Elly Heuss-Knapp - Gründerin des Müttergenesungswerkes: Eine Biographie
 9783412215262, 9783412208806

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Alexander Goller

Elly Heuss-Knapp – Gründerin des Müttergenesungswerkes Eine Biographie

2012 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. Umschlagabbildung: Links: Elly Knapp im Lesezimmer im Hause Knapp um 1905 (siehe auch Seite 31). Rechts: Elly Heuss-Knapp in ihrem Arbeitszimmer 1950. Die Abbildungsrechte liegen bei Familie Heuss in Basel. © 2012 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: xPrint s.r.o., Pribram Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the Czech Republic ISBN 978-3-412-20880-6

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist im Juli 2009 von der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen als Dissertation angenommen und für die Veröffentlichung überarbeitet worden. An erster Stelle darf Herrn Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel gedankt werden. Sein Rat, seine offene sachliche Kritik und insbesondere der Freiraum, den er bei der Abfassung der Arbeit ließ, ermöglichten überhaupt erst neben anderen Verpflichtungen die erfolgreiche Vollendung. Herr Prof. Dr. Joachim Scholtyseck übernahm dankenswerterweise im Rahmen des Promotionsverfahrens das Zweitgutachten. Die Familie Heuss in Basel unterstützte das Vorhaben mit allen erdenklichen Mitteln. Hierfür danke ich in besonderem Maße Herrn Ludwig Theodor Heuss und seiner Familie. Die Begegnungen mit Frau Ursula Heuss-Wolff werden mir immer unvergesslich bleiben! Dank gebührt schließlich auch einer Reihe von Unterstützern, die nicht einzeln genannt werden sollen, doch im Rahmen von Diskussionen, Anregungen und Hilfen über Jahre hinweg die Fertigstellung unterstützten. Das familiäre Umfeld ist die Grundlage allen Arbeitens. Daher widme ich diese Arbeit Barbara.

Inhalt

Einleitung ............................................................................................... 9 1. Methodisches Vorgehen ............................................................... 10 2. Aufbau der Arbeit ........................................................................ 17 3. Literatur ....................................................................................... 19 4. Quellen ......................................................................................... 21 I. Die Jugend von Elly Knapp in Straßburg ........................................ 23 1 Soziale Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich vor der Jahrhundertwende ........................................................................ 25 a) Lebensverhältnisse im deutschen Bildungsbürgertum ............ 25 b) Sozialpolitik und soziale Errungenschaften ............................ 43 2. Berufliches und ehrenamtliches Engagement von Georg Friedrich Knapp............................................................................. 50 a) Der Verein für Socialpolitik .................................................... 51 b) Die Professur für Nationalökonomie an der Kaiser-Wilhelm Universität in Straßburg ......................................................... 57 3. Erziehung und Aufwachsen im Elternhaus Knapp. ..................... 61 a) Die Kindheit und Jugend in einer bildungsbürgerlichen Familie .................................................................................... 61 b) Das Hineinwachsen in sozialpolitische Problemstellungen .... 68 4. Soziale Ausprägungen des Charakters durch herausragende Persönlichkeiten ........................................................................... 74 a) Friedrich Naumanns sozialer Linksliberalismus ..................... 75 b) Albert Schweitzers theologische Nächstenliebe ...................... 85 II. Ausprägung der sozialen Persönlichkeitsstruktur .......................... 94 1. Sozialpolitische Themen vor dem Ersten Weltkrieg ..................... 96 a) Publikationen als Sprachrohr sozialpolitischer Grundausrichtung im Bereich der Armenunterstützung ........ 96 b) Hauswirtschaft und Heimarbeit. Sensibilisierung für Probleme der Frauen zuhause ................................................. 103 2. Der Rückhalt in der Familie ......................................................... 107 3. Rezensionen und Mitarbeit an der Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“ .......................................................................... 110

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4. Soziale Unterstützungstätigkeit vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft .................................................................................... 112 a) Organisatorin von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Ersten Weltkrieg ..................................................................... 114 b) Politisches Intermezzo ............................................................ 118 c) Die Rückbesinnung auf Religion ............................................ 125 d) Soziale Aktivitäten in schwierigen Zeiten .............................. 131 5. Veränderte Lebensverhältnisse in der Diktatur ............................ 141 a) Rückzug ins Private ................................................................ 142 b) Arbeiten für die Werbung als Lebensmittelpunkt .................. 149 III. Sozialpolitische Initiativen nach dem Zweiten Weltkrieg ............ 153 1. Vielfältige Betätigungen nach Jahren der Zurückgezogenheit ..... 157 2. Wieder in der aktiven Politik ....................................................... 160 a) Landtagsabgeordnete in Württemberg-Baden ....................... 163 b) Die „erste Frau im Staat“ ........................................................ 171 IV. Das Deutsche Müttergenesungswerk ............................................ 175 1. Die Gründung der „Elly Heuss-Knapp-Stiftung ,Deutsches Müttergenesungswerk’“ ................................................................ 177 2. Professionalisierung und Öffentlichkeitswirkung ......................... 187 3. Etablierung der Müttergenesung in der bundesdeutschen Fürsorge ........................................................................................ 195 Schlussbetrachtung ................................................................................ 200 Quellen- und Literaturverzeichnis ........................................................ 202 1. Ungedruckte Quellen ................................................................... 202 2. Gedruckte Quellen ....................................................................... 203 3. Veröffentlichungen von Elly Heuss-Knapp .................................. 204 4. Zeitgenössische Schriften und Erinnerungen .............................. 206 5. Literatur ....................................................................................... 209 Register......................................................................................................... 230 1. Personenregister ........................................................................... 230 2. Institutionen, Vereins- und Ortsregister ....................................... 231 3. Sachregister .................................................................................. 232

Einleitung

In der neueren deutschen Geschichte ist die Erforschung von Lebenswegen politisch und gesellschaftlich bedeutender Persönlichkeiten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit gediehen. Dieser Personenkreis hat zumeist seine Sozialisation im Deutschen Kaiserreich erhalten und erfuhr eine starke Zäsur durch den Ersten Weltkrieg. In der Weimarer Republik polarisierten sich die Lebensentwürfe, was dann im nationalsozialistischen Staat zur Teilnahme oder zum Rückzug ins Private, wenn nicht gar zur Emigration oder zur Ermordung durch die Nationalsozialisten führte. Natürlich gab es nahezu unendlich viele Schattierungen an Einzelbiographien, dennoch dürften die eben skizzierten einige Hauptstränge verdeutlichen. In der Bundesrepublik Deutschland gelangten dann Personen, die ehemals in gesellschaftlich und politisch hochrangigen Stellungen waren, nicht selten trotz faschistischer Vergangenheit1 wieder in exponierte Positionen. Biographien von Persönlichkeiten, die sich nicht auf den Nationalsozialismus eingelassen haben und in der Bundesrepublik Deutschland eine herausragende Funktion in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen innehatten, scheinen weniger interessant.2 Insbesondere für die wichtige soziale Ausformung des neuen Staates liegen kaum biographische Untersuchungen zu dessen Protagonisten vor.3 Einige der bedeutenden Persönlichkeiten bei der Ausgestaltung des westdeutschen Sozialstaates werden in der vorliegenden Untersuchung Erwähnung finden. Eine Frau mit ungewöhnlich starkem sozialem Engagement im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, die ihre Aktivitäten unter dem Nationalsozialismus auf den Gelderwerb für die eigene Familie konzentrierte, war Elly Heuss-Knapp. Als Gattin des ersten deutschen Bundespräsidenten stand sie schließlich in exponierter Stellung, so dass sie eine große Wirkung entfalten konnte, die in der Gründung des Deutschen Müttergenesungswerkes ihren Höhepunkt fand. Die soziale Prägung als zentrales Element ihrer Persönlich1 Das ausschlaggebende Werk zur Kontinuität vom Dritten Reich zur Bundesrepublik ist Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, dtv, München 1999. 2 Bedeutende Ausnahmen sind Biographien politischer Entscheidungsträger. Als herausragend kann Schwarz, Hans-Peter, Adenauer. Der Aufstieg 1876–1952/Der Staatsmann 1952–1967, 2 Bde., dtv, München 1994, genannt werden. 3 Vgl. Maier, Hugo, Vorwort und die kurzen biographischen Skizzen in Who is who der sozialen Arbeit, hg. von Hugo Maier, Lambertus, Freiburg i. Br. 1998.

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keit erhellt die starke Komponente, die bei ihr in der Gründungsphase der Bundesrepublik die herausragende charakterliche Eigenschaft darstellte. Die biographische Analyse einer wirkungsmächtigen historischen Person in ihrer Zeit, wie es Elly Heuss-Knapp ohne Zweifel war, leistet somit immer zugleich einen Beitrag zu Themen, die vom Individuum ausgehend die Epoche insgesamt in den Blick bringen.4 Das Deutsche Müttergenesungswerk als eine Einrichtung, die einer breiten Bevölkerungsschicht zugute kommen sollte, ist ein exemplarisches Beispiel der Institutionalisierung des deutschen Sozialwesens. In der Hoffnung als Historiker nicht nur „den Intellekt“ anzusprechen, sondern auch an den Geist, der den Menschen reifen lässt, zu appellieren,5 soll vermittelt werden, dass die Thematik ein bedeutendes Anliegen ist, ohne dabei den nötigen Abstand zum historischen Gegenstand zu verlieren. Es wird versucht, der nötigen wissenschaftlichen Aufarbeitung des bundesdeutschen Sozialstaates mit dieser Abhandlung ein menschliches Antlitz hinzuzufügen, das zudem die individuelle Persönlichkeitsentwicklung als historische Grundvoraussetzung elementarer Sozialstrukturen erkennt.

1. Methodisches Vorgehen Wissenschaftliche Arbeiten erfordern weit mehr als lediglich die Erörterung eines Themas unter ausschließlich literarischen Gesichtspunkten.6 Dies gilt ebenso für die Geschichtswissenschaft. Eine unabdingbare Grundvoraussetzung des Historikers muss ein Bewusstsein dafür sein, dass er in seiner Gegenwart, die zur Vergangenheit wird, schreibt. Somit wird von der unmittelbaren Gegenwart des Historikers dessen Arbeit geprägt. Die geistige Tätigkeit des historischen Erzählens besteht in der bewusst vollzogenen Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit, der Konstitution des Geschichtsbewusstseins.7 Der Historiker muss seine empirischen Bezüge im Quellenmaterial finden. Seine ästhetischen Gestaltungsmittel bleiben begrenzt, wenn er untersucht, 4 Möller, Horst, Was ist Zeitgeschichte? In: Einführung in die Zeitgeschichte, hg. von Horst Möller und Udo Wengst, C.H. Beck Verlag, München 2003, S. 36. 5 Morkel, Arnd, Die Universität muss sich wehren. Ein Plädoyer für ihre Erneuerung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, S. 153/154. 6 Mommsen, Wolfgang J., Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, in: Theorie der modernen Geschichtsschreibung, hg. von Pietro Rossi, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, S. 107. 7 Rüsen, Jörn, Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1983, S. 55.

Methodisches Vorgehen  |

erörtert und argumentiert.8 Die notwendige Synthese zwischen allgemeinen Strukturen und Prozessen und individuellen Handlungen und Ereignissen erfordert sowohl erklärende als auch verstehende Momente.9 Mit einem biographischen Zugang zu Elly Heuss-Knapp, welcher in der Gründung des Deutschen Müttergenesungswerkes gipfelt, soll eine soziale Prägung verdeutlicht werden, die sich in konkreten Aktivitäten niederschlägt und zunehmend professioneller agiert. Allerdings darf dieser Ansatz nicht mit der Biographieforschung in den Sozialwissenschaften verwechselt werden, da diese das soziale Konstrukt „Biographie“ mit der Datengrundlage autobiographischer Lebensgeschichten erforschen.10 In der historischen Biographieforschung steht zwar das Individuum als Handlungsträger im Zentrum des Interesses, allerdings in Form einer konsequenten Analyse seiner Bezüge zur Umwelt. Die Wechselwirkung zwischen dem Individuum und seinem gesellschaftlichen Umfeld ist prägend für dessen Persönlichkeitsstruktur, zugleich aber das zentrale theoretische und methodische Problem.11 Zur wissenschaftlichen Interpretation gehört neben einer Beschreibung des beobachtbaren Handelns der analysierten Person auch die Darstellung der Selbstbeschreibung der Beteiligten, wobei es nicht notwendig ist, die wissenschaftliche Interpretation von der Beschreibung zu trennen, wie Clifford Geertz meint.12 Die Selbstinterpretation der Akteure wird in eine andere Sprache übersetzt und in einen anderen Fragehorizont integriert. Die historische Biographie muss die Produktion von Identität im Rahmen von jeweils durch die Struktur von Familie und Gesellschaft geprägten Handlungs- und Kommunikationszusammen8 Hockerts, Hans Günter, Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51 B28 (2001), S. 28. 9 Haussmann, Thomas, Erklären und Verstehen: Zur Theorie und Pragmatik der Geschichtswissenschaft. Mit einer Fallstudie über die Geschichtsschreibung zum deutschen Kaiserreich 1871–1918, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, besonders S. 131, 186–188, 233–235 und 237. 10 Fischer, Wolfgang/Kohli, Martin, Biographieforschung, in: Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung (Biographie und Gesellschaft 1), hg. von Wolfgang Voges, Leske + Budrich, Opladen 1987, S. 26 und Fuchs-Heinritz, Werner, Biographische Forschung. Eine Einführung in Praxis und Methoden (Hagener Studientexte zur Soziologie), Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 22000, S. 9/10. 11 Gestrich, Andreas, Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung, in: Biographie – sozialgeschichtlich. Sieben Beiträge, hg. von Andreas Gestrich, Peter Knoch und Helga Merkel, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1988, S. 7, 21. 12 Vgl. Geertz, Clifford, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, S. 7–43.

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hängen rekonstruieren.13 Was bedeutet dies für die methodische Umsetzung? Zunächst muss der einzelne Mensch als Subjekt seiner eigenen Lebensgeschichte und als „Konstrukt“ seiner eigenen Biographie im Prozess der Interaktion deutlich herausgestellt werden.14 Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger als eine Verschränkung der eigenen Sicht Elly Heuss-Knapps auf sich mit der Sichtweise anderer und mit den einwirkenden gesellschaftlichen und privaten Zwängen. Für die jungen Lebensjahre von Elly Heuss-Knapp im Kaiserreich um die Jahrhundertwende wird die Sozialgeschichte der Kindheit, die Erziehungsund Bildungsgeschichte und die Familiengeschichte bürgerlich-akademischer Familien ein zentrales Element der Darstellung sein. In der Weimarer Republik müssen verstärkt individuelle erfahrungsgeschichtliche Aspekte Eingang finden, da das Meistern der schwierigen Lebensverhältnisse herausragende Bedeutung innerhalb der Familie hatte. Auch die Politikgeschichte darf nicht vernachlässigt werden. Eine größere Bedeutung erlangt diese für den Lebensweg von Elly Heuss-Knapp aber erst nach 1945, als die Familie zunehmend im Mittelpunkt des überregionalen politischen Interesses stand und andere Aspekte mehr und mehr von der exponierten politischen Stellung der Familie bestimmt wurden. Psychologische Aspekte werden in Verbindung mit der Lebenserfahrungsgeschichte, der Mentalitätengeschichte, der historischen Verhaltensforschung, der Geschichte der Geschlechterrollen, sowie der Geschichte des Körpers und der Sinneswahrnehmungen Eingang in die Untersuchung finden. Lebenserfahrungsgeschichte verweist auf das Individuelle, das Interesse an Menschen mit Namen und unterscheidbarer Geschichte, das in das historische Blickfeld zurückkehrt. In Anlehnung daran kann von einer Aufwertung des Ereignisses gegenüber der Struktur und einem neuen Verständnis von Macht und Politik gesprochen werden. Dieser Zugang unterscheidet sich vom Konzept der Alltagsgeschichte als Erfahrungsgeschichte der „kleinen Leute“, wie es in den 1980er Jahren eine enorme Aufwertung erfuhr.15 Mentalitätengeschichte soll nach drei Hauptgesichtspunkten, wie diese von 13 Gestrich, Einleitung, S. 17. 14 Ebd., S. 21. 15 Vgl. Hardtwig, Wolfgang, Alltagsgeschichte heute. Eine kritische Bilanz, in: Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, hg. von Winfried Schulze, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994, S. 19–32, Lüdtke, Alf, Alltagsgeschichte, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 21–24 und Lüdtke, Alf, Einleitung: was ist und wer treibt Alltagsgeschichte? In: Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, hg. von Alf Lüdtke, Campus, Frankfurt/New York 1989, S. 9–47.

Methodisches Vorgehen  |

Edmund Burke formuliert wurden, verstanden werden: 1. Es werden kollektive anstelle individueller Einstellungen betont. 2. Es wird Nachdruck auf unausgesprochene und unbewusste Annahmen, auf die Untersuchung der Wahrnehmung, auf die Arbeitsweise des Alltagsdenkens gelegt. 3. Neben dem Interesse für Inhalte besteht auch ein Interesse für Strukturen von Meinungen, für Kategorien, für Metaphern und Symbole.16 Diese Verknüpfung unterschiedlicher historischer Ansätze wird nötig sein, damit die sich herausbildende Persönlichkeit von Elly Heuss-Knapp in ihrer Zeit verortet werden kann. Hierfür müssen ihre Herkunft, die individuelle Sozialisation, die literarische Produktion, sowie Ansätze ihrer theoretischen Positionen zu theologischen und politischen Fragen der Zeit deutlich herausgestellt werden.17 Die mikrohistorische Analyse, die auf ein begrenztes Beobachtungsfeld, in diesem Fall eine einzelne Persönlichkeit abzielt, ermöglicht einen Erkenntnisgewinn durch die Untersuchung von Handlungsbedingungen, Handlungen und Deutungen, ausgehend von einer einzelnen Person und ihrer wechselseitigen Verflechtung und Abhängigkeit. Die Institution des Deutschen Müttergenesungswerkes erscheint somit von der Persönlichkeit Elly Heuss-Knapp gestaltet.18 Der mikrohistorische Zugang bietet auch Ansätze zur Erforschung von sozialer Mobilität, partieller Sicherheit und kirchlicher Einflüsse, um nur einige Aspekte zu nennen, die für die vorliegende Studie relevant sind. Er kann als erkenntnis16 Burke, Peter, Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte, in: Mentalitäten-Geschichte, hg. von Ulrich Raulff, Wagenbach, Berlin 1989, S. 127–145. Aufgrund vieler Anleihen bei Kulturanthropologen geht die Mentalitätengeschichte heute in der historischen Anthropologie (der Ideen) auf. Burke, Stärken und Schwächen, S. 127 und Schöttler, Peter, Mentalitäten, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 205–208. Mentalitätengeschichte und Alltagsgeschichte münden in die historische Anthropologie. Medick, Hans, Historische Anthropologie, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 157–161 und van Dülmen, Richard, Historische Anthropologie. Entwicklung • Probleme • Aufgaben, Böhlau/UTB, Köln u.a. 22001, S. 5, 26, 40–43. 17 Röckelein, Hedwig, Der Beitrag der psychohistorischen Methode zur „neuen historischen Biographie“, in: Biographie als Geschichte, hg. von Hedwig Röckelein (Forum Psychohistorie 1), Tübingen 1993, S. 22–28. 18 Medick, Hans, Mikrohistorie, in: Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von Stefan Jordan, Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 215–218, Medick, Hans, Mikro-Historie, in: Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, MikroHistorie. Eine Diskussion, hg. von Winfried Schulze, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994, S. 40–53 und van Dülmen, Richard, Historische Anthropologie, S. 52–54.

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förderndes Element der Makrogeschichte gesehen werden und Beiträge von allgemeiner Bedeutung liefern.19 Die präzise Beschreibung von Alltagssituationen, von literarischen und künstlerischen Zeugnissen wird mit der genauen Rekonstruktion der jeweiligen Kontexte und mit der historischen Analyse, die unter anderem Theoriemodelle aus der Soziologie aufnimmt, verbunden.20 Es wird nötig sein, sich knapp mit den Elly Heuss-Knapps soziale Prägung entscheidend beeinflussenden Bedeutungen der Begriffe „Jugend“, „Familie“ und „akademisches Bildungsbürgertum“ auseinanderzusetzen. Diese werden bestimmt, indem eine Fülle an politisch-sozialen Bedeutungs- und Erfahrungszusammenhängen in den Begriff eingehen. Somit wird keine Eindeutigkeit erreicht werden können, doch die Verwendung wird nachvollziehbar und abgrenzbar.21 Die Bedeutungsveränderung von Begriffen wie „Familie“ wird sich durch die Darstellung von familiären Bezügen herauskristallisieren.22 Die Sozialisation von Elly Heuss-Knapp, verbunden mit dem deutschen Liberalismus um die Jahrhundertwende, geprägt durch bedeutende Persönlichkeiten wie Friedrich Naumann und Albert Schweitzer, verdrängt anschließend die familiären Analyseaspekte aus dem Kaiserreich. Hierbei ist darauf zu achten, dass bei Naumann speziell eine Beschäftigung mit seinen sozialpolitischen Vorstellungen nötig ist, wohingegen bei Schweitzer religiöse Aspekte auf Elly 19 Schlumbohm, Jürgen, Mikrogeschichte – Makrogeschichte: Zur Eröffnung einer Debatte, in: Mikrogeschichte – Makrogeschichte. Komplementär oder inkommensurabel? Hg. von Jürgen Schlumbohm (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 7), Wallstein, Göttingen 1998, S. 27/28 und Schulze, Winfried, Mikrohistorie versus Makrohistorie? Anmerkungen zu einem aktuellen Thema, in: Historische Methode, hg. von Christian Meier und Jörn Rüsen (Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik 5), dtv, München 1988, S. 341. Auf den Punkt bringt es Jürgen Kocka, der ausführt, dass Partikulares nicht viel Sinn hat, wenn es nicht zum Universalen in Beziehung gesetzt wird. Kocka, Jürgen, Historisch-anthropologische Fragestellungen – ein Defizit der Historischen Sozialwissenschaft? Thesen zur Diskussion, in: Historische Anthropologie, hg. von Hans Süssmuth, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984, S. 80. 20 Raphael, Lutz, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, C.H. Beck Verlag, München 2003, S. 243. 21 Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Suhrkamp, Frankfurt am Main 42000, S. 107–129. 22 Vgl. Evans, Richard J., Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Campus, Frankfurt/New York 1999, S. 92 und Schwab, Dieter, Familie, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2: E-G, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Klett, Stuttgart 1975, S. 253–301.

Methodisches Vorgehen  |

Heuss-Knapp einwirkten. Mit der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“23 standen zunehmend wirtschaftliche Fragen im Blickpunkt des Interesses. Die Weimarer Zeit zeichnete sich für die Familie Heuss durch Unsicherheit, aber auch durch neue Chancen aus. Die Aktivitäten von Elly Heuss-Knapp waren vielfältig, aber doch noch ohne ein großes Ziel. Spätestens während des Nationalsozialismus musste sie dann den überwiegenden Teil des Einkommens der Familie mit Auftragsarbeiten in der Werbung verdienen. Natürlich sind auch die politischen Systemveränderungen zu berücksichtigen. Hier wird die Frage der Kontinuität beziehungsweise des Bruches im Lebensweg von Elly Heuss-Knapp eine große Bedeutung erlangen. Es wird deutlich werden, dass eine verstärkte Politisierung bei ihr eingesetzt hatte, die zu sehr zielgerichtetem, individuellem Engagement führte. Auch persönliche Kontinuitäten oder Brüche zwischen der Jahrhundertwende und der Gründung der Bundesrepublik Deutschland werden thematisiert. Dabei gibt es immer jeweils eine Verschränkung von allgemeiner bzw. individueller Kontinuität und Diskontinuität mit unterschiedlicher Akzentuierung.24 Sind bei den persönlichen Umbrüchen von Elly Heuss-Knapp zeitliche und strukturelle Übereinstimmungen mit den politischen Umwälzungen festzustellen? Gibt es eine staatliche und individuelle zeitliche Übereinstimmung hinsichtlich des Aufbaus eines Wohlfahrtssystems und hatte sie frühzeitig und umfangreich einen Ausbau gefordert? Welchen Einfluss übte ihre Religiosität bei dem Engagement für das Müttergenesungswerk aus? Das spannungsreiche Wirken von Konfessionalität ist in der historischen Forschung noch nicht genügend berücksichtigt worden25 und soll deshalb hier deutlich hervortreten. Gründete Elly Heuss-Knapp das Deutsche Müttergenesungswerk nach dem Zweiten Weltkrieg auf Grund ihrer Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg? Inwieweit wird die Freiheit des individuellen Lebensentwurfes durch vorgegebene politische und gesellschaftliche Strukturen eingeschränkt, beziehungsweise konkreter: Ist ihr soziales Engagement vom Lebensweg ihres Mannes bestimmt? Diese Fragen werden die Untersuchung durchziehen und sie werden sich durch die Argumentation weitestgehend beantworten.

23 Kennan, George F., Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung 1875 bis 1890, Propyläen Verlag, Frankfurt am Main u.a. 1981, S. 12. 24 Möller, Was ist Zeitgeschichte?, S. 43. 25 Doering-Manteuffel, Anselm, Deutsche Zeitgeschichte nach 1945. Entwicklung und Problemlagen der historischen Forschung zur Nachkriegszeit, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41 (1993), S. 22.

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Die Ausrichtung der Analyse bezieht sich auf die Bildung, Festigung und Ausdifferenzierung des sozialen Engagements von Elly Heuss-Knapp. Nach 1949 widmete sie sich ausschließlich dem Deutschen Müttergenesungswerk. Hier fand ihre Persönlichkeit eine Ausdrucksform im Aufbau und in der Gestaltung einer sozialen Institution, die es in aller Kürze angemessen darzustellen gilt. Eine Trennung von Öffentlichem und Privatem ist dabei nicht sinnvoll, da beide Bereiche schon seit ihrer Jugend untrennbar miteinander verknüpft waren und dies für ihre sozialpolitische Arbeit umso mehr gelten sollte. Eine Trennung zwischen öffentlichen und privaten Bereichen aus dem Bedürfnis nach normativer Fixierung des Geschlechterverhältnisses, wie dies in der Forschung konstatiert wurde,26 trifft gerade im Hause Knapp nicht zu. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf dem sozialen Engagement von Elly Heuss-Knapp, welche die Gründung einer bundesweiten Institution in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts als Zielpunkt ihres individuellen Lebens begreift. Wir befinden uns damit in der neueren Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg.27 Die Problematik der Nähe zum historischen Gegenstand, obwohl schon in gebührendem zeitlichen Abstand, da mehr als 30 Jahre vergangen sind und Archivbestände bereits nahezu ungehindert genutzt werden können, darf nicht vernachlässigt werden. Zeitgeschichte als Epoche der Mitlebenden birgt neben emotionalen Bezügen noch lebender Zeitzeugen auch Schwierigkeiten in der Verbindung von Merkmalen, die in der Epoche der Mitlebenden neu auftreten, mit Eigenschaften, die dauerhaft vorgeprägt sind.28 Allerdings soll deswegen nicht auf einen Brückenschlag von der Analyse der Nachgeschichte vergangener zur Vorgeschichte gegenwärtiger 26 Hausen, Karin, Öffentlichkeit und Privatheit. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in: Frauengeschichte – Geschlechtergeschichte, hg. von Karin Hausen und Heide Wunder, Campus, Frankfurt/New York 1992, S. 85. 27 Vgl. Hans Günter Hockerts mit Bezug auf Karl Dietrich Brachers doppelte Zeitgeschichte. Hockerts, Hans Günter, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Paradigmen deutscher Geschichtswissenschaft, Edition Berliner Debatte der Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Forschung und Publizistik, Berlin 1994, S. 142. Dass die „Zäsur von 1945“ ein gewisses Maß an Ideologie aus dem Kalten Krieg mit sich trägt und eher von einer Zeitspanne für einen historischen Bruch von mehreren Jahren gesprochen werden muss, die in der Zeitgeschichtsforschung jedoch bereits nicht mehr um das Jahr 1945, sondern viel stärker gegen Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre gelegt wird, sei nur nebenbei bemerkt. Lediglich eine politische Zäsur kann für 1945/48 festgestellt werden. Doering-Manteuffel, Deutsche Zeitgeschichte, S. 25–27. 28 Hockerts, Hans Günter, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 127.

Aufbau der Arbeit  |

Problemkonstellationen in der Müttergenesung verzichtet werden.29 Es wird zuletzt noch die Frage anzusprechen sein, welche Rolle das Müttergenesungswerk als Institution in der Umbruchsphase von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaft spielte.30

2. Aufbau der Arbeit Gewiss war Elly Heuss-Knapp nicht die einzige Frau, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit sozialen Belangen beschäftigte. Allerdings steht ihre Biographie für die Verknüpfung familiärer, religiöser und liberaler Aspekte mit aktivem, sozialem Engagement. Sie repräsentierte auch einen anderen Menschentyp als die biographisch gut erforschten Eliten, die das „Dritte Reich“ prägten und teilweise noch in der Bundesrepublik Deutschland wichtige Funktionen begleiteten,31 und das nicht nur, weil sie eine Frau war – im Gegensatz zur nationalsozialistischen Männerelite.32 Ihre Sozialisation aus dem Kaiserreich spielt hierbei eine herausragende Rolle. Die bildungsbürgerlichen Elemente aus ihrem Elternhaus verbanden sich mit den liberalen Prägungen durch Friedrich Naumann und religiösen Aspekten eines Albert Schweitzer. Jedoch führte ihre Beschäftigung mit theoretischen Aspekten bedeutender Persönlichkeiten nicht zur Entwicklung einer eigenen sozialpolitischen „Theorie“. Es wird deutlich, dass Elly Heuss-Knapp immer nur einzelne Gesichtspunkte der Wissenschaftler und Theoretiker herausfilterte, die ihr bei der praktischen Sozialtätigkeit und für ihre Persönlichkeitsentwicklung von Nutzen waren. In der Weimarer Republik, bereits mit einem sozialen und staatlichen Grundverständnis ausgestattet, festigte sich ihr Charakter, so dass 29 Ebd., S. 17. 30 Vgl. Doering-Manteuffel, Deutsche Zeitgeschichte, S. 26/27. 31 Aus der großen Zahl biographischer Studien ragen insbesondere, trotz unterschiedlicher Ansätze und Zugänge, Fest, Joachim, Speer. Eine Biographie, Alexander Fest Verlag, Berlin 1999, Heiber, Helmut, Joseph Goebbels, dtv, München 31988, Herbert, Ulrich, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Dietz Verlag, Bonn 31996 und Leggewie, Claus, Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte, Hanser Verlag, München/Wien 1998 heraus. Vgl. auch die teilweise vorzüglichen Studien in Fest, Joachim, Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, Piper Verlag, München/ Zürich 111994. 32 Frevert, Ute, Frauen, in: Enzyklopädie des Nationalsozialismus, hg. von Wolfgang Benz, Hermann Graml und Hermann Weiß, dtv, München 1997, S. 233.

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die Gefahr der Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus nicht mehr gegeben war, als dieser schließlich 1933 die politische Macht im Deutschen Reich errang. Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ erkannte sie, dass ein Eckpfeiler vom demokratischen Deutschland eine soziale Gesellschaft sein müsse. In den höchsten Kreisen der demokratischen Funktionsträger verkehrend, war sie in exponierter Stellung und konnte für die Umsetzung des Aufbaus eines Deutschen Müttergenesungswerkes viele Fürsprecher gewinnen. In ihrer Funktion als Gründerin wurde sie 1952 nach langer schwerer Krankheit aus dem Leben gerissen. Der chronologische Aufbau wird von struktur- und prozessgeschichtlichen Analysen durchzogen, so dass es immer wieder zu zeitlichen Überschneidungen, Rückblenden und Vorausblicken kommen wird. So wird im Rahmen der Jugendjahre von Elly Heuss-Knapp auf die historische Entwicklung bürgerlicher „Mütterlichkeit“ einzugehen sein, wie auch bei der Gründung des Deutschen Müttergenesungswerkes darauf Bezug genommen werden muss. Veränderungen im „persönlichen“ werden sich mit denen im „öffentlichen“ Bereich überschneiden. Die Überschreitung der Trennlinie zwischen „öffentlich“ und „privat“ im Theoriefeld der neuen Kulturgeschichte33 lässt sich demnach sehr deutlich in dieser Untersuchung herausstreichen. Die sozialen Rahmenbedingungen im Kaiserreich sind der unverzichtbare Hintergrund der Jugendjahre von Elly Heuss-Knapp in Straßburg. Ihre bildungsbürgerliche Erziehung im Hause Knapp, die vom beruflichen und ehrenamtlichen Engagement Georg Friedrich Knapps nicht zu trennen ist, lassen bereits erste soziale Ursprünge erkennen. Die Kontakte zum Liberalismus und zum religiösen Leben in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg werden die sozialen Ausprägungen in ihrem Leben weiter erhellen. Der erste Teil der Untersuchung endet somit vor dem Krieg, als sich ein verstärkter sozialpolitischer Einsatz und Veränderungen im Privatleben abzeichnen. Der Erste Weltkrieg und die Jahre der Weimarer Republik führten Elly Heuss-Knapp dann verstärkt zu sozialpolitischen Betätigungen und Veröffentlichungen, mit denen sie bereits vor dem Krieg begonnen hatte. Im linksliberalen Spektrum wurde sie politisch aktiv und trug bereits 1918/19 zur Sensibilisierung für soziale Belange der Frauen bei. Ihre sozialen Tätigkeiten musste sie jedoch mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten aufgeben und die Familie war zunehmend auf die Einnahmen ihrer Werbeaufträge angewiesen. Dennoch verlor sie nicht ihre soziale Tatbereitschaft, sondern stellte diese nur notgedrungen zurück, da eigene Aktivitäten außerhalb des Rahmens national33 Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, S. 237.

Literatur  |

sozialistischer Institutionen nicht erwünscht waren. 1946 wurde sie, nach vielfältigen kleineren sozialen Aktivitäten, Landtagsabgeordnete in WürttembergBaden. Nun trat die Politik endgültig stärker ins Rampenlicht ihres Lebens. Die Wahl ihres Mannes Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland veränderte das Leben von Elly Heuss-Knapp wieder einmal entscheidend. Ebenso wie Theodor Heuss legte sie ihr Landtagsmandat nieder. Nach wenigen Jahren als Frau des Bundespräsidenten hatte sie eine bundesdeutsche Institution geschaffen, die Belange der Frauen und Mütter landesweit unterstützt, fördert und koordiniert. Die vielen Jahre an Erfahrung mit sozialen Einrichtungen und in der Politik flossen in den Aufbau des Deutschen Müttergenesungswerkes ein.

3. Literatur Die Geschichte der deutschen Sozialpolitik und des deutschen Sozialstaates ist relativ gut erforscht und erfreut sich regen Interesses der Historiker. Neben einführenden Überblicksdarstellungen34 und ausführlichen Quelleneditionen35 34 Um nur einige wenige herausragende Veröffentlichungen anzuführen: Bruch, Rüdiger vom (Hrsg.), Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, C.H. Beck Verlag, München 1985; Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bundesarchiv (Hrsg.), Grundlagen der Sozialpolitik (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd.1), Nomos Verlagsgesellschaft, Baden Baden 2001; Hockerts, Hans Günter (Hrsg.), Drei Wege deutscher Sozialstaatlichkeit. NSDiktatur, Bundesrepublik und DDR im Vergleich, Oldenbourg Verlag, München 1998; Naujeck, Kurt, Die Anfänge des sozialen Netzes 1945–1952, Kleine Verlag, Bielefeld 1984; Ritter, Gerhard A., Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, Oldenbourg Verlag, München 21991. 35 Rassow, Peter/Tennstedt, Florian/Ayaß, Wolfgang/Born, Karl Erich/Henning, Hansjoachim (Hrsg.), Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914, Franz Steiner Verlag/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Wiesbaden/Darmstadt 1966ff.; Streitz, Walter (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe B 37), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985; Streitz, Walter (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Weimarer Republik (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe B 38), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1993 und Streitz, Walter (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe B 39), 2 Bde., Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000; Wengst, Udo, Die Zeit der Besatzungszonen

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gibt es auch eine Vielzahl an Einzeluntersuchungen zu den unterschiedlichsten Teilaspekten.36 Allerdings nähern sich sozialpolitische Untersuchungen bisher nicht über eine Biographie ihrem Gegenstand. Das ist sicherlich oft gar nicht möglich, da Institutionen von verschiedenen Persönlichkeiten gestaltet und geprägt werden. Dennoch ist die fehlende Verknüpfung von Biographie und Sozialpolitik überraschend. Biographien versuchen meistens das gesamte Leben des Menschen zu umfassen. Einzelne Gesichtspunkte, die elementar, jedoch keineswegs exklusiv den Lebensweg bestimmen, werden zwar behandelt, doch mit anderen Gesichtspunkten zusammengefasst.37 Hier eröffnet sich eine Forschungsperspektive, mit der es möglich werden könnte, durch das strikte Festhalten an einer thematischen Komponente, wie der sozialpolitischen Charakterbildung, detailliertere Erkenntnisse zu erhalten. Über Elly Heuss-Knapp liegen verschiedene Abhandlungen vor. Gerda Haug hat mit ihrer Studie den Eindruck der Zeitgenossen von der Lebensleistung ihrer Protagonistin wach halten wollen. Mit vielen kleinen Ereignissen bringt sie die Person Elly Heuss-Knapp dem Leser näher. Kirsten Jüngling und Brigitte Roßbeck zeichnen ein umfangreiches, im Stil eines Romans verfasstes Portrait, das ebenfalls den Schwerpunkt auf die persönliche Seite legt. So gut es beiden Studien gelingt, einen Eindruck von der portraitierten Persönlichkeit zu zeichnen, fehlen doch grundlegende Quellen- und Forschungszugänge um wissenschaftlichen Standards zu genügen. Allerdings ist dies unverkennbar auch nicht Sinn und Zweck dieser Arbeiten. Auch Ursula Krey berücksichtigt in ihren Aufsätzen zu Elly Heuss-Knapp nur die veröf1945–1949. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Dokumente (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 2,2), Nomos Verlagsgesellschaft, Baden Baden 2001. 36 Didicher, Walter, Sozialpolitische Perspektiven und freie Träger. Organisatorische und strukturelle Fragen einer funktionalen Verbandspolitik unter besonderer Berücksichtigung der Arbeiterwohlfahrt, Hartung-Gorre Verlag, Konstanz 1987; Hockerts, Hans Günter, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Klett-Cotta, Stuttgart 1980; Treidel, Rulf Jürgen, Evangelische Akademien im Nachkriegsdeutschland. Gesellschaftspolitisches Engagement in kirchlicher Öffentlichkeitsverantwortung (Konfession und Gesellschaft 22), Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2001; Zacher, Hans F., Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, Schweitzer Verlag, Berlin 1980. 37 Beispiele, die repräsentativ für einen Großteil der historischen Biographien sind: Gall, Lothar, Bürgertum in Deutschland, btb, Berlin 1996; Heuss, Theodor, Friedrich Naumann. Der Mann, das Werk, die Zeit, Siebenstern Verlag, München/ Hamburg 31968.

Quellen  |

fentlichten Quellen. Dennoch ist ihre knappe Lebensbeschreibung aus dem Jahre 2005 das bisher beste Portrait der Gattin des ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland.38 Allerdings wurde die ihr Leben bestimmende Grundlinie, das soziale Engagement, bisher nicht wissenschaftlich analysiert. Eine auf breiter Quellenbasis fundierte und neuere Forschungsergebnisse berücksichtigende biographische Arbeit ist bisher noch nicht geschrieben worden.

4. Quellen Über die Quellenlage kann nur in Relation zu den gestellten Forschungsfragen geurteilt werden.39 Soll die soziale Komponente im Leben von Elly HeussKnapp erforscht werden, wird deutlich, dass die Quellenlage durchaus ein fundiertes Bild von ihrer Sozialisation im Deutschen Kaiserreich bis hin zur Gründung des Deutschen Müttergenesungswerkes erlaubt. Gewiss sind die persönlichen Aufzeichnungen und Briefe von Elly HeussKnapp bei weitem nicht derart umfangreich, dass sich daraus eine bis ins kleinste Detail gehende, jeden Tag ihres Lebens erfassende Biographie entwickeln ließe. Zudem kann mit persönlichen Quellen lediglich eine subjektive Persönlichkeitswahrnehmung analysiert werden.40 Allerdings wird durch die Augenblicksbindung und Adressatenorientierung etwas vom „Flair“ der Epoche eingefangen, so sehr auch das Persönliche im Vordergrund steht. 41 Dies gilt natürlich besonders für die Jugendjahre. Werden Aufzeichnungen von Zeitzeugen hinzugenommen, bekommen wir ein facettenreicheres Bild. Für die jungen Jahre können die persönlichen Eindrücke von Elly Heuss-Knapp durch Briefe ihr nahestehender Menschen ergänzt werden. Die Briefe ihres Vaters, des Nationalökonomen Georg Friedrich Knapp, sind hier neben anderen aus dem Umkreis der Familie als ers38 Haug, Gerda, Elly Heuss-Knapp. Ein Lebensbild, Calwer Verlag, Stuttgart 1958; Jüngling, Kirsten/Roßbeck, Brigitte, Elly Heuss-Knapp (1881–1952). Die erste First Lady. Ein Portrait, Eugen Salzer-Verlag, Heilbronn 1994; Krey, Ursula, Elly Heuss-Knapp (1881–1952), in: Frauenprofile des Luthertums. Lebensgeschichten im 20.Jahrhundert, hg. von Inge Mager, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005, S. 175–201. 39 Hockerts, Hans Günter, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 43, B29–30 (1993), S. 9. 40 Maurer, Michael, Briefe, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 4: Quellen, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2002, S. 351. 41 Maurer, Briefe, S. 371.

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tes zu erwähnen. Auf den weiteren Stationen ihres Lebensweges kommen neue Quellenbestände – die Aufzeichnungen und Briefe von Theodor Heuss nehmen neben den Manuskripten und eigenen Veröffentlichungen von Elly Heuss-Knapp dabei eine zentrale Stellung ein – hinzu, die zusammen ein aussagekräftiges Bild ihrer sozialen Entwicklung entstehen lassen. Die Krönung ihres sozialpolitischen Engagements findet eine institutionelle Verwirklichung im Deutschen Müttergenesungswerk. Ihre offizielle Korrespondenz, zumeist über den Amtssitz ihres Mannes als Deutscher Bundespräsident abgewickelt, und ihre Redebeiträge für Rundfunk und Presse sind die wichtigsten Quellenbestände für ihre bedeutende Rolle bei der Entstehung der unter einem Dach zusammengeschlossenen deutschen Müttererholung.

I. Die Jugend von Elly Knapp in Straßburg

Am 25. Januar 1881 wurde bei gerade angebrochenem Tag Eleonore – später wurde dann daraus Elly – Elisabeth Knapp, die Tochter von Georg Friedrich Knapp, Professor für Nationalökonomie an der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg, und von Lydia Knapp, Tochter aus einem kaukasischen Adelsgeschlecht, in der elsässischen Universitätsstadt Straßburg „unter dem Schatten des Münsterzipfels“1 geboren. Für die ersten Prägungen des sozialpolitischen Empfindens war die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkeimende intensivere Beschäftigung mit der Mutterschaft, der Kindheit und der Familie überaus bedeutend. Die Menschen begannen in ihrer Beziehung nicht mehr nebeneinander her zu leben. Die bestmögliche Erziehung der Kinder wurde zu einem Thema und die Rolle der Frau definierte sich langsam neu. Ganz praktische Anstrengungen wurden unternommen, um das bestmögliche Aufwachsen der Kleinen zu gewährleisten. Jedoch darf nicht übersehen werden, dass dies nur in bürgerlichen Familien in ersten Ansätzen geschah. Von einem breiten, alle Schichten der Bevölkerung durchziehenden neuen Familienverständnis kann keine Rede sein. Hand in Hand damit entwickelte sich ein Versicherungswesen, das von Otto von Bismarck initiiert und unter Kaiser Wilhelm II. teilweise ausgebaut worden war. Der Staat versuchte die Unwägbarkeiten des industriellen Zeitalters für die davon Betroffenen etwas abzusichern. Ohne diesen grundsätzlichen Rahmen wird eine Kindheit im Deutschen Kaiserreich um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert nicht verständlich. Ebenfalls nicht ohne Belang für das weitere Leben Elly Knapps war die Stadt Straßburg. Es galten hier andere Gesetze – das ist nicht nur im übertragenen Sinne, sondern sehr wohl auch ganz wörtlich zu verstehen. Das Zusammenwirken der einheimischen Bevölkerung mit der deutschen Beamtenschaft und dem deutschen Militär gestaltete sich gegen Ende des Jahrhunderts noch schwierig. Auch wenn an der Universität Straßburg, in der Ellys Vater lehrte, weit weniger von den täglichen Spannungen bemerkt worden war, so konnte dies an einem doch nicht gänzlich unbemerkt vorüber gehen. Straßburg war

1 Elly sprach von ihrem Geburtsort immer gerne in der Verneigung vor dem Münster-Dom in Straßburg, der seinen Schatten bei tieferliegender Sonne auf die Wohnung der Eltern, Am Sandplätzchen 5, warf.

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seit 1871 dem Deutschen Reich angeschlossen2, die Bevölkerung jedoch empfand sich als elsässisch und dem französischen weit mehr als dem deutschen Staat zugehörig, was an sich bereits Spannungen erzeugte. Im Gegensatz zu den meisten Kindern aus bürgerlichen Kreisen wurde Elly Knapp durch die wissenschaftliche Arbeit ihres Vaters sehr früh mit den sozialen Belangen des Lebens aller Schichten der Bevölkerung konfrontiert. Georg Friedrich Knapps Einfluss auf die sozialpolitischen Vorstellungen Ellys kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, zumal seine Aktivitäten über die universitäre Betätigung hinausreichten. Die daraus entstandenen Kontakte mit einigen der bedeutendsten Nationalökonomen und Sozialpolitikern des ausgehenden 19. Jahrhunderts verschafften der jungen Elly fundierte Einblicke in die sozialen Verhältnisse unterschiedlichster Gesellschaftsschichten. Neben den prägenden Persönlichkeiten im Umkreis ihres Vaters bewegte sich Elly auch in einem Freundeskreis, der durch eine aktive Mitarbeit das städtische Wohlfahrtssystem in Straßburg maßgeblich beeinflusste.3 Sie wurde somit nicht nur mit der theoretischen Materie „Sozialpolitik“, sondern auch mit den praktischen Umsetzungsproblemen derselben bereits in ihren jungen Jahren konfrontiert. Das Elternhaus war geprägt von der Arbeit des Vaters, doch darf die Rolle der Frauen im Haus nicht völlig außer Acht gelassen werden. Der Rückzug der Mutter aus der Familie in Ellys frühester Kindheit belastete zweifellos das Familienleben. Dennoch gewöhnten sich die beiden Geschwister Elly und Marianne, die um zwei Jahre ältere Schwester, und ihr Vater Georg Friedrich daran, dass die Mutter krankheitsbedingt nicht bei ihnen war. Tante Elisabeth Karoline Knapp (Tante „Lella“), die Zwillingsschwester Georg Friedrich Knapps, und die angestellte Haushälterin Lotte Jürgens kümmerten sich fürsorglich um die beiden Mädchen und zogen sie auf. Die liebevolle Erziehung, die Elly genoss, sollte ihr ganzes Leben prägen und als weiterer Baustein zur Charakterbildung einer jungen Frau beitragen, die in ihrem Leben Menschen bewegen, mitreißen und zu sozialem Engagement animieren konnte.

2 Vgl. Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.  4: Struktur und Krisen des Kaiserreichs, Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 1969, S. 437/438. 3 Heuß-Knapp, Elly, Ausblick vom Münsterturm. Erlebtes aus dem Elsaß und dem Reich, Berlin-Tempelhof 1934, S. 49–51.

Soziale Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich  |

1. Soziale Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich vor der Jahrhundertwende a) Lebensverhältnisse im deutschen Bildungsbürgertum In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts deuteten sich erkennbar die großen sozialen Umwälzungen, die in den folgenden Jahren das Deutsche Kaiserreich erreichen sollten, für die Zeitgenossen bereits an. Die Bevölkerung nahm seit Jahren stetig zu, obwohl die Auswanderung insbesondere in die Vereinigten Staaten von Amerika bis in die 90er Jahre auf hohem Niveau verharrte. Die Menschen wurden dank einer ausreichenden und ausgewogeneren Ernährung – nicht zuletzt wegen des Anstiegs der Realeinkommen –, besserer Wohnverhältnisse, der Durchsetzung hygienischer Lebensverhältnisse und der fortschreitenden Medizin immer älter. Insbesondere die Todesfälle bei Kleinkindern konnten um die Jahrhundertwende erheblich vermindert werden; diese Entwicklung deutete sich bereits in den 80er Jahren an.4 Die Geburtenzahlen innerhalb der Ehe waren rückläufig. Die Anzahl der Kinder pro Ehe verringerte sich deutlich, ohne dass sich dies im Absinken der Gesamtbevölkerung bemerkbar machte. Elly Knapp wuchs im „akademischen Bildungsbürgertum“ auf, wobei „Bürgertum“ als eine Schicht von Menschen in verschiedenen Positionen verstanden werden soll, deren Mitglieder ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung im Wesentlichen ihrer individuellen Leistung und Initiative verdanken. Beim Bildungsbürgertum geht es um den Teil des Bürgertums, „dessen soziale Lebenslage und individuellen Lebenschancen bestimmt sind durch den Besitz von Bildungspatenten“. Da diese Definition unterschiedliche Berufsgruppen einschließt, soll darauf hingewiesen werden, dass der Zusatz „akademisch“ den besonderen Bezug auf die Professorenschaft an deutschen Hochschulen verdeutlichen soll.5 In diesem akademischen Bil4 Hohorst, Gerd/Kocka, Jürgen/Ritter, Gerhard A. (Hrsg.), Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, C.H. Beck Verlag, München 21978, S. 22, 29, 38; Marschalck, Peter, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, S. 41–45, 145/146, 151, 156–158, 164–168, 172–174; Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1866–1918. Erster Band: Arbeitswelt und Bürgergeist, C.H. Beck Verlag, München 21994, S. 9–20. 5 Vgl. Gall, Bürgertum in Deutschland, S. 21/22; Kocka, Jürgen/Ritter, Gerhard A., Bürgerliche Gesellschaft und die Grenzen der Bürgerlichkeit. Einleitung, in: Deutsche Sozialgeschichte 1870–1914. Dokumente und Skizzen, hg. von Jürgen Kocka und Gerhard A. Ritter, C.H. Beck Verlag, München 31982, S. 62/63; vgl.

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dungsbürgertum, zentriert in Dienstleistungs- und Verwaltungsstädten, zeigten sich die erwähnten Trends verstärkt und sehr früh.6 Als ein wesentlicher Grund gilt die unsichere berufliche Situation der Akademiker mit dem relativ späten Heiratsalter und der chancen- bzw. aufstiegsbestimmt geforderten Mobilität. Die individuelle Steuerung der Kinderzahl in der Ehe trat immer mehr an die Stelle einer sozialen Regelung der Fruchtbarkeit durch Ehehindernisse und Heiratsalter.7 In der Familie Knapp spielten zweifellos das fortgeschrittene Alter der Mutter – Lydia war bei Geburt ihrer ersten Tochter Marianne bereits dreißig Jahre alt – und der rasche Auszug derselben aus der gemeinsamen Wohnung nach Ellys Geburt eine wichtige Rolle, so dass eine weitere Vergrößerung der Familie nicht in Frage kam. Ein hinzukommender Faktor für einen Anstieg der Bevölkerung war die seit den 90er Jahren beginnende Massenzuwanderung ausländischer Arbeitkräfte in die prosperierenden Industrieregionen. Ohne Zweifel hatten auch die Wanderungsbewegungen innerhalb der deutschen Gesellschaft vorrangig mit der Industrialisierung zu tun.8 Die Migration akademischer Kräfte innerhalb Deutschlands veränderte sich jedoch statistisch kaum. Von den Dozenten wurde bereits im frühen 19. Jahrhundert größtmögliche Mobilität erwartet. Der Wechsel von einer Universität zur anderen war meist mit einer Aufbesserung der Geldbezüge verbunden. Friedrich Georg Knapp konnte mit seiner Berufung auf eine Professur in Straßburg 1874 sein Gehalt ebenfalls deutlich aufbessern, andernfalls hätte er seine Stelle im Statistischen Büro in Leipzig nicht aufgegeben, wobei natürlich ein weiterer gewichtiger Grund sein bereits in Straßburg lehrender

Conze, Werner/Kocka, Jürgen, Einleitung, in: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich (Industrielle Welt 38), hg. von Werner Conze und Jürgen Kocka, Klett-Cotta, Stuttgart 1985, S. 11; Engelhardt, Ulrich, „Bildungsbürgertum“. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts (Industrielle Welt 43), Klett-Cotta, Stuttgart 1986. 6 Vgl. Knodel, John E., The Decline of Fertility in Germany, 1871–1939, Princeton University Press, Princeton 1974, S. 55, 59–68, 70, 88–147, 223–254, 259–262. 7 Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, S. 56; Nell, Adelheid von, Die Entwicklung der generativen Strukturen bürgerlicher und bäuerlicher Familien von 1750 bis zur Gegenwart, Bochum 1973, S. 19–51, 69–71, 78–81, 114–132, 140–142; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 23–27. 8 Kulczycki, John J., The Foreign Worker and the German Labor Movement. Xenophobia and Solidarity in the Coal Fields of the Ruhr, 1871–1914, Berg Publishers, Oxford/Providence 1994, S. 14–40; Stürmer, Michael, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, Siedler Verlag, Berlin 1998, S. 55–58.

Soziale Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich  |

Mentor und Freund Gustav Schmoller war.9 Die Arbeit verlagerte sich allgemein vom Land in die Stadt. Deutsche Großstädte wuchsen überproportional, wohingegen die ländlichen Gebiete bereits Rückgänge bei der Bevölkerung zu verzeichnen hatten.10 Viele junge Menschen im arbeitsfähigen Alter suchten ihre Beschäftigung zunehmend weniger in der Landwirtschaft und boten ihre Arbeitskraft der wachsenden Industrie oder im Dienstleistungsbereich an. Völlig zu Recht kann von einem Übergang vom „Agrarstaat mit starker Industrie zu einem Industriestaat mit starker agrarischer Basis“ gesprochen werden.11 Die Gewichtung verschob sich. Die absoluten Zahlen zeigen noch einen Anstieg der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft. Doch gemessen an der Gesamtbevölkerung nahm der Anteil ab und um die Jahrhundertwende übertraf der Wirtschaftssektor Industrie den der Landwirtschaft hinsichtlich der Anzahl der Beschäftigten.12 Mit der bereits erwähnten Migration in die größeren Städte entstand ein agrarisch-industrieller Dualismus, der nicht nur die Bevölkerungszahl betraf, sondern ein sozio-kulturelles Gefälle zwischen Stadt und Land entstehen ließ.13 Die veränderten Lebensbedingungen mussten sich auch auf das soziale Gefüge der Gesellschaft auswirken. Dies tangierte zwar nicht die persönlichen Lebensverhältnisse der Gelehrtenfamilie Knapp, doch der Professor der Nationalökonomie wurde im Rahmen seiner Forschungen zunehmend damit konfrontiert. Der Rückgang der Geburtenziffern und die zunehmende individuelle Lebensplanung mit eigenen Kindern veränderten den Stellenwert der Fami9 NL Schmoller 130a, Bl. 2, 7/8. Friedrich Georg Knapp besaß in Leipzig ein jährliches Einkommen von „1300 Thalern“, in Straßburg belief sich der Lohn bei seinem Antritt auf „1700 Thaler“. NL Schmoller 130a, Bl. 6, 224/225, Bl. 68/69, 208/209. 10 Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, S. 42/43, 45/46, 50–52; Dülffer, Jost, Deutschland als Kaiserreich (1871–1918), in: Deutsche Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Martin Vogt, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 548–550; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte, S. 45–52, 177–182. 11 Bade, Klaus Jürgen, Transnationale Migration und Arbeitsmarkt im Kaiserreich. Vom Agrarstaat mit starker Industrie zum Industriestaat mit starker agrarischer Basis, in: Historische Arbeitsmarktforschung, hg. von Toni Pierenkemper und Richard Tilly, Göttingen 1982, S. 182–214; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918, I, S. 226; Reulecke, Jürgen, Vom Wiener Kongreß bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs (1814–1914), in: Kleine deutsche Geschichte, hg. von Ulf Dirlmeier u.a., Reclam jun., Stuttgart 32003, S. 302. 12 Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, S. 66–73; Stürmer, Das ruhelose Reich, S. 63. 13 Hertz-Eichenrode, Dieter, Deutsche Geschichte 1890–1918. Das Kaiserreich in der Wilhelminischen Zeit, Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 1996, S. 90–102.

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lie. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass die Gesellschaft auch im ausgehenden 19. Jahrhundert eine Familiengesellschaft war.14 Wegen der begrenzten Aussagefähigkeit statistischen Materials kann jedoch die Komplexität des Familienlebens damit allein nicht annähernd erfasst werden. Neben den Eheschließungen und den Geburtenzahlen können Statistiken zur Haushaltsgröße und zu den Wohnverhältnissen lediglich Hinweise auf Familienstrukturen geben.15 Dennoch lassen sich mittels zeitgenössischer Darstellungen wie Autobiographien, Briefe, Tagebücher, Zeitungen oder Ratgeber und Materialien wie Gebäude, Möbel oder Gebrauchsgegenstände16 aus einer Vielzahl wirtschaftlicher, sozialer, rechtlicher und religiöser Faktoren einige wichtige Gesichtspunkte festhalten, die auf eine veränderte Lebensweise innerhalb des privaten, familiären Bereichs deuten,17 wobei der ländlich-bäuerliche Familientyp und die Arbeiterfamilie der gängigen Dreiteilung18 unberücksichtigt bleiben müssen. Dabei darf der Wandel von Leitbildern und Normen nicht mit der Veränderung von Strukturen und Funktionen gleich gesetzt werden.19 Der Lebensmittelpunkt des Bürgertums war das Zuhause. Hier war es dem erwerbstätigen Mann möglich, berufliche Probleme zu vergessen, sich von der kalten Außenwelt in die Privatsphäre zurückzuziehen und die Arbeitswelt wenigstens ein Stück weit hinter sich zu lassen,20 wohingegen sich für die Frau der Arbeitsalltag zumeist innerhalb der Familienwohnung abspielte.21 14 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 44. 15 Hubbard, William H., Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, C.H. Beck Verlag, München 1983, S. 63, 125–149. 16 Berg, Christa, Familie, Kindheit, Jugend, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, hg. von Christa Berg, C.H. Beck Verlag, München 1991, S. 91. 17 Gestrich, Andreas, Neuzeit, in: Geschichte der Familie, hg. von Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause und Michael Mitterauer (Europäische Kulturgeschichte 1), Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2004, S. 388. 18 Hubbard, Familiengeschichte, S. 180–184; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918, I, S. 47–73. Vgl. auch die weitaus stärkere Differenzierung bei Rosenbaum, Heidi, Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1982. 19 Gestrich, Neuzeit, S. 387. 20 Hobsbawm, Eric J., Die Blütezeit des Kapitals. Eine Kulturgeschichte der Jahre 1848–1875, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1980, S. 287; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 138. 21 Saldern, Adelheid von, Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneignungen, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800–1918. Das bürgerliche Zeitalter, hg. von Jürgen Reulecke, DVA, Stuttgart 1997, S. 147/148.

Soziale Verhältnisse im Deutschen Kaiserreich  |

Der Rückzug ins Private führte zu einer stärkeren Differenzierung der Raumnutzung. Neben das repräsentative Wohnzimmer trat zumindest ein Gästezimmer, die beide nur bei festlichen Anlässen benutzt wurden. Die anderen Zimmer waren demgegenüber den Zwecken gemäß recht kleinräumig konzipiert und eingerichtet. Das galt für die funktionalen Räume wie für die Privaträume der Familie. Sehr verallgemeinernd könnte davon gesprochen werden, dass Wirtschaftsräume wie die Küche am Rand der Wohnung lagen, wohingegen die repräsentativen Zimmer im räumlichen Mittelpunkt standen.22 Im späten 19. Jahrhundert wurde das häusliche Ambiente zudem noch behaglich eingerichtet.23 Bürgerliche Wohnungen gewannen an Intimität, Schönheit, Sauberkeit und Ordnung.24 Eine klassizistische, die Sehnsucht nach vergangenen Atmosphären einschließende Wohnkultur mit Interieur in den verschiedensten historischen Stilrichtungen charakterisierte die Lebensweise.25 Dabei wurde die funktionale Rationalität ebenso wenig außer Acht gelassen wie ein bescheidener Komfort.26 Die finanziellen Möglichkeiten wurden ausgenutzt, um den eigenen – scheinbaren oder tatsächlichen – gesellschaftlichen Status zur Geltung zu bringen.27 Die Wohnung der Knapps in der Schwarzwaldstr. 4, die Anfang der 90er Jahre bezogen wurde, da sie näher an der Universität lag, passte von ihrer Anordnung exakt in diese bildungsbürgerliche Wohnkultur 22 Gestrich, Andreas, Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 50), Oldenbourg Verlag, München 1999, S. 21,27; Guerrand, Roger-Henri, Private Räume, in: Geschichte des privaten Lebens, Bd.  4: Von der Revolution zum Großen Krieg, hg. von Michelle Perrot, Bechtermünz Verlag, Augsburg 1999, S. 337–340; Hausen, Karin, „…eine Ulme für das schwankende Efeu“. Ehepaare im deutschen Bildungsbürgertum. Ideale und Wirklichkeit im späten 18. und 19. Jahrhundert, in: Bürgerinnen und Bürger (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 77), hg. von Ute Frevert, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 1988, S. 107; Saldern, Im Hause, S. 175–177. 23 Hobsbawm, Eric J., Das imperiale Zeitalter 1875–1914, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1995, S. 209/210. 24 Hausen, Ulme, S. 105. 25 Vgl. Forkel, Martina, Wohnen im „Stil“ des Historismus, hg. von Helmut Ottenjann, Museumsdorf Cloppenburg, Cloppenburg 1990, S. 28–36; Montenegro, Riccardo, Enzyklopädie der Wohnkultur. Von der Antike bis zur Gegenwart, DuMont, Köln 1997, S. 203–210 und Teuteberg, Hans J./Wischermann, Clemens, Wohnalltag in Deutschland 1850–1914. Bilder-Daten-Dokumente, F. Coppenrath Verlag, Münster 1985, S. 293. 26 Perrot, Michelle, Formen des Wohnens, in: Geschichte des privaten Lebens, Bd. 4: Von der Revolution zum Großen Krieg, hg. von Michelle Perrot, Bechtermünz Verlag, Augsburg 1999, S. 318. 27 Saldern, Im Hause, S. 151, 171, 178–183.

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um die Jahrhundertwende. Allerdings war das Interieur bei weitem nicht so zahlreich und pompös wie nach dem Ausgeführten vermutet werden könnte. Das Repräsentationszimmer war im Stil des Spätbiedermeier eingerichtet.28 Ein Blumenmuster verzierte die Tapeten und an den Wänden hingen wenige Bilder – hauptsächlich mit Landschaftsmotiven – und ein größeres Portrait von Georg Friedrich Knapp. Ein Schrank mit Glasfront enthielt ordentlich aufgereihte Bücher. Es überrascht, dass Schmuckgegenstände nahezu vollständig fehlten. Da jedoch größere festliche Aktivitäten an der Universität in dafür zur Verfügung gestellten Räumen abgehalten wurden, konnte in der privaten Wohnung gut auf die bildungsbürgerliche Schau verzichtet werden. Privatbesuche von Freunden und anderen Gelehrten wie Gustav Schmoller oder Lujo Brentano bedurften gewiss keines repräsentativen Interieurs. Das Lesezimmer, um ein zweites Zimmer anzuführen, das einen Eindruck vom Leben in der Wohnung der Familie Knapp vermittelt, bestach ebenfalls eher durch seine Schlichtheit als durch Komfort oder Bequemlichkeit. Ein Sessel, eine Couch und ein Stuhl mit Sitzpolsterauflage umrahmten einen kleinen runden Tisch mit zwei kleinen Blumensträußen auf einer quadratisch gestickten weißen Tischdecke. Unter dem Tisch, wenig auffallend und in dunklen Farben, lag ein Teppich der die Maße des Tisches kaum übertraf. Die Wände waren mit kleinen Stilleben und Landschaftsbildern behängt. Durchaus nicht wenige an der Zahl, jedoch auch nicht so viele, dass das Zimmer überfrachtet wurde.29 Waren derartige Wohnungen für das Bildungsbürgertum, ja für das Bürgertum insgesamt, durchaus gang und gäbe, so konnten sich nur wenige Bürgerfamilien den Bau einer kleinen Villa vor den Stadttoren leisten. Die Familie Heuss etwa zählte zu diesen, wobei auch hier auf die notwendigen Beschränkungen immer sorgsam geachtet wurde.30 Zur Unterstützung der häuslichen Tätigkeit kamen zum Ende des Jahrhunderts elektrische Geräte wie die Waschmaschine und andere wohnungstechnische Fortschritte wie Etagen- und Zentralheizungen hinzu, die den Arbeitsalltag für bürgerliche Hausfrauen, die sich keine Bediensteten leisten konnten, enorm erleichterten und in 28 Für eine kurze Charakterisierung des Biedermeier-Stils vgl. Montenegro, Enzyklopädie der Wohnkultur, S. 274; Benker, Gertrud, Bürgerliches Wohnen. Städtische Wohnkultur in Mitteleuropa von der Gotik bis zum Jugendstil, Callwey, München 1984, S. 176. 29 Bilder im Privatbesitz der Familie Heuss. 30 Budde, Gunilla-Friederike, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit uns Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914 (Bürgertum 6), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994, S. 337/338; Heuss, Theodor, Vorspiele des Lebens. Jugenderinnerungen, Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen 31961, S. 105/106; Saldern, Im Hause, S. 174/175.

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Abb. 1  Elly im Lesezimmer im Hause Knapp.

die Wohnungseinrichtung integriert wurden.31 Die neuen technischen Errungenschaften verbesserten auch die Lebensqualität. Erleichterungen durch Küchengeräte und ein Anstieg der Realeinkommen ermöglichten es, auf die Ernährung zusehends mehr zu achten. Das durchschnittliche Ernährungsniveau verbesserte sich.32 In Verbindung mit dem rasanten medizinischen Fort-

31 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 136, 140. 32 Berghahn, Volker, Das Kaiserreich 1871–1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte 16), Klett-Cotta, Stuttgart 102003, S. 113; Spree, Reinhard, Zur Bedeutung des Gesundheitswesens für die Entwicklung der Lebenschancen der deutschen Bevölkerung zwischen 1870 und 1913, in: Staatliche Umverteilungspolitik in historischer Perspektive. Beiträge zur Entwicklung des Staatsinterventionismus in Deutschland und Österreich (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge 109), hg. von Fritz Blaich, Duncker & Humblot, Berlin 1980, S. 222/223; Teuteberg, Hans J./ Wiegelmann, Günter, Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluß der Industrialisierung (Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im Neunzehnten Jahrhundert III), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1972, S. 105–198.

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schritt33 konnten mehr Krankheiten als je zuvor geheilt beziehungsweise deren Ausbruch verhindert werden. In diesem Zusammenhang ist es notwendig auf die Fortschritte bei der Körperhygiene („Verhäuslichung“34 und Verbesserung der Wasserversorgung35) und auf verstärkte körperliche Betätigungen36 hinzuweisen, was sich auf den Zustand der allgemeinen Volksgesundheit ebenfalls positiv auswirkte.37 Sportliche Aktivitäten bündelten sich nicht selten in Jugendvereinen – auch Elly Knapp war Mitbegründerin eines „Radlclubs“ –, aus denen eine Jugendbewegung hervorging, in der das junge Bildungsbürgertum und somit ein beträchtlicher Teil der künftigen intellektuellen Elite seine Heimat fand.38 Ebenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich mit dem bürgerlichen Familienideal unter den Leitbegriffen „Privatisierung“ und „Emotionalisierung“39 die bestimmenden emotionalen Leitvorstellungen für die „Kernfamilie“40 heraus, die nur noch Eltern und Kinder, die bis zum Abschluss der Ausbildung bzw. zur Heirat im Elternhaus blieben, umfasste und in der die Einzigartigkeit eines jeden Individuums Anerkennung fand.41 Sie 33 Spree, Reinhard, Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1981, S. 97–102, 106/107, 116, 128. 34 Gestrich, Neuzeit, S. 469. 35 Spree, Bedeutung des Gesundheitswesens, S. 221; Spree, Soziale Ungleichheit, S. 116,165. 36 Eichberg, Henning, „Schneller, höher, stärker“. Der Umbruch in der deutschen Körperkultur um 1900 als Signal gesellschaftlichen Wandels, in: Medizin, Naturwissenschaft, Technik und das Zweite Kaiserreich. Vorträge eines Kongresses vom 6. bis 11. September 1973 in Bad Nauheim (Studien zur Medizingeschichte des neunzehnten Jahrhunderts 8), hg. von Gunter Mann und Rolf Winau, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1977, S. 265, 272; Eichberg, Henning, Sport im 19. Jahrhundert – Genese einer industriellen Verhaltensform, in: Geschichte der Leibesübungen, Bd. 3/1, hg. von Horst Ueberhorst, Verlag Bartels & Wernitz KG, Berlin u.a. 1980, S. 396–398; Denk, Heinz, Schulturnen, in: Geschichte der Leibesübungen, Band 3/1, hg. von Horst Ueberhorst, Verlag Bartels & Wernitz KG, Berlin u.a. 1980, S. 325. 37 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 125–127, 150/151, 171–175. 38 Speitkamp, Winfried, Jugend in der Neuzeit. Deutschland vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, S. 139. 39 Kessel, Martina, Individuum/Familie/Gesellschaft. Neuzeit, in: Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, hg. von Peter Dinzelbacher, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 1993, S. 43. 40 Andreas Gestrich weist mit Recht darauf hin, dass die „Kernfamilie“ nicht erst im 19. Jahrhundert entstanden ist. Gestrich, Neuzeit, S. 432. 41 Donzelot, Jacques, Die Ordnung der Familie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, S. 58; Hubbard, Familiengeschichte, S. 12; Segalen, Martine, Die Fami-

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Abb. 2  Elly 1899 auf ihrem Rad, mit dem sie auf vielen Ausflügen des „Radlclubs“ unterwegs war.

entstand als Reaktion auf die gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich mit der Industrialisierung für jeden merklich, aber doch kaum konkret erkennbar, auftaten.42 Das gesellschaftliche Prestige und die materielle Absicherung des Bildungsbürgertums gingen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zurück. Mit der ordentlichen Professur versehen, konnte Georg Friedrich Knapp seinen beiden Töchtern jedoch im Gegensatz zu vielen Privatgelehrten eine gesicherte Existenz bieten. Nicht zur Oberschicht gehörig, wurde eine Intensivierung der familiären Strukturen angestrebt.43 Die gefühlsmäßige Isolation des Einzelnen lie. Geschichte, Soziologie, Anthropologie, Campus, Frankfurt/New York 1990, S. 135. 42 Fromm, Erich, Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil, in: Erich Fromm, Gesamtausgabe, Bd. 1: Analytische Sozialpsychologie, dtv, München 1989, S. 149–153. 43 Gestrich, Neuzeit, S. 435.

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wurde aufgebrochen und die romantische Liebe – gerade vom Bürgertum postuliert, jedoch zumeist nicht realisiert44 – als das lebenswerte Ideal angesehen. Gefühle wurden zur Normalität und vom religiösen Glauben emanzipiert.45 Es wurde unter den Ehepartnern kommuniziert und sie respektierten sich zunehmend als eigenständige Persönlichkeiten. Auch wenn dies in der täglichen Praxis nur in Ansätzen gelingen konnte, so ist doch ein verändertes Bewusstsein festzustellen.46 Natürlich war es nicht möglich ein „kernfamiliär“ gefühlsbezogenes Leben zu entwickeln, wenn die Mutter sehr früh nicht mehr im Haushalt lebte und der Vater mit Abb. 3  Die Haushälterin Lotte Jürgens (links oben) seinen universitären Pflichten stark neben Elly (rechts oben), Marianne (rechts unten) eingespannt war. Daher entwiund der gemeinsamen Freundin Agnes Geiger ckelte sich eher ein freundschaft(links unten) in Miltenberg 1895. liches, sehr inniges Verhältnis zwischen Lotte, Marianne und Elly. Das Gemeinschaftsleben wurde zugunsten des intimen, privaten Familienlebens zurückgestellt. Mit dem Aufkommen der Vereinstätigkeit und den unterschiedlichsten Bewegungen gibt es Tendenzen, die dem nur scheinbar widersprechen. Wichtig ist, dass der familiäre Bereich für Außenstehende abgeschottet wird.47 Grundlegend verwirklicht wurde die Trennung von Arbeit bzw. 44 Hubbard, Familiengeschichte, S. 183; Mitterauer, Michael, Entwicklungstrends der Familie in der europäischen Neuzeit, in: Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Band 1: Familienforschung, hg. von Rosemarie Nave-Herz und Manfred Markefka, Luchterhand, Neuwied/Frankfurt am Main 1989, S. 188. 45 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 190. 46 Sieder, Reinhard, Sozialgeschichte der Familie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, S. 130–132,135. 47 Shorter, Edward, Die Geburt der modernen Familie, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 30/31.

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Beruf und Familiensphäre bei den Ehepartnern. Unterstützt wurde diese Reaktion auf und zugleich Anpassung an eine Gesellschaftsentwicklung, die dem aufgeklärten Ideal autonomer, harmonisch sich entfaltender Persönlichkeiten den Wirklichkeitsgehalt entzog, durch die Zuschreibung von Charaktereigenschaften: Der Mann mit seiner Rationalität und Aktivität ist scheinbar der Natur nach für den öffentlichen Bereich bestimmt und wird von diesem geprägt, wohingegen die passive und emotionale Frau in bürgerlichen Familien von der Erwerbsarbeit ausgeschlossen oder entlastet ist – je nach Blickwinkel –, und nur sie durch die Familie definiert wird.48 Sie durfte keiner sichtbaren und keiner entlohnten Arbeit nachgehen.49 Im Haushalt erfuhr sie in gut begüterten Kreisen des Bürgertums die Unterstützung durch ein Dienstmädchen, wobei darauf hinzuweisen ist, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts in bildungsbürgerlichen Haushalten immer weniger Dienstmädchen zu finden waren.50 Ohne die angestellte Haushälterin Lotte wäre an ein geregeltes Familienleben nicht zu denken gewesen. Sie war die gute Seele, die weitaus die meiste Zeit mit den beiden Geschwistern Marianne und Elly verbrachte und sich um den Haushalt kümmerte, der zunehmend von den Geschwistern miterledigt wurde. Zusammen waren sie für den privaten Haushalt zuständig und bestimmten den Konsum, der im nicht gerade reichen Bildungsbürgertum auf Sparsamkeit ausgerichtet werden musste. Wir erinnern uns an die doch recht nüchtern eingerichtete Wohnung. Der Ehemann war nicht verpflichtet, seine Einkünfte der Ehefrau mitzuteilen, ja er verwaltete sogar zumeist deren Vermögen mit. Das Haushaltsgeld wurde vom Mann nach Gutdünken ausbezahlt, was dazu führte, dass die Frau, die das ihr zur Verfügung stehende Geld scheinbar selbständig bewirtschaften konnte, jeden zusätzlichen Pfennig für 48 Drerup, Heiner, Mütterlichkeit als Mythos, in: Familien. Eine interdisziplinäre Einführung, hg. von Lothar Bönisch und Karl Lenz, Juventa Verlag, Weinheim/ München 1997, S. 84; Gestrich, Geschichte der Familie, S. 6; Hausen, Karin, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziationen von Erwerbs- und Familienleben, in: Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen, hg. von Heidi Rosenbaum, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1978, S. 161, 167, 172/173. 49 Duden, Barbara/Meyer-Renschhausen, Elisabeth, Landarbeiterinnen, Näherinnen, Dienstmädchen, Hausfrauen. Frauenarbeit in Preußen, in: Preußen. Versuch einer Bilanz. Eine Ausstellung der Berliner Festspiele GmbH. 15. August–15. November 1981, Gropius-Bau Berlin, Bd. 3: Preußen zur Sozialgeschichte eines Staates. Eine Darstellung in Quellen, bearb. von Peter Brandt, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 279. 50 Budde, Bürgerleben, S. 275–278; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 53/54.

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den Konsum erbitten oder durch eigenständige Heimarbeit, die in der Regel sogar dem Mann verheimlicht wurde, hinzuverdienen musste.51 In einem Haushalt ohne Mutter und mit Haushälterin war es eine Selbstverständlichkeit, dass ein entsprechendes Budget vom Vater festgelegt wurde, mit dem sich die drei Frauen begnügen mussten. Die entstehende Werbung richtete sich daher bereits in ihren Kinderschuhen vor allem an Frauen; ein Thema, das Elly Knapp ihr Leben lang begleiten sollte. Das familiäre Umfeld wurde als Ruhepunkt für den Mann angesehen und gleichzeitig als Ort der aufopferungsvollen Hingebung der Frau, deren Bestimmung die treue Ehefrau und gute Mutter war.52 Die einzigen öffentlichen Verpflichtungen waren für bildungsbürgerliche Frauen die Repräsentationszwänge, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt wegen der immer unsicherer werdenden Anstellungsaussichten für Akademiker verstärkten. Der Loyalitätsdruck und die Anpassung aufstiegswilliger Bildungsbürger an Wert- und Lebensvorstellungen der Herrschenden förderten sowohl inner- als auch außerhäusliche Feste, in denen die persönliche Note der Gastgeber ebenso Berücksichtigung fand wie die exakte Etikette als Zeichen der Zugehörigkeit zur bildungsbürgerlichen Schicht.53 So wurde an Frauen auch zunehmend Bildung geschätzt, die zu mehr als oberflächlicher Kommunikation befähigte.54 Die Familie war nicht nur privater Innenraum, sondern auch Raum der Repräsentation des gesellschaftlichen Erfolges nach außen.55 Dennoch kann natürlich von einer rundum zufriedenstellenden Position der Frauen nicht die Rede sein. Die Arbeitsteilung der Geschlechter führte zu einer wachsenden Entfremdung. Das Berufsfeld für Akademiker verdichtete sich derart, dass Ehemänner bereit bzw. gezwungen waren, immer mehr Zeit in ihre berufliche und persönliche Karriere zu investieren.56 Hinzu kam das verstärkte Bewusstsein für zunehmende soziale Spannungen innerhalb der Gesellschaft, die insbesondere

51 Duden/Meyer-Renschhausen, Landarbeiterinnen, S. 280, 282/283; Meyer, Sibylle, Die mühsame Arbeit des demonstrativen Müßiggangs. Über die häuslichen Pflichten der Beamtenfrauen im Kaiserreich, in: Frauen suchen ihre Geschichte, hg. von Karin Hausen, C.H. Beck Verlag, München 21987, S. 175, 187, 192–194; Hausen, Ulme, S. 86,104; Peters, Dietlinde, Mütterlichkeit im Kaiserreich. Die bürgerliche Frauenbewegung und der soziale Beruf der Frau (Wissenschaftliche Reihe 29), Kleine Verlag, Bielefeld 1984, S. 29. 52 Hausen, Ulme, S. 86. 53 Meyer, Die mühsame Arbeit, S. 176–185. 54 Hausen, Ulme, S. 94. 55 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1919, I, S. 73. 56 Hausen, Ulme, S. 114.

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Frauen aus den unteren Schichten ertragen mussten.57 Daraus entstand eine bürgerlich-feministische Kritik in Form der bürgerlichen Frauenbewegung,58 die wiederum einen Antifeminismus mobilisierte, der versuchte die männliche Dominanz auf allen gesellschaftlichen Ebenen festzuschreiben.59 Neben Frauenvereinen breiteten sich auch die seit den 1830er Jahren bestehenden Wohltätigkeitsverbände sehr stark aus, in denen auffallend viele bürgerliche Frauen trotz ihrer Haushaltspflichten öffentlich sozial tätig waren. Dies bestätigte Elly Knapp eindrucksvoll.60 Alles in allem blieb es eine von vorneherein festgelegte, patriarchalische Rollenverteilung mit einer klaren Zuschreibung des Geschlechtscharakters, in der eine Ehescheidung überhaupt nicht in Erwägung gezogen wurde. Die Frau verwandte ihre ganzen Kräfte auf die Ausgestaltung der familiären Innenwelt und die damit verbundene Unterstützung der Karriere des Ehemannes mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln.61 Als Familienmutter war ihr eine untergeordnete, unselbstständige Stellung beigemessen, die mit der partnerschaftlichen Einstellung auf Gegenseitigkeit durch die Errungenschaften der Französischen Revolution schon überwunden schien.62 57 Frevert, Ute, Frauen-Geschichte, Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, S. 92. Insgesamt zu den sozialen Verhältnissen vgl. ebd., S. 80–104. 58 Frevert, Frauen-Geschichte, S. 124–127; Sieder, Sozialgeschichte der Familie, S. 144; Nave-Herz, Rosemarie, Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, hg. von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Hannover, Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 51997, S. 19–27, 32–38. 59 Planert, Ute, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 124), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, S. 118–151; Planert, Ute, Antifeminismus im Kaiserreich: Indikator einer Gesellschaft in Bewegung, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 93/94. 60 Jacobi, Juliane, Zwischen Erwerbsfleiß und Bildungsreligion – Mädchenbildung in Deutschland, in: Geschichte der Frauen, hg. von Georges Duby und Michelle Perrot, Bd. 4: 19. Jahrhundert, hg. von Geneviève Fraisse und Michelle Perrot, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997, S. 271/272; Salomon, Alice, Die Frauen in der sozialen Hilfsthätigkeit, in: Handbuch der Frauenbewegung, hg. von Helene Lange und Gertrud Bäumer, II. Teil: Frauenbewegung und soziale Frauenthätigkeit in Deutschland nach Einzelgebieten, W. Moeser Buchhandlung, Berlin 1901, S. 1–122; vgl. Frevert, Ute, Frauen-Geschichte, S. 70, 77/78, 109–116; Frevert, Ute, „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Geschlechter-Differenzen in der Moderne, C.H. Beck Verlag, München 1995, S. 163. 61 Hausen, Ulme, S. 110. 62 Kaelble, Hartmut, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, C.H. Beck Verlag, München

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Auch eine verbesserte Mädchenbildung wirkte der allgegenwärtigen Unterscheidung nach dem Geschlecht in der Epoche des Deutschen Kaiserreichs keineswegs entgegen.63 Bereits bei der Erziehung junger Mädchen wurde auf das Zurückstecken, Ertragen und Verzichten größten Wert gelegt. Die Mutter war exklusiv verpflichtet, das Kind zu versorgen und zu pflegen. Kennzeichnend für Mädchen wie für Jungen war im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts die distanzierte Vater-Kind-Beziehung und demgegenüber die übersteigert emotionale Mutter-Kind-Beziehung.64 So konnte erst der „Mythos der Mutterliebe“65, was zu einer Emotionalisierung und Moralisierung der Mutter-Kind-Beziehung führte, in bürgerlichen Familien entstehen.66 Aber natürlich war dies nicht nur ein Mythos, sondern wurde auch in ersten Ansätzen tatsächlich vorgelebt. Mit dem Stillen, der verstärkten Aufmerksamkeit das körperliche Wohl betreffend und mit einfühlsamer Zärtlichkeit und Nähe widmete sich die Ehefrau besonders intensiv dem Kleinkind.67 Die bürgerliche Erziehung der heranwachsenden Kinder oblag dann dem Zuständigkeitsbereich der Mutter. Sie blieb als Erzieherin in Frankreich wie im Deutschen Reich das ganze 19. Jahrhundert hindurch Leitfigur.68 Das Ziel aller Erziehungspraktiken sollte der normengeleitete, vernünftige Mensch sein. 69 Kinder waren als Familienglück anzusehen und wurden von der Arbeit entlastet.70 Sie waren der ganze Familienstolz. Die eigenständige Persönlichkeit der Kinder wurde entdeckt und dies sollte in der Erziehung berücksichtigt werden. Dennoch waren den Entfaltungsmöglichkeiten der Kinder enge Grenzen gesetzt, die eine eigenständige Persönlichkeitsentwicklung kaum zulie-

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1991, S. 50; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 48/49, 52, 57; Reulecke, Wiener Kongreß, S. 312; Weber-Kellermann, Ingeborg, Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, S. 104, 106–108, 117/118. Frevert, Mann und Weib, S. 135. Berg, Familie, S. 114. Auf die französische Gesellschaft bezogen, doch durchaus in der Tendenz auch für andere mitteleuropäische Länder zutreffend: Badinter, Elisabeth, Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, dtv, München 21985, S. 297. Drerup, Mütterlichkeit, S. 83/84 ; Shorter, Geburt, S. 31, 236. Gestrich, Geschichte der Familie, S. 36. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 52; Mayeur, François, Mädchenerziehung: Das Laizistische Modell, in: Geschichte der Frauen, hg. von Georges Duby und Michelle Perrot, Bd. 4: 19. Jahrhundert, hg. von Geneviève Fraisse und Michelle Perrot, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997, S. 264. Sieder, Sozialgeschichte der Familie, S. 136. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 54/55.

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ßen.71 Schule und Familie wirkten einerseits klassenbildend und andererseits auf die Absonderung von der Erwachsenengesellschaft hin.72 Die Ziele der Mädchenbildung sollten durch den späteren Beruf der Hausfrau, Mutter und Gattin und die damit verbundenen Pflichten und Aufgaben bestimmt werden, da bildungsbürgerliche Töchter prinzipiell nur als Heiratspartnerinnen in Betracht kamen.73 Die hauswirtschaftliche Erziehung führte jedoch auch zu einem Bedarf an weiblichen Lehrkräften und deren professionelle Ausbildung wurde von der bürgerlichen Frauenbewegung vorangetrieben.74 Der Frauenanteil am Lehrkörper in preußischen Mädchenschulen um die Jahrhundertwende überstieg bereits den der Männer.75 Neben der erhöhten Chance und Notwendigkeit eine eigene bürgerliche Existenz aufzubauen – zumal bei weitem nicht annähernd für jede Frau ein adäquater Heiratspartner zur Verfügung stand76 –, war der Einstieg in bisherige Monopolberufe der Männer unumkehrbar vollzogen.77 Was waren aber neben der Vorbereitung auf hauswirtschaftliche Tätigkeiten die Richtlinien für die bürgerliche Erziehung? Zunächst einmal war sie „antisexuell“78, das heißt es gab keine sexuelle Aufklärung. Sexualität wurde überhaupt nicht thematisiert.79 Die Pubertät wurde damit für die Kinder natürlich nicht unbedingt leichter. In diesem Zusammenhang ist es unabdingbar auf die Verpflichtung zu Keuschheit und Treue bei den bürgerlichen Frauen hinzuweisen, wohingegen den Männern ihre Bordellbesuche und Liebschaf71 Ebd., S. 55/56; Weber-Kellermann, Die Deutsche Familie, S. 110. 72 Ariès, Philippe, Geschichte der Kindheit, dtv, München 71985, S. 457–466. 73 Berg, Familie, S. 125; Frevert, Mann und Weib, S. 139; Jacobi, Erwerbsfleiß, S. 268; Peters, Mütterlichkeit, S. 27/28. 74 Albisetti, James C., Professionalisierung von Frauen im Lehrberuf, in: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwart, hg. von Elke Kleinau und Claudia Opitz, Campus, Frankfurt/New York 1996, S. 189–200. Zur allgemeinen Diskussion um die Zulassung von Frauen zur wissenschaftlichen Ausbildung vgl. Frevert, Frauen-Geschichte, S. 119/120, 122/123. 75 Frevert, Frauen-Geschichte, S. 76. 76 Gillis, John R., Geschichte der Jugend. Tradition und Wandel im Verhältnis der Altersgruppen und Generationen in Europa von der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Beltz, Weinheim/Basel 1980, S. 109. 77 Albisetti, James C., Schooling German Girls and Women. Secondary and Higher Education in the Nineteenth Century, Princeton University Press, Princeton 1988, S. 58–135; Frevert, Frauen-Geschichte, S. 76; Jacobi, Erwerbsfleiß, S. 274, 278. 78 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 98. 79 Peters, Mütterlichkeit, S. 27; Tenorth, Heinz-Elmar, Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge ihrer neuzeitlichen Entwicklung, Juventa Verlag, Weinheim/München 32000, S. 200.

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ten weitgehend nachgesehen wurden.80 Auswirkungen auf die Erziehung der jungen Mädchen hatte dies nur insoweit, als sie auf ihre Verpflichtungen in der Ehe hingewiesen wurden. Da Sexualität zuvor sowieso nicht zur Debatte stand, wurde die Thematik erst relevant als die Mädchen schon erwachsen waren und kurz vor der Heirat standen. Mit dem Erstarken der Frauen- und Jugendbewegung wurde die Sexualität dann um die Jahrhundertwende erstmalig ein Thema der öffentlichen Diskussion, obwohl in der Wissenschaft durchaus bereits „Sexualität“ davor thematisiert wurde, jedoch insbesondere auf das Ziel der „Zähmung des Geschlechtstriebes“ hin.81 Allerdings zeigt die aufkommende Debatte, dass „Sexualität“ als Thema nicht in die Familien getragen wurde. Es sollte noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein dauern, bis sich diesbezüglich langwährende Familienschemata veränderten. Wurde etwas tabuisiert, so stand es dem Kind – dem Mädchen noch weniger als dem Jungen – nicht zu, dies aufzugreifen. Die Erziehungsmaxime, und damit auch die Verhaltensbandbreite der Kinder, bewegte sich in eng vorgegebenen Mustern. Aus Erziehungshandbüchern und einer Fülle an autobiographischen Schriften lassen sich die erwünschten Tugenden deutlich erkennen: Fleiß, Korrektheit, Pflichterfüllung und Zufriedenheit, um den gestellten Aufgaben zu genügen; Gehorsam und Widerspruchslosigkeit gegenüber den Autoritäten; Bescheidenheit und Dankbarkeit; permanente Kontrolle durch eine höhere Macht und Demut vor religiösen Grundsätzen; Ordnungsliebe und Ökonomie der Zeiteinteilung als Vorbereitung auf eine rationale Arbeitsmoral.82 In der autoritätshörigen Gesellschaft des Deutschen Kaiserreiches mussten sich zudem Mädchen damit abfinden, dass sie als Kinder zweiter Klasse angesehen wurden, und es galt, sie in diese Gesellschaft erzieherisch zu integrieren.83 Wie bereits angedeutet, mussten Mädchen lernen, sich bescheiden zu geben und anderen zu dienen. Die Pflicht zur Handarbeit, nicht in Form von „Hausarbeit“, sondern als „Handarbeiten“ – Mädchen häkelten, strickten und verzierten die Aussteuer –,84 führte zu weniger Freizeit zur individuellen Gestaltung als bei Jungen gleichen Alters. Die Arbeitszeit, die Mädchen für die Schule und die Hausarbeit aufbringen mussten, war erheblich und ließ bei zusätzlicher Handarbeit an normalen Schultagen keine großen zeitlichen Freiräume

80 Frevert, Frauen-Geschichte, S. 130; Hobsbawm, Blütezeit des Kapitals, S. 290/291. 81 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 99–100, 104; Frevert, FrauenGeschichte, S. 128/129. 82 Berg, Familie, S. 112. 83 Tenorth, Geschichte der Erziehung, S. 200. 84 Peters, Mütterlichkeit, S. 27.

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mehr zu.85 Somit wurde die individuelle Entfaltungsmöglichkeit zusätzlich eingeschränkt.86 Bürgerliche Kinder verkehrten in der Regel nur mit Kindern, die den Eltern genehm waren. Man blieb unter sich. Die soziale Wirklichkeit wurde zugunsten einer behüteten Umgebung ausgeklammert. Selbst der Schulweg wurde durch die Begleitung von Dienstmädchen oder Angehörigen von den Eltern kontrolliert.87 In der Schule war dies nicht mehr so einfach. Doch größtenteils deckte sich die bürgerliche Erziehung mit den Lerninhalten in der Schule, so dass Einigkeit darin bestand, die Persönlichkeitsentwicklung ganz den Händen der Eltern zu überlassen, wohingegen die Schule für die Ausbildung des Intellekts zuständig sein sollte. Da sich die Lehrerschaft größtenteils aus dem Bürgertum rekrutierte, ist diese „Arbeitsteilung“ wenig verwunderlich.88 Dies scheint dem zu widersprechen, dass die Schulerziehung auf die Unterstützung der späteren Ehemänner in Familie und Haushalt ausgelegt war.89 Dabei ist allerdings zu bedenken, dass hierfür eine gewisse Bildung notwendig war, um die Repräsentationspflichten standesgemäß erfüllen zu können. Natürlich wurde auf praktische Fertigkeiten und deren Schulung das Hauptaugenmerk gelegt und hier ergänzten sich Schule und Elternhaus außerordentlich gut. In der Schule blieb nach wie vor die humanistische Bildung mit einem Schwerpunkt auf dem Deutsch- und dem das Nationale betonenden Geschichtsunterricht neben der handwerklichen Ausbildung zentraler Lehrinhalt.90 Naturwissenschaftlich-technische Fächer wurden vertieft nur in den höheren Schulen unterrichtet, von denen die Mädchen noch bis ins 20. Jahrhundert ausgeschlossen waren. Dennoch vollzog sich der stetige Wandel zu einer Angleichung weiblicher an männliche Bildung, obwohl die höhere Bildung für Mädchen erst 1908 staatlich anerkannt wurde und zuvor alle höheren Mädchenschulen im Mittelschulbereich verankert blieben.91 Auch dürfen 85 Vgl. Engelsing, Rolf, Die Arbeitszeit und Freizeit von Schülern, in: Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, hg. von Gerhard Huck, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 1980, S. 65–70. 86 Klika, Dorle, Erziehung und Sozialisation im Bürgertum des wilhelminischen Kaiserreichs. Eine pädagogisch-biographische Untersuchung zur Sozialgeschichte der Kindheit, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main u.a. 1990, S. 147, 187, 473. 87 Berg, Familie, S. 115/116. 88 Ebd., S. 118. 89 Klika, Erziehung, S. 401. 90 Kluchert, Gerhard, Die Schule des Kaiserreichs, in: Hellmut Becker und Gerhard Kluchert, Die Bildung der Nation. Schule, Gesellschaft und Politik vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, Klett-Cotta, Stuttgart 1993, S. 80. 91 Bäumer, Gertrud, Geschichte und Stand der Frauenbildung in Deutschland, in: Handbuch der Frauenbewegung, hg. von Helene Lange und Gertrud Bäu-

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die Fortschritte in Richtung Modernität und Bürgerlichkeit nicht übersehen werden.92 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts begann sich die Gleichstellung von Fortschritt und Jugendlichkeit bzw. Jugendkult als ein Gesichtspunkt des späteren Jugendmythos aus dem 20. Jahrhundert durchzusetzen. Die „Entdeckung“ von „Jugend“ als eigenständigem Zeitabschnitt im Leben vollzog sich kurz vor der Jahrhundertwende.93 Jugend wurde als eigenständige soziale Teilkultur mit spezifischen gemeinsamen Merkmalen zwischen Kindheit und Erwachsenenleben zum gesellschaftlichen Thema. Die Übergänge von Kindheit zu Jugend und von Jugend zum Erwachsenenleben waren natürlich fließend.94 Jugendliche traten eindeutig als Generation mit eigenen Werten, Normen und Leitbildern auf.95 Neben „gemein-modernen Faktoren“ wie Arbeitsteilung und Mobilität, Rollenvielfalt und Rollenunsicherheit, zunehmender Reflexivität und Freisetzung von Emotionen traten bürgerliche Familienprägungen.96 Die stärkere Freizeitbindung weiblicher Jugendlicher an das Haus wurde neben der spezifischen Mädchenbildung für die beson-

mer, III.  Teil: Der Stand der Frauenbildung in den Kulturländern, W. Moeser Buchhandlung, Berlin 1902, S. 90–128; Kraul, Margret, Höhere Mädchenschulen, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Band IV: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, hg. von Christa Berg, C.H. Beck Verlag, München 1991, S. 290–293, 296–300; Kuhlemann, Frank-Michael, Niedere Schulen, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV: 1870– 1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, hg. von Christa Berg, C.H. Beck Verlag, München 1991, S. 200/201, 203–207, 218–225. 92 Nipperdey, Thomas, Wie modern war das Kaiserreich? Das Beispiel der Schule, Westdeutscher Verlag, Opladen 1986, S. 17. 93 Reulecke, Wiener Kongreß, S. 285, 316. 94 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 112/113. Differenzierter, jedoch auch ohne Absolutheitsanspruch, sind die fünf Faktoren Michael Mitterauers für das Ende der Jugend: Schulabgang, Arbeitsaufnahme, Verlassen der Herkunftsfamilie, Gründung eines eigenen Haushalts und Heirat. Mitterauer, Michael, Sozialgeschichte der Jugend, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, S. 44, 48. Vgl. auch Nipperdey, Thomas, Jugend und Politik um 1900, in: Thomas Nipperdey, Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 18), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1976, S. 339/340. 95 Rüegg, Walter, Jugend und Gesellschaft um 1900, in: Kulturkritik und Jugendkult, hg. von Walter Rüegg, Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main 1974, S. 55; Speitkamp, Jugend, S. 118, 122, 129. 96 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 117.

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dere Situation der jungen Frauen, „Jungfrauen“, bereits angeführt.97 Jugend galt in der deutschen Öffentlichkeit – mit zunehmendem Bewusstsein dafür – als Chance, als Verkörperung der Zukunft und als Symbol des Aufbruchs und des Fortschritts.98 Demgegenüber entfaltete sich die Kritik an der Jugend und ihrer Einstellung immer stärker aus der Furcht vor politischer und sozialer Radikalisierung. Eine Distanz, ja sogar eine gewisse Spannung zwischen den Generationen kann konstatiert werden.99 Jugendlichkeit wurde primär als soziales Problemfeld wahrgenommen. Aus moralischen, religiösen und wirtschaftlichen Gründen musste nach vorherrschendem bürgerlich-autoritärem Ideal eine stärkere Kontrolle, aber auch ein besserer Schutz der Jugendlichen als gerechtfertigt erscheinen.100 Dementsprechend wurde der Umgang mit Jugendlichen als Teil der neuen industriellen, sozialen Frage angesehen. Jugendpolitik war zunächst einmal hauptsächlich Sozialpolitik.101

b) Sozialpolitik und soziale Errungenschaften Die Entstehung der deutschen Jugendbewegung hat schließlich die sozialpolitischen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Jugend erforderlich werden lassen. Doch das geschah erst um die Jahrhundertwende, als statistische Erhebungen eine abgesicherte Aufmerksamkeit auf die Lage der Kinder und Jugendlichen erlaubten,102 die Organisation von Jugendlichen in Vereinen offenkundig niemandem mehr verborgen bleiben konnte und die Einbindung dieser Bewegungen in staatliche Zielsetzungen mittels einer konkreten Jugendpolitik angestrebt wurde.103 97 Vgl. dazu auch Berg, Familie, S. 122; Speitkamp, Jugend, S. 125. 98 Berg, Familie, S. 121. 99 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 118; Speitkamp, Jugend, S. 131/132. 100 Gillis, Geschichte der Jugend, S. 162/163; Mitterauer, Sozialgeschichte der Jugend, S. 79. 101 Berg, Familie, S. 121; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 114/115; Speitkamp, Jugend, S. 132. 102 Stolleis, Michael, Historische Grundlagen. Sozialpolitik in Deutschland bis 1945, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Band 1: Grundlagen der Sozialpolitik, hg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und vom Bundesarchiv, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden Baden 2001,S.267. 103 Berg, Familie, S. 130–133; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 118; Nipperdey, Jugend und Politik um 1900, S. 357–359; Speitkamp, Jugend, S. 135. Die Anfänge der weiblichen Jugendbewegung liegen um das Jahr 1910. Vgl. Klönne, Irmgard, Mädchen in der Jugendbewegung, in: Geschichte der

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Sozialpolitische Weichenstellungen wurden im deutschen Kaiserreich allerdings bereits wesentlich früher gestellt. Aufgrund des durch Bevölkerungswachstum, Industrialisierung, Urbanisierung und Binnenwanderung vorangetriebenen Prozesses des raschen ökonomischen und sozialen Wandels, der Säkularisierung, der politischen Mobilisierung der Massen und der vorherrschenden Überzeugung innerhalb der deutschen Eliten, zur Pazifizierung der Arbeiter und zum Erhalt der bestehenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnung müsse eine integrierende und stabilisierende Sozialpolitik betrieben werden, wurde mit den Gesetzen „zum Schutz der Arbeitnehmer gegen Lebensrisiken infolge von Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter das erste moderne System sozialer Sicherheit in der Welt aufgebaut“. 104 Es dürfen ergänzende Faktoren wie die Eigenarten politischer und sozialer Traditionen, die Kapazitäten der Verwaltungen und die verschiedensten Interessenlagen unterschiedlich betroffener Gruppierungen jedoch nicht vergessen werden.105 Wenn die Gründe für das Handeln des Staates genauer beleuchtet werden, darf zudem das geistige Klima in Deutschland nicht vernachlässigt werden.106 Es genügt an dieser Stelle, darauf hinzuweisen, dass die unterschiedlichsten Konzepte für eine aktive Sozialpolitik zur Verbesserung der durch die Krise der kapitalistischen Industriegesellschaft hervorgerufenen bedenklichen Lebensumstände der breiten Massen und zur Vermeidung von revolutionären Stimmungen in Konkurrenz zueinander traten, so dass spätestens Ende der 70er Jahre eine Stimmung vorherrschte, die Lösungen der sozialen Fragen notwendig erscheinen ließ und staatliche Interventionen begünstigte.107 Bereits seit 1848/49 standen sich restaurative Verteidiger des Status Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwart, hg. von Elke Kleinau und Claudia Opitz, Campus, Frankfurt/New York 1996, S. 252– 254. 104 Ritter, Sozialstaat, S. 62–67. 105 Ritter, Gerhard A., Sozialversicherung in Deutschland und England. Entstehung und Grundzüge im Vergleich, C.H. Beck Verlag, München 1983, S. 9, 18–21. 106 Stolleis, Michael, Die Sozialversicherung Bismarcks. Politisch-institutionelle Bedingungen ihrer Entstehung, in: Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung von Sozialversicherung. Colloquium der Projektgruppe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht der Max-Planck-Gesellschaft (Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht 3), hg. von Hans F. Zacher, Duncker & Humblot, Berlin 1979, S. 410. 107 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 336/337; Reulecke, Wiener Kongreß, S. 306; Ritter, Sozialstaat, S. 83; Ritter, Sozialversicherung, S. 21–27; Stolleis, Historische Grundlagen, S. 235, 239, 242, 246; Zöllner, Detlev, Landesbericht Deutschland, in: Ein Jahrhundert Sozialversicherung in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Österreich und der Schweiz

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quo mit ihren polizeistaatlichen Maßnahmen und Vertreter einer sich formierenden Sozialreform gegenüber, die nach Lösungen für die Armen und Alten, die in der Arbeitswelt nicht mehr benötigt wurden, suchten. Deren Front verlief inmitten der Beamtenschaft.108 Da sich soziale Fragen jedoch immer mehr auch für den arbeitenden Teil der Menschen aufdrängten, wurde die Position der Befürworter einer aktiven Sozialpolitik gestärkt. Die Kirchen und die bürgerlichen Sozialreformer mit engen Kontakten zu den Spitzen der Beamtenschaft waren die treibenden Kräfte hinter der Bürokratie.109 Auf liberaler Seite bestand seit dem deutschen Frühliberalismus ein Spannungsverhältnis zwischen der Befürwortung aktiver Armenunterstützung durch den Staat und der Erziehung zur Selbsthilfe. Zudem war Sozialpolitik niemals das zentrale Themenfeld der Liberalen, und falls doch, konnte eine gewisse Arroganz den Betroffenen gegenüber nicht verleugnet werden. Im Grundsatz bejahte das liberale Bürgertum Hilfen für die Arbeiterschaft, wollte jedoch an der eigenen materiellen und politischen Position ohne Abstriche festhalten und einen Machtzuwachs des Staates unter allen Umständen verhindern.110 Die Entfremdung zwischen Liberalismus und Arbeiterschaft verstärkte sich nicht zuletzt aus den genannten Gründen noch mehr, je weiter der soziale und wirtschaftliche Wandel in der deutschen Gesellschaft vordrang und die Arbeitsbedingungen der Arbeiter zentrale Diskussionsfelder wurden.111 Erst nach der Sozialversicherungsgesetzgebung besann sich die Politik im Kaiserreich, Interesse für die Arbeitsbedingungen der Arbeiter zu entwickeln. Im Arbeiterschutzgesetz von 1891 wurde, neben dem Verbot der Sonnund Feiertagsarbeit – nicht ohne eine Vielzahl von Ausnahmen – und dem Festlegen einer täglichen Höchstarbeitszeit, der Betriebsschutz verschärft. 112 Die sozialpolitischen Regelungen im Arbeitsbereich wurden in dessen Folge zusehends verfeinert. Wichtige gesetzliche Bestimmungen betrafen den Kinderschutz, um Kinderarbeit zu reglementieren.113 Das späte Einsetzen der (Schriftenreihe für Internationales und Vergleichendes Sozialrecht 6), hg. von Peter A. Köhler und Hans F. Zacher, Duncker & Humblot, Berlin 1981, S. 57–64. 108 Reulecke, Wiener Kongreß, S. 271,285. 109 Ritter, Sozialversicherung, S. 9,22,47. 110 Stolleis, Historische Grundlagen, S. 246. 111 Sheehan, James J., Der deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914, C.H. Beck Verlag, München 1983, S. 107–113, 170, 182–185. 112 Syrup, Friedrich, Hundert Jahre Staatliche Sozialpolitik 1839–1939, hg. von Julius Scheuble, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1957, S. 89–99. 113 Frerich, Johannes/Frey, Martin, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 1: Von der vorindustriellen Zeit bis zum Ende des Dritten

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Arbeiterschutzgesetzgebung zu Beginn der 90er Jahre und deren chronische Rückständigkeit114 war nicht zuletzt durch Bismarck bedingt, wobei sozialpolitische Gruppierungen keinen nennenswerten Einfluss auf ihn ausübten. Er schaffte es, das positive politische Klima für Sozialreformen zu nutzen und lediglich die Gruppierungen in seine Gesetzgebung einzubinden, die seinen Vorstellungen sehr nahe kamen.115 Bismarck wollte die Interessen der Industrie gewahrt wissen und legte das sozialpolitische Hauptaugenmerk auf die Sozialversicherungsgesetzgebung, was sich bereits vor den Reichstagsberatungen über die Sozialversicherungsgesetze herauskristallisierte.116 Die vom Staat erzwungene Versicherung – teilweise gegen die staatliche Ordnung der Arbeiterverhältnisse gerichtet – verschaffte dem Versicherungsgedanken einen zeitlichen und institutionellen Vorsprung, gegen den andere sozialpolitische Lösungsversuche kaum ankommen konnten; und das bis weit in die zweite NachkriegsReiches, Oldenbourg Verlag, München/Wien 1993, S. 131/132, 135/136; Syrup, Hundert Jahre Staatliche Sozialpolitik, S. 193–107. 114 Engelberg, Ernst, Bismarck. Das Reich in der Mitte Europas, II, Siedler Verlag, Berlin 1998, S. 380, 382; Machtan, Lothar, Der Arbeiterschutz als sozialpolitisches Problem im Zeitalter der Industrialisierung, in: Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 13. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 28. März bis 1. April 1989 in Heidelberg (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 95), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1991, S. 125, 136. 115 „Prägend für die Sozialversicherungsgesetze war vor allem der Wille Bismarcks.“ Pflanze, Otto, Bismarck. Der Reichskanzler, C.H. Beck Verlag, München 1998, S. 407; vgl. auch Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band: Von der „Deutschen Doppelrevolution“ bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849–1914, C. H. Beck Verlag, München 1995, S. 908–915; Born, Karl Erich, Die Motive der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, in: Die Arbeiterversicherung 62 (1960), S. 35/36. Vgl. auch Zöllner, Landesbericht, S. 72/73. 116 Engelberg, Bismarck, II, S. 386; Gall, Lothar, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Ullstein Verlag, Berlin 1997, S. 756; Rothfels, Hans, Prinzipienfragen der Bismarckschen Sozialpolitik, in: Hans Rothfels, Bismarck, der Osten und das Reich, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1960, S. 178–180; Syrup, Hundert Jahre Staatliche Sozialpolitik, S. 82–84; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, III, S. 909. Vgl. dazu auch die Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, hg. von Karl Erich Born/Hansjoachim Henning und Florian Tennstedt, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur kaiserlichen Sozialbotschaft (1867–1881), Bd. 2: Von der Haftpflichtgesetzgebung zur Ersten Unfallversicherungsvorlage, bearb. von Florian Tennstedt und Heidi Winter, Gustav Fischer Verlag, Stuttgart u.a. 1993, N. 83, S. 237/238. Dagegen legten das Zentrum und die Sozialdemokratie den Schwerpunkt ihrer Sozialpolitik auf den Arbeiterschutz. Machtan, Arbeiterschutz, S. 122, 132–134.

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zeit nach 1945 hinein.117 Kaiser Wilhelm II. entzweite sich vordergründig auch wegen der Sozialpolitik 1890 mit dem Reichskanzler, da er eine aktive staatliche Arbeiterschutzpolitik unterstützte,118 diese jedoch nur in rudimentären Ansätzen verwirklichte, bevor er einer destruktiven Arbeiterpolitik stärkeres Gewicht beimaß.119 Die deutsche Sozialversicherung vor 1914 zeichnete sich durch einen Versicherungszwang für relativ breite Kreise der Arbeitnehmerschaft aus, der kommerzielle Versicherungen grundsätzlich ausschloss und dem Einzelnen nur bei der Krankenversicherung eine Wahl zwischen verschiedenen Kassen ließ.120 Zwischen 1883 und 1889 traten die drei grundlegenden Säulen der Sozialversicherungsgesetze in Kraft. Die langwierigen Auseinandersetzungen um die Durchsetzung des Unfallversicherungs-, Krankenversicherungs- und Invaliditäts-/Altersversicherungsgesetzes zwangen zu weitreichenden Kompromissen. Hinzu kam die mangelnde Erfahrung der Bürokratie mit diesem gänzlich neuartigen Politikfeld, so dass die Sozialversicherungsgesetzgebung des Reiches bis zur Reichsversicherungsordnung von 1911 mehrmals weiterentwickelt werden musste, was die Thematik permanent aktuell hielt.121 Das Augenmerk galt bei den Sozialversicherungsgesetzen vornehmlich den erwerbstätigen Arbeitern, um diese von der Sozialdemokratie abzuziehen und somit das politische Stabilisierungsinteresse zu erfüllen.122 Allerdings darf auch nicht übersehen werden, 117 Hentschel, Volker, Das System der sozialen Sicherung in historischer Sicht 1880 bis 1975, in: Archiv für Sozialgeschichte 18 (1978), S. 310. 118 Born, Karl Erich, Staat und Sozialpolitik seit Bismarcks Sturz. Ein Beitrag zur Geschichte der Innenpolitischen Entwicklung des Deutschen Reiches 1890– 1914, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1957, S. 31/32; Röhl, John C. G., Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888–1900, C.H. Beck Verlag, München 2001, S. 300–302. 119 Born, Staat und Sozialpolitik, S. 140/141, 177–205, 213–216, 242–251; Real, Willy, Die Sozialpolitik des Neuen Kurses, in: Zur Geschichte und Problematik der Demokratie. Festgabe für Hans Herzfeld, Duncker & Humblot, Berlin 1958, S. 442–446, 449–452. 120 Peters, Horst, Die Geschichte der sozialen Versicherung, Asgard-Verlag, Sankt Augustin 31978, S. 56–60, 62; Ritter, Sozialstaat, S. 84. 121 Frerich/Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 1, S. 95–107, 110–116; Peters, Geschichte der sozialen Versicherungen, S. 54–56, 60–62, 64–67; Born, Karl Erich/Rassow, Peter, Vorwort, in: Akten zur staatlichen Sozialpolitik in Deutschland 1890–1914, hg. von Karl Erich Born und Peter Rassow, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1959, S. XIII. 122 Hillgruber, Andreas, Otto von Bismarck. Gründer der europäischen Großmacht Deutsches Reich, Musterschmidt, Göttingen u.a. 1979, S. 91; Tennstedt, Florian, Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zum

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dass damit von weiteren Problembereichen in der Arbeitswelt des Kaiserreiches, wie der absoluten Herrenstellung der Unternehmer gegenüber den Arbeitern, der minderen Rechtsstellung der Arbeiter oder des „freien Arbeitsvertrages“ nahezu ohne Absicherung für die Arbeiter, abgelenkt wurde.123 Mit der Reichsversicherungsordnung von 1911 sollten dann Verfahren und Verwaltung der Versicherungen einheitlich gestaltet und der Kreis der Versicherungspflichtigen erweitert werden. Im selben Jahr trat das Angestelltenversicherungsgesetz in Kraft, das anstelle einer Ausweitung des Invalidenversicherungsgesetzes eine eigenständige Versicherung für Angestellte vorsah.124 Bei der Sozialversicherung folgten die entsprechende Gesetzgebung und Verwaltung, die mehr als die erst später für die Individuen erfahrbaren Leistungen zu einer gesellschaftlichen Integration der Arbeiter beitragen konnte, dicht aufeinander. 125 Die Leistungen der Versicherungen blieben jedoch bescheiden und erfüllten, kam ein Arbeiter in die missliche Lage darauf angewiesen zu sein, kaum die existentiellen Bedürfnisse, wenn überhaupt eine Zahlung erfolgte.126 Weiterhin blieben weite Kreise der Bevölkerung von den Versicherungsleistungen ausgespart, so dass sich die Suche nach einer wirksameren Sozialpolitik bis zum Ersten Weltkrieg fortsetzte.127 Ersten Weltkrieg, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1981, S. 146/147,165– 197. Daneben verweist Reidegeld auf eine starke Gegenbewegung innerhalb der Arbeiterschaft, die eine Vereinnahmung der selbstorganisierten Arbeitersozialpolitik durch den Staat nicht akzeptieren wollte. Reidegeld, Staatliche Sozialpolitik, S. 149, 242/243, 250. 123 Reidegeld, Eckart, Staatliche Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und theoretische Analyse von den Ursprüngen bis 1918, Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, S. 244/245. Zu den steigenden Zahlen der Versicherten, der Einnahmen und der Ausgaben vgl. Hohorst, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, S. 153–157. 124 Frerich/Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 1, S. 110–116; Hentschel, System der sozialen Sicherung, S. 316; Peters, Geschichte der sozialen Versicherungen, S. 77–80, 92/93. 125 Henning, Hansjoachim, Aufbau der Sozialverwaltung, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 3: Das Deutsche Reich bis zum Ende der Monarchie, hg. von Kurt G. A. Jeserich, Hans Pohl und Georg-Christoph von Unruh, DVA, Stuttgart 1984, S. 309/310. 126 Hentschel, System der sozialen Sicherung, S. 329–331; Stolleis, Historische Grundlagen, S. 249, 254; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, III, S. 914. 127 Ritter, Sozialversicherung, S. 30–40, 55; Tampke, Jürgen, Bismarcks Sozialgesetzgebung: Ein wirklicher Durchbruch? In: Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850–1950 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 11), hg. von Wolfgang J. Mommsen, Klett-Cotta, Stuttgart 1982, S. 80, 91.

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Stellten die einzelnen Versicherungen erste Bausteine einer Grundsicherung hauptsächlich für männliche Arbeitnehmer dar – Leistungen wurden durch die Sozialverwaltung als Rechtsansprüche verwaltet und verteilt, was einen grundsätzlichen Rechtsanspruch der Versicherten nach sich zog –,128 so waren die Benachteiligten insbesondere Frauen. Sowohl in jungen Jahren, in denen Frauen Kinder großzogen, als auch in älteren Jahren, die durch nicht vorhandene Rentenansprüche beziehungsweise durch an den Ehemann gekoppelte Ansprüche gekennzeichnet waren, fehlte die staatliche Unterstützung nahezu vollständig.129 Allerdings profitierten die Frauen wenigstens indirekt etwas von den sozialen Leistungen des Staates für seine Arbeiter. Das Gesundheitswesen verbesserte sich durch die finanziellen Beiträge der gesetzlichen Krankenkassen, der Unfall- und der Invalidenversicherung, wie durch wesentlich bessere Rahmenbedingungen und eine veränderte Haltung der Bevölkerung zur Gesundheitsvorsorge und zu den Gesundheitsinstitutionen.130 Die Schutzbestimmungen für Frauenarbeit wurden nach 1890 in Folge der Arbeiterschutzbestimmungen langsam auf niedrigem Niveau ausgeweitet.131 Den Sozialversicherungen gebührt das Verdienst einen ersten, wenn auch kleinen Schritt der Umverteilung zugunsten der schlechter Gestellten bereitet zu haben: Die Beiträge zur Kranken- und Alters-/ Invalidenversicherung wurden lohnabhängig gestaltet. Der Reichszuschuss zur Alters-/Invalidenrente wirkte nivellierend. Medizinische Leistungen kamen allen Versicherten in gleichem Maße zugute. In der Krankenversicherung wurden Familienmitglieder zunehmend mitbehandelt.132 Die Transferzahlungen des Staates für soziale Leistungen und Unterstützungen vielfältiger Art stiegen langsam aber 128 Henning, Aufbau der Sozialverwaltung, S. 310. 129 Dreher, Wolfgang, Die Entstehung der Arbeiterwitwenversicherung in Deutschland nach z. T. unveröffentlichten Quellen (Sozialpolitische Schriften 39), Duncker & Humblot, Berlin 1978, S. 66–71,77; Ritter, Sozialstaat, S. 94/95; Ritter, Sozialversicherung, S. 55/56. 130 Hohorst, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, S. 142/143, 150–153; Ritter, Sozialstaat, S. 97; Ritter, Sozialversicherung, S. 62–67. 131 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 79, 360. 132 Ritter, Sozialversicherung, S. 75. Eine hervorragende Aufschlüsselung der sozialen Umverteilungseffekte bietet Reuter, Hans-Georg, Verteilungs- und Umverteilungseffekte der Sozialversicherungsgesetzgebung im Kaiserreich, in: Staatliche Umverteilungspolitik in historischer Perspektive. Beiträge zur Entwicklung des Staatsinterventionismus in Deutschland und Österreich (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge 109), hg. von Fritz Blaich, Duncker & Humblot, Berlin 1980, S. 107–163.

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stetig an.133 Unverkennbar, doch von der deutschen Öffentlichkeit im Kaiserreich kaum gewürdigt, verbesserte sich auch langfristig die Absicherung breiter Schichten der Bevölkerung gegen Unwägbarkeiten des Lebens und zudem wurde, von Bismarck unbeabsichtigt, einer aktiven Teilnahme der Arbeiter an der Ausgestaltung der Sozialpolitik der Weg bereitet.134 Es fand ein Ausbau in Richtung der Familienversicherung, in Richtung weiterer sozialer Gruppen und Schichten und in Richtung anderer Tatbestände als Invalidität, Krankheit und Alter statt.135 Die Entwicklung der betrieblichen Sozialpolitik blieb jedoch demgegenüber in rudimentären Anfängen stecken und von staatlichen Einflüssen unberührt.136 Somit bestand die Vorrangstellung des Staates hinsichtlich der Sozialpolitik bis zum Ersten Weltkrieg fort. Erst auf Druck des Krieges – Machtzuwachs der Gewerkschaften, Förderung der Gleichberechtigung der Arbeiterschaft auf (über-)betrieblicher Ebene durch eine neue, den inneren Frieden erhaltende Sozialpolitik des Staates – wandelten sich die Verhältnisse und der Weg wurde frei für eine „verbandliche Sozialpolitik“ in der Nachkriegszeit.137

2. Berufliches und ehrenamtliches Engagement von Georg Friedrich Knapp Es muss jedoch noch einmal die Entstehung der aktiven Sozialpolitik des Staates im Deutschen Kaiserreich angesprochen werden, da nichts die soziale Entwicklung von Elly Heuss-Knapp mehr prägte als die vielschichtigen Aktivitäten und Kontakte des Vaters in diesem Bereich.

133 Hohorst, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II, S. 142. 134 Claßen, Manfred, Die staatliche Sozialpolitik von 1839 bis 1918. Eine Betrachtung unter dem Gesichtswinkel des Subsidiaritätsprinzips, Köln 1962, S. 111/112, 152; Gladen, Albin, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Eine Analyse ihrer Bedingungen, Formen, Zielsetzungen und Auswirkungen, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1974, S. 71–79. 135 Hentschel, System der sozialen Sicherung, S. 312. 136 Claßen, Sozialpolitik, S. 198/199; Schulz, Günther, Betriebliche Sozialpolitik in Deutschland seit 1850, in: Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 13. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 28. März bis 1. April 1989 in Heidelberg (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 95), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1991, S. 153–166. 137 Claßen, Sozialpolitik, S. 230–233.

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Die in diesem Umkreis mehrheitlich vertretene liberale Position – sie sollte für Elly Heuss-Knapp noch bedeutend werden – wurde bereits angesprochen. Deren Fixierung auf die „Selbstorganisation der gesellschaftlich Schwachen in freiwilligen Selbsthilfeorganisationen“138 wurde insbesondere durch den liberalen Grundgedanken des möglichst geringen Einwirkens des Staates auf die unterschiedlichsten Gesellschaftsbereiche bedingt. Nicht ganz so rigide gegen den Eingriff des Staates in soziale Belange der Gesellschaft waren die Christlich-Konservativen einschließlich des Zentrums als deren politisches Sprachrohr auf katholischer Seite. Sie konzentrierten sich, mit starkem Bezug auf die christliche Nächstenliebe und auf religiöse Momente, auf Korporationen und geringe Eindämmungsmaßnahmen der negativen Begleiterscheinungen der Industrialisierung wie die Verbesserung des Arbeiterschutzes, das Verbot der Sonntagsarbeit und eine gezielte Familien- und Wohnungspolitik.139 Das Misstrauen gegen die Staatsführung verringerte sich erst langsam mit dem Abflachen des Kulturkampfes in den 80er Jahren, so dass sich ab diesem Zeitpunkt in christlich-konservativen Kreisen eine breite Zustimmung zu staatlichen Sozialinterventionen abzuzeichnen begann.140

a) Der Verein für Socialpolitik Zwischen konservativen und liberalen Modellen muss die große, vom akademischen Bürgertum getragene Bewegung der bürgerlichen Sozialreform angesiedelt werden. Sie wurde durch einen neuen wissenschaftlich begründeten praktischen Reformwillen ausgelöst.141 Insbesondere der „Verein für Socialpolitik“ übte innerhalb dieser Bestrebungen einen bedeutenden Einfluss auf freie 138 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 335. 139 Lönne, Karl-Egon, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1986, S. 173–178, 181–183; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 335. 140 Schildt, Axel, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, C.H. Beck Verlag, München 1998, S. 107/108. 141 Bruch, Rüdiger vom, Bürgerliche Sozialreform im deutschen Kaiserreich, in: Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, hg. von Rüdiger vom Bruch, C.H. Beck Verlag, München 1985, S. 64. Zum ideengeschichtlichen Hintergrund vgl. Plessen, Marie-Louise, Die Wirksamkeit des Vereins für Socialpolitik von 1872–1890. Studien zum Katheder- und Staatssozialismus, Duncker & Humblot, Berlin 1975, S. 19–35.

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Berufe, Pastoren und die Beamtenschaft aus.142 Dessen bedeutendste Vertreter waren neben Gustav Schmoller, der als Gründer und lange Zeit als die unbestrittene Führungsfigur galt,143 Lujo Brentano, Adolph Wagner, Gustav Schönberg und Albert Schäffle. Die so genannten „Kathedersozialisten“ – eine polemische Bergriffsbildung von wirtschaftsliberaler/manchesterkapitalistischer Seite, die jeglichen Eingriff in den Wirtschaftsablauf als „sozialistisch“ brandmarkte –144 betrachteten das wirtschaftliche und soziale Leben als Teil des historischen Geschehens. Sie gelangten zu der Auffassung, dass ein regulierender Eingriff – von Seite des Staates und nur von dessen Seite – in die Wirtschaft zur Besserung der sozialen Verhältnisse führen werde. Hierfür wollten sie dem Staat die notwendigen Kenntnisse und Ratschläge geben, mit denen dieser dann entsprechende Maßnahmen einleiten sollte. Im Vordergrund stand immer die Erarbeitung empirischer und theoretischer Grundlagen.145 Dies schloss private Initiativen nicht aus, ja unterstützte diese sogar, um auch mit sozialer Selbsthilfe die Nachteile der kapitalistischen Wirtschaft einzudämmen. Hier zeigten sich bereits deutlich die grundlegenden Unterschiede der konservativen und liberalen Sozialpolitiker innerhalb des Vereins für Socialpolitik. Während die eher konservativ gesinnten um Schmoller privaten Selbsthilfen alleine keine regulierenden Fähigkeiten zutrauten und den Eingriff des Staates als notwendig erachteten, um eben diesen Staat vor sozialen Erschütterungen zu bewahren, zeigten sich die liberalen Gesinnungsgenossen um Brentano überzeugt, dass auf staatliche Interventionen nur im Falle des Versagens des Wettbewerbsmechanismus zurückgegriffen werden müsse. Brentanos Eintreten für starke Gewerkschaften als Verhandlungspartner mit den Unternehmern unterstützte die Forderung nach Enthaltsamkeit des Staates. Er suchte lediglich von staatlicher Seite die formalen Voraussetzungen für ebenbürtige Verhandlungspositionen in der Volkswirtschaft zu schaffen, um dem Wettbewerb

142 Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 336. 143 Ritter, Sozialversicherung, S. 24. 144 Bruch, Bürgerliche Sozialreform, S. 69; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918, I, S. 336; Winkel, Harald, Die Deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert (Erträge der Forschung 74), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1977, S. 162/163. 145 Plessen, Wirksamkeit, S. 10; Winkel, Deutsche Nationalökonomie, S. 161, 167. Auf die Transformation von einer eigenständigen reformatorischen Kraft zum Bereitstellungsorgan wissenschaftlicher Erkenntnisse verweist Bruch, Bürgerliche Sozialreform, S. 65, 67.

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gerecht zu werden.146 Die Idee der Staatsintervention, mit der unbedingten Bejahung der Monarchie preußischer Prägung als deren Durchführungsorgan, ließ den Verein für Socialpolitik als Publikationsorgan der „Kathedersozialisten“ Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts zu einer der einflussreichsten Plattformen für die soziale Ausgestaltung der Gesellschaftspolitik werden. Es handelte sich nicht mehr um gelegentliche Äußerungen einzelner Gelehrter, sondern um eine von einer breiten Gelehrtenschicht getragene Ablehnung des klassischen Wirtschaftsliberalismus, nach dem sich die sozialen Schieflagen durch den Markt von selbst regeln würden. Ebenso wurde dem sozialrevolutionären Sozialismus eine Absage erteilt.147 Das wissenschaftlich untermauerte Postulat für Reformen „von oben“ zugunsten der sozial Schwachen und insbesondere die Fähigkeit Schmollers, den überwiegenden Teil der deutschen Nationalökonomen in den sozialpolitischen Kernfragen trotz weit divergierender Ansätze zu einen, rechtfertigen eine Zusammenfassung dieser heterogenen Gruppierung.148 Die Einflussmöglichkeiten auf die Ausgestaltung der Sozialpolitik des Deutschen Kaiserreiches können weniger durch eine direkte Beteiligung von Kathedersozialisten an der Gesetzgebung als vielmehr mittels ihrer Tätigkeiten in der Lehre und im Rahmen der weiten Verbreitung ihrer Veröffentlichungen, sowie anhand des Kontaktes einzelner Mitglieder des Vereins zur Ministerialbürokratie bestimmt werden. Der Verein hat sich mit der Abschaffung der Abstimmungen über Anträge zu Petitionen an den Reichstag der einzigen Möglichkeit beraubt, direkten Einfluss auf die soziale Gesetzgebung zu nehmen; andererseits stammten die Standardwerke der Volkswirtschaftslehre um die Jahrhundertwende von Schmoller und Wagner, wurden nahezu alle bedeutenden Lehrstühle Deutschlands nach 1890 von Katheder-

146 Bruch, Bürgerliche Sozialreform, S. 73, 76/77; Lindenlaub, Dieter, Richtungskämpfe im Verein für Sozialpolitik. Wissenschaft und Sozialpolitik im Kaiserreich vornehmlich vom Beginn des „Neuen Kurses“ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (1890–1914) (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 52), Teil I, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1967, S. 203, 216; Winkel, Deutsche Nationalökonomie, S. 106/107. 147 Born, Staat und Sozialpolitik, S. 36–38; Plessen, Wirksamkeit, S. 10/11; Winkel, Deutsche Nationalökonomie, S. 164–167. 148 Born, Staat und Sozialpolitik, S. 40; Winkel, Deutsche Nationalökonomie, S.  104–107, 128–134, 162; vgl. auch trotz bedenklicher Wertungen Wittrock, Gerhard, Die Kathedersozialisten bis zur Eisenacher Versammlung 1872, Verlag Emil Ebering, Berlin 1939, S. 3, 19–120.

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sozialisten besetzt und waren die Verbindungen zu kirchlich sozialen Gruppierungen ausgezeichnet.149 In diesem Umkreis darf ein herausragender Nationalökonom, der ursprünglich von der Statistik kam, nicht unerwähnt bleiben: Georg Friedrich Knapp. Der Vater von Elly Heuss-Knapp war kein unbedeutendes Mitglied im Verein für Socialpolitik. Ganz im Gegenteil, befand er sich doch von Anbeginn150 im engen Freundeskreis um Gustav Schmoller, dem er als wissenschaftlichem „Ziehvater“ zudem noch tief verbunden war, an exponierter Stelle.151 Die thematische und programmatische Ausrichtung innerhalb des Vereins kann für die Sozialisation im Hause Knapp nicht hoch genug bewertet werden. Daher ist es notwendig, einen Blick auf einige sozialpolitische Grundüberzeugungen Georg Friedrich Knapps zu werfen. Die vom Staat beschrittene Sozialpolitik wurde von ihm durchaus positiv gesehen. Gewiss gingen die Arbeiterschutzmaßnahmen unter Bismarck nicht weit genug, um den Ansprüchen der meisten „Kathedersozialisten“ zu entsprechen. Allerdings wurde Bismarck als Gesinnungsgenosse der eigenen Positionen betrachtet, der lediglich aus pragmatischen Gesichtspunkten gegenüber anderen Gesellschaftsgruppen Abstriche machen musste.152 Die Positionen der Mehrheit im Verein, die sich um Schmoller sammelte und für die auch Knapp im Großen und Ganzen stehen sollte, können sehr gut insofern klassifiziert werden, als dessen Mitglieder staatstheoretisch für eine aktive Sozialpolitik und staatliche Interventionen zur Sicherung der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung eintraten.153 Eine aktive Mitwirkung an sozialpolitischen Fragestellungen durch Einflussnahmen und theoretische Fundierungen war demnach ein ganz wichtiges Motivationselement Georg Friedrich Knapps. Er 149 Anderson, Pauline R., Gustav von Schmoller, in: Deutsche Historiker, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1973, S. 167; Born, Staat und Sozialpolitik, S. 45; Bruch, Bürgerliche Sozialreform, S. 71; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 370; Lindenlaub, Richtungskämpfe, S. 30–33, 35/36. 150 Lindenlaub, Richtungskämpfe, I, S. 7, 11. 151 Lindenlaub, Richtungskämpfe, I, S. 161. NL Schmoller 130a, Bl. 208/209. Der intensive Austausch zwischen Georg Friedrich Knapp und Gustav Schmoller, jegliche Fragen den Verein für Socialpolitik betreffend, kann für die Zeit vor Knapps Professur in Straßburg durch die Briefe Knapps im NL Schmoller 130a eindeutig belegt werden. 152 Schmoller, Gustav, Vier Briefe über Bismarcks sozialpolitische und volkswirtschaftliche Stellung und Bedeutung, in: Gustav Schmoller, Charakterbilder, Duncker & Humblot, München/Leipzig 1913, S. 39–61. 153 Müller, Volker, Staatstätigkeit in den Staatstheorien des 19. Jahrhunderts (Studien zur Sozialwissenschaft 108), Westdeutscher Verlag, Opladen 1991, S. 359.

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befand sich damit ganz auf der Linie seines Freundes Schmoller, dessen Basis eine sorgfältige historische Erforschung jeder einzelnen Frage als Grundlage für praktische soziale Reformvorschläge war.154 Ein Grundzug des sozialpolitischen Handelns seiner Tochter Elly war hier bereits angelegt. Was waren nun die wichtigen konkreten sozialpolitischen Forderungen Knapps innerhalb dieser Gruppierung um Schmoller und inwieweit hielten diese, soweit das überhaupt festgestellt werden kann, Einzug in die familiäre Sozialisation von Elly Knapp? Die Arbeiterschutzforderungen des Vereins, die unumschränkt die Zustimmung Knapps erfuhren, ja zu einem nicht geringem Teile von diesem überhaupt erst auf eine tragbare Kompromissposition gebracht wurden,155 umfassten zum Schutz der Schwachen und Hilfsbedürftigen eine allgemeine Sonntagsruhe, das Verbot der Fabrikarbeit für Kinder unter 14 Jahren, die Festsetzung von Maximalarbeitszeiten für Jugendliche unter 18 Jahren und für Frauen, das Verbot der Nachtarbeit für dieselben und die reichsgesetzliche Einführung einer staatlichen Fabrikinspektion zur Kontrolle der Arbeitsverhältnisse in den Fabriken.156 Den Arbeitern sollten also die Lebensumstände sowohl im Betrieb, als auch durch längere Freizeit im privaten Bereich erleichtert werden. Mit dieser exemplarischen Auflistung soll verdeutlicht werden, dass als vorrangiges Ziel die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Menschen im Deutschen Reich angestrebt wurde. Nicht zuletzt wegen des sinkenden Einflusses des Vereins auf politische Entscheidungsträger seit den 80er Jahren, was nicht zuletzt durch das Aufkommen einer modern organisierten Verbandsöffentlichkeit befördert wurde,157 und aufgrund veränderter sozialpolitischer Verhältnisse sprach sich insbesondere die jüngere, zweite Generation um Max Weber und Wer154 Vgl. Anderson, Gustav von Schmoller, S. 148. Mehrmals betont Knapp selbst in seinen persönlichen Nachrufen zu bedeutenden Wegbereitern seines akademischen Werdeganges die historische Fundierung der Sozialpolitik – nicht zuletzt mit Hilfe der Statistik – und die notwendige öffentliche Propagierung derselben. Knapp, Georg Friedrich, Grundherrschaft und Rittergut. Vorträge nebst biographischen Beilagen, Duncker & Humblot, Leipzig 1897, S. 142, 145, 159. 155 Schmoller, Gustav, Zum 70. Geburtstag von Georg Friedrich Knapp, in: Gustav Schmoller, Charakterbilder, Duncker & Humblot, München/Leipzig 1913, S. 289/290. 156 Born, Staat und Sozialpolitik, S. 41. 157 Vgl. Anderson, Schmoller, S. 161; Krüger, Dieter, Max Weber und die „Jüngeren“ im Verein für Sozialpolitik, in: Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 21), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen/Zürich 1988, S. 99.

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ner Sombart innerhalb des Vereins nach der Jahrhundertwende ganz offen gegen ethische Postulate aus und forderte eine Wissenschaft, die nur den IstZustand der Gesellschaft und lediglich geeignete Rahmenbedingungen für ein funktionierendes freies Spiel der Marktkräfte aufzeigen sollte.158 Das widersprach natürlich den Intentionen der älteren Generation, zu der auch Georg Friedrich Knapp gehörte. Für diese war es undenkbar, sich auf Rahmenbedingungen zu beschränken und keine auf Einkommensumverteilung, Klassenaussöhnung und Kontrolle der kapitalistischen Entwicklung zielende Sozialpolitik einzufordern, die ethischen Maßstäben – wie auch immer diese auszusehen hatten – genügte.159 Das Moment einer ethischen Fundierung der Sozialpolitik deutet nicht allein auf eine konservative Grundausrichtung der älteren Generation. Die vermutlich bedeutendste Differenz zwischen – um es zu personalisieren – Schmoller (Knapp) und Max Weber (Sombart) bestand in der weit auseinander liegenden Einschätzung der Rolle des Staates bei der Ausgestaltung der Sozialpolitik. Die Frage, wie weit der Staat in die Wirtschaft eingreifen und ob die Bürokratie eine sozial ausgleichende oder eine gesellschaftlich-sozialpolitisch dämpfende Rolle einnehmen solle, kennzeichnete die scharfen Differenzen zwischen Schmoller und Weber.160 Blickt man auf das Privatleben in der Familie Knapp, so lässt sich diagnostizieren, dass ohne Zweifel die Ansichten des Vaters die Zustimmung der ganzen Familie fanden und auch dementsprechend vorgelebt wurden. Aktive Teilnahme an den Ängsten und Nöten der Mitmenschen und deren Unterstützung in vielfältiger Hinsicht prägten als soziale Verpflichtung das gesamte Familienleben. Dass insbesondere bei Elly genau in der Frage der aktiven Sozialpolitik der eigene Prozess der Meinungsbildung in einer Ausbalancie158 Lenger, Friedrich, Werner Sombart 1863–1941, C.H. Beck Verlag, München 21995, S. 93. Ein einigendes Moment war die Forderung nach einer Modernisierung des politischen und sozialen Systems zugunsten einer Gleichberechtigung und Integration der Arbeiterschaft, damit diese ihre Interessen im Spiel der Kräfte angemessen vertreten könnte. Kaesler, Dirk, Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, Campus, Frankfurt/New York 32003, S. 240; Krüger, Max Weber, S. 105, 111. 159 Born, Staat und Sozialpolitik, S. 40; Kaesler, Max Weber, S. 240; Krüger, Max Weber, S. 102, 111. 160 Krüger, Max Weber, S. 109. Wie sehr Gustav Schmoller in der Geschichtswissenschaft und auch in den Sozialwissenschaften vernachlässigt wird verdeutlicht insbesondere die Publikationsflut zu Max Weber im Verhältnis zu den wenigen Veröffentlichungen, die sich mit Schmoller und seinem Werk befassen, was nicht nur mit der Verwendung von herausragenden Weberschen Analyseansätzen erklärt werden kann.

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rung der Positionen ihres Vaters und der Vertreter der zweiten Generation im Verein für Socialpolitik bestand, ist für ihr soziales Engagement grundlegend.

b) Die Professur für Nationalökonomie an der Kaiser-WilhelmUniversität in Straßburg Neben dem sozialpolitischen Hintergrund aus dem „Verein für Socialpolitik“ beeinflusste die Familie Knapp nicht minder das akademische Leben in Straßburg. Der Weg nach Straßburg war alles andere als vorgezeichnet. Die Konditionen, zu denen Georg Friedrich Knapp bereit war, Leipzig, den Ort seiner Tätigkeit als Statistiker, zu verlassen, waren präzise formuliert: eine mindestens ebenso günstige Stellung an einer Zentralbehörde unter der Bedingung eines Zusammenhangs mit einer Universität und eine Professur an einer deutschen Universität neben einem Nationalökonomen.161 Dass die an Gustav Schmoller gerichteten Forderungen diesen veranlassen sollten, Knapp nach Straßburg zu holen, war unschwer zu erkennen. Und Schmoller versuchte auch alles, um dies in die Wege zu leiten, was mit der Berufung Knapps schließlich 1874 gelang.162 Seit 1875 war Knapp dann ordentlicher Professor an der Kaiser-Wilhelm-Universität, wodurch er auf die Leitung eines statistischen Büros leichten Herzens verzichten konnte. Die deutsche Reichsverfassung war im Jahre der Berufung Knapps für das Elsass und für Lothringen in Kraft getreten und unterstellte die beiden Gebiete der Staatsgewalt des deutschen Kaisers.163 Seine Berufung erfolgte demnach direkt durch Wilhelm II. Die im Elsass gelegene Straßburger Universität sollte zu einer deutschen Musterhochschule ausgebaut werden und für dieses Vorzeigeprojekt wurden erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt.164 Sie bezogen sich nicht nur auf einen großzügigen, raschen Ausbau der Universitätsgebäude und den Aufbau einer hervorragend ausgestatte161 NL Schmoller 130a, Bl. 68/69. 162 NL Schmoller 130a, Bl. 6, 208/209, 212–214. 163 Huber, Ernst Rudolf (Hrsg.), Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1900, Stuttgart u.a. 31986, S. 444– 454. 164 Fisch, Stefan, Das Elsass im deutschen Kaiserreich (1870/71–1918), in: Das Elsass. Historische Landschaft im Wandel der Zeiten, hg. von Michael Erbe, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2002, S. 137; Titze, Hartmut, Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1: Hochschulen, 2. Teil: Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten 1830–1945, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995, S. 510.

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ten Bibliothek, sondern auch auf die Berufung exzellenter, vornehmlich junger Wissenschaftler, die vom Reformgeist der Universität angezogen wurden. Die Straßburger Universität konnte sich daher innerhalb kürzester Zeit einen exzellenten Ruf in der deutschen Universitätslandschaft erarbeiten und wurde auch für Elsässer immer attraktiver.165 Ohne Zweifel beeinflusste die reformfreudige Ausrichtung und die wissenschaftliche Qualität in der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät Georg Friedrich Knapps Werdegang in Straßburg. Welche Universität konnte sich mit zwei volkswirtschaftlichen – damals nationalökonomisch genannten – Ordinariaten schmücken, die zudem von herausragenden Gelehrten (Schmoller und Knapp, später dann Knapp und Brentano) besetzt wurden?166 Seine wissenschaftlichen Forschungen standen zwar nach wie vor im Schatten derjenigen seines bewunderten Lehrers Gustav Schmoller167, doch waren seine Veröffentlichungen eigenständige Arbeiten, denen die akademische Anerkennung nicht verwehrt blieb. Neben dem Schwerpunkt auf der Bevölkerungsstatistik aus seinen Leipziger Jahren widmete er sich in Straß165 Baumgarten, Marita, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 121), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997, S. 220; Fisch, Elsass, S. 137. In der Tendenz äußerst problematisch, dennoch die Fakten bestätigend: Aurich, Ernst, Geschichte der deutschen Universität Strassburg, in: Festschrift aus Anlass der feierlichen Wiederaufnahme der Lehrund Forschungstätigkeit an der Reichsuniversität Strassburg, Hünenburg-Verlag, Strassburg 1941, S. 122–127. Zumeist kaiserreichfreundlich und somit erst recht die gute Ausstattung, das gute Arbeitsklima und den guten Ruf bestätigt die Erinnerungsliteratur der Zeitgenossen, die mit der Universität in Berührung kamen. Vgl. etwa Baeumker, Clemens, in: Die Deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Zweiter Band, hg. von Raymund Schmidt, Verlag Felix Meiner, Leipzig 1921, S. 44/45; Fischer, Emil, Erinnerungen aus der Straßburger Studienzeit. 1872 bis 1875, in: Adolf von Bayer, Gesammelte Werke, Erster Band, hg. von seinen Schülern und Freunden, Verlag Friedrich Vieweg und Sohn, Braunschweig 1905, S. XXI–XXVII; Loche, Alfred Erich, Straßburg und seine Universität. Ein Buch der Erinnerung, Lehmanns Verlag, München/Berlin 1939. 166 Dehio, Ludwig, Die Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg, in: Das Reichsland Elsass-Lothringen 1871–1918, Bd. III: Wissenschaft, Kunst und Literatur in Elsass-Lothringen 1871–1918, hg. im Auftrage des wissenschaftlichen Instituts der Elsass-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt von Georg Wolfram, Frankfurt am Main 1934, S. 8. Wird die apologetisch nationalistische Sicht des Autors bedacht, so lassen sich hier dennoch recht gut die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Universität und Beamtenschaft, katholischer Ausrichtung und protestantisch preußischer Interessenwahrung in der Universität und die widerstreitenden gesellschaftlichen Interessengruppen bei der Neubesetzung von Professuren erkennen. 167 Dies erkannte er selbst sehr deutlich. NL Schmoller 130a, Bl. 98/99.

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burg zunächst hauptsächlich der Agrargeschichte, bis er schließlich mit seiner „Staatlichen Theorie des Geldes“ sein drittes wichtiges Arbeitsfeld fand. Seine Reputation war bereits vor seiner weltweit für Aufsehen sorgenden Geldtheorie unumstritten.168 Schließlich sollten seine wissenschaftlichen Leistungen auch dazu beitragen, dass er Rektor der Straßburger Universität wurde. Die Atmosphäre für einen Wissenschaftler an der Universität würde jedoch nicht deutlich ohne noch einmal die prachtvolle Bibliothek169 und das Auditoriengebäude mit einem geradezu kaiserlichen Senatssaal, einem groß dimensionierten Glashof und weitläufigen Räumen monumentaler wilhelminischer Bauweise zu erwähnen – neben weiteren herausragenden Universitätsbauten wie der Sternwarte der Universität, die für Georg Friedrich Knapp jedoch verständlicherweise nur eine untergeordnete Rolle spielten, den Gesamteindruck aber abrundeten.170 Trotz seiner zunehmenden Verwaltungsaufgaben vernachlässigte Georg Friedrich Knapp niemals die Lehre und veröffentlichte während seiner Straßburger Lehrzeit ein Œuvre, das in der deutschen Nationalökonomie im Hinblick auf Qualität und Quantität herausragt. Die wichtigsten selbständigen Veröffentlichungen sind sicherlich „Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Teilen Preußens“ (1887) und „Die staatliche Theorie des Geldes“ (1905). Die von ihm herausgegebenen „Abhandlungen aus dem staatswissenschaftlichen Seminar zu Straßburg“ vereinen die Arbeiten seiner Schüler hinsichtlich der Bauernbefreiung in anderen Ländern und runden Knapps Untersuchungen für Preußen ab.171 Die wissenschaftliche Tätigkeit mitsamt den Verpflichtungen für den Verein für Socialpolitik und die Universität zollten dem Familienleben insofern natürlich Tribut als die Kinder ihren Vater oft 168 Schröter, Harm G., Georg Friedrich Knapp, in: Deutsche Biographische Enzyklopädie, hg. von Walther Killy und Rudolf Vierhaus, Bd. 5: Hesselbach-Kofler, K.G. Saur Verlag, München 1997, S. 612/613. Vgl. nur beispielhaft die Besprechungen seiner Werke von Gothein und Neuburg in der Historischen Zeitschrift: HZ 62 (1889), S. 358–363 und HZ 70 (1893), S. 178–182. 169 Wolfram, Georg, Die Bibliotheken, in: Das Reichsland Elsass-Lothringen 1871–1918, Bd. III: Wissenschaft, Kunst und Literatur in Elsass-Lothringen 1871–1918, hg. im Auftrage des wissenschaftlichen Instituts der Elsass-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt von Georg Wolfram, Frankfurt am Main 1934, S. 40–45. 170 Dehio, Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg, S. 17, 21, 23, 25, 27. 171 Vgl. Familienarchiv Knapp, „Zusammenstellung“. Hier sind die wichtigsten Lebensdaten, Veröffentlichungen (auch herausgegebenen Schriften) und die von Elly rekonstruierten Vorlesungen und Seminare aus Straßburg aufgelistet. Vgl. auch die beiden Vorworte von Elly Heuss-Knapp zu den zwei Auflagen der Jugenderinnerungen. Knapp, Georg Friedrich, Eine Jugend, hg. von Elly HeussKnapp, DVA, Stuttgart 21947, S. 5–12.

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Abb. 4  Georg Friedrich Knapp in hohem Alter nach dem Ersten Weltkrieg.

entbehren mussten. Auch manche Erholungsaufenthalte, die fast immer in Verbindung mit Wissenschaftskollegen standen und somit durchaus auch als Austausch unter Gelehrten verbucht werden können, verbrachte der Vater ohne seine Familie außerhalb von Straßburg.172 Doch bedeutet dies nicht, dass Georg Friedrich Knapp keinen Anteil am Familienleben nahm. Ganz im Gegenteil tat er alles für seine Familie und richtete seine knapp bemessene, frei zur Verfügung stehende Zeit ganz zum Wohle derselben ein.173 Neben der geringen häuslichen Bindung stand dennoch die Familie im Lebensmittelpunkt des deutschen Gelehrten, ein in der Tat deutsches Spezifikum – insbesondere im Vergleich zu Frankreich.174

172 So etwa ein Erholungsaufenthalt in Kissingen 1883. Vgl. NL Schmoller 130a, Bl.127/128. 173 Mit seiner Frau Lydia und den Kindern Marianne und Elly gönnte er sich etwa 1886 vier Wochen Entspannung im Schwarzwald – natürlich nicht ohne Korrekturen zu lesen. Vgl. NL Schmoller 130a, Bl. 439/440. 174 Kaelble, Nachbarn am Rhein, S. 47f. Der Vorrang der Familie wird in einem Brief an Schmoller 1894 von Knapp explizit bestätigt. NL Schmoller 130a, Bl. 354/355.

Erziehung und Aufwachsen im Elternhaus Knapp  |

3. Erziehung und Aufwachsen im Elternhaus Knapp Diesen Hintergrund gilt es zu bedenken, wenn die junge Elly als heranwachsendes Kind eines der bedeutendsten Nationalökonomen Deutschlands erkennbar werden soll. Es gibt nur ganz wenig Stellungnahmen des Vaters zu seinen beiden Töchtern. So wichtig die Familie war, so wenig wurde diese zum Thema in Briefen und Unterhaltungen, die meist mit hoch gebildeten Gelehrten stattfanden und sich auf wissenschaftliche Themen beschränkten.175 Daher müssen aus dem nahen Umfeld und von Elly Knapp selbst ihre Jugendprägungen fassbar werden.

a) Die Kindheit und Jugend in einer bildungsbürgerlichen Familie Natürlich hatte Elly Sehnsucht nach dem Vater, wenn sich einer der beiden nicht in Straßburg befand, was sich in zahlreichen Briefen widerspiegelt.176 Gewiss kommt bei ihr hier auch die fehlende elterliche Nähe in der frühesten Kindheit zum Ausdruck. Doch es kann nicht davon die Rede sein, dass sie dadurch einen zurückhaltenden, schüchternen oder gar traurigen Wesenszug bekam. Ganz im Gegenteil wirkte sie wie ein sehr gut entwickeltes Kind177 und bestach im jungen Erwachsenenalter durch ihr „ruhiges, kluges, tieferes Wesen und die Art ihres Erzählens machte einen ungemein gewinnenden Eindruck“178. Das sind sicherlich Eigenschaften, die von einer glücklichen und von erwachsenen Bezugspersonen beeinflussten Kindheit zeugen. Und dies war ihr durchaus beschieden. Intime Nähe, die sich in Berührungen, Umarmungen, Küssen und jeglicher Art körperlicher Annäherungen äußert, war ihr dagegen aus ihrer Sozialisation heraus fremd. Welche Schwierigkeiten ihr körperliche Nähe – insbesondere von Fremden – verursachte, wurde in Briefen aus Grenoble deutlich, in denen sie ihrem Vater schreibt, wie unangenehm sie es findet, sich „vor 150 Leuten küssen zu lassen“.179 Was aber nicht 175 Die einzige ergiebige Quelle hierfür sind die Briefe von Georg Friedrich Knapp an seinen wissenschaftlichen Mentor und Freund Gustav Schmoller. 176 Um nur zwei Briefe anzuführen, in denen sie ganz deutlich ihre Sehnsucht nach dem Vater erwähnt: Briefe von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Freiburg vom 19. Juli 1905, aus Berlin-Schöneberg vom 17. Juli 1908. 177 NL Schmoller 130a, Bl.11/12. 178 Brief von Knapp an Schmoller vom 15. März 1906. NL Schmoller 131a, Bl. 206/207. 179 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Grenoble vom 5. September 1902.

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bedeuten kann, dass die Liebe zu ihren nächsten Verwandten geringer war als bei emotional euphorischeren und körperlich anschmiegsameren Jugendlichen. Die Briefe und Veröffentlichungen von Elly lassen sehr deutlich ihre Bewunderung, Hochschätzung und nicht zuletzt ihre Liebe für den Vater erkennen. Würde sich eine Tochter mehr um die Herausgabe der Jugenderinnerungen ihres verstorbenen Vaters bemühen als um ihre eigenen Veröffentlichungen und mit Nachdruck eine Neuauflage beim Verlag erwirken, wenn sie nicht in tiefer Verbundenheit, ja in großer Liebe zu ihm gestanden hätte?180 Die Bindung zu Georg Friedrich Knapp war überaus stark und trug sehr zu Ellys Charakterbildung bei, auch wenn dieser die meiste Zeit des Tages außer Haus war. Wie bewusst dagegen die junge Elly die Krankheit und damit das Fehlen ihrer Mutter im nahen Umfeld der Straßburger Heimat wahrgenommen hat, kann nur vermutet werden. Lydia von Karganow war seit 1886 nicht mehr in Straßburg und verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens in Kurhäusern, Erholungsstätten und Krankenhäusern.181 Ihre geliebte Heimat fehlte ihr sehr und es war für sie nicht länger möglich, ein bildungsbürgerliches Leben mit ihrer Familie in Straßburg zu führen. Die Krankheit der Mutter wurde niemals thematisiert. Die Kinder wussten nichts Genaues über die Krankheit und fanden sich damit ab, dass die Mutter den Verlust ihrer Heimat als Lebensmittelpunkt nicht verwunden hat und daher psychisch betreut werden musste. Allerdings erwähnt Elly einmal in ihrem Tagebuch, dass sie Angst vor dem Besuch bei ihrer Mutter hat. Der Vater hingegen beschäftigte sich intensiv mit dem Krankheitsverlauf seiner Frau und fertigte darüber auch Aufzeichnungen an. Diese Aufzeichnungen tragen jedoch leider nicht zu einer konkreten Krankheitsdiagnose bei. Es werden nur die psychischen Zustände beschrieben.182 Es 180 Neben vielen Briefen von Elly an ihren späteren Ehemann Theodor zeugen insbesondere die beiden Vorworte zu den Jugenderinnerungen Georg Friedrich Knapps und die eigenen Erinnerungen Ellys von ihrer tiefen Verehrung und Liebe zu ihrem Vater. Vgl. auch die Briefe von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp vom 18. August 1888, 31. März 1890, 28. März 1890, 11. August 1896, um nur einige frühe Briefe zu nennen; Heuss-Knapp, Elly, Vorwort, S. 5–12; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm. In einem Brief von einem Ferienkurs an ihren Vater berichtet Elly mit unverkennbarem Stolz von einer Begegnung mit einem Studenten Georg Friedrich Knapps. Er hatte Elly angesprochen und von ihrem Vater als dem Schriftsteller über die Bauernbefreiung geschwärmt. Brief Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Grenoble vom 6. August 1902. 181 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 18. 182 1. Tagebuch, Eintrag vom 12. September 1895; vgl. Familienarchiv Knapp, „Zusammenstellung“. Auch in den Briefen Georg Friedrich Knapps an Gustav Schmoller wird nur allgemein vom Gesundheitszustand seiner Frau („sehr

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spricht jedoch einiges dafür, dass die Tochter ein Familienleben mit den beiden Elternteilen nicht sehr vermisst und eine glückliche Kindheit erlebt hat. Einerseits war sie es seit ihrer frühesten Kindheit gewohnt, den Vater oft entbehren zu müssen, da seine beruflichen Verpflichtungen ihn zeitlich sehr beanspruchten. Andererseits wurde die Haushälterin Lotte Jürgens in einer tief empfundenen gegenseitigen Zuneigung als Bezugsperson anerkannt,183 zumal Elly kaum bewusste Erinnerungen an ihre ersten drei Lebensjahre mit ihrer Mutter in Straßburg hatte. Einzig einprägsam waren in diesen frühen Jahren die Erholungsreisen ihrer Mutter nach Italien, Hamburg und mehrmals auch nach Baden Baden.184 Viel nachhaltiger für ihre eigene Persönlichkeit hat Elly die Fürsorge ihrer Großeltern und hier insbesondere ihres Großvaters Friedrich Ludwig Knapp geprägt, der sehr viel Zeit mit ihr in Miltenberg am Main verbrachte, wo er wiederum seine glückliche Kindheit erlebt hatte und diese der Enkelin nahebrachte. Nachdem Elly vier Monate alt war, wurde sie für anderthalb Jahre zu den Großeltern nach Braunschweig gebracht, wo sie auch am 11. Februar 1882 getauft wurde. Von dort aus unternahmen dann die Enkelin und der Großvater ihre Ausflüge nach Miltenberg.185 Hier liegen die Wurzeln für Ellys Begeisterung für Landschaften, Städte, Bauwerke – den intensiven krank“, „krank“, „geht es gut“, „geht es sehr gut“) gesprochen, ohne näher darauf einzugehen. NL Schmoller 130a, Bl. 444/445, 449. 183 1. Tagebuch, Eintrag am 20. Mai 1895. Noch Jahre später freut sich Elly über jeden Besuch von Lotte Jürgens und wünscht sich ein langes Bleiben. Vgl. Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Schöneberg vom 10. September 1910. In den Erinnerungen von Elly Heuss-Knapp („Ausblick vom Münsterturm“) wird Lotte Jürgens jedoch nur einmal erwähnt und das auf Intervention von Theodor Heuss hin, der in einem Brief an Elly 1934 schreibt, dass es doch nötig wäre, auf Lotte Jürgens und ihre ungeheure Hilfe und Bedeutung für die Familie hinzuweisen. Elly konnte sich jedoch nur zu einer kurzen Bemerkung, dass Lotte Georg Friedrich Knapp bis zu seinem Tod treu das Haus führte, hinreisen lassen. Zu sehr war sie noch einem Denken verhaftet, das es nicht gestattete Bediensteten Raum in einer Lebensbeschreibung zu geben. Vgl. Brief von Theodor Heuss an Elly Heuss-Knapp aus Berlin-Lichterfelde-West vom 11. Januar 1934 und Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 93. 184 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 11f., 23; NL Schmoller 130a, Bl. 121/122, 129/130, 173/174, 444/445. 185 Vgl. den Taufschein von Eleonore Anna Justine Elisabeth Knapp. Die konkreten Erinnerungen Ellys dürften vermutlich aus späterer Zeit herrühren; nichtsdestotrotz blieb für sie ihre glückliche Kindheit insbesondere mit Friedrich Ludwig Knapp und Miltenberg verbunden. Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 20–30; NL Schmoller 130a, Bl. 153/154.

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Bezug zu Kirchengebäuden verdankt sie allerdings dem Straßburger Münster, dessen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, was allein der Titel ihrer Erinnerungen „Ausblick vom Münsterturm“ vergegenwärtigt186 – und nicht zuletzt auch für ihren Familiensinn. In den „Miltenberger Ferien“187, die sie mit der Zwillingsschwester ihres Vaters, Tante Lella, und deren Kindern zusammen beim Großvater – die Großmutter starb als Elly neun Jahre alt war – verbrachte, erlebte sie das Aufwachsen in einer Familie mit einem großen Geschwisterkreis. Der Großvater, die Tante, die von Elly wie selbstverständlich „Mamli“ genannt wurde und für sie auch wie eine Mutter war,188 die Kinder ihrer Tante und manchmal auch ihre Schwester verkörperten einen Drei-Generationen-Haushalt in einem wunderschönen kleinen deutschen Städtchen am Main.189 Sie merkte sehr früh, dass die starken Bindungen in den ersten Jahren des Lebens eines Kindes entstehen und zog daraus nicht zuletzt den Schluss, ihren eigenen Sohn während seiner ersten zwei Lebensjahre keinem anderen Menschen anzuvertrauen.190 Die wichtige Rolle der Mutter für ihre Kinder manifestierte sich somit schon in frühesten Kin186 Vgl. Dehio, Georg, Das Straßburger Münster, Piper Verlag, München 21941. 187 Heuss-Knapp, Elly, Erinnerungen an Miltenberg, in: Rudolf Vierengel, Miltenberg eine alte Stadt am Main, Hermann Emig, Amorbach 1960, S. 7. Dieser leicht veränderte Ausschnitt aus dem „Ausblick vom Münsterturm“ erschien mit der Genehmigung durch den Verlag der Erinnerungen von Elly und durch Theodor Heuss, der seine Zustimmung noch als amtierender deutscher Bundespräsident gab. 188 Heuss, Theodor/Knapp, Elly, So bist Du mir Heimat geworden. Eine Liebesgeschichte in Briefen aus dem Anfang des Jahrhunderts, hg. von Hermann Rudolph, DVA, Stuttgart 1986, S. 272/273. 189 Heuss-Knapp, Erinnerungen an Miltenberg, S. 7. Einen guten, wenn auch etwas positiv überzeichneten Eindruck von Miltenberg vermittelt Vierengel, Rudolf, Miltenberg am Rhein, in: Rudolf Vierengel, Miltenberg eine alte Stadt am Main, Hermann Emig, Amorbach 1960, S. 15–47. 190 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 21. Wie wichtig die Bindungen in den ersten Jahren eines Kindes an verschiedene Bezugspersonen und nicht nur an die Mutter sind, wurde von der entwicklungspsychologischen Forschung eindrucksvoll bestätigt. Vgl. Schmidt-Denter, Ulrich, Soziale Entwicklung, Beltz, Weinheim 31996, S. 17–85. „Die Entwicklung [des Kindes] verläuft im allgemeinen günstiger, wenn die Großeltern einen abwesenden Elternteil ersetzen, als wenn der übriggebliebene Elternteil die alleinige Erziehungsverantwortung übernehmen muss.“ Ebd., S. 66/67. Eine eindrucksvolle Bestätigung für die von Elly Heuss-Knapp selbst empfundene positive Auswirkung der großväterlichen Fürsorge. Vgl. auch zur Entwicklung des Kindes in der frühen Kindheit Rauh, Hellgard, Frühe Kindheit, in: Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch, hg. von Rolf Oerter und Leo Montada, Beltz, Weinheim 41998, S. 167–248.

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derjahren, was einerseits auf die guten eigenen Erfahrungen in der Umgebung ihres Großvaters, andererseits aber auch auf die fehlende eigene Mutter, was sie ihrem Kind keinesfalls zumuten wollte, zurückzuführen war. Doch es gab weitaus mehr wegweisende Aspekte aus den Miltenberger Aufenthalten, die für Ellys weiteren Lebensweg von Bedeutung werden sollten. Die Erzählungen ihres Großvaters prägten sich tief in ihr Gedächtnis ein und sie konnte noch Jahre später viele Geschichten auswendig nacherzählen. Dem Vater war es nicht immer recht, dass seine Tochter auch viele private, meist amü- Abb. 5  Elly mit ihrem Großvater Friedrich Ludwig sante Erzählungen ansässiger Knapp 1885. Bürger dargeboten bekam, da er „diskret war, fast bis zur Übertreibung“191. Ihm lagen Texte aus der Bibel192 und die großen Berichte und Anekdoten über die wissenschaftlichen Leistungen der Vorfahren wesentlich näher. Zu diesen gehörte ebenso einer der Pioniere der Limes-Forschung in Deutschland, der Urgroßvater Ellys, Johann Friedrich Knapp, wie auch der berühmte Chemiker Justus von Liebig.193 Auch durfte Elly die Bücher Friedrich Ludwig Knapps benutzen, ja sogar nach ihrem Gutdünken sortieren.194 Georg Friedrich Knapp erkannte die positiven Auswirkungen, die sein Vater mit dessen Erzählungen von den Leistungen der eige191 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 22. 192 Ebd., S. 32/33. 193 Eine sehr kurze, hervorragend lebendige Skizze von Justus von Liebig wurde von Theodor Heuss geschrieben. Heuss, Theodor, Justus von Liebig, in: Theodor Heuss, Deutsche Gestalten, Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen 1951, S. 122– 128. 194 Brief Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Braunschweig vom 30. April 1897.

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nen Verwandten auf Elly hatte und machte sich selbst „einige Monate stark in Familiengeschichten“195, wodurch der Familiensinn bei den Kindern enorm gewachsen war.196 Zuhören und selbst das Erzählen lernen, diese Eigenschaften konnte Elly zuerst bei ihrem Großvater und dann auch bei ihrem Vater hervorragend schulen und sie interessierte sich auch wirklich für deren Ausführungen.197 Hier scheiden sich nun die Interessensgebiete der beiden Schwestern voneinander. Marianne, die um ein gutes Jahr ältere Schwester Ellys, zeigte sehr früh ihr Interesse für die Naturwissenschaften, wohingegen Elly den Geisteswissenschaften zugeneigt war. Das führte zwangsläufig zu einem intensiveren Austausch des Vaters mit der jüngeren Tochter, da er wegen seiner Profession an der Lektüre von geisteswissenschaftlichen Klassikern und Nationalökonomen weitaus mehr interessiert war als an technisch-naturwissenschaftlichen Studien. Allerdings vernachlässigte er nicht gänzlich geometrische und mathematische Fragen, sehr zur Freude Mariannes.198 Die Schreibneigung Ellys war zudem wesentlich ausgeprägter, wodurch die Gespräche zwischen Vater und jüngerer Tochter zusätzlich gefördert wurden. Die Briefe von Marianne an den Vater umfassen von der Anzahl nicht einmal ein Zehntel der Briefe von Elly an Georg Friedrich Knapp. Elly bedankte sich auch während ihrer ersten längeren Auslandsreise im Rahmen eines Ferienkurses sehr herzlich für die vielen Briefe des Vaters und zeigte sich über den regen Schriftverkehr sehr glücklich.199 Die beiden Schwestern verband aber trotz der unterschiedlichen Intensität der Kommunikation mit dem Vater eine sehr tiefe Geschwisterliebe, wenn auch ihre Interessen divergierten, oder vielleicht gerade weil sie dies taten. Marianne erkannte den gedanklichen Austausch von Georg Friedrich und Elly hinsichtlich gesellschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Fragen an und äußerte sich kaum dazu. Andererseits war es Marianne, die zunehmend mehr Zeit mit dem Vater verbrachte und auch, als beide Schwestern verheiratet waren, öfters Gelegenheit zum Besuch beim Vater fand. Die Rollenverteilung pendelte sich in dieser Weise ein: Elly tauschte sich mit dem Vater 195 Brief von Knapp an Schmoller vom 31. Dezember 1904. NL Schmoller 130a, Bl. 252/253. 196 Ebd. 197 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 21–26; Brief von Elly HeussKnapp an Georg Friedrich Knapp aus Braunschweig vom 30. April 1897. 198 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 31/32. 199 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Grenoble vom 30. August 1902.

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Abb. 6  Die Zuneigung der beiden Geschwister Elly und Marianne zueinander drückt sich auf diesem Bild von 1900 sehr deutlich aus.

über Politik, Gesellschaft und Nationalökonomie aus, wohingegen Marianne die praktischen Dinge des Lebens für sich und den Vater meisterte.200 Dennoch darf die Vorstellung nicht so weit gehen, Elly in ihren jungen Jahren als gleichwertige Gesprächspartnerin an Gelehrtentischen zu verstehen. Der Vater tauschte sich mit ihr aus, doch in Gesprächsrunden von Georg Friedrich Knapp mit Gustav Schmoller, Lujo Brentano und anderen war sie natürlich hauptsächlich eine interessierte Zuhörerin, die begierig den nationalökonomischen Ausführungen zu folgen versuchte. In den 90er Jahren begann sich, vom Elternhaus bereits vorgeprägt, das sozialpolitische Interesse Ellys herauszukristallisieren. Ihr Freundeskreis und die Bekanntschaften im Umfeld ihres Vaters führten sie nahezu zwangsläufig zu dem Themenfeld ihres Lebens, das sie nicht mehr loslassen sollte und das letztendlich der Mittelpunkt ihres Wirkens und Schaffens wurde.

200 Bereits bei Ellys Ferienkurs-Aufenthalt in Grenoble zeigte sich die „Arbeitsteilung“. Marianne kümmerte sich mit Lotte Jürgens um die Hausangelegenheiten, da kurzfristig ein Gast zum Essen angekündigt wurde. Brief von Elly HeussKnapp an Georg Friedrich Knapp aus Grenoble vom 13. September 1902.

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b) Das Hineinwachsen in sozialpolitische Problemstellungen Mit der Konfirmation „als Wendepunkt vom kindlichen Leben zur eigenen Verantwortung“, der für Elly Knapp „immer ganz lebendig im Gedächtnis“201 blieb, verband sich nicht nur das Erwachsenwerden. Die Bedeutung der Religion erschloss sich Elly erstmals bei der Konfirmation ihrer älteren Schwester am 11. März 1894 durch ein Gebetsbuch, das sie zum Nachdenken anregte. Daraufhin trafen sich Elly, Marianne und Alice, die Tochter des Pfarrers ihrer Heimatgemeinde in Straßburg, jeden Sonntag nach der Kirche in der Orangerie und lasen sich gegenseitig zumeist Bibeltexte vor.202 Ihre religiöse Gesinnung führte so schon in jungen Jahren zu einer aktiven Beteiligung am kirchlichen Leben. Bereits in dieser Zeit – Mitte des Jahres 1897 – engagierte sie sich aktiv als Sonntagsschullehrerin. Nach der Kirche wurde in einem eigens für die Kinder abgehaltenen Gottesdienst deren religiöses Fundament gelegt. Elly hatte als eine der Lehrerinnen 15 Mädchen zwischen sieben und neun Jahren in ihrem Kreis. Es wurde erst gesungen, bevor ein Bibeltext vorgelesen wurde, den jede Lehrerin erklärte. Abschließend hielt der Pfarrer noch eine kleine Predigt an alle Kinder. Ihre Begeisterung für das Geschichtenerzählen, genauer das Erzählen biblischer Geschichten, überwog bei weitem die Arbeit, die sie für die Schule und auch in dieser aufbringen musste.203 Fast folgerichtig sollte sich eine Ausbildung zur Lehrerin anschließen, in der fachliche Grundlagen im Zentrum standen.204 Nach dem Abschluss des Lehrerinnenexamens 1899 erteilte sie einigen Kindern von Freunden und Bekannten in einer neu gegründeten kleinen Schule eine Art „Grundlagenunterricht“205 ehe sie ein Jahr später in der wiede201 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 33. 202 Vgl. 1. Tagebuch, Eintrag am 2. April 1895. 203 Brief Elly Heuss-Knapp an Friedrich Ludwig Knapp aus Straßburg vom 30. Oktober 1897. 204 Die erhalten gebliebenen Kolleghefte von Elly Knapp, die angeben, welche Veranstaltungen sie während ihrer Ausbildung zur Lehrerin besuchte und diese ausgiebig dokumentierte, behandeln nur fachlich einführende Themen: 1893/94: Mineralogie, Anthropologie – Nahrungsmittel; 1895: Parzival und Weltgeschichte der Neuzeit; 1897: Gedicht und Weltgeschichte. 205 Elly Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten. Ein Leben in Briefen und Aufzeichnungen, hg. von Margarethe Vater, Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen 1961, S.  41. In kurzen Einleitungskapiteln und zu den ausgewählten Briefen und einer am Ende angefügten Zeittafel hat Margarethe Vater zusammen mit Ernst Ludwig Heuss die wichtigsten Lebensstationen von Elly rekonstruiert. Die Lehrtätigkeit in der von ihr mitbegründeten Schule geht auch aus Briefen an Friedrich Ludwig Knapp hervor, kann jedoch zeitlich nicht mehr genau festgelegt werden. Sicher ist jedoch, dass Elly mit 18 Jahren ihr Lehrerinnenexamen

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rum von ihr mitbegründeten ersten Fortbildungsschule für Mädchen in Straßburg den Unterricht für Bürgerkunde übernahm.206 Mit ihrem Beruf als Lehrerin in einer Privatschule war Elly jedoch alles andere als ausgelastet. Für ihre bereitstehende Energie, die nur eine Möglichkeit der Verwirklichung suchte, war Straßburg um die Jahrhundertwende ein zusätzlicher Glücksfall. Das indirekte Wahlrecht von 1879, basierend auf dem nicht abgeschafften Wahlrecht aus französischer Zeit, verschaffte dem elsässischen Liberalismus eine politische Vorrangstellung. Somit konnte der Linksliberalismus im Gemeinderat die kommunale Politik entscheidend mitbestimmen.207 Über die Gemeindeordnung von 1895 war den Gemeinden auch ein größeres Maß an Unabhängigkeit von übergeordneten Behörden gewährt worden. Sie hatten nun vor allem ein volles Budgetrecht und verwirklichten das Prinzip der „Allzuständigkeit“.208 Der Gemeinderat wählte beispielsweise den Bürgermeister der Stadt völlig unabhängig selbst. 1906 sollte die Wahl auf den damals 36jährigen Rudolf Schwander fallen, einen Schüler Georg Friedrich Knapps209 und Angehörigen des Kreises um Friedrich Naumann210. Nach seiner Dissertation über die Entwicklung der Wohlfahrtspflege Frankreichs in der Zeit der Französischen Revolution wurde er vom Bürgermeister in die Gemeindeverwaltung geholt und beerbte diesen nach dessen altersbedingtem Ausscheiden.211 Für Elly Knapp war dies ein großer Glücksfall, denn durch ihn beteiligte sie sich bestanden hat und spätestens im Sommer 1899 unterrichtete. Vgl. Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 37; Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 41. 206 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 359. 207 Fisch, Elsass, S. 138; Hiery, Hermann, Reichstagswahlen im Reichsland. Ein Beitrag zur Landesgeschichte von Elsaß-Lothringen und zur Wahlgeschichte des Deutschen Reiches 1871–1918 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 80), Droste Verlag, Düsseldorf 1986, S. 73. 208 Cornelißen, Christoph, Deutsch-französische Wohnungspolitik in Straßburg 1886–1929, in: Grenzstadt Straßburg. Stadtplanung, kommunale Wohnungspolitik und Öffentlichkeit 1870–1940, eingeleitet von Rainer Hudemann, Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 1997, S. 30/31. Die Überweisung der Armenpflege in die Hände der Städte und Gemeinden – ohne das vollständige Budgetrecht und mit erheblichen Einschränkungen hinsichtlich der Mittelverwaltung – erfolgte bereits durch das Preußische Allgemeine Landrecht. Peters, Geschichte der sozialen Versicherung, S. 30. 209 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 48; Hiery, Hermann, Rudolf Schwander (1868–1950), in: Persönlichkeiten der Verwaltung. Biographien zur deutschen Verwaltungsgeschichte 1648–1945, hg. von Kurt G. A. Jeserich und Helmut Neuhaus, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1991, S. 307. 210 Fisch, Elsass, S. 139. 211 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 48; Hiery, Schwander, S. 307/308.

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in der „formativen Epoche des modernen Wohlfahrtsstaates in Deutschland“212 an einem neu durchdachten Pflegesystem, das Schwander entwickelte.213 Zunächst war entscheidend, dass Schwander das gesamte Stadtgebiet Straßburgs in Bezirke einteilte, die maximal 600 Unterstützte umfassten. Möglichst viele ehrenamtliche Armenpfleger, die auf der Bezirksebene angesiedelt waren, sollten maximal drei Hilfsbedürftige betreuen. Eine eigens geschaffene Bezirkskommission mit einem Vorsitzenden und acht Mitgliedern aus der Armenpflege des Bezirks war dann als erste Instanz zuständig. In dieser Bezirksversammlung wurden die Fälle ausgesondert, die „sich für ehrenamtliche Pflegschaft eigneten, nämlich alle, die erzieherische Beeinflussung erforderten“214. Es wurde also auf Bezirkseben entschieden, wem mit einer einmaligen, kurzfristigen Lösung geholfen werden konnte und wer eine langfristige Unterstützung benötigte. „Die einfachen Fälle vorübergehender Unterstützung wurden den Berufspflegern überwiesen, die auch die Erkundigungen zu machen hatten. Damit war das Amt der beruflichen Wohlfahrtspflege geschaffen.“215 Es soll einmal die Verfahrensweise anhand eines Falles durchgespielt werden, um auch zu verdeutlichen, wo die jeweiligen Kompetenzen lagen. Die Bezirkskommissionen beantragten Unterstützung für einen Bewohner ihres Bezirks beim Armenrat, der aus dem Bürgermeister und acht vom Gemeinderat bestellten ehrenamtlichen Mitgliedern bestand. Hier wurde auch das Armenamt angesiedelt, das hauptberufliche Kräfte beschäftigte, von denen jeweils eine für einen Bezirk zuständig war. Ein der Bezirkskommission vorliegender Fall wurde zuerst dem Armenrat vorgelegt, der diesen zur Überprüfung an den zuständigen, neu geschaffenen Berufsarmenpfleger aus dem Armenamt überwies. Nun war es Aufgabe des beruflichen Wohlfahrtspflegers diesen Fall zu überprüfen und erforderliche Informationen einzuholen. Er leitete ihn dann mit einer Stellungnahme an die Bezirkskommission zurück und diese konnte über die Gewährung der Unterstützung – ob langfristig durch Ehrenamtliche oder kurzfristig durch Hauptberufliche – entscheiden. Die Zuwei-

212 Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg, Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 21998, S. 376. 213 Schwander, Rudolf, Bericht über die Neuordnung der Hausarmenpflege. Im Auftrag des Armenrates erstattet durch den Beigeordneten Dr. Schwander, Straßburg 1905. 214 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 49. 215 Ebd., S. 49.

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sung der Armenpflegschaft bei einer langfristigen Unterstützung erfolgte nach den Kriterien der besten Eignung des ehrenamtlichen Pflegers.216 Der Armenrat hatte daher mit den einzelnen Fällen nicht viel zu schaffen. Er befasste sich mit der Abgrenzung der Armenbezirke, der Ernennung der Armenpfleger und der besoldeten Beamten, der Vermögensverwaltung und der Rechnungsführung. Nur bei Entscheidungen die von der Bezirkskommission beanstandet wurden bekam der Armenrat es konkret mit einem Einzelfall zu tun, da er nun als letzte Instanz zuständig war.217 Die tägliche Konfrontation mit Einzelschicksalen blieb den Mitarbeitern in den Bezirkskommissionen vorbehalten. Und hier engagierte sich Elly Knapp auf Bitten des Bürgermeisters. Die immense Bedeutung dieser sozialen Tätigkeit, bei der ihr die Schwierigkeiten der ärmeren Bevölkerung am Schicksal einzelner Menschen bewusst wurden, kann nicht hoch genug bewertet werden. Nachdem sie Ende des Jahres 1906 ihre Arbeit aufgenommen hatte, engagierte sie sich mehr als ein Jahr mit ihrer ganzen Kraft täglich mehrere Stunden und behielt die einzelnen Fälle derart in Erinnerung, dass sie noch Jahre später Einzelheiten davon wiedergeben konnte.218 Neben der Arbeit in der Kommission schrieb sie Artikel und „Notizen“ für eine Verbesserung der Armenunterstützung, wobei sie von der Pflege über das Personal bis zur Verteilung von Mitteln alle Themenfelder erörterte.219 Erst 1908, als ihre Hochzeit mit Theodor Heuss bevorstand, trat sie kürzer und gab das Amt auf. Nicht zu übersehen war eine Motivation in Ellys Handeln, die nicht nur mit der Energie, dem Willen und der Lust, etwas zu bewegen, begründet werden kann. Es musste ein religiöses Sendungsbewusstsein hinzutreten, um bei einer jungen Frau ein derartiges selbstloses Engagement zu bewirken. 216 Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871–1929, Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 1988, S. 25/26. 217 Der gesamte Komplex der Fürsorge wird in dem monumentalen, teilweise etwas apologetischen dreibändigen Werk „Das Reichsland Elsass-Lothringen 1871–1918“ sehr gut detailliert geschildert. Vgl. Coßmann, Hermann Josef, Die öffentliche und private Fürsorge in Elsaß-Lothringen, in: Das Reichsland Elsass-Lothringen 1871–1918, Bd. II/2: Verfassung und Verwaltung von ElsassLothringen 1871–1918, hg. im Auftrage des wissenschaftlichen Instituts der Elsass-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt von Georg Wolfram, Verlag für Sozialpolitik, Wirtschaft und Statistik, Berlin 1937, S. 231–287, hier besonders relevant: S. 248–254. 218 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 49/50. 219 3. Tagebuch, Einträge unter 1906, Februar 1907, Juli 1907, Dezember 1907. Die Einträge des Jahres 1907 wurden zusammen erst Ende des Jahres, am 15. Dezember, geschrieben.

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Eine enge Verbundenheit mit dem christlichen Glauben durchzog, wie bereits angesprochen wurde, Ellys Leben spätestens seit ihrer Konfirmation. Dabei sollte sie sich noch ihr ganzes Leben mit ihrem protestantischen Glauben auseinandersetzen. Zunächst jedoch war sie einerseits einfach fasziniert von den monumentalen Kirchenbauten. Elly erwähnt in Dutzenden Briefen bis in die kleinsten stilistischen Details ihre Eindrücke von Bauwerken.220 Andererseits war ihre Lebensweise ganz dem protestantischen Bildungsbürgertum verschrieben. Die fesselnde Wirkung für Kirchengebäude ist gewiss ihrer kindlichen Prägung durch das Straßburger Münster zu verdanken.221 Dennoch muss mehr hinzukommen, wenn ein junger Mensch als eine der ersten Anlaufstationen in fremden Städten Kirchen aufsucht. Es wurde bereits erwähnt, dass Elly ihre ersten Schritte als Lehrerin in einer Sonntagsschule machte. Hier konnte sie nun ihrer Leidenschaft, dem Geschichtenerzählen, und ihrer Berufung, der Lehrtätigkeit,222 nachgehen. Allerdings ging es nicht um irgendwelche Geschichten, sondern um Bibelgeschichten, und diese wurden ihr von ihrem Großvater und ihrem Vater in der Kindheit bereits nahe gebracht. Von einer kritischen Exegese,223 ganz zu schweigen von konfessi220 Erstmalig schildert sie einen ergreifenden Kirchbesuch im Straßburger Dom ihrem auswärtigen Vater in einem Brief. Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Straßburg vom 23. Dezember 1889. Von ihren Miltenberger Aufenthalten folgten eine Reihe von Briefen, in denen neben den Kirchen auch „der wundervolle Klang der Kirchenglocken“ der katholischen Kirche in Miltenberg geschildert wird. Briefe Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Miltenberg vom 29. August 1896 und 15. August 1898. Vgl. zu den Kirchen in und um Miltenberg auch 2. Tagebuch, Eintrag vom 12. August 1894. 221 Das alles überragende Straßburger Münster lässt sich annähernd in den Abbildungen in Dehios kunsthistorischem Werk erahnen. Vgl. Dehio, Straßburger Münster, besonders die Abb. 1, 2, 23, 27, 38, 87, 88. Die kunstgeschichtlichen Vorträge von Dehio wurden von vielen Frauen und Mädchen der Straßburger Gesellschaft besucht. Da das Münster ein Steckenpferd Dehios war, ist Elly mit Sicherheit bereits sehr früh mit einer fachlich hervorragenden kunsthistorischen Betrachtungsweise dieses Bauwerkes in Berührung gekommen. Vgl. Manuskript über die Jugendfreundschaft von Luise Bresslau-Hoff zu Elly Heuss-Knapp. Theodor Heuss in treuer Verehrung und Freundschaft im März 1953 gewidmet (zit.: Bresslau-Hoff, Jugendfreundschaft), S. 5. 222 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 20. 223 Einen sehr guten Einblick in die theologische Textkritik und deren moderne wissenschaftliche Methodik geben die beiden Beiträge von Ingo Kottsieper und Jens-Wilhelm Taeger/Susanne Schewe zum Alten und Neuen Testament in dem Einführungsband Evangelische Theologie studieren, hg. von Wolfgang Marhold und Bernd Schröder, LIT Verlag, Münster u.a. 2001, S. 45–61 und S. 63–79. Kottsieper spricht von zu erwerbenden Kompetenzen, die exegetische Forschung

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onsübergreifenden Diskussionen zur Sozialethik, die den Katholizismus und den Protestantismus im Kaiserreich beschäftigten,224 konnte jedoch nicht die Rede sein. Das wäre auch für einen Unterricht für Kinder bis zu neun Jahren des Guten zuviel gewesen. Zweifellos hat sie ihre Tätigkeit immer stärker an den Protestantismus gebunden, obwohl ihre Zuneigung auch vielen Aspekten des Katholizismus galt. In den Erinnerungen an Miltenberg schildert Elly aus dem Rückblick wie sehr sie hin- und hergerissen war: „Die Betrachtungen gingen immer den gleichen Weg: halb schlechtes Gewissen, weil man doch nicht dazu gehörte, halb Sehnsucht und dann doch ein Stück überheblichen Stolzes, es besser zu wissen oder doch richtiger. Die Sehnsucht überwog immer, wenn man allein war, alles still umher, und nur die Symbole ihre Sprache redeten, die meinem Kinderherzen unmittelbar verständlich war. Mancher Strauß wurde der Jungfrau Maria zu Füßen gelegt.“225 Sie sah das Trennende der beiden großen deutschen Konfessionsgemeinschaften nur als zweitrangig an, soweit sie dies aus ihrer eigenen Erfahrungswelt heraus beurteilen konnte. Viel wichtiger war ihr die gemeinsame Tradition. Zudem hat sie durch ihre ehrenamtliche Tätigkeit in der Armenpflege Straßburgs festgestellt, dass „die Volksgemeinschaft“ zählte und nicht die in der praktischen Tätigkeit überbrückten konfessionellen Gegensätze.226 Ihre eigene intensive Beschäftigung mit theologischen Fragen kristallisierte sich erst um die Jahrhundertwende heraus, als Elly bereits eine junge Frau war. Ellys Kolleghefte, die überraschenderweise auch die nach ihrem Lehrerinnenexamen noch besuchten und sehr ausgiebig dokumentierten Veranstaltungen enthalten, weisen im Winter 1899/1900 erstmals eine intensive Beschäftigung mit „Religion“ aus. Das war keine wissenschaftlich Auseinannachvollziehbar und kritisch rezipierbar machen. „Zusammen mit dem Grundwissen [Inhalte der Schriften; Orientierungsfähigkeit; Überblickswissen über Textformen und Gattungen; historisches Wissen, A. G.] erlangt man so die Fähigkeit, sich mit Hilfe der aktuellen exegetischen Literatur selbständig spezielle Fragen oder einzelne Texte sachgemäß zu erschließen.“ Kottsieper, Altes Testament, S. 60. Das genaue Lesen von Texten, eingebunden in die Forschungserkenntnisse und verbunden mit „dem Grundwissen“, ist also zentrales Anliegen moderner theologischer Ausbildung. Ebenso Taeger/Schewe, Neues Testament, S. 77/78. 224 Vgl. Langner, Albrecht, Katholische und evangelische Sozialethik im 19. und 20.  Jahrhundert. Beiträge zu ideengeschichtlichen Entwicklungen im Spannungsfeld von Konfession, Politik und Ökumene, Schöningh Verlag, Paderborn u.a. 1998, S. 202–268. In diese Thematik wuchs Elly erst langsam in ihrem Umkreis durch Friedrich Naumann und Albert Schweitzer hinein. Vgl. Kap. I.4. 225 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 28/29. 226 Ebd., S. 28, 50.

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dersetzung auf dem Stand der modernen Theologie, sondern eine einführende Veranstaltung zu den unterschiedlichen Religionsgemeinschaften und deren wichtigsten Glaubensinhalten.227 Bedeutenden Einfluss auf die „religiöse Charakterbildung“ sollte nun in ihrem eigenen Freundeskreis Albert Schweitzer gewinnen. Dessen spätere Frau Helene Bresslau und ein weiterer guter Freund, Walter Leoni, arbeiteten ebenfalls in der Armenpflege Straßburgs mit,228 so dass die sozialen Fragen mit den religiösen immer in enger Verbindung standen. Würde noch ein Beleg für Ellys ausgeprägten Schwerpunkt bei sozialpolitischen Themen in einem protestantischen Umfeld um die Jahrhundertwende benötigt werden, so müsste nur noch ein einziger Name angeführt werden: Friedrich Naumann.

4. Soziale Ausprägungen des Charakters durch herausragende Persönlichkeiten Es ist schon ungewöhnlich genug, dass eine junge Frau um die Jahrhundertwende in einem Freundeskreis mit vielen sozial engagierten jungen Menschen – die tätige Mitarbeit war ihr immer wichtiger als die „Erschöpfung der Kraft in Diskussionen“229 – aktiv eine Rolle in der Heimatgemeinde, der Armenfürsorge und darüber hinaus auch in der Diskussion um die Ausgestaltung der Wohlfahrtspflege eingenommen hat. Wenn sie sich zusätzlich in einem liberalen Umkreis bewegte, in dem soziale Probleme breiter Bevölkerungskreise überhaupt wahrgenommen wurden, so ist das vermutlich einzigartig. Möglich machte dies erst ihr Vater mit seiner gesellschaftlichen Stellung. Doch das Problembewusstsein für viele Menschen, die große Schwierigkeiten hatten, das Leben zu meistern, die Hoffnung, etwas bewirken zu können, und die Begeisterung, sich einer Sache anzunehmen und diese gegen vielfache Widerstände zu verfolgen, entfachte Friedrich Naumann.

227 Vgl. Elly Heuss-Knapp, Kollegheft 1899/1900. 228 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 50/51. 229 Ebd., S. 51.

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a) Friedrich Naumanns sozialer Linksliberalismus Georg Friedrich Knapp war ein Gönner und Freund Friedrich Naumanns.230 Das erklärt die frühen Kontakte Ellys mit den Ansichten und Schriften dieser außergewöhnlichen Persönlichkeit des „sozialen Liberalismus“231 um die 230 NL Schmoller 130a, Bl.11/12; Schmoller, Zum 70. Geburtstag von Georg Friedrich Knapp, S. 290. 231 Die Charakterisierung von Friedrich Naumanns sozialpolitischen Vorstellungen ist nicht ganz einfach. Seine „ideologische Mixtur aus Nationalismus, sozialem Reform- und politischem Demokratisierungswillen“ (Sheehan, Der deutsche Liberalismus, S. 313), oder – weitaus positiver formuliert – „Naumanns Ansprüche an politische Bildung, an liberale Sozialstaatsverpflichtung und eine wertgeleitete Verantwortungsethik“ (Bruch, Rüdiger vom, Einführung, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. von Rüdiger vom Bruch, Walter de Gruyter, Berlin/ New York 2000, S. 3) müssen hier nicht im Einzelnen aufgeschlüsselt werden. Die Etikettierung von Friedrich Naumanns Wirken und Schaffen ist ohne Zweifel abhängig von der historischen Begriffsbildung. Seine liberale Ausrichtung war zu keiner Zeit in der Literatur umstritten, wenn auch die diesem Begriff zugeschriebenen Bedeutungen kaum zu überblickende Auswüchse hervorbrachten. Ganz zu schweigen von den Veränderungen der elementaren Gesichtspunkte, die in den zeitgenössischen Betrachtungen mit „Liberalismus“ verbunden wurden. Gewiss war die Freiheit des vernünftig und moralisch handelnden Individuums immer ein Hauptgesichtspunkt. Doch wie sollte dazu die Gleichheit der Individuen – wie weit diese auch immer reichen sollte –, die Freiheit der Vereinigungen oder die Macht des Staates, den kein Liberaler wirklich abschaffen will, gewichtet werden? Vgl. Schapiro, Jacob Salwyn, Was ist Liberalismus? In: Liberalismus, hg. von Lothar Gall, Athenäum, Königstein/Ts. 31985, S. 20–36. Noch problematischer muss der Begriff „sozial“ wirken. Hier lassen sich die Bedeutungen überhaupt nicht mehr erfassen. Erschwert wird die Klassifizierung, da bis in die Mitte des 20.Jahrhunderts Friedrich Naumann zumeist noch als „sozialistisch“ beschrieben wird – aus unterschiedlichsten Beweggründen, die auch eine Nähe zum Nationalsozialismus konstruieren konnten, so bei Lohmann, Gertrud, Friedrich Naumanns Deutscher Sozialismus, Gärchen, Berlin 1935, die dies auch explizit im Vorwort betont. Allerdings klassifizierte sich Naumann in seinen eigenen Schriften auch selbst als Sozialist; am deutlichsten in einem Artikel von 1899: Naumann, Friedrich, Nationaler Sozialismus, in: Friedrich Naumann, Werke 5: Politische Schriften/Schriften zur Tagespolitik, hg. von Theodor Schieder, bearb. von Alfred Milatz, Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1964, S. 251–256. „Sozialer Liberalismus“ scheint dennoch gerechtfertigt, da sich dieser Begriff in der neueren Forschung eingebürgert hat, obwohl eine genaue Bestimmung oder Abgrenzung zu nahe stehenden Begriffen noch nicht geleistet wurde. Vgl. Theiner, Peter, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Nomos Verlagsgesellschaft,

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Jahrhundertwende. Sicherlich hat sie Friedrich Naumann persönlich in einem Gesprächskreis ihres Vaters bereits in ihrer Kindheit kennen gelernt.232 Erstmalig erwähnt sie ihren Enthusiasmus in einer Tagebucheintragung vom 11. November 1897. „Mein Ideal ist Friedrich Naumann“ und der Wunsch nach einer aktiven Unterstützung wird bereits hier artikuliert.233 Es ist interessant, dass schon die 16jährige junge Frau von einer aktiven Beteiligung spricht, als sie ihre ersten Erfahrungen in der Sonntagsschule machte. Denn genau in diesem Punkt bestand nicht nur eine unüberbrückbare Differenz zwischen Werner Sombart, der hier repräsentativ für die jüngere Generation der Wissenschaftler stehen soll, die eine strikte Abstinenz der Wissenschaft von der Sozialpolitik propagierten – Max Weber spielt hier eine gesonderte Rolle, da er eine differenzierte Position hinsichtlich (sozial-) politischer Aktivitäten hatte und zusätzlich politisches Engagement zeigte234 –, und Friedrich Naumann.235 Auch hier lässt sich wieder ihre enge Bindung an den Vater beleBaden-Baden 1983 oder die Veröffentlichungen von Rüdiger vom Bruch. Als „sozialistisch“ lässt sich Naumanns Liberalismus jedoch nicht mehr bezeichnen. Zu sehr wurde der „real existierende Sozialismus“ mit einer nicht mehr zu unterscheidenden Nähe zum „Kommunismus“ während der Existenz der DDR überstrapaziert. Schieder, Wolfgang, Sozialismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Bd. 5: Pro-Soz, Klett-Cotta, Stuttgart 1984, S. 990–992, 996. Die politische Adaption Friedrich Naumanns als geistiger Pate für ein sozial-liberales Regierungsbündnis dürfte hingegen nicht begriffsprägend gewesen sein. Vgl. Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 10. 232 Die persönliche Begegnung muss schon vor der ersten Erwähnung Friedrich Naumanns im 1. Tagebuch am 11. November 1897 gewesen sein, da sie bereits dort dessen kurz beschriebene Persönlichkeit, die sie selbst erlebt habe, in ihre Zuwendung einfließen lässt. In ihren Erinnerungen datiert sie die erste Begegnung fälschlicherweise erst auf das Jahr 1903. Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 66. 233 1. Tagebuch, Eintrag unter 11. November 1897. 234 Theiner, Peter, Friedrich Naumann und Max Weber. Stationen einer politischen Partnerschaft, in: Max Weber und seine Zeitgenossen, hg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolfgang Schwentker (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 21), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen/Zürich 1988, S. 419–433. Der Gedankenaustausch und die intensiven Beziehungen zwischen Max Weber und Friedrich Naumann mit ihren, insbesondere im Hinblick auf den Erfolg einer linksliberalen Partei, unterschiedlichen Ansichten sind eindrucksvoll dargelegt bei Weber, Marianne, Max Weber. Ein Lebensbild, Mohr (Siebeck) Verlag, Tübingen 31984, S. 141–144, 231–236, 403–407, 472–473, 564–567. 235 Lenger, Werner Sombart, S. 97.

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gen. Dessen hervorgehobene Rolle im Verein für Socialpolitik und sein Eintreten für ein persönliches politisches Engagement durch das Einbringen des Wissenschaftlers in die Ausgestaltung sozialpolitischer Entscheidungsprozesse wird von den Ansichten Friedrich Naumanns ergänzt, der eine grundsätzliche, aktive Betätigung auf sozialem Feld forderte und religiös-soziale Fragen als oberste Priorität ansah.236 Die Elemente der „Naumannsache“237, die das gesteigerte Interesse bei Elly Knapp hervorriefen, kristallisierten sich sehr schnell heraus. Mit ihrem ersten Brief an Friedrich Naumann ließ sie ihm eine Geldspende zukommen, die er für seine nationalsoziale Sache verwenden sollte. Sie bedankte sich für seine geistige Unterstützung, die sie als eifrige Leserin der Wochenschrift „Die Hilfe“238 erfahren durfte, und dafür, dass „mir seither alle die sozialen Gedanken immer mehr zum Lebensinter236 Heuss, Friedrich Naumann, S. 35–110. Die Grundausrichtung von Naumanns politischen Zielen innerhalb des linken Liberalismus bildete sich in den Jahren 1894/95 bis 1903, die Elly intensiv begleitete, heraus. Conze, Werner, Friedrich Naumann. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der nationalsozialen Zeit (1895 bis 1903), in: Schicksalswege deutscher Vergangenheit. Beiträge zur geschichtlichen Deutung der letzten hundertfünfzig Jahre, hg. von Walther Hubatsch, Droste Verlag, Reprint, Düsseldorf 1993, S. 356. 237 Brief Elly Heuss-Knapp an Friedrich Ludwig Knapp von einem Ferienaufenthalt aus Cortina vom 6. August 1903. 238 Die „Hilfe“ ist eine Wochenschrift, die mit den ersten Probenummern im Dezember 1894 das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Sie war bis in die Namensgestaltung – auch den Untertitel „Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe“, der bereits das Programm erahnen lässt – von Naumann bestimmt. Die Darlehensgeber waren unter anderen einige herausragende wissenschaftliche Persönlichkeiten aus seinem Freundeskreis: Hans Delbrück, Adolf von Harnack und Johannes Weiß; auch Max Weber steuerte eine Bürgschaft bei. Als Zweck der Zeitschrift wurde neben dem Werben für den christlich-sozialen Gedanken eine dem Herausgeber zu verschaffende unabhängige Lebensstellung genannt. Vgl. Heuss, Friedrich Naumann, S. 111–114; Kouri, Erkki I., Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage 1870–1919. Zur Sozialpolitik im Bildungsbürgertum, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1984, S. 134; Krey, Ursula, Von der Religion zur Politik. Der Naumann-Kreis zwischen Protestantismus und Liberalismus, in: Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, hg. von Olaf Blaschke und Frank-Michael Kuhlemann, Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1996, S. 364/365. Dies zeigt, wie sehr die Persönlichkeit Friedrich Naumanns und seine religiösen und sozial-politischen Ansichten bestimmte intellektuelle Kreise zu fesseln imstande war. Zum vorwiegend intellektuellen Umfeld vgl. Krey, Von der Religion zur Politik, S. 358/359. Die Wirkung der Persönlichkeit in Verbindung mit seiner sachlichen Nüchternheit und Wissbegierde wird vermutlich am eindringlichsten bei Marianne Weber, Lebensbild, S. 143, verdeutlicht.

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esse und Lebensinhalt werden“.239 Unterstützen wollte Elly dabei neben der „Hilfe“ auch die sozialpolitischen Aktivitäten Friedrich Naumanns, die bereits vor ihrem Brief an diesen 1896 in der Gründung des Nationalsozialen Vereins kulminierten.240 Sie las aber nicht nur „Die Hilfe“ regelmäßig, sondern verschlang geradezu alle Schriften, die sie von Friedrich Naumann bekommen konnte. Dabei ragen die 4 Bände „Gotteshilfe“, die in den Jahren 1896– 1899 erschienen sind, ebenso heraus wie das sehr religiös durchsetzte, auf den ersten Blick als reiner Reisebericht zu verwechselnde Buch „Asia“ in der dritten Auflage von 1900 und das Werk „Demokratie und Kaisertum“, ebenfalls in der dritten Auflage von 1904. Vermutlich keine anderen Bücher hat Elly Knapp je wieder derart begeistert studiert und für sich rezipiert.241 Die herausragende Bedeutung der Ansichten und Ziele Naumanns242 für Elly Knapp erfordern eine Darstellung der wichtigen Gesichtspunkte der Werke im zeitgenössischen Kontext, womit eine weitere Quelle zur Prägung ihrer sozialpolitischen Anschauung berücksichtigt wird. Die „Gotteshilfe“ sind vier Bände gesammelter Andachten Friedrich Naumanns. Diese religiösen Schriften fielen bei Elly auf fruchtbaren Boden. Sie 239 3. Tagebuch, Eintrag unter 31. Dezember 1902; Brief Elly Heuss-Knapp an Friedrich Naumann aus Straßburg vom 10. Oktober 1902. Vgl. Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 32. 240 Kouri, Der deutsche Protestantismus, S. 131–136. 241 Dies kann nur eine Vermutung sein, da einige Werke weder im Privatarchiv der Familie Heuss in Basel noch im Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart liegen, die jedoch nachweislich (diverse Briefwechsel) Elly Heuss-Knapp und Theodor Heuss besessen haben müssen. Die vorhandenen Bücher und die angefügten Notizen bestätigen jedoch die Ausnahmestellung dieser Naumann-Bücher für Elly. 242 Leider entsteht in der neueren historischen Literatur oft der Eindruck, dass Elly sich von der Persönlichkeit Naumanns leiten ließ und die Themen im Hintergrund standen. Vgl. dazu etwa Krey, Ursula, Der Naumann-Kreis: Charisma und politische Emanzipation, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. von Rüdiger vom Bruch, Walter de Gruyter, Berlin/New York 2000, S. 139. Dies ist jedoch nicht richtig. Die Inhalte bestimmten vorrangig ihr Interesse, was aus dem Briefwechsel mit dem Vater und ihren Tagebüchern deutlich wird, wenn auch das starke Echo bei der gebildeten Elly aufgrund der „wirkungsvoll hervortretenden Charakterzüge Selbstlosigkeit und Selbstsicherheit, die Naumann auch lebte“ (Conze, Friedrich Naumann, S. 379/380) nicht geleugnet werden soll. Doch als junge Frau wusste Elly sehr wohl die Themen in den Vordergrund zu rücken, zumal manche nicht sehr harmonische private Begegnungen mit der Familie Naumann ein distanzierteres persönliches Verhältnis von Elly zur Folge hatten. 3. Tagebuch, Eintrag unter Mai 1905.

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las die Andachten sehr intensiv sofort nach ihrem Erscheinen.243 Dem ersten Band hat sie ein eigenes Zitat beigefügt, das es wert ist, vollständig wiedergegeben zu werden, da dies einer der Grundsätze war, die ihre Entwicklung leiten sollten: „Wenn man Religion sucht, will man etwas schlichtes und einfaches; nichts gothisches, nomanisches, keine Renaissance, keinen Rationalismus, sondern natürliches Leben, das keiner großen und gelehrten Vermittlung bedarf. Religion will nicht konstruiert werden, sondern wachsen.“ (Sommer 1896)244 Im August 1895 – also bereits vor der ersten Naumann-Lektüre – entwickelte sie ihre ersten schriftlichen Gedanken zur Religion, die sie in ihr 2.Tagebuch eintrug. Es sind wohlüberlegte, jedoch noch keine ausgereiften Vorstellungen, die durch eine kritische Lektüre von Riehls Religiösen Studien245 entwickelt wurden. Zuerst stellt sie fest, dass ein „Bedürfnis, Bildung unserer Zeit mit christlichem Glauben in Einklang zu setzen gerade bei Gebildeten immer deutlicher hervortritt“. Sie begründet dies mit dem stärkeren Hervortreten von Fortschritten in den Wissenschaften und im ganzen Völkerleben, womit eine ständig wachsende Sehnsucht nach der inneren Selbstgewissheit des Seins, des menschlichen Daseins einhergehe. Was verstand Elly Knapp nun aber unter „Bildung“? Ganz knapp könnte geantwortet werden: alles! Das verblüfft zunächst einmal. Sie grenzte es etwas ein, indem sie von der „höchsten Bildung“ spricht, die Denken, Wissen, auch das Empfinden, Vorstellung, Dichtung, Hoffnung, Liebe und Glauben umfasse. Viel ist natürlich mit diesem „Bildungsbegriff“ nicht anzufangen. Benötigte sie überhaupt den Begriff der Bildung für ihr religiöses Verständnis? Nun, Elly dachte bereits vom Lebensabend des Menschen aus, obwohl sie gerade einmal 14 Jahre alt war als sie dies niederschrieb. Der Mensch könnte nach ihrer Ansicht seinen Lebensabend nicht genießen und frohen Mutes verbringen, wenn das Nichts folgen würde. Allerdings sei der Mensch nicht (das) Nichts, weil Menschen sich über das Beschränkte, wie auch über das Endlose Gedanken machen könnten. Damit wirke jeder einzelne Mensch fort, umso mehr er Nützliches für sich und andere tue, da er wisse, „dass sein Tun weiterwirkt, von Person zu Person, von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit, dass es, so gering es sei, dennoch der 243 In jedem der vier Bände hat Elly das Datum vermerkt, wann sie die Bücher gelesen hat. NL Heuss, Basel. 244 Zitat von Elly Knapp in ihrem Exemplar von Friedrich Naumanns Gotteshilfe: Gesammelte Andachten aus dem Jahre 1895, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1896, auf Seite 8 eingefügt. NL Heuss, Basel. 245 Riehl, Wilhelm Heinrich von, Religiöse Studien eines Weltkindes, Stuttgart 1894.

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Gesamtheit nützt und in dieser überleben wird“. Und hier findet ihr „Bildungsbegriff“ Verwendung. Nur durch eine menschenmögliche, umfassende Bildung könne der Mensch überzeugend wirken – die „Bildungslosigkeit“ weiter Kreise der Bevölkerung schockierte Elly Knapp ihr ganzes Leben.246 Ebenso schwingt ein Verpflichtungsgedanke mit, der auch im sozialen Engagement Ellys eine Rolle spielt. Der Bezug zu Gott wird dann sehr individuell begründet. Wie der Mensch sei, so sei auch sein Gott, seine Vorstellung vom Tod und vom ewigen Leben. Die Trefflichkeit eines Glaubens bemesse sich nach der sittlichen Wirkung des Glaubens auf die Gläubigen.247 Eine dem einzelnen Menschen zugestandene sehr individuelle religiöse Vorstellung verband sich also bei ihr in diesen jungen Jahren schon mit einer Verpflichtung, die praktisches soziales Handeln von gebildeten Menschen – eigentlich kann sogar von „Bildungsbürgern“ gesprochen werden, denn genau diese Bevölkerungsgruppe schwebte ihr vor – forderte. Dabei ließ sie nie außer Acht, welch Glück ihr beschieden war, in dieser Gesellschaftsschicht aufgewachsen zu sein. Christliche Demut und aktives Engagement führten sie direkt zu Persönlichkeiten in ihrem Unfeld, die dies zusammendenken konnten. Damit fand sie natürlich in Friedrich Naumann jemanden, der genau diese Grundsätze in sein religiöses und politisches Programm aufgenommen hatte.248 In „Asia“, ein Werk das Elly überaus gefesselt haben muss, da sie im kompletten Werk Anstreichungen machte, gelangt Naumann sehr schnell zu einem elementaren Grundzug seiner sozialpolitischen Ansichten: In einem fiktiven Zwiegespräch mit dem heiligen Franziskus legt Naumann dar, dass die Beseitigung der Armut nicht durch eine arme Lebensweise erreicht wer246 Auch in Grenoble während des bereits erwähnten Ferienkurses bemerkte sie dies hinsichtlich der ihr begegnenden Franzosen. Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Grenoble vom 13. September 1902. Doch darf dabei natürlich nicht vergessen werden, dass ein gewisser Hochmut der Tochter aus einem professoralen, bildungsbürgerlichen Hause mitschwingt, die natürlich unter ganz anderen Bedingungen herangewachsen ist als die meisten ihrer Altersgenossinnen. 247 2. Tagebuch, Eintrag unter August 1895. 248 Vgl. zum Umkreis Friedrich Naumanns: Krey, Von der Religion zur Politik, S.  355–362; detaillierter zu Naumanns liberalen Ansichten: Jähnichen, Traugott, Neudeutsche Kultur- und Wirtschaftspolitik. Friedrich Naumann und der Versuch einer Neukonzeptualisierung des Liberalismus im Wilhelminischen Deutschland, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. von Rüdiger vom Bruch, Walter de Gruyter, Berlin/New York 2000, S. 151–165; zur Rolle der Religion bei Naumann: Kuhlemann, Frank-Michael, Friedrich Naumann und der Kirchliche Liberalismus, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. von Rüdiger vom Bruch, Walter de Gruyter, Berlin/New York 2000, S. 100–103.

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den könne. Vielmehr lobt und unterstützt er die junge Generation, die praktische Probleme wie die Armut angehe, indem sie der Kirche oder dem Staat, der Familie oder dem Geschäft diene.249 Hieraus wird bereits deutlich, dass es sich nicht um reine Reisebeschreibungen der besuchten Orte handelt, sondern um die Lebensweise und das Wirtschaften der Bevölkerung, wobei Naumann die klimatischen, regionalen und mentalen Umstände des Lebens der Einwohner nicht außer Acht lässt, um mit seinen Ergebnissen Schlüsse auf die wünschenswerten Zustände in Deutschland zu formulieren. Die beiden elementaren Aspekte, die für Elly Knapp wichtig werden sollten, sind Naumanns christliches Verständnis, das an der Person Jesus Christus ausgerichtet ist, verbunden mit seiner christlich-demütigen Haltung – Naumann predige nicht nur christliche Demut, sondern lebe diese selbst –,250 und seine vehemente Einforderung aktiver Tätigkeit jedes Einzelnen für die Gemeinschaft und für das eigene Leben. Sein praktisches Christentum ist eng verknüpft mit der Orientierung an der Person Jesus Christus.251 Der auferstandene Jesus gilt für Naumann als praktische Kraft. Wo er von Herzen verehrt werde, schaffe er opferfreudige, schaffensfreudige, liebende Menschen, die den Kampf mit der Sühne und der Not nicht vergeblich kämpfen.252 Christliches Handeln werde für denjenigen, der soziales Handeln gelernt hat, durch die Wege von Jesus Christus in Palästina repräsentiert.253 Somit legt Naumann sehr viel Wert auf die Kenntnis der Lebensgeschichte der historisch einmaligen Erscheinung Jesus Christus, die dem Einzelnen seinen Weg zum individuellen praktischen Christentum weise, da dieser als Volksmann ein Vorbild des Volkes und der Tat darstelle, der im Volk und für das Volk einen Kampf geführt habe.254 249 Naumann, Friedrich, Asia. Athen – Konstantinopel – Baalbek – Damaskus – Nazaret – Jerusalem – Kairo – Neapel, Verlag der „Hilfe“, Berlin-Schöneberg 1899, S. 7/8. Dies unterstreicht Naumann 1906 in der Christlichen Welt: Naumann, Friedrich, Beim heiligen Franziskus, in: Friedrich Naumann, Werke 1: Religiöse Schriften, hg. von Walter Uhsadel, Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1964, S. 695–704. 250 Brief Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin vom 10. Januar 1910. 251 Naumann, Asia, S. 48, 52, 105, 115. Vgl. Kuhlemann, Naumann und der Kirchliche Liberalismus, S. 102. 252 Naumann, Asia, S. 109. 253 Ebd., S. 115. 254 Naumann, Friedrich, Jesus als Volksmann, in: Friedrich Naumann, Werke  1: Religiöse Schriften, hg. von Walter Uhsadel, Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1964, S. 371–388. Vgl. auch Conze, Friedrich Naumann, S. 383.

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Das aktive Engagement des Einzelnen thematisiert Naumann in seiner Schrift Asia nur hinsichtlich der individuellen wirtschaftlichen Tätigkeit. Sein Credo, selbst schlechtgelohnte Arbeit sei besser als gar keine Arbeit,255 verbunden mit einem effizienten und möglichst klein zu haltenden Verwaltungs- und Beamtenapparat und einem Steuersystem, das individuellen Gewinn erwirtschaften lohnenswert werden lässt,256 kennzeichnet seine wirtschaftlichen Grundsätze. Allerdings hält er strikt an der Trennung fest, sich entweder als Amtsträger – etwa im Rahmen einer Predigt von der Kanzel herab – zu äußern, dann müsse dieser Amtsträger soziAbb. 7  „Friedrich Naumann. Jesus Christus auf alpolitische Programme meiallen Wegen!“ auf einer Bildpostkarte um 1900. den, oder als Staatsbürger in der Öffentlichkeit Sozialpolitisches zu vertreten, was dieser durchaus tun dürfe.257 Elly, die Naumanns sozialwirtschaftliche Gesichtspunkte vollständig teilte, verarbeitete diese schließlich in ihrer „Bürgerkunde und Volkswirtschaftslehre für Frauen“258, an der sie von Juni 1909 bis März 1910 arbeitete. Ihr Interesse an der Veröffentlichung lag in der Darstellung sozialer und wirtschaftlicher Grundlagen für Frauen begründet, um diesen eine eigenständige Lebensführung zu ermöglichen. Wie hinsichtlich der Religion verstand Elly das Wirtschaften als etwas, das keiner „gelehrten Vermittlung bedarf“, sondern lediglich dargestellt werden müsse, um es jeder Frau zu ermöglichen, ihren eigenständigen Weg im Leben gehen 255 Naumann, Asia, S. 17. 256 Ebd., S. 30. 257 Rohls, Jan, Protestantische Theologie der Neuzeit II: Das 20. Jahrhundert, Mohr Siebeck, Tübingen 1997, S. 168/169. 258 Heuß-Knapp, Elly, Bürgerkunde und Volkswirtschaftslehre für Frauen, Voigtländer Verlag, Leipzig 1910, alle folgenden Belegstellen nach der 6. Auflage von 1923, letzte Auflage 81929.

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zu können259 – allerdings nicht auf Kosten der Familie, sondern in Ergänzung mit dieser.260 Auch dies gehörte für sie zum praktischen, sozialen Handeln. Neben dem rein religiösen Werk mit Andachten, dem Erlebnisbericht mit Einsichten in den Lebensweg von Jesus Christus und mit Anleitungen zu einem aktiven Christentum, vervollständigt „Demokratie und Kaisertum“ den Querschnitt von Friedrich Naumanns schriftstellerischem Wirken auf der politischen Ebene.261 Die Annäherung an die Sozialdemokratie unter bestimmten Bedingungen war ihm ein großes Anliegen, da er insgesamt die der sozialen Frage verschriebenen Kräfte in einer Mehrheitsgruppierung aus Liberalen und Sozialdemokraten bündeln wollte. 262 Für ihn war jedoch ein ganz entscheidender Aspekt, dass die Sozialdemokratie sich entschließen müsste, national und staatstragend zu werden. Der nationale Gedanke müsse in Verbindung mit dem freiheitlichen und sozialen frei und unabhängig vertreten werden.263 Seine Vorstellungen präzisierten sich auch in den Grundsätzen 259 3. Tagebuch, Einträge unter September 1909, Februar 1910. Briefe Elly HeussKnapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Schöneberg vom 3. Januar 1909, 5. Januar 1909, 19. Juli 1909, 12. April 1910. In einem Brief vom 30. Dezember deutet Elly ihrem Vater an, dass „Volkswirtschaftslehre“ eigentlich ein falscher Begriff sei. Es gehe vielmehr um eine „Einführung in die Sozialpolitik oder in wirtschaftliche und soziale Fragen“. 260 Vgl. in Kap. II.1.b) die Ausführungen zu ihrem ambivalenten Verhältnis zu wichtigen Persönlichkeiten der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung. 261 Theodor Heuss beschränkt sich in seiner Werkanalyse auf die zentrale, rein politische Interpretation. Heuss, Friedrich Naumann, S. 151–158. 262 Conze, Friedrich Naumann, S. 373–375. Ein in der Literatur zurecht mehrfach festgestelltes Manko lag darin, dass es Naumann nicht gelang, nennenswert in proletarische Wählerschichten einzubrechen. Dies hinderte ihn jedoch nicht, weiter seine soziale Verpflichtung gegenüber der Arbeiterschaft aufrechtzuerhalten – wenn auch mit nahezu ausschließlich bildungsbürgerlichen Anhängern. Theiner, Sozialer Liberalismus, S. 107/108. 263 Naumann, Friedrich, Demokratie und Kaisertum, in: Friedrich Naumann, Werke  2: Politische Schriften/Schriften zur Verfassungspolitik, hg. von Theodor Schieder, bearb. von Wolfgang Mommsen, Westdeutscher Verlag, Köln/ Opladen 1964, S. 342–351. Der „nationalsoziale Standpunkt“ einte nahezu die gesamte linksliberale Elite des Kaiserreichs und verband diese mit konservativen und staatstragenden Kreisen. Vgl. Kulawik, Teresa, Wohlfahrtsstaat und Mutterschaft. Schweden und Deutschland 1870–1912, Campus, Frankfurt/New York 1999, S. 198 und Reidegeld, Staatliche Sozialpolitik, S. 286. Fatal wirkt aus der historischen Betrachtung der bei Naumann und der überwiegenden Mehrheit der Liberalen vorherrschende Vorbehalt, „es könne sich aus der Unberechenbarkeit des Volkes gelegentlich die zwingende Notwendigkeit ergeben, die Geschicke der Nation in die Hände einer starken und unabhängigen Führung zu legen“. Sheehan, Der deutsche Liberalismus, S. 318. Neben der sehr stark

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des Nationalsozialen Vereins, der unter seiner Ägide 1896 gegründet wurde.264 Wieder stimmen die Ansichten Ellys mit denen Naumanns überein. Nach ihrer eigenen Einschätzung waren durchaus einige „sozialistische“ Elemente in ihren Gedanken.265 Ja, vermutlich waren diese in ihrer ungestümen Jugend sogar radikaler als die Naumanns.266 Dennoch erkannte sie einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem von ihr vertretenen „bürgerlichen Sozialismus“ und der Sozialdemokratie in der Haltung zu revolutionären Veränderungen der Gesellschaft, die sie eindeutig ablehnte.267 Ein starker nationaler Bezug war ihr zudem ebenso zu eigen wie der Wunsch mit der Arbeiterbewegung eine große Massenbasis zu erreichen.268 So stand sie auch bei Naumann, der forderte, dass der Liberalismus sozial werden müsse, was sie auch vor Beginn des Ersten Weltkrieges als erfüllt ansah.269 Im „Naumann-Kreis“ durchzogen protestantische Fragen nahezu alle Aktivitäten der Gruppe.270 Dementsprechend überrascht es nicht, dass die bedeutenden Themen, die um die Jahrhundertwende Ellys größte Aufmerksamkeit fanden, auch alle im christlich-sozialen Bereich einzuordnen sind.

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national geprägten Bildungsschicht, die dem immer aggressiver auftretenden Nationalismus ebenso unterlag wie andere Bevölkerungsschichten (Reulecke, Wiener Kongreß, S. 306) spielt hier natürlich auch die Angst vor den nicht mehr zu kontrollierenden Massen an Arbeitern eine Rolle. Düding, Dieter, Der Nationalsoziale Verein 1896–1903. Der gescheiterte Versuch einer parteipolitischen Synthese von Nationalismus, Sozialismus und Liberalismus, Oldenbourg Verlag, München/Wien 1972, S. 22–84. Wie der Untertitel von Düding bereits verdeutlicht, konnte dieser Verein weder „die Kluft zwischen der sozialistischen Arbeiterbewegung und den Reformkräften des protestantischen Bürgertums überwinden“, noch gelang es „gleichzeitig sowohl für umfassende soziale Reformen als auch für eine aktive Weltpolitik“ zu sorgen. Ritter, Gerhard A./Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, Dietz Verlag, Bonn 1992, S. 762. Brief Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin vom 3. Februar 1906. 1909 bedauert Elly etwa, dass Naumann nicht für den staatlichen Zwang gegenüber den Unternehmen hinsichtlich von Arbeitsnachweisen für die Arbeiter eintrete, da er ein großes Misstrauen gegen die preußische Bürokratie hege. Brief Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin vom 15. Dezember 1909. Brief Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin vom 9. Dezember 1905. Vgl. Rohls, Protestantische Theologie, S. 169. Brief Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin vom 20. Dezember 1911. Krey, Von der Religion zur Politik, S. 369.

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„Christlicher Glauben – Rückkehr zur Geschichte und zum Leben Jesus Christus“, „Nächstenliebe“ und „Gott“ waren die wichtigsten Aspekte einer gedanklichen Auseinandersetzung mit der Religion und dem Leben.271 Und um diese Themen zu vertiefen, genügten ihr nicht die unregelmäßigen Treffen, die sie mit Friedrich Naumann zusammenbrachten.272 Stärkere Konturen dieser theologischen Aspekte konnten sich nur in ihrem Freundeskreis, in dem sie wesentlich regelmäßiger verkehrte, herausbilden.

b) Albert Schweitzers theologische Nächstenliebe Wie wichtig für Elly Knapp der Freundeskreis war, in dem sie sich sehr wohl fühlte, beschreibt sie in ihren Erinnerungen: „Wenn ich an die jungen Menschen zurückdenke, die damals mit uns Rad fuhren, Vorträge hielten, Musik machten und Probleme wälzten, so ist mir ganz klar, daß wenige Jahre später daraus eine Gruppe der Jugendbewegung geworden wäre. Nur das Wort gab es damals noch nicht, alle ihre Elemente waren vorhanden: die Sehnsucht der in enger Festung lebenden Jugend, in die Natur hinauszukommen, die Absonderung von den überlebten Konventionen der guten Gesellschaft, also ein Stück Kulturkritik, und das stolze Gefühl des Anbruchs einer neuen Zeit.“273 Die Zusammensetzung des Kreises ergab sich natürlich aus einigen von vornherein gegebenen Faktoren. Ein wichtiges Kriterium war sicherlich die gemeinsame Schulzeit, die einige der Freunde miteinander teilten. Die Kinder stammten nahezu ausschließlich – die zweite Gemeinsamkeit – aus der aus dem Deutschen Kaiserreich ins Elsass gezogenen Professoren-, Beamten- und Kaufmannsschicht.274 So verwundert es nicht, dass eine der innigsten Freundschaften zwischen den beiden Knapp-Töchtern und der Tochter Harry Bresslaus, des Professors für Geschichte an der Kaiser-Wilhelm-Universität in Straßburg, entstand. Helene Bresslau war bereits seit der gemein271 1. Tagebuch, Einträge unter Pfingsten, 21. Mai 1899, 14. Juni 1899, 23. Juni 1899 und 28. Juni 1899. 2. Tagebuch, Einträge unter 29. Januar 1895 und 8. Juni 1899. Die ersten Tagebücher überschneiden sich zeitlich. Das erste Tagebuch umfasst den Zeitraum 1895 bis 1899, das zweite Tagebuch den Zeitraum 1893 bis 1903. Das dritte Tagebuch beginnt im Oktober 1901. 272 So etwa im August 1903 als sie extra um ihn zu sehen eine Reise unternahm; vgl. 3. Tagebuch, Eintrag unter 31. Dezember 1903. Brief Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Bad Reichenhall vom 18. August 1903. 273 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 59/60. 274 Bresslau-Hoff, Jugendfreundschaft, S. 3.

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samen Schulzeit in der Lindnerschen Höheren Mädchenschule275 besonders eng mit Marianne und Elly befreundet.276 Die Freundschaft sollte sich durch ihre gemeinsamen Aktivitäten in der Armenpflege Straßburgs und im von beiden mitbegründeten „Radelclub“ – ein gemeinschaftlicher loser Freundeskreis, der sich zur Aufgabe machte, die Natur im Elsass mit Fahrrädern zu erkunden, Diskussionen abzuhalten und die Probleme der Zeit zu analysieren277 – noch intensivieren. Helene und Elly verbanden demnach nicht nur die schulische Laufbahn und ähnliche bildungsbürgerliche Prägungen, sondern auch eine aus ihrer – wie Elly dies nennt – „Kulturkritik“ entstandene sozialkritische Haltung, die sich bei beiden in aktiver Armenunterstützung niederschlug.278 Die Verpflichtung, sich um Arme kümmern zu müssen, leitete zunehmend auch den an der Universität angestellten Theologen Albert Schweitzer.279 Helene Bresslau kannte diesen bisher nur flüchtig, fasste jedoch den Mut, ihn anzuschreiben und zur Teilnahme am Radelclub aufzufordern.280 Zur Überraschung von Fritz Haas, einem Gründungsmitglied des Radelclubs, der mit einem Bruder Helene Bresslaus zur Schule ging, schloss sich der bereits in Philosophie und Theologie promovierte Vikar Schweitzer dem Freundeskreis an.281 Der Radelclub ermöglichte ein im ausgehenden 19.Jahrhundert alles andere als selbstverständliches Zusammensein von jungen Frauen und Männern. Die Radausflüge entsprangen gewiss auch einer tief empfun-

275 Berta Lindner eröffnete im wieder zum Deutschen Kaiserreich gehörenden Elsass eine Privatschule, um den Deutschunterricht und die preußischen Lehrinhalte zu fördern. Trotz ihrer durchschnittlichen schulischen Leistungen ging Elly nicht nur gern in die Schule, sondern bewunderte auch die Ausstrahlung und die Persönlichkeit der Schulleiterin. Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 14/15. Heuss/Knapp, So bist Du mir Heimat geworden, S. 389/390. 276 Mühlstein, Verena, Helene Schweitzer Bresslau. Ein Leben für Lambarene, C.H. Beck Verlag, München 22001, S. 31–33. 277 Ebd., S. 48/49. 278 Ebd., S. 60. 279 Schweitzer, Albert, Aus meinem Leben und Denken, in: Albert Schweitzer, Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd.1, Buchclub Ex Libris, Zürich o.J., S.  101; Brabazon, James, Albert Schweitzer. A Biography, Syracuse University Press, Syracuse 22000 (1975), S. 141. 280 Mühlstein, Helene Schweitzer Bresslau, S. 48. 281 Fritz Haas hatte seine Erinnerungen 1930–1945 aufgezeichnet, diese allerdings nicht veröffentlicht. Die den „Radelclub“ betreffenden Passagen sind teilweise abgedruckt bei Woytt, Gustav, Albert Schweitzer und die Pariser Mission, in: Albert-Schweitzer-Studien, hg. von Richard Brüllmann, Verlag Paul Haupt, Bern/Stuttgart 1989, S. 152–156.

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denen Zuneigung zur Natur,282 was Elly selbst in ihren Erinnerungen bestätigt.283 Das Wichtigste waren jedoch die Diskussionen und Gespräche über soziale Fragen, Musik, Literatur und Kunstgeschichte. Aber auch Schweitzers Vorträge und Predigten, die im Freundeskreis, in vertrauten Gesprächen mit Albert Schweitzer in kleiner Runde284 oder öffentlich gehört wurden,285 diskutierten die Freunde.286 Somit gelangte der Radelclub zu solcher Wichtigkeit, wie Elly es „nicht für möglich gehalten hätte“287. Gerade theologische Fragen traten durch Albert Schweitzer immer mehr in den Vordergrund. Die Ergänzung zu den sozialpolitischen Elementen eines Friedrich Naumann war für Elly nahezu ideal. Schweitzer hielt sich an das Naumannsche Diktum, sozialpolitische Programme als predigender Amtsträger von der Kanzel herab zu meiden. Er empfand es gerade in seiner „Radelclub-Zeit“ um die Jahrhundertwende als ein Hauptanliegen, das Leben Jesu zu erforschen und zu thematisieren, wobei er nicht an einer ausführlichen Darstellung der historischen Persönlichkeit Jesu interessiert war, sondern vielmehr das Leben und die Lehre Jesu anhand spezifischer christlicher Themen für die modernen Gläubigen fruchtbar zu machen suchte.288 Nur über die Probleme des Lebens Jesu würde es möglich sein, zu den Problemen des „Urchristentums“ zu gelangen – die historische Persönlichkeit Jesu rückte zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht 282 Schweitzer, Albert, Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, in: Albert Schweitzer, Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd.1, Buchclub Ex Libris, Zürich o.J., S. 267. Die stark verbreitete Liebe zur Natur im ausgehenden 19. Jahrhundert entsprang sicherlich auch der bereits erwähnten Tabuisierung der Sexualität. Dennoch sollte dies zu keiner monokausalen Erklärung bzw. nicht zu einer unverhältnismäßig starken Gewichtung dieses Aspektes hinsichtlich der Naturbegeisterung junger Menschen führen. Vgl. Gay, Peter, Die zarte Leidenschaft. Liebe im bürgerlichen Zeitalter, Siedler Verlag, München 1999, S. 278–289. 283 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 59. 284 3.Tagebuch, Eintrag vom Januar 1904. 285 Elly beschreibt, wie der Freundeskreis mehrere Vorträge von Albert Schweitzer zwischen Ostern und Pfingsten hörte und diese diskutierte. 3.Tagebuch, Eintrag vom 31. Dezember 1903. 286 Haas, abgedruckt bei Woytt, Schweitzer, S. 155/156. 287 3.  Tagebuch, Eintrag vom 31. Dezember 1902. Eine ausführliche Schilderung der Aktivitäten des Radelclubs gibt Woytt, Schweitzer, S. 148–158. 288 Bentley, James, Albert Schweitzer. Eine Biographie, Patmos, Düsseldorf 2001. Brabazon, Schweitzer, S. 110–138. Schweitzer, Aus meinem Leben, S. 31. Die intensive Beschäftigung mit dem Leben Jesu spiegeln auch die Themen der Predigten Schweitzers der Jahre 1898 bis 1905 wieder. Vgl. Schweitzer, Albert, Predigten 1898–1948, hg. von Richard Brüllmann und Erich Gräßer, C.H. Beck Verlag, München 2001.

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Abb. 8  Albert Schweitzer und Helene Bresslau um 1910.

zuletzt dank Schweitzer in den Mittelpunkt des religiösen Interesses –,289 und in beidem würde sich der tiefe Gehalt befinden, der für das moderne christliche Leben von Nutzen sei. Die von Naumann angedeutete praktische Kraft der Person Jesus Christus, die opferfreudige, schaffensfreudige, liebende Menschen hervorbringe, wurde hier durch Albert Schweitzers Theologie für Elly vertieft. Bereits in seinen frühen Predigten deutete Schweitzer die Bedeutung des Lebens Jesu für die Menschen an. Wer empfunden habe, welche Liebe im Leben des Herrn ruhe, welche Wärme von dort ausstrahle, der müsse für andere leben und diesen Liebe erweisen.290 In der Vielzahl an

289 Schweitzer, Aus meinem Leben, S. 51; vgl. Frey, Jörg, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung, hg. von Jens Schröter und Ralph Brucker (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 114), Walter de Gruyter, Berlin/New York 2002, S. 276–278; Rohls, Jan, Vorbild, Urbild und Idee. Zur Christologie des 19.Jahrhunderts, in: Metaphorik und Christologie, hg. von Jörg Frey, Jan Rohls und Ruben Zimmermann (Theologische Bibliothek Töpelmann 120), Walter de Gruyter, Berlin/New York 2003, S. 238–240. 290 Schweitzer, Predigten, S. 136. Dass „Jesu Religion der Liebe in der Weltanschauung der Weltenderwartung auftritt“ ist ein nicht zu vernachlässigendes Faktum von Schweitzers christlichem Grundverständnis. Vgl. Schweitzer, Aus meinem Leben, S. 70, 72. Allerdings braucht dies für Ellys theologisches Verständnis nicht näher ausgeführt werden, da ihre Nächstenliebe ohne die theologische Argumentation Schweitzers pragmatisch notwendig aus ihrem christlichen Verständnis der Person Jesus Christus resultierte. Sie teilte aber Schweitzers Ansicht, dass Jesus zu uns aus einer anderen Weltanschauung heraus historisch spreche und das Christentum in steter Gefahr stehe zu „veräußerlichen“. Schweitzer, Aus meinem Leben, S. 72. Sie teilte jedoch nicht die kulturelle Krisenstimmung, die

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Predigten aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts lassen sich immer wieder die Erkenntnisse, die Schweitzer den Menschen seiner Zeit mit auf den Weg geben will, fassen. Das Leben Jesu zeige den Weg, der zu gehen sei.291 Die göttliche Seite an Jesus ist für Schweitzer nicht fassbar, doch die menschliche, spirituelle Seite kann durch Sympathie, Mitgefühl, Vorstellungskraft und Ideenreichtum im Zusammenhang mit den historischen Lebensumständen der Zeit verstanden werden. Schweitzers Christentum war nicht mehr und nicht weniger als die totale Hingabe zum Geist des originären Jesus Christus, dem verborgenen Königreich Gottes.292 Natürlich kann damit nicht von einer systematischen Theologie gesprochen werden. Aber darum ging es Schweitzer auch gar nicht, ebenso wenig wie Elly ein theologisch-wissenschaftliches System im Sinn hatte.293 Um die wichtigen Aspekte ihrer theologischen Ansichten noch besser verdeutlichen zu können, bietet sich das Einbeziehen einer weiteren Persönlichkeit an, deren Theologie sich ihr in Verbindung mit Albert Schweitzer erschließen sollte: Adolf von Harnack.294 Bereits bei der Beschäftigung mit

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Teile der protestantischen Theologie erfassten. Vgl. Nowak, Kurt, Geschichte des Christentums in Deutschland. Religion, Politik und Gesellschaft vom Ende der Aufklärung bis zur Mitte des 20.Jahrhunderts, C.H. Beck Verlag, München 1995, S. 163. Nur exemplarisch soll hier auf die Predigt „Jesu Erscheinung am See Genezareth“ zwischen Himmelfahrt und Pfingsten 1901 hingewiesen werden. Die Lehren aus einzelnen Wörtern und Taten deutet Schweitzer als Lebenshilfe und Ertragen des eigenen menschlichen Schicksals, das sich im Leben Jesu in gewisser Weise spiegelt. Schweitzer, Predigten, S. 274–279. Brabazon, Schweitzer, S. 112/113, 134. 1927 schrieb Elly Heuss-Knapp einen Artikel über Albert Schweitzer. In diesem versucht sie ohne Umschweife deutlich zu machen, „wer Albert Schweitzer ist“. Neben dem Verfasser der Bach-Biographie, dem Gelehrten und dem Arzt erwähnt sie den für sie sehr wichtigen Aspekt des Kulturphilosophen, der „ganz ohne schulmäßige Fachausdrücke eine Ethik schrieb, so einfach, daß jeder der denken kann, sie auch zu lesen vermag, und die in dem Begriff der ,Ehrfurcht vor dem Leben‘ gipfelt; ... im Humanismus wurzelnd. ... Er glaubt, daß die Wahrheiten des Christentums sich auch dem denkenden Menschengeist als wahr erweisen müssen und sie als Richtschnur für die Lebensarbeit dienen können.“ Heuß-Knapp, Elly, Albert Schweitzer, in: Jugendweg 7 (1927), S. 183/184. Einige Jahre später, als Elly im Winter 1905 in Berlin studierte, verbrachte sie ihre Sonntage meist bei „den Harnacks“, da Amalie Thiersch, die Frau Adolf von Harnacks mit Georg Friedrich Knapp verwandt war. In ihren Erinnerungen kam es ihr „immer so vor, als ob ich erst am Sonntag unter seinen ordnenden Fragen das begriffen hätte, was ich zuvor lernte“. Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 71. Und genau dieser Harnack scheint ein Schlüssel zu ihrem theologischen Verständnis um die Jahrhundertwende gewesen zu sein, da sie neben der

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Harnacks Schriften fällt auf, dass Elly nicht dessen „bedeutendstes Werk“295, das „Lehrbuch der Dogmengeschichte“, sondern die Vorlesungen, die an ein breiteres Publikum unter dem Titel „Das Wesen des Christentums“ gerichtet waren, sehr genau studierte. Hier wurde sie, wie auch Schweitzer, von einem der herausragendsten Theologen der Zeit darin unterstützt, dass der Glaube eine Sache für jedermann sei. Die Einfachheit des Glaubens aus seiner Elementarität heraus gelte es durch Theologen vermittelt zu erkämpfen und den Menschen nahe zu bringen.296 Zudem müssten die Seelen, die in der evangelischen Kirche nicht mehr ihre Heimat finden konnten, durch Vermittlung des religiösen Besitzes des Protestantismus an die evangelische Kirche zurückgebunden werden.297 Die Predigt Jesu spielt hier eine fundamentale Rolle. Harnack entwickelt drei Gesichtspunkte, die einen zentralen Wert in dieser besitzen: 1. Das Kommen des Reiches Gottes bedeutet die Zerstörung des Teufelskreises und die Überwindung der Dämonen, die Menschen in Besitz genommen haben. Im Heilswirken von Jesus Christus ist dieses Kommen bereits anwesend. (Hier ist Schweitzers Hingabe zum Geist des originären Jesus Christus, zum verborgenen Königreich Gottes, angelegt.) 2. Durch die Botschaft Jesus Christus – egal wie der einzelne Mensch auch zu dieser stehen mag – hat sich der Wert des Menschengeschlechtes gesteigert. Die Menschen sind sich selbst gegenüber auch aus ihrer Erfahrung heraus teurer geworden. Somit ist die wirkliche Ehrfurcht vor dem Menschen die praktische Anerkennung Gottes als des Vaters durch die Botschaft von Jesus Christus. (Schweitzers Gedanke, dass die Vernunft dem Menschen deutlich mache, die Fakten der Erfahrung eines Menschen anzuerkennen, selbst falls diese widersprüchlich sein sollten, sei vernünftiger als diese zu leugnen, ergänzt diese „fortschrittsbejahende, erkenntnissteigernde theologische Deutung“.298) Diskussion mit Albert Schweitzer kein Werk – neben den erwähnten Büchern Friedrich Naumanns – derart intensiv durchgearbeitet hat wie Adolf von Harnacks „Wesen des Christentums“. Die von Elly gelesene Originalausgabe steht im Privatarchiv der Familie Heuss in Basel. 295 Claussen, Johann Hinrich, Adolf von Harnack, in: Klassiker der Theologie, Bd. 2: Von Richard Simon bis Karl Rahner, C.H. Beck Verlag, München 2005, S. 145. 296 Ebd., S. 150. 297 Wenz, Gunther, Adolf von Harnack. Herzensfrömmigkeit und Theologiemanagement, in: Theologen des 20.Jahrhunderts. Eine Einführung, hg. von Peter Neuner und Gunther Wenz, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, S. 35. 298 Brabazon, Schweitzer, S. 136.

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3. Das Evangelium Jesu lässt sich als ethische Botschaft darstellen: a) Jesus löst die Verbindung von Ethik mit dem äußeren Kultus und mit technischreligiösen Übungen. b) In allen sittlichen Fragen geht Jesus auf die Wurzeln, das heißt auf die Gesinnung zurück. c) Das aus der Verflechtung mit dem Eigensüchtigem und Rituellem Befreite (das Sittliche) wird auf die Liebe zurückgeführt. d) Das Sittliche wird aus allen fremden Verbindungen herausgeführt, selbst aus der Verknüpfung mit der Religion.299 Und doch bleibe schließlich ein entscheidender Punkt, an dem Religion und Moral zusammengehören, und dies sei die Demut. „Demut und Liebe hat Jesus in Eins gesetzt.“ Demut sei nicht nur eine einzelne Tugend, sondern reine Empfänglichkeit, Ausdruck innerer Bedürftigkeit, Bitte um Gottes Gnade, Vergebung – also Aufgeschlossenheit gegenüber Gott.300 Die eigentliche Betätigung der Religion erkannte Jesus für Harnack in der Übung der Nächstenliebe und Barmherzigkeit. In eben dieser Gesinnung der Barmherzigkeit sei auch die richtige religiöse Haltung verbürgt.301 Dies war Ellys Religion, dies war Ellys Jesus.302 Dies war ihre Motivation und ihr Streben, auf sozialem Gebiet etwas zu bewegen. Und hier wird auch deutlich, dass in Ellys Umfeld303 keine grundlegenden Differenzen in den kirchlichen Gemeinschaften erblickt wurden. Die Gemeinsamkeiten bezogen sich neben der Übereinstimmung hinsichtlich grundsätzlicher Positionen der christlichen Kirchen allerdings nur auf die Jesusfrömmigkeit und die aktive soziale Tätigkeit 299 Harnack, Adolf, Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen, J.C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 51901, S. 33–47. 300 Harnack, Wesen des Christentums, S. 47. Die neuere theologische Forschung präzisiert den Begriff der „Demut“ in eben diesem Sinne: „Erfährt der Christ im Glauben seine Existenz von der göttlichen Wirklichkeit her eröffnet, lebt er von dieser Wirklichkeit her aus Liebe, und ist er auf diese Wirklichkeit hin in Hoffnung ausgerichtet, so entspricht dem Gottesbezug des Glaubens als Gotteserkenntnis der Selbstbezug in der Demut als Selbsterkenntnis, entspricht der Wirksamkeit Gottes im liebenden Bezug auf den Nächsten der Selbstbezug in der Demut als Selbstvergessenheit, entspricht der Ausrichtung auf die Gemeinschaft mit Gott in der Hoffnung der Selbstbezug des Menschen in der Demut als Selbstrelativierung.“ Zemmrich, Eckhard, Demut. Zum Verständnis eines theologischen Schlüsselbegriffs (Ethik im theologischen Diskurs 4), LIT Verlag, Berlin 2006, S. 449. 301 Harnack, Wesen des Christentums, S. 48. 302 Und auch der Schweitzers: „Harnack schuf Jesus nach seinem [Schweitzers] Bilde.“ Brabazon, Schweitzer, S. 90. 303 Hiermit sind neben Elly insbesondere Albert Schweitzer, Adolf von Harnack und Friedrich Naumann angesprochen.

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als Verpflichtung für einen gläubigen Christen. Politisch lagen die Positionen teilweise weit auseinander.304 Noch einmal Harnack: „Aber sobald sie [die Fülle kirchlicher Gemeinschaften und Richtungen] sich ernsthaft auf das besinnen, was ihnen geschenkt ist und wovon sie leben, müssen sie empfinden, dass sie im Tiefsten einig sind.“305 Harnack und Schweitzer waren natürlich beide Kinder der Reformation. Die Lehre Jesu sollte Harnack zufolge demgemäß folgerichtig von der Last des Dogmas befreit werden, was einer Bekenntnisfreiheit der Gläubigen hinsichtlich ihrer Glaubensgrundsätze sehr nahe kam. Die Anerkennung der Grundsätze der Reformation, der modernen Wissenschaften und der Aufklärung war dabei entscheidend.306 Und hierfür war es nötig, Menschen „aufzuklären“, ja zu „bilden“, damit diese in der Lage sein konnten, die „selbstverantwortete Gestaltung einer christlichen Existenz“307 zu entwickeln.308 „Bildung“ musste somit ein zentraler Gedanke der christlichen Identität werden. Für Albert Schweitzer bestand „Bildung“ darin, das gesamte Gebiet des menschlichen Wissens in seinen Grundzügen zu erfassen. Es entstehe durch Bildung eine einheitliche Weltanschauung, „welche dem einzelnen seine Stellung zu der ihn umgebenden Welt zu Bewußtsein bringt und sein Urteil und sein Handeln bestimmt“.309 Schweitzer ist zudem der Überzeugung, dass 304 Vgl. etwa Nowak, Kurt, Wege in die Politik. Friedrich Naumann und Adolf von Harnack, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. von Rüdiger vom Bruch, Walter de Gruyter, Berlin/New York 2000, S. 39. 305 Adolf von Harnack formuliert dies an exponierter Stelle in seinem kurzen Vorwort zur Erstauflage seines für eine breite Leserschaft einflussreichsten Werkes. Harnack, Wesen des Christentums, S. IV. Harnack äußert sich zu der „inneren Gemeinschaft“ unterschiedlicher kirchlicher Richtungen mehrfach. Vgl. etwa Harnack, Adolf von, Protestantismus und Katholizismus in Deutschland (1907), in: Adolf von Harnack als Zeitgenosse, Teil 1: Der Theologe und Historiker, hg. von Kurt Nowak, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1996, S. 391–415. 306 Brabazon, Schweitzer, S. 88. 307 Claussen, Harnack, S. 151. 308 Albert Schweitzer betont wiederholt die seiner Ansicht nach elementare „Ethik des Wirkens“, in der die Aktivität und das Tätigsein jedes Einzelnen zum Wohle der Anderen gefordert wird. Lenk, Hans, Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, in: Hans Lenk, Albert Schweitzer – Ethik als konkrete Humanität (Forum Humanität und Ethik 1), LIT Verlag, Münster u.a. 2001, S. 10. 309 Schweitzer, Albert, Die Philosophie und die allgemeine Bildung im 19.Jahrhundert, in: Albert Schweitzer, Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze (Werke aus dem Nachlaß), hg. von Claus Günzler, Ulrich Luz und Johann Zürcher, C.H. Beck Verlag, München 2003, S. 29. Dieser Text Schweitzers stammte aus dem Jahre 1899. Vgl. dazu die einleitenden Bemerkungen eines der Herausgeber. Schweitzer, Philosophie, S. 23.

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religiöse Bildung – vermittelt durch öffentliche, zusammenhängende Vorträge und den Religionsunterricht in den höheren Lehranstalten – notwendig sei, um religiöses Leben erhalten und fördern zu können.310 Und damit wird auch der Begriff „Bildung“, der von der 14jährigen Elly noch etwas unbeholfen geäußert wurde, knapp in ihrem Sinne auf den Punkt gebracht. Durch ihre Lehrtätigkeit in der Sonntagsschule in Straßburg, in der „jeder einzelne zum Glauben geführt werden und als lebendiges Glied am kirchlichen Leben teilhaben“311 sollte, wie es im kirchlichen Interesse der Sonntagsschulen lag, lernte Elly bereits vor den Einflüssen Schweitzers und Harnacks die Bedeutung der religiösen Vermittlung. Ihre Lehrerinnenausbildung, die Gründung einer kleinen Privatschule und der ersten Fortbildungsschule für Mädchen in Straßburg blieben stets verbunden mit der ihr wichtigen Vermittlung religiöser Bildung. Jedoch zeigen diese Stationen als Lehrerin bereits die Sensibilisierung, dass es nicht mit religiöser Bildung allein getan sein konnte. Eine die verschiedensten Wissensgebiete umfassende Kenntnis, eine „Volkserziehung“, die den Einzelnen zum Herausbilden einer eigenständigen Persönlichkeit befähige und diesen vor sozialer Armut bewahre, sei vielmehr nötig.312 Natürlich beinhaltete dies nicht wissenschaftliche Studien in allen möglichen Fächern – das war auch bereits damals nicht einmal mehr in Ansätzen zu leisten –, sondern solide Grundkenntnisse.313

310 Schweitzer, Albert, Der Protestantismus und die theologische Wissenschaft, in: Albert Schweitzer, Vorträge, Vorlesungen, Aufsätze (Werke aus dem Nachlaß), hg. von Claus Günzler, Ulrich Luz und Johann Zürcher, C.H. Beck Verlag, München 2003, S. 252. 311 Schecker, Margarete, Die Entwicklung der Mädchenberufsschule, Beltz, Weinheim 1963, S. 24. 312 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 44. 313 Ellys Motivation für das Verfassen ihrer „Bürgerkunde“ lag – wie bereits dargelegt – ebenfalls hierin begründet.

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II. Ausprägung der sozialen Persönlichkeitsstruktur

Die aktive Tätigkeit in der kommunalen Sozialpolitik und der aufklärerische Impuls, Menschen für sozialpolitische Themen zu sensibilisieren und – im günstigen Fall – für eine aktive Teilnahme an Unterstützungstätigkeiten zu gewinnen, waren die herausragenden Triebfedern der mit einem Freund aus dem Naumannkreis seit 1908 verheirateten Elly Heuss-Knapp vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Die Hochzeit mit Theodor Heuss wurde von der Traurede Albert Schweitzers umrahmt. Nach einem letzten langen Gespräch zwischen ihm und Elly am 9.Februar 1908 war sich dieser sicher, die Trauung „mit voller Überzeugung machen“ zu können. In der Traurede bewies Schweitzer, dass er wie kein Zweiter die Lage des Brautpaares und die Persönlichkeit Ellys in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg erfassen konnte. Die Unsicherheit um das Fortkommen und den Lebensunterhalt der beiden sah er ebenso deutlich wie deren „Wirken“ durch ihre Gaben, Einfluss auf andere Menschen auszuüben und der Allgemeinheit vom Erkennen und Wollen etwas mitteilen zu können. Dieses „Wirken“ beschrieb Schweitzer als gleichbedeutend mit Religion. Er fährt fort: „Nur die haben begriffen um was es sich in der Arbeit an unserer Zeit handelt, denen es aufgegangen ist, dass alles Helfen, Bessern und Fördern auf die Schaffung eines neuen Geistes gehen muss. ... Der Geist aber auf den wir hinwirken ist der Geist Jesu.“ Er konnte kaum treffender ausdrücken, was Elly bewegte, wobei er hier vorrangig an sie und weniger an Theodor dachte, zumal er ihr ja auch durch eine langjährige Freundschaft näher stand. Elly selbst war sich bereits vor der Hochzeit sicher, dass Schweitzer, der sie gut kannte und verstand, die richtigen Worte finden würde, auch wenn Theodor „zu allem kirchlichen nur ein theoretisches Verhältnis“ hatte.1 Ihr Privatleben erhielt durch ihren Mann jedenfalls eine zusätzliche Festigung. Ihr „Hin- und Hergerissensein zwischen sozialem Verhalten und dem

1 Brief von Albert Schweitzer an Helene Bresslau vom 10.Februar 1908, in: Albert Schweitzer/Helene Bresslau, Die Jahre vor Lambarene. Briefe 1902–1912, hg. von Rhena Schweitzer Miller und Gustav Woytt, C.H. Beck Verlag, München 1992, S. 199; Ergänzung 1: Traurede Schweitzers für Elly Heuss-Knapp und Theodor Heuss, 11. April 1908, in: Albert Schweitzer, Theologischer und philosophischer Briefwechsel 1900–1965, hg. von Werner Zager, C.H. Beck Verlag, München 2006, S. 387–389; Heuss/Knapp, So bist Du mir Heimat geworden, S. 442, 444.

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Genuss des Lebens“2 erfuhr insbesondere durch ihn eine starke Verlagerung auf das Soziale. Nicht dass sie einem guten Hotel oder feiner Kleidung abgeneigt gewesen wäre, doch Theodor Heuss interessierte sich überhaupt nicht für derartige Dinge. So entwickelte sich bei ihr ebenfalls ein Gefühl der „Unwichtigkeit gegenüber dem weltlichen Luxus“,3 wenn sie diesem auch nie völlig entsagen konnte. Dafür war das Aufwachsen in einem Professorenhaushalt doch zu sehr von der Etikette geprägt. Der Vater Georg Friedrich Knapp wurde zudem noch 1906 zum Rektor der Straßburger Universität berufen,4 was die familiären Bindungen trotz erhöhter Arbeitsbelastung zwar wenig beeinträchtigte, doch noch mehr repräsentative Termine im Hause Knapp zur Folge hatte.5 Somit wurde nicht nur weiterhin auf einen stilbewussten Umgang Wert gelegt, sondern auch ein gewisses Statusdenken mittels repräsentativer Einrichtungsgegenstände und Kleidung gezeigt. Für Elly Heuss-Knapps sozialpolitische Entwicklung ist dies umso bemerkenswerter, da es ihr dennoch zunehmend – unter nicht unwesentlichem Einfluss von Theodor Heuss – gelang, die elementar wichtigen Dinge für das Leben von den unnötigen zu unterscheiden und ein ausgezeichnetes Gespür für die Notlagen und notwendigen Bedürfnisse der ärmeren Bevölkerung zu entwickeln. Von ihrer Arbeit in der Armenfürsorge Straßburgs geprägt, engagierte sie sich mit dem Ausbruch des Ersten

2 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin vom 17. Januar 1906. 3 In den „Brautbriefen“, dem Briefwechsel zwischen Theodor Heuss und Elly HeussKnapp aus den zwei Jahren vor der Hochzeit der beiden, wird diese langsame Wandlung sehr deutlich. In den Briefen vom 26. und 28.August 1906 wird Ellys Anfälligkeit für ein „luxuriöses Leben“ offenkundig (das hier angesprochene teure Essen und elegante Hotel dürfte nicht einmal einem Ein-Sterne-Hotel Ende des 20. Jahrhunderts entsprochen haben; die Speisen waren sicherlich im Verhältnis teuer, doch nicht ausgefallen, und die Zimmer waren selbst in den gehobenen Klassen kaum mit fließendem Wasser und eigener Toilette ausgestattet). Theodor Heuss reagierte wie er sein ganzes Leben in diesen Fragen reagieren sollte: Er erkennt die vorhandenen Neigungen bei Elly an, macht jedoch klar, dass ihm derartiges völlig gleichgültig ist. Heuss/Knapp, So bist Du mir Heimat geworden, S. 59/60. Bereits Ende des Jahres 1906 ist eine gewisse Aversion gegenüber „Chicmenschen“ bei Elly in ihren Briefen sichtbar. Vgl. etwa ebd., S. 135. Dies radikalisierte sich bei Elly zum „Hass“ auf elegante Hotels (ebd., S. 304), bis sich wieder eine gewisse Gleichgültigkeit mit einer nicht zu verleugnenden Zustimmung zur Eleganz einstellte. Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Schöneberg vom 2. Mai 1908. 4 Heuss/Knapp, So bist Du mir Heimat geworden, S. 147, 180. 5 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 45.

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Weltkrieges sehr stark für das Rote Kreuz.6 Ihre Hilfstätigkeit begleiteten ständig Veröffentlichungen und Vorträge, mit denen sie eine „Grund-Bildung“ der Frauen ins Auge fasste.7 Die notwendige Kraft und den unbedingten Rückhalt gaben ihr die zwei wichtigsten Menschen in ihrem Leben in den von ihr als große Umbruchszeit wahrgenommenen Jahren zwischen der Berufung des Vaters zum Rektor der Universität 1906 und der wirtschaftlichen Katastrophe durch die Hyperinflation 1923: Georg Friedrich Knapp, dessen geistige Wirkung stark blieb,8 und Theodor Heuss, durch den seine Gattin die menschliche Liebe erfuhr, die für die Sicherheit und den Halt der jungen erwachsenen Frau notwendig war, um ihre gesamte Energie für ihr sozialpolitisches Engagement und die eigene Familie einsetzen zu können.9

1. Sozialpolitische Themen vor dem Ersten Weltkrieg a) Publikationen als Sprachrohr sozialpolitischer Grundausrichtung im Bereich der Armenunterstützung Elly Knapp begann nicht zufällig im Jahr 1906 mit ihrer publizistischen und öffentlichkeitswirksamen Arbeit im sozialen Bereich. Ihre Beteiligung am „Straßburger System“10 der Armenfürsorge und ihre Prägung durch die Mitarbeit an diesem11 ermutigte sie, in ihren ersten Veröffentlichungen diesem Thema die größte Aufmerksamkeit zu widmen. Ihre erste Publika6 Vgl. Kap. II.2. 7 Vorwort zur fünften und sechsten Auflage, in: Heuß-Knapp, Bürgerkunde, S. V. Natürlich war ihr eine gewisse Eitelkeit nicht fremd, wie sie bereits 1897 in ihren Tagebüchern unumwunden zugibt (1. Tagebuch, Eintrag am 25. Juni 1897), und es erfüllte sie mit Stolz, eine „Bürgerkunde und Volkswirtschaftslehre für Frauen“ verfasst zu haben, die nicht nur mehrere Auflagen erlebte, sondern auch noch überwiegend positiv rezensiert wurde. Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 82. 8 Heuss/Knapp, So bist Du mir Heimat geworden, S. 273. 9 Die mütterliche Liebe zur Tante Lella wich endgültig ihrer Liebe zu ihrem Mann Theodor. Sehr emotional schildert Elly ihre starke Zuneigung zu Theodor im Rückblick eines Jahres am 24. März 1908. Heuss/Knapp, So bist Du mir Heimat geworden, S. 458. Das ermöglichte Elly auch den gewiss schmerzlichen Verlust durch den Tod „Tante Lellas“ im Juni 1909 zu verwinden. Brief Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Schöneberg vom 24. Juni 1909. 10 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, 2, S. 25–27. 11 Vgl. Kap. I.3.b)

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tion überhaupt erschien 1906 in der Zeitschrift „Soziale Praxis. Zentralblatt für Sozialpolitik“,12 dem einflussreichen Organ einer Reihe von Sozialpolitikern – unter denen der bekannteste der ehemaligen Minister für Handel und Gewerbe in Preußen, Hans Hermann Freiherr von Berlepsch,13 war –, die mit der Gesellschaft für Soziale Reform große Wirkung entfalteten.14 Die eigenverantwortliche Mitarbeit der Arbeiter am gesellschaftlichen Leben leitete sehr stark die Intentionen dieser Sozialreformer. „Soziale Reformen von oben“ bestimmten das Denken, und dies stimmte wieder mit der ersten Generation des Vereins für Socialpolitik überein, die nicht zuletzt Georg Friedrich Knapp verkörperte. In der Zeitschrift „Evangelisch-Sozial“, den Mitteilungen des Evangelisch-Sozialen Kongresses, dem Friedrich Naumann als Mitglied zeitweise nahe stand,15 und im Jahrbuch der von Naumann herausgegebenen „Hilfe“ („Patria“) präzisierte Elly Knapp ihre Ansichten zum Straßburger System 1907 und 1908.16 Diese Veröffentlichungen zeigen sehr gut die Funktionsfähigkeit öffentlicher Armenunterstützung an einem regionalen Beispiel innerhalb der Ausprägung eines Wohlfahrtssystems im Deutschen Kaiserreich vor dem Ersten Weltkrieg. Die aktive Mitarbeit an der kommunalen Sozialpolitik in Straßburg bestimmte neben den bereits erwähnten „weichen Faktoren“ sozialpolitischer Prägung die Ansichten von Elly Knapp in den Jahren vor dem „Großen Krieg“. Aus dem Elsass stammende deutsche Zeitgenossen empfanden 12 Knapp, Elly, Kommunale Sozialpolitik, in: Soziale Praxis XV (1905/1906), Sp. 677–681. 13 Insbesondere zum sozialpolitischen Wirken während seiner Amtszeit als Minister vgl. Berlepsch, Hans-Jörg von, „Neuer Kurs im Kaiserreich?“ Die Arbeiterpolitik des Freiherrn von Berlepsch 1890 bis 1896, Verlag Neue Gesellschaft, Bonn 1987. 14 Schulz, Günther, Bürgerliche Sozialreform in der Weimarer Republik, in: Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, hg. von Rüdiger vom Bruch, C.H. Beck Verlag, München 1985, S. 183/184. 15 Vgl. zu den Diskussionen um und mit Naumann innerhalb des Evangelischsozialen Kongresses Pollmann, Klaus Erich, Friedrich Naumann und der Evangelisch-soziale Kongreß, in: Friedrich Naumann in seiner Zeit, hg. von Rüdiger vom Bruch, Walter de Gruyter, Berlin/New York 2000, S. 49–53, 57–62. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Veröffentlichung von Elly unter seiner Fürsprache zustande kam, nachdem er ab 1902 mehr Einfluss im Kongress gewann. Ebd., S. 57. 16 Knapp, Elly, Die Organisation der Öffentlichen Armenpflege in Straßburg i.E., in: Evangelisch-Sozial. Mitteilungen des Evangelisch-Sozialen Kongresses 16 (1907), S.  60–63. Knapp, Elly, Ein Blick auf die Entwicklung der öffentlichen Armenpflege, in: Patria 8 (1908), S. 45–60.

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die Veränderungen, die der Krieg mit sich brachte, als enorm.17 Insbesondere Elly begriff den Krieg als große Katastrophe.18 Doch schon einige Jahre zuvor wurden für sie sozialpolitische Aktivitäten relevant. 1906 beschäftigte sie sich besonders mit der Arbeiterpolitik in ihrer Heimatstadt Straßburg. Die kommunalisierten Betriebe, sie nennt etwa die Kanalisation, Straßenbahnen, Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke, müssten als erste Aufgabe der Arbeitsordnungen einer einheitlichen Arbeiterpolitik unterstellt werden. In diesen „Arbeitssatzungen“ sollte sich der sozialpolitische Standpunkt der einzelnen Stadtverwaltungen scharf ausprägen, da daran erkennbar würde, was die Städte für ihre Arbeiter gewillt wären zu tun. Wichtig erscheint Elly Knapp nun, dass dem Arbeiter die „volle Klarheit über seine Rechte und Pflichten“19 verschafft werden, dass feste Grundsätze der Entlohnung aufgestellt werden und dass die reichsgesetzlichen staatlichen Fürsorgemaßnahmen (Krankenversicherung, Altersabsicherung etc.) das materielle Wohl der Arbeiter bis zu einer wirklich ausreichenden Höhe ergänzen werden und diesen ein Rechtsanspruch dafür zugestanden werde.20 Von diesen Überlegungen ausgehend verweist sie auf die Straßburger Verhältnisse. Hierbei sei, so führt sie aus, die Regelung der Lohnfrage mit Abstand am wichtigsten. Drei Elemente würden den Lohn bestimmen: der Grundlohn, die Dienstalterszulagen und die Familienzulagen. Sie dokumentiert, dass im Straßburger System die Löhne jährlich individuell, in Fühlung zu den Lohnsätzen der freien Wirtschaft festgelegt wurden: „Die Grundlöhne werden jährlich den Durchschnittslöhnen der betreffenden Arbeiter entsprechend festgesetzt“, 21 wobei der Grundlohn nicht geringer als der Tageslohn gewöhnlicher Tagarbeiter sei und nicht unter einen festgesetzten „Minimalstlohn“ fallen dürfe. Sie bedauert, dass es der Stadt dennoch erlaubt sei, in wirtschaftlich schlechten Zeiten die Löhne herabzusetzen, doch sie fürchtet nicht, dass es dazu kommen werde, da Erfahrungswerte eine Lohnsenkung im öffentlichen Bereich als sehr unwahrscheinlich erscheinen lassen würden. Mittels Familienzuschlägen glaubt sie die Beziehung von Lohn und Bedarf gerechter individuell abstimmen zu 17 Ferro, Der große Krieg 1914–1918. Dass die neuere historische Forschung zum Ersten Weltkrieg die derart stark empfundenen, scheinbar alle Bereiche betreffenden Veränderungen modifiziert ohne den gewaltigen Umbruch zu relativieren, beeinträchtigt die Interpretation der historisch nachweisbaren Empfindungen der Zeitgenossen – nicht nur die aus dem Elsass – wenig. Stevenson, David, 1914– 1918. Der Erste Weltkrieg, Artemis & Winkler, Düsseldorf 22006, S. 8. 18 4. Tagebuch von 1915 bis 1926. 19 Knapp, Kommunale Sozialpolitik, Sp. 678. 20 Ebd., Sp. 678. 21 Ebd., Sp. 678.

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können und verteidigt die Zuschläge auch als gewerkschaftliche Leistung, eine Beziehung zwischen den ortsüblichen Lebenshaltungskosten und dem Lohn herzustellen. In den Begründungen der Straßburger Arbeitssatzung, die sie in ihrem Aufsatz wörtlich anführt,22 treten die ihr wichtigen Gesichtspunkte offen zutage: Sollte der Lohn und der eventuelle Nebenerwerb des Mannes nicht genügen, um eine Familie zu ernähren, wären die Frau und frühzeitig auch die Kinder gezwungen ihren Teil zum Lebensunterhalt beizutragen.23 Die sozial nachteiligen Folgen für das Familienleben – Lockerung der Bindungen, Verwahrlosung der Jugend, Schwinden hauswirtschaftlicher Kenntnisse – würden die Stadt jedoch zwingen, für ihre Arbeiter Lohnverbesserungen herbeizuführen. Der Lohn des Arbeiters müsse demnach die Kosten der Existenz der Familie abdecken – der „Lohn als Existenzgewährung“.24 Weitere Sozialleistungen für Arbeiter fanden sich bereits schon in anderen Städten und wurden nun für Straßburg zusätzlich berücksichtigt, wie die Lohnfortzahlung an Feiertagen, verlängerte Kündigungsfristen von einem Monat bis zu drei Monaten für den städtischen Arbeitgeber und Zuschläge für Überstunden, welche ebenso wie die Sonntagsarbeit möglichst vermieden werden sollten. Ebenso wurde in Straßburg der Acht- bzw. Zehn-Stunden-Tag – je nach Betrieb – und ein mehrtägiger Urlaub eingeführt. Schließlich konnten auch die Altersund Hinterbliebenenversorgung erhöht und den familiären Bedürfnissen angepasst werden.25 Für Elly Knapp war bereits im Alter von 25 Jahren deutlich, 22 Ebd., Sp.679. 23 Lediglich bei Facharbeitern genügte in etwa das Arbeitseinkommen für den Lebensunterhalt der Familie, vorausgesetzt es gab nicht zuviel Kinder und der Arbeiter blieb gesund. Dementsprechend waren die Motive für Frauen, die arbeiteten, meist im Mangel an Einkommen begründet. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 312; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, III, S. 780; Ritter/Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, S. 503–506. Von den Einnahmen der Familie wurden über 80% durch die Befriedigung der allernotwendigsten Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung und Kleidung aufgezehrt. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, I, S. 312; Ritter/Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, S. 507–510, 516–528. 24 Knapp, Kommunale Sozialpolitik, Sp.679. 25 Vgl. den Abschnitt über die Invaliden- und Altersversicherung bei Dominicus, Alexander, Die Arbeiterversicherung, in: Das Reichsland Elsass-Lothringen 1871–1918, Bd. II/2: Verfassung und Verwaltung von Elsass-Lothringen 1871– 1918, hg. im Auftrage des wissenschaftlichen Instituts der Elsass-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt von Georg Wolfram, Verlag für Sozialpolitik, Wirtschaft und Statistik, Berlin 1937, S. 301–306. Es soll nicht übersehen werden, dass reichsweit die Reduktion von einem 16-Stunden- zu einem 10-Stunden-Tag für den Großteil aller Arbeiter innerhalb eines halben Jahrhunderts erreicht wurde,

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dass Arbeiter einen Rechtsanspruch auf die in Straßburg erreichten Schritte der Absicherung erhalten mussten, sollten die Errungenschaften nicht nur ein kurzes Intermezzo bleiben. Zudem wurde das Verlangen des Arbeiters nach Selbständigkeit anerkannt; ein zentrales politisches Problem vor dem Krieg.26 Arbeiterausschüsse werden von ihr zwar nicht abgelehnt, doch steht sie der Instrumentalisierung von diesen skeptisch gegenüber. Nur wenn die Unabhängigkeit von der Stadt und den Arbeitgebern innerhalb der Ausschüsse gewahrt und die Entscheidungen frei getroffen werden, könnte sich dieses Mitbestimmungsorgan bewähren.27 Diese teilweise sehr fortschrittlichen Maßnahmen in Straßburg dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es lediglich Verbesserungen für Arbeiter im öffentlichen Bereich waren. Die freie Wirtschaft blieb dabei außen vor. Von den Regulierungen in diesem Bereich schreckte der Staat weitestgehend noch zurück.28 Ein knappes Jahr später veröffentlichte Elly Knapp einen Artikel zur Organisation der öffentlichen Armenpflege in Straßburg. Hierin stellt sie gleich zu Beginn fest, dass die Armenpflege wohl die größte Aufmerksamkeit verdiene. Ihre Begründung ist zunächst mehr formaler Art, da sie einerseits das soziale Interesse der Mitarbeiter als vorhanden voraussetzt, andererseits das Verständnis für die wirtschaftliche Lage der „untersten Volksschicht zu wecken und zu erweitern“ sucht.29 Zum Verständnis der Verhältnisse in Straßburg geht sie kurz auf die historische Entwicklung der Armenunterstützung ebendort ein.30 Die Übernahme des französischen Rechts, das eine „fakultative“ Unterwas durchaus beachtlich war. Andererseits blieb ein formell gewährter Urlaub eine Rarität. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, III, S. 781/782; Ritter/Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, S. 368. 26 Dieser sozialdemokratischen Forderung entsprach der Gedanke, dass über Selbständigkeit und eine sinnvolle Freizeitgestaltung die Arbeiter Bildung, somit Wissen und schließlich Macht erlangen würden. Vgl. dazu Stürmer, Das ruhelose Reich, S. 36–39. 27 Knapp, Kommunale Sozialpolitik, Sp.680/681. 28 Die 14-Tage-Kündigungsfrist wurde beispielsweise nicht angetastet. Die Unternehmer wehrten sich erfolgreich gegen die teilweise wegweisenden Reformen aus dem öffentlichen Arbeitgebersektor. Vgl. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866– 1918, I, S. 310/311. 29 Knapp, Organisation der öffentlichen Armenpflege, S. 60. 30 Ausführlicher behandelt Elly Knapp historische Aspekte der Armenpflege im Jahrbuch der „Hilfe“. Sie kommt zu dem Schluss, dass eine systematische Armenpflege im Mittelalter nicht vorhanden war. Knapp, Blick auf die Entwicklung der öffentlichen Armenpflege, S. 47. Die Hilfstätigkeit um des Wohles der Armen wegen setzte sich als Gedanke scheinbar erst in der frühen Neuzeit durch. Die Vorschläge des Humanisten Juan Luís Vives zur Neuordnung – besser: zur ersten

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stützung – also gemäß den vorhandenen Mitteln – der Armen vorsah, führte nach 1871 dazu, dass diese Mittel nicht mehr ausreichten um die existentiellen Grundlagen sicherzustellen. Daher musste der Gemeinderat regelmäßig städtische Beihilfen bewilligen. Nach ihrer Ansicht waren jedoch nicht die Mittel ausschlaggebend sondern die mangelhafte Organisation: Die Höhe der Unterstützung reichte oft nicht aus, wohingegen die Zahl der Unterstützten entschieden zu hoch war. Zudem wurden die Einzelfälle nicht genau geprüft und es mangelte an erzieherischem Einfluss auf die Unterstützten, da die ehrenamtlichen „Pfleger“ größtenteils überlastet waren. Ergänzend kam ein konfuses Nebeneinander verschiedener freier Wohltätigkeitsvereine und -gruppierungen hinzu.31 Straßburg entschied sich daher für ein verändertes System, in welchem der Leitgedanke „eines sozialen Hilfsinstituts für den bedürftigen Staatsangehörigen“32 bestimmend werden sollte. Entscheidend war hierbei der Gedanke, dass der Hilfsbedürftige nicht mehr das Gefühl haben sollte, ein bestimmter Mitbürger, von dessen Willen er abhängig wäre, unterstütze ihn, sondern dass er sich auch als Hilfsbedürftiger als gleichwertiges Mitglied der Allgemeinheit betrachten könne. Aus dieser Auffassung heraus beschränkte Straßburg die ehrenamtliche Tätigkeit, ohne diese jedoch abzuschaffen, und überwies einen großen Teil der Armenpflege an fachmäßig geschulte Beamte. Die organisatorische Ausgestaltung der Armenpflege ist bereits beschrieben worden.33 Ergänzend wurde 1904 den Armen die freie Ärztewahl zugestanden und es wurden berufliche Kranken- und Hauspflegerinnen in der Armenverwaltung angestellt. So gelangte Elly Knapp zu dem Schluss, dass es „durch eine einheitliche großzügige Organisation und ihre sorgfältige praktische Ausübung“ gelungen sei, „das öffentliche Unterstützungswesen aus der Enge traditioneller Gebundenheit zu befreien, so daß es immer mehr den charitativen und polizeilichen Charakter verliert und mit wahrhaft sozialem Geist erfüllt wird“.34 Die Grundzüge der Straßburger Armenpflege waren auch nach JahrOrganisation – des Armenwesens für die Stadt Brügge (De Subventione Pauperum 1526) stellen eine erste moderne Theorie der Fürsorge dar. Die Straßburger Bezirkseinteilung beruhte auf diesen Ausgangsüberlegungen. Ebd., S. 48, 50. 31 Sachße, Christoph, Die freie Wohlfahrtspflege im System kommunaler Sozialpolitik. Aktuelle Probleme aus historischer Perspektive, in: Wohlfahrtsverbände im Wohlfahrtsstaat. Historische und theoretische Beiträge zur Funktion von Verbänden im modernen Wohlfahrtsstaat, hg. von Christoph Sachße, Universität Gesamthochschule Kassel, Kassel 1994, S. 15. 32 Elly zitiert hier wörtlich den Bürgermeister Straßburgs, Rudolf Schwander. Knapp, Organisation der Öffentlichen Armenpflege, S. 61. 33 Vgl. Kap. I.3.b) 34 Knapp, Organisation der öffentlichen Armenpflege, S. 63.

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zehnten noch als wegweisend anerkannt: Hebung der öffentlichen Fürsorge auf die Höhe einer sozialen Funktion, Versuch zur Beseitigung der tieferen Ursachen der Hilfsbedürftigkeit, Anpassung der Hilfe an die besonderen Umstände des einzelnen Falles, Erfassung der ganzen Persönlichkeit der Hilfsbedürftigen auch hinsichtlich der seelischen Seite, Zusammenwirken von beamteten Kräften und freiwilligen Helfern unter klarer Gebietsabgrenzung.35 Elly Knapp geht weder in ihren Tagebüchern noch in Briefen auf die erst seit kurzem errungene Beteiligungsmöglichkeit von Frauen in der Armenpflege ein. Bis zum Ende des 19.Jahrhunderts war es für Frauen fast unmöglich sich offiziell zu engagieren. Dass Elly dann auch ein ehrenamtliches Armenamt übernehmen konnte, verdankt sie auch den fruchtbaren Debatten um die Armenpflege im Reich in den 1890er Jahren, insbesondere der 1896 in ihrer Heimat Straßburg tagenden Versammlung des Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit.36 Das war jedoch nicht ihr Thema. Sie wollte sich sozial engagieren und suchte Möglichkeiten dies in den gesellschaftlich vorgegebenen Rahmenbedingungen zu verwirklichen. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für ihre Stellung zu verändern war nicht ihr Ziel. In den 1908 folgenden kurzen historischen Betrachtungen zur Armenhilfe erläutert sie zusätzlich einen ganz wichtigen Punkt, den sie nicht mehr aus den Augen verlieren sollte. Die Armenfürsorge müsste bereits in der Kindheit beginnen und allen Kindern „das beste Gut zukommen lassen, das zur Verhütung der Armut beiträgt: die Schulbildung“.37 Sie sprach damit erneut das Thema „Bildung“ an, vertiefte es jedoch nicht weiter. Natürlich gelangte sie in ihren historischen Betrachtungen auch zu Martin Luther. Es verbinde sich nun das Religiöse mit einer modernen Form der Armenpflege: „Nicht um selig zu werden, soll der Christ geben ..., sondern weil er selig ist.“38 Die Armenpflege müsse sich nach Luther, und auch nach Elly Knapp, auf das allernotwendigste „zum Fristen der Existenz“ beschränken. Darüber hinaus bleibe alles Sache der privaten Wohltätigkeit. Neben dem Ziel, das Betteln auszurotten, wurde mit der Umsetzung dieser grundlegend veränderten Armenpflege auch in vielen Städten – darunter etwa in Straßburg – vorbeugend versucht, die Lage der untersten Volksschichten zu heben.39 Eine Lehre aus der 35 Coßmann, Öffentliche und private Fürsorge in Elsaß-Lothringen, S. 248. 36 Schröder, Iris, Arbeiten für eine bessere Welt. Frauenbewegung und Sozialreform 1890–1914, Campus, Frankfurt/New York 2001, S. 138–144. 37 Knapp, Blick auf die Entwicklung der öffentlichen Armenpflege, S. 50. 38 Ebd., S. 51. 39 Vgl. dazu repräsentativ für die Stadt Nürnberg die „Älteste Nürnberger Bettelordnung aus der letzten Hälfte des 14.Jahrhunderts“ und die Nürnberger Armenord-

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Armenpflege des „frühen Protestantismus“ zog Elly Knapp im Hinblick auf die finanziellen Mittel: Die Aufbringung der Mittel müsse der staatlichen Obrigkeit, im Notfall mit der Zwangseintreibung derselben, unterliegen.40 Zudem sollten durch die Armenunterstützung mit „dem Geist erziehender Liebe“ die Bedürftigen wirklich zum Arbeiten angeleitet werden.41 Indem in manchen Städten die Unterstützung über das Ziel hinausgeschossen sei und jedem, der nicht genug zum Unterhalt verdiente, Zulagen gewährte, würden die knappen Mittel unnötig verbraucht und im Grunde die Arbeitgeber mit einer Prämie unterstützt, so kritisierte sie die Politik einiger Städte. Mit der Französischen Revolution sah sie auch den Aspekt aufkommen, dass der Staat für das Wohl seiner Bürger in der Pflicht stehe. Ein Hilfsbedürftiger, der einmal der Gesamtheit gedient habe, besitze nun das Recht auf materielle und seelische Unterstützung durch diese Gesamtheit. „Einer Verschmelzung des sozialen Gedankens, der die moralische Beeinflussung des Bedürftigen gleichartig oder höher wertet als die materielle Hilfe, scheint die Zukunft des Armenwesens zu gehören.“42 Die Bekämpfung der Armut als Erscheinung der wirtschaftlichen Situation und liebevolles und erzieherisches Eingehen auf den einzelnen Bedürftigen griffen für sie ineinander und kristallisierten sich als Handlungsmaxime ihres weiteren Lebensweges immer mehr heraus. Noch deutlicher formulierte sie die ihr wichtigen Gesichtspunkte einige Jahre später: Die „moderne Form der Fürsorge kann und muß erfüllt werden mit der alten Gesinnung der Liebe und der erzieherischen Beeinflussung, auf die niemand ein klagbares Recht hat, die aber neben und über der wirtschaftlichen Hilfe die vornehmste Aufgabe der Frauentätigkeit bleibt“.43

b) Hauswirtschaft und Heimarbeit. Sensibilisierung für Probleme der Frauen zuhause Noch vor ihrer ersten Veröffentlichung begann Elly Knapp Vorträge zu halten. Meist vor kleineren Runden innerhalb von Frauenvereinen erfüllte sie ihren „Bildungsauftrag“ mit teilweise zwei Vorträgen an einem Tag. Eigent-

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nung von 1552, in: Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, 1, S. 63/64, 67–76. Knapp, Blick auf die Entwicklung der öffentlichen Armenpflege, S. 55. Ebd., S. 57. Ebd., S. 60. Heuss-Knapp, Elly, Die Frau in der sozialen Arbeit. Zur Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt vom 20.März 1912.

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lich begonnen hat die Vortragstätigkeit im Gefolge ihres großen Engagements bei der 1906 in Berlin gezeigten deutschen „Heimarbeit-Ausstellung“,44 die auf eine neuartige Weise eine breite Öffentlichkeit mit dem sozialen Elend der Heimarbeiterinnen konfrontierte und erstmals die Kehrseite des „mächtigen Aufstrebens und Schaffens der industriellen Entwicklung“ zeigte.45 Der Wunsch nach einem intensiveren Verständnis volkswirtschaftlicher Zusammenhänge führte sie im Sommer 1905 nach Freiburg und im Oktober nach Berlin, um dort in Seminaren ihr Wissen zu vertiefen. So sehr ihr die theoretischen Kenntnisse Nutzen brachten, so sehr vermisste sie jedoch den lebenswirklichen und praktischen Bezug. Und doch sollte eine Begegnung noch sehr wichtig für ihr Leben werden. In Berlin lernte sie Alice Salomon näher kennen, die als eine der bedeutendsten Vertreterinnen der deutschen Frauenbewegung Elly Knapp in die Arbeit ihrer Mädchen- und Frauengruppen einführte.46 So gelangte sie zur Mitarbeit an der von den Gewerkschaften 44 Briefe Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin vom 3. und 28.  Februar 1906; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 74/75. Ellys enormer Arbeitseifer für die Heimarbeit-Ausstellung, an der sie im Januar und Februar 1906 praktisch täglich mitarbeitete, spiegelt sich in ihren Tagebüchern und Erinnerungen wider. „Arbeit, Erleben, wenig Zeit zum Grübeln.“ 3.Tagebuch, Einträge unter 1906 (verfasst im Dezember 1906). „Die Heimarbeitsausstellung erschien mir damals als der Mittelpunkt der Welt.“ Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 73. 45 Salomon, Alice, Was lehrt die Heimarbeit-Ausstellung? In: Deutsche Kultur 12 (1906), S. 758. Salomon, Alice, Charakter ist Schicksal. Lebenserinnerungen, hg. von Rüdeger Baron und Rolf Landwehr, Beltz, Weinheim/Basel 1983, S. 123/124. In der Arbeiterschutzgesetzgebung gab es praktisch keine Regelungen zum Schutz der Heimarbeiter. Bedingt durch deren materielle Not mussten diese noch so schlechte Arbeitsbedingungen akzeptieren ohne auf gesetzliche Regelungen seitens des Staates hoffen zu können. Frerich/Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 1, S. 137. 46 Brief von Elly Heuss-Knapp an Theodor Heuss vom 22.März 1916. Elly HeussKnapp konnte sich mit vielen Zielvorstellungen und Leitlinien der Gruppen sehr gut anfreunden: junge Mädchen und Frauen zu ernster Pflichterfüllung im Dienste der Gesamtheit zu erziehen, ihnen neue Bildungsgüter unter einem sozialwissenschaftlichen Blickwinkel zu vermitteln und dies mit einer praktischen Tätigkeit in sozialen Einrichtungen zu verbinden, soziale Arbeit als einen beglückenden und erfüllenden Lebensinhalt anzusehen. Vgl. zu den Mädchen- und Frauengruppen Sachße, Christoph, Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871–1929, Beltz, Weinheim u.a. 2003, S. 103–111; Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt, S. 82–91. Schwierigkeiten hatte sie jedoch mit der zu starken Verzahnung von sozialem Engagement und Frauenfragen, und das nicht zuletzt wegen der extrem politischen Dimension. Auch konnte sie dem Gedanken, dass die Übernahme sozialer Tätigkeiten als Sprungbrett zum größeren Wirken in

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veranstalteten Ausstellung47 und zu einer Vielzahl an Vortragsveranstaltungen, bei denen sie ihre Erfahrungen und ihr volkswirtschaftliches Wissen den Frauen vermitteln konnte. Die ersten Vorträge beschäftigten sich mit der Heimarbeit-Ausstellung. Von Juni bis November 1906 hielt sie in mehreren deutschen Städten zu diesem Thema Vorträge, allein im Oktober in Lahr, Heilbronn, Tübingen und Mannheim.48 Wohldurchdachte Gedanken zu diesem Thema entwickelte sie jedoch erst geraume Zeit später für einen Vortrag auf dem Deutschen Frauenkongress, der vom 27.Februar bis zum 2.März 1912 in Berlin stattfand. Die Hauswirtschaft erfolge, so Elly Heuss-Knapp, nach wie vor in der traditionellen Grundform des Familienhaushalts (95,3% der Bevölkerung lebten im Deutschen Reich 1905 in Familienhaushalten mit zwei oder mehr Personen). Aber sie erkannte auch die Veränderungen, die sich im privaten Haushalt vollzogen hatten: industrielle Errungenschaften verlagerten Tätigkeiten außerhalb des Haushaltes in andere Hände, wie das Brotbacken; industrielle Produkte erleichterten die Haushaltsführung, wie Waschmaschinen und Staubsauger; kommunale und private Betriebe versorgten die der Öffentlichkeit führen sollte, nur schwer etwas abgewinnen. Vgl. zu den Zielen Riemann, Ilka, Die Rolle der Frauenvereine in der Sozialpolitik: Vaterländischer Frauenverein und gemäßigter Flügel der Frauenbewegung zwischen 1865 und 1918, in: Die armen Frauen. Frauen und Sozialpolitik, hg. von Ilona Kickbusch und Barbara Riedmüller, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984, S. 201. Schröder, Arbeiten für eine bessere Welt, S. 101. Elly Heuss-Knapp interessierte sich nicht für das „Dogmatische“ an der Frauenfrage. Heuss, Theodor, Erinnerungen 1905–1933, Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins, Tübingen 1963, S.  118. Daher blieb sie auch zeitlebens im Rahmen ihrer Vorträge freundschaftlich lose mit den Gruppen in Verbindung ohne sich stärker institutionell zu engagieren. Zu Alice Salomon – eine der Initiatorinnen der Heimarbeit-Ausstellung und die fachlich kompetenteste Persönlichkeit beim Thema „Frauen in der sozialen Hilfstätigkeit“ innerhalb der deutschen Frauenbewegung (vgl. dazu den bedeutenden Beitrag im Handbuch der Frauenbewegung: Salomon, Die Frau in der sozialen Hilfsthätigkeit, S. 1–122) – entwickelte sich jedoch eine Zuneigung, da Elly diese Frau wegen ihres Arbeitseifers und ihrer nie nachlassenden Aktivität für die fachlich qualifizierte Sozialarbeit, als deren Pionierin sie galt (Gerhard, Ute, Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 298; vgl. auch die sehr gute Kurzbiographie von Alice Salomon bei Gerhard, Unerhört, S. 299–301), bewunderte. Umso härter erschien die Ungerechtigkeit, die Salomon in der akademischen Welt widerfuhr, die ihren Doktortitel um Jahre hinauszögerte. Brief Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin vom 14. März 1906. 47 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 69–71; Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 43/44. 48 3. Tagebuch, Einträge unter 1906.

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Bewohner mit Straßenreinigung, Kanalisation, Gas und Elektrizität.49 Dies alles geschehe jedoch nicht zum Nulltarif und koste die Menschen durchaus einen nicht zu knapp bemessenen Teil ihres Einkommens. Konsumvereine hätten sich gebildet, die durch einen Zusammenschluss den Bezug von Waren für die Bevölkerung organisieren würden: „Eine der deutlichsten Anpassungen des Einzelhaushaltes an das kapitalistische Ideal des Großbetriebs.“50 Natürlich verkannte sie nicht die unendlich vielen Schattierungen der Haushaltsformen, wie auch die „Errungenschaften“ weit mehr den städtischen Bereich betrafen. Dennoch sei all diesen Entwicklungen die Erleichterung der mechanischen Hausarbeit, und damit auch die Zeitersparnis gemein. Das sah Elly Heuss-Knapp sehr richtig. Die Erfordernisse an die Hausfrauen wären nun anders gelagert: Eine gewisse Warenkunde und ein gekonnter Umgang mit den technischen Errungenschaften würde ebenso notwendig wie ein Haushaltsplan, der rechnerisches Einteilen ebenso erfordere wie ein großes organisatorisches Talent, auch im Umgang mit Hausangestellten.51 Elly HeussKnapp insistiert jedoch insbesondere auf eine psychologische Veränderung. Die Hausangestellten seien „weit früher als die Hausfrauen aus dem alten patriarchalischen Dienst- und Schutzverhältnis innerlich herausgetreten in das kühle juristische Verhältnis zwischen Arbeitgebern und -nehmern“ 52. Die Schwierigkeiten, die sich insbesondere bei der „Kinderpflege“ ergeben würden, scheinen schwer auflösbar. Kinder als Bindungsglied zwischen der Herrschaft im Haushalt durch die Hausherrin und den Bediensteten würden am patriarchalischen System festhalten. Die Hausfrau müsse nun ihre Stellung als Arbeitgeberin als ihre vornehmste soziale Pflicht aufzufassen lernen. Zur Verbesserung des Arbeitsverhältnisses werde mit Hausfrauenvereinen und 49 König, Wolfgang, Massenproduktion und Technikkonsum. Entwicklungslinien und Triebkräfte der Technik zwischen 1880 und 1914, in: Wolfgang König/ Wolfhard Weber, Netzwerke, Stahl und Strom. 1840 bis 1914 (Propyläen Technikgeschichte 4), Propyläen Verlag, Berlin 1997, S. 303–313. Wie David Landes allgemein hervorhebt, erzeugten die großen Neuerungen wie die Elektrizität, Präzisionsgeräte und eine günstige Stahlproduktion in wenigen Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg eine ganze Reihe neuer Konsumgüter. Landes, David, Der entfesselte Prometheus. Technologischer Wandel und industrielle Entwicklung in Westeuropa von 1750 bis zur Gegenwart, Kiepenheuer & Witsch, Köln 1973, S. 230/231. 50 Heuss-Knapp, Elly, Die Reform der Hauswirtschaft, in: Der Deutsche Frauenkongreß. Berlin, 27. Februar bis 2. März 1912. Sämtliche Vorträge, hg. von Gertrud Bäumer, Verlag B.G. Teubner, Leipzig/Berlin 1912, S. 9. 51 Der Blickwinkel der bürgerlichen Hausfrau ist hier unverkennbar. 52 Heuss-Knapp, Reform der Hauswirtschaft, S. 10.

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Fortbildungs- und Fachschulen für eine bessere Ausbildung zum Beruf der Bediensteten viel geleistet. Ihre Kritik an der bürgerlichen Frauenbewegung äußert sich nun explizit, da sie dieser den Vorwurf macht, lediglich die außerhäusliche Frauenarbeit im Blick zu haben und auch nur diese wertzuschätzen. Die Bedeutung der hauswirtschaftlichen Tätigkeit der Frau müsse wieder hervorgehoben werden: „Wenn es wahr ist, daß das höchste Gut der nationalen Wirtschaft der Mensch ist, seine Zahl, seine Gesundheit, seine Arbeitstüchtigkeit, so erhellt daraus die große Verantwortung, die neben der wirtschaftlichen Aufgabe der Hausfrau aufgerichtet ist: Hüterin zu sein und Pflegerin des lebendigen Lebens.“53

2. Der Rückhalt in der Familie Nach 1906, dem Jahr, in welchem Elly Knapp wegen ihrer zahlreichen Vorträge sehr oft reiste, kehrte sie nach Straßburg zurück. Die Beziehung zu Theodor Heuss wurde immer intensiver,54 die repräsentativen Empfänge mit ihrem Vater nahmen zu, nachdem er zum Rektor der Straßburger Universität gewählt wurde,55 und die Arbeit in der Straßburger Armenverwaltung56 füllte neben weiteren Vorträgen und einer Bildungsreise im Sommer nach Frankreich, Holland und Belgien57 ihr Leben voll und ganz aus. Die erste Jahreshälfte 1908 stand dann im Zeichen der Hochzeit mit Theodor Heuss. Für ihre persönliche Entwicklung war ihr Mann eine geradezu perfekte Ergänzung zu ihrem Vater. Georg Friedrich Knapp fällte ruhig, wohlüberlegt entschiedene Meinungen und Urteile, ganz ohne öffentlichen Wirkungswillen. Es genügte ihm, Menschen zu „bilden“. Wie kein anderer bringt Theodor Heuss es auf den Punkt, wenn er seine Frau als im Elementaren sehr verschieden von ihrem Vater charakterisiert: „... das rasche und sichere Eingreifen, das um fremde Schicksale auch mit Wagemut Sich-Kümmern, entsprach ihrer 53 Ebd., S. 11. 54 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 82/83. Vgl. die „Brautbriefe“. Heuss/ Knapp, So bist Du mir Heimat geworden. 55 3. Tagebuch, Eintrag unter Januar 1907. 56 3. Tagebuch, Eintrag unter Dezember 1907. 57 Ihre Reiseeindrücke schildert sie in längeren Briefen ausführlich mit detaillierten Beschreibungen von Sehenswürdigkeiten, Kirchen und auch von Geschichten, die sich für sie mit der Umgebung verbinden. Briefe Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Brüssel vom 13. und 23. August 1906; Heuss/Knapp, So bist Du mir Heimat geworden, S. 50–60; Knapp, Elly, Zwei Fahrten in Holland, in: Die Hilfe XII/38 (1906), S. 15.

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Natur. Aber der Vater gab das Maß des geistigen Anspruchs und der menschlichen Haltung.“58 Elly Knapp befand sich in ihrer Berliner Studienzeit allein wegen ihrer Herkunft im Umkreis von einigen der bedeutendsten Gelehrten des Kaiserreichs. In diesen Kreis trat nun der junge Redakteur Friedrich Naumanns. Seine Bescheidenheit und sein Demut gegenüber den „Geistesgrößen“ des Kaiserreichs zeichnen Theodor Heuss noch in seinen Erinnerungen aus, die er formulierte als er schon Bundespräsident der Bundesrepublik und einer der bekanntesten Publizisten und „Geistesgrößen“ seiner Zeit war. „Sie mußte mich in diesem illustren Zirkel vorführen, und ich sollte doch einigermaßen bestehen. Ich hoffe, daß mir das allmählich gelungen ist. ... Dies war mir völlig klar, daß diese herzliche Aufnahme ja nun eigentlich der Sympathie für Elly zu danken war und meiner Arbeit bei Naumann, den Harnack und Delbrück zu würdigen wussten.“59 Bescheidenheit und der Eifer sich für seine Sache einzusetzen prägten Theodor Heuss sein ganzes Leben – und mehr und mehr durch ihn auch seine Frau Elly. Nach ihrer Hochzeit zogen die beiden nach Berlin, wo Theodor Heuss als Redakteur im Umkreis Friedrich Naumanns arbeitete. Gerade nach der schweren Geburt ihres Sohnes Ernst Ludwig Heuss am 5. August 1910 benötigte Elly Heuss-Knapp die Unterstützung ihrer Familie. Ihre langen Krankheitsphasen begleiteten sie von diesem Zeitpunkt ihr ganzes Leben.60 Bereits zuvor plagten sie Gedanken hinsichtlich ihres sozialen Umfeldes. Sie bedauerte, dass ihr keine gleichaltrigen Frauen nahe standen,61 und sie wurde teilweise sehr ängstlich.62 Auch erfassten sie nach ihrer schweren Entbindung Zweifel an ihrer Religion.63 Doch verflogen diese durchaus normalen und auch nicht ganz rational zu erklärenden64 melancholischen 58 Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 121. 59 Ebd., S. 127/128. 60 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 82. Nach der Geburt ihres Sohnes hat Elly Heuss-Knapp ständig mit Krankheiten zu kämpfen und verbringt viel Zeit in Krankenhäusern, insbesondere in Badenweiler. Selbst mehrere Operationen musste sie bereits vor dem Krieg über sich ergehen lassen. Briefe von Elly HeussKnapp an Georg Friedrich Knapp vom 10., 12., 15., 25. Februar und 18. März 1913 aus der Klinik von Dr. Gutbrod in Heilbronn. 61 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp vom 30. Juni 1910 aus Schöneberg. 62 3. Tagebuch, Einträge unter Mai bis August/September 1910. 63 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp vom 19. September 1910 aus Schöneberg. 64 Aus ihrem Straßburger Freundeskreis gab es mehrere etwa gleichaltrige Frauen, mit denen sie ständig Kontakt pflegte, wenn auch die persönlichen Treffen wegen der räumlichen Distanz nur sehr selten möglich waren.

Der Rückhalt in der Familie  |

Anwandlungen sehr schnell, wenn sie Einladungen zu Vorträgen erhielt, 65 ihr Vater seinen Besuch ankündigte bzw. sie in Vorfreude auf ein Treffen mit ihm stand,66 oder sie die Nähe und Liebe ihres Mannes erhielt, der sich neben seiner Arbeit auch immer, soweit es irgendwie möglich war, um seine Frau und seinen Sohn kümmerte.67 Insbesondere das Aufwachsen des kleinen Ernst Ludwig gab ihr zusätzliche Kraft und Energie und brachte ihr positives Gemüt zurück.68 Der Sohn war natürlich der zentrale Mittelpunkt im Leben von Elly Heuss-Knapp geworden und es war aus ihrer Bindung zu Georg Friedrich Knapp nur folgerichtig, dass sie mit Ernst Ludwig den intensiven Kontakt zu ihrem Vater suchte,69 zumal die Familie im Mai 1912 von Berlin nach Heilbronn übersiedelte, da Theodor Heuss dort politisch und beruflich in der „Neckar-Zeitung“ als Chefredakteur größere Chancen auf seinem weiteren Lebensweg offen standen.70 Somit lebte die Familie Heuss bedeutend näher an der alten Heimat Straßburg. Allerdings musste Elly Heuss-Knapp ihr sozialpolitisches Engagement in Berlin aufgeben.71 Doch relativ rasch sollte sie in Heilbronn wieder Vorträge halten72 und Freundschaften schließen, von denen diejenige zu Marianne Weber sozialpolitisch am bedeutendsten war.73 65 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp vom 4. Dezember 1909 aus Schöneberg. 66 Briefe von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp vom 22.  April und 9. Mai 1910 aus Schöneberg. 67 Briefe von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp vom 29.August und 3. September 1910 aus Schöneberg. 68 Briefe von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp vom 19.September, 9. und 18. November, 8. und 25. Dezember 1910 aus Schöneberg; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 89. 69 Briefe Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp vom 12. April 1912 aus Badenweiler und vom 15. Juni, 31. Juli, 9., 25. August 1912, 28. und 31. August 1913 aus Heilbronn. 70 Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 182. Theodor Heuss. Der Mann, das Werk, die Zeit. Eine Ausstellung, hg. vom Theodor Heuss Archiv Stuttgart und vom Schiller-Nationalmuseum Marbach a.N., Stuttgart 1967, S. 79; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 92. 71 Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 180. 72 3. Tagebuch, Einträge unter Oktober und November 1912. 73 Marianne Webers Bedeutung wird in der Forschung meist viel zu gering geschätzt. Nicht nur bezüglich Frauenfragen sondern im gesamten Bereich der Sozialpolitik stand sie ihrem Mann in ihren Veröffentlichungen in nichts nach. Die Sonntagszusammenkünfte im Haus von Marianne und Max Weber wurden zu einem „geistig hochgespannten“ Zirkel ersten Ranges im Deutschen Kaiserreich. Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 98/99; Weber, Marianne, Max Weber, S. 476. Nach einem Vortrag in Heidelberg im Krieg besuchte Elly Heuss-Knapp die Familie

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Die Redaktionstätigkeit führte Theodor Heuss bereits in Berlin auf zahlreiche Auslandsreisen.74 Neben kleineren Reisen konnte ihn seine Frau auch auf eine Englandreise 1911 begleiten. Wie sehr sie schon „Sozialpolitikerin“ war zeigt sich in ihren Tagebüchern. Hier stellt sie kurz bedauernd fest, dass sie nur sehr wenig soziale Sachen angesehen habe.75

3. Rezensionen und Mitarbeit an der Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“ Trotz ihrer Reisen und privaten Verpflichtungen fand Elly Heuss-Knapp noch Zeit sich mit persönlichen Schicksalen, der pädagogischen Schulung von jungen Frauen76 und mit Ausstellungsarbeiten zu beschäftigen. Ihre Briefe bezeugen vielfach eine sehr starke persönliche Anteilnahme an individuellen Schicksalsschlägen, die ihr über Zeitungen oder durch persönliche Bekanntschaft nahe gingen.77 Jedes einzelne Schicksal war für sie wichtig, und das spürten die Menschen in ihrer Umgebung. Trotz oder gerade wegen dieser starken Anteilnahme fühlte sie sich verpflichtet, weiter zu wirken und das Ihre zu einer sozialpolitischen Sensibilisierung beizutragen. Neben Rezensionen zu meist theologischen Klassikern78 fällt auf, dass sie immer wieder auch Zeit fand, sozialpolitische, autobiographische Werke oder Romane unbekannter Autoren zu lesen und diese zu besprechen. Die verschiedensten Themen lassen als Gemeinsamkeit einzelne Lebensschicksale in sozialen Brennpunkten erkennen, die sie als Leserin gefesselt haben mussten.79 Der einzelne Mensch war ihr wichWeber mehrmals im März 1917. Sowohl von Marianne als auch von Max Weber zeigte sie sich sehr beeindruckt und erfuhr zu Themen wie der Sittlichkeitsfrage bei Studentinnen und sozialen Gesichtspunkten der russischen Revolution vieles, was sie ihr weiteres Leben noch konstruktiv begleiten sollte. 4.Tagebuch, Eintrag unter März 1917. 74 Theodor Heuss. Mann, Werk, Zeit, S. 65. 75 3. Tagebuch, Eintrag unter Juli 1911. 76 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 98. 77 Vgl. aus einer Vielzahl an Briefen etwa die Briefe von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp vom 22. Juli 1909 und 9. November 1910 aus Schöneberg, in denen sie sehr ergreifend schildert, wie sie mit den Angehörigen von Verstorbenen mitfühlt. 78 So etwa zu einer Ausgabe von Schleiermachers Briefen von 1907. Knapp, Elly, Rezension zu: Schleiermacher, Friedrich, Briefe, hg. von Martin Rade, Eugen Diederichs, Jena 1906, in: Die Hilfe XIII (1907), S. 145. 79 Das zeigen deutlich die Rezensionen seit dem Jahr 1908. Vgl. unter anderen Heuss-Knapp, Elly, Rezensionen zu: Reuter, Gabriele, Das Tränenhaus, in: Die

Rezensionen und Mitarbeit an der Ausstellung  |

tig und daher auch die Beschäftigung mit Monographien unterschiedlichster Persönlichkeiten. Was Ausstellungen betrifft, so lagen ihr natürlich auch hier sozialpolitische Themen am Herzen. Insbesondere wenn sich die Thematik mit ihren eigenen Erfahrungen und Erkenntnissen im Themenfeld sozialer Tätigkeit von Frauen befasste, nahm sie dezidiert dazu Stellung. Die Ende Februar 1912 in der Nähe des Zoologischen Gartens in Berlin gezeigte Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“, an der sie auch selbst durch die Vorbereitung des Bereichs „Soziale Arbeit“ mitwirkte und für die sie einen Beitrag über die Frauenleistung in der sozialen Arbeit zum Ausstellungskatalog beisteuerte,80 bespricht sie speziell hinsichtlich des Abschnittes über die soziale Tätigkeit der Frau. Hier stellt sie fest, dass „das Beste an dieser Arbeit: die religiöse und soziale Gesinnung, die mütterliche Hingabe an die Mühseligen und Beladenen in keiner Weise ausstellbar ist“81. Einerseits honoriert sie die dadurch vermiedenen Eitelkeiten, falls die sozial tätigen Frauen hätten dargestellt werden können, andererseits kann sie ihr Bedauern über die „Nichterwähnung“ nicht leugnen. Wieder gelangt sie zum entscheidenden Rahmen der neueren Sozialtätigkeit: „Die individuelle Hilfe wird zur [organisierten] kollektiven Maßnahme von Vereinen oder einer Reihe von Einzelpersonen.“82 Prägnanter hätte sie die organisatorische Entstehung ihres fast 30 Jahre später aus der Taufe gehobenen Lebenswerkes, des Deutschen Müttergenesungswerkes, nicht umschreiben können. Elly Heuss-Knapp wurde jedoch schon bei ihrer Tätigkeit in der Straßburger Armenverwaltung deutlich, dass die von ihr geforderte „Bildung“ auf ein gesichertes Fundament gestellt werden musste. Nicht mehr nur die soziale Gesinnung würde genügen, um an der modernen Sozialpolitik und WohltäHilfe XIV (1908), S. 796; Jerusalem, Else, Der heilige Skarabäus, in: Die Hilfe XV (1909), S. 302; Du Bois-Reymond, Lili, Die Insel im Sturm, in: Die Hilfe XVI (1910), S. 825; Braeker, Ulrich, Das Leben und die Abenteuer des armen Mannes im Tockenburg, in: Die Hilfe XVII (1911), S. 158. 80 3. Tagebuch, Einträge unter August 1911, Januar und Februar 1912; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 90/91. Sie befasste sich in diesem Zusammenhang auch erstmals mit der Geschichte der caritativen Nonnenorden und der evangelischen Diakonie-Vereine. Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 180; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 90. Dem einzigen Zeugnis für die Beschäftigung mit dieser Thematik, dem Artikel in der Frankfurt Zeitung und Handelsblatt vom 20.März 1912, sind lediglich einige wenige historische Daten zur caritativen Tätigkeit der katholischen Orden beigefügt. Wie tief Elly Heuss-Knapp in die Materie einstieg muss offen bleiben. Heuss-Knapp, Die Frau in der sozialen Arbeit. 81 Heuss-Knapp, Die Frau in der sozialen Arbeit. 82 Ebd.

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tigkeit aktiv teilnehmen zu können, sondern darüber hinaus wären eingehende wirtschaftliche Kenntnisse und organisatorische Schulungen nötig. Die systematische Unterweisung müsse den bescheidenen Anfängen gelegentlicher, zur Orientierung verhelfender Vorträge folgen.83

4. Soziale Unterstützungstätigkeit vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft Der Erste Weltkrieg veränderte zunächst sehr deutlich das sozialpolitische Wirken von Elly Heuss-Knapp. Sofort nach Kriegsausbruch sah sie es als ihre selbstverständliche Pflicht an, sich dem Kriegsdienst in der Heimat zur Verfügung zu stellen.84 Ihr Engagement bei der Beschaffung von Arbeit für viele meist nun allein auf sich gestellte Frauen beschäftigte sie nahezu rund um die Uhr.85 In das Blickfeld ihres Interesses rückte nun die Existenzsicherung, ja schlicht das Überleben der Frauen, deren Männer an den Fronten im Krieg waren. Das Ende des Krieges veranlasste Elly Heuss-Knapp, erstmals aktiv in der Politik tätig zu werden. Ihr Eintreten für das Frauenstimmrecht als Vorsitzende des dafür verantwortlichen Ausschusses bei den Frauenverbänden und ihre Kandidatur für die Deutsche Nationalversammlung konfrontierten sie persönlich mit der Reichspolitik. Mit dem eingeführten Frauenwahlrecht im Deutschen Reich seit Januar 1919, das im liberalen Politikspektrum als Instrument zur Verhinderung, zumindest zur Milderung der proletarischen Revolution und zur Stabilisierung der Demokratie nach dem Zusammenbruch des

83 Ebd. 84 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 103; Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 143. 85 In ihren Tagebüchern erwähnt sie mehrmals lapidar „viel Arbeit fürs Rote Kreuz“. 3.  Tagebuch, Eintrag unter August 1914; 4.  Tagebuch, Eintrag unter Oktober/ November 1915 etc. Allerdings hielt ihre rastlose Vortragstätigkeit an, wenn sich auch die Themen meist auf die Erwerbstätigkeit von Frauen im Krieg bezogen. Vgl. eine Auswahl an Vorträgen in der Zeittafel zu den Kriegsjahren bei Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 362–364. Dass sie sich an anderer Stelle zurücknehmen musste, war natürlich nicht zu vermeiden. So veröffentlichte sie während des Krieges keine Aufsätze.

Soziale Unterstützungstätigkeit  |

Kaiserreiches gesehen wurde,86 und dem Scheitern ihres Versuches, ein Abgeordneten-Mandat zu erlangen, konnte sie sich vollständig auf ihre sozialpolitischen Handlungsfelder aus der Vorkriegszeit konzentrieren. Lediglich unterbrochen durch krankheitsbedingte Erholungsaufenthalte87 widmete sie ihre ganze Kraft, neben der „Bildung der Frauen“ durch Vorträge – zunehmend nun auch im Rundfunk – und Veröffentlichungen, wieder der praktischen sozialpolitischen Arbeit. Bereits in den frühen 20er Jahren zeigte sie erneut verstärktes Interesse für religiöse Themen, was bis zur intensiven regelmäßigen Bibellektüre führte.88 Die Konfirmation des Sohnes Ernst Ludwig im März 1925 und die Schicksalsschläge durch den Tod der Mutter im Juli 1925 und des Vaters im Februar 1926 bekräftigten zudem den Wunsch, sich verstärkt religiösen Themen zuzuwenden.89 Die Verquickung von praktischer sozialpolitischer Tätigkeit aus christlicher Nächstenliebe mit der Motivation, Menschen durch Veröffentlichungen und Vorträge zu „bilden“, zu informieren und aufzuklären, war in Ellys Leben wieder bestimmend. Erst als die neuen Machthaber in den 30er Jahren sozialpolitische Aktivitäten unter nationalsozialistischen Organisationen zentralisierten,90 nur bestimmte Vorstellungen 86 Thébaud, Françoise, Der Erste Weltkrieg. Triumph der Geschlechtertrennung, in: Geschichte der Frauen, hg. von Georges Duby und Michelle Perrot, Bd.  5: 20. Jahrhundert, hg. von Françoise Thébaud, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997, S. 80. Das Wahlergebnis von 1919 unterschied sich jedoch nicht signifikant vom Wahlergebnis 1912. Das Frauenwahlrecht hatte also nicht zu einer grundlegenden Veränderung von politischen Mehrheitsverhältnissen geführt. Peukert, Detlev J.K., Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne (Moderne Deutsche Geschichte 9), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1987, S. 48. 87 Ihre angeschlagene physische Konstitution dokumentiert Elly Heuss-Knapp mehrmals im Rückblick in ihren Tagebüchern. So etwa für das Jahr 1922 „schwere Grippe“, „schwerer Kehlkopfkatarrh“, etc. 4. Tagebuch, Einträge unter Februar und Juni 1922 etc. (geschrieben am 27. Dezember 1927). 88 4. Tagebuch, Einträge unter Dezember 1922 (geschrieben am 27. Dezember 1927), Januar, März und April 1923 (geschrieben im September 1923), Oktober und Dezember 1923. Brief Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Friedenau vom 31.Januar 1923. 89 4. Tagebuch, Einträge unter 18. März 1925, Juli 1925, Dezember 1925 und Januar 1926. 90 Nur als ein Beispiel sei auf den Bund Deutscher Mädel (BDM) verwiesen, der „den politischen Zugriff der nationalsozialistischen Herrscher auf die weibliche Jugend in totalem Anspruch“ zentralisierte. Miller-Kipp, Gisela (Hrsg.), „Auch Du gehörst dem Führer“. Die Geschichte des Bundes Deutscher Mädel (BDM) in Quellen und Dokumenten, Juventa Verlag, Weinheim/München 2001, S. 23. Im Bereich der Wohlfahrtspflege wurde die Entwicklung immer mehr von der Nati-

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hinsichtlich sozialpolitischer Tätigkeiten zuließen91 und die soziale Kontrolle des Einzelnen wie die Unterordnung unter das von staatlicher Seite gesetzte Gemeinwohl anstrebten,92 zog sie sich zunehmend ins Privatleben und in ihre berufliche Tätigkeit als Werbetexterin zurück.

a) Organisatorin von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Ersten Weltkrieg Gerade die bürgerliche Frauenbewegung zeigte sich bei Kriegsbeginn empfänglich für nationalistische Begeisterung und Propaganda. 93 Elly HeussKnapp sah es als ihre Verpflichtung, sich der „nationalen Sache“ zur Verfügung zu stellen,94 doch ohne den nationalistischen Beigeschmack zu verinnerlichen. Dafür stand sie als Elsässerin der französischen Kultur und französischen Freunden viel zu nahe. Ihre Hilflosigkeit gegenüber der veränderten Geisteshaltung sowohl auf französischer als auch auf deutscher Seite kommt sehr onalsozialistischen Volkswohlfahrt diktiert, bis es faktisch zu einer Gleichschaltung jeglicher freien und öffentlichen Wohlfahrtspflege kam. Sachße, Christoph/ Tennstedt, Florian, Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. Geschichte der Armenfürsorge Bd. 3, Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 1992, S. 96; Vorländer, Herward, Die NSV. Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation (Schriften des Bundesarchivs 35), Harald Boldt Verlag, Boppard am Rhein 1988, S. 20–43. 91 Die frühen 30er Jahre prägte ein konservatives, ja frauenfeindliches Bild die nationalsozialistische Ideologie, dementsprechend die Frau an den häuslichen Herd, bestenfalls ins Familienunternehmen gehörte. Dieses „Kinder-Kirche-KücheIdeal“ verschwand zwar Ende der 30er Jahre aus dem Blickfeld, dennoch blieben Frauen keine sozialpolitischen Entscheidungsspielräume. Schoenbaum, David, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reichs, Propyläen Verlag, Berlin 1999 (Erstausgabe: 1968), S. 205, 218. 92 Recker, Marie-Luise, Sozialpolitik im Dritten Reich, in: Staatliche, städtische, betriebliche und kirchliche Sozialpolitik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Referate der 13. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 28. März bis 1. April 1989 in Heidelberg (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte 95), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1991, S. 245. 93 Rouette, Susanne, Frauenarbeit, Geschlechterverhältnisse und staatliche Politik, in: Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914–1918, hg. von Wolfgang Kruse, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997, S. 95. 94 Dem nationalen Zusammenhalt der ersten Kriegswochen konnte sie ihre Bewunderung nicht verweigern. Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 111/112. Zu sehr war sie im Banne Friedrich Naumanns und der vorherrschenden Stimmung im liberalen Bürgertum. Vgl. Kap. I.4.a)

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deutlich in ihren Erinnerungen an ihr letztes Gespräch mit einem befreundeten Elsässer Publizisten zum Ausdruck: „Mein letztes Gespräch mit Dr. Bucher aber hatte mir geradezu Entsetzen eingeflößt. Immer wieder fragte er mich, ob denn die Jugendbewegung in Deutschland etwas anderes sei als Vorbereitung auf den Krieg. Ich widersprach aufs heftigste und versuchte ihm klarzumachen, was die jungen Menschen bewegte. Er verstand mich nicht mehr oder wollte nicht verstehen.“95 Zudem kann von Begeisterung bereits im August keine Rede sein. Zu sehr trieb sie die Angst um ihre Verwandten und Bekannten im Elsass um, und zu schnell erlebte sie persönlich die Leiden des Krieges bei ihrer Hilfstätigkeit.96 Überall im Deutschen Reich entstanden innerhalb weniger Tage in den größeren Städten lokale Organisationen des „Nationalen Frauendienstes“, der vom „Bund Deutscher Frauenvereine“ ins Leben gerufenen deutschlandweiten Organisation zur Bewältigung der Not in der Heimat.97 Natürlich waren die Erfahrungen aus ehrenamtlicher Fürsorgearbeit und privater Wohltätigkeit hilfreich, um die umfangreichen Aktivitäten bei Kriegsbeginn bewältigen und am sozialpolitischen Entscheidungsprozess partizipieren zu können.98 Allerdings hätte sich eine reibungslose Zusammenarbeit mit den kommunalen Ämtern und mit Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz nicht eingestellt, wenn nicht „breite Bevölkerungsgruppen binnen kurzem in erhebliche ökonomische Probleme“ gestürzt wären und die nationale Komponente nicht zugkräftig gewesen wäre.99 Die in Not geratenen Städte und Gemeinden100 95 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 94. 96 Briefe von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Heilbronn vom 2., 3., 14. und 19.August 1914; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 108. Die beiden Briefe an den befreundeten Pfarrer Traub, den Schriftleiter der „Christlichen Freiheit“, dokumentieren den Abscheu gegen die unmenschliche Behandlung französischer Gefangener und die Verrohung bei dem „geschützten Bürger und seiner Frau“. Briefe von Elly Heuss-Knapp an Pfarrer Traub vom 25. August und 6. September 1914. 97 Gerhard, Unerhört, S. 296. 98 Rouette, Frauenarbeit, S. 97. Die neuen Aufgaben der Kriegsfürsorge und Kriegswohlfahrtspflege übertrafen an Quantität und Qualität die Vorkriegsaktivitäten innerhalb der Wohlfahrtspflege um ein Vielfaches. Sachße, Mütterlichkeit als Beruf, S. 136–140. 99 Gerhard, Unerhört, S. 296/297; Rouette, Frauenarbeit, S. 99/100. 100 Die Reichsregierung verwies auf eine umfassende Neuregelung der Kriegsopfer-, Kriegswohlfahrts- und Armenpflege nach dem Krieg, was innerhalb weniger Tage in den Städten und Gemeinden zur organisatorischen und finanziellen Überforderung führte. Frerich/Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 1, S. 169/170.

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nahmen das Angebot dankbar an. Mit der Verquickung von öffentlicher und privater Hilfstätigkeit gelangten die Frauenvereine nun in eine Stellung, aus der heraus sie öffentliche Mittel mitverwalteten. Dabei konnten Diskrepanzen mit den staatlichen, von Männern beherrschten Stellen nicht ganz ausbleiben.101 Der Frauenverein in Heilbronn sollte bereits in den ersten Augusttagen eine Erweiterung erfahren und für das Rote Kreuz als Arbeitsbeschaffungsstelle für Frauen der eingezogenen Soldaten fungieren. Da sich Elly HeussKnapp innerhalb des städtischen Ausschusses, der Hilfsmaßnahmen für Frauen beriet, engagierte, wurde sie gebeten, die Leitung zu übernehmen.102 Die Arbeitslosigkeit in Heilbronn machte ihr derart zu schaffen, dass sie unverzüglich damit begann, Frauen mit Näharbeiten zu versorgen.103 Damit war die erste deutsche, von einer Frau ins Leben gerufene private Arbeitsvermittlung entstanden.104 Schon nach wenigen Wochen konnte sie Hunderte von Frauen beschäftigen, die Hemden und Socken als Liebesgaben für die Soldaten an der Front herstellten. Selbst als der Verkauf in Heilbronn stockte, gelang es ihr, im Deutschen Heer einen Abnehmer für die hergestellten Hemden zu finden. Ihr Organisationstalent, das sie bisher nur im Kleinen entwickeln konnte, erstreckte sich nun auf die Führung eines „Großunternehmens“ mit bis zu 900 Mitarbeiterinnen.105 Zusätzlich engagierten sich viele ehrenamtliche Helferinnen bei diesem Projekt, so dass die Arbeit zunächst wenigstens die Unkosten deckte. Ihre ursprüngliche Intention, Maschinenarbeit in Handarbeit und Fabrikarbeit in Heimarbeit umzuwandeln,106 konnte sie zwar nicht über den Heilbronner Raum hinaus ausweiten. Doch zählte für sie vor allem die größtmögliche Hilfe zur Selbsthilfe: „Die Kriegerfrauen hatten Arbeit und brauchten sich nicht von ihren Kindern zu trennen. Alles andere war gleichgültig.“107 Umso bedrückender musste sie bürokratische Hindernisse empfinden, die fast die Einstellung der Produktion bedeutet hätten. Württemberg hatte den Bedarf an Wolle nicht rechtzeitig nach Berlin gemeldet und war somit von 101 Frevert, Frauen-Geschichte, S. 155–158; Chickering, Roger, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, C.H. Beck Verlag, München 2002, S. 144/145. 102 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Heilbronn vom 3. August 1914; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 103. 103 Briefe von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Heilbronn vom 3. und 14. August 1914. 104 Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 201. 105 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Heilbronn vom 17. Oktober 1914; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 75. 106 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 143. 107 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 105.

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der Wollzuteilung ausgeschlossen worden. Elly Heuss-Knapp fuhr persönlich nach Berlin und versuchte alles, um die dringend benötigte Wolle doch noch zu bekommen. Nach längeren Verhandlungen erreichte sie die Zusage, die benötigten 180 Zentner Wolle zu erhalten.108 Mit dem Verkauf an die Militärverwaltung, die „normale“ Preise zahlte, erwirtschaftete das „Unternehmen“ nach dem ersten Kriegswinter einen Überschuss. Dieser wurde an bestimmte Wohlfahrtseinrichtungen gespendet, zu denen dann sehr mitgenommene Frauen zur Erholung geschickt wurden.109 Noch mehr konnte sie hilfsbedürftigen Frauen und Müttern in ihrer im März 1917 übernommenen Leitungsfunktion in der Frauen-Melde-Stelle des Roten Kreuzes für den Vaterländischen Hilfsdienst zur Rekrutierung der Frauen für den kriegswichtigen Einsatz helfen. Eine Fülle von Einzelschicksalen beschäftigte sie in dieser Position bis zum erneuten Umzug nach Berlin, wobei sie immer versuchte das Bestmögliche für die Frauen zu erreichen.110 In ihre unternehmerische Tätigkeit bezog Elly Heuss-Knapp auch die von ihr geleiteten Jugendgruppen mit ein. Neben vielen Vorträgen, die sie vor diesen zumeist zu drängenden Themen der Zeit wie die „Hinterbliebenen-Fürsorge“, „Frauenerwerbsarbeit im Krieg“ oder „Hausfrauen und Berufsleben“111 hielt, band sie die Jugendlichen in die praktische Tätigkeit im Unternehmen ein. Somit waren die wichtigen Gesichtspunkte ihrer späteren Müttergenesung vereint: ein praktisch ausgeübtes Organisationstalent; die Anleitung der Hilfe zur Selbsthilfe durch die Arbeitsbeschaffung; Begeisterung anderer für sozialpolitisches Engagement; die Entlastung gestresster und überarbeiteter Frauen durch Erholungsaufenthalte. Schon im Januar 1916 war eine erneute Übersiedlung nach Berlin im Gespräch, da Theodor Heuss mit einer Mitarbeit beim Deutschen Werkbund liebäugelte und von seinen Parteifreunden gedrängt wurde, im Zentrum der politischen Ereignisse zu stehen.112 Doch erst im Dezember 1917 wurde der Entschluss zum Umzug gefasst und schließlich zog die Familie im März 1918 108 Ebd., S. 105–107. 109 Ebd., S. 107. 110 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Heilbronn vom 12. März 1917; Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 144. 111 4. Tagebuch, Einträge unter März 1916, Januar und März 1917; Karte von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Heilbronn vom 23. März 1916. 112 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Heilbronn vom 27. Januar 1916; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 113. Zur intensiven Tätigkeit von Theodor Heuss beim Deutschen Werkbund, dem Zusammenschluss von Künstlern, Architekten, Intellektuellen und Industriellen zur „Veredelung der gewerblichen Arbeit im Zusammenwirken von Kunst, Industrie

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nach Berlin-Friedenau. Das kleine sozialpolitische Netzwerk, das sich Elly Heuss-Knapp aufgebaut hatte, zerfiel für sie erneut. Die Arbeitsbeschaffung existierte in Heilbronn noch bis zum Kriegsende weiter und bereitete ihrer Gründerin eine Abschiedsfeier, auf der Elly Heuss-Knapp eine letzte Ansprache zum Thema „Frauenarbeit im Krieg“ hielt.113 In Berlin gelang es schnell die alten Kontakte zu reaktivieren und an die Zeit vor dem Umzug nach Heilbronn anzuknüpfen. Sofort begann sie wieder mit dem volkswirtschaftlichen Unterricht für junge Frauen. Elly Heuss-Knapp war nicht die typische moderate bürgerliche Feministin, die im Krieg gouvernemental orientiert war. Sie arbeitete in der freiwilligen, ehrenamtlichen Kriegsfürsorge, aber sie unterstützte nur insoweit die militärische Exekutive bei der Rekrutierung weiblicher Arbeitskräfte, als sie diese vor dem willkürlichen Zugriff des Staates schützen wollte und konnte. Staatliche Interessenpolitik akzeptierte sie ebenfalls nur in einem geringen Rahmen. Bevölkerungspolitische Ziele der Regierung interessierten sie überhaupt nicht, da ihre sozialpolitische Tätigkeit den Blick für derartige Themenfelder nicht öffnete.114 Sie sorgte sich im Krieg um das Wohl einzelner Menschen und nicht um „große Politik“.

b) Politisches Intermezzo Noch in Heilbronn wurde Elly Heuss-Knapp mit der schlimmsten Not, der zunehmenden Lebensmittelknappheit, konfrontiert. Sie schätzte die Lage ihrer Familie zwar noch als erträglich ein, konnte jedoch die katastrophalen Lebensumstände der Menschen nicht übersehen.115 In Berlin wurde ihr dies noch deutlicher als in Heilbronn.116 Die Abstumpfung gegenüber den Kriegseindrücken, die hinter dem Kampf um das tägliche Überleben als klein erschie-

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und Handwerk“, vgl. Campbell, Joan, Der Deutsche Werkbund 1907–1934, dtv, München 1989, S. 113–210. Ihre Ansprache fasste die Tätigkeit der Arbeitsbeschaffung seit Beginn des Krieges kurz zusammen. 4. Tagebuch, Eintrag unter Februar und März 1918. Zu den Wirkungen des Krieges auf die gemäßigten Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung vgl. Greven-Aschoff, Barbara, Die bürgerliche Frauenbewegung in Deutschland 1894–1933 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 46), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1981, S. 158/159. Briefe von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Heilbronn vom 22. Oktober 1916 und 11. Februar 1917. Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 114.

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nen, erschreckten sie an sich selbst.117 Doch die tiefe Besorgnis, selbst für die Familie genug zu essen zu haben, bestimmte auch noch die unmittelbare Nachkriegszeit.118 Tief bewegt besaß sie auch die Erkenntnis, dass das Elsass nicht im Deutschen Reich verbleiben würde. Ihre Heimat wollte sie unter keinen Umständen verloren geben, ganz zu schweigen von der Angst um den Vater, der als Rektor der Reichsuniversität Straßburg in exponierter Stellung stand.119 Wie sehr sie die Okkupation vom Elsass durch die Franzosen schmerzte, wird an ihrer nüchternen Beschreibung in ihren Erinnerungen deutlich: „Die Deutschen wurden vertrieben, viele wurden zu Fuß über die Rheinbrücke gejagt und kamen in das arme Deutschland ... Mein Vater blieb noch ein Jahr in Straßburg. Wir waren fast ohne Verbindung. Dann ging er freiwillig heraus, er war 77 Jahre alt und hatte seit dem Jahr 1873 an der Straßburger Universität gelehrt. Er war ganz erstarrt und sprach kaum. Später hat er in Darmstadt im Hause seiner Verwandten noch einen ruhigen Lebensabend verbracht.“120 Elly Heuss-Knapp war enttäuscht, dass es nicht gelungen war, im Elsass einen Neuanfang zu wagen und sowohl Franzosen als auch Deutsche in ein neutrales Gebiet einzubeziehen. Noch im November 1918 plädierte sie enthusiastisch für eine freie Volksabstimmung der Elsass-Lothringer unter neutraler schweizerischer Bewachung, obwohl sie in ihren Erinnerungen rückblickend die Erkenntnis, dass ElsassLothringen für Deutschland verloren war, auf den Oktober 1918 datierte.121 Diese Motive förderten die Entscheidung, aktiv in die Politik zu gehen und sich parteipolitisch zu engagieren. Ausschlaggebend war jedoch die in ihren Augen unverantwortliche und in die Katastrophe führende Politik der politischen und militärischen Machthaber im Kaiserreich. Im Oktober 1918 erkannte sie bereits die Taktik der Obersten Heeresleitung, den Demokraten das Drängen auf Frieden in die Schuhe zu schieben.122 Zudem wurde ihr 117 4. Tagebuch, Eintrag unter Januar 1918; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 113/114. 118 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 29. Januar 1919. 119 Briefe von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 13. Oktober und 3. November 1918; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 114–122. 120 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 122. 121 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 3. November 1918; 4. Tagebuch, Eintrag unter Oktober 1918 (geschrieben Silvester 1918). 122 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 13. Oktober 1918.

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schnell auch die problematische Rolle des Kaisers bewusst, den sie bezichtigte, dass er zu spät abgedankt hätte.123 Die einsetzende Revolution mit der „Herrschaft der Soldatenräte“ wurde ihr aus der ganz persönlichen Sicht ihres Vaters geschildert124 und sie zog, dadurch noch bestärkt, den Schluss, sich nun endgültig selbst aktiv in die Politik einzuschalten und die demokratische Mitte zu unterstützen. Es konnte nur die DDP als politische Partei in Frage kommen. Die beiden anderen „demokratischen Kräfte“, das Zentrum und die SPD, schlossen sich aus konfessionellen und aus Herkunfts-Gesichtspunkten aus. Die DVP als nationalliberaler Zweig des deutschen Liberalismus konnte ebenfalls keine politische Heimat sein. Die Unterschiede in der politischen Konzeption – die DVP lehnte zunächst das neue System ab und verweigerte die Zusammenarbeit mit der SPD – und die großen Differenzen zwischen wichtigen Persönlichkeiten in beiden Parteien verhinderten eine liberale Einigung und banden sie fast zwangsläufig an die DDP.125 Der Revolution von 1918/19 musste Elly Heuss-Knapp nicht nur skeptisch gegenüberstehen, sie konnte diese vielmehr keinesfalls gutheißen. Zu sehr war sie im bildungsbürgerlichen Kaiserreich sozialisiert, zu sehr

123 4. Tagebuch, Eintrag unter November 1918. 124 Brief von Georg Friedrich Knapp an Elly Heuss-Knapp aus Straßburg vom 23. November 1918. 125 Theodor Heuss bringt in seiner ehrlichen Art das Verhältnis zum „Übervater“ der DVP, Gustav Stresemann, kurz und knapp auf den Punkt: „Ganz primitiv: ich habe ihn menschlich nicht leiden können und darf vermuten, daß dies auf Gegenseitigkeit beruhte.“ Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 272. Die DDPDVP Spaltung hervorragend kurz auf einen Nenner gebracht hat Papke, Gerhard, Der liberale Politiker Erich Koch-Weser in der Weimarer Republik, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden Baden 1989, S. 21–24; ein nach wie vor unverzichtbares Standardwerk ist Albertin, Lothar, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 45), Droste Verlag, Düsseldorf 1972, besonders S. 25–138; Hartenstein, Wolfgang, Die Anfänge der Deutschen Volkspartei 1918–1920 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 22), Droste Verlag, Düsseldorf 1962, S. 8. Vgl. auch insbesondere die beiden ersten Kapitel in Hartenstein, Anfänge, S. 7–33 und 34–58; Richter, Ludwig, Die Deutsche Volkspartei 1918–1933 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 134), Droste Verlag, Düsseldorf 2002; Opitz, Reinhard, Der deutsche Sozialliberalismus 1917–1933, Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1973, S. 11–17 sei noch angeführt, obwohl die Darstellung nicht nur eine Fülle an, durch nichts zu belegende Behauptungen in den Raum stellt, sondern sich auch einer problematischen Begrifflichkeit bedient.

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schmerzte sie der Verlust ihrer schönen Jugend und zu sehr rief eine sozialistische Regierung Ängste im Bürgertum hervor.126 Die Revolution brachte aber auch das Frauenwahlrecht.127 Elly HeussKnapp hatte dafür gekämpft und setzte sich nun dafür ein, dass Frauen auch das ihnen zugestandene Recht nutzten. Sie übernahm den Vorsitz der „Propagandagruppe“ der Frauenverbände Deutschlands, die für das Frauenwahlrecht werben sollte.128 Die ersten Wochen widmete sie sich ganz der Aufgabe, dem neuen Recht Publizität zu verschaffen, damit möglichst viele Frauen zur Wahl gehen würden.129 Doch nach und nach griff sie selbst aktiv für ihre Kandidatur zur Nationalversammlung von 1919 in den Wahlkampf ein. Rastlos hielt sie täglich Reden in Berlin und den umliegenden Vororten. In ihrer gedruckten Ansprache zur Wahl für die deutsche Nationalversammlung umreißt sie Gründe für die Wahl der DDP durch die Frauen – sie spricht aus Kalkül nur die Frauen an: Der Staat brauche Ordnung und eine Regierung, die Ordnung halte. Die Sozialdemokratie sei dazu nicht in der Lage, wie die Revolutionswirren gezeigt hätten. Die nationale deutsche Gesinnung unterscheide die DDP ebenfalls von den dem Traum der Internationale anhängenden Sozialdemokraten. Ein wichtiger weiterer Gesichtspunkt sei in der Demokratie, der Volksherrschaft auszumachen: „Nicht mehr aus einzelnen bevorzugten Familien sollen die obersten Beamten des Staates gewählt werden ... nein, jede deutsche Mutter soll wissen, wenn ihr Kind die Begabung mitbringt und sie selbst ihm den Willen stärkt durch die Macht der Erziehung, dann ist ihm jeder Weg zu jeder Höhe offen.“130 In der Erziehung erkennt Elly Heuss-Knapp nun auch eine fatale Ausrichtung der Sozialdemokratie, die den Religionsunterricht aus den Schulen verbannen wolle. Doch gerade der Glaube an die eigene Religion müsse auch in der Schule Platz finden. Dabei fordert sie mit ihrer Partei die „Freiheit 126 Zur Geschichte des deutschen Bürgertums in der Revolution vgl. Bieber, Hans-Joachim, Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks in Deutschland 1918–1920 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 28), Christians, Hamburg 1992, S. 49–228. 127 4. Tagebuch, Eintrag unter November 1918; Rouette, Frauenarbeit, S. 93. 128 4. Tagebuch, Eintrag unter November 1918; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 124. 129 Brief von Elly Heuss-Knapp an Luise Bresslau aus Berlin-Friedenau vom 26. November 1918. Luise Bresslau war die Schwägerin von Helene Bresslau, der Gattin Albert Schweitzers. Elly Heuss-Knapp kannte sie seit ihrer Jugend in Straßburg. 130 Heuß-Knapp, Elly, Die deutsche demokratische Partei und die Frauen. Ansprache von Elly Heuß-Knapp. Kandidatin zur deutschen Nationalversammlung, Boll, Berlin 1919, S. 7.

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des Gewissens und Freiheit des Glaubens“ ohne eine vollständige Trennung von Staat und Kirche. Sodann gelangt sie noch zu ihrem sozialpolitischen Anliegen hinsichtlich der Frauen, die sie von der DDP vertreten sieht: „Die Möglichkeit der Ausbildung für alle Berufe und des Aufstiegs in alle Aemter, gleicher Lohn für gleiche Leistung, Ausbildung der Mädchen für den Beruf der Hausfrau und Mutter, verstärkter Mutterschutz und Kinderschutz, Sicherstellung der Frau in eherechtlicher und vermögensrechtlicher Beziehung,“131 all diese demokratischliberalen Ideen sind für sie auch die Grundlagen der bürgerlichen Frauenbewegung.132 In der DDP erkennt sie nun den Aufstieg vom alten reinen Liberalismus, der die Werte des Einzelmenschen verkündet habe, zu der Verbindung mit sozialen Gedanken.133 Doch nicht allein sozial-liberale Punkte würden die Stimme für die DDP erfordern. Einer „inneren Erneuerung“ des deutschen Volksstaates, der den Kastengeist überwinden werde, müsse alles andere untergeordnet werden. „Ueberwindung des Bruderzwists in unserem Vaterland, das wäre die schönste und größte, erste Aufgabe der Frau in der Politik. Auf das Frauenstimmrecht selbst können und wollen wir nicht stolz sein, es ist uns von der Revolution verliehen worden ohne unser Zutun. Stolz sein können wir erst, wenn es gute Früchte gebracht hat für uns Frauen, für die Partei und für das Vaterland.“134 Eigentlich hätte Elly Heuss-Knapp die Reihenfolge genau anders herum anfügen müssen: für das Vaterland, dann für die Partei und schließlich für die Frauen. Dies hätte ihren Ansichten noch besser entsprochen. Trotz ihres enormen Engagements sollte es nicht für einen Sitz in der Nationalversammlung reichen. Allerdings konnte sie dem auch gute Seiten abgewinnen. So war sie sehr glücklich, dass ihr Sohn nicht wochenlang von seiner Mutter getrennt wurde – und das bedeutete ihr sehr viel.135 Außerdem konnte sie durch die vielen Versammlungen ihr Redetalent fördern, was ihre Vorträge sicherer und wirkender machen sollte, zumal sie sich immer mehr darauf besann, nicht zu sehr an den Erfolg des Vortrags zu denken als vielmehr zu vertrauen, dass der Vortragenden „gegeben wird zu sagen was nötig ist“136. Im Frühjahr 1920 kandidierte sie noch einmal für den Reichstag,137 doch nachdem 131 Heuß-Knapp, Deutsche Demokratische Partei, S. 9. 132 Heuß-Knapp, Elly, Die Frauen und die Demokratie, in: Das demokratische Deutschland 1 (1918/19), S. 151. 133 Heuß-Knapp, Frauen und die Demokratie, S. 152 134 Heuß-Knapp, Deutsche Demokratische Partei, S. 11. 135 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin vom 29. Januar 1919. 136 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 126. 137 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 145.

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ihr auch dieses zweite Mal der Erfolg verwehrt blieb, engagierte sie sich lediglich noch auf der Gemeindeebene. Ihre erfolglose Kandidatur für die Weimarer Nationalversammlung hat sie leicht verschmerzen können.138 Im Rückblick war sie sich sicher, dass es ohne die Frauen eine sozialistische Mehrheit in der Nationalversammlung gegeben hätte.139 Und tatsächlich: „In überwiegend katholischen Gegenden profitierte 1919 in erster Linie das Zentrum, in überwiegend evangelischen Regionen vor allem die DDP vom neuen Frauenstimmrecht.“140 Das Wahlrecht für Frauen war eine Errungenschaft – ohne Zweifel. Und es wurde danach von keiner Partei mehr in Frage gestellt.141 Ebenso konnten Frauen durch ihre Präsenz auf den Arbeitsmärkten und ihre für die Familie unabdingbare Heimarbeit eine verbesserte Stellung erreichen. Doch wurde dies zumeist negativ in Verbindung mit der parlamentarisch-demokratischen Staatsform gebracht, die eine ungeheure Last an Hypotheken zu tragen hatte. Neben Reparationsschulden, einem Staatsbankrott und der langjährigen Not der Bevölkerung mussten Frauen ihre mühsam erkämpften kleinen Terraingewinne um Macht und Einfluss gegen die mächtigen alten männlichen Eliten in Justiz, Militär und Beamtenapparat verteidigen.142 Zudem ist sehr zweifelhaft, ob angesichts des überwältigenden Elends und der überwiegend negativen öffentlichen Bewertung der Frauenarbeit – in welchen Bereichen auch immer – diese Errungenschaften größere Bedeutung gewinnen konnten.143 Elly Heuss-Knapp versuchte die Not zu lindern und ihre Vorkriegsaktivitäten wieder aufzubauen. Ihre Distanz zur bürgerlichen Frauenbewegung bewahrte sie sich aus dem Kaiserreich und widmete sich erneut sozialen Projekten. Den neuen Umständen musste sie jedoch Rechnung tragen. Sozialpolitische Aktivi138 Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 260. 139 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 125; Heuß-Knapp, Elly, Frauenpflichten im neuen Jahr, in: Mode und Haus 36, Nr. 7 (1919/1920). 140 Winkler, Heinrich August, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918–1924, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Berlin/Bonn 21985, S. 142. Vgl. auch Bremme, Gabriele, Die politische Rolle der Frau in Deutschland. Eine Untersuchung über den Einfluß der Frauen bei Wahlen und ihre Teilnahme in Partei und Parlament, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1956, S. 71, 243–251. 141 Nave-Herz, Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, S. 38. 142 Gerhard, Unerhört, S. 326/327. 143 Daniel, Ute, Der Krieg der Frauen 1914–1918. Zur Innenansicht des Ersten Weltkriegs in Deutschland, in: „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch...“ Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, hg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1996, S. 174.

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täten waren nicht mehr unpolitisch: Der Staat sollte steuernd in gesellschaftliche Entwicklungen eingreifen, um politische Ziele durchzusetzen.144 Und sollte sich der Staat zudem auf seine menschlichen Pflichten besinnen, die Schwachen zu schützen, so wäre er umso mehr auf die Mitarbeit der Frauen angewiesen, begründete sie ihr erneut verstärktes Engagement. Das bereits in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts entstandene Gebiet der Sozialpolitik werde somit ein großes Arbeitsfeld für Frauen und Männer, wie sie ausführt. Auch der „Bund Deutscher Frauenvereine“ hatte für sie seinen Anteil, indem er „die Frauen für diese sozialen Pflichten“ schulen müsste. Der „moderne Typus der politischen Frau“ in den Anfangsjahren der Weimarer Republik sei somit unweigerlich „durch die Schulung der Sozialpolitik gegangen“145 und – so könnte hinzugefügt werden – soziale Tätigkeiten der Frauen befanden sich mit dem Ende des Krieges endgültig im Blickfeld der Politik. Dies zeigt ganz deutlich der Verfassungsrang verschiedener sozialer Grundrechte und Grundpflichten auch und gerade für Frauen in der Weimarer Reichsverfassung, so etwa die in Art.161 verankerte Schaffung eines umfangreichen Versicherungswesens zur Erhaltung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens.146 Doch sollte kein Zweifel darüber bestehen, dass sich an der Hierarchie wenig geändert hatte: Männer besetzten in den Verwaltungen die Stellen, die für Mittelzuweisungen zuständig waren, wohingegen die praktische Wohltätigkeit fast ausschließlich von Frauen ausgeübt wurde.147 Die Themen der bürgerlichen „Sozialreform“ weiteten sich mit der Not im Krieg und auch noch nach dem Krieg erheblich aus. Eine Tendenz zur „allgemeinen, permanenten, gesamtgesellschaftlichen Sozialpolitik“148 war 144 Schulz, Günther, Armut und soziale Sicherung. Zwischen Versorgung und Versicherung, in: Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert, hg. von Reinhard Spree, C.H. Beck Verlag, München 2001, S. 167. 145 Heuß-Knapp, Elly, Die politische Frau. Wandlungen und Entwicklungen, in: Vossische Zeitung, 25. Dezember 1918. 146 Die Verfassung des Deutschen Reiches (Weimarer Verfassung) vom 11.8.1919, in: Horst Hildebrandt (Hrsg.), Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Schöningh Verlag/UTB, Paderborn u.a. 141992, S. 108/109. Vgl. Ritter, Sozialstaat, S. 115 und Sachße, Mütterlichkeit, S. 163. 147 Zeller, Susanne, Demobilmachung und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Fürsorgewesen nach dem Ersten Weltkrieg, in: Jutta Dalhoff/Uschi Frey/Ingrid Schöll (Hrsg.), Frauenmacht in der Geschichte. Beiträge des Historikerinnentreffens 1985 zur Frauengeschichtsforschung, Schwann Verlag, Düsseldorf 1986, S. 292/293. 148 Schulz, Bürgerliche Sozialreform, S. 187.

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unumkehrbar. „Die bürgerliche ,Sozialreform‘ war auf dem Weg, sich zur allgemeinen Sozialpolitik auszuweiten.“149 Was sich im Kaiserreich in Wohlfahrtspflege und Sozialarbeit langsam entwickeln konnte, musste nun innerhalb kürzester Zeit weiterentwickelt, ausgedehnt und reorganisiert werden.150 Die Fürsorge weitete sich auf Kriegsbeschädigte bzw. Kriegshinterbliebene, Kleinrentner, Schwerbeschädigte und hilfsbedürftige Minderjährige aus. Die Kosten waren grundsätzlich von den Gemeinden zu tragen, und die viel zu geringen Zuschüsse des Reichs minderten diese Last kaum.151 Der Sozialarbeit gelang nun auch mit der Professionalisierung und dem Aufbau sowie dem Ausbau der Sozialverwaltung der Durchbruch zum Erwerbsberuf.152

c) Die Rückbesinnung auf Religion Bei der Deutschen Demokratischen Partei erlangte die Sozialpolitik daher eine bedeutende thematische Stellung.153 Es galt Zuversicht zu vermitteln und eine Politik zu forcieren, die so weit wie möglich die Menschen in ihrer unmit149 Ebd. Günther Schulz verweist auf die seit der Revolution synonyme Verwendung der Begriffe „Sozialreform“ und „Sozialpolitik“, wohingegen im Deutschen Kaiserreich bei „Reform“ der Akzent auf einer umfassenden und geschlossenen Konzeption, bei „Politik“ auf der Gesamtheit der Vielfalt der Einzelmaßnahmen lag. Schulz, Bürgerliche Sozialreform, S. 210, Anm. 20. Elly Heuss-Knapp ging es um unterschiedliche praktische Maßnahmen zur Linderung der Not, daher kann einheitlich der Begriff „sozialpolitisch“ Verwendung finden, zumal „sich insgesamt eine Umorientierung vom engeren sozialreformerischen zum weiteren allgemein sozialpolitischen Konzept abzuzeichnen begann“. Schulz, Bürgerliche Sozialreform, S. 204. 150 Sachße, Mütterlichkeit, S. 163. 151 Berg, Wilfried, Arbeits- und Sozialverwaltung einschließlich Sozialversicherung und Reichsversorgung, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 4: Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, hg. von Kurt G.A. Jeserich, Hans Pohl und Georg-Christoph von Unruh, DVA, Stuttgart 1985, S. 231/232. 152 Sachße, Mütterlichkeit, S. 245–254; Schulz, Armut und soziale Sicherung, S. 165. Aus der „Armenpflege“ oder „Armenfürsorge“ des 19. Jahrhunderts war in der Weimarer Republik die „Wohlfahrtspflege“ und die „Fürsorge“ geworden. Boelcke, Willi A., Sozialgeschichte Baden-Württembergs 1800–1989 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 16), Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 1989, S. 480. 153 Albertin, Lothar, Einleitung. Deutsche Demokratische Partei/Deutsche Staatspartei, in: Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918–1933 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen

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telbaren Not unterstützte. Nicht zuletzt sollte so das gegen den Staat gerichtete „Staatsgefühl“ wieder positiv für diesen gewandelt werden.154 Nahezu jede Familie musste in ihrem Bekannten- und Verwandtenkreis den Verlust an Menschenleben ertragen. Nicht anders erging es Elly HeussKnapp, die bereits in den ersten Jahren einen lieben Freund aus Straßburger Tagen an der Front verloren hatte.155 Noch mehr ergriffen war sie vom Tod Friedrich Naumanns und Max Webers. Gerade in schweren Zeiten schien Deutschland seine herausragenden Köpfe zu verlieren. Friedrich Naumann war einer der wenigen, die großen Einfluss auf Elly Heuss-Knapp ausüben konnten – zuletzt war er auch mitausschlaggebend für ihr politisches Engagement.156 Wie sehr ihr dieser Verlust nahe ging, muss offen bleiben, da sie weder in ihren Briefen, noch in ihren Tagebüchern davon berichtet. Dass es für sie der erste ganz große menschliche Verlust in ihrem Leben war, deutet Theodor Heuss in seinen Erinnerungen an, der die Bedeutung Naumanns für ihn und Elly Heuss-Knapp prägnant zusammenfasst: „Es war bislang der stärkste menschliche Verlust, den ich so unvorbereitet erlebt hatte – denn er hatte von den späteren Knabenjahren mein wie auch Ellys Leben und Gesinnung nicht nur beeinflußt, sondern bestimmt.“157 Der zweite große Verlust durch den Tod Max Webers dürfte sie ebenfalls stark ergriffen haben, obwohl hierüber kein Quellenzeugnis vorliegt. Zwar war der persönliche Kontakt zu Max Weber bei weitem nicht derart intensiv wie derjenige zu Friedrich Naumann, doch Elly Heuss-Knapp wusste um die herausragende Bedeutung dieses Mannes, was sie bei ihren Sonntagsbesuchen im Hause Weber immer wieder erkennen konnte. Es schien einer der letzten Charakterköpfe des deutschen Linksliberalismus gestorben zu sein, der in der Lage gewesen wäre, die hochgesteckten Ziele der Deutschen Demokratischen Partei erfolgreich weiterzuentwickeln.158 Die persönlichen Schicksalsschläge förderten, neben den schwierigen Lebensbedingungen in den ersten Jahren der Demokratie, eine verstärkte Hinwendung zur Religion. Im Rückblick wurde ihr bewusst, dass sie nie

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Parteien III,5), hg. von Konstanze Wegner und Lothar Albertin, Droste Verlag, Düsseldorf 1980, S. XIII; Albertin, Liberalismus und Demokratie, S. 256–264. Heuß-Knapp, Elly, Die Politisierung der deutschen Frau, in: Deutsche Politik. Wochenschrift für Welt- und Kultur-Politik 3 (1918), S. 1556. Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 95. Ebd., S. 129. Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 256. Karte von Georg Friedrich Knapp an Elly Heuss-Knapp aus Darmstadt vom 17. Juni 1920; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 129.

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„dem kirchlichen Leben ferner gestanden [war] als in der Kriegszeit“.159 Ein genaues Ereignis beziehungsweise einen exakten Termin für die Rückbesinnung zur Religion zu finden fällt schwer. Theodor Heuss bringt die „kirchliche Renaissance“ bei seiner Frau mit „den Kämpfen um den religiös durchfärbten Charakter des Pestalozzi-Fröbel-Hauses“ in Berlin in Verbindung.160 Dort kehrte Elly Heuss-Knapp wieder zu ihrer geliebten Lehrtätigkeit zurück; in der „Sozialen Frauenschule“ von Alice Salomon.161 Unabhängige Sozialisten versuchten sich dann Mitte des Jahres 1921 der Trägerstiftung des Hauses zu bemächtigen und die religiösen Elemente zu entfernen, was Elly natürlich gegen diese aufbringen musste. Sie zog daraus den Schluss, dass sie sich künftig für die Konfessionsschule einsetzen werde.162 Als in der Kirche „Zum Heilsbronnen“ ein verwandtes Kind von Theodor Heuss konfirmiert wurde, beeindruckte Elly Heuss-Knapp die gottesdienstliche Feier derart, dass sie den eigenen Sohn Ernst Ludwig ebendort zur Konfirmation anmeldete und sich aktiv an der Gemeindearbeit beteiligte. Die daraus entstandene Begegnung mit Pfarrer Otto Dibelius, der später Ernst Ludwig konfirmieren sollte, führte zu wöchentlichen Besuchen in dessen Gemeinde und zu einer beträchtlichen Mitarbeit.163 Er war für sie der Einzige, der „die großen Fragen des Volkstums vom Evangelium aus zu beantworten suchte“164. Durch die Vermittlung ihr bekannter Jugendlicher, die der evangelischen Jugendbewegung nahe standen, trat sie 1923 in den Lehrkörper der Ausbildungsstätte für Gemeindepflegerinnen im „Burckhardt-Haus“ in Ber159 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 110. 160 Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 373. 161 Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 260. Ihre Unterrichtsfächer waren Sozialpädagogik, Staatsbürgerkunde und Deutsch. Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 186. 162 Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 260, 373; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 147. Das Abrücken von dem Konzept der Simultanschule auf christlicher Grundlage, also einem Schultyp, der unterschiedliche Konfessionen unter einem Dach vereint und nur im Religionsunterricht eine Trennung der Schüler vornimmt, bedeutete auch das Ende ihrer aktiven Mitarbeit in der DDP. Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 147. Während eines Kuraufenthaltes in Badenweiler vertrat sie während eines Teegesprächs sogar die noch weitergehende Forderung der Ablehnung interkonfessioneller Wohlfahrtspflege. Brief von Elly Heuss-Knapp an Theodor Heuss aus Badenweiler vom 18.April 1925. 163 Stupperich, Robert, Otto Dibelius. Ein evangelischer Bischof im Umbruch der Zeiten, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1989, S. 72. 164 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 159; vgl. Stupperich, Dibelius, S. 73–78, 111–113.

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lin-Dahlem ein. Dies wurde ihre glücklichste Lehrtätigkeit, da sie neben der Beteiligung am Aufbau eines Seminars und an der hauseigenen Zeitschrift „Jugendweg“ auch Zusammenkünfte von Jugendgemeinden, Tagungen und Freizeiten der Mädchen mitorganisierte und begleitete.165 Ihr Unterrichtsfach war natürlich Sozialpolitik, doch zunehmend auch Pädagogik und „Erzählen“166. Bis es 1933 zur Denunziation durch eine Schülerin kam und sie ihre Lehrtätigkeit aufgeben musste, unterrichtete sie regelmäßig im „Burckhardt-Haus“ junge Mädchen.167 Im „Pestalozzi-Fröbel-Haus“ sollte sie noch eine weitere Persönlichkeit kennen lernen, die sie religiös prägen würde. Das neue Fach „Bibelkunde“ von Friedrich Delekat führte bei ihr seit dem Ende des Jahres 1922 zur systematischen Beschäftigung mit Fragen der praktischen Theologie.168 Ab März 1924, fast zeitgleich mit dem Beginn des Konfirmationsunterrichtes von Ernst Ludwig, nahm sie dann selbst über Jahre hinweg am religions-pädagogischen Seminar von Delekat teil, den sie dankbar zu ihren Lehrern zählte.169

165 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 160; Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 187. 166 „Erzählen“ als Unterrichtsfach ist auf den ersten Blick ungewöhnlich. In Briefen beschreibt sie später ihre Neigung zu Erzählungen mit oftmals religiösen Gehalten. Für Elly Heuss-Knapp war diese Art der „Lehre“ gleichbedeutend mit der sachlichen Vermittlung bestimmter Fächer. Vgl. etwa den Briefwechsel von Elly Heuss-Knapp und Luise Bresslau vom 5. und 11. Februar 1934, in dem Elly Heuss-Knapp ihre Liebe zum „Erzählen“ verdeutlicht und die Bedeutung der, wie sie es nennt, „Geschichten“ für die Sozialisation der jungen Mädchen nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Ergänzend lobt Luise Bresslau die Mitteilungsgabe und Erzählkunst von Elly Heuss-Knapp. 167 Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 260/261, 373/374. Die seit der Weltwirtschaftskrise von 1929 schwelende Debatte um „die Grenzen der Erziehbarkeit“, in der Erzieher teilweise heftig attackiert wurden, trug sicherlich dazu bei, dass Denunziationen Einzelner aufgegriffen wurden. Vgl. Peukert, Weimarer Republik, S. 143. 168 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 186. Eine sehr intensive Bibellektüre wie nie zuvor und niemals mehr danach begleitete Elly Heuss-Knapp den ganzen Winter 1922/1923. In einem Brief an ihren Vater schreibt sie, dass moderne Theologen endlich wieder erkennen, „daß das Christentum lieb haben viel besser ist, denn alles Wissen“. Brief Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 31. Januar 1923. 169 4. Tagebuch, Eintrag rückblickend unter August 1925; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 160.

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„Das Bibellesen aber lehrte mich der Heilige Augustin persönlich durch seine ,Bekenntnisse‘.“170 Ihre intensive theologische Beschäftigung fiel in die Jahre 1921 bis 1926, ohne dass sie sich danach – wie im Ersten Weltkrieg – vom Religiösen wieder zurückzog.171 1924 verfasste sie mehrere kleine kurze Artikel im „Jugendweg“, einer Zeitschrift der jungen Frauengeneration, herausgegeben vom Evangelischen Reichsverband weiblicher Jugend. Teilweise unter dem Pseudonym Ottilie Frey veröffentlichte Elly Heuss-Knapp in diesem Jahr die wohl einfühlsamsten Artikel, die sie zum religiösen Leben überhaupt verfasst hat. Das Kreuz nimmt zunächst eine zentrale Stellung ein. In der Beschreibung einer zweigeteilten Kirche erkennt sie im Kreuz und im Worte Gottes die Einheit: „Die eine Halle war für die Frauen und die andere für die Männer gebaut. So nehmen zwei Gemeinden am gleichen Gottesdienst teil. Eine sieht die andere nicht, aber jede sieht auf die eine Stelle, den Mittelpunkt des Winkels, und hier steht, den schmucklosen Altar überragend ein Kruzifix, das Lebenswerk eines kunstfertigen Mönchs. So hören alle das Wort und alle sehen auf den gekreuzigten Herrn, das ist es, was sie zur Gemeinde eint. Ist das nicht ein Abbild dessen, was ein Christ sich bei dem Wort ,Volksgemeinschaft’ denkt?“172 Und im Gedächtnis an das Straßburger Münster: „Aber ob Du stehst oder kniest, immer bist Du zu klein, um das große Kreuz ganz mit Deinen Blicken zu umfassen. Es überragt das Himmelsgewölbe, das in weitem Rund mit Sternen übersät sich hinter ihm spannt. ... Oft haben meine heimwehkranken Gedanken diese Stelle aufgesucht. Bis ich endlich, endlich verstand, daß dies Kreuz überall zu finden ist, überall in der Stille steht und wartet, überall Heimat der Seele ist.“173 Den Glauben der Jugend wieder näher bringen ist das Anliegen, das in den folgenden kurzen Artikeln noch deutlicher wird: „Das aber brauchen wir im Jugendweg nicht ausdrücklich sagen, daß aller Glaube, Glaube an Dein Volk, an seine Zukunft, an Deine eigene 170 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 160. Die Entwicklung Augustins hin zu Gott in leidenschaftlicher Hingebung und unter einem ungebändigten Erkenntnisdrang ist vermutlich eine der bedeutendsten autobiographischen Erzählungen der europäischen Geistesgeschichte. Vgl. Augustinus, Aurelius, Bekenntnisse, hg. von Wilhelm Thimme, dtv, München 92000. 171 Insbesondere ihre Tagebücher zeigen den Schwerpunkt theologischer Themen zwischen dem ersten Bibelkurs bei Delekat im Dezember 1922 und dem Tod Georg Friedrich Knapps im Februar 1926. Vgl. 4. Tagebuch, Einträge unter den Jahren 1922 bis 1926. 172 Heuß-Knapp, Elly, Das Kreuz in der Mitte, in: Jugendweg 5 (1924), S. 50. 173 Frey, Ottilie (Pseudonym), Das Kreuz im Straßburger Münster, in: Jugendweg 5 (1924), S. 56.

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Kraft nur Nebenwirkungen sind des Gottesglaubens, Strahlenbrechungen des einen, ewigen Lichts.“174 Das Lesen der Bibel sah Elly Heuss-Knapp natürlich in einer Zeit, in der sie selbst von einem Bibelkurs gefesselt war, als wichtige Richtschnur für den eigenen Glauben und das eigene Leben.175 Und nicht zuletzt war auch das Leben von Jesus Christus wieder zur wichtigen Bezugsgröße des eigenen Lebens geworden. „Gibt es eine wirksamere Art, als die, sich mitten ins tägliche Gewühl der Straße zu setzen und von Jesus zu erzählen, so frisch und neu, als ob die Geschichten zum erstenmal erklängen?“176 Über die Religion fand sie wieder die Kraft, sich voll und ganz für die Sozialarbeit einzusetzen. Nicht nur physisch, sondern auch psychisch war es für Elly Heuss-Knapp nach dem Krieg, der überall sichtbaren und gespürten Not und den Verlusten an liebens- und schätzenswerten Menschen nötig, einen Halt zurückzugewinnen. Mit ihrem Glauben konnte sie ihren Sohn zur Konfirmation begleiten und die großen menschlichen Verluste verkraften, die erst 1926 mit dem Tode ihres Vaters ein Ende finden sollten. Die innere Ruhe begleitete sie seit Mitte der 20er Jahre und ihre gelegentlichen religiösen Artikel kreisten meist um das Pfingstfest, an dem sich ihr Glaubens-Anspruch mit dem zu einenden Volk zusammenführen ließ. „Hier bricht der Absolutheits-Anspruch des Christentums durch und die weltumfassende Sendung des Evangeliums. Es schafft aus Einzelnen und aus Volksgenossen die glaubende, hoffende, liebende Gemeinde.“177 Im Schoß ihrer Gemeinde entfaltete sie erneut ihre rastlosen Aktivitäten. Mehrmals wöchentlich unterrichtete sie wieder junge Frauen,178 sie schrieb Artikel zu religiösen, literarischen und sozialpolitischen Themen, hielt unent-

174 Heuß-Knapp, Elly, Die Wirtschaftskrisis und die Jugend, in: Jugendweg  5 (1924), S. 95. 175 Heuß-Knapp, Elly, Ein Reiseerlebnis, in: Jugendweg 5 (1924), S. 122. Die evangelische Jugendarbeit prägte neben der Hinwendung zur Bibel auch die Öffnung zur Kirche in einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser. Riedel, Heinrich, Kampf um die Jugend. Evangelische Jugendarbeit 1933–1945, Claudius Verlag, München 1976, S. 16/17. 176 Heuß-Knapp, Elly, Der Dichter spricht. Rezension zu Joseph Wittig, Leben Jesu in Palästina, Schlesien und anderswo, in: Die christliche Welt 39 (1925), Sp. 1121. 177 Heuss-Knapp, Elly, Pfingsten, in: Die Hilfe 39 (1933), S. 291. 178 Sie bekennt in ihren Erinnerungen, dass sie nie „so starke Bindungen mit Schülerinnen gehabt“ hatte wie in jener Zeit – der ersten Hälfte der 20er Jahre. HeußKnapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 148/149.

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wegt Vorträge und beteiligte sich an einer Vielzahl kleiner aktiver Hilfsmaßnahmen im Bereich der Wohltätigkeit.

d) Soziale Aktivitäten in schwierigen Zeiten Zum sozialen Engagement gehörte für Elly Heuss-Knapp unersetzbar die Unterrichtung von Jugendlichen und jungen Frauen.179 Kaum war die Familie wieder von Heilbronn nach Berlin gezogen, suchte sie in der „Sozialen Frauenschule“ ihre alten Schülerinnen auf und reaktivierte ihre Lehrtätigkeit. Ebenso lehrte sie im interkonfessionellen „Pestalozzi-Fröbel-Haus“ in Berlin.180 Die Gründung des „Verbandes sozialer Jugendgemeinschaften“ durch Alice Salomon begleitete sie mit tiefer Verbundenheit. Trotz der scheinbar geringen Teilnehmerzahl – es dürften nicht einmal 100 gewesen sein – schöpfte sie Hoffnung aus dem mutigen Bekenntnis zur „umgestaltenden Kraft der sozialen Gesinnung“ der Teilnehmerinnen. Die Erörterungen reichten von praktischen sozialpolitischen Fragen über sozialethische Gesichtspunkte bis hin zu religiösen Triebkräften der sozialen Arbeit. Doch das verbindende Element war etwas Übergreifendes. „Das Ziel ist allen gemeinsam: helfende Liebe. ... Hier herrschte nicht die klare Logik, intellektueller Gerechtigkeitswille, sondern es sprangen Funken von einer Seele zur andern über. Man wollte sich nicht nur verstehen, sondern lieben lernen.“181 Hier ist wieder ein ihr ganzes Leben durchziehendes Moment: Aus Glaube und Liebe heraus sozial aktiv werden. Dies lehrte sie auch ihren Schülerinnen im „Pestalozzi-Fröbel-Haus“ und es schien auch deren herausragende Motivation zu sein.182 „Damals lernten wir, meine Schülerinnen und ich, zu unterscheiden, zwischen der sentimentalen Auffassung der Fürsorge, die reizbare Schwäche ist, und jener Hilfsbereitschaft, die weiß, alle Liebe ist Kraft.“183 Ihre Sensibilität für die Nöte der Menschen verstärkte sich durch den täglichen Umgang mit vielen Jugendlichen aus den unterschiedlichen Schichten. In ihren Jugendgruppen erfuhr sie von der „Kinderverschickung“ nach Skandinavien. Hier wurden nach dem Krieg, meist von Mittelstandsfamilien, die eigenen 179 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 143. 180 4. Tagebuch, Eintrag unter April 1918; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 143/144, 148. 181 Heuß-Knapp, Elly, Soziale Jugendgemeinschaften, in: Die Christliche Welt 43 (1920), Sp.838/839. 182 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 144. 183 Ebd., S. 151.

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Kinder kostenlos einige Monate etwa nach Schweden gegeben, lebten dann bei einer schwedischen Gastfamilie und kamen gut ernährt nach Deutschland zurück.184 Die unbeschwerte, heitere Kindheit, auch in Notzeiten, lag ihr besonders am Herzen, da hier der Grundstein gelegt werde für den Jugendlichen und den erwachsenen Menschen.185 Doch ihr war natürlich bewusst, dass es ohne die existenziellen Grundlagen nicht möglich war, eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Insbesondere das Problem des Hungers ließ sie nicht los, zumal die eigene Familie auch davon betroffen war.186 Und bis in den Winter 1923/1924 blieb dies ein großes Problem im Deutschen Reich.187 Kurz erboste sie sich über „die reichen Leute“, die doch ganz anders zur Beseitigung des Elends herangezogen werden müssten,188 um sich dann jedoch voll und ganz der Linderung der allergrößten Not zu widmen. „Das einzige was über Elend hinweghilft ist die allerprimitivste charitative Hilfsarbeit.“189 Längst konnte von Sozialpolitik oder organisierter Wohlfahrtspflege keine Rede mehr sein.190 „Die Inflationszeit brachte ... eine fast tödliche Krisis der Wohlfahrtspflege.“191 Es ging ums nackte Überleben. Hungernde mussten gespeist und Nackte angekleidet werden.192 Sie fand in dieser Zeit auch den Zugang zur Heilsarmee, deren Arbeit sie so gut sie konnte unterstützte und von der sie auch Lebensmittel für ihre Jugendgruppen erhielt.193 Das Eintreten für die Ärmsten der Gesellschaft fand ihre Anerkennung, was sie in den fol-

184 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 5.November 1920. 185 Heuß-Knapp, Elly, Kindergeselligkeit/Vom Spielen der Kinder, in: Der Schwabenspiegel 18 (1924), S. 3/4, 28/29. 186 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 19. August 1923. 187 Unter einigen anderen vgl. besonders die Briefe von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 19.August und 19.September 1923. 188 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 19. September 1923. 189 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 31. Oktober 1923. 190 Frerich/Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 1, S. 232; Sachße, Mütterlichkeit, S. 184, 192. 191 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 150. 192 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 31. Oktober 1923. 193 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 19. September 1923.

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genden Jahren immer wieder mit Vorträgen bei der Heilsarmee quittierte.194 Im unmittelbaren Umfeld rückte die Nachbarschaftshilfe in den Vordergrund195 und in den Jugendgruppen freuten sich alle, wenn aus dem Ausland „Liebesgaben“ mit Lebensmitteln eintrafen.196 Die Notzeiten haben sicherlich zu sehr engen Bindungen geführt,197 doch die schlimmen Folgen der Inflation, die auch bei den Jugendlichen zu verstärktem Individualismus und zu einer Abkehr vom Politischen führten,198 überwogen bei weitem den positiven Effekt des „näher Zusammenrückens“. Erst langsam begann sich die soziale Lage im Frühjahr 1924 zu bessern und es wurde versucht, die Strukturen der Wohlfahrtspflege zu erneuern.199 Ihre Ansichten zur Jugenderziehung haben sich in den schweren Jahren zwischen dem Ende des Krieges und der „Hyperinflation“ von 1923, die bereits im Ersten Weltkrieg angelegt war,200 gefestigt. Der Ansicht, Jugend solle nicht beeinflusst werden und Jugendpflege solle unterlassen werden, da 194 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 16. Januar 1925; Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 153/154. 195 Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 29. November 1923; 4.Tagebuch, Eintrag unter November 1923; HeußKnapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 151. „Über der Nachbarschaftshilfe stehen ungesehen als Motto zwei Worte Jesu, die sich nicht in den Evangelien finden: ,Hast du deinen Bruder gesehen, so hast du deinen Gott gesehen’ und ,Niemals sollt ihr fröhlich sein, als wenn ihr euren Bruder in Liebe seht.’“ Im Manuskript Elly Heuss-Knapps zu ihrem Artikel für den „Schwabenspiegel“ 17 (1923) und „Propyläen“ 21 (1924), S. 3. Manuskript Elly Heuss-Knapp „Hauspostille“. Erst im Dezember 1924 schläft die Nachbarschaftshilfe langsam wieder ein, nachdem dem Wirtschaftssystem wieder etwas mehr Vertrauen entgegengebracht wird. 4.Tagebuch, Eintrag unter Dezember 1924. 196 Im Pestalozzi-Fröbel-Haus trafen im November 1923 und zum neuen Jahr 1924 große Kisten mit Lebensmitteln aus der Schweiz, aus Holland und aus Finnland ein. Brief von Elly Heuss-Knapp an Georg Friedrich Knapp aus Berlin-Friedenau vom 4.Januar 1924; 4.Tagebuch, Eintrag unter November 1923. 197 „Nie habe ich so starke Bindungen mit Schülerinnen gehabt, wie in jener Zeit.“ Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 148/149. 198 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 145/146. 199 Frerich/Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 1, S. 232–235; HeußKnapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 152; Sachße, Mütterlichkeit, S. 185–194. 200 Inwieweit eine effektive Gegensteuerung seitens der deutschen Politik möglich gewesen wäre ist umstritten. Die sozialen Folgen für die Bevölkerung waren jedoch katastrophal, wenn auch in distanzierter historischer Betrachtung dies nicht so deutlich wird. Feldman, Gerald D., The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation 1914–1924, Oxford University Press, New York/Oxford 1997, besonders S. 513–575; Wehler, Hans-Ulrich, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis

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die Gefahr bestünde suggestiv zu wirken, erteilte sie eine deutliche Abfuhr. „Als ob das nicht das einzig wirksame an der Erziehung wäre.“201 Auch sollten Jugendliche nicht nur zu Problemen hingeführt werden, sie müssten vielmehr über Erkenntnisse von Wahrheiten aufgeklärt werden.202 Hier meinte sie nicht so sehr religiöse Aspekte als vielmehr die Aufklärung über die Rechte und Pflichten, über das Funktionieren gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Zusammenhänge und über eine gewisse politische Bildung. Ihre intensive Beschäftigung mit Jugendlichen äußerte sich sogar in der aktiven Beteiligung als Schöffe im Jugendgericht. Doch hier stellte sie schnell fest, dass dies nicht ihr Betätigungsfeld war.203 Der Höhepunkt des Jahres 1925 war für Elly Heuss-Knapp die Jahrestagung des Evangelischen Verbandes für die weibliche Jugend Deutschlands vom 2. bis zum 7.Juni in Bremen. Es muss gerade für sie ein imposantes Schauspiel gewesen sein, 3000 Mädchen mit Kränzen im Haar, weißgekleidet im Dom versammelt zu sehen, um zu singen und dem Vortrag „Neue Menschen und die harte Wirklichkeit des Lebens“ von ihr zu hören. 204 Es war nicht nur einer der Vorträge mit der größten Zuhörerschaft, den sie jemals hielt, sondern es war auch einer der für sie bedeutsamsten Vorträge.205 Der Untertitel „Wirtschaftsleben und Arbeit“ erfasst deutlicher die Intentionen des Vortrags. Elly Heuss-Knapp wollte verdeutlichen, dass Arbeit an sich noch keinen „Wert“ für den Menschen besitze, und dass ohne religiösen Glauben Arbeit keinen Sinn mache. „Alle Arbeit kann Gottesdienst sein, keine ist es von Natur! Nicht an der Arbeit liegt es, sondern an der Seele des arbeitenden Menschen. ... Keine Arbeit hat absoluten Wert. Wir arbeiten im Gehorsam und nicht aus Berechnung. Im Gehorsam gegen eine innere Stimme, die wir für Gottes Stimme halten dürfen. Und dann kommt Jesus Christus und lehrt es uns, daß alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist, auch alle Berufsarbeit in dieser und an dieser vergänglichen Welt. ... Alle Gaben, auch die Neigung für einen Beruf, sind zugleich Aufgaben. ... Alle sind sie dem Menschen anvertraut. ... Du sollst sie anwenden im Sinne deines Herrn. ... So fasse alle

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zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, C.H. Beck Verlag, München 2003, S. 244–250. 4. Tagebuch, Eintrag unter Januar 1924. 4. Tagebuch, Eintrag unter Oktober 1923. 4. Tagebuch, Eintrag unter Oktober/November 1924. Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 160. 4. Tagebuch, Eintrag unter 31. Mai 1925. Da die Jahrestagung erst im Juni 1925 stattfand, muss die Datierung im Tagebuch falsch sein. Dies ist leicht möglich, da die Einträge meist später geschrieben wurden, was auch extra vermerkt ist.

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Arbeit auf als Arbeit für deinen Herrn, auch wenn du gar nicht weißt, warum, auch wenn es nach deiner Meinung unnötige Arbeit ist. Wenn die Welt untergegangen ist, so ist alle Arbeit unnütz gewesen! Erkenne, daß es Gnade ist, daß du arbeiten darfst. Jede Arbeit, auch die geringste, hat ... die große Verheißung: ,Ei, du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen. Gehe ein zu deines Herrn Freude!’“206 Die Jugendgruppen von Elly Heuss-Knapp befanden sich in konfessioneller Trägerschaft, wie es in der Weimarer Republik üblich war. 207 Der zugrunde liegende Erziehungsoptimismus führte zu neuen sozialpädagogischen Konzepten und auch zu neuen organisatorischen Zusammenschlüssen, wie die Gründung des „Verbandes sozialer Jugendgemeinschaften“ unter vielen anderen zeigte. Trotz Restriktionen und knapper finanzieller Mittel kam es zu einem Ausbau der Maßnahmen und Einrichtungen öffentlicher Erziehung, auch wegen der privat-konfessionellen Fürsorgetätigkeit. Mit dem bereits im Kaiserreich geschulten Fachpersonal der privat-konfessionellen Träger gerieten die Einrichtungen dann zunehmend in einen Gegensatz zum Alleinvertretungsanspruch und Ganzheitlichkeitsideal der reichsstaatlichen Sozialpolitik.208 Art und Ausmaß der Hilfsleistungen wurden von staatlicher Seite extrem restriktiv gehandhabt und falls die Leistungen bewilligt wurden, umfassten diese lediglich das Existenzminimum. „Damit fiel auch das moderne Fürsorgerecht der Weimarer Republik unter den Widerspruch zwischen programmatischer Großzügigkeit und materieller Dürftigkeit, zweifach verschärft noch durch die entwürdigende Prozedur der Wohlfahrtsbürokratie 206 Heuß-Knapp, Elly, Neue Menschen und die harte Wirklichkeit des Lebens. Wirtschaftsleben und Arbeit, in: Bremen. Bericht von der 32. Jahrestagung des Evangelischen Verbandes für die weibliche Jugend Deutschlands vom 2.-7. Juni 1925 in Bremen, Burckhardthaus-Verlag, Berlin-Dahlem 1925, S. 24/25. 207 Neben Sportvereinen befanden sich nahezu alle anderen Jugendverbände – die Arbeiterjugendverbände erreichten nicht einmal 5% von allen Jugendlichen – in kirchlicher Trägerschaft. Peukert, Weimarer Republik, S. 96. 208 Frerich/Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 1, S. 234/235; Sachße/ Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, 2, S. 114, 214. Die theoretische Diskussion der Grundlagen der Sozialpolitik vermitteln einen guten Einblick in die Ganzheitlichkeitstendenzen der Sozialpolitik in der Weimarer Republik. Preller, Ludwig, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Athenäum/Droste Verlag, Kronberg/Düsseldorf 1978 (Erstausgabe 1949), S. 204–219. Dass sich der „Hunger nach Ganzheit“ nicht nur in der Politik, sondern sehr deutlich auch in der Jugendbewegung artikulierte zeigt Gay, Peter, Hunger nach Ganzheit, in: Die Weimarer Republik, hg. von Michael Stürmer, Verlag Anton Hain, Meisenheim 31993, S. 224.

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generell und durch den erheblichen Leistungsabbau während der Weltwirtschaftskrise im besonderen.“209 Soziale Gesinnung und soziale Arbeit waren die Themen, die seit Anfang der 20er Jahre nicht nur bei Elly Heuss-Knapp ganz besonders im Focus standen. Auf Kongressen entwickelten sich diese Thematiken zu den wichtigsten Debatten überhaupt. Bereits bei der Gründung des „Verbandes sozialer Jugendgemeinschaften“ kristallisierten sich diese Schwerpunkte heraus, wobei die interkonfessionelle programmatische Zielsetzung ihr sehr zusagte. Jüdische, katholische und protestantische Jugendliche entwickelten weitgehend übereinstimmend die Motivation zur sozialen Gesinnung und zur sozialen Hilfstätigkeit aus der reinen, „helfenden Liebe“.210 In den scheinbar „Goldenen Jahren“ der Weimarer Republik211 widmete sich Elly Heuss-Knapp neben ihrer Lehrtätigkeit in der „Sozialen Frauenschule“, im „Pestalozzi-Fröbel-Haus“ und im „Burckhardt-Haus“ viel ihrem Sohn Ernst Ludwig. Als Mutter empfand sie es als ihre Familienpflicht, dem Kind auch dadurch eine gute Kindheit zu ermöglichen, dass sie einfach anwesend war. Dies konnte sie gut mit einer regen Publizistik vereinbaren, die bereits nach dem Krieg einsetzte. Die Familie sah sie als die natürliche Grundlage des Volkes an, die beste Organisation zur Erziehung der Kinder, was sie natürlich auch selbst vorlebte. In kritischer Distanz zur bürgerlichen Frauenbewegung, von der sie sich ohnehin nicht vereinnahmen lassen wollte,212 forderte sie immer wieder die Beibehaltung und Stärkung der Familie als „Erziehungsgemeinschaft“. „Besonders die harmonische Entfaltung des Selbstgefühls wird in der durch Vererbung und Tradition verbundenen Familie am sichersten gewährleistet. Familientradition leitet über zu nationaler Tradition, Familiengefühl muß sich 209 Peukert, Weimarer Republik, S. 140. Detlev Peukert zeigt hervorragend die „geradezu ingenieurmäßige Lösung der sozialen Frage“ (Longerich, Peter, Deutschland 1918–1933. Die Weimarer Republik. Handbuch zur Geschichte, Fackelträger, Hannover 1995, S. 175), die zu einer sich selbst legitimierenden Bürokratie führte. Peukert, Weimarer Republik, S. 137–143. 210 4. Tagebuch, Eintrag unter Oktober 1920; Heuß-Knapp, Soziale Jugendgemeinschaften, Sp.838. 211 Die Forschung zur Weimarer Republik ist sich im Großen und Ganzen einig, dass die Jahre von 1924 bis 1929 alles andere als goldene Zeiten waren. Abgesehen von dem kulturellen Bereich besserte sich zwar das Leben der Menschen etwas, doch von Lebensverhältnissen, die in der späteren Bundesrepublik bereits in den 50er Jahren erreicht wurden, war man noch weit entfernt. Peukert, Weimarer Republik, S. 204–218; Winkler, Heinrich August, Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924–1930, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Berlin/Bonn 21988, S. 9. 212 Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 317.

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zum Gemeinschaftsgefühl erweitern.“213 Die Pflege der Familie als Hilfe für das Volk, „das Vater und Mutter ehrt, die Ehe heilig hält und seine Kinder als Gottes größte Gabe ansieht und hütet“,214 als Dienst an der Gesamtheit, war sicherlich eine Forderung, der alle zustimmen konnten. Der Grad war jedoch schmal, der von der Einordnung zur Unterordnung führen konnte.215 Der Schwerpunkt ihrer Veröffentlichungen und Aktivitäten lag jedoch auf der sozialen Arbeit. In ihren Publikationen preist sie mehrmals die Quellen der sozialen Arbeit: den religiösen Urgrund und die Vaterlandsliebe.216 Seit Mitte der 20er Jahre ist deutlich zu erkennen, dass sie ein größeres Augenmerk auf Frauen und Arbeit, auch im Verhältnis zum berufstätigen Mann, richtet. Hierbei kommt der Familie und der Fürsorge die herausragende Bedeutung zu. Ihr Interesse und Engagement übertraf weit die Beschäftigung mit anderen „Sozialbereichen“ wie der Arbeitslosenunterstützung oder dem Versicherungswesen.217 Die neuesten empirischen Erkenntnisse der Soziologie eignete sie sich durch den Besuch mehrerer Tagungen und Kongresse an und gelangte immer mehr zu der These, „daß keine organisierte Fürsorge so viel leisten kann wie eine Familie“.218 213 Heuß-Knapp, Elly, Die Familie als sittliche Erziehungsmacht, in: Die Frau 28 (1920/1921), S. 380. 214 Heuß-Knapp, Elly, Familie, in: Jugendweg 7 (1926), S. 87. Mit Marianne Weber war sie hinsichtlich der herausragenden Stellung der Familie und der Ehe vollends einig. 4.Tagebuch, Eintrag unter 1927. 215 Dederke, Karlheinz, Reich und Republik. Deutschland 1917–1933, Klett-Cotta, Stuttgart 71994, S. 109. 216 Heuß-Knapp, Elly, Soziale Arbeit in unserer Zeit, in: Badische Landes-Zeitung Karlsruhe vom 25. November 1920, S. 6. 217 Das staatliche Versicherungswesen und die Arbeitslosenunterstützung sah sie auf gutem Weg, falls die Schwierigkeiten der Finanzierung überwunden werden würden. Heuß-Knapp, Elly, Erwerbslosigkeit, in: Weibliche Jugend 36 (1927), S. 85. 218 Heuss-Knapp, Elly, Familie und Fürsorge. Zweite Internationale Konferenz für Soziale Arbeit in Frankfurt a.M., in: Stuttgarter Neues Tagblatt, 2. August 1932. Unter den Kongressen und Tagungen, die sie bis in die frühen 30er Jahre besuchte und die sehr stark auch vom Thema „Familie und Fürsorge“ geprägt waren, ragten heraus: Werkbund-Tagung in Mannheim (Oktober 1927) – ungewöhnlich, doch selbst hier war das Diskussionsthema „Familie und Fürsorge“ präsent; Wohlfahrtspflegerinnentagung in Saarow ( Juni 1929); Tagung des Deutschen Evangelischen Frauenbundes in Göttingen (Mai 1931); Internationaler Kongress für Soziale Arbeit in Frankfurt a.M. ( Juli 1932). Vgl. dazu die jeweiligen Einträge im 5. Tagebuch, Einträge unter Oktober 1927, Juni 1929, Mai 1931, Juli 1932 und Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 368–370. Den Kongress „Familie und Fürsorge“ vom Juli 1932 nennt sie „zu gut vorbereitet und daher nicht sehr

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Es war natürlich nicht ungewöhnlich, dass Elly Heuss-Knapp von den Themen „Familie“ und „Fürsorge“ auch auf Hausfrauen und Mütter verstärkt aufmerksam wurde, zumal sie selbst als Mutter mit den alltäglichen Problemen und Vorzügen einer Mutter, die zugleich den Haushalt organisieren musste, konfrontiert wurde. Gleichzeitig musste sie, wie viele tausend Mütter, ihre Fürsorgetätigkeit damit in Einklang bringen, was natürlich eine ungeheure physische und psychische Belastung darstellte. Vom „Burckhardt-Haus“ wurde daher auf ihre Bitte hin bereits 1924 eine Freizeit für Wohlfahrtspflegerinnen einberufen. Im Juli versammelten sich durch ein Zeitungsinserat zusammengerufene „Sozialarbeiterinnen“, um eine Woche Erfahrungen und Erkenntnisse auszutauschen und programmatisch zu diskutieren. Elly Heuss-Knapp entwickelte die leitende Fragestellung. „Warum sind wir hier? Als solche, die helfen müssen und helfen können oder als solche, die Hilfe brauchen? Wir sind beides. Der Beruf trägt uns auf, zu helfen, und doch wissen wir, daß wir immer wieder der Hilfe bedürfen und leiden, weil wir oft nicht helfen können.“ Wichtig war ihr, deutlich zu machen, dass die Wohlfahrtspflegerinnen nicht „hart“ werden dürften. Sie müssten immer wieder aus reiner Liebe ihre Hilfstätigkeit ausüben und dies auch für sich immer wieder reflektieren. Diese Woche im Kreis von Menschen, „die sich vorher nicht kannten, und die nun zu einer Einheit verwuchsen“, nannte sie rückblickend 1934 den Höhepunkt ihres Arbeitslebens. Und in dieser Woche wurde ihr auch bewusst, wie notwendig eine Erholung für die vielen Wohlfahrtspflegerinnen war, die sehr viel Zeit zumeist ehrenamtlich in ihren Beruf, oder besser in ihre Berufung investierten. Das waren die gedanklichen Anfänge zu einer organisierten Erholung für Mütter.219 Die große Resonanz, die Elly Heuss-Knapp bei Frauen hervorrufen konnte, war auch darauf zurückzuführen, dass es ihr gelang, Themen anzusprechen, die Frauen bewegten und ganz persönlich interessierten. Das Spektrum war breit. Die „neue Lebensgestaltung“ im Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat datierte sie bereits auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Entgegen der Meinung vieler Zeitgenossen vollzogen sich in ihren Augen die entscheidenden Änderungen vor 1914: „das Zusammenballen der Menschen in den Großstädten, die mechanisierte Arbeit für die Industrie, das Aufgeben der Selbständigkeit, aber auch die gesteigerten Löhne und gehoanregend“, was auch darauf schließen lässt, dass Elly Heuss-Knapp die „Sozialarbeiterin“ war und blieb, wohingegen ihr die „wissenschaftlichen Sozialtheoretiker“ doch etwas zu weltfremd waren und zu wenig über die Menschen diskutierten. 5. Tagebuch, Eintrag unter Juli 1932. 219 Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 160–164.

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benen Bedürfnisse, die Erwerbsarbeit der Frau, das frühe Selbständigwerden der Jugend“.220 Doch sah sie neben den problematischen Auswirkungen der Naturentfremdung durch Verstädterung, der Lockerung von Familienbündnissen, der Unterwerfung unter Modesuggestionen, der Veräußerlichung oder dem Bruch mit guten Sitten auch die positiven, neuen Formen der Lebensgestaltung. So hätten sich neue Formen der Jugendbewegung dem Jugendwandern verschrieben und Erwachsene würden ihr städtisches Leben mit dem Gartenbau, Schrebergärten und Dachgärten oder Balkonen angenehmer gestalten. Ebenfalls eine positive Rolle gestand sie dem Sport sowohl im körperlichen als auch im sozialen Bereich zu. Und letztlich zeigte für sie auch die Mode als Ausdruck eines veränderten Frauenideals praktischere und schönere Ausformungen als noch in der Generation um die Jahrhundertwende.221 Diese doch recht allgemeinen Betrachtungen vertiefte sie immer wieder mit ganz speziellen Analysen. So beschäftigten sie Modethemen,222 Haushaltsführung223 und die Organisation des Haushaltsbudgets224 ebenso wie „Sitten“225 oder „Bescheidenheit“226.

220 Heuß-Knapp, Elly, Neue Lebensgestaltung, in: Neue Frauenkleidung und Frauenkultur 25 (1928/1929), S. 2. 221 Ebd., S. 2/3. 222 Ebd., S. 2. 223 Heuß-Knapp, Elly, Hausgerät und Wohnkunst, in: Neue deutsche Frauenzeitschrift 4, Heft 10 (1929), S. 2/3. 224 Heuß-Knapp, Elly, Hausfrauensorgen, in: Die Hilfe 36 (1930), S. 869/870. 225 Elly Heuss-Knapp verband mit dem „Sittlichen“ weitreichende Auffassungen, die stark in den religiösen Bereich hineinwirkten. „Der Glaube muss im Sittlichen verpflichtet sein“ vertraute sie ihrem Tagebuch im März 1923 an. 4. Tagebuch, Eintrag unter März 1923. Viele Vorträge kreisten um den Stellenwert von „Sitten“ in der Gesellschaft, so etwa „Sitte und Tradition“ vom Januar/Februar 1926, ein Vortrag, den sie überarbeitet mehrmals bis 1929 hielt. 4. Tagebuch, Eintrag unter Januar 1926, 5. Tagebuch, Eintrag unter Dezember 1928. HeussKnapp, Ausblick vom Münsterturm S. 367/368. Der Begriff wird nicht deutlich erfasst und bleibt so im Sinne von sittlichem Handeln sehr weit auslegungsfähig, was sie selbst in ihren Tagebüchern zugibt und was ihre Bemerkungen zum „Sinn der Sitte“, bei dem schnell von Krise die Rede sei, verdeutlichen. 4.Tagebuch, Eintrag unter 1927. Vgl. auch Heuß-Knapp, Familie als sittliche Erziehungsmacht, S. 380. 226 „Bescheidenheit“ als Tugend führt Elly Heuss-Knapp als Wesenszug wirklich „großer Menschen“ an. Dabei ist ihr die tiefere, größere Bedeutung wirklicher Bescheidenheit ungeheuer wichtig: Demut! „Mut zum Dienen, Dien-Mut“ vor Gott. Heuß-Knapp, Elly, Eine altmodische Tugend: Bescheidenheit, in: Jugendruf 8 (1930), S. 23.

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Die Fürsorgetätigkeit lief auf der Ebene der Gemeinde weiter, doch stand sie nach der überwundenen Not und den Schicksalsschlägen durch den Tod ihrer Mutter und ihres Vaters seit 1926 nicht mehr im Mittelpunkt. Die Weltwirtschaftskrise 1929 bewegte sie nicht einmal annähernd so stark wie die lange Phase der Inflation zwischen dem Ersten Weltkrieg und 1923,227 obwohl wiederum viele Menschen die kommunale Wohlfahrtspflege benötigten. Diese wurde nach einer relativ kurzen Zeitspanne der Arbeitslosenunterstützung von nur wenigen Wochen bewilligt, umfasste aber auch lediglich ein sehr knapp bemessenes Existenzminimum nach entwürdigenden Prüfungsprozeduren. Andererseits veränderte sich auf kommunaler Ebene doch vieles zum Besseren, wie etwa der Wohnungsmarkt, die medizinische Versorgung etc., und daran partizipierten auch Frauen.228 Sie schrieb jetzt mehr Aufsätze als jemals zuvor229 und mischte sich kaum noch ins politische Tagesgeschäft ein, ohne jedoch unpolitisch zu werden.230 Elly Heuss-Knapp war in den letzten Jahren der Weimarer Republik sogar typisch für die bürgerliche Ausprägung der Sozialreformer, die ihre Sozialisation im Kaiserreich empfangen hatten: Sie hielten sich „von aller Parteipolitik fern, und zeigte[n] sich von Veränderungen der Staatsform weitgehend unberührt, vom Wechsel der Regierungen unbeeindruckt, wenn und soweit der sozialpolitische Sektor davon keinen Schaden litt“.231

227 Weder in ihren Tagebüchern noch in ihren Aufsätzen widmete sie sich diesem Thema, obwohl die Krise für die Bevölkerung greifbar und spürbar war, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie zur „Hyperinflationszeit“. 228 Peukert, Weimarer Republik, S. 247/248; Frevert, Frauen-Geschichte, S. 170– 172. 229 5. Tagebuch, Eintrag unter Oktober 1930. 230 In ihren Tagebüchern erwähnt Elly Heuss-Knapp ihre einzige Wahlkampfrede in den 30er Jahren in Dahlem. Dies sei eine „grässliche Sache“ gewesen und daher auch der letzte öffentliche Auftritt für die Partei. Tatsächlich trat sie danach überhaupt nicht mehr als Rednerin bei größeren Veranstaltungen auf. 5. Tagebuch, Eintrag unter April 1932. Bereits 1932 enthielt sie sich auch nahezu vollständig jeglicher politischer Äußerungen in ihren Briefen – Theodor Heuss publizierte sein erfolgreiches Buch „Hitlers Weg“ und damit stand die Familie Heuss bei den Nationalsozialisten an vorderster Stelle bei den unliebsamen Schriftstellern. Dafür wurden die Tagebücher umfangreicher. Diese enthalten bis 1936 ausführlichere Stellungnahmen zum politischen Geschehen. Ab 1937 fand Elly Heuss-Knapp nicht mehr die Muße, die Einträge fortzuführen. Erst 1943 beginnen die Aufzeichnungen erneut und reichen bis 1947. Vgl. dazu 5. Tagebuch. 231 Schulz, Bürgerliche Sozialreform, S. 207/208.

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Abb. 9  Die vielfältigen Aktivitäten von Elly Heuss-Knapp (stehend, vierte Frau von rechts) und die starke Resonanz auf ihre Kurse zeigt stellvertretend das Abschlussbild des zweijährigen Seminars für den Kirchlichen Frauendienst zu Ostern 1931.

5. Veränderte Lebensverhältnisse in der Diktatur Die Lehrtätigkeit in den Jugendgruppen setzte Elly Heuss-Knapp bis zum Beginn der nationalsozialistischen Diktatur fort. Die Denunziation durch eine Schülerin232 beendete diese im Juli 1933 schlagartig. Alle anderen „sozialpolitischen“ Aktivitäten fanden kein derart abruptes Ende. Bereits in den späten 20er und frühen 30er Jahren stand für sie das Privatleben wieder eindeutig an erster Stelle.233 Sie beschäftigte sich sehr intensiv mit den Veröffentlichungen der kirchlichen „Lehrer“ in „ihren“ Gemeinden – Friedrich Delekat und 232 Vgl. Kap. II.4.c) 233 Dies wurde schon 1925/1926 deutlich, als sie ihre Vortragsreisen fast nur nach Süddeutschland verlegte, da es ihr dann möglich wurde, monatlich ihren Vater Georg Friedrich Knapp in Darmstadt zu besuchen. Heuß-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 154. „Meine Heimat ist jetzt Darmstadt solange Georg Friedrich Knapp dort lebt.“ 4. Tagebuch, Einträge unter Juli und September 1925.

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Otto Dibelius –, verfasste seit 1926 jährlich einige Rezensionen zu literarischen Werken und wurde in den 30er Jahren gezwungenermaßen zum Hauptverdiener der Familie. Theodor Heuss war aus allen politischen und öffentlichen Ämtern entfernt worden234 und als politischer Publizist konnte er nicht mehr tätig sein. Die vereinzelten Veröffentlichungen – meist unter Pseudonym – genügten nicht, um den Lebensunterhalt der Familie bestreiten zu können. Daher war er zunehmend auf das Einkommen seiner Frau angewiesen, die sehr erfolgreich in der Rundfunkwerbung tätig war. Selbst im Zweiten Weltkrieg ermöglichten die Werbeaufträge ein erträgliches Leben. Erst als sich die alliierten Bombenangriffe auf Berlin 1943 verstärkten235 zogen Elly Heuss-Knapp und Theodor Heuss nach Heidelberg in das Haus der Schwester Marianne Lesser-Knapp.236 Ihrer Werbetätigkeit konnte sie jedoch bis zum wirtschaftlichen Zusammenbruch des Deutschen Reiches Ende des Jahres 1944237 auch in Heidelberg weiter nachgehen.

a) Rückzug ins Private Elly Heuss-Knapp war mit der Parteipolitik der Deutschen Demokraten alles andere als zufrieden, doch die sozialreformerischen Gedankengänge, mit denen sie schon im Kaiserreich gerungen hatte und unter denen sie sozialisiert worden war, schienen nicht nur ihr in der Weimarer Republik ausreichend verankert und größtenteils verwirklicht.238 Sozialarbeit erlangte ein Übergewicht gegenüber ehrenamtlicher Fürsorge. Damit verbunden war eine Professionalisierung der Ausbildung, deren Leistungsanforderungen in staatlichen Prü234 Theodor Heuss. Mann, Werk, Zeit, S. 173, 179/180; 5.Tagebuch, Einträge unter Mai und Juli 1933. 235 Allgemein zu den Bombenangriffen vgl. Herbst, Ludolf, Das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (Moderne Deutsche Geschichte 10), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, S. 436; Thamer, Hans-Ulrich, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933–1945, Siedler Verlag, Berlin 1998, S. 750–752, 757/758; Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, IV, S. 931–933. Engeli, Christian/ Ribbe, Wolfgang, Berlin in der NS-Zeit (1933–1945), in: Geschichte Berlins, Zweiter Band: Von der Märzrevolution bis zur Gegenwart, hg. von Wolfgang Ribbe, C.H. Beck Verlag, München 1987, S. 1011/1012. 236 5. Tagebuch, Einträge unter 1943. 237 Die deutsche Infrastruktur brach endgültig im Winter 1944/1945 zusammen. Frei, Norbert, Der Führerstaat. Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945, dtv, München 62001, S. 205. Thamer, Verführung und Gewalt, S. 758. 238 Preller, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, S. 497.

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fungsordnungen geregelt wurden.239 Die „Politisierung“ der Wohlfahrtspflege durch die unterschiedlichsten Strömungen trug ebenfalls dazu bei, die Fürsorge aus dem rein privaten Engagement herauszuführen.240 Alice Salomons Konzept, das ehrenamtliche Sozialtätigkeit als weibliche Emanzipation begreifen wollte, konnte somit nur noch ein Schattendasein führen. „Das labile Spannungsgefüge von weiblicher Emanzipation, bürgerschaftlicher Verantwortung für das Gesellschaftsganze und einer primär auf die weibliche Persönlichkeitsentwicklung abzielenden Fachlichkeit“ zerbrach vollends.241 Elly Heuss-Knapp konnte dagegen mit der Okkupation der Fürsorge durch die Politik sehr gut leben.242 Ihre Intention lag nie in erster Linie darin, die Stellung der bürgerlichen Frauen zu stärken und emanzipatorischen Zielen den Weg zu bereiten. Die Motivation ihrer sozialen Arbeit war einerseits bedingungslose „helfende Liebe“243 und andererseits möglichst viel für die hilfsbedürftigen Menschen zu erreichen.244 Und hierfür war die Religion ihr wichtigstes Antriebsmoment. Mitte der 20er Jahre beschäftigte sich Elly Heuss-Knapp erneut intensiv mit der Theologie.245 Durch den Konfirmationsunterricht und die Konfirmation von Ernst Ludwig Heuss im März 1925246 befand sie sich im Umkreis des 239 André, Günter, SozialAmt. Eine historisch-systematische Einführung in seine Entwicklung, Beltz, Weinheim/Basel 1994, S. 75; Sachße, Mütterlichkeit, S. 261. 240 Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, 2, S. 215/216. 241 Sachße, Mütterlichkeit, S. 261/262. 242 In einem Brief an ihre Freundin Gertrud Stettiner-Fuhrmann, eine sehr fromme ehemalige Schülerin aus Straßburger Zeiten, schreibt sie am 13. Februar 1930: „Manchmal glaube ich ganz fest an die Erneuerung des deutschen Volkes aus dem Glauben und der Verantwortung heraus.“ Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 200. 243 Am eindringlichsten hat sie dies 1920 formuliert. Heuß-Knapp, Soziale Jugendgemeinschaften, Sp.838. 244 Durch ihre Mitarbeit in der Straßburger Armenverwaltung im Deutschen Kaiserreich, und damit auf der staatlichen, bürokratischen Seite, betrachtete sie die öffentlichen Stellen ohnehin positiver als viele ehrenamtliche Wohlfahrtspflegerinnen der Weimarer Republik. Sachße, Mütterlichkeit, S. 265. 245 Die erste intensive Beschäftigung mit religiösen Themen – „Theologie“ wird synonym verwendet, da ihre theologische Auseinandersetzung, wie bereits ausgeführt, nicht wissenschaftlich begründet war, sondern der praktischen Religionsausübung und der Nutzbarkeit für das Leben entstammte – aus ihren Straßburger Tagen mit Albert Schweitzer um die Jahrhundertwende erstreckte sich über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Neben Schweitzer waren Friedrich Naumann und Adolf von Harnack ihre „theologischen Ideengeber“. Vgl. Kap. I.4. 246 In ihren Tagebüchern notiert sie zur Konfirmation: „Es ist ein köstliches Ding, daß das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.“ 4.Tagebuch, Eintrag unter 18.März 1925.

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Pfarrers Otto Dibelius, der einer der beiden Theologen werden sollte, deren Reden und Werke sie die folgenden Jahre begleiten würde. Das Verhältnis zu Dibelius und auch zu Friedrich Delekat war ganz anderer Natur als ihre Beziehung zu den drei „theologischen Vorbildern“ aus der Vorkriegszeit. Albert Schweitzer war der fachlich bewunderte, nur etwas ältere Freund. Friedrich Naumann und Adolf von Harnack waren Vorbilder im Sinne theologischer „Großkaliber“. Anders verhielt es sich nun mit Dibelius. Elly Heuss-Knapp begegnete ihm auf Augenhöhe und lernte durch die kritische Reflexion seiner Reden, Vorträge oder Veröffentlichungen.247 Seine Predigten hörte sie so oft sie konnte. Weihnachten und Neujahr wurde der Besuch des Gottesdienstes von Otto Dibelius in dessen Heilsbronner Gemeinde in Berlin zum Pflichtprogramm.248 Die Beschäftigung mit Dibelius führte sie 1927/1928 zur Lektüre seines weit verbreiteten „Jahrhunderts der Kirche“, das innerhalb von zwei Jahren sechs unveränderte Auflagen erlebte.249 Der Theologe Dibelius, ein Schüler Adolf von Harnacks,250 kritisierte vehement die Säkularisierung des Staates in der Weimarer Republik. Auch Elly Heuss-Knapp deutete immer wieder auf die Krise der Zersplitterung und der damit verbundenen erfolglosen Sinnsuche 247 Dies geht aus vielen Briefen hervor. Sehr gut wird das in einem Brief an Theodor Heuss deutlich. „Die Predigt von Dibelius war formal sehr gut, nach meinem Empfinden wieder etwas zu gut, sehr gebildet, allerhand historische Zitate, aber auch so, daß er meinen Wunsch ordentlich erfüllt hat.“ Der Brief, geschrieben am 22. März 1933, lässt auch bereits die vorsichtige Ausdrucksweise erkennen, derer sich seit Januar viele Menschen bedienten. Es wurden immer mehr Metaphern verwendet („formal sehr gut“ und „wieder etwas zu gut“ bedeuteten hier, dass Dibelius die politische Lage sehr kritisch, fast etwas zu kritisch in seiner Predigt thematisiert hatte). Brief von Elly Heuss-Knapp an Theodor Heuss aus Berlin-Lichterfelde vom 22. März 1933. Die Predigt, um die es sich hier handelte, hielt Dibelius bei einem Gottesdienst für die evangelischen Abgeordneten in der Nikolaikirche am 21. März 1933. Darin rechtfertigte er Gewalt um die staatliche Ordnung wieder herzustellen, doch dann müsse Gerechtigkeit und Barmherzigkeit regieren. „Staatliches Amt darf sich nicht mit persönlicher Willkür vermengen! Ist die Ordnung hergestellt, so müssen Gerechtigkeit und Liebe wieder walten, damit jeder, der ehrlichen Willens ist, seines Volkes froh sein kann!“ Zitiert nach Stupperich, Otto Dibelius, S. 204/205. 248 4. Tagebuch, Eintrag unter Dezember 1925; 5. Tagebuch, Eintrag unter Dezember 1930. Leider liegen keine Aufzeichnungen von Elly Heuss-Knapp über den Inhalt der Predigten beziehungsweise Kommentare zu diesen vor. 249 Dibelius, Otto, Das Jahrhundert der Kirche. Geschichte, Betrachtung, Umschau und Ziele, Furche-Verlag, Berlin 61928. 250 Der Einfluss Harnacks kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Stupperich, Otto Dibelius, S. 34–38.

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hin.251 Gleichzeitig insistierte er auf die neue Rolle der Kirche, die eine Wächterfunktion der Sittlichkeit übernehmen müsste. „Die Aufgabe einer evangelischen Kirche deutscher Art innerhalb der ökonomischen Bewegung besteht vor allem darin, daß sie sich nicht anderen angleicht, sondern daß sie das ist, wozu sie Gott bestimmt hat: eine Kirche, in der Martin Luther umgeht, in der Jesus Christus mit deutschen Augen gesehen und mit deutschen Herzen geglaubt wird, und daß sie ihre gesammelte Kraft an die heilige Aufgabe setzt, die ihr in sich selbst gegeben ist.“252 Im Geleitwort zur 5.Auflage formuliert Dibelius deutlicher, was er unter der heiligen, in sich selbst gegebenen Aufgabe der Kirche versteht. Es gelte die Not der Volksgemeinschaft zu überwinden. Die Ziellosigkeit des geistigen Lebens werde immer erschreckender, die sittlichen Werte stünden immer mehr in Frage, die Entseelung und Rationalisierung des Lebens mache immer größere Fortschritte. „Gott allein kann helfen!“ Gottes Werkzeug jedoch sei die Kirche, und nur sie könne „dem eine Heimat geben, was christlicher Glaube an Lebenskräften und an inneren Bindungen, an Not und an Glück für den einzelnen und für die Volksgemeinschaft bedeutet“.253 Dibelius wurde etwas ausführlicher zitiert, weil er sehr genau das artikulierte, was Elly Heuss-Knapp empfand. Die Rolle der Kirche sah er in einer überparteilichen Funktion, da es ihr sonst schwer möglich wäre, der „Sittlichkeit“ wieder erneut Geltung zu verschaffen.254 „Sitte“ sei niemals religiös gleichgültig, da sie mit dem Glauben verwachsen sei, „der eine Gemeinschaft beherrscht“.255 Friedrich Delekat,256 der zweite wichtige Theologe seit Mitte der 20er Jahre in Elly Heuss-Knapps Leben, erkannte darin ein wesent251 So etwa in dem Artikel Heuß-Knapp, Elly, Volksnot und Volkshilfe, in: Jugendweg 7 (1926), S. 121. 252 Dibelius, Jahrhundert der Kirche, S. 256. 253 Dibelius, Jahrhundert der Kirche, 5. Auflage, S. 4/5. 254 Noch deutlicher artikuliert Dibelius die Unvereinbarkeit der Vereinnahmung der Kirche durch eine Partei beziehungsweise die parteipolitische Festlegung der Kirche in dem auch von Elly Heuss-Knapp sehr genau studiertem Werk Dibelius, Otto, Nachspiel. Eine Aussprache mit den Freunden und Kritikern des „Jahrhunderts der Kirche“, Furche-Verlag, Berlin 1928, S. 89–113. 255 Delekat, Friedrich, Die Kirche Jesu Christi und der Staat, Furche-Verlag, Berlin 1933, S. 142. 256 Friedrich Delekat war 11 Jahre jünger als Elly Heuss-Knapp. Dennoch lernte sie viel von diesem Theologen, der noch dazu religionspädagogisch auf der Höhe der Zeit war, was seine bekannte Pestalozzi-Biographie bezeugt, die immerhin zwei Auflagen erlebte. Während seiner Jahre am Religionspädagogischen Institut in Berlin besuchte sie regelmäßig seine Seminare. Vgl. die Angaben in: Deutsche Biographische Enzyklopädie (DBE), hg. von Walther Killy, Bd. 2: BohaczEbhardt, K.G. Saur, München 1995, S. 476.

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liches Element der Volksgemeinschaft. Er konnte den Begriff der „Sitte“, den Elly Heuss-Knapp in so vielen Vorträgen thematisierte,257 für sie konkretisieren. Der Sinn der Sitte „liegt immer darin, daß im Zusammenleben der Menschen feste Gewohnheiten entstehen, durch die die Gemeinschaft, in der sie leben, ihnen in wesentlichen Fragen des Lebens die persönliche Entscheidung abnimmt“. Im Geiste Jesu Christi, und nur in diesem, vermittelt durch die Kirche, würden sich neue Sitten bilden, die Menschen anleiten und führen müssten. „Im kleinen Kreis der Gemeinde kann die Bindung durch die Sitte sehr fest sein.“ Erst von dem Bereich der Gemeinde aufsteigend reiche der Einfluss der Kirche auch in den Bereich des Großen.258 Auch Delekat gelangt zu dem Punkt, an welchem er die Kirche von der Politik trennt. Das Gemeinsame sei die „Gesellschaft“259 als moderner soziologischer Zwischenbegriff zwischen Staat und Kirche. „Der Begriff des Reiches Gottes wird ... mit Hilfe des Begriffs der Gesellschaft verweltlicht.“ Und dies sei die Grundlage der Politik.260 Vereinfacht versucht Delekat deutlich zu machen, dass in der kirchlichen Gemeinschaft entstehende sittliche Grundlagen eine „Gesellschaft“ konstituieren. Diese „Gesellschaft“ werde dann von der Politik adaptiert, geformt und regiert. Im Laufe der 20er Jahre veränderte sich die Haltung von Elly HeussKnapp ebenfalls weg von der parteipolitischen Bindung. Sie sah die DDP immer mehr als heterogenen Block, in welchem zunehmend weniger Positionen der evangelischen Kirche Raum bekamen. Die Heterogenität verstärkte sich noch mit dem Zusammengehen von Deutschen Demokraten und Jungdeutschen zur Deutsche Staatspartei.261 Zu sehr setzten sich kirchenkritische 257 Die Themen reichten von „Sitte und Tradition“ (1926), „Sinn der Sitte“ (1927) bis zu „Allerhand zum Nachdenken aus Sprache, Sitte und Aberglauben“ (1929)“. 4.  Tagebuch, Einträge unter Januar 1926, 1927; 5. Tagebuch, Eintrag unter November 1929. 258 Delekat, Kirche Jesu Christi, S. 142–147, 152. 259 Der Begriff „Gesellschaft“ ist seit der Studie „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von Ferdinand Tönnies von 1887 ein „soziologisches Dauerthema“. Überhaupt einen definitorischen Rahmen zu finden ist nahezu unmöglich. Dennoch operiert Delekat sehr bewusst mit diesem Begriff, gerade weil er außerordentlich schwer zu umgrenzen ist, wie er selbst zugibt, aber auch weil „Gesellschaft“ sich scheinbar als übergreifender Begriff für alle vorkommenden Ausformungen jeglicher Gruppierungen im Staat eignet. Delekat, Kirche Jesu Christi, S. 154. 260 Delekat, Kirche Jesu Christi, S. 154–157. 261 Schneider, Werner, Die Deutsche Demokratische Partei in der Weimarer Republik 1924–1930, Wilhelm Fink Verlag, München 1978, S. 256–263, 271. Elly Heuss-Knapp konnte den Jungdeutschen mit deren Führerprinzip wenig abgewinnen. Sie hielt den Führer Artur Mahraun für einen Schwätzer und erkannte

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Mitglieder in der Partei mit ihren Forderungen durch, das Religiöse wenn nicht ganz aus der Programmatik zu entfernen, so doch diesem einen wesentlich geringeren Stellenwert einzuräumen, falls überhaupt noch derartige Themen behandelt wurden. So setzte sich die DDP bereits 1923 dafür ein, den Einfluss der Kirchen auf die Schulpolitik zu begrenzen.262 Für ihren Fürsorgegedanken spielte dies insofern eine Rolle, als sie die Trennung von Staat und kirchlicher Wohlfahrt damit als sinnvoll erachtete. Der Staat weitete, dies unterstützend, seine Aktivitäten schon sehr stark auf alle Bereiche der Sozialpolitik aus.263 Und in der staatlichen Jugendfürsorgepolitik, aber auch in anderen sozialpolitischen Feldern war der Einfluss liberaler Kräfte in den zuständigen Stellen schon vor 1933 weitgehend ausgeschaltet.264 Es blieben also nur die kirchlichen Aktivitäten im kleinen „nachbarschaftlichen“ Rahmen, die noch in einer derartigen Strukturveränderung in Wahlzeiten eine Illusion, die scheinbar große Wahlerfolge vorgaukelte. Dies bestätigte ihr die Wahlkatastrophe für die Demokraten im September 1930. 5. Tagebuch, Einträge unter August und September 1930. 262 Vgl. dazu Dokumente, in: Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918–1933 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien III,5), hg. von Konstanze Wegner und Lothar Albertin, Droste Verlag, Düsseldorf 1980, S. 291–294. In den frühen 30er Jahren war an eine programmatische Auseinandersetzung in religiösen Fragen kaum noch zu denken. Für die Linksliberalen ging es um das parlamentarische Überleben und kirchliche beziehungsweise sogar sozialpolitische Themen fanden fast überhaupt keine Berücksichtigung mehr. Matthias, Erich/Morsey, Rudolf, Die Deutsche Staatspartei, in: Das Ende der Parteien 1933. Darstellungen und Dokumente, hg. von Erich Matthias und Rudolf Morsey, Droste Verlag, Düsseldorf 1984, S. 31–68. 263 Ein wichtiges Moment war für den Staat auch die knappe Finanzlage. Den größtmöglichen Einfluss auf die Kriterien der Unterstützungszuschüsse konnten nur staatliche Träger sozialpolitischer Institutionen ermöglichen. Die Auswahlkriterien enthielten bereits seit 1930 diskriminierende und rassenhygienische Elemente. Lohalm, Uwe, Die Wohlfahrtskrise 1930–1933. Vom ökonomischen Notprogramm zur rassenhygienischen Neubestimmung, in: Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, hg. von Frank Bajohr, Werner Johe und Uwe Lohalm, Christians, Hamburg 1991, S. 216/217. 264 Harvey, Elizabeth, Die Jugendfürsorge in der Endphase der Weimarer Republik. Das Beispiel der Fürsorgeerziehung, in: Soziale Arbeit und Faschismus, hg. von Hans-Uwe Otto und Heinz Sünker, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, S. 219. In Preußen besaß die DDP ein verhältnismäßiges Übergewicht in der Verwaltung, bis mit dem „Preußenschlag“, der Absetzung der geschäftsführenden sozialdemokratischen Regierung, auch in der Verwaltung große Teile der liberalen Politiker kaltgestellt wurden. Stang, Joachim, Die Deutsche Demokratische

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weitgehende Freiheiten ließen, christliche Werte und Sitten in die Erziehung und die Wohltätigkeit einfließen zu lassen.265 Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung war diese Nische der Fürsorge kaum noch zu halten.266 Der totalitäre staatliche Anspruch drängte die letzten eigenständigen kirchlichen Fürsorgeeinrichtungen in die Illegalität oder fügte diese in NS-Organisationen ein.267 Daher waren kleinere private Zusammenkünfte die einzigen Möglichkeiten, durch Vorträge und Reden zu wirken,268 und selbst dies wurde immer schwieriger, da diese Zusammenkünfte dem nationalsozialistischen Staat ein Dorn im Auge waren und zunehmend unterbunden wurden. Es blieben fast nur Gottesdienstbesuche, in denen auch die Familie Heuss „Stärkung und

Partei in Preussen 1918–1933 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 101), Droste Verlag, Düsseldorf 1994, S. 340–352. 265 Dies entsprach wieder genau der Forderung Delekats, nur auf der Ebene der Gemeinde solle und könne der moderne Christ sittlich wirken. Delekat, Kirche Jesu Christi, S. 152. 266 Im März 1933 erwähnt Elly ihr letztes „Examen“ mit Schülerinnen im Burckhardt-Haus. 5.Tagebuch, Eintrag unter März 1933. Drei Monate später entbrannte der Kampf innerhalb der evangelischen Kirche. Wäre der Pfarrernotbund (Ein Zusammenschluss, entstanden aus der Jungreformatorischen Bewegung, der den nationalsozialistischen Deutschen Christen nicht das Feld überlassen wollte und vehement gegen den Arierparagraphen eintrat; bis Januar 1934 schlossen sich über 7000 Pfarrer an. Aus den daraus entstehenden Bekenntnisgemeinden entwickelte sich die Bekennende Kirche, die ein Gegengewicht zu den nationalsozialistischen Deutschen Christen wurde. Vgl. dazu die ausführliche Darstellung bei Scholder, Klaus, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, Propyläen Verlag, München 2000, S. 457–540, 629–699.) nicht gekommen, so hätte Elly Heuss-Knapp mit großer Wahrscheinlichkeit die evangelische Kirche verlassen. Dies war der einzige Moment in ihrem Leben, an dem sie vor dem Austritt aus ihrer Kirche stand. 5.Tagebuch, Einträge unter Juni 1933. Im Juli wurde sie dann von allen Tätigkeiten im BurckhardtHaus ausgeschlossen. 5.Tagebuch, Eintrag unter Juli 1933. 267 Baron, Rüdeger, Eine Profession wird gleichgeschaltet. Fürsorgeausbildung unter dem Nationalsozialismus, in: Soziale Arbeit und Faschismus, hg. von Hans-Uwe Otto und Heinz Sünker, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, S. 83–103; Frerich/Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 1, S. 313; Vorländer, NSV, S. 20–43. 268 Von einer „glänzenden Rede, handelte nur von Paulus, der gefangensaß und dabei schrieb, daß das Wort Gottes nicht gebunden werden kann. Wenn auch er, der es verkündigt“, schreibt Elly Heuss-Knapp über eine Dibelius-Ansprache, die dieser in privater Runde hielt, an Theodor Heuss aus Berlin-Lichterfelde vom 5. Juli 1937. Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 263.

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Orientierung für den täglichen Kampf gegen den Sog der Tyrannei“ finden konnte.269

b) Arbeiten für die Werbung als Lebensmittelpunkt Lange konnte Elly Heuss-Knapp dem Verlust ihrer sozialpolitischen Betätigungsfelder nicht nachtrauern, da sie bereits im Frühjahr 1933 die ersten Aufträge für Werbeentwürfe über die Firma ihres Cousins, Hermann Geiger, erhielt.270 Am Ende des Jahres wirkte sie überrascht. 1933 war für die Familie Heuss und insbesondere für sie ein „sonderbares Jahr“. Einerseits waren „viele Freunde nicht mehr da“271 und die Zukunft war sehr unsicher, andererseits ging die Zahl der Arbeitslosen rapide zurück und sie selbst hatte „unser Schifflein wieder flott bekommen“,272 indem sie genug Geld durch ihre Werbeaufträge verdiente, um den Ausfall der Einnahmen von Theodor Heuss einigermaßen kompensieren zu können. Die 30er Jahre waren geprägt von sehr viel Arbeit, jedoch hatte sie trotz Schwierigkeiten immer genug für den Lebensunterhalt verdient.273 Die Veröffentlichungen kreisten nun hauptsächlich um ihre Werbekonzeptionen274 und sie setzte ihre ganze Kraft und Zeit für den Erhalt 269 Gollwitzer, Helmut, Skizzen eines Lebens. Aus verstreuten Selbstzeugnissen gefunden und verbunden von Friedrich-Wilhelm Marquardt, Wolfgang Brinkel und Manfred Weber, Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1998, S. 250, Anm.2. 270 Maatje, Christian, Verkaufte Luft. Die Kommerzialisierung des Rundfunks. Hörfunkwerbung in Deutschland (1923–1936), Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 2000, S. 279/280. 271 Um nur zwei Beispiele anzuführen: Gertrud Stettiner wanderte nach Sao Paulo aus. 5. Tagebuch, Eintrag unter Dezember 1934. Die Familie Stolper, mit der Elly Heuss-Knapp und Theodor Heuss eine sehr intensive Freundschaft seit dem Ersten Weltkrieg verband (Heuss, Erinnerungen 1905–1933, S. 226/227), emigrierte nach dem notgedrungenen Verkauf des Hauses und der wirtschaftlich gesunden Zeitschrift Gustav Stolpers „Der Volkswirt“ nach Amerika. Stolper, Toni, Ein Leben in Brennpunkten unserer Zeit. Wien – Berlin – New York 1888–1947, Rainer Wunderlich Verlag/Hermann Leins, Tübingen 31967, S. 318–320, 326–334; Elly Heuss-Knapp 5. Tagebuch, Einträge unter Juli und August 1933. 272 5. Tagebuch, Eintrag unter Ende des Jahres 1933. 273 Immer öfter trug Elly Heuss-Knapp in ihr Tagebuch nur „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ ein. 5. Tagebuch, Einträge unter Juli 1935, Februar, März, Mai, September und Dezember 1936. 274 Maatje, Verkaufte Luft, S. 283–287.

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insbesondere der Rundfunkwerbung ein. Selbst nach deren Verbot gelang es ihr, weiter Aufträge für ausländische Sender zu bekommen.275 Ihre eigentliche Berufung, die Fürsorgetätigkeit, konnte sie nicht mehr ausüben. Es war ihr nicht einmal mehr möglich, publizistisch dazu Stellung zu nehmen. Elly Heuss-Knapp konnte sich weder auf politischem, noch auf sozialem Gebiet Veröffentlichungen leisten ohne in Gefahr zu geraten die wirtschaftliche Grundlage der Familie auch noch zu verlieren. Zudem war sie durch ihre Werbetätigkeit derart zeitlich eingespannt, dass dies wie vor 1933 überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Fast die einzigen Hinweise auf ihr weiterhin starkes Interesse sind in Rezensionen zu literarischen Werken zu finden. Einzelne Schicksale meist um den Sinn ihres Lebens ringender Frauen stehen im Mittelpunkt der Lektüre Elly Heuss-Knapps. Es verbindet die meisten Rezensionen das durchziehende Moment des Glaubens.276 Selbst in einer Schrift zur Charakterforschung entdeckt sie den „Charakter“ als einen religiösen Gegenstand, der „nur dem gläubigen Hineintauchen zugänglich“ werde.277 1940 erschien im „Pfarrerspiegel“, einer Veröffentlichung gegen den antiklerikalen Geist der Machthaber, ein Artikel von Theodor Heuss über Friedrich Naumanns christlichen Sozialismus278 und ein Beitrag Elly Heuss-Knapps zu Friedrich Bodelschwingh.279 Die Faszination für Bodelschwingh erwuchs aus der „Unmittelbarkeit“ seines Wirkens. Er stand für die reine Liebe, aus der heraus ein Mensch Hilfsbedürftige unterstützt. Die Gründung „Bethels“, einer Gartenstadt mit geistig Kranken, und die Entwicklung der Fürsorge für diese, machten ihn weltberühmt. Allein deshalb war die Beschäftigung mit Bodelschwingh eindeutig gegen die nationalsozialistischen Herrscher gerichtet, die ein ungeheures „Euthanasie“-Programm zu verwirklichen begannen.280 Doch 275 Ebd., S. 291–302. 276 Heuß-Knapp, Elly, Rezension zu: Solltmann, Idamarie, Heimkehr in die Wirklichkeit, in: Die Hilfe 41 (1935), S. 214/215; Heuß-Knapp, Elly, Rezension zu: Klipstein, Editha, Anna Linde, in: Die Hilfe 41 (1935), S. 550; Heuß-Knapp, Elly, Rezension zu: Waser, Maria, Sinnbild des Lebens, in: Die Hilfe 43 (1937), S. 72 u.v.m. 277 Heuß-Knapp, Elly, Rezension zu: Rohracher, Hubert, Kleine Einführung in die Charakterkunde, in: Die Hilfe 43 (1937), S. 120. 278 Heuß, Theodor, Friedrich Naumann und der christliche Sozialismus, in: Der Pfarrerspiegel, hg. von Siegbert Stehmann, Eckart-Verlag, Berlin-Steglitz 1940, S. 309–328. 279 Heuß-Knapp, Elly, Vater Bodelschwingh, in: Der Pfarrerspiegel, hg. von Siegbert Stehmann, Eckart-Verlag, Berlin-Steglitz 1940, S. 342–346. 280 Burleigh, Michael, Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900–1945, Pendo, Zürich/München 2002, S. 117–186; Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhygiene,

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Elly Heuss-Knapp ging noch weiter. Sie pries seine umfassenden praktischen Maßnahmen wie das Bauen von Häusern und Anstaltsräumen, das Vorbereiten von Gesetzesentwürfen, die Reform der militärischen Krankenpflege oder die Schulung von Hilfskräften aller Art. „Immer tat er es kraft des einen Amtes, das nicht ,in der Kirchen ehrwürdige Macht’ und nicht in das helle Amtszimmer eines Gemeindepfarrers verwiesen werden kann, sondern das in alles Lebendige hineinwirkt, weil es vom Zentrum allen Lebens ausgesandt ist als ein Licht, das scheint in der Finsternis.“281 Dieses sozialpolitische Engagement derart positiv zu würdigen war alles andere als selbstverständlich, wurde doch selbst das publizistische Eintreten für bürgerliche Sozialreformen im Kaiserreich von den nationalsozialistischen Machthabern als Gegnerschaft zu ihrer ganzheitlichen, zentral gesteuerten Sozialpolitik verstanden.282 Mehr konnte sie nicht tun, ohne ihre Familie zu gefährden, da diese ohnehin kritisch beäugt wurde. Das Thema „Bildung“ beschäftigte sie natürlich ebenfalls weiterhin, sowohl hinsichtlich der praktischen Lehrtätigkeit – wenn diese auch nicht mehr ausgeübt werden konnte – als auch der theoretisch pädagogischen Ansätze. Das größte Interesse rief bei ihr diesbezüglich ein katholischer Religionsphilosoph hervor, der zudem in der Jugendbewegung engagiert war: Romano Guardini.283 Ab März 1933 war sie bei Guardini im Kolleg beziehungsweise in seinen Vorlesungen.284 Das Auseinanderdriften von Glaube und Welt und der damit verbundene Versuch, „einen Beitrag zur Überwindung dieses für das Nationalsozialismus, Euthanasie (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 75), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987, S. 190–214. 281 Heuß-Knapp, Vater Bodelschwingh, S. 346. 282 Die soziale Selbstverwaltung auf kommunaler Ebene wurde im Dritten Reich nahezu vollständig aufgehoben und sozialpolitische Gruppierungen wurden entweder NS-Organisationen unterstellt oder in ihren Wirkungsmöglichkeiten derart eingeschränkt, dass von einer wirksamen Fürsorge nicht mehr gesprochen werden kann. Prinz, Michael, „Sozialpolitik im Wandel der Staatspolitik“? Das Dritte Reich und die Tradition bürgerlicher Sozialreform, in: Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, hg. von Rüdiger vom Bruch, C.H. Beck Verlag, München 1985, S. 224, 230. 283 Brüske, Gunda, Romano Guardini. „Wir aber haben das Denken Christi”, in: Theologen des 20.Jahrhunderts. Eine Einführung, hg. von Peter Neuner und Gunther Wenz, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, S. 91. 284 5. Tagebuch, Einträge unter März 1933 und Februar 1934. Sie konnte ihren „Frieden nur bei Guardini in der Thomaskapelle“ bei der Predigt zum Thema „Vergebung“ finden. 5.Tagebuch, Eintrag unter Juni 1934. Diese Aussage muss vor dem Hintergrund gesehen werden, dass Delekat seit 1929 in Dresden war

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Christentum als gesellschaftliche Größe tödlichen Bruchs zu liefern, indem er den Zusammenhang des christlichen Daseins als Welt und Gnade ins Zentrum seines Denkens stellt“,285 treffen den zentralen Kern seiner religionsphilosophischen Beschäftigung. Für Elly Heuss-Knapp war Guardinis Begriff der „Bildung“ von herausragendem Interesse. „Bildung ist eine Arbeit am lebendigen Sein; an den lebendigen Kräften und Strebungen des Menschen; an seiner inneren und äußeren Gestalt; an seiner Innenwelt und Umwelt.“286 Er gelangte ebenfalls zu sittlichen Fragen, indem er das Zerfallen wichtiger religiöser Fundamente diagnostizierte. Das wichtige sei jedoch „auszuharren, durchzutragen, und, was gefordert ist, in der scheinbaren Unmöglichkeit der uns aufgegebenen Welt festzuhalten“.287 Auch Guardini war Ende der 30er Jahre für die Machthaber nicht mehr tragbar und wurde „zwangspensioniert“.288 Selbst äußerte sich Elly Heuss-Knapp nur noch einmal zu einem sozialpolitischen Thema im Dritten Reich. In der Vorrede zu einer Sammlung von Frauenbildnissen streifte sie kurz die Rolle der Mutter, ohne jedoch die nationalsozialistische Vereinnahmung der Mütter289 einzubeziehen. In manchen Bildnissen erkennt sie bereits Sorgenfalten und eine Überarbeitung der Mütter mit ihren vielfachen Belastungen. Aber es fällt ihr auch ein Mangel an Bildnissen junger Mütter „in der großen Stunde der Erfüllung, den noch schicksallosen Säugling im Arm haltend“ auf.290 Mit der „Hausfrau“ beschäftigte sie sich bereits seit dem Deutschen Kaiserreich. Die „Mutter“ wurde erst mit ihrer eigenen Rolle als Mutter ein Thema und harrte noch ihrer Beschäftigung.

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und Dibelius nur sehr eingeschränkt predigte, da er sehr stark in die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Christen eingebunden war. Brüske, Guardini, S. 95. Guardini, Romano, Das Gute, das Gewissen und die Sammlung, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 21931, S. XII. Ebd., S. XV. Brüske, Guardini, S. 92. Vgl. zur Vereinnahmung der Mütter durch den Nationalsozialismus Weyrather, Irmgard, Muttertag und Mutterkreuz. Der Kult um die „deutsche Mutter“ im Nationalsozialismus, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1993. Heuss-Knapp, Elly, Die deutsche Frau in Meisterbildern aus vier Jahrhunderten, in: Deutsche Frauenbildnisse aus vier Jahrhunderten, hg. von Elly Heuss-Knapp, Günther, Berlin 1941.

III. Sozialpolitische Initiativen nach dem Zweiten Weltkrieg Das nationalsozialistische Regime verherrlichte in der Propaganda die Mütter.1 Ein sozialpolitisches Konzept, das den Betroffenen je nach individuellen Lebenssituationen geholfen hätte, gab es nicht.2 Allerdings entwickelte der Nationalsozialismus Zweckbestimmungen für die Rolle der Mütter im Staat. Bereits die Mädchenerziehung wurde zielgerichtet auf den vordringlichsten „Beruf“ der Frauen im Nationalsozialismus ausgerichtet: Hausfrau und Mutter. Eine grundsätzlich positive Einstellung, verbunden mit dem Lernziel einer guten hauswirtschaftlichen Unterweisung – einschließlich des sozialen Hilfsdienstes im Krieg –, prägte die Erziehung im Bund Deutscher Mädel (BDM).3 Die Anreize des Staates zu mehr Geburten bei der Verwirklichung der Expansionsbestrebungen des Nationalsozialistischen Deutschen Reiches4 waren für die erwachsene Mutter ebenso Realität wie die Integrationsbemühungen hinsichtlich der Mehrheit der in Deutschland lebenden Frauen unter rassenhygienischen, aristokratisch-elitären, ideologisch-staatspolitischen Gesichtspunkten in das NS-Regime; letztgenannter Gesichtspunkt traf auf den gesamten

1 Weyrather, Muttertag, S. 9. Für Hitler war die deutsche Mutter gar die wichtigste Staatsbürgerin. Frevert, Frauen-Geschichte, S. 200. Bereits in der Weimarer Zeit gab es die Mutter-Verehrung. Doch sie schien gerade dort zu blühen, „wo es unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen den Frauen immer weniger möglich ist, die von ihnen erwarteten Leistungen als Hausfrau und Mutter praktisch zu erfüllen. Leben als Selbstaufopferung ist Selbstzerstörung; von den Frauen erwartet man Selbstaufopferung als Tatkraft.“ Hausen, Karin, Mütter zwischen Geschäftsinteressen und kultischer Verehrung. Der „Deutsche Muttertag“ in der Weimarer Republik, in: Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland, hg. von Gerhard Huck, Peter Hammer Verlag, Wuppertal 21982, S. 280. 2 Frerich/Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 1, S. 249. 3 Reese, Dagmar, Bund Deutscher Mädel – Zur Geschichte der weiblichen deutschen Jugend im Dritten Reich, in: Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 163/164, 166, 170, 172, 178. Vgl. auch die Fülle an Dokumenten bei Miller-Kipp, „Auch Du gehörst dem Führer“. 4 Frevert, Frauen-Geschichte, S. 222–225. Ob der Geburtenanstieg nach 1933 tatsächlich auch auf den „Mutterkult“ zurückgeführt werden kann, bleibt unbeantwortet. Weyrather, Muttertag, S. 151.

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Bereich der öffentlichen Fürsorge zu.5 Natürlich entsprach dies nicht Elly Heuss-Knapps Vorstellungen von unterstützender Sozialpolitik. Sie wollte die Unterstützung der Hilfsbedürftigen aus christlicher Nächstenliebe, der Sache wegen. Daher musste sie eine Distanz zur nationalsozialistischen Sozialpolitik empfinden, ganz abgesehen von ihrer liberaldemokratisch exponierten Oppositionsstellung zu diesem Regime. Die Zerrissenheit jedoch, die viele Frauen in den frühen 30er Jahren erfasste, ging auch an Elly Heuss-Knapp nicht spurlos vorüber. Gewiss war sie in ihrem liberalen Umfeld in Opposition zum zunehmend alles vereinnahmenden staatlichen Fürsorgesystem. Zudem wollte sie nicht die vielfältigen Aktivitäten der Frauenvereine missen. Allerdings konnte sie sich auch nie vollständig mit den umfassenden „Gleichheitsforderungen“ der bürgerlichen Frauenbewegung anfreunden.6 Sie identifizierte die wichtigste Rolle von Frauen in der Familie, als Mutter und Hausfrau, die wirtschaftlich und sozial den Haushalt führen musste.7 Dementsprechend entfernte sie sich von der Arbeit der Frauenverbände als in diesen mit der organisatorischen Entwicklung der spezialisierten Berufsstände und der Gewerkschaften immer mehr berufsspezifische Themen in den Vordergrund rückten.8 Gegen Ende der Weimarer Republik entstand mit dem Freiwilligen Arbeitsdienst für Frauen (FAD) eine „soziale Hilfstätigkeit“, die durchaus nicht ihren Interessen widersprach. Neben einem idyllischen Familienleben wurde auf die Schulung der Haushaltsführung großen Wert gelegt. Der Verzicht auf Luxus, Schminke, Alkohol und Nikotin wurde ebenso Programm wie die Disziplinierung und 5 Frerich/Frey, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik, 1, S. 251, 310/311; Kleiber, Lore, „Wo ihr seid, da soll die Sonne scheinen!“ – Der Frauenarbeitsdienst am Ende der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, in: Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1981, S.  201; Vorländer, NSV, S. 117–127; Weyrather, Muttertag, S. 216. 6 Greven-Aschoff, Bürgerliche Frauenbewegung, S. 37–69. Letztlich strebte Elly Heuss-Knapp, und hier war sie im Umfeld der bürgerlichen Frauenbewegung nicht allein, keine Überwindung der Aufgaben- und Rollenverteilung zwischen Mann und Frau an. Knorr, Birgit/Wehling, Rosemarie, Frauen in Bildung und Wissenschaft, in: Frauen im deutschen Südwesten (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 20), hg. von Birgit Knorr und Rosemarie Wehling, Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 1993, S. 239. 7 Heuß-Knapp, Elly, Gedanken über Familie und Volk, in: Frauen-Zeitung des Schwäbischen Merkur, Stuttgart, 20. Mai 1933; Heuß-Knapp, Hausfrauensorgen, S. 869/870. 8 Greven-Aschoff, Bürgerliche Frauenbewegung, S. 124.

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die Förderung der Gruppenbindung in einer Gemeinschaft.9 Die indifferente Haltung zum FAD zeigte die Problematik der bürgerlichen Frauenbewegung: Güte, Dienen und Opferbereitschaft wurden als weibliche Tugenden stark betont und führten zu einem Abdrängen der Frauen in soziale Bereiche innerhalb des staatlich organisierten Systems.10 Die wichtige Rolle der Mutter wurde von konservativen Frauenvereinen überbetont und der Individualismus der liberaleren Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung verurteilt. Hinzu kam ein Bedürfnis nach Orientierung und Gewissheit, das den Frauen in der Familie gegeben zu sein schien. Der Zufluchtsort Familie wurde gleichzeitig das bevorzugte Betätigungsfeld der Mütter, ja eines Großteils der Frauen insgesamt.11 Wichtig ist ergänzend, dass mit der Regierungsübernahme der Nationalsozialisten keinerlei Untergangsstimmung vorherrschend war. Ideologische Elemente wie der Nationalismus, das Deutsche Christentum, der Antimarxismus oder der Antisemitismus stießen auch bei liberalen Frauenvereinen auf fruchtbaren Boden.12 Mit der Zeit würden sich, so der Eindruck, die Grobheiten abschleifen und der aktive bürgerliche Einfluss würde die plebejischen nationalsozialistischen Elemente zurückdrängen.13 Nicht einmal die weitgehende Zerstörung der Vereinsstruktur im Sommer 193314 oder die Tatsache, dass es allein der politischen Führung vorbehalten blieb, „die Zielsetzung der nationalsozialistischen Sozialpolitik zu bestimmen und deren konkrete Durchführung zu lenken und zu überwachen“15, konnten diese Ansicht erschüttern. Zu stark überwog die Kontinuität in der Sozialpolitik, die wegen der vermeintlich positiven wirtschaftlichen Entwicklung in den 9 Frevert, Frauen-Geschichte, S. 219; Kleiber, Frauenarbeitsdienst, S. 196, 202. 10 Dammer, Susanna, Kinder, Küche, Kriegsarbeit – Die Schulung der Frauen durch die NS-Frauenschaft, in: Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 245. 11 Frevert, Frauen-Geschichte, S. 202, 208/209. Die Aufwertung der Bedeutung der Hausfrauen und Mütter für das große Ganze wurde von vielen Frauen als positiv empfunden. Daniel, Ute, Vorwort, in: Margarete Dörr, „Wer die Zeit nicht miterlebt hat...“ Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach, Bd. 1: Lebensgeschichten, Campus, Frankfurt/New York 1998, S. 12. 12 Christine Wittrock belegt darüber hinausgehend viele Aspekte des faschistischen Frauenbildes bei bedeutenden Repräsentanten der bürgerlichen Frauenbewegung der zwanziger Jahre. Wittrock, Christine, Das Frauenbild in faschistischen Texten und seine Vorläufer in der bürgerlichen Frauenbewegung der zwanziger Jahre, Frankfurt am Main 1981, S. 14–54, 55–80. 13 Frevert, Frauen-Geschichte, S. 205. 14 Ebd., S. 206. 15 Recker, Sozialpolitik im Dritten Reich, S. 266.

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Jahren nach 1933 den Bestand der Weimarer Fürsorge größtenteils zu sichern erlaubte.16 Der Übergang zum Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum vollzog sich schleichend. Die Ausgrenzung „Minderwertiger“ ermöglichte es den Nationalsozialisten, die frei werdenden Mittel den „wertvollen“ Mitgliedern der „Volksgemeinschaft“ zur Verfügung zu stellen. Die gesellschaftliche Aufwertung der Fürsorge unter einer standardisierten, lediglich an der Praxis orientierten Ausbildung der Arbeitskräfte17 knüpfte dann ab Ende der 30er Jahre aus ideologischen Gesichtspunkten verstärkt an reproduktive Aufgaben von Frauen und Müttern an, nachdem die aggressiv „völkische“ Komponente der nationalsozialistischen Wohlfahrtspflege endgültig bestimmend war.18 Vor diesem Hintergrund und in der zunehmend bewussteren Erkenntnis der wahren Intention der nationalsozialistischen Machthaber ging Elly Heuss-Knapp in die „innere Emigration“ hinsichtlich ihres wohlfahrtsstaatlichen Engagements und modifizierte ihre sozialpolitischen Vorstellungen erst nach dem völligen Zusammenbruch. Rückblickend erläutert sie in einem Brief an Toni Stolper ihre sozialpolitische Abstinenz. „Für mich sind lauter Fäden wieder aufzunehmen, die vor vierzehn Jahren abgerissen sind. Vorher war ich vom Unterricht im Burckhardthaus immer auf dem laufenden, aber in der Hitlerzeit habe ich einfach nicht hingeschaut, hatte auch vor lauter Werbung keine Zeit und Lust.“19

16 Frevert, Frauen-Geschichte, S. 242/243; Prinz, Sozialpolitik im Wandel, S. 239/240; Ritter, Sozialstaat, S. 139. 17 Die Ausbildung der Fürsorgerinnen und Fürsorger richtete sich nach praktischen Erfordernissen des Berufes. Eine umfangreiche theoretische Schulung, die einer eigenständigen Persönlichkeitsbildung Vorschub hätte leisten können, war nicht erwünscht. André, SozialAmt, S. 103. 18 Hansen, Eckhard, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Motivationen, Konflikte und Machtstrukturen im „Sozialismus der Tat“ des Dritten Reiches, Maro Verlag, Augsburg 1991, S. 105–178; Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge, 3, S. 198–272, 274–277. Die inneren Abhängigkeiten zwischen propagierter autoritärer Familienerziehung mit dem Mittelpunkt der häuslichen Frau, dem „Heimchen am Herd“, der „Gebärerin“, und nationalsozialistischer Ideologie, in der die Blutsbande der reinrassigen Sippenfamilie als Grundlage des Staates angesehen wurde, bestimmten die von den Machthabern geschickt genutzten psychologischen Mechanismen. Weber-Kellermann, Die deutsche Familie, S. 184–191. 19 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 319.

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1. Vielfältige Betätigungen nach Jahren der Zurückgezogenheit So niederschmetternd der Ausgang des Krieges und die desolate Lage der Bevölkerung im völlig zerstörten Deutschland auch war,20 im persönlichen Umfeld der Familie entwickelten sich nach Jahren der Angst und der Zensur schnell wieder rege Kontakte zu Freunden.21 Die aktive Mitwirkung am politischen und kulturellen Leben stellte sich sehr rasch ein. Theodor Heuss befand sich sofort in exponierter Stellung, nachdem er im September 1945 „MitLizenzträger“ der Heidelberger „Rhein-Neckar-Zeitung“ und kurz darauf in der provisorischen „Allparteienregierung“ Württemberg-Badens Kultusminister wurde.22 Zuvor versuchte er bereits zusammen mit anderen führenden Poli20 Das Kriegsende darf nicht an einem Datum festgezurrt werden. Vielmehr umfasste es einen Prozess über mehrere Monate vor und nach der militärischen Kapitulation. Klessmann, Christoph, Kriegsende – Dimensionen, Erinnerungen, Verdrängungen, in: Kriegsende 1945. Verbrechen, Katastrophen, Befreiungen in nationaler und internationaler Perspektive (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 4), hg. von Bernd-A. Rusinek, Wallstein Verlag, Göttingen 2004, S. 212. 21 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 295. Der Rückzug in das familiäre Umfeld und die Sicherung der beruflichen Existenz durch individuelles strategisches Geschick und durch Beziehungen zu Behörden und Unternehmen ermöglichte Elly Heuss-Knapp und Theodor Heuss eine gewisse Kontinuität über den Zusammenbruch hinaus. Insofern repräsentierte ihre Lebenserfahrung einen nicht untypischen Lebensweg einer nicht geringen Zahl deutscher Frauen zwischen der Endphase des Weltkrieges und den ersten Ansätzen eines Neuanfangs: die Restabilisierung der Familie. Kleßmann, Christoph, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 51991, S. 58. Vgl. auch die Fallstudie dreier Frauenbiographien von Kenkmann, Alfons, Kontakthalten in der Katastrophe. Familiale Bindungen und geschlechterspezifische Wahrnehmungen, in: Kriegsende 1945. Verbrechen, Katastrophen, Befreiungen in nationaler und internationaler Perspektive (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 4), hg. von Bernd-A. Rusinek, Wallstein Verlag, Göttingen 2004, S. 79. 22 Heuss-Knapp, Elly, 5.Tagebuch, Einträge unter 1945; Eschenburg, Theodor, Die Entstehung des Landes Baden-Württemberg, in: Baden-Württemberg. Eine politische Landeskunde (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 1), Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 41996, S. 47; Theodor Heuss. Mann, Werk, Zeit, S. 239. Seine Bestrebungen, einer bürgerlichen Einheitspartei zum Durchbruch zu verhelfen, scheiterten zwar, doch zeigte sich hier sein Wille, nach dem katastrophalen Weltkrieg den Neuaufbau in großer Gemeinsamkeit voranzutreiben. Hein, Dieter, Zwischen liberaler Milieupartei und nationaler Sammlungsbewegung. Gründung, Entwicklung und Struktur der Freien Demokratischen Partei 1945–1949 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen

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tikern durch Rundfunkansprachen, Vorträge und Presseveröffentlichungen der Bevölkerung eine neue politische Orientierung zu geben und sie für die aktive Mitarbeit beim Aufbau demokratischer Strukturen zu gewinnen.23 Mit dem Umzug nach Stuttgart fand Elly Heuss-Knapp eine Vielzahl an Betätigungsfeldern, die größtenteils an ihr soziales Engagement in den 20er Jahren anknüpften. „Man überhüpft die letzten 12 Jahre und beginnt, wo man damals aufhörte“ merkt sie lapidar zu ihren vielfältigen Aktivitäten an. 24 In einer Kommission zur Neugestaltung von Schullesebüchern25 und im Rundfunk war es ihr möglich, politische, soziale und ethische Probleme zu thematisieren und Jugendliche dafür – nach den Jahren des Terrors und der Meinungsdiktatur – zu sensibilisieren.26 Ihre literarische Arbeit erlebte eine kurze intensive Blütezeit, in der sie zunächst eine kleine Auswahl der Vielzahl an einzelnen Frauenschicksalen, mit denen sie sich im Nationalsozialismus beschäftigt hatte, veröffentlichte.27 „Die novellistische Gestaltung der Geschichten“ als Kurzgeschichten28 schien die Menschen zu bewegen, erlebte das Büchlein doch bereits zwei Auflagen bis 1949. Die kurzen Erzählungen zeigen die Hilfe von Mensch zu Mensch unter einer erdrückenden Diktatur. Die vielfältigen Einzelschicksale verbindet die familiäre bzw. in Familienstrukturen eingebundene Verbundenheit der Menschen. Das soziale, aus reiner inneren Liebe zu den nahe stehenden Menschen entstehende Zusammengehörigkeitsgefühl beschäftigte und erfreute Parteien 76), Droste Verlag, Düsseldorf 1985, S. 47–54; Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928–1945/46 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 13), Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 1986, S. 621–623. 23 Sauer, Paul, Demokratischer Neubeginn in Not und Elend. Das Land Württemberg-Baden von 1945 bis 1952, Vaas Verlag, Ulm 1979, S. 131. 24 Rundbrief vom 7. Januar 1946 aus Stuttgart-Degerloch. Seit 1945 verschickte Elly Heuss-Knapp „Rundbriefe“ an Freunde und Bekannte, da es ihre Zeit und ihr Gesundheitszustand nicht mehr zuließen, den regen Briefkontakt aufrechtzuerhalten und jeden einzeln anzuschreiben. In den Rundbriefen erwähnt sie dies mehrfach und entschuldigt sich für diese unpersönliche Briefform. 25 Vgl. Rundbriefe vom 21. November 1945 und 7. Januar 1946 aus Stuttgart-Degerloch. 26 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 296. Sie beschäftigte sich 1945 zusätzlich sehr intensiv mit der englischen Sprache, um sich mit der Besatzungsmacht verständigen zu können und Gehör zu finden. 5.Tagebuch, Eintrag unter 1945. 27 Heuss-Knapp, Elly, Schmale Wege, Rainer Wunderlich Verlag/Hermann Leins, Tübingen 91964 (Erstausgabe: 1946). 28 Vgl. das Vorwort zur 3.Auflage in: Heuss-Knapp, Schmale Wege, S. 10; HeussKnapp, Bürgerin zweier Welten, S. 307.

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dabei Elly Heuss-Knapp am meisten.29 Ebenso enthusiastisch hatte sie die Herausgabe einer Gedichtauswahl aus Friedrich Rückerts „Weisheit des Brahmanen“ in Angriff genommen. Sie wollte die Rückert-Ausgabe nicht nur als Vermächtnis ihres Vaters und von dessen Generation verstanden wissen.30 In ihrer Auswahl spiegelt sich die religiöse Dimension Rückerts deutlich wieder. „Ein frommer Dichter, ein weltaufgeschlossener Christ ist er“, schreibt sie in ihrer Einleitung. „Der Wille zur Harmonie, das Lob Gottes ist das Leitmotiv seines Lebens und seines Werkes.“31 Entsprechend erfreut sprach sie in ihren Briefen über dieses Buch und ihr Glück, falls es jemandem Trost und Zuversicht in schweren Stunden gebracht hatte.32 So verwundert es nicht, dass sie auch zu religiösen Themen gelangte, die sie während der 40er Jahre nie völlig vernachlässigt hatte – im Gegensatz zum Ersten Weltkrieg.33 In ihren Rundfunkvorträgen beschäftigte sie sich wieder mit Pfarrer Bodelschwingh und auch mit Pädagogen wie Pestalozzi.34 Dennoch war es für sie nicht mehr möglich, sich intensiv mit theologischen The29 Ihre Freude am Verfassen der „Schmalen Wege“, die sie in drei Wochen niedergeschrieben hatte, drückt Elly Heuss-Knapp in einem Rundbrief aus, in dem sie die Schreiblust erwähnt, die sie seit dem Verfassen des „Ausblicks vom Münsterturm“ nicht mehr hatte. Rundbrief vom 2. März 1946 aus Stuttgart-Degerloch. 30 Bei der Gedichtauswahl orientierte sie sich auch an den Lieblingsgedichten ihres Vaters. Rundbrief vom 15. Juni 1946 aus Stuttgart-Degerloch; Brief von Elly Heuss-Knapp an Toni Stolper vom 6. Mai 1946 aus Stuttgart-Degerloch, in: Heuss-Knapp, Ausblick vom Münsterturm, S. 307. 31 Aus der nicht überschriebenen Einführung von Elly Heuss-Knapp, in: Friedrich Rückert, Gedichte. Eine Auswahl, hg. von Elly Heuß-Knapp, Hans E. Günther Verlag, Stuttgart 1948, S. 12. Die tiefe Religiosität Rückerts, verbunden mit dem Bekenntnis zum Christentum, wird von der neueren Forschung nicht in Zweifel gestellt. Mehlig, Johannes, Friedrich Rückerts „Weisheit des Brahmanen“, in: Rückert-Studien. Jahrbuch der Rückert-Gesellschaft e.V. Schweinfurt 5 (1990), S. 65. 32 Rundbrief vom 24.Oktober 1947 aus Stuttgart-Degerloch; Briefe an Margarethe Vater und Toni Stolper vom 16. Januar 1948 und 14. Februar 1949 aus StuttgartDegerloch, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 323, 329. 33 Insbesondere im Briefwechsel mit ihrem Sohn Ernst Ludwig Heuss kommt sie immer wieder auf religiöse Themen und auf das Leben Christi zu sprechen. So etwa im Brief vom 2. August 1944 aus Heidelberg. 34 Pestalozzi weckte ihr Interesse bereits in den 30er Jahren durch die intensive Lektüre von Friedrich Delekats Biographie. Delekat, Friedrich, Johann Heinrich Pestalozzi. Der Mensch, der Philosoph und der Erzieher, Verlag Quelle & Meyer, Leipzig 21928. Heuss-Knapp, Elly, Heinrich Pestalozzi. Zu seinem 200. Geburtstag am 12. Januar 1946, in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 12. Januar 1946. Rundbrief. Bericht vom 7. Januar 1946.

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men auseinanderzusetzen. Zu sehr wurde sie durch die Tätigkeit von Theodor Heuss in Beschlag genommen. Die tägliche Korrespondenz des Kultusministers und die unendliche Flut von Hilfsgesuchen mussten erledigt werden, was kaum zu bewältigen war.35 Im öffentlichen Leben des Kultusministers mussten vielfältige Aktivitäten geplant und übernommen werden. Elly Heuss-Knapp konnte ihren Ehemann nur entlasten, indem sie auch zeitraubende Aufgaben übernahm. Immerhin gelang es ihr, ihrer sozialpolitischen Neigung treu zu bleiben und sich ausschließlich bei Projekten sozialer, evangelischer Träger zu engagieren, die ihr am Herzen lagen.36 Damit befand sie sich wieder einmal – fast ohne eigenes Zutun – im exponierten politischen Bereich. Hinzu kam auch bei ihr das Bewusstsein, wie bei vielen Demokraten aus der Weimarer Zeit, sich aktiv dafür einsetzen zu müssen, dass eine derartige Katastrophe, wie sie der Nationalsozialismus über Europa gebracht hatte, nie mehr möglich werden würde.37 Für Elly Heuss-Knapp war es nur folgerichtig, dass sie sich nun auch selbst wieder um ein politisches Mandat bewarb.38

2. Wieder in der aktiven Politik Im Laufe des Jahres 1946 sollten in dem von den Amerikanern besetzten Gebiet – das Office of Military Government for Germany, United States (OMGUS) war nicht nur eine Besatzungsinstitution sondern zugleich 35 Rundbriefe vom 7. Januar und 2. März 1946 aus Stuttgart-Degerloch. 36 So wurde sie etwa im Januar 1946 an Stelle von Theodor Heuss in das Kuratorium der „Gustav-Werner-Stiftung“ (BruderhausDiakonie. Stiftung Gustav Werner und Haus am Berg) berufen. Die Stiftung geht zurück auf den schwäbischen Pfarrer Gustav Albert Werner, der die Idee einer „christlichen Industrie“ verwirklichen wollte. Seine Fabriken führte er auf genossenschaftlicher Grundlage im Geist des Evangeliums in einer Art Familienverbund. Mit den Gewinnen finanzierte er die Unterbringung verwahrloster Kinder und die Unterstützung von Kranken. Beyreuther, Erich, Geschichte der Diakonie und Inneren Mission in der Neuzeit, Christlicher Zeitschriftenverlag, Berlin 1983, S. 52/53. Aber auch einmalige Veranstaltungen wie ein Kurs für Lehrerinnen in der Evangelischen Akademie in Bad Boll müssen in Verbindung mit dem Kultusministerium gesehen werden. Rundbrief vom 7. Januar 1946. 37 Lediglich eine derartig lautende Stimme unter vielen war der spätere Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, der persönlich im Widerstand gegen den Nationalsozialismus aktiv war. Gerstenmaier, Eugen, Streit und Friede hat seine Zeit. Ein Lebensbericht, Propyläen Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 295. 38 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 297.

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oberste politische Instanz39 – demokratische Wahlen durchgeführt werden.40 Die Entscheidung, für die liberale Demokratische Volkspartei (DVP) zu kandidieren, war nicht so eindeutig wie ihr Engagement für die DDP zu Beginn der Weimarer Republik. Nachdem die Gründung einer christlichen, liberalen und sozialen, also „bürgerlichen“ Gesamtpartei in Württemberg-Baden scheiterte,41 schloss sich Elly Heuss-Knapp den Liberalen an, obwohl die Christlich Demokratische Union (CDU) nicht mehr eine primär katholische Partei wie das Zentrum in der Weimarer Republik darstellte und zudem christlichen Werten einen höheren Stellenwert beimaß als die Liberalen dies taten.42 Dennoch folgte sie Theodor Heuss wieder ins liberale Spektrum der Parteienlandschaft, nachdem sich dieser Ende des Jahres 1945 von der Idee einer Sammlungsbewegung verabschiedet hatte.43 Bereits im Juni 1946 erwähnt sie die ersten Wahlreden, die sie zusammen mit liberalen Parlamentariern hielt.44 Ermutigend war das gute Abschneiden 39 Schröder, Hans-Jürgen, USA und westdeutscher Wiederaufstieg (1945–1952), in: Deutschland und die USA im 20. Jahrhundert. Geschichte der politischen Beziehungen, hg. von Klaus Larres und Torsten Oppelland, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997, S. 96. 40 Fait, Barbara, Kontrollierte Demokratisierung: Amerikanische Besatzung und die deutsche Politik, in: Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges. Ein Handbuch, Bd.1: 1945–1968, hg. von Detlef Junker, DVA, Stuttgart/München 2001, S. 100–111. 41 Die Umstände der einzelnen Parteigründungen müssen hier nicht näher verfolgt werden. Vgl. dazu Hein, Zwischen liberaler Milieupartei und nationaler Sammlungsbewegung, S. 43–55 und Schnabel, Zwischen Württemberg und Bonn, S. 621–623. 42 Die Literatur, die (religiöse) sozialpolitische Wertvorstellungen in der FDP/DVP und der CDU behandelt, ist nahezu uferlos; daher sollen nur zwei Studien repräsentativ Erwähnung finden, die allgemein die Entstehung und die Grundsätze der Parteien mitbehandeln. Bösch, Frank, Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945–1969, DVA, Stuttgart/München 2001, S.  21–72; Rütten, Theo, Der deutsche Liberalismus 1945 bis 1955. Deutschland- und Gesellschaftspolitik der ost- und westdeutschen Liberalen in der Entstehungsphase der beiden deutschen Staaten, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden Baden 1984, S. 35–90. 43 Adam, Uwe Dietrich, Politischer Liberalismus im deutschen Südwesten von 1945–1978, in: Die F.D.P. in Baden-Württemberg und ihre Geschichte (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 4), hg. von Paul Rothmund und Erhard R. Wiehn, Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 1979, S. 224. Die aktive Rolle von Theodor Heuss bei der Verwirklichung einer bürgerlichen Sammlungsbewegung ist – wie auch die Realisierbarkeit und der Grad der Umsetzung derselben – noch nicht erforscht. 44 Rundbrief vom 15. Juni 1946 aus Stuttgart-Degerloch.

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der DVP in den Kommunalwahlen vom 28. April und 26. Mai 1946. Dabei erreichte die Partei mit 19,5% das drittstärkste Ergebnis hinter der SPD und der CDU. Zudem wurde Theodor Heuss am 28./29. September 1946 zum Vorsitzenden der liberalen Parteien der US-Zone gewählt.45 Daraufhin beteiligte sich Elly Heuss-Knapp aktiv an den Wahlkampfveranstaltungen, allerdings zunächst nur für die Partei und für ihren Mann. Ihre Themen bezogen sich sehr stark auf die sozialen Fragen innerhalb der Familie, insbesondere auf die Frauen.46 Erst im Oktober 1946 kristallisierte sich die eigene Kandidatur von Elly Heuss-Knapp heraus, die bis dahin noch einige Vorbehalte wegen ihres labilen Gesundheitszustandes und ihres fortgeschrittenen Alters hatte. Die Chancen, diesmal gewählt zu werden, standen sehr gut, was ihr selbst auch kurz vor der Wahl deutlich wurde.47 In ihren Reden und Vorträgen als Kandidatin für den ersten Württembergisch-Badischen Nachkriegs-Landtag wird deutlich, weshalb sie den Schritt in die erste Reihe der Politik erneut wagte. „Der demokratische Gedanke ist aufs engste verknüpft mit dem der Gewissensfreiheit und der christlichen Idee vom ,unendlichen Wert jeder Menschenseele‘.“ Der Mensch müsse frei sein – dies wäre die eigentlich grundlegende demokratische Forderung –, um seinem Gewissen zu folgen. „Ein Volk hat kein Gewissen, ein Staat kann nicht Buße tun. Volk und Staat aber bestehen aus Einzelnen. Nachdem wir lange die furchtbare Überbetonung des Gemeinschaftslebens mit allen Propagandamaßnahmen vorgeführt bekamen, sollten wir uns jetzt darauf besinnen, daß die Einzelpersönlichkeit freie Entfaltungsmöglichkeit haben muß, nur gebunden an die Einsicht, daß die Mitmenschen die gleichen Rechte beanspruchen.“48 Dem Individuum wieder zu seinem Recht zu verhelfen in einer christlichen Gemeinschaft der Nächstenliebe, das war eine wichtige Intention in ihrem politischen Handeln. Die Anteilnahme an den vielen Einzelschicksalen, mit denen sie bereits durch ihre Tätigkeit für Theodor Heuss, während dieser Kultusminister war, konfrontiert wurde, erklärt sich daher von selbst. Elly Heuss-Knapp wollte möglichst vielen Menschen helfen. Und das schien ihr in einer Zeit, in der es an demokratischen Parlamentariern mangelte und am Notwendigsten fehlte am besten in der Vertretung des Volkes und hier natürlich vorrangig in den sozialpolitischen Ausschüssen möglich. 45 Adam, Politischer Liberalismus, S. 225/226. 46 Rundbrief vom 16.September 1946 aus Stuttgart-Degerloch. 47 Dies erwähnt sie in Briefen an ihre Freundin Toni Stolper vom 11.Oktober und 20. November 1946. Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 313/314. 48 Heuss-Knapp, Elly, Erziehung zur Demokratie. Ein Entwurf, in: Elly HeussKnapp, Rat und Tat. Nachklang eines Lebens, hg. von Friedrich Kaufmann, Rainer Wunderlich Verlag/Hermann Leins, Tübingen 1964, S. 223, 225.

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a) Landtagsabgeordnete in Württemberg-Baden Die Wahl vom 24.November 1946 brachte der DVP 19 Sitze; Elly HeussKnapp und Theodor Heuss wurden gewählt. In der „Allparteienregierung“ verlor Theodor Heuss seine Stellung als Kultusminister, damit Reinhold Maier (DVP) das Amt des Ministerpräsidenten behalten konnte.49 Die Probleme des neu geschaffenen Landes waren nahezu unüberschaubar. Eine fast zum Stillstand gekommene Industrie und die bereits im Weltkrieg ins Unermessliche gesteigerte Not der Menschen, die sich angesichts der katastrophalen Ernährungslage täglich um das eigene Überleben sorgen mussten, bestimmten die politischen Themen. Die ersten Jahre bis zur Währungsreform und der Einbeziehung der drei Westzonen in das Wiederaufbauprogramm des Marshallplans50 waren geprägt von niedergedrückter Stimmung und Notmaßnahmen, um das allernotwendigste bereitzustellen.51 Nur aufgrund amerikanischer Hilfsprogramme war es möglich, die prekäre Ernährungslage der deutschen Bevölkerung zu bewältigen.52 Dies waren die Rahmenbedingungen 49 5.  Tagebuch, Einträge unter Dezember 1946 und Januar 1947; Rundbrief vom 18.  Dezember 1946 aus Stuttgart-Degerloch; Sauer, Paul, Das Land Württemberg-Baden 1945–1952, in: Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte, Bd.  4: Die Länder seit 1918, hg. von Hansmartin Schwarzmaier und Meinrad Schaab, Klett-Cotta, Stuttgart 2003, S. 385/386; Matz, Klaus-Jürgen, Reinhold Maier (1889–1971). Eine politische Biographie (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 89), Droste Verlag, Düsseldorf 1989, S. 241. 50 Der Marshall-Plan des amerikanischen Außenministers George C. Marshall war als Wiederaufbauprogramm für ganz Europa gedacht. In Westdeutschland wurden damit die Voraussetzungen für den Wiederaufbau und das wirtschaftliche Wachstum im Rahmen einer expandierenden Weltwirtschaft geschaffen. Vgl. dazu Hardach, Gerd, Der Marshall-Plan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948–1952, dtv, München 1994. 51 Sauer, Württemberg-Baden, S. 389. Wenn überhaupt Reste einer administrativen Daseinssicherung gegeben waren, dann auf kommunaler Ebene in den Gemeinden. Heisig, Michael, Armenpolitik in Deutschland (1945–1964). Die Entwicklung der Fürsorgeunterstützungssätze im Kontext allgemeiner Sozial- und Fürsorgereform, Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Frankfurt am Main 1995, S. 24. 52 Benz, Wolfgang, Die Gründung der Bundesrepublik. Von der Bizone zum souveränen Staat, dtv, München 41994, S. 82. Die angespannte Ernährungslage begann auch für den deutschen Südwesten bereits im Zweiten Weltkrieg und hielt bis zum Frühjahr 1949 an. Moeller, Robert G., Geschützte Mütter. Frauen und Familien in der westdeutschen Nachkriegspolitik, dtv, München 1997, S. 43. Anders bei Boelcke, Sozialgeschichte Baden-Württembergs, S. 327, der den Zeitrahmen von

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für die Parlamentarier in der ersten Legislaturperiode des WürttembergischBadischen Landtages. Im Sozialpolitischen Ausschuss, in den Elly Heuss-Knapp auf ihren eigenen Wunsch und hinsichtlich ihrer langjährigen Betätigung in der Wohlfahrtsfürsorge gelangte,53 standen daher sofort existenzielle Probleme der Bevölkerung im Mittelpunkt.54 Trotz ihrer krankheitsbedingten unregelmäßigen Teilnahme an den Ausschuss- und Landtagssitzungen55 lagen ihr einige sozialpolitische Themen besonders am Herzen, für die sie sich auch mit ihrer ganzen Kraft einbrachte.56 An fünf allgemeinen Leitlinien müsste sich nach

Kriegsende bis Juni 1948 sieht. In einem Brief an Toni Stolper vom 14.Februar 1949 aus Stuttgart-Degerloch erwähnt Elly Heuss-Knapp noch, dass die Amerikaner jetzt „die Lebensmittel ganz umsonst geben“, aber die Bedingung stellen, „daß die Kinder auch nichts mehr zu bezahlen haben“. In ihrer Wahrnehmung setzte eine Verbesserung erst nach dem Winter 1949 ein, was auch daran lag, dass Lebensmittel bezahlbar wurden. Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 327– 329. Eine angespannte Ernährungslage für Jugendliche gar bis in die 50er Jahre sieht Speitkamp, Jugend, S. 254. 53 „Jetzt muß ich mich in die Sozialpolitik wieder einarbeiten, denn da liegen große Aufgaben.“ Rundbrief vom 18. Dezember 1946 aus Stuttgart-Degerloch. Aus einem Bericht vom März 1947 geht deutlich hervor, dass die wichtigste Arbeit in den Ausschüssen erledigt wurde und sich die Frauen im Landtag nahezu vollständig im sozialpolitischen Ausschuss engagierten. Heuss-Knapp, Elly, Bericht über den Landtag vom 4. März 1947, in: div. Korresp. 54 Elly Heuss-Knapp drängte in der 5.Sitzung des Landtages, dass sich möglichst schnell der Sozialpolitische Ausschuss konstituiere, um die ersten Gesetzentwürfe beraten zu können. Als vorläufige Vorsitzende lag die Zusammenkunft und die Leitung bis zur Wahl des Ausschussvorsitzenden in ihren Händen. 5.Sitzung des Württ.-Bad. Landtags, Stuttgart, Mittwoch, den 29. Januar 1947, in: Verhandlungen des 1. und 2.Württembergisch-Badischen Landtags 1946–1952. Protokollund Beilagenbände, Stuttgart 1948–1952, S. 84. 55 5. Tagebuch, Einträge unter 1947; Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 375/376. 56 Die Schwerpunkte ihrer Landtagstätigkeit umfassten nach ihren eigenen Angaben: Wohnungsbaupolitik, allgemeine Fürsorge, Jugendliche, Sozialversicherung, Wehrmachts-Pensionen und Betriebsräte/Arbeitnehmerbeteiligung. Vgl. Aufzeichnungen, in: Landtag I/Landtag II. Allerdings waren die Bereiche „Wohnungsbaupolitik“ und „Betriebsräte/Arbeitnehmerbeteiligung“ nicht im Fokus ihres Interesses, da sie zum ersten Bereich keinen eigenen fundierten Standpunkt konkretisierte und sich im Rahmen von Betriebsvereinbarungen sehr allgemein für einheitliche Regelungen unter Wahrung „der Arbeitnehmerinteressen und der Entscheidungsfreiheit der Unternehmer in einem gewissen Spielraum“ einsetzte, also auch keine konkreten ausgearbeiteten Konzepte entwickelte. Manuskript „Betriebsräte“, in: Landtag I/Landtag II; zum Wohnungsbau gibt es kein Manuskript.

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ihrer Ansicht grundsätzlich jegliches sozialpolitisches Engagement des Staates messen: 1. Der Grundsatz wäre immer: Helfen! 2. Die Hilfsversprechen muss man halten können. 3. Hilfe muss aus einem genügendem Ertrag der Gesamtwirtschaft stammen. 4. Die Belastung des Ertrages darf nur in sicher tragbarem Maß sein, da eine spätere Absenkung von Hilfsleistungen fast nie möglich sein wird. 5. Die beste soziale Politik ist alles, was mehr Arbeit schafft.57 Diese Leitsätze zeigen ganz deutlich, dass Elly Heuss-Knapp weiterhin liberalen Grundsätzen verpflichtet blieb. Zunächst war natürlich die Hilfe bei der Versorgung das wichtigste Thema. Die humanitären „Care“-Pakete aus dem Ausland weckten Hoffnung und linderten in den ersten beiden Jahren die größte Not für viele.58 „Es hat jetzt manchmal etwas Groteskes, daß jedes Gespräch nach wenigen Minuten auf die große Frage ausläuft, ob und woher man Pakete bekäme.“59 Eine nicht zu unterschätzende Hilfe war die sehr populäre „Hoover-Speisung“, eine tägliche Zusatzmahlzeit für Kinder und Jugendliche, benannt nach dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover. Dieser bereiste im Frühjahr 1946 Deutschland und erstellte einen Bericht für Präsident Truman, der wiederum die größten Teile als offizielle Richtlinie für seine Deutschlandpo-

57 Die Entstehung der Aufzeichnungen und Manuskripte zur Landtagstätigkeit von Elly Heuss-Knapp sind nicht genau datierbar. Es spricht vieles dafür, dass diese erst 1949, am Ende oder nach der Arbeit im Landtag als zusammenfassende Rückschau und Positionsbestimmung entstanden, da Gesetzesentwürfe mit Nummerierung und Datierung genannt werden. Die „allgemeinen Leitlinien“ enthalten jedoch keinerlei Datumsangabe und sind überschrieben mit „Notizen für den kulturpolitischen Ausschuss. Württ. Landtag. Das Flüchtlingsproblem in der amerik. Besatzungszone“. Ein Bericht des Länderrates, den sich Elly HeussKnapp hinsichtlich der Grundsätze zu eigen machte. Der Bezug zum kulturpolitischen Ausschuss kann auch auf eine frühe Niederschrift, als Theodor Heuss noch Kultusminister und Elly Heuss-Knapp noch nicht im Landtag war, hindeuten. In: Landtag I/Landtag II. 58 Boelcke, Sozialgeschichte Baden-Württembergs, S. 327; Weyerer, Godehard, Liebesgaben aus Übersee: Die CARE-Pakete, in: Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges. Ein Handbuch, Bd.1: 1945–1968, hg. von Detlef Junker, DVA, Stuttgart/München 2001, S. 795–802. 59 Brief von Elly Heuss-Knapp an Toni Stolper vom 21. März 1947 aus StuttgartDegerloch, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 319.

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litik übernahm.60 Einer der wichtigsten Berater Hoovers, mit großem Einfluss auf die amerikanische Öffentlichkeit,61 war Gustav Stolper, ein sehr guter Freund der Familie Heuss, der mit seiner Frau 1933 aus Deutschland emigrieren musste. Dessen Einschätzung der Ernährungslage Deutschlands ging auch auf ein Gespräch zwischen den Freunden Elly Heuss-Knapp, Theodor Heuss und Gustav Stolper in Stuttgart zurück.62 Die aktive Hilfe, die Elly HeussKnapp leisten konnte, bestand vor allem in der Tuchfühlung mit der amerikanischen Besatzungsmacht. Damit möglichst viele Menschen mit dem Notwendigsten versorgt werden konnten – was die Amerikaner erst zur Verfügung stellen mussten –, war es nötig auf der Ebene privater Kontakte bei den amerikanischen Militärs die dramatische Lage zu verdeutlichen und Hilfeleistungen zu erbeten.63 Jede erreichte Hilfszusage war für Elly Heuss-Knapp ein kleiner Erfolg, doch die mangelhafte Ernährung großer Teile der Bevölkerung blieb ein vorrangiges Thema während ihrer ganzen Landtagstätigkeit.64 Zu Beginn des Jahres 1949 übernahm sie das Präsidium der „Hoover-Speisung“. Ihre Freude über diese neue Aufgabe verband sie mit ihrem sozialen Gerechtigkeitsempfinden, indem sie von zahlungsfähigen Eltern Geld für die Speisung der Kinder einforderte, um möglichst vielen, die es sich nicht leisten konnten, ebenfalls eine Mahlzeit zukommen lassen zu können.65 Bis 1949 war die „Hoover-Speisung“ sehr erfolgreich, erreichte sie doch allein in WürttembergBaden mehr als 350 000 Kinder und Jugendliche jährlich.66 60 Die Bedeutung des „Hoover-Berichtes“ wird etwa deutlich bei Heideking, Jürgen/ Mauch, Christof, Geschichte der USA, A. Francke Verlag/UTB, Tübingen/Basel 42006, S. 291/292 und Loth, Wilfried, Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941–1955, dtv, München 2000, S. 168/169. 61 Gimbel, John, Amerikanische Besatzungspolitik in Deutschland 1945–1949, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1971, S. 223. 62 Brief von Elly Heuss-Knapp an Toni Stolper vom 16.Februar 1947 aus StuttgartDegerloch, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 318/319; Stolper, Leben in Brennpunkten, S. 453/454. 63 Hierfür waren insbesondere die Frauen der amerikanischen Militärs Ansprechpartner und eine große Unterstützung, die sich neben Lebensmittellieferungen auch persönlich bei der Betreuung junger deutscher Mädchen engagierten. Brief von Elly Heuss-Knapp an Toni Stolper vom 21. März 1947 aus Stuttgart-Degerloch, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 320. 64 Die Ernährungslage besserte sich bis 1948 nur geringfügig und führte zusätzlich zu einem Anstieg der Krankheitsraten. Ruhl, Klaus-Jörg (Hrsg.), Frauen in der Nachkriegszeit 1945–1963, dtv, München 1988, S. 12, 16–24. 65 Brief von Elly Heuss-Knapp an Toni Stolper vom 14. Februar 1949 aus StuttgartDegerloch, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 328/329. 66 Sauer, Demokratischer Neubeginn, S. 306–311.

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Die Ernährungsproblematik deutet an, dass an eine strukturierte Sozialpolitik überhaupt nicht zu denken war. Ein Neuordnungsversuch der sozialen Sicherung durch die Besatzungsmächte scheiterte im Alliierten Kontrollrat.67 Erst Mitte des Jahres 1949 konnte das von deutscher Seite erarbeitete grundlegende „Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz“ – abgesegnet von den Briten und den Amerikanern – in der „Bizone“ in Kraft treten.68 Elly Heuss-Knapp nahm an diesen Entscheidungen keinen aktiven Anteil. Ihre Möglichkeiten beschränkten sich auf regionale Verbesserungen in Württemberg-Baden und hierbei lagen ihr Jugendliche besonders nahe. Neben der Bereitstellung von Nahrungsmitteln war die Fürsorge für heimatlose Jugendliche ein weiteres drängendes Problem. Elly Heuss-Knapp arbeitete sich mehrere Tage in die Thematik ein und erstattete daraufhin dem Landtag Bericht.69 Die herumziehenden Jugendlichen – nach ihrer eigenen Einschätzung 10% aller Mädchen und 60% aller Jungen zwischen 14 und 18 Jahren – würden verwahrlosen und eine größere Neigung zur Kriminalität entwickeln.70 Daher müssten diese sofort dem zuständigen Jugendamt gemeldet und zugeführt werden. „Überbezirkliche“ Einrichtungen, auch von kirchlichen Trägern, wären für die Unterbringung und Aufsicht zuständig.71 Weiterhin müsste alles getan werden, um die von zuhause ausgerissenen Jugendlichen

67 Hentschel, Volker, Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880–1980, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, S. 146–150; Hockerts, Hans Günter, Deutsche Nachkriegssozialpolitik vor dem Hintergrund des Beveridge-Plans. Einige Beobachtungen zur Vorbereitung einer vergleichenden Analyse, in: Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien und Deutschland 1850–1950 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 11), hg. von Wolfgang J. Mommsen, Klett-Cotta, Stuttgart 1982, S. 325–332; Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland, S. 21–106. Zum Alliierten Kontrollrat als oberstem „Regierungs-, Kontroll-, Koordinations- und Verwaltungsorgan der Besatzungsmächte in Deutschland“ vgl. Mai, Gunther, Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945–1948. Alliierte Einheit – deutsche Teilung? (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 37), Oldenbourg Verlag, München 1995. 68 Das „Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz“ erhöhte die Versorgungsleistungen für Anspruchsberechtigte erheblich und ebnete die bisherigen Unterschiede zwischen Arbeitern und Angestellten ein. Hockerts, Deutsche Nachkriegssozialpolitik, S. 332. 69 Brief von Elly Heuss-Knapp an ihren Sohn Ernst Ludwig vom 4. Juli 1948 aus Stuttgart-Degerloch. 70 Diese Einschätzung trifft im Wesentlichen zu. Vgl. Ruhl, Frauen in der Nachkriegszeit, S. 25, 31–34. 71 Manuskript „Jugendliche“, in: Landtag I/Landtag II.

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möglichst schnell zu ihren Familien zurückzuführen.72 Schließlich wäre ergänzend wieder eine fundierte Erziehung und Bildung nötig, um Perspektiven zu ermöglichen. Durch die Teilnahme am Entwurf eines neuen Schullesebuchs befasste sich Elly Heuss-Knapp schon Ende 1945 mit Fragen der Erziehung. Ein sogenanntes „Einheits-Lesebuch“ für Volks- und höhere Schulen sollte darauf aufbauend erstellt werden, wofür extra ein Landtagsausschuss im Januar 1946 eingesetzt wurde.73 Sie konnte sich in diese Aufgabe voll und ganz einfühlen, da für sie die strikte Trennung zwischen Schullesebuch und Kinderlesebuch ebenso obsolet war wie eine „Höherstellung“ von Sachbüchern. Gerade Bilderbücher, bei denen Bild und Wort für sie untrennbar zusammengehörten,74 würden unheimlich viel zur Bildung der Kinder beitragen. Ob ohne Bilderbücher Stadtkinder noch wissen würden, wie Tiere auf einem Bauernhof aussehen, war eine nicht selten gestellte Frage. Auch entwickelten sich viele zunächst für Erwachsene geschriebene Werke zu „Klassikern“ der Kinderbuchliteratur. Elly Heuss-Knapp sah darin eine positive Verquickung der Welt der Jugendlichen mit der der Erwachsenen. Dies lag ihr besonders am Herzen: Jung und Alt miteinander zu versöhnen und jedem den Bereich zuzugestehen, in dem dieser benötigt wurde und sich einbringen konnte.75 Aber nicht nur eine „Versöhnung“ der Generationen war ihr Anliegen. Sie wollte auch Jugendliche bestmöglich in das Erwachsenenleben hinübergeführt sehen. Dazu waren für sie das (Wieder-) Erlernen von Tugenden wie Disziplin als auch die Lehre demokratischer Werte und sozialer Verhaltensweisen nötig.76 72 78. Sitzung des Württ.-Bad. Landtags, Stuttgart, Donnerstag, den 8. Juli 1948, in: Verhandlungen des 1. und 2.Württembergisch-Badischen Landtags 1946–1952. Protokoll- und Beilagenbände, Stuttgart 1948–1952, S. 1894/1895. 73 Brief von Elly Heuss-Knapp an Margarethe Vater vom 16. Januar 1948 aus Stuttgart-Degerloch, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 322. 74 Heuss-Knapp, Die bunte Welt des Kinderbuches, in: Heuss-Knapp, Elly, Rat und Tat. Nachklang eines Lebens, hg. von Friedrich Kaufmann, Rainer Wunderlich Verlag/Hermann Leins, Tübingen 1964, S. 58. 75 Die Anordnung der zu ganz unterschiedlicher Zeit entstandenen Aufsätze „Die bunte Welt des Kinderbuchs“, „Kindergedichte“, „Kindergeselligkeit“ und „Kleine Helfer“ in dem erst 1964 postum herausgegebenen Aufsatzband „Rat und Tat“ belegt diese Intention. 76 In einem Manuskript unterstreicht sie die demokratischen Gepflogenheiten (etwa das Mehrparteiensystem) und die Notwendigkeit funktionierender sozialer Systeme (insbesondere der Familie als Grundlage der Wertevermittlung). Heuss-Knapp, Elly, Parlamentarische Arbeit – von innen gesehen, vom 15. Januar 1949, in: Landtag I/Landtag II. Das von den amerikanischen Besatzern vertretene Unterrichtswesen legte ebenfalls auf diese Aspekte sehr großen Wert. Vgl.

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„Ziel bleibt die Erziehung eines Deutschlands, das die Freiheit liebt, den Menschen ein Dasein in Freiheit und Würde ermöglicht.“77 Die Entwicklung Jugendlicher war ein wichtiger Gesichtspunkt, weshalb sich ihr starkes Interesse auf Mütter und deren Kinder richten sollte. Natürlich galt der Wohlfahrt der Bevölkerung, und hierbei vornehmlich den erziehenden Müttern, immer die höchste Priorität, wurde sie doch permanent mit einer ständig steigenden Zahl an Fürsorgeempfängern konfrontiert. Die Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg mit einem neuen Klientel der Fürsorge, den Angehörigen von Frontsoldaten, erforderten sozialpolitische Neuregelungen.78 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Problem akut. Es strömten Hunderttausende von Heimatvertriebenen und die zurückkehrenden Soldaten nach Württemberg-Baden.79 Für Elly Heuss-Knapp sollte eine umfassende Rentenversicherungsordnung möglichst alle Bedürftigen erfassen.80 Dem jahrelangen Einsatz auch ihres Mannes war es schließlich zu verdanken, dass Ende 1948 eine gesetzliche Regelung in Kraft trat, die Ange-

Speitkamp, Jugend, S. 261–271, 281–283. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis auf die Schulpolitik der Besatzungsmächte und der deutschen staatlichen Stellen angebracht. Insbesondere kirchliche und konservative deutsche Vertreter traten vehement für die Beibehaltung des deutschen Schulsystems, gegen Einheitsschulen, ein. Die Kirchen propagierten zudem die Wiedereinrichtung der Bekenntnisschulen, was auch Elly Heuss-Knapp bevorzugt hätte. Mit diesem Schulsystem glaubte man das Niveau der höheren Schulen halten und religiöse Werte besser in der jungen Generation verankern zu können. Speitkamp, Jugend, S. 284/285. Darüber hinaus setzte sich Elly Heuss-Knapp sehr für eine Art „allgemeine Bildung“ als Pflichtfach bei allen Fachstudien ein. Es müsse der Versuch unternommen werden, „Studenten zu Weltanschauung, zu einem verpflichtenden Weltbild zu verhelfen, was so sehr gefehlt hat“. Ein Jahr allgemeines Studium bevor das Fachstudium beginnen würde, beziehungsweise ein Tag pro Woche für „solche zusammenfassende Kollegs“ sollten freigehalten und verpflichtend werden. Brief von Elly Heuss-Knapp an Sissi Brentano vom 26.Januar 1946 aus StuttgartDegerloch. Sissi Brentano war die Tochter Lujo Brentanos, der nach dem Tode von Georg Friedrich Knapp für Elly Heuss-Knapp fast wie ein „Ersatzvater“ war. Vgl. die Karten und Briefe von Elly Heuss-Knapp an Lujo Brentano aus den Jahren 1926 bis 1930. Der rege Briefkontakt zu Sissi Brentano entwickelte sich nach dem Tode Lujo Brentanos 1931. 77 „Sozialpolitische Grundgedanken“, in: Landtag I/Landtag II. 78 Peukert, Weimarer Republik, S. 140. 79 Sauer, Württemberg-Baden, S. 393–397. 80 Brief von Elly Heuss-Knapp an Toni Stolper vom 9. März 1947 aus StuttgartDegerloch, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 319.

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hörigen von Wehrmachtsoldaten Unterhaltsbeihilfen gewährte.81 Im Jahr darauf beschloss der Landtag eine Verbesserung der Versorgung der Kriegsopfer und Sozialrentner und Ende des Jahres 1950 regelte das Bundesversorgungsgesetz dies bundeseinheitlich.82 Der Sicherung eines geringen Existenzminimums für viele Hilfsbedürftige war somit Erfolg beschieden als sie nicht mehr Landtagsabgeordnete und gerade als „erste Frau in der Bundesrepublik“ in Bonn angekommen war.83 Die Landtagstätigkeit von Theodor Heuss und Elly Heuss-Knapp wurde in einer Feierstunde am 1.Oktober gewürdigt.84 Im Rückblick verdeutlichte der damalige Landtagspräsident Wilhelm Keil85 das Wirken der Abgeordneten, die in ihrer Parlamentstätigkeit die Menschen zu gewinnen vermochte: „Frau Elly nahm zum erstenmal einen Parlamentssitz ein, aber sie brachte ihre reiche Erfahrung aus dem weiten Gebiet sozialer und kultureller Arbeit mit, und ihre schlicht-vornehme, von tiefem religiösen Ernst geprägte Grundhaltung hatte ihr schon in früherer Zeit hohes Ansehen erworben. ... Selten nur trat Elly Heuss-Knapp an das Rednerpult. Ihrem still wirkenden Wesen entsprach das nicht. Entschloß sie sich dazu, dann hielt sie keine ,Rede’. Jede Neigung zur Rhetorik lag ihre fern. Nicht in vorgeformten Worten und Sätzen, sondern ganz unmittelbar aus dem Empfinden des Augenblicks heraus entwickelte sie ihre Gedanken, wobei natürliche Mütterlichkeit und gedankliche Klarheit sich die Waage hielten. Die kleine Frau nahm mit ihren Anliegen, die 81 Elly Heuss-Knapp notierte in einem Manuskript ihre Befürwortung „der Wiederherstellung der Versorgung ehemaliger Berufssoldaten auf einer für den Staatshaushalt verträglichen Basis“, was in einen Gesetzentwurf vom 9. Juni 1949 mündete. Vgl. „Wehrmachts-Pensionen“, in: Landtag I/Landtag II. 82 Sauer, Württemberg-Baden, S. 400. 83 Immer wieder drängte sie im Landtag den Finanzminister, die „Wohlfahrtsdinge“ als das Vorrangigste, für das Geld bereitgestellt werden müsste, zu behandeln. Insbesondere in ihrer Ansprache zur Jubiläumssitzung appellierte sie eindringlich an diesen. 100. Sitzung des Württ.-Bad. Landtags, Stuttgart, Donnerstag, den 9. Dezember 1948, in: Verhandlungen des 1. und 2.Württembergisch-Badischen Landtags 1946–1952. Protokoll- und Beilagenbände, Stuttgart 1948–1952, S. 2425. 84 Welchert, Hans-Heinrich, Theodor Heuss. Ein Lebensbild, Athenäum Verlag, Frankfurt am Main/Bonn 1959, S. 119. 85 Der sozialdemokratische, „südwestdeutsche Weggefährte“ von Theodor Heuss verfolgte dessen Aufstieg – und auch den seiner Frau – zum Bundespräsidenten mit wohlwollender Zustimmung. Mittag, Jürgen, Wilhelm Keil (1870–1968). Sozialdemokratischer Parlamentarier zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Eine politische Biographie (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 131), Droste Verlag, Düsseldorf 2001, S. 501/502.

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fast immer sozialer Natur waren, die Gemüter der Zuhörer so gefangen, daß es niemand einfallen konnte, mit ihr zu polemisieren. ... Sie war erfüllt von dem Drang, bei der Überwindung der großen materiellen und seelischen Nöte der Zeit mitzuhelfen.“86 Soziale Themen bestimmten ihr Denken! Erst mit den neuen Aufgaben als Gattin des Bundespräsidenten war es möglich, das Engagement zu verlagern, da die größten Versorgungsprobleme der Vergangenheit angehörten und die Erholung der „Trümmerfrauen“87 und Mütter ganz ihre Aufmerksamkeit finden konnte.

b) Die „erste Frau im Staat“ Der Besuch von Frauentagungen gehörte für Elly Heuss-Knapp nach dem Krieg wieder zum angenehmen Pflichtprogramm in ihrer neuen politischen Rolle.88 So wurde sie umgehend – als hätte es die Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft nicht gegeben – wieder mit denselben, die Frauen betreffenden Themen konfrontiert wie in der Weimarer Republik. Von Beginn der Landtagstätigkeit an standen die weiblichen Abgeordneten der verschiedenen Fraktionen in manchem beisammen. Dies betraf nicht nur den sozialpolitischen Ausschuss, in dem sich fast alle Parlamentarierinnen zusammenfanden. Es setzten sich auch alle für die Freilassung der ältesten und jüngsten inhaftierten Frauen, die mit dem NS-System kollaborierten, ein.89 Oder, um ein weiteres Beispiel anzuführen, es betonten fraktionsübergreifend die Mandatsträgerinnen die Bedeutung der Bildung für Mädchen und junge Frauen. Meist mussten Frauen alleine die größten kriegsbedingten Lasten tragen – Haushaltsfüh-

86 Zit. nach Keilhack, Hannelore, Theodor Heuss – Elly Heuss-Knapp, Hirschgraben-Verlag, Frankfurt am Main o.J., S. 49/50. 87 Der Begriff „Trümmerfrauen“ wird in der Forschung nicht genau umrissen. Weit gefasst werden damit alle erwachsenen Frauen in den ersten Nachkriegsjahren zusammengenommen, die in der Not und ohne männliche Hilfe Wiederaufbauarbeit und das Großziehen der Kinder leisteten. Vgl. die unterschiedlichsten Frauenbiographien bei Dörr, Margarete, „Wer die Zeit nicht miterlebt hat...“ Frauenerfahrungen im Zweiten Weltkrieg und in den Jahren danach, Bd. 1: Lebensgeschichten, Campus, Frankfurt/New York 1998/Bd. 2: Kriegsalltag, Campus, Frankfurt/New York 1998, S. 38–79, 394–405, 419–447/Bd. 3: Das Verhältnis zum Nationalsozialismus und zum Krieg, Campus, Frankfurt/New York 1998; Ruhl, Frauen in der Nachkriegszeit, S. 25–30. 88 5. Tagebuch, Eintrag unter September 1946. 89 Heuss-Knapp, Bericht über den Landtag vom 4. März 1947, in: div. Korresp.

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rung, Erziehung, Nahrungsmittelbeschaffung, psychische Probleme meistern.90 Das geduldige Ertragen der Strapazen in Haushalt und Erziehung über die langen Jahre der Nachkriegsnot hinweg wurde von den weiblichen Abgeordneten mit der höchsten Wertschätzung bedacht.91 Der Gedanke, dass die ungeheuren Leistungen der Nachkriegsfrauen einer Wertschätzung und wie auch immer gearteten Unterstützung bedürften, keimte daher bereits 1947 auf. Über diese Gemeinsamkeiten hinaus überraschte Elly Heuss-Knapp doch die Fixierung auf ihrer Ansicht nach weniger bedeutsame Themen. Sie konnte kaum glauben, wie sehr sich selbst CDU-Frauen auf das Thema „Gleichheit der Frauen“ stürzten.92 In ihrer Stellungnahme zum Parlamentarismus erörterte sie daher die Schwierigkeiten, die mit der sofortigen Gleichstellung verbunden wären. Diese würde die Paragraphen des Familienrechts aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch aufheben und ebenso auch etwa die Schutzgesetze für Frauen. Neben der schwer vorstellbaren Gleichberechtigung bei schweren Arbeiten würden sie dann wie der Mann für den Unterhalt der Familie sorgen müssen.93 „Die rabiaten Vertreterinnen der Gleichheit vergessen vollständig, dass Frauen in vielen Punkten schutzbedürftig sind, so dass sie geradezu Vorrechte brauchen.“94 Natürlich wollte sie nicht zurück in eine patriarchalische Gesellschaft. Doch Änderungen bedürften einer gewissen Zeit, um auch die Folgewirkungen möglichst weitreichend einkalkulieren zu können. Mittels Übergangsbestimmungen müssten zivilrechtliche und andere Gesetze sowie Verordnungen revidiert werden.95 Innerhalb des zu ändernden Familienrechts wäre das eheliche Güterrecht einer der wichtigsten Punkte. Hier müsste der 90 Für einen Großteil der Frauen in den Städten ging es schlicht um das nackte Überleben. Dass es vielen dennoch gelang ihre Kinder zu ernähren und ihnen Werte zu vermitteln grenzt angesichts der ungeheuren Not an ein Wunder. Frevert, Frauen-Geschichte, S. 245–250; Kleßmann, Christoph/Wagner, Georg (Hrsg.), Das gespaltene Land. Leben in Deutschland 1945–1990. Texte und Dokumente zur Sozialgeschichte, C.H. Beck Verlag, München 1993, S. 115. 91 Brief von Elly Heuss-Knapp an Toni Stolper vom 21. März 1947 aus StuttgartDegerloch, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 320. 92 Brief von Elly Heuss-Knapp an Theodor Heuss vom 10.Januar 1949 aus StuttgartDegerloch. 93 Elly Heuss-Knapp übersah, dass die Nachkriegssituation bereits den Frauen diese Rolle zukommen ließ. „Mittelpunkt der Familie war und blieb die Mutter, deren Arbeit und Organisationstalent allseits sichtbar über das Wohlergehen der Familie entschied.“ Frevert, Frauen-Geschichte, S. 252. 94 Heuss-Knapp, Parlamentarische Arbeit – von innen gesehen, Manuskript vom 15. Januar 1949, in: Landtag I/Landtag II. 95 Heuss-Knapp, Elly, Zur Diskussion über die Gleichstellung der Frau in der Verfassung, Manuskript vom 31.12.1948, in: Landtag I/Landtag II.

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Frau die Hälfte des gemeinsam in die Ehe eingebrachten Vermögens bei einer Scheidung zustehen. Elly Heuss-Knapp sah in diesen konkreten Verbesserungen der rechtlichen Stellung der Frauen die lohnenswerte Aufgabe und nicht in der Verkündung der „dilettantischen Vereinfachung“, die „in einem solchen Satz liegt wie ,Mann und Frau sind gleich’“. „Es ist natürlich viel bequemer die Vereinfachungen zu propagieren, als sich in eine schwierige Materie einzuarbeiten.“96 Gewiss sei es Aufgabe der Frau, sich in öffentliche Dinge einzumischen. Allerdings werde sie dann am meisten Erfolg haben, wenn sie ihre Forderungen nicht permanent auf den Begriff „Wir Frauen“ einstellen oder sich auf die Überzahl der Frauen berufen würde. Im Mittelpunkt müsse ganz eindeutig die Familie stehen. „Die Erhaltung und Festigung der Familie ist tatsächlich der Angelpunkt für eine neue Sozialpolitik. ... Nichts ist von der Frau aus gesehen kurzsichtiger als z.B. die Erleichterung der Ehescheidung, denn immer sind die Kinder der leidende Teil. ... Unlösbar bleibt die Aufgabe gerade jüngere Frauen und Mütter in die öffentliche Arbeit zu schicken und zugleich die Familie zu schützen. ... Diese Spannung bleibt, denn sie liegt in der Schöpfungsgeschichte begründet. Man muss sehen, das Mögliche zu erreichen, und das ist nach einem berühmten Wort das Wesen der Politik.“97 Die Familie war für Elly Heuss-Knapp der zentrale Punkt, gerade auch in ihrer gesamten Landtagstätigkeit im sozialpolitischen Ausschuss. Der leitende Gedanke war von der Hilfe für einzelne Menschen bestimmt. „Sozialpolitik hat immer mit Menschen zu tun, nicht wie die Wirtschaftspolitik mit Sachen.“98 Dass sie zur Sozialpolitik gelangte, war aus ihrer Sozialisation heraus folgerichtig. Die Erkenntnis, die Familie bilde das Grundgerüst einer funktionierenden sozialen Gemeinschaft entwickelte sich aus ihrem religiö-

96 Heuss-Knapp, Parlamentarische Arbeit – von innen gesehen, Manuskript vom 15. Januar 1949, in: Landtag I/Landtag II. 97 Heuss-Knapp, Parlamentarische Arbeit – von innen gesehen, Manuskript vom 15. Januar 1949, in: Landtag I/Landtag II. In der von den Sowjets besetzten Zone Deutschlands wurde die Gleichberechtigung auch als Pflicht der Frauen verstanden, einer Arbeit nachzugehen. Die Hausarbeit wurde geringgeschätzt und Mütter waren nur dann gleichberechtigte Teile der Gemeinschaft, wenn sie selbst auch außer Haus tätig wurden. Bock, Gisela, Weibliche Armut, Mutterschaft und Rechte von Müttern in der Entstehung des Wohlfahrtsstaates 1890–1950, in: Geschichte der Frauen, hg. von Georges Duby und Michelle Perrot, Bd.  5: 20. Jahrhundert, hg. von Françoise Thébaud, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997, S. 459. 98 Heuss-Knapp, Bericht über den Landtag vom 4. März 1947, in: div. Korresp.

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sen Glauben, ihrer individuellen Erfahrung in der Fürsorge sowie aus ihren Kenntnissen von unendlich vielen Einzelschicksalen.99 Gerade mit der Übernahme des Bundespräsidentenamtes von Theodor Heuss versuchte Elly Heuss-Knapp dies nicht zu vernachlässigen. Allerdings stellte sich sehr schnell heraus, dass die „erste Frau im Staat“ ihre persönlichen Neigungen zurückstellen musste. So war es nicht mehr möglich, literarische Texte zu verfassen oder eine klassische Textausgabe herauszugeben.100 Zum religiösen Leben in Deutschland konnte sie sich weder publizistisch noch in ihren geliebten Vorlesekursen mehr äußern. Und selbst im sozialpolitischen Bereich musste sie ihre knapp bemessene Zeit ganz genau einteilen, zumal ihr Gesundheitszustand die Arbeitskraft zusätzlich minderte. So betrafen alle Veröffentlichungen von Elly Heuss-Knapp nach der Übernahme des Amtes des Bundespräsidenten durch ihren Mann das Müttergenesungswerk und die Mütter.101 Daher war es nur möglich und auch folgerichtig, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren und die ganze Kraft in diese zu investieren: die Gründung des Deutschen Müttergenesungswerkes.

99 Die Familie rückte in den Nachkriegsjahren ins Zentrum der Überlebensstrategien. Kleßmann/Wagner, Das gespaltene Land, S. 115. 100 Die von ihr vorgenommene Auswahl von Gedichten Friedrich Rückerts aus dessen „Weisheit des Brahmanen“ war ihre letzte „literarische“ Veröffentlichung. 101 Vgl. dazu die Aufstellung von Walter Prinzing, die nur noch zwei Artikel für diese Zeit verzeichnet und Rundfunkansprachen bzw. Presse-Informationsbroschüren überhaupt nicht mehr aufnimmt. Prinzing, Walter, Bibliographie der Schriften und Reden von Theodor Heuss und Elly Heuss-Knapp, in: Margret Boveri und Walter Prinzing, Theodor Heuss, hg. von der Württembergischen Bibliotheksgesellschaft, Friedrich Vorwerk Verlag, Stuttgart 1954, S. 241–265.

IV. Das Deutsche Müttergenesungswerk

Im Juli 1949 begab sich Elly Heuss-Knapp zu einer Tagung der evangelischen, bayerischen Wohlfahrtspflegerinnen in die Nähe von Nürnberg, um dort zwei Vorträge zu halten. Die Themen zu Fürsorgeprinzipien bei Johann Friedrich Oberlin1 und Robert Owen2, sowie eine biographische Skizze von Vinzenz von Paul, einem der Gründerväter der neuzeitlichen Caritas,3 gaben eine Vorschau

1 Mit dem Pfarrer Johann Friedrich Oberlin wurde Elly Heuss-Knapp in ihrer gemeinsamen elsässischen Heimat, in der er im 18.Jahrhundert seinen Pfarrbezirk hatte, konfrontiert. Seine frühen Aktivitäten im Schulwesen und der Armenpflege entsprangen ganz seinem protestantischen Geist. Die Verknüpfung von bedingungsloser christlicher Nächstenliebe und praktischer Unterstützung Notleidender durchzog insbesondere sein frühes Leben und Wirken. Kurtz, John W., Johann Friedrich Oberlin. Sein Leben und Wirken 1740–1826, Verlag Ernst Franz, Metzingen 1982, S. 14–17, 46–134; Psczolla, Erich, Johann Friedrich Oberlin 1740– 1826, Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 1979, S. 30, 58–60, 69–75. 2 Robert Owen gilt als Vertreter des frühen Sozialismus, der einen egoistischen Individualismus ohne Dienst am Gemeinwohl angriff. Er entwickelte eine Vorstellung vom natürlichen sozialen Menschen – in Abgrenzung zum „unnatürlichen“ individualistischen Wirtschaftssubjekt –, der in einer Wirtschaftsform der Kooperation (das Genossenschaftswesen hat in ihm einen ihrer bedeutenden Gründungsväter) in die Gesellschaft eingebunden ist. Als eine Grundlage des kooperativen Wirtschaftens erblickte er eine Schulbildung für alle, die sich an pädagogischen Vorläufern wie Oberlin und Pestalozzi orientierte. Fürsorge bedürften für ihn insbesondere Kinder, die in einer kindgerechten Umgebung ohne die Arbeitsbelastungen Erwachsener aufgezogen werden und aufwachsen sollten. Jauch, Liane/ Römer, Marie-Luise, Nachwort, in: Robert Owen, Das Soziale System. Ausgewählte Schriften, Reclam, Leipzig 1988, S. 147; Simon, Helene, Robert Owen. Sein Leben und seine Bedeutung für die Gegenwart, G. Fischer Verlag, Jena 21925, S. 335–337. 3 Mezzadri, Luigi, Vinzenz von Paul. Leidenschaft für die Armen, Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 22003, S. 34–79, 86/87. Vgl. auch Richartz, Alfonso Magdalena, Vinzenz von Paul. Stationen und Wege, Johannes-Verlag, Leutesdorf 2002. Die Persönlichkeit eines Vinzenz von Paul musste Elly Heuss-Knapp besonders auch wegen seiner Charaktereigenschaften interessieren. „Sein Charisma erweist sich in der Spontanität seiner Gründungen, der Genialität seiner Methoden, der Radikalität seines Dienstwillens und in der ansteckenden und begeisternden Wirkung, die von ihm ausging und Ungezählte zu seinen Mitarbeitern machte.“ Beyreuther, Geschichte der Diakonie, S. 41. Hier finden sich Züge Friedrich Naumanns, Albert Schweitzers und auch Friedrich Bodelschwinghs.

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auf die Schwerpunkte des entstehenden institutionellen Werkes.4 Neben der Persönlichkeit der Vortragenden weckten das Engagement für das Wohlergehen von Frauen und Kindern das Interesse von Antonie Nopitsch, einer Frau, Mitte 40, die mit wenigen Helferinnen einige Müttererholungsheime nahezu „aus dem Nichts“5 erschaffen hatte. 1932 entstand auf deren Anregung hin in der Evangelischen Frauenarbeit in Bayern eine Unterstützung für Mütter, der Mütterdienst. Neben den von Anfang an organisierten Erholungsaufenthalten begann sehr bald auch die Unterstützung der Mütter durch eine mobile „Mütterschule“, in der mit Kursen hauswirtschaftliche, medizinische und soziale Kenntnisse vermittelt wurden. Durch ihre starke religiöse Bindung blieb eine Distanz zum Nationalsozialismus und zu dessen NS-Frauenschaft, von der sie sich nicht vereinnahmen lassen wollte. Die schwierigen Jahre des Zweiten Weltkrieges überstand sie schließlich mit vielen kleinen Aktivitäten, ohne jedoch organisatorisch eine gefestigte Grundlage für den Mütterdienst aufzubauen, da die Nationalsozialisten keine eigenständigen Organisationen neben den gleichgeschalteten – in diesem Fall der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) – duldeten. Nach dem Krieg schritt Antonie Nopitsch rasch zur Tat und hat mit viel ehrenamtlicher Unterstützung trotz der „Notzeiten“ den Aufbau von mehreren Mütterheimen bewerkstelligt.6 Diese Frau fasste im Frühsommer 1949 den Mut, die Referentin persönlich aufzusuchen und nach Stein bei Nürnberg einzuladen. Schnell war Antonie Nopitsch vom Wesen Elly Heuss-Knapps eingenommen und versuchte, sie während der Tagung im Juli für ihr Anliegen zu gewinnen. Allerdings zeigte sich diese zunächst etwas bedeckt, da sie sehr zeitraubende Wochen für sich und ihren Mann erblickte, was nach ihrem Verständnis für keine weiteren Aktivitäten Raum lassen würde.7 Doch das Interesse war geweckt, ja mehr als das: „Noch immer blühen die 4 Nopitsch, Toni, Der Garten auf dem Dach. Erinnerungen aufgezeichnet von Hilde Schneider, Laetare, Nürnberg 1970, S. 149. 5 Nopitsch, Der Garten auf dem Dach, S. 75. 6 Berger, Manfred, Antonie Nopitsch, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, hg. von Friedrich Wilhelm und Traugott Bautz, Bd. 28: Ergänzungen 15, Beltz, Nordhausen 2007, Sp. 1171–1186; Neises, Gerd, Die Elly-Heuss-KnappStiftung, Deutsches Müttergenesungswerk, in: Lebensbilder Deutscher Stiftungen, Bd.5: Stiftungen aus Vergangenheit und Gegenwart, hg. von Rolf Hauer, Jürgen Rossberg, Winfried Frhr. v. Pölnitz-Egloffstein, Mohr Siebeck, Tübingen 1986, S. 303; Nopitsch, Der Garten auf dem Dach, S. 75–113. 7 Nopitsch, Der Garten auf dem Dach, S. 148/149. Die Arbeit des Parlamentarischen Rates, der das „Grundgesetz“ der Bundesrepublik Deutschland ausgearbeitet hatte, endete im Mai 1949. Feldkamp, Michael F., Der Parlamentarische Rat 1948–1949. Die Entstehung des Grundgesetzes, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998,

Die Gründung  |

Nelken und erinnern mich an ihren schönen Garten. Aber auch wenn sie verwelkt sind, werde ich treulich an sie denken, denn es hat mir schon lange nichts mehr so gut gefallen, als Ihr ganzes Werk.“ Und weiter, fast prophetisch: „Beim Nachdenken komme ich immer mehr darauf, dass eine grosszügige Hilfe für Sie nur möglich ist, wenn es sich um ein ,Deutsches Mütterwerk‘ und nicht nur um ein bayerisches handelt. Ist so etwas nicht denkbar?“8

1. Die Gründung der „Elly Heuss-Knapp-Stiftung ,Deutsches Müttergenesungswerk‘“ Die finanziellen Schwierigkeiten, in denen sich die bayerische Müttergenesung9 unter der Leitung von Antonie Nopitsch befand, waren enorm.10 Die S. 174–182. Die große Bedeutung und intensive Beteiligung von Theodor Heuss an den Beratungen des Parlamentarischen Rates, verbunden mit einer enormen Arbeitsbelastung, belegen nicht nur dessen publizistische Anmerkungen; vielmehr sind die Anstrengungen auch im Privatleben der Familie Heuss spürbar. Vgl. Hein, Zwischen liberaler Milieupartei und nationaler Sammlungsbewegung, S. 343–347; Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 297; Streiten um das Staatsfragment. Theodor Heuss und Thomas Dehler berichten von der Entstehung des Grundgesetzes (Stiftung-Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus. Wissenschaftliche Reihe 1), hg. von Thomas Hertfelder und Jürgen C. Heß, DVA, Stuttgart 1999. Nach seiner hervorgehobenen Rolle im Parlamentarischen Rat kristallisierte sich bereits heraus, dass Theodor Heuss – seit Dezember 1948 der erste Bundesvorsitzende der unter einer Partei versammelten Liberalen in Westdeutschland – einer der ersten Anwärter auf das Amt des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland sein würde. Hein, Zwischen liberaler Milieupartei und nationaler Sammlungsbewegung, S. 336; Hertfelder, Thomas, Theodor Heuss, in: Politische Köpfe aus Südwestdeutschland (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 33), hg. von Reinhold Weber und Ines Mayer, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2005, S.  240. Als sicher konnte jedoch bereits im Juni sein Einzug in den Deutschen Bundestag gelten, nachdem er in Stuttgart als Kandidat aufgestellt worden war. Briefe von Elly Heuss-Knapp an Toni Stolper vom 27.Juni 1949 und an Gertrud Stettiner-Fuhrmann vom 25. Juli 1949 aus Stuttgart-Degerloch, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 332–334. 8 Brief von Elly Heuss-Knapp an Antonie Nopitsch vom 25.Juli 1949 aus StuttgartDegerloch. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Alte Unterlagen. 9 Der Begriff „Mutter“ verlor seine ideologische Bedeutung aus der Zeit des Nationalsozialismus und wandelte sich zu einem positiv besetzten Begriff, der individuelle Rechte und Pflichten konnotierte. Vgl. Moeller, Geschützte Mütter. 10 Dies bezeugen zahlreiche Briefe von Antonie Nopitsch an das Zentralbüro des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen in Deutschland, das durch die Einbindung in das weltweite christliche Hilfswerk vom Weltrat der Kirchen vereinfachten

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größte Not konnte noch mit Spenden gelindert werden,11 die Aufrechterhaltung der bestehenden Mütterheime war jedoch ohne zusätzliche finanzielle Hilfe nicht mehr zu bewerkstelligen. Wann Elly Heuss-Knapp den Entschluss fasste, sich mit ihrer ganzen Kraft der Müttererholung, die insbesondere auch den Kindern zugute kommen würde, 12 zu widmen, muss offen bleiben.13 Bei ihrem zweiten Besuch in Stein bei Nürnberg war ihr Entschluss jedoch schon gereift. Theodor Heuss befand sich mit seiner Frau als gewählter Bundespräsident14 im Oktober 1949 auf einem offiziellen Besuch Zugang zu ausländischen Spenden hatte. Schicke, Katharina, Die Elly-HeussKnapp-Stiftung Deutsches Müttergenesungswerk. Gründung, Zielsetzung und Entwicklung 1950–1970, unveröffentl. Magisterarbeit, Berlin 1994, S. 15. 11 In einem eigenen Verlag (Laetare) wurden kleine Hefte mit thematischen Schwerpunkten in den Bereichen kirchlicher, sozialer und gesellschaftspolitischer Zeitprobleme veröffentlicht, die etwas Geld einbrachten – die „Arbeitshilfen für Frauen- und Mütterarbeit“. Eine weitere, wenn auch bescheidene Einnahmequelle waren die „Gespräche“ mit Frauen des bayerischen Mütterdienstes. Nold, Liselotte (Hrsg.), Mann und Frau, Laetare Verlag, Nürnberg 1949. Vor allem aber konnten durch Kontakte zu den amerikanischen Militärbehörden relativ schnell Verbindungen zu amerikanischen Frauenorganisationen geknüpft werden, die den Mütterdienst unterstützten, so dass es zumindest notdürftig gelang, die bisher aufgebauten Heime zu erhalten. Berger, Nopitsch, Sp.1171–1186; Hofmann-Strauch, Beate, Antonie Nopitsch, in: Geschichte der Frauen in Bayern. Von der Völkerwanderung bis heute. Katalog zur Landesausstellung 1998 in den Ausstellungshallen im Klenzepark in Ingolstadt 18.Juni bis 11.Oktober 1998, hg. von Agnete von Specht im Auftrag des Hauses der Bayerischen Geschichte, Augsburg 1998, S. 337. 12 Brief von Elly Heuss-Knapp an Gertrud Stettiner-Fuhrmann vom 25. Juli 1949 aus Stuttgart-Degerloch, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 333. 13 Elly Heuss-Knapp führte seit 1947 kein Tagebuch mehr. Die „Rundbriefe an Freunde“ sind die einzigen tagebuchartigen Aufzeichnungen, die Elly HeussKnapp seit 1947 hinterlassen hat. Hierin bezieht sie sich im Oktober 1949 auf „mein geliebtes Mütter-Erholungsheim“. Der Entschluss, ihre ganze verbleibende Kraft einzig den Mütterheimen zu widmen, war bereits vorher getroffen worden. Rundbrief. Bericht vom 24.  Oktober 1949, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 336; Nopitsch, Der Garten auf dem Dach, S. 151. 14 Die Wahl des Vorsitzenden der FDP in Westdeutschland zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland war durchzogen von vielen taktischen Ränkespielen. Dennoch votierte am 12.September 1949 im zweiten Wahlgang die einfache Mehrheit der Mitglieder der eigens für diese Wahl zusammengetretenen Bundesversammlung für Theodor Heuss, womit dieser gewählt war. Birke, Adolf M., Nation ohne Haus. Deutschland 1945–1961, Siedler Verlag, Berlin 1998, S. 247– 249; Görtemaker, Manfred, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, C.H. Beck Verlag, München 1999, S. 97–99.

Die Gründung  |

in Nürnberg, was Elly Heuss-Knapp dazu bewog, das Mütterheim in Stein erneut zu besuchen. Einen offiziellen Empfang im Nürnberger Rathaus ließ sie ausfallen, um möglichst viel Zeit im Erholungsheim in Stein verbringen zu können. Sowohl die Frau des sozialdemokratischen Nürnberger Oberbürgermeisters Ziebill, als auch die Gattin des christsozialen bayerischen Ministerpräsidenten Ehard, Anna Eleonore, begleiteten sie. Die Eindrücke müssen derart bewegend gewesen sein, dass neben der Ehefrau des Bundespräsidenten nun auch beim Ministerpräsidenten Bayerns und im Rathaus in Nürnberg vehemente Fürsprecherinnen ihren Einfluss ausübten. Frau Ehard trug etwa dazu bei, dass die bayerische Landesregierung das Bundesinnenministerium anhielt, den zuständigen Stellen die Mitarbeit an der Müttererholungsfürsorge zu empfehlen. Frau Ziebill war beispielsweise daran beteiligt, dass die Argumentation, die Müttererholung würde die sozialen Einrichtungen der Städte entlasten und negative Folgekosten durch den Ausfall der Mütter für die Kinder vermeiden, bei einem wichtigen Mitglied des Deutschen Städtetages, dem Nürnberger Stadtrat Dr. Marx, wohlwollend aufgenommen wurde.15 Elly Heuss-Knapp nahm sich während des Besuches in Stein die Zeit, mit jeder der ungefähr dreißig Frauen, die in dem Mütterheim zu Gast waren, ausführlich zu sprechen.16 Ihre Eindrücke bestätigten und verstärkten sogar noch ihren Entschluss, sich diesem Projekt ganz zu verschreiben: 15 Nopitsch, Der Garten auf dem Dach, S. 150; Notiz über die Besprechung vom 2. Dezember 1949. Frau Heuss-Knapp, Frau Dr. Nopitsch, Dr. Koch (Innenministerium). Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss; Schreiben des Stadtrates Dr. Marx an Frau Dr. Nopitsch vom 24.Januar 1950. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW VII. Otto Ziebill, der das Deutsche Müttergenesungswerk tatkräftig unterstützte, war zudem nach seiner Zeit als Oberbürgermeister in Nürnberg von 1951 bis 1964 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages. Sein Einfluss wurde daher sogar noch größer. Vgl. etwa dessen Anschreiben an die Mitgliedstädte und die Landesverbände des Deutschen Städtetages, in dem dieser sich geradezu enthusiastisch für die finanzielle Unterstützung des Deutschen Müttergenesungswerkes einsetzt. Abschrift des Anschreibens von Dr. Otto Ziebill/Deutscher Städtetag an die unmittelbaren Mitgliedstädte und die 11 Landesverbände und Berlin vom 17.  August 1951 aus Köln-Marienburg. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW VII. 16 In einer Denkschrift fügte Antonie Nopitsch im Januar 1950 einen kurzen Überblick über die bayerischen Müttergenesungsheime an, in denen jedes Einzelne kurz mit seinen Vorzügen markant beschrieben wird: „Stein b/Nürnberg liegt gleichsam in der Mitte all dieser Heime. Durch dieses Haus pulst, da es zugleich die Zentrale des Mütterdienstes und in der nächsten Nähe Lehrgänge für kirchl. Frauenarbeit beherbergt, viel lebendiges Leben. Das bedeutet vor allem für die Mütter aus den

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|  Das Deutsche Müttergenesungswerk

„Dort haben mich die Schülerinnen mit unglaublich nettem Singen empfangen, und es war nur traurig zu sehen, wie elend dagegen die Mütter aussahen. Fast alle noch jung. ... Die Mütter erholen sich aber in erstaunlich kurzer Zeit. Es sind viele dabei, die noch nie eine Reise zu ihrer Erfrischung gemacht haben. ... Hoffentlich hat mein Besuch etwas genützt.“17 Es musste zunächst eine Lösung für das drängendste Problem gefunden werden: Wie könnte die Müttergenesung auf eine solide Grundlage gestellt werden? Elly Heuss-Knapp erkannte sehr deutlich, dass es ihr als Gattin des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich sein würde, lediglich die von Antonie Nopitsch geleiteten Mütterheime in Bayern,18 noch allein die evangelischen Träger19 zu unterstützen. Von ihrer Fürsorgetätigkeit in Straßburg, Berlin und Heilbronn profitierte sie nun ungemein. Einerseits konnte sie es vermeiden, sich in einer Vielzahl kleiner Aktivitäten zu verzetteln, was schon allein wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes und wegen der täglichen Beantwortung einer Vielzahl an Briefen als Frau des Bundespräsidenten zeitlich und physisch nicht möglich gewesen wäre.20 Andererseits durfte eine Zentralisierung nicht dazu führen, die unterschiedlichsten privaten und öffentlichen Wohlfahrtseinrichtungen zu Lagern und die, die in großer ländlicher Einsamkeit leben müssen, Anregung und neuen Mut. – Bettenzahl 40.“ Überblick über die Mütter-Genesungsheime des Bayerischen Mütterdienstes, Anhang zur Denkschrift des Bayerischen Mütterdienstes zur Frage der Mütter-Genesungsfürsorge. Archiv der Elly-Heuss-KnappStiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. 17 Rundbrief. Bericht vom 24. Oktober 1949, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 336. 18 In der Stiftungsurkunde schlägt sich der westdeutschlandweite Anspruch auch ganz deutlich nieder. „Die Stiftung wirkt im ganzen Bundesgebiet. Die Mittel sind für bedürftige Mütter aus allen Bundesländern ... zu verwenden.“ Zweitschrift der Stiftungsurkunde. Elly Heuss-Knapp Stiftung Deutsches Müttergenesungswerk. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. MGW I. 19 Antonie Nopitsch war überrascht, dass bei der Gründungssitzung des Deutschen Müttergenesungswerkes am 12. Dezember Vertreter aller karitativen Frauenverbände (neben den evangelischen und katholischen auch die Paritätischen Wohlfahrtsverbände, das Rote Kreuz und die Arbeiterwohlfahrt) anwesend waren. Nopitsch, Der Garten auf dem Dach, S. 152/153. Die finanzielle Not beeinflusste durchaus positiv den Willen der Träger, sich unter einem gemeinsamen Dach zusammenzuschließen, was Elly Heuss-Knapp zu nutzen verstand. Satzung des Deutschen Müttergenesungswerkes. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. MGW I. 20 Allein die Briefe im Nachlass des Deutschen Müttergenesungswerkes lassen auf mehrere Hundert monatlich schließen. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW III–VII.

Die Gründung  |

beschneiden und diese in eine Einheitsorganisation einzugliedern, wie dies im Nationalsozialismus weitestgehend erfolgt war.21 Bei einem „Tee-Empfang der weiblichen Abgeordneten des Bundestages“ wurden diese Grundsätze sehr deutlich. Elly Heuss-Knapp legte unmissverständlich dar, dass sie keine Ehrenämter oder Vorsitzfunktionen in frauenspezifischen Bewegungen anzunehmen gedenke, „ehe nicht eine gewisse Einheitlichkeit vorhanden ist“.22 Weiterhin legte sie den Parlamentarierinnen nahe, trotz differierender Ansichten, mit einer gemeinsamen Frauenvertretung gegenüber der Regierung aufzutreten. Und nicht zuletzt plädierte sie für die Einbeziehung aller Verbände, auch der konfessionellen, in eine übergeordnete Vereinigung. Ihr angeführtes Beispiel der Müttererholung rief die positive Leistung konfessioneller Verbände in sozialen Arbeitsgebieten in Erinnerung.23 Damit widersprach sie vehement der verbreiteten Ansicht, die kirchlichen Träger sozialer Einrichtungen müssten zurückgedrängt werden.24 Eine weitere Besprechung am 2.Dezember 1949 zwischen Antonie Nopitsch und Elly Heuss-Knapp führte zu einer Kosten- und Bedarfsanalyse. Es wurde mit 5000 „Freiplätzen für Müttererholungskuren“ für das Jahr 1950 gerechnet. Die Kosten für eine Kur würden 70,– Deutsche Mark betragen, was für 1950 Kosten von 350.000,– DM verursacht hätte. Bis Weihnachten 1949 21 Diese Erkenntnisse setzten sich auch auf Länderebene weitgehend durch, was im August 1949 aus den offiziellen Fürsorgerichtlinien für die bayerische Wohlfahrtspflege hervorgeht. Bayerischer Wohlfahrtsdienst. Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Bayern 1 (1949). Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW VII. 22 In einer Besprechung mit Antonie Nopitsch und einem Vertreter des Innenministeriums stellte Elly Heuss-Knapp wenige Wochen später noch darüber hinausgehend klar, dass sie „die von vielen Seiten erbetenen Ehrenprotektorate usw. abgelehnt hat, und vorerst nur diesem [dem Müttergenesungswerk, A.G.] caritativen Werk der Frauenverbände ihre persönliche Mitwirkung zuwenden“ will. Notiz über die Besprechung vom 2.Dezember 1949. Frau Heuss-Knapp, Frau Dr. Nopitsch, Dr. Koch (Innenministerium). Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. 23 Tee-Empfang der weiblichen Abgeordneten des Bundestages, Mittwoch, den 9.11.49, 16.30. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW II. 24 Die einzige ernsthafte thematische Auseinandersetzung zwischen Elly HeussKnapp und Theodor Heuss hing eng mit den Konfessionen zusammen. Elly Heuss-Knapp war strikt für ein Schulsystem ausschließlich mit Konfessionsschulen, wohingegen Theodor Heuss dies nicht befürwortete. Es sollte sich die Ansicht von Theodor Heuss durchsetzen, obwohl gerade dies einige Bedenken im Lager der CDU/CSU gegen seine Wahl zum Bundespräsidenten hervorgerufen hatte. Birke, Nation ohne Haus, S. 247/248.

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setzten sich die beiden Frauen das Ziel, die Mittel für 1500 bis 2500 Freiplätze aufzubringen. Erreicht werden sollte dies mit folgenden Maßnahmen: 1. Die deutschen Krankenkassen sollten über den Verband deutscher Rentenversicherungsträger zu Freiplatzspenden veranlasst werden.25 2. Die Sozialfonds der Rundfunkanstalten und die Förderung sozialer Einrichtungen durch das Fußballtoto sollten zu Freiplatzspenden angeregt werden. 3. Große Firmen könnten direkt von Frau Heuss-Knapp angesprochen werden. 4. Die Landesregierungen sollten das Bundesinnenministerium bitten, die Müttererholungsfürsorge durch die zuständigen Stellen zu empfehlen. 5. Die deutschen Städte müssten über den Deutschen Städtetag zu Freiplatzspenden angehalten werden. Vorrangig sollte immer wieder darauf hingewiesen werden, dass durch die Müttererholung ernste Krankheiten vermieden und Krankenhausaufenthalte verkürzt würden. Zudem wären gesunde Mütter für das Wohlergehen der Familie unerlässlich. Dies würde allen zugute kommen: den Krankenkassen, den staatlichen Fürsorgestellen, den Unternehmen und natürlich den Müttern. Da Elly Heuss-Knapp als Frau des Bundespräsidenten nur der Müttererholung „ihre persönliche Mitwirkung zuwenden will“, könnte dies unterstützend angebracht werden. Nach der erfolgten Gründung des „Müttergenesungswerkes“ würde ein Konto einzurichten sein, über das alle Transaktionen laufen sollten.26 Am 12. Dezember kam es bereits zur Gründung des Deutschen Müttergenesungswerkes.27 Der Einladung in den provisorischen Präsidentensitz auf der 25 Es wurden zwar keine allgemeinen Mittel aus den Landesversicherungsanstalten in Aussicht gestellt, doch erklärten sich die Krankenkassen bereit, „Erholungskuren für krankenversicherte Mütter in Erholungsheimen der Caritas oder der evangelischen Frauenhilfe auf Kosten der Krankenkassen“ durchzuführen. Schreiben aus dem Bundesministerium des Innern von Obermedizinalrat Dr. Koch an Frau Elly Heuss-Knapp vom 13. Dezember 1949. Archiv der Elly-Heuss-KnappStiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. 26 Notiz über die Besprechung vom 2.Dezember 1949. Frau Heuss-Knapp, Frau Dr. Nopitsch, Dr. Koch (Innenministerium). Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. 27 Ernst Ludwig Heuss bat 1960 Antonie Nopitsch um einige Daten über die Teilnahme von Elly Heuss-Knapp an Tagungen, Reisen, Vorträgen und ähnlichem für seine „Zeit-Tafel“ im Anhang zu der Briefbiographie „Bürgerin zweier Welten“. Frau Nopitsch sandte eine Aufstellung, die fälschlicherweise keine Sitzungen zwi-

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Viktorshöhe/Bad Godesberg folgte Antonie Nopitsch in freudiger Erwartung. Dass es bereits hier zur Gründung des Deutschen Müttergenesungswerkes kam, überraschte sie aber dann doch.28 Trotz der angeschlagenen Gesundheit wollte Elly Heuss-Knapp rasch die Müttergenesung mit soliden Finanzmitteln ausstatten und zudem die unterschiedlichen Trägergruppen unter einem Dach vereint wissen. Hierzu bot sich die Gründung einer Stiftung an, die in Verbindung mit dem Namen der „Frau Bundespräsidentin“ rechtlich abgesichert die der Gattin des Bundespräsidenten zur Verfügung stehenden Mittel für soziale Belange verwenden konnte.29 Mit einer Stiftung und den festgelegten Bestimmungen konnte auch die finanzielle und organisatorische Eigenständigkeit des Deutschen Müttergenesungswerkes endgültig gesichert werden. Insbesondere vor der Unterzeichnung der Gründungsurkunde der Stiftung am 17.November 1950 gab es noch vielfach Widerstand, sahen doch einige Wohlfahrtsverbände die Fokussierung auf die Müttererholung als bedenklich für die Unterstützung anderer Fürsorgeprojekte an. Zudem waren die Einflussmöglichkeiten auf die Mittelverteilung ein ständiger Streitpunkt zwischen den verschiedenen Vertretern der Wohlfahrtsverbände und der Stifterin bzw. Antonie Nopitsch. Die starke Stellung der Gründerin in der Stiftung zeigt jedoch, dass sich Elly Heuss-Knapp und Antonie Nopitsch weitgehend mit ihren Ansichten durchsetzten und die Einflussmöglichkeiten durch das geschaffene geschäftsführende Kuratorium als durchaus zu verschmerzenschen ihrem Besuch vom Oktober 1949 und dem Tag der Gründungssitzung am 12. Dezember 1949 auflistet. Anschreiben von Dr. Ernst Ludwig Heuss an Frau Dr. Antonie Nopitsch vom 23.11.1960; Antwortschreiben von Frau Dr. Antonie Nopitsch mit der gewünschten Aufstellung. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW II. 28 Nopitsch, Der Garten auf dem Dach, S. 152/153. 29 Der Name „Deutsches Müttergenesungswerk“ dürfte keine „Eingebung“ von Antonie Nopitsch gewesen sein, wie diese in ihren Erinnerungen schreibt, da Elly Heuss-Knapp für das Verdeutlichen übergreifender Sammlungsvereinigungen auch im Namen bereits zuvor bei ihrer Zusammenkunft mit den Parlamentarierinnen plädierte. Nopitsch, Der Garten auf dem Dach, S. 152; Tee-Empfang der weiblichen Abgeordneten des Bundestages, Mittwoch, den 9.11.49, 16.30. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW II. Lediglich „Müttergenesung“ könnte auf Antonie Nopitsch zurückgehen, da Elly HeussKnapp bis zur Gründungssitzung immer von „Müttererholung“ spricht. Vgl. verschiedene Briefe, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten. Allerdings wird von der „Gründung des Müttergenesungswerks“ bereits in der Besprechung vom 2.  Dezember gesprochen. Notiz über die Besprechung vom 2. Dezember 1949. Frau Heuss-Knapp, Frau Dr. Nopitsch, Dr. Koch (Innenministerium). Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss.

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der Kompromiss gelten konnten.30 Als vermutlich wegweisender Erfolg kann die bereits am 11.Januar 1950 erfolgte Unterstützungszusage durch den deutschen Innenminister Gustav Heinemann bewertet werden. Nicht nur, dass sein Ministerium die Deutsche Müttergenesung anerkannte, viel wichtiger war noch seine Aufforderung zur Unterstützung an die einzelnen Landesregierungen.31 Der Deutsche Städtetag empfahl nicht nur die Unterstützung, sondern stellte Zuschüsse aus städtischen Mitteln in Aussicht, soweit dies eigene Etats zulassen würden. Es wurde besonders empfohlen, „hilfsbedürftigen Müttern, für die eine Genesungskur ärztlich verlangt wird, aus allgemeinen Fürsorgemitteln den Aufenthalt in einem Müttergenesungsheim zu ermöglichen“.32 Damit war von offizieller Seite allen Bestrebungen, die Müttergenesung weiterhin eigenständig von den einzelnen Wohlfahrtsverbänden zu betreiben, der Wind aus den Segeln genommen, zumal die öffentlichen Mittel viele zusätzliche Mütterkuren ermöglichten. In der Stiftungsurkunde wird die finanzielle Grundlage der Stiftung durch das von der Gattin des Bundespräsidenten eingebrachte Kapital bereits in den Einleitungssätzen deutlich: „In dem Bestreben, den deutschen Müttern in dieser Not zu helfen,33 errichtet die Unterzeichnete Frau Elly Heuss-Knapp, aus ihr zur Verfügung gestellten Mitteln mit einem vorläufigen Stammkapital von DM 20.000,– (zwanzigtausend Deutsche Mark) eine selbständige rechtsfähige Stiftung ... Die Stiftung führt den Namen: Elly Heuss-Knapp Stiftung ,Deutsches Mütter-Genesungswerk‘.“34 Der Stiftungszweck ist deutlich formuliert, ohne dass daraus ein Rechtsanspruch auf Mittelzuteilung abgeleitet werden kann. Einerseits steht die Werbung in der Öffentlichkeit für die Idee der Müttergenesung, andererseits – 30 Schicke, Elly-Heuss-Knapp-Stiftung, S. 32–41. 31 Schreiben Gustav Heinemanns an Elly Heuss-Knapp vom 11.Januar 1950 aus Bonn. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. Historisches. 32 Schreiben des Hauptgeschäftsführers der Deutschen Landkreistage an die Landesverbände vom 3.Mai 1950 aus Frankfurt-Höchst. Archiv der Elly-HeussKnapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW VII. 33 In der Satzung wird verstärkend darauf verwiesen, dass „bei der Finanzkrise aller Wohlfahrtswerke und der großen Not der Mütter die erforderlichen Mittel durch die Frauenverbände nicht aufgebracht werden können“. Satzung des Deutschen Müttergenesungswerkes. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. MGW I. 34 Zweitschrift der Stiftungsurkunde. Elly Heuss-Knapp Stiftung Deutsches Müttergenesungswerk. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. MGW I.

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Abb. 10  Elly Heuss-Knapp und Antonie Nopitsch bei der Bekanntgabe der Gründung des Deutschen Müttergenesungswerkes am 31. Januar 1950.

und das ist natürlich die entscheidende Aufgabe – ist die Unterstützung der Arbeitsgemeinschaften und der Frauengruppen im Vordergrund. Hierbei wird ganz deutlich nur auf Mittelzuteilungen durch „Gewährung von Beihilfen zu Erholungskuren für bedürftige Mütter in Mütter-Genesungsheimen und durch Gewährung von Zuschüssen zur Erhaltung und Errichtung von Mütter-Genesungsheimen“ hingewiesen. Eine andere Verwendung der Geldmittel schließt die Stiftung aus. Lediglich ein Grundstock an Stiftungsvermögen, das von anderen Kassen und Vermögen zu trennen ist, müsse erhalten bleiben. Die Stiftungsmittel sollen aus dem Ertrag des Stiftungsvermögens, von freiwilligen Zuwendungen und aus öffentlichen Sammlungen35 stammen. Hierbei behält sich die Stifterin vor, „über 10% der freiwilligen Zuwendungen und öffentlichen Sammlungen nach freiem Ermessen für Zwecke der MütterGenesung verfügen“ zu können. Elly Heuss-Knapp wollte also durchaus Mittel eigenständig für bestimmte Projekte, ohne das für die Zuteilung entscheidende Stiftungskuratorium zu Rate ziehen zu müssen, zur Verfügung stellen 35 In der Satzung wurde speziell der Muttertag als die alljährliche große Spendensammlung vorgesehen. Satzung des Deutschen Müttergenesungswerkes. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. MGW I.

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können. Allerdings war sie sich ihres angeschlagenen Gesundheitszustandes sehr bewusst. Daher traf sie Vorkehrungen, falls sie als Stifterin ihren Stiftungsvorsitz nicht mehr ausüben, die gesetzliche Vertretung der Stiftung, die Bestimmung der Kuratoriumsmitglieder und die Bestellung der Geschäftsführerin nicht mehr durchführen konnte. Die Geschäftsführerin – natürlich konnte dies keine andere Persönlichkeit als Antonie Nopitsch sein – war zwar vom Vertrauen des Kuratoriums abhängig, bestimmte jedoch das Tagesgeschäft weitgehend selbst. Es ist in der Stiftungsurkunde ebenfalls festgehalten, dass die Stifterin eigenständig eine Persönlichkeit bestimmt, die sie „im Falle ihrer Verhinderung bei der Ausübung ihrer Befugnisse“ vertritt. Somit war eine starke Stellung von Antonie Nopitsch bereits in der Stiftungsurkunde festgelegt. Lediglich das Stiftungskuratorium musste als Entscheidungsgremium für 90% der Mittelzuteilungen, für die Durchführung von Sammlungen und die Anlage des Stiftungsvermögens herangezogen werden. In diesem waren jeweils vier Vertreterinnen der evangelischen und der katholischen Arbeitsgemeinschaft für Müttergenesung, jeweils zwei Vertreterinnen der „mit den Aufgaben der Mütter-Genesung speziell befassten Frauen-Gruppen der Arbeiterwohlfahrt, des Deutschen Roten Kreuzes und des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes“. Die jeweiligen Vertreterinnen wurden dann von der Stifterin nach Vorschlag der Trägergruppen als stimmberechtigte Mitglieder des Kuratoriums ernannt. Also auch hier bestand für Elly Heuss-Knapp die Möglichkeit mit ihrem Veto einzuschreiten. Beschlüsse des Kuratoriums mussten mit Zweidrittelmehrheit getroffen werden. Die Stiftung wird schließlich noch unter die Aufsicht der Regierung von Mittelfranken gestellt, in deren Regierungsbezirk sich der Sitz des Deutschen Müttergenesungswerkes befand. Dieser sollte jährlich eine Jahres- und Vermögensrechnung zur Prüfung vorgelegt werden. Um Satzungsänderungen oder die Auflösung der Stiftung zu erschweren, musste dies neben einem Kuratoriumsbeschluss noch durch das Bundesministerium des Innern genehmigt werden.36 Neben der großen logistischen Leistung, in relativ kurzer Zeit die verschiedenen Wohlfahrtsverbände in der „Elly-Heuss-Knapp-Stiftung Deutsches Müttergenesungswerk“ zusammenzuschließen, war auch die Wirkung auf die Öffentlichkeit von enormer Bedeutung. Die Frau des Bundespräsidenten stellte sich in den Dienst einer Sache und verteilte ihr Engagement nicht auf verschiedene Bereiche. Dies sollte sehr schnell dazu beitragen, dass Elly 36 Zweitschrift der Stiftungsurkunde. Elly Heuss-Knapp Stiftung Deutsches Müttergenesungswerk. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. MGW I.

Professionalisierung und Öffentlichkeitswirkung  |

Heuss-Knapp in der Bevölkerung fast gleichbedeutend mit dem Deutschen Müttergenesungswerk gesehen wurde: Elly Heuss-Knapp war das Deutsche Müttergenesungswerk und das Deutsche Müttergenesungswerk war Elly Heuss-Knapp.37 Ein wenig Unrecht geschah damit Antonie Nopitsch, die einen bedeutenden Anteil an der Gründung hatte. Doch ihr war die Sache wichtig und das zählte für sie. An ihre Freundin Toni Stolper schreibt Elly Heuss-Knapp von einem Kuraufenthalt in Badenweiler im Februar 1950 ganz nüchtern von der großen Leistung, dass die verschiedensten Träger von Mütterheimen nun unter einem Dach vereint sind: „Wir haben das Deutsche Müttergenesungswerk gegründet, evangelisch, katholisch, sozialistisch, Rotes Kreuz – alle, die Mütterheime haben –, vereinigt bei mir in Godesberg.38 Es läuft gut an.“39

2. Professionalisierung und Öffentlichkeitswirkung Nach der erfolgreichen Gründung war es zunächst nötig, den Bekanntheitsgrad der Müttergenesung zu steigern. Mit einer Rundfunkrede erreichte Elly Heuss-Knapp Ende Januar 1950 eine breite Öffentlichkeit.40 Sie lobt hierin zunächst die großen Anstrengungen der Mütter für ihre Familien in den ersten schweren Jahren nach dem Krieg und erklärt somit das vermeintlich geringe Interesse deutscher Frauen an politischen Fragen: Die Zeit dafür habe gefehlt, da es zunächst um das Überleben der eigenen Familie ging. Diese Leistung hätten Millionen Frauen mit unterstützender Hilfe vom Ausland bewältigt. Seit 1949 sei jedoch die Zeit gekommen, dass mit der Selbsthilfe ernstlich begonnen werde. Bisher seien immer die Kinder im Blick gewesen, 37 Viele persönliche Briefe an Elly Heuss-Knapp zeigen bereits 1950 die Identifikation mit dem Deutschen Müttergenesungswerk in der Wahrnehmung der Bevölkerung. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW III–VII. 38 Der Amtssitz des Bundespräsidenten und seiner Frau war die Viktorshöhe/Bad Godesberg, bevor im Dezember 1950 die Villa Hammerschmidt in Bonn bezogen wurde. Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 377. 39 Brief von Elly Heuss-Knapp an Toni Stolper vom 14.Februar 1950 aus Badenweiler, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 337/338. 40 Der 31. Januar, an dem Elly Heuss-Knapp ihre Rundfunkansprache hielt, war gleichzeitig der Geburtstag ihres Mannes. Vermutlich wollte sie damit Theodor Heuss eine Geburtstagsfreude bereiten, was zumindest Antonie Nopitsch ausführt. Nopitsch, Der Garten auf dem Dach, S. 153.

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doch „jetzt kann man sagen, daß die Not der Mütter größer ist als die Not der Kinder. Immerhin leben auch noch bei uns in Bunkern und in Kellern Kinder genug. Man schickt sie dann in Erholung; sie kommen gut ernährt und oft neu eingekleidet zurück, aber sie finden dann in der Familie vielleicht die Mutter ebenso überlastet, überarbeitet, manchmal schlecht gelaunt und reizbar wie vorher.“ Damit würden auch die heimkehrenden Männer konfrontiert, was schwere Belastungen im Familienleben zur Folge habe. Elly Heuss-Knapp kommt dann auf ein „Mittel der Abhilfe zu sprechen ..., das noch gar nicht bekannt genug ist und das wir fest entschlossen sind, jetzt den Menschen ins Gewissen zu rücken – wir Frauen. Das ist das Müttergenesungswerk.“ Indem sie kurz die Erholungsmöglichkeiten in den bereits bestehenden Mütterheimen darlegt und den Verbund der gesamten Trägergruppen erwähnt, deutet sie die überregionale, nationale Anstrengung an, die Gesundheit und das Wohlbefinden vieler Mütter auf ein besseres Niveau zu heben. Den wiederholten Appell, ohne die Mütter würde die „Gesundung der deutschen Familie“ nicht erreicht, und ohne diese würde auch das deutsche Volk nicht wieder auf die Beine kommen,41 verband sie mit dem Aufruf zu kleinen und großen Spenden und mit einem Dank für alle Förderer der Arbeit des Deutschen Müttergenesungswerkes.42 Dieser Aufruf der Gattin des Bundespräsidenten zeigte zusammen mit weiteren Werbeveranstaltungen große Wirkung. So wurde eine an alle regionalen und überregionalen Zeitungen gehende Pressemitteilung nach der Gründung des Deutschen Müttergenesungswerkes von Antonie Nopitsch formuliert, mit der Bitte um Hinweise auf die „große Haus- und Straßensammlung ..., die das Mütter-Genesungswerk im ganzen Bundesgebiet“ aus Anlass des Muttertages veranstaltet. Hierin wird die Zusammenarbeit der verschiedenen Frauenverbände und Frauengruppen explizit hervorgehoben.43 Das Deutsche Müttergenesungswerk war bereits 1950 über Bayern hinaus auch in den anderen Bundesländern bekannt. 41 Die Familie als wichtigste Grundlage der Gesellschaft formulierte Elly HeussKnapp bereits in den Jahren der Weimarer Republik: „Die Familie ist die natürliche Grundlage, wenn nicht des Staates, so doch des Volkes.“ „Der Wert und die Kraft der Familie bestimmen den Wert und die Kraft der Gesellschaft.“ HeußKnapp, Familie als sittliche Erziehungsmacht, S. 380; Heuß-Knapp, Familie und Fürsorge, 2. August 1932. 42 Heuss-Knapp, Elly, Rundfunkrede zur Gründung des Deutschen Mütter-Genesungswerkes am 31.Januar 1950, schriftlich hg. als Presse-Information 129 des Deutschen Müttergenesungswerkes. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. 43 Pressemitteilung Deutsches Müttergenesungswerk [Anfang Mai 1950]. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. MGW Allgemeines.

Professionalisierung und Öffentlichkeitswirkung  |

Allerdings gab es noch viel Arbeit, denn die geringe Kenntnis vom Deutschen Müttergenesungswerk war auch in den folgenden Jahren ein Grund für die bei weitem noch nicht vollständige Auslastung der Erholungsheime.44 Unter der Organisation des Müttergenesungswerkes, die durch die verschiedenen Wohlfahrtsverbände auf ein bereits vorhandenes logistisches Netzwerk zurückgreifen konnte,45 war es schnell möglich, bundesweite Spendensammlungen durchzuführen. Weihnachten 1949 fand die erste Sammlung statt, die ein großer Erfolg wurde. Die Weihnachtssammlung trug erheblich dazu bei, dass 1949 ca. 2000 Müttern geholfen werden konnte, da die noch 1949 angetretenen Erholungsaufenthalte hinzuzählten und es nach Weihnachten zu einem starken Anstieg kam.46 Es gelang sowohl Elly Heuss-Knapp als auch Antonie Nopitsch immer wieder, die Gemütslage der Bevölkerung zu treffen und das Projekt der Müttergenesung im „kollektiven Gedächtnis“ der

44 In Hessen beispielsweise hätten die zehn Mütterheime bei dreiwöchigen Erholungsaufenthalten 1952 ca. 3500 Mütter aufnehmen können. Tatsächlich kamen jedoch nur 2186 Mütter in den Genuss eines Erholungsaufenthaltes. Das Müttergenesungswerk in Hessen im Jahre 1952 (Ergebnis einer Umfrage). Abschrift des Rundbriefes 3/B3. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW VII. 45 Schwierigkeiten mit den einzelnen Wohlfahrtsverbänden gab es natürlich ständig. Antonie Nopitsch erhielt als Geschäftsführerin des Deutschen Müttergenesungswerkes von Elly Heuss-Knapp nicht nur ihr volles Vertrauen, sondern auch weitreichende Befugnisse. Nicht zuletzt deswegen gelang es ihr, die verschiedenen Interessen nicht auseinanderlaufen zu lassen. Die Organisation von Tagungen, von koordinierten Aktionen wie auch das sonstige operative Geschäft der Deutschen Müttergenesung lag bereits mit der Gründung 1949 vollständig in den Händen von Antonie Nopitsch. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW VII. Auf die noch verbesserungsbedürftige Zusammenarbeit zwischen den Trägern des Müttergenesungswerkes und den Trägern der öffentlichen Fürsorge wurde jedoch noch lange hingewiesen, was den permanenten Handlungsbedarf unterstreicht. Das Müttergenesungswerk in Hessen im Jahre 1952 (Ergebnis einer Umfrage). Abschrift des Rundbriefes 3/B3. Archiv der EllyHeuss-Knapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW VII. 46 Pressemitteilung Deutsches Müttergenesungswerk [Anfang Mai 1950]. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. MGW Allgemeines. Der bayerische Mütterdienst konnte 1949 in seinen Heimen 1852 Mütter aufnehmen und diesen eine zwei- bis dreiwöchige Erholung zukommen lassen. Denkschrift des Bayerischen Mütterdienstes zur Frage der Mütter-Genesungsfürsorge. Archiv der EllyHeuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss.

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Bevölkerung zu verankern. Im Aufruf zur ersten großen Sammlung am Muttertag47 im Mai 1950 wird erneut die Bedeutung der Mütter unterstrichen: „In diesem Jahr soll der Einzelne einmal nicht nur an die eigene Mutter denken und ihr eine Freude machen, ich habe gesagt ,nicht nur’, denn das soll er ja auch, sondern darüber hinaus an die Mütter denken und den Müttern helfen, deren Kinder nicht in der Lage sind, sie mit Gaben zu erfreuen. ... Sie sind nach langen Jahren schwerster Erfahrung am Rande ihrer Kräfte ... .“ Neben der notwendigen Unterstützung „der“ Mütter wiederholt Elly HeussKnapp auch, dass die vier großen Wohlfahrtsverbände – die beiden Kirchen, die Arbeiterwohlfahrt und das Rote Kreuz – Träger des Deutschen Müttergenesungswerkes sind. Ihr ist bewusst, dass Straßen- und Haussammlungen nicht sehr beliebt sind, und dennoch appelliert sie an die Spendenbereitschaft aus „echter Freiwilligkeit“ und an das Bewusstsein, Hilfe für Mütter stelle auch eine große Hilfe für Kinder und Familien dar.48 Dass bei der ersten Muttertagsammlung schon eine organisatorisch ausgeklügelte Struktur vorhanden war, lag insbesondere an Elly Heuss-Knapp.49 Ihrer Stellung und ihrem Engagement war es zu verdanken, dass allen Landräten und Oberbürgermeistern bereits nach der Pressekonferenz im Bundeshaus am 31. März 195050 Material über das Deutsche Müttergenesungswerk 47 Der Muttertag als der Tag der großen, alljährlichen Sammlung stand seit der Gründungssitzung nicht in Frage. Protokoll von Antonie Nopitsch zur Gründungssitzung vom 12. Dezember 1949. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. Historisches. Vgl. auch Nopitsch, Der Garten auf dem Dach, S. 161. Elly Heuss-Knapp gelang es, sehr viele Schulen für Straßensammlungen zu bewegen. 48 Aufruf zur Sammlung am Muttertag vom Mai 1950. Archiv der Elly-HeussKnapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. Historisches. 49 Viele Briefe aus den einzelnen Mütterheimen gelangten nach Bonn ins Bundespräsidialamt, in denen auf die herausragende Bedeutung von Elly Heuss-Knapp hingewiesen wird. Sehr eindringlich wird dies deutlich in einem leider nicht unterzeichneten Brief aus Badenweiler, dem Ort, in dem sie ihre vielen Genesungsaufenthalte abhielt: „Ich habe ja schon allerhand Dinge von den kleinsten Anfängen an aufgebaut, und ich muss sagen, es ist erstaunlich, wieviel guten Wind das Deutsche Mütter-Genesungswerk von Anfang an in den Segeln hat. Das schulden wir alles ihnen, verehrte, liebe Frau Heuss, und darum kann ich nur immer wieder von ganzem Herzen danken.“ Brief vom 21. März 1950 aus Badenweiler/Schwarzwald vom Haus-Baden. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Alte Unterlagen. 50 Elly Heuss-Knapp erläuterte in einer Begrüßungsansprache vor politischen Vertretern sehr ausführlich die Zielsetzung des Deutschen Müttergenesungswerkes und bat inständig um Unterstützung. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. Historisches.

Professionalisierung und Öffentlichkeitswirkung  |

zugestellt wurde.51 Rundfunk und Tagespresse wurden regelmäßig mit Informationsbroschüren versorgt. Vor der großen Sammlung zum Muttertag verstärkte sich die Öffentlichkeitsarbeit. In eigens aufgestellten „SammlungsRegeln“ wurden drei Säulen der Werbung den Helfern dargelegt: die örtliche Presse evtl. sogar mit einer kleinen Pressekonferenz aufmerksam machen; Diapositive für Kinoreklame; Plakate. Die Materialien waren über das Deutsche Müttergenesungswerk zu beziehen, wobei erreicht werden sollte, dass die Geschäfte, in denen die Plakate aufzuhängen waren, die finanziellen Kosten für das Plakat tragen würden.52 Ihre Werbetätigkeit während der nationalsozialistischen Herrschaft machte sich dahingehend bezahlt, dass sie nun wusste, mit welchen Mitteln und auf welche Art eine große Öffentlichkeit erreicht werden konnte. Doch auch in der Organisation der Sammlung deuten die Ratschläge für die ehrenamtlichen Sammler auf ein bereits 1950 vorhandenes professionelles System hin. Auf die Vermeidung von Mehrfachsammlungen in bestimmten Gebieten durch verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen wird dringend hingewiesen, da dies der Sache sehr abträglich wäre. Weiterhin sollte die Sammlung mit den politischen Vertretern vor Ort abgestimmt werden, von denen auch genaue Wohnbezirkspläne zu erhalten wären. Schließlich werden noch praktische „kleine Ratschläge“ für die Haussammlung erteilt: 1. möglichst Menschen einsetzen, die den Sammelbezirk kennen, 2. so viele Sammler wie möglich bereitstellen, 3. als ersten Eintrag in den Sammellisten spendierfreudige Geber festhalten, 4. in Mehrfamilienhäusern auch in die höheren Stockwerke gehen, da „unter dem Dach ... oft die barmherzigsten Leute“ wohnen, 5. Sammler und Sammlerinnen rechtzeitig den Sinn der Sammlung vor Augen führen, 51 Neben der Presse-Information 129 des Deutschen Müttergenesungswerkes – der Rundfunkrede von Elly Heuss-Knapp zur Gründung vom 31. Januar 1950  – umfassten die Materialien auch statistisches Material der bayerischen Müttergenesung und die positiven Bewertungen des Deutschen Städtetages und des Bundesinnenministeriums. Die Einladung dazu erfolgte über das Bundespräsidialamt. Schreiben des Pressereferenten beim Bundespräsidenten vom 26. März 1950 von der Viktorshöhe/Bad Godesberg. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. Historisches. 52 Es war auch Elly Heuss-Knapp zu verdanken, dass in Zeitungsredaktionen persönlich Mitglieder der Wohlfahrtsorganisationen vorstellig wurden, die sich um Inserate und Bekanntmachungen kümmerten. Sammlungs-Regeln für den Muttertag, 14. Mai 1950. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly HeussKnapp/Theodor Heuss. Historisches.

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6. Personen des öffentlichen Lebens zum Sammeln in größeren Firmen einsetzen.53 Nur die genaue Planung der ersten Muttertagsammlung ermöglichte überhaupt die erfolgreiche Durchführung der bundesweiten Aktion. Dass sich die Öffentlichkeitsarbeit ausgezahlt hatte, zeigte das Jahr 1951. Wieder wurde eine große Pressekonferenz für die Muttertagsammlung abgehalten, in der auch eine knappe Bilanz gezogen werden konnte. 1950 wurden 2,5 Millionen DM gesammelt, mit denen 26000 Mütter in den Erholungsaufenthalt geschickt werden konnten. Die Anzahl der Heime hatte sich von 42 auf 75 erhöht.54 Der Erfolg konnte nicht bestritten werden, wenn auch die Steigerung der Mütterkuren bei weitem noch nicht zur Auslastung der Heime führte. In einer Rundfunkansprache rief Elly Heuss-Knapp auch 1951 wieder zum Spenden auf. Die Müttergenesung darzustellen war nun nicht mehr im Vordergrund der Ansprache. Bedeutend wichtiger erschien es ihr, aufzuzeigen, dass vielen Frauen mit der Müttergenesung überhaupt erstmals ein meist dreiwöchiger Erholungsaufenthalt ermöglicht wurde. Der ausgiebige Dank an die unendlich vielen Spender und Sammler verdeutlicht, wie stolz Elly Heuss-Knapp auf die große Beteiligung an „ihrer Sache“ war.55 Insbesondere die Mitwirkung von Kindern lag ihr sehr am Herzen. Daher war es ihr auch ein Bedürfnis, eine „Rede an die Kinder“ zu halten, in der sie in einem in ihren Kursen jahrzehntelang eingeübten Erzählstil, der sehr gut Kinder ansprechen konnte – Geschichten zu erzählen bedeutete ihr ja seit ihrer Kindheit sehr viel –, diesen die Hilfsleistungen des Deutschen Müttergenesungswerkes nahe brachte: „Nun ist es schade, dass ich Euch nicht genau zeigen kann, wie es in so einem Mütterheim aussieht. Das könnte sehr lustig und erstaunlich für Euch sein zu sehen, dass die Mütter miteinander singen und auf Liegestühlen liegen und sich in der Sonne ausruhen – aber auch im Schatten – und sich Geschichten vorlesen und manchmal auch etwas spielen. ... Und wenn sie krank sind, z.B. Rheumatismus haben, so bekommen sie gute Bäder dafür und hinterher 53 Sammlungs-Regeln für den Muttertag, 14. Mai 1950. Archiv der Elly-HeussKnapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. Historisches. 54 Rede von Frau Heuss anlässlich der Pressekonferenz am 17. April 1951 für die Sammlung des Deutschen Müttergenesungswerkes 1951. Archiv der Elly-HeussKnapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. 55 Aufruf zur 2. Sammlung des Deutschen Müttergenesungswerkes. April-Mai 1951. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. Historisches.

Professionalisierung und Öffentlichkeitswirkung  |

werden sie ins Bett gesteckt und es wird ihnen streng verboten, aufzustehen und sie müssen folgen. Wenn die Mütter dann ausgeschlafen haben, gehen sie spazieren und pflücken sich einen schönen Blumenstrauss. Und manchmal lesen sie ein gutes Buch. Und die allergrösste Freude ist, wenn ein Brief von den Kindern kommt und die Mutter hört, dass es zu Hause allen gut geht.“56 Kindern zu verdeutlichen, weshalb die Müttergenesung so wichtig war, dieses Anliegen bestimmte ihre öffentlichen Auftritte vor der großen Muttertagsammlung 1951. Nicht vergessen werden darf, dass bei den Sammlungen kleine handgefertigte Blumen verkauft und verteilt wurden. Durch die Herstellung konnte vielen Familien ein bescheidenes Einkommen gesichert werden.57 Hier knüpfte Elly Heuss-Knapp an ihre Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg an: Ihr unternehmerisches Talent zeigte Wege auf, wie sie vielen Menschen in allergrößter Not helfen konnte. Schon während des Jahres 1950 wurde den beiden Protagonisten des Deutschen Müttergenesungswerkes bewusst, dass neben der funktionierenden Stiftungsstruktur und der Sammlung auch Richtlinien für die Müttergenesungsheime nötig sein würden, um den sich erholenden Frauen auch eine angemessene Unterkunft, die einheitlichen Standards genügen würde, bieten zu können. Neben der ärztlichen Betreuung müssten demnach auch „erfahrene, möglichst geschulte mütterliche Persönlichkeiten neben dem hauswirtschaftlichen und pflegerischen Personal tätig sein“, wobei ebenfalls die notwendigen Erholungsphasen der Mitarbeiterinnen eingefordert wurden. Für die sich erholenden Mütter wurden bestimmte räumliche Gegebenheiten und eine Höchstzahl an Betten in einem Zimmer und in den einzelnen Heimen vorgegeben. Die Aufenthaltsdauer wurde auf zwei bis vier Wochen festgelegt. Neben der ausgewogenen und auf die individuellen Bedürfnisse der Mütter angepassten Ernährung wurde großen Wert auf das Einhalten von hinreichenden Ruhephasen gelegt. Entscheidend ist, dass auf Vorschlag der Trägergruppen durch das Deutsche Müttergenesungswerk die endgültige Anerkennung eines Heimes erfolgt.58 Die Prüfung der Heime erfolgte tatsächlich, allerdings

56 Zur Sammlung an „die Kinder“. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. Historisches. 57 Rundbrief. Bericht vom 18. Februar 1952, in: Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 351. 58 An der Ausarbeitung der Richtlinien hatte Elly Heuss-Knapp noch maßgeblichen Anteil. Richtlinien für Mütter-Genesungsheime vom 18. Januar 1951/Erläuterungen zu den Richtlinien für anerkannte Mütter-Genesungsheime im Deut-

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lässt sich nicht mehr rekonstruieren, nach welchen Richtlinien bzw. wie die doch sehr allgemeinen Richtlinien ausgelegt wurden.59 Der fortschreitend schlechter werdende Gesundheitszustand ließ neben den wenigen Werbeauftritten für das Deutsche Müttergenesungswerk kaum noch Zeit für die Teilnahme an Tagungen und Kongressen von Wohlfahrtsverbänden. Die Anfragen aus den Jahren 1950 und 1951 waren vielfältig, doch Elly Heuss-Knapp konnte nur noch wenige Termine wahrnehmen. Aber selbst während ihrer Krankenhausaufenthalte in Badenweiler versuchte sie so weit es ging zumindest noch einige der zahllosen Briefe zu beantworten, die in großer Hoffnung an sie gerichtet waren. In vielen Fällen konnte sie über kleine Zuwendungen oder Vermittlung an andere Stellen die Not der Schreibenden zumindest etwas lindern.60 Ihr letzter Auftritt vor einer größeren Öffentlichkeit war ihr Vortrag auf dem Deutschen Krankenkassentag in Frankfurt im Oktober 1951. Noch einmal lässt sie ihre Zielsetzung mit dem Deutschen Müttergenesungswerk deutlich werden: „Die meisten von Ihnen werden wissen, dass ich das Deutsche Mütter-Genesungswerk insofern auf eine neue Grundlage gestellt habe, dass ich die von den freien Wohlfahrtsverbänden ausgehenden Versuche, den abgearbeiteten, aber noch nicht eigentlich kranken Müttern durch einige Wochen der Ruhe zu helfen, einheitlich zusammengefasst habe.“ Mit dieser einenden, jedoch nicht uniformierenden Organisation sollte die Stütze der Familie, die Mutter, entlastet und ihr neue Kraft und neuer Lebensmut zugeführt werden. „Eine glückliche Ehe zu führen, ist immer noch der Wunsch und das Ideal der Menschen, wenn es auch leider häufig nicht glückt. Es gibt keine andere Form, die als erstrebenswert oder besser gilt.“ Die Müttererholung biete daher die beste Grundlage für die gesunde Familie. Der Appell von Elly Heuss-Knapp ging an die Vertreter der Krankenkassen, damit diese in Zukunft die Tagessätze der Müttererholung vollständig zahlen würden.61 Die Übernahme der Kosten für die Müttergenesung in den Leistungskatalog der Krankenkassen

schen Mütter-Genesungswerk. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. MGW I. 59 1953 wurden nach einem Verzeichnis alle Mütterheime überprüft. Es wurden 117 Heime aufgeführt. Verzeichnis der vom Mütter-Genesungswerk anerkannten Mütter-Genesungsheime. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Geschichte des MGW I/1. 60 Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. MGW 1949–1952. Briefwechsel. 61 Vortrag auf dem Deutschen Krankenkassentag in Frankfurt. Archiv der EllyHeuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss.

Etablierung der Müttergenesung in der bundesdeutschen Fürsorge  |

wäre die Abrundung ihres Lebenswerkes gewesen, da damit die finanzielle Grundlage langfristig gesichert worden wäre.

3. Etablierung der Müttergenesung in der bundesdeutschen Fürsorge Während ihrer fortschreitenden Krankheit war Elly Heuss-Knapp im Frühjahr 1952 bewusst, dass ihr nicht mehr viel Zeit und sehr wenig Kraft blieb. In ihrem Vermächtnis an das Deutsche Müttergenesungswerk sorgte sie sich um den Zusammenhalt. Es war ihr Herzensanliegen, noch einmal an die Kuratoriumsmitglieder zu richten, was für sie das Wichtigste war: „Es ist die friedliche Zusammenarbeit, besonders auch zwischen den Konfessionen.“62 Die ihr zur freien Verwendung zur Verfügung stehenden Einnahmen übertrug sie dem Kuratorium. Ihre Favoritin für den Vorsitz und damit ihre potentielle Nachfolgerin, die Bundestagsabgeordnete Helene Weber,63 wurde 1952 tatsächlich Vorsitzende der Stiftung. Antonie Nopitsch führte – auch im Interesse der Gründerin – die Geschäfte weiter. In ihrem ersten Vermächtnis, das sie schriftlich an das Kuratorium des Müttergenesungswerkes schickte, weist sie auf die Leistung Antonie Nopitschs hin: „Ich bitte alle Mitglieder des Kuratoriums daran zu denken, ... dass eigentlich nicht ich das Werk gegründet habe, sondern Frau Nopitsch.“64 Elly Heuss-Knapp konnte sich weit weniger in den Aufbau des Deutschen Müttergenesungswerks einbringen als sie dies wollte, zumal es für sie „eine wirkliche Krönung ... [ihres] Lebens war“.65 „Über diesen Jahren hoher menschlicher Erfüllung liegt Tragik, da die schwindenden körperlichen Kräfte nicht mehr hergeben, was die Intensität des Wollens und Unternehmens, was Pflichtgefühl und Phantasie erstreben.“ 66 Dennoch etablierte sie eine bundesweite Stiftung und stellte diese finanziell auf ein erstes 62 Vermächtnis. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/ Helene Weber/Antonie Nopitsch. 63 Helene Weber kannte Elly Heuss-Knapp von Kongressen bereits seit den 20er Jahren. 4. Tagebuch, Eintrag unter Juni 1920. Durch Helene Webers Vorsitz im Bundesverband katholischer Fürsorgerinnen Deutschlands waren somit in den Führungspositionen des Deutschen Müttergenesungswerkes beide großen Konfessionen in Deutschland vertreten, da Antonie Nopitsch die Geschäftsführung behielt. 64 Brief an das Kuratorium des MGW. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Helene Weber/Antonie Nopitsch. 65 Ebd. 66 Heuss-Knapp, Bürgerin zweier Welten, S. 299.

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bescheidenes Fundament. Diese Leistung war außerordentlich, und es war ihr bewusst, dass sie viel erreicht hatte. Theodor Heuss war über Jahrzehnte an der Seite seiner Frau. Er unterstützte ihr Lebenswerk nicht nur aktiv, sondern betrachtete darüber hinaus die Müttergenesung auch als sein Anliegen. So führte er bereits seit 1951 eine persönliche Korrespondenz mit Antonie Nopitsch und vertraute ebenso wie seine Frau auf deren Geschäftsführung. Das reichte bis zu Stellungnahmen der Frauen des Müttergenesungswerkes zu Elly Heuss-Knapp, die diese und auch ihr Ehemann nicht einmal mehr abzeichneten, da sie sich darauf verlassen konnten, dass die Mitarbeiterinnen und insbesondere Frau Nopitsch im Sinne des Wirkens der Gründerin geeignete Verfasserinnen waren.67 Wie sehr sich Theodor Heuss auch persönlich mit den Zielen des Lebenswerkes seiner Frau identifizieren konnte und wie viel Zeit er diesem widmete, erläuterte er auf einer von ihm abgehaltenen Pressekonferenz im Palais des Bundespräsidenten: „Ich weiss … aus vielen Gesprächen, wie in diesem Versuch des Müttergenesungswerks das Bedrückende und das Beglückende ineinandergehen; das Bedrückende der immer und immer gegebenen individuellen, millionenfachen Not; das Beglückende, dass nun doch hier ein Gefühl der Verantwortung bei vielen Menschen entstanden ist, sind solche Dinge, die im Grunde fernlagen der Organisation, die damit schon zu tun hatte, denn es ist eine Stütze gegeben worden –, das Beglückende, das Echo, was aus diesen Kreisen gequälter, besorgter, überlasteter Mütter nun auch in dieses Haus kommt. Ich möchte gerne haben, dass der Sinn dieser Zusammenkunft nun von Ihnen als Aufgabe der Vermittlung an das Bewusstsein des Volkes weitergetragen wird.“68 Bereits Ende des Jahres 1951 konnte Elly Heuss-Knapp fast keine Termine mehr wahrnehmen. Ihre Gesundheit war zu sehr angegriffen und öffentliche Auftritte mussten auf ein Minimum beschränkt werden. Die Nachfolge war geregelt, nicht zuletzt da die Geschäftsführung Kontinuität versprach, und die Aufgaben des Deutschen Müttergenesungswerkes waren vorgezeichnet. Die Ausgestaltung der Einrichtung konnte sie in guten Händen wissen, zumal sie bis zum April in regem Kontakt mit Antonie Nopitsch stand und mit dieser noch viele wichtige Anliegen in Briefen besprach.69 67 Persönliche Briefe Bundespräsident Prof. Heuss. Archiv der Elly-Heuss-KnappStiftung MGW. Alte Unterlagen. 68 Pressekonferenz über das Müttergenesungswerk am 29. April 1952 im Palais des Herrn Bundespräsidenten. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. 69 Briefe von Elly Heuss-Knapp. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Alte Unterlagen.

Etablierung der Müttergenesung in der bundesdeutschen Fürsorge  |

Abb. 11  Elly Heuss-Knapp und Theodor Heuss als höchste Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland 1951.

Das Deutsche Müttergenesungswerk hatte immer und hat immer noch einen ganzheitlich frauenspezifischen Ansatz. Die Gesundheitsmaßnahmen der Fürsorge orientierten sich in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg am Erwerbsstatus. Durch Elly Heuss-Knapp wurden Mütter in diese Maßnahmen eingebettet. Allerdings war es ihr zu Lebzeiten nicht mehr vergönnt, für die Müttererholung finanzielle Zuschüsse, geschweige denn die vollständige Übernahme der Kosten durch die Krankenkassen zu erleben. In den frühen 50er Jahren war allerdings zuerst die Verankerung des Deutschen Müttergenesungswerkes im sich neu entwickelnden deutschen Sozialsystem gefragt. Theodor Heuss half hier bei der Etablierung in staatlichen und privaten Institutionen und in der Sozialhilfegesetzgebung.70 Das Deutsche Müttergenesungswerk pflegte bereits in den 50er Jahren die Erinnerung an die in der Bevölkerung überaus beliebte Gründerin. So wurde der Name „Elly Heuss-Knapp“ untrennbar mit der Stiftung verbunden.71 Die 70 Briefwechsel mit dem Kuratorium und mit politischen Entscheidungsträgern. Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung MGW. Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. 71 Die Vielzahl an Kondolenzschreiben und Beileidstelegrammen deuten ebenso auf die große Beliebtheit von Elly Heuss-Knapp wie die bis in die 60er Jahre reichen-

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repräsentativen Aufgaben übernahmen nun die neue Vorsitzende des Kuratoriums, Helene Weber, und der Bundespräsident. Mit Hilfe dieser beiden Persönlichkeiten konnte die Müttergenesung ausgebaut und organisatorisch immer stärker in die bundesdeutsche Wohltätigkeit integriert und mit dieser verflochten werden. Allerdings bedurfte es noch langer Anstrengungen, bis auch finanziell eine endgültige Absicherung erreicht war. Erst nach mehreren Jahrzehnten des Bestehens des Müttergenesungswerks wurde 1989 die Mütter- und Kindervorsorge im Sozialgesetzbuch verankert.72 Damit war die Müttererholung erstmals eine Regelleistung im Krankenversicherungswesen. Allerdings konnten die Krankenkassen den Regelsatz bestimmen, was dazu führte, dass diese die Kosten der Müttererholung nicht annähernd abdeckten. 2002 wurden dann erstmals auch Väter einbezogen. Mit einer Gesetzesänderung im selben Jahr wurde schließlich die Vollfinanzierung durch die Krankenkassen erreicht, ein lange gehegter Wunsch. In Folge der Gesundheitsreform 2007 entstand schließlich ein neuer Rechtsstatus. Die Müttergenesung ist seitdem eine Pflichtleistung der Krankenkassen, was die Stärkung der Rechte der Frauen bewirken wird, da sie nun Anspruch auf die Leistungen haben. Die Schwerpunkte der Stiftung haben sich kaum geändert. Die Mütterhäuser – heute wird nicht mehr von „Heimen“ gesprochen – werden bereits seit den frühen 50er Jahren einer Qualitätsprüfung unterzogen.73 Formalisiert wurde diese jedoch erst in den 90er Jahren. Sammlungen werden zwar nach wie vor veranstaltet, doch hier ist in den letzten zwanzig Jahren ein massiver Rückgang bei der Sammelbereitschaft und auch der Spendenbereitschaft festzustellen. Die Verwendungsnachweise der bei Sammlungen erzielten Einnahmen müssen zwar dem Deutschen Müttergenesungswerk gemeldet werden, die Einnahmen bleiben jedoch vor Ort. Die verschiedenen Anlageformen des erhöhten Stiftungsvermögens erwirtschaften heute einen großen Teil der

den Briefe vieler Mütter, in denen die Gründerin des Müttergenesungswerkes als warmherzige und unvergessene Frau beschrieben wurde. Archiv der Elly-HeussKnapp-Stiftung MGW. Alte Unterlagen, MGW 1949–1952. Briefwechsel und Geschichte des MGW II–VI. 72 §§ 24 und 441 des Deutschen Sozialgesetzbuches. 73 2005 waren 94 Einrichtungen vom Müttergenesungswerk anerkannt: 84 Mutterund Kind Einrichtungen und 10 Müttereinrichtungen. Jahresbericht 2005 der Elly Heuss-Knapp-Stiftung Müttergenesungswerk, hg. von der Elly Heuss-KnappStiftung, Deutsches Müttergenesungswerk, Berlin 2006.

Etablierung der Müttergenesung in der bundesdeutschen Fürsorge  |

Einnahmen, dennoch bleiben die Sammlungen und Direktspenden die größten Bilanzposten.74 Bis in die 90er Jahre war immer die Gattin des Bundespräsidenten gleichzeitig Kuratoriumsvorsitzende. Seitdem übernimmt die Frau des Bundespräsidenten zumindest die Schirmherrschaft. Das Deutsche Müttergenesungswerk hat sich als die einzige soziale Einrichtung etabliert, deren Schirmherrschaft sofort nach Amtsantritt von allen Ehefrauen der bisherigen Deutschen Bundespräsidenten übernommen wurde.

74 2005 wurden 44,1% der Erträge aus Sammlungen und 22,9% aus Direktspenden erzielt. Insgesamt betrugen die Erträge 2.344.418,31 €. Jahresbericht 2005 der Elly Heuss-Knapp-Stiftung Müttergenesungswerk., hg. von der Elly HeussKnapp-Stiftung, Deutsches Müttergenesungswerk, Berlin 2006.

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Schlussbetrachtung

Elly Heuss-Knapp stammte aus einem bildungsbürgerlichen Haus. Im Umkreis ihres Vaters gelangte sie in Kontakt mit führenden Persönlichkeiten aus dem liberalen und wirtschaftswissenschaftlichen Milieu des Deutschen Kaiserreiches. Diese zahlenmäßig relativ kleine Schicht entwickelte auch ein Sensorium für sozialpolitische Probleme Ende des 19. Jahrhunderts. Eine glückliche Kindheit und Jugend unterstützte ihren Sinn für die Nöte großer Teile der Bevölkerung und ließ den Wunsch aufleben, sich aktiv für Verbesserungen der Lebensbedingungen der Schwächsten einzusetzen. Auf kommunaler Ebene engagierte sich die junge, liberale Demokratin bereits zu einer Zeit, als die großen Aufgaben der Fürsorge und Wohltätigkeit noch nicht im Bewusstsein der politischen Führungsschicht Deutschlands verankert waren. Die Erfahrungen mit der praktischen Fürsorge in ihrer Heimatstadt Straßburg, ihre sozialpolitische Prägung durch Persönlichkeiten wie Friedrich Naumann und ein tiefer, an Albert Schweitzer orientierter religiöser Glaube formten ihren Charakter. Dies sind die Kernelemente für ihr ungeheures Engagement, das sie auch in Kriegszeiten, während wirtschaftlich katastrophaler Zustände und nach persönlichen Schicksalsschlägen entwickeln konnte. Ihr Organisationstalent gipfelte bereits im Ersten Weltkrieg in einer mehrere hundert Frauen beschäftigenden Unternehmung. Viele Artikel und Aufsätze führten in der Weimarer Republik ihr publizistisches Wirken noch stärker in Richtung Sozialpolitik. Aber auch ihre Lehrtätigkeiten in kirchlichen Institutionen unterstützten diesen eingeschlagenen Weg. Unterbrochen von dem Zwang mit ihrer Tätigkeit in der Werbung das überlebensnotwendige Geld für die Familie zu verdienen, widmete sie sich unverdrossen auch nach dem Zweiten Weltkrieg wieder sozialpolitischen Themen. Als Abgeordnete in Württemberg-Baden deuteten sich erneut ihre thematischen Schwerpunkte an, doch erst als sie Antonie Nopitsch mit ihren Bayerischen Wohlfahrtspflegerinnen kennen lernte und sich als Ehefrau des Deutschen Bundespräsidenten vollständig sozialpolitischen Fragen widmen konnte, erkannte sie ihr Lebenswerk, richtete sie ihre ganze Kraft auf dieses Projekt und bereitete diesem sehr zielstrebig den Weg: dem Deutschen Müttergenesungswerk. Die Entscheidungen von Elly Heuss-Knapp nach 1945/49 sind sehr deutlich Konsequenzen ihres mit innerer Festigkeit aus christlichen Werten und bürgerlichen Normen geführten Lebens. Nur ein ausgeprägter, sozialpolitisch sensibilisierter Charakter mit organisatorischen Fähigkeiten und

Schlussbetrachtung

einem Gespür für die Notlagen der Menschen konnte eine Institution wie das Deutsche Müttergenesungswerk erfolgreich ins Leben rufen. Dies war Elly Heuss-Knapp zweifellos.

Abbildungsrechte Die Abbildungsrechte für alle Abbildungen im Text und auf dem Umschlag liegen bei der Familie Heuss in Basel.

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Quellen- und Literaturverzeichnis

Alle schriftlichen Zeugnisse und wissenschaftlichen Abhandlungen von bedeutenden Persönlichkeiten für Elly Heuss-Knapp, die zu ihren Lebzeiten publiziert wurden, sind unter „4. Zeitgenössische Schriften“ aufgeführt. Quellenbände, aus denen lediglich wissenschaftliche Einführungs- oder Begleittexte zu Rate gezogen worden sind, sind unter „5. Literatur“ aufgeführt.

1. Ungedruckte Quellen Archiv der Elly-Heuss-Knapp-Stiftung Deutsches Müttergenesungswerk (MGW) Alte Unterlagen Elly Heuss-Knapp/Helene Weber/Antonie Nopitsch Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss Elly Heuss-Knapp/Theodor Heuss. Historisches Geschichte des MGW I Geschichte des MGW I/1 Geschichte des MGW II Geschichte des MGW III Geschichte des MGW IV Geschichte des MGW V Geschichte des MGW VI Geschichte des MGW VII MGW Allgemeines MGW I MGW 1949–1952. Briefwechsel Familienarchiv der Familie Heuss in Basel Briefwechsel von Elly Heuss-Knapp mit Ernst Ludwig Heuss Briefwechsel von Elly Heuss-Knapp mit Georg Friedrich Knapp Briefwechsel von Elly Heuss-Knapp mit Gertrud Stettiner-Fuhrmann Briefwechsel von Elly Heuss-Knapp mit Luise Bresslau Briefwechsel von Elly Heuss-Knapp mit Lujo Brentano Briefwechsel von Elly Heuss-Knapp mit Margarethe Vater Briefwechsel von Elly Heuss-Knapp mit Sissi Brentano Briefwechsel von Elly Heuss-Knapp mit Toni Stolper Diverse Korrespondenzen (div. Korresp.) Kolleghefte Landtag I/Landtag II Manuskript über die Jugendfreundschaft von Luise Bresslau-Hoff zu Elly Heuss-Knapp. Theodor Heuss in treuer Verehrung und Freundschaft im März 1953 gewidmet. Manuskripte Elly Heuss-Knapp „Hauspostille“ Rundbriefe

Gedruckte Quellen  |

„Zusammenstellung“ 1. Tagebuch 2. Tagebuch 3. Tagebuch 4. Tagebuch 5. Tagebuch Preußisches Staatsarchiv, Berlin Nachlass (NL) Schmoller 130a

2. Gedruckte Quellen Born, Erich/Henning, Hansjoachim/Tennstedt, Florian (Hrsg.), Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867 bis 1914, I. Abteilung: Von der Reichsgründungszeit bis zur kaiserlichen Sozialbotschaft (1867–1881), Bd. 2: Von der Haftpflichtgesetzgebung zur Ersten Unfallversicherungsvorlage, bearb. von Florian Tennstedt und Heidi Winter, Gustav Fischer Verlag, Stuttgart u.a. 1993. Die Verfassung des Deutschen Reiches (Weimarer Verfassung) vom 11.8.1919, in: Horst Hildebrandt (Hrsg.), Die deutschen Verfassungen des 19. und 20. Jahrhunderts, Schöningh Verlag/UTB, Paderborn u.a. 141992, S. 69–111. Hohorst, Gerd/Kocka, Jürgen/Ritter, Gerhard A. (Hrsg.), Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch II. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1870–1914, C.H. Beck Verlag, München 21978. Hubbard, William H., Familiengeschichte. Materialien zur deutschen Familie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, C.H. Beck Verlag, München 1983. Huber, Ernst Rudolf (Hrsg.), Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2: Deutsche Verfassungsdokumente 1851–1900, Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 31986. Jahresbericht 2005 der Elly Heuss-Knapp-Stiftung Müttergenesungswerk, hg. von der Elly Heuss-Knapp-Stiftung, Deutsches Müttergenesungswerk, Berlin 2006. Prinzing, Walter, Bibliographie der Schriften und Reden von Theodor Heuss und Elly Heuss-Knapp, in: Margret Boveri und Walter Prinzing, Theodor Heuss, hg. von der Württembergischen Bibliotheksgesellschaft, Friedrich Vorwerk Verlag, Stuttgart 1954, S. 95–265. Rassow, Peter/Tennstedt, Florian/Ayaß, Wolfgang/Born, Karl Erich/Henning, Hansjoachim (Hrsg.), Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1867–1914, Franz Steiner Verlag/Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Wiesbaden/ Darmstadt 1966ff. Schweitzer, Albert, Theologischer und philosophischer Briefwechsel 1900–1965, hg. von Werner Zager, C.H. Beck Verlag, München 2006. Schweitzer, Albert/Bresslau, Helene, Die Jahre vor Lambarene. Briefe 1902–1912, hg. von Rhena Schweitzer Miller und Gustav Woytt, C.H. Beck Verlag, München 1992. Streitz, Walter (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe B 37), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985.

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|  Quellen- und Literaturverzeichnis

Streitz, Walter (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Weimarer Republik (Freiherr-vom-SteinGedächtnisausgabe B 38), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1993. Streitz, Walter (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus (Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe B 39), 2 Bde., Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000. Titze, Hartmut, Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 1: Hochschulen, 2. Teil: Wachstum und Differenzierung der deutschen Universitäten 1830–1945, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1995. Verhandlungen des 1. und 2. Württembergisch-Badischen Landtags 1946–1952. Protokoll- und Beilagenbände, Stuttgart 1948–1952. Wegner, Konstanze/Albertin, Lothar (Hrsg.), Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918–1933 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien III,5), Droste Verlag, Düsseldorf 1980. Wengst, Udo (Hrsg.), Die Zeit der Besatzungszonen 1945–1949. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten. Dokumente (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd.2,2), Nomos Verlagsgesellschaft, Baden Baden 2001.

3. Veröffentlichungen von Elly Heuss-Knapp Die Schreibweise von Elly Heuss-Knapp/Heuß-Knapp, wie auch die mit arabischen oder römischen Zahlen angegebenen Bandangaben richten sich nach den Originalwerken. Frey, Ottilie (Pseudonym), Das Kreuz im Straßburger Münster, in: Jugendweg 5 (1924), S.  56. Heuss, Theodor/Knapp, Elly, So bist Du mir Heimat geworden. Eine Liebesgeschichte in Briefen aus dem Anfang des Jahrhunderts, hg. von Hermann Rudolph, DVA, Stuttgart 1986. Heuß-Knapp, Elly, Albert Schweitzer, in: Jugendweg 7 (1927), S. 183/184. Heuss-Knapp, Elly, Ausblick vom Münsterturm. Erlebtes aus dem Elsaß und dem Reich Berlin-Tempelhof 1934. Heuss-Knapp, Elly, Bürgerin zweier Welten. Ein Leben in Briefen und Aufzeichnungen, hg. von Margarethe Vater, Rainer Wunderlich Verlag, Tübingen 1961. Heuß-Knapp, Elly, Bürgerkunde und Volkswirtschaftslehre für Frauen, Voigtländer Verlag, Leipzig 1910/61923/81929. Heuß-Knapp, Elly, Das Kreuz in der Mitte, in: Jugendweg 5 (1924), S. 50. Heuß-Knapp, Elly, Der Dichter spricht. Rezension zu Joseph Wittig, Leben Jesu in Palästina, Schlesien und anderswo, in: Die christliche Welt 39 (1925), Sp.1120/1121. Heuß-Knapp, Elly, Die deutsche demokratische Partei und die Frauen. Ansprache von Elly Heuß-Knapp. Kandidatin zur deutschen Nationalversammlung, Boll, Berlin 1919. Heuss-Knapp, Elly, Die deutsche Frau in Meisterbildern aus vier Jahrhunderten, in: Deutsche Frauenbildnisse aus vier Jahrhunderten, hg. von Elly Heuss-Knapp, Berlin 1941.

Veröffentlichungen von Elly Heuss-Knapp  |

Heuß-Knapp, Elly, Die Familie als sittliche Erziehungsmacht, in: Die Frau 28 (1920/1921), S. 380. Heuss-Knapp, Elly, Die Frau in der sozialen Arbeit. Zur Ausstellung „Die Frau in Haus und Beruf“, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt vom 20. März 1912. Heuß-Knapp, Elly, Die Frauen und die Demokratie, in: Das demokratische Deutschland 1 (1918/19), S. 151–153. Heuß-Knapp, Elly, Die politische Frau. Wandlungen und Entwicklungen, in: Vossische Zeitung, 25. Dezember 1918. Heuß-Knapp, Elly, Die Politisierung der deutschen Frau, in: Deutsche Politik. Wochenschrift für Welt- und Kultur-Politik 3 (1918), S. 1555–1558. Heuss-Knapp, Elly, Die Reform der Hauswirtschaft, in: Der Deutsche Frauenkongreß. Berlin, 27.Februar bis 2.März 1912. Sämtliche Vorträge, hg. von Gertrud Bäumer, Verlag B.G. Teubner, Leipzig/Berlin 1912, S. 6–11. Heuß-Knapp, Elly, Die Wirtschaftskrisis und die Jugend, in: Jugendweg 5 (1924), S.  94/95. Heuß-Knapp, Elly, Ein Reiseerlebnis, in: Jugendweg 5 (1924), S. 122. Heuß-Knapp, Elly, Eine altmodische Tugend: Bescheidenheit, in: Jugendruf 8 (1930), S. 22–33. Heuss-Knapp, Elly, Erinnerungen an Miltenberg, in: Rudolf Vierengel, Miltenberg eine alte Stadt am Main, Hermann Emig, Amorbach 1960, S. 5–11. Heuß-Knapp, Elly, Erwerbslosigkeit, in: Weibliche Jugend 36 (1927), S. 83–86. Heuß-Knapp, Elly, Familie, in: Jugendweg 7 (1926), S. 85–87. Heuss-Knapp, Elly, Familie und Fürsorge. Zweite Internationale Konferenz für Soziale Arbeit in Frankfurt a.M., in: Stuttgarter Neues Tagblatt, 2. August 1932. Heuß-Knapp, Elly, Frauenpflichten im neuen Jahr, in: Mode und Haus 36, Nr.  7 (1919/1920). Heuß-Knapp, Elly, Gedanken über Familie und Volk, in: Frauen-Zeitung des Schwäbischen Merkur, Stuttgart, 20. Mai 1933. Heuß-Knapp, Elly, Hausfrauensorgen, in: Die Hilfe 36 (1930), S. 869/870. Heuß-Knapp, Elly, Hausgerät und Wohnkunst, in: Neue deutsche Frauenzeitschrift 4, Heft 10 (1928), S. 2/3. Heuss-Knapp, Elly, Heinrich Pestalozzi. Zu seinem 200. Geburtstag am 12. Januar 1946, in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 12. Januar 1946. Heuß-Knapp, Elly, Kindergeselligkeit, in: Der Schwabenspiegel 18 (1924), S. 28/29. Heuß-Knapp, Neue Lebensgestaltung, in: Neue Frauenkleidung und Frauenkultur 25 (1928/1929), S. 1–3. Heuß-Knapp, Elly, Neue Menschen und die harte Wirklichkeit des Lebens. Wirtschaftsleben und Arbeit, in: Bremen. Bericht von der 32. Jahrestagung des Evangelischen Verbandes für die weibliche Jugend Deutschlands vom 2.–7. Juni 1925 in Bremen, Burckhardthaus-Verlag, Berlin-Dahlem 1925, S. 17–25. Heuß-Knapp, Elly, Pfingsten, in: Die Hilfe 39 (1933), S. 289–291. Heuss-Knapp, Elly, Rat und Tat. Nachklang eines Lebens, hg. von Friedrich Kaufmann, Rainer Wunderlich Verlag/Hermann Leins, Tübingen 1964. Heuss-Knapp, Elly, Rezension zu: Braeker, Ulrich, Das Leben und die Abenteuer des armen Mannes im Tockenburg, in: Die Hilfe XVII (1911), S. 158. Heuss-Knapp, Elly, Rezension zu: Du Bois-Reymond, Lili, Die Insel im Sturm, in: Die Hilfe XVI (1910), S. 825.

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|  Quellen- und Literaturverzeichnis

Heuss-Knapp, Elly, Rezension zu: Jerusalem, Else, Der heilige Skarabäus, in: Die Hilfe XV (1909), S. 302. Heuß-Knapp, Elly, Rezension zu: Klipstein, Editha, Anna Linde, in: Die Hilfe 41 (1935), S. 550/551. Heuss-Knapp, Elly, Rezension zu: Reuter, Gabriele, Das Tränenhaus, in: Die Hilfe XIV (1908), S. 796. Heuß-Knapp, Elly, Rezension zu: Rohracher, Hubert, Kleine Einführung in die Charakterkunde, in: Die Hilfe 43 (1937), S. 120. Heuß-Knapp, Elly, Rezension zu: Solltmann, Idamarie, Heimkehr in die Wirklichkeit, in: Die Hilfe 41 (1935), S. 214/215. Heuß-Knapp, Elly, Rezension zu: Waser, Maria, Sinnbild des Lebens, in: Die Hilfe 43 (1937), S. 72. Heuss-Knapp, Elly, Schmale Wege, Rainer Wunderlich Verlag/Hermann Leins, Tübingen 91964 (Erstausgabe: 1946). Heuß-Knapp, Elly, Soziale Arbeit in unserer Zeit, in: Badische Landes-Zeitung Karlsruhe vom 25. November 1920, S. 6. Heuß-Knapp, Elly, Soziale Jugendgemeinschaften, in: Die Christliche Welt 43 (1920), Sp. 838/839. Heuß-Knapp, Elly, Vater Bodelschwingh, in: Der Pfarrerspiegel, hg. von Siegbert Stehmann, Eckart-Verlag, Berlin-Steglitz 1940, S. 342–346. Heuß-Knapp, Elly, Volksnot und Volkshilfe, in: Jugendweg 7 (1926), S. 121. Heuß-Knapp, Elly, Vom Spielen der Kinder, in: Der Schwabenspiegel 18 (1924), S. 3/4. Heuss-Knapp, Elly, Vorwort, in: Georg Friedrich Knapp, Eine Jugend, hg. von Elly Heuss-Knapp, DVA, Stuttgart 21947, S. 5–12. Heuss-Knapp, Elly (Hrsg.), Friedrich Rückert, Gedichte. Eine Auswahl, hg. von Elly Heuß-Knapp, Hans E. Günther Verlag, Stuttgart 1948. Knapp, Elly, Die Organisation der Öffentlichen Armenpflege in Straßburg i.E., in: Evangelisch-Sozial. Mitteilungen des Evangelisch-Sozialen Kongresses 16 (1907), S. 60–63. Knapp, Elly, Ein Blick auf die Entwicklung der öffentlichen Armenpflege, in: Patria 8 (1908), S. 45–60. Knapp, Elly, Kommunale Sozialpolitik, in: Soziale Praxis XV (1905/1906), Sp.677–681. Knapp, Elly, Rezension zu: Schleiermacher, Friedrich, Briefe, hg. von Martin Rade, Eugen Diederichs, Jena 1906, in: Die Hilfe XIII (1907), S. 145. Knapp, Elly, Zwei Fahrten in Holland, in: Die Hilfe XII/38 (1906), S. 15. Knapp, Georg Friedrich, Eine Jugend, hg. von Elly Heuss-Knapp, DVA, Stuttgart 21947.

4. Zeitgenössische Schriften und Erinnerungen Bäumer, Gertrud, Geschichte und Stand der Frauenbildung in Deutschland, in: Handbuch der Frauenbewegung, hg. von Helene Lange und Gertrud Bäumer, III. Teil: Der Stand der Frauenbildung in den Kulturländern, W. Moser Buchhandlung, Berlin 1902, S. 90–128.

Zeitgenössische Schriften und Erinnerungen  |

Baeumker, Clemens, in: Die Deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Zweiter Band, hg. von Raymund Schmidt, Verlag Felix Meiner, Leipzig 1921, S. 31–60. Delekat, Friedrich, Die Kirche Jesu Christi und der Staat, Furche-Verlag, Berlin 1933. Delekat, Friedrich, Johann Heinrich Pestalozzi. Der Mensch, der Philosoph und der Erzieher, Verlag Quelle & Meyer, Leipzig 21928. Dibelius, Otto, Das Jahrhundert der Kirche. Geschichte, Betrachtung, Umschau und Ziele, Furche-Verlag, Berlin 61928. Dibelius, Otto, Nachspiel. Eine Aussprache mit den Freunden und Kritikern des „Jahrhunderts der Kirche“, Furche-Verlag, Berlin 1928. Fischer, Emil, Erinnerungen aus der Straßburger Studienzeit. 1872 bis 1875, in: Adolf von Bayer, Gesammelte Werke, Erster Band, hg. von seinen Schülern und Freunden, Verlag Friedrich Vieweg und Sohn, Braunschweig 1905, S. XXI–XXVII. Gerstenmaier, Eugen, Streit und Friede hat seine Zeit. Ein Lebensbericht, Propyläen Verlag, Frankfurt am Main 1981. Gollwitzer, Helmut, Skizzen eines Lebens. Aus verstreuten Selbstzeugnissen gefunden und verbunden von Friedrich-Wilhelm Marquardt, Wolfgang Brinkel und Manfred Weber, Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1998. Guardini, Romano, Das Gute, das Gewissen und die Sammlung, Matthias-GrünewaldVerlag, Mainz 21931. Harnack, Adolf von, Das Wesen des Christentums, J.C. Hinrichs’sche Buchhandlung, Leipzig 21900/51901. Harnack, Adolf von, Protestantismus und Katholizismus in Deutschland (1907), in: Adolf von Harnack als Zeitgenosse, Teil 1: Der Theologe und Historiker, hg. von Kurt Nowak, Walter de Gruyter, Berlin/New York 1996, S. 391–415. Heuss, Theodor, Erinnerungen 1905–1933, Rainer Wunderlich Verlag Hermann Leins, Tübingen 1963. Heuß, Theodor, Friedrich Naumann und der christliche Sozialismus, in: Der Pfarrerspiegel, hg. von Siegbert Stehmann, Eckart-Verlag, Berlin-Steglitz 1940, S. 309–328. Knapp, Georg Friedrich, Grundherrschaft und Rittergut. Vorträge nebst biographischen Beilagen, Duncker & Humblot, Leipzig 1897. Loche, Alfred Erich, Straßburg und seine Universität. Ein Buch der Erinnerung, Lehmanns Verlag, München/Berlin 1939. Naumann, Friedrich, Asia. Athen – Konstantinopel – Baalbek – Damaskus – Nazaret – Jerusalem – Kairo – Neapel, Verlag der „Hilfe“, Berlin-Schöneberg 1899. Naumann, Friedrich, Beim heiligen Franziskus, in: Friedrich Naumann, Werke 1: Religiöse Schriften, hg. von Walter Uhsadel, Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1964, S. 695–704. Naumann, Friedrich, Demokratie und Kaisertum, in: Friedrich Naumann, Werke 2: Politische Schriften/Schriften zur Verfassungspolitik, hg. von Theodor Schieder, bearb. von Wolfgang Mommsen, Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1964, S. 1–351. Naumann, Friedrich, Gotteshilfe: Gesammelte Andachten aus dem Jahre 1895, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1896. Naumann, Friedrich, Jesus als Volksmann, in: Friedrich Naumann, Werke 1: Religiöse Schriften, hg. von Walter Uhsadel, Westdeutscher Verlag, Köln/Opladen 1964, S. 371– 388.

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|  Quellen- und Literaturverzeichnis

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Literatur  |

5. Literatur Adam, Uwe Dietrich, Politischer Liberalismus im deutschen Südwesten von 1945–1978, in: Die F.D.P. in Baden-Württemberg und ihre Geschichte (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 4), hg. von Paul Rothmund und Erhard R. Wiehn, Kohlhammer Verlag, Stuttgart u.a. 1979, S. 220–253. Albertin, Lothar, Einleitung. Deutsche Demokratische Partei/Deutsche Staatspartei, in: Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918–1933 (Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien III,5), hg. von Konstanze Wegner und Lothar Albertin, Droste Verlag, Düsseldorf 1980, S. IX–LI. Albertin, Lothar, Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 45), Droste Verlag, Düsseldorf 1972. Albisetti, James C., Professionalisierung von Frauen im Lehrberuf, in: Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung, Bd. 2: Vom Vormärz bis zur Gegenwart, hg. von Elke Kleinau und Claudia Opitz, Campus, Frankfurt/New York 1996, S. 189–200. Albisetti, James C., Schooling German Girls and Women. Secondary and Higher Education in the Nineteenth Century, Princeton University Press, Princeton 1988. Anderson, Pauline R., Gustav von Schmoller, in: Deutsche Historiker, hg. von HansUlrich Wehler, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1973, S. 147–173. André, Günter, SozialAmt. Eine historisch-systematische Einführung in seine Entwicklung, Beltz, Weinheim/Basel 1994. Ariès, Philippe, Geschichte der Kindheit, dtv, München 71985. Augustinus, Aurelius, Bekenntnisse, hg. von Wilhelm Thimme, dtv, München 92000. Aurich, Ernst, Geschichte der deutschen Universität Strassburg, in: Festschrift aus Anlass der feierlichen Wiederaufnahme der Lehr- und Forschungstätigkeit an der Reichsuniversität Strassburg, Hüneburg-Verlag, Strassburg 1941, S. 7–148. Bade, Klaus Jürgen, Transnationale Migration und Arbeitsmarkt im Kaiserreich. Vom Agrarstaat mit starker Industrie zum Industriestaat mit starker agrarischer Basis, in: Historische Arbeitsmarktforschung, hg. von Toni Pierenkemper und Richard Tilly, Göttingen 1982, S. 182–214. Badinter, Elisabeth, Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, dtv, München 21985. Baron, Rüdeger, Eine Profession wird gleichgeschaltet. Fürsorgeausbildung unter dem Nationalsozialismus, in: Soziale Arbeit und Faschismus, hg. von Hans-Uwe Otto und Heinz Sünker, Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 81–108. Baumgarten, Marita, Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 121), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1997. Benker, Gertrud, Bürgerliches Wohnen. Städtische Wohnkultur in Mitteleuropa von der Gotik bis zum Jugendstil, Callwey, München 1984. Bentley, James, Albert Schweitzer. Eine Biographie, Patmos, Düsseldorf 2001. Benz, Wolfgang, Die Gründung der Bundesrepublik. Von der Bizone zum souveränen Staat, dtv, München 41994. Berg, Christa, Familie, Kindheit, Jugend, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV: 1870–1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, hg. von Christa Berg, C.H. Beck Verlag, München 1991, S. 91–147.

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|  Quellen- und Literaturverzeichnis

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Literatur  |

Bruch, Rüdiger vom (Hrsg.), Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer, C.H. Beck Verlag, München 1985. Brüske, Gunda, Romano Guardini. „Wir aber haben das Denken Christi“, in: Theologen des 20. Jahrhunderts. Eine Einführung, hg. von Peter Neuner und Gunther Wenz, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, S. 90–108. Budde, Gunilla-Friederike, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914 (Bürgertum 6), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1994. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Bundesrachiv (Hrsg.), Grundlagen der Sozialpolitik (Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 1), Nomos Verlagsgesellschaft, Baden Baden 2001. Burke, Peter, Stärken und Schwächen der Mentalitätengeschichte, in: MentalitätenGeschichte, hg. von Ulrich Raulff, Wagenbach, Berlin 1989, S. 127–145. Burleigh, Michael, Tod und Erlösung. Euthanasie in Deutschland 1900–1945, Pendo, Zürich/München 2002. Campbell, Joan, Der Deutsche Werkbund 1907–1934, dtv, München 1989. Chickering, Roger, Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg, C.H. Beck Verlag, München 2002. Claßen, Manfred, Die staatliche Sozialpolitik von 1839 bis 1918. Eine Betrachtung unter dem Gesichtswinkel des Subsidiaritätsprinzips, Köln 1962. Claussen, Johann Hinrich, Adolf von Harnack, in: Klassiker der Theologie, Bd. 2: Von Richard Simon bis Karl Rahner, C.H. Beck Verlag, München 2005, S. 141–154. Conze, Werner, Friedrich Naumann. Grundlagen und Ansatz seiner Politik in der nationalsozialistischen Zeit (1895 bis 1903), in: Schicksalswege deutscher Vergangenheit. Beiträge zur geschichtlichen Deutung der letzten hundertfünfzig Jahre, hg. von Walther Hubatsch, Droste Verlag, Reprint, Düsseldorf 1993, S. 355–386. Conze, Werner/Kocka, Jürgen, Einleitung, in: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung im internationalen Vergleich (Industrielle Welt 38), hg. von Werner Conze und Jürgen Kocka, Klett-Cotta, Stuttgart 1985, S. 9–26. Cornelißen, Christoph, Deutsch-französische Wohnungspolitik in Straßburg 1886– 1929, in: Grenzstadt Straßburg. Stadtplanung, kommunale Wohnungspolitik und Öffentlichkeit 1870–1940, eingeleitet von Rainer Hudemann, Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 1997, S. 21–101. Coßmann, Hermann Josef, Die öffentliche und private Fürsorge in Elsaß-Lothringen, in: Das Reichsland Elsass-Lothringen 1871–1918, Bd. II/2: Verfassung und Verwaltung von Elsass-Lothringen 1871–1918, hg. im Auftrage des wissenschaftlichen Instituts der Elsass-Lothringer im Reich an der Universität Frankfurt von Georg Wolfram, Verlag für Sozialpolitik, Wirtschaft und Statistik, Berlin 1937, S. 231–287. Dammer, Susanna, Kinder, Küche, Kriegsarbeit – Die Schulung der Frauen durch die NS-Frauenschaft, in: Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 215–245. Daniel, Ute, Der Krieg der Frauen 1914–1918. Zur Innenansicht des Ersten Weltkriegs in Deutschland, in: „Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch...“ Erlebnis und Wir-

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|  Quellen- und Literaturverzeichnis

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Literatur  |

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229

Register

Personenregister Alice, Pfarrerstochter 68 Augustinus von Hippo 129 Berlepsch, Hans Hermann Freiherr von 97 Bismarck, Otto von 23, 46f., 50, 54 Bodelschwingh, Friedrich 150, 159 Brentano, Lujo 30, 52, 58, 67, 169 Brentano, Sissi 169 Bresslau, Harry 85 Bresslau-Schweitzer, Helene 74, 85f., 88 Bucher, Dr. 115 Burke, Edmund 13 Christus, Jesus 81–83, 85, 87–92, 94, 130, 134, 145f. Delbrück, Hans 77, 108 Delekat, Friedrich 128, 141, 144–146, 151, 159 Dibelius, Otto 127, 142, 144f., 148, 152 Ehard, Anna Eleonore 179 Ehard, Hans 179 Franziskus von Assisi 80 Geertz, Clifford 11 Geiger, Agnes 34 Geiger, Hermann 149 Gerstenmaier, Eugen 160 Guardini, Romano 151f. Haas, Fritz 86 Harnack, Adolf von 77, 89–93, 108, 144 Haug, Gerda 20 Heinemann, Gustav 184 Heuss, Ernst Ludwig 64, 108f., 113, 122, 127f., 130, 136, 143

Heuss, Theodor 19, 22, 71, 94–96, 107– 110, 117, 126f., 142, 149f., 157, 160–163, 166, 170, 174, 178, 180, 188, 196f. Hoover, Herbert 165f. Jüngling, Kirsten 20 Jürgens, Lotte 24, 34–36, 63, 67 Keil, Wilhelm 170 Knapp, Elisabeth Karoline (Tante „Lella“) 24, 64 Knapp, Friedrich Ludwig 63–66, 72 Knapp, Georg Friedrich 18, 21, 23f., 26f., 30, 33f., 50, 54–63, 65–67, 69, 72, 74–76, 95–97, 107, 109, 113, 119f., 130, 140, 159, 200 Knapp, Johann Friedrich 65 Knapp, Lydia, geb. von Karganow 23f., 26, 34, 36, 38, 62f., 113, 140 Krey, Ursula 20 Leoni, Walter 74 Lesser-Knapp, Marianne 24, 26, 33–35, 61, 64–68, 85f., 142 Liebig, Justus von 65 Luther, Martin 102, 145 Maier, Reinhold 163 Marx, Dr. 179 Naumann, Friedrich 14, 17, 69, 74–85, 87f., 94, 97, 108, 126, 144, 150, 200 Nopitsch, Antonie 176f., 180f., 183, 185–189, 195f., 200 Oberlin, Johann Friedrich 175 Owen, Robert 175

Institutionen, Vereins- und Ortsregister  |

Pestalozzi, Johann Heinrich 145, 159, 175 Riehl, Wilhelm Heinrich von 79 Roßbeck, Brigitte 20 Rückert, Friedrich 159, 174 Salomon, Alice 104f., 127, 131, 143 Schäffle, Albert 52 Schmoller, Gustav 27, 30, 52–58, 61f., 67 Schönberg, Gustav 52 Schwander, Rudolf 69–71, 101 Schweitzer, Albert 14, 17, 74, 86–94, 144, 200 Sombart, Werner 55f., 76 Stolper, Gustav 149, 166

Stolper, Toni 149, 156, 166, 187 Truman, Harry S. 165 Vinzenz von Paul 175 Wagner, Adolph 52f. Weber, Helene 195, 198 Weber, Marianne 109f., 137 Weber, Max 55f., 76f., 109f., 126 Werner, Gustav Albert 160 Wilhelm II., Deutscher Kaiser 23, 47, 57, 59, 120 Ziebill, Frau 179 Ziebill, Otto 179

Institutionen, Vereins- und Ortsregister Alliierter Kontrollrat 167 Arbeiterwohlfahrt 180, 186, 190 Bad Godesberg 183, 187 Baden Baden 63 Badenweiler 108, 127, 187, 190, 194 Berlin 104f., 108–111, 116–118, 121, 127f., 131, 142, 144, 180 – Burckhardt-Haus 127f., 136, 138, 156 – Pestalozzi-Fröbel-Haus 127f., 131, 136 – Soziale Frauenschule 127, 131, 136 – Zum Heilsbronnen 127, 144 Bonn 170, 187, 190 Braunschweig 63 Bremen 134 Bund Deutscher Mädel (BDM) 113, 153 Caritas 175, 182 Christlich Demokratische Union (CDU) 161f., 172, 181 Darmstadt 119, 141

Demokratische Volkspartei (DVP) 161– 163 Deutsche Demokratische Partei (DDP) 120–123, 125f., 142, 146f., 161 Deutsche Nationalversammlung/Weimarer Nationalversammlung 112, 122f. Deutsche Staatspartei 146 Deutsche Volkspartei (DVP) 120 Deutscher Frauenkongress 105 Deutscher Krankenkassentag 194 Deutscher Städtetag 179, 182, 184, 191 Deutscher Werkbund 117, 137 Deutsches Müttergenesungswerk 9–11, 13, 15–18, 21f., 111, 174, 177–201 – Elly Heuss-Knapp Stiftung Deutsches Müttergenesungswerk 183– 186, 193, 195, 197f. Evangelisch-Sozialer Kongress 97 Evangelischer Reichsverband weiblicher Jugend 129, 134 Frauenvereine/Frauenverbände 103, 112, 116, 121, 155, 188

231

232

|  Register

– Bund Deutscher Frauenvereine 115, 124 – Evangelische Frauenarbeit 176 – Kirchlicher Frauendienst 141 – Nationaler Frauendienst 115 Freiburg 104 Freiwilliger Arbeitsdienst für Frauen (FAD) 154f. Gesellschaft für Soziale Reform 97 Grenoble 61, 67, 80 Hamburg 63 Hausfrauenvereine 106 Heidelberg 142, 157 Heilbronn 105, 109, 116–118, 131, 180 Heilsarmee 132f. Jungdeutsche 146 Konsumvereine 106 Lahr 105 Leipzig 26, 57f. – Statistisches Büro 26 Mannheim 105, 137 Miltenberg am Main 34, 63–65, 72f. Nationalsozialer Verein 78, 84 Nürnberg 102, 175f., 178f. Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) 176 Oberste Heeresleitung 119 Office of Military Government for Germany, United States (OMGUS) 160

Palästina 81 Paritätischer Wohlfahrtsverband 180, 186 Rotes Kreuz 96, 115–117, 180, 186f., 190 Sozialdemokratie (SPD) 46, 120f., 162 Straßburg 18, 23f., 26, 57–63, 68–70, 73f., 86, 93, 95, 97–102, 107, 109, 111, 119, 126, 180, 200 – Fortbildungsschule 69, 93 – Kaiser-Wilhelm-Universität 23, 57–59, 85, 95f., 107, 119 – Lindnersche Höhere Mädchenschule 86 – Münster 23, 64, 72, 129 Stein 176, 178f. Stuttgart 158, 166 Tübingen 105 Verband deutscher Rentenversicherungsträger 182 Verband sozialer Jugendgemeinschaften 131, 135f. Verein für Socialpolitik 51–57, 59, 77, 97 Vereinigte Staaten von Amerika 25, 160, 163–168, 178 Weimarer Reichsverfassung 124 Wohlfahrtsverbände 180, 183f., 186, 189f., 194 Wohltätigkeitsvereine 37, 101f., 191 – Deutscher Verein für Armenpflege und Wohltätigkeit 102 Zentrum 46, 51, 120, 123, 161

Sachregister Akademiker 12, 14, 25f., 36, 51, 57f., 85, 95 Angestellte 48, 167 Arbeiter 28, 44–50, 55, 98–100, 167

– Arbeiterbewegung 84 – Arbeiterschutz 45–47, 49, 51, 54f., 104 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 112, 116–118, 200

Sachregister  |

Armenpflege 69–74, 86, 95f., 100–103, 115, 125, 175 Aufklärung 89, 92 Bevölkerungsentwicklung 26–28 – Migration 26f. Bildung 79f., 92f., 102, 111f., 113, 151f., 168 Bürgertum 25, 30, 32–37, 45 – Bildungsbürgertum 25f., 29f., 33, 36, 85, 95, 120, 200 – Familienideal 33–37 Care-Pakete 165 Demut 80f., 91, 139 Die Frau in Haus und Beruf-Ausstellung 111 Ernährungslage 163, 165–167 Französische Revolution 37 Frauenbewegung 40, 104f. – Bürgerliche 37, 39, 83, 107, 114, 118, 122f., 136, 154f. Frauenvereine 37, 103–106, 115f., 121, 124, 154f. Frauenwahlrecht 112f., 121–123 Gewerkschaften 50, 52, 99, 104, 154 Glauben 34, 72, 74, 79f., 85, 90–93, 121f., 129–132, 134, 139, 143, 145f., 150f., 173f., 200 Heimarbeit-Ausstellung 104f. Hoover-Speisung 165f. Hyperinflation 96, 133, 140 Jugendbewegung 32, 40, 43, 85, 115, 127, 135, 139, 151 Jugendgruppen 117, 131–133, 135, 141 Jugendmythos 42f. Kathedersozialismus 52–54 Katholizismus 58, 73 Kernfamilie 32–34

Kindheit 38–41, 61–66, 200 Konfessionsschule 127, 181 Konfirmation 68, 72, 113, 127f., 130, 143 Kulturkampf 51 Landtagstätigkeit 163–171, 173, 200 Leben Jesu 81, 83, 85, 87–91, 130 Lebensverhältnisse 25, 27–32 Lehrtätigkeit 68f., 72f., 93, 127f., 131, 136, 141, 151, 200 Liberalismus 14, 18, 45, 69, 120, 122, 126 – Sozialer Liberalismus 75–78, 80–82, 84 – Wirtschaftsliberalismus 52f. Mädchenbildung 38–42 Mädchenerziehung 153 Marshallplan 163 Müttererholung 176–190, 192–194, 196f., 200 Nationalismus 83, 114 Naumannkreis 69, 84, 94, 108 Protestantismus 58, 73 Radlclub 32f., 85–87 Reformation 92 Religion 15, 17f., 28, 34, 40, 43, 51, 68, 71, 73f., 77–83, 85, 88, 90–94, 102, 108, 113, 121f., 126–131, 134, 137, 143–147, 150, 152, 159, 170, 173f., 176, 200 Sammlungen 186, 188–193, 198f. Sexualität 39f. Sozialismus 52f., 75f., 84, 121, 123, 127, 150, 175, 187 Sozialreform, bürgerliche 45f., 51–56, 97, 124f., 140, 142, 151 Sozialversicherung 44–50, 167 Volksgemeinschaft 73, 129, 145f., 156 Volkswirtschaftslehre 53, 58, 82f., 96, 104f., 118

233

234

|  Register

Währungsreform 163 Weltwirtschaftskrise 128, 136, 140 Werbung 15, 36, 114, 142, 149f., 156, 200

Wohlfahrtspflege 69–71, 74, 125, 132f., 138, 140, 143, 156, 175, 200 – Straßburger System 69–71, 96, 107, 111

Gudrun Wedel

AutobioGr Aphien von Fr Auen ein lexikon

Das Lexikon bietet erstmals und auf breiter Basis Informationen zu mehr als 2.000 im 19. Jahrhundert geborenen Frauen aus dem deutschsprachigen Raum, die sich mit ihren publizierten autobiographischen Schriften der Öffentlichkeit präsentierten. Es gibt Auskunft über das Sozialprofil der Verfasserinnen, die Entstehungskontexte und Themen ihrer Autobiographien, die rezeptions­ wirksame Ausstattung dieser Texte für die Publikation, deren Publikations­ geschichte sowie ihre mediale Vielfalt und Reichweite. „Wer dieses umfangreiche Kompendium heranzieht, hat einen Meilenstein der Autobiographie­ und Selbstzeugnisforschung in der Hand.“ Sehepunkte „Wedels Lexikon ist eine Pionierarbeit, die [...] Wissenschaftler/innen, die zu biographischen oder geschlechtergeschichtlichen Themen arbeiten, zur Anschaffung empfohlen sei.“ H-Soz-u-Kult 2010. XIV, 1286 S. Gb. 170 X 240 mm. ISbN 978-3-412-20585-0

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Angelik A SchASer

helene l Ange und gertrud Bäumer eine politiSche leBenSgemeinSchAft (l‘homme Schriften, BAnd 6)

Helene Lange (1848–1930) und Gertrud Bäumer (1873–1954) waren das wohl bekannteste Paar der deutschen Frauenbewegung. Ihr »fraulicher Lebensbund« währte von 1899 bis zu Langes Tod 1930. Beide begannen ihre berufliche Laufbahn als Lehrerinnen und zählten zu den ersten Berufspolitikerinnen der Weimarer Republik. Die Autorin geht einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft nach, an der exemplarisch die Bildungschancen, die Handlungsspielräume und das politische Wirken von Frauen des Bürgertums untersucht werden. Das Buch wird hier in einer aktualisierten Neuauflage vorgelegt. 2., durchgesehene und aktualisierte auflage 2010. 424 s. 10 s/w-abb. auf 8 taf. br. 170 x 240 mm. isbn 978-3-412-09100-2

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LiseLotte Douschan

anton Benya Österreichischer Gewerkschafts- unD nationaLr atspr äsiDent Mit eineM Vorwort Von BunDespr äsiDent Dr. heinz fischer

Anton Benya (1912–2001) gilt als eine der wichtigsten und bedeutendsten Persönlichkeiten der Zweiten Republik in Österreich. Seine Biografie umfasst markante Stationen in seinem politischen Leben und deren historische Bedeutung. Er stieg an die Spitze des ÖGB auf, dessen Präsident er von 1963 bis 1987 war. Durch sein Verhandlungsgeschick hatte er entscheidenden Anteil am Zustandekommen der Sozialpartnerschaft. Wesentlichen Einfluss übte er auf die Regierungspolitik Bruno Kreiskys aus. Als der am längsten dienende Erste Nationalratspräsident Österreichs von 1971 bis 1986 war er eine der Symbolfiguren der österreichischen Sozialdemokratie. In diesem zeithistorischen Portrait wird die Person Anton Benyas vor dem Hintergrund der Entwicklungslinien der Zweiten Republik reflektiert. Die Biografie basiert auf bisher unveröffentlichten Quellen aus Benyas Privatbesitz. 2011. 328 S. 26 S/w-Abb. Gb. mit SU. 155 x 235 mm. iSbN 978-3-205-78748-8

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ERNST HANISCH

DER GROSSE ILLUSIONIST OTTO BAUER (1881–1938)

Otto Bauers Traum vom Sozialismus ist zerplatzt, aber die Frage nach einer gerechteren Gesellschaft ist aktueller denn je. Was können wir heute aus seiner Biografie lernen? Er verband höchste Intelligenz, eine scharfe Analysefähigkeit auf vielen Gebieten mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Menschheit. Er war kein Zyniker der Macht, sondern ein bescheidener, eher schüchterner Mensch. In kritischen Situationen hatte er Scheu vor der Macht. Als brillanter Rhetoriker und Theoretiker aber prägte der führende Sozialdemokrat die Geschichte der österreichischen Ersten Republik maßgeblich. Licht- und Schattenseiten dieses Politikers und Menschen werden siebzig Jahre nach seinem Tod erstmals umfassend analysiert und kritisch bewertet. 2011. 478 S. GB. M. SU. 26 S/W-ABB. 155 X 235 MM. ISBN 978-3-205-78601-6

der autor : Ernst Hanisch, Professor für Neuere Österreichische Geschichte an der Universität Salzburg. Forschungsschwerpunkt: Gesellschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

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WOLF-DIETRICH GUTJAHR

„REVOLUTION MUSS SEIN“ KARL RADEK – DIE BIOGRAPHIE

Karl Radek (1885–1939), linksradikaler Journalist und brillanter Demagoge des Sowjetkommunismus, verstand sich als „Soldat der Weltrevolution“. Er wollte helfen, sie als „ehernes Muß“ der Geschichte zu vollstrecken. In der polnischen und deutschen Sozialdemokratie politisch sozialisiert, schloss er sich Lenin an, stellte sich in den Dienst der Oktoberrevolution und widmete sich der Revolutionierung Deutschlands und Chinas. Das Buch zeichnet seinen abenteuerlichen Lebensweg nach und geht detailliert auf Radeks politisches Wirken und publizistisches Œuvre ein. Als Spiritus rector und Propagandist des roten Terrors wirkte er höchst aktiv an der Errichtung der Sowjetdiktatur mit. Die Terrormaschine, die er zu schaffen half und der er zuletzt noch seine politischen Freunde auslieferte, hat ihn schließlich selbst vernichtet. In der Stalin-Ära aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt, wurde er zur „Unperson“. Sein Schicksal demonstriert exemplarisch die tragische Verstrickung eines Menschen in den politischen Totalitarismus als Phänomen der Moderne. 2012. 948 S. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-412-20725-0

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