Niveau gleichgeblieben ist, waren Frauen damals etwas „glücklicher“ und sind mit der Zeit „unglücklicher“ geworden und haben sich auf das Niveau von Männern eingependelt. Dieses Muster kann übrigens nicht dadurch erklärt werden, dass die historischen Veränderungen zu einer Doppelbelastung (Familie und Beruf) von Frauen geführt haben könnten, denn ein vergleichbares Muster findet sich auch bei Frauen ohne Partner, Kinder oder Arbeit.“
Das Beispiel des Freiheitsparadox bringt die Paradoxien, die sich aus dem Versuch ergeben, die Frage nach der Persönlichkeitsreife anhand von Ergebnissen aus der Glücksforschung zu beantworten, auf den Punkt: Würde man aus dem Befund des geringeren subjektiven Wohlbefindens bei Erhöhung der Freiheiten Maßnahmen zur Erhöhung des subjektiven Wohlbefindens – und damit zur Erhöhung der „Persönlichkeitsreife“ – ableiten wollen, erscheint folgender Vorschlag naheliegend: Man muss Freiheiten und Wahlmöglichkeiten abschaffen, und zwar nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer, denn diese waren durch ihre Freiheit ja schon immer glücksbezogen benachteiligt. Die Absurdität solcher Schlussfolgerungen ist: Dadurch würde man genau das Gegenteil eines Persönlichkeitswachstums erreichen – man würde Menschen gerade die Möglichkeit nehmen, ihre Persönlichkeit frei entfalten zu können.
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6.2.4.2 Das Handwerk der Freiheit – Identität
Die aus dem Freiheitsparadox zu ziehende Schlussfolgerung für die Frage nach dem Persönlichkeitswachstum lautet dementsprechend anders: Offenbar fällt es Menschen nicht leicht, sich im Raum der Freiheiten und Wahlmöglichkeiten selbst zu finden und ihre individuelle Persönlichkeit zu entfalten – eine Beobachtung, die durch zahlreiche weitere Befunde bestätigt wird (Schwartz 2000). Anstatt Freiheiten abzuschaffen, muss man sich zur Erhöhung des Glücks eine andere Frage stellen: Wie findet man den Weg zu sich selbst – oder anders ausgedrückt: Wie kann man das Handwerk erlernen, über das der Philosoph Peter Bieri ein lesenswertes Buch mit folgendem Titel geschrieben hat (Bieri 2003):
»» Das Handwerk der Freiheit: Über die Entdeckung des eigenen Willens Ein erstes wichtiges Werkzeug des „Handwerks der Freiheit“ haben wir schon kennengelernt: Zunächst muss man sich selbst gut kennen, also ein Selbstkonzept entwickeln, dass die in einem vorhandenen bedürfnisbezogenen Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionsgewohnheiten und rationalen Ziele möglichst gut – also möglichst differenziert und miteinander integriert – abbildet (7 Abschn. 6.2.1). Eine Frage, die wir bisher aber nur oberflächlich betrachtet haben, lautet: Entspricht das, was wir dort in uns an Kräften finden, dem „wahren Kern“ unserer Persönlichkeit? In Bezug auf unsere Ziele haben wir hier schon eine wichtige Unterscheidung gemacht: Es gibt intrinsische Ziele, die auf der Basis der beim Erreichen der Ziele ausgelösten Emotionen und erfüllten Bedürfnisse entwickelt wurden, und extrinsische Ziele, die wir aufgrund von äußeren Kräften wie versprochenen Belohnungen oder angedrohten Strafen übernommen haben. Intrinsische Ziele stimmen also offenbar mit unserem „wahren Kern“ überein, extrinsische Ziele müssen dies nicht tun. Allerdings ist die Sache doch etwas komplizierter. Wir müssen uns bewusstmachen, dass man auch auf der Ebene von Verhaltensgewohnheiten und Emotionen zwischen intrinsisch und extrinsisch unterscheiden muss. So kann eine in meiner emotionalen Landkarte existierende Verknüpfung zwischen einer Situation und einer Emotion aufgrund der Erfüllung von inneren Bedürfnissen entstanden sein (intrinsisch) oder durch eine von außen gesteuerte Auslösung von Emotionen eingepflanzt worden sein (extrinsisch). Ebenso können Verhaltensgewohnheiten durch die Erfüllung innerer Bedürfnisse entstanden sein (intrinsisch) oder von außen durch Belohnung (von außen gesteuerte Bedürfnisbefriedigung) oder Bestrafung (von außen gesteuerte Verwehrung der Bedürfnisbefriedigung) eingepflanzt worden sein (extrinsisch). Wenn wir also ein Ziel aus unseren Verhaltensgewohnheiten und Emotionen ableiten, muss dieses nicht notwendigerweise mit unserem „wahren Kern“ übereinstimmen, denn unsere Emotionen und Verhaltensweisen können ja auch extrinsischen Quellen entstammen (7 Abschn. 6.2). Um unseren „wahren Kern“ zu finden, müssen wir uns also ganzheitlich auf allen Ebenen der Psyche betrachten und uns die Frage stellen: Welche meiner Verhaltensgewohnheiten, Emotionen und Ziele gehören zu meinem Wesenskern und welche nicht? In Abgrenzung zum Selbstkonzept, welches nur den rationalen Anteil meiner selbst beschreibt, wollen wir die sich aus dieser ganzheitlichen Reflexion ergebende Persönlichkeitsstruktur als Identität bezeichnen, in Anlehnung an den Identitätsforscher James Marcia (1980, S. 159), Übersetzung durch die Autoren:
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Kapitel 6 · Das Rationale System
»» Die Identität bezeichnet die Persönlichkeitsstruktur einer Person: Die innere, selbst-
konstruierte und dynamische Organisation von Bedürfnissen, Emotionen, Fähigkeiten und Überzeugungen vor dem Hintergrund der persönlichen Lebensgeschichte. Je besser diese Struktur entwickelt ist, desto bewusster sind sich Individuen ihrer Einzigartigkeit und Ähnlichkeit mit anderen und ihrer Stärken und Schwächen beim Handeln in der Welt. Je weniger diese Struktur entwickelt ist, desto verwirrter sind Individuen hinsichtlich ihrer individuellen Besonderheiten, und desto mehr müssen sie sich auf extrinsische Quellen verlassen, um sich selbst zu bewerten.
zz Formen der Identität
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Wie im Zitat von Marcia anklingt, gibt es offenbar geringer und höher entwickelte Formen der Identität. Insgesamt lassen sich hier vier verschiedene Formen unterscheiden, die bei der Identitätsentwicklung durchlaufen werden. In . Abb. 6.19 sind die vier Stufen illustriert. Am Beginn der Identitätsentwicklung steht die übernommene Identität: Jemand hat noch nicht über sich reflektiert und die in ihn von außen eingepflanzten Kräfte unreflektiert übernommen. Auf der nächsten Stufe des sogenannten Moratoriums fängt man an zu explorieren und darüber zu reflektieren, wer man eigentlich ist und wie man sein möchte. Diese Reflexionsphase kann entweder progressiv in einer erarbeiteten Identität resultieren, die dadurch charakterisiert ist, dass man die eigene Identität geklärt hat und sich festgelegt hat, welche Kräfte den eigenen Wesenskern ausmachen und welche nicht. Allerdings kann die Phase des Moratoriums auch regressiv in einer diffusen Identität enden, bei der keine Festlegung erfolgt, wer man ist und was man will, sodass keine stabile Identität entwickelt wird. Um das Risiko einer diffusen Identität zu vermeiden, ist es also wichtig, sich irgendwann auf eine bestimmte Identität festzulegen und trotzdem gleichzeitig dafür offen zu sein, sich selbst weiter zu erkunden. Wichtig ist, dass es sich hier nicht um einen Entwicklungsprozess handelt, der automatisch durchlaufen wird. So kann es sein, dass jemand über die Stufe der übernommenen Identität nie hinauskommt oder nie die Phase des Moratoriums verlässt. Beispielsweise zeigen umfangreiche Forschungsergebnisse, dass selbst in der Altersgruppe der 30 bis 36-Jährigen noch immer 17 % der Personen eine übernommene Identität aufweisen und nur 47 % der Personen eine erarbeitete Identität erreicht haben (Kroger et al. 2010).
.. Abb. 6.19 Die vier Entwicklungsstufen der Identität (nach Marcia 1980)
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zz „Wahrer“ versus „erarbeiteter“ Kern
Bisher haben wir viel vom Finden unseres „wahren Kerns“ gesprochen. Bedeutet nun das Erreichen einer „erarbeiteten Identität“, dass man seinen „wahren Kern“ gefunden hat? Dazu muss man sich etwas genauer anschauen, was mit dem „wahren Kern“ einer Person genau gemeint sein könnte. Eine oft gehörte Idee ist, dass es einen genetisch bedingten „wahren Kern“ geben könnte. Beispielsweise finden sich solche Überzeugungen immer wieder in Artikeln in Zeitungen und Zeitschriften, wie etwa in einem Gastbeitrag des Genforschers Robert Plomin in der ZEIT mit dem für sich sprechenden Titel (Plomin 2018, S. 35):
»» Sie werden, was sie sind – Eltern können auf die Persönlichkeit ihrer Kinder kaum
Einfluss nehmen. Jahrzehntelange Forschungen zeigen: Die wichtigsten Charaktermerkmale von Menschen sind von der Geburt an festgelegt (Titel des Gastbeitrags).
Hintergrund solcher Aussagen sind populationsgenetische Studien – also Studien, in denen versucht wird, aus dem Ähnlichkeitsvergleich zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingen auf die Erblichkeit von Eigenschaften zu schließen. In solchen Studien zeigte sich, dass sich eineiige Zwillinge hinsichtlich der fünf grundlegenden Kerneigenschaften der Persönlichkeit („Big Five“ 7 Abschn. 6.2.2.1) ähnlicher sind als es bei zweieiigen Zwillingen der Fall ist (Johnson et al. 2008). Aus der erhöhten Ähnlichkeit von eineiigen verglichen mit zweieiigen Zwillingen wird geschlossen, dass unsere Kerneigenschaften zu großen Teilen vererbt seien. So heißt es beispielsweise im oben genannten Gastbeitrag von Robert Plomin:
»» In der Gesamtschau kann man also sagen: Vererbte DNA-Differenzen sind die wichtigste Bedingung dafür, zu dem zu werden, was wir sind. Noch einmal: Wir wären im Großen und Ganzen dieselbe Person, wenn wir bei der Geburt adoptiert und bei anderen Eltern aufgewachsen wären, eine unterschiedliche Schule besucht und andere Freunde hätten.
Liest man solche Artikel von Populationsgenetikern, könnte man den Eindruck gewinnen, dass unser „wahrer Kern“ dem entspricht, was von unseren Genen festgelegt ist. Anstatt uns den „wahren Kern“ unserer Person zu erarbeiten, müssten wir also einfach nur unseren „genetischen Kern“ finden und ausleben. Ein genauerer Blick zeigt aber, dass solche aus der Populationsgenetik gezogenen Schlussfolgerungen zum einen methodisch fragwürdig und zum anderen hinsichtlich der Persönlichkeit des Menschen viel zu kurz gegriffen sind. Die Erblichkeit der Persönlichkeit: Methodische Fehlinterpretationen
„Methodisch betrachtet entsteht bei populationsgenetischen Erblichkeitsschätzungen folgendes Problem: Die durch Erblichkeitsschätzungen erhaltenen Werte spiegeln nicht den tatsächlichen Effekt konkreter Gene auf der Ebene eines Individuums wider, sondern machen nur Aussagen über die bei der untersuchten Personengruppe beobachtete Unterschiedlichkeit. So sagt beispielsweise das Ergebnis, dass die emotionale Negativi-
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tät und Labilität (Neurotizismus) laut populationsgenetischen Schätzungen zu 48 Prozent „genetisch bedingt“ sei (Johnson et al. 2008), in Wirklichkeit nichts darüber aus, wie stark der Neurotizismus eines Individuums genetisch bedingt ist. Das Ergebnis „48 Prozent“ beschreibt nämlich in Wirklichkeit nur, dass in der untersuchten Personengruppe die Unterschiedlichkeit im Neurotizismus zwischen den Personen um 48 Prozent zurückgehen würde, wenn hypothetisch alle die gleichen Gene besitzen würden. Weiterhin handelt es sich gar nicht um einen festen Wert, wie man vielleicht vermuten würde. Der auf die Gene zurückgehende Anteil der Unterschiedlichkeit wird in Relation zum Anteil der Unterschiedlichkeit geschätzt, der auf Effekte der Umwelt zurückgeht, wobei beide Prozentwerte sich auf 100 % (die insgesamten Unterschiede) ergänzen müssen. In Personengruppen mit sehr ähnlichen Umwelten sind damit die geschätzten Erbanteile größer, in Personengruppen mit sehr verschiedenen Umwelten geringer. Daher handelt es sich bei den aus dem Vergleich von eineiigen und zweieiigen Zwillingen geschätzten Erblichkeitswerten um zu hohe Schätzungen: Eineiige Zwillinge sehen gleich aus und rufen dementsprechend ähnlichere Reaktionen in ihrer Umwelt hervor, was die Schätzungen der Erblichkeit in solchen Studien künstlich erhöht. So sinkt beispielsweise der Erbanteil bei der emotionalen Labilität von 48 auf 20 Prozent, wenn man die Erblichkeit anstatt aus dem Vergleich von eineiigen (100 % gemeinsame Gene) mit zweieiigen (50 % gemeinsame Gene) Zwillingen aus dem Vergleich von leiblichen Geschwistern (50 % gemeinsame Gene) mit Adoptivgeschwistern (0 % gemeinsame Gene) bestimmt (Johnson et al. 2008). In einem Überblicksartikel zu solchen populationsgenetischen Irrtümern wird das grundlegende Problem gut illustriert (Moore und Shenk 2017, S. 1, Übersetzung durch die Autoren):
»» Der Begriff ‚Erblichkeit‘, wie er heute in der Verhaltensgenetik des Menschen ver-
wendet wird, ist einer der am meisten irreführenden in der Wissenschaftsgeschichte. Im Gegensatz zur verbreiteten Meinung sagt uns das Maß der Erblichkeit einer Eigenschaft nicht, wie ‚genetisch erblich‘ diese Eigenschaft eigentlich ist.
Aber selbst wenn Kerneigenschaften wie die Big Five zum Teil genetisch geprägt wären, ließe sich aus den Genen nicht wirklich viel über den „wahren Kern“ einer Person ableiten. Zum einen wird die Entwicklung eines Menschen immer durch das Zusammenspiel von genetischen und umweltbedingten Einflüssen geprägt: Unsere Gene legen nur einen bestimmten Spielraum fest. Wo genau wir innerhalb dieses Spielraums aber landen, ist von den jeweiligen Umwelteinflüssen abhängig. Ein Kind mag genetisch bedingt eine Tendenz zu einer höheren emotionalen Stabilität haben als ein anderes Kind, aber wenn ersteres unter sehr schwierigen Umständen aufwächst und zweiteres dagegen unter optimalen Umständen, kann ersteres trotzdem eine geringere emotionale Stabilität entwickeln als zweiteres. Zum anderen haben wir bereits bei der Beschreibung der Big Five in 7 Abschn. 6.2.2.1 gesehen, dass solche globalen Persönlichkeitsmerkmale Personen nur sehr grob beschreiben und keine Informationen über konkretere individuelle Besonderheiten im Erleben und Verhalten liefern – wir erinnern uns an die treffende Bezeichnung des Persönlichkeitspsychologen Dan McAdams (1995): „Psychologie von einem Fremden“. Will man also den „wahren Kern“ einer Person wirklich finden, so müssen wir uns die individuellen Besonderheiten auf der Ebene der jeweils im Laufe des individuellen Lebens erworbenen Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionsgewohnheiten und persönlichen Ziele ansehen – alles Aspekte, welche durch Umwelteinflüsse entstanden sind.“
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Allerdings heißt das nicht, dass wir uns im Rahmen von Reflexionsprozessen beliebig formen können. Man trifft hier auf einen interessanten Fallstrick bei der Persönlichkeitsentwicklung: Man könnte meinen, dass man sich mit Hilfe des rationalen Systems ein Selbstkonzept verpassen könnte, das auf allen Ebenen bestimmten persönlichen rationalen Idealen entspricht. Wir wollen diesen Fallstrick anhand des Buches „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende illustrieren (Ende 1979): Es handelt von einem Jungen – Bastian Balthasar Bux –, der im Verlauf des Buches den Zugang zum Land „Phantasien“ findet, also die Möglichkeit entdeckt, sich mit Hilfe seiner Phantasie die Welt und sich selbst auszumalen und zu gestalten. Er fängt dann an, sich selbst zu definieren: Zunächst will er der Schönste sein, dann der Stärkste und Mutigste, als nächstes der Klügste und Weiseste, und schließlich der Mächtigste. Das Frappierende dabei ist, dass er mit jeder Erfüllung dieser „Ideale“ die Erinnerung daran verliert, wie er eigentlich in der realen Welt in Wirklichkeit ist. Schließlich kommt er in eine Stadt, die „Alte-Kaiser-Stadt“, in der alle Personen leben, die denselben Weg wie er gegangen sind, sich dabei aber verloren haben und nur noch sinnentleerte Handlungen vollziehen – man könnte auch sagen eine „narzisstische Krise“ (7 Abschn. 6.2.3.1) erleben. An dieser Stelle erwächst in ihm ein Wunsch, den er folgendermaßen formuliert (Ende 1979, S. 447):
»» Aber Bastian wollte ein Einzelner sein, ein Jemand, nicht bloß einer wie alle anderen.
Er wollte gerade dafür geliebt werden, dass er so war, wie er war. Er wollte nicht mehr der Größte, der Stärkste oder der Klügste sein. Das alles hatte er hinter sich. Er sehnte sich danach, so geliebt zu werden, wie er war, gut oder schlecht, schön oder hässlich, klug oder dumm, mit all seinen Fehlern – oder sogar gerade wegen ihnen. Aber wie war er denn? Er wusste es nicht mehr. Er hatte so vieles in Phantasien bekommen und nun konnte er unter all den Gaben und Kräften sich selbst nicht wiederfinden.
Woran liegt es eigentlich, dass wir uns nicht beliebig selbst definieren können? Dazu müssen wir uns die Entwicklung der Persönlichkeit anschauen: Man kann sich die Herausbildung der eigenen Persönlichkeit vorstellen wie das Bauen eines Turmes aus Bausteinen. Am Anfang werden einem die Bausteine von der Umwelt zur Verfügung gestellt, und je höher man gebaut hat, umso mehr fängt man an, auch eigene Bausteine zu entwerfen und einzubauen. Betrachtet man nun irgendwann das entstandene Bauwerk, so kann man nicht einfach beliebig Bausteine entfernen. Denn so würde man Gefahr laufen, dass Teile des Turms einfallen oder sogar der ganze Turm in sich zusammenstürzt. Stattdessen muss man sensibel entscheiden, welche Bausteine zu den tragenden Elementen des Turmes gehören und welche nicht, und die tragenden Elemente als festen Bestandteil der eigenen Persönlichkeit anerkennen – als den eigenen „wahren Kern“. Diesen wahren Kern gilt es anschließend wertzuschätzen und den Turm auf die tragenden Elemente gestützt weiterzubauen, denn nur dann kann ein wirklich hoher Turm entstehen. Bei der Wertschätzung kann ein weiterer Fallstrick auftauchen: Das, was man als tragendes Element der eigenen Persönlichkeit entdeckt, kann den Bewertungsmaßstäben widersprechen, die man bisher rational angelegt hat. So kann man beispielsweise feststellen, dass das häufige Erleben von Emotionen oder eine hohe soziale
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Verträglichkeit tragende Elemente der eigenen Persönlichkeit sind, man aber rational ein kontrolliertes Emotionserleben und eine starke soziale Durchsetzungsfähigkeit als ein hohes Gut einschätzt. Hier ist es wichtig, die eigenen Wertmaßstäbe zu reflektieren und sich den Punkt bewusst zu machen, den wir bereits in Martas Kasten „Eigenschaften versus Fähigkeiten“ im Kapitel zum Selbstwert (7 Abschn. 6.2.3.1) thematisiert haben: In Bezug auf Persönlichkeitseigenschaften gibt es keinen absolut bestimmbaren Wertmaßstab, was „besser“ oder „schlechter“ ist. Stattdessen muss man die Frage bei solchen selbstbezogenen Bewertungsprozessen anders stellen: Welcher Lebenskontext passt zu meinem wahren Kern und welcher nicht? So mag eine hohe Emotionalität und soziale Verträglichkeit eher hinderlich sein, wenn man als Führungskraft in einem Unternehmen unangenehme Entscheidungen treffen muss, dafür aber umso förderlicher, wenn es um die sensible Begleitung von Kindern und Jugendlichen geht (Barrick und Mount 1991).
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>>Wichtig! Den „wahren Kern“ unserer Persönlichkeit kann man also nicht dadurch finden, indem man sich rein rational Gedanken über mögliche „Persönlichkeitsideale“ macht. Stattdessen gilt es zu erspüren, welche Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionsgewohnheiten und persönlichen Ziele man im Laufe des Lebens erworben hat, und sensibel zu entscheiden, welche davon tragende Elemente der eigenen Persönlichkeit sind. Die als tragende Elemente eingeschätzten Eigenschaften gilt es dann persönlich wertzuschätzen, was eine Reflexion der bisherigen Wertmaßstäbe und eine Prüfung der Passung des aktuellen Lebenskontextes bedeuten kann.
zz Quellen der Selbsterkenntnis
Die Frage ist nun, auf welche Quellen wir zurückgreifen können, um uns selbst besser kennenzulernen. Eine erste Quelle ist unsere eigene Wahrnehmung: Wir können unser eigenes Verhalten und inneres Erleben beobachten und daraus Rückschlüsse über die in uns wirkenden psychischen Kräfte ziehen. So ist eine genaue Wahrnehmung der eigenen Emotionen eine zentrale Grundlage zur Entwicklung einer hohen emotionalen Kompetenz. Wie wir aus 7 Abschn. 5.4 bereits wissen, kann man neben dem bewusst erlebten Gefühl auch versuchen, die emotionalen Reaktionen auf den verschiedenen Emotionskomponenten wahrzunehmen. So kann man den Fluss der eigenen Gedanken auf emotionale Einfärbungen hin untersuchen oder auf die Körperhaltung oder physiologische Reaktionen achten. Allerdings haben wir oft keinen direkten Zugang zu den zugrundeliegenden Prozessen, sodass solche Wahrnehmungen ungenau und damit wenig verlässlich sein können. Beispielsweise lassen sich unsere Körperhaltung und unsere physiologischen Reaktionen nicht direkt innerlich wahrnehmen, sondern nur indirekt erschließen oder mittels der Unterstützung durch äußere Geräte genau beobachten. Letzteres kann man beispielsweise im Rahmen von Videofeedback- oder Biofeedbacktrainings als Selbsterkenntnisquelle nutzen.
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Videofeedback leichtgemacht
„Ein Kollege hat mir mal erzählt, wie er mit ganz einfachen Methoden sein eigenes Verhalten beim Unterrichten mittels Video beobachtet, ohne dass er dafür irgendwelche besonderen Geräte braucht: Er hat sich einfach ein Stativ für sein Smartphone gekauft, platziert das hinten in der Klasse im Raum und filmt sich selbst damit beim Unterrichten. Er muss das natürlich mit seinen Schülern absprechen und aufpassen, dass möglichst nur er auf dem Video drauf ist und niemand, der nicht drauf sein möchte. Und auch Biofeedback – also das Bewusstmachen von physiologischen Signalen, zu denen wir keinen direkten Zugang haben – ist heutzutage einfach im Alltag umzusetzen, beispielsweise mit einer Smartwatch. Allerdings sollte man sich bewusst sein, dass die erhaltenen Messungen wissenschaftlichen Standards oft nicht wirklich standhalten (Peake et al. 2018).“
Die Fähigkeit der Herzwahrnehmung
„Eine überraschende Entdeckung in der Forschung war, dass sich Menschen deutlich in der Fähigkeit unterscheiden, ihre inneren körperlichen Prozesse wahrzunehmen. Ausgangspunkt dieser Entdeckung war die Frage, wie gut Menschen die Aktivität ihres Herzens wahrnehmen. Das lässt sich sehr leicht messen: Man bittet Personen ruhig zu sitzen und sich auf ihren Herzschlag zu konzentrieren und ihre Herzschläge zu zählen. Gleichzeitig misst man den tatsächlichen Herzschlag, beispielsweise mit einem EKG. Danach vergleicht man den wahrgenommenen mit dem objektiv gemessenen Herzschlag. Wie sich herausstellte, gibt es hier deutliche Unterschiede zwischen Personen, die über die Zeit hinweg stabil bleiben: Nur bei 10 bis 20 Prozent stimmen die subjektiv wahrgenommene und die objektiv gemessene Herzaktivität überein, manche Personen liegen dagegen massiv daneben (Schandry und Bestler 1995). Wie sich im weiteren Verlauf der Forschung gezeigt hat, wirkt sich die Fähigkeit der Herzwahrnehmung in der Tat auf das emotionale Erleben aus (für einen Überblick siehe Herbert und Pollatos 2008): Wer den eigenen Herzschlag gut wahrnehmen kann, erlebt Emotionen intensiver und erkennt Emotionen bei anderen Personen besser. Außerdem zeigt man einen besseren Umgang mit Stress, da Stressbelastungen sensibler erkannt werden, sodass früher gegengesteuert werden kann. Angesichts solcher positiver Effekte wurden sogar relativ einfache Trainings entwickelt, um die Herzwahrnehmung zu verbessern. So kann man beispielsweise für einige Wochen beim Einschlafen auf den eigenen Herzschlag achten, was sich in Studien als sehr effektiv erwiesen hat
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(Schandry 1983). Allerdings sind mit einer guten Herzwahrnehmung nicht nur positive Effekte verbunden. Aufgrund der intensiveren Emotionswahrnehmung können beispielsweise Ängste zunehmen. Weiterhin kann damit eine Überachtsamkeit auf Krankheitssymptome einhergehen. So gibt es eine sogenannte „Herzphobie“, bei der Betroffene übersensitiv auf ihren Herzschlag achten, was zu Panikreaktionen führen kann.“
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Eine zweite Quelle, um uns selbst besser kennenzulernen, sind unsere Erinnerun gen an unser Erleben und Verhalten in vergangenen Situationen. Hilfreich dafür ist ein reichhaltiges autobiografisches Gedächtnis. Was könnte für das Anlegen von reichhaltigen Erinnerungen über das eigene Leben ausschlaggebend sein? Genau diese Frage haben sich die Wissenschaftler Katherine Nelson und Robyn Fivush bei ihren Forschungen zur Entwicklung des autobiografischen Gedächtnisses gestellt, als sie bemerkten, dass sich die von ihnen untersuchten Kinder deutlich in der Reichhaltigkeit ihrer Lebenserinnerungen unterschieden. Sie stießen dabei auf einen zentralen Einflussfaktor: Die Art und Weise, wie gemeinsam über erlebte Ereignisse gesprochen wird – der sogenannten „Reminiscing Style“ (Nelson und Fivush 2004). Förderlich für ein reichhaltiges autobiografisches Gedächtnis war beispielsweise das Stellen von offenen Fragen („Was haben wir heute im Park gemacht?“) anstelle von geschlossenen Fragen („Haben wir heute im Park geschaukelt?“). Des Weiteren war die Integration der Antworten in eine kohärente Erzählung mit beschreibenden („Stimmt, wir haben geschaukelt. Wer war noch dabei“?) und evaluativen („Hat es dir Spaß gemacht?“) Komponenten ausschlaggebend. Studien zeigen, dass sich ein solcher „Reminiscing Style“ mit relativ geringem Aufwand erfolgreich trainieren lässt (Boland et al. 2003). zz Soziales Spiegeln
Eine dritte Quelle, um sich selbst besser kennenzulernen, ist das sogenannte soziale Spiegeln – also aus den Meinungen anderer etwas über sich selbst zu schließen. Diese Quelle kann man zum einen explizit nutzen, indem man andere direkt danach fragt, wie sie einen sehen. Im privaten Bereich ist hier insbesondere der Austausch mit nahen Bezugspersonen relevant, wobei ein enges Vertrauensverhältnis gegeben sein muss, da ansonsten die Wahrscheinlichkeit hoch ist, nur sozial erwünschte Antworten zu erhalten. Im beruflichen Bereich kann man sich beispielsweise kollegiales Feedback einholen oder auch Schüler um Feedback bitten. Feedback über das eigene Verhalten in der Schule
„Sich als Lehrkraft Feedback über das eigene Unterrichtsverhalten einzuholen, hat in den letzten Jahren an vielen Schulen richtig Fahrt aufgenommen. Was mich selbst bei einer Fortbildung von der Sinnhaftigkeit eines solchen Feedbacks überzeugt hat, war die folgende Graphik zu den Ergebnissen einer Studie: Dort wurden Lehrkräfte nach
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einer per Video aufgezeichneten Englischstunde gefragt, wie viel Prozent der Zeit sie wohl selbst gesprochen hätten (Helmke et al. 2008):
Unsere Selbstwahrnehmung kann also vom real gezeigten Verhalten stark abweichen. Solche blinden Flecken kann man entdecken, wenn man sich Feedback von anderen einholt – entweder von anderen Lehrkräften oder von den Schülern. Praktischerweise hat die Kultusministerkonferenz vor ein paar Jahren eine Gruppe von Bildungsforschern beauftragt, hierfür hilfreiche Materialen zu entwickeln, die kostenlos im Internet heruntergeladen und genutzt werden können (7 http://www.unterrichtsdiagnostik. info/). Dort findet man beispielsweise Fragebögen, die gleichzeitig von hospitierenden Kolleginnen und Kollegen, von Schülern und von einem selbst ausgefüllt werden können. Mittels einer umsonst bereitgestellten Software lassen sich dann die Fragebögen auswerten und die eigene Selbsteinschätzung mit der Einschätzung anderer in Profildiagrammen vergleichen.“
Die Quelle des sozialen Spiegelns kann man aber auch implizit nutzen, indem man andere nicht direkt nach deren Einschätzungen gegenüber einem selbst befragt, sondern diese aus deren Verhalten zu erschließen versucht. So können wir uns beispielsweise für hilfsbereit oder gesellig halten, weil wir aus den Reaktionen anderer zu erkennen meinen, dass diese uns so einschätzen. Eine interessante Frage ist, wie zuverlässig solche implizit erschlossenen Einschätzungen von anderen über uns eigentlich in Wirklichkeit sind. Studien zeigen, dass solche Einschätzungen relativ unzuverlässig sind. Befragt man Personen danach, wie verschiedene Bekannte sie wohl jeweils einschätzen, und holt gleichzeitig die tatsächlichen Einschätzungen der Bekannten ein, so zeigt sich ein überraschendes Muster (Kenny und DePaulo 1993): Man meint, dass verschiedene Bekannten eine sehr ähnliche Sichtweise von der eige-
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nen Person haben, obwohl es in Wirklichkeit durchaus deutliche Unterschiede in den tatsächlichen Einschätzungen gibt. Anders ausgedrückt: Wir tendieren dazu, in verschiedenen sozialen Spiegeln immer dasselbe Selbstbild wahrzunehmen. zz Verzerrte Selbstwahrnehmungen
Wir stoßen hier auf ein Grundproblem beim Versuch, sich selbst durch Selbstbeobachtung, autobiografische Erinnerungen oder soziales Spiegeln besser kennenzulernen: Wie wir bereits gesehen haben (7 Kap. 2 und 7 Abschn. 5.4.2.2), funktionieren unsere Wahrnehmung und unsere Erinnerung nicht wie eine Kamera, die objektiv und passiv die Umwelt aufzeichnet und dann später wiedergibt. Stattdessen stülpen wir beim Wahrnehmen unsere existierenden mentalen Landkarten – also unser aus den bisherigen Erfahrungen abgeleitetes Welt- und Selbstbild – über die einströmenden Sinnesreize und erinnern diese danach auch entsprechend eingefärbt. Das bringt folgendes Problem mit sich: Wenn wir versuchen, uns selbst wahrzunehmen oder uns an selbstbezogene Erlebnisse zu erinnern, machen wir das immer durch den Filter unseres aktuell vorhandenen Selbstbildes. Wir neigen also ständig dazu, unser aktuell vorhandenes Selbstbild zu bestätigen. So zeigen beispielsweise Studien, dass Personen, die ihre kognitiven oder sozialen Fähigkeiten als gering einschätzen, bevorzugt auf negative Rückmeldungen achten, diese danach besser erinnern und manchmal sogar danach zu suchen scheinen (Swann et al. 1992).
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zz Entwicklungsbezogene Dynamiken
Wie wir bei der Metapher zum Erarbeiten der eigenen Identität vom Bauen eines Turms aus Bausteinen gesehen haben, sind das Erspüren der in uns wirkenden Kräfte und die Identifikation und Wertschätzung der tragenden Elemente der eigenen Persönlichkeit nur der erste Schritt. Im nächsten Schritt gilt es, von den tragenden Elementen ausgehend weiter zu bauen. Dies klang auch schon in der obigen Definition von James Marcia an: Unsere Identität ist nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches, das sich im Laufe des Lebens weiterentwickelt. Daher müssen wir uns noch die Frage stellen, welche entwicklungsbezogenen Dynamiken hierfür eine Rolle spielen. Wie von den Psychologinnen Markus und Wurf (1987) herausgearbeitet, enthält unser Selbstbild nicht nur ein Bild davon, wie wir meinen aktuell zu sein – das sogenannte Aktuelle Selbst – sondern auch Bilder davon, wie wir uns als Person in Zukunft entwickeln könnten – sogenannte Mögliche „Selbste“. Wichtig ist, dass hierunter alle Vorstellungen einer Person über mögliche zukünftige Entwicklungen gefasst sind: Sowohl erwünschte wie unerwünschte Entwicklungen und sowohl solche, die sich von selbst ohne persönliches Zutun ergeben, als auch solche, die vom persönlichen Einsatz abhängen. Weiterhin enthält unser Selbstbild Bilder über Idealvorstellungen von uns selbst: Einmal bezogen darauf, wie wir selbst am liebsten wären – das sogenannte Ideal-Selbst – und einmal bezogen darauf, wie man meint, laut anderen sein zu müssen – das sogenannte Norm-Selbst. In beiden Fällen sind dabei sowohl annäherungsbezogene Vorstellungen enthalten (Wie möchte ich gerne sein?) und vermeidungsbezogene Vorstellungen (Wie möchte ich auf gar keinen Fall sein). Die sich daraus ergebende Landkarte unseres Selbstbildes ist in . Abb. 6.20 dargestellt. Für die Reflexion über die weitere Entwicklung der eigenen Persönlichkeit ist diese Landkarte hilfreich, weil sie die dafür relevanten Fragen spezifiziert und ordnet:
177 6.2 · Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept
.. Abb. 6.20 Die entwicklungsbezogene Landkarte unseres Selbstbildes
55 Aktuelles Selbst: Die zentrale Frage ist hier, wie gut uns unser aktuelles Selbstbild abbildet. Es geht also zum einen darum, inwiefern das Selbstbild mit den real gegebenen Eigenschaften und Fähigkeiten übereinstimmt, zum anderen darum, wie differenziert und integriert die Abbildung ist (7 Abschn. 6.2.1). 55 Mögliche „Selbste“: Die zentrale Frage ist hier, wie realistisch die Vermutungen über mögliche weitere selbstbezogene Entwicklungen sind. Es geht also zum einen darum, ob und bis zu welchem Grad eine vermutete Entwicklung überhaupt stattfindet oder herbeigeführt werden kann. Zum anderen geht es darum, ob bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten vielleicht nicht in Betracht gezogen werden. 55 Ideal-Selbst und Norm-Selbst: Die zentrale Frage ist hier eng verwandt mit der Frage nach unseren intrinsischen und extrinsischen Zielen und Werten. Es geht also zum einen darum zu klären, woher die eigenen Idealvorstellungen zur eigenen Person eigentlich stammen. Zum anderen geht es darum, die von anderen Personen herangetragenen Erwartungen an die eigene Person daraufhin zu prüfen, ob man sich damit identifizieren möchte oder nicht. Im folgenden Abschnitt werden wir uns diesen letzten Punkt noch etwas genauer ansehen.
zz Soziale und gesellschaftliche Einflüsse
Wie eben erwähnt und auch schon in 7 Abschn. 6.2.2.1 und in . Abb. 6.13 bei der Beschreibung der Integration von intrinsischen und extrinsischen Zielen thematisiert, besteht eine zentrale Aufgabe bei der Persönlichkeitsentwicklung darin, die eigenen Ideale mit den Idealen anderer und den normativen Idealen der Gesellschaft, in der man lebt, in Übereinstimmung zu bringen. Weiterhin sind den eigenen Idealen in der realen Welt aufgrund von aktuell gegebenen Rahmenbedingungen Grenzen gesetzt. Im Bereich der Schule werden beispielsweise von zahlreichen Instanzen zum Teil sehr unterschiedliche Erwartungen an Lehrkräfte herangetragen, wie beispielhaft folgende kurze Sammlung an Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln aus den letzten Jahren zeigt (Titel der Artikel):
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Kapitel 6 · Das Rationale System
»» Deutsche Lehrer in der Kritik – Veraltete Ausbildung, Widerstand gegen nötige Re-
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formen und mangelnde Professionalität: In einem neuen Gutachten kritisieren Bildungsforscher die deutschen Lehrkräfte. Besonders hart fällt das Urteil über Grundschullehrer aus (Süddeutsche Zeitung, O. V 2011). „Davor darf man als Lehrer keine Angst haben“ – Seit zwei Jahren dürfen Schüler in Bayern Referendare bewerten. Noch ist das ein Pilotprojekt, doch schon bald könnten alle Schulen des Landes mitmachen (Spiegel Online, Mestermann 2018) Eltern gegen Lehrer – Kampfplatz Schule: Viele Eltern drohen mit dem Anwalt, um die Noten ihrer Kinder zu verbessern (Die Zeit, Dietrich 2017) Lehrerverband fordert Verbot von umstrittener Lernmethode: Die Abschaffung der Schreiblernmethode „Lesen durch Schreiben“ fordert der Lehrerverband. Man wolle Kinder vor mehr Schaden bewahren (Berliner Morgenpost, O. V 2018c). Neues Schulfach „Alltagswissen“ in Bayern geplant – Bayern plant ein neues Schulfach: Darin soll es um praktisches Alltagswissen gehen. Über die Inhalte wird noch diskutiert – Schüler und Lehrer sind trotzdem schon skeptisch (Spiegel Online, O. V 2019).
Weiterhin sind Lehrkräften zahlreiche Rahmenbedingungen vorgegeben, die man nicht kurzfristig ändern kann, sondern hinnehmen muss:
»» Ein Psychologe für 6000 Schüler – In den Mittelschichtbezirken müssen Eltern bis zu drei Monate auf einen Termin warten, nachdem die Bildungsverwaltung das Personal neu verteilt hat (Der Tagesspiegel, Vieth-Entus 2015). Die Belastungsgrenze ist überschritten – Die Bundesländer haben sich verpflichtet, allen Menschen das gleiche Recht auf Bildung zu garantieren. Seither nehmen Regelschulen im Sinne der Inklusion auch behinderte Schüler auf. Wie sehr sich Lehrer damit allein gelassen fühlen, berichtet eine Grundschullehrerin (Deutschlandfunk, O. V 2017a). Fast jeder zweite Schüler leidet unter Stress – Hoher Leistungsdruck, schlechte Noten oder Mobbing in den sozialen Medien: 43 Prozent der Schüler leiden nach einer neuen Untersuchung der DAK Gesundheit unter Stress – mit Folgen (Ärzteblatt, O. V 2017b). Entrümpelt die Lehrpläne! – Kinder werden in der Schule nicht auf die Zukunft vorbereitet – sondern lernen, was gestern wichtig war. Davon sind drei renommierte Wissenschaftler überzeugt (Spiegel Online, O. V 2018b)
Angesichts dieser Bandbreite an zum Teil nicht miteinander vereinbaren Erwartungshaltungen von verschiedenen Instanzen und vorgegebenen Rahmenbedingungen im Bereich der Schule ist es wichtig, solche äußeren Einflussfaktoren zu erkunden und in die Selbstreflexion mit einzubeziehen. Angesichts der zum Teil heterogenen und sich sogar widersprechenden Erwartungshaltungen an die Rolle einer Lehrkraft besteht das Ziel dabei darin, eine eigene Rollenvorstellung im Rahmen dieser Vorgaben und Erwartungshaltungen zu entwickeln und sich damit persönlich zu identifizieren. In . Abb. 6.21 ist der dabei ablaufende Reflexionsprozess illustriert.
179 6.2 · Wissen über uns selbst – das Selbstkonzept
.. Abb. 6.21 Die Herausbildung einer eigenen Rollenvorstellung zu den Aufgaben einer Lehrkraft
>>Wichtig! Um den „wahren Kern“ unserer Persönlichkeit zu erkunden, kann man auf drei Quellen zurückgreifen: Man kann das eigene Verhalten und die eigenen inneren Erlebensweisen beobachten, man kann sich selbstbezogene vergangene Ereignisse ins Gedächtnis rufen, und man kann versuchen, aus den Einschätzungen anderer Rückschlüsse über die eigene Person zu ziehen. In allen drei Fällen sollte man sich bewusst sein, dass unser aktuell vorhandenes Selbstbild einen Filter darstellt, der unsere Wahrnehmungen, Erinnerungen und Urteile verzerrt.
6.2.4.3 Authentisch sein
Bei der Frage nach der optimalen Struktur des Selbstkonzepts (7 Abschn. 6.2.1) haben wir erwähnt, dass eine hohe Selbstkomplexität – also ein möglichst differenziertes und zugleich integriertes Bild von sich selbst – allein nicht ausreicht, sondern dass die verschiedenen Elemente im Selbstkonzept zusätzlich einen hohen Grad an „Authentizität“ aufweisen sollten. Man könnte nun meinen, dass wir schon wissen, was eine hohe Authentizität ausmacht: Unser Selbstkonzept sollte unseren wahren Kern widerspiegeln. Allerdings fehlt noch ein letzter Baustein, um vollständig zu verstehen, was das „Authentisch sein“ ausmacht. Insbesondere in populärwissenschaftlichen Büchern wird dieser Baustein oft übersehen, was zu fragwürdigen Schlussfolgerungen in Bezug auf das Ideal einer hohen Authentizität führt. Wir wollen uns das an einem Beispiel anschauen.
Was Authentizität nicht ist: Irreführende Darstellungen in populären Bestsellern
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„Der Schweizer Unternehmer und Bestsellerautor Rolf Dobelli beschreibt in seinem Bestseller „Die Kunst des guten Lebens: 52 überraschende Wege zum Glück“ (Dobelli 2017a) die angeblich 52 besten Wege zum „guten Leben“. Eines der Kapitel dort, das auch als Abdruck in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist (Dobelli 2017b), lautet: „Die Authentizitätsfalle“. Als Aufhänger soll man sich in diesem Kapitel vorstellen, man sei mit der „hyperauthentischen“ Lisa zu einem Lunch verabredet. Diese kommt dann mit zerzausten Haaren 20 Minuten zu spät, lästert laut über dieses Trendlokal von vorgestern und führt sich außerhalb jeglicher sozialer Normen auf, indem sie sich beispielsweise mit einem animalischen Gähnen streckt und meint ‚Weißt du, ohne meinen Powernap bin ich einfach nicht ich selbst.‘ oder die Spaghetti mit bloßen Fingern durch die Soße zieht und isst, weil ihr das so viel Spaß macht – während man selbst das Kreuzfeuer der peinlich berührten Blicke der anderen Gäste aushalten muss. Rolf Dobelli meint dann:
»» Das ungefähr wäre Authentizität pur. Um dann allgemein zu schließen:
»» ‚Sei authentisch!‘, lautet die neue Managementregel. Machen Sie besser nicht mit,
Sie können nur verlieren. Legen Sie sich stattdessen eine zweite, souveräne Persönlichkeit zu.
Das Problem an solchen Darstellungen von „Authentizität“ ist, dass genau das eben kein authentisches Verhalten ist. Das Verhalten, das Lisa im Restaurant an den Tag legt, ist nicht authentisch. Stattdessen handelt es sich um egoistisches Verhalten (Shaver 2002): Eine Person sieht nur sich selbst und lässt ihren eigenen Bedürfnissen und Emotionen freien Lauf, ohne die Wirkungen auf andere in Betracht zu ziehen. Die traurige Konsequenz solcher missverstandener Auffassungen von „Authentizität“ in populären Bestsellern ist, dass daraus irreführende Handlungsempfehlungen abgeleitet und in der Öffentlichkeit verbreitet werden. Es wird fälschlicherweise der Eindruck erweckt, Authentizität wäre etwas Schlechtes, obwohl das, was man als schlecht ansieht, gar nichts mit Authentizität zu tun hat.“
Das Beispiel des Bestsellerautors Rolf Dobelli illustriert also ein häufiges Missverständnis: „Authentisch sein“ hieße, Egoismus auszuleben, unabhängig von möglichen Wirkungen und Konsequenzen des eigenen Handelns auf andere. Der Kern dieses Missverständnisses beruht auf einem falschen Verständnis dessen, was der „wahre Kern“ einer Person bzw. ihr „Selbst“ ist – nämlich, dass der eigene Kern oder das eigene Selbst etwas sein könnten, was abgetrennt von anderen Personen oder der Welt existiert. Aber dem ist nicht so. Versteht man unter dem „wahren Kern“ einer Person ihre erarbeitete Identität, so besteht dieser nicht nur aus den intrinsisch bedingten Verhaltensgewohnheiten, Emotionen und Zielen, sondern auch aus den für das Zusammenleben in einer Gruppe notwendigen extrinsischen Kräften, mit denen man sich persönlich identifiziert und welche man mit den intrinsischen Kräften integriert hat (7 Abschn. 6.2.2.1). Weiterhin bedingen bestimmte Bedürfnisse geradezu das Handeln nach sozial geteilten Normen. Bei dem Bedürfnis nach sozialem Anschluss geht es beispielsweise um die erfolgreiche Herstellung zwischenmenschlicher Beziehungen und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe (7 Abschn. 4.1). Hat man nun ein hohes Bedürfnis nach sozialem
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Anschluss und will dieses authentisch zum Ausdruck bringen, muss man sozial geteilte Normen erfüllen. Ein authentisches Handeln setzt in diesem Fall also notwendigerweise voraus, dass das soziale Umfeld beim Handeln miteinbezogen wird. Eine noch fundamentalere Verknüpfung zwischen einem selbst und anderen Personen wird offenbar, wenn man eine soziologische Perspektive einnimmt. Wir wollen uns dazu einen Auszug aus einem Klassiker zur Idee der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit ansehen (Berger und Kellner 1965, S. 221):
»» Hier interessiert uns der Prozess, der eine bestehende Wirklichkeit, die von dem einzelnen als für ihn bedeutsam erfahren werden kann, schafft, erhält und modifiziert. Die besondere Erscheinungsform dieses Prozesses wird durch die Gesellschaft, in der er auftritt, bestimmt. Jede Gesellschaft hat ihre besondere Art und Weise, die Realität – ihre Welt, ihr Universum, ihr Ensemble von Symbolen – zu definieren und zu begreifen. Auf dieser Basis entsteht ein vorgefertigtes Typisierungssystem, vermittels dessen die unzähligen Erfahrungen der Wirklichkeit zu ordnen sind. Diese Typisierungen und ihre Ordnung sind Allgemeingut der Gesellschaftsglieder, wodurch sie nicht nur den Charakter der Objektivität annehmen, sondern als gegeben, als die einzige Welt, die der normale Mensch denken kann, genommen werden. Nichtsdestoweniger bedarf diese Welt der Bestätigung. Diese Bestätigung bedarf der fortdauernden Interaktion mit anderen, die die gleiche gesellschaftlich geschaffene Welt bewohnen. Allgemein gesehen haben alle Glieder dieser bestimmten Welt bestätigende Funktionen. Der Zeitungsträger bestätigt mir täglich meine Zugehörigkeit zur Welt, und der Briefträger bringt die greifbare Bestätigung meiner eigenen Ortsbestimmung innerhalb dieser Welt. Jeder einzelne fordert die andauernde Bestätigung seiner eigenen Welt, in deren Zentrum seine Identität und seine Stellung in dieser Welt, gerade auch durch die, die ihm als die „signifikanten anderen“ gelten, bestätigt werden.
Die Grundidee der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit ist demnach, dass unser Welt- und Selbstbild nicht aus sich selbst heraus entsteht, sondern sich aus der Interaktion mit anderen entwickelt. Diese Idee wurde auch in modernen Bildungstheorien aufgegriffen und mit dem Begriff der „Ko-Konstruktion“ beschrieben (Vollmer 2012, S. 116).
»» Wenn Kinder gleichen Alters untereinander agieren, zusammen ihre Erfahrungen mit
sich selbst und der Welt verarbeiten, ihre daraus gewonnenen, konstruierten Erkenntnisse den anderen Kindern mitteilen und aus den Rückmeldungen wiederum Erkenntnisse ziehen, spricht Laewen von Ko-Konstruktion unter Kindern.
Die Grundlage, auf der das Selbstkonzept einer Person entsteht, sind also interessanterweise soziale Beziehungen: Nur in der Interaktion mit anderen kann ich ein Bild über mich selbst entwickeln. Man kann sich das auch dadurch klarmachen, dass es überhaupt nur dann Sinn ergibt, von einer „individuellen Besonderheit“ zu sprechen, wenn andere Menschen anders sind. Wenn man den Gedanken „Das macht mich als Person aus“ denkt, denkt man also automatisch das soziale Umfeld mit. Ein authentisches Handeln setzt also grundsätzlich voraus, dass das soziale Umfeld beim Handeln miteinbezogen wird. Das obige Gedankenexperiment von Rolf Dobelli zum Lunch mit der „hyperauthentischen“ Lisa basiert also in Wirklichkeit auf einem versteckten Trick: Wenn die beschriebene Lisa wirklich authentisch handeln würde, dann hätte sie ihr soziales Umfeld mitgedacht, was hieße: Sie hätte sich in Wirklichkeit niemals mit der anderen Person in diesem Trendlokal getroffen.
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Kapitel 6 · Das Rationale System
„Authentisch sein“ erfordert also über die vorher beschriebenen Aspekte der Persönlichkeitsreife einen weiteren Baustein: Die eigene Identität zu erarbeiten und zu leben verlangt notwendigerweise den Einbezug anderer Personen. Sehr gut auf den Punkt gebracht wird das in einem Zitat von Erich Fromm (2000, S. 54):
»» Authentizität steht im engen Zusammenhang mit offener Kommunikation und Trans-
zendenz. Transzendenz bedeutet: das Hinausgehen über das nur mit sich selbst beschäftigte Ich, die Befreiung unserer selbst aus dem Gefängnis unseres Egoismus, indem wir mit der Wirklichkeit und den Mitmenschen in Beziehung treten.
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Prägnant zusammengefasst kann man „authentisch sein“ also an vier Kriterien festmachen, die in einer Überblicksarbeit der Psychologen Michael Kernis und Brian Goldman (2006) folgendermaßen beschrieben werden: 55 Authentische Selbstbewusstheit: Wissen von und Vertrauen in die eigenen Bedürfnisse, Emotionen und selbstbezogenen Gedanken und Ziele haben. 55 Authentische Selbstwahrnehmung: Unverfälscht sowohl die eigenen selbstbezogenen Erfahrungen, Gedanken und Bewertungen als auch die auf die eigene Person bezogenen Gedanken und Bewertungen anderer wahrnehmen. 55 Authentisches Handeln: Ein Handeln an den Tag legen, das mit den eigenen Bedürfnissen, Emotionen, Zielen und Werten übereinstimmt. 55 Authentische Beziehungsorientierung: Sich anderen gegenüber wirklich öffnen und seine wahre Persönlichkeit zeigen, unabhängig von befürchteten Bewertungen durch andere.
Als Lehrkraft authentisch sein
„Auch bei der Frage, was denn eine gute Lehrkraft ausmacht, stößt man immer wieder auf das Thema Authentizität. So heißt es beispielsweise in einem Blogbeitrag einer Lehramtsstudentin (Adlehm 2011):
»» Fast alle meiner früheren LehrerInnen waren gute Lehrer, vor deren Fach- und
Sozialkompetenz ich natürlichen Respekt hatte. Aber nur einige wenige hatten noch etwas mehr – nämlich Authentizität und natürliches Charisma.
Ähnlich formuliert es eine Schülerin in einem Interviewbeitrag im Rahmen eines SZ-Schülergipfels zum Thema ‚Wie soll er denn sein, der ideale Pädagoge?‘ (Bruckner et al. 2013):
»» Mir ist Authentizität wichtiger. Ich will nicht, dass mir mein Lehrer was vorspielt, das er gar nicht ist.
Gestützt werden solche Aussagen durch Befunde in der Bildungsforschung. Wenn man sich noch einmal die Rangliste zur Wirksamkeit verschiedenster Einflussfaktoren auf den schulischen Lernerfolg in . Tab. 6.1 ansieht, steht dort der Einflussfaktor „Glaubwürdigkeit der Lehrkraft“ mit einer Effektstärke von d = 0.90 insgesamt auf
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Platz 12 von 252 Faktoren – das ist sogar der stärkste Faktor auf Lehrkraftebene überhaupt. Eine interessante Frage ist nun, was denn „authentisch sein“ auf Lehrkraftebene genau bedeuten könnte. Hilfreich ist hierfür eine Betrachtung der verschiedenen Wirkbereiche einer Lehrkraft: 55 Eine authentische Person sein: Von den eigenen Zielen, Bedürfnissen, Emotionen und Gedanken wissen, diesen vertrauen und im Einklang damit handeln. 55 Eine authentische Lehrkraft sein: Über den Sinn des Unterrichtens und Erziehens und die eigenen darauf bezogenen Bedürfnisse, Emotionen und Ziele reflektieren, eine persönliche Überzeugung von der hohen Wichtigkeit der eigenen Tätigkeit haben und im Einklang damit handeln. 55 Authentisch unterrichten: Einen Unterrichtsstil finden, der gut zu den eigenen Bedürfnissen, Emotionen und Überzeugungen passt. 55 Authentische Beziehungsorientierung: Im Unterricht die eigene Persönlichkeit offen zeigen und sich auf echte Beziehungen einlassen, im Bewusstsein, dass man nicht der „Kumpel“ der Schüler ist, sondern ein Vorbild für mögliche Persönlichkeitsentwicklungen“. Was das konkret für die Praxis bedeuten kann, wird gut in einer Online-Handreichung des Cornelsen-Schulbuchverlags für junge Lehrer zum Thema ‚Richtig auftreten bei Schülern, Eltern & Kollegen‘ zusammengefasst (O. V 2018a, leicht gekürzt):
»» Nobody’s perfect: Seien Sie authentisch.
Niemand kann von Anfang an alles können und wissen und Sie werden sicherlich immer mal wieder grübeln: Bin ich eigentlich wirklich selbstbewusst oder doch eher unsicher? Überschätze ich mich manchmal oder habe ich zu hohe Erwartungen an mich selbst? Diese besondere Situation am Anfang Ihrer Schullaufbahn meistern Sie am besten, indem Sie sich möglichst authentisch verhalten. Seien Sie freundlich und verbindlich, flexibel und neugierig, aber versuchen Sie nicht, jemand zu sein, der Sie nicht sind. Verstellen Sie sich nicht und haben Sie den Mut, es einzugestehen und nachzufragen, wenn Sie mal etwas nicht wissen. Das gilt auch für den Fachunterricht: Haben Sie auf die Frage eines Schülers einmal keine Antwort, geben Sie das ruhig zu. Nur dabei belassen sollten Sie es nicht – lassen Sie die Schüler recherchieren oder reichen Sie Ihre Antwort in der nächsten Stunde nach. Hilfreich ist vielleicht auch die Meinung einer Schülerin auf dem obigen SZ- Schülergipfel:
»» Ein guter Lehrer muss sich nicht nur für sein Fach interessieren, sondern auch
Freude haben, es zu präsentieren. Für mich muss ein guter Lehrer außerdem etwas von sich preisgeben, ich muss wissen: Was ist das für eine Person? Nur dann bin ich als Schüler auch bereit, mich voll auf sie oder ihn einzulassen.
>>Wichtig! Für die emotionale Kompetenz ist es wichtig, übereinstimmend mit den eigenen Bedürfnissen, Emotionen und Zielen zu handeln und gleichzeitig dabei die Wirkungen auf andere in Betracht zu ziehen – und beides sinnvoll miteinander in Einklang zu bringen.
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Kapitel 6 · Das Rationale System
6.2.4.4 Das optimale Selbstkonzept
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Im Zuge der Ausführungen zum Selbstkonzept sind wir an verschiedenen Stellen auf verschiedene Kernelemente gestoßen, welche ein optimales Selbstkonzept ausmachen. Abschließend wollen wir diese Kernelemente noch einmal zusammenfassend darstellen. Wir wollen hierfür auf die Arbeiten des Persönlichkeitspsychologen Dan McAdams zurückgreifen. Er beschreibt das Selbstkonzept als eine im Laufe des Lebens immer weiter fortgeschriebene persönliche Lebenserzählung, welche die in einem herrschenden psychischen Kräfte vor dem Hintergrund des persönlichen sozialen und kulturellen Lebenskontextes zu einem mehr oder weniger zusammenhängenden Ganzen vereint und dem eigenen Leben Sinn und Bedeutung verleiht (McAdams und Pals 2006). In seinem lesenswerten Buch „Das bin ich. Wie persönliche Mythen unser Selbstbild formen“ arbeitet er dabei sechs Kriterien heraus, welche eine optimale persönliche Lebenserzählung – also ein optimales Selbstkonzept – ausmachen (McAdams 1996, S. 118): 55 Differenzierung: Die Erzählung über einen selbst sollte möglichst vielschichtig und genau sein. 55 Kohärenz: Die einzelnen Teile der Erzählung über einen selbst sollten in einen sinnstiftenden Zusammenhang gebracht sein. 55 Glaubwürdigkeit: Die Erzählung über einen selbst sollte den tatsächlichen Erlebnissen und Begebenheiten Rechnung tragen. 55 Konsolidierung: Die Erzählung über einen selbst sollte auch als schwierig empfundene Aspekte aufgreifen und eine Balance zwischen widerstreitenden Kräften finden. 55 Offenheit: Die der Erzählung über einen selbst sollte nicht festgefahren sein, sondern Alternativen für künftiges Denken und Handeln offenhalten. 55 Generative Integration: Die Erzählung über einen selbst sollte die eigene Person in eine soziale Welt einbetten, welche über das eigene Selbst hinausgeht. Kapitelzusammenfassung In diesem Kapitel haben wir das dritte psychische System kennengelernt, das unser emotionales Erleben und Verhalten prägt: Das rationale System. Dessen grundlegende Funktionsweise basiert auf einer Abbildung der Welt durch verbale Begriffe, mittels derer wir die Welt rational verstehen und mögliche Konsequenzen abschätzen, bewerten und gegebenenfalls geplant beeinflussen können. Hinsichtlich der Qualität der Abbildung gibt es eine Variationsbreite im Grad der Detailliertheit, der Zuverlässigkeit und der Begrenztheit der abgebildeten Welt, die es kontextsensibel anzupassen gilt. Bei der Bewertung der abgebildeten Welt gibt es emotionale und rationale Maßstäbe, die jeweils mit unterschiedlichen Bewertungsergebnissen verbunden sein können. Hinsichtlich der rationalen Abbildung von uns selbst – unserem Selbstkonzept – lassen sich verschiedene Aspekte unterscheiden: das Selbstbild (Wer bin ich und was will ich?), die Selbstwirksamkeit (Was kann ich in der Welt und bei mir selbst bewirken?) und der Selbstwert (Wie bewerte ich das, was ich meine zu sein und zu können?). Wichtig ist hierbei, zwischen intrinsischen und extrinsischen Kräften und Bewertungsmaßstäben zu unterscheiden – also zwischen zum Wesenskern einer Person gehörenden und durch äußere Kräfte erworbenen Verhaltensgewohnheiten, Emotionen und Zielen. In Bezug auf Emotionen kommt dem Selbstwert eine besondere Rolle zu, weil das Erreichen eines hohen Selbstwerts eine wichtige Quelle unserer Emotionen darstellen kann.
185 Literatur
Im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung besteht das Ziel darin, sich eine eigene Identität zu erarbeiten. Hierfür ist es wichtig, den eigenen intrinsischen Wesenskern zu erspüren und sich damit persönlich zu identifizieren. Weiterhin müssen die von außen herangetragenen extrinsischen Erwartungshaltungen und gesellschaftlichen Normen reflektiert, persönlich anerkannt und mit den intrinsischen Kräften integriert werden. Die sich daraus ergebenden persönlichen Ideale müssen schließlich mit den gegebenen Rahmenbedingungen in Einklang gebracht werden. Um authentisch zu handeln, ist es schließlich wichtig, über sich selbst hinauszudenken und mit anderen Menschen unverfälscht in Beziehung zu treten.
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Kapitel 6 · Das Rationale System
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Emotionale Kompetenz: Was ist das eigentlich? – Revisited
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Kapitel 7 · Emotionale Kompetenz: Was ist das eigentlich? – Revisited
Worum es in diesem Kapitel geht In diesem Kapitel wird die im Einführungskapitel (7 Abschn. 1.1) bereits gestellte Frage „Emotionale Kompetenz: Was ist das eigentlich?“ noch einmal aufgegriffen und aufbauend auf dem in den 7 Kap. 2, 3, 4, 5 und 6 vermittelten Wissen zu unseren Emotionen und den darauf Einfluss nehmenden psychischen Kräfte genauer beantwortet. Dabei wird herausgearbeitet, dass sich die emotionale Kompetenz aus sechs Komponenten zusammensetzt.
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Im Eingangskapitel haben wir emotionale Kompetenz als „innere Stärke“ beschrieben: Eine hohe emotionale Kompetenz zeichnet sich dadurch aus, dass die eigenen emotionalen Reaktionen auf Ereignisse so ausfallen, wie man es sich persönlich optimalerweise wünscht. Nach unserem Rundgang durch die psychische Funktionsweise des Menschen können wir nun genauer herausarbeiten, wodurch eine hohe emotionale Kompetenz inhaltlich konkret charakterisiert ist. Wir wollen uns hierzu zunächst noch einmal ins Gedächtnis rufen, was Emotionen sind und wie sie uns steuern (7 Kap. 5): Emotionen stellen unseren Organismus – aufbauend auf den im Verlauf des individuellen Lebens erworbenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten – in Reaktion auf Ereignisse auf eine bestimmte Art und Weise ein. Die zentrale Frage ist nun, welche Kompetenzen nötig sind, damit die ausgelösten emotionalen Reaktionen so ausfallen, wie man es sich persönlich optimalerweise wünscht. Den Grundstein einer hohen emotionalen Kompetenz bilden zunächst zwei unterschiedliche Arten von Wissen: 1. Allgemeines Emotionswissen: Eine grundlegende Voraussetzung für das Entwickeln einer hohen emotionalen Kompetenz ist das Vorhandensein eines umfangreichen allgemeinen Wissens über die Funktionsweise des emotionalen Systems und der darauf Einfluss nehmenden weiteren psychischen Systeme (Wahrnehmungssystem, Bedürfnissystem und rationales System). 2. Selbstbezogenes Emotionswissen: Aufbauend auf dem allgemeinen Emotionswissen ist eine zweite Voraussetzung für die Entwicklung einer hohen emotionalen Kompetenz das Vorhandensein eines selbstbezogenen Wissens über das eigene emotionale Geschehen. Im Laufe der persönlichen Entwicklung haben sich bestimmte Bedürfnislandkarten (7 Abschn. 4.2), emotionale Landkarten (7 Abschn. 5.3) und begriffliche Landkarten (7 Abschn. 6.1) herausgebildet, aufgrund derer gewohnheitsmäßig bestimmte Emotionen in Reaktion auf bestimmte Ereignisse hin ausgelöst werden. Eine hohe emotionale Kompetenz zeichnet sich durch eine gute Kenntnis der eigenen inneren Landkarten aus.
Die beiden wissensbezogenen Kompetenzen bilden den Rahmen für drei unterschiedliche Arten von Fähigkeiten, die für eine hohe emotionale Kompetenz erforderlich sind: 3. Emotionswahrnehmung: Überhaupt zu bemerken, dass das aktuelle Erleben und Verhalten durch Emotionen eingefärbt ist, stellt eine weitere Grundvoraussetzung für eine hohe emotionale Kompetenz dar. Diese zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, die eigenen Emotionen und ihre Auslöser zuverlässig und differenziert wahrnehmen zu können. 4. Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment: Eine zweite fähigkeitsbezogene Kompetenz besteht darin, die von einem Ereignis ausgelösten Emotionen im gegenwärtigen Moment so beeinflussen zu können, wie man es sich laut der aktuel-
193 Emotionale Kompetenz: Was ist das eigentlich? – Revisited
len persönlichen Überzeugungen wünschen würde. So kann man bemerken, dass man gerade eine Emotion erlebt, die man eigentlich nicht haben möchte, und dann versuchen, die Emotion abzuschwächen. Oder man kann bemerken, dass man eine für die gegenwärtige Situation hilfreiche Emotion momentan nicht erlebt, und dann versuchen, diese Emotion zu verstärken. Sollten entsprechende Regulationsversuche momentan erfolglos sein, ist es weiterhin nötig, unerwünschte Emotionen auch aushalten zu können. Eine hohe emotionale Kompetenz zeichnet sich hier durch die Verfügbarkeit eines reichhaltigen Repertoires an Strategien aus, mittels derer man das eigene momentane emotionale Geschehen beeinflussen oder gegebenenfalls aushalten kann. 5. Emotionsregulation durch eine Veränderung emotionaler Reaktionsgewohnheiten: Bemerkt man, dass die erworbenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten dazu führen, immer wieder unerwünschte Emotionen zu erleben oder erwünschte Emotionen nicht zu erleben, kommt eine dritte fähigkeitsbezogene Kompetenz ins Spiel: Die Fähigkeit, die eigenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten über den Moment hinaus zu verändern bzw. die ausgelösten Emotionen hinsichtlich ihrer Wünschbarkeit neu zu bewerten. Eine hohe emotionale Kompetenz zeichnet sich hier durch eine hohe selbstbezogene Reflexionsfähigkeit und eine hohe Planungsfähigkeit hinsichtlich möglicher Maßnahmen zur Veränderung der eigenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten aus. Aus der Kompetenz zur Veränderung der eigenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten leitet sich schließlich noch ein entwicklungsbezogenes Merkmal einer hohen emotionalen Kompetenz ab: 6. Entwickelte emotionale Persönlichkeit: Hier stellt sich die Frage, wie gut die entwickelten emotionalen Reaktionsgewohnheiten einer Person mit ihren erwünschten emotionalen Reaktionsgewohnheiten übereinstimmen. Eine hohe emotionale Kompetenz zeichnet sich dadurch aus, dass eine Person für sich geklärt hat, welche Emotionen in welcher Situation wirklich zur eigenen Person gehören und welche nicht, und emotionale Reaktionsgewohnheiten entwickelt hat, welche damit im Einklang stehen. Die sechs Komponenten der emotionalen Kompetenz sind in . Abb. 7.1 illustriert. Die Kompetenz des allgemeinen Emotionswissens wurde im Rahmen dieses Buches in den Kapiteln zur Funktionsweise unserer Wahrnehmung (7 Kap. 2), unserer Bedürfnisse (7 Kap. 4), unserer Emotionen (7 Kap. 5) und unseres rationalen Denkens (7 Kap. 6) vermittelt. Mittels der jeweils darauf bezogenen Übungen zur Selbstexploration im zweiten Teil in den 7 Kap. 9, 10, 11 und 12 kann das selbstbezogene Wissen zum eigenen emotionalen Geschehen vertieft werden. Das speziell für die Kompetenz der Emotionswahrnehmung hilfreiche Wissen wurde bereits in 7 Abschn. 5.4 zur Wirkung von Emotionen beschrieben. Um dieses Wissen in Können zu übersetzen, finden sich zur Emotionswahrnehmung in Teil 2 des Buches in 7 Abschn. 11.1 und 11.2 zahlreiche Übungen zur Wahrnehmung von Emotionen bei sich und anderen. Auf die beiden auf die Regulation von Emotionen bezogenen Kompetenzen der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment und der Emotionsregulation durch eine Veränderung der emotionalen Reaktionsgewohnheiten werden wir im folgenden 7 Kap. 8 noch genauer eingehen. Der Weg zur persönlichkeitsbezogenen emotionalen Reife besteht letztendlich in der kompeten
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Kapitel 7 · Emotionale Kompetenz: Was ist das eigentlich? – Revisited
.. Abb. 7.1 Die sechs Komponenten der emotionalen Kompetenz
ten Anwendung aller drei Fähigkeiten. Hilfreiches psychologisches Hintergrundwissen zur Persönlichkeitsentwicklung wurde bereits in 7 Abschn. 6.2.4 zum Persönlichkeitswachstum vermittelt, und mittels der Übungen in 7 Abschn. 12.2 im zweiten Teil kann dieses Wissen selbstbezogen angewendet werden.
Kapitelzusammenfassung Eine hohe emotionale Kompetenz zeichnet sich dadurch aus, dass die eigenen emotionalen Reaktionen auf Ereignisse so ausfallen, wie man es sich persönlich optimalerweise wünscht. Ausschlaggebend dafür sind sechs Teilkompetenzen: (1) Allgemeines Wissen über die Funktionsweise unserer Emotionen und der darauf Einfluss nehmenden psychischen Kräfte (Bedürfnissystem und rationales System); (2) Selbstbezogenes Wissen über die individuell herausgebildeten emotionalen Reaktionsgewohnheiten; (3) Fähigkeit, die eigenen Emotionen zu bemerken und differenziert wahrzunehmen; (4) Fähigkeit, im gegenwärtigen Moment die eigenen Emotionen regulieren und gegebenenfalls aushalten zu können; (5) Fähigkeit, die eigenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten langfristig verändern zu können und (6) Übereinstimmung der tatsächlichen emotionalen Reaktionsgewohnheiten mit den erwünschten emotionalen Reaktionsgewohnheiten.
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Die Regulation von Emotionen Inhaltsverzeichnis 8.1
ie Fähigkeit der Emotionsregulation D im gegenwärtigen Moment – 196
8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.1.6
S ituationsselektion – 200 Situationsveränderung – 203 Aufmerksamkeitslenkung – 204 Situationsumdeutung – 207 Einflussnahme auf Emotionskomponenten – 229 Emotionen im gegenwärtigen Moment aushalten – 235
8.2
Langfristige Emotionsregulation – 236
8.2.1 8.2.2
ie Veränderung emotionaler Reaktionsgewohnheiten – 237 D Die Akzeptanz emotionaler Reaktionsgewohnheiten – 243
Literatur – 246
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kuhbandner, I. Schelhorn, Emotionale Kompetenz im Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_8
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
Worum es in diesem Kapitel geht In diesem Kapitel werden die beiden auf die Regulation von Emotionen bezogenen Kompetenzen genauer betrachtet: Die Fähigkeit, im gegenwärtigen Moment die eigenen Emotionen regulieren und gegebenenfalls aushalten zu können, und die Fähigkeit, die eigenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten langfristig verändern bzw. akzeptieren zu können. Bei der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment werden dabei sechs Ebenen herausgearbeitet, auf denen man versuchen kann, seine Emotionen zu regulieren: (1) Situationsselektion; (2) Situationsveränderung; (3) Aufmerksamkeitslenkung; (4) Situationsumdeutung; (5) Einflussnahme auf Emotionskomponenten; (6) Aushalten im Moment. Bei der langfristigen Veränderung emotionaler Reaktionsgewohnheiten werden zunächst die für die Veränderung der emotionalen Reaktionsgewohnheiten nötigen drei Schritte der Wahrnehmung, Reflexion und Planung genauer beschrieben. Zum Schritt der Reflexion wird dabei ein Flussdiagramm mit fünf aufeinanderfolgenden Entscheidungsebenen zur Frage vermittelt, ob man eine Emotion verändern oder stattdessen akzeptieren soll. Die für Akzeptanz der eigenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten wichtigen Aspekte werden anschließend herausgearbeitet.
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8.1 Die Fähigkeit der Emotionsregulation im gegenwärtigen
Moment
Die Ausgangsbasis der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment ist, dass ein in der gegenwärtigen Situation erlebter Emotionszustand nicht dem emotionalen Zustand entspricht, den man eigentlich in dieser Situation gerne empfinden würde. Emotionsregulation bedeutet dann zu versuchen, mittels bestimmter Maßnahmen die gegenwärtig erlebte Emotion in die erwünschte Richtung zu beeinflussen. Prinzipiell gibt es hierbei zwei Regulationsrichtungen: Man kann entweder bemerken, dass man eine Emotion erlebt, die man eigentlich nicht haben möchte oder nicht so intensiv erleben möchte. In diesem Fall besteht die Emotionsregulation darin zu versuchen, die gegenwärtig erlebte Emotion abzuschwächen oder zum Verschwinden zu bringen. Oder man kann bemerken, dass man eine Emotion, die man in der Situation gerne erleben würde, nicht oder zu wenig intensiv erlebt. In diesem Fall besteht die Emotionsregulation darin zu versuchen, die erwünschte Emotion herbeizuführen oder zu intensivieren. Die Valenz versus die Wünschbarkeit einer Emotion
„Auf den ersten Blick könnte man meinen, es ginge bei der Emotionsregulation einfach darum, das Auftreten, die Dauer und die Intensität von als angenehm empfundenen Emotionen möglichst zu vermehren und das Auftreten, die Dauer und die Intensität von als unangenehm empfundenen Emotionen möglichst zu minimieren. Bittet man Personen Situationen zu schildern, in denen sie im Alltag ihre Emotionen regu-
197 8.1 · Die Fähigkeit der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment
liert haben, findet man auch genau dieses Muster: Typischerweise werden dann entweder Situationen geschildert, in denen versucht wurde unangenehme Emotionen wie Ärger, Traurigkeit oder Angst herunter zu regulieren oder angenehme Emotionen wie Liebe, Freude oder Interesse herauf zu regulieren (Gross et al. 2006; O. V. 2015). Auf was man hier stößt ist das sogenannte hedonistische Prinzip: Eine der Kräfte, die uns hinsichtlich unserer Emotionen antreibt, besteht im Versuch, unsere „Gefühlsbilanz“ zu maximieren – also es zu schaffen, dass das Erleben angenehmer Emotionen das Erleben unangenehmer Emotionen möglichst deutlich überwiegt. Allerdings gibt es noch ein zweites Prinzip um Emotionen hinsichtlich ihrer Wünschbarkeit zu bewerten, das sogenannte instrumentelle Prinzip. Wie wir gesehen haben, hat jede Emotion – ob angenehm oder unangenehm – eine bestimmte Funktion: Sie bringt uns in einen bestimmten Zustand, welcher für das Erfüllen bestimmter Bedürfnisse oder das Erreichen bestimmter Ziele optimal ist. So kann das Auftreten von Ärger hilfreich sein, um eigene Grenzen zu schützen oder eigene Ziele zu verteidigen. Oder das Auftreten von Traurigkeit kann wichtig für die Akzeptanz und Verarbeitung von Rückschlägen oder Verlusten oder das Erhalten von sozialer Unterstützung sein. Man kann also die Wünschbarkeit einer Emotion aus zwei Perspektiven betrachten – einer hedonistischen Perspektive (Wie fühlt sich eine Emotion an?) oder einer instrumentellen Perspektive (Welchen Nutzen bringt eine Emotion für meine Bedürfnisse und Ziele?). Dementsprechend müssen bei der Emotionsregulation zwei verschiedene Maßstäbe auseinandergehalten werden, die nicht miteinander übereinstimmen müssen: Unabhängig davon, ob eine Emotion sich angenehm oder unangenehm anfühlt, kann eine Emotion je nach konkreter Situationsanforderung instrumentell erwünscht oder nicht erwünscht sein. Es geht bei der Emotionsregulation also nicht darum, das Auftreten bestimmter Emotionen generell herunter oder hinauf zu regulieren. Stattdessen geht es darum für sich individuell herauszufinden, in welchen Situationen nach dem hedonistischen Prinzip und in welchen Situationen nach dem instrumentellen Prinzip reguliert werden soll, und bei einer instrumentellen Regulation, wenn nötig, auch unangenehme Emotionen anzustreben und auszuhalten.“
Wir wollen zunächst die verschiedenen Ebenen der Einflussnahme auf eine Emotion allgemein vorstellen. Anschließend wollen wir die spezifischen Regulationsstrategien auf jeder Ebene noch einmal in einem eigenen Unterkapitel genauer betrachten und bewerten. Um die verschiedenen Ebenen der Einflussnahme auf eine Emotion allgemein kennenzulernen, wollen wir uns den Entstehungsprozess einer emotionalen Reaktion noch einmal genauer Schritt für Schritt ansehen (in Anlehnung an Gross (2014)). Bei jedem Schritt wollen wir uns dabei fragen, auf welche Weise man an dieser Stelle eine emotionale Reaktion beeinflussen könnte, und die jeweiligen Einflussmöglichkeiten anhand des auf eine unruhige Klasse verärgert reagierenden Lehrers aus dem in 7 Abschn. 5.1 zitierten Lehrergeständnis beispielhaft veranschaulichen. Die sich dabei ergebenden sechs Ebenen der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment sind in . Abb. 8.1 illustriert. 1. Ebene der Situationsselektion: Für das Auslösen einer emotionalen Reaktion ist zunächst ausschlaggebend, dass in der Situation ein Auslöser vorhanden ist, auf welchen hin eine emotionale Reaktion ausgelöst wird. Auslöser können sowohl äußerliche Ereignisse, Personen oder Situationen sein, aber auch innerliche Ereig
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
Situation auswählen
Situation
Emotionskomponenten beeinflussen
Aufmerksamkeit lenken
Verarbeitung
Wahrnehmung
Emotion
Situation umdeuten
Situation verändern
Emotion aushalten
.. Abb. 8.1 Die sechs Ebenen der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment
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nisse wie das Denken bestimmter Gedanken oder das Abrufen bestimmter Erinnerungen. Eine erste Regulationsmöglichkeit besteht demnach darin, Situationen, die bestimmte äußerliche Auslöser enthalten oder innerliche Auslöser wachrufen, gezielt aufzusuchen oder zu vermeiden. Beispielsweise könnte der in Reaktion auf seine unruhige Klasse verärgerte Lehrer seinen Ärger dadurch reduzieren, dass er sich gar nicht mehr in die entsprechende Klasse begibt. 2. Ebene der Situationsveränderung: Hat man sich nun in eine Situation begeben, die Auslöser für unerwünschte Emotionen enthält oder in der Auslöser für erwünschte Emotionen fehlen, besteht die zweite Regulationsmöglichkeit darin, Einfluss auf die Situation zu nehmen und vorhandene Auslöser zu verändern oder in der Situation bisher nicht vorhandene Auslöser zu kreieren. So könnte der verärgerte Lehrer versuchen, mittels Techniken der Klassenführung die Unruhe in der Klasse zu reduzieren. 3. Ebene der Aufmerksamkeitslenkung: Der nächste Schritt bei der Entstehung einer Emotion besteht darin, dass die in der Situation vorhandenen Auslöser wahrgenommen werden. Wie wir in 7 Abschn. 2.2 zur Aufmerksamkeit gesehen haben, nehmen wir die gegenwärtige Situation nicht vollumfänglich wahr, sondern wählen mit Hilfe unserer Aufmerksamkeit bestimmte Ausschnitte aus. Eine dritte Regulationsmöglichkeit besteht demnach darin, vorhandene Auslöser gezielt in den Fokus der Aufmerksamkeit zu nehmen oder aus dem Fokus der Aufmerksamkeit hinauszuschieben. So könnte der verärgerte Lehrer versuchen, die Aufmerksamkeit weg von den störenden und hin zu den nicht störenden Schülern zu lenken. 4. Ebene der Situationsumdeutung: Hat man einen Auslöser wahrgenommen, besteht der nächste Schritt bei der Entstehung einer Emotion darin, dass die damit verbundenen Konsequenzen für die eigenen Bedürfnisse und Ziele abgeschätzt und bewertet werden. Wie wir in 7 Abschn. 2.1 und in 7 Abschn. 6.1 zur innerlichen Abbildung der Welt gesehen haben, sind unsere Wahrnehmungen nicht einfach nur Abbilder der real gegebenen Situation und unsere vermuteten Konsequenzen nicht einfach nur Abbilder realer Kausalitäten. Stattdessen interpretieren wir die wahrgenommenen Auslöser im Lichte unserer Wahrnehmungsgewohnheiten und leiten daraus Konsequenzen aufbauend auf unseren Denkgewohnheiten ab. Eine vierte Regulationsmöglichkeit besteht demnach darin, die Situation aus einem neuen
199 8.1 · Die Fähigkeit der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment
Blickwinkel zu betrachten. Man kann dabei entweder versuchen den Auslöser auf eine neue Weise wahrzunehmen, neue mögliche Konsequenzen abzuleiten oder die Konsequenzen neu zu bewerten. Der verärgerte Lehrer könnte beispielsweise versuchen das Störungsverhalten bestimmter Schüler in seiner Klasse so zu sehen, dass dieses in Wirklichkeit gar nicht gegen ihn und seinen Unterricht gerichtet ist, sondern dass problematische familiäre Hintergründe oder Entwicklungsdefizite auf Seiten der Schüler dahinterstecken. 5. Ebene der Einflussnahme auf Emotionskomponenten: Wird ein wahrgenommener Emotionsauslöser nicht umgedeutet, besteht der nächste Schritt darin, dass die Emotion ausgelöst wird und der Organismus in den entsprechenden emotionsbedingten Systemzustand geht. Auf dieser Ebene gibt es schließlich noch eine fünfte Regulationsmöglichkeit. Man kann sich hierfür eine Eigenschaft unserer Emotionen zu Nutze machen, die wir schon im Kasten zum sogenannten „Körperpanzer“ in 7 Abschn. 5.4.1 kennengelernt haben: Man kann versuchen den emotionalen Gesamtzustand dadurch zu verändern, dass man eine der Emotionskomponenten ändert. Der verärgerte Lehrer könnte also versuchen durch die Anwendung einer Entspannungstechnik seine emotionsbedingte physiologische Erregung zu vermindern und darüber seinen Ärger zu reduzieren. 6. Ebene des Aushaltens im Moment: Bei der letzten Ebene handelt es sich eigentlich gar nicht um eine Regulationstechnik im engeren Sinne. Wenn man bemerkt, dass bestimmte Regulationsversuche im gegenwärtigen Moment keine Früchte tragen, ist es schließlich wichtig auch tolerieren zu können, eine eigentlich unerwünschte Emotion gegenwärtig zu erleben. Handelt es sich um eine unangenehme Emotion, sind Strategien hilfreich, die einem helfen, diese trotzdem auszuhalten. Das Tolerieren einer unangenehmen Emotion kann verhindern, dass man über die erlebte Emotion nachgrübelt oder meta-emotionale Reaktionen wie beispielsweise Schuldgefühle erlebt, was die unerwünschte emotionale Reaktion verlängern oder sogar verstärken kann (Singer und Dobson 2007).
In den folgenden Abschnitten wollen wir auf jede Ebene genauer eingehen und die jeweiligen Strategien hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile beleuchten. Emotionsunterdrückung
„Eine manchmal zu findende Strategie im Umgang mit Emotionen besteht im Versuch, Emotionen dadurch zu regulieren, dass man sie verleugnet und so tut, als wären sie nicht da. In zahlreichen Studien hat sich allerdings gezeigt, dass der Versuch einer solchen Emotionsunterdrückung paradoxerweise emotionale Reaktionen verstärken und mit dysfunktionalen Konsequenzen verbunden sein kann. Fordert man beispielsweise Personen auf zu versuchen, ihre emotionalen Reaktionen nach außen nicht zu zeigen (Emotionsausdrucksunterdrückung), steigt die emotional bedingte physiologische Er-
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200
Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
regung an (Gross und L evenson 1997), das emotionsauslösende Ereignis kann danach schlechter erinnert werden (Richards und Gross 2000) und man wird von sozialen Interaktionspartnern weniger gemocht (Butler et al. 2003). Ein generelles Unterdrücken des Emotionsausdrucks kann langfristig mit weniger engen und weniger positiven sozialen Beziehungen einhergehen und dazu führen, dass über die Zeit hinweg mehr unangenehme und weniger angenehme Emotionen erlebt werden (Gross und John 2003). Auch auf der Ebene der Untedrückung der erlebten Gefühle gibt es ähnliche Befunde. Wie wir in 7 Abschn. 5.4.1 zu den Wirkungen auf der Gefühlsebene gesehen haben, gibt es Personen, welche ihre emotionalen Reaktionen auf der Gefühlsebene verdrängen, um diese nicht bewusst erleben zu müssen. Wie dort beschrieben, beeinträchtigt das aber den Zugang zu den eigenen emotionalen Dynamiken, was den funktionalen Umgang mit Emotionen erschweren kann. So zeigen beispielsweise Studien, dass solche Personen ein erhöhtes Risiko haben, an Krankheiten wie Bluthochdruck zu leiden (Mösing 2016). Um einer Emotionsunterdrückung entgegenzuwirken, ist eine bestimmte Grundeinstellung hilfreich: Die Einstellung, dass Gefühle – unabhängig davon, ob es sich um angenehme oder unangenehme Gefühle handelt – eine wichtige Informationsquelle über unseren momentanen inneren Zustand sind. Prägnant formuliert wird das im für Kinder entwickelten und bereits in 7 Abschn. 5.1 erwähnten emotionalen Kompetenztraining „PFADE – Programm zur Förderung Alternativer Denkstrategien“ (Greenberg und Kusche 2006). Einer der vier über dem Training stehenden Leitsätze lautet:
8
»»
Gefühle sind wichtige Signale!
Einer solchen Einstellung stehen allerdings manchmal gegenteilige Einstellungen entgegen, beispielsweise, dass Emotionen allgemein unerwünscht und schädlich sind. Solche Glaubenssätze stammen oft aus der Kultur, in der man aufgewachsen ist. So findet sich in unserer Kultur häufig der Glaubenssatz, das Erleben von Gefühlen sei insbesondere bei Männern ein Zeichen von Schwäche, sichtbar an Redewendungen wie ‚Indianer kennen keinen Schmerz‘. Einen hörenswerten Beitrag zu kulturellen emotionalen Glaubenssätzen mit dem Titel ‚Kulturen im Gefühlscheck: Indianerherz oder Jammerlappen?‘ lief kürzlich im Radiosender Bayern 2 ((Mösing 2016), anhörbar unter:
7 https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/radiowissen/kultur-gefuehlemotion-100.html).“
>>Wichtig! Übungen zur Reflexion der eigenen zumeist verwendeten Emotionsregulationsstrategien finden sich im zweiten Teil des Buches im Kapitel Emotionsregulation in 7 Abschn. 13.1.1, darunter ein Papier-und-Bleistift Tagebuch und ein digitales Tagebuch zur Erkundung der eigenen Regulationsgewohnheiten.
8.1.1 Situationsselektion
Bei der Situationsselektion wird versucht, Emotionen dadurch zu regulieren, dass man Situationen, die unerwünschte Emotionen auslösen, verlässt oder präventiv vermeidet, und Situationen, die erwünschte Emotionen auslösen, aufrechterhält oder gezielt aufsucht.
201 8.1 · Die Fähigkeit der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment
„Ich will hier raus!“
„Ich möchte nicht verleugnen, dass mir während meines Arbeitstages an der Schule dieser Gedanke auch schon einmal in den Kopf geschossen ist. Nicht häufig, aber ich kann mich gut an einmal erinnern, als eine „von oben“ vorgenommene Reform erst sehr kurzfristig eingeführt und dann nach einer mühsamen Umstellungsphase wieder genauso kurzfristig zurückgenommen wurde. Aber selbst wenn der Gedanke auftaucht, ist es als Lehrkraft doch meistens nicht einfach oder gar unmöglich aufwühlende Situationen zu verlassen.“
Wie die Ausführungen des Lehrers im vorhergehenden Kasten anklingen lassen, scheint eine Regulation von Emotionen mittels Situationsselektion nicht immer funktional zu sein. Im von Robert geschilderten Beispiel würde das für Robert im Extremfall bedeuten, dass er seinen Beruf aufgeben müsste. Wovon könnte es abhängen, ob eine Situationsselektion funktional ist oder nicht? Hierzu muss man sich die Konsequenzen ansehen, die mit einer Vermeidung bzw. einem gezielten Aufsuchen bestimmter Situationen zur Regulation von Emotionen verbunden sind: Werden dadurch Aspekte verpasst, die für das Fortkommen der eigenen Person über das momentane Erleben bestimmter Emotionen hinaus wichtig sind? Wenn ja, dann verhindert eine solche Art der Emotionsregulation das Fortkommen und ist damit nicht funktional. Ein Beispiel wäre ein Kind, das an ein Spielzeug kommen möchte, das in einem dunklen angstauslösenden Keller steht. Wenn das Kind nicht in den Keller geht, hat es zwar keine Angst, kommt aber auch nicht an sein erwünschtes Spielzeug. Langfristig betrachtet können sich also aus solchen Vermeidungsstrategien unangenehme Teufelskreise ergeben, welche die Entwicklung beeinträchtigen können. Ein solcher Teufelskreis ist in . Abb. 8.2 am Beispiel der Entstehung von sozialen Ängsten illustriert. Ein Kind hat Angst vor Situationen, in denen es mit anderen Kindern interagieren muss. Um diese Angst zu regulieren, beginnt das Kind, soziale Situationen zu meiden. Die Konsequenz ist, dass das Kind keine sozialen Kompetenzen erwirbt, welche für die Interaktion mit anderen Kindern wichtig sind. Dies führt dazu, dass das Kind noch größere Ängste vor sozialen Situationen entwickelt, diese noch stärker meidet, damit noch weniger soziale Kompetenzen erwirbt usw. Das Beispiel der sozialen Angst zeigt aber auch, dass zur Bewertung der Funktionalität einer Emotionsregulation mittels Situationsselektion noch ein zweiter Aspekt
.. Abb. 8.2 Der Teufelskreis der sozialen Angst
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
wichtig ist: Das Meiden sozialer Situationen mag zwar für den Aufbau von sozialen Kompetenzen hinderlich sein. Allerdings wird das Kind auch nur dann vom Hineingehen in soziale Situationen profitieren, wenn es dort keine schlimmen Erfahrungen macht. Selbst wenn für die persönliche Weiterentwicklung das Hineingehen in eine Situation eigentlich erforderlich ist, kann also eine Emotionsregulation mittels Situationsvermeidung trotzdem funktional sein, und zwar dann, wenn die Anforderungen der Situation das eigene aktuelle Kompetenzniveau überfordern. Mentale Situationsselektion
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„Manchmal passiert es, dass in Situationen, in denen eine körperliche Vermeidung oder ein körperliches Aufsuchen einer Situation in der Realität nicht möglich ist, eine mentale Situationsvermeidung versucht wird. Mein Zahnarzt setzt diese Technik beispielsweise ganz gezielt ein: Liegt man in dessen Praxis im Zahnarztstuhl, blickt man an der Decke auf ein Bild einer wunderschönen Berglandschaft, welche die Gedanken der Patienten zu einer mentalen Reise anregen soll, während man die anstehende Bohrung über sich ergehen lässt. Solche mentalen Vermeidungsstrategien kennt man auch in Bezug auf den Umgang mit traumatischen Ereignissen wie beispielsweise Missbrauchserfahrungen. Um die schlimmen Erfahrungen im gegenwärtigen Moment nicht wahrnehmen zu müssen, kann eine mentale Flucht in eine Phantasiewelt erfolgen. Man erlebt sich dann beispielsweise wie ein außenstehender Beobachter des Geschehens oder malt sich innerlich eine zweite ‚Realität‘ aus (Van der Kolk et al. 1996). Allerdings zeigen sich dort auch die Nachteile einer solchen mentalen Situationsvermeidung: Aufgrund der fehlenden Wahrnehmungen im Moment, kann das tatsächliche Geschehen danach kaum noch bewusst erinnert werden, was der Verarbeitung des Ereignisses dann im Wege stehen kann. Ähnlich wie bei der körperlichen Situationsvermeidung gilt es also auch hier abzuwägen, wann eine mentale Situationsvermeidung funktional ist und wann nicht. Was man auch häufig beobachtet ist ein mentales Aufsuchen von Situationen: Man denke an Träume – beispielsweise an die gedankliche Realitätserschaffung eines Verliebten. Auch diese Art der mentalen Situationsselektion kann funktional sein oder nicht. Wird diese Technik beispielsweise benutzt, um Vorfreude auf ein Ereignis zu generieren, erscheint das funktional zu sein. Wenn es sich dagegen um ein illusionäres Ausmalen von sehr unwahrscheinlich eintretenden Ereignisse handelt, scheint das eher wenig funktional zu sein, hier sind eher realistischere Vorhersagen in Bezug auf das längerfristige Wohlbefinden günstiger (Quoidbach et al. 2015). Das mentale Reisen hin zu Ereignissen, in denen eine angenehme Emotion früher auftrat oder in der Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder auftreten wird, kann auch dazu eingesetzt werden, um eine momentan erlebte angenehme Emotion zu intensivieren und zu verlängern (Positive Mental Time Travel). Allerdings gibt es hier auch das Gegenstück, wenn Personen sich trotz des Erlebens einer angenehmen Emotion unangenehme in der Zu-
203 8.1 · Die Fähigkeit der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment
kunft liegende Konsequenzen mental ausmalen (Negative Mental Time Travel), wie beispielsweise, dass ein schönes Ereignis nicht ewig andauern wird, wodurch eine als angenehm empfundene Emotion abgeschwächt werden kann (Nelis et al. 2011).“
>>Wichtig! Im zweiten Teil des Buches finden sich Übungen zur Situationsselektion zusammen mit Übungen zur Situationsveränderung unter 7 Abschn. 13.1.2, darunter eine Übung zum „Positive Mental Time Travel“.
8.1.2 Situationsveränderung
Die Regulationsstufe der Situationsveränderung beruht auf dem Prinzip, eine gegebene Situation so zu verändern, dass eine unerwünschte Emotion abgeschwächt oder gar nicht mehr ausgelöst wird oder eine erwünschte Emotion verstärkt oder ausgelöst wird. Situationsveränderung im Klassenzimmer
„Ich nutze solche Regulationsstrategien oft im Klassenzimmer. Wenn ich beispielsweise bemerke, dass sich Langeweile unter den Schülern ausbreitet, habe ich immer ein paar nette themenbezogene Anekdoten in der Hinterhand um die Stimmung aufzulockern. Oder wenn ich bemerke, dass zwei Schüler sich gegenseitig in ihrem Störungsverhalten hochschaukeln, so setze ich diese auseinander.“
Bei beiden im Kasten geschilderten Beispielen reguliert der Lehrer das Auftreten von Emotionen, indem er den in der Situation vorhandenen emotionsrelevanten Auslösereiz – den die Schüler langweilenden Unterricht bzw. das sich hoch schaukelnde Störungsverhalten – verändert. Die Möglichkeiten zur Situationsveränderung im Schulalltag sind sehr zahlreich und können von Person zu Person unterschiedlich sein. Um beispielsweise das Erleben von Freude in einer Schulstunde herbeizuführen, könnte man einen Witz erzählen, ein lustiges Verhalten zeigen, einen Schüler loben, eine überraschende Aussage über sich selbst treffen, eine gelungene Tafelanschrift anfertigen, einen unverstandenen Inhalt gut erklären, einem Schüler eine persönliche Frage stellen und dadurch etwas Interessantes erfahren, eine unmotivierte Schülerin motivieren, einem Schüler helfen, mit der Klasse über ein in der Zukunft liegendes schönes Ereignis sprechen, mit der Klasse in gemeinsamen schönen Erinnerungen schwelgen, ein gemeinsames Morgenritual durchführen, mit der Klasse zusammen Zukunftspläne schmieden … Förderlich für die Anwendung der Strategie der Situationsveränderung sind vor allem zwei persönlichkeitsbezogene Charakteristika: Eine erste hilfreiche Voraussetzung ist ein Attributionsstil, bei dem die Ursachen von Emotionen als kontrollierbar eingeschätzt werden, und eine hohe Selbstwirksamkeitsüberzeugung – also die Über-
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
zeugung, eine erwünschte Situationsveränderung auch zuverlässig durch das eigene Handeln herbeiführen zu können (7 Abschn. 6.2.2.2). Wenn man nicht davon überzeugt ist, einen Witz gut erzählen zu können, wird der Witz nicht gut. Eine zweite hilfreiche Voraussetzung ist eine hohe pädagogische Kompetenz – also ein umfassender pädagogischer „Werkzeugkoffer“ gepaart mit einem reichhaltigen Erfahrungswissen zur betroffenen Situation. Beide Aspekte gilt es über die Zeit hinweg aufzubauen, worauf wir im Abschnitt zur Veränderung der emotionalen Reaktionsgewohnheiten noch eingehen werden (7 Abschn. 8.2). Wichtig ist noch, auf eine häufige Verwechslung hinzuweisen: Bei der Regulationsstufe der Situationsveränderung geht es darum, mittels bestimmter Verhaltensweisen das Auftreten einer Emotion durch eine Einflussnahme auf die Auslösereize einer Emotion zu regulieren. Verhaltensweisen, welche von der Emotion erst aktiviert werden, um die von der Emotion signalisierten drohenden Konsequenzen zu verhindern oder die in Aussicht stehenden Konsequenzen zu erreichen, fallen nicht unter die Regulationsstufe der Situationsveränderung. Wenn eine Lehkraft zwei sich gegenseitig aufschaukelnde Schüler auseinandersetzt, handelt es sich um eine Regulation auf der Stufe der Situationsveränderung. Wenn der Lehrer die Schüler anbrüllt, um für Ruhe zu sorgen, ist das keine Emotionsregulation, sondern eine Verhaltenskonsequenz der Emotion.
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Die Unannehmlichkeit des Wartens
„Ich möchte noch ein abschließendes Beispiel schildern. Vor kurzem hatte ich eine Reise gebucht und war deshalb an Bord eines Flugzeugs, dass aufgrund eines Gewitters nicht starten konnte. Diese Situation löste bei mir zunächst unangenehme Emotionen wie Frust, Genervtheit und Ärger aus. Ich beschloss dann aber, die Wartezeit im Flugzeug für das Lesen eines wichtigen Buchkapitels zu verwenden, was ich sowieso außerhalb meiner regulären Arbeitszeiten hätte tun müssen. Somit hatte ich die Situation erfolgreich so verändert, dass keinerlei Ärger oder Genervtheit auftraten. Im Gegenteil, ich war sogar recht zufrieden damit, endlich in Ruhe besagtes Buchkapitel lesen zu können.“
8.1.3 Aufmerksamkeitslenkung
Wie wir in 7 Abschn. 5.4.2.3 und 6.2.1 gesehen haben, nehmen wir sowohl die äußere Situation als auch uns selbst aufgrund unserer begrenzten Kapazität der Aufmerksamkeit nicht in ihrer tatsächlichen Gesamtheit wahr, sondern legen den aktuellen Aufmerksamkeitsfokus nur auf einige wenige Situationsmerkmale („Arbeitsgedächtnis“) bzw. einen Teilausschnitt unseres eigentlichen Selbstbildes („Arbeitsselbst“). Dadurch ergibt sich ein Spielraum, den man strategisch zur Emotionsregulation nutzen kann: Man kann versuchen, gezielt mit dem aktuelen Aufmerksamkeitsfokus zu arbeiten, und diesen entwedder weg von Aspekteen zu lenken, wälche unerwünschte Emotionen auss
205 8.1 · Die Fähigkeit der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment
lösen bzw. hin zu Asppekten, welche erwüünschte Emotionen auslösen. Möglicherweise haben Sie genau das während des Lesens des letzten Satzes gemacht – vielleicht haben Sie Ihre Aufmerksamkeit weg von den Rechtschreibfehlern gelenkt, über die Sie sich vielleicht zunächst geärgert haben, hin zu den inhaltlichen Aussagen des Textes, sodass Ihr Ärger wieder verschwunden ist. Bei der Emotionsregulation mittels Aufmerksamkeitslenkung kann man zwischen zwei verschiedenen Ebenen der Regulation unterscheiden: Einer Aufmerksamkeitslenkung auf der Ebene der äußeren Situationsmerkmale und einer Aufmerksamkeitslenkung der Ebene des inneren Welt- und Selbstbildes. zz Situationsmerkmale
Auf der Ebene der Situationsmerkmale geht es darum, den Aufmerksamkeitsfokus gezielt weg von Objekten oder Personen in der Situation zu schieben, welche unerwünschte Emotionen auslösen bzw. hin zu Objekten oder Personen, welche erwünschte Emotionen auslösen. Wie in 7 Abschn. 5.4.2.1 beschrieben und in . Abb. 5.15 illustriert, gibt es hier allerdings ein in uns eingebautes Hindernis: Situationsmerkmale, die unangenehme Emotionen auslösen, ziehen stärker die Aufmerksamkeit auf sich, als Situationsmerkmale, die angenehme oder keine Emotionen auslösen. Hier ist es wichtig, sich in emotionalen Situationen immer bewusst zu machen, dass Dinge, die unangenehmen Emotionen auslösen, Aufmerksamkeitsmagneten sind. Man kann dann versuchen, die Aufmerksamkeit gezielt auch auf andere anwesende Dinge zu lenken. Hilfreich kann weiterhin sein, es sich zur Gewohnheit zu machen, eine Situation zunächst möglichst reichhaltig wahrzunehmen, bevor man den ausgelösten Emotionen anfängt Raum zu geben.
Aufmerksamkeitslenkung im Klassenzimmer
„Hier kommt mir das Beispiel der Lehrkraft aus 7 Abschn. 5.1 in den Kopf, die sehr verärgert auf die als laut wahrgenommene Klasse reagiert und sich eine besonders laute Schülerin herauspickt und fertigmacht. Auffällig an der Beschreibung der Lehrkraft ist, dass sie meint, die ganze Klasse sei laut. Möglicherweise ist aber nur ein Teil der Schüler für die hohe Lautstärke im Klassenzimmer verantwortlich, während andere eher ruhig sind oder sich erwünscht verhalten. Vielleicht bemerkt die Lehrkraft das nur nicht, weil die Störer so stark die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und andere Schüler in die Gesamtwahrnehmung der Klasse gar nicht mit einbezogen werden. Um die erlebte Emotion zu regulieren, könnte die Lehrkraft also versuchen, die Aufmerksamkeit auf die Aspekte der Situation zu lenken, die im Widerspruch zur momentanen Gesamtwahrnehmung der Klasse stehen. Hilfreich hierfür wäre, den verengten Scheinwerferkegel der Aufmerksamkeit (7 Abschn. 5.4.2.1) zu erweitern, sodass auch andere Merkmale der Situation ins Bewusstsein dringen. Ich kenne das auch aus meinem eigenen Unterricht: Mir ist sehr wichtig, dass mein Unterricht von den Schülern als hilfreich und interessant wahrgenommen wird. Dementsprechend reagiere ich auf das Erkennen gelangweilter oder uninteressierter Schüler häufig mit Ärger. Aufgrund der Aufmerksamkeitsverzerrung in Richtung unangeneh
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
mer Schüler könnte es sein, dass mein Ärger intensiver ausfällt, als es vielleicht mit Blick auf die gesamte Klasse angebracht wäre. Um diesen Ärger zu vermeiden, könnte ich versuchen, meinen Aufmerksamkeitsfokus weg von Schülern mit gelangweiltem oder uninteressiertem Gesichtsausdruck zu lenken und stattdessen netten und motivierten Schülern besonders viel und gezielt Aufmerksamkeit zu schenken.“
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Es gibt allerdings eine Grenze der Regulation von Emotionen über die gezielte Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Situationsmerkmale. Die automatische Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Ereignisse, welche unangenehme Emotionen auslösen, hat sich nicht ohne Grund im Laufe der Evolution entwickelt: Solche Ereignisse erfordern oft ein dringliches Handeln, so dass eine Fokussierung darauf durchaus Sinn ergibt und manchmal gar nicht umgangen werden kann. So kann beispielsweise ein Abwenden der Aufmerksamkeit von einem störenden Schüler dessen Störungsverhalten verstärken, wenn das eigentliche Ziel des Störungsverhaltens war, die Aufmerksamkeit der Lehrkraft auf sich zu ziehen. Hier ist es wichtig sich die Frage zu stellen, welche Wirkungen eine Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus über die Veränderungen auf emotionaler Ebene hinaus mit sich bringt, und sensibel den Nutzen auf der emotionalen Ebene gegenüber möglichen Kosten auf anderen Ebenen abzuwägen. zz Welt- und Selbstbild
Auf der Ebene des inneren Welt- und Selbstbildes geht es darum, den Aufmerksamkeitsfokus gezielt weg von Inhalten des eigenen Welt- und Selbstbildes zu schieben, welche unerwünschte Emotionen auslösen bzw. hin zu Inhalten des eigenen Weltund Selbstbildes, welche erwünschte Emotionen auslösen. Eine Person, die ihren Aufmerksamkeitsfokus beispielsweise häufig auf persönlich als unangenehm empfundene Eigenschaften legt, wird vermutlich vermehrt unangenehme Emotionen wie Traurigkeit, Enttäuschung oder Frustration erleben. Eine Person hingegen, die den persönlichen Eigenschaften mehr Aufmerksamkeit schenkt, die sie an sich mag, wird vermutlich eher Freude, Interesse oder Neugierde empfinden. Die momentane Blindheit des sozialen Vergleichs
„Eine eindrückliche Geschichte hierzu ist mir aus einer Fortbildung zum Thema Selbstwert und Persönlichkeitswachstum im Gedächtnis geblieben. Eine Teilnehmerin hatte dort erzählt, dass sie sich manchmal schlecht fühlt, wenn sie bemerkt, dass jemand eine bestimmte Eigenschaft hat, die man auch gerne haben möchte. Eine andere Teilnehmerin meinte daraufhin, dass sie dies auch kenne, also z. B. festzustellen: „Wow, die Komillitonin kann aber viel eloquenter reden als ich.“ Die Person fuhr dann fort, dass sie aber in solchen Fällen eine bestimmte Strategie anwendet: Die Strategie, sich nicht nur hinsichtlich dieser bestimmten Eigenschaft zu vergleichen, sondern auch hinsichtlich weiterer Eigenschaften, die sie persönlich ausmachen. Und noch nie sei sie
207 8.1 · Die Fähigkeit der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment
dann zu dem Ergebnis gekommen, dass man bei der Betrachtung der Summe aller Eigenschaften wirklich mit dem anderen hätte tauschen wollen. Der Fallstrick unseres psychischen Systems, auf den man hier stößt, wird Fokussierungsillusion genannt und wurde in zahlreichen Studien nachgewiesen. In einer Studie der Psychologen David Schkade und Daniel Kahneman (Schkade und Kahneman 1998) wurden beispielsweise knapp 2000 US-amerikanische Studierende aus dem mittleren Westen und aus Kalifornien gefragt, wie zufrieden sie mit ihrem eigenen Leben sind, und wie zufrieden sie meinen, dass ein ihnen ähnlicher Student an einer anderen Universität mit seinem Leben ist. Es zeigte sich ein paradoxes Ergebnis: Während die selbstbeurteilte Lebenszufriedenheit zwischen im Mittleren Westen und in Kalifornien studierenden Studenten in Wirklichkeit exakt gleich war, wurde unabhängig vom Studienort vermutet, dass ein kalifornischer Student glücklicher ist als ein im Mittleren Westen studierender Student. Genauere Analysen zeigten, dass für die Vermutung der höheren Lebenszufriedenheit von kalifornischen Studenten vor allem auf das bessere Klima in Kalifornien verwiesen wurde – obwohl dieses bei der tatsächlichen Beurteilung der eigenen Lebenszufriedenheit kaum eine Rolle spielt. Von Daniel Kahneman wurde die Fokussierungsillusion in folgenden prägnanten Merksatz gefasst (zit. nach (Doebelli 2017)):
»» Nichts im Leben ist so wichtig, wie Sie denken, während Sie darüber nachdenken. Nachfolgende Studien haben gezeigt, dass einer solchen Fokussierung dadurch entgegengewirkt werden kann, dass man sich das Leben einer Person in seiner individuellen Reichhaltigkeit bewusst macht (z. B. (Ayton et al. 2007)) – also genau mittels der Strategie, welche die Teilnehmerin in der Fortbildung vorgeschlagen hatte.“
Auf der Ebene des Selbstbildes kann es also hilfreich sein, es sich zur Gewohnheit zu machen, sich selbst möglichst reichhaltig wahrzunehmen, bevor man den ausgelösten Emotionen anfängt Raum zu geben. Hinsichtlich des emotionalen Wohlergehens erscheint es dabei generell von Vorteil zu sein, die Aufmerksamkeit auf die eigenen Interessen, Stärken und Fähigkeiten zu lenken und den als unerwünscht empfundenen persönlichen Eigenschaften eher bedingt im notwendigen Maß Aufmerksamkeit zu schenken. Allerdings treffen wir auch hier auf eine ähnliche Grenze wie bei der Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus auf der Ebene der Situationsmerkmale: Es gilt auch hier sensibel abzuwägen, inwiefern der emotionale Nutzen des Verschiebens der Aufmerksamkeit weg von den empfundenen persönlichen Schwächen hin zu den Stärken möglicherweise mit Kosten auf der Ebene der persönlichen Weiterentwicklung einhergeht. >>Wichtig! Im zweiten Teil des Buches finden sich Übungen zur Aufmerksamkeitslenkung im Kapitel zur Emotionsregulation in 7 Abschn. 13.1.3, darunter eine Übung, die spezifisch für den Kontext Klassenzimmer entwickelt wurde.
8.1.4 Situationsumdeutung
Wie wir in 7 Kap. 2 zur Wahrnehmung gesehen haben, funktioniert unsere Wahrnehmung nicht wie eine Kamera, die eine Situation einfach nur passiv abbildet. Stattdessen interpretieren wir die von unseren Sinnesorganen aufgezeichneten perzeptuel
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
len Bausteine mit Hilfe unserer mentalen bildlichen und begrifflichen Landkarten, welche unsere Vorannahmen über die Welt widerspiegeln. Auch hier ergibt sich ein Spielraum, mittels dessen wir Einfluss auf unsere emotionalen Reaktionen nehmen können: Wir können versuchen, eine zunächst auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommene Situation neu wahrzunehmen und neu zu interpretieren. Wir wollen uns zur Illustration ein eindrückliches Beispiel im folgenden Kasten ansehen: Die Kraft der neuen Sichtweise
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In einer Lehrerfortbildung hat ein Dozent kürzlich zur Illustration der Wirksamkeit der Situationsumdeutung eine eindrückliche Geschichte erzählt, die für mich wirklich augenöffnend war. Seitdem nehme ich störende Schüler in meinem Unterricht tatsächlich mit neuen Augen wahr (aus Covey (1996), S. 26):
»» „Ich fuhr an einem Sonntagvormittag in der U-Bahn. Die Passagiere saßen still
da, manche lasen Zeitung, andere waren in Gedanken verloren, einige hatten die Augen geschlossen und ruhten sich aus. Es war eine ruhige, friedliche Szene. Dann stieg ein Mann mit seinen Kindern ein. Die Kleinen waren laut und ungestüm. Die ganze Stimmung änderte sich abrupt. Der Mann setzte sich neben mich und machte die Augen zu. Er nahm die Situation offenbar überhaupt nicht zur Kenntnis. Die Kinder schrien herum, warfen Sachen hin und her, zerrten sogar an den Zeitungen der anderen Fahrgäste herum. Sie waren sehr störend. Aber der Mann neben mir tat gar nichts. Es war schwierig, nicht davon irritiert zu sein. Ich konnte nicht fassen, dass er so teilnahmslos war, dass er seine Kinder dermaßen herumtoben ließ und nichts dagegen tat, überhaupt keine Verantwortung übernahm. Mit aus meiner Sicht ungewöhnlicher Geduld und Zurückhaltung sprach ich ihn schließlich an: Ihre Kinder stören wirklich sehr viele Leute hier. Könnten Sie nicht vielleicht ihre Kinder etwas mehr unter ihre Kontrolle bringen? Der Mann hob die Augen, als ob er sich zum ersten Mal der Situation bewusstwürde, und sagte leise: Oh, Sie haben recht. Ich sollte etwas dagegen tun. Wissen Sie, wir kommen gerade aus dem Krankenhaus, wo ihre Mutter vor einer Stunde gestorben ist. Ich weiß überhaupt nicht, was ich denken soll, und die Kinder haben vermutlich auch keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollen.“
Insgesamt gibt es dabei drei aufeinanderfolgende Ebenen, auf denen man versuchen kann, eine neue Sichtweise herzustellen. Als erstes kann man versuchen, die Wahrnehmung des emotionsauslösenden Ereignisses selbst zu verändern: Man kann unerwünschte Emotionen auslösende Objekte oder Personen in einem Licht sehen, das diese Emotionen nicht mehr auslöst, bzw. Objekte oder Personen, die bislang erwünschte Emotionen nicht auslösen, in einem Licht sehen, das diese Emotionen auslöst. Lässt sich die Wahrnehmung der Situation selbst nicht verändern, kann man im nächsten Schritt versuchen, die sich aus einer wahrgenommenen Situation ergebenden möglichen Konsequenzen zu hinterfragen und neue Konsequenzen in Betracht zu
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ziehen, welche unerwünschte Emotionen reduzieren bzw. erwünschte Emotionen hervorrufen. Lassen sich keine neuen Konsequenzen ableiten, kann man in einem dritten Schritt versuchen, die Bewertung von Konsequenzen zu hinterfragen und diese neu zu bewerten, sodass unerwünschte Emotionen reduziert bzw. erwünschte Emotionen hervorgerufen werden. Im Folgenden wollen wir die drei Ebenen der Situationsumdeutung genauer betrachten. 8.1.4.1 Emotionsauslösende Objekte neu wahrnehmen
Die erste Ebene, auf der man versuchen kann eine Situationsumdeutung herbeizuführen, besteht darin, die anfängliche Wahrnehmung des emotionsauslösenden Objektes zu verändern. Wir wollen diese Ebene kurz anhand eines Selbstversuchs illustrieren. ►►Selbstversuch
Betrachten Sie kurz und oberflächlich das folgende Bild. Was sehen Sie?
Urheber: Charles AllanGilbert (1873-1929)
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
Vermutlich haben Sie zunächst einen Totenkopf wahrgenommen, was möglicherweise unangenehme Emotionen ausgelöst hat. Blickt man nun genauer hin, entdeckt man, dass das Bild auch einen ganz anderen Inhalt enthält: Eine Frau, die sich im Spiegel betrachtet. Hätten Sie diesen Bildinhalt entdeckt, wenn Sie im Alltag kurz auf das Bild geblickt hätten? ◄
Vielleicht wirkt dieser Selbstversuch auf Sie etwas künstlich und alltagsfern. Allerdings findet sich ein ähnlicher Mechanismus im Alltag recht häufig. Der Grund ist die Funktionsweise unseres emotionalen Systems: Wie wir in 7 Abschn. 5.2.2 zu unseren Basisemotionen gesehen haben, werden bei der Auslösung evolutionär alter Emotionsprogramme wie beispielsweise „Angst“ die eingehenden Sinnessignale nur sehr grob ausgewertet, sodass beispielsweise bereits das schlangenförmige Muster eines Gartenschlauchs eine Angstreaktion auslösen kann. Würde man den Gartenschlauch genauer betrachten, könnte man die anfängliche irreführende Wahrnehmung erkennen, sodass sich die Angstreaktion nicht weiter verstärkt, sondern wieder verschwindet. Ein häufiges Problem ist aber, dass wir im Alltag und insbesondere in emotionalen Situationen oft dem ersten Wahrnehmungseindruck folgen. So wäre man im Beispiel des Gartenschlauchs möglicherweise längst weggerannt, weshalb man gar nicht mehr wahrnehmen kann, dass in Wirklichkeit keine Schlange im Gras lag. Allgemein hilfreich ist hier, sich eine neue Wahrnehmungsgewohnheit zuzulegen – den „zweiten Blick“: Also nicht einfach dem ersten Wahrnehmungseindruck eines emotionsauslösenden Objekts zu folgen und sofort darauf zu reagieren, sondern stattdessen ein zweites Mal hinzublicken und zu überlegen, wie man das Objekt möglicherweise auch noch wahrnehmen könnte. Durch die neue Wahrnehmung können sich die anfänglich angesprochenen Bedürfnisse und Ziele und ausgelösten Gedanken verändern, was wiederum mit einer eventuellen Veränderung der zunächst ausgelösten Emotionen einhergehen kann. Während allein schon ein zweiter Blick hilfreich für die Regulation emotionaler Reaktionen sein kann, wollen wir im Folgenden noch drei spezifischere Emotionsregulationsstrategien genauer vorstellen, welche Varianten des „zweiten Blicks“ darstellen und hilfreich für eine neue, veränderte Wahrnehmung emotionsauslösender Objekte sein können: Perspektivübernahme, Humor und Distanzierung.
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zz Perspektivübernahme
Ein Beispiel zur Strategie der Perspektivüberahme haben wir bereits weiter oben im Robert-Kasten bei der Schilderung des Vorfalls mit den störenden Kindern in der U-Bahn kennengelernt: Bei der Perspektivübernahme versucht man, sich in die an der Situation beteiligten Personen hineinzuversetzen und die Situation aus deren Augen zu betrachten, ausgehend von deren in der Situation verfolgten Zielen, Motiven und Bedürfnissen. Das Ziel besteht dabei nicht darin, die eigene Sichtweise zu Gunsten der Ziele, Motive und Bedürfnisse anderer Personen hintanzustellen. Stattdessen geht es darum, eine erweiterte Sichtweise der Situation zu erreichen, was mit einer Veränderung der eigenen Ziele, Motive und Bedürfnisse einhergehen kann, was wiederum zu einer Verminderung von zunächst ausgelösten unerwünschten Emotionen bzw. einer Auslösung erwünschter Emotionen führen kann. Wir wollen das an einem konkreten Beispiel verdeutlichen:
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Die Zappelphilippine
„Ich denke an eine Schülerin, die ein furchtbarer Zappelphilipp war. Sie konnte einfach nicht stillsitzen, störte meinen Unterricht ständig dadurch, dass sie Ereignisse im Klassenzimmer kommentierte, sich umdrehte oder Dinge sehr lustig fand. Obwohl sie aufgrund dessen bereits in der ersten Reihe saß, änderte sich nichts an ihrem Verhalten. Ich nahm das Verhalten der Schülerin zuerst sehr persönlich, bis ich mit einer Kollegin darüber sprach. Diese Kollegin brachte mich darauf mir vorzustellen, wie es wäre, nicht stillsitzen zu können, aber aufgrund der Art und Weise, wie Schule abläuft, dazu gezwungen zu sein, stundenlang zu sitzen und zuzuhören. Dabei jedoch ständig die innere Unruhe und den Bewegungsdrang regulieren zu müssen – wie anstrengend das wohl sein müsse! Ich dachte darüber nach. Das Verhalten der Schülerin änderte sich dadurch natürlich nicht und ich versuchte weiterhin sie dazu zu bringen, im Unterricht dabei zu bleiben. Mir jedoch fiel es seit diesem Gespräch sehr viel leichter, die Schülerin wohlwollend zu betrachten und ich fühlte mich nicht mehr verärgert und auch nicht mehr persönlich angegriffen.“
Der Versuch, ein emotionales Ereignis aus den Augen anderer Beteiligter zu betrachten, ist ein sehr hilfreiches Werkzeug zur Emotionsregulation. So ist beispielsweise empirisch belegt, dass Personen mit einer stärkeren Tendenz zur Perspektivübernahme geringere Ärgerreaktionen auf soziale Provokationen zeigen (Mohr et al. 2007). Auf den ersten Blick scheint es aber eine zentrale Einschränkung zu geben: Eine Perspektivübernahme scheint als Emotionsregulationsstrategie nur dann anwendbar, wenn Emotionen innerhalb einer sozialen Situation entstehen. Allerdings kann man die Strategie der Perspektivübernahme auch auf Situationen übertragen, in denen keine anderen Personen anwesend sind: Man kann versuchen sich vorzustellen, wie denn andere Personen dasselbe emotionale Ereignis wahrnehmen würden, was ebenfalls hilfreich sein kann, um eine neue Sichtweise anzuregen. zz Humor
Um die Regulation von Emotionen mittels Humors kennenzulernen, wollen wir uns zunächst ansehen, wie eigentlich Witze funktioniern. Dazu wollen wir folgenden Witz genauer betrachten:
»» Patient: „Herr Doktor, in letzter Zeit habe ich nach dem Sex immer so ein Pfeifen im
Ohr!?“ Darauf der Doktor: „Was haben Sie denn in Ihrem Alter erwartet, Standing Ovations?“
Wie praktisch jeder klassische Witz setzt sich dieser Witz aus zwei Bestandteilen zusammen – einer „Complicatio“ und einer anschließenden „Pointe“. Bei der Complicatio wird zunächst eine Situation mit einer scheinbar einzigen Deutungsmöglichkeit geschildert, welche typischerweise eine unangenehme emotionale Spannung erzeugt. Die anschließende Pointe besteht darin, eine weitere überraschende Deutungsmög-
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lichkeit anzubieten mit dem Ziel, die anfänglich aufgebaute Spannung aufzulösen. Beim obigen Witz betrifft die Pointe die Umdeutung des Wortes „Pfeifen“: Während man dieses zunächst aufgrund des Kontextes im Sinne eines Tinnitus interpretiert (Complicatio), erfolgt im Zuge der Pointe eine neue Deutung im Sinne des akustischen Ausdrucks der Unzufriedenheit mit einer Leistung wie beispielsweise bei einem Fußballspiel oder Konzert. Lachen als ein seltsames Verhalten
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„Ein gelungener Witz bringt uns zum Lachen. Aber haben Sie sich schon einmal gefragt, warum wir hier ein so seltsames Verhalten an den Tag legen? Wir zeigen die Zähne, ziehen die Mundwinkel nach oben und stoßen seltsame kehlige Laute aus. Wie wir bereits in 7 Abschn. 5.4.5 gesehen haben, handelt es sich bei solchen emotionalen Gesichtsausdrücken nicht etwa um arbiträre Gesten, die sich zufällig in menschlichen Gemeinschaften zur nonverbalen Kommunikation entwickelt haben. Stattdessen dienen unsere emotionalen Gesichtsausdrücke bestimmten Funktionen. Aber welche Funktion soll das seltsame Verhalten beim Lachen haben? Des Rätsels Lösung: Man nimmt an, dass unsere Verhaltensweisen beim Lachen ihren evolutionären Ursprung in der Auflösung einer unangenehmen Spannung in sozialen Kontexten haben (Gervais und Wilson 2005). So soll das Hochziehen der Mundwinkel aus einer Drohgebärde heraus entstanden sein: Wenn zwei unserer evolutionären Vorfahren aufeinandertrafen, wurden zuerst die Zähne gefletscht um das Drohpotential zu signalisieren. Um dann die bedrohliche Situation zu entspannen, wurden die Mundwinkel einfach etwas weiter nach oben gezogen. Das Ausstoßen von kehligen Lauten wiederum soll sich als Signal der Entspannung auf der Ebene der Gruppe entwickelt haben. Der Gruppe wurde damit signalisiert: Eine vermutete Bedrohung trifft doch nicht zu – was als sehr angenehmes Signal empfunden wurde und damit mit der Zeit eine hohe soziale Wertschätzung erhalten hat. Unser Lachen hat seinen Ursprung also in den emotionalen Konsequenzen einer neuen Situationswahrnehmung: Eine zunächst als bedrohlich erscheinende Situation wird plötzlich nicht mehr als bedrohlich wahrgenommen.“
Humor zur Emotionsregulation einzusetzen entspricht genau der Funktionsweise eines Witzes. Wenn man sich in einer Situation befindet, die scheinbar nur eine einzige Deutungsmöglichkeit zulässt, die mit der Auslösung unangenehmer Emotionen verbunden ist, kann man versuchen, diese Situation auf eine überraschende Weise neu wahrzunehmen, mit dem Ziel, über die ausgelöste Lachreaktion die zunächst erlebten unangenehmen Emotionen zu regulieren. Fragt man sich, welche Anforderungen eine Emotionsregulation über Humor an eine Person stellt, entdeckt man, dass Humor viel mit einer anderen besonderen Fähigkeit zu tun hat: der Kreativität. Grundlegend für eine Regulation über Humor ist die Fähigkeit, Dinge in einem neuen und überraschenden Licht zu sehen. Diese Fähigkeit zu verbessern ist einer der Hauptinhalte von Trainings, in denen versucht,
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wird Humor zu fördern. So sind in einem der bekanntesten Humortrainings von Paul McGhee beispielsweise das Spiel mit Wörtern zur Entdeckung von Doppeldeutigkeiten und die Entdeckung neuer Sichtweisen in Alltagssituationen zentrale Trainingsbausteine (McGhee 1999), mit dem Ziel, diese kreativen Grundfähigkeiten dann in unangenehmen Situationen zur humorvollen Situationsumdeutung einsetzen zu können. Wir wollen das in folgendem Selbstversuch kurz üben: ►►Selbstversuch
Sie erinnern sich an den obigen Witz zum „Pfeifen“ und dem Tinnitus, bei dem das „Pfeifen“ als „Buh-Rufen“ umgedeutet wird? Fällt Ihnen in diesem Zusammenhang noch eine weitere Umdeutung des Wortes „Pfeifen“ ein? Die Lösung finden Sie am Ende des Abschnitts zum Thema Humor in (. Abb. 8.3). ◄
Zahlreiche Studien belegen, dass mittels einer humorvollen Situationsumdeutung unangenehme Emotionen sehr effektiv vermindert werden können (z. B. (Kugler und Kuhbandner 2015)). Der konkrete Wirkmechanismus wird dabei noch diskutiert (Ruch 2004): Da wir nicht gleichzeitig unangenehme und angenehme Emotionen empfinden können, verdrängen die durch die humorvolle Umdeutung ausgelösten angenehmen Emotionen möglicherweise die unangenehmen Emotionen. Weiterhin könnte der Versuch der humorvollen Umdeutung Aufmerksamkeitsressourcen binden, die dann nicht mehr für die Verarbeitung der unangenehmen Konsequenzen zur Verfügung stehen, was wiederum die damit verbundenen negativen Gedanken vermindert (für eine Illustration siehe . Abb. 8.4). Betrachtet man die angesprochenen Wirkmechanismen genauer, wird ein wichtiger Punkt klar: Anders als bei einer Situationsumdeutung mittels der Strategie der Perspektivübernahme, wird bei einer humorvollen Umdeutung einer Situation die ursprüngliche Situation nicht wirklich grundlegend neu gesehen. Stattdessen wird eine zweite Sichtweise entwickelt, welche die emotionalen Auswirkungen der ur
.. Abb. 8.3 Auflösung zum Selbstversuch zu „Pfeifen“ und Tinnitus
.. Abb. 8.4 Humor als Emotionsregulationsstrategie
Ich habe scheinbar einen Tinnitus im Auge. Ich sehe nur noch Pfeifen!
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sprünglichen Situation vermindert. Das ursprüngliche Problem bleibt also bestehen und es erfolgt nur eine emotionale Entlastung über die zusätzliche neue überraschende Sichtweise. Würde man wie oben mit einem Tinnitus zum Arzt gehen und dieser würde den Witz mit den „Standing Ovations“ machen, würde das an der Krankheit nichts ändern, sondern allenfalls kurzfristig etwas Leichtigkeit in die empfundene Schwere der Krankheit bringen. Man stößt hier auf die wichtige Frage, wann eine Emotionsregulation über Humor funktional ist und wann nicht. Ausschlaggebend ist hier, inwiefern das der Emotion zugrundeliegende Ereignis veränderbar ist oder nicht. Wie wir gesehen haben, wird durch eine humorvolle Umdeutung die ursprüngliche Situation nicht verändert, sondern nur die daraus resultierende unangenehme Emotion vermindert. Setzt man also Humor zur Emotionsregulation ein, besteht die Gefahr, dass ein Problem bestehen bleibt. Wie Studien zeigen, kann das langfristig mit unangenehmen emotionalen Konsequenzen wie einem erhöhten Depressionsgrad verbunden sein (Troy et al. 2013, 2018). Eine humorvolle Umdeutung ist also vor allem dann zu empfehlen, wenn das zugrundeliegende Ereignis nicht veränderbar ist. Das Beispiel des Arztes, der bei einem Tinnitus-Patienten den Witz mit den „Standing Ovations“ bringt, macht noch einen weiteren Punkt klar: Nicht jede Person wird auf diesen Witz des Arztes mit einem humorvollen Lachen reagieren. Stattdessen werden manche Personen mit Entrüstung reagieren, dass sich der Arzt hier über eine Krankheit oder den Patienten lustig macht. Offenbar ist eine humorvolle Situationsumdeutung also keine Strategie, die für jede Person und jede Situation gleich gut geeignet ist. Hier gilt es also zu beachten, dass es normative Grenzen gibt, die von unterschiedlichen Individuen oder auch in unterschiedlichen Gesellschaften anders festgelegt sein können. Wir wollen uns als Beispiel die Diskussionen über den Comedian Chris Tall ansehen, der im Jahr 2015 durch einen Auftritt in der Sendung TV Total (Folge 2213) bekannt wurde, in der er dazu aufrief, auch mal Witze über Rollstuhlfahrer, Schwarze, Schwule oder Frauen zu machen. Dabei erzählte er Witze wie beispielsweise:
»» Haben wir heute Rollstuhlfahrer hier? Wenn ja, bitte einmal aufstehen. In der Zeitung Die Welt erschien daraufhin ein Artikel mit dem Titel (O. V. 2015).
»» Nach TV Total Auftritt: Comedian Tall wehrt sich gegen Rassismus-Vorwürfe. Im Gegensatz dazu reagierte Dr. Ilja Seifert, Gründungspräsident des Allgemeinen Behindertenverbandes, der selbst im Rollstuhl sitzt folgendermaßen (Fokus.de 2015):
»» Selbstverständlich darf er das! Es ist tatsächlich eher diskriminierend, jemanden wegen bestimmter Eigenschaften oder Merkmale aus der allgemein üblichen Kommunikation auszuschließen.
Betrachtet man dieses Beispiel genauer, erkennt man einen fundamentalen Unterschied zwischen Chris Tall und Dr. Ilja Seifert: Chris Tall ist nicht selbst von der Behinderung betroffen, Dr. Ilja Seifert hingegen schon. Chris Tall lacht also über andere, während Dr. Ilja Seifert über sich selbst lacht. Hierfür gibt es unterschiedliche normative Grenzen: Beim Lachen über andere gelten gesellschaftlich geteilte
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Normen, und aus dieser Perspektive heraus ist die Belustigung anhand der Schwächen anderer moralisch fragwürdig. Beim Lachen über sich selbst gelten dagegen nur die eigenen Grenzen, die man sich selbst setzt. Wird also beispielsweise ein Satz wie „Was man nicht in den Beinen hat, das muss man im Kopfe haben“ von einem auf den Rollstuhl angewiesenen Menschen ausgesprochen, so könnte man sagen, es handele sich um einen gelungenen Witz – einen Witz, der eine Beeinträchtigung in ein humorvolles Licht rückt, und so bei der Person anstelle von Trauer oder Enttäuschung womöglich Stolz auslöst. Würde dieselbe Aussage allerdings von einer nicht beeinträchtigten Person getroffen, welche eine beeinträchtigte Person auf eine humorvolle Art loben möchte, so ist dieses Verhalten unter Umständen nicht kompatibel mit existierenden Normen oder individuell unterschiedlichen Auffassungen von Humor. Betrachtet man die bisherigen Ausführungen zum Thema Humor und Emotionsregulation, so scheint Humor vor allem zur Herabregulation unangenehmer Emotionen geeignet zu sein. Und in der Tat, eine Pointe muss das emotionale Geschehen immer in einer bestimmten Richtung ändern – von unangenehm zu angenehm –, ansonsten würden wir das nicht als witzig empfinden: Wenn Sie einem Schüler nach einer Prüfung mitteilen „Du bist leider durchgefallen“, um danach die Pointe anzubringen „War nur Spaß, Du warst in Wirklichkeit sehr gut“, wird dieser vermutlich herzhaft lachen. Wenn Sie dagegen dem Schüler mitteilen „Du warst sehr gut“, um danach die Pointe anzubringen „War nur Spaß, in Wirklichkeit bist Du durchgefallen“, wird dieser das sicherlich nicht lustig finden. Allerdings wird unter dem Begriff „Humor“ oft noch eine weitere Komponente gefasst, bei der es gerade um die Heraufregulierung angenehmer Emotionen in als neutral empfundenen Situationen geht: die Fähigkeit, andere Menschen zum Lachen zu bringen (Ruch 2004). Im sozialen Bereich wird diese Fähigkeit sehr wertgeschätzt. Dies zeigt sich zum Beispiel darin, dass Eigenschaften wie „humorvoll“ oder „ich lache gerne“ in Kontaktanzeigen am häufigsten genannt werden (Gerke 2012). Ähnlich ist es in der Schule. Fragt man Schüler, wie die ideale Lehrkraft sein sollte, wird sehr häufig Humor als ein zentrales Persönlichkeitsmerkmal genannt. In der Tat zeigen zahlreiche empirische Studien, dass sich ein humorvolles Verhalten von Lehrkräften förderlich auf Lernprozesse und sozio-emotionale Dynamiken im Unterricht auswirkt (Banas et al. 2011). Auf den Punkt gebracht wird dies beispielsweise durch die Aussage eines Schülers in einem im Rahmen des Programms „SelF“ (Selbsterkundung zum Lehrerberuf mit Filmimpulsen, Münchener Zentrum für Lehrerbildung) entwickelten Videos zum Thema „Unterrichtsstörungen“ (abrufbar unter: 7 https://www.self. mzl.lmu.de/self/film/unterrichtsstorungen,3/):
»» Wenn ein Lehrer selber Witze macht und damit die Klasse zum Lachen bringt, muss
dann niemand mehr kommen, der Störungen macht und die Klasse dadurch zum Lachen bringt.
Eine weitere Aussage einer Schülerin zeigt aber sogleich auf, dass auch hier ein differenzierterer Blickwinkel nötig ist:
»» Aber es nervt eigentlich auch, wenn eine Lehrerin oder ein Lehrer irgend so einen doofen Witz macht und keiner lacht.
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Auch in Bezug auf den Unterricht ist Humor also nicht automatisch eine generell hilfreiche Strategie zur Regulation von Emotionen auf Klassenebene, sondern die Wirkung hängt von bestimmten Faktoren ab, auf die wir im folgenden Kasten noch abschließend eingehen wollen.
Auf die Art des Humors kommt es an!
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„Ist eigentlich jede Art von Humor zur Emotionsregulation geeignet? Und welche Arten von Humor gibt es überhaupt? Eine erste grobe Unterscheidung, die in der Wissenschaft häufig gemacht wird, ist die zwischen ‚positivem‘ (wohlwollend, integrierend, nicht-feindlich) und ‚negativem‘ (gemein, aggressiv, abschätzig) Humor. Hier zeigen Studien, dass mittels positivem Humor unangenehme Emotionen erfolgreicher herabreguliert und angenehme Emotionen erfolgreicher heraufreguliert werden können, verglichen mit der Regulation mittels negativem Humor (Samson und Gross 2012). In Bezug auf den Unterricht wird weiterhin unterschieden, inwiefern der Humor sich auf die Lerninhalte bezieht oder nicht. Das Erzählen eines Witzes, der nichts mit dem gerade behandelten Lerngegenstand zu tun hat, wäre ein Beispiel für einen nicht lerngegenstandsbezogenen Humor. Ein Beispiel für einen lerngegenstandsbezogenen positiven Humor wäre der Witz: „Statistik ist die mathematische Form der Lüge.“, ein Beispiel für einen lerngegenstandsbezogenen negativen Humor der Witz: „Um das Wort Vakuum zu erklären: Das ist, was Hanno im Kopf hat.“ Empirische Studien zeigen, dass vor allem ein lerngegenstandsbezogener Humor mit dem Erleben von Freude und weniger Langeweile in Beziehung steht und förderlich für das Interesse am Unterricht ist. Der Einsatz von negativem Humor im Unterricht kann dagegen allgemein kann dagegen Ärger und Angst hervorrufen (Bieg und Dresel 2018). Zu beachten ist hier aber ein allgemein wichtiger Punkt: Als Lehrkraft sollte man nicht versuchen, einen guten Kontakt zu den Schülern herzustellen, indem man sich als ‚einer von ihnen‘ zu präsentieren versucht. Vielmehr sollte man sich als Vorbild dafür verstehen, wohin die Schüler in ihrer Persönlichkeit noch wachsen können. Dies gilt es auch beim Einsatz von Humor im Unterricht zu beachten: So kann ein von einem Schüler erzählter Witz die Klassenkameraden sehr zum Lachen bringen, derselbe Witz von einem Lehrer erzählt wird aber trotzdem von den Schülern als doof empfunden.“
zz Distanzierung
Eine weitere Variante der Strategie des zweiten Blicks, um die Wahrnehmung eines emotionsauslösenden Objektes zu verändern, besteht in dem Versuch, ein motionsauslösendes Objekt aus einem distanzierten Blickwinkel zu betrachten. Zur Illustration wollen wir uns im folgenden Kasten ein Beispiel ansehen:
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Emotional involvierte versus distanzierte politische Entscheidungen
„In einer Studie (Halperin et al. 2013) wurden israelischen Probanden Ärger auslösende Bilder zum Israel-Palästina-Konflikt präsentiert. Die Bilder zeigten Palästinenser dabei, wie sie Raketen starteten oder Mitglieder der Hamas wählten. Die eine Hälfte der israelischen Studienteilnehmer wurde nun gebeten, die Bilder so zu betrachten wie sie es gewohnt waren. Aus früheren Studien wusste man, dass Israelis dann dazu tendieren, solche Bilder unter der Perspektive „Ungerechtes Verhalten der Palästinenser“ zu betrachten. Die andere Hälfte der israelischen Studienteilnehmer wurde gebeten, die Bilder mit wissenschaftlichem Interesse zu betrachten – also mit einem objektiven und analytischen Fokus. Die beiden Gruppen betrachteten die Bilder also entweder aus einem parteiischen und involvierten oder aber aus einem distanzierten Blickwinkel. Danach wurden die Studienteilnehmer befragt, welche politischen Strategien sie befürworten würden. Während die Gruppe mit involviertem Blickwinkel eher aggressive politische Strategien befürwortete, tendierte die Gruppe mit dem distanzierten Blickwinkel eher zu friedlichen politischen Strategien. Überdies: In einer Folgestudie konnten die Autoren weiterhin zeigen, dass sich sogar noch nach fünf Monaten Unterschiede zwischen den Gruppen zeigten bezüglich des Ärgers und der Aggressivität gegenüber Palästinensern.“
Die Methode der Distanzierung besteht also darin, ein emotionsauslösendes Ereignis mit einem distanzierten und analytischen Blickwinkel zu betrachten. Dies funktioniert deshalb, weil durch den distanzierten Blick die aufgrund der zunächst empfundenen persönlichen Betroffenheit angesprochenen Bedürfnisse und Ziele und ausgelösten Gedanken nicht mehr im Vordergrund stehen, womit die davon angesprochenen Emotionen verringert werden. Man kann den distanzierten Blickwinkel dabei nicht nur auf das emotionsauslösende Objekt richten, sondern auch umfassend auf die gesamte Situation, also auch auf alle ausgelösten Emotionen und Gedanken, insbesondere bei sich selbst. Das funktioniert prinzipiell auf dieselbe Art und Weise wie bei der Distanzierung von der emotionsauslösenden Situation: Man versucht den Prozess, wie die eigenen Emotionen und Gedanken ausgelöst werden, objektiv und analytisch zu betrachten. Ausgangsbasis ist hier die Überzeugung, dass unsere Emotionen und Gedanken nicht notwendigerweise Abbilder der Realität oder handlungsleitende Instanzen sind, sondern hinterfragt werden können. Durch eine solche Distanzierung können insbesondere auch unerwünschte Folgeemotionen oder kreisende Gedanken unterbunden werden. Auch hier ist aber wichtig, auf eine wichtige Grenze bei der Anwendung der Strategie der Distanzierung zu verweisen: Bei der Distanzierung handelt es sich um eine Strategie, welche auf der rationalen Ebene angesiedelt ist. Durch die Einnahme eines unpersönlichen und distanzierten Blickwinkels gegenüber den eigenen Emotionen besteht die Gefahr, dass ein Aspekt, der auf der Ebene der Emotionen eine hohe
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persönliche Relevanz besitzt, auf rationaler Ebene nicht mehr als persönlich relevant eingestuft wird. Wird eine solche Strategie längerfristig angwendet, kann sich das rationale System vom emotionalen System entkoppeln, was aus der Sicht des Ideals einer Integration der im emotionalen und rationalen System wirkenden Kräfte (7 Abschn. 6.2.4 zu Selbstkonzept und Persönlichkeitswachstum) problematisch ist.
8.1.4.2 Weitere Konsequenzen in Betracht ziehen
Lässt sich die Wahrnehmung eines emotionsauslösenden Objekts nicht ändern, kann man im nächsten Schritt versuchen, ausgelöste Emotionen durch eine Umdeutung auf der Ebene der möglichen Konsequenzen zu regulieren. Wie wir aus 7 Abschn. 5.2.3 wissen, sind die erwarteten Konsequenzen eine zentrale Triebfeder unserer Emotionen. Dementsprechend können Emotionen über Veränderungen auf der Ebene der erwarteten Konsequenzen beeinflusst werden. Wie in 7 Abschn. 6.1 beschrieben, können wir uns mit Hilfe der in unserer begrifflichen Landkarte gespeicherten Wenn- Dann-Verknüpfungen ausmalen, was sich aus einer Situation alles ergeben könnte. Dementsprechend kann man die bisherigen Wenn-Dann-Verknüpfungen hinterfragen oder neue Wenn-Dann-Verknüpfungen etablieren. Zur Illustration wollen wir uns im folgenden Kasten ein Beispiel ansehen:
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Prüfungsvorbereitung und Prüfungsangst
„An einer Beobachtung, die ich selbst in meinem Studium gemacht habe, möchte ich die Abhängigkeit unserer Emotionen von der Art der ausgemalten Konsequenzen verdeutlichen: Es geht dabei um die Vorbereitung auf Prüfungen. Ich habe oft in Lerngruppen gelernt, wobei häufig folgendes Phänomen auftrat: die Gruppe begann sich zweizuteilen – in Studierende, deren Angstpegel mit Näherkommen der Prüfung immer mehr zunahm, und Studierende, die der Prüfung relativ gelassen entgegenblickten. Worin unterschieden sich diese beiden Gruppen? Diese Frage stellte ich mir von Mal zu Mal. Die Leistungsfähigkeit konnte es nicht sein, denn die später erzielten Noten waren relativ vergleichbar. Mit der Zeit machte ich eine interessante Beobachtung: Diejenigen mit höherem Angstpegel schienen sich sehr ausführlich mit den möglichen Konsequenzen der Prüfung zu beschäftigen, und das auf eine bestimmte Art und Weise. Sie äußerten beispielsweise Gedanken, wie dass sie die Prüfungen vielleicht nicht bestehen würden, dass sie verschlafen könnten, dass sie alles vergessen oder sich unsäglich blamieren würden. Die gelasseneren Gruppenmitglieder beschäftigten sich dagegen weniger mit den möglichen Konsequenzen, und wenn dann eher so, dass sich ihre Gedanken um die möglichen Folgen einer gut bestandenen Prüfung drehten.“
Roberts Beispiel illustriert zunächst, welchen Unterschied es für das emotionale Erleben machen kann, welche Art von Konsequenzen man sich ausmalt. Zudem liefert es Hinweise darauf, dass es von weiteren psychischen Mechanismen abhängen kann, welche Konsequenzen man in Betracht zieht. Das Wissen um diese Mechanismen ist
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hilfreich, um alternative Konsequenzen zu sehen. Deswegen wollen wir diese Mechanismen im Folgenden genauer beleuchten. zz Von der Vermeidung zur Annäherung
Wie wir in 7 Abschn. 6.2.2.1 bei der sprachlichen Formulierung von Zielen gesehen haben, kann man mit einem vermeidungs- oder annäherungsorientierten Blickwinkel auf die Welt blicken: Man kann sich – so wie die Studierenden mit hohen Angstpegel – eher ausmalen, welche unerwünschten Konsequenzen sich aus einer Situation ergeben können und versuchen diese zu vermeiden (vermeidungsorientiert). Dies geht mit dem Erleben eher unangenehmer Emotionen wie Angst einher. Oder man kann sich – so wie die gelasseneren Studierenden – eher ausmalen, welche erwünschten Konsequenzen sich ergeben könnten und versuchen diese zu erreichen (annäherungsorientiert). Damit gehen eher angenehme Emotionen wie Vorfreude einher. Je nachdem, in welchem Zustand man sich befindet, ändert sich der Blick auf bestimmte Konsequenzen: Während man in einem annäherungsorientierten Zustand für mögliche unerwünschte Konsequenzen blind wird, sieht man in einem vermeidungsorientierten Zustand mögliche erwünschte Konsequenzen schlechter. Dieses Wissen kann man nun nutzen, um alternative Konsequenzen eines emotionsauslösenden Objekts oder Ereignisses zu sehen. So gehen beispielsweise unangenehme Emotionen wie Angst oder Trauer mit einem vermeidungsorientierten Zustand und mit einer mentalen Fokussierung auf mögliche unerwünschte Konsequenzen einher. Deshalb kann man versuchen, das emotionsauslösende Objekt oder Ereignis gezielt daraufhin abzuklopfen, ob nicht auch trotzdem erwünschte Konsequenzen damit verbunden sein können. Dies mag auf den ersten Blick oft schwierig erscheinen. Zur Anregung wollen wir hier eine Parabel aus dem alten China wiedergeben, welche die daoistische Sichtweise von Glück und Unglück erläutert (in Anlehnung an (Major et al. 2010)):
»» In einem Dorf lebte ein Bauer, der ein prächtiges Pferd besaß. Eines Tages lief ihm das Pferd davon. Nun kamen die Dorfbewohner zu ihm und bedauerten ihn: „Was für ein Unglück!“. Der Bauer aber antwortete: „Wer weiß, ob das nicht Glück bringt“. Einige Monate später kam das Pferd plötzlich wieder zurück, gemeinsam mit einer Gruppe edler Wildpferde. Nun kamen die Dorfbewohner zu ihm und beglückwünschten ihn: „Was für ein Glück!“ Der Bauer aber antwortete: „Wer weiß, ob das nicht Unglück bringt“. Der Bauer hatte einen Sohn, und dieser versuchte die Wildpferde einzureiten. Dabei warf ihn eines ab, wobei sich der Sohn ein Bein so kompliziert brach, sodass er ein Leben lang hinken musste. Nun kamen die Dorfbewohner zu ihm und bedauerten ihn: „Was für ein Unglück!“. Der Bauer aber antwortete: „Wer weiß, ob das nicht Glück bringt“. Einige Zeit später brach ein Krieg aus, und die Soldaten des Kaisers kamen ins Dorf, um die jungen Männer für die nächste Schlacht zu rekrutieren, von der die meisten Männer nicht mehr lebend heimkehren würden. Als sie den Sohn des Bauern mit seinem behinderten Bein sahen, ließen sie ihn im Dorf zurück, während die anderen jungen Männer mit in den Krieg ziehen mussten. Daher: Unglück bewirkt Glück und Glück bewirkt Unglück. Dieses passiert ohne Ende und niemand kann es abschätzen.
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
„Schwierige“ Schüler – eine Frage des Blickwinkels
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„Bei mir hat folgende Geschichte eines Bekannten ein Umdenken hervorgerufen. Mein Bekannter arbeitet mit Jugendlichen im Rahmen der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung. Bei solchen Jugendlichen handelt es sich oft um Fälle, die aufgrund ihres als hochschwierig empfundenen Verhaltens von keiner Einrichtung mehr aufgenommen werden. Im Rahmen der intensiven sozialpädagogischen Einzelbetreuung werden Projekte durchgeführt, bei denen ein Pädagoge mit einem Jugendlichen beispielsweise mit dem Fahrrad von Marokko zurück nach Deutschland fährt, mit dem Ziel, durch die Herausnahme aus dem gewohnten sozialen und kulturellen Kontext eine pädagogische Wirkung zu erzielen. Solche Jugendlichen haben unter anderem oft ein eine auffällige Nähe-Distanz-Regulation, was heißt, dass sie in sozialen Situationen sehr nah auf die andere Person zukommen, was als sehr unangenehm empfunden wird. Mein Bekannter war mit einem solchen Jugendlichen mit dem Fahrrad in Marokko unterwegs und machte eine interessante Beobachtung. Dazu muss man wissen, dass die als angenehm empfundene Distanz kulturell unterschiedlich ist: Während in Deutschland ein größerer Abstand als angenehm empfunden wird, ist der als angenehm empfundene Abstand in Marokko kleiner. Der Jugendliche traf also mit seinem aus dem Blickwinkel unserer Kultur unangemessenen Distanzverhältnis genau das angenehme Distanzverhältnis in Marokko. Die Konsequenz war, dass der Jugendliche in Marokko immer relativ schnell Anschluss fand, während mein Bekannter Schwierigkeiten hatte, mit der einheimischen Bevölkerung in Kontakt zu kommen. Für mich war diese Geschichte insofern augenöffnend, dass ich seitdem versuche, bei verhaltensauffälligen Schülern nicht nur die unerwünschten Konsequenzen ihres unangemessenen Verhaltens zu sehen, sondern auch mögliche erwünschte Konsequenzen. Ein Beispiel ist für mich ein Kind mit der Diagnose ADHS. Hier bin ich vor einiger Zeit auf ein interessantes Buch gestoßen, dass die Thematik anders aufarbeitet als viele andere Bücher zu ADHS (Spitzer 2010). Der Sozialpädagoge Gerhard Spitzer vermittelt dort eine Zugangsweise, bei der auch die positiven und liebenswerten Seiten von Kindern mit ADHS beleuchtet werden. Dabei versucht er selbst in Merkmalen, die zunächst meist als negativ empfunden werden, positive Aspekte zu sehen. ‚Chaotische Planlosigkeit‘ kann man beispielsweise auch als Fähigkeit zu intuitivem Handeln betrachten, oder ‚Zappeligkeit‘ als Tatendrang, der auf eine hohe Einsatzbereitschaft hinweist. Eine ähnliche Sichtweise findet sich auch auf vielen Online-Ratgeberseiten. So findet sich beispielsweise im Infoportal 7 https://www.adhs-ratgeber.com unter der Rubrik „Stärken erkennen“ folgende Infographik:
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zz Von der Gewohnheit zum Nutzen
Durch eine Umdeutung auf der Ebene der Konsequenzen können nicht nur unangenehme Emotionen herabreguliert werden, sondern auch angenehme Emotionen herbeigeführt oder verstärkt werden. Die Strategie besteht dabei darin zu versuchen, den Nutzen in gegebenen Umständen zu suchen und sich diesen gedanklich auszumalen, was Freude, Zufriedenheit oder Interesse auslösen kann. Diese Strategie ist vor allem aufgrund einer besonderen Funktionsweise unserer Psyche hilfreich: Wir Menschen gewöhnen uns schnell an Lebensumstände, die mit erwünschten Konsequenzen verbunden sind, welche dann keine angenehmen Emotionen mehr auslösen – obwohl die erwünschten Konsequenzen nach wie vor in unserem Leben da sind. So zeigen Studien, dass selbst Ereignisse, die mit sehr angenehmen Konsequenzen verbunden sind, wie etwa einen guten Freund zu finden, eine neue Beziehung einzugehen oder ein Lottogewinn, zwar zunächst – etwa in den ersten drei bis sechs Monaten – vermehrt angenehme Emotionen auslösen. Aber anschließend kehrt man auf das gewohnte Niveau zurück (Suh et al. 1996) – ein Effekt, der als „hedonistische Tretmühle“ bezeichnet wird (Brickman und Campbell 1971): Man kann sich offenbar noch so sehr abstrampeln beim Versuch, das Lebensglück zu erhöhen, indem man nach bestimmten Lebensumständen mit erwünschten Konsequenzen strebt – aber langfristig wird man damit das Lebensglück nicht erhöhen. Der dahintersteckende Mechanismus hat mit den begrenzten Ressourcen unseres rationalen Systems zu tun: Sobald wir uns an einen Umstand gewöhnt haben und die entsprechenden Verhaltensroutinen ausgebildet haben, schieben wir diese Inhalte aus unserem Bewusstsein, weil wir dafür keine rationalen Ressourcen mehr aufwenden müssen. Allerdings kommen uns dann die damit verbundenen erwünschten Konsequenzen auch nicht mehr in den Sinn, sodass diese keine angenehmen Emotionen
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
mehr hervorrufen können. Sich die erwünschten Konsequenzen von gewohnten Umständen bewusstzumachen, kann also helfen, angenehme Emotionen in zunächst als neutral empfundenen Situationen hervorzurufen und damit die hedonistische Tretmühle zu durchbrechen. Die „Vergänglichkeit“ der Ehefreuden
„Ein in der Glücksforschung (siehe 7 Abschn. 6.2.4.1) seit langem bekannter Befund ist der offenbar vergängliche Effekt des Heiratens auf die Lebenszufriedenheit. Die folgende Abbildung zeigt beispielhaft die Ergebnisse einer Studie mit einer für Deutschland repräsentativen Stichprobe (nach Lucas et al. (2003)) (. Abb. 8.5): Lange Zeit wurde für dieses beobachtete Muster eine einfache Erklärung heran
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gezogen: Der Mensch gewöhnt sich an die neuen Lebensumstände, sodass mit zunehmender Routine die mit der Heirat einhergehenden Freuden verblassen. In seinem lesenswerten Buch „Schnelles Denken – langsames Denken“ (Kahneman 2012) gibt der Nobelpreisträger Daniel Kahneman aber eine ganz andere Erklärung. Er arbeitet einen mentalen Fallstrick heraus, den wir schon bei der sogenannten Fokussierungsillusion (7 Abschn. 8.1.3) kennengelernt haben: Aufgrund der begrenzten Kapazitäten unseres rationalen Systems haben wir in jedem Moment immer nur einen bestimmten Ausschnitt unserer Lebensumstände im Kopf. Wenn wir nun nach unserer Lebenszufriedenheit gefragt werden, bewerten wir diese aus der beschränkten Perspektive unserer Lebensumstände, die wir momentan im Kopf haben, und nicht vor dem Hintergrund aller unserer Lebensumstände. Je weiter die Heirat nun zurück liegt, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir an unsere Heirat denken, wenn wir nach unserer Lebenszufriedenheit gefragt werden. Die obige Abbildung spiegelt also nicht die verblassende Freude an der Heirat wider, sondern die Tatsache, dass wir im Alltag an eigentlich schöne Dinge immer seltener denken.“
223 8.1 · Die Fähigkeit der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment
zz Von hemmenden zu förderlichen Attributionen
Wie wir gesehen haben, können auftretende Emotionen mittels Umdeutungen auf der Ebene der erwarteten Konsequenzen beeinflusst werden. Für die Fähigkeit, ein emotionales Ereignis hinsichtlich der Konsequenzen umzudeuten, spielt ein weiterer psychischer Prozess eine wichtige Rolle, den wir in 7 Abschn. 6.2.2.2 kennengelernt haben: Die subjektive Einschätzung, wer für das Eintreten einer Konsequenz verantwortlich ist – die sogenannte Attribution. Wie wir dort gesehen haben, machen wir diesbezüglich zwei Einschätzungen: Ob man selbst oder die Situation dafür verantwortlich ist und ob man eine Konsequenz beeinflussen und kontrollieren kann oder nicht. Die Art der Attribution nimmt dementsprechend Einfluss darauf, wie flexibel man Konsequenzen umdeuten kann: Wenn man meint, die Ursachen von Konsequenzen nicht beeinflussen zu können, schränkt sich die Menge der möglichen Konsequenzen auf diejenigen ein, die sich ohne das eigene Zutun ergeben können. Wenn man dagegen meint, Konsequenzen beeinflussen zu können, erweitert sich die Bandbreite an möglichen Konsequenzen, denn nun kann man auch das in Betracht ziehen, was durch das eigene Zutun erreichbar sein könnte. Hilfreich für die Regulation auftretender Emotionen kann demnach sein, sich die Art der momentanen Attribution bewusst zu machen. Bemerkt man, dass man vermutete Konsequenzen als nicht kontrollierbar einschätzt, kann man versuchen, die Attribution in Richtung einer höheren Kontrollierbarkeit zu ändern und dadurch die Flexibilität im Umgang mit dem Ereignis erhöhen. Eine Umdeutung der anfänglichen Attribution kann noch auf einer weiteren emotionalen Ebene Veränderungen hervorrufen: Auf der Ebene der Selbstwert-Emotionen (siehe 7 Abschn. 5.2.4). Wenn man sich selbst für das Auftreten von unangenehmen Konsequenzen verantwortlich hält, resultieren daraus unangenehme Selbstwert-Emotionen wie Scham (bei nicht kontrollierbar eingeschätzten Ereignissen) oder Schuld und Ärger über sich selbst (bei eigentlich als kontrollierbar eingeschätzten Konsequenzen). Wenn man hingegen jemand anderen für ein unerwünschtes Ereignis und unangenehme Konsequenzen verantwortlich hält, treten keine Selbstwert-Emotionen auf, sondern vielmehr auf andere bezogene Emotionen wie Angst (bei nicht kontrollierbar eingeschätzten Konsequenzen) oder Ärger über den anderen (bei als kontrollierbar eingeschätzten Konsequenzen). Durch eine Änderung der Attribution kann man also zwischen verschiedenen Selbstwert-Emotionen hin- und herschalten oder diese auch ganz auflösen. Auch im Falle erwünschter Konsequenzen kann eine Regulation über eine Veränderung der Attribution Vorteile mit sich bringen. Angenehme Selbstwert-Emotionen wie Stolz treten nämlich nur dann auf, wenn man das Auftreten erwünschter Konsequenzen auf sich selbst als Ursache zurückführt.
Attributionsumdeutung und Emotionen in der Schule
„Ich benutze die Strategie der Umdeutung von Attributionen häufig in der Schule – zum einen bei mir selbst: Ich ertappe mich beispielsweise manchmal dabei, nach einer erfolgreichen Gruppenarbeit in meiner Klasse zu denken: ‚Da hatte ich ja heute mal Glück mit meinen Schülern‘, was einen relativ neutralen Gefühlszustand bei mir hin-
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
terlässt. Ich versuche mir dann bewusst zu machen, dass es in Wirklichkeit an meiner guten Vorbereitung und meiner Fähigkeit der Klassenführung lag, was bei mir Freude und Stolz über meine Qualitäten als Lehrkraft hervorruft. Zum anderen versuche ich bei meinen Schülern oft gezielt bestimmte Attributionen hervorzurufen, beispielsweise bei Leistungsrückmeldungen: Mein Ziel ist hier, dass ein Schüler erzielte Leistungen auf Ursachen zurückführt, die in ihm selbst liegen und von ihm als kontrollierbar empfunden werden, damit Emotionen wie Stolz oder Schuld in Bezug auf die eigene unzureichende Anstrengung ausgelöst werden, welche ihn zu einer weiteren Beschäftigung mit dem Lernstoff antreiben.“
8.1.4.3 Konsequenzen neu bewerten
Lassen sich bei einem emotionsauslösenden Ereignis keine alternativen Konsequenzen ableiten, kann man auch versuchen, die der Emotion zugrundeliegende Konsequenz neu zu bewerten und dadurch die Emotion zu regulieren. Wie wir in 7 Abschn. 5.1 gesehen haben, löst ein Ereignis dann Emotionen aus, wenn die sich daraus ergebenden Konsequenzen als relevant für die Erfüllung bzw. Nichterfüllung unserer Bedürfnisse und Ziele eingeschätzt werden – der Wert einer Konsequenz. Eine weitere wichtige Rolle spielt die subjektive Einschätzung, wie gut man meint, mit einer unerwünschten Konsequenz umgehen zu können – die empfundene Bewältigbarkeit einer Konsequenz (in Anlehnung an den englischen Begriff oft auch „Coping“ genannt). Dementsprechend kann man Emotionen durch eine Neubewertung des Wertes und der Bewältigbarkeit einer Konsequenz verändern.
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zz Neubewertung einer Konsequenz auf der Ebene des Werts
Wie beschrieben, bemisst sich der Wert einer Konsequenz daran, wie nah uns diese an einen angestrebten Zielzustand bringt (positiver Wert) bzw. davon wegbringt (negativer Wert). Es gibt hier zwei Möglichkeiten zur Neubewertung. Die erste Möglichkeit ist relativ naheliegend: Man kann versuchen, die angestrebte Zielhöhe zu verändern und dadurch den Wert zu ändern. Um der zweiten Möglichkeit auf die Spur zu kommen, muss man sich bewusstmachen, dass der Wert einer Konsequenz aus der Perspektive verschiedener Bedürfnisse und Ziele betrachtet unterschiedlich ausfallen kann. Dementsprechend besteht die zweite Möglichkeit einer Neubewertung des Werts darin, eine Konsequenz aus dem Blickwinkel weiterer Bedürfnisse und Ziele zu betrachten. Wir wollen beide Möglichkeiten kurz beleuchten. kVon großen zu kleinen Zielen
Bei der Veränderung der angestrebten Zielhöhe zur Neubewertung einer Konsequenz gibt es zwei Varianten: Bei der ersten Variante wird zwar als langfristiges Ziel nach wie vor die anfänglich angestrebte Zielhöhe beibehalten. Zur Bewertung zieht man aber nicht das langfristige Ziel heran, sondern das Erreichen von Zwischenzielen mit geringerer Zielhöhe. Die Wirkung einer solchen Strategie auf emotionaler Ebene wird sehr anschaulich in Michael Endes Buch „Momo“ illustriert (Ende 1973). Einer der besten Freunde von Momo ist Beppo Straßenkehrer. Eines Abends erzählt er ihr von einer besonderen Erfahrung, die er bei seiner Arbeit als Straßenkehrer gemacht hat (S. 16-17):
»» Nach der Arbeit, wenn er bei Momo saß, erklärte er ihr seine großen Gedanken. Und
da sie auf ihre besondere Art zuhörte, löste sich seine Zunge, und er fand die richtigen
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Worte. „Siehst du, Momo“, sagte er dann zum Beispiel, „es ist so: Manchmal hat man eine sehr lange Straße vor sich. Man denkt, die ist so schrecklich lang; das kann man niemals schaffen, denkt man.“ Er blickte eine Weile schweigend vor sich hin, dann fuhr er fort: „Und dann fängt man an, sich zu beeilen. Und man eilt sich immer mehr. Jedes Mal, wenn man aufblickt, sieht man, dass es gar nicht weniger wird, was noch vor einem liegt. Und man strengt sich noch mehr an, man kriegt es mit der Angst, und zum Schluss ist man ganz außer Puste und kann nicht mehr. Und die Straße liegt immer noch vor einem. So darf man es nicht machen.“ Er dachte einige Zeit nach. Dann sprach er weiter: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten.“ Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“ Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort: „Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste.“ Er nickte vor sich hin und sagte abschließend: „Das ist wichtig.“
Bei der zweiten Variante besteht die Strategie darin, die anfänglich angestrebte Zielhöhe nach unten zu verschieben. Ein schulisches Beispiel wäre ein Schüler, der überall Bestnoten anstrebt und daraus seinen Selbstwert schöpft. Erzielt ein solcher Schüler nun „nur“ eine Zwei anstatt eine Eins, wird das als schlimm bewertet, was mit unangenehmen Selbstwert-Emotionen wie Scham oder Schuld einhergeht. Eine Möglichkeit der Regulation wäre nun, die Zielhöhe nach unten zu korrigieren und sich klarzumachen, dass auch eine Zwei eine gute Note ist. Dieses Beispiel zeigt aber auch eine potentielle Gefahr auf, welche mit der Strategie der Verminderung der Zielhöhe verbunden ist: Wenn man sich geringere Ziele setzt, sinkt möglicherweise auch die eingesetzte Anstrengung, was dazu führen kann, dass man langfristig weniger erreicht als eigentlich möglich wäre. In dem Lied „Wolke 4“ von Philipp Dittberner wird die Stärke und gleichzeitige Ambivalenz der Strategie der Verminderung der Zielhöhe eindrücklich auf den Punkt gebracht:
»» Lass uns die Wolke vier bitte nie mehr verlassen
Weil wir auf Wolke sieben viel zu viel verpassen Ich war da schon einmal und bin zu tief gefallen Lieber Wolke vier mit Dir als unten wieder ganz allein
Veränderung des Bezugsrahmens
„Eine besondere Strategie zur Veränderung der Zielhöhe haben wir schon in 7 Abschn. 6.2.3 beim Paradox des Wohlbefindens im Alter – des zunehmenden emotionalen Wohlbefindens im Alter trotz zunehmenden Abbaus – kennengelernt. Wie wir an diesem Beispiel herausgearbeitet haben, gibt es verschiedene Bezugsrahmen, mittels
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
derer man erreichte Zustände bewerten kann: Einen sozialen Bezugsrahmen (Was habe ich erreicht im Vergleich zu anderen?), einen kriteriumsorientierten Bezugsrahmen (Was habe ich erreicht verglichen mit bestimmten normativen Standards?) und einen individuellen Bezugsrahmen (Was habe ich erreicht verglichen mit früheren Zuständen?). Eine hilfreiche Strategie zur Veränderung der Zielhöhe kann demnach sein, den Bezugsrahmen zu wechseln und darüber Emotionen zu beeinflussen. Der Grund ist, dass die Zielhöhe je nach Bezugsrahmen sehr unterschiedlich sein kann. So kann man sich in einer sehr leistungsstarken Gruppe befinden und mit einer „nur“ guten Leistung schlecht fühlen, obwohl diese Leistung möglicherweise noch über den normativen Anforderungen in der Gesellschaft liegt. Oder man hat aufgrund von bisher erbrachten sehr guten Leistungen eine relativ hohe Zielhöhe, sodass man sich nach dem Erzielen einer „nur“ guten Leistung schlecht fühlt, obwohl man verglichen mit vielen anderen trotzdem noch besser abgeschnitten hat. Ein Wechsel des Bezugsrahmens kann hier hilfreich sein, um unangenehme Emotionen herabzuregulieren.“
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kVon anfänglichen zu alternativen Zielperspektiven
Die zweite Möglichkeit einer Neubewertung des anfänglich empfundenen Werts einer Konsequenz besteht darin, diese aus dem Blickwinkel weiterer Bedürfnisse und Ziele zu betrachten. Anfänglich wird der Wert einer Konsequenz immer aus der Perspektive eines bestimmten Bedürfnisses oder Ziels betrachtet, woraus sich dann die entsprechende Emotion entwickelt. Aus dem Blickwinkel anderer Bedürfnisse oder Ziele kann der Wert einer Konsequenz aber ganz anders aussehen, sodass dadurch ausgelöste Emotionen reguliert werden können. Ein schulbezogenes Beispiel ist das Lernen aus Fehlern: Wenn man einen Fehler macht, besteht die Gefahr, zunächst mit der Brille der selbstwertbezogenen Konsequenzen darauf zu blicken und unangenehme Emotionen wie Scham oder Schuld zu empfinden. Setzt man in solchen Situationen aber die Brille der kompetenzbezogenen Weiterentwicklung auf, so ist jeder Fehler eine Lerngelegenheit, mittels dessen man seine Expertise erhöhen kann. Eine solche Fehlerkultur in Schulen zu etablieren, wurde in den letzten Jahren immer wieder gefordert. So heißt es beispielsweise in einem Artikel in Focus-Schule mit dem Titel „Vom Fehler zum Geistesblitz“ (Scheufler 2011):
»» Fehler zu machen ist unangenehm, ärgerlich, manchmal schmerzhaft, weil man sich
eingestehen muss, dass man etwas nicht besser wusste. Wenn auch noch alle den Patzer mitkriegen, kann es fürchterlich peinlich werden. Schließlich will man seine Aufgaben möglichst gut erledigen, kompetent wirken und Bescheid wissen. Schon Erstklässlern dämmert: Fehler sind nichts Gutes. Und: Wer viele macht, ist dumm. Falsch! „Fehler können Vorboten von Lösungen sein“, glaubt Martin Weingardt, Professor für Erziehungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, und fordert einen neuen Umgang mit Schülerfehlern. […] In fortschrittlichen Unternehmen wird so etwas unter dem Stichwort „Fehlerkultur“ sogar aktiv gefördert. Denn viele Innovationen gelingen erst aus – vermeintlichen – Fehlleistungen heraus. Wenn eine Aufgabe immer wieder neu in Angriff genommen werden kann, ohne Scheu vor Hürden und Fehlern, wächst die Aussicht, etwas Neues zu schaffen.
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Allerdings macht dieses Beispiel auch ersichtlich, dass die Strategie der Neubewertung mittels alternativer Zielperspektiven mit Nachteilen verbunden sein kann. In manchen Situationen kann ein Fehler so gravierend sein, dass eine Umdeutung eines Fehlers als Lerngelegenheit problematische Konsequenzen nach sich zieht. Der Schweizer Pädagoge Fritz Oser hat das in einem Vortrag zum Thema „Aus Fehlern (nicht) lernen – Über die Funktion des Falschen und die Fehlerkultur in der Schule“ einmal mit folgendem Beispiel veranschaulicht (Oser 2017):
»» Nehmen Sie an, ich hätte jetzt einen Herzinfarkt. Ich wünsche mir keinen Arzt, der sagt: ‚Probieren wir mal was aus, es ist doch schön, wenn ich einen Fehler mache‘.
Auch hier gilt es also, den emotionalen Nutzen der Emotionsregulationsstrategie mit den damit verbundenen Kosten auf anderen Ebenen abzuwägen. Im Bereich der Schule wird hier beispielsweise empfohlen, zwischen Lernen und Leistungsmessung klar zu trennen und deutlich zu machen, wann Fehler Lerngelegenheiten sind, und wann Fehler eine Beurteilungsfunktion haben (Wittmann 2007). Die Strategie, Konsequenzen aus dem Blickwinkel weiterer Bedürfnisse und Ziele zu betrachten, kann auch hilfreich sein, um angenehme Emotionen in zunächst als neutral empfundenen Situationen herbeizuführen. So hat man möglicherweise bestimmten Pflichten wie beispielsweise dem Korrigieren einer Schulaufgabe bisher wenig positiven Wert beigemessen oder sich vielleicht sogar über den damit verbundenen Zeitaufwand geärgert. Macht man sich hier bewusst, dass man damit Schülern auch hilfreiches Feedback geben und sie damit in ihrer Entwicklung fördern kann, erhält das Korrigieren einen positiven Wert und löst vielleicht sogar angenehme Emotionen aus. zz Umdeutung einer Konsequenz auf der Ebene der Bewältigbarkeit („Coping“)
Lässt sich der einer Konsequenz beigemessene Wert nicht ändern, gibt es noch eine zweite Schraube, mittels derer man Einfluss auf die ausgelöste Emotion nehmen kann: die subjektiv empfundene Bewältigbarkeit der Konsequenzen eines Ereignisses. So reicht es für die Entstehung von Angst oder Hoffnungslosigkeit nicht aus, den Konsequenzen einer nicht bestandenen Prüfung einen hohen negativen Wert beizumessen. Zusätzlich muss die subjektive Einschätzung der Bewältigbarkeit der Konsequenzen gering ausfallen. Hieraus ergibt sich eine weitere Regulationsmöglichkeit: Man kann versuchen, die Bewältigbarkeit von Konsequenzen höher einzuschätzen als anfänglich angenommen. kNeuheit und Dringlichkeit
Vor allem für unangenehme Emotionen wie Angst ist die empfundene Neuheit und Dringlichkeit einer Konsequenz relevant. Je unbekannter eine unerwünschte Konsequenz eingeschätzt wird und je dringlicher man meint davon betroffen zu sein, desto geringer wird die Bewältigbarkeit eingeschätzt. Dementsprechend können Emotionen über eine Neubewertung der Neuheit und Dringlichkeit reguliert werden. In Bezug auf die Neuheit kann es hilfreich sein, sich bisher gemeisterte schwierige Situationen bewusst zu machen. Zum einen wird dadurch die allgemeine Einschätzung der eigenen Bewältigungsfähigkeiten erhöht, zum anderen kann man diese Situationen danach durchforsten, ob es nicht vielleicht doch Ähnlichkeiten zur aktuellen Situation gibt, die man zunächst übersehen hat. In Bezug auf die Dringlichkeit ist es wich-
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
tig zu wissen, dass die empfundene Dringlichkeit emotional getrieben sein kann: Da Emotionen wie Angst oder Ärger sich sehr unangenehm anfühlen, möchte man diese Gefühle schnellstmöglich wieder loswerden. Daher muss man zwischen objektiv dringlichen und nur emotional als dringlich empfundenen Konsequenzen differenzieren. Im ersten Fall ist eine Emotionsregulation über eine Neubewertung der Dringlichkeit nicht funktional. Im zweiten Fall ist es dagegen hilfreich sich bewusst zu machen, dass es manchmal funktionaler sein kann, Emotionen zunächst auszuhalten (siehe 7 Abschn. 8.1.6) und erst dann über Lösungs- und Bewältigungsmöglichkeiten nachzudenken, wenn die Emotion wieder nachgelassen hat, da sie unsere Denkprozesse verzerren kann (siehe 7 Abschn. 5.4.2).
Der Umgang mit Schülerkonflikten
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„Als Lehrkraft kennt man dieses Prinzip aus dem Umgang mit Schülerkonflikten: Wenn es beispielsweise eine körperliche Auseinandersetzung zwischen zwei Schülern gibt, muss ich natürlich sofort dazwischen gehen – hier muss ich objektiv dringliche Konsequenzen wie beispielsweise die Gefahr körperlicher Verletzungen verhindern. Weniger zielführend ist es dagegen meist, in dieser Situation auch den zugrundeliegenden Konflikt zwischen den Schülern zu bearbeiten, selbst wenn die beiden Schüler aufgrund ihrer emotionalen Aufwühlung meinen, dass es im Moment nichts Wichtigeres geben würde – was die Schüler hier empfinden ist eine emotional getriebene Dringlichkeit. In der emotionalen Aufwühlung kann es passieren, dass keiner der beiden Schüler einen klaren Gedanken fassen kann, geschweige denn offen dafür ist, die Perspektive des anderen überhaupt zu hören. In solch einer Situation gehe ich dann mit beiden Schülern aus der Situation heraus, indem ich beispielsweise den Ort wechsle, und die Schüler dabei zu unterstützen versuche, ihre Emotionen wieder zu beruhigen. Erst dann habe ich überhaupt eine Chance, den zugrundeliegenden Konflikt angehen und vielleicht lösen zu können.“
kBewältigungsformen
Hilfreich ist weiterhin, sich der verschiedenen Bewältigungsmöglichkeiten bewusst zu sein: Wenn man bemerkt, dass man zunächst die Bewältigbarkeit unerwünschter Konsequenzen gering einschätzt, kann man auf ein reichhaltiges Repertoire zurückgreifen, um die Bewältigbarkeit – und damit eine Verminderung der ausgelösten unangenehmen Emotionen – höher einzuschätzen. Wir wollen uns hier von einem Zitat aus einem Buchkapitel zur Bewältigung von Emotionen anregen lassen ((Weber und Laux 1993), S. 12):
»» Menschen bewältigen, indem sie beispielsweise Probleme direkt anpacken (z. B. einen Arzt aufsuchen), andere um Hilfe bitten (z. B. beim Umzug zu helfen) oder der belastenden Situation entfliehen (z. B. eine Prüfung verschieben).
229 8.1 · Die Fähigkeit der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment
Hier klingen drei Formen der Bewältigung an, die häufig unterschieden werden (Lazarus und Folkman 1984): 55 Die problemorientierte Bewältigung („Probleme direkt anpacken“): Durch aktives Eingreifen die Situation so verändern, dass die Konsequenzen weniger unerwünscht sind. 55 Die emotionsorientierte Bewältigung („der belastenden Situation entfliehen“): Die entstandene emotionale Erregung abbauen, ohne die Situation zu verändern. 55 Die sozialorientierte Bewältigung („andere um Hilfe bitten“): Suche nach Unterstützung durch andere, wobei hier sowohl eine problemorientierte als auch eine emotionsorientierte Unterstützung gesucht werden kann. Um die Bewältigbarkeit von Konsequenzen neu zu bewerten, ist es zunächst wichtig, sich mit der Situation und den damit verbundenen Konsequenzen zu konfrontieren und eine Informationssuche zu starten mit dem Ziel, mögliche Anpassungsmöglichkeiten zu eruieren. Dabei kann es hilfreich sein, andere in die Suche nach Möglichkeiten der Handlungsunterstützung mit einzubeziehen, wie beispielsweise die direkte Bitte um Hilfe oder Lösungsmöglichkeiten gemeinsam zu durchdenken. Das Hauptziel besteht darin, einen psychischen Zustand herzustellen, in dem die emotionsauslösenden Konsequenzen weniger als Belastung, sondern eher als Herausforderung empfunden werden. Dadurch werden psychische Ressourcen frei, die durch unangenehme Emotionen wie Angst ansonsten oft dysfunktional gebunden sind. Wenn sich herausstellt, dass die Konsequenzen problemorientiert nicht bewältigbar sind, sondern hingenommen werden müssen, können im nächsten Schritt die verschiedenen Möglichkeiten der emotionsorientierten Bewältigung in Betracht gezogen werden. Auch auf dieser Stufe kann es hilfreich sein, andere Personen mit einzubeziehen, beispielsweise dadurch, dass man die eigenen Gefühle anderen Personen mitteilt. Die konkreten Strategien zur emotionsorientierten Bewältigung werden wir uns im folgenden Abschnitt zur Einflussnahme auf die Emotionskomponenten genauer ansehen. >>Wichtig! Übungen zur Situationsumdeutung finden sich im zweiten Teil des Buches unter 7 Abschn. 13.1.4. In den Übungen geht es um Humor im Klassenzimmer, Attribution und Perspektivübernahme.
8.1.5 Einflussnahme auf Emotionskomponenten
Gelingt es nicht, einen Emotionsauslöser aus dem Fokus der Aufmerksamkeit zu entfernen oder umzudeuten, wird die emotionale Reaktion schließlich ausgelöst, und unser Organismus geht auf seinen verschiedenen Funktionsebenen in den entsprechenden emotionalen Systemzustand (siehe 7 Abschn. 5.4). Die letzte Regulationsmöglichkeit besteht dann darin zu versuchen, auf die verschiedenen Funktionsebenen einzuwirken mit dem Ziel, darüber den emotionalen Gesamtzustand zu beeinflussen. Wir wollen uns im Folgenden verschiedene Möglichkeiten genauer ansehen.
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
8.1.5.1 Arbeiten mit körperlichen Komponenten
Körperhaltung, Muskelanspannung, Mimik und Gestik – bereits in 7 Abschn. 5.4.5 haben wir gesehen, dass Emotionen darauf Einfluss nehmen, um unseren Körper passend zum Grundthema der Emotion einzustellen. Wie Studien zeigen, funktioniert dieser Weg interessanterweise auch umgekehrt: Durch das Hervorrufen einer bestimmten Körperhaltung oder eines bestimmten Gesichtsausdrucks kann man eine Emotion verstärken oder abschwächen ((Coles et al. 2019); (Veenstra et al. 2017)). Hier eröffnet sich eine vielversprechende Möglichkeit zur Regulation von Emotionen, die man mit folgendem Selbstversuch ausprobieren kann:
►►Selbstversuch
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Stehen Sie auf und stellen Sie sich locker hin. Nehmen Sie dann einfach den Kopf hoch, indem Sie den Kopf etwas nach oben und hinten schieben und dabei die Schultern zurücknehmen und dort absinken lassen. Achten Sie dabei auf ihren inneren Gefühlszustand: Wie verändert sich dieser? Sie können diese einfache Übung auch einmal ausprobieren, wenn Sie sich das nächste Mal etwas niedergeschlagen fühlen. Sie werden dann bemerken, dass sich ihr emotionaler Zustand verbessert und Sie einfach nicht mehr so tief in das Gefühl der Niedergeschlagenheit hineinkommen. Eine ganze Reihe weiterer solcher körperlichen Emotionsregulationstechniken sind beispielsweise in dem Büchlein „Kopf hoch – Das kleine Überlebenshandbuch: Soforthilfe bei Stress, Ärger und anderen Durchhängern“ von Claudia Croos-Müller zu finden (Croos-Müller 2011). ◄
Um eine unerwünschte Emotion abzuschwächen, kann man also versuchen, eine der emotionalen Reaktion entgegengesetzte Körperhaltung und Mimik einzunehmen. So müsste beispielsweise zur Auflösung von Ärger, der mit einer Anspannung im Unterkiefer, in den Fäusten und in der Stirnmuskulatur einhergeht, genau diese Muskulatur entspannt werden. Für die Abschwächung von Angst oder Unsicherheit hingegen, die beide häufig mit verschränkter Körperhaltung, hektischen Bewegungen, eingezogenen Schultern und ausweichendem Blick einhergehen, ist eine aufrechte Körperhaltung, ein direkter und ein offener Blick und bewusst langsame Bewegungen zielführend. Um eine erwünschte Emotion zu verstärken, kann eine Intensivierung der mit der Emotion einhergehenden körperlichen Veränderung hilfreich sein. Für die Verstärkung angenehmer Emotionen sind demnach eine offene Gestik, ein freundlicher Gesichtsausdruck mit hochgezogenen Mundwinkeln, eine entspannte Stirn- und Nasenmuskulatur, ein aufrechter Gang und eine entspannte Körperhaltung förderlich. Progressive Muskelrelaxation
„Als besonders wirksame Techniken haben sich verschiedene Entspannungsverfahren erwiesen, die alle darauf beruhen, dass die Aktivierung des sympathischen Nervensystems – des physiologischen Erregungssystems – reduziert wird (für einen Überblick
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siehe (Jacobson 2006)). Das bekannteste Verfahren ist die progressive Muskelrelaxation. Dabei werden nacheinander die Muskelpartien bestimmter Körperregionen erst kurz, aber intensiv, angespannt, um dann genau diese Muskelpartien bewusst und lange zu entspannen. Hierfür w urden inzwischen auch Ultra-Kurzformen entwickelt, mittels derer binnen weniger Sekunden eine Entspannung erreicht werden kann (z. B. in (Berking 2017)).”
>>Wichtig! Im zweiten Teil des Buches finden sich die Übungen zur Situationsänderung zusammen mit den Übungen zur Situationsselektion unter 7 Abschn. 13.1.2.
8.1.5.2 Arbeiten mit der Gefühlskomponente
Auf der Gefühlsebene erleben wir emotionale Reaktionen bewusst, indem sie sich innerlich auf eine bestimmte Art und Weise anfühlen. Auf dieser Ebene kann man versuchen, Emotionen dadurch zu regulieren, dass man dem bewussten Erleben einer Emotion gezielt mehr oder weniger Raum gibt. Dieser Mechanismus ähnelt der Emotionsregulation durch Aufmerksamkeitslenkung (7 Abschn. 8.1.3): Man versucht die Aufmerksamkeit hin zu erwünschten Gefühlen zu schieben und weg von unerwünschten Gefühlen. Wenn es um die Intensivierung angenehmer Emotionen geht, wird in englischsprachigen Artikeln häufig der Ausdruck „savoring the pleasant moment“ verwendet, was wörtlich übersetzt bedeutet: einen angenehmen Moment genießen. Von Quoidbach et al. (2010) werden zahlreiche Strategien zur Hochregulation eines angenehmen emotionalen Zustands vorgeschlagen, wie beispielsweise eine Intensivierung des Emotionsausdrucks oder das verbale Teilen des emotionalen Gefühls. Allen Strategien ist ein Bewusstmachen des eigenen emotionalen Zustands gemeinsam, verbunden mit einer Aufmerksamkeitsverschiebung auf das erlebte Gefühl. Das Ziel ist dabei, Wahrnehmung und Gedanken auf die angenehme Emotion und ihre körperlichen und psychischen Auswirkungen zu richten.
„Fault Finding“
„An dieser Stelle sei angemerkt, dass manche Personen angenehmen Emotionen mit Skepsis gegenübertreten – was häufig dazu führt, Aufmerksamkeit von angenehmen Emotionen wegzunehmen. Ein Beispiel sind auf Situationsperfektionierung ausgelegte Gedanken wie: „Was könnte an dieser Situation noch verbessert werden?“. Solche Gedanken führen oft zu einer Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus hin zu den unerwünschten Aspekten einer Situation, sodass es infolgedessen auch zu einem Abklingen der ursprünglich angenehmen Emotion kommt. Dieses Phänomen nennt man ‚Fault Finding‘ (Nelis et al. 2011).“
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
Um die Aufmerksamkeit weg von unangenehmen Emotionen zu schieben, sind Techniken hilfreich, welche der Emotion ihre „Nahrung“ entziehen. Eine der effektivsten Strategien haben wir bereits kennengelernt: Die Situationsveränderung (7 Abschn. 8.1.2). Beispielsweise kann man nach einem Streit den Raum wechseln oder spazieren gehen, um auf andere Gedanken zu kommen, oder zur Ablenkung in einem traurigen Moment mit der Katze spielen. Neben dieser auf das Verhalten ausgerichteten Strategie gibt es auch rein kognitive Strategien der Aufmerksamkeitslenkung. So könnte eine Person, die gerade Schmerz erlebt und sich deshalb hilflos fühlt, sich entweder denken: „Das tut so weh und ich fühle mich hilflos. Das wird sich nie ändern, was bin ich nur für ein armer Tropf.“ Damit würde die Aufmerksamkeit auf der Hilflosigkeit und Verzweiflung verbleiben. Man könnte aber auch versuchen, die Aufmerksamkeit auf die Emotion Hoffnung zu lenken, indem der Fokus auf andere Gedanken gerichtet wird. Ein anschauliches Beispiel sind hier Kinderlieder, die in solchen Situationen von Eltern für ihre Kinder gesungen werden:
»» Heile, heile Gänschen 8
Es ist bald wieder gut Das Kätzchen hat ein Schwänzchen Es ist bald wieder gut Heile, heile Mausespeck In hundert Jahren ist alles wieder weg
Eine dritte Möglichkeit besteht darin, Techniken des achtsamen Wahrnehmens zu nutzen. „Achtsamkeit“ wird sowohl von Anwendern als auch Forschern bis heute auf unterschiedliche Arten definiert. Wir wollen uns hier aufgrund ihrer Relevanz auf die Arbeitsdefinition von Kabat-Zinn (Kabat-Zinn 1990) beschränken, der Achtsamkeit als eine Form der Aufmerksamkeitslenkung definiert, die durch eine Fokussierung auf das Hier und Jetzt und eine Freiheit von Wertung gekennzeichnet ist. Bei klassischen Achtsamkeitsübungen geht es darum, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Sinneswahrnehmungen, aufkommende Gedanken oder Merkmale der Umgebung zu lenken und diese einfach nur wahrzunehmen, ohne den wahrgenommenen Inhalten gedanklich nachzugehen. Eine oft verwendete hilfreiche Metapher ist, sich den eigenen Geist als einen weiten, offenen Himmel vorzustellen und die Gedanken, Empfindungen und Gefühle als vorüberziehende Wolken (z. B. (Jha 2013)). Wie Studien zeigen, kann das Durchführen solcher Achtsamkeitsübungen die Fähigkeit fördern, Aufmerksamkeit von unangenehmen Emotionen wegzuschieben (Jain et al. 2007). 8.1.5.3 Arbeiten mit der kognitiven Komponente
Eine lange vernachlässigte – vielleicht, weil auf den ersten Blick sehr einfach anmutende – Emotionsregulationsstrategie auf der kognitiven Ebene ist das „verbale Labeling“ – also das Beschreiben des eigenen momentanen emotionalen Zustands mittels Worten. Man weiß inzwischen, dass das verbale Labeling hilfreich sein kann für die Abschwächung unangenehmer Emotionen. Ein erster Grund ist, dass dadurch der eigene emotionale Zustand unserem rationalen System zugänglich gemacht wird, was eine Anwendung rationaler Emotionsregulationsstrategien wie beispielsweise der Situationsumdeutung (siehe 7 Abschn. 8.1.4) erlaubt. Ein weiterer interessanter Wirkmechanismus beruht darauf, dass die Menge an Blut im Gehirn relativ konstant ist. Durch
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den Versuch der rationalen Umschreibung müssen nun Gehirnareale stärker mit Blut versorgt werden, die mit rationalen Denkprozessen in Verbindung stehen. Aufgrund der konstanten Blutmenge im Gehirn muss dafür von anderen Gehirnarealen Blut abgezogen werden. Dementsprechend verlagert sich die Gehirnaktivität weg von Emotionsarealen wie der Amygdala, was die Intensität emotionaler Reaktionen vermindert (Dietrich 2003). Mythos Katharsis-Effekt
„Deutlich abzugrenzen vom verbalen Labeling ist das „Acting Out“, also das uneingeschränkte Ausagieren des durch eine unangenehme Emotion ausgelösten Verhaltensimpulses wie beispielsweise ein aggressives Verhalten bei Ärger oder ein Rückzug bei Scham oder Angst. Weit verbreitet ist beispielsweise der Mythos, dass Ärger verpuffen würde, wenn man ihm genug Raum lässt, oder man Ärger loswerden würde, indem man schreit oder um sich schlägt – der sogenannte ‚Katharsis-Effekt‘. Hierbei handelt es sich um eine Annahme, für die es keinerlei wissenschaftliche Evidenz gibt. Vielmehr kann das Gegenteil der Fall sein: Für das Herbeiführen einer körperlichen Anspannung, die beim Ausagieren zwangsläufig entsteht oder anhält, muss das sympathische Nervensystem – unser physiologisches ‚Gaspedal‘ – aktiviert werden, was sich stressverstärkend auswirken kann. Weiterhin können aggressive Handlungen durch Feedback-Effekte auf geistiger Ebene verstärkt werden (z. B. Bushman (2002)).“
8.1.5.4 Arbeiten auf der zwischenmenschlichen Ebene
Über das Einwirken auf die verschiedenen Funktionsebenen unseres Organismus hinaus, kann man auch versuchen, aufgetretene Emotionen auf der zwischenmenschlichen Ebene zu regulieren. Das kann zum einen bedeuten, die eigenen Emotionen mit anderen zu teilen und dadurch zu regulieren. Zum anderen kann das aber auch bedeuten, den eigenen Emotionsausdruck gezielt dazu zu nutzen, andere Personen in eine emotional erwünschte Richtung zu beeinflussen. zz Teilen von Emotionen mit anderen
Beim Teilen von Emotionen besteht das Ziel darin, anderen zu kommunizieren, wie man sich selbst momentan fühlt und welche Gedanken damit einhergehen. Wie schon bei der Beschreibung der verschiedenen Strategien zur Bewältigung unangenehmer Konsequenzen erwähnt (7 Abschn. 8.1.4.3), kann dadurch soziale Unterstützung für eine problemorientierte oder emotionsorientierte Bewältigung eingeholt werden. Über die Bewältigung unangenehmer Konsequenzen hinaus können sich dadurch soziale Beziehungen verstärken, wenn man Anteilnahme und Wärme austauscht (Nelis et al. 2011). Dies gilt insbesondere auch für das Teilen angenehmer Emotionen wie beispielsweise Freude. Insbesondere hat sich gezeigt, dass Freude
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
durch das Teilen mit anderen intensiviert und in der Dauer verlängert werden kann. So ist unser soziales Leben durch zahlreiche entsprechende Rituale wie das Feiern von Geburts- und anderen Festtagen gekennzeichnet, welche nachweislich angenehme Emotionen vermehren (Richards und Gross 2000; Rossano 2012). Einen ähnlichen Einfluss hat das nostalgische Schwelgen, bei dem enge Freunde oder Familienmitglieder sich über gemeinsame angenehme vergangene Ereignisse austauschen (siehe auch 7 Abschn. 5.2.3).
zz Soziale Regulation mittels Emotionsausdruck
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Der Ausdruck einer Emotion in Gesicht und Körper dient als ein soziales Signal, mittels dessen innere emotionale Zustände und Verhaltensabsichten nach außen kommuniziert werden. Aus einer sozialen Perspektive heraus ist es daher naheliegend, diese Funktion unserer Emotionen auch gezielt zu verwenden, um andere Personen in eine gewünschte Richtung zu beeinflussen. Dass Menschen Gesichtsausdrücke gezielt einsetzen, zeigen beispielsweise Feldstudien. So wurde in einer Studie der Gesichtsausdruck von Bowling-Spielern beobachtet (Kraut und Johnson 1979). Wie sich zeigte, war der Erfolg oder Misserfolg eines Kegelwurfs weniger ausschlaggebend für das Zeigen eines Lächelns. Stattdessen lächelten die Spieler vor allem dann, wenn sie sich zu ihren Mitspielern umdrehten. Ein Lächeln scheint in diesem Fall also weniger dem Ausdruck eines inneren emotionalen Empfindens, sondern eher der Regulation von sozialen Beziehungen zu dienen. Über den individuellen Einsatz solcher Strategien zur Regulation sozialer Beziehungen hinaus stellen bestimmte Berufe ganz bestimmte Anforderungen an das Zeigen von Emotionen. Erste Untersuchungen hierzu stammen von der Soziologin Arlie Hochschild, die auch den darauf bezogenen Begriff „Emotionsarbeit“ geprägt hat (Hochschild 1979). Ihr Ausgangspunkt war, dass in vielen Dienstleistungsunternehmen oft explizite emotionale Darstellungsregeln existieren, welche Emotionen bei der Interaktion mit Kunden gezeigt werden sollen und welche nicht. Beispielsweise werden Stewardessen dazu angehalten, immer zu lächeln und freundlich zu sein, selbst wenn sie eigentlich gerade andere Emotionen erleben. Emotionale Darstellungsregeln und Emotionsarbeit bei Lehrkräften
„Auch die Tätigkeit von Lehrkräften ist grundlegend geprägt von normativen Vorstellungen über das Zeigen von Emotionen. Zum einen werden von gesellschaftlicher Seite bestimmte Normen an das Erleben und Verhalten von Lehrkräften herangetragen. Zum anderen setzen sich Lehrkräfte auch hier selbst bestimmte Ziele, mit dem Ziel, damit eine positive und effektive Lernumgebung zu schaffen. Eine häufig vorgefundene generelle emotionale Norm besagt, dass unangenehme Emotionen nicht gezeigt und angenehme Emotionen gezeigt werden sollen, und das Zeigen von zu starken oder zu schwachen Emotionen allgemein vermieden werden soll (Zembylas 2005). Als spezifischere emotionale Normen wird beispielsweise genannt, Wertschätzung und Enthusi-
235 8.1 · Die Fähigkeit der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment
asmus gegenüber Schülern und dem Unterrichtsfach zum Ausdruck zu bringen, Freude am Beruf zu zeigen und Sinn für Humor zu haben (Winograd 2003). Schaffen es Lehrkräfte nicht, diese emotionalen Normen einzuhalten, werden sie als unprofessionell eingeschätzt.“
Bereits von Hochschild (1979) wurden dabei zwei Strategien unterschieden, wie man versuchen kann, solchen gesellschaftlichen oder individuellen Normen gerecht zu werden. Beim sogenannten Oberflächenhandeln wird versucht, den Emotionsausdruck in Gesicht und Körper mit den normativen Darstellungsregeln in Einklang zu bringen, unabhängig davon, wie man sich innerlich wirklich fühlt. Wie zahlreiche Studien zeigen, ist diese Strategie langfristig mit problematischen Konsequenzen verbunden. Denn die Dissonanz zwischen äußerlich gezeigten und innerlich erlebten Emotionen wird als unangenehm und belastend erlebt und wirkt sich negativ auf das Wohlbefinden aus (Nerdinger 2011). Befragungen von Lehrkräften haben ergeben, dass Oberflächenhandeln zur Regulation des emotionalen Ausdrucks mit erhöhter Angst und Frustration einhergeht (Lee et al. 2017). Beim sogenannten Tiefenhandeln zur Regulation des emotionalen Ausdrucks wird dagegen versucht, innerlich auch tatsächlich den Zustand herzustellen und zu erleben, der äußerlich gezeigt werden soll. Zahlreiche Studien zeigen, dass das nicht mit einer Beeinträchtigung des Wohlergehens einhergeht (Hülsheger und Schewe 2011) und sogar positive Konsequenzen mit sich bringen kann. So gibt es empirische Hinweise, dass Tiefenhandeln bei Lehrkräften mit höherer Freude und höherem Stolz einhergeht, während Angst seltener erlebt wird (Lee et al. 2017). >>Wichtig! Zahlreiche Übungen zum Emotionsausdruck finden sich im zweiten Teil des Buches unter 7 Abschn. 13.1.5, darunter zwei Gruppenübungen und zwei Übungen, die spezifisch auf den Schulkontext zugeschnitten sind, sowie eine zur Kommunikation.
8.1.6 Emotionen im gegenwärtigen Moment aushalten
Wenn alle Versuche scheitern, eine Emotion im gegenwärtigen Moment zu regulieren, ist es wichtig, den momentanen Emotionszustand auszuhalten und die Tatsache hinzunehmen, dass man zur Emotionsregulation nicht in der Lage war. Eine solche Emotionstoleranz kann eine dysfunktionale Verlängerung oder gar Verstärkung des unerwünschten momentanen Emotionszustands durch Nachgrübeln oder meta- emotionale Reaktionen wie Schuldgefühle verhindern (Troy et al. 2018). Hilfreich ist zunächst zu wissen, dass wir Menschen typischerweise dazu tendieren, das Andauern von emotionalen Reaktionen auf unangenehme Ereignisse zu überschätzen. In einer Studie der Forschergruppe um den Psychologen Daniel Gilbert zeigte sich beispielsweise eine Überschätzung der tatsächlichen Dauer unangenehmer emotionaler Reaktionen für so unterschiedliche unerwünschte Ereignisse wie dem Ende einer romantischen Beziehung, dem Verpassen einer beruflichen Lebenszeitstelle, einer Wahlniederlage, von negativem persönlichem Feedback, der Konfrontation mit der Geschichte des Todes eines Kindes und der Ablehnung in ei-
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
.. Abb. 8.6 Erwartete versus tatsächliche Angstreaktion
Intensität
Erwarteter Angstverlauf Tatsächlicher Angstverlauf Zeit Psychisches Immunsystem
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nem Bewerbungsgespräch (Gilbert et al. 1998). Laut Daniel Gilbert ist uns Menschen hier das automatische Wirken eines sogenannten „psychischen Immunsystems“ nicht bewusst: Unangenehme emotionale Reaktionen wie Angst oder Ärger sind mit einer starken und schnellen Mobilisierung von Energie verbunden. Um diese Mobilisierung von Ressourcen wieder einzudämmen, startet unser Organismus automatisch verschiedene physiologische, kognitive und soziale Prozesse, welche zum Ziel haben, die emotionsbedingte Mobilisierung wieder herunterzufahren (Taylor 1991). Wenn man also das Gefühl hat, eine unangenehme Emotion nicht aushalten zu können, kann es hilfreich sein, sich bewusst zu machen, dass die Emotion nicht immer intensiver werden wird, sondern mit der Zeit aufgrund unseres psychischen Immunsystems automatisch wieder nachlassen wird (für eine Illustration siehe . Abb. 8.6). Neben dem Versuch, sich die vorübergehende Natur von unangenehmen Emotionen bewusst zu machen, kann es auch hilfreich sein, sich die Funktion der aufgetretenen Emotion vor Augen zu führen und sich klarzumachen, dass auch unangenehme Emotionen ihren Sinn haben können. Bei Trauer wäre dies beispielsweise das Loslassen unerfüllbarer eigener Ziele, Wünsche und Träume, bei Ärger das Durchsetzen eigener Ziele und Bedürfnisse oder das Verteidigen eigener Grenzen. Wenn man ähnliche Situationen schon einmal durchgestanden hat, kann auch ein Blick in die eigene Vergangenheit hilfreich sein. So wird man sich bewusst, dass man eine ähnliche Emotion einst schon einmal aushalten konnte, was einem die Stärke der eigenen Bewältigungskompetenzen vor Augen führt.
>>Wichtig! Zum Aushalten von Emotionen im Moment finden sich Übungen im zweiten Teil des Buches unter 7 Abschn. 13.1.5.7. Darunter zwei Gruppenübungen zur Verwendung gedanklicher Strategien zur Verbesserung der eigenen Toleranz und ein Rollenspiel.
8.2 Langfristige Emotionsregulation
Unsere momentanen emotionalen Reaktionen spiegeln wider, welche inneren Landkarten wir im Laufe unseres Lebens bisher im Bereich der Wahrnehmung, des Bedürfnissystems, des emotionalen Systems und des rationalen Systems angelegt haben. Empfindet man die sich in Reaktion auf Ereignisse einstellenden oder ausbleibenden emotionalen Zustände als unerwünscht, kann man versu-
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chen, diese Landkarten langfristig zu verändern, oder anders ausgedrückt: Man kann versuchen, in der Persönlichkeit zu wachsen. Wie in 7 Abschn. 6.2.4 beim Thema Selbstkonzept und Persönlichkeitswachstum beschrieben, muss man hierfür die inneren Landkarten erkunden und herausfinden, welche Verhaltensgewohnheiten, emotionalen Reaktionstendenzen, Ziele und Wertmaßstäbe man im Laufe seines Lebens erworben hat. Darauf aufbauend gilt es sensibel zu erspüren, welche Aspekte tragende Elemente der eigenen Persönlichkeit sind und welche nicht. Wichtig ist, sich dabei auch die Frage zu stellen, warum eine bestimmte Emotion momentan eigentlich als erwünscht oder unerwünscht empfunden wird. Eine Veränderung der emotionalen Reaktionsgewohnheiten kann auch bedeuten, seine bisherigen Wertmaßstäbe zu ändern, indem man eine bisher als unerwünscht empfundene Emotion als zur eigenen Person gehörend anerkennt und man versucht, den eigenen Lebenskontext so zu ändern, dass diese Emotion als erwünscht erlebt wird. Genau das ist ein wichtiger Unterschied zwischen der Emotionsregulation im Moment und der Emotionsregulation über die Veränderung der emotionalen Reaktionsgewohnheiten: Während man bei der Regulation im Moment die eigenen Emotionen in Hinblick auf die gegenwärtig empfundene Wünschbarkeit reguliert, geht es bei der Regulation der emotionalen Reaktionsgewohnheiten darum, die gegenwärtig empfundenen Wünschbarkeiten zu hinterfragen. Wie wir in 7 Kap. 7 gesehen haben, zeichnet sich eine hohe emotionale Kompetenz dadurch aus, dass eine Person für sich geklärt hat, welche Emotionen in welcher Situation wirklich zur eigenen Person gehören und welche nicht, und dass sie emotionale Reaktionsgewohnheiten entwickelt hat, welche damit in Einklang stehen. Der Weg dorthin besteht aus zwei Schritten: Zunächst gilt es, die eigenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten zu erkunden, hinsichtlich ihrer Funktionalität zu bewerten und gegebenenfalls zu verändern – in anderen Worten: Der schon im Eingangskapitel in 7 Abschn. 1.2 beschriebene Kompetenzkreislauf muss durchlaufen werden. Bemerkt man, dass eine Veränderung der emotionalen Reaktionsgewohnheiten in der erwünschten Richtung nicht erreicht wird, gilt es, die betroffenen Emotionen als Teil der eigenen Person zu akzeptieren und anzuerkennen. Im Folgenden werden wir beide Schritte genauer betrachten.
8.2.1 Die Veränderung emotionaler Reaktionsgewohnheiten
Die nötigen Schritte auf dem Weg zur Veränderung der eigenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten wurden bereits bei der Vorstellung des Kompetenzkreislaufs im Eingangskapitel beschrieben (7 Abschn. 1.2). In . Abb. 8.7 sind die darin zu durchlaufenden Schritte zur Veränderung emotionaler Reaktionsgewohnheiten genauer spezifiziert. Wir wollen die drei Schritte im Folgenden kurz beleuchten.
8.2.1.1 Wahrnehmen
Der Ausgangspunkt für die Veränderung der eigenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten ist eine möglichst genaue Wahrnehmung und Aufzeichnung des eigenen emotionalen Reagierens. Die erste Schwierigkeit besteht darin, dass das, was wir im Alltag sehen, von unseren Wahrnehmungsgewohnheiten geprägt ist, sodass man manche Dinge nicht mehr richtig wahrnimmt oder sogar komplett blind dafür ist.
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
.. Abb. 8.7 Der emotionale Kompetenzkreislauf
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Hilfreich ist hier, sich eine zweite Wahrnehmungsgewohnheit zuzulegen: Nicht dem ersten Wahrnehmungseindruck zu vertrauen, sondern ein zweites Mal mit einem genaueren Blick hinzusehen. Die zweite Schwierigkeit besteht darin, dass das bloße Wahrnehmen der Situation und der eigenen emotionalen Reaktionen darauf nicht ausreicht. Um anschließend darüber reflektieren zu können, müssen die Wahrnehmungseindrücke so abgespeichert werden, dass sie später verfügbar sind. Hilfreiches Wissen hierfür wurde bereits in 7 Kap. 2 vermittelt, Werkzeuge und Übungen dazu finden sich im zweiten Teil des Buches in 7 Kap. 9.
8.2.1.2 Reflektieren
Der nächste Schritt besteht darin, über das wahrgenommene Geschehen und die eigenen Erlebens- und Verhaltensreaktionen noch einmal genauer nachzudenken. Da emotionsrelevante Situationen häufig ein dringliches Handeln erfordern und das Erleben einer Emotion einen verzerrenden Einfluss auf unsere Denkprozesse haben kann (7 Abschn. 5.4.2), sollte man das in einer späteren Reflexionsphase tun, wenn die Emotionen wieder abgeklungen sind. Dabei sollte man sich die Situation und die eigenen emotionalen Reaktionen darauf genau ansehen, gegebenenfalls die inneren Landkarten nach möglichen Ursachen durchforsten und sich dann folgende Fragen stellen: Wie hätte man sich eigentlich gewünscht zu reagieren? Und warum wünscht man sich das? Hilfreich hierfür ist ein vertieftes Wissen darüber, wie wir innerlich funktionieren, was in 7 Kap. 4, 5 und 6 vermittelt wurde. Das Ziel dieser Reflexion ist es zu entscheiden, ob man seine emotionalen Reaktionsgewohnheiten verändern oder als Teil der eigenen Person anerkennen möchte. Dazu kann man die eigenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten anhand von fünf aufeinander aufbauenden Fragen beurteilen. Man kann diese Fragen in einem Flussdiagramm mit fünf aufeinanderfolgenden Entscheidungsebenen darstellen, wobei der Entscheidungsprozess auf jeder Ebene entweder mit der Entscheidung endet, etwas ändern zu wollen, oder aber auf die nächste Ebene verlagert wird (siehe . Abb. 8.8).
239 8.2 · Langfristige Emotionsregulation
.. Abb. 8.8 Ein Flussdiagramm zur Reflexion emotionaler Reaktionsgewohnheiten
zz Frage 1: Übereinstimmung der Emotion mit Bedürfnissen und Zielen
Die erste Frage ist, ob die in Reaktion auf eine Situation ausgelöste Emotion mit den langfristigen Bedürfnissen und rationalen Zielen einer Person übereinstimmt. Wie wir gesehen haben, funktionieren die psychischen Systeme, die unseren Bedürfnissen, Emotionen und rationalen Sichtweisen zugrunde liegen, jeweils nach eigenständigen Prinzipien, sodass diese nicht immer gut zueinander passen müssen. So können durch emotionale Konditionierungen in der Vergangenheit emotionale Reaktionsgewohnheiten entstanden sein, welche für die Erfüllung von Bedürfnissen und rationalen Zielen langfristig hinderlich sind. Man kann sich aber auch in einer Situation befinden, in der bestimmte Emotionen für die Erfüllung von Bedürfnissen und Zielen hilfreich wären, aber nicht gewohnheitsmäßig ausgelöst werden. In der Tat zeigen Überblicksstudien, dass die entwickelten bedürfnis- und emotionsbezogenen Reaktionsgewohnheiten und die ausgebildeten rationalen Ziele nahezu völlig unabhängig sind (Köllner und Schultheiss 2014). Stellt man nun fest, dass die emotionalen Reaktionsgewohnheiten mit den Bedürfnissen und rationalen Zielen nicht im Einklang stehen, kann der Versuch sinnvoll sein, die entsprechenden emotionalen Reaktionsgewohnheiten zu ändern. Allerdings gilt es hier sensibel abzuwägen, inwiefern möglicherweise eine Anpassung der Bedürfnisse und Ziele an die ausgebildeten emotionalen Reaktionsgewohnheiten ebenso Sinn ergeben kann, denn auch so kann Einklang zwischen den drei psychischen Steuerungssystemen erreicht werden – ein Aspekt, auf den wir weiter unten im Abschnitt zur Emotionsakzeptanz noch eingehen werden (7 Abschn. 8.2.2).
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
zz Frage 2: Änderbarkeit der zugrundeliegenden Situation
Stimmen die ausgelösten Emotionen mit den Bedürfnissen und rationalen Zielen überein, ist die zweite Frage, ob die einer Emotion zugrundeliegende Situation und die sich daraus ergebenden Konsequenzen überhaupt beeinflusst werden können. Unsere Emotionen stellen sich ja deswegen ein, weil sie unseren Organismus möglichst optimal auf die möglichen Konsequenzen vorbereiten sollen, die sich aus einer Situation ergeben können – im Falle angenehmer Emotionen geht es darum, in Aussicht stehende erwünschte Soll- und Zielzustände zu erreichen, im Falle unangenehmer Emotionen darum, drohende unerwünschte Soll- und Zielzustände zu vermeiden. Wenn es aber egal ist wie man handelt, weil die Situation bzw. die Konsequenzen gar nicht beeinflusst werden können, ist es eigentlich auch egal, welche Emotionen man erlebt. Im Falle angenehmer Emotionen ist es weniger gravierend, wenn man diese trotzdem erlebt. Im Falle unangenehmer Emotionen macht es dagegen nicht notwendigerweise Sinn, diese trotzdem empfinden zu müssen. Dementsprechend kann bei nicht beeinflussbaren Situationen und Konsequenzen eine Änderung unangenehmer emotionaler Reaktionsgewohnheiten wünschenswert sein. Ein bekannter Aphorismus von Reinhold Niebuhr bringt dies auf den Punkt:
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»» Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den
Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Emotionsregulation in ausweglosen Situationen
„Im Abschnitt zu den Bewertungsemotionen (7 Abschn. 5.2.3) haben wir bereits Viktor Frankl kennengelernt. Ein Ziel der von ihm begründeten Logotherapie besteht darin, Menschen in ausweglosen Situationen aus emotionalen Abgründen wieder herauszuhelfen. Viele seiner Ideen stammen aus der Zeit, als er mit seiner Frau und seinen Eltern und Geschwistern in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Auschwitz inhaftiert war. Seine Frau, seine Eltern und sein Bruder starben schließlich dort. Seine große Frage als Psychotherapeut war, wie man Menschen noch einen Lebenssinn vermitteln kann, wenn man eigentlich nur noch den sicheren Tod erwartet. In seinem eindrücklichen Buch‚ … trotzdem ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager‘ beschreibt er eine seiner Erkenntnisse folgendermaßen ((Frankl 1982), S. 95):
»»
lles kann einem Menschen genommen werden, außer die letzte menschliche A Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen.
Damit ist gemeint, dass wir als Menschen eine Freiheit über den durch die äußeren Umstände bestimmten Freiraum hinaus haben: Die innere Freiheit zu entscheiden, ob wir die von den äußeren Umständen ausgelösten Emotionen erleben möchten oder nicht. Eine vom ihm hierfür beschriebene Technik ist der Humor, den wir als Technik zur Regulation momentan empfundener Emotionen bereits kennengelernt haben
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(7 Abschn. 8.1.4.1). Sehr eindrücklich erlebbar gemacht wird das in dem Kinofilm „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni. Dort wird ein Vater – gespielt von Robero Benigni selbst – mit seinem Sohn in ein Konzentrationslager eingeliefert. Um seinem Sohn die äußerst schlimmen Umstände erträglicher zu machen, kommt er auf die Idee, ihn glauben zu machen, dass es anstatt um das Vermeiden des Todes um das Erreichen von Punkten in einem Spiel ginge, bei dem der Sieger am Ende einen echten Panzer gewinnt. Sein Sohn nimmt daraufhin die vielen Drangsalierungen mit ganz anderen Augen war – sein Fokus verschiebt sich praktisch von der Perspektive des drohenden Todes auf die Perspektive des in Aussicht stehenden Gewinnes. In der folgenden Abbildung ist der zugrundeliegende psychische Prozess illustriert:
In Befragungen von ehemaligen Kriegsgefangenen konnten die vorteilhaften Wirkungen von Humor als Emotionsregulationsstrategie tatsächlich empirisch nachgewiesen werden (Henman 2001). Wichtig ist aber noch der Hinweis, dass bei einer Emotionsregulation mittels humorvoller Umdeutung das Problem zwar innerlich anders empfunden wird, äußerlich aber erhalten bleibt. Bei nicht änderbaren Umständen ist Humor also funktional, eben gerade weil die Umstände nicht änderbar sind. Bei Umständen, die änderbar wären, kann eine humorvolle Regulation dagegen auch dysfunktional sein, weil dadurch die Gefahr besteht, keine fruchtbaren Änderungsversuche mehr zu unternehmen, was sich nachteilig auf das emotionale Wohlbefinden auswirken kann (Troy et al. 2013).“
zz Frage 3: Funktionalität der Emotion
Sind die einer Emotion zugrundeliegenden Situationen und Konsequenzen änderbar, ist die dritte Frage, ob eine gewohnheitsmäßig ausgelöste Emotion für das Erreichen oder Vermeiden der Konsequenzen einer Situation überhaupt hilfreich ist. Wie beschrieben, stammt die mit einer Emotion einhergehende Zustandsänderung des Organismus aus unserer evolutionären Vergangenheit (7 Abschn. 5.1). Dementsprechend müssen Emotionen für unser aktuelles Fortkommen nicht immer funktional
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
sein. Ein Beispiel ist die Prüfungsangst. Während die Wirkungen von Angst beim Wegrennen vor einer Schlange durchaus funktional sind, führt derselbe Mechanismus in einer Prüfungssituation zu großen Nachteilen. Eine Änderung der emotionalen Reaktionsgewohnheiten kann also dann angebracht sein, wenn man feststellt, dass eine Emotion für das Erreichen oder Vermeiden von bestimmten Konsequenzen nicht förderlich ist. Dysfunktionaler Ärger
„Ein weiteres Beispiel in der Schule ist, wenn ein störendes Schülerverhalten eine Ärgerreaktion bei einer Lehrkraft auslöst. Manchmal ist es gerade das Ziel von Schülern, die Lehrkraft dazu zu bringen, emotional aus der Haut zu fahren. Da – zum Glück! – körperliche Strafen nicht erlaubt sind, haben die Schüler an sich von der durch den Ärger ausgelösten körperlichen Aktivierung der Lehrkraft wenig zu befürchten. Stattdessen besteht die Gefahr, sich als Lehrkraft mit solchen Reaktionen lächerlich zu machen. Während Ärgerreaktionen in unserer evolutionären Vergangenheit also generell funktional gewesen sein mögen, ist das im Schulbereich nicht immer der Fall. Als Lehrkraft muss ich hier die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass meine Ärgerreaktion von Schülern nur instrumentalisiert wird, um mich auf die Palme zu bringen. In solchen Fällen wäre mein Ärger also dysfunktional.“
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zz Frage 4: Mögliche nachteilige Nebenwirkungen der Emotion
Ist eine gewohnheitsmäßig ausgelöste Emotion für das Erreichen oder Vermeiden der Konsequenzen einer Situation hilfreich, stellt sich als vierte Frage, ob die Emotion mit nachteiligen Nebenwirkungen verbunden ist. Ein Beispiel ist der Fall des in 7 Abschn. 5.1 zitierten Geständnis des verärgerten Lehrers: Der Lehrer dort hat zunächst durchaus Erfolg mit seiner Ärgerreaktion – die Klasse wird dadurch tatsächlich ruhiger. Allerdings ist er dann den ganzen Tag schlecht gelaunt und lässt seinen Ärger auch zu Hause an seinem Sohn aus. Hier gilt es die positiven und negativen Wirkungen einer Emotion abzuwägen. Sollten die Nachteile überwiegen, kann eine Änderung der emotionalen Reaktionsgewohnheiten angebracht sein.
zz Frage 5: Angemessenheit der Emotion
Gibt es keine gravierenden nachteiligen Nebenwirkungen, so stellt sich als fünfte Frage, ob die Emotion der jeweiligen Situation angemessen ist. Hintergrund ist hier, dass es sowohl kulturelle als auch individuelle Normen gibt, welche Emotionen gezeigt werden dürfen bzw. sollten – sogenannte „Display Rules“. So glauben Lehrkräfte oft, positive Emotionen wie Freude am Unterrichten ausdrücken zu müssen und negative Emotionen wie Ärger selbst bei Unterrichtsstörungen nicht zeigen zu dürfen (Zembylas 2005). Widerspricht die Emotion solchen Normen, kann eine Änderung der emotionalen Reaktionsgewohnheiten angebracht sein. Allerdings gilt es hier zu bedenken, dass solche Normen häufig nicht bewusst reflektiert sind, sondern sie unser
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Verhalten unbewusst steuern. Hier ist es wichtig, sich solche Normen bewusst zu machen und hinsichtlich ihrer tatsächlichen Funktionalität individuell zu bewerten. Kommt man schließlich zu dem Urteil, dass die Emotion der Situation angemessen ist, wäre es funktional, die entsprechenden emotionalen Reaktionsgewohnheiten beizubehalten und zu akzeptieren. 8.2.1.3 Planen
Auf die Reflexionsphase folgt schließlich die Planungsphase. Basierend auf dem Ergebnis der Reflexion gilt es in dieser Phase konkrete Strategien zu entwickeln, wie man die erwünschten Änderungen der eigenen emotionalen Reaktionsgewohnheiten erreichen könnte. Hilfreich hierfür ist, über ein reichhaltigen Repertoires an Emotionsregulationstechniken zu verfügen, welches bereits in 7 Abschn. 8.1 im Rahmen der Emotionsregulation im gegenwärtigen Moment vermittelt wurde. Die meisten der dort vorgestellten Strategien können genauso mit dem Ziel einer langfristigen Veränderung der Reaktionsgewohnheiten eingesetzt werden. Das Ziel der Planungsphase besteht darin, eine konkrete Strategie zu entwerfen, mit welcher man das nächste Mal in eine emotional relevante Situation gehen möchte. Anschließend muss ein Plan entwickelt werden, wie man es schaffen könnte, diese Strategie auch wirklich anzuwenden und nicht wieder in alte Gewohnheitsmuster zu verfallen. Dazu ist ein möglichst genauer Plan sinnvoll, welcher in der Situation konkret vorhandenen Reizmerkmale als Erinnerungsanker für die Anwendung der neuen Strategie nutzt. Hilfreich kann hier auch ein vorheriges Üben sein, beispielsweise im Rahmen eines Trainings. Wie bereits im Eingangskapitel erwähnt (7 Abschn. 1.2), wird man allerdings nie mit Sicherheit wissen, ob ein aufgestellter Plan wirklich Früchte tragen wird. Unser psychisches Innenleben ist hochkomplex und entwickelt sich ständig dynamisch weiter, sodass zuverlässige Vorhersagen prinzipiell nicht möglich sind. Man darf also nicht aufgeben, wenn ein bestimmter Plan nicht funktioniert. Vielmehr gilt es, den Kompetenzkreislauf so lange reflektorisch und planerisch zu durchlaufen, bis sich die bestmöglichen emotionalen Reaktionsgewohnheiten einstellen.
8.2.2 Die Akzeptanz emotionaler Reaktionsgewohnheiten
Allerdings kann es auch sein, dass trotz mehrmaliger Versuche und trotz der Verwendung verschiedener Strategien keine Veränderung der emotionalen Reaktionsgewohnheiten in der erwünschten Richtung erreicht wird. Hier ist es zunächst wichtig, nicht zu verzweifeln. Vielmehr sollte man das als Chance begreifen, mehr über sich selbst zu lernen, indem man sich die Frage stellt, inwiefern die emotionalen Reaktionsgewohnheiten möglicherweise als nicht änderbarer Teil der eigenen Persönlichkeit akzeptiert werden müssen. Zunächst mag man hier vielleicht befürchten, dass ein Akzeptieren von eigentlich unerwünschten Emotionen mit der Gefahr einhergeht, dass diese dann vermehrt eintreten. Allerdings spricht wenig für diese Annahme. Vielmehr legen Studien nahe, dass ein Akzeptieren von unangenehmen Emotionen sogar mit einer Verringerung des Erlebens unangenehmer Emotionen einhergehen kann (Troy et al. 2018). Der Grund dafür ist, dass emotionsverstärkende Prozesse wie das Nachgrübeln über erlebte unangenehme Emotionen oder das Auftreten kumulierter unangenehmer Emotionen wegfallen, wie beispielsweise sich darüber zu ärgern, dass man sich ärgert. Das
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
Akzeptieren von unerwünschten Emotionen scheint im Vergleich zum permanenten Dagegen-Ankämpfen sogar langfristig mit einem höheren emotionalen Wohlbefinden und einer höheren Lebenszufriedenheit einherzugehen (Ford et al. 2018). Für eine wirkliche Akzeptanz unerwünschter Emotionen ist es wichtig, das eigene emotionale Reagieren nicht nur für den Moment zu akzeptieren. Der eigentliche Entwicklungsschritt besteht darin, die zunächst als unerwünscht empfundene Emotion als einen genuinen Bestandteil der eigenen Persönlichkeit anzuerkennen und optimalerweise sogar wertzuschätzen. Hier ist es wichtig, sich einen Punkt bewusst zu machen, den wir in 7 Abschn. 6.2.4.2 beim Thema Selbstkonzept und Persönlichkeitswachstum herausgearbeitet haben: Es gibt bei Persönlichkeitseigenschaften wie emotionalen Reaktionsgewohnheiten keinen absolut bestimmbaren Wertmaßstab dafür, was „gut“ oder „schlecht“ ist. Stattdessen ergeben sich „gut“ oder „schlecht“ aus der Passung einer emotionalen Reaktionsgewohnheit zu zwei verschiedenen Aspekten: Der Passung zu den weiteren Persönlichkeitseigenschaften und der Passung zum Kontext, in dem sich eine Person bewegt. Für eine wirkliche Akzeptanz von zunächst als unerwünscht empfundenen Emotionen sind also zwei Schritte nötig: Der erste Schritt besteht darin, die weiteren Persönlichkeitseigenschaften so zu verändern, dass eine Passung mit der zu akzeptierenden Emotion erreicht wird. Auf der Ebene der bedürfnisbezogenen und rationalen Steuerung heißt das, die in der Bedürfnislandkarte gespeicherten Verhaltensgewohnheiten und die in der begrifflichen Landkarte gespeicherten Ziele und Selbstkonzeptinhalte zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Das kann dann beispielsweise heißen, bestimmte bisher für wichtig gehaltene Ziele als weniger wichtig zu bewerten oder sogar aufzugeben, bestimmte bisher hoch gehaltene Wertesysteme zu hinterfragen oder nahestehenden Personen einen neuen Wert beizumessen. Wie in 7 Abschn. 6.2.4.2 beschrieben, besteht hier das allgemeine Ziel darin, die verschiedenen Steuerungsinstanzen in uns wieder miteinander in Einklang zu bringen – also Verhaltensgewohnheiten zu entwickeln, die mit der akzeptierten Emotion und den verfolgten rationalen Zielen im Einklang sind, verbunden mit Wertschätzung der in einem innewohnenden psychischen Kräfte. Der zweite Schritt kann dann darin bestehen, den aktuellen Lebenskontext anzupassen oder zu ändern. Möglicherweise besteht eine geringe Passung zwischen der akzeptierten Emotion und dem bisherigen Lebenskontext. Das kann zum einen bedeuten, den aktuellen Lebenskontext so zu verändern, dass die akzeptierte Emotion selten auftritt. Man akzeptiert also beispielsweise, dass eine ärgerliche Reaktion in bestimmten Situationen zur eigenen Person gehört und auch funktional ist, aber man versucht, das Auftreten solcher Situationen im Alltag zu verringern. Das kann zum anderen aber auch bedeuten, die Funktionalität einer akzeptierten Emotion als persönliche Stärke zu begreifen und zu versuchen, den aktuellen Lebenskontext so zu verändern, dass man sich vermehrt in Situationen bewegt, in denen diese Stärke funktional zum Tragen kommt. In 7 Abschn. 6.2.4.2 haben wir das am Beispiel einer Führungskraft veranschaulicht, die bemerkt, dass ein Kernmerkmal ihrer Persönlichkeit eine hohe emotionale Sensibilität ist, was im beruflichen Kontext einer Führungskraft als wenig funktional angesehen wird. Wenn es um die sensible Begleitung von Kindern und Jugendlichen geht, kann eine hohe emotionale Sensibilität dagegen eine Stärke sein. Durch einen beruflichen Wechsel würde diese Person also eine bessere Passung zwischen Persönlichkeit und Lebenskontext erreichen. Ein Hindernis für das Akzeptieren von emotionalen Reaktionsgewohnheiten können emotionsbezogene Glaubenssätze – also Einstellungen gegenüber bestimm
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245 8.2 · Langfristige Emotionsregulation
ten Emotionen – sein, welche eine Person verinnerlicht hat (Ford und Gross 2019). Auf solche Glaubenssätze sind wir auch schon weiter oben im Kasten zur Emotionsunterdrückung gestoßen (7 Abschn. 8.1). Problematisch für das Akzeptieren von emotionalen Reaktionsgewohnheiten sind solche Glaubenssätze, wenn sie die Überzeugung transportieren, dass bestimmte Emotionen allgemein unerwünscht oder schädlich sind. Ein Beispiel war der Glaubenssatz „Indianer kennen keinen Schmerz“, welcher die Überzeugung enthält, das Erleben von Gefühlen sei insbesondere bei Männern ein Zeichen von Schwäche. Solche Glaubensätze können auch spezifischer ausfallen und sich auf spezifische Emotionen („Angst zu zeigen macht mich verletzbar“) oder spezifische Kontexte („Wenn ich meinen Ärger zeige, werden mich meine Freunde nicht mehr mögen“). Erschwerend kommt hinzu, dass solche Glaubenssätze oft vom sozialen Umfeld geteilt werden. Um die Basis für die Akzeptanz von Emotionen zu schaffen, muss man demnach die bisher für richtig gehaltenen Glaubenssätze hinterfragen und es unter Umständen aushalten können, dass andere Personen diese Glaubenssätze nach wie vor hochhalten.
Kapitelzusammenfassung In diesem Kapitel haben wir die verschiedenen Möglichkeiten und Strategien beleuchtet, mittels derer man sowohl Emotionen im gegenwärtigen Moment regulieren als auch emotionale Reaktionsgewohnheiten langfristig verändern bzw. akzeptieren kann. Bei der Situationsselektion werden bestimmte Situationen gezielt aufgesucht oder verlassen bzw. präventiv gemieden. Bei der Situationsveränderung werden Situationen so verändert, dass unerwünschte Emotionen abgeschwächt bzw. erwünschte Emotion verstärkt werden. Bei der Aufmerksamkeitslenkung wird der Aufmerksamkeitsfokus gezielt weggelenkt von unerwünschte Emotionen auslösenden Objekten bzw. hingelenkt zu erwünschte Emotionen auslösenden Objekten. Bei der Situationsumdeutung wird die anfänglich wahrgenommene Situation neu wahrgenommen bzw. neu interpretiert. Dabei kann man versuchen, das emotionsauslösende Ereignis neu wahrzunehmen oder die Konsequenzen des Ereignisses zu hinterfragen und neu zu bewerten. Bei der Einflussnahme auf Emotionskomponenten wird auf die verschiedenen Emotionskomponenten einer emotionalen Reaktion eingewirkt. Wenn eine Emotion momentan nicht reguliert werden kann, ist es wichtig das zu akzeptieren, um aufrechterhaltende Mechanismen wie das Kreisen von Gedanken zu vermeiden. Bei der langfristigen Veränderung emotionaler Reaktionsgewohnheiten geht es darum herauszufinden, welche Emotionen in welcher Situation zum Kern der eigenen Persönlichkeit gehören und welche nicht. Auf der Basis einer genauen Wahrnehmung des eigenen emotionalen Reagierens gilt es zu entscheiden, ob man seine emotionalen Reaktionsgewohnheiten verändern oder als Teil der eigenen Person anerkennen möchte. Hier gilt es zu prüfen, inwiefern eine Emotion mit den Bedürfnissen und Zielen übereinstimmt, die zugrundeliegende Situation änderbar ist, die Emotion für die Lösung des Problems funktional ist, die Emotion nachteilige Nebenwirkungen hat und die Emotion der Situation angemessen ist. Basierend auf dem Ergebnis der Reflexion müssen konkrete Strategien zuerwünschten Änderungen der emotionalen Reaktionsgewohnheiten entwickelt werden. Wird eine Veränderung nicht erreicht, kann es nötig sein, die betroffenen Emotionen als Teil der eigenen Person zu akzeptieren und gegebenenfalls den aktuellen Lebenskontext anzupassen oder zu ändern. Hindernisse können dabei emotionsbezogene Glaubenssätze sein, die es zu hinterfragen gilt.
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
Literatur
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Kapitel 8 · Die Regulation von Emotionen
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Methoden Im ersten Teil dieses Buches wurde Wissen dazu vermittelt, was Emotionen sind, wie sie ausgelöst werden, wie sie sich auswirken, und auf welche Weise man versuchen kann, auf das emotionale Geschehen Einfluss zu nehmen. Da Emotionen vor dem Hintergrund der Bedürfnisse, Ziele und selbstbezogenen Überzeugungen einer Person entstehen, wurde dabei ein erweiterter Blickwinkel auf die Funktionsweise der menschlichen Psyche eingenommen. Eine hohe emotionale Kompetenz zeichnet sich damit durch Wissen über das emotionale Geschehen und die Fähigkeit zur Regulation von momentan erlebten Emotionen aus, sowie durch die Entwicklung von Gewohnheiten und Mustern, welche für das emotionale Wohlbefinden förderlich sind. Im zweiten Teil des Buches wird eine Brücke zwischen den im ersten Teil vermittelten theoretischen Inhalten und der praktischen Umsetzung im eigenen Leben und im schulichen Kontext geschlagen. Dazu werden zu den jeweiligen theoretischen Bausteinen Übungen, Anregungen für Diskussionsrunden, Anleitungen zur Selbstreflexion sowie Spiele vorgestellt. Diese werden hinsichtlich der Vorbereitung und Durchführung und der dafür nötigen Materialien genau beschrieben. Für Materialien wie Texte und Arbeitsblätter werden Links bereitgestellt, über welche man sich diese herunterladen kann. Eine überblicksmäßige Orientierung über das jeweilige Format der einzelnen Übungen vermitteln verschiedene Icons, welche im Folgenden vorgestellt werden:
Bei diesem Format handelt es sich um Übungen, die entweder alleine, mit einem Partner oder in der Gruppe durchgeführt werden können. Für die meisten Übungen werden Utensilien oder Arbeitsblätter benötigt. Die Übungen stehen inhaltlich immer mit einem bestimmten inhaltlichen Thema dieses Buches in Verbindung, und nach Durchführung können inhaltliche Rückschlüsse gezogen werden.
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Bei diesem Format handelt es sich um Übungen, die ausschließlich der Reflexion dienen, und somit nicht die Anwendung bzw. den Erwerb bestimmter Fertigkeiten zum Ziel haben. Sie werden zumeist im Einzelsetting mit Zettel und Stift durchgeführt.
Einige dieser Reflexionsübungen sind darauf ausgelegt, dass eine Erkenntnis gewonnen wird, z. B. Selbstanalysen über bestimmte Zeiträume hinweg. Das Icon für diese Art von Übungen enthält zusätzlich eine Glühbirne.
Bei diesem Format handelt es sich um Spiele. Spiele können nur innerhalb einer Gruppe durchgeführt werden und eignen sich oft als auflockernde Einführungselemente in Trainings, Workshops oder Seminaren.
Bei diesem Format handelt es sich um Diskussionsrunden. Das Ziel ist dazu anzuregen, Themen aus wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und anwendungsbezogener Perspektive kontrovers zu betrachten. Dabei werden entweder Materialien im Buch selbst bereitgestellt oder auf relevante Beiträge aus den Medien verwiesen.
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Bei diesem Format handelt es sich um Ratespiele. Diese sind immer inhaltlich auf ein Thema dieses Buches abgestimmt und können alleine oder in der Gruppe durchgeführt werden. Sie eignen sich insbesondere dazu, einen Einstieg in ein bestimmtes Thema zu gestalten. Manches Ratespiel macht auch neugierig.
Dieses Icon verweist auf Handy- Applikationen, welche für die Durchführung bestimmter Übungen verwendet werden.
Inhaltsverzeichnis Kapitel 9
Wahrnehmung – Werkzeuge – 253
Kapitel 10
Bedürfnisse – Werkzeuge – 263
Kapitel 11
Emotionen – Werkzeuge – 271
Kapitel 12
Verstand – Werkzeuge – 287
Kapitel 13
Emotionen regulieren – 299
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Wahrnehmung – Werkzeuge Inhaltsverzeichnis 9.1
Wahrnehmungsgewohnheiten – 254
9.1.1 9.1.2
Im Alltag – 254 Klassenbeobachtung – 255
9.2
Wahrnehmung lenken – 256
9.2.1 9.2.2 9.2.3
Achtsamkeitsklassiker – 256 Die Beschreib-Übung – 258 Metta-Meditation – 259
9.3
Arbeitsblätter – 261 Literatur – 261
Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_9. Die Videos lassen sich mit Hilfe der SN More Media App abspielen, wenn Sie die gekennzeichneten Abbildungen mit der App scannen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kuhbandner, I. Schelhorn, Emotionale Kompetenz im Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_9
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Kapitel 9 · Wahrnehmung – Werkzeuge
Ich entdeckte, wie viele Ausdrücke ein Gesicht annehmen kann – über 10.000! (Ekman 2010, S. 19)
Worum es in diesem Kapitel geht In diesem Kapitel werden Übungen, Spiele und Anregungen zur Reflexion zum Thema „Wahrnehmung“ präsentiert. Untergliedert ist dieses Kapitel in einen ersten Abschnitt, in dem die eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten im Alltag und auch im Klassenzimmer anhand von Übungen reflektiert werden können. Es folgt ein zweiter Teil, in dem es darum geht, aktiv die eigene Wahrnehmung zu steuern. Wir stellen einige klassische Übungen aus dem Forschungs- und Anwendungsbereich Achtsamkeit vor, sowie eine Übung zur bewertungsfreien Wahrnehmung und eine Meditationsübung.
Im Kapitel zu den Grundlagen der Wahrnehmung haben wir gesehen, dass wir die Umwelt häufig anders wahrnehmen, als sie in der Realität ist. So haben wir alle unsere inneren Filter und selektiven Aufmerksamkeitsverzerrungen. Die Übungen des folgenden Abschnitts sollen dazu dienen, die eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten und den eigenen Aufmerksamkeitsfokus zu reflektieren, zu erweitern und lenken zu lernen.
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9.1 Wahrnehmungsgewohnheiten 9.1.1 Im Alltag
zz Reflexionsübung mit Erkenntnisgewinn zu eigenen Wahrnehmungstendenzen im Alltag
Diese Übung dient der Analyse der eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten. Optische Täuschungen und bekannte Wahrnehmungsverzerrungen, wie beispielsweise die beschriebene Unaufmerksamkeitsblindheit, sind Beweise dafür, dass unsere Wahrnehmung selektiv ist und vorhandene Tatsachen nicht immer realitätsnah abbildet. Personen unterscheiden sich in der Stärke der vorhandenen Wahrnehmungsverzerrungen. Diese Übung ist eine Beobachtungsübung, die eine Reflexion über die eigenen Wahrnehmungstendenzen anstoßen soll. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Im Alltag“, weißes Blatt Papier oder anderes Abdeckmaterial, Stift, Stoppuhr. Dauer: Ca. 10 Minuten. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs „Im Alltag“, des Abdeckmaterials, des Stiftes und der Stoppuhr. Durchführung: Decken Sie das AB „Im Alltag“ so ab, dass Sie nur die oberste Abbildung sehen können und legen Sie neben sich den zweiten Bogen mit den Zeilen zum Ausfüllen bereit. Stellen Sie dann Ihre Stoppuhr auf 3 Sekunden. Betrach-
255 9.1 · Wahrnehmungsgewohnheiten
ten Sie für drei Sekunden die Zeichnung und versuchen Sie sich möglichst viele darauf abgebildete Details einzuprägen. Wenn die 3 Sekunden vorbei sind, decken Sie die Zeichnung wieder zu. Füllen Sie dann die Fragen zur ersten Abbildung auf dem bereitgelegten Arbeitsblatt aus. Betrachten Sie dann für 3 Sekunden die nächste Graphik und gehen Sie ebenso vor. Wiederholen Sie das noch zwei weitere Male. Abschluss: Lesen Sie sich für eine abschließende Reflexion den unteren Abschnitt auf dem Arbeitsblatt durch und achten Sie dabei auf Verzerrungen Ihrer Wahrnehmung.
9.1.2 Klassenbeobachtung
zz Übung zu eigenen Wahrnehmungstendenzen im Klassenzimmer
Ein Erkenntnisgewinn bezüglich der eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten im Schulkontext steht im Fokus dieser Übung. Es geht darum, individuelle Wahrnehmungsprozesse im Klassenzimmer genau zu beleuchten und sich bewusst zu machen, welche Dinge im Fokus der individuellen Aufmerksamkeit stehen. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Klassenbeobachtung“. Anmerkung: Als Beobachtungszeitraum bietet sich vor allem der Beginn des Schuljahres, als Beobachtungsobjekt eine neue Klasse an. Dauer: Ca. 20 Minuten + Zeit für die Umsetzung während des Berufsalltags. Gruppengröße: Partnerübung für Lehrerkollegen, kann auch mit mehr als zwei Personen durchgeführt werden. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs „Klassenbeobachtung“, Absprache mit Partner bzgl. des Beobachtungsobjekts. Das Beobachtungsobjekt muss eine von beiden unterrichtete Klasse sein. Durchführung: Füllen Sie möglichst zeitnah nach Ihrer Unterrichtsstunde mit der ausgewählten Klasse den Bogen „Klassenbeobachtung“ aus. Nehmen Sie sich dafür in einem ruhigen Moment fünf bis zehn Minuten Zeit. Verabreden Sie sich zu einem anderen Zeitpunkt mit dem ausgewählten Kollegen: Vergleichen Sie Ihre Beobachtungen. Beantworten Sie dann gemeinsam folgende Fragen: 55 Welche Unterschiede können Sie feststellen? 55 Inwiefern unterscheidet sich der Fokus Ihrer Wahrnehmung von dem Ihres Kollegen? 55 Im Vergleich mit Ihrem Kollegen – auf welche Merkmale der Klasse/der Schüler achten Sie besonders, auf welche gar nicht? Anmerkung: Je häufiger Sie die Übung mit unterschiedlichen Klassen und unterschiedlichen Kollegen durchführen, desto höher wird Ihr Erkenntnisgewinn sein.
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Kapitel 9 · Wahrnehmung – Werkzeuge
9.2 Wahrnehmung lenken 9.2.1 Achtsamkeitsklassiker 9.2.1.1 Drei Bälle
zz Spiel zur gezielten Lenkung von Aufmerksamkeit und Konzentration
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Dieses unterhaltsame Gruppenspiel stellt einige Anforderungen an die Konzentration der Spieler. Sie eignet sich zur Auflockerung und Aktivierung. Da der Spieler seine Aufmerksamkeit während der Übung sehr gezielt steuern muss, kann sie inhaltlich gut als Einführungsübung in die Themen „Wahrnehmung“ und „Aufmerksamkeit“ verwendet werden. Benötigtes Material: Drei verschiedenfarbige Bälle. Dauer: Ca. 15 Minuten, beliebig verlängerbar. Gruppengröße: 6–20 Personen. Vorbereitung: Ein Stehkreis wird gebildet, der Spielleiter hält zu Beginn einen Ball in der Hand und die anderen beiden in greifbarer Nähe. Durchführung: Alle Teilnehmer stehen im Kreis. Drei Bälle werden nacheinander ins Spiel gebracht. Zuerst wird nur mit einem Ball gespielt, der in einer bestimmten Reihenfolge geworfen wird, die immer die gleiche bleibt. Sie wird bei der ersten Runde festgelegt. Die Teilnehmer werden während der ersten Runde angewiesen, ihre Hände hinter den Rücken zu verschränken, sobald sie den Ball bekommen und geworfen haben, damit in der ersten Runde keiner ausgelassen wird und keiner zweimal drankommt. Sobald jeder den Ball einmal erhalten hat, können die Teilnehmer ihre Arme wieder lockerlassen. Das Spiel mit dem ersten Ball wird so lange geübt, bis die Reihenfolge fehlerfrei eingehalten werden kann. Dann kommt der zweite Ball ins Spiel, der erste Ball wird vorerst wieder aus dem Spiel genommen. Wie beim ersten Ball wird auch für den zweiten Ball eine bestimmte Reihenfolge festgelegt, die sich von der des ersten Balles unterscheiden sollte. Wenn alle Teilnehmer sich die Reihenfolge eingeprägt haben und der zweite Ball fehlerfrei fliegt, dann wird der erste Ball wieder hinzugenommen. Mit dem dritten Ball wird ebenso verfahren, sobald die Teilnehmer mit den zwei Bällen fehlerfrei spielen können. Am Ende sind drei Bälle im Spiel. Abschluss: Falls das Spiel als thematische Überleitung und inhaltlich zur Einstimmung auf das Thema „Wahrnehmung“ verwendet wird, kann am Ende eine der folgenden Fragen formuliert werden: „Worauf lag Ihr Aufmerksamkeitsfokus bei dieser Übung?“, „Was fällt Ihnen in Verbindung mit dieser Übung zum Thema „Wahrnehmung“ ein?“ 9.2.1.2 Sauer macht … genauer
zz Übung zur gezielten Wahrnehmungslenkung auf unterschiedliche Sinne
Bei dieser Achtsamkeitsübung für die Großgruppe liegt der Fokus darauf, Wahrnehmungserfahrungen mit unterschiedlichen Sinnesorganen bewusst zu erleben.
257 9.2 · Wahrnehmung lenken
Dabei kann eine Steuerung der Wahrnehmung auf bestimmte Sinneseindrücke gezielt trainiert werden. Es werden Seh- und Tastsinn eingesetzt. Bei dieser Übung handelt es sich um eine Abwandlung der „Zitronenübung“, in Anlehnung an z. B. Born (2016). Benötigtes Material: Je eine Zitrone für jeden Teilnehmer. Behälter, in dem die Zitronen aufbewahrt und in den sie wieder eingesammelt werden können. Dauer: Ca. 15 Minuten, beliebig veränderbar. Gruppengröße: 6–20 Personen. Vorbereitung: Bildung eines Sitzkreises. Bereitlegen von je einer Zitrone pro Teilnehmer. Durchführung: Der Anleiter teilt an jeden Teilnehmer eine Zitrone aus. Stufe I: Danach instruiert er die Teilnehmer, diese Zitrone genau zu betrachten und sich möglichst viele Details einzuprägen. Er gibt den Teilnehmern dafür ca. drei Minuten Zeit. Anschließend sammelt er die Zitronen wieder in den Sammelbehälter ein und teilt sie danach in einer zufälligen Reihenfolge wieder aus. Die Zitronen werden so lange im Kreis herumgereicht, bis jeder Teilnehmer wieder seine eigene Zitrone gefunden hat. Stufe II: Um die Schwierigkeit in der zweiten Runde zu erhöhen, erhalten die Teilnehmer die Anweisung, die Zitrone nur mittels Tastsinn zu explorieren und natürlich auch zu finden. 9.2.1.3 Eine Hand voll Trockenfrüchte
zz Übung zur gezielten Wahrnehmungslenkung auf unterschiedliche Sinne
In dieser Achtsamkeitsübung geht es darum, sich die Zeit zu nehmen, Sinneseindrücke bewusst wahrzunehmen und zu explorieren. Dabei geht es um den Seh-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn. Die gezielte Aufmerksamkeitslenkung wird durch diese Übung gefördert. Diese Übung ist angelehnt an die „Rosinenübung“, z. B. (Kabat-Zinn 1994). Benötigtes Material: Je eine Trockenfrucht pro Teilnehmer. Text „Eine Hand voll Trockenfrüchte“. Dauer: Ca. 20 Minuten. Gruppengröße: Beliebig. Vorbereitung: Bildung eines Sitzkreises. Trockenfrüchte in greifbarer Nähe bereithalten. Durchführung: Alle Teilnehmer sitzen. Jeder bekommt eine Trockenfrucht. Danach werden die Teilnehmer angeleitet, sich in eine bequeme Sitzposition zu begeben. Wenn sich alle eingerichtet haben, wird der folgende Text vorgelesen: ►►Eine Hand voll Trockenfrüchte
Legen Sie die Frucht, die Sie gerade ausgeteilt bekommen haben, in Ihre offene Hand. Dorthin, wo Sie sie gut betrachten können. Schauen Sie sich ihre Oberfläche ganz genau an. Was können Sie erkennen? Wie ist die Färbung? Die Oberflächenstruktur? Wenn Sie
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Kapitel 9 · Wahrnehmung – Werkzeuge
möchten, können Sie sie auf die andere Seite drehen. Was können Sie dort entdecken? --- 30 sec Pause --Nun können Sie die Frucht zwischen Ihren Daumen und Ihren Zeigefinger nehmen und die Augen schließen. Achten Sie nun darauf, was Sie spüren können. Wie fühlt sich die Oberfläche der Frucht an? Wie würden Sie sie beschreiben? Probieren Sie aus, sie zwischen beiden Fingern leicht zu quetschen. Wie fühlt sich die Konsistenz der Frucht an? --- 30 sec Pause --Nun führen Sie die Frucht zu Ihrer Nase, um ihren Geruch wahrzunehmen. Wenn Sie möchten, können Sie einmal tief einatmen, damit Sie den Geruch möglichst intensiv erleben können. Wie würden Sie den Geruch beschreiben? Wie reagiert Ihr Körper auf den Geruch? Warten Sie noch kurz und versuchen Sie die Impulse, die in Ihrem Körper ausgelöst werden, genau wahrzunehmen. --- 30 sec Pause --Dann nehmen Sie die Frucht zwischen Ihre Lippen. Können Sie ihre Oberflächenstruktur auch mit den Lippen wahrnehmen? Was spüren Sie? Lassen Sie die Frucht dann auf Ihre Zunge gleiten und versuchen Sie, sie an die Gaumendecke zu drücken. Wenn Sie mögen, können Sie auch versuchen, schon etwas zu schmecken, indem Sie die Frucht langsam auf der Zunge hin und her bewegen. --- 30 sec Pause --Nun beißen Sie ganz bewusst vorsichtig in die Frucht. Spüren Sie noch einmal ganz genau hin: Wie schmeckt sie? Was hat sie für eine Konsistenz? Versuchen Sie zuerst, noch nicht zu kauen, sondern die Frucht, soweit möglich, auf der Zunge zergehen zu lassen. Wie würden Sie dieses Gefühl beschreiben? Wenn Sie möchten, können Sie die Frucht dann zwischen Ihre Zähne schieben und beginnen zu kauen. Ändert sich etwas am Geschmack? Vielleicht spüren Sie auch einen Schluckimpuls. Geben Sie diesem erst noch nicht nach, sondern beobachten Sie die Reaktionen Ihres Körpers eine Weile. – Schlucken Sie die Frucht dann runter. Können Sie spüren, wann sie im Magen ankommt? Wenn Sie mögen, können Sie jetzt noch einen Moment dort verweilen --- 30 sec Pause ---. Kommen Sie dann langsam zurück in den Raum, nehmen Sie den Stuhl wahr, auf dem Sie sitzen und öffnen Sie, wenn Sie bereit dazu sind, Ihre Augen wieder. ◄
Abschluss: Am Ende der Übung können die Teilnehmer nach ihren Erfahrungen befragt werden. 9.2.2 Die Beschreib-Übung
zz Übung zum Erlernen einer bewertungsfreien Wahrnehmung
In dieser Übung kommt die Idee einer möglichst bewertungsfreien Wahrnehmung zum Tragen. Sie dient damit dem Zweck, eigene automatisch ablaufende Bewertungsprozesse zu reflektieren und sich von diesen zu distanzieren. Dadurch, dass die Übung zu wertfreiem Beschreiben anleitet, wird eine möglichst realitätsgetreue Wahrnehmung gefördert. Diese Übung ist angelehnt an die „Übungen zum Beschreiben“, nach Bohus und Wolf-Arehult (2013).
259 9.2 · Wahrnehmung lenken
Benötigtes Material: --Dauer: Ca. 15 Minuten, beliebig verlängerbar. Gruppengröße: Mindestens drei Personen. Vorbereitung: Bildung eines Sitzkreises. Durchführung: Alle Teilnehmer werden instruiert, sich einen Gegenstand im Raum auszusuchen und dann ihren Gegenstand hintereinander wertungsfrei zu beschreiben. Dabei muss der Anleiter Wertungen ggf. korrigieren. Wertungen wären neben den eindeutigen Bewertungen (gut, schlecht, hässlich, schön, brauchbar, unbrauchbar) auch eine Vielzahl an Adjektiven, die im Sprachgebrauch häufig eingesetzt werden, ohne dass bewusst ist, dass eine subjektive Wertung vorgenommen wurde. Beispiele hierfür sind: Klein – groß, hell – dunkel, passend – unpassend, hoch – tief. Eine bewertungsfreie Beschreibung wäre z. B.: „Ich sehe eine Grünpflanze, deren Blätter herabhängen. Sie befindet sich in einem glänzenden Blumenübertopf. Die Erde in dem Blumentopf ist aufgerissen, sodass ich Risse sehen kann.“ Stufe II: Auf dieser Stufe beschreiben sich die Teilnehmer gegenseitig wertungsfrei. Z. B. „Ich trage einen schwarzen Pullover und eine grüne Hose, bin gelassen, und müde. Ich bin eine ehrliche, vorsichtige, neugierige Person.“ Stufe III: Auf der „dritten Stufe“ werden die Teilnehmer angehalten, sich selbst wertungsfrei zu beschreiben. Abschluss: Der Spielleiter kann die Teilnehmer am Ende ermutigen, eine wertungsfreie(re) Wahrnehmung in ihrem Alltag zu üben oder die Gruppe überlegen lassen, in welchen Kontexten eine wertungsfreie Wahrnehmung erstrebenswert sein könnte. 9.2.3 Metta-Meditation
zz Übung zur gedanklichen Einnahme einer wohlwollenden Perspektive
In dieser Übung wird der gedankliche Wahrnehmungsfokus deutlich verschoben hin zu einer wohlwollenden, gütigen Sicht auf die Dinge. Sie ist in Anlehnung an die Ideen von „liebender Güte“ nach Salzberg (1995) formuliert. Sie ist insbesondere für Personen zu empfehlen, die in Achtsamkeit oder Meditation zumindest etwas geübt sind. Sie stellt hohe Anforderungen an die Konzentrations- und Fokussierungsfähigkeit. Ungeübte können von der Übung profitieren, allerdings können zu Beginn Ermüdungserscheinungen auftreten. Benötigtes Material: Text „Metta-Meditation“, Gong. Dauer: 20–30 Minuten. Gruppengröße: Beliebig. Vorbereitung: Bildung eines Sitzkreises. Falls vorhanden, können sich die Teilnehmer auch auf Matten oder Decken auf den Boden setzen. Stellen Sie den Gong bereit.
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260
Kapitel 9 · Wahrnehmung – Werkzeuge
Durchführung: Die Teilnehmer werden instruiert sich in eine Sitzposition zu begeben, in der sie 15 Minuten verbleiben können. Der Trainer liest dann die Metta- Meditation in getragener und langsamer Sprache vor. Abschluss: Nach der Durchführung der Übung können die Teilnehmer eingeladen werden, über ihre Erfahrungen während der Meditation zu sprechen. Manchmal kann diese Übung Teilnehmer frustrieren. Dann ist es wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass Meditieren oft über lange Zeit erlernt wird, und dass erste Versuche zumeist nicht einfach sind. Zur Ermutigung kann auf Studien hingewiesen werden, die gezeigt haben, dass regelmäßige Metta-Meditation zu positiven Effekten führt (Fredrickson et al. 2008). So stieg in dieser Studie die Auftretenswahrscheinlichkeit angenehmer Emotionen an, die Teilnehmer schätzten ihre Lebenszufriedenheit höher ein und gaben an, dass sich ihre sozialen Interaktionen verbesserten. ►►Metta-Meditation
9
Nehmen Sie eine aufrechte Sitzposition ein. 30 sec Pause --- Rufen Sie sich dann einen Menschen ins Gedächtnis, der Sie geliebt hat. Stellen Sie sich vor, in der Gegenwart dieses Menschen oder Wesens zu sein. --- 30 sec Pause --- Wo in Ihrem Körper können Sie diese Liebe spüren? --- 30 sec Pause --- Stellen Sie sich dann vor, auch die Quelle von Liebe oder liebender Güte zu sein. Spüren Sie Ihr Herz, von dem ein Feld von liebender Güte ausgeht. Stellen Sie sich vor, wie Sie langsam, von Ihrem Herzen auf dieses Feld von liebender Güte ausdehnen. --- 30 sec Pause --- Vielleicht mögen Sie sich vorstellen, wie sich dieses Feld bei jedem Ausatmen ausdehnt und größer und größer wird. --- 30 sec Pause --Wir wollen nun diese liebende Güte in uns weiterwachsen lassen. (Gongschlag) Möge ich voller Frieden, sicher und frei von Gefahr und Bedrohung sein. --- 30 sec Pause --Möge ich glücklich, frei von Kummer, Not und Entbehrung sein. --- 30 sec Pause --Möge ich gesund, frei von Schmerz und in Harmonie mit meinem Körper sein. --- 30 sec Pause --Möge ich fähig sein, ohne Anhaftung und in mir selbst ruhend zu leben. --- 30 sec Pause --Wenn Sie bereit sind, können Sie diese Liebe nun jemandem schicken, den Sie selbst lieben oder gerne mögen. (Gongschlag) Mögest du friedvoll … Schenken Sie dann diese Liebe jemandem, dem Sie neutral gegenüberstehen. Z. B. dem Postboten oder der Bäckereiverkäuferin oder auch einem Nachbarn von Ihnen. (Gongschlag) Mögest du friedvoll … Wenn es Ihnen möglich ist, können Sie ihr Feld der liebenden Güte auf jemanden ausdehnen, mit dem Sie in der Vergangenheit unangenehme oder schmerzliche Erfahrungen gemacht haben. (Gongschlag) Mögest du friedvoll … Wir beenden nun diese Meditation, indem wir uns vor uns und den Personen, die wir in unser Feld der liebenden Güte aufgenommen haben, verbeugen. (Gongschlag) ◄
261 Literatur
9.3 Arbeitsblätter
Die Arbeitsblätter zu diesem Kapitel können Sie sich downloaden unter 7 https:// doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_9. Sie finden dort: 55 zu 7 Abschn. 9.1.1 Arbeitsblatt „AB_Wahrnehmung_01_Im Alltag“ 55 zu 7 Abschn. 9.1.2 Arbeitsblatt „AB_Wahrnehmung_02_Klassenbeobachtung“.
Literatur Bohus, M., & Wolf-Arehult, M. (2013). Interaktives Skillstraining für Borderline-Patienten. Stuttgart: Schattauer. Born, K. (2016). Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) in der KVT. In H. H. Stavemann (Hrsg.), Entwicklungen in der integrativen KVT. Weinheim: Beltz. Ekman, P. (2010). Gefühle lesen-Wie Sie Gefühle erkennen und richtig interpretieren. Heidelberg: Spek trum. Fredrickson, B. L., Cohn, M. A., Coffey, K. A., Pek, J., & Finkel, S. M. (2008). Open hearts build lives: Positive emotions, induced through loving-kindness meditation, build consequential personal resources. Journal of Personality and Social Psychology, 95(5), 1045–1062. Kabat-Zinn, J. (1994). Gesund durch Meditation (11. Aufl.). München: OW Barth. Salzberg, S. (1995). Loving-kindness: The revolutionary art of happiness. Boston: Shambhala.
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263
Bedürfnisse – Werkzeuge Inhaltsverzeichnis 10.1
Bedürfnisse reflektieren – 264
10.1.1 10.1.2
Grundbedürfnisse aller Art – 264 Bedürfnisse im zwischenmenschlichen Kontext – 266
10.2
Umgang mit Bedürfnissen – 268
10.2.1 10.2.2
Bedürfniskuchen – 268 Kleine Schule der Bedürfniskommunikation – 269
10.3
Arbeitsblätter – 270 Literatur – 270
Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_10. Die Videos lassen sich mit Hilfe der SN More Media App abspielen, wenn Sie die gekennzeichneten Abbildungen mit der App scannen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kuhbandner, I. Schelhorn, Emotionale Kompetenz im Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_10
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Kapitel 10 · Bedürfnisse – Werkzeuge
Das Motiv selbstständig handeln [wurde] übereinstimmend von den Lehrerinnen und Lehrern aller Regionen als das stärkste angegeben. (Schaarschmidt und Kieschke 2013, S. 94)
Worum es in diesem Kapitel geht In diesem Kapitel werden Übungen, Spiele und Anregungen zur Reflexion zum Thema „Bedürfnisse“ präsentiert. Untergliedert ist dieses Kapitel in einen ersten Abschnitt, in dem die eigenen Bedürfnisse im Alltag und auch im Klassenzimmer anhand von Übungen reflektiert werden können. Im zweiten Teil soll es darum gehen, den eigenen Umgang mit Bedürfnissen zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern. Eine der Übungen kann als Anker im Alltag dienen, eine weitere zur Verbesserung der eigenen Kommunikationsstrategien.
Bedürfnisse sind eine machtvolle verhaltenssteuernde Kraft in uns, die uns manchmal bewusst, manchmal unbewusst beeinflussen. Die folgenden Übungen, Spiele und Reflexionseinheiten sollen dazu einladen, eigene Bedürfnisse besser wahrzunehmen, und zu analysieren, inwiefern welches Bedürfnis Auswirkungen auf das eigene Verhalten hat. Der Kontext Schule wird dabei in mehrere Werkzeuge mit einbezogen. Ein besonderer Fokus liegt auch auf der Erfüllung und Kommunikation von eigenen Bedürfnissen.
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10.1 Bedürfnisse reflektieren 10.1.1 Grundbedürfnisse aller Art 10.1.1.1 Pralinenübung
zz Übung zur Wahrnehmungslenkung auf Grundbedürfnisse
Den innerlichen Drang nach der Befriedigung der eigenen körperlichen Grundbedürfnisse deutlich wahrzunehmen – dies ist das Ziel dieser Übung. Die Übung kann gut in Großgruppen als Einführung in das Thema „Bedürfnisse“ eingesetzt werden mit dem Ziel, die Existenz basaler – zumeist körperlicher – Bedürfnisse zu verdeutlichen. Benötigtes Material: Praline(n). Dauer: Ca. 5 Minuten. Gruppengröße: Beliebig, kann auch alleine durchgeführt werden. Vorbereitung: Bereitstellen der Pralinen. Durchführung (Einzelsetting): Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, an dem Sie sich gerne aufhalten und bequem sitzen können. Nehmen Sie sich an diesen Ort eine Praline Ihrer Wahl mit. Machen Sie es sich bequem und versuchen Sie dann, die Praline wie in den Achtsamkeitsübungen bereits erlernt, mit all Ihren Sinnen – d. h. zuerst mit dem Seh-, Geruchs- und Tastsinn und am Ende mit dem Geschmackssinn – wahrzunehmen. Beobachten Sie dabei, wie Ihr Körper reagiert.
265 10.1 · Bedürfnisse reflektieren
Zusatz (Gruppe): Zu Beginn wird jeder Teilnehmer gebeten, die Pralinen, die ausgeteilt werden, nicht zu essen. Danach wird jedem Teilnehmer eine Praline gegeben. Die Teilnehmer werden dann angewiesen, eine Minute lang still zu sein, die Praline in die Hand zu nehmen und wahrzunehmen, was passiert. Abschluss: Es ist möglich, in der Gruppe diese kurze Demonstration zum Abschluss zu besprechen. Häufig fällt Teilnehmern auf, dass sie Impulse erleben, die Praline zu essen, der Speichel im Mund zusammenläuft, sie Hunger haben etc. Möglicherweise werden auch Gefühle ausgelöst, wie z. B. Vorfreude oder Ärger aufgrund der Wartezeit. Fazit könnte sein, dass wir nur bedingt im Stande sind, die Reaktionen unseres Körpers – und auch die Emotionen, die wir empfinden – zu kontrollieren, insbesondere wenn unsere Grundbedürfnisse angestoßen werden. 10.1.1.2 Meine Bedürfnisschleifen
zz Übung zur Wahrnehmungslenkung auf Grundbedürfnisse
In dieser Übung geht es darum, konkretes eigenes Verhalten zu reflektieren, das aus dem Streben nach der Erfüllung von bedürfnisbezogenen Soll-Werten entsteht. Da unsere Tagesabläufe naturgemäß durch unser Bestreben nach der Erfüllung von Bedürfnissen gespickt sind, kann diese Übung jederzeit eingesetzt werden. Benötigtes Material: Pro Person zwei Arbeitsblätter (AB) „Meine Bedürfnisschleife“, Stifte zum Ausfüllen. Dauer: Ca. 20–30 Minuten. Gruppengröße: Beliebig, kann auch alleine durchgeführt werden. Vorbereitung: Bereitlegen der AB und Stifte. Durchführung (Einzelsetting): Nehmen Sie zwei AB „Meine Bedürfnisschleife“ und einen Stift mit an einen ruhigen Ort. Ihre Aufgabe besteht nun darin, zwei Ihrer „Bedürfnisschleifen“ genauer zu betrachten. Beginnen Sie mit dem Ausfüllen bei dem Kasten „Verhalten“. Sie können ein beliebiges Verhalten auswählen, das Sie im Laufe der letzten Stunden gezeigt haben. Am besten starten Sie zu Beginn mit einem sehr einfachen durchschaubaren Verhalten, wie z. B. „Eine Handynachricht beantwortet“ oder „Mittag gegessen“ oder „Information recherchiert“. Danach tragen Sie ein, welches Ergebnis Sie erzielt haben, dadurch, dass Sie dieses Verhalten gezeigt haben. In den obigen drei Beispielen könnten die Ergebnisse z. B. sein „Gute Interaktion mit Freund“ oder „Sattheit“ oder „gute Auskunft geben können“. Die belohnten Grundbedürfnisse wären dementsprechend „Soziale Eingebundenheit (Stufe 3: soziales Bedürfnis)“, „Körperliches Wohlbefinden (Stufe 1: physiologisches Bedürfnis)“ und „Kompetenzerleben (Stufe 4: Selbstwert)“. Nach dieser Rückverfolgung können Sie sich noch zusätzlich überlegen, welcher Reiz Ihr Verhalten ausgelöst hat. In unseren Beispielen möglicherweise „Freund schreibt Nachricht“ oder „12:00 Uhr mittags“ oder „Gedanke „ich bin uninformiert““. Wenn Sie die erste der beiden Schleifen ausgefüllt haben, können Sie bei der zweiten ein weiteres Verhalten unter die Lupe nehmen. Besonders interessant wird die Schleife auch bei Verhaltensweisen, die für Sie selbst schwer durchschaubar sind oder die Sie eigentlich nicht zeigen wollen.
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Kapitel 10 · Bedürfnisse – Werkzeuge
Zusatz (Gruppe): Jeder Teilnehmer wird instruiert, sich mitsamt dem Arbeitsblatt „Meine Bedürfnisschleife“ einen ruhigen Platz zu suchen. Der Anleiter erklärt dann den Ablauf einer Bedürfnisschleife (wie unter „Durchführung Einzelsetting“ beschrieben). Danach wird jeder Teilnehmer gebeten, für sich die „Bedürfnisschleife“ für zwei unterschiedliche Situationen auszufüllen. Nach ca. 10 Minuten werden die Teilnehmer instruiert, sich in Kleingruppen zusammenzufinden und sich gegenseitig pro Teilnehmer mindestens eine Situation vorzustellen, sodass diese ggf. diskutiert werden können. Danach kann jeder eine Einschätzung dazu abgeben, welche Grundbedürfnisse für sie/ihn besonders wichtig sind. Abschluss (Einzelsetting): Reflektieren Sie noch einmal: Können Sie entscheiden, welche Kategorie(n) von Bedürfnissen für Sie besonders wichtig ist/sind? Abschluss (Gruppe): Es ist erfahrungsgemäß wichtig, dass der Anleiter überprüft, ob die Übung korrekt verstanden wurde. Somit sollte er in jeder Kleingruppe zumindest einmal mit allen eine Situation durchgesprochen haben und ggf. die Teilnehmer ermutigen, mit ihm eine Situation durchzusprechen. 10.1.2 Bedürfnisse im zwischenmenschlichen Kontext 10.1.2.1 Da sozial, nicht ganz trivial
10 zz Reflexionsübung zu Bedürfnissen im sozialen Kontext
Die Überschrift weist bereits daraufhin, dass es in dieser Übung um die Auseinandersetzung mit Bedürfnissen geht, die innerhalb sozialer Interaktionen von Bedeutung sein können. Die Übung soll zum Nachdenken anregen und kann gut auf den Schulkontext übertragen werden. Insofern ist sie auch besonders gut einsetzbar für Lehrkräfte, die bereits im Berufsleben stehen. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Da sozial, nicht ganz trivial“ mit Beispielvorlage, Stift Dauer: Ca. 20–30 Minuten. Gruppengröße: Beliebig. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs und des Stiftes Durchführung: Jeder Teilnehmer wird instruiert, sich mitsamt den ABn „Da sozial, nicht ganz trivial“, der Beispielvorlage und einem Stift einen ruhigen Platz zu suchen. Der Anleiter kann die Übung einleiten, indem er darauf aufmerksam macht, dass unsere Grundbedürfnisse (nach Nahrung, Sicherheit) in den westlichen Zivilisationen häufig erfüllt sind. Deshalb erleben wir in diesem Zusammenhang auch selten Entbehrungen oder Frustrationen. Dennoch gibt es häufig Situationen, in denen wir enttäuscht oder unzufrieden sind, weil z. B. Bedürfnisse innerhalb von sozialen Interaktionen nicht befriedigt werden, die sogenannten Beziehungsmotive. Anhand der AB sollen die Teilnehmer für ihre eigenen zentralen Beziehungsmotive sensibilisiert werden. Nach einer Bearbeitungszeit von mindestens 20 Minuten können die Er-
267 10.1 · Bedürfnisse reflektieren
kenntnisse in der Großgruppe, soweit die Teilnehmer dies möchten, besprochen werden. Abschluss: Der Anleiter sollte für Fragen zur Verfügung stehen. Aufgrund der Fülle von Informationen, Selbsterkenntnissen und spannenden Inhalten, die aus dieser Übung häufig resultieren, ist es wichtig, ausreichend Zeit für eine Nachbesprechung einzuplanen. 10.1.2.2 Im Klassenzimmer braucht man …
zz Diskussionsrunde zur Beleuchtung von Bedürfnissen im Schulkontext
Neben den allgemein in sozialen Situationen auftretenden Bedürfnissen können im Kontext Schule noch weitere situationsspezifische Bedürfnisse eine Rolle spielen und handlungsleitend sein. Mit Hilfe dieser Übung können sich die Teilnehmer mit ihren Bedürfnissen als Lehrkraft auseinandersetzen. Als Anregung werden Berichte in Zeitungen genutzt, so dass man gleichzeitig einen Eindruck bekommt, wie Lehrerbedürfnisse innerhalb der Medien abgehandelt werden. Benötigtes Material: Drei Zeitungsartikel „Warum für Lehrer sechs Wochen Ferien fair sind“ ((Ulbricht 2019) 7 https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/ schule-warum-sechs-wochen-ferien-fuer-lehrer-angemessen-sind-a-1212572.html), „Hier privat“ ((Ulbricht 2019) 7 https://sz-magazin.sueddeutsche.de/grosse-pausemit-frau-w/hier-privat-86675) und „Ich gebe nur noch gute Noten“ ((Anonym 2019) 7 https://www.s piegel.d e/lebenundlernen/schule/lehrerin-gibt-nur-noch-gutenoten-a-1246916.html), ausgedruckt je ein Exemplar pro Teilnehmer. Dauer: Ca. 20 Minuten. Gruppengröße: Mindestens drei Personen. Vorbereitung: Bereitlegen der Artikel, Bildung eines Stuhlkreises. Durchführung: Der Anleiter kündigt eine Diskussionsrunde an, in der über typische Lehrerbedürfnisse im Klassenzimmer diskutiert werden soll. Es soll also eine Antwort auf die Frage gefunden werden, welche Situationen im Klassenzimmer typischerweise Zufriedenheit bei der Lehrkraft hervorrufen und welche nicht. Jeder Teilnehmer erhält dazu jeweils einen der ausgedruckten Artikel, um diesen durchzulesen. Anschließend stellt jeweils ein Teilnehmer pro Artikel mit Hinblick auf die Diskussionsfrage den Inhalt des Artikels vor. So zum Meinungsaustausch angeregt, kommt die Diskussionsrunde gut in Gang. Der Anleiter kann steuernd in die Vorstellung der Zeitungsartikel eingreifen, mit dem Ziel folgende Themen in die Diskussion einzubringen: Durch den Artikel „Die erste Pause gehört den Lehrern“ kann das Thema „Selbstfürsorge“ aufgegriffen werden. Der Artikel „Hier privat“ handelt vom Bedürfnis nach privater Nähe oder Distanz zu Schülern. Anhand des Artikels „Wie Schule wirklich ist“ kann das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und inwiefern es für Lehrkräfte bedeutungsvoll ist, diskutiert werden. Abschluss: Als Abschluss kann ggf. eine Überleitung zur inhaltlichen Folgeübung „Im Klassenzimmer brauche ich“ gegeben werden.
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268
Kapitel 10 · Bedürfnisse – Werkzeuge
10.1.2.3 Im Klassenzimmer brauche ich …
zz Reflexionsübung zur Analyse der eigenen Bedürfnisse im Kontext Klassenzimmer
10
Es handelt sich um eine Übung, die zur Reflexion der eigenen Bedürfnisse im Klassenzimmer anleitet. Diese Übung ist speziell auf den Schulkontext zugeschnitten und somit insbesondere für tätige Lehrkräfte von Nutzen. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Im Klassenzimmer brauche ich“, Stift. Dauer: Ca. 20 Minuten. Gruppengröße: Beliebig. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs und des Stiftes. Durchführung (Einzelsetting): Grimm (1993) hat sich in seinem Dissertationsprojekt mit der Frage beschäftigt, welche spezifischen Klassensituationen bei Lehrkräften typischerweise bestimmte (angenehme oder unangenehme) emotionale Reaktionen auslösen und diese Situationen in Kategorien eingeteilt. Auf dem AB „Im Klassenzimmer brauche ich“ finden Sie genau diese Kategorien. Welche konkreten Situationen fallen Ihnen dazu ein? Welche dieser Situationen sind auch für Sie persönlich (un)befriedigend? Welches Ihrer Bedürfnisse wird in diesen Situationen (nicht) befriedigt? Füllen Sie das Arbeitsblatt aus, um diese Fragen zu beantworten. Zusatz (Gruppe): Im Idealfall wird diese Übung in der Gruppe im Anschluss an die Diskussionsrunde „Im Klassenzimmer braucht man“ durchgeführt. Der Anleiter kann die Reflexionsübung mit der unter „Durchführung (Einzelsetting)“ angegebenen Information einleiten. Danach erhält jeder Teilnehmer ein Arbeitsblatt „Im Klassenzimmer brauche ich“ zum Ausfüllen. Abschluss/Begleitung: Die Übung kann mit einer Nachbesprechung, evtl. auch durch in der Einzelübung noch neu entdeckte Aspekte in Ergänzung zur vorherigen Diskussion, abgeschlossen werden. 10.2 Umgang mit Bedürfnissen 10.2.1 Bedürfniskuchen
zz Übung zur Erfüllung eigener sozialer Bedürfnisse
Diese Übung soll zur Beachtung und zur besseren Erfüllung der eigenen Bedürfnisse anleiten, wobei die Anwender selbst festlegen können, in welchen Bereichen sie Veränderungen herbeiführen möchten. Die Übung kann jedermann als Begleiter im Alltag dienen. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Bedürfniskuchen“, Stift, Farbstifte.
269 10.2 · Umgang mit Bedürfnissen
Dauer: Ca. 10 Min. + Zeit zum Ausfüllen im Alltag. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Suchen Sie sich einen gut einsehbaren Platz in Ihrer Wohnung, an dem Sie den Bedürfniskuchen aufhängen können. Durchführung: Auf dem AB „Bedürfniskuchen“ finden Sie einen gezeichneten Kuchen, der in sechs Stücke eingeteilt ist. Diese Stücke sind bereits den sozialen Bedürfnissen „Anerkennung“, „Wichtigkeit“, „Autonomie“, „Verlässlichkeit“, „Solidarität“ und „Grenzen“ zugeteilt. Zeichnen Sie mit einem oder mehreren Farbstiften ein, zu wie viel Prozent dieses Bedürfnis Ihrer Meinung nach in Ihrem Leben erfüllt ist (bei 100 % würden Sie also das gesamte Stück ausmalen). Greifen Sie sich dann eines der Bedürfnisse heraus, bei dem Sie der Meinung sind, dass es zu wenig erfüllt ist. Setzen Sie es in den vorformulierten Satz ein und überlegen Sie dann, was Sie tun könnten, um dieses Bedürfnis besser erfüllt zu bekommen. Sobald Sie den Entschluss gefasst haben, hängen Sie den Bedürfniskuchen am besten an einem gut einsehbaren Ort auf. Nehmen Sie sich dann eine Woche Zeit, in der Sie Ihre Vorsätze umsetzen. Abschluss: Sollte sich die Übung bewähren, können Sie sich in den darauffolgenden Wochen weitere Bedürfnisse vornehmen – oder sie sogar dauerhaft in Ihren Alltag integrieren. 10.2.2 Kleine Schule der Bedürfniskommunikation
zz Übung zur Kommunikation eigener Wünsche und Bedürfnisse
Die Einübung eines bedürfnisorientierten Kommunikationsstils erscheint von besonderer Wichtigkeit. Mit Hilfe dieser Übung kann eine klare Kommunikation von Wünschen und Bedürfnissen studiert und trainiert werden. Anwendbar durch jedermann und auch im Schulalltag gut einsetzbar. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Kleine Schule der Bedürfniskommunikation“, Stift. Dauer: Ca. 10 Min. + Zeit für die Umsetzung im Alltag. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs und des Stiftes. Durchführung: Günstig ist es, wenn Sie sich Ihre Gedanken zu dieser Übung gleich frühmorgens notieren, da Sie Ihre Aufzeichnungen dann als Handlungsanweisung für den Tag einsetzen können. Nehmen Sie sich das AB „Kleine Schule der Bedürfniskommunikation“ zur Hand und denken Sie über Ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche für den Tag nach. Tragen Sie dann pro Spalte das Bedürfnis ein, das Ihnen am Wichtigsten erscheint. Ihre Aufgabe für den Tag besteht nun darin, die formulierten Bedürfnisse und Wünsche im Laufe des Tages mit Hilfe der vorformulierten Phrasen zu kommunizieren. Abschluss/Begleitung: Üben Sie dies solange, bis Sie sich weitgehend sicher damit fühlen. Wenn Sie so bisher nicht kommunizieren: Diese Übung hat das Potential Ihren Alltag zu verändern!
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270
Kapitel 10 · Bedürfnisse – Werkzeuge
10.3 Arbeitsblätter
Die Arbeitsblätter zu diesem Kapitel können Sie sich downloaden unter 7 https:// doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_10. Sie finden dort: 55 zu 7 Abschn. 10.1.1.2 Arbeitsblatt „AB_Bedürfnisse_01_Bedürfnisschleife“ 55 zu 7 Abschn. 10.1.2.1 Arbeitsblatt „AB_Bedürfnisse_02_Da sozial nicht ganz trivial“ 55 zu 7 Abschn. 10.1.2.3 Arbeitsblat „AB_Bedürfnisse_03_Im Klassenzimmer brauche ich“ 55 zu 7 Abschn. 10.2.1 Arbeitsblatt „AB_Bedürfnisse_04_Bedürfniskuchen“ 55 zu 7 Abschn. 10.2.2 Arbeitsblatt „AB_Bedürfnisse_05_Kleine Schule der Bedürfniskommunikation“.
Literatur
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Anonym. (2019). Lehrergeständnisse: „Ich gebe nur noch gute Noten.“ Spiegelonline. Verfügbar unter: https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/lehrerin-gibt-nur-noch-gute-noten-a-1246916.html. Zugegriffen am 26.06.2019. Grimm, M. A. (1993). Kognitive Landschaften von Lehrern: Berufszufriedenheit und Ursachenzuschreibungen angenehmer und belastender Unterrichtssituationen. Frankfurt: Lang. Schaarschmidt, U., & Kieschke, U. (2013). Beanspruchungsmuster im Lehrerberuf: Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus der Potsdamer Lehrerstudie. In M. Rothland (Hrsg.), Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf (S. 81–97). Wiesbaden: Springer VS. Ulbricht, A. (2019). Lehrergeständnisse: Warum sechs Wochen Ferien für Lehrer fair sind. SZ-Magazin. Verfügbar unter: https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/schule-warum-sechs-wochenferien-fuer-lehrer-angemessen-sind-a-1212572.html. Zugegriffen am 26.06.2019.
271
Emotionen – Werkzeuge Inhaltsverzeichnis 11.1
Eigene Emotionen wahrnehmen – 272
11.1.1 11.1.2 11.1.3 11.1.4 11.1.5 11.1.6
E motionspantomime – 272 Genau geschaut – Lehreremotionen – 273 Emotionsrad – 273 Komponentenübung – 274 Die Welt meiner Emotionen – 275 Zu dritt – 276
11.2
Wahrnehmung von Emotionen bei anderen – 277
11.2.1 11.2.2 11.2.3 11.2.4 11.2.5
edankenlesen – 277 G Der Werdegang eines Sehers – 278 Seherische Fähigkeiten – 278 Probier’s mal digital! – Cognitive Bias Modification – 279 Kleine Schule der Empathie – 280
11.3
Emotionsauslöser – 281
11.3.1 11.3.2 11.3.3 11.3.4
E motionale Alarmdatenbank – 281 Auslöser im Klassenzimmer – 282 Mythenquiz – 283 Quellen der Freude im Unterricht – 283
11.4
Arbeitsblätter – 284 Literatur – 284
Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_11. Die Videos lassen sich mit Hilfe der SN More Media App abspielen, wenn Sie die gekennzeichneten Abbildungen mit der App scannen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kuhbandner, I. Schelhorn, Emotionale Kompetenz im Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_11
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272
Kapitel 11 · Emotionen – Werkzeuge
Emotions matter. (Frenzel et al. 2009, S. 129)
Worum es in diesem Kapitel geht Gelangweilt, panisch, gestresst, verliebt? Präzise ausgedrückt – was ist eigentlich eine Emotion – und was nicht? Wie steuern uns Emotionen und wie steuern wir Emotionen? Woran erkenne ich eine Emotion bei mir selbst und bei anderen? In diesem Teil des Werkzeugkastens finden sich Übungen, bei denen es um die Beschäftigung mit Emotionen – ihrer Beschaffenheit, ihrer Auslöser und ihrer Folgen – geht. Im ersten Abschnitt dieses Teils des Werkzeugkastens finden sich Übungen, die sich mit der Wahrnehmung von Emotionen beschäftigen. Die wichtige inhaltliche Erkenntnis, dass Emotionen aus verschiedenen Komponenten bestehen und ihr Auftreten demnach mit einer spezifischen Veränderung im Denken, Handeln und in der Körperreaktion einhergeht, soll anhand von Übungen im zweiten Abschnitt verdeutlicht werden. Im dritten Abschnitt werden Übungen zu Emotionsauslösern vorgestellt. Dieser Teil beinhaltet zahlreiche Reflexions- und Beobachtungsübungen, sowie Rollenspiele, die zu einem großen Teil auf die Verwendung im Situationskontext Schule zugeschnitten sind.
11.1 Eigene Emotionen wahrnehmen 11.1.1 Emotionspantomime
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zz Unterhaltsames Spiel zur Emotionsdifferenzierung
Dieses Spiel kann zur lockeren Einführung in die Themen „Emotionswissen“, „Emotionen wahrnehmen“ oder „Emotionen ausdrücken“ dienen. Häufig kristallisieren sich im Verlauf dieser Übung deutliche Unterschiede hinsichtlich Schwierigkeit zwischen der Darstellung von Basisemotionen und anderen Emotionen heraus. Zur Verdeutlichung dieser Unterschiede ist diese Übung also besonders nützlich. Mit Hilfe dieser Übung kann auch ein deutlicherer Emotionsausdruck trainiert werden. Die Übung ist insbesondere für größere Gruppen geeignet. Benötigtes Material: Mit Emotionsbegriffen beschriftete Karteikarten. Dauer: Ca. 15 Min. Vorbereitung durch den Spielleiter: Karteikarten oder anderes dickes Papier, durch das die Schrift nicht durchscheint, mit verschiedenen Emotionsbegriffen beschriften (z. B. Scham, Zufriedenheit, Trauer, Überraschung, Freude, Glück, Ekel, Angst, Schuld, Stolz, Verzweiflung, Wut, Erleichterung). Es sollten mindestens drei Karten mehr vorhanden sein als Spieler beteiligt. Gruppengröße: 4–20 Personen. Vorbereitung: Die Karteikarten werden auf einen Tisch oder auf den Boden in der Raummitte gelegt. Die Teilnehmer stellen sich nun in einem Kreis um die Karten herum auf. Durchführung: Alle Teilnehmer, auch der Spielleiter, nehmen sich eine Karte. Der Spielleiter stellt dann den auf seiner Karte stehenden Begriff pantomimisch dar. Die anderen Teilnehmer sollen nun erraten, welche Emotion auf der Karte stand. Wenn
273 11.1 · Eigene Emotionen wahrnehmen
sie erraten wurde, legt der Darsteller die Karte wieder verdeckt in die Mitte zurück und zieht eine neue für die nächste Runde. Ein Teilnehmer nach dem anderen kommt dann an die Reihe. Es ist auch möglich, die Regel einzuführen, dass derjenige, der die Emotion erraten hat, weitermacht. Dies ist nur dann sinnvoll, wenn die Gruppe hinsichtlich ihrer Emotionswahrnehmungsfähigkeiten einigermaßen homogen ist. Das Spiel kann zu jedem beliebigen Zeitpunkt beendet werden. Abschluss: Erfahrungsgemäß sind die Basisemotionen einfacher darzustellen. Darauf kann nach dem Spiel aufmerksam gemacht werden. 11.1.2 Genau geschaut – Lehreremotionen
zz Reflexionsübung mit Erkenntnisgewinn zu den Themen „Emotionswissen“ und „Emotionen wahrnehmen“
Manchmal kann Ärger als eine sogenannte „Sekundäremotion“ auftreten, also als Folgeerscheinung einer andersartigen Emotion, wie beispielsweise Enttäuschung oder Trauer. Sowohl im Alltag als auch im Schulkontext kann dies bei fehlender Reflexion ungünstige Konsequenzen nach sich ziehen. Deshalb soll mit Hilfe dieser Übung Ärger als Sekundäremotion reflektiert werden. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Ärgertagebuch“, Stift. Dauer: Ca. 10 Min. + Zeit für die Umsetzung im Alltag. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Füllen Sie das AB „Ärgertagebuch“ wie im Beispiel angegeben über den Zeitraum von zwei Wochen regelmäßig aus. Durchführung: Studieren Sie nach dem Ausfüllen die angegebenen emotionalen Zustände und Aussagen. Markieren Sie sich diejenigen Emotionen, denen eine Sekundäremotion vorausging, bei der es sich nicht um Ärger handelte. Analysieren Sie dann: Handelt es sich um bestimmte Verkettungen von Emotionen? Welchen treten immer wieder auf ? Welche Handlungsalternativen hätte es gegeben, wenn Sie der Primäremotion nach gehandelt hätten? Abschluss: Idealerweise sensibilisiert diese Übung Sie für eine präzisere Emotionswahrnehmung. Nun haben Sie die Wahl, welchem Handlungsimpuls Sie folgen wollen. 11.1.3 Emotionsrad
zz Quiz zur Reflexion und Erweiterung des Emotionsspektrums
Je größer die Reichhaltigkeit unseres begrifflichen Netzwerks bezüglich Emotionen ist, desto besser können wir uns und anderen gegenüber unseren emotionalen Zu-
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Kapitel 11 · Emotionen – Werkzeuge
stand beschreiben. Diese Übung dient deshalb der Erweiterung des Emotionsvokabulars. Klaus Scherer, ein Genfer Emotionsforscher, hat im Jahr 2005 ein „Emotionsrad“ konstruiert, auf dem eine Vielzahl von Emotionen abgebildet werden kann (Scherer 2005) und das als Grundlage für diese Übung fungiert. Die Übung ist sowohl in der Gruppe als auch im Einzelsetting durchführbar. Benötigtes Material: Arbeitsblätter (AB) „Das Emotionsrad I“, „Das Emotionsrad II“, Schere. Zusatz (Gruppe): Flipchart, Marker, jeweils ein Abdruck pro Teilnehmer der AB „Das Emotionsrad I“, „Das Emotionsrad II“, Karteikarten. Dauer: Ca. 20 Min. Gruppengröße: Beliebig, kann auch alleine durchgeführt werden. Vorbereitung: Vor Beginn des Spiels muss das AB „Das Emotionsrad I“ so zerschnitten werden, dass jeder Emotionsbegriff separat auf einem Zettel steht. Zusatz (Gruppe): Zuerst muss die Abbildung des ABs „Das Emotionsrad I“ auf das Flipchart übertragen werden. Zusätzlich müssen die Emotionsbegriffe auf dem AB „Das Emotionsrad I“ auf Karteikarten geschrieben werden. Das Flipchart wird dann in der Mitte eines Tisches platziert. Die Gruppe kommt dann um diesen Tisch herum zusammen. Jede Person erhält einige Karteikarten. Durchführung: Die Aufgabe besteht darin, die ausgeschnittenen Emotionsbegriffe/Karteikarten an einen subjektiv passenden Platz zu legen und danach mit der vorgegebenen Version abzugleichen. Zusatz (Gruppe): In der Gruppe bietet es sich an, während der Zuteilungen zu diskutieren. Am Ende der Übung erhält jeder Teilnehmer einen Abdruck des AB „Emotionsrad II“. Abschluss: Keine Sorge: Es gibt zur eindeutigen Einteilung und Definition von Emotionen keine wissenschaftlich fundierte „korrekte“ Lösung. Es kann in dieser Übung also lediglich darum gehen, einen Raum für Diskussion zu schaffen und das Emotionsspektrum zu erweitern. 11.1.4 Komponentenübung
zz Übung zur Differenzierung und Analyse emotionsbezogener Reaktionsmuster
Emotionen aktivieren in uns bestimmte Reaktionsmuster, die sogenannten Emotionskomponenten. Diese können anhand dieser Übung genauer untersucht und erlebt werden. Benötigtes Material: Zwei Filmausschnitte (Dauer ca. 2–5 Min.). Es bieten sich an: Ausschnitt aus „Schweigen der Lämmer“ (Angst); Anmerkung: für Gruppen ist es günstig, einen Ausschnitt auszuwählen, der den Betrachter nicht allzu sehr verschreckt. Ausschnitt aus „Harry und Sally“ (Freude, Belustigung). Zusammengeschnittene Aufzeichnungen von Tiervideos (Freude, Belustigung).
275 11.1 · Eigene Emotionen wahrnehmen
Technisches Gerät zum Abspielen der Videos. Dauer: Ca. 10 Min./Video. Gruppengröße: Beliebig. Vorbereitung: Aussuchen der Filmausschnitte und Vorbereitung der notwendigen technischen Geräte. Durchführung (Einzelsetting): Suchen Sie sich einen bequemen Ort, an dem Sie ungestört die ausgesuchten Videos betrachten können. Bevor Sie die Betrachtung starten, ist es wichtig, dass Sie sich vornehmen, währenddessen Ihre eigenen Reaktionen zu beobachten. Wie reagiert Ihr Körper? Welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf ? Verschiebt sich der Aufmerksamkeitsfokus? Durchführung (Gruppe): Die Teilnehmer werden instruiert, sich eine bequeme Sitzposition zu suchen. Sie werden darauf hingewiesen, dass sie zwei unterschiedliche Filmausschnitte zu sehen bekommen werden. Für den Fall, dass einer davon dem Genre Thriller/Horror-Filme zuzuteilen ist, ist es wichtig, die Teilnehmer vorher darauf aufmerksam zu machen, dass keine übermäßig schockierenden Ausschnitte präsentiert werden. Danach werden die Teilnehmer über ihre Aufgabe informiert: Der Anleiter weist die Teilnehmer darauf hin, dass jeder der Filme beim Betrachter Reaktionen auf unterschiedlichen Ebenen auslösen wird. Die Aufgabe der Teilnehmer besteht darin, diese Reaktionen zu beobachten. Am Einfachsten wird es sein, Reaktionen körperlicher Natur festzustellen. Es ist aber auch möglich, die eigenen Gedanken, Wahrnehmungsveränderungen oder Verhaltensimpulse differenziert zu beobachten. Nach dem Betrachten der Videos werden folgende Fragestellung beantwortet, anhand derer die Emotionskomponenten erarbeitet werden können: Welche körperlichen oder motorischen Veränderungen sind aufgetreten (körperliche Komponenten)? Welche Gedanken sind aufgekommen, worauf hat sich die Aufmerksamkeit gerichtet (kognitive Komponente)? Um welches Gefühl handelt es sich (Gefühlskomponente)? Welcher Verhaltensimpuls ist entstanden (motivationale Komponente)? Abschluss: Um die eigene Emotionswahrnehmung dauerhaft zu verbessern, bietet es sich an, diese Übung auf Alltagssituationen, in denen Emotionen auftreten, zu übertragen. Materialien dazu werden in der Folgeübung „Die Welt meiner Emotionen“ präsentiert. 11.1.5 Die Welt meiner Emotionen
zz Reflexionsübung zur Analyse eigener emotionsbezogener Reaktionsmuster
Das in dieser Übung vorgestellte Emotionstagebuch kann als Begleiter im Alltag dienen und dabei helfen, die eigenen mit auftretenden Emotionen verknüpften Reaktionsmuster zu analysieren. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Emotionstagebuch“, AB „Auswertung Emotionstagebuch“, Stift.
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Kapitel 11 · Emotionen – Werkzeuge
Dauer: Ca. 15 Min. + Zeit zum Umsetzen im Alltag. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Bereitlegen des über zwei Wochen ausgefüllten Emotionstagebuchs, des ABs „Auswertung Emotionstagebuch“ und des Stiftes. Durchführung: Das AB „Auswertung Emotionstagebuch“ dient dem Zweck, die Häufigkeit und Art eigener Emotionen übersichtlich über den Zeitraum eines Tages oder auch einer Woche darzustellen. Nehmen Sie sich dazu Ihr ausgefülltes Tagebuch zur Hand und tragen Sie die wichtigsten aufgetretenen Gefühle pro Tag in die Kästchen unterhalb der Tagesgraphiken ab. Tragen Sie dann mittels Punkten oder Kreuzen die jeweilige Anzahl ein. Verfahren Sie mit den Wochengraphiken ebenso. Abschluss: Betrachten Sie die Graphiken. Welche Besonderheiten fallen Ihnen auf ? Welche Emotionen treten besonders häufig auf ? Verlaufen Tage eher unterschiedlich oder eher gleich? Wird das abgebildet, was Sie erwartet hätten? 11.1.6 Zu dritt
zz Rollenspiel zur Wahrnehmung von Emotionen und deren Komponenten im Kontext Klassenzimmer
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Die Einübung eines bedürfnisorientierten Kommunikationsstils erscheint von besonderer Wichtigkeit. Mit Hilfe dieser Übung kann eine klare Kommunikation von Wünschen und Bedürfnissen studiert und trainiert werden. Anwendbar durch jedermann und auch im Schulalltag gut einsetzbar. Benötigtes Material: AB (Arbeitsblatt) „Rollenspiele_I_Übersicht“, Rollenspielvignetten „Rollenspiele_I“. Dauer: Ca. 30 Min. Vorbereitung durch den Spielleiter: Rollenspielvignetten kopieren, an den gekennzeichneten Stellen zerteilen und in Klarsichtfolien geben. Gruppengröße: Mindestens 3 Personen. Vorbereitung: Die Vorlagen für die sechs verschiedenen Rollenspiele werden an unterschiedlichen „Stationen“ (wenn möglich, bei großer Teilnehmeranzahl, in unterschiedlichen Räumen) ausgelegt. Durchführung: Zuerst informiert der Spielleiter die Teilnehmer darüber, dass die Gruppe im Anschluss an die Instruktion auf verschiedene Rollenspielstationen aufgeteilt werden wird. In jedem Rollenspiel verkörpert ein Teilnehmer eine Lehrkraft, ein anderer einen Schüler, während die dritte Person beobachtet oder moderierend eingreifen kann. Ziel ist, dass die Person in der Lehrerrolle immer dann, wenn sie eine Emotion bei sich wahrnimmt, das Spiel unterbricht und den aufgetretenen Zustand anhand der Emotionskomponenten Wahrnehmung, Gefühl, Körper, Gedanke und Verhaltensimpuls beschreibt. Der Beobachter kann eingreifen, indem er das Spiel ebenfalls unterbricht, vor allem dann, wenn er beim Teilnehmer in der Lehrerrolle eine emotionale Reaktion beobachtet, die dieser nicht selbst zu erkennen scheint.
277 11.2 · Wahrnehmung von Emotionen bei anderen
Es bietet sich an, anhand einer Rollenspielvignette ein Rollenspiel mit dem Anleiter in der Lehrerrolle exemplarisch vorzuspielen, da die Teilnehmer die Spiele sonst erfahrungsgemäß sehr schnell durchspielen und selten unterbrechen. Nach dem Vorspiel werden die Teilnehmer in Kleingruppen à 3 Personen aufgeteilt. Vor dem Start wird die Reihenfolge, in der die Gruppenteilnehmer in die Lehrerrolle schlüpfen, in jeder Gruppe festgelegt. Danach begibt sich jede Gruppe zu einer Station. Dort nimmt der für das erste Rollenspiel designierte Schüler die Zettel aus der Hülle und händigt der Lehrkraft die Lehrerinstruktion aus. Wenn beide die Instruktion nachvollzogen haben, nehmen alle Gruppenmitglieder ihre Plätze ein und das Rollenspiel kann beginnen. Nach 10 Minuten wird zur nächsten Station gewechselt. Abschluss: Die Rollenspiele können am Ende in der Großgruppe nachbesprochen werden. 11.2 Wahrnehmung von Emotionen bei anderen 11.2.1 Gedankenlesen
zz Übung zur Sensibilisierung für die Wahrnehmung von Emotionen bei anderen
In dieser Übung wird der Fokus von den eigenen Emotionen weg hin zu Emotionen bei anderen Personen verschoben. Gleichzeitig bekommen die Teilnehmer die Möglichkeit sich gegenseitig Feedback zu geben zum Emotionsausdrucks. Da es sich bei dieser Übung um eine Paarübung handelt, sind gerade Teilnehmeranzahlen von Vorteil. Benötigtes Material: --Dauer: Ca. 15 Min. Gruppengröße: Mind. 6 Personen. Vorbereitung: Die Teilnehmer werden instruiert, sich zu Paaren zusammenzufinden und sich gegenüber voneinander auf Stühle zu setzen. Durchführung: Zuerst wird jeweils einer Person eines jeden Paares die Rolle des Beobachters, dem anderen die Rolle des „Spielers“ zugewiesen. Im Verlauf der Übung werden sie diese Rollen abwechselnd einnehmen. Der Spieler erhält dann die Instruktion sich eine Schulsituation vor dem inneren Auge vorzustellen, die er als emotional bewegend beschreiben würde. Der Beobachter soll dann versuchen zu erraten, ob die Valenz der Situation eher angenehm oder unangenehm ist. Danach werden die Rollen mehrmals getauscht. Nach jeweils 5 und 10 Minuten findet ein Partnerwechsel statt, sodass jeder Teilnehmer mindestens drei verschiedene Partner hatte. Am Ende der Übung finden sich alle wieder im Sitzkreis ein. Abschluss: Die Übung kann am Ende in der Großgruppe nachbesprochen werden. Jeder Teilnehmer bekommt dann die Gelegenheit über sein Erleben zu sprechen: Wie schwer war die Übung? Worauf hat er beim Beobachten geachtet? Welche Emotionen konnte er besonders schnell erraten?
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Kapitel 11 · Emotionen – Werkzeuge
11.2.2 Der Werdegang eines Sehers
zz Reflexionsübung zur Sensibilisierung für die Wahrnehmung von Emotionen bei anderen
Diese Übung dient in erster Linie der Fokusverschiebung auf die Außenwelt. Dies kann herausfordernd, jedoch auch sehr lohnenswert sein, insbesondere für diejenigen, die den Fokus eher auf ihr eigenes Erleben gerichtet haben. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Sehertagebuch“. Dauer: Zeit zum Umsetzen im Alltag. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Mehrfaches Ausdrucken des AB „Sehertagebuch“. Durchführung: Machen Sie es sich zwei Wochen lang zur Aufgabe, die Menschen, von denen Sie umgeben sind, zu beobachten. Notieren Sie im Zeitraum von mindestens zwei Wochen im ausgedruckten Sehertagebuch, welche Gefühle Sie bei den Menschen in Ihrer Umgebung wahrnehmen. Abschluss: Zusammenfassend: Was fällt Ihnen auf ? Wie hat es sich für Sie angefühlt, den Aufmerksamkeitsfokus von innen generell mehr auf Ihre Umgebung zu richten?
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11.2.3 Seherische Fähigkeiten
zz Rollenspiele zur Wahrnehmung von Emotionen bei sich selbst und bei anderen
Mit Hilfe der Rollenspiele dieses Abschnitts können drei verschiedene Arten von Situationen realitätsnah nachgespielt werden: „Im Klassenzimmer“, „Elterngespräch“ und „Zwiegespräch Lehrkraft – Schüler“. Die Rollenspiele sind so konstruiert, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit Emotionen bei der Person in der Rolle der Lehrkraft ausgelöst werden. Diese Emotionen und ihre Auswirkungen gilt es zu beobachten und zu reflektieren. Benötigtes Material: Kamera mit Stativ, Laptop, Verbindungskabel für die Kamera zum Laptop. Arbeitsblätter (AB) „Rollenspiele_II_Übersicht“, „Rollenspiele_ II_Mitschrift“, Unterrichtsvorlagen („Vegetationszonen“ und „Maria Stuart“), Rollenspielvignetten „Rollenspiele II“, Utensilien (Tafelanschrift – Vorlage, Stifte, Schulhefte, Papier, weißes Kreppband, Edding). Dauer: 30 Min. pro Rollenspiel. Gruppengröße: Mind. 7 Personen. Vorbereitung: Kamera mit Verbindung zu einem Präsentationslaptop (HDMI-Anschluss oder SD-Karte) auf dem Stativ in günstiger Position aufbauen. Bereitlegen der Vorlagen für die Rollenspiele, sowie auch der Utensilien.
279 11.2 · Wahrnehmung von Emotionen bei anderen
Durchführung: In allen Spielen geht es darum, dass eine möglichst alltagsnahe, Emotionen hervorrufende Situation eines Lehreralltags durchgespielt wird, in der immer ein Teilnehmer in die Rolle der Lehrkraft schlüpft. Die anderen Teilnehmer handeln nach den Vorgaben einer Situationsvignette. Vor Beginn der Spiele wählt jeder Teilnehmer seine bevorzugte Rollenspielkategorie (Klassenzimmer, Elterngespräch, Schülergespräch) aus. Danach wählt jeder einen Schülernamen, den er auf das Kreppband schreibt und an seiner Oberkleidung befestigt. Der Spielleiter teilt dann jedem Teilnehmer ohne diesen über den Inhalt zu informieren auf der Überblicksliste eine Situation zu. Eine Situation mehrmals zu spielen ist prinzipiell möglich, sollte aber weitgehend vermieden werden, damit alle die gleichen Ausgangsbedingungen haben. Meistens findet sich ein freiwilliger erster Spieler, falls nicht, müsste die erste Person ausgelost werden. Nach der Zuteilung händigt der Spielleiter dem ersten Spieler in der Rolle der Lehrkraft die Lehrerinstruktion seines Rollenspiels und die Vorlage für die Tafelanschrift aus, erfragt ggf. den Nachnamen und bittet den Spieler vor die Türe. Im Raum wird dann das Thema des Rollenspiels bekannt und die Vignette ausgegeben und das Setting vorbereitet. Falls einer der Rollenspieler unsicher ist, ist es möglich, das Rollenspiel kurz (1–2 Minuten) anzuspielen. Sobald dann alle bereit sind, gibt der Spielleiter den Auftrag an zwei Rollenspielteilnehmer mit weniger bedeutsamen oder gar keinen Rollen, während des Spiels auf den Emotionsausdruck des Spielers in der Rolle der Lehrkraft zu achten und ihre Beobachtungen auf dem AB „Rollenspiele_II_Mitschrift“ aufzuzeichnen. Danach positioniert der Spielleiter die Kamera und informiert dann den Spieler in der Rolle der Lehrkraft, dass er in 10 Sekunden den Raum betreten kann. Der Spielleiter begibt sich dann zur Kamera, um das Spiel aufzuzeichnen und das Spiel kann beginnen. Abschluss: Nach der Durchführung eines Rollenspiels wird zuerst der Spieler nach seinen Emotionen gefragt, die er in der Situation empfunden hat. Danach werden die Beobachter nach ihren Aufzeichnungen gefragt. Bei Ungenauigkeiten kann der Spielleiter genauer nachfragen: Woran hast Du festgemacht, dass die „Lehrkraft“ Freude empfunden hat? Wie stark hat die „Lehrkraft“ nach Deinem Empfinden die Emotion ausgedrückt? Im Anschluss wird das aufgezeichnete Video betrachtet, an relevanten Stellen angehalten und kurz aus demselben Blickwinkel diskutiert. 11.2.4 Probier’s mal digital! – Cognitive Bias Modification
zz Übung mittels Handy-Applikation zur Veränderung des Aufmerksamkeitsfokus
Diese Übung dient dem Versuch sich die Verzerrung der Aufmerksamkeit in Richtung negativer Objekte abzutrainieren, indem stattdessen eine Verzerrung der Aufmerksamkeit in Richtung positiver Objekte trainiert wird (sogenannte „Cognitive
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Kapitel 11 · Emotionen – Werkzeuge
Bias Modification“). Hierzu wurden Apps entwickelt, die folgendermaßen funktionieren: Es werden immer wieder gleichzeitig verschiedene Bilder gezeigt und man hat die Aufgabe, immer möglichst schnell das positive Bild zu finden. Es hat sich allerdings gezeigt, dass die Effekte zwar vorhanden sind, allerdings doch kleiner sind als anfänglich erhofft (Cristea et al. 2015; Heeren et al. 2015). Benötigtes Material: Smartphone. Dauer: Beliebig. Gruppengröße: Einzelsetting. Durchführung: Suchen Sie im Internet nach dem Begriff: „Cognitive Bias Modification“, sodass Sie sich über die verschiedenen Anbieter von Apps informieren können. Laden Sie sich dann in Ihrem Appstore die ausgesuchte App herunter und in stallieren Sie diese. Danach können Sie sofort starten. 11.2.5 Kleine Schule der Empathie
zz Übung zum Praktizieren eines empathischen Kommunikationsstils
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Auch ein empathischer Kommunikationsstil kann von großem Nutzen sein. Diese Übung dient deshalb als Trainingseinheit für eine klare Kommunikation von Wünschen und Bedürfnissen. Sie ist anwendbar durch jedermann und kann bei entsprechender Umsetzung deutlich zur Verbesserung von Interaktionen beitragen. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Kleine Schule der Empathie“, Stift. Dauer: Ca. 15 Min. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs „Kleine Schule der Empathie“ und des Stiftes. Durchführung: Validierung – was ist das? Ursprünglich ein Begriff aus der Psychotherapie handelt es sich um eine besondere Form des Kommunikationsstils. Er beinhaltet einen verständnisvollen Umgang mit dem (emotionalen) Zustand des Gegenübers. Beispielsweise: Viele Menschen tendieren dazu, wenn es einer Person nicht gut geht, zu sagen „Das wird schon wieder.“. Das wäre unter Umständen „invalidierend“, weil es dem Gegenüber das Gefühl geben kann, dass der Ernst der Lage oder die Bedeutung der Situation unterschätzt wird. Viel „validierender“ wäre es zu sagen: „In Deiner Situation kann ich verstehen, dass Du Dich so schlecht fühlst. Ich drücke Dir die Daumen, dass Du da bald wieder rauskommst.“ Durch eine solche Kommunikation kann gegenseitiges Verständnis besser ausgedrückt werden und häufig auch viel Frustration vermieden werden, die manchmal hervorgerufen wird, wenn Personen – und somit auch Schüler – sich unverstanden fühlen. Um sich mit diesem Gesprächsstil vertrauter zu machen, nehmen Sie sich das AB „Kleine Schule der Empathie“ zur Hand und bearbeiten Sie es. Abschluss: Wie könnte eine Übersetzung in den Alltag funktionieren?
281 11.3 · Emotionsauslöser
11.3 Emotionsauslöser 11.3.1 Emotionale Alarmdatenbank
zz Übung zur Analyse von Emotionsauslösern
Sowohl Ereignisse in der Umwelt, als auch innere Vorgänge wie Gedanken oder auch körperliche Zustände können Emotionen auslösen. Diese bestimmten Zustände oder Ereignisse sind bei verschiedenen Personen unterschiedlich. Diese Übung ist somit dazu gedacht, individuelle Auslöser herauszufinden. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Alarmdatenbank“, AB „Die Basisemotion Wut“, AB „Die Basisemotion Angst“, AB „Die Basisemotion Freude“, AB „Die Basisemotion Trauer“, Stift. Dauer: Ca. 30 Min. Gruppengröße: Beliebig, kann auch alleine durchgeführt werden. Vorbereitung: Austeilen der AB „Alarmdatenbank“, „Die Basisemotion Wut“, „Die Basisemotion Angst“, „Die Basisemotion Freude“, „Die Basisemotion Trauer“ und Bereitlegen eines Stiftes. Durchführung (Einzelsetting): Nehmen Sie das AB „Alarmdatenbank“ zur Hand und legen Sie die anderen Arbeitsblätter bereit. Führen Sie dann die im Kasten „Überlegungen am Beispiel Wut“ aufgeführten Gedankengänge durch. Durchführung (Gruppe): Jeder Teilnehmer wird instruiert, sich einen ruhigen Platz zu suchen. Dort soll jeder das AB „Alarmdatenbank“ zur Hand nehmen. Danach werden alle Teilnehmer instruiert die im Kasten „Überlegungen am Beispiel Wut“ aufgelisteten Gedankengänge durchzuführen. Überlegungen am Beispiel „Wut“ Lassen Sie sich Situationen durch den Kopf gehen, in denen Sie wütend waren. Versuchen Sie dann folgende Fragen zu beantworten: 55 Was bringt Sie besonders auf die Palme – z. B. in Beziehungen zu Mitmenschen? 55 Wann sind Sie besonders leicht zu ärgern – evtl. zu bestimmten Tageszeiten? 55 Inwiefern ist Ihre Wut von inneren Kontexten abhängig – spielt z. B. Hunger- oder das Stresslevel eine Rolle?
Durchführung (Einzelsetting): Schreiben Sie dann die für Sie relevantesten Beobachtungen in das linke obere Kästchen Ihrer „Alarmdatenbank“. Nehmen Sie dann das AB „Die Basisemotion Wut“ zur Hand und lesen Sie den Absatz „Wut kann auftreten, wenn …“. Versuchen Sie dann anhand dieses Absatzes die von Ihnen aufgelisteten Beispiele in abstraktere Kategorien einzuteilen. Treffen unterschiedliche Kategorien zu oder ist es immer die gleiche?
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Kapitel 11 · Emotionen – Werkzeuge
Wenn Sie mögen, können Sie nach Abschluss der Emotion Wut mit den anderen Emotionen genauso verfahren. Durchführung (Gruppe): Sobald die Überlegungen abgeschlossen sind, werden die Teilnehmer angeleitet, die für Sie wichtigsten Inhalte in das obere linke Kästchen auf dem Blatt „Alarmdatenbank“ einzutragen. Danach kann entweder der Anleiter selbst oder jemand aus der Gruppe den obersten Absatz „Wut kann auftreten, wenn …“ auf dem Arbeitsblatt „Die Basisemotion Wut“ vorlesen. Nun werden die Teilnehmer gebeten, ihre eigenen Beispiele den aufgeführten Kategorien im Stillen schriftlich zuzuordnen. Danach werden die Teilnehmer instruiert, mit den verbleibenden Emotionen genauso zu verfahren und den Rest des ABs auszufüllen. Abschluss: In der Gruppe kann die Übung bei Bedarf nachbesprochen und Erkenntnisse ausgetauscht werden. 11.3.2 Auslöser im Klassenzimmer
zz Reflexionsübung zur Analyse emotionsauslösender Situationen im Klassenzimmer
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Diese Übung dient der spezifischen Auslöseridentifikation im Kontext Klassenzimmer. Dabei sollen Auslöser zuerst spezifisch analysiert werden und danach in abstraktere Kategorien gefasst werden. Aufgrund des klar definierten Anwendungsbereichs ist diese Übung in erster Linie für Lehrkräfte und Lehramtsstudierende von Nutzen. Benötigtes Material: Mehrere Exemplare des Arbeitsblattes (AB) „Auslöser im Klassenzimmer I“, AB „Auslöser im Klassenzimmer II“. Dauer: Ca. 15 Min. + Zeit für die Umsetzung im Alltag. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Ausfüllen der Tagebuchseite „Auslöser im Klassenzimmer I“ für den Zeitraum von mindestens zwei Wochen. Da auch Details von emotional getönten Ereignissen häufig schnell wieder vergessen werden, bietet es sich an, die Situationen immer direkt nach Ende der Schulstunde kurz zu dokumentieren. Durchführung: Nehmen Sie sich in einem ruhigen Moment Ihre Aufzeichnungen und das AB „Auslöser im Klassenzimmer II“ zur Hand. Leiten Sie dann aus den spezifischen Situationen für Sie typische emotionsauslösende Reize oder Situationen ab. Analysieren Sie die Situationen nach den folgenden Gesichtspunkten: Handelt es sich um bestimmte Situationstypen? Handelt es sich um bestimmte Reize? Ist wirklich die Situation oder ein bestimmter Gedanke das, was die Emotion auslöst? Ist das Verhalten anderer oder Ihr eigenes Verhalten ausschlaggebend? Abschluss: Versuchen Sie, für sich ein Fazit zu ziehen: Was haben Sie über sich gelernt? Welche Erkenntnisse haben Sie aus den Beobachtungen und der Übung gewonnen?
283 11.3 · Emotionsauslöser
11.3.3 Mythenquiz
zz Quiz zur Wissenserweiterung in Bezug auf typische Emotionsauslöser im Klassenzimmer
Statistisch betrachtet – was führt im Klassenzimmer zur Auslösung von Freude, Ärger, Stolz? Welche Mythen in Bezug auf das emotionale Empfinden sind empirisch belegt, welche nicht? Antworten auf diese Fragen soll unser Mythenquiz geben. Das Mythenquiz ist auch gut geeignet, um Denkanstöße zu geben, sodass es auch gut in Großgruppen eingesetzt werden kann. Die im Quiz gegebenen Informationen basieren auf Studien, Buchkapiteln und Artikeln von (Becker et al. 2015; Hargreaves und Tucker 1991; Lohbeck et al. 2018; Schutz und Zembylas 2009; Sutton 2007). Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Mythenquiz“. Zusatz (Gruppe): Schere. Dauer: Ca. 10–15 Min. Gruppengröße: Beliebig, kann auch alleine durchgeführt werden. Vorbereitung (Gruppe): Das Quiz muss vorher so auseinandergeschnitten werden, dass die Fragen von den Antworten getrennt sind. Die Zettel werden auf einem freien Tisch ausgelegt, sodass sich die gesamte Gruppe darum herum versammeln kann. Durchführung: Die Aufgabe besteht darin, das Quiz zu lösen und die Sätze korrekt zusammenzufügen. Abschluss: Die formulierten Informationen können als Anregung für eine Diskussion genutzt werden. 11.3.4 Quellen der Freude im Unterricht
zz Reflexionsübung zu Auslösern von Freude im Klassenzimmer
Diese Übung dient der bewussten Aufmerksamkeitslenkung auf potentielle Auslöser von Freude im Unterricht mit dem Ziel angenehme Emotionen so zu vermehren und zu verstärken. Sie ist aufgrund des spezifischen Kontextes besonders für praktizierende Lehrkräfte geeignet. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Quellen der Freude“, Stift. Dauer: Ca. 15 Min. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs „Quellen der Freude“ und des Stiftes. Durchführung: Kreuzen Sie an, welche Items auf der Ankreuzliste Ihnen in Ihrer Schulstunde Freude bereiten würden. Fallen Ihnen außerdem noch selbst eine oder zwei Situationen ein?
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Kapitel 11 · Emotionen – Werkzeuge
Abschluss: Möglicherweise haben Sie Ideen, wie Sie diese Liste noch weiterverwenden können. Wie können Sie dafür sorgen, dass möglichst viele der Situationen, die Sie angekreuzt haben, tatsächlich auch häufig eintreten? 11.4 Arbeitsblätter
Die Arbeitsblätter zu diesem Kapitel können Sie sich downloaden unter 7 https:// doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_11. Sie finden dort: 55 zu 7 Abschn. 11.1.2 Arbeitsblatt „AB_Emotion_01_Ärgertagebuch“ 55 zu 7 Abschn. 11.1.3 Arbeitsblatt „AB_Emotion_02_Emotionsrad“ 55 zu 7 Abschn. 11.1.5 Arbeitsblatt „AB_Emotion_03_Emotionstagebuch“ 55 zu 7 Abschn. 11.1.7 Arbeitsblätter „AB_Emotion_04_Rollenspiele_I_Übersicht Spielleiter“ und „AB_Emotion_05_Rollenspiele_I“ 55 zu 7 Abschn. 11.2.2 Arbeitsblatt „AB_Emotion_06_Sehertagebuch“ 55 zu 7 Abschn. 11.2.3 Arbeitsblätter „AB_Emotion_07_Rollenspiele_II_ Übersicht“, „AB_Emotion_08_Rollenspiele_II“, „AB_Emotion_09_Rollenspiele_ II_Mitschrift“, „AB_Emotion_10_Rollenspiele_II_Unterrichtsvorlage_I“, „AB_ Emotion_11_Rollenspiele_II_Unterrichtsvorlage_II“ 55 zu 7 Abschn. 11.2.5 Arbeitsblatt „AB_Emotion_12_Kleine Schule der Empathie“ 55 zu 7 Abschn. 11.3.1 Arbeitsblätter „AB_Emotion_13_Alarmdatenbank“, „AB_ Emotion_14_Die Basisemotion Trauer“, „AB_Emotion_15_Die Basisemotion Wut“, „AB_Emotion_16_Die Basisemotion Freude“, „AB_Emotion_17_Die Basisemotion Angst“ 55 zu 7 Abschn. 11.3.2 Arbeitsblatt „AB_Emotion_18_Auslöser im Klassenzimmer“ 55 zu 7 Abschn. 11.3.3 Arbeitsblatt „AB_Emotion_19_Mythenquiz“ 55 zu 7 Abschn. 11.3.4 Arbeitsblatt „AB_Emotion_20_Quellen der Freude“.
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Literatur Becker, E. S., Keller, M. M., Goetz, T., Frenzel, A. C., & Taxer, J. L. (2015). Antecedents of teachers’ emotions in the classroom: An intraindividual approach. Frontiers in psychology, 6, 635. Cristea, I. A., Kok, R. N., & Cuijpers, P. (2015). Efficacy of cognitive bias modification interventions in anxiety and depression: meta-analysis. The British Journal of Psychiatry, 206, 7–16. Frenzel, A. C., Goetz, T., Stephens, E. J., & Jacob, B. (2009). Antecedents and effects of teachers’ emotional experiences: An integrated perspective and empirical test. In P. Schutz (Hrsg.), Advances in teacher emotion research. The impact on teachers’ lives (S. 129–151). New York: Springer. Hargreaves, A., & Tucker, E. (1991). Teaching and guilt: Exploring the feelings of teaching. Teaching and Teacher Education, 7(5–6), 491–505. Heeren, A., Mogoaşe, C., Philippot, P., & McNally, R. J. (2015). Attention bias modification for social anxiety: A systematic review and meta-analysis. Clinical Psychology Review, 4, 76–90. Lohbeck, A., Hagenauer, G., & Frenzel, A. C. (2018). Teachers’ self-concepts and emotions: Conceptualization and relations. Teaching and Teacher Education, 70, 111–120.
285 Literatur
Scherer, K. R. (2005). What are emotions? And how can they be measured? Social science information, 44(4), 695–729. Schutz, P. A., & Zembylas, M. (2009). Introduction to advances in teacher emotion research: The impact on teachers’ lives. In P. Schutz (Hrsg.), Advances in teacher emotion research. The impact on teachers’ lives (S. 3–11). New York: Springer. Sutton, R. E. (2007). Teachers’ anger, frustration, and self-regulation. In R. Pekrun & P. Schutz (Hrsg.), Emotion in education (S. 259–274). Cambridge: Academic Press.
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Verstand – Werkzeuge Inhaltsverzeichnis 12.1
Wissen über die Welt – 288
12.1.1 12.1.2
enkgewohnheiten – 288 D Wissen über Emotionen – 290
12.2
Wissen über uns selbst – Selbstkonzept – 291
12.2.1 12.2.2
S elbstkonzept – 291 Selbstkonzept und Persönlichkeitswachstum – 295
12.3
Arbeitsblätter – 297 Literatur – 297
Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_12. Die Videos lassen sich mit Hilfe der SN More Media App abspielen, wenn Sie die gekennzeichneten Abbildungen mit der App scannen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kuhbandner, I. Schelhorn, Emotionale Kompetenz im Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_12
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Kapitel 12 · Verstand – Werkzeuge
Guilt, as many priests will testify, can be good for one. (Ulbricht 2015, S. 494; Hargreaves & Tucker 1991)
Worum es in diesem Kapitel geht Gedanken beeinflussen Emotionen und die Emotionsregulation maßgeblich. Das bedeutet einerseits, dass kognitive Rigidität oft auch emotionale Starrheit zur Folge hat. Andererseits schafft diese Tatsache auch die Möglichkeit, Emotionen durch Gedanken zu beeinflussen. Doch welche Gedanken führen zu welchen Emotionen? Und ist man sich dieser überhaupt bewusst? Anhand der Übungen des folgenden Kapitels sollen diese Fragen beantwortet werden. Inhaltlich beschäftigen sich die Übungen zuerst mit Denkgewohnheiten, sowohl in Bezug auf die Welt als auch in Bezug auf Emotionen, also Einstellungen, die festlegen, wie eine Person zum Empfinden, zur Regulation und zum Ausdruck bestimmter Emotionen steht. Danach werden Reflexionsübungen vorgestellt, in denen die Person zum Nachdenken über das eigene Selbstkonzept, also eigene Ziele und Ideale angeregt wird, und dazu, wie diese das Gefühlserleben beeinflussen. Einige Übungen sind spezifisch auf den Situationskontext Schule zugeschnitten.
12.1 Wissen über die Welt 12.1.1 Denkgewohnheiten 12.1.1.1 Eine Auswahl an Denkgewohnheiten
12 zz Reflexionsübung mit Erkenntnisgewinn zu ausgewählten Denkgewohnheiten
Ein Erkenntnisgewinn zu möglichen Denkgewohnheiten steht im Fokus dieser Übung. Es geht darum, anhand bestimmter vorgegebener Denkrichtungen Reflexionsprozesse über das eigene Denken anzustoßen. Die Übung ist für alle diejenigen geeignet, die sich Zeit nehmen möchten für tiefgehende Reflexion. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Auswahl an Denkgewohnheiten“, Stift. Dauer: Ca. 10 Min. Gruppengröße: Beliebig, kann auch alleine durchgeführt werden. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs „Auswahl an Denkgewohnheiten“ und des Stiftes. Durchführung (Einzelsetting): Möglicherweise hatten Sie in Ihrem Leben bereits Denkmomente, in denen Ihnen bewusst wurde, dass Sie und Ihr Gegenüber auf eine unterschiedliche Art und Weise denken. Personen haben also unterschiedliche Denkgewohnheiten. Einige dieser Denkgewohnheiten und ihre Auswirkungen wurden erforscht – denn häufig hat die Art und Weise, wie wir denken, einen Einfluss auf unser Verhalten und auch auf unsere Emotionen. In dieser Übung geht es darum, Wissen bzgl. verschiedener Denkgewohnheiten und ihrem Einfluss auf Erleben und Verhalten zu erwerben (formuliert in Anlehnung an (Amelang 2009)). Nehmen Sie sich dazu das AB „Auswahl an Denkgewohnheiten“ zur Hand. Hier werden unterschied-
289 12.1 · Wissen über die Welt
liche Gedanken zweier Personen notiert, die sich auf dieselbe Sache beziehen. Notieren Sie in der Spalte dahinter, welchen Unterschied Sie wahrnehmen. Die Auflösung, sowie weitere Informationen finden Sie auf dem Arbeitsblatt in der Tabelle darunter. Zusatz (Gruppe): In der Gruppe bietet es sich an, die Unterschiede zwischen Person 1 und Person 2 gemeinsam zu erarbeiten und zu diskutieren. Der Anleiter kann dabei die korrekte Auflösung präsentieren. Abschluss: Es bietet sich an, im Anschluss an diese Übung direkt mit der Folgeübung fortzufahren, in der es um persönliche Denkgewohnheiten geht. 12.1.1.2 Meine Denkgewohnheiten
zz Reflexionsübung zu den eigenen Denkgewohnheiten
Anschließend an die vorherige Übung bezieht sich diese Reflexionseinheit auf spezifische eigene Denkprozesse. In dieser Übung geht es darum eigene Denkprozesse zu reflektieren, die unter Umständen emotionsauslösend sind. Zur Anwendung für alle diejenigen, die mit dem Gedanken spielen ihre eigenen Denkprozesse zu verändern. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Meine Denkgewohnheiten“, Stift. Dauer: Ca. 5–10 Min. Gruppengröße: Beliebig, kann auch alleine durchgeführt werden. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs „Meine Denkgewohnheiten“ und des Stiftes. Durchführung: Idealerweise haben Sie vor Beginn dieser Übung die vorangegangene Wissenseinheit bearbeitet. Diese Übung dient dazu, die in der vorangegangenen Übung vorgestellten Kategorien nun konkret auf das eigene Denken zu übertragen. Gehen Sie dazu das AB „Meine Denkgewohnheiten“ durch und kreuzen Sie die für Sie tendenziell eher zutreffenden Aussagen an. Zusatz (Gruppe): In der Gruppe bietet es sich besonders an, diese Übung direkt an die vorangegangene Übung „Eine Auswahl an Denkgewohnheiten“ anzuschließen. Abschluss (Gruppe): In der Großgruppe kann zum Abschluss gemeinsam über Erkenntnisse reflektiert werden. 12.1.1.3 Über Schüler
zz Reflexionsübung mit Erkenntnisgewinn zum eigenen Denken über Schüler
Eigene Denkgewohnheiten sind selbstverständlich in allen Kontexten vorhanden. So auch in der Schule. Diese Übung dient deshalb der Reflexion der auf Schüler bezogenen Denkprozesse. Für praktizierende Lehrkräfte besonders geeignet. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Über Schüler“, Stift, Abdeckmaterial. Dauer: Ca. 20 Min. Gruppengröße: Einzelsetting.
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290
Kapitel 12 · Verstand – Werkzeuge
Vorbereitung: Bereitlegen des ABs „Über Schüler“ und des Stiftes. Durchführung: Nehmen Sie sich dazu die erste Seite des ABs „Über Schüler“ das Abdeckmaterial zur Hand. Betrachten Sie zu Beginn die Abbildung von „Nick“. Füllen Sie danach auf der zweiten Seite des ABs den oberen Teil (über Nick) aus. Wiederholen Sie dieses Vorgehen mit den anderen drei abgebildeten Schülern. Lesen Sie dann die Informationen auf der zweiten Seite des ABs „Über Schüler“ durch. Abschluss: Als Abschluss dient der untere Abschnitt auf dem AB, in dem kurz auf die Hintergründe zu bestimmten Interpretationstendenzen eingegangen wird. Fassen Sie für sich zusammen: Was ist Ihnen aufgefallen? 12.1.2 Wissen über Emotionen 12.1.2.1 Gedankenspiele
zz Reflexionsübung zu eigenen Gedanken über Emotionen und Emotionalität
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In dieser Übung geht es konkret um Gedanken bezüglich der eigenen Emotionalität und dem Umgang mit Emotionen. Sie handelt also von Gedanken, die den Umgang mit den eigenen Emotionen steuern. In dieser Übung wird auch verlangt, die eigenen Gedanken bezüglich deren Angemessenheit zu beurteilen. Auch diese Übung kann auf eine Veränderung abzielen. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Gedankenspiele“, Stift. Dauer: Ca. 20 Min. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: --Durchführung: Das AB „Gedankenspiele“ beinhaltet zwei Teile: Im ersten Teil werden Sie dazu angeleitet, Ihre Gedanken bzgl. Emotionen und den Umgang mit diesen zu analysieren. In einem zweiten Schritt geht es darum, zu reflektieren, inwiefern diese Gedanken handlungsleitend sind und welche Ihrer Verhaltensweisen auf die vorab formulierten Einstellungen zurückzuführen sind. Abschluss: Abschließend besteht die Möglichkeit, dass Sie selbst die Angemessenheit Ihrer Einstellungen bzgl. Emotionen und daraus abgeleitetes Verhalten beurteilen. 12.1.2.2 Emotionen im Schulkontext
zz Diskussionsrunde zum Umgang mit Emotionen im Schulkontext
Beim Stöbern im Internet gefundene Artikel sollen in dieser Diskussionsrunde gelesen und verwendet werden, um Einstellungen bezüglich Emotionen und Emotionali-
291 12.2 · Wissen über uns selbst – Selbstkonzept
tät im Schulkontext zu diskutieren. Besonders geeignet für Großgruppen mit praktizierenden oder angehenden Lehrkräften. Benötigtes Material: Folgende Online-Zeitungsartikel pro Teilnehmer jeweils einfach ausgedruckt: „Ich brülle meine Schüler an“ ((Ulbricht 2015), 7 https://www. spiegel.d e/lebenundlernen/job/lehrer-rastet-in-klasse-aus-deshalb-bruelle-ichmeine-schueler-an-a-1017211.html), „Haben Sie in der Pause gekokst, Frau W.?“ ((Katharina 2018a), 7 https://sz-magazin.sueddeutsche.de/grosse-pause-mit-frau-w/ haben-sie-in-der-pause-gekokst-frau-w-86110), „Der Junge, der so unendlich traurig war“ ((Katharina 2018b), 7 https://sz-magazin.sueddeutsche.de/grosse-pause-mit- frau-w/der-junge-der-so-unendlich-traurig-war-86460), AB „Anregungen für mich“. Dauer: Ca. 45 Min. Gruppengröße: Mind. 4 Personen. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs „Anregungen für mich“, Bildung eines Sitzkreises, Verteilen der Zeitungsartikel an die Teilnehmer. Durchführung: Der Diskussionsleiter instruiert zuerst alle Teilnehmer den Artikel „Ich brülle meine Schüler an“ durchzulesen. Anschließend wird in der Runde diskutiert, welche Einstellungen bzgl. Lehrkräften und Emotionen die Leser dem Artikel entnehmen. Am Ende dieses Austauschs fasst der Diskussionsleiter die Quintessenz des Artikels noch einmal zusammen. Er könnte z. B. schlussfolgern, dass laut diesem Artikel Emotionen wie in diesem Fall Ärger auch bei Lehrkräften erwartet sind und berichtet werden und im Falle dieser Lehrkraft auch im Verhalten zum Ausdruck gebracht werden. Danach werden die Teilnehmer gebeten, ihre eigenen Einstellungen bzgl. dieses Themas zu formulieren und in der Runde zu diskutieren. Nach ca. jeweils 10 Min. Diskussionszeit wird mit den anderen drei Artikeln ebenso verfahren. Der Diskussionsleiter kann immer zwischendurch die Hauptschlussfolgerungen aus den Artikeln zusammenfassen. Für den Artikel „Haben Sie in der Pause gekokst, Frau W.?“ wäre das z. B. die Frage nach dem Umgang mit eigener Offenheit und daraus erwachsender Scham und der Umgang mit Belustigung vonseiten der Schüler. Der Artikel „Der Junge, der so unendlich traurig war“ wirft z. B. die Frage auf, ob und inwiefern Lehrkräfte auf leidende Schüler zugehen und ihnen ihr Mitleid zeigen sollen. Abschluss: Am Ende der Diskussionsrunde werden die Teilnehmer eingeladen, anhand des ABs „Anregungen für mich“ noch einmal in sich zu gehen und die für sie wichtigen Erkenntnisse aus der Runde zusammenzufassen.
12.2 Wissen über uns selbst – Selbstkonzept 12.2.1 Selbstkonzept 12.2.1.1 Fingerübung
zz Reflexionsübung zur Bewusstmachung der eigenen Ressourcen
Diese Übung ist eine Abwandlung der ressourcenorientierten Übung „Hand- Werkszeug“ (Fliegel und Kämmerer 2009). Mit Hilfe dieser Übung soll das eigene
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Kapitel 12 · Verstand – Werkzeuge
Selbst in seinen Facetten möglichst genau, aber stärkenorientiert abgebildet werden. Gut einsetzbar als Einzel- und als Gruppenübung. Benötigtes Material: Weißes Papier, Bleistift, Buntstifte. Dauer: Ca. 20 Min. Gruppengröße: Beliebig, auch alleine durchführbar. Vorbereitung: Bereitlegen des weißen Papiers, des Bleistifts und der Buntstifte. Durchführung: Legen Sie ihre Hand auf das weiße Blatt Papier und zeichnen Sie den Umriss Ihrer Hand mit dem Bleistift ab. Danach beginnt die Übung. ►►Der Daumen und die Finger der Hand
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Der Daumen: Beginnen Sie mit dem Daumen. Er ist der kräftigste Finger der Hand. Er steht deshalb für die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen. Auch ist der nach oben gerichtete Daumen ein Zeichen dafür, dass etwas gelungen ist. Was können Sie gut? Was würden Ihnen nahestehende Menschen sagen? Wenn Sie möchten, können Sie darüber nun einige Zeit mit geschlossenen Augen nachdenken. Öffnen Sie die Augen erst dann wieder, wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie Ihre eigenen Stärken vollständig exploriert haben. Schreiben Sie dann alles, was Ihnen eingefallen ist, auf das Papier in den Daumen vor Ihnen. Der Zeigefinger: Der Zeigefinger wird normalerweise dazu benutzt, um jemandem die Richtung anzuzeigen oder auf Dinge hinzuweisen. Er steht deshalb für richtungsweisende Ziele und Werte. Was ist für Sie wichtig? Was ist Ihnen bei anderen wichtig? Gibt es Werte oder Ziele, um die Sie sich gerade besonders bemühen oder auch noch bemühen wollen? Wenn Sie möchten, können Sie darüber nun wieder einige Zeit mit geschlossenen Augen nachdenken. Schreiben Sie dann alles, was Ihnen eingefallen ist, auf das Papier in den Zeigefinger vor Ihnen. Der Mittelfinger: Nicht umsonst liegt der Mittelfinger in der Mitte. Er soll deshalb stellvertretend für den Ausgleich, die innere Mitte, Balance und die eigene Ausgeglichenheit stehen. Welche sind die Dinge, die Ihnen Ruhe und Entspannung schenken? Wie sorgen Sie selbst dafür, dass Sie sich selbst immer wieder finden und zentrieren können? Was brauchen Sie dafür und was tut Ihnen gut? Wenn Sie möchten, können Sie darüber nun wieder einige Zeit mit geschlossenen Augen nachdenken. Schreiben Sie dann alles, was Ihnen eingefallen ist, auf das Papier in den Mittelfinger vor Ihnen. Der Ringfinger: Am Ringfinger tragen wir Verlobungs- und Eheringe. Er soll deshalb ein Symbol für die Verbundenheit und wichtige Beziehungen sein, die uns Kraft und Halt geben. In welchen Beziehungen können Sie sich selbst Hilfe und Unterstützung holen? Wo empfangen Sie Liebe und Sicherheit, erleben Sie Freundschaft, Bindung und Zugehörigkeit? Wenn Sie möchten, können Sie darüber nun wieder einige Zeit mit geschlossenen Augen nachdenken. Schreiben Sie dann alles, was Ihnen eingefallen ist, auf das Papier in den Ringfinger vor Ihnen. Der kleine Finger: Klein aber fein. Auch wenn der kleinste unserer Finger nicht spezifisch mit einer bestimmten Bedeutung verknüpft ist, so sind es doch häufig die Dinge, die wir mit ihm verbinden wollen, die uns in den Momenten helfen, in denen alle anderen versagen. Wenn wir unsere Ziele nicht erreichen, wenn wir wichtige Menschen verlieren, wenn wir mit unseren Schwächen konfrontiert werden? Der kleine Finger soll für all das stehen, was uns dann wieder auf die Beine hilft und noch nicht genannt wurde. Ist es ein Hobby?
293 12.2 · Wissen über uns selbst – Selbstkonzept
Vielleicht ein Haustier? Oder ein innerer Anteil? Ein bestimmter Gedanke, eine bestimmte Erinnerung? Wenn Sie möchten, können Sie darüber nun wieder einige Zeit mit geschlossenen Augen nachdenken. Schreiben Sie dann alles, was Ihnen eingefallen ist, auf das Papier in den kleinen Finger vor Ihnen. ◄
Abschluss: Beenden Sie die Übung dann, wenn es für Sie passt. Wenn Sie möchten, können Sie die Hand auf dem Papier noch weiter ausgestalten oder sie an einem gut einsehbaren Ort aufhängen. 12.2.1.2 Talking to Alfred – Diskussionsrunde
zz Diskussionsrunde zur Reflexion wichtiger Handlungsmotive von Lehrkräften
Diese zweigeteilte Diskussionsrunde für Großgruppen beschäftigt sich mit grundlegenden menschlichen Handlungsmotiven und Bedürfnissen und inwiefern diese für die diskutierenden Personen wichtig sind und inwiefern ihre Verwirklichung im Schulalltag erfolgen kann. Besonders geeignet für angehende Lehrkräfte und auch für diejenigen, die zur Reflexion bezüglich der eigenen Berufswahl angeregt werden möchten. Benötigtes Material: Rollenbeschreibungen für „Talking to Alfred Diskussionsrunde“, Kreppband, Marker, Stoppuhr. Dauer: Ca. 45 Min. Gruppengröße: Mindestens 5, idealerweise und maximal 9 Teilnehmer pro Diskussionsrunde. Ab 10 Teilnehmern wird die Gruppe in zwei Diskussionsrunden geteilt. Vorbereitung: Kopieren und Auseinanderschneiden der Rollenanweisungen. Einteilung in (ggf. mehrere) Diskussionsrunden und jeweils Bildung eines Sitzkreises. Jeder Diskutant erhält die Beschreibung einer Rolle und die Anweisung, den Namen seiner Rolle auf Kreppband zu schreiben und diesen gut sichtbar aufzukleben. Durchführung: Die Durchführung dieser Diskussionsrunde ist in zwei Runden aufgeteilt. Der Anleiter instruiert die Teilnehmer wie folgt: Nach der Zuteilung der Rollenfiguren bekommt jeder Teilnehmer kurz Zeit, die Instruktion zu lesen und sich in die Figur und in deren Motive hineinzuversetzen. Jeder hat dann einmal die Möglichkeit sich von den anwesenden Lehramtsstudierenden beraten zu lassen, ob denn der Beruf des Lehramts ein geeigneter wäre. Für die Zeit der Beratung befinden sich die Lehramtsstudierenden dann nicht in ihren Rollen. Die Anweisung an die Beratenden lautet, dass sie möglichst wertfrei und wohlwollend dem Ratsuchenden gegenüber sein sollen (und somit auch nicht aus einer Perspektive des Schülers argumentieren). Fragen der Beratenden an den Ratsuchenden können zum Beispiel sein: Was brauchst du, um in deinem Beruf zufrieden zu sein? Was ist für dich wichtig? Wie sähe ein wünschenswerter Arbeitsalltag für dich aus? Es geht also nicht darum, herauszufinden, ob die Figur gut geeignet ist für den Beruf, sondern ob der Beruf für die Figur geeignet ist. Der Anleiter kann steuernd eingreifen: Einerseits ist es zielführend dann einzugreifen, wenn die Beratenden Stellungsnahmen dazu abgeben, was die Fi-
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Kapitel 12 · Verstand – Werkzeuge
gur tun soll oder nicht oder ob sie sie für geeignet halten. Der Anleiter kann auch begrenzend eingreifen, wenn die Beratungen zu lange andauern (mehr als fünf Minuten pro Figur). Erste Runde: Alle Teilnehmer der Diskussionsrunde stellen sich vor, dass ihre Rollenfigur ein Lehramtsstudium beginnen und Lehrkraft werden möchte. Jeder der Teilnehmer hat dabei ein eigenes Bedürfnis, dessen Erfüllung besonders wichtig ist. Jeder fragt in seiner Rolle die anderen Teilnehmer um Rat, ob und wie denn sein Bedürfnis im Kontext der Schule als Lehrkraft erfüllt werden kann (oder nicht). Die jeweiligen Rollen für eine bestimmte Anzahl an Diskutanten sind im Folgenden aufgeführt: 55 5 Personen: Alfred, der Professor, der Künstler, der Gangster, der Wassermann. 55 6 Personen: Alfred, der Professor, der Künstler, der Gangster, der Wassermann, die Katze. 55 7 Personen: Alfred, der Professor, der Künstler, der Gangster, der Wassermann, die Katze, der Erzieher. 55 8 Personen: Alfred, der Professor, der Künstler, der Gangster, der Wassermann, die Katze, der Erzieher, der sonderbare Vogel. 55 9 Personen: Alfred, der Professor, der Künstler, der Gangster, der Wassermann, die Katze, der Erzieher, der sonderbare Vogel, die holde Jungfrau.
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Der erste Teil der Diskussionsrunde wird nach 15 Minuten beendet. Dies wird den Teilnehmern durch den Anleiter mitgeteilt. Anmerkung: Bei jeder Rollenfigur findet sich unter dem Punkt „Eigenart“ eine Anweisung, deren Befolgung der Auflockerung der Diskussionsrunde dienen würde. Die Einführung oder Streichung dieser Sonderoption kann je nach Belieben vorgenommen werden. Es ist empfehlenswert sie nur dann vorzunehmen, wenn die Gruppe im Allgemeinen sehr still ist und wenig aus sich herausgeht. Zweite Runde: Hier geht es darum, dass jeder der Teilnehmer eine Stellungnahme dazu abgibt, inwiefern er sich mit bestimmten Rollen und deren Motiven identifizieren kann und wie wichtig diese für ihn sind. Hier ist es am besten reihum vorzugehen, sodass jede Person einmal zu Wort kommt. Abschluss: Als Abschluss der Diskussionsrunde bietet sich an, dass jeder der Teilnehmer noch einmal Bezug nimmt auf den Lehramtsberuf und gewonnene Erkenntnisse zusammenfasst. 12.2.1.3 Leitbilder für den Lehrerberuf
zz Reflexionsübung zu gesellschaftlichen Einstellungen zum Lehrberuf
Diese Übung greift auf Artikel aus dem Internet zurück, die zur Reflexion über Einstellungen und Anforderungen der Gesellschaft in Bezug auf den Lehrberuf vorherrschend sind. Sie ist für alle diejenigen von Interesse, denen es gefällt gesellschaftliche Standpunkte als Anregung zum Nachdenken zu verwenden. Kann gut in Gruppen jeglicher Größe durchgeführt werden.
295 12.2 · Wissen über uns selbst – Selbstkonzept
Benötigtes Material: Drei Zeitungsartikel „Ein Schülerversteher“ ((Rudorf 2015), 7 https://www.zeit.de/2015/48/lehrer-schule-unterricht-deutscher-lehrerpreis), „Lehrer müssen begeistern können“ ((Felten 2010), 7 https://www.welt.de/welt_print/debatte/article6358558/Lehrer-muessen-begeistern-koennen.html), „Motivationsdroge Mensch“ ((Alex 2013), 7 https://www.sueddeutsche.de/bildung/lobrede-auf-den-lehrermotivationsdroge-mensch-1.1603652) bei größeren Gruppen mehrfach ausgedruckt. Dauer: Ca. 20 Min. Gruppengröße: Mindestens 6 Personen. Vorbereitung: Bereitlegen der drei Artikel auf unterschiedlichen Tischen im Raum. Einteilung der Teilnehmer in drei Gruppen. Durchführung: Jede Gruppe wird instruiert, sich den jeweiligen Artikel durchzulesen und dann untereinander zu diskutieren, welche Leitbilder für den Lehrerberuf der Artikel jeweils transportiert. Beispielsweise könnte man in dem Artikel „Der Schülerversteher“ die folgenden Leitbilder finden: Lehrkräfte sollten seriös auftreten und nicht als Entertainer oder Kumpel wahrgenommen werden. Lehrkräfte sollten fair, klug, witzig und persönlich sein. Es sollte in Ihrem Handeln Ausgeglichenheit zwischen Milde und Strenge geben. Abschluss: Am Ende werden die gefundenen Leitbilder in der Großgruppe zusammengetragen. Es kann diskutiert werden, inwiefern die Teilnehmer dies als zutreffend empfinden und welche ähnlichen oder anderen Erwartungen an sie herangetragen wurden.
12.2.2 Selbstkonzept und Persönlichkeitswachstum 12.2.2.1 Die ideale Lehrkraft
zz Reflexionsübung für die Großgruppe zu eigenen Idealvorstellungen zum Lehrerdasein
In dieser Übung für die Großgruppe werden die Teilnehmer dazu angeregt sich zurückzuerinnern an ihre eigenen Erfahrungen aus der Schulzeit. Geeignet für angehende Lehrkräfte. Benötigtes Material: Flipchart, 3 Karteikarten pro Teilnehmer in einer oder in verschiedenen Farben, je ein Marker pro Teilnehmer, Tesafilm, ggf. Reißzwecken zur Befestigung des Flipcharts an der Wand. Dauer: Ca. 20 Min. Gruppengröße: Mind. 3 Personen. Vorbereitung: Bereitlegen der Karteikarten. In die Mitte des Flipcharts wird in Großbuchstaben „Die ideale Lehrkraft“ geschrieben. Befestigung des Flipcharts an einem gut einsehbaren Platz an der Wand. Durchführung: Jeder Teilnehmer bekommt bis zu drei Karteikarten. Danach folgt die Instruktion, dass jeder an eine Lehrkraft zurückdenken soll, die er in sehr guter Erinnerung behalten hat. Anschließend besteht die Aufgabe darin, auf den Karteikarten mit jeweils einem Wort zu beschreiben, wodurch sich diese Lehrkraft aus der
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Kapitel 12 · Verstand – Werkzeuge
Perspektive der Person besonders ausgezeichnet hat. Anschließend werden die Karten auf das Flipchart aufgeklebt, wobei jedes Gruppenmitglied die jeweils gewählte Lehrperson kurz vorstellt. Abschluss: Der Gruppenleiter kann am Ende der Übung das Fazit ziehen, dass Personen manchmal ähnliche, häufig aber unterschiedliche Eigenschaften von Lehrkräften brauchen oder gut finden. 12.2.2.2 Eine Zeitreise
zz Imaginationsübung zur Herausarbeitung eigener beruflicher Ziele
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Diese Übung erfordert Zeit und Ruhe für eine ungestörte Imagination. Es geht um die Formulierung und Konkretisierung der eigenen langfristigen Ziele. Von dieser Übung kann jeder profitieren, der daran interessiert ist, über die eigenen Zukunftspläne nachzudenken. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Zeitreise“. Dauer: Ca. 20 Min. Gruppengröße: Beliebig, auch im Einzelsetting durchführbar. Vorbereitung (Gruppe): Jeder Teilnehmer wird angeleitet, sich einen Einzelsitzplatz mit Tisch zu suchen. Jedem wird ein AB „Zeitreise“ ausgeteilt. Durchführung: In der Übung geht es darum, sich vorzustellen, wie der Schuldirektor eine Rede zu Ihrem Dienstjubiläum hält. Wie würden Sie sich diese Rede wünschen? Was hätten Sie gerne, dass der Rektor über Sie sagt? Folgen Sie den Anweisungen auf dem AB „Zeitreise“ und schreiben Sie die Rede nieder, die Sie sich selbst wünschen würden. Abschluss: In der Gruppe können die Reden reihum vorgelesen werden. An diese Vorleserunde kann jeweils eine Zielreflexion angeschlossen werden, in der die langfristigen Ziele abgeleitet werden. 12.2.2.3 Entwicklungsgespräch
zz Partnerübung zur Entwicklung konkreter Zielvorstellungen für Lehrkräfte in Ausbildung
In dieser Übung sollen eigene Zielvorstellungen im Gespräch unter vier Augen formuliert und festgehalten werden. Geeignet für alle diejenigen, die ihre eigenen Ziele unter Anleitung reflektieren wollen. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Entwicklungsgespräch“, Stift. Dauer: Ca. 30 Min. Gruppengröße: Partnerübung für eine beliebige Anzahl von Paaren.
297 Literatur
Vorbereitung: Die Gruppenteilnehmer werden angewiesen sich in Paare aufzuteilen. Für jedes Paar zwei ausgedruckte ABs „Entwicklungsgespräch“ und einen Stift bereitlegen. Durchführung: In jedem Paar übernimmt eine Person die Rolle eines Interviewers. Um das Interview bestmöglich durchführen zu können, muss sie sich vor Beginn des Gesprächs das AB „Entwicklungsgespräch“ durchlesen. Die Aufgabe des Interviewers besteht darin, den Befragten zur klaren Reflexion und Ausformulierung eigener Ziele anzuregen. Der Gesprächsleitfaden auf dem AB „Entwicklungsgespräch“ kann dabei für die Steuerung des Gesprächs zu Hilfe genommen werden. Nach 15 Minuten werden die Rollen gewechselt. Der Interviewer trägt während des Gesprächs die Antworten des Interviewten in die leeren Zeilen auf dem AB „Entwicklungsgespräch“ ein. Abschluss: Eine schöne Geste zum Schluss ist sicherlich, dem Interviewten die Mitschrift auszuhändigen. 12.3 Arbeitsblätter
Die Arbeitsblätter zu diesem Kapitel können Sie sich downloaden unter 7 https:// doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_12. Sie finden dort: 55 zu 7 Abschn. 12.1.1.1 Arbeitsblatt „AB_Verstand_01_Auswahl an Denk gewohnheiten“ 55 zu 7 Abschn. 12.1.1.2 Arbeitsblatt „ AB_Verstand_02_Meine Denkgewohn heiten“ 55 zu 7 Abschn. 12.1.1.3 Arbeitsblatt „AB_Verstand_03_Über Schüler“ 55 zu 7 Abschn. 12.1.2.1 Arbeitsblatt „AB_Verstand_04_Gedankenspiele“ 55 zu 7 Abschn. 12.1.2.2 Arbeitsblatt „AB_Verstand_05_Anregungen für mich“ 55 zu 7 Abschn. 12.2.1.2 Arbeitsblatt „AB_Verstand_06_Talking to Alfred Dis kussionsrunde“ 55 zu 7 Abschn. 12.2.2.2 Arbeitsblatt „AB_Verstand_07_Zeitreise“ 55 zu 7 Abschn. 12.2.2.3 Arbeitsblatt „AB_Verstand_08_Entwicklungsgespräch“.
Literatur Alex, R. (2013). Motivationsdroge Mensch. Süddeutsche Zeitung. Verfügbar unter: https://www. sueddeutsche.de/bildung/lobrede-auf-den-lehrer-motivationsdroge-mensch-1.1603652. (Zugegriffen am 19.06.2019). Amelang, M. (2009). Differentielle Psychologie und Persönlichkeitspsychologie. In G. Krampen (Hrsg.), Fortschritte der Psychologie – Experten als Zeitzeugen. Göttingen: Hogrefe. Felten, M. (2010). Lehrer müssen begeistern können. Die Welt. Verfügbar unter: https://www.welt.de/welt_ print/debatte/article6358558/Lehrer-muessen-begeistern-koennen.html. (Zugegriffen am 19.06.2019). Fliegel, S., & Kämmerer, A. (2009). Psychotherapeutische Schätze II. Tübingen: DGVT. Hargreaves, A., & Tucker, E. (1991). Teaching and guilt: Exploring the feelings of teaching. Teaching and Teacher Education, 7(5–6), 491–505. Katharina, W. (2018a). Haben Sie in der Pause gekokst, Frau W.? SZ-Magazin. Verfügbar unter: https:// sz-magazin.s ueddeutsche.d e/grosse-pause-mit-frau-w/haben-sie-in-der-pause-gekokst-frau- w-86110. (Zugegriffen am 19.06.2019).
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Kapitel 12 · Verstand – Werkzeuge
Katharina, W. (2018b). Der Junge, der so unendlich traurig war. SZ-Magazin. Verfügbar unter: https:// sz-magazin.s ueddeutsche.d e/grosse-pause-mit-frau-w/der-junge-der-so-unendlich-traurigwar-86460. (Zugegriffen am 19.06.2019). Rudorf, J. (2015). Ein Schülerversteher. Zeitonline. Verfügbar unter: https://www.zeit.de/2015/48/lehrer- schule-unterricht-deutscher-lehrerpreis. (Zugegriffen am 19.06.2019). Ulbricht, A. (2015). Lehrergeständnisse: „Ich brülle meine Schüler an“. Spiegelonline. Verfügbar unter: https://www.spiegel.de/lebenundlernen/job/lehrer-rastet-in-klasse-aus-deshalb-bruelle-ich-meine- schueler-an-a-1017211.html. (Zugegriffen am 19.06.2019).
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Emotionen regulieren Werkzeuge Inhaltsverzeichnis 13.1
Emotionsregulation – 300
13.1.1 13.1.2 13.1.3 13.1.4 13.1.5
E igene Regulationsstrategien beobachten – 300 Situationsselektion und Situationsveränderung – 302 Aufmerksamkeitslenkung – 304 Situationsumdeutung – 305 Einflussnahme auf Emotionskomponenten – 309
13.2
Emotionsakzeptanz – 315
13.2.1 13.2.2 13.2.3
ir brauchen Dich! – 315 W Der Geschafft-Koffer – 315 Dennoch: Wer kann, der schafft auch das! – 316
13.3
Arbeitsblätter – 317 Literatur – 317
Elektronisches Zusatzmaterial Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, das berechtigten Benutzern zur Verfügung steht https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_13. Die Videos lassen sich mit Hilfe der SN More Media App abspielen, wenn Sie die gekennzeichneten Abbildungen mit der App scannen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Kuhbandner, I. Schelhorn, Emotionale Kompetenz im Lehrberuf, https://doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_13
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Kapitel 13 · Emotionen regulieren - Werkzeuge
The route to happiness may be different for each individual. (Nelson und Lyubomirsky, 2014, S. 275)
Worum es in diesem Kapitel geht Wie schaffe ich es, möglichst viel Freude an einem Tag zu erleben? Wie kann ich mein emotionales Temperament am besten zügeln oder angemessen zum Ausdruck bringen? Unter Emotionsregulation versteht man die Fähigkeit willentlich Emotionen abschwächen und Emotionen verstärken zu können. Ist dies in einer Situation nicht funktional oder nicht möglich oder nicht gewollt, spricht man von Emotionstoleranz, d. h. der Fähigkeit Emotionen aushalten zu können. Geht es darum, Emotionen als naturgegebenen Teil des Alltags zu begreifen, so spricht man von Emotionsakzeptanz. Das Ziel dieses Kapitels ist es, breit gefächerte Werkzeuge für all diese sehr unterschiedlichen Bereiche zur Verfügung zu stellen. Die vorgestellten Strategien zur Emotionsregulation beinhalten körperbezogene, auf Situationsänderung oder -selektion abzielende, kognitive und auf einen angemessenen Emotionsausdruck angelegte Strategien. Viele der vorgestellten Übungen beziehen sich dabei auf den Situationskontext Klassenzimmer. Im Unterkapitel zur Emotionstoleranz werden in erster Linie kognitive Strategien vorgestellt, die das Aushalten von unerwünschten Emotionen erleichtern können.
13.1 Emotionsregulation 13.1.1 Eigene Regulationsstrategien beobachten 13.1.1.1 Wie gut bin ich vorbereitet? – Präventive
Emotionsregulationsstrategien
13 zz Reflexionsübung mit Erkenntnisgewinn zu den eigenen präventiven Emotionsregulationsstrategien
Präventionsfokussierte Emotionsregulationsstrategien sind dadurch gekennzeichnet, dass sie vor dem Auftreten einer Emotion eingesetzt werden können. Diese Übung dient der Reflexion der präventionsfokussierten Regulationsstrategien. Sie ist geeignet für jedermann, der Erkenntnisse zu den eigenen Emotionsregulationsstrategien gewinnen möchte. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Präventive Regulationsstrategien“, Stift. Dauer: Ca. 15 Min. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs „Präventive Regulationsstrategien“ und des Stiftes. Durchführung: Bearbeiten Sie das AB „Präventive Regulationsstrategien“.
301 13.1 · Emotionsregulation
13.1.1.2 Wie reagiere ich? – Reaktionsfokussierte
Emotionsregulationsstrategien
zz Zur Beobachtung der eigenen reaktionsfokussierten Emotionsregulationsstrategien
Diese Übung beschäftigt sich ausschließlich mit reaktionsfokussierten Emotionsregulationsstrategien, d. h. Verhaltensweisen, die zum Einsatz kommen, wenn die Emotion bereits spürbar ist. Ziel der Übung ist es, einen Überblick über die am häufigsten angewendeten reaktionsfokussierten Strategien zu bekommen. Wie reagieren Sie typischerweise, wenn Sie sich in einem emotionalen Zustand befinden? Benötigtes Material: Über den Zeitraum von 2 Wochen ausgefülltes Arbeitsblatt (AB) „Mein Regulationstagebuch“, Stift. Dauer: 20 Min. + Zeit für die Umsetzung im Alltag. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Bereitlegen des über zwei Wochen ausgefüllten Emotionsregulationstagebuchs, des ABs „Auswertung Emotionsregulationstagebuch“ und des Stiftes. Übersicht über die Emotionsregulationsstrategien: 55 Positive (negative) mentale Zeitreise: Aktives Erinnern an Situationen, die mit derselben (un)angenehmen Emotion einhergingen oder – auf die Zukunft bezogen, einhergehen könnten. 55 Fehlersuche: Suche nach etwas, das „noch fehlt“, die Situation also noch verbessern könnte. 55 Ausdruck: Emotionsausdruck in Mimik und/oder Gestik. 55 Vermeidung: Situationsvermeidung (sich selbst aus der Situation entfernen oder Substanzkonsum) oder kognitive Vermeidung (Negieren der Emotion, Versuch der bewussten Ausdrucksunterdrückung, so tun als wäre sie nicht da). 55 Situationsumdeutung: Beinhaltet eine kognitive Neubewertung (z. B. humorvolle Umdeutung, Perspektivübernahme, Veränderung des Bezugsrahmens, Reat tribution). 55 Situationsänderung: Beinhaltet eine Änderung der äußeren oder inneren Situation. Durchführung: Um einen guten Überblick über die reaktionsfokussierten Emotionsregulationsstrategien zu bekommen, die Sie am Häufigsten anwenden, tragen Sie die Anzahl der verwendeten Strategien in die beiden Graphiken auf dem AB „Auswertung Emotionsregulationstagebuch“ ab. Abschluss: Reflektieren Sie: Welche Überraschungen gibt es? Welche Strategien wenden Sie am Häufigsten an, welche am Seltensten? Welche der Strategien sind funktional? Welche möchten Sie beibehalten, welche eher nicht?
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Kapitel 13 · Emotionen regulieren - Werkzeuge
13.1.2 Situationsselektion und Situationsveränderung 13.1.2.1 Ich geh jetzt mal mich selbst feiern.
zz Übung zum Einüben von Emotionsregulation durch Situationsselektion
In dieser Übung geht es darum, das Erleben von angenehmen Emotionen in den Alltag gezielt präventiv einzubauen und so die Chance, angenehme Emotionen zu erleben, zu vervielfachen. Die Übung ist für alle diejenigen geeignet, die gerne häufiger und intensiver angenehme Emotionen erleben möchten. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Ich geh jetzt mal mich selbst feiern.“, Stift, persönlichen Kalender. Dauer: Ca. 10 Min. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs „Ich geh jetzt mal mich selbst feiern.“ und des Stiftes. Durchführung: Nehmen Sie sich das AB „Ich geh jetzt mal mich selbst feiern“ und den Stift zur Hand und füllen Sie die Ankreuzliste aus. Tragen Sie sich dann in Ihren Kalender pro Woche eine der Aktivitäten ein, die Sie angekreuzt haben. Führen Sie diese Aktivitäten in der jeweiligen Woche durch. Abschluss: Beglückwünschen Sie sich für die Durchführung dieser Aktivitäten. 13.1.2.2 Swish-Flick-Pau
13 zz Unterhaltsames Spiel für die Großgruppe zur Auflockerung und Belustigung
Dieses Spiel wird jede noch so müde Runde aufwecken und erheitern. Geeignet für Großgruppen. Benötigtes Material: --Dauer: Ca. 15 Min., beliebig verlängerbar. Gruppengröße: 6–20 Personen. Vorbereitung: Bildung eines Kreises. Durchführung: Zu Beginn erklärt der Spielleiter die Bedeutung der drei das Spiel leitenden Wörter. Vereinfacht dargestellt bedeutet „Swish“ = „weiter wie vorher“, „Flick“ = Richtungswechsel und „Pau“ = einen beliebigen Spieler „abschießen“. Zu jedem dieser Wörter sollte er auch beispielhaft die zugehörige Bewegung ausführen. „Swish“: Mit einem „swish“ ist immer eine gleichzeitige wischende Bewegung nach links oder rechts mit den Händen auszuführen. Wird die Bewegung nach rechts
303 13.1 · Emotionsregulation
ausgeführt, so ist der Spieler zur rechten Hand an der Reihe und andersherum. In welche Richtung die Bewegung geht, hängt davon ab, wie der Spieler an die Reihe kam. Bei einem vorherigen „swish“ geht ein folgendes Swish an den nächsten Spieler in der gleichen Richtung weiter, als Reaktion auf ein „flick“ in die Gegenrichtung. Bei einem „pau“ hat der Spieler die freie Wahl. „Flick“: Sagt ein Spieler „flick“, so leitet er damit einen Richtungswechsel ein. Beide Hände werden dazu in Brusthöhe in einer abwehrenden Geste in Richtung desjenigen Mitspielers gebracht, der vorher gespielt hat. Ein „flick“ kann nur als Reaktion auf ein „flick“ oder ein „swish“ gegeben werden und dann immer in Gegenrichtung. „Pau“: Sagt ein Spieler „pau“, so darf er nur an einen Spieler abgeben, der nicht direkt neben ihm steht. Dabei formt er mit einer Hand eine Pistole, mit der er den jeweiligen Spieler „abschießt“. Ein „pau“ kann sowohl als Reaktion auf ein „swish“, als auch auf ein „flick“ oder „pau“ erfolgen. Ziel des Spiels ist eine möglichst hohe Geschwindigkeit beizubehalten und möglichst wenig Fehler zu machen. Um die Unterhaltsamkeit zu steigern, ist es vor allem bei großen Spieleranzahlen möglich, zwei oder mehrere gleichzeitige „Aktionslinien“ zu starten. Das heißt der Spielleiter würde ein- oder zweimal ein „Swish“ in die Runde werfen, ohne eigentlich an der Reihe zu sein. 13.1.2.3 Positive Mental Time Travel
zz Denkübung zur Verstärkung angenehmer Emotionen
Diese Übung ist der Vermehrung von angenehmen Emotionen oder der Verstärkung der Intensität angenehmer Emotionen dienlich. Auch diese Übung ist zu fast jeder Zeit an fast jedem Ort für jedermann durchführbar. Benötigtes Material: --Dauer: Ca. 1 Min. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: --Durchführung: Begeben Sie sich in eine Situation, die Sie als angenehm empfinden. Treffen Sie sich mit Freunden, gehen Sie Fußball spielen, in die Sauna oder auf ein Konzert Ihrer Wahl. Nehmen Sie sich dort einen kurzen Moment Zeit. Wenn möglich, schließen Sie kurz die Augen. Führen Sie sich vor Ihrem inneren Auge vor: Wann werden Sie eine ähnliche Situation wieder erleben? Wann war das letzte Mal, dass Sie ein ähnliches Gefühl verspürt haben? Abschluss: Versuchen Sie, den Kern dieser Übung in Ihren Alltag mitzunehmen. Das heißt immer dann, wenn Sie Freude empfinden, führen Sie die mentale Zeitreise durch. Lassen Sie, wenn möglich andere daran teilhaben. Beobachten Sie, wie dies sich Freude verstärkend auswirkt.
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Kapitel 13 · Emotionen regulieren - Werkzeuge
13.1.3 Aufmerksamkeitslenkung 13.1.3.1 Den Moment genießen
zz Fokussierungsübung zur Aufmerksamkeitslenkung
Diese Übung kann als Einstiegsübung in die Aufmerksamkeitslenkung gesehen werden. Zu fast jeder Zeit an fast jedem Ort für jedermann durchführbar. Benötigtes Material: --Dauer: Ca. 1 Min. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: --Durchführung: Diese Übung ist prinzipiell sehr einfach. Führen Sie eine (einfache) Tätigkeit aus, bei der Sie auf jeden Fall eine angenehme Emotion empfinden werden. Zum Beispiel stellen Sie sich einen Moment in die Sonne. Strecken Sie sich auf dem Sofa aus. Umarmen Sie jemanden, der Ihnen wichtig ist. Ziehen Sie Ihr bestes Kleidungsstück an und stellen Sie sich vor den Spiegel. Dann halten Sie kurz inne und lauschen! Spüren Sie nach, wie sehr Sie sich freuen, wie angenehm das ist. Wenn möglich, schließen Sie die Augen. Genießen Sie diesen Moment und dieses Gefühl! Abschluss: Führen Sie diese Übung einmal täglich durch. 13.1.3.2 Aufmerksamkeit im Klassenzimmer
13 zz Übung zur Aufmerksamkeitslenkung
Bei dieser Übung handelt es sich um eine Einstiegsübung in das Thema Aufmerksamkeitslenkung. Sie ist zur Anwendung im Kontext Klassenzimmer bestimmt und deshalb besonders für praktizierende Lehrkräfte geeignet. Benötigtes Material: --Dauer: Zeit zur Anwendung im Unterricht. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: --Durchführung: Üben Sie im Unterricht Ihre Aufmerksamkeit aktiv zu steuern. Drei Anweisungen sollen dazu genügen: Wenn Sie das Klassenzimmer betreten, dann suchen Sie in den anwesenden Gesichtern nach einem, das Sie freundlich anschaut. Lassen Sie die Stunde erst danach beginnen. Wenn Sie jemanden ermahnt haben, nehmen Sie sich kurz danach Zeit und halten Sie kurz nach einem anderen Schüler Ausschau, der gerade etwas tut, das Sie gut finden. Rufen Sie sich am Ende der Stunde eine Sache in den Kopf, die gut gelaufen ist oder von der Sie sagen würden, Sie ist Ihnen gelungen.
305 13.1 · Emotionsregulation
Abschluss: Führen Sie diese Übung mindestens zwei Wochen jeden Tag durch, sodass sich die Aufmerksamkeitslenkung etablieren kann. 13.1.3.3 Meine Emotionsbilanz
zz Reflexionsübung zur Beobachtung der eigenen angstassoziierten Gedankengänge
Ziel dieser Übung ist, Befürchtungen, die auftreten, auf ein notwendiges Maß zu beschränken, keinesfalls zu erlauben, dass diese überhandnehmen und sie gegebenenfalls auszugleichen. Vor allem gut geeignet für Personen, die sich gerne weniger Sorgen machen würden. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Meine Emotionsbilanz“, Stift. Dauer: Ca. 5 Min./Zeile, über die Dauer mehrerer Tage oder Wochen hinweg. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs „Meine Emotionsbilanz“, des Stiftes. Durchführung: Die Aufgabe besteht darin, in einem bestimmten Zeitraum auftretende Erwartungen und/oder Befürchtungen zu notieren. Dazu sollte das AB „Meine Emotionsbilanz“ an einem gut einsehbaren Platz bereitliegen. Wenn in einer Spalte die Hälfte des Blattes befüllt ist, ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Bilanz gezogen werden soll. Es stehen mehr Einträge auf der linken Seite? Wunderbar! Es stehen mehr Einträge auf der rechten Seite? Dann folgt eine zweite Übung, bei der die Aufgabe darin besteht, jedes Mal, wenn eine Befürchtung niedergeschrieben wird, auch eine Erwartung niederzuschreiben. 13.1.4 Situationsumdeutung 13.1.4.1 Humorübung
zz Übung zum Einstieg in das Thema „Humor als Regulationsstrategie“
Humor im Unterricht ist ein eher wenig empirisch beforschtes Gebiet. Dennoch ist bekannt, dass Humor sich gut als kognitive Umdeutungsstrategie eignet und sich vielleicht auch deshalb positiv auf das Klassenklima auswirkt. Jedoch: Nicht jede Form von Humor, auch das ist bekannt. Zielführend wirkt nur auf den Inhalt fokussierter Humor, im Gegensatz zu Humor, der die Schüler angreift oder abwertet. Wie die meisten Dinge, kann auch Humor trainiert werden. Diese Übung soll einen Einstieg ermöglichen. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Humorübung“.
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Kapitel 13 · Emotionen regulieren - Werkzeuge
Dauer: Ca. 5 Min. + Zeit für die Umsetzung im Unterricht. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: --Durchführung: Nehmen Sie sich das AB „Humorübung“ zur Hand und lesen Sie die Witze durch. Vielleicht ist ja der ein oder andere Witz dabei, der Ihnen zusagt. Der mutigere Teil der Übung kommt danach – denn jetzt geht es darum, Humor im Unterricht anzuwenden. Suchen Sie sich dazu für jeden Tag einen Witz aus, den Sie jemandem oder Ihrer Klasse erzählen wollen. Der zweite Teil der Übung ist etwas schwieriger, da er Kreativität erfordert: Suchen Sie sich eine Stunde aus, in der Sie die Tafelüberschrift als Witz formulieren. Neben einer Stimmungsverbesserung kann dies auch zu deutlich mehr Aufmerksamkeit führen. Abschluss: Reflektieren Sie: Inwiefern möchten Sie Humor mehr in Ihren Alltag einbinden, auch gerade dann, wenn sie unangenehme Emotionen empfinden? 13.1.4.2 Attributionsmatrix
zz Reflexionsübung zur Beobachtung und Erkennung der eigenen Attributionsmuster
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Ursachenzuschreibungen beeinflussen unsere Emotionen häufig immens. Mit Hilfe dieser Übung kann gelernt werden Attributionsmuster zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern. Geeignet für jedermann. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Meine Attributionsmatrix“, Stift. Dauer: Ca. 10 Min. pro Situation. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Bereitlegen des ABs „Meine Attributionsmatrix“. Um diese Übung durchführen zu können, müssen Sie darüber informiert sein, was eine Attribution ist. Lesen Sie sich dazu am besten an einem ungestörten Ort das erste Beispiel „Erfolgserlebnis“ durch. ►►Attributionsdimensionen
Beispiel Erfolgserlebnis: Die Schulklasse, deren Klassenleiter Sie sind, hat einen Preis für ein schulexternes Projekt erhalten, das Sie mitbetreut haben. Internalität vs. Externalität Internale Attribution: Sie sind der Meinung, dass Sie selbst maßgeblich daran beteiligt waren, dass die Klasse so viel erreicht hat. Externale Attribution: Sie sind der Meinung, dass die Klasse auch ohne Ihre Betreuung genauso viel erreicht hätte und allein für Ihren Erfolg verantwortlich ist. 55 Es geht also darum, ob Sie Ihren Erfolg sich oder anderen zuschreiben. Stabilität vs. Variabilität Stabile Attribution: Sie gehen davon aus, dass Sie unabhängig vom Zeitpunkt erfolgreich sind, wenn Sie in einem Projekt die Betreuung übernommen haben. Variable Attribution: Sie sind der Meinung, dass sie dieses Mal die Klasse gut betreut haben, gehen aber davon aus, dass Ihnen das beim nächsten Mal vermutlich nicht wieder gelingen wird.
307 13.1 · Emotionsregulation
55 Es geht also darum, ob Sie annehmen, dass Sie dauerhaft Erfolg haben werden oder nicht. Globalität vs. Spezifität Globale Attribution: Sie sind generell der Meinung, dass Sie ein guter Betreuer sind und die Klassen, die Sie betreuen auch deshalb erfolgreich sind. Spezifische Attribution: Bei dieser spezifischen Aufgabe war es Ihnen möglich ein guter Betreuer zu sein. Sie würden das jedoch keinesfalls generalisieren. 55 Es geht also darum, ob Sie annehmen, dass Sie unabhängig vom Situationskontext Erfolg haben werden oder nicht. Kontrollierbarkeit vs. Unkontrollierbarkeit Kontrollierbar: Sie sind der Meinung, dass Sie durch die Intensivität und Art Ihrer Betreuung, den Erfolg der Klasse sehr gut kontrollieren und steuern können. Unkontrollierbar: Sie sind der Meinung, dass Sie nicht oder nur sehr wenig unter Kontrolle haben, ob die Klasse erfolgreich ist oder nicht. 55 Es geht also darum, inwiefern Sie annehmen, dass Sie Ihre Umwelt kontrollieren können. ◄
Durchführung: Überlegen Sie sich dann zuerst ein Erlebnis, an das Sie sich gut erinnern können und das Sie als Erfolgserlebnis bezeichnen würden. Versuchen Sie sich dieses Erlebnis möglich deutlich ins Gedächtnis zu rufen. Überlegen Sie dann, wem oder was Sie die Erreichung dieses Erfolgserlebnisses zugeschrieben („attribuiert“) haben. Nehmen Sie dazu das AB „Meine Attributionsmatrix“ zu Hilfe. Analog zur Durchführung des ersten Teils der Übung läuft der zweite Teil ab, mit dem Unterschied, dass sich dieses Mal das Beispiel und auch die Reflexion auf ein Misserfolgserlebnis bezieht. ►►Attributionsdimensionen
Beispiel Misserfolgserlebnis: Die Schulklasse, deren Klassenleiter Sie sind, hat einen Preis für ein schulexternes Projekt nicht erhalten, das Sie mitbetreut haben. Internalität vs. Externalität Internale Attribution: Sie machen sich selbst und die Art Ihrer Betreuung maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Klasse den Preis nicht erhalten hat. Externale Attribution: Sie sind der Meinung, dass in erster Linie die Klasse oder andere Faktoren wie z. B. Schwerpunkte des Gremiums, ähnlich gute Mitbewerber etc. dafür verantwortlich waren, dass Ihre Klasse den Preis nicht erhalten hat. Stabilität vs. Variabilität Stabile Attribution: Sie gehen davon aus, dass Sie bei Wettbewerben dauerhaft den Kürzeren ziehen werden. Variable Attribution: Sie gehen davon aus, dass dieses Misserfolgserlebnis einmalig war und Sie beim nächsten Mal bestimmt besser abschneiden werden. Globalität vs. Spezifität Globale Attribution: Sie sind generell der Meinung, dass kein Projekt, das Sie betreuen, jemals Erfolg haben wird. Spezifische Attribution: Bei diesem einen Projekt war es Ihnen leider nicht möglich, die Klasse zum Erfolg zu führen, weil dieses z. B. besonders kompliziert war. Kontrollierbarkeit vs. Unkontrollierbarkeit Kontrollierbar: Sie sind der Meinung, dass Sie, wenn Sie anders gehandelt hätten, den Misserfolg hätten abwenden können.
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Kapitel 13 · Emotionen regulieren - Werkzeuge
Unkontrollierbar: Sie sind der Meinung, dass Sie kaum einen Einfluss auf den Ausgang des Wettbewerbs hatten. ◄
Abschluss: Überlegen Sie sich: Welche Konsequenzen könnten die Denkanstöße, die Sie durch diese Übung erhalten haben, in Ihrem Alltag haben? 13.1.4.3 Perspektivübernahme: Stefan, der mich immer ärgert …
zz Reflexionsübung zur Einübung von Perspektivübernahme als Emotionsregulationsstrategie
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Diese Übung zur Perspektivübernahme bezieht sich insbesondere auf die Ärgerregulation. Die Übung beinhaltet Vignetten, die speziell auf den Klassenzimmerkontext zugeschnitten sind und ist deshalb besonders für angehende und praktizierende Lehrkräfte von Interesse. Benötigtes Material: Zwei Fallvignetten „Fallvignette_Jonas“ und „Fallvignette_ Lisas Mutter“ (bei großen Gruppen mehrfach ausgedruckt). Zusatz (Gruppe): Zusätzlich ein Flipchart pro Vignette, verschiedenfarbige Marker, Reiszwecken oder Tesafilm. Dauer: Ca. 30 Minuten. Vorbereitung durch den Spielleiter (Gruppe): Bereitlegen der Flipcharts und Marker an zwei verschiedenen Plätzen des Raumes. Pro Flipchart Auslegung je einer der beiden Vignetten „Jonas“ und „Lisas Mutter“. Gruppengröße: Beliebig. Vorbereitung (Einzelsetting): Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, an dem Sie sich eine halbe Stunde ungestört Zeit nehmen können und legen Sie die „Fallvignette Jonas“ und die „Fallvignette Lisas Mutter“ bereit. Vorbereitung (Gruppe): Aufteilung der Teilnehmer in zwei Gruppen, Zuteilung jeder Gruppe zu einer Vignette. Durchführung (Einzelsetting): Lesen Sie sich zunächst die Fallvignette „Jonas“ durch und schätzen Sie dann direkt danach ein, wie wütend Sie auf Jonas wären. Bearbeiten Sie dann das AB „Fallvignette Jonas Bearbeitung“ und reflektieren Sie über die ausformulierten Fragen am Ende des ABs. Wenn Sie mögen, können Sie nach der Beantwortung die zweite Vignette bearbeiten. Durchführung (Gruppe): Die Teilnehmer werden über den Zweck der Übung aufgeklärt, sich mit Perspektivübernahme als Emotionsregulationsstrategie vertraut zu machen. Dazu wird jede Gruppe instruiert, die ihr vorliegende Vignette zu lesen, um dann mögliche Gründe und Gefühle des Akteurs in der Vignette gemeinsam zu erschließen. Die Gründe und Gefühle sollen auf dem Flipchart übersichtlich dargestellt werden. Abschluss (Gruppe): Jede Gruppe wird nach der Bearbeitungsphase gebeten, ihr Flipchart vorzustellen. Gemeinsam mit dem Übungsleiter können die angeführten Gründe dann nach den Kriterien externale vs. internale Zuschreibung („sind die gelisteten Gründe in der Person oder der Situation bedingt?“), Unterstellungstendenzen („Welche Art von Absichten wurden in die Situation interpretiert?“) und Empa-
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thie („Wie reflektiert sind die angegebenen Gründe hinsichtlich zugrundeliegender psychischer Prozesse?“) unterteilt werden. Daraufhin kann analysiert werden, inwiefern sich die Art der vermuteten Gründe auf die empfundenen Emotionen der Teilnehmer auswirkt. 13.1.5 Einflussnahme auf Emotionskomponenten 13.1.5.1 Körper und Emotionen – Lächeln bitte
zz Kurzweilige effiziente Übung zur Anwendung körperbezogener Regulationsstrategien
Diese Übung macht sich den Einfluss der eigenen Körpersignale auf gedankliche und emotionale Prozesse zunutze. Es geht darum zu trainieren durch eine Lenkung einer bestimmten Körpermuskulatur (in diesem Fall die Gesichtsmuskeln) das Empfinden zu beeinflussen. Benötigtes Material: Spiegel. Dauer: Ca. 10 Min. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: --Durchführung: Nehmen Sie sich, am besten bereits morgens, vor Ihrem Spiegel fünf Minuten Zeit für sich. Nehmen Sie dann kurz wahr, welche Ihrer „inneren Anteile“ gerade aktiv sind. Das bedeutet z. B.: Gibt es einen Anteil in Ihnen, der gerade unzufrieden ist? Was macht Ihr innerer Kritiker, schon wach oder schläft er noch? Was macht der Anteil, der Ihnen mit Wohlwollen begegnet? Ihr „inneres Kind“? Gibt es einen Anteil, der am liebsten gerne Blödsinn machen würde? Schauen Sie sich im Spiegel an. Gehen Sie dann alle diese Anteile nacheinander innerlich durch und schenken Sie jedem ein deutliches Lächeln in Ihrem Gesicht – insbesondere auch denen, die Sie vielleicht gerade als anstrengend empfinden. 13.1.5.2 Körperhaltungen im Klassenzimmer
zz Übung zur Anwendung körperbezogener Regulationsstrategien im Klassenzimmer
In dieser Übung geht es darum den Körper zur Regulation von Emotionen einzusetzen. Die Übung ist speziell auf den Kontext Klassenzimmer zugeschnitten, eignet sich also besonders für praktizierende Lehrkräfte. Benötigtes Material: Informationsblatt „Körperhaltungen im Klassenzimmer“. Dauer: Ca. 5 Min. + Zeit für die Umsetzung im Unterricht. Gruppengröße: Einzelsetting.
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310
Kapitel 13 · Emotionen regulieren - Werkzeuge
Vorbereitung: Lesen Sie sich die Übungen auf dem Informationsblatt durch. Dann legen Sie am besten eine Übung pro Tag fest. Durchführung: Folgen Sie den Anweisungen auf dem Informationsblatt. Sorgen Sie dafür, dass die benötigten Situationen eintreten. Sollten Sie beispielsweise bis zur letzten Stunde kein Kompliment erhalten haben, dann fragen Sie Ihre Schüler der letzten Stunde nach Feedback zu Ihrem Unterricht. Es ist auch möglich, diese Übung mit Vorbildern durchzuführen. Zum Beispiel stellen Sie sich einen Tag lang vor, Sie wären eine Person, die für Sie ein Vorbild darstellt. Versuchen Sie, in Ihrer Körperhaltung einen Tag wie diese Person durch den Tag zu gehen. Abschluss: Achten Sie auf Veränderungen in Ihrer Stimmung. 13.1.5.3 Der Tanz der besseren Welt
zz Unterhaltsames Spiel zur Einschätzung der Deutlichkeit des eigenen Emotionsausdrucks
13
Bei diesem Spiel geht es einerseits darum Emotionen deutlich auszudrücken, andererseits darum, den Emotionsausdruck anderer Personen zu beobachten. Gegenseitiges Feedback zum Emotionsausdruck soll Erkenntnisse fördern. Die Übung ist für all diejenigen geeignet, die einen deutlicheren Emotionsausdruck praktizieren und üben möchten. Benötigtes Material: Rolleninstruktionen des Informationsblattes „Tanz der besseren Welt“, Schere, je ein Abdruck pro Teilnehmer der Notizzettelvorlage zu „Tanz der besseren Welt“. Dauer: Ca. 20 Min. Vorbereitung durch den Spielleiter: Auseinanderschneiden der Anweisungen für die Rollen. Gruppengröße: Mindestens 3 Personen. Vorbereitung: Bildung eines Stehkreises. Der Spielleiter steht mit im Kreis und nimmt die Position eines Zuhörers ein. Jeder Teilnehmer erhält einen Stift und einen Notizzettelabdruck. Durchführung: Den Teilnehmern wird abwechselnd die Rolle eines Beobachters oder eine der Rollen der Theatergruppe zugeteilt. Die Rollenverteilung ist dabei beliebig, wichtig ist lediglich, dass die Anzahl der Beobachter der Anzahl der Rollenspieler entspricht. Bei kompletter Besetzung stehen also 16 Personen und der Spielleiter im Kreis. Der Spielleiter instruiert die Teilnehmer mit Rolleninstruktion die Angaben durchzulesen und sich kurz in die Rollen hineinzuversetzen. Währenddessen wird den Beobachtern ihre Aufgabe erklärt, die daraus besteht, dass sie während der Diskussion die Notizzettel für einen der anwesenden Rollenspieler ausfüllen sollen. Hierbei wird der zu beobachtende Rollenspieler auch zugeteilt. Dessen Gesichtsausdruck sollte für die Beobachter von ihrem Platz aus gut einsehbar sein. Während der Diskussion besteht die Aufgabe der Beobachter darin, die Intensität und Besonderheiten des Emotionsausdrucks ihrer Gegenüber zu analysieren. Wenn die Rollenspieler ihre Rollenanweisungen verinnerlicht haben, kann das Rollenspiel beginnen. Der Spielleiter weist die Spieler an, sich vorzustellen, die Auf-
311 13.1 · Emotionsregulation
führung des „Tanz der besseren Welt“ ist zu Ende. Alle Spieler ziehen sich in die Umkleide zurück und treffen auf ihn, den Regisseur. Alle Spieler möchten ihm ihre emotionalen Erfahrungen mit der unerwarteten Situation mitteilen. Dabei sollen alle darauf achten, ihre Emotionen verbal, in Gestik und Mimik möglichst deutlich auszudrücken. Der Spielleiter reagiert mit selbst erfundenem Text. Die Spieler können zum Spielleiter sprechen oder auch aufeinander reagieren. Nach 5–10 Minuten werden die Rollen zwischen Beobachtern und Spielern gewechselt. Abschluss: Den Abschluss bildet das gegenseitige schriftlich festgehaltene Feedback der Teilnehmer bzgl. des Emotionsausdrucks. 13.1.5.4 Kleine Schule der Kommunikation
zz Übung zur Kommunikation von Emotionen
Bei dieser Übung handelt es sich um eine klassisch gehaltene Kommunikationsübung. Sie ist sowohl für die Anwendung im Schulkontext als auch für die Anwendung in privaten sozialen Beziehungen gut geeignet. Benötigtes Material: Informationsblatt „Kleine Schule der Kommunikation“. Dauer: Ca. 5 Min. + Zeit für die Umsetzung im Alltag. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: --Durchführung: Suchen Sie sich eine der auf dem Informationsblatt „Kleine Schule der Kommunikation“ angegebenen Emotionen aus. Lesen Sie sich den Inhalt des Kreises durch und üben Sie die angegebene Gestik, Mimik und verbale Kommunikation so lange vor dem Spiegel, bis Sie Ihren Emotionsausdruck als ausreichend deutlich empfinden. Nehmen Sie sich dann für die kommende Woche vor, die ausgesuchte Emotion immer dann, wenn sie auftritt, in der angegebenen Deutlichkeit zu kommunizieren. Günstig ist es, wenn Sie zuerst in einem Kontext üben, den Sie als sicher empfinden, z. B. im Beisein Ihres Partners oder Ihrer Familie, bevor Sie die Übung in anderen Kontexten z. B. in der Arbeit durchführen. Führen Sie die Übung dann innerhalb von fünf Wochen mit allen Emotionen durch. Abschluss: Reflektieren Sie oder erzählen Sie jemandem: Welche Veränderungen haben Sie wahrgenommen? Inwiefern hat der Emotionsausdruck die Emotion reguliert? 13.1.5.5 Gefühle zeigen
zz Unterhaltsames Spiel zur Einübung eines deutlichen Emotionsausdrucks
Dieses Spiel führt bei der Durchführung in Großgruppen häufig zur Erheiterung, kann allerdings auch gut genutzt werden, um das inhaltliche Thema „Emotionsausdruck“ einzuführen oder aufzulockern. Dieses Spiel kann in jedweder Art von Gruppensetting zum Einsatz kommen.
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Kapitel 13 · Emotionen regulieren - Werkzeuge
Benötigtes Material: Zettel/Karten mit Emotionen, Zettel/Karten mit Sätzen, leere Zettel, Stifte. Dauer: Ca. 20 Minuten, beliebig verlängerbar. Vorbereitung durch den Spielleiter: Beschriften und/oder Ausschneiden der verschiedenen Zettel oder Karten mit den Emotionsbeschreibungen aus der Kategorie „Adjektive“ (. Tab. 13.1) und den Sätzen aus der Kategorie „Sätze“ (. Tab. 13.2). Bei der Vorbereitung der Zettel sollte beachtet werden, dass die Adjektiv- und Satzzettel sich in ihrer Form unterscheiden, sodass sie ohne Weiteres der jeweiligen Kategorie zugeordnet werden können. Gruppengröße: 6–20 Personen.
.. Tab. 13.1 Kategorie Adjektive Fröhlich
Ängstlich
Traurig
Wütend
Angeekelt
Begeistert
Panisch
Verzweifelt
Genervt
Eifersüchtig
Glücklich
Verunsichert
Enttäuscht
Drohend
Gelangweilt
Interessiert
Überrascht
Beschämt
Voller Hass
Bewundernd
Belustigt
Besorgt
Schuldig
Erleichtert
Zufrieden
Stolz
Angespannt
Hoffnungslos
Dankbar
Neidisch
.. Tab. 13.2 Kategorie Sätze
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Heute Nachmittag muss ich noch unbedingt die Blumen gießen und Beete umgraben.
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Für Ihre Reise mit der Bahn benötigen Sie noch Ihren Ausweis.
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Reden ist Silber, Schweigen ist Gold.
4
Der weiße Elefant im Raum ist die Frage der Migration.
5
Wir brauchen Aufbruch, keinen Umsturz und die volle Härte des Gesetzes.
6
Ein Hoch auf das Hochbett.
7
Marta sagte, dass es durchaus notwendig sei, die Fenster ordentlich zu schließen und zu kontrollieren, ob der Herd ausgeschaltet ist.
8
Wenn ich wüsste, was zu tun ist, hätte ich es längst getan.
9
Im Leben ist es manchmal wichtig, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten.
10
Ich, eine Ostdeutsche, bin in dieses Gefühl eingezogen, wie in ein Haus.
11
Männer, ihr dürft natürlich so viele Pflegeprodukte verwenden, wie ihr wollt.
12
Das Doppelleben des Angeklagten musste auffliegen.
13
Kann Erschrecken ein Hobby sein?
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Vorbereitung: Ein Stehkreis wird gebildet. Adjektive und Sätze auf Zetteln werden verdeckt in die Mitte des Kreises gelegt. Durchführung: Jeder Teilnehmer zieht zwei Zettel aus der Sammlung in der Mitte, je einen aus der Kategorie „Adjektive“ und einen aus der Kategorie „Sätze“. Aufgabe der Teilnehmer ist es nun, die Sätze im jeweiligen Gefühlsausdruck vorzulesen, während die Mitspieler den Gefühlszustand erraten müssen. Abschluss: Reflektieren Sie oder erzählen Sie jemandem: Welche Veränderungen haben Sie wahrgenommen? Inwiefern hat der Emotionsausdruck die Emotion reguliert? 13.1.5.6 Mein Gesicht im Unterricht
zz Reflexionsübung zur Übertragung der klassischen Emotionsregulations-Strategien auf die Klassenzimmersituation
Diese Übung zeichnet sich durch Komplexität aus, und bevor es zu einer erfolgreichen Durchführung kommen kann, ist ein fundiertes Wissen in Emotionsregulation notwendig. Sie ist zugeschnitten auf den Klassenzimmerkontext und ermöglicht es, neben dem Unterricht Buch zu führen über die eigenen Emotionsregulationsstrategien. Sie ist geeignet für Lehrkräfte, die in puncto Emotionsregulation bereits ein fortgeschrittenes Level erreicht haben. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Mein Gesicht im Unterricht“, Auswertungsbogen „Regulationsstrategien im Klassenzimmer“, Stift. Dauer: Ca. 20 Min. + Zeit für die Umsetzung im Alltag. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Kopieren Sie sich das AB „Mein Gesicht im Unterricht“ und platzieren Sie es so, dass Sie nicht vergessen, es jeden Tag mit in Ihren Unterricht zu nehmen. Legen Sie das AB am besten in jeder Unterrichtsstunde an einen für Sie gut einsehbaren Platz. Durchführung: Ihre Aufgabe besteht darin, nach jeder Unterrichtsstunde kurz darüber nachzudenken, ob Sie eine der im Kasten „Übersicht Regulationsstrategien“ aufgelisteten Emotionsregulationsstrategien angewendet haben. Falls ja, so tragen Sie an der entsprechenden Stelle auf dem AB ein Kreuz ein. Um die Bearbeitungszeit zu verkürzen, gibt Ihnen das AB bereits Situationskategorien vor. Übersicht Regulationsstrategien Situationsselektion: Das Störverhalten der Klasse 6c verärgert mich. Da sich die Klasse leichter tut, wenn zumindest ein Teil der Stunde interaktiv abläuft, habe ich für den zweiten Teil der Stunde eine Gruppenarbeit vorbereitet. Situationsveränderung: Bastian hat trotzdem sehr viel gestört. Ich habe ihn mehrmals leise darauf angesprochen und mich neben seinen Tisch gestellt, um ihn besser unter Kontrolle zu haben. Da musste ich mich gleich weniger ärgern.
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Kapitel 13 · Emotionen regulieren - Werkzeuge
Aufmerksamkeitslenkung: Ansonsten habe ich meine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Lisa und Kathrin gelenkt, die außerordentlich gut mitgearbeitet haben. Situationsumdeutung: Im Falle von Bastian hilft es mir immer, zu denken, dass er das nicht persönlich meint, sondern dass es ihm sehr schwer fällt, keine Aufmerksamkeit zu bekommen und es ihm offensichtlich wichtig ist „cool“ zu wirken. In seinem Alter ist das eben wichtig für Jungs. Reaktionsfokussierte Strategien: 55 Faking: Bei der Rückgabe einer Schulaufgabe tat ich Johann gegenüber so, als würde es mir leidtun, dass er so schlecht abgeschnitten hat. Aber eigentlich tat es mir nicht leid, ich ging nämlich davon aus, dass er einfach kaum geübt hat. 55 Masking: Das macht mich eigentlich ärgerlich, diesen Ärger drücke ich ihm gegenüber jedoch nicht aus. 55 Ausdruck: Ich habe mich sehr gefreut, dass Bastian in der Schulaufgabe deutlich besser war als sonst. Ich habe meine Freude ihm gegenüber in Gestik und Mimik und verbal ausgedrückt.
Durchführung: Nach einem Zeitraum von mindestens zwei Wochen können Sie die Auswertung vornehmen. Diese funktioniert so, dass Sie die Anzahl der Kreuze pro Strategie und Situation zählen und in die entsprechende Anzahl in die Graphiken des ABs „Auswertung Regulationsstrategien im Klassenzimmer“ eintragen. Abschluss: Ziehen Sie für sich ein Fazit aus der Auswertung. Welche Strategien möchten Sie beibehalten, welche nicht? Was fällt auf ? 13.1.5.7 Fortgeschrittenstenübung: Emotionsnutzung
13 Bisher ging es in diesem Buch darum Emotionen wahrzunehmen und zu regulieren, sodass es Ihnen selbst damit möglichst gut geht und Sie mit Ihren Zielen, Idealen und Gedanken in Einklang stehen. Mittlerweile müssten Sie ein Mastery-Level erreicht haben und sind so selbst zum Experten geworden. Wir gratulieren und freuen uns mit Ihnen. Zu guter Letzt, wer noch nicht genug hat – gerade im Schulkontext kann es manchmal auch zielführend sein, die eigenen Emotionen gezielt einzusetzen. Zeit, die neuen Kompetenzen zu genießen ☺. Benötigtes Material: Arbeitsblatt (AB) „Emotionsnutzung“, Stift. Dauer: Ca. 15 Min. Gruppengröße: Einzelsetting. Vorbereitung: Suchen Sie sich einen ungestörten Ort. Durchführung: Füllen Sie das AB Emotionsnutzung aus. Abschluss: Sie können für sich zusammenfassen, inwiefern Sie denken, dass Sie Emotionen bereits sinnhaft und gekonnt im Unterricht einsetzen – oder selbstverständlich auch, inwiefern Sie das überhaupt wollen. Aber vielleicht gefällt Ihnen ja zum Abschluss die eine oder andere Idee …
315 13.2 · Emotionsakzeptanz
13.2 Emotionsakzeptanz 13.2.1 Wir brauchen Dich!
zz Gruppenübung zum Aufzeigen der Funktion von Emotionen
Diese Übung wurde in Anlehnung an die Übung „Sinn und Nutzen von Gefühlen“ des Trainings emotionaler Kompetenzen nach Berking, (2017) konstruiert. Sie dient der Verdeutlichung der Bedeutung von zumeist als unangenehm empfundenen Emotionen. Benötigtes Material: 10 Karteikarten mit Emotionsbeschriftung, Wäscheklammern, Marker zur Beschriftung. Dauer: Ca. 15 Min., beliebig verlängerbar. Gruppengröße: Mind. 3 Personen. Vorbereitung: Die Karteikarten müssen auf einer Seite jeweils mit einer der folgenden Emotionen beschriftet sein: Scham, Schuld, Trauer, Wut, Hass, Neid, Verachtung, Angst, Unsicherheit, Hilflosigkeit, Verzweiflung, Langeweile. Bildung eines Sitzkreises. Durchführung: Jeder Teilnehmer bekommt eine der Karteikarten mit einer Wäscheklammer an seinem Oberteil am Rücken befestigt, so, dass die Schrift gut lesbar ist. Eine Person stellt sich dann in die Mitte, Aufgabe dieser Person ist nun, zu erraten, mit welcher Emotion die Karte beschriftet ist. Dabei dürfen nur Fragen gestellt werden, die darauf abzielen die Funktion der Emotion herauszufinden, wie z. B. „Wofür brauche ich Dich?“ „Was kann ich gut?“ „In welchen Situationen werde ich benötigt?“ „Wann bin ich besonders präsent?“ „Wie kann ich helfen?“ So werden alle Spieler angehalten, über die nützlichen Seiten von häufig als unangenehm empfundenen Emotionen nachzudenken. Abschluss: Zum Abschluss können die herausgearbeiteten Funktionen noch einmal zusammenfassend pro Emotion durchgesprochen werden. 13.2.2 Der Geschafft-Koffer
zz Gruppenübung zum Anlegen eines gedanklichen Werkzeugkoffers zum Aushalten von Emotionen
In dieser Gruppenübung geht es darum gemeinsam Gedanken zu sammeln, die das Aushalten von unbeliebten Emotionen vereinfachen. Gruppenmitglieder können da-
13
316
Kapitel 13 · Emotionen regulieren - Werkzeuge
bei gut voneinander profitieren. Geeignet für Gruppen jeglicher Art, die sich mit dem Thema Emotionsakzeptanz beschäftigen möchten. Benötigtes Material: --Dauer: Ca. 15 Min., beliebig verlängerbar. Gruppengröße: Mindestens 3 Personen. Vorbereitung: Bildung eines Sitzkreises. Durchführung: Zuerst fragt der Übungsleiter einen beliebigen Teilnehmer nach einer Emotion, die diese Person als unangenehm empfindet. Danach gilt es als Gruppe für diese Emotion den sogenannten „Geschafft-Koffer“ zu packen. Aufgabe der Teilnehmer ist es sich vorzustellen, dass sie an einem Ort sind, an dem sie ausschließlich diese Emotion empfinden können. Egal, was sie auch tun, die Emotion wird bleiben. Der Übungsleiter gibt diesem Ort dann einen Namen, wie z. B.: Traurigland, Ärgerland, Hassland. Die Teilnehmer sollen dann überlegen, welche Gedanken sie in dem jeweiligen Land als hilfreich empfinden würden, um diese Emotion besser aushalten zu können. Im „Traurigland“ wären Beispiele für solche Gedanken: „Ich habe es schon einmal geschafft, Trauer in diesem Ausmaß gut auszuhalten.“, „Ich finde es wichtig, dass ich gerade traurig bin. Es zeigt, mir und anderen, dass mir diese Sache etwas bedeutet hat.“, „Dieses Gefühl wird wieder vergehen, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“ Abschluss: Es ist sinnvoll, die Teilnehmer nach der Übung die Gedanken notieren zu lassen, die sie am Geeignetsten empfunden haben. 13.2.3 Dennoch: Wer kann, der schafft auch das! zz Mini-Rollenspiel zur Konfrontation mit als unangenehm empfundenen Emotionen
13 Dieses Rollenspiel wird zu zweit durchgeführt und soll der Auslösung von Emotionen dienen. Es geht in dem Rollenspiel darum, Strategien zum Aushalten von Emotionen anzuwenden. Für Praktiker geeignet. Benötigtes Material: --Dauer: Ca. 30 Min. Gruppengröße: Mindestens 2 Personen. Vorbereitung: Jeder Teilnehmer überlegt sich eine (Unterrichts)Situation, die bei ihm sehr unangenehme emotionale Empfindungen auslösen würde und die für einen Rollenspielpartner gut spielbar ist. Der Spielleiter sollte die Eignung der Situationen überprüfen. Sie sollten derart sein, dass ein Ausweichen genauso wie eine Regulation der Emotion nur sehr schwer möglich ist. Dann werden Zweiergruppen gebildet. Die Übung eignet sich gut als Folgeübung zum „Geschafft-Koffer“. Durchführung: Das Rollenspiel wird abwechselnd durchgespielt. Gespielt werden die vorher überlegten Situationen. Beide Situationen werden innerhalb der Dyade vor dem Spiel durchgesprochen, beide überlegen gemeinsam, welche kognitiven Strategien die Person in der Lehrerrolle bei Auftreten der Emotion anwenden könnte.
317 Literatur
Falls vorher die Übung „Der Geschafft-Koffer“ durchgeführt wurde, kann auf die dort gesammelten Strategien zurückgegriffen werden. Das Rollenspiel sollte mehrmals durchgespielt werden – möglicherweise werden mehrere Anläufe benötigt, bis die gewünschte Emotion auftritt. Abschluss: In der Großgruppe ist es sinnvoll, die Übung im Sitzkreis nachzubesprechen mit dem Fokus auf verwendete Strategien, damit die Gruppe maximal von den Ideen der Teilnehmer profitieren kann. 13.3 Arbeitsblätter
Die Arbeitsblätter zu diesem Kapitel können Sie sich downloaden unter 7 https:// doi.org/10.1007/978-3-658-26984-5_13. Sie finden dort: 55 zu 7 Abschn. 13.1.1.1 Arbeitsblatt „AB_Emotionsregulation_01_Präventive Regulationsstrategien“ 55 zu 7 Abschn. 13.1.1.2 Arbeitsblatt „AB_Emotionsregulation_02_Emotionsregulationstagebuch“ 55 zu 7 Abschn. 13.1.2.1 Arbeitsblatt „AB_Emotionsregulation_03_Ich geh jetzt mal mich selbst feiern“ 55 zu 7 Abschn. 13.1.3.3 Arbeitsblatt „AB_Emotionsregulation_04_Meine Emotionsbilanz“ 55 zu 7 Abschn. 13.1.4.1 Arbeitsblatt „AB_Emotionsregulation_05_Humorübung“ 55 zu 7 Abschn. 13.1.4.2 Arbeitsblatt „AB_Emotionsregulation_06_Meine Attributionsmatrix“ 55 zu 7 Abschn. 13.1.4.3 Arbeitsblätter „AB_Emotionsregulation_07_Perspektivübernahme_Vignette_1“ und „AB_Emotionsregulation_08_Perspektivübernahme_Vignette_2“ 55 zu 7 Abschn. 13.1.5.2 Arbeitsblatt „AB_Emotionsregulation_09_Körperhaltungen im Klassenzimmer“ 55 zu 7 Abschn. 13.1.5.3 Arbeitsblatt „AB_Emotionsregulation_10_Tanz der besseren Welt“ 55 zu 7 Abschn. 13.1.5.4 Arbeitsblatt „AB_Emotionsregulation_11_Kleine Schule der Kommunikation“ 55 zu 7 Abschn. 13.1.5.6 Arbeitsblatt „AB_Emotionsregulation_12_Mein Gesicht im Unterricht“ 55 zu 7 Abschn. 13.1.5.7 gehörige Arbeitsblatt „AB_Emotionsregulation_13_Emotionsnutzung“.
Literatur Berking, M. (2017). Training emotionaler Kompetenzen. Wiesbaden: Springer. Nelson, S. K., & Lyubomirsky, S. (2014). Finding happiness. In M. Tugade, M. Shiota, & L. Kirby (Hrsg.), Handbook of positive emotions (S. 275–293). New York: Guilford Press.
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