Einführung in die Naturphilosophie [2 ed.] 3534236327, 9783534236329

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Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Danksagung
Notiz zur zweiten Auflage
I. Einleitung
1. Was ist Naturphilosophie?
2. Überblick über das Buch
3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen
II. Der philosophische Naturbegriff
1. Aristoteles
2. Descartes
3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen
III. Raum, Zeit und Materie
1. Newton und der Atomismus
2. Leibniz, Kraftpunkte und räumliche und zeitliche Relationen
3. Descartes, Spinoza und die Identität von Raum, Zeit und Materie
4. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen
IV. Die Philosophie der Relativitätstheorie
1. Von Raum und Zeit zur Raumzeit
a) Die physikalischen Grundlagen
b) Mögliche philosophische Konsequenzen der Vereinigung von Raum und Zeit
2. Raum, Zeit und Materie nach der Relativitätsphysik
a) Die Bedeutung der allgemeinen Relativitätstheorie
b) Die Raumzeit als Substanz im Unterschied zur Materie
c) Die Raumzeit als Relationen zwischen Materiellem
d) Der Super-Substantialismus
e) Die heutige Situation
3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen
V. Die Herausforderung der Quantenphysik
1. Vier Prinzipien der klassischen Physik und Naturphilosophie
2. Zustandsverschränkungen: das Kennzeichen der Quantentheorie
a) Inkompatible Eigenschaften
b) Verschränkte Zustände
c) Von der Quantenmechanik zur Quantenfeldtheorie
3. Bells Theorem
4. Alternativen zur Quantentheorie?
5. Der Strukturenrealismus
6. Das Messproblem
7. Zeit und Zeitrichtung in der Quantenphysik
8. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen
VI. Kausalität und Naturgesetze
1. Die Hume'sche Metaphysik
a) Eigenschaften als reine Qualitäten
b) Naturgesetze als Theoreme des besten Systems
c) Kausalität als Regularität
2. Die kausale Theorie von Eigenschaften
a) Die Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit
b) Eigenschaften als Kräfte
3. Physik und Kausalität
a) Die Reichweite der Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit
b) Kausale Strukturen in der Physik
4. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen
VII. Philosophische Aspekte der Biologie
1. Die Philosophie der Evolutionsbiologie
2. Die Philosophie der klassischen und der molekularen Genetik
3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen
VIII. Universelle und spezielle Naturwissenschaft
1. Supervenienz und die Vollständigkeit der Physik
2. Ontologischer Reduktionismus
3. Theorien-Reduktion
a) Die klassische Konzeption (Nagel)
b) Verschiedene Klassifikationen und multiple Realisierbarkeit
c) Funktionale Reduktion
d) Von funktionaler Reduktion zu Theorien-Reduktion
4. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen
Literatur
Personenregister
Sachregister
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Einführung in die Naturphilosophie [2 ed.]
 3534236327, 9783534236329

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Einführungen Philosophie Die Reihe „Einführungen“ (Philosophie) soll vor allem den Studienanfängern Orientierung bieten. Auf dem neuesten Stand der Forschung werden die wesentlichen Theorien und Probleme aller Hauptgebiete der Philosophie dargestellt. Dabei geht es nicht um Philosophiegeschichte, sondern um das Philosophieren selbst. Nicht Namen und Epochen stehen im Vordergrund, sondern Argumente. Jeder Band steht für sich und ermöglicht einen systematischen Überblick über das jeweilige Gebiet. Die didaktische Aufbereitung (Zusammenfassungen, Übungsaufgaben, Literaturhinweise …), eine übersichtliche Gliederung und die gute Lesbarkeit machen die Bände zu einem hervorragenden Hilfsmittel für Studierende. Herausgeber: Dieter Schönecker, Stonehill College, Easton, MA Niko Strobach, Universität des Saarlandes Wissenschaftlicher Beirat: Rainer Enskat (Halle-Wittenberg), Roland Henke (Bonn), Otfried Höffe (Tübingen), Wolfgang Künne (Hamburg), Wolfgang Malzkorn (Bonn), Enno Rudolph (Luzern), Wolfgang Spohn (Konstanz), Ursula Wolf (Mannheim)

Michael Esfeld

Einführung in die Naturphilosophie 2. Auflage

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. 2., vollständig überarbeitete Auflage 2011 i 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt 1. Auflage 2002 Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-23632-9 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72027-9 eBook (epub): 978-3-534-72028-6

Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Notiz zur zweiten Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Was ist Naturphilosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überblick über das Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen

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9 9 10 11

II. Der philosophische Naturbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen

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13 13 15 17

III. Raum, Zeit und Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Newton und der Atomismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Leibniz, Kraftpunkte und räumliche und zeitliche Relationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Descartes, Spinoza und die Identität von Raum, Zeit und Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen

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47

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IV. Die Philosophie der Relativitätstheorie . . . . . . . . . . . . . 1. Von Raum und Zeit zur Raumzeit . . . . . . . . . . . . . . a) Die physikalischen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . b) Mögliche philosophische Konsequenzen der Vereinigung von Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . 2. Raum, Zeit und Materie nach der Relativitätsphysik . . . . a) Die Bedeutung der allgemeinen Relativitätstheorie . . . b) Die Raumzeit als Substanz im Unterschied zur Materie . c) Die Raumzeit als Relationen zwischen Materiellem . . . d) Der Super-Substantialismus . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die heutige Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen V. Die Herausforderung der Quantenphysik. . . . . . . . . . 1. Vier Prinzipien der klassischen Physik und Naturphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zustandsverschränkungen: das Kennzeichen der Quantentheorie . . . . . . . . . . a) Inkompatible Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . b) Verschränkte Zustände . . . . . . . . . . . . . . . . c) Von der Quantenmechanik zur Quantenfeldtheorie .

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Inhalt

3. Bells Theorem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Alternativen zur Quantentheorie? . . . . . . . . . . . . . . 5. Der Strukturenrealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Messproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zeit und Zeitrichtung in der Quantenphysik . . . . . . . . . 8. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen

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VI. Kausalität und Naturgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Hume’sche Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eigenschaften als reine Qualitäten . . . . . . . . . . . . b) Naturgesetze als Theoreme des besten Systems . . . . . c) Kausalität als Regularität . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die kausale Theorie von Eigenschaften . . . . . . . . . . . a) Die Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit b) Eigenschaften als Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Physik und Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Reichweite der Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kausale Strukturen in der Physik . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen

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84 84 84 86 89 92 92 94 99

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VII. Philosophische Aspekte der Biologie . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Philosophie der Evolutionsbiologie . . . . . . . . . . . 2. Die Philosophie der klassischen und der molekularen Genetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen

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VIII. Universelle und spezielle Naturwissenschaft . . . . . . . . . . . 1. Supervenienz und die Vollständigkeit der Physik . . . . . . . 2. Ontologischer Reduktionismus . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Theorien-Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die klassische Konzeption (Nagel) . . . . . . . . . . . . . b) Verschiedene Klassifikationen und multiple Realisierbarkeit c) Funktionale Reduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Von funktionaler Reduktion zu Theorien-Reduktion . . . . 4. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen .

120 120 125 130 130 131 133 135 141

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung Der vorliegende Text geht auf eine Vorlesung zurück, die ich im Sommersemester 2001 an der Universität zu Köln gehalten habe. Ich danke den Studierenden für Fragen und Diskussion. Vorarbeiten wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen eines Heisenberg-Stipendiums von September 2000 bis März 2001 gefördert. Niko Strobach bin ich für die Einladung, diese Einführung in die Naturphilosophie zu schreiben, und für die kritische Begleitung des gesamten Projektes dankbar. Bruno Kern von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft danke ich für die verlegerische Betreuung, meiner Hilfskraft Christian Sachse für die Korrektur der Druckvorlage und das Erstellen der Register. In den vorliegenden Text ist hilfreiche Kritik eingeflossen von Jürgen Audretsch, Daniela Bailer-Jones, Alois Griesmayr, Frank Hättich, Stephan Hartmann, Friedrich W. Hehl, Christian Heinicke, Gertrude Hirsch Hadorn, David Hyder, Ludger Jansen, Sabine Mayer-Patzel, Peter McLaughlin, Peter Mittelstaedt, Ulrich Müller-Herold, Siegfried Roth, Gregor Schiemann, Marcel Weber und Christian Zemlin. Köln, im April 2002

Michael Esfeld

Notiz zur zweiten Auflage Bei der Revision des Textes für die zweite Auflage habe ich mich an meinem Buch Philosophie des sciences. Une introduction orientiert (Lausanne: Preses polytechniques et universitaires romandes, 2. Auflage 2009). Ich danke der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die Gelegenheit einer zweiten Auflage und meinen Mitarbeitern Matthias Egg und Christian Sachse für Kontrolllektüren der Kapitel zur Philosophie der Physik und der Philosophie der Biologie. Lausanne, im Januar 2011

Michael Esfeld

I. Einleitung Dieses Kapitel bestimmt das Thema dieser Einführung. Es enthält einen Vorschlag, wie man die Naturphilosophie von anderen philosophischen Disziplinen abgrenzen kann. Ferner wird ein Überblick über den Inhalt des Buches gegeben.

1. Was ist Naturphilosophie? Dieses Buch soll einen Überblick über die Grundzüge der heutigen Naturphilosophie geben. Das Hauptthema der Naturphilosophie ist die Frage danach, was die Natur ist. Ausschließlich dieses Hauptthema wird in diesem Buch behandelt. Eine zeitgemäße Antwort auf diese Frage muss sich am Stand der Naturwissenschaften orientieren. Die Naturphilosophie ist aber keine populäre Darstellung von Ergebnissen der Naturwissenschaften. Das Ziel dieses Buches ist das Folgende: Es sollen die begrifflichen Werkzeuge der Philosophie eingesetzt werden, um die grundlegenden Züge des heutigen Erkenntnisstandes in den Naturwissenschaften in Hinblick auf eine Gesamtsicht der Natur auszuwerten und die philosophischen Konsequenzen einer solchen Gesamtsicht auszuloten. Dabei wird eine Reihe von Positionen zur Sprache kommen. Die eigene Akzentsetzung des Autors wird jedoch auch deutlich werden, insbesondere am Ende der Kapitel VI und VIII. Diese Akzentsetzung ist, wie in jedem Philosophiebuch, als Anregung zum kritischen Mitdenken über die behandelten Fragestellungen zu verstehen. Dasselbe gilt für die Fragen und Übungen am Ende eines jeden Kapitels: Sie sollen nicht in erster Linie Hilfestellung zum Lernen eines Stoffes, sondern Aufforderung zum eigenen Nachdenken über das Thema sein. Die Naturphilosophie als Frage danach, was die Natur ist, ist in der Nachbarschaft zu drei anderen philosophischen Disziplinen angesiedelt: der Wissenschaftstheorie, der Ontologie und der Philosophie der Technik. Man kann die Naturphilosophie auf folgende Weise von der Wissenschaftstheorie unterscheiden: Der Blick der Naturphilosophie ist nicht in erster Linie auf die wissenschaftlichen Theorien gerichtet im Sinne von deren logischer Analyse und deren Vergleich. Der Blick der Naturphilosophie ist auf den Gegenstand der naturwissenschaftlichen Theorien, die Natur, gerichtet. Wissenschaftliche Theorien werden in der Naturphilosophie in erster Linie unter dem Aspekt dessen betrachtet, was sie über die Natur aussagen. So verstanden behandelt die Naturphilosophie nicht die Frage danach, ob wissenschaftliche Theorien überhaupt so aufgenommen werden sollen, dass sie etwas über die Natur aussagen. Die Frage nach Realismus, Relativismus und Instrumentalismus in der Interpretation naturwissenschaftlicher Theorien wird daher in diesem Buch nicht thematisiert.

Gegenstand der Naturphilosophie

Naturphilosophie im philosophischen Kontext

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Einleitung

Die Naturphilosophie gehört gemäß dieser Bestimmung zu der philosophischen Disziplin der Ontologie, der Lehre vom Sein. Statt von „Ontologie“ kann man auch von „Metaphysik“ sprechen. Die Naturphilosophie ist die Ontologie oder Metaphysik eines bestimmten Bereichs, der Natur. Sie unterscheidet sich dadurch von der Ontologie oder der Metaphysik im Allgemeinen, dass es in ihr nicht um generelle Kategorien des Seins geht (vergleiche Aristoteles’ Bestimmung des Gegenstands dessen, was später „Metaphysik“ genannt wird, in Metaphysik Buch IV, Kapitel 1 bis 3 [1–1]). Das Thema sind diejenigen Begriffe, die auf dem heutigen Stand des Wissens erforderlich sind, um zu verstehen, was die Naturwissenschaften über die Natur aussagen. Insofern es um Erkenntnis als etwas, das sich argumentativ ausweisen lässt, geht, setzt die heutige Naturphilosophie voraus, dass Erkenntnis über die Natur nur mit Hilfe der Naturwissenschaften gewonnen werden kann. Hierin unterscheidet sich die zeitgenössische Naturphilosophie insbesondere von der Naturphilosophie der Romantik. Die heutige Naturphilosophie ist somit das Feld, auf dem sich die Philosophie und die Naturwissenschaften im Hinblick auf das Ziel begegnen, Erkenntnis von der Natur zu gewinnen.

2. Überblick über das Buch Aufbau des Buches

Das Buch gliedert sich grob in drei Teile: das philosophische Naturverständnis (Kapitel II und III), die Philosophie der Physik als der grundlegenden Naturwissenschaft (Kapitel IV und V) und die Reflexion über generelle Themen der Naturphilosophie wie Naturgesetze, Kausalität und die Einheit der Natur (Kapitel VI bis VIII). Dieses Buch setzt den Akzent auf eine Einführung in die generelle Naturphilosophie. Das heißt, der Schwerpunkt liegt auf Fragen nach den großen Zusammenhängen, wie der Frage nach dem Zusammenhang von Raum, Zeit und Materie (Kapitel IV), der Frage nach der Beschaffenheit der Materie (Kapitel V), der Frage nach Kausalität und Naturgesetzen (Kapitel VI) und der Frage nach der Einheit der Natur (Kapitel VIII). Fragen nach naturphilosophischen Problemen in speziellen Bereichen, wie zum Beispiel der Biologie, werden hingegen nur relativ kurz angesprochen (Kapitel VII). Der Überblick über den philosophischen Naturbegriff beginnt mit Aristoteles’ Abhandlung zur Physik. Die Bezugnahme auf die Antike ist als Hintergrund hilfreich, um die zentrale Problemstellung der neuzeitlichen Naturphilosophie zu verstehen. Erläutert wird diese Problemstellung anhand von Descartes’ Verständnis der Natur als Zusammenhang der Dinge, in die wir einerseits integriert sind und die uns andererseits als Objekte des Erkennens und der technischen Nutzbarmachung gegenüberstehen (Kapitel II). Die Naturphilosophie von Descartes bis Leibniz und Newton wird dann benutzt, um die drei wesentlichen Konzeptionen des Verhältnisses von Raum, Zeit und Materie einzuführen: Raum und Zeit als selbständige Seiende, in denen sich materielle Gegenstände befinden (Atomismus, Newton); die Rückführbarkeit von Raum und Zeit auf Relationen zwischen materiellen Gegenständen (Leibniz); die Identität von Materie und Raum in dem

Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen

Sinne, dass die materiellen Eigenschaften als Eigenschaften von Punkten oder Gebieten des Raumes verstanden werden (Descartes, Spinoza) (Kapitel III). Methodisch soll die Bezugnahme auf die Naturphilosophie von Descartes bis Leibniz und Newton zeigen, wie philosophische Konzeptionen – vorgestellt im Ausgang von historischen Texten – zum Verständnis der heutigen Physik eingesetzt werden können: Die Vereinigung von Raum und Zeit in der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie kann im Sinne von jeder der genannten drei Konzeptionen interpretiert werden. Die Relativitätstheorien legen uns mithin nicht ohne Weiteres auf eine bestimmte Sicht des Verhältnisses von Raum, Zeit und Materie fest (Kapitel IV). Die größte Herausforderung für die heutige Naturphilosophie ist die Quantenphysik. Die Darstellung in diesem Buch setzt drei Schwerpunkte: zum einen die Weise, wie die Quantenphysik uns von einer Ontologie voneinander unabhängiger Einzeldinge zu einer Naturphilosophie führt, die den Akzent auf bestimmte Relationen setzt, des Weiteren die Frage nach dem Zusammenhang von mikro- und makrophysikalischem Bereich anhand des Messproblems und schließlich die besondere Rolle der Zeit in der Quantenphysik (Kapitel V). Die folgenden drei Kapitel befassen sich mit dem Verhältnis von Physik und Einzelwissenschaften und damit mit der Frage nach der Einheit der Natur: Kapitel VI geht der Frage nach, was Naturgesetze und Kausalität sind, Kapitel VII ist philosophischen Problemen der Biologie gewidmet, und Kapitel VIII beschäftigt sich mit dem Übergang von der Physik als universeller Naturwissenschaft, deren Gesetze für alles in der Natur gelten, zu speziellen naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Biologie. Dieses Kapitel geht sowohl auf das Thema der Einheit und Vielfalt der Natur ein als auch auf das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen zueinander.

3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen Zusammenfassung Dieses Kapitel hat das Thema der Naturphilosophie eingegrenzt: Die Naturphilosophie ist im Kontext von Wissenschaftstheorie und Ontologie beziehungsweise Metaphysik angesiedelt. Im Ausgang von der begrifflichen Analyse und der Interpretation naturwissenschaftlicher Theorien kann man die Naturphilosophie als den Versuch ansehen, zu einer Ontologie oder Metaphysik der Natur zu gelangen. Es wurde ein Überblick über den Aufbau dieser Einführung in die Naturphilosophie gegeben.

Lektürehinweise – Siehe zu Bestimmungen des Gegenstandes einer heutigen Naturphilosophie [1–2], [1–3], [1–4], [1–5] und [1–6] sowie für eine auf den Informationsbegriff fokussierte Einführung [1–7]; für einen Gesamtüberblick ist der Lexikonartikel [1–8] empfehlenswert; speziell zur Philosophie der Physik siehe [1–9], [1–10] und [1–11].

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Einleitung

Fragen und Übungen – Wie kann das Verhältnis der Naturphilosophie zur Wissenschaftstheorie einerseits und zur Ontologie und Metaphysik andererseits bestimmt werden? – Was für argumentativ ausweisbare Möglichkeiten, Erkenntnis über die Natur zu gewinnen, gibt es und was folgt daraus für die Beziehung zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft?

II. Der philosophische Naturbegriff Das Kapitel stellt zwei zentrale philosophische Konzeptionen der Natur vor. Gemäß Aristoteles ist die Natur der Bereich dessen, was von selbst ist. Es gibt keinen Gegensatz zwischen Natur und Geist. Der wesentliche Unterschied besteht zwischen den Dingen der Natur und den Produkten der Technik. Nach Descartes ist die Natur ausschließlich durch Ausdehnung und Bewegung gekennzeichnet. Was in der Natur geschieht, unterliegt mathematischen Gesetzmäßigkeiten und kann daher im Prinzip berechnet werden. Es besteht einerseits ein Gegensatz zwischen Natur und Geist, andererseits sind wir als Denkende und Handelnde in die Natur integriert.

1. Aristoteles Das Wort „Natur“ wird in der heutigen Umgangssprache in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet. Wir sprechen von der Natur im Sinne des Zusammenhangs des Seienden in der Welt und insbesondere unserer Umwelt – zum Beispiel, wenn von Naturschutz die Rede ist oder wenn es um die Beziehung zwischen Natur und Geist geht. Und wir sprechen von der Natur einer Sache im Sinne dessen, was die wesentlichen Eigenschaften der betreffenden Sache sind, also was deren Identität ausmacht. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Bedeutungen? Gehen wir zum Ursprung des Begriffs der Natur zurück. „Natur“, griechisch „physis“, ist von dem Verb „phyein“ abgeleitet, das mit „hervorgebracht werden, wachsen“ übersetzt werden kann. Die Physis ist der Bereich dessen, was von selbst ist, indem es in sich selbst den Anfang von Veränderung und Bestand hat. Die Physis eines Dinges ist das, was dieses Ding von sich aus ist – was der ihm innewohnende Anfang von Veränderung und Bestand ist. Wir sehen, wie hier die beiden heutigen Bedeutungen des Wortes „Natur“ zusammenlaufen – Natur als das, was ein Ding an sich selbst ist, und Natur als der Zusammenhang der Dinge, die von sich aus sind. In der ersten systematisch ausgearbeiteten Naturphilosophie, der Physik des Aristoteles (384–322 v. Chr.) [2–1], wird dementsprechend dem Bereich der Natur als dem Bereich dessen, was von selbst ist, nicht der Bereich des Geistes gegenübergestellt, sondern der Bereich der Technik als der Bereich der Dinge, die von uns hervorgebracht werden (insbesondere Buch 2, Kapitel 1). Geist im Sinne geistigen Lebens – Wesen mit Wahrnehmungen, Gefühlen, Wünschen, Gedanken und Absichten – gehört zur Natur, weil es zu dem gehört, was von sich aus ist. Im Hintergrund dieser Position von Aristoteles steht ein viel weiteres Verständnis von Ursächlichkeit als das heute übliche. Aristoteles unterscheidet vier Arten von Ursachen: die Form (eidos) und die Materie (hylé) eines Din-

Bedeutung von „Natur“

Ursprung des Naturbegriffs

Vier Arten von Ursachen

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Der philosophische Naturbegriff

Gegensatz zwischen Natur und Technik

Suche nach Unveränderlichem

ges, den Ursprung einer Veränderung, insbesondere einer Bewegung, und das Ziel oder den Zweck (télos) einer Veränderung, insbesondere einer Bewegung ([2–1], Buch 2, Kapitel 3). Jedes Ding in der Natur hat eine Form. Die Form ist insofern etwas Geistiges (Intelligibles), als sie dasjenige ist, was die Seele eines denkenden Wesens von dem betreffenden Ding aufnimmt und über das die Seele dann als Begriff verfügt: Die Form des Steines zum Beispiel ist im Stein und als Begriff „Stein“ in der Seele ([2–2], Buch 3, Kapitel 4 bis 8, insbesondere 431b 21–432a 1). Auf dieser Grundlage besteht kein Gegensatz zwischen Natur und Geist, sondern ein mehr oder weniger kontinuierlicher Übergang von unbelebtem Materiellen über Pflanzen und Tiere zu denkenden Wesen. Aristoteles konzipiert seine Abhandlung Über die Seele [2–2] als eine biologische Schrift, und er versteht die Seele als die Form eines lebendigen Wesens ([2–2], Buch 2, Kapitel 1; das Problem, wie der vernünftige Seelenteil verstanden werden soll, klammere ich hier aus). Die Formen sind unentstanden und unvergänglich in dem Sinne, dass es immer Exemplare jeder Art gibt. Ferner hat jede natürliche Veränderung nicht nur eine Ursache im Sinne des bewirkenden Ursprungs, sondern auch ein Ziel oder einen Zweck. Das Handeln von Lebewesen aufgrund von Wünschen und Begierden einschließlich des absichtsvollen Handelns denkender Wesen fügt sich auf diese Weise in die Natur ein – und zwar in der Weise, dass sich das neuzeitliche Problem, wie Denken und absichtsvolles Handeln in die Natur integriert sein könnte, gar nicht stellt. Aristoteles’ Hauptargument dafür, von Zweckursachen auch im Bereich des Unbelebten zu sprechen, ist, dass sich auch dort Regelmäßigkeit findet. Aristoteles denkt Regelmäßigkeit eo ipso auf ein Ziel hin ([2–1], Buch 2, Kapitel 8, insbesondere 198b 33–199a 8). Die Mathematik wird nicht auf den Bereich des Veränderlichen angewendet; sie bezieht sich auf abstrakte Formen ([2–1], Buch 2, Kapitel 2). Zwischen den Dingen der Natur (physis) und den Produkten der Kunst oder Technik (techné) besteht folgender Gegensatz: Im Falle von Produkten der Technik ist die Form zunächst im Geiste des Herstellenden, und der Zweck der Veränderung ist etwas, das der Herstellende setzt und das nicht dem Ding als solchem zukommt. Dieser Gegensatz besteht in Bezug auf die technisch hergestellten Dinge. Die Absicht, etwas durch den Einsatz von Technik herzustellen, gehört hingegen zur Natur des Menschen. Trotz dieses kategorialen Unterschiedes zwischen Dingen der Natur und Produkten der Technik vollenden die Produkte der Technik das, was in der Natur angelegt ist ([2–1], Buch 2, Kapitel 8). Nicht nur die Physik des Aristoteles, sondern nahezu die gesamte altgriechische Naturphilosophie ist durch die Suche nach dem Unveränderlichen gekennzeichnet. Der von allen Seiten geteilte Ausgangspunkt ist die Wahrnehmung vielfältiger Veränderungen. Die Fragestellung ist dann aber nicht, Gesetzmäßigkeiten herauszufinden, nach denen diese Veränderungen selbst ablaufen, so dass sie berechenbar, damit beherrschbar und schließlich technisch nutzbar werden. Die Fragestellung ist vielmehr, was das Unveränderliche ist, das diesen Veränderungen zugrunde liegt. Das gilt nicht nur für Platon (428–347 v. Chr.) und Aristoteles, sondern auch für die altgriechischen Atomisten wie Demokrit (ca. 460–380 v. Chr.). Die Atome, die Demokrit annimmt, sind unveränderlich. Sie sind durch wenige grundlegende Eigen-

Descartes

schaften gekennzeichnet – wie zum Beispiel Raumgestalt und Undurchdringlichkeit – die immer gleich bleiben (insbesondere Fragmente 68 A37, 68 A45, 68 A57, 68 B141 in [2–3]). Eine Ausnahme bilden lediglich Heraklit (um 480 v. Chr.) und dessen Anhänger, für die gilt, dass alles im Fluss ist, es also gar nichts Unveränderliches gibt. Unter Bezugnahme auf Aristoteles können wir diese auf Unveränderliches fokussierte Position so kennzeichnen: Es gibt eine Vielzahl von einzelnen Dingen. Diese Dinge sind durch Eigenschaften gekennzeichnet, die den Veränderungen zugrunde liegen und die in den Veränderungen der Dinge erhalten bleiben (insbesondere [2–4], Kapitel 5, und [1–1], Buch VII). In philosophischer Fachterminologie ausgedrückt handelt es sich dabei um innere oder intrinsische Eigenschaften. Intrinsisch sind alle und nur diejenigen Eigenschaften, die ein Ding unabhängig davon haben kann, ob es andere Dinge gibt oder ob es solche nicht gibt. Es handelt sich also um Eigenschaften, deren Beschreibung in keiner Weise eine Bezugnahme auf andere Dinge erfordert. Ein Mensch zu sein ist ein Kandidat für eine intrinsische Eigenschaft, während Vater zu sein keine intrinsische Eigenschaft ist; denn Vater zu sein impliziert die Existenz einer anderen Person, deren Vater die betreffende Person ist. Dieser Hinweis auf die Grundzüge der Naturphilosophie von Aristoteles soll den Hintergrund bilden, vor dem die zentrale Problemstellung der neuzeitlichen Naturphilosophie skizziert wird. Wir können heute nicht zu der altgriechischen Naturphilosophie zurückkehren. Antworten auf die heutigen Fragestellungen müssen aus der Reflexion auf die heutige Situation erwachsen, die durch einige Jahrhunderte neuzeitlicher Naturphilosophie, Naturwissenschaft und Technik geprägt ist. Aber für diese Reflexion kann es hilfreich sein, alle philosophischen Konzeptionen im Bewusstsein zu haben, die zu unserer Tradition gehören.

Intrinsische Eigenschaften

2. Descartes Die Problemstellung, die für die neuzeitliche Naturphilosophie charakteristisch ist, kann anhand von René Descartes (1596–1650) eingeführt werden. Die Problemstellung ist, kurz gefasst, diese: Einerseits steht die Natur uns denkenden Wesen als etwas anderes gegenüber. Auf der anderen Seite sind wir in der Natur, indem wir uns als denkende und handelnde Wesen in der Natur behaupten müssen. Der geistesgeschichtliche Hintergrund von Descartes’ Philosophie ist dadurch geprägt, dass die aristotelische Sicht der Natur als etwas, dem Ziele immanent sind, ihre Tragfähigkeit verloren hat. Die christliche Philosophie des Mittelalters, die zeitlich zwischen Aristoteles und Descartes steht, verändert den aristotelischen Naturbegriff: Die Natur ist nicht von selbst, sondern von Gott geschaffen. Bei einigen spätmittelalterlichen Philosophen werden die Überlegungen darüber, was es heißt, dass Gott absolut ist, zu der These zugespitzt, dass Gott aus absoluter Macht handeln kann, ohne an irgendwelche Prinzipien gebunden zu sein. Wenn Gott aus absoluter Macht, ohne an irgendwelche Prinzipien gebunden zu sein, handeln kann, dann kann das Vertrauen auf eine sinnvolle Ordnung der Natur, in die wir integriert sind, zumindest erschüttert wer-

Übergang zur neuzeitlichen Naturphilosophie

15

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Der philosophische Naturbegriff

Descartes’ Naturphilosophie

Ausdehnung und Denken

den. Welches Gewicht diese Überlegungen über die absolute, ungebundene Macht Gottes haben, ist umstritten ([2–5], Teil 2, und [2–6] sind Deutungen der neuzeitlichen Philosophie von diesen Überlegungen her; siehe dagegen zum Beispiel [2–7], S. 77–79). Der Hinweis auf Überlegungen wie die genannten kann aber Folgendes zeigen: Man kann Faktoren anführen, aufgrund deren der Übergang von der aristotelischen und der christlichen Naturphilosophie zur neuzeitlichen Naturphilosophie als rational nachvollziehbar erscheint (siehe dazu auch [2–8], Kapitel 1.2). Für die heutige Diskussion bedeutet das: Es ist nicht nur ein historischer Zufall, dass unsere Situation durch einige Jahrhunderte neuzeitlicher Naturphilosophie, Naturwissenschaft und Technik geprägt ist. Man kann mit Hans Blumenberg (1920–1996) von einer Legitimität der Neuzeit sprechen [2–5], die bei der heutigen Auseinandersetzung mit dem geistesgeschichtlichen Hintergrund der neuzeitlichen Naturwissenschaft und Naturphilosophie berücksichtigt werden sollte. Die Hauptquelle von Descartes’ Naturphilosophie ist das zweite Buch der Prinzipien der Philosophie [2–9] (zur Einführung siehe zum Beispiel [2–10], Kapitel 3). Descartes zufolge ist die Natur der Bereich des räumlich und zeitlich Ausgedehnten. Über Ausdehnung hinaus ist dieser Bereich durch Bewegung gekennzeichnet. Statt der vier aristotelischen Typen von Ursachen erkennt Descartes nur noch den Ursprung von Bewegung als Ursache an. Regelmäßigkeit wird nicht mehr unter dem Gesichtspunkt eines Ziels gedacht. Bewegung ist vielmehr als solche gesetzmäßig. Jede Bewegung ist durch andere Bewegungen nach Gesetzen determiniert. Diese Gesetze können in der Sprache der Mathematik formuliert werden. Indem Descartes die Natur so denkt, dass sie ausschließlich durch Ausdehnung und Bewegung gekennzeichnet ist, überträgt er in gewisser Weise das, was nach Aristoteles für Produkte der Technik gilt, auf die Natur insgesamt: Der Natur ist keinerlei Ziel oder Zweck immanent. Was die Natur charakterisiert, ist nach Descartes dementsprechend keine Vielzahl von Formen, die intrinsische Eigenschaften sind, sondern allein Ausdehnung und Bewegung. Es gibt zwar etwas Unveränderliches, das der Veränderung zugrunde liegt; das ist aber keine qualitative Form. Das Unveränderliche liegt in der Veränderung selbst: Die Quantität der Materie und die Summe der Bewegung im ganzen Universum bleiben erhalten ([2–9], Buch 2, § 36). Eine Substanz im Sinne desjenigen, das bei aller Veränderung erhalten bleibt, ist letztlich nur der körperliche Bereich insgesamt genommen ([2–11], Übersicht über die Meditationen). Jeder einzelne, bestimmte Körper kann vergehen. Was immer bestehen bleibt, ist nicht die Form von Dingen einer Art, sondern nur das Körperliche (die Materie) insgesamt, ungeachtet seiner jeweiligen Gestalt. Diese Konzeption lässt im Prinzip Raum dafür, Entstehen und Vergehen natürlicher Arten zu denken. Allerdings hat Descartes noch keine Evolutionstheorie im Sinn. Mit dieser Sicht der Natur stellt sich das Problem, wie wir als denkende und handelnde Wesen in die Natur integriert sind. Den Kontrast zum Begriff der Natur bildet für Descartes nicht der Begriff der Technik, sondern der Begriff des Geistes. Auf der einen Seite gehören wir nach Descartes nicht zum Bereich des Ausgedehnten, insofern wir denkende und handelnde Wesen sind. Descartes stellt dem Bereich des Ausgedehnten als res extensa

Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen

das Denken als einen eigenständigen Seinsbereich gegenüber, den Bereich der res cogitans ([2–11], 6. Meditation; [2–9], Buch I, § 8). Auf der anderen Seite sind wir an die Natur gebunden. Zu unserer Selbsterhaltung und Selbstbehauptung müssen wir handelnd in die Natur eingreifen. Nach Descartes hat die Naturwissenschaft nicht nur das Ziel, Erkenntnis von der Natur zu gewinnen, sondern die Erkenntnisse über die Natur sollen unserer Selbstbehauptung in der Natur dienen. Von Descartes bis heute ist dieses nicht als eine Aussage über die Motive der jeweiligen Naturwissenschaftler zu verstehen. Es ist eine Aussage über die gesellschaftliche Funktion der Naturwissenschaft angesichts der oben genannten Problemstellung. Naturwissenschaft steht für Descartes im Dienste der Humanität in dem Sinne, dass sie zu einer Verbesserung der menschlichen Lebensumstände eingesetzt werden soll, wobei Descartes in erster Linie die Medizin im Auge hat ([2–12], 6. Teil). Hierin ist sich Descartes mit den anderen großen Philosophen am Beginn der Neuzeit, wie Francis Bacon (1561–1626) und Thomas Hobbes (1588–1679), einig. Bacon entwirft ein entsprechendes Programm im Neuen Organon [2–13], und auch Hobbes spricht davon, dass wir die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse planmäßig zur Förderung des menschlichen Lebens nutzen sollen ([2–14], Kapitel 1, § 6). Technik schließt für Descartes wie für Aristoteles an die Natur an. Aber für Descartes ist die Technik keine Vollendung dessen, was in der Natur angelegt ist, sondern eine planmäßige Umgestaltung der Natur gemäß menschlichen Zwecken. Die technischen Gegenstände stellen für Descartes, im Unterschied zu Aristoteles, kein ontologisches Problem dar. Es handelt sich um Dinge in der Natur wie alle anderen, die durch Ausdehnung und Bewegung gekennzeichnet sind und die den Bewegungsgesetzen, insbesondere den Erhaltungsgesetzen, unterliegen. Um die Natur zu unseren Zwecken verändern zu können, müssen wir uns in unserem Handeln an die Gesetzmäßigkeiten der Natur anpassen. Es bedarf daher keiner Philosophie der Technik im Sinne einer Ontologie der technischen Gegenstände. Und Technikphilosophie als kritische Reflexion über die Technik kommt erst dann zum Tragen, wenn das Programm, Naturwissenschaft zu fördern, um sie zur Verbesserung der menschlichen Lebensumstände einzusetzen, fragwürdig wird.

3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen Zusammenfassung In diesem Kapitel haben wir die beiden wichtigsten Sichtweisen der Natur in der Philosophiegeschichte kennengelernt: Natur als der Bereich dessen, was von selbst ist (Aristoteles), und Natur als der Bereich des Ausgedehnten und Bewegten (Descartes). Die letztere Sicht ist für die neuzeitliche Naturwissenschaft bestimmend. Sie bildet den Ausgangspunkt für die heutige Naturphilosophie.

Lektürehinweise – Aristoteles, Physik, Buch 2, Kapitel 1, 2, 3 und 8 [2–1] – Descartes, Prinzipien, Buch 2 [2–9]; Von der Methode, 6. Teil [2–12]

Naturwissenschaft und Technik

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Der philosophische Naturbegriff

Fragen und Übungen – Was ist nach Aristoteles der Gegensatz zwischen Natur und Technik und inwiefern besteht kein Gegensatz? – Wieso ist für Aristoteles die Mathematik nicht zur Beschreibung der physikalischen Umwelt geeignet? – Wieso besteht für Aristoteles kein Gegensatz zwischen Natur und Geist und wieso besteht für Descartes ein solcher Gegensatz? – Erläutern Sie den Wandel des Naturbegriffs von Aristoteles zu Descartes! – Was heißt es, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Verbesserung der menschlichen Lebensumstände einzusetzen (und was heißt das nicht unbedingt)?

III. Raum, Zeit und Materie Dieses Kapitel stellt die drei wesentlichen Konzeptionen dessen vor, wie das Verhältnis von Raum, Zeit und Materie in der Naturphilosophie gedacht werden kann. Diese Konzeptionen werden anhand der Auseinandersetzung zwischen Newton und Leibniz sowie der Naturphilosophie von Descartes und Spinoza eingeführt. Auf die wichtigsten Probleme von jeder dieser Konzeptionen wird hingewiesen.

1. Newton und der Atomismus Die Frage nach dem Verhältnis von Raum, Zeit und Materie kann als das wichtigste naturphilosophische Thema angesehen werden. In diesem Kapitel sollen drei Grundtypen, dieses Verhältnis zu denken, vorgestellt werden. Es sind, kurz gefasst, diese: 1. Raum und Zeit auf der einen und Materie auf der anderen Seite sind verschiedenes Seiendes; 2. Raum und Zeit können in irgendeiner Weise auf Materie zurückgeführt werden; 3. Materie kann in irgendeiner Weise auf Raum und Zeit zurückgeführt werden. Diese Grundtypen werden in diesem Kapitel anhand von Philosophen aus dem 17. Jahrhundert vorgestellt. Im nächsten Kapitel erfolgt die Bezugnahme auf die heutige Naturwissenschaft. Die vom Alltagsverständnis her am nächsten liegende Konzeption ist wohl diejenige, welche Raum und Zeit auf der einen und Materielles auf der anderen Seite als verschiedenes Seiendes ansieht. Man stellt sich Raum und Zeit häufig als etwas vor, welches das Materielle umfasst. Bildlich gesprochen: Der Raum und die Zeit sind so etwas wie Behälter, in denen sich das Materielle befindet. Philosophisch wird eine solche Konzeption von Isaac Newton (1642–1727) in den Mathematischen Grundlagen der Naturphilosophie ausgearbeitet [3–1]. Nach Newton sind der Raum und die Zeit absolut im Sinne dessen, dass sie für sich bestehendes, eigenständiges Seiendes sind. Raum und Zeit könnte es auch dann geben, wenn es nichts Materielles in Raum und Zeit gäbe. Newton kann als Atomist angesehen werden, obwohl nicht alle Textstellen eindeutig sind (siehe zu Newtons Atomismus [3–2], S. 29–51, besonders S. 50, sowie S. 119–120). Das Materielle ist nicht beliebig teilbar. Das grundlegende Materielle in Raum und Zeit sind punktartige Teilchen, die unteilbar sind, Atome im wörtlichen Sinne. Alle Körper sind aus Atomen aufgebaut. Am Ende der Optik schreibt Newton: „Nach allen diesen Betrachtungen ist es mir wahrscheinlich, daß Gott im Anfange der Dinge die Materie in massiven, festen, harten, undurchdringlichen und beweglichen Partikeln erschuf … keine Macht von gewöhnli-

Grundpositionen

Raum und Zeit verschieden von Materie

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Raum, Zeit und Materie

cher Art würde im Stande sein, das zu zerteilen, was Gott selbst bei der ersten Schöpfung als Ganzes erschuf. … Damit also die Natur von beständiger Dauer sei, ist der Wandel der körperlichen Dinge ausschließlich in die verschiedenen Trennungen, neuen Vereinigungen und Bewegungen dieser permanenten Teilchen zu verlegen …“ ([3–3], Band 2, S. 143). Die Atome füllen den Raum nicht aus. Leerer Raum ist erforderlich, damit die Atome sich bewegen können. Die Bewegung der Atome erfolgt gemäß deterministischen Gesetzen. Sie ist mathematisch berechenbar. Die Bewegung eines Körpers findet im absoluten Raum statt. Bewegung ist nach Newton absolut im Sinne dessen, dass die Bewegung eines Körpers nicht relativ zu dem Bewegungszustand anderer Körper ist. Das impliziert jedoch nicht, dass es möglich ist, die Bewegung eines Körpers ohne Bezugnahme auf den Bewegungszustand anderer Körper zu beschreiben. Allerdings denkt sich Newton Versuche aus, mit denen er absolute Bewegung und auf diese Weise den absoluten Raum empirisch nachweisen möchte. Berühmt ist insbesondere das Gedankenexperiment des Eimerversuchs. Mit diesem Gedankenexperiment möchte Newton zeigen, dass es möglich ist, Rotationsbewegungen allein aufgrund der mit diesen verbundenen Trägheitskräfte und somit unabhängig von der Bezugnahme auf den Bewegungszustand anderer Körper empirisch nachzuweisen. Trägheitskräfte sind gemäß diesem Gedankenexperiment keine Folge von Relativbewegungen; sie sind vielmehr auf Bewegungen in Bezug auf den absoluten Raum zurückzuführen ([3–1], Scholium zu den Definitionen). Newtons Physik impliziert, dass Gravitation eine Fernwirkung zwischen den Atomen ist; Newton selbst hält eine Fernwirkung jedoch für eine große Absurdität (Brief 406 an Bentley, 25. Feb. 1692/3, in [3–4], S. 254). Eine Fernwirkung ist eine Wirkung, die sich instantan über beliebige Gebiete des Raumes hinweg ausbreitet. Wenn beispielsweise die Sonne vernichtet werden würde, dann hätte das nach der Newton’schen Physik unmittelbar eine Auswirkung auf den Bewegungszustand der Erde, obgleich zwischen der Erde und der Sonne eine beachtliche räumliche Distanz besteht. Die Konzeption, Raum und Zeit auf der einen und Materielles auf der anderen Seite als verschiedenes Seiendes anzusehen, ist nicht an den Atomismus gebunden. Die Materie in Raum und Zeit brauchen nicht Atome zu sein, die sich im leeren Raum bewegen. Man kann auch annehmen, dass alle Körper immer weiter teilbar sind und sogar dass der Raum voll ist. Descartes zum Beispiel entwickelt eine Konzeption dessen, wie Bewegung möglich ist, auch wenn es keinen leeren Raum gibt. Bewegung im vollen Raum ist möglich, wenn sie letztlich kreisförmig ist ([2–9], Buch 2, § 33). Ferner ist eine Feldkonzeption von Materie mit dieser Sicht von Raum, Zeit und Materie vereinbar. Feldtheorien sind der Physik Newtons allerdings noch fremd. Sie werden erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt. Ein Feld ist etwas, das sich im Prinzip über den gesamten Raum und die gesamte Zeit erstreckt. Felder sind durch physikalische Eigenschaften bestimmt, die sie an Punkten oder punktartigen Gebieten des Raumes und der Zeit haben. Ein Raum, der mit Feldern gefüllt ist, ist kein leerer Raum, weil es an allen Punkten irgendwelche Feldeigenschaften gibt (siehe [3–5] zu Feldtheorien in der Naturphilosophie). Für die hier zur Debatte stehende Sicht des Verhältnisses von

Leibniz, Kraftpunkte und räumliche und zeitliche Relationen

Raum, Zeit und Materie kommt es nicht darauf an, wie die Materie gedacht wird. Diese Konzeption ist mit allen bekannten physikalischen Analysen dessen, worin die Materie besteht, vereinbar. Es kommt lediglich darauf an, dass Raum und Zeit auf der einen und Materie auf der anderen Seite für verschiedenes Seiendes gehalten werden. Ein zentrales Problem für diese Konzeption ist die Frage nach dem ontologischen Status von Raum und Zeit als einem Seienden, das von dem Materiellen unabhängig ist. Materielles ist von Raum und Zeit ontologisch abhängig, weil es Materielles nur in Raum und Zeit geben kann. Raum und Zeit sind hingegen von Materiellem nicht ontologisch abhängig; Raum und Zeit könnte es auch geben, wenn es nichts Materielles gäbe. Gemäß dem Vorsokratiker Demokrit, auf den die Naturphilosophie von Atomen in einem leeren, absoluten Raum zurückgeht, gehört der Raum nicht zu den Dingen, die existieren: Er ist Nicht-Sein (Fragmente 68 A6, A37, in [2–3], Band 2). Das Sein – die Atome – kann aber nur auf der Grundlage des Raumes existieren, nämlich im Raum. Demokrit kommt daher zu dem paradoxen Schluss, dass das Nicht-Sein ebenso existiert wie das Sein (Fragment 68 A 6). Newton vergleicht den Raum an einer Stelle der Optik mit einem unbegrenzten, gleichförmigen Empfindungsorgan Gottes ([3–3], Band 2, S. 145; siehe auch Clarke, Brief 1 an Leibniz, § 3; Brief 2 an Leibniz, § 3 in [3–6]). Als Newtons Vertreter Samuel Clarke (1675–1729) an dieser Stelle in seiner Korrespondenz mit Leibniz unter Druck gesetzt wird, schreibt er, dass der Raum eine Eigenschaft Gottes ist, die eine unmittelbare und notwendige Folge von Gottes Existenz ist (Brief 3 an Leibniz, § 3; Brief 4 an Leibniz, §§ 8–10, 15, 41; Brief 5 an Leibniz, §§ 36–48, 79–82 in [3–6]). Trotz dieser Beschreibung – oder vielleicht gerade wegen dieser Beschreibung – ist der Einwand von Immanuel Kant (1724–1804) plausibel: Der Raum als etwas, das es zusätzlich zu Materiellem gibt, ist ein Unding – etwas, das da ist, ohne dass es etwas Wirkliches gibt (Kritik der reinen Vernunft A 39/B 56, B 70–71 [3–7]). Das Problem wäre selbst dann nicht beseitigt, wenn man plausibel machen könnte, dass Raum und Zeit ebenso ontologisch abhängig von Materiellem sind, wie Materielles von Raum und Zeit ontologisch abhängig ist – also wenn es Raum und Zeit nur zusammen mit Materiellem in Raum und Zeit geben könnte. Das Problem ist dieses: In philosophischer Reflexion lässt sich nicht klären, was Raum und Zeit als Seiendes, das es zusätzlich zu Materiellem gibt, sein könnten. Wenn es Schwierigkeiten bereitet, hier zwei verschiedene Seiende zu denken – Raum und Zeit auf der einen, Materielles auf der anderen Seite –, dann liegt der Gedanke nahe, dass es sich gar nicht um verschiedenes Seiendes handelt. Es gibt zwei prinzipielle Möglichkeiten, diesen Gedanken auszuführen: Entweder führt man Raum und Zeit in irgendeiner Weise auf Materielles zurück, oder man führt das Materielle in irgendeiner Weise auf Raum und Zeit zurück.

Status von Raum und Zeit

2. Leibniz, Kraftpunkte und räumliche und zeitliche Relationen Die Position, dass Raum und Zeit kein eigenständiges Seiendes im Unterschied zu Materiellem sind, vertritt Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716).

Raum und Zeit nur Relationen

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Raum, Zeit und Materie

Kein Kontinuum

Monaden

Leibniz entwickelt seine Position in Auseinandersetzung mit Newtons Theorie. Die wichtigste Quelle ist sein Briefwechsel mit Samuel Clarke, der für Newton spricht [3–6]. Nach Leibniz sind Raum und Zeit nur Relationen zwischen Materiellem. Der Raum ist die Anordnung des zugleich Existierenden. Die Zeit ist die Anordnung des nacheinander Existierenden ([3–6], 3. Brief, § 4; 4. Brief, § 41 und P. S.; 5. Brief, §§ 29, 47, 104). Der Bewegungszustand eines Körpers ist immer relativ auf den Bewegungszustand anderer Körper ([3–6], 3. Brief, § 5; 4. Brief, §§ 6, 13; 5. Brief, §§ 31, 47). Gegen einen absoluten Raum und eine absolute Zeit argumentiert Leibniz in folgender Weise: Da alle Raum- und Zeitstellen gleich sind, könnte es keinen Grund für Gott geben, Materie an einer bestimmten Raum- oder Zeitstelle zu schaffen. Selbst wenn der absolute Raum voll wäre, beständen mehrere, ununterscheidbare Möglichkeiten, die Materie in diesen Raum zu setzen – die Materie könnte zum Beispiel als ganze um 180 Grad gedreht sein; es könnte keinen Grund für Gott geben, eine dieser Anordnungen zu wählen ([3–6], 3. Brief, §§ 5–6; 4. Brief, § 15). Ohne Bezugnahme auf Gott können wir dieses Argument so formulieren: Wenn es einen absoluten Raum und eine absolute Zeit gäbe, dann beständen mehrere Möglichkeiten, wie das Materielle in Raum und Zeit angeordnet sein könnte. In allen diesen verschiedenen Möglichkeiten sind jedoch alle Relationen zwischen Materiellem gleich. Nur wenn man die Theorie eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit voraussetzt, gibt es einen Unterschied zwischen diesen Möglichkeiten. Nicht nur gibt es also kein empirisches Argument dafür, Raum und Zeit als ein absolutes, von der Materie unterschiedenes Seiendes zu denken; eine solche Konzeption führt vielmehr auch dazu, Situationen, die in Bezug auf die Anordnung von allem Materiellen ununterscheidbar sind, dennoch als real unterschieden anerkennen zu müssen. Leibniz lehnt in seinem Briefwechsel mit dem Cartesianer Burcher de Volder (1643–1709) die Position ab, dass ein Kontinuum im Sinne von etwas, das nicht aus Teilen zusammengesetzt ist, existiert: Ein Kontinuum involviert Unbestimmtheit. Unbestimmtheit kann es in Wirklichkeit nicht geben ([3–8], S. 282 mit Anmerkung / deutsch S. 181–183). Dieses Argument kann man folgendermaßen verstehen (vergleiche [3–9], S. 35–36): Es ist nicht von vornherein vorgegeben, wie Abgrenzungen innerhalb eines Kontinuums vorzunehmen wären. Es könnte folglich, streng genommen, nie einen zureichenden Grund für die Wahl bestimmter Abgrenzungen geben. Daher müssen nach Leibniz alle denkbaren Abgrenzungen vorgegeben sein. Es gibt kein Kontinuum im Sinne von etwas, das nicht aus Teilen zusammengesetzt ist. Leibniz setzt die Teilbarkeit von Materiellem mit Geteiltheit, dem Bestehen aus Teilen, gleich. Alles Reale ist diskret ([3–8], S. 261–262, 276, 281–282 mit Anmerkung / deutsch S. 157, 171, 181–183). Leibniz ist jedoch kein Atomist. Alles Materielle ist nicht nur unendlich teilbar, sondern in der Tat unendlich geteilt. Statt Atomen konzipiert Leibniz Kraftpunkte, die Monaden. Er kritisiert an Descartes’ Naturphilosophie, dass durch die Prinzipien „Ausdehnung“ und „Bewegung“ nicht alle Eigenschaften der Materie (wie Undurchdringlichkeit) und nicht alle Vielfalt des Materiellen erklärt werden können. Hierzu ist der Kraftbegriff notwendig, der fundamentaler als „Ausdehnung“ und „Bewegung“ ist. Leibniz vertritt also eine kausale Theorie der Materie. Diese Kritik führt Leibniz insbesondere in sei-

Leibniz, Kraftpunkte und räumliche und zeitliche Relationen

nem Briefwechsel mit de Volder aus ([3–8], S. 169–171, 184 / deutsch S. 125–129, 139–141). Leibniz kann so verstanden werden, dass er eine physikalische Feldtheorie vorwegnimmt: Die Kraftpunkte (Monaden) können physikalisch als Feldquellen aufgefasst werden. Die Monaden übernehmen bei Leibniz die Funktion, welche die Atome in einer atomistischen Naturphilosophie haben. Leibniz bezeichnet die Monaden auch als die wirklichen Atome ([3–10], § 3). Jedes Ganze ist ein Aggregat von Monaden ([3–10], § 2). Den Monaden kommen jedoch nicht, wie den Atomen der Atomisten, nur wenige grundlegende Eigenschaften zu – im Gegenteil, jede Monade spiegelt in sich die ganze Welt aus ihrer Perspektive wider ([3–10], § 56; [3–6], Brief 5, § 87). Dennoch handelt es sich bei den Eigenschaften der Monaden, ebenso wie bei den charakteristischen Eigenschaften der Atome, um intrinsische Eigenschaften. Für diese Theorie von Raum, Zeit und Materie ist es wiederum nicht entscheidend, als was das Materielle gedacht wird – ob als Kraftpunkte (Monaden) und damit in einer feldtheoretischen Weise, als Atome oder in einer anderen Form. Entscheidend ist allein diese These: Raum und Zeit sollen ausschließlich in Relationen zwischen Materiellem bestehen. Es gibt eine Weise, in der diese These ohne Schwierigkeiten ausgeführt werden kann: Man kann diese These einfach als die Verneinung der Position auffassen, dass es Raum und Zeit auch unabhängig von Materiellem in Raum und Zeit geben könnte. In diesem Falle sieht man das Materielle weiterhin so an, dass es unter anderem durch räumliche und zeitliche Ausdehnung charakterisiert ist. Räumliche und zeitliche Ausdehnung sind grundlegende, relationale Eigenschaften von Materiellem. Der Anhänger der These eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit kann in diesem Fall einwenden, dass eine solche relationale Theorie von Raum und Zeit räumliche und zeitliche Ausdehnung als System von Relationen zwischen Materiellem schlicht voraussetzt. Die These eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit ist demgegenüber als eine Erklärung dessen angelegt, was räumliche und zeitliche Ausdehnung ist. Die anspruchsvolle Variante einer relationalen Theorie von Raum und Zeit versucht, das Anliegen aufzunehmen, welches in diesem Einwand zum Ausdruck kommt. Um das zu erreichen, muss eine relationale Theorie von Raum und Zeit zwei Anforderungen erfüllen. Die erste Anforderung ist, eine Bestimmung des Materiellen zu geben, die dieses nicht als räumlich und zeitlich Ausgedehntes charakterisiert. Leibniz’ Theorie erfüllt diese Anforderung: Er bestimmt das Materielle als etwas Ausdehnungsloses, das eine Kraft ist, nämlich als Kraftpunkte. Die zweite Anforderung ist, von dieser Bestimmung aus räumliche und zeitliche Relationen zu rekonstruieren. Leibniz erfüllt diese Anforderung nicht. Er behauptet, dass alle Relationen einschließlich der räumlichen und zeitlichen Beziehungen durch die intrinsischen Eigenschaften der Kraftpunkte (Monaden) festgelegt sind (zum Beispiel [3–10], §§ 56, 59). Diese Behauptung löst Leibniz jedoch nicht ein: Es ist nicht nachvollziehbar, wie ausdehnungslose Kraftpunkte (Monaden) von sich aus eine Anordnung aufbauen könnten, so dass räumliche und zeitliche Relationen zwischen diesen Kraftpunkten bestehen, ohne dabei räumliche und zeitliche Relationen vorauszusetzen. In Leibniz’ Metaphysik ergibt sich stattdessen ein anderes Bild: Die Monaden, die Kraftpunkte, sind nichts

Was für Relationen?

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Raum, Zeit und Materie

Materielles. Räumliche und zeitliche Relationen ebenso wie Kräfte sind letztlich nichts Reales, sondern, wie alles Körperliche, Vorstellungen in unkörperlichen Monaden (zum Beispiel [3–8], S. 275, 281 / deutsch S. 167–169, 179). Es wäre zu viel verlangt, von einer Konzeption, die Raum und Zeit nur als räumliche und zeitliche Relationen anerkennt, zu fordern, sie müsse diese Relationen von den intrinsischen Eigenschaften dessen aus rekonstruieren, was als das Materielle angesehen wird. Es ist dieser Konzeption freigestellt, das Materielle durch Relationen zu charakterisieren; nur sollten diese, um den genannten Anspruch zu erfüllen, dann keine räumlichen und zeitlichen Relationen sein. Kausale Relationen und die Relationen der Verschränkung in der Quantenphysik können Kandidaten für solche Relationen sein. Ich werde darauf zurückkommen (Kapitel IV.2.c und V.5). Der genannte Einwand bleibt jedoch bestehen: Es ist zumindest nicht leicht zu sehen, wie es möglich sein könnte, Raum und Zeit nicht als grundlegend anzuerkennen, sondern räumliche und zeitliche Relationen auf etwas anderes, Grundlegenderes zurückzuführen.

3. Descartes, Spinoza und die Identität von Raum, Zeit und Materie Materie auf Raum und Zeit zurückführen

Descartes

Die dritte Möglichkeit, das Verhältnis von Raum, Zeit und Materie zu denken, geht davon aus, dass räumliche und zeitliche Relationen nicht auf etwas anderes, Grundlegenderes zurückgeführt werden können. Statt räumliche und zeitliche Relationen auf eine Charakterisierung von Materiellem zurückführen zu wollen, die dieses nicht als räumlich und zeitlich Ausgedehntes bestimmt, wird umgekehrt versucht, das Materielle auf das System der räumlichen und der zeitlichen Ausdehnung zurückzuführen. Wie in der Theorie von Newton ergibt sich dann ebenfalls die Konzeption eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit: Bei dem System der räumlichen und der zeitlichen Relationen handelt es sich um eine Substanz im Sinne eines Seienden, das von allem anderen unabhängig für sich besteht. Aber diese Substanz ist mit der Materie identisch. Raum und Zeit auf der einen und Materie auf der anderen Seite sind also nicht verschiedenes Seiendes. Es gibt nur eine Substanz, den Raum beziehungsweise die Raum-Zeit, und alle physikalischen Eigenschaften sind Eigenschaften von Punkten oder Gebieten des Raumes beziehungsweise der Raum-Zeit. Diese Konzeption ist bei Descartes angelegt. Der holländische Philosoph Baruch de Spinoza (1632–1677) kann so verstanden werden, dass er diese Konzeption ausführt. Man findet eine Andeutung dieser Konzeption sogar bei Newton in dessen Schrift Über die Gravitation (in [3–11], S. 56–57). Ich beschränke mich im Folgenden auf den Raum, da die Zeit von Descartes und Spinoza in dieser Hinsicht vernachlässigt wird. Descartes zufolge ist allein das Attribut der Ausdehnung kennzeichnend für alle physikalischen Dinge. Mit Ausdehnung meint Descartes in erster Linie räumliche Ausdehnung, das heißt, Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe, wobei der Raum euklidisch und somit flach (nicht gekrümmt) ist. Des-

Descartes, Spinoza und die Identität von Raum, Zeit und Materie

cartes kann so gelesen werden, dass die Begriffe „körperlich“, „materiell“ und „ausgedehnt“ sich nicht nur auf dasselbe beziehen, sondern dass ihre Bedeutung auch dieselbe ist (insbesondere [2–9], Teil II, § 4). Ferner behauptet er, dass die ausgedehnte Substanz und der physikalische Raum miteinander identisch sind ([2–9], Teil II, §§ 10–12). In Kapitel II.2 wurde schon darauf hingewiesen, dass nach Descartes letztlich nur der körperliche Bereich insgesamt genommen eine Substanz im Sinne desjenigen ist, was bei aller Veränderung erhalten bleibt. Wenn wir diesen Sachverhalt berücksichtigen, dann liegt die Schlussfolgerung nahe, dass die körperliche Substanz dasselbe wie der Raum ist. Zahlreiche Gelehrte verstehen Descartes in diesem Sinne (zum Beispiel [3–5], S. 103; [3–12], S. 23–24; dagegen vor allem [3–13], S. 30–33). Descartes’ Position ist jedoch doppeldeutig: Auf der einen Seite führt das Argument, dass keine Substanz aufhören kann zu existieren, dazu, nur eine Substanz anzuerkennen, nämlich den körperlichen Bereich als Ganzes. Auf der anderen Seite nimmt Descartes im ersten Teil der Prinzipien an, dass die Teile der körperlichen Substanz selbst Substanzen sind: Er vertritt die Position, dass es einen realen Unterschied zwischen den Teilen der körperlichen Substanz gibt ([2–9], Teil I, § 60). Ein realer Unterschied ist diejenige Art von Unterschied, die zwischen Substanzen besteht. Deshalb lässt sich nicht mehr sagen, als dass die Position, das Körperliche mit dem Raum zu identifizieren, bei Descartes angelegt ist. Die Ethik von Spinoza ist in dieser Hinsicht ergiebiger. Spinoza geht davon aus, dass es nur genau eine Substanz gibt. Wie Descartes hält er die Begriffe „körperlich“, „materiell“ und „ausgedehnt“ ihrer Bedeutung und Referenz nach für identisch. Er lehnt ebenfalls den Atomismus ab. Er entwickelt seine Theorie des körperlichen Bereichs im Wesentlichen in der Anmerkung zu Lehrsatz 15 von Teil 1 der Ethik [3–14]. Descartes’ Terminologie übernehmend spricht er dort von der körperlichen oder der ausgedehnten Substanz. Er behauptet, dass diese Substanz nur als unendlich, einzigartig und unteilbar verstanden werden kann. Damit bestreitet er jedoch nicht, dass jeder Körper teilbar ist. Spinoza schreibt: „So wissen auch andere, welche sich einbilden, eine Linie sei aus Punkten zusammengesetzt, viele Beweise dafür beizubringen, daß eine Linie nicht ins Unendliche teilbar sei. Und in der Tat ist es nicht minder widersinnig zu behaupten, daß die körperliche Substanz aus Körpern oder Teilen zusammengesetzt sei, als zu behaupten, ein Körper sei aus Flächen, die Flächen seien aus Linien, die Linien endlich aus Punkten zusammengesetzt“ ([3–14], Teil 1, Anmerkung zu Lehrsatz 15, Übersetzung gemäß der Ausgabe von Rauthe-Welsch). Die körperliche Substanz ist gemäß diesem Zitat ein Kontinuum. Jede Teilung führt zu etwas, das weiter geteilt werden kann. Die Unteilbarkeit der körperlichen Substanz, die mit der Teilbarkeit von allem bestimmten Körperlichen einhergeht, kann auf dieselbe Weise wie die Unteilbarkeit des dreidimensionalen räumlichen Kontinuums verstanden werden: Von dem Kontinuum aus betrachtet sind Teilungen lediglich Abgrenzungen innerhalb des Kontinuums. Mit der Behauptung, dass die körperliche Substanz unteilbar

Spinoza

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Raum, Zeit und Materie

Bennetts Interpretation

ist, beabsichtigt Spinoza nur herauszustellen, dass sie nicht aus Teilen zusammengesetzt ist, die eine eigene Existenz haben. Nichtsdestoweniger können Teile innerhalb der Substanz unterschieden werden. Der Philosoph Jonathan Bennett arbeitet die Interpretation, gemäß der Spinoza die körperliche Substanz mit dem Raum gleichsetzt, ausführlich aus ([3–15], Kapitel 4; zu einer anderen Interpretation siehe vor allem [3–16], Kapitel 1). Bennett führt unsere Rede über Körper im Raum auf Eigenschaften zurück, die Gebieten des Raumes zugesprochen werden. Er fasst die Position, die er Spinoza zuschreibt, so zusammen: „… es gibt lediglich eine Substanz – nämlich das Ganze des Raumes – dessen Gebiete verschiedene Qualitäten wie Undurchdringlichkeit, Masse und so weiter annehmen, so dass jede Aussage, welche die Existenz eines Körpers behauptet, sich auf eine Aussage reduziert, welche etwas über ein Gebiet des Raumes sagt“ ([3–15], § 22.1, eigene Übersetzung). Alle Aussagen, die auf Dinge im Raum Bezug nehmen, werden mithin auf Aussagen zurückgeführt, die auf Gebiete des Raumes referieren und die diesen Gebieten physikalische Eigenschaften zuschreiben. Bennett versieht die Begriffe für Eigenschaften von Gebieten des Raumes mit einem Stern (*). Er schreibt: „Zu sagen, dass die Pfütze glitschig ist, heißt, zu sagen, dass ein bestimmtes Gebiet des Raumes glitschig* ist – das heißt, es hat diejenigen Eigenschaften von Gebieten, die wir so auf den Begriff bringen, dass wir sagen, es gäbe glitschige Dinge in ihnen“ ([3–15], § 23.5, eigene Übersetzung).

Allgemeine Formulierung der Position

Materielles auf Raum und Zeit zurückzuführen heißt somit, die Eigenschaften, die wir Körpern im Raum zuschreiben, auf der Basis von Eigenschaften zu rekonstruieren, die Punkten oder Gebieten des Raumes zukommen. Gemäß dieser Konzeption ist das Körperliche oder die Materie mit dem Raum oder der Raumzeit identisch (siehe auch [3–17]). Das läuft nicht darauf hinaus, die Materie zu eliminieren. Die Behauptung ist nur, dass es keine physikalischen Systeme wie Teilchen oder Felder zusätzlich zum Raum gibt. Die Materie und der Raum sind dasselbe. Die Punkte oder Gebiete des Raumes sind die Teile der Materie. Diese sind nicht nur die grundlegenden Systeme, sondern auch die einzigen Systeme im physikalischen Bereich. Sie haben physikalische Eigenschaften, und alle physikalischen Eigenschaften treten als Eigenschaften der Punkte oder Gebiete des Raumes auf. Körper sind Gebiete des Raumes, die bestimmte physikalische Eigenschaften haben. Die Identifikation mit der Materie lässt den Raum nicht unberührt. Sobald der Raum als dasselbe wie die Materie angesehen wird und verschiedene physikalische Eigenschaften seinen Punkten oder Gebieten zukommen, hat er eine interne Struktur. Diese Struktur besteht in den verschiedenen physikalischen Eigenschaften (oder den verschiedenen Werten dieser Eigenschaften), welcher der Raum in den verschiedenen Gebieten hat. Die Gebiete können relativ scharfe Grenzen haben; in jedem Fall gibt es vage Grenzen, die Gebiete voneinander abscheiden. Der Einwand von Leibniz gegen ein Kontinuum trifft diese Konzeption mithin nicht. Man kann diese Konzeption nicht so rekonstruieren, dass man sich zunächst einen leeren Raum vorstellt und dann Materielles als in diesen Raum hineingesetzt denkt – in dem Sinne,

Descartes, Spinoza und die Identität von Raum, Zeit und Materie

dass der Raum physikalische Eigenschaften erwirbt. Raum und Materielles sind nach dieser Konzeption in der Weise miteinander identisch, dass man nicht einmal begrifflich zwischen beiden unterscheiden kann. Es gibt dementsprechend auch keinen leeren Raum. Irgendwelche physikalischen Eigenschaften kommen jedem Punkt und jedem Gebiet des Raumes zu. Das augenfälligste Problem für diese Konzeption ist, eine Erklärung von Bewegung zu geben. Descartes’ Physik basiert auf einem Erhaltungsgesetz der Bewegung (siehe Kapitel II.2), und Ähnliches gilt für die Physik von Spinoza (siehe insbesondere [3–14], Teil 2, die Einschübe zwischen Lehrsatz 13 und Lehrsatz 14). Punkte und Gebiete des Raumes mögen physikalische Eigenschaften haben. Aber sie können sich nicht bewegen. Bennett [3–15] arbeitet im Rahmen seiner Interpretation von Spinoza die folgende Erklärung von Bewegung aus (siehe schon [3–17]): Er beginnt mit einer kontinuierlichen Menge von Raumpunkten in der Zeit, die in ihren physikalischen Eigenschaften ähnlich sind und die aufgrund dieser Ähnlichkeit von ihrer Umgebung abgehoben sind. Bennett nennt eine solche Menge einen String. Er reduziert die Beschreibung der Bewegung eines Körpers auf die Beschreibung der physikalischen Eigenschaften von einem solchen String ([3–15], § 22.2). Was die Bewegung eines Körpers durch den Raum zu sein scheint, das ist tatsächlich ein Wechsel grundlegender physikalischer Eigenschaften von Gebieten des Raumes: Ein Gebiet verliert bestimmte physikalische Eigenschaften, und ein benachbartes anderes Gebiet erhält diese oder ähnliche Eigenschaften unmittelbar. Diese Konzeption vermeidet das Problem, welches der ontologische Status von Raum und Zeit für eine Theorie darstellt, gemäß der Raum und Zeit auf der einen und die Materie auf der anderen Seite verschiedenes Seiendes sind. Wenn überhaupt irgendetwas, dann sind nur Raum und Zeit zusammen mit Materie etwas Absolutes oder eine Substanz. Es gibt keinen absoluten Raum im Sinne eines Raumes, der von der Materie losgelöst ist. Der Raum hat kein Sein unabhängig von Materie im Raum. Gemäß dieser Konzeption liegt es zwar nahe, den Raum oder Raum und Zeit als ein Kontinuum zu denken, wie Descartes und Spinoza es tun. Diese Konzeption ist aber nicht darauf festgelegt, Raum und Zeit als ein Kontinuum anzusehen. Raum und Zeit könnten auch aus diskreten Raum- und Zeitstücken bestehen. Worauf es ankommt, ist lediglich, alles Materielle auf physikalische Eigenschaften von Punkten oder Gebieten des Raumes und der Zeit zurückzuführen. Damit ist diese Konzeption an eine Physik von Feldern im Unterschied zu einer Physik von Teilchen gebunden: Die gesamte Materie ist ein Feld, das in den physikalischen Eigenschaften von Punkten oder Gebieten des Raumes und der Zeit besteht. Das Materie-Feld ist also nicht etwas, das es in Raum und Zeit gibt, sondern es ist identisch mit Raum und Zeit. Das Hauptproblem für diese Konzeption ist, verständlich zu machen, welches die physikalischen Eigenschaften von Punkten oder Gebieten von Raum und Zeit sein sollen, auf welche die herkömmlichen physikalischen Eigenschaften, die wir Seiendem im Raum und der Zeit zuschreiben, zurückgeführt werden können (vgl. [3–18], S. 166–167, S. 222–223). Die Weise, wie diese Konzeption oben anhand von Bennetts Spinoza-Interpretation eingeführt wurde, lässt offen, was diese physikalischen Eigenschaften von Punkten oder Gebieten des Raumes und der Zeit sein könnten.

Bewegung

Was sind die physikalischen Eigenschaften des Raumes?

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Raum, Zeit und Materie

4. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen Zusammenfassung In diesem Kapitel haben wir die drei wesentlichen Konzeptionen des Verhältnisses von Raum, Zeit und Materie kennengelernt. Eingeführt wurden diese Konzeptionen anhand der Positionen von Philosophen des 17. Jahrhunderts. Keine dieser drei Konzeptionen ist von sich aus völlig überzeugend. Wenn wir Raum und Zeit auf der einen und Materie auf der anderen Seite als verschiedenes Seiendes ansehen, dann haben wir folgendes Problem: Was ist der ontologische Status von Raum und Zeit als Seiendem zusätzlich zu dem Materiellen? Was ist die Rechtfertigung dafür, Situationen, die empirisch ununterscheidbar sind, dennoch als real unterschieden anzusehen? Wenn wir Raum und Zeit auf Materielles zurückführen wollen – in dem Sinne, dass Raum und Zeit nur in Relationen zwischen Materiellem bestehen – dann haben wir dieses Problem: Wie können wir die betreffenden Relationen charakterisieren, wenn wir nicht räumliche und zeitliche Ausdehnung als etwas Grundlegendes voraussetzen dürfen? Und wenn wir Materielles auf Raum und Zeit zurückführen wollen – in dem Sinne, dass die Materie mit dem Raum und der Zeit identisch ist und alle materiellen Eigenschaften in physikalischen Eigenschaften von Punkten oder Gebieten des Raumes und der Zeit bestehen – dann sind wir mit dem folgenden Problem konfrontiert: Was könnten konkrete Kandidaten für die physikalischen Eigenschaften von Punkten oder Gebieten des Raumes und der Zeit sein, auf die wir die herkömmlichen physikalischen Eigenschaften zurückführen können, die Seiendem in Raum und Zeit zugesprochen werden? Im nächsten Kapitel sollen diese drei Konzeptionen auf die heutige Physik anhand der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie bezogen werden.

Lektürehinweise – Newton, Mathematische Grundlagen der Naturphilosophie, Scholium zu den Definitionen [3–1] – Der Leibniz-Clarke Briefwechsel [3–6] – Spinoza, Ethik, Buch 1, Anmerkung zu Lehrsatz 15 [3–14], und Bennett [3–15], Kapitel 4

Fragen und Übungen – Was ist das Verhältnis zwischen der Sicht, dass Raum und Zeit auf der einen und Materie auf der anderen Seite voneinander verschiedenes Seiendes sind, und dem Atomismus? – In welchem Sinne sind Raum und Zeit gemäß der Konzeption, dass Raum und Zeit auf der einen und Materielles auf der anderen Seite verschiedenes Seiendes sind, absolut? – Wieso ist die Annahme einer Fernwirkung problematisch? – Wie kann Bewegung ohne leeren Raum gedacht werden? – Was ist Leibniz’ Hauptargument gegen Newtons Theorie eines absoluten Raumes und einer absoluten Zeit? Ist dieses Argument überzeugend? – Wieso gibt es Leibniz zufolge kein Kontinuum? – Welche Möglichkeiten gibt es, die These, dass Raum und Zeit nur Relationen sind, auszuführen, und welche Schwierigkeiten stellen sich für diese Ausführungen? – Wieso kann Descartes’ Naturphilosophie nicht eindeutig der Position, Materielles auf Raum und Zeit zurückzuführen, zugeordnet werden?

Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen – Wieso ist die Position, Materielles auf Raum und Zeit zurückzuführen, auf eine physikalische Feldkonzeption im Unterschied zu einer Konzeption sich bewegender Teilchen festgelegt? – Wie kann Bewegung innerhalb dieser Position rekonstruiert werden? – Vergleichen Sie die drei vorgestellten Konzeptionen von Raum, Zeit und Materie und bewerten Sie die Argumente für die jeweilige Position und deren Probleme!

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IV. Die Philosophie der Relativitätstheorie Dieses Kapitel stellt die Vereinigung von Raum und Zeit zur Raumzeit in der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie vor. Mögliche philosophische Konsequenzen dieser Vereinigung werden diskutiert. Das Kapitel bezieht dann die grundlegenden philosophischen Konzeptionen des Verhältnisses von Raum, Zeit und Materie, die im vorigen Kapitel eingeführt wurden, auf die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. Die Argumente für jede dieser Konzeption werden im Lichte der heutigen Diskussion bewertet.

1. Von Raum und Zeit zur Raumzeit a) Die physikalischen Grundlagen Spezielle Relativitätstheorie

Grundannahmen der speziellen Relativitätstheorie

Die Relativitätstheorie und die Quantentheorie sind die beiden großen physikalischen Theorien des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieses Kapitel geht auf die Relativitätstheorie ein, das folgende auf die Quantentheorie. Zu unterscheiden ist zwischen der speziellen Relativitätstheorie (1905) und der allgemeinen Relativitätstheorie (1916). Für die Entwicklung beider Theorien ist Albert Einstein (1879–1955) maßgeblich. Die spezielle Relativitätstheorie legt insbesondere dar, dass es keine für alle Bezugssysteme gemeinsame zeitliche Ordnung der Ereignisse im Universum gibt. Was relativ zu einem Bezugssystem gleichzeitig geschieht, das geschieht relativ zu anderen Bezugssystemen nacheinander. Einsteins erste Publikation zur speziellen Relativitätstheorie ist der Aufsatz Zur Elektrodynamik bewegter Körper (1905) [4–1]. Dort legt Einstein die folgenden beiden Annahmen seinen Überlegungen zugrunde: 1. Alle Inertialsysteme sind physikalisch gleichwertig. Das heißt, die physikalischen Gesetze sind unabhängig davon, welches Inertialsystem man zur Beschreibung physikalischer Vorgänge heranzieht. Man bezeichnet ein Bezugssystem genau dann als Inertialsystem, wenn die Bahnen von punktförmigen Probekörpern, die nicht von Kräften beeinflusst sind, geradlinig in diesem System sind. Alle Inertialsysteme bewegen sich relativ zueinander mit konstanter Geschwindigkeit, also ohne beschleunigt zu sein. Obwohl alle solchen Bezugssysteme physikalisch gleichwertig sind, kann es in der jeweiligen Situation, die man beschreiben möchte, sinnvoll sein, ein bestimmtes Bezugssystem herauszugreifen. Worauf es ankommt, ist, dass es physikalisch kein von sich aus ausgezeichnetes, globales Bezugssystem gibt. 2. In jedem Inertialsystem breitet sich das Licht in gleicher Weise aus, unabhängig von dem Bewegungszustand der Quelle, von der es emittiert wird. Das ist das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit.

Von Raum und Zeit zur Raumzeit

Die wesentliche, neue Annahme ist (2). Allerdings ist schon in der Feldtheorie des Elektromagnetismus von James Clerk Maxwell (1831–1879) die Geschwindigkeit, mit der sich das Feld einer bewegten Punktladung ausbreitet, nicht von der Geschwindigkeit dieser Punktladung abhängig. Ferner zeigt das Experiment von Michelson und Morley von 1887, dass in einem Inertialsystem die Lichtgeschwindigkeit – genauer der Mittelwert der Geschwindigkeiten, mit der sich das Licht auf dem Hin- und Rückweg zwischen zwei festen Punkten bewegt – in allen Raumrichtungen gleich ist. Aber erst Einstein stellt das Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit an den Anfang der physikalischen Theoriebildung. Infolgedessen kann Einstein die Dynamik ohne das Konzept einer absoluten Zeit formulieren – das heißt einer Zeit, die eine eindeutige zeitliche Ordnung aller Ereignisse im Universum festlegt. Mit dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit enthalten die Grundannahmen der speziellen Relativitätstheorie ein absolutes Element, während in der Newtonschen Physik alle Geschwindigkeiten relativ sind. Aus (1) und (2) folgert Einstein dann jedoch das, was gemäß der speziellen Relativitätstheorie relativ ist – insbesondere die Relativität der Gleichzeitigkeit und allgemein die Relativität zeitlicher und räumlicher Abstände ([4–1], §§ 1–2). In der Newtonschen Physik ist die Gleichzeitigkeit eine zweistellige Relation: Ein gegebenes Ereignis e1 ist entweder gleichzeitig mit oder es ist nicht gleichzeitig mit einem anderen gegebenen Ereignis e2. In der speziellen Relativitätstheorie ist die Gleichzeitigkeit hingegen eine dreistellige Relation: Ein gegebenes Ereignis e1 ist gleichzeitig mit einem anderen gegebenen Ereignis e2 relativ zu einem Bezugssystem b1. Es gibt ein anderes Bezugssystem b2, relativ zu dem dasselbe Ereignis e1 nicht gleichzeitig mit e2 ist, sondern auf e2 folgt; und relativ zu einem dritten Bezugssystem b3 liegt e1 vor e2. Dasselbe gilt für den räumlichen Abstand zwischen zwei verschiedenen Ereignissen: Die räumliche Entfernung zwischen den Ereignissen e1 und e2 ist – ebenso wie der zeitliche Abstand zwischen ihnen – relativ zu einem Bezugssystem. Unter einem Ereignis im physikalischen Sinne wird dabei ein Punkt in Raum und Zeit mitsamt den physikalischen Eigenschaften verstanden, die an diesem Punkt auftreten. Ein Ereignis ist also eine vierdimensionale Größe. Allgemein formuliert besagt die spezielle Relativitätstheorie somit, dass sowohl der räumliche als auch der zeitliche Abstand zwischen je zwei verschiedenen Ereignissen relativ zu einem Bezugssystem ist. Es ist gemäß der speziellen Relativitätstheorie nicht sinnvoll, von räumlichen und von zeitlichen Abständen unabhängig von einem Bezugssystem zu sprechen. Deshalb heißt diese Theorie „Relativitätstheorie“. Das Bezugssystem kann ein beliebiges Inertialsystem sein. Es braucht kein Beobachter im Sinne eines erkennenden Subjektes zu sein. Die Relativitätstheorie ist mithin nicht in dem Sinne relativ, dass physikalische Eigenschaften relativ zu erkennenden Subjekten sind. Es gibt keine Bezugssysteme, die von sich aus ausgezeichnet sind. Während räumliche und zeitliche Abstände jeweils relativ zu einem Bezugssystem sind, kann man zwischen je zwei verschiedenen Ereignissen einen vierdimensionalen raumzeitlichen Abstand definieren, der invariant unter dem Wechsel von einem Bezugssystem zu einem anderen ist. Das

Relativität der räumlichen und zeitlichen Abstände

Raumzeitlicher Abstand

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Die Philosophie der Relativitätstheorie

Zeit nicht wie Raum behandelt

heißt: Welches Bezugssystem auch immer man betrachtet, der raumzeitliche Abstand zwischen zwei beliebigen verschiedenen Ereignissen ist derselbe. Weil nur der raumzeitliche Abstand invariant ist, sind Raum und Zeit in der speziellen Relativitätstheorie vereinigt, statt voneinander unabhängige Größen zu sein. Der raumzeitliche Abstand zwischen zwei Ereignissen kann raumartig, zeitartig oder lichtartig sein. Zwei Ereignisse sind genau dann raumartig voneinander getrennt, wenn es ein Bezugssystem gibt, relativ zu dem die beiden Ereignisse gleichzeitig sind. Das impliziert, dass es kein Bezugssystem gibt, relativ zu dem die beiden Ereignisse am gleichen Ort sind. Zwei Ereignisse sind genau dann zeitartig voneinander getrennt, wenn es kein Bezugssystem gibt, relativ zu dem sie gleichzeitig sind. Das impliziert, dass es ein Bezugssystem gibt, relativ zu dem die beiden Ereignisse am gleichen Ort sind. Zwei Ereignisse sind genau dann lichtartig voneinander getrennt, wenn sie durch einen Lichtstrahl miteinander verbunden werden können. Obwohl Raum und Zeit in der speziellen Relativitätstheorie zur Raumzeit vereinigt sind, behandelt die spezielle Relativitätstheorie Raum und Zeit verschieden. Es ist nicht richtig, zu sagen, dass die Zeit verräumlicht wird. Denn es gibt einen objektiven Unterschied zwischen raumartigen und zeitartigen Abständen. Dieser Unterschied besteht darin, dass es kausale Beziehungen im Sinne physikalischer Interaktionen nur zwischen Ereignissen geben kann, deren Abstand zeitartig oder lichtartig ist. Zeitartig getrennt von einem Ereignis sind alle diejenigen Ereignisse, mit denen dieses Ereignis mit einer Geschwindigkeit verbunden werden kann, die kleiner als die Lichtgeschwindigkeit ist. Diese Ereignisse sind zeitartig voneinander getrennt, weil sie in allen Bezugssystemen entweder früher oder später als das betreffende Ereignis sind. Die Geschwindigkeit des Lichtes im Vakuum liegt bei fast 300.000 Kilometer pro Sekunde. Die Lichtgeschwindigkeit ist, wie gesagt, in allen Inertialsystemen konstant. Die Lichtgeschwindigkeit ist die Obergrenze für die Übermittlung von Signalen und allgemein von Wirkungen. Mit Hilfe der Lichtgeschwindigkeit kann man für jedes Ereignis einen Lichtkegel definieren. Man unterscheidet zwischen dem Vergangenheits- und dem Zukunfts-Lichtkegel eines Ereignisses. Innerhalb des Zukunfts-Lichtkegels eines Ereignisses liegen alle diejenigen Ereignisse, die von diesem Ereignis aus mit einer Geschwindigkeit erreicht werden können, die kleiner als die Lichtgeschwindigkeit ist, und die mithin in allen Bezugssystemen später als das betreffende Ereignis sind. Innerhalb des Vergangenheits-Lichtkegels eines Ereignisses liegen alle und nur diejenigen Ereignisse, von denen aus dieses Ereignis mit einer Geschwindigkeit erreicht werden kann, die kleiner als die Lichtgeschwindigkeit ist, und die mithin in allen Bezugssystemen früher als das betreffende Ereignis sind. Für jedes Ereignis kann man auf diese Weise eine relative Vergangenheit und eine relative Zukunft definieren. Ereignisse, die außerhalb des Lichtkegels eines gegebenen Ereignisses liegen, sind raumartig von diesem Ereignis getrennt; sie können durch keine Signale miteinander verbunden werden, die sich höchstens mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Ereignisse, die mit einem gegebenen Ereignis durch Signale verbunden werden, die sich genau mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, sind lichtartig voneinander getrennt und bilden die Grenzlinien des Lichtkegels des gegebenen Ereignisses (für physikalische Einführungen

Von Raum und Zeit zur Raumzeit

in die spezielle Relativitätstheorie siehe zum Beispiel [4–2], Band 1, Kapitel 15 bis 17, [4–3] und [4–4], Kapitel 2; für philosophische Einführungen [4–5], [4–6], [4–7], Kapitel 1 und 2, [4–8] und [4–9]).

b) Mögliche philosophische Konsequenzen der Vereinigung von Raum und Zeit Die spezielle Relativitätstheorie ist einer zeitlichen Sicht der Existenz entgegengesetzt, gemäß der nur das existiert, was gegenwärtig ist, beziehungsweise nur das existiert, was gegenwärtig oder vergangen ist. Eine zeitliche Sicht der Existenz liegt vom Alltagsverständnis aus zunächst nahe: Was zukünftig ist, existiert noch nicht; was vergangen ist, existiert nicht mehr. Das Problem für diese Sicht von Existenz ist jedoch, dass es nach der speziellen Relativitätstheorie keine universelle Gegenwart gibt, weil es keine universelle Gleichzeitigkeit gibt. Was gegenwärtig ist, ist relativ zu einem Bezugssystem, und alle Bezugssysteme sind physikalisch gleichwertig. Was daher relativ zu einem Bezugssystem gegenwärtig ist, ist relativ zu einem anderen Bezugssystem bereits vergangen und relativ zu einem dritten Bezugssystem noch zukünftig. Im Rahmen einer zeitlichen Sicht von Existenz ist somit nach der speziellen Relativitätstheorie nicht mehr eindeutig, was existiert – es sei denn, man möchte so weit gehen, „Existenz“ als ein Prädikat anzusehen, das relativ zu einem Bezugssystem ist. Wenn man dennoch daran festhalten möchte, dass Existenz relativ zu einer bestimmten Zeit ist, müsste man die Konsequenz ziehen, dass Existenz auch relativ zu einem bestimmten Ort ist; denn es gibt keine Gleichzeitigkeit

Gegen zeitliche Sicht von Existenz

Blockuniversum

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Die Philosophie der Relativitätstheorie

Definition von „Determinismus“

Blockuniversum impliziert nicht Determinismus

über räumliche Distanzen hinweg, die unabhängig von einem Bezugssystem ist. Letztlich wäre dann Existenz ebenso relativ zu einem Raumpunkt wie sie relativ zu einem Zeitpunkt sein soll. Existieren würde also nur das jeweilige „Jetzt-hier“. Dabei können alle Punkte der Raumzeit den gleichen Anspruch auf „Jetzt-hier“ erheben. Es gibt kein objektiv ausgezeichnetes „Jetzt-hier“ (siehe zu dieser Konsequenz zum Beispiel [4–10], insbesondere S. 15 und 18, [4–11], Kapitel 11 bis 13, insbesondere S. 186–187, 210, und [4–12]). Angesichts einer solchen wenig plausiblen Konsequenz spricht die Relativitätstheorie für eine zeitlose Sicht von Existenz. Existenz ist nicht relativ zu einer bestimmten Zeit, ebenso wenig wie sie relativ zu einem bestimmten Ort ist. Alles existiert in einem Punkt oder Gebiet der Raumzeit, und alles in der Raumzeit existiert schlechthin, obwohl es objektive Beziehungen des Vorher und Nachher gibt. Die zeitlose Sicht von Existenz ist als die Konzeption eines Blockuniversums bekannt. Die Relativität der Gleichzeitigkeit in der speziellen Relativitätstheorie reicht hin, um diese philosophische Konzeption zu stützen. Gemäß der Konzeption eines Blockuniversums existiert alles schlechthin. Das heißt aber lediglich, dass irgendetwas an jedem Punkt der Raumzeit der Fall ist. Insofern ist die Welt bestimmt. Daraus, dass alles, was existiert, schlechthin existiert, folgt nicht, dass alles, was existiert, in seiner Existenz durch anderes determiniert ist (siehe [4–11], Kapitel 6 bis 8). Die heute weithin akzeptierte Definition von „Determinismus“ ist diese: Wir beziehen uns auf alle diejenigen möglichen Welten, in denen die gleichen Naturgesetze wie in der realen Welt gelten. Wir stellen uns zwei beliebige dieser Welten vor und betrachten eine Aufteilung in räumliche und zeitliche Ausdehnung, die für beide Welten gleich ist, so dass wir für beide Welten die gleiche, eindeutige zeitliche Ordnung definiert haben. Diese Welten sind genau dann deterministisch, wenn Folgendes gilt: Wenn diese Welten zu einem Zeitpunkt übereinstimmen, dann stimmen sie zu allen Zeitpunkten überein (siehe [4–13], S. 13). Wenn folglich die reale Welt deterministisch ist, dann genügt im Prinzip die Kenntnis der Naturgesetze und der genauen Randund Anfangsbedingungen, um alles, was es in der Welt gibt, kennen zu können. Mögliche Welten, die ein Blockuniversum sind, brauchen diese Definition jedoch nicht zu erfüllen. Für jeden Punkt der Raumzeit gibt es einen Vergangenheits- und einen Zukunfts-Lichtkegel. Kausale Beziehungen bestehen nur zwischen Ereignissen innerhalb des Lichtkegels. Sofern wir annehmen können, dass Kausalbeziehungen zeitlich gerichtet sind und wir zeitlich rückwärts gerichtete Kausalität ausschließen können, bestehen Kausalbeziehungen nur zwischen Ereignissen im Vergangenheits-Lichtkegel und dem Ereignis an dem gegebenen Punkt. Kausal beeinflussbar sind demnach nur Ereignisse im ZukunftsLichtkegel eines gegebenen Punktes. Die Konzeption eines Blockuniversums lässt offen, ob und inwiefern das Ereignis an einem gegebenen Punkt der Raumzeit durch Ereignisse im Vergangenheits-Lichtkegel dieses Punktes determiniert ist. Ebenso bleibt offen, ob und inwiefern Ereignisse im ZukunftsLichtkegel dieses Punktes durch das Ereignis an dem betrachteten Punkt determiniert sind. Die zeitlose Sicht der Existenz impliziert als solche keinen Determinismus (siehe zum Beispiel [4–10], [4–11] und [4–14] gegen die Einwände von [4–15], [4–16] und [4–17]).

Von Raum und Zeit zur Raumzeit

Wenn man auf der Grundlage dessen, was die spezielle Relativitätstheorie über die Zeit sagt, die Konzeption eines Blockuniversums akzeptiert, so lässt diese physikalische Theorie zunächst offen, mit welchen ontologischen Kategorien wir den Inhalt des Blockuniversums erfassen sollen. Grundlegend ist die Unterscheidung zwischen Dingen (Substanzen) und Ereignissen. Philosophisch kann man diese Unterscheidung als diejenige zwischen continuants und occurrents erfassen ([4–18], S. 141–166, insbesondere S. 141–148). Ein Ding (continuant) hat räumliche Teile, aber keine zeitlichen Teile, weil es als Ganzes für eine bestimmte Zeit existiert. Ein Ereignis (occurrent) im philosophischen Sinne hingegen hat sowohl räumliche als auch zeitliche Teile. Ein Ereignis in diesem philosophischen Sinne ist aus Ereignissen im Sinne dessen, was an Punkten der Raumzeit der Fall ist, aufgebaut. Wir können von einem Prozess sprechen. Ein Prozess ist eine kontinuierliche Folge von Ereignissen im Sinne dessen, was an einem Punkt der Raumzeit der Fall ist. In unserer Alltagsontologie erkennen wir Dinge ebenso wie Ereignisse an. Der Ausbruch eines Vulkans zum Beispiel ist ein Ereignis (ein Prozess), das (der) sowohl zeitliche als auch räumliche Teile hat. Ein Ausbruch kann zunächst schwach und dann heftig sein. Er erstreckt sich über eine gewisse Zeit, ohne als Ganzer in einem Teil dieser Zeit zu existieren. Der Vulkan hingegen hat nur räumliche, aber keine zeitlichen Teile. Er existiert als Ganzer für eine bestimmte Zeit. Nichtsdestoweniger wird die spezielle Relativitätstheorie von vielen Philosophen als Stütze für eine Ontologie angesehen, gemäß der es nur Ereignisse und damit Prozesse (occurrents), aber keine Dinge (continuants) gibt. Die prominentesten dieser Philosophen sind der Engländer Bertrand Russell (1872–1970) und der Amerikaner Willard Van Orman Quine (1908–2000) ([4–19], Kapitel 14; [4–20], § 36). Auch David Lewis (1941–2001), einer der einflussreichsten amerikanischen Philosophen der letzten Dekaden, vertritt eine Ontologie, gemäß der es nur Entitäten mit zeitlichen Teilen gibt, ohne allerdings die spezielle Relativitätstheorie als Stütze heranzuziehen ([4–21], S. 202–204). Das Argument ist in erster Linie eines der ontologischen Sparsamkeit: Ereignisse müssen wir auf jeden Fall anerkennen. Es ist nicht möglich, Ereignisse auf Dinge zurückzuführen; denn man kann nicht alle Ereignisse als Wechsel von Eigenschaften beharrender Dinge verstehen. Ein Standardbeispiel für ein Ereignis, das man nicht als Wechsel von Eigenschaften beharrender Dinge verstehen kann, ist der Blitzschlag. Umgekehrt ist es aber möglich, Dinge auf Ereignisse zurückzuführen. Man kann ein Ding als eine raumzeitliche Folge voneinander ähnlicher, so genannter genidentischer Ereignisse rekonstruieren (Ausarbeitungen dieser Position sind zum Beispiel [4–22], [4–23] und [4–24], erster Teil; siehe gegen eine solche Ontologie von Ereignissen zum Beispiel [4–25], S. 127–132). Die spezielle Relativitätstheorie wird hier insofern relevant, als mit der Vereinigung von Raum und Zeit das naturphilosophische Argument dafür entfällt, dass es Dinge als das Beharrende im Raum (Substanzen) geben muss. Mit dem Blockuniversum der Relativitätstheorie haben wir stattdessen ein Modell dessen zur Verfügung, wie eine Ontologie von Ereignissen als dem, was es in der vierdimensionalen Raumzeit gibt, aussehen kann. Einige heutige Philosophen der Physik gehen weiter und entwickeln Argumente, die zu zeigen beanspruchen, dass die spezielle Relativitätstheorie uns in der gleichen Wei-

Dinge und Ereignisse

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Die Philosophie der Relativitätstheorie

Bewegung und Veränderung

Zeitrichtung

se auf eine Ontologie von Ereignissen festlegt, wie sie uns auf die zeitlose Sicht des Existierenden (Blockuniversum) festlegt (insbesondere [4–26] und siehe dagegen [4–27]). Wenn man die zeitlose Sicht des Existierenden (Blockuniversum) und die Ontologie von Ereignissen als denjenigem, was es im (Block-)Universum gibt, vertritt, dann – und nur dann – kann man eine elegante Antwort auf die Frage geben, was das Verhältnis zwischen Veränderung und Unveränderlichem ist. Das, was es an einem Punkt oder in einem Gebiet der Raumzeit gibt, die dort vorhandenen physikalischen Eigenschaften, ist ein für alle Male fix und damit unveränderlich, genau wie das Blockuniversum als Ganzes. Aus diesem Grund wird manchmal behauptet, dass das Blockuniversum statisch statt dynamisch ist, keine Zeit und keine Veränderung enthält. Diese Behauptung ist jedoch nicht korrekt: Das Blockuniversum ist nicht in der Zeit in dem Sinne, dass es sich in der Zeit entwickelt; aber es umfasst die Zeit. Wenn man eine Ontologie von Ereignissen in einem Blockuniversum vertritt, dann kann man eine Rekonstruktion von Bewegung und Veränderung geben, die an die Rekonstruktion anknüpft, welche in Kapitel III.3 angesprochen wurde. Man betrachtet eine kontinuierliche Folge von Punkten oder Gebieten der Raumzeit, die zeitartig voneinander getrennt sind und an denen ähnliche Ereignisse stattfinden – das heißt, ähnliche physikalische Eigenschaften vorhanden sind. Man kann eine solche Folge als eine Weltlinie oder ein größeres Gebiet der Raumzeit ansehen. Was man für die Bewegung eines Gegenstands im Raum hält, ist eine kontinuierliche Folge von Punkten oder Gebieten der Raumzeit mit einem ähnlichen physikalischen Inhalt. Selbiges gilt für Beschleunigung. In genau der gleichen Weise ist dasjenige, was man gewöhnlich als die Veränderung von Eigenschaften einer Substanz ansieht, das Vorhandensein verschiedener physikalischer Eigenschaften in einer kontinuierlichen Folge von Ereignissen an Punkten oder Gebieten der Raumzeit, die zeitartig voneinander getrennt sind. Des Weiteren verhindert nichts, eine kontinuierliche Folge von Ereignissen als ein Individuum anzusehen, sofern es sich um Ereignisse mit ähnlichen physikalischen Eigenschaften handelt (siehe zum Beispiel [4–21], S. 202–204, [4–23], Kapitel 4.6, und [4–28]). Da das Blockuniversum die Zeit umfasst, kann es unumkehrbare Prozesse und eine Zeitrichtung enthalten. Die überwiegende Mehrheit der Prozesse, mit denen wir vertraut sind, sind unumkehrbar: Das Leben ist ein Prozess des Älterwerdens, den man nicht umkehren kann, jeder Prozess der Messung einer physikalischen Größe ist unumkehrbar usw. Hierin besteht ein Unterschied zwischen Raum und Zeit: Der Raum ist homogen und isotrop, das heißt, kein Punkt und keine Richtung ist ausgezeichnet. Die Zeit ist auch homogen, jedoch anisotrop: Durch zeitlich unumkehrbare Prozesse ist eine Zeitrichtung ausgezeichnet. Generell sind alle kausalen Prozesse unumkehrbar und manifestieren eine Zeitrichtung: Wenn ein Ereignis e1 die Ursache eines anderen Ereignisses e2 ist, dann kann e2 nicht seinerseits die Ursache von e1 sein, und e2 ist später als e1, da es sich im Zukunfts-Lichtkegel von e1 befindet. Die Geometrie der Raumzeit erlaubt es, für jeden Punkt zwei Lichtkegel zu konstruieren, und man nennt diese „Vergangenheits-“ und „Zukunfts-Lichtkegel“, da kausale Prozesse vom Vergangenheits- zum

Raum, Zeit und Materie nach der Relativitätsphysik

Zukunfts-Lichtkegel gerichtet sind. Kurz gesagt, obwohl das Blockuniversum keine einheitliche Zeitordnung enthält, die alle Ereignisse umfasst, kann es ohne Weiteres eine Zeitrichtung einschließen (siehe zum Beispiel [4–29] und [4–30]). Die Zeitrichtung ist durch Kausalprozesse und der auf diesen basierenden Unterscheidung zwischen einem Zukunfts- und einem Vergangenheits-Lichtkegel für jeden Punkt der Raumzeit gegeben.

2. Raum, Zeit und Materie nach der Relativitätsphysik a) Die Bedeutung der allgemeinen Relativitätstheorie Wie stellt sich gemäß der Relativitätstheorie das Verhältnis von Raumzeit und Materie dar? Wir müssen dazu die allgemeine Relativitätstheorie betrachten. Diese fügt eine Theorie der Gravitation zur speziellen Relativitätstheorie hinzu und löst so das Problem, welches die Konzeption der Gravitation als Fernwirkung in Newtons Physik aufwirft. Während die Raumzeit der speziellen Relativitätstheorie flach ist, wie der Raum gemäß der vor-relativistischen, klassischen Physik, sieht die allgemeine Relativitätstheorie die Raumzeit als gekrümmt an. Die Materie bestimmt die Geometrie der Raumzeit: Sie krümmt die Raumzeit. Die Geometrie der Raumzeit beeinflusst ihrerseits die Bahn physikalischer Systeme in der Raumzeit. Das Ganze – die Geometrie der Raumzeit und die Materie – wird von den Einsteinschen Feldgleichungen beschrieben. Statt eine Interaktion zwischen materiellen Systemen in einer nicht-dynamischen Raumzeit zu sein, eine Fernwirkung in der Newtonschen Physik, ist die Gravitation eine lokale Interaktion zwischen der Materie und der Geometrie der Raumzeit. Die allgemeine Relativitätstheorie ist insbesondere für die Kosmologie wichtig. Die heute weitgehend akzeptierte Interpretation der Beobachtungen und Theorien in der Kosmologie besagt Folgendes: Alle Galaxien entfernen sich voneinander, welchen Punkt der Raumzeit auch immer man betrachtet und auf welches lokale Inertialsystem auch immer man sich bezieht. Das ist die Grundlage für das vorherrschende kosmologische Modell eines expandierenden Universums, das letztlich auf ein singuläres Ereignis, den so genannten Urknall, als Anfangszustand zurückgeht. Dieses Modell impliziert jedoch keineswegs, dass es ein global bevorzugtes Bezugs- oder Koordinatensystem gibt, durch das eine eindeutige zeitliche Ordnung aller Ereignisse im Universum festgelegt wäre. Der Urknall ist eine Singularität und kein Punkt innerhalb der Raumzeit, der durch die allgemeine Relativitätstheorie beschrieben werden kann. Es ist nicht möglich, unter Bezugnahme auf diese Singularität eine einzige, objektive zeitliche Ordnung aller Ereignisse im Universum zu definieren. Es gibt ein privilegiertes Koordinatensystem für uns in unserer Galaxie, aber kein global privilegiertes Koordinatensystem. Was die spezielle Relativitätstheorie über die Relativität räumlicher und zeitlicher Abstände sagt, bleibt in der allgemeinen Relativitätstheorie und ihrer Anwendung in der Kosmologie erhalten. Der wesentliche Beitrag, den die allgemeine Relativitätstheorie für die Diskussion über das Verhältnis von Raum, Zeit und Materie leistet, besteht

Allgemeine Relativitätstheorie

Kosmologie

Raumzeit dynamisch

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Die Philosophie der Relativitätstheorie

in Folgendem: Statt eines passiven Hintergrunds ist das System der raumzeitlichen Beziehungen selbst etwas Dynamisches, indem es mit der Materie interagiert. Infolgedessen hängen die raumzeitlichen Abstände zwischen Punkten der Raumzeit von der Verteilung der Materie im Sinne von Masse im Universum ab. Diese Dynamik des Systems der raumzeitlichen Beziehungen hat zur Folge, dass es keine klare Trennung zwischen der Raumzeit auf der einen und der Materie auf der anderen Seite mehr gibt. Das Gravitationsfeld ist im metrischen Feld enthalten, das die Geometrie der Raumzeit definiert. Aus diesem Grund ist der Status des metrischen Feldes doppeldeutig. Gehört es zur Raumzeit? Oder gehört es zur Materie? Auf der einen Seite umfasst das metrische Feld nicht nur die Krümmung der Raumzeit, sondern die gesamte Geometrie der Raumzeit: Ohne dieses Feld gäbe es keine Lichtkegel und damit keine Unterscheidung zwischen zeitartigen, raumartigen und lichtartigen Abständen zwischen Ereignissen. Ohne das metrische Feld gäbe es nur eine Mannigfaltigkeit von Punkten mit einer topologischen Struktur. Diese Tatsache spricht dafür, das metrische Feld – und damit das Gravitationsfeld – der Raumzeit zuzuordnen. Auf der anderen Seite enthält das metrische Feld selbst Energie, nämlich die gravitationelle Energie. Es interagiert mit der Materie ebenso wie mit sich selbst, und diese Interaktion wird durch die Einsteinschen Feldgleichungen beschrieben. Obwohl die gravitationelle Interaktion universell ist – sie umfasst alle physikalischen Systeme –, kann man sie dennoch als eine materielle Interaktion ansehen genau wie die anderen materiellen Interaktionen (starke, schwache und elektromagnetische Wechselwirkung). Folglich gibt es ebenso gute Gründe dafür, das metrische Feld der Materie zuzuordnen. Gehen wir vor diesem Hintergrund nun auf die drei traditionellen Konzeptionen des Verhältnisses von Raumzeit und Materie ein, die wir im vorigen Kapitel anhand von Newton, Leibniz und Descartes-Spinoza eingeführt haben (siehe dazu insgesamt [4–31]).

b) Die Raumzeit als Substanz im Unterschied zur Materie Substantialismus

Da Raum und Zeit in der Relativitätsphysik vereinigt sind, ist es möglich, die Raumzeit insgesamt als eine Substanz anzusehen, die durch sich selbst existiert. Statt zweier absoluter Entitäten, den absoluten Raum und die absolute Zeit, gibt es nur eine absolute Entität. Diese Position ist in der heutigen Literatur als Substantialismus bekannt. Es wird nicht nur die Frage diskutiert, ob die Raumzeit insgesamt eine Substanz ist, sondern vor allem diejenige, ob die Punkte der Raumzeit selbst Substanzen sind, deren Identität unabhängig davon ist, welche physikalischen, materiellen Eigenschaften an ihnen auftreten ([4–32]). Angesichts des doppeldeutigen Status des metrischen Feldes gibt es zwei verschiedene Versionen des Substantialismus: 1) Die eine Version besteht darin zu vertreten, dass die Raumzeit ohne das metrische Feld eine eigenständige Substanz ist. Auf die Punkte der Raumzeit übertragen bedeutet dieses, dass die Punkte der Raumzeit eine intrinsische Identität besitzen, die unabhängig von den metrischen und den materiellen Eigenschaften ist, die an diesen Punkten auftreten. Diese Version ist als Mannigfaltigkeits-Substantialismus bekannt, weil sie die Mannigfaltig-

Raum, Zeit und Materie nach der Relativitätsphysik

keit von Punkten mit allein einer topologischen Struktur als hinreichend dafür ansieht, diese Mannigfaltigkeit beziehungsweise diese Punkte als Substanzen zu betrachten. Diese Position speist sich aus der Tatsache, dass das metrische Feld auch eine materielle Natur hat, indem es die gravitationelle Energie enthält, und dadurch nicht mehr eindeutig der Raumzeit zugeschlagen werden kann (siehe [4–33] für die Darstellung dieser Position). 2) Die andere Version vertritt, dass die Raumzeit einschließlich des metrischen Feldes, also einschließlich ihrer geometrisch-gravitationellen Struktur, eine Substanz ist ([4–34] und [4–32]). In diesem Falle sind die Punkte der Raumzeit nur zusammen mit den metrischen Eigenschaften Substanzen. Die metrischen Eigenschaften sind relationale im Unterschied zu intrinsischen Eigenschaften: Sie kommen einem Punkt der Raumzeit nur relativ auf seine – infinitesimale – Umgebung zu. Die Hypothese einer intrinsischen Identität der Punkte der Raumzeit entfällt damit. Diese Version des Substantialismus ist als metrischer Essentialismus bekannt. Ein wichtiges Argument für den Substantialismus in Bezug auf die Punkte der Raumzeit ist das Feld-Argument des amerikanischen Philosophen Hartry Field ([4–35], Kapitel 4, insbesondere S. 35, und [4–36], S. 40–42). Dieses Argument stützt sich auf folgende Tatsache: Gemäß der herkömmlichen mathematischen Darstellung physikalischer Feldtheorien existieren die Eigenschaften von Feldern an Punkten der Raumzeit. Deshalb, so dieses Argument, legen uns die physikalischen Feldtheorien darauf fest, dass es Substanzen in Form von Punkten der Raumzeit gibt, die Träger der physikalischen Feldeigenschaften sind (siehe jedoch [4–37], S. 531–532, und [4–38] gegen dieses Argument). Dieses Argument ist mit beiden Versionen des Substantialismus in Bezug auf die Punkte der Raumzeit vereinbar. Nur die zweite Version des Substantialismus, diejenige gemäß der die Raumzeit nur zusammen mit dem metrischen Feld eine Substanz ist, wird des Weiteren vor allem durch die Tatsache gestützt, dass die Einsteinschen Feldgleichungen Vakuum-Lösungen zulassen – das heißt Lösungen, in denen es nur das metrische Feld gibt. Aufgrund dieser Lösungen kann man vertreten, dass die Idee einer Raumzeit nur mit dem metrischen Feld, aber ohne Materie-Felder physikalisch und ontologisch sinnvoll ist – das heißt eine mögliche Welt beschreibt – und nicht dem Einwand gegen Newtons Substantialismus ausgesetzt ist, gemäß dem der ontologische Status eines leeren Raums und einer leeren Zeit unverständlich ist (siehe oben Kapitel II.1).

Feld-Argument

Vakuum-Argument

c) Die Raumzeit als Relationen zwischen Materiellem Ebenso wie gegen den Substantialismus von Newton wird gegen den heutigen Substantialismus ein Argument vorgebracht, das die relativistische Version von Leibniz’ Einwand ist und das als das Loch-Argument bekannt ist. Dieses Argument geht auf Einstein zurück ([4–39]). Es besagt, kurz gefasst, Folgendes (siehe vor allem [4–31], Kapitel 9, [4–33], [4–40], [4–41], [4–42]): Wenn man die Punkte der Raumzeit ohne die metrischen Feldeigenschaften als Substanzen betrachtet, dann gibt es wiederum physikalisch ununterscheidbare Situationen, die aber gemäß dem Mannigfaltigkeits-Subs-

Loch-Argument

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Die Philosophie der Relativitätstheorie

Relationalismus

tantialismus real unterschieden sind. Jeweils verschiedene Punkte der Raumzeit, gekennzeichnet durch eine intrinsische Identität, sind die Träger der metrischen Feldeigenschaften. Man kann solche Situationen so konstruieren, dass diese für ein gegebenes Gebiet der Raumzeit – sagen wir für die Vergangenheit eines gegebenen Punktes in einer beliebigen, gegebenen Aufteilung der Raumzeit in dreidimensionalen Raum und eindimensionale Zeit – identisch sind, sich aber in der Zukunft (dem so genannten Loch) darin unterscheiden, welche Punkte der Raumzeit die Träger der metrischen Feldgrößen sind. Die allgemeine Relativitätstheorie erkennt solche Unterschiede nicht an. Wenn man dennoch solche Unterschiede ansetzt, dann ergibt sich eine bestimmte Form eines Indeterminismus innerhalb der allgemeinen Relativitätstheorie (die eine deterministische physikalische Theorie ist): Der Zustand eines Modells der allgemeinen Relativitätstheorie für ein beliebig großes Gebiet der Raumzeit (zum Beispiel die oben genannte Vergangenheit eines gegebenen Punktes) determiniert nicht die Entwicklung dieses Modells für den Rest der Raumzeit (das Loch, zum Beispiel die Zukunft des genannten Punktes): Es sind verschiedene Weiterentwicklungen des Modells möglich, da für die weitere Entwicklung der metrischen Feldeigenschaften – deren Dynamik ist deterministisch – verschiedene Punkte der Raumzeit als Träger in Frage kommen. Das Loch-Argument gilt allgemein als schlagendes Argument gegen den Mannigfaltigkeits-Substantialismus: Dieser zwingt uns dazu, ontologische Unterscheidungen anzuerkennen, die physikalisch bedeutungslos sind – anders gesagt, für die es kein Argument gibt außer dem, die Existenz von Punkten der Raumzeit als Substanzen mit einer intrinsischen Identität einfach vorauszusetzen. Das Loch-Argument trifft jedoch nicht die Version des Substantialismus, welche die Raumzeit zusammen mit dem metrischen Feld beziehungsweise die Punkte der Raumzeit zusammen mit den metrischen Feldeigenschaften als Substanzen ansieht ([4–34], [4–43], [4–44]). Der Leibnizianer kann gegen diese Version des Substantialismus lediglich folgendes Argument anführen: Indem die Punkte der Raumzeit nur zusammen mit den metrischen Feldgrößen als Substanzen angesehen wird, handelt es sich de facto nicht mehr um Punkte der Raumzeit im Unterschied zu materiellen Systemen, da die metrischen Feldgrößen die gravitationelle Energie einschließen; das metrische Feld ist ein materielles Feld wie die anderen Materie-Felder ([4–38], [4–45]). Man kann in diesem Zusammenhang sogar Leibniz’ kausale Charakterisierung der Materie als Kraftpunkte aufnehmen und so weit gehen, die metrischen Eigenschaften als kausale Eigenschaften aufzufassen, weil sie wesentlich dafür sind, die Gravitationseffekte hervorzubringen (wie zum Beispiel die Gezeiten) (siehe [4–46], Abschnitt 2.3, [4–47]; siehe dagegen [4–48]). Hieran zeigt sich, dass der doppeldeutige physikalische Status des metrischen Feldes in der allgemeinen Relativitätstheorie auch die philosophische Unterscheidung zwischen Substantialismus und Relationalismus doppeldeutig werden lässt: Man kann die eben diskutierte Position als einen Substantialismus ansehen, indem man das metrische Feld der Raumzeit zuordnet. Ebenso kann man diese Position aber auch als einen Relationalismus ansehen, indem man vertritt, dass die Raumzeit in metrischen Relationen zwischen materiellen Systemen besteht, wobei diese Relationen selbst einen

Raum, Zeit und Materie nach der Relativitätsphysik

materiellen Charakter haben – kurz, es gibt nur metrische Eigenschaften beziehungsweise Relationen, die selbst eine Art materieller Eigenschaften beziehungsweise Relationen sind. Dennoch ist die Unterscheidung zwischen Substantialismus und Relationalismus nach wie vor relevant. Die entscheidende Frage ist die nach dem Verhältnis zwischen dem metrischen Feld (den metrisch-gravitationellen Eigenschaften) und den Feldern nicht-gravitationeller Energie-Materie (den nicht-gravitationellen Eigenschaften). Der Substantialist vertritt, dass das metrische Feld unabhängig von den Materie-Feldern existieren kann und dass Punkte als physikalische Systeme existieren, für welche die metrischen Eigenschaften essentiell sind (metrischer Essentialismus). Der Relationist vertritt, dass die metrischen Eigenschaften physikalischen Systemen zukommen, für welche die materiellen Feldeigenschaften wesentlich sind und die darüber hinaus durch metrische Eigenschaften charakterisiert sind, indem sie in metrischen Relationen stehen. Beide Positionen sind mit Problemen konfrontiert, die schon zur Zeit der Debatte zwischen Leibniz und Newton bekannt waren: Was den Relationalismus betrifft, ist nach wie vor keine Argumentationsstrategie verfügbar, mit der es gelingen könnte, die metrischen Eigenschaften von den Eigenschaften nicht-gravitationeller Energie-Materie aus abzuleiten oder zu rekonstruieren. Was den Substantialismus betrifft, so setzt dieser einfach Systeme an, die essentiell durch metrische Eigenschaften gekennzeichnet sind, und zusätzlich Systeme, die essentiell durch die Eigenschaften nicht-gravitationeller Energie-Materie gekennzeichnet sind. Er lässt die Frage nach dem Verhältnis dieser beiden Arten von Systemen beziehungsweise von Eigenschaften unbeantwortet.

d) Der Super-Substantialismus Mit der allgemeinen Relativitätstheorie hat ebenfalls der Ansatz, alles Materielle auf Eigenschaften der Raumzeit zurückzuführen, Auftrieb bekommen. Es gibt ein konkretes physikalisches Programm, diesen Ansatz durchzuführen. In den 1950er Jahren hat der Physiker John A. Wheeler (1912–2008) das Programm der Geometrodynamik entwickelt. Wheelers Geometrodynamik setzt sich die Aufgabe, die Physik in einer solchen Weise aufzubauen, dass keine ontologische Festlegung auf physikalische Systeme zusätzlich zur Raumzeit erforderlich ist. Der Ausgangspunkt ist, dass die allgemeine Relativitätstheorie die Theorie der Gravitation als eine geometrische Beschreibung der Raumzeit konzipiert, nämlich als eine Beschreibung von deren Krümmung. Wheelers Geometrodynamik visiert die folgende Weiterentwicklung der allgemeinen Relativitätstheorie an: Auch der Elektromagnetismus und die Teilchenphysik sollen allein auf der Grundlage einer geometrischen Beschreibung der leeren, gekrümmten Raumzeit aufgebaut werden. Leere Raumzeit meint hier eine Raumzeit ohne zusätzliche physikalische Systeme. Wheeler schreibt: „Ist die Raum–Zeit nur eine Arena, innerhalb derer sich Felder und Teilchen als ,physikalische‘ und ,fremde‘ Wesenheiten bewegen? Oder ist das vierdimensionale Kontinuum alles, was es gibt? Ist die gekrümmte, leere

Wheelers Geometrodynamik

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Die Philosophie der Relativitätstheorie

Geometrie eine Art magisches Baumaterial, aus dem alles in der physikalischen Welt geformt ist: (1) eine schwache Krümmung in einem Gebiet des Raumes beschreibt ein Gravitationsfeld; (2) eine gewellte Geometrie mit einer anderen Art der Krümmung irgendwo anders beschreibt ein elektromagnetisches Feld; (3) ein verknotetes Gebiet hoher Krümmung beschreibt eine Ansammlung von Ladung und Masse-Energie, die sich wie ein Teilchen bewegt? Sind Felder und Teilchen fremde Wesenheiten, die in die Geometrie eingebettet werden, oder sind sie nichts als Geometrie?“ ([4–49], S. 361; ausführlicher [4–50], insbesondere S. XI–XII, 8–87, 129–130, 225–236; siehe ferner [4–51], Kapitel 4 und 5, insbesondere S. 236, 312–318, und [4–52], Kapitel 10).

Scheitern der Geometrodynamik

Die Theorie der Raumzeit, die physikalische Eigenschaften behandelt, besteht mithin in einer Beschreibung der geometrischen Eigenschaften der Raumzeit wie deren Krümmung. Die ontologische Behauptung von Wheelers Geometrodynamik ist, dass der physikalische Bereich identisch mit dem vierdimensionalen Raumzeit-Kontinuum mit seinen geometrischen – das heißt, physikalischen – Eigenschaften ist. Die Geometrodynamik ist damit an eine Feldtheorie der Materie gebunden. Ihre Pointe ist, dass Felder nicht etwas Zusätzliches zu Raum und Zeit sind, das in der Raumzeit existiert, sondern dass es sich bei Feldern um die Raumzeit selbst mit physikalischen Eigenschaften handelt. Wheelers Geometrodynamik wird deshalb oft mit Descartes’ und insbesondere Spinozas Theorie des physikalischen Bereichs in Verbindung gebracht (siehe [4–51], S. 79–101). Sie kann als der Versuch gelten, die Identifikation der Materie mit dem Raum, die auf Descartes und Spinoza zurückgeführt werden kann, in der Physik des 20. Jahrhunderts zu etablieren. In der heutigen Literatur ist diese Position als Super-Substantialismus bekannt (siehe [3–18], S. 221–224 sowie [4–53]): Die Raumzeit ist nicht nur eine Substanz zusätzlich zur Materie, sondern die einzige Substanz, indem alle physikalischen Eigenschaften auf geometrische Eigenschaften der Raumzeit zurückgeführt werden können. Dieses geometrodynamische Programm ist jedoch physikalisch gescheitert. Die Probleme, die nicht bewältigt werden konnten, sind im Wesentlichen die folgenden drei: – Elektrodynamik: Durch Gegenbeispiele wurde gezeigt, dass die geometrische Beschreibung der Geometrodynamik nicht zwischen einigen physikalisch verschiedenen Anfangsbedingungen in der Elektrodynamik unterscheiden kann ([4–54], S. 12–14). – Singularitäten: Die Geometrodynamik wollte Singularitäten vermeiden ([4–50], insbesondere S. 25–31, 45–66). Dieser Versuch misslang jedoch. Wenn Singularitäten nicht eliminiert werden können, hat das zur Folge, dass physikalische Systeme wie Teilchen zusätzlich zur Raumzeit anerkannt werden müssen. Denn die Gleichungen des betreffenden Feldes können nicht auf die Punkte angewendet werden, an denen Singularitäten auftreten ([4–55], S. 33–39; [4–52], Kapitel 12). – Fermionen: Fermionen – das sind Teilchen von halbzahligem Spin wie zum Beispiel Elektronen – konnten von der Geometrodynamik nicht behandelt werden ([4–55], S. 45–46).

Raum, Zeit und Materie nach der Relativitätsphysik

Die ersten beiden Probleme betreffen schon die klassische Geometrodynamik, also den Versuch, die Theorien der Gravitation und des Elektromagnetismus auf der Basis einer Ontologie der Raumzeit ohne zusätzliche physikalische Systeme zu vereinigen. Das dritte Problem betrifft die QuantenGeometrodynamik, also den Versuch, die Theorie der Elementarsysteme der Quantenphysik in die Geometrodynamik aufzunehmen. Insbesondere infolge des dritten Problems hat Wheeler 1973 die Geometrodynamik im Sinne des Programms, die Physik allein auf der Raumzeit ohne zusätzliche physikalische Systeme aufzubauen, zurückgezogen ([4–56], § 44.3–4, insbesondere S. 1205).

e) Die heutige Situation Wir können nunmehr folgende Bilanz ziehen: Auf der einen Seite ist das Loch-Argument ein schlagender Einwand gegen den Mannigfaltigkeits-Substantialismus, das heißt die Konzeption einer Raumzeit als eigenständiges Seiendes ohne das metrische Feld und damit ohne die Gravitation. Auf der anderen Seite zeigen das Feld-Argument und das Argument der VakuumLösungen der Einsteinschen Feldgleichungen, dass man nicht einfach über die Punkte der Raumzeit hinweggehen kann. Physikalische Felder sind über der Raumzeit definiert, und die Feldgrößen treten an den Punkten der Raumzeit auf. Die Einsteinschen Feldgleichungen lassen Lösungen zu, gemäß denen nur das metrische Feld, nicht aber die Felder nicht-gravitationeller Energie-Materie existieren. Aus diesen Argumenten ergibt sich folgende Position: Es gibt Punkte der Raumzeit, die durch metrische Eigenschaften charakterisiert sind. An diesen Punkten existieren ebenfalls die Eigenschaften der Felder nicht-gravitationeller Energie-Materie. Diese Position spiegelt den gegenwärtigen Forschungsstand wider. Sie ist jedoch nicht befriedigend; denn sie lässt die Frage nach dem Verhältnis zwischen den metrischen Eigenschaften einschließlich der Gravitation auf der einen und den Eigenschaften der nicht-gravitationellen Energie-Materie auf der anderen Seite offen. Anders gesagt, infolge der allgemeinen Relativitätstheorie wird aus der Frage nach dem Verhältnis zwischen Raumzeit und Materie die Frage danach, was das Verhältnis zwischen dem metrischen Feld und den Feldern der nicht-gravitationellen Energie-Materie ist. Wie die vor-relativistische Physik und die spezielle Relativitätstheorie die erstere Frage offen lassen, so lässt die allgemeine Relativitätstheorie die letztere Frage offen. Um eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu geben, stehen zwei Forschungsrichtungen offen, die den anspruchsvollen Programmen von Descartes und Spinoza einerseits und Leibniz andererseits entsprechen. Man kann im Prinzip von der Ontologie eines Blockuniversums ausgehen, die Raumzeit als fundamental ansehen und das Programm verfolgen, alle materiellen Eigenschaften (nicht-gravitationelle Energie-Materie) auf Eigenschaften der Raumzeit zurückzuführen, gemäß dem Modell der metrischgravitationellen Eigenschaften, interpretiert als geometrische Eigenschaften. Es ist jedoch fraglich, ob es sich hierbei um ein fruchtbares Forschungsprogramm handelt (siehe dagegen [4–53] und [4–57]): Es ist nicht klar, wie man die Einwände vermeiden könnte, die zum Scheitern von Wheelers ursprüng-

Bilanz

Relativitätstheorie und Quantentheorie

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Die Philosophie der Relativitätstheorie

lichem Programm der Geometrodynamik geführt haben. Es scheint vielmehr, dass das metrische Feld mit der Aufnahme der Gravitation selbst einen materiellen Charakter annimmt, statt eine rein geometrische Eigenschaft zu sein, die es ermöglichen würde, auch andere materielle Eigenschaften rein geometrisch zu verstehen. Wenn es überhaupt eine physikalische Antwort auf die genannte Frage gibt, wird diese Antwort erst durch eine Theorie der Quantengravitation erfolgen – das heißt eine Theorie, welche die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenfeldtheorie miteinander vereinigt. Über eine solche Theorie verfügen wir nicht: Die allgemeine Relativitätstheorie lässt die Annahme einer passiven Raumzeit als Hintergrund oder Bühne des physikalischen Geschehens fallen; sie konzipiert die physikalischen einschließlich der metrischen Eigenschaften aber klassisch. Die Quantentheorie hingegen denkt die physikalischen Eigenschaften nicht-klassisch, setzt aber in allen ihren gegenwärtigen Formulierungen die Raumzeit als einen passiven Hintergrund voraus. Dennoch arbeitet die überwiegende Mehrheit der Forscher im Bereich der Quantengravitation heute mit der Hypothese, dass der Quanten-Bereich fundamentaler als die klassische Raumzeit der allgemeinen Relativitätstheorie ist (siehe [4–58] für einen Überblick). Auf dieser Grundlage kann man das anspruchsvolle Programm von Leibniz verfolgen, das heißt von der Quantentheorie ausgehend eine Charakterisierung der Materie zu entwickeln versuchen, die raumzeitliche Begriffe nicht als primitiv voraussetzt und auf dieser Basis die Raumzeit – einschließlich der Ontologie des Blockuniversums – rekonstruiert.

3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen Zusammenfassung Die spezielle Relativitätstheorie basiert auf dem Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit. Auf dieser Grundlage zeigt sie, dass die Gleichzeitigkeit zwischen zwei Ereignissen – und generell alle räumlichen und zeitlichen Abstände – relativ auf ein Bezugssystem sind. Nur der vierdimensionale, raumzeitliche Abstand zwischen zwei beliebigen Ereignissen ist invariant. Daher vereinigt die spezielle Relativitätstheorie Raum und Zeit zur vierdimensionalen Raumzeit. Sie spricht infolgedessen für die Ontologie eines Blockuniversums, gemäß der alles, was es in der Raumzeit gibt, schlechthin existiert. Sie stützt ebenfalls eine Ontologie von vierdimensionalen Ereignissen statt dreidimensionaler Substanzen als dem Inhalt des Blockuniversums. Nichtsdestoweniger kann das Blockuniversum zeitlich unumkehrbare Prozesse und mit diesen eine Zeitrichtung enthalten. Die allgemeine fügt zu der speziellen Relativitätstheorie eine Theorie der Gravitation hinzu, gemäß der die gravitationelle Energie im metrischen Feld enthalten ist, das die Geometrie der Raumzeit definiert. Die Raumzeit ist damit kein passiver Hintergrund, sondern das metrische Feld ist selbst dynamisch, indem es mit den MaterieFeldern und mit sich selbst interagiert: Der raumzeitliche Abstand zwischen den Punkten der Raumzeit hängt von der Verteilung der Materie im Universum ab. Das Loch-Argument zeigt, dass man die Raumzeit und die Punkte der Raumzeit nicht als Seiendes unabhängig von den metrischen Feldgrößen betrachten kann. Das FeldArgument zeigt, dass man nicht über die Punkte der Raumzeit als physikalisches

Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen Seiendes hinweggehen kann, da alle Feldgrößen an Punkten der Raumzeit auftreten. Die allgemeine Relativitätstheorie verschiebt die Frage nach dem Verhältnis von Raumzeit und Materie zu der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem metrischen Feld einerseits und den Feldern der nicht-gravitationellen Energie-Materie andererseits. Der metrische Essentialismus, die heute noch vertretbare Nachfolge-Position von Newtons Substantialismus, lässt diese Frage unbeantwortet. Wheelers ursprüngliches Programm der Geometrodynamik, die heutige Nachfolge-Position von Descartes’ und Spinozas Konzeption, alle physikalischen Eigenschaften auf Eigenschaften der Raumzeit zurückzuführen, versucht, alle physikalischen Eigenschaften als geometrische Eigenschaften der Raumzeit (Krümmung) aufzuweisen, ist allerdings physikalisch gescheitert. Ebenso ist jedoch offen, ob es im Rahmen einer Theorie der Quantengravitation gelingen könnte, die Raumzeit von quantenphysikalischen Eigenschaften der Materie aus zu rekonstruieren, ohne raumzeitliche Eigenschaften als primitiv vorauszusetzen (Leibniz’ ambitiöses Projekt). Das nächste Kapitel geht auf die Struktur der Materie ein und betrachtet die philosophischen Herausforderungen, die sich aus der Quantenphysik ergeben.

Lektürehinweise – – – –

zur Einführung generell: [4–3], [4–4], [4–5], [4–6], [4–7], [4–8] und [4–9] zum Blockuniversum: [4–11] zu einer Ontologie von Ereignissen: [4–22], [4–23], [4–24], erster Teil zu absoluten und relationalen Theorien der Raumzeit in der heutigen Philosophie der Physik: [4–31] – zum Substantialismus in Bezug auf die Raumzeit: [4–32] und [4–34] – zu einer Theorie der Raumzeit als Relationen zwischen physikalischen Feldern: [4–38], [4–45] – zur Geometrodynamik: [4–50]

Fragen und Übungen – Erörtern Sie die beiden Grundprinzipien der speziellen Relativitätstheorie! – Was genau ist nach der speziellen Relativitätstheorie relativ und was ist nicht relativ? – Worin unterscheiden sich räumlicher und zeitlicher Abstand? – Was sind die Argumente für eine zeitlose Sicht von Existenz, die sich aus der speziellen Relativitätstheorie ergeben? – Was ist Determinismus? – Was ist der Unterschied zwischen einer Ontologie von Dingen und einer Ontologie von Ereignissen? – Erörtern Sie die Aufgaben, welche die Ausarbeitung einer Ontologie von Ereignissen erfüllen müsste! – Was ist die Gravitation gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie? – Inwiefern verändert die allgemeine Relativitätstheorie die Fragestellung nach dem Verhältnis von Raumzeit und Materie? – Erläutern Sie, wie das Konzept einer absoluten Raumzeit in der Philosophie der allgemeinen Relativitätstheorie angewendet werden kann! – Was besagt das Feld-Argument? – Vergleichen Sie das Loch-Argument mit dem Argument von Leibniz gegen einen absoluten Raum und eine absolute Zeit! – Was sind die Schwierigkeiten, mit denen das Programm einer kausalen Theorie von Raum und Zeit konfrontiert ist? – Wieso gilt Wheelers Programm der Geometrodynamik als der Versuch einer konkreten Ausführung der Idee, die Materie auf Raum und Zeit zurückzuführen?

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Die Philosophie der Relativitätstheorie – Was sind die Gründe für das Scheitern von Wheelers Geometrodynamik? – Welche Konsequenzen hat das Scheitern von Wheelers Geometrodynamik für das Programm, die Materie auf die Raumzeit zurückzuführen? – Bewerten Sie die Argumente für und die jeweiligen Probleme der drei grundlegenden Konzeptionen von Raum, Zeit und Materie im Anschluss an die allgemeine Relativitätstheorie!

V. Die Herausforderung der Quantenphysik Die Herausforderung der Quantenphysik besteht in Folgendem: Quantensysteme sind in der Regel nicht lokalisiert. Viele ihrer charakteristischen Eigenschaften sind keine intrinsischen Eigenschaften. Es ist vielmehr von Zustandsverschränkungen zwischen Quantensystemen auszugehen. Zustandsverschränkungen beinhalten Korrelationen zwischen Quantensystemen, die unabhängig von deren räumlichem oder raumzeitlichem Abstand sind. Aufgrund dessen sind Quantensysteme keine voneinander unterscheidbaren Individuen. In der Quantenfeldtheorie entfallen sogar einzelne Quantensysteme als Träger von Eigenschaften. Die Möglichkeit von Alternativen zur Quantentheorie und das Messproblem werden angesprochen. Abschließend wird auf das Thema der Zeitrichtung vor dem Hintergrund der Quantenphysik eingegangen.

1. Vier Prinzipien der klassischen Physik und Naturphilosophie Die Quantentheorie ist die am meisten umstrittene, aber auch die erfolgreichste Theorie der Physik des 20. Jahrhunderts. Sie wurde in den 1920er Jahren insbesondere von Niels Bohr (1885–1962) und Werner Heisenberg (1901–1976) in Form der Quantenmechanik entwickelt. Die heutige Quantentheorie umfasst neben der Quantenmechanik auch die Quantenfeldtheorie. Die folgende Darstellung orientiert sich an der Quantenmechanik. Auf die philosophisch relevanten Besonderheiten der Quantenfeldtheorie gehe ich in Kapitel V.2.c kurz ein. Wir können verstehen, weshalb die Quantenmechanik naturphilosophisch so bedeutsam ist, indem wir Einsteins Bedenken betrachten. Albert Einstein ist der prominenteste Kritiker der Quantentheorie. Er akzeptiert den physikalischen Erfolg und damit die Voraussagen der Quantentheorie für experimentelle Ergebnisse. Aber er lehnt die naturphilosophischen Prinzipien ab, die in der Quantentheorie zum Ausdruck kommen. Die Prinzipien seiner eigenen, an der klassischen Physik orientierten Naturphilosophie bringt er am deutlichsten in dem Aufsatz Quanten-Mechanik und Wirklichkeit von 1948 zum Ausdruck. Dort heißt es: „Fragt man, was unabhängig von der Quanten-Theorie für die physikalische Ideenwelt charakteristisch ist, so fällt zunächst folgendes auf: die Begriffe der Physik beziehen sich auf eine reale Außenwelt, d. h. es sind Ideen von Dingen gesetzt, die eine von den wahrnehmenden Subjekten unabhängige ,reale Existenz‘ beanspruchen (Körper, Felder, etc.), welche Ideen andererseits zu Sinneseindrücken in möglichst sichere Beziehung gebracht sind. Charakteristisch für diese physikalischen Dinge ist ferner, daß sie in

Entwicklung der Quantentheorie

Einsteins Prinzipien

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Die Herausforderung der Quantenphysik

ein raum-zeitliches Kontinuum eingeordnet gedacht sind. Wesentlich für diese Einordnung der in der Physik eingeführten Dinge erscheint ferner, dass zu einer bestimmten Zeit diese Dinge eine voneinander unabhängige Existenz beanspruchen, soweit diese Dinge ,in verschiedenen Teilen des Raumes liegen‘. Ohne die Annahme einer solchen Unabhängigkeit der Existenz (des ,So-seins‘) der räumlich distanten Dinge voneinander, die zunächst dem Alltagsdenken entstammt, wäre physikalisches Denken in dem uns geläufigen Sinne nicht möglich. Man sieht ohne solche saubere Sonderung auch nicht, wie physikalische Gesetze formuliert und geprüft werden könnten. Die Feldtheorie hat dieses Prinzip zum Extrem durchgeführt, indem sie die ihr zugrunde gelegten, voneinander unabhängig existierenden elementaren Dinge sowie die für sie postulierten Elementargesetze in den unendlich-kleinen Raumelementen (vierdimensional) lokalisiert. Für die relative Unabhängigkeit räumlich distanter Dinge (A und B) ist die Idee charakteristisch: Äußere Beeinflussung von A hat keinen unmittelbaren Einfluss auf B; dies ist als ,Prinzip der Nahewirkung‘ bekannt, das nur in der Feldtheorie konsequent angewendet ist. Völlige Aufhebung dieses Grundsatzes würde die Idee von der Existenz (quasi-)abgeschlossener Systeme und damit die Aufstellung empirisch prüfbarer Gesetze in dem uns geläufigen Sinne unmöglich machen“ ([5–1], S. 321–322).

Lokalisiertheit

Gehen wir dieses lange Zitat Schritt für Schritt durch, um dann verstehen zu können, was neu und philosophisch bedeutsam an der Quantentheorie ist. Aus diesem Zitat sind vier Prinzipien ersichtlich, die für die gesamte klassische Physik und die an ihr orientierte Naturphilosophie gelten. Klassisch sind alle physikalischen Theorien außer der Quantentheorie. Damit eine physikalische Theorie klassisch ist, braucht sie nicht zeitlich vor der Quantentheorie entwickelt worden zu sein. Klassisch ist eine physikalische Theorie allein deshalb, weil die vier Prinzipien, die in diesem Zitat zum Ausdruck kommen, in ihr gelten. Die Quantentheorie ist nicht klassisch, weil einige dieser Prinzipien in ihr nicht gelten. Diese Prinzipien sind unabhängig davon, ob wir eine klassische Teilchentheorie oder eine klassische Feldtheorie betrachten. Abgesehen von der erkenntnistheoretischen Einleitung ist das erste Prinzip, das Einstein in dem Zitat anspricht, die „Lokalisiertheit“. Ich spreche nicht von Lokalität, da der Begriff „Lokalität“ auch im Sinne dessen gebraucht wird, was unten als das Prinzip der Nahewirkung besprochen werden wird. Mit Lokalisiertheit ist gemeint, dass die fundamentalen physikalischen Systeme an Punkten oder punktförmigen Gebieten der Raumzeit lokalisiert sind. Mit anderen Worten: Physikalische Systeme haben immer einen wohldefinierten Ort. Es ist wichtig, von „Lokalisiertheit“ und nicht bloß von „Lokalisierbarkeit“ zu sprechen; denn lokalisierbar zu sein, impliziert nicht, immer lokalisiert zu sein. Lokalisierbar ist ein System auch dann, wenn es beispielsweise durch eine Messung in einen Zustand gebracht werden kann, in dem es lokalisiert ist; daraus folgt aber nicht, dass dieses System lokalisiert ist in dem Sinne, dass es immer – also auch unabhängig von Messungen – einen wohldefinierten Ort hat. Auch die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie sind lokale Theorien im Sinne des Prinzips der Lokalisiertheit (zur Definition einer lokalen Raumzeit-Theorie siehe [4–33],

Vier Prinzipien der klassischen Physik und Naturphilosophie

S. 517–518). Alle Eigenschaften, die in der Relativitätsphysik betrachtet werden, sind an Punkten der Raumzeit lokalisiert. Wichtiger noch als Lokalisiertheit ist das Prinzip, das Einstein in dem Zitat so beschreibt, dass die physikalischen Systeme eine voneinander unabhängige Existenz beanspruchen, sofern sie räumlich oder raumzeitlich voneinander getrennt sind. In einem Brief an Erwin Schrödinger (1887–1961) vom 19. Juni 1935 gebraucht Einstein die Ausdrücke „Trennungsprinzip“ und „Trennungshypothese“ (zitiert in [5–2], S. 179–180). Heute spricht man vom Prinzip der Separabilität. Dieses Prinzip setzt voraus, dass es eine Vielzahl physikalischer Systeme gibt. Das müssen nicht Teilchen sein. Es kann sich auch um Punkte der Raumzeit handeln, an denen Feldgrößen auftreten. Nennen wir alles dieses einschließlich von Punkten, an denen physikalische Eigenschaften auftreten, „physikalische Systeme“. Damit etwas ein physikalisches System ist, ist es notwendig und hinreichend, dass der betreffenden Sache irgendwelche physikalischen Eigenschaften zukommen. Es wird am Ende von Kapitel V.2.b deutlich werden, dass es sinnvoll ist, nicht mehr als dieses minimale Kriterium zu fordern, damit etwas ein physikalisches System ist. Damit, dass die physikalischen Systeme unabhängig voneinander sind, ist Folgendes gemeint: Jedes der Systeme hat seine grundlegenden, charakteristischen Eigenschaften unabhängig von allen anderen Systemen. Das heißt, es hat diese Eigenschaften unabhängig davon, ob es in der Tat andere physikalische Systeme gibt oder ob es solche nicht gibt. Es handelt sich also um innere Eigenschaften eines Systems. Wie schon in Kapitel II.1 erwähnt wurde, werden solche Eigenschaften in der philosophischen Fachterminologie „intrinsische Eigenschaften“ genannt (siehe [5–3]). Ferner besagt das Prinzip der Separabilität Folgendes: Die Beziehungen (Relationen), die zwischen physikalischen Systemen bestehen, sind durch die intrinsischen Eigenschaften der betreffenden Systeme festgelegt. Nehmen wir an, dass die Masse eine intrinsische Eigenschaft ist. Paul hat eine Masse von 80 kg, und Peter hat eine Masse von 70 kg. In diesem Fall ist die Beziehung, dass Paul schwerer ist als Peter, durch die Massen festgelegt, die Paul und Peter unabhängig voneinander haben. Es genügt, wenn man die Massen von Paul und Peter angibt; man braucht nicht hinzuzufügen, dass Paul schwerer als Peter ist. Analog kann man annehmen, dass der räumliche Abstand zwischen zwei Systemen durch den Ort von jedem der beiden Systeme festgelegt ist; der Ort ist in der klassischen Physik in dem Sinne eine intrinsische Eigenschaft, dass der Ort jedes Systems unabhängig von dem aller anderen Systeme ist. Physikalisch können wir das, was Separabilität besagt, so zusammenfassen: Jedes System hat für sich genommen einen Zustand, der die vollständige Information über die zeitabhängigen Eigenschaften dieses Systems enthält. Wenn wir ein Gesamtsystem betrachten, das aus mehreren Teilsystemen besteht, dann ist der Zustand des Gesamtsystems durch die Zustände der Teilsysteme festgelegt. Zeitabhängig sind alle und nur diejenigen Eigenschaften, deren Wert sich während der Existenz des Systems ändern kann – wie zum Beispiel Ort und Geschwindigkeit, aber nicht Masse und Ladung. (Die fundamentalen physikalischen Systeme sind durch eine Masse charakterisiert – die so genannte Ruhemasse –, deren Wert sich während der Existenz des Systems nicht ändert). Die zeitabhängigen Eigenschaften können wir auch „zustandsabhängige Eigenschaften“ nennen. Der Zustand eines Sys-

Separabilität

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Nahewirkung

Individualität

Zusammenhang der vier Prinzipien

tems zu einer Zeit ist die Weise, in der dieses System zu dieser Zeit zeitabhängige Eigenschaften hat. Nicht nur die klassische Mechanik, deren Gegenstand Teilchen sind, sondern auch die Feldtheorie des Elektromagnetismus entspricht dem Prinzip der Separabilität. Wenn wir den Zustand mehrerer Punkte oder eines größeren Gebietes eines klassischen Feldes betrachten, dann gilt, dass dieser Zustand durch die Zustände der einzelnen Punkte oder der Teilgebiete festgelegt ist. Einstein spricht in dem Zitat oben davon, dass die klassischen Feldtheorien einschließlich der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie dieses Prinzip der Separabilität zum Extrem durchgeführt haben. Im Anschluss an die Separabilität hat ein weiteres Prinzip in dem Zitat oben großes Gewicht: das Prinzip der Nahewirkung. Dieses Prinzip betrifft die Veränderung der Zustände physikalischer Systeme. Kausale Wirkungen (Interaktionen, Kräfte) breiten sich von einem Punkt zum benachbarten Punkt mit einer begrenzten Geschwindigkeit aus. Gemäß der speziellen Relativitätstheorie ist die Lichtgeschwindigkeit die Obergrenze für die Ausbreitung von Wirkungen. Das Prinzip der Nahewirkung ist nur dann anwendbar, wenn das Prinzip der Separabilität gilt: Das Prinzip der Nahewirkung betrifft Veränderungen in Systemen, die je für sich genommen einen Zustand im angegebenen Sinne haben. Alle bekannten Interaktionen genügen dem Prinzip der Nahewirkung. Einstein sagt in dem Zitat oben, dass dieses Prinzip nur in einer physikalischen Feldtheorie konsequent angewendet wird. Newtons Physik ist auf die Gravitation als Fernwirkung festgelegt; allerdings hält Newton selbst die Annahme, dass es eine Fernwirkung gibt, für absurd ([3–4], S. 254; siehe Kapitel III.1). Aus den drei Prinzipien der Lokalisiertheit, der Separabilität und der Nahewirkung ergibt sich ein weiteres Prinzip, das Einstein in dem Zitat oben allerdings nicht explizit anspricht: das Prinzip der Individualität. Alle physikalischen Systeme sind in folgendem Sinne Individuen: Für jedes System gilt, dass es Eigenschaften beziehungsweise Werte von Eigenschaften gibt, durch die sich dieses System von allen anderen Systemen unterscheidet. Aufgrund des Prinzips der Lokalisiertheit sind zwei beliebige physikalische Systeme zumindest durch den Wert des Ortes voneinander unterschieden. Es ist theoretisch möglich, jedes physikalische System, das eine Zeit lang existiert, in seiner Bewegung durch Raum und Zeit (Veränderung des Ortes) zu verfolgen, so dass man das betreffende individuelle System jederzeit wiedererkennen kann. Diese vier Prinzipien bauen aufeinander auf. Wenn wir davon ausgehen, dass physikalische Systeme im Raum und in der Zeit sind, dann ist deren raumzeitliche Lokalisiertheit eine notwendige Bedingung dafür, dass jedem dieser Systeme für sich genommen ein Zustand zukommt und dass der Zustand eines Gesamtsystems durch die Zustände der Teilsysteme festgelegt ist. Wie schon erwähnt wurde, setzt die Anwendbarkeit des Prinzips der Nahewirkung das Prinzip der Separabilität voraus, ohne dass allerdings das Prinzip der Separabilität das Prinzip der Nahewirkung impliziert. Mit anderen Worten: Separabilität ist eine notwendige Bedingung für die Anwendbarkeit des Prinzips der Nahewirkung. An diesem Überblick wird deutlich, dass zusammen mit der Lokalisiertheit die Separabilität das wichtigste Prinzip der klassischen Physik und der an dieser orientierten Naturphilosophie ist.

Zustandsverschränkungen: das Kennzeichen der Quantentheorie

Einstein sagt in dem Zitat oben, dass das, was heute als das Prinzip der Separabilität bekannt ist, dem Alltagsdenken entstammt. Philosophisch können wir dieses Prinzip bis zu Aristoteles zurückverfolgen. Wie in Kapitel II.1 dargestellt wurde, ist es eine zentrale Aussage in Aristoteles’ Metaphysik, dass die Welt aus einer Vielzahl von einzelnen Dingen (Substanzen) besteht, von denen jedes durch intrinsische Eigenschaften gekennzeichnet ist. Eine solche Naturphilosophie gehört keineswegs der Vergangenheit an. Eine plastische zeitgenössische Formulierung finden wir bei dem schon erwähnten amerikanischen Philosophen David Lewis:

Bedeutung des Prinzips der Separabilität

„Wir haben eine Geometrie: ein System von externen Relationen raumzeitlichen Abstands zwischen Punkten. Vielleicht sind es Punkte der Raumzeit selbst, vielleicht punktkleine Stücke der Materie oder des Äthers oder von Feldern, vielleicht beides. Und an diesen Punkten haben wir lokale Qualitäten: völlig natürliche intrinsische Eigenschaften, die nicht mehr als einen Punkt benötigen, um auftreten zu können. Kurz gesagt: Wir haben ein Arrangement von Qualitäten. Und das ist alles“ ([5 4], S. IX–X, eigene Übersetzung). Der fundamentale physikalische Bereich ist demnach durch Systeme mit intrinsischen Eigenschaften gekennzeichnet. Abgesehen von raumzeitlichen Relationen sind alle Beziehungen zwischen den physikalischen Systemen durch deren intrinsische Eigenschaften festgelegt. Es zeigt sich an dieser Stelle wiederum, dass es für diese Naturphilosophie nicht entscheidend ist, ob die physikalischen Systeme Teilchen oder punktförmige Teile von Feldern sind oder ob die physikalischen Systeme mit Punkten der Raumzeit identifiziert werden. Entscheidend ist der durch die Prinzipien der Lokalisiertheit und der Separabilität bestimmte Aufbau der Materie.

2. Zustandsverschränkungen: das Kennzeichen der Quantentheorie a) Inkompatible Eigenschaften Die Quantentheorie ist eine Herausforderung an die philosophische Tradition, in der Einstein steht und die von Aristoteles bis heute reicht und die durch die vier genannten Prinzipien gekennzeichnet ist. Betrachten wir zunächst ein einzelnes Quantensystem und dessen Eigenschaften. Quantensysteme sind zum Beispiel Elektronen und Photonen, Protonen und Neutronen einschließlich ihrer Bestandteile (Quarks) ebenso wie ganze Atome. Die Eigenschaften von Quantensystemen werden „Observablen“ genannt. Man kann grundlegende, charakteristische Eigenschaften von Quantensystemen definieren. Zu den grundlegenden, zeitabhängigen Eigenschaften von Quantensystemen gehören der Ort und der Impuls ebenso wie der Spin in jeder Raumrichtung. Der Impuls ist das Produkt von Masse und Geschwindigkeit. Der Spin ist eine Art Eigendrehimpuls. Diese Eigenschaft wird nur in der Quantenphysik behandelt. In der klassischen Physik sind alle fundamentalen Eigenschaften eines Systems in folgendem Sinne voneinander unabhängig: (1) Alle Eigenschaften

Heisenberg’sche Unbestimmtheitsrelation

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Die Herausforderung der Quantenphysik

haben zu jedem Zeitpunkt einen definierten nummerischen Wert. (2) Der Wert, den eine Eigenschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt hat, legt den Werten, welche die anderen fundamentalen Eigenschaften zu diesem Zeitpunkt haben können, keinerlei Beschränkung auf. In der klassischen Physik ist zum Beispiel jeder Wert des Ortes mit jedem beliebigen Wert des Impulses kompatibel, und umgekehrt. (3) Es ist im Prinzip immer möglich, den Wert einer Eigenschaft zu messen, ohne dadurch die Werte anderer Eigenschaften zu verändern. In der Quantenphysik können hingegen die fundamentalen Eigenschaften eines Systems in folgendem Sinne voneinander abhängig sein: Es gibt Werte dieser Eigenschaften, die miteinander unvereinbar sind. Deshalb spricht man von inkompatiblen Eigenschaften. Das bekannteste Beispiel sind der Ort und der Impuls. Es ist kein Zustand eines Quantensystems möglich, in dem sowohl der Ort als auch der Impuls einen definiten nummerischen Wert haben (oder einen nahezu definiten nummerischen Wert; ich übergehe die mathematischen Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, dass Ort und Impuls nie exakt einen definiten nummerischen Wert haben können). Ein definiter nummerischer Wert ist genau eine Zahl, wie zum Beispiel 1, 3/2 oder 0,576. Ort und Impuls sind in folgender Weise voneinander abhängig: Je mehr sich der Wert des Ortes einem definiten nummerischen Wert annähert, desto größer ist die Unbestimmtheit des Wertes des Impulses und umgekehrt. Es gibt keinen Zustand, in dem das System sowohl in einem beliebig kleinen Gebiet des Raumes lokalisiert ist als auch einen beliebig definiten Wert des Impulses hat. Das ist der Inhalt der berühmten „Heisenberg’schen Unbestimmtheitsrelation“, die man mathematisch so darstellen kann: (V.1)

p q 

1 h 2 2⁄

In dieser Formel steht p für den Impuls, q für den Ort,  steht für die Abweichung von einem definiten nummerischen Wert und h steht für das Planck’sche Wirkungsquantum. Diese Formel besagt: Es gibt keinen Zustand eines Quantensystems, in dem das Produkt der Unbestimmtheit des Impulses und des Ortes unter einen bestimmten Wert fällt. Unbestimmtheit meint dabei die Abweichung von einem definiten nummerischen Wert. Statt mit genau einem nummerischen Wert haben wir es mit einer Werteverteilung zu tun. Wenn man von „Unbestimmtheitsrelation“ spricht, dann muss man sich darüber im Klaren sein, dass keine Unbestimmtheit im Sinne von Impräzision gemeint ist. Die genannte Beziehung zeigt einen genauen untersten Wert für das Produkt der Unbestimmtheit von Ort und Impuls an. Diese Beziehung wird häufig auch „Heisenberg’sche Unschärferelation“ genannt. Dieser Ausdruck ist ebenfalls irreführend: Diese Beziehung betrifft keine Unsicherheit von Beobachtern in Bezug auf den Ort oder den Impuls des Systems. Unschärfe oder Unbestimmtheit ist etwas, das für diese Eigenschaften als solche selbst gilt und das sich präzise bestimmen lässt. In der Regel ist ein Quantensystem in einem Zustand, in dem es weder einen definiten nummerischen Wert des Ortes noch einen definiten nummerischen Wert des Impulses hat. Die wichtigste Konsequenz dieser wechselseitigen Abhängigkeit von Ort und Impuls innerhalb eines Quantensystems ist deshalb, dass Quantensysteme in der Regel nicht lokalisiert sind. Ihre Eigenschaften – auch ihre

Zustandsverschränkungen: das Kennzeichen der Quantentheorie

zustandsunabhängigen Eigenschaften wie Masse und Ladung – bestehen nicht an Punkten oder beliebig kleinen Gebieten im Raum. Die Quantentheorie verletzt somit das Prinzip der Lokalisiertheit. Ort und Impuls sind nicht das einzige Beispiel für inkompatible Eigenschaften. Vom Formalismus der Quantentheorie her ist zu erwarten, dass es für jede zeit- oder zustandsabhängige Eigenschaft eines Quantensystems andere Eigenschaften desselben Systems gibt, mit denen diese Eigenschaft inkompatibel ist. Eine gegebene Eigenschaft ist nicht mit allen anderen Eigenschaften desselben Systems inkompatibel; aber dennoch gibt es für jede zustandsabhängige Eigenschaft eines Quantensystems mindestens eine andere zustandsabhängige Eigenschaft desselben Systems, mit der diese Eigenschaft inkompatibel ist. Ein bekanntes Beispiel für inkompatible Eigenschaften neben Ort und Impuls ist der Spin in allen drei orthogonalen Raumrichtungen – der Spin in Richtung der x-Achse (Spin x), der Spin in Richtung der y-Achse (Spin y) und der Spin in Richtung der z-Achse (Spin z). Wenn im Folgenden vom Spin ohne weitere Erläuterung die Rede ist, dann sind immer diese Spinkomponenten gemeint. Es ist kein Zustand eines Quantensystems möglich, in dem das System einen definiten nummerischen Wert von mehr als einer dieser Eigenschaften hat. Der Spin bietet sich für mathematische und experimentelle Untersuchungen an, da es Quantensysteme von Spin 1/2 gibt, wie zum Beispiel Elektronen. Für diese Systeme gibt es nur zwei mögliche definite nummerische Werte des Spin in jeder Raumrichtung, nämlich „Spin plus“ und „Spin minus“. Spin 1/2 ist somit eine determinierbare Eigenschaft, deren determinierte Werte Spin plus und Spin minus sind. Nichtsdestoweniger ist ein Quantensystem normalerweise nicht in einem Zustand, in dem es einen definiten nummerischen Wert des Spin in irgendeiner Raumrichtung hat. Die Weise, in der ein Quantensystem die determinierbare Eigenschaft Spin 1/2 hat, besteht normalerweise in einer Überlagerung (Superposition) dieser Werte. So kann ein Elektron zum Beispiel ohne Weiteres in einem Zustand sein, der eine Überlagerung der beiden möglichen Werte sagen wir des Spin z ist, also eine Überlagerung der Werte Spin plus und Spin minus in Richtung der z-Achse. Allgemein können wir die Situation in der Quantenphysik in folgender Weise zusammenfassen: Wenn in der klassischen Physik eine Eigenschaft verschiedene mögliche Werte haben kann (sagen wir, die Werte „plus“ und „minus“), dann ist das System immer in einem Zustand, in dem es genau einen dieser Werte besitzt und alle anderen Werte ausgeschlossen sind. In der Quantenphysik hingegen kann ein System ohne Weiteres in einem Zustand sein, der eine Überlagerung (Superposition) aller möglichen Werte der betreffenden Eigenschaft ist, also ein Zustand, in den alle diese Werte eingehen. Wenn zwei oder mehrere Eigenschaften eines Systems miteinander inkompatibel sind, dann kann das System nur in einem Zustand sein, in dem es einen definiten nummerischen Wert von höchstens einer dieser Eigenschaften hat. Wenn zum Beispiel ein System von Spin 1/2 wie ein Elektron in einem Zustand ist, in dem es den Wert „Spin plus“ in der z-Richtung hat, dann ist in Bezug auf Spin x und Spin y dieser Zustand eine Überlagerung der Werte „Spin plus“ und „Spin minus“ – in diesem Falle eine Überlagerung, in die diese beiden Werte gleichgewichtig eingehen.

Spin

Superpositionsprinzip

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Die Herausforderung der Quantenphysik Messungen inkompatibler Eigenschaften

Wahrscheinlichkeiten

Das Überlagerungs- oder Superpositions-Prinzip hat weitreichende Konsequenzen. Wenn man eine zustandsabhängige Eigenschaft eines Quantensystems misst, dann registriert das Messgerät nicht den Wert einer Eigenschaft, den das Quantensystem unabhängig von seiner Interaktion mit dem Messgerät hat. Vielmehr erwirbt das Quantensystem einen definiten nummerischen Wert der betreffenden Eigenschaft nur relativ dazu, dass das Messgerät die Eigenschaft erwirbt, einen solchen definiten nummerischen Wert anzuzeigen. Man kann diesen Sachverhalt nicht auf eine Störung mikroskopischer Systeme durch makroskopische Messgeräte zurückführen (siehe [5–5]). Es handelt sich hierbei um eine Konsequenz des Superpositions-Prinzip und des Prinzips inkompatibler Eigenschaften, angewendet auf den Fall einer Messung solcher Eigenschaften. Wenn in der Interpretation der Quantentheorie von Messungen die Rede ist, dann sind immer ideale Messungen gemeint. Das sind Messungen, bei denen von allen Störeinflüssen, die bei faktischen Messungen auftreten, abgesehen wird; eine unmittelbare Wiederholung einer idealen Messung liefert per definitionem das gleiche Ergebnis. Gemäß der standardmäßigen Darstellung der Quantentheorie verändert sich der Zustand eines Quantensystems in einer Messung derart, dass das System einen definiten nummerischen Wert der gemessenen Eigenschaft erwirbt, und zwar infolge der Interaktion mit dem Messgerät. Ein Quantensystem erwirbt demnach einen definiten nummerischen Wert des Ortes nur durch die Interaktion mit einem Messgerät. Man kann im Prinzip immer eine Ortsmessung eines Quantensystems durchführen, und das Ergebnis ist ein definiter nummerischer Wert des Ortes. Dieser Wert wird jedoch nur durch den Messprozess verursacht. Unabhängig von einer Messung befindet sich ein Quantensystem normalerweise in einem Zustand, in dem es keinen definiten nummerischen Wert hat, weder für den Ort, noch für den Impuls, noch für den Spin in irgendeiner Raumrichtung. Es ist nicht voraussagbar, welchen definiten nummerischen Wert ein Quantensystem in einem gegebenen Zustand im Falle einer Messung einer zustandsabhängigen Eigenschaft annehmen wird. Es können nur Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Messergebnisse berechnet werden. Betrachten wir ein einfaches Beispiel, den Spin in zwei orthogonale Richtungen. Gegeben sei ein System mit Spin 1/2 wie zum Beispiel ein Elektron. Wenn wir den Spin in Richtung der z-Achse messen und als Ergebnis, sagen wir, Spin plus bekommen, dann können wir über das Ergebnis einer nachfolgenden Messung des Spin in Richtung der x-Achse nur dieses sagen: Das Ergebnis Spin plus und das Ergebnis Spin minus haben beide die Wahrscheinlichkeit 0,5. Nehmen wir an, dass wir nun Spin x messen und als Ergebnis Spin minus bekommen. Wir können in diesem Fall nicht sagen, dass das System den Wert Spin minus in x-Richtung und den Spin-Wert Spin plus in z-Richtung hat. Denn das System hat nach der Messung von Spin x keinen definiten nummerischen Wert von Spin z mehr. Das einzige, was wir auf der Ebene von Messungen sagen können, ist, dass für eine erneute Messung von Spin z die Ergebnisse Spin plus und Spin minus nun beide die Wahrscheinlichkeit 0,5 haben. Weil nur Wahrscheinlichkeiten für die Ergebnisse der Messungen zustandsabhängiger Eigenschaften von Quantensystemen vorausgesagt werden können, ist die Quantentheorie die erste grundlegende physikalische

Zustandsverschränkungen: das Kennzeichen der Quantentheorie

Theorie, die einen Indeterminismus und einen objektiven Zufall zuzulassen scheint: Welches im jeweiligen Fall das konkrete Messergebnis ist, scheint zufällig zu sein. Die Frage, wie Messergebnisse und die Wahrscheinlichkeiten für Messergebnisse in der Quantentheorie interpretiert werden sollen, ist jedoch Gegenstand einer Kontroverse, die wir in Kapitel V.6 behandeln werden.

b) Verschränkte Zustände Wie im letzten Unterkapitel ausgeführt wurde, verletzt die Quantentheorie das Prinzip der Lokalisiertheit physikalischer Systeme. Die Inkompatibilität von Eigenschaften von Quantensystemen hat zur Folge, dass die Quantentheorie ebenfalls das Prinzip der Separabilität verletzt. Betrachten wir nun nicht mehr ein einzelnes Quantensystem für sich genommen, sondern zwei oder mehr Quantensysteme zusammen, von denen jedes mindestens zwei Eigenschaften hat, die inkompatibel sind. Es ist dann vom Formalismus der Quantentheorie her zulässig, dass die Zustände dieser Systeme miteinander verschränkt sind. In einer allerersten Näherung können wir Verschränkung so charakterisieren: Nicht nur sind zustandsabhängige Eigenschaften innerhalb eines Systems in dem Sinne voneinander abhängig, der im vorigen Unterkapitel ausgeführt wurde; eine Abhängigkeit erstreckt sich vielmehr auch auf Eigenschaften desselben Typs von mehreren Systemen. Es handelt sich um Korrelationen zwischen den definiten nummerischen Werten der betreffenden Eigenschaften, genauer um Überlagerungen (Superpositionen) solcher Korrelationen. Infolge dieser Weise, wie diese Eigenschaften mehrerer Systeme aufeinander bezogen sind, ist es gar nicht möglich, jedem dieser Systeme für sich genommen einen Zustand zuzuordnen, der alle Informationen über dessen zustandsabhängige Eigenschaften beinhaltet (zu einführenden Darstellungen dessen, was mit Zustandsverschränkungen gemeint ist, siehe zum Beispiel die Arbeiten in [5–6] und [5–7] sowie allgemein für empfehlenswerte Gesamtdarstellungen [5–8], [5–9], [5–10] und [5–11]). Der einfachste Fall von Verschränkung ist dieser: Stellen wir uns zwei Systeme von Spin 1/2 derselben Art vor – wie zum Beispiel zwei Elektronen –, die zusammen von einer Quelle emittiert werden und die sich dann in voneinander entgegen gesetzte Richtungen entfernen. Infolgedessen besteht keine nennenswerte Interaktion mehr zwischen diesen beiden Systemen. Nichtsdestoweniger hat keines der beiden Systeme für sich genommen einen Spin-Zustand. Der Gesamtzustand von beiden Systemen zusammen ist eine Überlagerung aller möglichen Spin-Werte der beiden Systeme in jeder Raumrichtung. Im Falle zweier Systeme von Spin 1/2 derselben Art (wie zwei Elektronen) in einem Gesamtzustand von Gesamtspin null haben wir es mit einer Überlagerung aus „erstes System Spin plus und zweites System Spin minus“ mit „erstes System Spin minus und zweites System Spin plus“ in allen drei orthogonalen Raumrichtungen zu tun. Diesen Zustand kann man physikalisch so aufschreiben: pffiffiffi   þ (V.2) ¼ 1= 2 ð þ 1  2  1  2 Þ In dieser Formel steht für den Spinzustand des Gesamtsystems; 1 und 2 beziehen sich auf die beiden Teilsysteme; + bedeutet Spin plus, – bedeutet

EPR-Bohm

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Umkehr des Prinzips der Separabilität

Spin minus. Das Zeichen  steht für das Tensorprodukt der möglichen SpinZustände der beiden Teilsysteme. Dieser Gesamtzustand ist als SingulettZustand bekannt. In diesem Gesamtzustand hat die Eigenschaft des Gesamtspin des Gesamtsystems den definiten nummerischen Wert null; aber keines der Teilsysteme hat einen definiten nummerischen Wert des Spin in irgendeiner Raumrichtung. Nehmen wir nun an, dass wir an diesen beiden Systemen den Spin in einer gegebenen Richtung messen, sagen wir, in Richtung der z-Achse (Spin z). In einer Messung wird eine der beiden Komponenten des Singulett-Zustands (Gleichung V.2) manifest. Das abgelesene Ergebnis ist entweder „erstes System Spin plus und zweites System Spin minus“ oder „erstes System Spin minus und zweites System Spin plus“. Es besteht also eine Korrelation zwischen den Messergebnissen: Wenn an dem einen System Spin plus abgelesen wird, dann wird an dem anderen System Spin minus abgelesen. Diese Korrelation besteht unabhängig davon, in welchem raumzeitlichen Abstand die beiden Messungen erfolgen. Diese beiden Messungen können durch einen raumartigen Abstand voneinander getrennt sein (so dass keine Signale zwischen den beiden Systemen ausgetauscht werden können). Nichtsdestoweniger gilt: Wenn das Ergebnis der Messung der einen Spin-Eigenschaft an dem einen System gegeben ist, dann – und nur dann – kann man das Ergebnis der Messung der gleichen Spin-Eigenschaft an dem anderen System mit Sicherheit voraussagen. Das Messergebnis an dem anderen System ist somit davon abhängig, was für ein Ergebnis eine Messung an dem einen System hat, obwohl beide Systeme beliebig weit voneinander entfernt sein können. Wenn an beiden Systemen nicht die gleichen Spin-Eigenschaften gemessen werden, dann ist, wenn das Ergebnis der Messung an dem einen System gegeben ist, immerhin noch die Wahrscheinlichkeit für das Ergebnis der Messung an dem anderen System verändert: Die Ergebnisse Spin plus und Spin minus sind nicht mehr gleich wahrscheinlich, sondern das eine Ergebnis ist wahrscheinlicher als das andere (es sei denn, es werden Spinkomponenten gemessen, die orthogonal zueinander stehen). Die entsprechenden Experimente werden in der Regel mit Photonen durchgeführt, die sich hier wie Systeme von Spin 1/2 verhalten. Das Beispiel mit zwei Systemen von Spin 1/2 im Singulett-Zustand geht auf den Physiker David Bohm (1917–1992) zurück ([5–12], S. 611–622). Konzeptuell ähnliche Beispiele können mit den Eigenschaften des Ortes oder des Impulses zweier Systeme aufgebaut werden [5–13]. Nur haben wir es dann statt mit zwei mit unendlich vielen miteinander korrelierten Werten zu tun, die in die Verschränkung der Zustände eingehen. Die messbaren Korrelationen zwischen zwei oder mehr Quantensystemen, die auf der Verschränkung der Zustände dieser Systeme beruhen, sind als „Einstein-Podolsky-Rosen-Korrelationen“ bekannt; denn Einstein und seine Mitarbeiter haben in einer Arbeit von 1935 diese Korrelationen zuerst herausgestellt, indem sie das Beispiel der Zustandsverschränkung zweier Quantensysteme in Bezug auf Ort und Impuls betrachten [5–13]. Diese Korrelationen sind unabhängig von der räumlichen oder der raumzeitlichen Entfernung der betreffenden Systeme. Deshalb verletzen sie das Prinzip der Separabilität. Mehr noch, Zustandsverschränkungen bedeuten eine Umkehr des Prinzips der Separabilität: Statt dass den einzelnen Systemen je für sich genom-

Zustandsverschränkungen: das Kennzeichen der Quantentheorie

men zustandsabhängige Eigenschaften und damit ein wohldefinierter Zustand zukommen, von dem aus der Zustand des Ganzen festgelegt ist, befindet sich nur das Ganze der betreffenden Systeme zusammengenommen in einem wohldefinierten Zustand: Nur das Gesamtsystem ist in einem reinen Zustand. Vom Zustand des Gesamtsystems aus – und nur von diesem aus – ist festgelegt, was von den Teilsystemen gilt, nämlich dass nur Relationen zwischen den Teilsystemen bestehen, genauer gesagt Korrelationen zwischen allen möglichen definiten nummerischen Werten der betreffenden Eigenschaften der Teilsysteme. Wir müssen zwischen zwei Arten von Relationen unterscheiden: (1) Korrelationen zwischen einem Quantensystem und einem Messgerät in dem Sinne, dass das Quantensystem einen definiten nummerischen Wert einer bestimmten Eigenschaft relativ dazu hat, dass das Messgerät einen solchen Wert anzeigt. In diesem Falle ist jedes der beiden Systeme gemäß der standardmäßigen Darstellung der Quantentheorie in einem Zustand, in dem es wohldefinierte zustandsabhängige Eigenschaften hat (ein reiner Zustand). In was für einem Zustand das Quantensystem ist, ist relativ zu dem Zustand des Messgerätes. (2) Relationen der Zustandsverschränkung zwischen zwei oder mehr Quantensystemen im Sinne der Überlagerung von Korrelationen zwischen den möglichen definiten nummerischen Werten der zustandsabhängigen Eigenschaften dieser Systeme. In diesem Falle ist nur das Ganze dieser Systeme zusammengenommen in einem reinen Zustand. Von dem Zustand des Ganzen her sind sich überlagernde Korrelationen zwischen den betreffenden Systemen festgelegt. Gemäß der standardmäßigen Darstellung der Quantentheorie werden die Relationen von Typ (2) in einer Messung auf Relationen von Typ (1) reduziert. Man spricht von Zustandsreduktionen. Diese Auffassung ist jedoch umstritten. Man kann stattdessen die Position vertreten, dass die Relationen von Typ (1) in Wirklichkeit auch Relationen von Typ (2) sind. Ich werde darauf bei der Diskussion des Messproblems in Kapitel V.6 zurückkommen. Obwohl im Falle von Zustandsverschränkungen den beteiligten Systemen nicht je für sich genommen zustandsabhängige Eigenschaften zukommen, ist es möglich, von jedem der beteiligten Systeme für sich genommen eine Beschreibung zu geben, die man als eine Art Zustandsbeschreibung ansehen kann. Man spricht dann von einem „gemischten Zustand“ statt einem reinen Zustand. Wir müssen begrifflich zwischen einer Mischung von Zuständen („Gemenge“) und einem gemischten Zustand („Gemisch“) unterscheiden. In der englischen Fachliteratur hat der Physiker Bernard d’Espagnat die Ausdrücke „proper mixture“ und „improper mixture“ eingeführt ([5–14], Kapitel 6.3; vergleiche schon [5–15]). Eine Mischung von Zuständen („proper mixture“, „Gemenge“) ist ein Ensemble von Systemen, bei denen dem Beobachter der reine Zustand unbekannt ist, in welchem jedes einzelne dieser Systeme ist. Verschränkung ist jedoch keine Mischung von Zuständen. In dem betrachteten Beispiel des Singulett-Zustands gilt nicht, dass dem Beobachter unbekannt ist, ob das erste System Spin plus und das zweite System Spin minus hat oder umgekehrt. Keines der beiden Systeme ist vielmehr in einem Zustand, in dem es entweder Spin plus oder Spin minus in irgendeiner Richtung hat. Der Ausdruck „gemischter Zustand“ („improper mixture“, „Gemisch“) wird verwendet, um eine solche Situation zu beschreiben. Ein gemischter

Zwei Arten von Relationen

Gemischter Zustand

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Holismus

Vereinbarkeit mit Nahewirkung

Zustand ist keine Mischung von irgendetwas. Es handelt sich um eine Beschreibung, die im Falle der Verschränkung der Zustände von zwei oder mehr Systemen alle diejenigen Informationen enthält, die über jedes dieser Systeme unabhängig von den anderen Systemen verfügbar sind. In dem Beispiel des Singulett-Zustands enthält diese Beschreibung für jede Spinkomponente von jedem der beiden Systeme eine Wahrscheinlichkeitsverteilung für ein Messergebnis. Aber diese Beschreibung ignoriert die Korrelationen zwischen den möglichen Werten der Spinkomponenten beider Systeme. Folglich sagt die Beschreibung in Form eines gemischten Zustands nicht alles, was von den Spinkomponenten von jedem der beteiligten Systeme gilt. Denn diese Beschreibung enthält nicht die Information, dass dann, wenn an dem einen System eine Spin-Eigenschaft gemessen wird und wenn dieses Messergebnis gegeben ist, in Abhängigkeit von diesem Messergebnis die Wahrscheinlichkeiten für Messungen von Spin-Eigenschaften an dem anderen System verändert sind. Der gemischte Zustand ist für die beiden Systeme identisch. Bei dem, was „gemischter Zustand“ genannt wird, handelt es sich somit um eine unvollständige Beschreibung des betreffenden Systems und nicht um eine Beschreibung, die dem betreffenden System für sich genommen zustandsabhängige Eigenschaften zuspricht. Vom Formalismus der Quantentheorie her ist Folgendes zu erwarten: Wann immer man ein Gesamtsystem betrachtet, das mehrere Quantensysteme als Teile hat, sind die Zustände der Teilsysteme miteinander verschränkt. Aufgrund der Zustandsverschränkungen und mithin der Nicht-Separabilität von Quantensystemen spricht man von einem Holismus in Bezug auf die Quantentheorie: Die Quantensysteme sind durch Beziehungen miteinander verbunden, die sich in keiner Weise auf etwas zurückführen lassen, das den einzelnen Quantensystemen unabhängig voneinander zukommt (für begriffliche Analysen dessen, was dieser Holismus besagt, siehe [5–16], [5–17], [5–18] und [5–19], Kapitel 7 bis 9). Wenn man von der klassischen Physik und vom Prinzip der Separabilität ausgeht, dann kann man in der Quantenmechanik zwar an einzelnen physikalischen Systemen festhalten. Man kann auch Experimente an einzelnen Quantensystemen durchführen. Man muss aber das, was in der klassischen Physik als Eigenschaften angesehen wird, die diesen Systemen je einzeln zukommen, als Korrelationen – genauer gesagt als Überlagerungen von Korrelationen – zwischen diesen Systemen konzipieren. Während die Quantentheorie somit die Prinzipien der Lokalisiertheit und der Separabilität verletzt, widerspricht sie nicht dem Prinzip der Nahewirkung. Die Zustandsverschränkungen – und mit ihnen die Einstein-PodolskyRosen-Korrelationen – sind unabhängig von der räumlichen oder der raumzeitlichen Entfernung zwischen den beteiligten Systemen. Diese Korrelationen sind keine Wechselwirkungen (Interaktionen, Kräfte). Zustandsverschränkungen sind keine kausale Beziehung, weil es sich nicht um Korrelationen zwischen Zustandsänderungen von Systemen handelt, denen je für sich ein Zustand zukommt. Eine kausale Beziehung zwischen zwei oder mehr Systemen setzt voraus, dass jedes dieser Systeme einen Zustand hat, der dessen zustandsabhängige Eigenschaften vollständig bestimmt. Andernfalls könnte keine kausale Abhängigkeit zwischen Veränderungen von zustandsabhängigen Eigenschaften dieser Systeme formuliert werden. Im

Zustandsverschränkungen: das Kennzeichen der Quantentheorie

Falle von Verschränkungen gibt es hingegen keine solche Separabilität. Alle Arten von Wechselwirkungen (Interaktionen, Kräfte), die in der Quantentheorie behandelt werden, entsprechen dem Prinzip der Nahewirkung. Gegen das bisher Gesagte kann man folgendes Bedenken erheben: Die Zustandsverschränkungen betreffen nur die zustands- oder zeitabhängigen Eigenschaften – wie zum Beispiel Ort und Impuls und den Spin in jeder Raumrichtung. Quantensystemen kommen aber auch zustandsunabhängige Eigenschaften zu, wie zum Beispiel Ladung und Masse. Diese Eigenschaften gehören ebenfalls zu den grundlegenden Eigenschaften von Quantensystemen, und nichts verhindert, diese Eigenschaften als intrinsische Eigenschaften anzusehen, die jedem System für sich genommen zukommen. Es ist jedoch Folgendes zu beachten: Eigenschaften wie Masse und Ladung sind keine Basis, auf deren Grundlage die Zustandsverschränkungen zwischen den Quantensystemen festgelegt sein könnten. Wenn nur die Masse und die Ladung von Quantensystemen gegeben ist, wissen wir nichts über Zustandsverschränkungen. Ferner sind diese Eigenschaften nicht in der Lage, Quantensysteme derselben Art voneinander zu unterscheiden. Alle Elektronen zum Beispiel haben die gleiche Ladung und die gleiche Ruhemasse. Vor diesem Hintergrund hat die Tatsache, dass Quantensysteme nicht dem Prinzip der Separabilität genügen, eine weitere Konsequenz: Quantensysteme sind keine Individuen. Wenn wir in der Quantenmechanik mehrere Quantensysteme derselben Art betrachten, deren Zustände miteinander verschränkt sind, dann sind diese Systeme ununterscheidbar. Sie unterscheiden sich nicht durch ihre zustandsunabhängigen Eigenschaften wie Ladung und Masse. Es gibt ferner keinerlei zustandsabhängige Eigenschaften – auch nicht einmal bedingte Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Eigenschaften irgendwelcher Art –, durch die sich ein System von anderen solchen Systemen unterscheidet (siehe [5–20]). In der klassischen Physik sind Systeme immer durch den Ortswert voneinander unterschieden: Jedes System besitzt immer einen definiten nummerischen Wert des Ortes, und keine zwei Systeme können zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein. Wenn hingegen die Zustände zweier oder mehrerer Quantensysteme in Bezug auf Ort und Impuls miteinander verschränkt sind – wie in dem ursprünglichen Beispiel von Einstein, Podolsky und Rosen [5–13] –, dann hat keines dieser Systeme einen definiten nummerischen Wert des Ortes, und die Werte- oder Wahrscheinlichkeitsverteilung des Ortes (der oben erwähnte „gemischte Zustand“) ist für beide Systeme identisch. Daraus folgt: Quantensysteme haben keine Identität in der Zeit, die auf Eigenschaften beruht. Wir können nicht ein Quantensystem kennzeichnen und es später wiedererkennen. Die Systeme der Quantenmechanik (Elektronen, Protonen, Neutronen, Photonen usw.) sind aber einzelne Systeme: Ein Gesamtsystem enthält stets eine definite Anzahl solcher Systeme. In der Quantenmechanik bestehen die Korrelationen der Zustandsverschränkung immer zwischen einer definiten Anzahl einzelner Systeme. In den genannten Beispielen haben wir es stets mit zwei Systemen zu tun. Ferner ist jedes dieser Systeme ein Subjekt der Prädikation von Eigenschaften – und seien es Eigenschaften wie „ist verschränkt mit anderen Systemen“, „hat Spin plus relativ zu dem Fall, dass das andere System Spin minus hat“ und so fort (siehe die Diskussion zwischen [5–21], [5–22] und [5–23] einerseits und [5–24] und [5–25] andererseits).

Zustandsunabhängige Eigenschaften

Keine Individuen

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Herausforderung der Quantentheorie

An dieser Stelle zeigt es sich, dass es sinnvoll ist, in folgender Weise zwischen physikalischen Systemen und Individuen zu unterscheiden: Nicht alles, was ein einzelnes physikalisches System ist, ist damit auch schon ein Individuum. Um ein einzelnes physikalisches System zu sein, reicht es hin, dass dem betreffenden Seienden physikalische Eigenschaften zugesprochen werden können. Diese Eigenschaften müssen nicht intrinsisch sein. Es kann sich auch um relationale Eigenschaften (Relationen) handeln. Um ein Individuum zu sein, ist es notwendig, dass dem betreffenden Seienden Eigenschaften – beziehungsweise zu jedem Zeitpunkt Werte oder Werteverteilungen von Eigenschaften – zugesprochen werden können, durch die sich das betreffende System von allen anderen Systemen unterscheidet. Folglich verfügen allein Individuen über eine Identität in der Zeit. Es ist allerdings philosophisch möglich, die Systeme der Quantenmechanik trotz des Ausgeführten als Individuen anzusehen, wenn man bereit ist, eine so genannte primitive Diesheit anzuerkennen (siehe dazu [5–26]): Wenn man jedem einzelnen Quantensystem die Eigenschaft zuspricht, dieses System zu sein, dann hat man per definitionem eine Eigenschaft, die nur dem betreffenden System zukommt und die für dieses System eine physikalisch nicht nachweisbare Identität stiftet (vergleiche zu dieser Möglichkeit [5–20]). Die Frage ist jedoch, ob der Rückzug auf eine solche Position philosophisch sinnvoll ist. Wenn wir das bisher Gesagte vor dem Hintergrund der Ausführungen in Kapitel V.1 zusammenfassen, dann sehen wir, dass die Quantentheorie in mindestens dreierlei Hinsicht eine Herausforderung für die Naturphilosophie ist: – keine Lokalisiertheit: Quantensysteme und deren Eigenschaften sind in der Regel nicht an Punkten oder beliebig kleinen Gebieten des Raumes oder der Raumzeit lokalisiert. – keine Separabilität: Die grundlegenden, zeitabhängigen Eigenschaften von Quantensystemen – wie Ort, Impuls und Spin im Sinne der Spinkomponenten – sind keine Eigenschaften, die jedem Quantensystem für sich genommen zukommen. Diese Eigenschaften kommen Quantensystemen in erster Linie in Form von Verschränkungen ihrer Zustände zu, das heißt Überlagerungen (Superpositionen) von Korrelationen (Einstein-PodolskyRosen-Korrelationen). – keine Individualität: Quantensysteme sind keine Individuen in dem Sinn, dass Quantensysteme derselben Art, deren Zustände miteinander verschränkt sind, ununterscheidbar sind. Die größte Herausforderung ist das Fehlen von Separabilität. Das Fehlen von Individualität ist eine Konsequenz der Nicht-Lokalisiertheit und der NichtSeparabilität.

c) Von der Quantenmechanik zur Quantenfeldtheorie Quantenfelder

Der augenfälligste Unterschied zwischen der Quantenmechanik und der Quantenfeldtheorie besteht darin, dass die Quantenfeldtheorie in dem zuletzt genannten Merkmal, dem Fehlen von Individualität, noch weiter geht. Die Quantenmechanik sieht die Anzahl der Quantensysteme so an,

Zustandsverschränkungen: das Kennzeichen der Quantentheorie

dass diese konstant ist. Quantensysteme können jedoch erzeugt und vernichtet werden. Die Quantenfeldtheorie behandelt die Erzeugung und Vernichtung von Quantensystemen. Sie ist daher grundlegender als die Quantenmechanik. Die Philosophie der Quantenfeldtheorie steht jedoch noch am Anfang (wichtige Bücher sind [5–27], [5–28] und [5–29]; siehe ferner die Arbeiten in [5–30] und [5–31] sowie die Artikel [5–32], [5–33], [5–34], [5–35] und [5–36]). Die Quantenfeldtheorie setzt für jede Art von Elementarsystemen – wie zum Beispiel Elektronen – ein Feld an, das sich über die gesamte Raumzeit erstreckt. Was gemäß der Quantenmechanik einzelne physikalische Systeme sind, von denen es stets eine definite Anzahl gibt, das sind gemäß der Quantenfeldtheorie Eigenschaften von Quantenfeldern. Elektronen und dergleichen sind Feldquanten, die mathematisch durch einen Teilchenzahloperator repräsentiert werden. Die Anzahl der Feldquanten zeigt an, wie viele Male ein Feldzustand besetzt ist. Feldquanten sind Anregungen von Quantenfeldern. Für Feldquanten gilt das, was für zustandsabhängige Eigenschaften in der Quantentheorie generell gilt. Ein Feld braucht nicht in einem Zustand zu sein, in dem es eine definite Anzahl von Feldquanten hat. Ein Feld kann zum Beispiel in einem Zustand sein, der eine Superposition von fünf und sieben Elektronen ist. Da es keine definite Anzahl der Feldquanten gibt, kann man diese nicht als einzelne physikalische Systeme ansehen. Das Fehlen einer definiten Anzahl ist das Hauptargument dagegen, die Quantenfeldtheorie in Begriffen einer Ontologie von Teilchen zu interpretieren (selbst wenn diese, wie bereits in der Quantenmechanik, keine Individuen sein sollten). Die aus der Quantenmechanik bekannten Einstein-Podolsky-Rosen-Korrelationen treten in der Quantenfeldtheorie als Korrelationen zwischen den bedingten Wahrscheinlichkeitsverteilungen von Feldoperatoren an Punkten oder Gebieten der Raumzeit auf. Die Quantenfeldtheorie bestätigt die Bedeutung dieser Korrelationen: Diese Korrelationen gibt es sogar im Vakuum-Zustand (siehe [5–37] und [5–38]). In dieser Sichtweise beseitigt Quantenfeldtheorie beseitigt also die einzelnen Quantensysteme als Träger von Eigenschaften, hält aber an den Korrelationen fest, die nun unter Bezugnahme auf Punkte oder Gebiete der Raumzeit formuliert werden. Das ist der Kern der so genannten Feldinterpretation der Quantenfeldtheorie. Das Hauptproblem für diese Interpretation ist jedoch Folgendes: In einer klassischen Feldtheorie werden den Punkten der Raumzeit Feldeigenschaften zugeordnet, die in definiten nummerischen Werten bestehen. Wenn man hingegen in der Quantenfeldtheorie Punkten oder Gebieten der Raumzeit Feldeigenschaften zuordnet, handelt es sich nicht um Eigenschaften mit definiten nummerischen Werten, sondern um Superpositionen, in die alle möglichen Werte der betreffenden Eigenschaften eingehen. Man kann daher sagen, dass die Ontologie der Quantenfeldtheorie auf dem heutigen Stand der Kunst vor einem Dilemma steht: Wenn man diese Theorie im Sinne einer Ontologie von Teilchen zu interpretieren versucht, dann ist man mit dem Problem konfrontiert, dass es keine definite Anzahl dessen gibt, was man als Teilchen ansehen möchte (die Feldquanten). Ferner scheint ein solcher Ansatz nicht in der Lage zu sein, interagierende Felder zu berücksichtigen.

Feldquanten

EPR-Korrelationen in der Quantenfeldtheorie

Dilemma in der Interpretation der Quantenfeldtheorie

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Wenn man diese Theorie im Sinne einer Ontologie von Feldern zu interpretieren versucht, dann hat man aus der klassischen Physik einen klaren Begriff eines physikalischen Feldes zur Verfügung, den man jedoch jedenfalls nicht ohne Weiteres in der Quantenfeldtheorie anwenden kann; denn wenn man Punkten oder Gebieten der Raumzeit Feldeigenschaften zuordnen möchte, handelt es sich dabei nicht um Eigenschaften mit definiten nummerischen Werten, sondern um Superpositionen. Infolgedessen müsste man zunächst die Frage beantworten, was die ontologische Bedeutung solcher Superpositionen in feldtheoretischer Sicht sein soll; zur Beantwortung dieser Frage geben die klassischen Feldtheorien keine Orientierung. Ferner verleiht man in dieser Interpretation der Annahme einer passiven Hintergrundraumzeit ein zentrales Gewicht; im Anschluss an die allgemeine Relativitätstheorie ist jedoch klar, dass die Raumzeit kein passiver Hintergrund ist. Entsprechend werden in der Suche nach einer Quantentheorie der Gravitation vorwiegend Ansätze verfolgt, die keine gegebene Raumzeit als Hintergrund voraussetzen – mit anderen Worten: Ansätze, welche die Quantenkorrelationen der Zustandsverschränkung für fundamentaler halten als klassische, raumzeitliche Relationen (siehe oben das Ende von Kapitel IV.2e). Man mag aus diesem Dilemma den Schluss ziehen, dass in der Interpretation der Quantenfeldtheorie andere ontologische Kategorien erforderlich sind, als diejenigen von Teilchen und Feldern, die beide aus der klassischen Physik stammen und dann jeweils mit Korrekturen in der Interpretation der Quantentheorie angewendet werden. Es ist jedoch auf dem heutigen Stand der Forschung nicht klar, um welche Kategorien es sich dabei handeln könnte.

3. Bells Theorem Von Einstein zu Bell

Wie am Anfang dieses Kapitels ausgeführt wurde, lehnt Einstein die naturphilosophischen Prinzipien ab, die in der Quantentheorie zum Tragen kommen, weil sie nicht den Prinzipien der Lokalisiertheit, der Separabilität und der Individualität genügen. Einsteins Position löste eine Debatte aus, in deren Mittelpunkt die folgende Frage steht: Ist es möglich, die Voraussagen der Quantentheorie für experimentelle Ergebnisse zu übernehmen, ohne ihre theoretischen Prinzipien anzuerkennen? Wichtig für die Antwort auf diese Frage ist das Theorem von John Bell (1928–1990) von 1964 [5–39]. Bell stützt sich auf Einsteins Prinzipien der Separabilität und der Nahewirkung (in dem Sinne, dass die Lichtgeschwindigkeit die Maximalgeschwindigkeit für die Übertragung physikalischer Wirkungen ist). Er beweist auf dieser Grundlage ein Theorem, welches zeigt, dass es eine Obergrenze für Korrelationen der Art gibt, von denen die Quantentheorie handelt – das heißt Korrelationen zwischen den möglichen definiten nummerischen Werten zustandsabhängiger Eigenschaften von zwei oder mehreren Quantensystemen. Mit anderen Worten: Wenn den Beziehungen der Zustandsverschränkung Eigenschaften der Quantensysteme zugrunde liegen, die den Prinzipien der Separabilität und der Nahewirkung genügen, dann dürfen die betreffenden, messbaren Korrelationen zwischen Quantensystemen eine bestimmte Grenze nicht überschreiten. Für alle Fälle von Zustandsverschränkungen sagt die Quan-

Bells Theorem

tentheorie jedoch höhere Korrelationen zwischen den möglichen definiten nummerischen Werten einiger zustandsabhängiger Eigenschaften von Quantensystemen voraus, als Bells Theorem zulässt (siehe [5–40] und [5–41] für diese Verallgemeinerung von Bells Theorem). Damit ist Einsteins Position in der von ihm vertretenen Form nicht haltbar: Man kann nicht die Prognosen der Quantentheorie akzeptieren, Hintergrundannahmen wie das Prinzip der Nahewirkung unverändert lassen und zugleich der Auffassung sein, dass den Zustandsverschränkungen, von denen die Quantentheorie handelt, intrinsische Eigenschaften der betroffenen Quantensysteme zugrunde liegen – in dem Sinne, dass die Zustandsverschränkungen durch Eigenschaften der betroffenen Systeme festgelegt sind, die jedem dieser Systeme für sich genommen zukommen. Die wesentliche Annahme, die in den Beweis von Bells Theorem eingeht, ist Faktorisierbarkeit. Diese Annahme kann formal so dargestellt werden (siehe [5–42], S. 147): (V.3)

1 2 p12  ðxa ; xb ja; bÞ ¼ p ðxa jaÞ N p ðxb jbÞ

In dieser Formel ist p die bedingte Wahrscheinlichkeit und  steht für den Zustand des Gesamtsystems, also den Singulett-Zustand in dem oben betrachteten Beispiel; 1 und 2 beziehen sich auf die beiden Teile, also die beiden Systeme von Spin 1/2; xa und xb stehen für die Ergebnisse der Messungen von Teil 1 und Teil 2 (xa = € 1, xb = € 1); a bezieht sich auf den Parameter, der an Teil 1 gemessen wird, und b bezieht sich auf den Parameter, der an Teil 2 gemessen wird. Faktorisierbarkeit bedeutet: Gegeben den Zustand des Gesamtsystems hängt die Wahrscheinlichkeit für das Ergebnis einer Messung an Teil 1 nur von dem Parameter ab, der an Teil 1 gemessen wird; und die Wahrscheinlichkeit für das Ergebnis einer Messung an Teil 2 hängt nur von dem Parameter ab, der an Teil 2 gemessen wird. Die Wahrscheinlichkeit für beide Ergebnisse, gegeben beide Parameter, ist das Produkt dieser Wahrscheinlichkeiten. Faktorisierbarkeit ist so die präzise mathematische Formulierung der Annahme, die Bell in der Einleitung zu seiner Arbeit angibt, nämlich dass „das Ergebnis der Messung an einem System nicht durch Eingriffe an einem entfernten System beeinflusst wird, mit dem das System in der Vergangenheit interagiert hat“ ([5–39], S. 195, eigene Übersetzung). Jon Jarrett zeigte 1984, dass man Faktorisierbarkeit in zwei Bedingungen zerlegen kann [5–43]: Sie ist die Konjunktion dessen, was heute allgemein als „Parameter-Unabhängigkeit“ und als „Ergebnis-Unabhängigkeit“ bezeichnet wird (siehe [5–42], S. 146–147). „Parameter-Unabhängigkeit“ kann so formuliert werden: (V.4)

p1 ðxa ja; bÞ ¼ p1 ðxa jaÞ

(V.5)

p2 ðxb ja; bÞ ¼ p2 ðxb jbÞ

Diese Formeln besagen: Im Zustand  des Gesamtsystems ist die Wahrscheinlichkeit für das Ergebnis einer Messung an Teil 1 unabhängig von dem Parameter, der an Teil 2 gemessen wird (und umgekehrt). „Ergebnis-Unabhängigkeit“ hat den folgenden Inhalt:

Faktorisierbarkeit

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Bell-Experimente

(V.6)

p1 ðxa ja; bÞ ¼ p1 ðxa ja; b; xb Þ

(V.7)

p2 ðxb ja; bÞ ¼ p2 ðxb ja; b; xa Þ

Diese Formeln besagen: Im Zustand  des Gesamtsystems und gegeben die Parameter, die an beiden Teilen gemessen werden, ist das Ergebnis einer Messung von Teil 1 unabhängig von dem Ergebnis einer Messung von Teil 2. Wenn das Ergebnis einer Messung von Teil 2 gegeben ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit für das Ergebnis einer Messung von Teil 1 nicht verändert (und umgekehrt). Die Quantentheorie stimmt mit Parameter-Unabhängigkeit überein: Wenn der Parameter, der an dem einen System gemessen werden soll, gegeben ist, dann verändern sich die Wahrscheinlichkeiten für das Ergebnis einer Messung an dem anderen System nicht. Die Quantentheorie verletzt jedoch die Ergebnis-Unabhängigkeit: Wenn das Ergebnis der Messung an dem einen System und der gemessene Parameter gegeben sind, dann sind die Wahrscheinlichkeiten für das Ergebnis einer Messung an dem anderen System verändert. Im betrachteten Fall des Spin sind die Ergebnisse Spin plus und Spin minus nicht mehr gleich wahrscheinlich, sondern das eine Ergebnis ist wahrscheinlicher als das andere (es sei denn, der Spin wird an beiden Systemen in orthogonal entgegengesetzten Richtungen gemessen). Man kann daher davon sprechen, dass die Quantentheorie Ergebnis-Abhängigkeit impliziert. Bells Theorem zeigt somit, dass die Quantentheorie Faktorisierbarkeit nicht erfüllt. Eine nähere Analyse stellt klar, dass die Quantentheorie mit der Annahme der Ergebnis-Unabhängigkeit nicht übereinkommt. Es gibt ein paar Stimmen, die behaupten, dass die Verletzung der Faktorisierbarkeit lediglich eine mathematische Angelegenheit ist, die als solche ohne philosophisches Interesse ist (siehe insbesondere [5–44] und [5–45]). Diese Sicht kann man jedoch mit guten formalen Argumenten zurückweisen (siehe [5–46]). Die weitaus überwiegende Ansicht ist, dass Bells Theorem und dessen Verletzung in der Quantentheorie eine philosophische Bedeutung haben (siehe dazu [5–47] und die Arbeiten in [5–48]). Die Korrelationen, welche die Quantentheorie voraussagt und welche die Obergrenze, die Bells Theorem setzt, überschreiten, sind experimentell nachgewiesen. Die meisten Experimente sind nach dem folgenden Muster aufgebaut: An der Quelle des Experiments wird der einfachste Fall einer Zustandsverschränkung, der Singulett-Zustand, präpariert. Zwei Systeme im Singulett-Zustand werden zusammen von der Quelle emittiert und entfernen sich dann in voneinander entgegengesetzte Richtungen. Es werden SpinParameter festgelegt, die an beiden Systemen gemessen werden. Die Messergebnisse werden zueinander in Bezug gesetzt; ihr Vergleich bestätigt die Voraussagen der Quantentheorie. Die Messergebnisse zeigen höhere Korrelationen, als Bells Theorem zulässt. Alle diese Experimente sind als BellExperimente bekannt, obwohl Bell selbst an ihnen nicht beteiligt war. Besonders wichtig ist das Experiment, das Alain Aspect mit seinen Mitarbeitern Anfang der 1980er Jahre in Paris durchgeführt hat [5–49]. In diesem Experiment werden die Parameter, die an beiden Systemen gemessen werden, erst nach der Emission der Systeme von der Quelle festgelegt. Die beiden Mes-

Alternativen zur Quantentheorie?

sungen sind durch einen raumartigen Abstand voneinander getrennt. Es wird auf diese Weise ausgeschlossen, dass der Parameter, der an dem einen System gemessen wird, oder das Ergebnis dieser Messung dem anderen System durch ein Signal übermittelt werden könnten, das sich höchstens mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. Daran anschließend wurden zahlreiche weitere Experimente durchgeführt, die Einstein-Podolsky-Rosen-Korrelationen zwischen den Ergebnissen von raumartig getrennten Messungen zeigen (siehe insbesondere [5–50]). Die Korrelationen zwischen raumartig getrennten Messergebnissen widersprechen nicht der speziellen oder der allgemeinen Relativitätstheorie, zumindest nicht auf der operationellen Ebene. Es ist nicht möglich, diese Korrelationen zu nutzen, um Signale mit Überlichtgeschwindigkeit zu senden. Denn man kann das Ergebnis einer Messung nicht beeinflussen: In dem betrachteten Beispiel sind die Ergebnisse Spin plus und Spin minus gleich wahrscheinlich. Mehr noch, für einen lokalen Beobachter – das ist ein Beobachter, der nicht weiß, welche Messungen woanders ausgeführt werden – sind diese beiden Ergebnisse immer gleich wahrscheinlich. Die ErgebnisAbhängigkeit, welche die Quantentheorie impliziert, ist für einen lokalen Beobachter nicht feststellbar. Nur im Nachhinein können die Korrelationen entdeckt werden, indem man die Ergebnisse einer Reihe von Messungen auf der einen Seite der experimentellen Anordnung mit den Ergebnissen einer Reihe von Messungen auf der anderen Seite vergleicht. Der Bostoner Wissenschaftsphilosoph Abner Shimony spricht deshalb von einer friedlichen Koexistenz zwischen der Quantenphysik und der speziellen Relativitätstheorie (in [5–42], S. 133). Im Rahmen von Bells Theorem zeigt sich somit, dass es nicht möglich ist, die Voraussagen der Quantentheorie zu akzeptieren und sowohl an Einsteins Prinzip der Separabilität als auch an Einsteins Prinzip der Nahewirkung festzuhalten. Das heißt: Es ist nicht möglich, die Prognosen der Quantentheorie anzuerkennen und eine Naturphilosophie zu vertreten, die an der klassischen Physik orientiert ist. Wie auch immer man die Quantentheorie interpretiert, man ist zu tiefgreifenden Änderungen im Vergleich zu einer Naturphilosophie, die an der klassischen Physik orientiert ist, gezwungen. Deshalb spricht Abner Shimony von „experimenteller Metaphysik“ in Bezug auf Bells Theorem und die nachfolgenden Experimente ([5–51], S. 27; siehe auch [5–52], Kapitel 3 und S. 87): Metaphysische Aussagen – wie Einsteins Prinzipien der Separabilität und der Nahewirkung – erlauben es, aus ihnen empirische Konsequenzen abzuleiten (wie Bells Theorem zeigt), und diese Konsequenzen kann man in wissenschaftlichen Experimenten testen.

Kein operationeller Widerspruch zur Relativitätstheorie

Experimentelle Metaphysik

4. Alternativen zur Quantentheorie? Das Konzept experimenteller Metaphysik besagt nicht, dass Experimente metaphysische Fragen entscheiden können. Auf der Grundlage der experimentellen Ergebnisse sind immer mehrere metaphysische Positionen möglich, die man mit philosophischen Argumenten bewerten muss. So ist es

Verborgene Parameter

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Bohms Theorie

auch im Anschluss an Bells Theorem und die Experimente möglich, die Voraussagen der Quantentheorie für experimentelle Ergebnisse zu übernehmen, ohne die in der Quantentheorie verankerte Nicht-Separabilität anzuerkennen. Die entsprechenden Ansätze sind unter dem Namen „verborgene Parameter“ bekannt. Denn sie basieren auf der Hypothese definiter nummerischer Werte von physikalischen Eigenschaften von Quantensystemen, welche die Quantentheorie nicht anerkennt und die wir nicht erkennen können, die aber nichtsdestoweniger objektiv in der Natur existieren. Die bekannteste und als einzige detailliert ausgearbeitete Theorie verborgener Parameter stammt von dem schon erwähnten Physiker David Bohm (siehe [5–53] und [5–54] als letzte wesentliche Publikation von Bohm selbst; für eine deutschsprachige Darstellung siehe [5–55]; zur Diskussion um Bohms Theorie siehe vor allem [5–56] und die Arbeiten in [5–57]). Bohm nimmt an, dass ein Quantensystem wie ein Elektron ein Teilchen ist, das zu jeder Zeit einen definiten nummerischen Wert des Ortes hat. Die Quantensysteme erfüllen folglich die Prinzipien der Lokalisiertheit und der Individualität, da es nicht möglich ist, dass zwei Quantensysteme den gleichen definiten nummerischen Wert des Ortes zur gleichen Zeit haben. Sie erfüllen ferner das Prinzip der Separabilität, zumindest was die zustandsabhängige Eigenschaft des Ortes betrifft. Der definite nummerische Wert des Ortes ist der verborgene Parameter, da wir diesen Wert nicht kennen. Aufgrund dieses verborgenen Parameters besitzt jedes Quantensystem eine definite Bahn in der Raumzeit, die wir ebenfalls nicht kennen. Diese Bahn ist kausal determiniert. Bohms Theorie ist deterministisch. Das Verhalten eines Quantensystems während eines Messprozesses ist ebenfalls kausal determiniert, obwohl wir das Ergebnis einer Messung nicht voraussagen können. Abgesehen vom Ort sind alle weiteren zustandsabhängigen Eigenschaften eines Quantensystems in folgendem Sinne kontextabhängig: Unabhängig von dem Kontext einer Messung hat ein Quantensystem nur die Disposition, einen definiten nummerischen Wert dieser Eigenschaften anzunehmen. Im Kontext einer entsprechenden experimentellen Anordnung wird dann die eine oder die andere dieser Eigenschaften in dem Sinne aktualisiert, dass das System einen definiten nummerischen Wert der gemessenen Eigenschaft erwirbt. Bohm vertritt, dass es ein Quantenpotential gibt. Es handelt sich um eine zusätzliche physikalische Größe, die Bohms Theorie einführt. Das Quantenpotential determiniert in kausaler Weise die Bahn jedes Quantensystems in der Raumzeit. Im Unterschied zu einem klassischen Potential wirkt das Quantenpotential nur auf die Quantensysteme, ohne dass diese ihrerseits auf es einwirken, und es nimmt nicht unbedingt mit dem räumlichen Abstand ab. Die Weise, in der das Quantenpotential die Bahn eines Quantensystems in der Raumzeit bestimmt, kann unmittelbar von Faktoren abhängen, die von dem Quantensystem durch einen raumartigen Abstand getrennt sind. In den Bell-Experimenten zum Beispiel schließen diese Faktoren eine experimentelle Anordnung ein, die sich über eine beachtliche räumliche Distanz erstrecken kann, so dass die Ereignisse der Festlegung der zu messenden Parameter und der Messungen an beiden Quantensystemen durch einen raumartigen Abstand voneinander getrennt sind – es also keine Wechselwirkung zwischen ihnen geben kann, die sich höchstens mit Lichtgeschwindigkeit ausbreitet. Bohms Theorie verletzt die Parameter-

Alternativen zur Quantentheorie?

Unabhängigkeit, während die herkömmliche Quantentheorie die ErgebnisUnabhängigkeit verletzt: Den Parameter zu fixieren, der auf einer Seite eines Bell-Experimentes gemessen wird, führt durch das Quantenpotential unmittelbar zu einer Veränderung der Situation auf der anderen Seite. Bei dem Quantenpotential, das Bohms Theorie einführt, handelt es sich um eine neuartige Wechselwirkung, die nicht dem Prinzip der Nahewirkung genügt. Bohms Theorie führt zu den gleichen Voraussagen wie die herkömmliche Quantenmechanik. Nichtsdestoweniger kann man gegen Bohms Alternativtheorie vor allem die folgenden beiden Kritikpunkte anführen: (1) Die Quantenmechanik ist ein Spezialfall einer allgemeinen Quantentheorie, welche auch die Quantenfeldtheorie umfasst. Kann Bohms Theorie auch auf die Quantenfeldtheorie ausgeweitet werden und deren Voraussagen reproduzieren? Diese Frage ist zurzeit offen (siehe aber [5–58] und [5–59]). Wenn man eine Bohmsche Quantenfeldtheorie entwickeln möchte, ist man in erster Linie mit der folgenden Schwierigkeit konfrontiert: Bohms Theorie setzt voraus, dass es objektiv in der Natur ein global bevorzugtes Bezugs- oder Koordinatensystem gibt, das wir allerdings nicht kennen; sie widerspricht damit einem der beiden fundamentalen Prinzipien der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie (siehe oben Kapitel IV.1a). (2) Die Hypothese eines Quantenpotentials hat den Anschein einer ad hoc Annahme, angesichts dessen dass dieses Potential von jedem anderen bekannten physikalischen Potential grundverschieden ist. Es wirkt auf die Teilchen ein, ohne dass die Teilchen ihrerseits auf es einwirken. Es steht kein anderes Argument zur Verfügung, um die Annahme von dessen Existenz zu begründen als dasjenige, die experimentell nachgewiesenen Korrelationen zu reproduzieren, die gemäß der herkömmlichen Quantentheorie auf der Nicht-Separabilität der Zustände der Quantensysteme beruhen (ihrer Verschränkung). Diese Reproduktion erfolgt mit Hilfe des Postulats von Fernwirkungen, wodurch Bohms Theorie dem Prinzip der Nahewirkung und damit auch dem zweiten fundamentalen Prinzip der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie widerspricht (dem Prinzip, gemäß welchem die Lichtgeschwindigkeit die Maximalgeschwindigkeit für die Ausbreitung physikalischer Wirkungen ist). Kurz gesagt, es kann keine relativistische Bohmsche Theorie geben. Angesichts dessen erscheint Bohms Theorie wenig glaubhaft: Man kann auch gemäß dieser Theorie das Quantenpotential nicht nutzen, um Signale mit Überlichtgeschwindigkeit zu senden. Das global bevorzugte Bezugsoder Koordinatensystem kann man nicht erkennen, ebenso wenig wie den Ort der Quantenteilchen und deren definite Bahn in der Raumzeit. Aber dennoch, so die Behauptung, steckt hinter dem, das wir erkennen können, eine quasi-klassische und vor-relativistische Welt, bestehend in Teilchen mit definitem Ort und definiter Bahn und einer objektiven, globalen zeitlichen und räumlichen Ordnung aller Ereignisse etabliert durch ein global bevorzugtes Bezugs- oder Koordinatensystem – mit dem einzigen Makel, dass die Bahn dieser Teilchen durch Einflüsse bestimmt wird, die mit Überlichtge-

Einwände gegen Bohms Theorie

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Alternative kausale Erklärungen

schwindigkeit wirken, um die experimentell bestätigten Voraussagen der Quantentheorie zu reproduzieren. Abgesehen von Bohms Theorie gibt es Versuche einer direkten kausalen Erklärung der Korrelationen zwischen Quantensystemen, welche Bells Theorem verletzen. Beispielsweise kann man vertreten, dass es ein Signal gibt, welches das Ergebnis der einen Messung instantan an die andere Messung übermittelt und somit eine Fernwirkung ist (siehe zum Beispiel [5–60]). Ferner kann man zeitlich rückwärts gerichtete Kausalität ansetzen und auf diese Weise einen kausalen Einfluss der zukünftigen Messung auf den Zustand, der an der Quelle eines Bell-Experimentes präpariert wird, veranschlagen (siehe zum Beispiel [5–61], Kapitel 8 und 9, [5–62] und [5–63], Kapitel 8). Diese Erklärungsversuche können allerdings als völlig ad hoc kritisiert werden. Sie sind (bisher jedenfalls) in keiner Weise auch nur annähernd so präzise ausgearbeitet wie Bohms Alternativtheorie zur herkömmlichen Quantentheorie.

5. Der Strukturenrealismus Lokalität und Realität

Gegen Atomismus

Die Situation im Anschluss an Bells Theorem und die zugehörigen Experimente wird manchmal so beschrieben, dass wir entweder die Annahme der Lokalität oder die Annahme der Realität aufgeben müssen (zum Beispiel [5–64], S. 38–39 / deutsch S. 52–53). Die Annahme der Lokalität aufzugeben, bezieht sich auf die Möglichkeit, auf eine Alternative zur Quantentheorie zu setzen – insbesondere eine Alternative, die Wirkungen zulässt, welche sich instantan über eine beliebige räumliche Distanz ausbreiten. Wenn uns eine solche Alternative wenig attraktiv erscheint, dann, so wird uns gesagt, müssen wir die Annahme der Realität aufgeben. Eine solche Aussage ist unsinnig (siehe auch [5–65]). Wenn wir akzeptieren, dass uns Bells Theorem zusammen mit dem Formalismus der Quantentheorie und den Ergebnissen der Experimente zeigt, dass Quantensysteme nicht dem Prinzip der Separabilität genügen, dann müssen wir eine bestimmte Sicht der Realität aufgeben und diese durch eine andere Sicht der Realität ersetzen. Wenn man die quantentheoretische Nicht-Separabilität anerkennt, dann muss man die Sicht der Natur ändern, welche seit der Antike die Naturphilosophie dominiert. Gemäß dieser Sicht besteht die Natur in einer Vielzahl individueller Substanzen, die durch intrinsische Eigenschaften gekennzeichnet sind und die in der Raumzeit angeordnet sind. Das können Atome im wörtlichen Sinne der griechischen Atomisten sein (kleinste, unteilbare Teilchen), aristotelische Substanzen, die über eine intrinsische Essenz verfügen, oder lokale Feldquellen. Kurz gesagt, die Naturphilosophie wird von einer Position dominiert, die Einstein in dem Zitat zu Beginn dieses Kapitels unter dem Prinzip der Separabilität zusammenfasst. Diese Position ist ein naturphilosophischer Atomismus, weil die charakteristischen Eigenschaften der physikalischen Systeme so angesehen werden, dass sie jedem System für sich genommen zukommen. Die Quantentheorie widerspricht dieser Sicht der Natur. Wenn man die

Der Strukturenrealismus

quantentheoretischen Zustandsverschränkungen akzeptiert – das heißt, nicht auf eine Alternative zur Quantentheorie in Begriffen verborgener Parameter setzt –, dann kann man nicht mehr eine Position vertreten, gemäß der die fundamentale Ebene der Natur in intrinsischen Eigenschaften besteht, die an Punkten der Raumzeit auftreten und gemäß der allein die Relationen raumzeitlichen Abstands fundamentale Relationen sind. Man muss darüber hinaus Relationen der Zustandsverschränkung anerkennen, die ebenfalls fundamentale, irreduzible Relationen sind. Dadurch gelangt man zu einem Holismus statt eines Atomismus. In der Diskussion der letzten zehn Jahre ist dieser Holismus als ontischer Strukturenrealismus bekannt geworden (siehe vor allem [5–66], [5–67], [5–68], [5–69], Kapitel 2–5, und [1–6], Kapitel 4). Das Adjektiv „ontisch“ zeigt an, dass es sich um eine naturphilosophische Position handelt, also eine Theorie dessen, was es in der Natur gibt – im Unterschied zu einer epistemischen Position, die sich lediglich auf das bezieht, was wir von der Natur wissen können. Man kann eine physikalische Struktur als ein Netz von konkreten Relationen zwischen Objekten ansehen, die keine intrinsische Identität besitzen (das heißt keine intrinsischen Eigenschaften – und auch keine primitive Diesheit –, die jedes dieser Objekte von allen anderen Objekten unterscheiden). Es wird somit nicht mehr verlangt, als dass es Objekte gibt, die dasjenige sind, zwischen dem die Relationen bestehen. Das ist eine logische Trivialität: Relationen erfordern etwas, zwischen dem sie bestehen. Es ist jedoch ein metaphysisches Vorurteil, aus dieser logischen Trivialität zu folgern, dass die Objekte über intrinsische Eigenschaften verfügen müssen, die deren Identität stiften. Dieses metaphysische Vorurteil, nicht jedoch jene logische Trivialität, widerspricht der zeitgenössischen Physik. Der Strukturenrealismus ist dadurch charakterisiert, keine solchen Objekte anzuerkennen. Er weist die traditionelle metaphysische Sicht zurück, gemäß der Objekten eine ontologische Priorität gegenüber Relationen zukommt, indem Objekte mit einer intrinsischen Identität ontologisch vorrangig sind. Er behauptet vielmehr Folgendes: Relationen können zwar nicht ohne Objekte existieren; aber die Objekte haben keine intrinsische Identität, die unabhängig von den Relationen ist, in denen sie stehen. Man kann so weit gehen, Folgendes zu sagen: Die Relationen, in denen sie stehen, sind die Weisen, wie die Objekte existieren (siehe [5–70], Kapitel 2.2 und 2.5). Damit wird zugleich deutlich, dass nur eine begriffliche, aber keine ontologische Unterscheidung zwischen Objekten und Relationen besteht (eine reale Unterscheidung in dem Sinne, dass Objekte und Relationen verschiedenes Seiendes wären). Die Quantentheorie ist die wesentliche Stütze für den ontischen Strukturenrealismus in der heutigen Philosophie der Physik. Denn die Quantensysteme existieren nicht separiert voneinander, sondern sind durch Relationen der Zustandsverschränkung miteinander verbunden. Diese Relationen sind fundamental und irreduzibel. Was die zustandsabhängigen Eigenschaften betrifft, sind Quantenobjekte nichts weiter als dasjenige, welches in den Relationen der Zustandsverschränkung steht; diese Relationen sind die Weise, wie die Quantenobjekte existieren. Die Zustandsverschränkungen betreffen allerdings nur die zeit- oder zustandsabhängigen Eigenschaften von Quantensystemen, nicht jedoch zustandsunabhängige Eigenschaften wie

Strukturen

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Metrische Relationen und QuantenRelationen der Zustandsverschränkung

zum Beispiel Ladung und Ruhemasse. Nichts verhindert, letztere als intrinsische Eigenschaften anzusehen. Der Strukturenrealismus kann jedoch solche intrinsischen Eigenschaften anerkennen; denn wie oben in Kapitel V.2.c erwähnt wurde, stellen Eigenschaften wie Ladung und Masse keine Identitätsbedingungen für Quantensysteme bereit. Alle Elektronen beispielsweise haben die gleiche Ladung und die gleiche Ruhemasse. Nur intrinsische Eigenschaften, die hinreichen, um eine intrinsische Identität von Objekten zu stiften, widersprechen dem Strukturenrealismus. Der Strukturenrealismus bezieht sich nicht nur auf die Quantensysteme, sondern auch auf die Raumzeit gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie: Das Feld-Argument ist ein wesentliches Argument dafür, die Punkte der Raumzeit als physikalische Objekte anzuerkennen; das Argument der Vakuum-Lösungen der Einsteinschen Feldgleichungen und das Loch-Argument zeigen jedoch, dass die Punkte der Raumzeit nur aufgrund der metrischen Feldeigenschaften physikalische Objekte sind – diese Eigenschaften sind essentiell für jene. Die metrischen Feldeigenschaften sind jedoch relationale Eigenschaften. Es gibt keine intrinsischen Eigenschaften und auch keine primitive Diesheit der Punkte der Raumzeit (siehe oben Kapitel IV.2.b und c). Man kann daher sagen, dass die Punkte der Raumzeit nichts weiter als dasjenige sind, welches in den metrisch-gravitationellen Relationen steht (siehe [5–71]). Nichtsdestoweniger ist die Weise, in der die allgemeine Relativitätstheorie den Strukturenrealismus stützt, verschieden von der Weise, in der die Quantentheorie diese philosophische Position stützt: In der allgemeinen Relativitätstheorie gibt es nichts dergleichen wie Nicht-Separabilität. Die allgemeine Relativitätstheorie kommt mit der Quantentheorie darin überein, keine Objekte mit einer intrinsischen Identität anzuerkennen. Sie erkennt relationale Eigenschaften als grundlegend an (metrische Relationen), aber sie kennt keine Überlagerungen (Superpositionen) von Korrelationen (wie die Zustandsverschränkungen). Obgleich die Quantentheorie und die allgemeine Relativitätstheorie darin übereinkommen, die traditionelle Naturphilosophie fundamentaler physikalischer Objekte mit einer intrinsischen Identität zurückzuweisen und stattdessen den ontischen Strukturenrealismus stützen, bleibt die Frage nach dem Verhältnis zwischen den metrisch-gravitationellen Relationen und den Relationen der Zustandsverschränkung, welche die Felder nicht-gravitationeller Energie-Materie kennzeichnen, offen. Die allgemeine Relativitätstheorie denkt die Raumzeit selbst dynamisch statt als statischen Hintergrund, aber klassisch, indem sie keine Superpositionen anerkennt. Die Quantentheorie ist auf dem Superpostions-Prinzip aufgebaut (inkompatible Eigenschaften und Zustandsverschränkungen), setzt aber in allen heute gängigen Formulierungen eine nicht-dynamische Raumzeit als statischen, passiven Hintergrund voraus. Dennoch kann man die Quanten-Relationen der Zustandsverschränkung für fundamentaler als die metrischen Relationen der Raumzeit halten. Denn diese Quanten-Relationen sind unabhängig von raumzeitlichen Abständen. Allerdings ist keine Position in Sicht, die es erlauben würde, auf dieser Grundlage das Leibnizsche Projekt zu vollenden – das heißt, mit den Quanten-Relationen der Zustandsverschränkung zu starten und von diesen aus die metrischen Relationen und damit die klassische Raumzeit abzuleiten.

Das Messproblem

6. Das Messproblem Die Quantenmechanik, wie sie in den 1920er Jahren entworfen wurde, ist in dem Buch des Mathematikers Johann von Neumann (1903–1957) zu den Mathematischen Grundlagen der Quantenmechanik von 1932 festgehalten [5–72]. Von Neumann nimmt zwei verschiedene Arten der Entwicklung der Zustände von Quantensystemen in der Zeit an: Da ist in erster Linie die Entwicklung gemäß der Schrödinger-Gleichung. Diese Entwicklung ist deterministisch. Wenn mehrere Systeme miteinander interagieren – und allgemeiner, wann immer wir ein Gesamtsystem betrachten, das aus mehreren Systemen besteht –, führt die Entwicklung gemäß der Schrödinger-Gleichung dazu, dass sich die Zustandsverschränkungen immer weiter fortsetzen. Innerhalb der Entwicklung gemäß der Schrödinger-Gleichung gibt es keine Möglichkeit, zu definiten nummerischen Werten als Messergebnisse zu gelangen. Von Neumann postuliert deshalb, dass im Falle einer Messung die Zustandsentwicklung gemäß der Schrödinger-Gleichung unterbrochen wird: Es findet eine Reduktion der Superposition zu einem Zustand statt, in dem das gemessene Quantensystem einen definiten nummerischen Wert der gemessenen Eigenschaft hat. Mit anderen Worten: Die Zustandsverschränkung – Überlagerung (Superposition) von Korrelationen – wird aufgelöst und auf genau eine dieser Korrelationen reduziert, so dass das gemessene Quantensystem einen definiten nummerischen Wert der gemessenen Eigenschaft relativ dazu hat, dass das Messgerät in einem Zustand ist, in dem es einen definiten nummerischen Wert der gemessenen Eigenschaft anzeigt. Die Zustandsreduktion ist ein indeterministischer Prozess: Dafür, auf welchen definiten nummerischen Wert der Zustand reduziert wird, gibt es nur – objektive – Wahrscheinlichkeiten. Wie eine solche Zustandsreduktion physikalisch ablaufen könnte, lässt von Neumann offen ([5–72], Kapitel VI.1). Dieser Vorschlag, den von Neumann festhält und der sich bis heute in Lehrbüchern der Quantenmechanik findet, ist jedoch völlig ad hoc. Messprozesse und Messgeräte sind keine natürlichen Arten, sondern Wissenschaftler benutzen diverse physikalische Objekte als Messgeräte gemäß ihren Bedürfnissen. Man kann keine präzise physikalische Definition eines Messgerätes und eines Messprozesses geben. Physikalisch gibt es keinen Unterschied zwischen einem Messprozess und einer beliebigen physikalischen Interaktion. Messgeräte sind eine Erfindung von Menschen, die sehr spät in der Evolution des Universums erfolgt und welche die Existenz von makroskopischen Systemen voraussetzt, die nicht den Quanten-Zustandsverschränkungen unterworfen sind. Wenn man die Kosmologie in Betracht zieht, ist es offensichtlich, dass es Ereignisse der Reduktion von QuantenZustandsverschränkungen in der Geschichte des Universums gibt, ohne dass es Messgeräte gibt. Solche Ereignisse sind die Grundlage, auf der sich dann stabile Moleküle, Organismen und schließlich Menschen mit ihren technischen Erfindungen entwickeln. Das Messproblem in der Quantenmechanik kann man als die Frage formulieren, wie man die folgenden beiden Behauptungen aneinander anpassen soll, so dass sie sich zusammenfügen: (a) Wenn wir den Formalismus der Quantentheorie einschließlich der Schrödinger-Dynamik auf eine Messung anwenden, gelangen wir zu einer Beschreibung, gemäß der die Zustände

Zwei Dynamiken

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Schrödingers Katze

Dekohärenz

aller beteiligten Systeme miteinander verschränkt sind. (b) Eine Messung führt zu einem definiten Ergebnis; das gemessene Quantensystem ist unmittelbar nach der Messung in einem Zustand, in dem es einen definiten nummerischen Wert der gemessenen Eigenschaft hat (siehe zum Messproblem insbesondere [5–73] und [5–74] sowie [5–9] und [5–10]). Das Messproblem wird von Erwin Schrödinger in dem berühmten Gedankenexperiment mit einer Katze besonders drastisch dargestellt. Schrödinger stellt sich eine Katze vor, die in einen Stahlkasten zusammen mit einer kleinen Menge einer radioaktiven Substanz – sagen wir, genau ein radioaktives Atom – und einem Behälter mit einem Gift eingesperrt wird, dessen Einatmen sofort tödlich ist. Wenn das Atom zerfällt, wird ein Mechanismus ausgelöst, der den Behälter mit Gift aufbricht, und die Katze wird getötet. Der Zerfall eines radioaktiven Atoms ist ein typischer quantenphysikalischer Prozess. Nehmen wir an, dass die Wahrscheinlichkeit, dass das Atom innerhalb einer Stunde zerfällt, 0,5 ist. Gemäß der Schrödinger-Dynamik sind die Zustände aller dieser Systeme nach einer Stunde miteinander verschränkt. Mithin ist der Zustand des Gesamtsystems eine Überlagerung der Korrelation „Atom nicht zerfallen, Mechanismus nicht ausgelöst, Katze lebendig“ und der Korrelation „Atom zerfallen, Mechanismus ausgelöst, Katze tot“ ([5–75], S. 812). Etwas vereinfacht ausgedrückt, die Katze ist in einer Superposition von lebendig und tot relativ dazu, dass der Mechanismus in einer Superposition von nicht ausgelöst und ausgelöst ist und das Atom in einer Superposition von nicht zerfallen und zerfallen ist. Wenn man die Katze als ein Messgerät ansieht, dann zeigt die Anwendung des Quanten-Formalismus somit, dass der Zustand des Messgerätes mit dem Zustand des Quantensystems verschränkt ist, statt einen definiten nummerischen Wert einer Eigenschaft anzuzeigen, den das Quantensystem hat. Einen Beobachter hinzuzufügen, der den Stahlkasten öffnet, ändert nichts an dieser Situation. Der Zustand des Gesamtsystems ist in diesem Fall schlicht eine Überlagerung der Korrelation „Atom nicht zerfallen, Mechanismus nicht ausgelöst, Katze lebendig, Beobachter sieht lebendige Katze“ und der Korrelation „Atom zerfallen, Mechanismus ausgelöst, Katze tot, Beobachter sieht tote Katze“. Wenn wir vom Formalismus der Quantentheorie ausgehen, gelangen wir mithin nicht zu makroskopischen Gegenständen einschließlich Messgeräten, wie sie von unserer Alltagsontologie oder einer verfeinerten Version von dieser im Rahmen der klassischen Physik beschrieben werden. Der bedeutendste physikalische Fortschritt in Bezug auf das Messproblem seit der Zeit von Schrödinger und von Neumann ist die Theorie der Dekohärenz (zur Übersicht [5–76], [5–77] und [5–78]). Betrachten wir ein Quantensystem in einer Umgebung, zu der ein Messgerät gehört. Der Zustand des Quantensystems ist oder wird mit den Zuständen der Systeme in der Umgebung einschließlich des Zustands des Messgerätes verschränkt. Die Umgebung umfasst letztlich die gesamte Welt. Die Theorie der Dekohärenz zeigt das Folgende: Obwohl nur das Ganze aus Quantensystem, Umgebung und Messgerät in einem reinen Zustand ist, kann jeder Teil dieses Ganzen in Begriffen eines gemischten Zustands beschrieben werden (siehe dazu oben Kapitel V.2.b). Dieses Ganze entwickelt sich sehr rasch in einer solchen Weise, dass es operationell nicht von einem Gemenge unterschieden werden kann. Das ist ein Ensemble von Systemen, von denen jedes in einem reinen

Das Messproblem

Zustand ist, aber der Beobachter nicht den reinen Zustand von jedem System kennt. Das heißt: In Wirklichkeit bestehen die Verschränkungen weiterhin. Operationell sind sie aber nicht zugänglich. Vielmehr sieht es für uns als lokale Beobachter so aus, als ob wir es mit Systemen mit je separaten Zuständen und definiten nummerischen Werten der betrachteten Eigenschaften zu tun haben. Kurz gefasst, Dekohärenz zeigt, dass in Wirklichkeit die Zustandsverschränkungen fortbestehen, sogar während einer Messung. Sie sind jedoch uns lokalen Beobachtern – das heißt Beobachtern, die Teil des Gesamtsystems sind, indem sie mit dem gemessenen Quantensystem interagieren – nicht zugänglich. Die Theorie der Dekohärenz ist daher nicht in der Lage, das Messproblem zu lösen (siehe [5–79]). Sie ermöglicht es aber, die entscheidende Frage klar zu formulieren: Gibt es Zustände physikalischer Systeme, die das Prinzip der Separabilität erfüllen, indem die betreffenden Systeme definite nummerische Werte zustandsabhängiger Eigenschaften haben? Wenn ja, wie erfolgt eine Reduktion von verschränkten Zuständen zu Zuständen mit definiten nummerischen Werten – angesichts dessen, dass Dekohärenz die Zustandsverschränkungen nicht antastet? Oder sind alle physikalischen Systeme, einschließlich der uns vertrauten makroskopischen Systeme wie Katzen und Beobachter, in Wirklichkeit den Zustandsverschränkungen unterworfen, und Dekohärenz erklärt, wieso die Welt uns so erscheint, als ob es Systeme gibt, die definite nummerische Werte ihrer zustandsabhängigen Eigenschaften haben? Wenn man die Möglichkeit beiseite lässt, auf eine Alternativtheorie zur Quantentheorie zu setzen, die mit verborgenen Parametern arbeitet, gibt es im Rahmen der Quantentheorie genau zwei Typen von Positionen, das Messproblem zu lösen. Jede dieser beiden Positionen betrifft sowohl den mikro- als auch den makrophysikalischen Bereich (siehe dazu ausführlich [1–6], Kapitel 3.2 und 3.3). Aufgrund des Messproblems bedarf die Quantentheorie in einer anderen Weise einer Interpretation als die klassische Mechanik, die klassische Feldtheorie des Elektromagnetismus und die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. Unter der Interpretation einer naturwissenschaftlichen Theorie versteht man eine Antwort auf die Frage, was die Theorie über die Beschaffenheit der Welt aussagt, unter der Annahme, dass die Theorie wahr ist. In der klassischen Mechanik sowie der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie ist durch den Formalismus dieser Theorien klar, was diese Theorien über die Beziehungen zwischen dem Seienden in der Welt aussagen, von dem sie handeln – beispielsweise was die allgemeine Relativitätstheorie durch die Einsteinschen Feldgleichungen über die Beziehung zwischen den metrischen Eigenschaften und den Eigenschaften der Felder nicht-gravitationeller Energie-Materie aussagt. Das Hauptproblem der Interpretation dieser Theorien betrifft die Frage nach dem ontologischen Status von Raumzeit und Materie, ob es sich um einen Dualismus von verschiedenartigem Seienden oder um einen Monismus handelt. In der Quantentheorie hingegen setzt die Interpretation schon bei der Fassung des Formalismus dieser Theorie an. Der Grund ist, dass die standardmäßige Lehrbuchdarstellung dieser Theorie im Anschluss an von Neumann die Gleichung, welche die Dynamik der Quantensysteme beschreibt (die Schrödinger-Gleichung), im Falle von Messungen ad hoc durch ein Postulat der

Zwei Typen von Positionen

Interpretation der Quantentheorie

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Universelle Zustandsverschränkungen

Viele Welten

Zustandsreduktion außer Kraft setzt, wobei man keine physikalische Definition dessen geben kann, wodurch sich eine Messung von anderen physikalischen Interaktionen unterscheidet. Die standardmäßige Lehrbuchdarstellung ist daher schlicht und einfach ungenügend, um in Bezug auf sie überhaupt die Frage stellen zu können, was die Theorie über die Welt aussagt, unter der Annahme, dass sie wahr ist. Infolgedessen muss in diesem Fall die Interpretation der Theorie zunächst mit naturphilosophischen Argumenten sich für eine Formulierung der Theorie entscheiden, bevor dann die naturphilosophischen Konsequenzen – das, was die Theorie über die Beschaffenheit der Welt aussagt – ausgelotet werden können. Angesichts dessen, dass von Neumanns Postulat, welches die SchrödingerDynamik im Falle einer Messung außer Kraft setzt, völlig ad hoc ist, besteht eine Möglichkeit der Interpretation der Quantentheorie im genannten Sinne darin, die Zeitentwicklung gemäß der Schrödinger-Gleichung für die einzige und somit die vollständige Zeitentwicklung der Quantensysteme zu halten. Eine solche Position wurde zuerst von Hugh Everett in den 1950er Jahren formuliert (siehe [5–80] und [5–10], Abschnitt 2.4, für den zeitgenössischen Stand). Mit anderen Worten, dieser Typus von Positionen verzichtet auf das Postulat von Zustandsreduktionen. Die Zustandsverschränkungen sind folglich universell. Sie lösen sich nie auf, nicht einmal in einem Messprozess. Messungen sind eine physikalische Interaktion wie andere, die einfach zu weiteren Zustandsverschränkungen führt. Kurz gesagt, Schrödingers Katze ist niemals tot: Sie besteht ewig in einer Superposition von lebendig und tot fort, ebenso wie das Atom ewig in einer Superposition von zerfallen und nicht zerfallen fortbesteht. Das Gleiche gilt für alle physikalischen Systeme und alle ihre zustandsabhängigen Eigenschaften. Schließlich ist es folgerichtig, auch das Bewusstsein von Personen (Beobachtern) in die Zustandsverschränkungen einzubeziehen: Jede Person besitzt in der Tat unendlich viele Werte ihrer psychologischen Eigenschaften („many minds“ in Englisch), die mit den Werten physikalischer Eigenschaften von rein physikalischen Systemen verschränkt sind (siehe insbesondere [5–81] und [5–82], Kapitel 12 und 13). Dieser Typus von Positionen kann auf Dekohärenz zurückgreifen, um zu erklären, wieso die Zustandsverschränkungen einem lokalen Beobachter nicht zugänglich sind und wieso ein lokaler Beobachter den Eindruck hat, dass es Messgeräte gibt, die definite nummerische Werte physikalischer Eigenschaften anzeigen. Kurz gesagt, aufgrund von Dekohärenz hat ein lokaler Beobachter innerhalb der Welt, der selbst Teil einer Zustandsverschränkung ist, in einem Bewusstseinsakt immer nur Zugang zu einem der definiten nummerischen Werte, die in die Superposition eingehen, also zum Beispiel in dem Fall von Schrödingers Katze „Katze tot relativ zu Beobachtung toter Katze“ und „Katze lebendig relativ zu Beobachtung lebendiger Katze“. Nichtsdestoweniger existieren alle diese Korrelationen objektiv in der Welt. In dem Beispiel von Schrödingers Katze existiert objektiv die Korrelation „Atom nicht zerfallen, Mechanismus nicht ausgelöst, Katze lebendig, Beobachter sieht lebendige Katze“ und die Korrelation „Atom zerfallen, Mechanismus ausgelöst, Katze tot, Beobachter sieht tote Katze“. Die innerhalb dieses Typus von Positionen am weitesten verbreitete Weise, die Ontologie auszuführen, gemäß der die Überlagerung (Superposition) aller dieser Korrelationen objektiv in der Welt existiert, besteht darin, jede

Das Messproblem

dieser Korrelationen einem Zweig des Universums zuzuordnen. So existiert ein Zweig des Universums, in dem das Atom nicht zerfallen ist und relativ dazu der Mechanismus nicht ausgelöst ist, die Katze lebendig ist und der Beobachter eine lebendige Katze sieht. Ebenso existiert ein Zweig des Universums, in dem das Atom zerfallen ist und relativ dazu der Mechanismus ausgelöst ist, die Katze tot ist und der Beobachter eine tote Katze sieht. Aufgrund von Dekohärenz interferieren diese Zweige des Universums nicht miteinander. Da es zustandsabhängige Eigenschaften gibt, die ein Spektrum unendlich vieler möglicher Werte haben (zum Beispiel Ort und Impuls), die in die Superposition eingehen, ist diese Position darauf festgelegt, unendlich viele Zweige des Universums anzuerkennen, die parallel zueinander existieren und nicht miteinander interferieren, sobald Dekohärenz eingesetzt hat. Deshalb ist diese Position als Viele-Welten-Interpretation der Quantentheorie bekannt. Es ist jedoch exakter, von unendlich vielen Zweigen der einen Welt zu sprechen, deren Überlagerung (Superposition) den Gesamtzustand der Welt bildet. Diese ontologische Festlegung provoziert den wesentlichen Einwand gegen diese Position: Man ist darauf festgelegt zu vertreten, dass ein und dasselbe physikalische System einschließlich ein und desselben Bewusstseins einer Person in Wirklichkeit unendlich viele Male verdoppelt in unendlich vielen Zweigen des Universums existiert, in denen es jeweils verschiedene Werte seiner zustandsabhängigen Eigenschaften hat. Mit anderen Worten, man betrachtet alles dasjenige, was gemäß der Quantentheorie möglich ist, als wirklich existierend, und zwar als verteilt auf unendlich viele Zweige des Universums existierend. Folglich impliziert dieser Typus von Positionen, dass strikt genommen alle Theorien und Beschreibungen der Welt außerhalb der Quantentheorie falsch sind, weil sie alle voraussetzen, dass es in der Welt Objekte gibt, die jeweils genau einen definiten nummerischen Wert ihrer zustandsabhängigen Eigenschaften haben. Der andere Typus von Positionen, mit denen man das Messproblem innerhalb der Quantentheorie lösen kann, versucht, die Quantentheorie mit den anderen Theorien und Beschreibungen der Welt und deren ontologischen Festlegungen zu vereinbaren, indem er objektiv existierende, definite nummerische Werte von Eigenschaften, zum Beispiel infolge eines Messprozesses, anerkennt. Dieses ist innerhalb der Zeitentwicklung, die durch die Schrödinger-Gleichung ausgedrückt wird, nicht möglich. Wenn man objektiv existierende, definite nummerische Werte anerkennt, kann man daher die Schrödinger-Dynamik nicht für die vollständige Dynamik der Quantensysteme halten. Diese Dynamik aber einfach, wie von Neumann, durch ein Postulat der Zustandsreduktion ad hoc außer Kraft zu setzen, ist ebenfalls nicht akzeptabel. Die Idee, welcher dieser Typus von Positionen verfolgt, besteht darin, die Schrödinger-Dynamik so zu ergänzen, dass die Beschreibung von Zustandsreduktionen in diese Dynamik integriert ist. Diese Idee ist von Alternativtheorien zur Quantentheorie zu unterscheiden: In diesem Typus von Positionen gibt es keine verborgenen Parameter. Die Idee ist, die Schrödinger-Dynamik und das Postulat von Zustandsreduktionen in einer einheitlichen Dynamik zusammenzufassen, die sowohl den mikrophysikalischen als auch den makrophysikalischen Bereich und damit auch den Übergang zwischen beiden erfasst.

Dynamik mit Zustandsreduktionen

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Die Herausforderung der Quantenphysik GRW

Der einzige physikalisch konkret ausgearbeitete Vorschlag einer Veränderung der Schrödinger-Dynamik in diesem Sinne geht auf die italienischen Physiker GianCarlo Ghirardi, Alberto Rimini und Tullio Weber zurück (GRW) ([5–83]; siehe auch ([5–84] sowie [5–85]). GRW führen begrifflich Zustandsreduktionen in Form spontaner Lokalisationen von Quantensystemen ein, das heißt spontaner Erwerb eines relativ definitiven Wertes des Ortes. Formal beschreiben GRW die spontanen Lokalisationen, indem sie, kurz gesagt, die Schrödinger-Gleichung um einen stochastischen Term ergänzen, der für ein einzelnes Quantensystem in Isolation eine extrem geringe Wahrscheinlichkeit angibt, dass dieses Quantensystem sich spontan lokalisiert. Wenn man aber ein Gesamtsystem betrachtet, das aus sehr vielen Quantensystemen besteht – wie zum Beispiel ein makroskopisches System wie eine Katze –, dann ist die Wahrscheinlichkeit extrem hoch, dass eines dieser Quantensysteme in extrem kurzer Zeit eine spontane Lokalisation ausführt. Aufgrund der Zustandsverschränkungen sind dann, wenn eines dieser Systeme sich spontan lokalisiert, alle anderen Systeme ebenfalls lokalisiert. Mit anderen Worten, die Zustandsverschränkung (Superposition von Korrelationen) ist dann auf eine dieser Korrelationen reduziert. Mit der spontanen Lokalisation nehmen auch die anderen zustandsabhängigen Eigenschaften von Quantensystemen quasi-definite nummerische Werte an. Der große Vorteil von GRW ist, Zustandsreduktionen in Form spontaner Lokalisationen begrifflich und formal präzise so einzuführen, dass sie unabhängig von Messungen sind. Messprozesse und Messgeräte haben keinen besonderen Status in der GRW-Dynamik. GRW ist damit auch in der Kosmologie anwendbar und vermeidet die oben genannten Einwände gegen von Neumanns Postulat der Zustandsreduktion. Generell gesagt besteht das Hauptargument für GRW darin, einen physikalisch und mathematisch präzisen Weg zu bahnen, der es ermöglicht, die Zustandsverschränkungen der Quantentheorie anzuerkennen – also nicht in eine Alternativtheorie mit verborgenen Parametern auszuweichen –, ohne dadurch auf die extravagante Ontologie unendlich vieler, parallel existierender Zweige des Universums festgelegt zu sein. Die GRW-Gleichung ist mathematisch weniger elegant als die Schrödinger-Gleichung. Es ist aber unfair, GRW vorzuwerfen, eine ad hoc Modifikation der Schrödinger-Gleichung vorzunehmen: Die Modifikation ist nicht ad hoc, weil sie Zustandsreduktionen – und die experimentell nachgewiesenen Resultate von Zustandsreduktionen – in die Dynamik aufnimmt und so eine einheitliche Dynamik erreicht (womit selbstverständlich nicht behauptet ist, dass GRW das letzte Wort für eine solche Dynamik ist). Der Haupteinwand betrifft die Frage, ob GRW dieses Ziel erreichen: Die spontanen Lokalisationen sind Quasi-Lokalisationen, da die GRW-Zustandsreduktion nicht zu einer Reduktion der Superposition von Korrelationen (der Verschränkung) auf genau eine Korrelation unter vollständigem Ausschluss aller anderen führt. Dieses Problem ist in der Literatur als das Problem der Schwänze von Schrödingers Katze bekannt. Es hat zur Konsequenz, dass eine gewisse Vagheit in der Existenz definitiver nummerischer Werte anerkannt werden muss (siehe [5–86] sowie [5–10], S. 56–61). Das Messproblem stellt sich insbesondere im Falle von Messungen an Sys-

Das Messproblem

temen, die so präpariert werden, dass ihre Zustände in einer genau abgegrenzten Weise miteinander verschränkt sind, um Zustandsverschränkungen experimentell nachzuweisen. Wenn man die Auffassung vertritt, dass es keine Zustandsreduktion gibt, hat man allerdings kein zusätzliches Problem. In diesem Fall nimmt man an, dass nur lokale Interaktionen zwischen Messgeräten und Quantensystemen stattfinden, welche zu weiteren Zustandsverschränkungen führen. Unter Bezugnahme auf Dekohärenz kann man erklären, wieso es einem lokalen Beobachter so erscheint, als ob eine Messung zu einem definiten Ergebnis führt. Wenn man hingegen der Meinung ist, dass es Zustandsreduktionen gibt, stellt sich ein zusätzliches Problem. Durch ein Messergebnis auf der einen Seite eines Bell-Experiments sind die Wahrscheinlichkeiten für das Messergebnis auf der anderen Seite verändert; diese Veränderung ist allerdings einem lokalen Beobachter auf der anderen Seite nicht zugänglich, wie oben ausgeführt wurde. Die beiden Messungen in einem Bell-Experiment können durch einen raumartigen Abstand voneinander getrennt sein. Nichtsdestoweniger gilt: Wenn ein Messergebnis xa auf der einen Seite eines Bell-Experiments gegeben ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Ergebnis xb auf der anderen Seite erhöht. Kontrafaktisch ausgedrückt, wenn es nicht das Ergebnis xa auf der einen Seite gegeben hätte, dann wäre das Ergebnis xb auf der anderen Seite weniger wahrscheinlich gewesen. Wenn die beiden Messungen durch einen raumartigen Abstand voneinander getrennt sind, besteht somit keine objektive zeitliche Ordnung zwischen ihnen. Seit Kurzem gibt es einen ersten konkret ausgearbeiteten Vorschlag dessen, wie man eine relativistische Version der GRW-Dynamik entwickeln kann, innerhalb derer sich nicht die Frage nach der zeitlichen Ordnung der beiden Messungen in einem Bell-Experiment stellt und die daher nicht auf die Annahme eines global bevorzugten Bezugs- oder Koordinatensystems festgelegt ist (siehe [5–87], [5–88] und [5–89]). Auch eine Dynamik, die Zustandsreduktionen anerkennt – wie die GRWDynamik –, ändert nichts an der Tatsache, dass gemäß der Quantentheorie die Zustandsverschränkungen fundamental sind. Was folglich in einer Naturphilosophie, die sich auf die Quantentheorie stützt, zu erklären ist, das sind nicht die Zustandsverschränkungen, sondern deren Abwesenheit beziehungsweise deren Reduktion. Die Reduktion des Zustands eines einzelnen Systems ist nur unter der Bedingung möglich, dass die Zustände aller der Systeme, die mit dem Zustand des betreffenden Systems verschränkt sind, ebenfalls reduziert werden. Wenn Schrödingers Katze entweder in dem Zustand ist, lebendig zu sein, oder in dem Zustand ist, tot zu sein, dann – und nur dann – ist das Atom entweder in dem Zustand, nicht zerfallen zu sein, oder in dem Zustand, zerfallen zu sein, und der Mechanismus entweder in dem Zustand, nicht ausgelöst zu sein, oder in dem Zustand, ausgelöst zu sein usw. Wenn es Prozesse der Zustandsreduktion in der Natur gibt, dann folgt somit für die Interpretation der Quantentheorie, dass die Situation universeller Zustandsverschränkungen vor allem den zeitlichen Anfang des Universums betrifft. Danach setzt eine Entwicklung ein, die zu Zustandsreduktionen führt und damit zu Quantensystemen, die (quasi) definite nummerische Werte ihrer Eigenschaften und vor allem einen (quasi) definiten Ort haben. Auf dieser Grundlage entwickeln sich dann komplexe physikalische

Bell-Experimente und Zustandsreduktionen

Zustandsverschränkungen fundamental

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Kein Mittelweg

Systeme wie Moleküle, Organismen und schließlich Menschen mit ihren technischen Erfindungen. Es gibt innerhalb der Quantentheorie nur die beiden genannten, klar voneinander verschiedenen Typen von Positionen, das Messproblem zu lösen. Es gibt keinen Mittelweg, der es erlauben würde zu vertreten, dass Zustandsverschränkungen im Bereich mikrophysikalischer Systeme universell sind (keine Modifikation der Schrödinger-Dynamik und daher keine Zustandsreduktionen), dass aber makroskopische Systeme definite nummerische Werte ihrer Eigenschaften haben (keine Superpositionen und Zustandsverschränkungen im Bereich makroskopischer Systeme). Wenn die Zustandsverschränkungen universell im Bereich mikroskopischer Quantensysteme sind, dann sind sie schlechthin universell, da makroskopische Systeme aus mikroskopischen Systemen zusammengesetzt sind und mit diesen interagieren. Wenn es keine Superpositionen und Zustandsverschränkungen im Bereich makroskopischer Systeme gibt, dann gibt es ebenfalls Zustandsreduktionen – und damit Auflösungen von Zustandsverschränkungen – im Bereich mikroskopischer Quantensysteme (so dass eine Modifikation der SchrödingerDynamik erforderlich ist).

7. Zeit und Zeitrichtung in der Quantenphysik Zeit als externer Parameter

Thermodynamik

Wie bereits erwähnt wurde, behandelt die Quantentheorie – wie die klassische Mechanik und im Unterschied zur allgemeinen Relativitätstheorie – die Zeit als einen externen Parameter. Das heißt, sie setzt eine nicht-dynamische Zeit als passiven Hintergrund voraus, vor dem die Dynamik der Zustandsentwicklungen der Quantensysteme abläuft. Dennoch eröffnet die Quantentheorie eine andere Perspektive dessen, zeitlich gerichtete Prozesse zu behandeln, als die klassische Mechanik. Die überwiegende Mehrheit der Prozesse, mit denen wir vertraut sind, sind unumkehrbar und weisen damit eine Zeitrichtung aus: Das Leben ist ein Prozess des Älterwerdens, den man nicht umkehren kann etc. In der klassischen Physik werden zeitlich gerichtete Prozesse in der Thermodynamik behandelt. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die Entropie eines abgeschlossenen Systems in der Zeit zunimmt (oder gleich bleibt), aber nicht abnimmt. Die Entropie ist ein Maß für Unordnung im Sinne der Zerstreuung der Energie. Wenn beispielsweise eine Tasse zu Boden fällt und zerspringt, ist die Energie in viele Stücke mit ungleich gerichteten Impulsen zerstreut. Die Entropie hat somit zugenommen. Die Thermodynamik ist dadurch in den Corpus der klassischen Physik integriert, dass sie im Prinzip auf die statistische Mechanik reduzierbar ist, die ihrerseits Teil der klassischen Mechanik ist (siehe dazu [5 90], Kapitel 9, [5–91], und [5–92], Kapitel 2 bis 4, und [5–93]). Mit dieser Reduktion gibt man eine statistische Erklärung der Zunahme von Entropie und deren Irreversibilität. Die Gesetze der klassischen Mechanik zeichnen keine Zeitrichtung aus. Gemäß den Gesetzen der klassischen Mechanik ist es somit zulässig, dass die Stücke der zerbrochenen Tasse sich von selbst wieder zu einer Tasse zusammenfügen. Nichtsdestoweniger sind

Zeit und Zeitrichtung in der Quantenphysik

die Rand- und Anfangsbedingungen für einen solchen Prozess, also insbesondere die einheitliche Ausrichtung der Impulse aller dieser Stücke, quasi nie gegeben. Es gibt bei Weitem viel mehr Zustände, in denen die Impulse der Stücke der ehemaligen Tasse ungleich gerichtet sind, als Zustände, in denen die Impulse so koordiniert sind, dass die Stücke sich von alleine wieder zu einer Tasse zusammenfügen. Deshalb kann man die Wahrscheinlichkeit für eine Umkehr des Prozesses und damit die Wahrscheinlichkeit für eine Abnahme der Entropie vernachlässigen. Gegeben dass die Thermodynamik auf die statistische Mechanik reduzierbar ist, ist die zeitliche Gerichtetheit einiger Prozesse mithin keine Folge eines grundlegenden Naturgesetzes; sie ist vielmehr eine Folge von Rand- und Anfangsbedingungen. Es gibt noch weitere Beispiele für zeitlich gerichtete Prozesse. Wenn man einen Stein auf eine bis dahin ruhige Wasseroberfläche wirft, werden kreisförmige Wasserwellen ausgelöst, die sich vom Punkt des Aufschlages koordiniert entfernen. Der umgekehrte Prozess, die koordinierte Kontraktion kreisförmiger Wasserwellen zu einem Punkt, findet jedoch nicht statt. Ein solcher umgekehrter Prozess wird durch die Gesetze der Physik allerdings nicht ausgeschlossen. Wiederum ist es aber so, dass die Rand- und Anfangsbedingungen für einen solchen Prozess faktisch nicht eintreten. Wasserwellen sind eine Illustration von etwas, das für alle Arten von wellenproduzierenden Phänomenen gilt, insbesondere auch die Emission elektromagnetischer Wellen von einer Quelle. Deshalb sind diese Phänomene als gerichtete Prozesse von Strahlung bekannt. Es wird weithin angenommen, dass der zweite Hauptsatz der Thermodynamik auch für das Universum insgesamt genommen gilt: Die Entropie nimmt im Universum global zu. Wenn die Entropie im Universum global zunimmt und es einen Anfangszustand des Universums gibt, den so genannten Urknall (siehe oben Kapitel IV.2.a), dann ist man darauf festgelegt, anzunehmen, dass der Anfangszustand des Universums ein Zustand niedriger Entropie ist. Ein Anfangszustand niedriger Entropie ist statistisch gesehen jedoch äußerst unwahrscheinlich. Damit zeigt sich, wie problematisch die oben angedeutete Erklärung zeitlich gerichteter Prozesse ist: Dass die Stücke der ehemaligen Tasse sich nicht von selbst wieder zusammenfügen, wird damit erklärt, dass die dafür erforderliche koordinierte Ausrichtung der Impulse der Stücke extrem unwahrscheinlich ist. Die Frage jedoch, wieso es überhaupt Zustände niedriger Entropie mit zum Beispiel Tassen gibt, die zerbrechen können, führt uns letztlich zu einem Anfangszustand des Universums mit sehr niedriger Entropie. Die Erklärung zeitlich irreversibler Prozesse verweist uns in der klassischen Physik also von der Thermodynamik und der Theorie der Strahlung an die Kosmologie, genauer zu der Rechtfertigung der Annahme eines Anfangszustandes des Universums mit niedriger Entropie. Es gibt in der gegenwärtigen Kosmologie einige Vorschläge zur Rechtfertigung dieser Annahme. Keiner von diesen hat sich aber bisher als überzeugend durchgesetzt (siehe für eine Übersicht und philosophische Bewertung [5–90], Kapitel 8, und [5–61], Kapitel 4). Was die Grundlage für den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik betrifft, die Zunahme der Entropie im Universum, ändert sich durch den Übergang von der klassischen Physik zur Quantenphysik nichts daran, dass

Strahlung

Anfangszustand des Universums

Zustandsreduktionen unumkehrbar

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Die Herausforderung der Quantenphysik

Dekohärenz unumkehrbar?

Zeitrichtung

man auf die Annahme eines Anfangszustands des Universums mit extrem niedriger Entropie angewiesen ist. Auf dieser Annahme lastet jedoch nicht mehr unbedingt die Erklärung zeitlich gerichteter Prozesse und damit der Zeitrichtung. Wenn es Prozesse der Zustandsreduktion von quantenphysikalischen zu klassischen Eigenschaften gibt, dann sind dieses fundamentale physikalische Prozesse, die nicht auf umkehrbare Prozesse zurückgeführt werden können und die dadurch eine Zeitrichtung auszeichnen. Wenn daher die GRW-Gleichung oder etwas Ähnliches – das heißt, eine Modifikation der Schrödinger-Gleichung, welche die Beschreibung von Zustandsreduktionen einschließt – ein fundamentales physikalisches Gesetz ist, dann handelt es sich um ein fundamentales Gesetz, das nicht umkehrbar in Bezug auf die Zeitrichtung ist. Wenn einmal eine Zustandsreduktion erfolgt ist, dann ist es zwar möglich, dass die beteiligten Quantenobjekte wieder in verschränkte Zustände eintreten (die sich dann, sofern diese Quantenobjekte ein makroskopisches Objekt bilden, aber gemäß der GRW-Dynamik auch wieder enorm schnell auflösen). Es ist jedoch nicht möglich, den Prozess der Zustandsreduktion umzukehren: Man kann nicht mit dem Zustand anfangen, der das Resultat einer Zustandsreduktion ist, und eine Entwicklung denken, die zu dem verschränkten Zustand führt, der vor der Zustandsreduktion existiert hat. Eine solche Entwicklung widerspräche der GRW-Dynamik. Wie David Albert gezeigt hat, sind die spontanen Lokalisationen, die GRW konzipieren, geeignet, die Grundlage für alle zeitlich nicht umkehrbaren Phänomene im Universum zu bilden (siehe [5–91], Kapitel 7). Wenn man keine Zustandsreduktionen anerkennt und nur mit der Schrödinger-Gleichung arbeitet, dann ist diese zwar, wie die Gesetze der klassischen Mechanik, ein fundamentales Naturgesetz, das keine Zeitrichtung auszeichnet. Wie im vorigen Unterkapitel ausgeführt wurde, setzt man in diesem Fall Dekohärenz ein, um zu erklären, wieso uns lokalen Beobachtern die Welt klassisch erscheint. Dekohärenz steht vollständig im Rahmen der Schrödinger-Dynamik und führt zu keiner Reduktion der Zustandsverschränkungen. Nichtsdestoweniger müsste man Dekohärenz als irreversiblen Prozess konzipieren können, wenn man auf diese Weise das Messproblem lösen will: Gemäß der gängigen Version dieser Interpretation der Quantentheorie führt Dekohärenz zu einer Aufspaltung der Welt in unendlich viele Zweige, die parallel zueinander existieren, nicht miteinander interferieren und in denen jeweils eine bestimmte Korrelation vorhanden ist – also zum Beispiel in einem Zweig die Korrelation „Atom nicht zerfallen und relativ dazu Mechanismus nicht ausgelöst, Katze lebendig, Beobachter nimmt lebendige Katze wahr“ und in einem anderen Zweig „Atom zerfallen und relativ dazu Mechanismus ausgelöst, Katze tot, Beobachter nimmt tote Katze wahr“. Man würde eine Lösung des Messproblems verfehlen, wenn diese Entwicklung – und mit ihr Dekohärenz – zeitlich umkehrbar wäre, also der Prozess der Aufspaltung der Welt in unendlich viele Zweige reversibel wäre und somit auch eine Entwicklung von diesen Zweigen zu Zusammenschmelzen in Interferenz möglich wäre. Kurz gesagt, während in der klassischen Physik zeitlich irreversible Prozesse und mit diesen eine Zeitrichtung nicht in den Naturgesetzen verankert sind, sondern sich aus den Rand- und Anfangsbedingungen des Universums

Zeit und Zeitrichtung in der Quantenphysik

ergeben, verleiht die Quantenphysik zeitlich unumkehrbaren Prozessen und mit diesen der Zeitrichtung einen grundlegenderen Status: In einer Dynamik mit Zustandsreduktionen gibt es ein fundamentales Naturgesetz, das eine Zeitrichtung auszeichnet. Und auch in einer Dynamik ohne Zustandsreduktionen muss man fundamentale, irreversible Prozesse anerkennen, um das Messproblem lösen zu können. Die Zustandsentwicklung von Quantensystemen gemäß der SchrödingerGleichung ist deterministisch. Wenn die Schrödinger-Dynamik die vollständige Dynamik von Quantensystemen ist, dann ist die Quantentheorie deterministisch. Wie in Kapitel IV.1.b erwähnt wurde, ist die heute weitgehend akzeptierte Definition von „Determinismus“ kurz gefasst diese: Zwei mögliche Welten sind genau dann deterministisch, wenn Folgendes gilt: Wenn diese Welten zu einem Zeitpunkt übereinstimmen, dann stimmen sie zu allen Zeitpunkten überein (siehe [4–13], S. 13). Der Determinismus ist mithin eine ontologische These. Diese These ist logisch unabhängig davon, ob und in welchem Maße Voraussagen möglich sind. Das heißt: Damit, dass einzelne Messergebnisse prinzipiell nicht vorausgesagt werden können, ist noch nicht entschieden, ob die Quantentheorie indeterministisch ist. Ob die Quantentheorie deterministisch oder indeterministisch ist, hängt davon ab, wie man diese Theorie interpretiert. Wenn man die Dynamik, die durch die Schrödinger-Gleichung ausgedrückt wird, für die vollständige Dynamik von Quantensystemen hält und somit keine Zustandsreduktionen anerkennt, dann sieht man die Quantentheorie so an, dass sie deterministisch ist. Raum für einen Indeterminismus in der Quantenphysik besteht somit nur dann, wenn man die Schrödinger-Dynamik nicht für die einzige Dynamik von Quantensystemen hält, sondern eine Dynamik anerkennt, welche zu Zustandsreduktionen führt. Wenn Zustandsreduktionen indeterministisch sind, dann gibt es zwei mögliche Welten, in denen die Gesetze der Quantenphysik gelten und die bis zu einem Zeitpunkt t übereinstimmen und danach divergieren: In der einen Welt ist Spin plus das Ergebnis der Messung des Spin an einem System von Spin 1/2 in einer gegebenen Richtung, in der anderen Welt ist Spin minus das Ergebnis der entsprechenden Messung. Das augenfälligste Merkmal der Quantentheorie, die Unvorhersagbarkeit von Messergebnissen, ist mithin kein grundlegendes Merkmal, was das Naturverständnis in der Quantentheorie betrifft. Das grundlegende Merkmal ist die Nicht-Separabilität der Zustände von Quantensystemen, mit anderen Worten: die Zustandsverschränkungen. An diesem Merkmal entscheidet sich die Interpretation der Quantentheorie: Die Zustandsverschränkungen nicht anzuerkennen, impliziert, auf eine Alternative zur Quantentheorie in Begriffen verborgener Parameter zu setzen. Die Zustandsverschränkungen anzuerkennen, lässt zwei Typen von Positionen offen: die Zustandsverschränkungen für universell zu halten und auf Dekohärenz zu setzen, um zu erklären, wieso uns die Welt klassisch erscheint; oder Zustandsreduktionen anzuerkennen, die Zustandsverschränkungen auflösen und zu wirklich existierenden klassischen Eigenschaften führen, und auf eine Modifikation der Schrödinger-Dynamik zu setzen, welche die Beschreibung von Zustandsreduktionen integriert.

Determinismus und Indeterminismus

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Die Herausforderung der Quantenphysik

8. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen Zusammenfassung Ausgehend von Einsteins Prinzipien der Lokalisiertheit, der Separabilität, der Nahewirkung und der Individualität können wir nachvollziehen, was das philosophisch relevante Neue der Quantenphysik ist: Grundlegend sind das Superpositions-Prinzip und mit diesem die Merkmale der Inkompatibilität von Eigenschaften und der Zustandsverschränkungen. Quantensysteme sind infolge dieser Merkmale in der Regel nicht an Punkten oder beliebig kleinen Gebieten des Raumes und der Raumzeit lokalisiert. Ihre charakteristischen Eigenschaften sind keine intrinsischen Eigenschaften, die jedem Quantensystem für sich genommen zukommen. Stattdessen bestehen Relationen der Zustandsverschränkung zwischen Quantensystemen. Zustandsverschränkungen sind als Korrelationen zwischen den Messergebnissen zustandsabhängiger Eigenschaften von zwei oder mehreren Quantensystemen experimentell nachweisbar; diese Korrelationen sind unabhängig von dem raumzeitlichen Abstand der betreffenden Messungen. Quantensysteme sind keine Individuen im Sinne von Systemen, die durch das Zuschreiben von Eigenschaften voneinander unterschieden werden können. Bells Theorem zeigt, dass es nicht möglich ist, die experimentell bestätigten Voraussagen durch eine Alternativtheorie zu reproduzieren, die sowohl dem Prinzip der Separabilität als auch dem Prinzip der Nahewirkung genügt. Man kann nichtsdestoweniger Alternativen zur Quantentheorie, wie Bohms Theorie, ins Auge fassen, muss dann aber die Konsequenz der Annahme von Fernwirkungen akzeptieren. Wenn man die Nicht-Separabilität von Quantensystemen anerkennt, gelangt man zu einer holistischen Naturphilosophie, die in der heutigen Diskussion als ontischer Strukturenrealismus bekannt ist. Die wichtigste Frage in der Interpretation der Quantentheorie kristallisiert sich dann in dem so genannten Messproblem: Sind die Zustandsverschränkungen auf mehr oder weniger den mikrophysikalischen Bereich beschränkt und gibt es Zustandsreduktionen und mit diesen einen Übergang zu wirklich existierenden klassischen Eigenschaften? Oder umfassen die Zustandsverschränkungen in Wirklichkeit alle physikalischen Systeme, sind uns aber aufgrund von Dekohärenz nur in besonders präparierten experimentellen Anordnungen zugänglich? Wenn man Zustandsreduktionen anerkennt, gelangt man zu einem fundamentalen Naturgesetz, das eine Zeitrichtung auszeichnet.

Lektürehinweise – zur Einführung generell: die Arbeiten in [5–6] und [5–7] sowie [5–8], [5–9], [5–10] und [5–11] – zu Bells Theorem und den philosophischen Konsequenzen: [5–47] und die Arbeiten in [5–48] – zu Nicht-Separabilität, Holismus und Strukturenrealismus: [1–6], Kapitel 3 und 4 – zum Messproblem: [5–73] und [5–74] – zur Quantentheorie und Zeitrichtung: [5–92], Kapitel 7

Fragen und Übungen – Auf der Grundlage welcher naturphilosophischer Prinzipien lehnt Einstein die Prinzipien ab, die in der Quantentheorie verankert sind? – Was besagt das Prinzip der Separabilität? – Wieso ist das Prinzip der Nahewirkung wichtig? – Was beinhaltet die Heisenberg’sche Unbestimmtheitsrelation und was beinhaltet sie nicht?

Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen – – – – – – – – – – – – – –

Was besagt das Superpositionsprinzip? Was sind Zustandsverschränkungen? Wieso spricht man von Holismus in Bezug auf die Quantentheorie? Sind alle physikalischen Systeme unterscheidbare Individuen? Was sind die wichtigsten Unterschiede zwischen der Quantenmechanik und der Quantenfeldtheorie? Was besagt Bells Theorem? Was ist wichtig an den so genannten Bell-Experimenten? Diskutieren Sie die Möglichkeit, das Prinzip der Separabilität durch die Annahme verborgener Parameter zu retten! Was ist der Zusammenhang zwischen Nicht-Separabilität und ontischem Strukturenrealismus? Was ist das Messproblem? Welche Möglichkeiten, sich zu dem Messproblem zu stellen, ergeben sich im Anschluss an die heutigen Dekohärenz-Theorien? Wie werden zeitlich gerichtete Prozesse in der klassischen Physik erklärt? Was ändert sich in Bezug auf die Grundlagen zeitlich gerichteter Prozesse durch die Quantenphysik? Unter welchen Voraussetzungen in der Interpretation der Quantentheorie ist die Quantentheorie deterministisch, unter welchen Voraussetzungen ist sie indeterministisch?

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VI. Kausalität und Naturgesetze Dieses Kapitel stellt die wichtigsten philosophischen Positionen in Bezug auf Kausalität und Naturgesetze vor, legt den Schwerpunkt auf deren ontologische Grundlagen und zeigt, welche Rolle physikalische Theorien in der Bewertung dieser philosophischen Positionen spielen können.

1. Die Hume’sche Metaphysik a) Eigenschaften als reine Qualitäten Kategoriale versus kausale Eigenschaften

Vier mögliche Positionen

Bei der Darstellung der Diskussion um Einsteins Prinzip der Separabilität und dessen Verletzung in der Quantentheorie im vorangegangenen Kapitel habe ich den Akzent auf die philosophische Unterscheidung zwischen intrinsischen Eigenschaften und Relationen gesetzt. Eine wichtige Schlussfolgerung der beiden Kapitel zur Relativitäts- und zur Quantenphysik allgemein ist, dass die heutigen fundamentalen physikalischen Theorien den Akzent eher auf bestimmte Relationen (Relationen der Zustandsverschränkung, metrische Relationen) denn auf intrinsische Eigenschaften setzen und dadurch die philosophische Position des ontischen Strukturenrealismus stützen. Es gibt jedoch noch eine weitere wichtige Unterscheidung, nämlich diejenige zwischen der Konzeption von Eigenschaften als kategorial und der Konzeption von Eigenschaften als kausal. Wenn man die Eigenschaften als kategorial konzipiert, sieht man sie als reine Qualitäten an: Was die Eigenschaften sind, ihr Wesen, ist unabhängig von den Kausalbeziehungen und den Gesetzen, in denen sie auftreten. Wenn man hingegen die Eigenschaften als kausal ansieht, dann meint man, dass das, was sie sind, ihr Wesen, in der Kraft oder der Disposition besteht, bestimmte Wirkungen hervorzubringen. „Kraft“ ist in diesem Zusammenhang in einem philosophischen Sinn zu verstehen, der unabhängig von dem physikalischen Sinn ist: Durch die Tatsache, dass es physikalische Kräfte gibt – die vier fundamentalen Wechselwirkungsarten (starke, schwache, elektromagnetische, gravitationelle Wechselwirkung) – ist nicht entschieden, ob die fundamentalen physikalischen Eigenschaften Kräfte im genannten philosophischen Sinn sind oder ob es sich um kategoriale Eigenschaften handelt. Die Unterscheidung zwischen kategorialen Eigenschaften und Eigenschaften als Kräften ist weitgehend unabhängig von der Unterscheidung zwischen intrinsischen Eigenschaften und Relationen. Wir gelangen daher zu vier verschiedenen Positionen:

Die Hume’sche Metaphysik

Die erste Unterscheidung ist die zwischen intrinsischen Eigenschaften und Relationen. Diese Unterscheidung markiert den Gegensatz zwischen Atomismus und Holismus (Strukturenrealismus). Wenn die fundamentalen physikalischen Eigenschaften in erster Linie Relationen statt intrinsische Eigenschaften sind, dann hängt das Wesen der physikalischen Objekte von den Relationen ab, in denen sie stehen. Aus diesem Grund ist diese Position ein Holismus im Unterschied zu dem Atomismus, der die Naturphilosophie charakterisiert, die sich an der klassischen Physik orientiert. Die zweite Unterscheidung ist diejenige zwischen kategorialen Eigenschaften (reinen Qualitäten) und kausalen Eigenschaften, deren Wesen es ist, bestimmte Wirkungen hervorzubringen. Diese Unterscheidung findet sich sowohl innerhalb des Atomismus als auch innerhalb des Holismus. Diese vier Positionen definieren den logischen Raum der möglichen Positionen in Bezug auf die fundamentalen physikalischen Eigenschaften. Es sind selbstverständlich Kombinationen zwischen diesen Positionen möglich und in bestimmten Fällen sogar unvermeidbar. So muss jede atomistische Naturphilosophie nichtsdestoweniger bestimmte irreduzible Relationen anerkennen, welche die Welt zusammenhalten. Die raumzeitlichen Relationen nehmen in der Regel diese Stelle ein. Und der Holismus in Form des Strukturenrealismus kann, wie in Kapitel V.5 erwähnt wurde, ohne Weiteres intrinsische Eigenschaften anerkennen, sofern diese nicht Identitätsbedingungen für die Objekte bereitstellen, die in den Relationen stehen. Was die Frage betrifft, ob die Eigenschaften einschließlich der Relationen kategorial oder kausal sind, ist eine Verbindung der beiden Positionen hingegen nur schwer vorstellbar: Wenn man vertritt, dass es sowohl kategoriale als auch kausale Eigenschaften in der Welt gibt, muss man die Frage beantworten können, wieso einige fundamentale Eigenschaften kausal sind und andere nicht. Da gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie das metrische Feld die gravitationelle Energie enthält, kann man nicht mehr einfach vertreten, dass die raumzeitlichen Relationen kategoriale Eigenschaften sind und die materiellen Eigenschaften kausale Eigenschaften (siehe oben Kapitel IV.2.a). Kurz gesagt, die Frage danach, ob die Eigenschaften in der Welt in erster Linie intrinsische Eigenschaften oder Relationen sind, ist eine empirische Frage, die durch die Interpretation der physikalischen Theorien zu entscheiden ist. Die Frage danach, ob die Eigenschaften einschließlich der Relationen kategorial oder kausal sind, ist hingegen eher eine metaphysische Frage, die durch philosophische Argumente zu entscheiden ist – obwohl die Physik zur Beantwortung dieser Frage durchaus relevant ist, wie wir im Folgenden sehen werden. Die Theorie kategorialer Eigenschaften geht in erster Linie auf den schottischen Philosophen David Hume (1711–1776) zurück und ist in der heutigen Philosophie als „Hume’sche Metaphysik“ bekannt – obwohl ihre heutige Form von der Position, die der historische Hume vertreten hat, durchaus abweicht. Ihr wichtigster zeitgenössischer Vertreter ist David Lewis, dessen Sicht der Welt im Kern am Ende von Kapitel V.1 zitiert wurde (siehe ([5 4], Einleitung). Wie aus dem Zitat dort hervorgeht, akzeptiert Lewis Folgendes als nicht-hintergehbaren Ausgangspunkt: 1) Das Netz der raumzeitlichen Relationen zwischen Punkten. Dieses Netz ist dasjenige, was die Welt zusammenhält. Die raumzeitlichen Relationen sind kategorial.

Lewis’ Hume’sche Metaphysik

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Kausalität und Naturgesetze

2) Die Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften an den Punkten der Raumzeit. Alle und nur diejenigen Eigenschaften, die an einem Punkt der Raumzeit existieren können, sind fundamentale physikalische Eigenschaften. Lewis sieht diese Eigenschaften als intrinsisch und kategorial an. Es handelt sich um reine Qualitäten, die an einem Punkt der Raumzeit auftreten können unabhängig von dem, was an anderen Punkten der Raumzeit der Fall ist.

Freie Kombinierbarkeit von Eigenschaften

Lewis’ Hume’sche Metaphysik setzt nichts Weiteres als diese Verteilung als Ausgangspunkt voraus. Die Beschreibung von allem Weiteren, das es in der Welt gibt, folgt aus der Beschreibung der Verteilung der fundamentalen physikalischen, intrinsischen und kategorialen Eigenschaften in der gesamten Raumzeit. Wenn man die gesamte Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Raumzeit als unhintergehbaren Ausgangspunkt akzeptiert, dann sieht man diese Verteilung als vollständig kontingent an. Nicht nur ist es kontingent, dass es die Verteilung insgesamt gibt, die es tatsächlich gibt, sondern das Auftreten von jedem einzelnen Element in dieser Verteilung ist ebenfalls kontingent. Mit anderen Worten: Es gibt keinerlei notwendige Verbindungen in der Natur. An dieser Stelle liegt der Bezugspunkt zum historischen Hume, der die Anerkennung notwendiger Verbindungen in der Natur zurückgewiesen hat. Lewis vertritt ein Prinzip der freien Kombinierbarkeit: Für jedes Vorkommnis einer fundamentalen physikalischen Eigenschaft an einem Punkt der Raumzeit gilt, dass man dieses Vorkommnis festhalten kann und alle anderen Vorkommnisse fundamentaler physikalischer Eigenschaften variieren kann, das Resultat ist immer eine mögliche Welt. Wenn man annimmt, dass die Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften ihren Ursprung im so genannten Urknall hat, dann kann, gegeben eine Verdoppelung des Urknalls in einer anderen möglichen Welt, die Entwicklung der Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in dieser anderen Welt völlig verschieden von der realen Welt sein. Kurz gesagt, für jeden Punkt und jedes Gebiet der Raumzeit gilt, dass die fundamentalen physikalischen Eigenschaften, die in diesem Punkt oder Gebiet existieren, keinerlei Beschränkung bezüglich dessen auferlegen, welche Eigenschaften an anderen Punkten oder Gebieten der Raumzeit einschließlich der unmittelbaren Nachbarschaft des betrachteten Punktes oder Gebietes existieren können (siehe [6–1]). Diese Position setzt sich zur Aufgabe, alles – einschließlich der Naturgesetze und der Kausalbeziehungen – auf dieser Grundlage zu rekonstruieren.

b) Naturgesetze als Theoreme des besten Systems Determination durch Naturgesetze?

Infolge des Prinzips der freien Kombinierbarkeit von Eigenschaften kann die Funktion von Naturgesetzen in der Hume’schen Metaphysik nicht darin bestehen, die Entwicklung der Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt in irgendeiner Weise zu determinieren oder zu steuern. Wir benutzen selbstverständlich Naturgesetze, um Voraussagen auf der Grundlage gegebener Rand- und Anfangsbedingungen zu erstellen. Dieser epistemologischen Funktion von Naturgesetzen entspricht jedoch keine

Die Hume’sche Metaphysik

ontologische Determination von Entwicklungen in der Natur durch Gesetze auf der Grundlage von Rand- und Anfangsbedingungen (siehe [6–2]). Wenn man hingegen der Auffassung ist, dass Gesetze als solche die Entwicklung der Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt steuern, dann ist man auf die Position festgelegt, dass Naturgesetze als solche – das heißt als Universalien – in der Welt existieren. Demnach gibt es nicht nur die jeweiligen Vorkommnisse von Eigenschaften in der Welt, sondern die Eigenschafts-Typen existieren auch als solche selbst. Die negative Ladung eines gegebenen Elektrons zum Beispiel ist ein Vorkommnis des Eigenschafts-Typs „negative Ladung“, und es gibt unbestimmt viele Vorkommnisse dieses Typs. Wenn nicht nur die jeweiligen Vorkommnisse von Eigenschaften existieren – wie diese negative Ladung –, sondern auch Eigenschafts-Typen – der Typ „negative Ladung“ –, dann sind letztere Universalien. Wenn man annimmt, dass Eigenschafts-Typen als Universalien existieren, dann kann man vertreten, dass Naturgesetze in einer bestimmten Beziehung des Notwendigmachens zwischen Eigenschafts-Typen als Universalien bestehen. Wenn es beispielsweise ein Naturgesetz ist, dass negative Ladungen positive Ladungen anziehen, dann ist dieses deshalb so, weil eine Beziehung des Notwendigmachens der wechselseitigen Anziehung zwischen der Universalie „negative Ladung“ und der Universale „positive Ladung“ besteht. Naturgesetze als Beziehungen zwischen EigenschaftsTypen qua Universalien steuern auf diese Weise die Entwicklung der Verteilung der Eigenschafts-Vorkommnisse in der Welt (siehe für Varianten einer solchen Position [6–3], [6–4] und [6–5]). Das Hauptproblem für diese Position besteht darin, verständlich zu machen, was genau diese Beziehung des Notwendigmachens zwischen Universalien sein soll und wie diese Beziehung zu Regularitäten in der Welt der Art „Für alle Objekte gilt: Wenn ein Objekt F ist, dann ist es G“ führen kann. Ferner ist die ontologische Festlegung auf die Existenz von Eigenschafts-Typen als Universalien seit Platon kontrovers. Die Hume’sche Metaphysik versucht hingegen, eine Theorie von Naturgesetzen zu entwickeln, die nur die Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaftsvorkommnisse an den Punkten der Raumzeit voraussetzt und diese als Vorkommnisse kategorialer Eigenschaften denkt. Der entsprechende Vorschlag geht auf den englischen Philosophen Frank Ramsey (1903–1930) zurück und wurde insbesondere von David Lewis weiter entwickelt. Ramsey und Lewis betrachten Systeme wahrer Aussagen, welche die Welt oder einen Teil der Welt beschreiben. Jedes dieser Systeme verfügt über eine logische Ordnung: Spezifische Aussagen werden von allgemeinen Aussagen aus deduziert, insbesondere den Theoremen oder Axiomen des Systems. Es gibt Systeme, die über fast gar keinen empirischen Gehalt verfügen, nahezu rein logische Systeme. Und es gibt Systeme, die mehr oder weniger nur eine Aufzählung empirischer Informationen sind und über fast gar keine logische Ordnung verfügen. Vor diesem Hintergrund stellen Ramsey und Lewis die Aufgabe, das beste Gleichgewicht zwischen Einfachheit und empirischem Informationsgehalt zu finden. Ramsey schlägt vor, diejenigen Aussagen als Naturgesetze anzusehen, die wir als Theoreme akzeptieren würden, wenn wir über alle empirischen Informationen über die Welt verfügten und diese Informationen in einem deduktiven System organisieren

Naturgesetze als Beziehungen zwischen Universalien

Bestes System

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Kausalität und Naturgesetze

Realismus in Bezug auf Naturgesetze

Naturgesetze und kontingente Regularitäten

würden, das so einfach wie möglich ist. Lewis entwickelt diese Idee dahingehend weiter, dass Naturgesetze die Theoreme des besten Systems sind, das heißt desjenigen Systems, das die beste Verbindung aus Einfachheit und empirischem Informationsgehalt erreicht (siehe insbesondere [6–6], Kapitel 3.3, S. 72–75, und [6–7], Abschnitt 3). Die Theorie von Ramsey und Lewis ist in folgendem Sinne ebenfalls ein Realismus in Bezug auf Naturgesetze: Ein Naturgesetz zu sein, ist nicht gleichbedeutend damit, für ein Naturgesetz gehalten zu werden, und auch nicht gleichbedeutend damit, eine wahre Aussage zu sein und für ein Naturgesetz gehalten zu werden. Das beste System ist ein Ideal. Wir werden es niemals erreichen aus dem einfachen Grund, dass wir niemals über alle empirischen Informationen über die Welt verfügen werden. Nichtsdestoweniger können wir gute Gründe dafür haben, die Theoreme des Systems, welches das beste Gleichgewicht aus Einfachheit und empirischem Informationsgehalt darstellt, das wir erreichen können, für Naturgesetze zu halten. Diese Theoreme sind jedenfalls die besten Hypothesen über Naturgesetze, die wir aufstellen können, gegeben den Stand unseres empirischen Wissens. In jedem Fall bleibt die Unterscheidung dazwischen, ein Naturgesetz zu sein, und für ein Naturgesetz gehalten zu werden, erhalten. Lewis zufolge ist durch die Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften festgelegt, was ein Naturgesetz ist, und diese Verteilung ist von unserem empirischen Kenntnisstand unabhängig: Ob eine gegebene Aussage, die ein Kandidat dafür ist, ein Naturgesetz auszudrücken, tatsächlich ein Naturgesetz ausdrückt, hängt von der Beschaffenheit der Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt ab. Obwohl die Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt völlig kontingent ist, muss ein Realismus in Bezug auf Naturgesetze der Unterscheidung zwischen Naturgesetzen und kontingenten Regularitäten Rechnung tragen, und zwar in einer Weise, die von unseren Erkenntnissen unabhängig ist. Betrachten wir die folgenden beiden Aussagen: (1) Jede feste Kugel aus Gold hat weniger als einen Kilometer Durchmesser. (2) Jede feste Kugel aus dem Uranisotop 235 hat weniger als einen Kilometer Durchmesser. Beide diese Aussagen sind wahr, soweit wir wissen. Beide drücken Regularitäten aus, die für die Welt insgesamt gelten. Aber nur die zweite Aussage ist Folge eines Naturgesetzes. Die Gesetze der Quantenphysik schließen aus, dass eine feste Kugel aus dem Uranisotop 235 mit einem Durchmesser von einem Kilometer existieren könnte. Hingegen gibt es kein Naturgesetz, das ausschließt, dass eine feste Kugel aus Gold mit einem Durchmesser von einem Kilometer existieren könnte. Wenn man genug Gold zur Verfügung hätte, könnte man eine stabile solche Kugel bauen. Die Theorie von Ramsey–Lewis berücksichtigt die Unterscheidung zwischen Naturgesetzen und kontingenten Regularitäten in folgender Weise: Die Regularität, gemäß der alle festen Kugeln aus dem Uranisotop 235 weniger als einen Kilometer Durchmesser haben, ist eine Konsequenz der Theoreme des besten Systems (insofern die Gesetze der Quantenphysik zu diesen Theoremen gehören). Die Regularität, gemäß der alle festen Kugeln aus Gold weniger als einen Kilometer Durchmesser haben, ist hingegen keine

Die Hume’sche Metaphysik

Konsequenz der Theoreme des besten Systems. Um diesen Unterschied zu etablieren, braucht diese Position nicht auf Notwendigkeit Bezug zu nehmen. Die Naturgesetze sind nicht notwendig. Es ist möglich, dass eine Regularität, die ein Naturgesetz in der realen Welt ist, nur eine kontingente Regularität in einer anderen möglichen Welt ist. Ebenso kann man eine mögliche Welt konzipieren, in der die Regularität, gemäß der alle festen Kugeln aus Gold weniger als einen Kilometer Durchmesser haben, eine Konsequenz der Theoreme des besten Systems in Bezug auf diese Welt ist. Diese Unterscheidung zwischen Naturgesetzen und kontingenten Regularitäten basiert jedoch nicht auf Aussagen über die Beschaffenheit der Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt, sondern auf den Parametern der Einfachheit und des empirischen Informationsgehalts: Was aus den Theoremen des Systems folgt, das die beste Balance zwischen diesen Parametern erreicht, ist ein Naturgesetz; was nicht daraus folgt, aber dennoch eine allgemeine wahre Aussage über die Beschaffenheit der Welt ist, ist nur eine kontingente Regularität. Diese Parameter hängen jedoch eher von unseren kognitiven Fähigkeiten als von der objektiven Beschaffenheit der Welt ab. Die Welt sagt uns nicht, was einfach ist und was reich an empirischem Informationsgehalt ist. Um diesen Einwand zu entkräften, nimmt Lewis an, dass die Natur uns wohlgesonnen ist: Die Parameter der Einfachheit und des empirischen Informationsgehalts – und damit die beste Balance zwischen beiden – hängen von uns ab. Wenn die Natur uns wohlgesonnen ist, wird sich jedoch ein einziges System als das beste gemäß allen akzeptablen Kriterien für Einfachheit und empirischen Informationsgehalt herausstellen (siehe [6–7], Abschnitt 3). Die Naturgesetze können deterministisch sein. Es kann sich jedoch ebenso um Wahrscheinlichkeitsgesetze handeln. Die Theorie von Naturgesetzen als Theoremen des besten Systems kann die gängige Definition des Determinismus aufnehmen (siehe oben Kapitel IV.1b). Die reale Welt kann so sein, dass gegeben eine exakte Kenntnis der Rand- und Anfangsbedingungen – zum Beispiel der Bedingungen beim Urknall – und der Naturgesetze, es im Prinzip möglich ist, die Beschreibung von allem, was es in der Welt gibt, zu deduzieren. Es besteht jedoch keinerlei ontologische Determination durch die Naturgesetze. Diese haben lediglich eine beschreibende Funktion: Sie fassen am Ende der Welt die markanten Regularitäten zusammen, welche die Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt aufweist. Die Naturgesetze stehen erst am Ende der Welt fest, weil sie von der Beschaffenheit der gesamten Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften abhängen. Man kann daher sagen, dass es in der Hume’schen Metaphysik kein Problem der Vereinbarkeit von Determinismus und freiem Willen gibt: Die Naturgesetze hängen von dem ab, was in der Zukunft geschieht, statt zu bestimmen, was in der Zukunft geschieht (siehe [6–8]).

Epistemische Parameter

Determinismus

c) Kausalität als Regularität Ebenso wie Naturgesetze sind auch die Kausalbeziehungen gemäß der Hume’schen Metaphysik durch die Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt festgelegt, die als kategoriale Eigenschaften

Ereignisse

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Kausalität und Naturgesetze

Humes Regularitätstheorie

konzipiert werden. Folglich sind die Eigenschaften als solche selbst nicht kausal, und Kausalität ist keine notwendige Beziehung. Kausalität wird allgemein als eine Beziehung zwischen Ereignissen angesehen. Wir haben den Ereignis-Begriff oben in Kapitel IV.1.a so eingeführt, dass darunter die physikalischen Eigenschaften verstanden werden, die an einem Punkt der Raumzeit auftreten. Wenn es um Kausalität geht, ist es erforderlich, einen noch feingliedrigeren Ereignisbegriff zu verwenden: Man kann eine einzige physikalische Eigenschaft, die an einem Punkt der Raumzeit auftritt, als ein Ereignis ansehen. In diesem Sinne kann es mehrere Ereignisse am gleichen Punkt der Raumzeit geben. Wir brauchen diese feingliedrige Konzeption von Ereignissen, um die kausal relevanten Faktoren präzise angeben zu können. Betrachten wir ein alltägliches Beispiel: Das Mittagessen ist verbrannt. Die Ursache dafür ist die Hitze der Herdplatte und nicht ihre Farbe, obwohl beide im gleichen Gebiet der Raumzeit auftreten. David Hume vertritt eine Theorie der Kausalität als einfache Regularität. Ihm zufolge sind die drei folgenden Bedingungen je für sich notwendig und zusammen hinreichend, damit ein Ereignis e1 die Ursache eines anderen Ereignisses e2 ist: 1) e1 liegt zeitlich unmittelbar vor e2. 2) e1 liegt räumlich unmittelbar neben e2. 3) Immer wenn ein Ereignis vom selben Typ wie e1 eintritt, gibt es ein anderes Ereignis vom selben Typ wie e2, das zeitlich unmittelbar auf das erste Ereignis folgt und das räumlich unmittelbar mit ihm benachbart ist (siehe [6–9], Buch I, Teil III und [6–10], Abschnitt VII).

INUS

Folglich hängt die Antwort auf die Frage, ob zwei raumzeitlich benachbarte Ereignisse in einer Ursache-Wirkung-Beziehung stehen, nicht von der Beschaffenheit dieser Ereignisse selbst ab, sondern davon, ob Ereignisse der gleichen Typen regulär raumzeitlich aufeinander folgen. Mit anderen Worten: Es hängt davon ab, ob es ein Naturgesetz gibt, das die betreffenden Ereignistypen miteinander verbindet. Hume reduziert auf diese Weise Kausalität auf die regelmäßige Abfolge von Ereignissen der gleichen Typen. Diese Regularitäten sind durch die Verteilung der physikalischen Eigenschaften in der Raumzeit festgelegt. Meistens ist allerdings nicht nur ein einziges Ereignis im Sinne eines Eigenschaftsvorkommnisses die Ursache für ein gegebenes Ereignis, sondern mehrere Eigenschaftsvorkommnisse sind zusammen für dieses Ereignis ursächlich. Die heute gängige Weise, dieser Einsicht im Rahmen einer Regularitätstheorie der Kausalität Rechnung zu tragen, geht auf John Mackie zurück. Mackie definiert eine Ursache als nicht-hinreichenden, aber notwendigen Teil einer nicht notwendigen, aber hinreichenden Bedingung für das Eintreten des betreffenden Ereignisses (INUS – „insufficient, but necessary part of an unnecessary but sufficient condition“). Betrachten wir folgendes Beispiel von Mackie ([6–11], S. 245): Ein Kurzschluss führt zu einem Brand. Der Kurzschluss alleine ist für dieses Ereignis aber nicht hinreichend. Der Brand tritt nur deshalb ein, weil der Kurzschluss in der Nähe von brennbarem Material erfolgt usw. Der Kurzschluss ist auch nicht notwendig für den Brand: Andere Umstände – wie zum Beispiel ein Blitzeinschlag – hätten zu demselben Brand zur selben Zeit führen können. Nichtsdestoweniger ist die

Die Hume’sche Metaphysik

Ursachenkette vom Kurzschluss über das brennbare Material usw. eine hinreichende Bedingung für den Brand, und der Kurzschluss ist ein notwendiger Teil dieser bestimmten hinreichenden Bedingung. Die Ereignisfolgen, die eine Kausalrelation bilden, sind somit komplizierter als die bloße raumzeitliche Aufeinanderfolge zweier Ereignisse, und in keinem Fall ist die bloße raumzeitliche Aufeinanderfolge dafür hinreichend, dass eine Kausalbeziehung vorliegt. Der entscheidende Faktor gemäß einer Regularitätstheorie ist die regelmäßige Abfolge von Ereignisketten des gleichen Typs. Weil immer dann, wenn ein Kurzschluss in der Nähe von brennbarem Material erfolgt usw. ein Brand entsteht, deshalb besteht zwischen diesen Ereignissen eine Kausalbeziehung. Die Diskussion darüber, wie im Ausgang von dieser Überlegung eine Regularitätstheorie der Kausalität präzisiert werden kann, dauert bis heute an (siehe insbesondere [6–12] und [6–13]). Ein wichtiger Einwand gegen die Theorie der Kausalität als einfache Regularität betrifft die Tatsache, dass einmalige Ereignisse – wie zum Beispiel der Urknall – gemäß dieser Theorie in keinen Kausalbeziehungen stehen können. Dieses ist einer der Gründe dafür, weshalb die große Mehrheit der Philosophen, die heute im Rahmen der Hume’schen Metaphysik arbeiten, eine kontrafaktische Theorie der Kausalität Humes einfacher Regularitätstheorie vorziehen. Die Idee ist die folgende: Gegeben sei ein Ereignis e2, zum Beispiel eine zerbrochene Fensterscheibe. Im Vergangenheits-Lichtkegel dieses Ereignisses befindet sich das Ereignis, dass ein Fußball auf die Fensterscheibe aufschlägt. Man kann daher folgende kontrafaktische Aussage formulieren: „Wenn der Fußball nicht auf die Fensterscheibe aufgeschlagen wäre, dann wäre die Fensterscheibe nicht zerbrochen.“ Allgemein gesagt: Ein Ereignis e1 ist dann und nur dann ein ursächlicher Faktor für ein Ereignis e2, wenn die folgende kontrafaktische Aussage wahr ist: Wenn e1 nicht eingetreten wäre, dann wäre e2 ebenfalls nicht eingetreten (oder wäre zumindest weniger wahrscheinlich gewesen). David Lewis hat wesentlich zur Entwicklung der kontrafaktischen Theorie der Kausalität in der gegenwärtigen Philosophie beigetragen (siehe insbesondere [6–14] und [6–15]). Obwohl Lewis selbst vertritt, dass andere mögliche Welten ebenso wie die aktuale Welt existieren (siehe [6–16]), ist seine kontrafaktische Theorie der Kausalität nicht darauf festgelegt, die Existenz anderer möglicher Welten anzuerkennen. Die Hume’sche Metaphysik, die Lewis vertritt, impliziert, dass alles, was es in der realen Welt gibt, durch die Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt festgelegt ist. Diese Verteilung reicht also hin, um die Kausalbeziehungen, die es in der Welt gibt, festzulegen. Mit anderen Worten: Die Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der aktualen Welt reicht hin, um festzulegen, welche kontrafaktischen Aussagen in Bezug auf die aktuale Welt wahr sind (und welche nicht wahr sind) (siehe [6–17], S. 445, und [6–18], S. 308–316). Der Wahrheitswert einer kontrafaktischen Aussage hängt wesentlich von den Naturgesetzen ab. Diese wiederum sind gemäß der Theorie von Ramsey-Lewis durch die Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt festgelegt. Folglich hängt gemäß der kontrafaktischen Theorie der Kausalität ebenso wie gemäß der einfachen Regularitätstheorie

Einmalige Ereignisse

Kontrafaktische Theorie der Kausalität

Ausgefeilte Regularitätstheorie

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Kausalität und Naturgesetze

die Antwort auf die Frage, ob zwischen zwei gegebenen Ereignissen eine Ursache-Wirkung-Beziehung besteht, von der Beschaffenheit der Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt insgesamt ab. Der einfachen Regularitätstheorie zufolge reduziert sich Kausalität auf die regelmäßige Abfolge von Ereignissen der gleichen Typen. Der kontrafaktischen Theorie zufolge reduziert sich Kausalität auf Beziehungen kontrafaktischer Abhängigkeit zwischen Ereignissen. Diese Beziehungen sind durch die gesamte Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt festgelegt – insbesondere dadurch, dass diese Verteilung festlegt, welche Naturgesetze in der Welt gelten. Aus diesem Grund kann man die kontrafaktische Theorie der Kausalität als eine ausgefeilte Regularitätstheorie ansehen. Kurz gesagt, ob eine Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen zwei Ereignissen besteht, hängt nur davon ab, welche weiteren Ereignisse im Universum existieren, aber es hängt von der gesamten Verteilung der fundamentalen physikalischen Ereignisse im Universum ab.

2. Die kausale Theorie von Eigenschaften a) Die Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit Unerkennbarkeit reiner Qualitäten

Die Konsequenzen der Hume’schen Metaphysik, nämlich dass (1) die Naturgesetze erst dann festgelegt sind, wenn die physikalische Beschaffenheit des gesamten Universums gegeben ist, und dass (2) eine Kausalbeziehung zwischen zwei beliebigen Ereignissen von der Beschaffenheit der gesamten Verteilung der Ereignisse im Universum abhängt, mögen paradox erscheinen, stellen als solche aber keinen schlagkräftigen Einwand gegen diese Position dar. Die Frage ist jedoch, wie wir Kenntnis von den physikalischen Eigenschaften, die es in der Welt gibt, erlangen können, wenn diese Eigenschaften kategorial und damit reine Qualitäten sind. Der australische Philosoph Frank Jackson, welcher der Hume’schen Metaphysik wohlwollend gegenübersteht, beantwortet diese Frage folgendermaßen: „Wenn die Physiker uns etwas über die Eigenschaften berichten, die sie für grundlegend halten, dann sagen sie uns, was diese Eigenschaften tun. Das ist kein Zufall. Wir erlangen Wissen darüber, wie die Dinge beschaffen sind, im Wesentlichen durch die Weise, wie die Dinge auf uns und unsere Messgeräte einwirken. Hieraus folgt […] die Möglichkeit, dass (i) es zwei durchaus verschiedene intrinsische Eigenschaften P und P* gibt, die sich in den kausalen Beziehungen, die sie eingehen, vollständig gleichen, dass (ii) manchmal die eine und manchmal die andere vorhanden ist und dass (iii) wir irrtümlicherweise annehmen, dass es sich nur um eine Eigenschaft handelt, weil der Unterschied keinen Unterschied macht […]. Eine offensichtliche Ausweitung dieser Möglichkeit führt zu der unbequemen Idee, dass wir mehr oder weniger nichts über die intrinsische Natur der Welt wissen. Wir kennen nur ihre kausal-relationale Natur“ ([6–19], S. 23 24, eigene Übersetzung; siehe auch [6–20]). Wir können die Eigenschaften der Objekte in der Welt nur erkennen, insofern diese Eigenschaften in Kausalbeziehungen stehen. Denn damit wir

Die kausale Theorie von Eigenschaften

etwas erkennen können, muss es in einer Kausalbeziehung zu unserem Erkenntnisapparat stehen, wie indirekt diese auch immer sein mag. Daraus folgt kein Relativismus und auch keine Einschränkung unserer Erkenntnisfähigkeit. Wir können universelle physikalische Theorien aufstellen, die Geltungsanspruch für alles in der Welt erheben, und wir können gute Gründe haben, diese Theorien für wahr zu halten (sie können in der Tat wahr sein). Aber um solche Theorien als empirische Theorien über die reale Welt auszuzeichnen – im Unterschied zu bloßen Modellen möglicher Welten –, muss es möglich sein, von den Gegenständen, die diese Theorien als real annehmen, eine kausale Verbindung zu unseren Sinnen aufzubauen. Eine Einschränkung unserer Erkenntnisfähigkeit folgt dann und nur dann, wenn man – wie Jackson – voraussetzt, dass die Eigenschaften, auf welche sich unsere kausalen Beschreibungen beziehen, intrinsische und kategoriale Eigenschaften sind, also reine Qualitäten. Diese Voraussetzung hat folgende Konsequenz: Das, was diese Eigenschaften sind, ihr Wesen, ist unabhängig von den Kausalbeziehungen, in denen sie stehen. Aus diesem Grund ist es nicht möglich, einen kognitiven Zugang zu dem Wesen der Eigenschaften in der Welt zu haben. Diese Einschränkung unserer Erkenntnisfähigkeit folgt mithin aus einer metaphysischen Annahme über das Wesen der Eigenschaften. Jenes ist etwas rein Qualitatives, eine primitive Washeit, für die in der Literatur der lateinische Ausdruck quidditas verwendet wird (die heutige Verwendung dieses Ausdrucks in diesem Kontext geht auf [6–21] zurück; siehe auch [6–22], Kapitel 4.2). Primitiv ist diese Washeit, weil sie unabhängig von allen kausalen und nomologischen Beziehungen ist. Es ergibt sich damit eine Kluft zwischen Metaphysik und Erkenntnistheorie: Gemäß der vertretenen Metaphysik ist das Wesen der Eigenschaften eine primitive Washeit. Ein solches Wesen ist jedoch prinzipiell unerkennbar. Für letztere Konsequenz wird der Begriff humilitas (Bescheidenheit) verwendet, der ausdrücken soll, dass ein kognitiver Zugang zu dem Wesen der Eigenschaften aus metaphysischen Gründen unmöglich ist. David Lewis räumt ein, dass die Theorie kategorialer Eigenschaften zu den Konsequenzen des Quidditismus und der Bescheidenheit führt; er akzeptiert diese Konsequenzen (siehe [6–23]). Insbesondere der Qudditismus stellt jedoch einen gravierenden Einwand gegen diese Theorie von Eigenschaften dar. Wenn die Eigenschaften kategorial und damit reine Qualitäten sind, dann kann man zwei mögliche Welten konzipieren, die identisch in Bezug auf die Naturgesetze und die Kausalbeziehungen sind, die in ihnen vorhanden sind, so dass diese beiden Welten ununterscheidbar sind. Nichtsdestoweniger können diese Welten qualitativ unterschieden sein, indem sie sich durch das rein qualitative Wesen der Eigenschaften unterscheiden, die den Naturgesetzen und den Kausalbeziehungen zugrunde liegen. Gegeben seien zwei Welten w1 und w2, die identisch in Bezug auf die Naturgesetze und die Kausalbeziehungen sind. Betrachten wir w1. Die Beschreibungen „negative Elementarladung“ und „Masse x“ beziehen sich auf fundamentale physikalische Eigenschaften verschiedener Typen, die in w1 vorhanden sind. Betrachten wir nun w2. In w2 erfüllt die Eigenschaft (reine Qualität), welche in w1 die Beschreibung „negative Elementarladung“ erfüllt, nunmehr die Beschreibung „Masse x“, und die Eigenschaft (reine Qualität), welche in w1 die Beschreibung „Masse x“ erfüllt, fällt nunmehr unter die Beschreibung

Quidditismus und Bescheidenheit

Ununterscheidbare Welten

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Kausalität und Naturgesetze

„negative Elementarladung“ in w2. Mit anderen Worten: Die Eigenschaften, welche die Ladungs-Rolle und welche die Masse-Rolle ausüben, werden zwischen w1 und w2 vertauscht. Ein solcher Austausch ist möglich, weil das Wesen der Eigenschaften eine reine Qualität ist, die mithin unabhängig davon ist, welche Rolle diese Eigenschaften ausüben. Dieser Austausch ist der einzige Unterschied zwischen w1 und w2. Es handelt sich hierbei jedoch um einen Unterschied, der keinen Unterschied macht, wie Jackson in dem Zitat oben sagt; denn alle Beziehungen sind identisch in w1 und w2. Ein quiddistischer Unterschied ist somit ein qualitativer Unterschied zwischen Welten, aufgrund dessen Welten als unterschiedlich angesehen werden müssen, obwohl sie ununterscheidbar sind. Wir können folglich nicht wissen, ob w1 oder w2 die reale Welt ist. Diese Konsequenz zeigt, dass die Festlegung der Hume’schen Theorie von Eigenschaften als reine Qualitäten auf die Konsequenzen des Quidditismus und der Bescheidenheit einen gewichtigen Einwand gegen diese Theorie darstellt (so schon [6–21]). Wieso sollte man in Form von reinen Qualitäten Unterschiede zwischen Eigenschaften – und infolgedessen zwischen möglichen Welten – anerkennen, die keinen Unterschied machen, weil sie zu keinerlei kausalen Unterschieden führen?

b) Eigenschaften als Kräfte Kausale Qualitäten

Statt wie Jackson in dem Zitat oben zu vertreten, dass den Kausalrelationen intrinsische und kategoriale Eigenschaften (reine Qualitäten) zugrunde liegen, kann man eine Metaphysik von Eigenschaften entwickeln, der zufolge die Eigenschaften als solche kausal sind. Statt dass das Wesen einer Eigenschaft eine primitive Washeit ist, handelt es sich um die Kraft, bestimmte Kausalbeziehungen einzugehen. Folglich zeigt sich das, was die Eigenschaften sind, in den Kausalbeziehungen, in denen sie auftreten beziehungsweise in denen Objekte aufgrund der Eigenschaften, die sie haben, stehen. Im Zusammenhang mit solchen Überlegungen – und insbesondere um die Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit zu vermeiden – hat sich die Sicht, gemäß der die Eigenschaften als solche kausal sind, seit den 1980er Jahren zu einer starken Gegenposition zur Theorie intrinsischer und kategorialer Eigenschaften entwickelt (siehe insbesondere [6–24], [6–25], Kapitel 9, [6–22], [6–26] sowie auch [6–27] und [6–28], Kapitel 11; die folgenden Ausführungen orientieren sich an [1–6], Kapitel 5, und [5–70], Kapitel 2). Man kann diese Sicht folgendermaßen charakterisieren: Indem Eigenschaften bestimmte Qualitäten sind, sind sie Kräfte, bestimmte Wirkungen hervorzubringen. Deshalb geben die Kausalbeziehungen zu erkennen, was die Eigenschaften sind, und der qualitative Charakter der Eigenschaften ist nichts Primitives. Betrachten wir zum Beispiel die fundamentale physikalische Eigenschaft der Ladung. Diese ist eine bestimmte Qualität, die zum Beispiel von der Masse verschieden ist. Es gibt fundamentale physikalische Objekte, welche die gleiche Ladung, aber verschiedene Ruhemasse haben und umgekehrt (Elektronen und Myonen beziehungsweise Elektronen und Positronen). Insofern die Ladung eine bestimmte Qualität ist, ist sie eine Kraft, die sich in bestimmten Kausalbeziehungen manifestiert, nämlich die Kraft, ein elektro-

Die kausale Theorie von Eigenschaften

magnetisches Feld zu erzeugen, so dass gleich geladene Objekte abgestoßen und entgegengesetzt geladene Objekte angezogen werden. Diese Kausalbeziehungen werden in der physikalischen Feldtheorie des Elektromagnetismus beschrieben. Eigenschaften, die Kräfte sind, sind Dispositionen. Wenn die fundamentalen physikalischen Eigenschaften ebenfalls Kräfte sind, dann sind auch sie dispositional. Die Sicht, der zufolge die Eigenschaften als solche kausal sind, impliziert daher die These, dass Dispositionen nicht an kategoriale Basiseigenschaften gebunden sind – was kein Problem darstellt, wenn man die dispositionalen Eigenschaften als bestimmte aktuale Qualitäten auffasst. Den qualitativen und den kausalen Charakter von Eigenschaften zusammenzudenken impliziert, dass die fundamentalen Dispositionen nicht auf äußere Manifestationsbedingungen angewiesen sind. Sie bringen vielmehr von selbst Wirkungen hervor. Wenn auch für die fundamentalen Dispositionen äußere Manifestationsbedingungen erforderlich wären, dann wäre das Qualitative, das die Eigenschaften sind, wiederum verborgen. Es könnte dann eine Welt bestehen, in der die betreffenden Manifestationsbedingungen nicht vorhanden sind, so dass es wiederum zwei Typen von Eigenschaften P und P* geben könnte, ohne dass sich der Unterschied zwischen diesen Eigenschaften irgendwo in der Welt manifestiert – also wiederum einen Unterschied, der keinen Unterschied macht. Folglich wäre das, was die Eigenschaften sind, in einer solchen möglichen Welt prinzipiell unerkennbar. Kommen wir auf das Beispiel der Ladung zurück: Ladung unterscheidet sich dadurch qualitativ von Masse und anderen Eigenschaften, dass sie die Kraft ist, Objekte in bestimmter Weise anzuziehen oder abzustoßen. Auch wenn in einer gegebenen Situation keine Objekte präsent sind, die angezogen oder abgestoßen werden, ist die entsprechende Disposition vorhanden. Es handelt sich aber nicht um eine bloße Disposition, der eine intrinsische und kategoriale Washeit zugrunde liegt. Die Kraft, welche die Ladung ist, äußert sich vielmehr eo ipso darin, dass sie ein elektromagnetisches Feld erzeugt – immer wenn eine elementare Ladung vorhanden ist, erzeugt sie von sich aus ein solches Feld. Ebenso ist die Masse gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie an die gravitationelle Interaktion gebunden (siehe dazu zum Beispiel [6–29]). Wenn man Eigenschaften so ansieht, dass sie, insofern sie bestimmte Qualitäten sind, kausal sind, kann man nichtsdestoweniger vertreten, dass Eigenschaften in einem bestimmten Sinn intrinsisch sind: Es ist eine Tatsache in Bezug auf ein Objekt als solches, unabhängig von anderen Objekten, dass es, indem es bestimmte Eigenschaften hat, über bestimmte Kräfte verfügt. Diese Tatsache ist unabhängig davon, ob das betreffende Objekt alleine oder in Begleitung anderer Objekte auftritt (vgl. die Definition intrinsischer Eigenschaften in [5–3]). Ladung beispielsweise kann eine intrinsische und qualitative Eigenschaft und zugleich kausal sein, weil der qualitative Charakter dieser Eigenschaft darin besteht, dass das Objekt ein elektromagnetisches Feld erzeugt und dadurch andere Objekte anzieht beziehungsweise abstößt. Gemäß der kausalen Theorie von Eigenschaften ist Kausalität ein fundamentaler Zug der Welt, der darin besteht, dass die Eigenschaften in der Welt als solche selbst kausal (Kräfte) sind. Nichtsdestoweniger kann der Vertreter

Dispositionen ohne äußere Manifestationsbedingungen

Intrinsische Eigenschaften

Notwendige Verbindungen

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Kausalität und Naturgesetze

Kausalität als Produktion

Transfertheorie der Kausalität

der kausalen Theorie von Eigenschaften das Kriterium der minimalen hinreichenden Bedingungen – genauer gesagt das INUS-Kriterium von Mackie [6–11] – benutzen, um diese Kräfte zu entdecken. Dieses Kriterium ist für sich genommen neutral in Bezug auf die Metaphysik der Kausalität. Die kausale Theorie von Eigenschaften ist der zentralen Motivation der Hume’schen Metaphysik, keine notwendigen Verbindungen in der Welt anzuerkennen, entgegengesetzt. Wenn die Eigenschaften als solche kausal sind, dann sind die Kausalbeziehungen, die es in der Welt gibt, in folgendem Sinne metaphysisch notwendig: In jeder möglichen Welt, in der Eigenschaften der betreffenden Typen auftreten, bestehen auch Kausalbeziehungen dieser Typen. So erzeugen beispielsweise in jeder möglichen Welt, in der Ladung vorhanden ist, geladene Objekte ein elektromagnetisches Feld, so dass andere Objekte angezogen oder abgestoßen werden. Es besteht folgender Gegensatz zwischen der auf Hume zurückgehenden Metaphysik kategorialer Eigenschaften und der Metaphysik kausaler Eigenschaften: Gemäß der Hume’schen Metaphysik können Eigenschaften desselben Typs ganz verschiedene kausale Rollen in verschiedenen möglichen Welten ausüben. Gemäß der Metaphysik kausaler Eigenschaften legt hingegen das, was eine Eigenschaft ist, die kausale Rolle fest, welche Eigenschaften des betreffenden Typs einnehmen, und bestimmt damit auch die Kausalbeziehungen, welche die Vorkommnisse der betreffenden Eigenschaft hervorbringen. Wenn man die Eigenschaften so ansieht, dass sie als solche selbst kausal sind, vertritt man somit keine Regularitätstheorie der Kausalität, sondern eine Theorie, gemäß welcher Kausalität ein realer Prozess des Hervorbringens von Eigenschaftsvorkommnissen (Ereignissen) durch andere Eigenschaftsvorkommnisse (Ereignisse) ist (siehe [6–30] zum Unterschied zwischen diesen beiden Theorien der Kausalität). Eine physikalisch konkrete Position einer Produktionstheorie der Kausalität im Unterschied zur Hume’schen Regularitätstheorie ist die Transfertheorie der Kausalität. Diese Theorie fasst Kausalbeziehungen als den Prozess der Übertragung oder des Austausches einer physikalischen Erhaltungsgröße wie zum Beispiel der Energie auf. Sie wird in der heutigen Diskussion insbesondere von Wesley Salmon (1925–2002), Phil Dowe und Max Kistler vertreten (siehe [6–31], Kapitel 1, 12, 16, 18; [6–32], Kapitel 3 bis 5; [6–33], Kapitel 1.4). Dowe ([6–32], S. 90) führt folgende Unterscheidung ein: Ein Kausalprozess ist die Weltlinie eines Objektes, das eine physikalische Erhaltungsgröße besitzt; eine kausale Interaktion ist die Überschneidung zweier Weltlinien, welche den Austausch einer physikalischen Erhaltungsgröße beinhaltet. Die Transfertheorie der Kausalität widerspricht einer der zentralen Annahmen der Hume’schen Theorie der Kausalität: Sie sieht Kausalität als eine intrinsische Relation an, das heißt, eine Relation, die nur von den Eigenschaften der Relationsglieder abhängt und nicht davon, was anderswo in der Welt geschieht. Auch nach der Transfertheorie erfüllen Kausalbeziehungen Naturgesetze; aber es ist nicht das Gesetz, das der Grund dafür ist, dass die Verbindung zwischen zwei Ereignissen eine kausale ist. Vielmehr sind einige Prozesse deshalb kausal, weil sie Prozesse des Transfers oder des Austausches einer physikalischen Erhaltungsgröße sind. Die Transfertheorie sieht diese Prozesse als lokale an – das heißt, sie hängen nur davon ab, was in dem Raumzeit-Gebiet geschieht, in welchem die beiden Ereignisse auftre-

Die kausale Theorie von Eigenschaften

ten, die als Ursache und Wirkung miteinander verbunden sind. Die Idee ist somit, dass bestimmte Ereignisfolgen kausale Folgen unabhängig davon sind, ob Folgen desselben Typs wiederholt auftreten – oder, generell, unabhängig davon, was in der Raumzeit insgesamt der Fall ist und welche Naturgesetze insgesamt gelten. Die Transfertheorie der Kausalität ist jedoch nicht auf eine bestimmte Position in der Metaphysik der Kausalität festgelegt. Sie konzipiert zwar Kausalität als eine intrinsische Relation; aber dennoch kann man die Transfertheorie so interpretieren, dass sie in den Rahmen dessen fällt, was heute als Hume’sche Metaphysik gilt. Denn man kann die Folgen von Ereignissen, die gemäß der Transfertheorie kausale Prozesse sind, als kontingente, raumzeitlich zusammenhängende Folgen von Vorkommnissen kategorialer Eigenschaften auffassen. So interpretiert ist die Transfertheorie der Kausalität ebenfalls reduktionistisch: Die Eigenschaften sind als solche selbst nicht kausal. Man kann Eigenschaften physikalisch als Erhaltungsgrößen charakterisieren, ohne kausales Vokabular zu gebrauchen. Manche raumzeitlich zusammenhängenden Folgen von Ereignissen sind kausale Prozesse aufgrund dessen, welche nicht-kausalen Eigenschaften in diesen Folgen vorkommen. So gesehen ist der Unterschied zwischen der Transfertheorie und der Hume’schen Theorie der Kausalität dieser: Sind in der Welt einige bestimmte, kategoriale physikalische Eigenschaften dadurch ausgezeichnet, dass eine raumzeitlich zusammenhängende Folge dieser Eigenschaften als solche selbst kausal ist? Oder ist, was auch immer die physikalischen Eigenschaften sein mögen, eine Kausalrelation genau dann gegeben, wenn einige dieser Eigenschaften in der gesamten Raumzeit immer zusammen auftreten? Man kann die Transfertheorie der Kausalität allerdings auch im Sinne der Metaphysik kausaler Eigenschaften interpretieren, so dass sie in Opposition zur Hume’schen Metaphysik insgesamt steht. Man kann die physikalischen Eigenschaften, die gemäß dieser Theorie in Kausalbeziehungen stehen, die Erhaltungsgrößen wie die Energie, auch so auffassen, dass sie kausale Eigenschaften im Sinne von Kräften sind, bestimmte Wirkungen zu produzieren. Die kausalen Prozesse sind dann Prozesse dessen, dass ein Ereignis andere Ereignisse hervorbringt und damit der Grund von deren Existenz ist. Deren Existenz ist dann nicht kontingent, sondern notwendig, gegeben das erstere Ereignis. Infolgedessen gibt es notwendige Verbindungen in der Welt. In diesem Sinne kann umgekehrt die Metaphysik kausaler Eigenschaften die Transfertheorie der Kausalität einsetzen, um physikalisch konkret anzugeben, worin die Wirkungen von Eigenschaften als Kräften bestehen. Allerdings ist die Transfertheorie der Kausalität an der klassischen Physik bis einschließlich der speziellen Relativitätstheorie orientiert. Es ist zumindest ein offenes Problem, wie die heutigen fundamentalen physikalischen Theorien mit der Lokalitäts-Voraussetzung, auf welcher die Transfertheorie basiert, vereinbar sein könnten. Selbst wenn man die Probleme beiseite lässt, welche Zustandsreduktionen in der Quantenphysik aufwerfen, die zu Einstein-Podolsky-Rosen-Korrelationen zwischen raumartig voneinander getrennten Ereignissen führen (siehe die Darstellung der Bell-Experimente oben in Kapitel V.3), schon die allgemeine Relativitätstheorie scheint der Transfertheorie der Kausalität in der vorliegenden Form zu widersprechen: Die gravitationelle Energie kann gemäß gängigem Verständnis der allgemei-

Transfertheorie metaphysisch neutral

Physikalische Einwände

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Kausalität und Naturgesetze

Naturgesetze metaphysisch notwendig

Kausale Erklärungen

Wahrscheinlichkeiten als Propensitäten

nen Relativitätstheorie nicht so aufgefasst werden, dass sie an Punkten oder eng umgrenzten Gebieten der Raumzeit lokalisiert ist (siehe zu diesem Einwand [6–34] und [6–35], aber auch die Antwort von [6–36]). Ebenso wie die Hume’sche Metaphysik leitet die Metaphysik kausaler Eigenschaften die Naturgesetze von den Eigenschaften ab, die es in der Welt gibt. Gemäß letzterer sind die Naturgesetze jedoch nicht kontingent, indem sie erst durch die gesamte Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften festgelegt sind, die kontingenterweise in einer Welt besteht, sondern metaphysisch notwendig: Die Naturgesetze beschreiben das, was Objekte aufgrund ihrer Eigenschaften bewirken können. Mit anderen Worten: Nicht Gesetze als solche, sondern die kausalen Kräfte, welche die Eigenschaften sind, sind metaphysisch fundamental (siehe dazu insbesondere [6–37], [6–38], [6–39] und [6–40]). Wenn die Eigenschaften in dem bestehen, was sie bewirken können, dann sind die Naturgesetze in allen möglichen Welten gleich, weil die Identität der Eigenschaften in dem aufgeht, was sie bewirken können. Wenn es ein Naturgesetz ist, dass alle Fs raumzeitlich benachbart mit Gs auftreten, weil die Fs die Kraft sind, Gs hervorzubringen, dann gilt in jeder möglichen Welt, in der Eigenschaften des Typs F auftreten, dass sie Eigenschaften des Typs G hervorbringen. Sicher können unsere Theorien darüber, was die Naturgesetze sind, falsch sein; aber die Naturgesetze selbst sind von diesen Theorien unabhängig, weil sie im kausalen Wesen der Eigenschaften verankert sind. Infolgedessen braucht die kausale Theorie von Eigenschaften nicht die gesamte Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Raumzeit als unhintergehbaren Ausgangspunkt zu akzeptieren. Sie ist vielmehr in der Lage, die Entwicklung dieser Verteilung zu erklären. Diese Position akzeptiert als Ausgangspunkt, dass die Eigenschaften, insofern sie bestimmte Qualitäten sind, Kräfte sind, bestimmte Wirkungen hervorzubringen. Dadurch ist sie in der Lage, die Wirkungen, die es in der Welt gibt, auf das kausale Wesen der Eigenschaften, die in der Welt vorhanden sind, zurückzuführen. Falls die Welt deterministisch ist, genügt es daher, den Anfangszustand der Welt als Ausgangspunkt zu akzeptieren, und die fundamentalen physikalischen Eigenschaften, die in diesem Anfangszustand vorhanden sind, machen die weitere Entwicklung der Welt notwendig. Eine Verdoppelung des Anfangszustandes der Welt würde so automatisch zu einer Verdoppelung der Eigenschaftsverteilung in der Welt insgesamt führen. Es handelt sich hierbei also um eine substantielle Konzeption des Determinismus, welche offensichtlich die Frage aufwirft, ob ein so verstandener Determinismus mit freiem Willen vereinbar ist. Die Metaphysik kausaler Eigenschaften ist jedoch nicht an den Determinismus gebunden. Gesetze, die metaphysisch notwendig sind, weil sie sich aus dem kausalen Wesen der Eigenschaften ergeben, können nichtsdestoweniger probabilistische statt deterministischer Gesetze sein (siehe [6–41]). In diesem Fall muss man die kausalen Eigenschaften als Propensitäten konzipieren: Diese Eigenschaften können sich auf verschiedene Weisen manifestieren, und für jede dieser Tendenzen, sich auf eine bestimmte Weise zu manifestieren, gibt es eine objektive Wahrscheinlichkeit (siehe zur Propensitäts-Theorie objektiver Wahrscheinlichkeiten insbesondere [6–42], [6–43] und [6–44]). Anders gesagt: Für jedes einzelne Vorkommnis des betrachteten

Physik und Kausalität

Typs von Eigenschaften ist nicht determiniert, wie sich das betreffende Vorkommnis manifestiert. So haben radioaktive Atome beispielsweise die Propensität zu zerfallen, ohne dass für ein einzelnes Atom determiniert ist, ob dieses Atom in einer gegebenen Zeit zerfällt. Auf den ersten Blick mag die Annahme notwendiger Verbindungen in der Natur als eine schwere metaphysische Last erscheinen, und solche Verbindungen werden manchmal sogar als mysteriös angesehen. Dieser Blick stellt jedoch keinen Einwand gegen die Metaphysik kausaler Eigenschaften dar: Die Anerkennung metaphysisch notwendiger Verbindungen in der Natur ergibt sich aus dem kausalen Wesen der Eigenschaften. Das Argument für die kausale Sicht von Eigenschaften ist, die Festlegung auf primitive Washeiten (Quidditismus) und die Konsequenz der prinzipiellen Unerkennbarkeit dessen, was die Eigenschaften sind, zu vermeiden. Die Anhänger der kausalen Theorie von Eigenschaften können daher sagen: Mysteriös und ontologisch inflationär ist die Festlegung auf primitive Washeiten und ein unerkennbares Wesen der Eigenschaften mit der Konsequenz, Welten als unterschiedlich anerkennen zu müssen, die ununterscheidbar sind. Diese Festlegung vermeidet man, indem man das Wesen der Eigenschaften an die Kausalbeziehungen bindet, die sie eingehen, und daraus folgt dann in einer klar nachvollziehbaren Weise die Anerkennung notwendiger Verbindungen in der Natur.

Notwendige Verbindungen mysteriös?

3. Physik und Kausalität a) Die Reichweite der Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit Versuchen wir nun, die Debatte in der Metaphysik der Eigenschaften darüber, ob die Eigenschaften kategorial oder kausal sind, mit den Ausführungen zur Philosophie der Physik in den vorangehenden beiden Kapiteln zu verbinden. Wie wir gesehen haben, verschieben die heutigen fundamentalen physikalischen Theorien den Akzent vom Atomismus zum Holismus, von einer Metaphysik intrinsischer Eigenschaften zu einer Metaphysik von Relationen (Strukturenrealismus) (siehe oben Kapitel V.5). Sind die fundamentalen physikalischen Strukturen kategoriale oder kausale Eigenschaften? Auf den ersten Blick scheint es, dass man die Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit, die gegen die Hume’sche Metaphysik intrinsischer und kategorialer Eigenschaften sprechen, vermeidet, wenn man den Akzent auf Strukturen statt intrinsischer Eigenschaften setzt. Eine Struktur ist ein Netz konkreter physikalischer Relationen zwischen Objekten, die keine intrinsische Identität besitzen. Sofern wir es mit Strukturen zu tun haben, gibt es daher keine intrinsische Essenz von Eigenschaften, die eine reine Qualität ist (Quiddität) und zu der man keinen kognitiven Zugang haben kann (Bescheidenheit). Weil es sich um Strukturen und damit um Relationen handelt, sind diese erkennbar: Sie sind so, wie sie von den fundamentalen physikalischen Theorien beschrieben werden. Es ist daher möglich, einen Realismus kategorialer Strukturen zu vertreten, der sich in die Hume’-

Strukturen und Hume’sche Metaphysik

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Kausalität und Naturgesetze

Geometrodynamik und Cartesischer Strukturenrealismus

Mathematische und physikalische Strukturen

Kategoriale Strukturen und Quidditismus

sche Metaphysik einfügt: Es gibt in erster Linie Strukturen statt intrinsischer Eigenschaften, und diese Strukturen sind kategorial, so dass keine notwendigen Verbindungen in der Natur bestehen (siehe [6–45], Kapitel 5, und [6–46]). Man kann sich auf das ursprüngliche Programm der Geometrodynamik von John A. Wheeler beziehen (siehe oben Kapitel IV.2d), um diese Position zu illustrieren: Diesem Programm zufolge ist die physikalische Welt identisch mit der metrischen Struktur der Raumzeit, und diese wird als eine geometrische im Unterschied zu einer materiellen Struktur konzipiert. Die geometrische Struktur der Raumzeit wird somit als eine kategoriale im Unterschied zu einer kausalen Struktur angesehen. Die philosophische Idee ist also diese: Die Welt besteht in kategorialen Strukturen. Die Physik ist in der Lage, diese Strukturen zu beschreiben, da es sich um geometrische Strukturen handelt, bei denen sich die Frage nach einer intrinsischen Essenz gar nicht stellt. Man kann diese Position als Cartesischen Strukturenrealismus charakterisieren: Descartes sieht das Wesen der physikalischen Welt so an, dass es in raumzeitlicher Ausdehnung besteht (siehe oben Kapitel II.2). Er vertritt eine geometrische Konzeption dieser Ausdehnung und hält sie mithin für eine kategoriale Struktur. Wheelers Programm der Geometrodynamik ist jedoch gescheitert. Man kann insbesondere die Quantenstrukturen der Zustandsverschränkung nicht auf geometrische Eigenschaften der Raumzeit zurückführen. Allerdings ist damit nicht automatisch der Cartesische Strukturenrealismus gescheitert. Man kann die kategorialen Strukturen statt als geometrische allgemeiner als algebraische Strukturen konzipieren. Die Quantentheorie, insbesondere die Quantenfeldtheorie, lässt eine algebraische Formulierung zu (siehe [6–47] und [5–29], Kapitel 5 und 6, zur philosophischen Bedeutung der algebraischen Quantenfeldtheorie). Ebenso lässt auch die allgemeine Relativitätstheorie nicht nur die standardmäßige geometrische Formulierung zu, sondern auch eine algebraische Formulierung (siehe [6–48 und [6–49], Kapitel 6.5). Von geometrischen zu algebraischen Strukturen zu wechseln, verstärkt jedoch den zentralen philosophischen Einwand gegen diese Position: Wir benutzen mathematische Strukturen, wie insbesondere algebraische Strukturen, als Mittel, um die physikalische Welt darzustellen. Es wäre jedoch absurd zu behaupten, dass die physikalische Welt aus algebraischen Strukturen besteht. Eine solche Behauptung würde das Darstellungsmedium mit dem verwechseln, was dieses Medium darstellt oder repräsentiert. Die entscheidende Frage ist daher diese: Wodurch unterscheiden sich reale physikalische Strukturen von ihrer Darstellung in Begriffen mathematischer Strukturen? Der zentrale Einwand gegen den Cartesischen Strukturenrealismus lautet, dass er diese Frage nicht beantworten kann. An diesem Problem wird deutlich, dass sich die Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit nicht einfach durch einen Wechsel von einer Metaphysik intrinsischer Eigenschaften zu einer Metaphysik von Strukturen erledigen lassen. Jackson sagt in dem Zitat oben in Kapitel VI.2a, dass wir Erkenntnis von etwas nur durch Kausalbeziehungen zu unserem Erkenntnisapparat gewinnen, wie indirekt auch immer diese Kausalbeziehungen sein mögen. Die Strukturen, auf die sich die fundamentalen physikalischen Theo-

Physik und Kausalität

rien beziehen, stehen in keiner direkten Kausalbeziehung zu unseren Sinnen. Es handelt sich um so genannte theoretische Entitäten, weil sie nicht direkt beobachtbar sind. Die Quantenrelationen der Zustandsverschränkung sind nicht beobachtbar. Man beobachtet bestimmte Korrelationen zwischen Messergebnissen, jedoch keine Superpositionen solcher Korrelationen (das heißt keine Zustandsverschränkungen). Man nimmt die Existenz der Superpositionen einschließlich der Zustandsverschränkungen an, um die Messergebnisse und die Korrelationen zwischen ihnen zu erklären. Ebenso sind die metrischen Relationen, von denen die allgemeine Relativitätstheorie handelt und denen zufolge die Raumzeit gekrümmt ist, weil sie mit den Feldern nicht-gravitationeller Energie-Materie interagiert, für einen lokalen Beobachter nicht direkt beobachtbar. Wir nehmen die Existenz dieser theoretischen Entitäten an, weil sie die beobachtbaren Phänomene erklären. Es handelt sich dabei um eine Kausalerklärung: Die fraglichen Strukturen sind der kausale Ursprung der beobachtbaren Phänomene. Wenn jedoch, wie gemäß der Hume’schen Metaphysik, den Kausalrelationen in der Welt fundamentale physikalische Eigenschaften zugrunde liegen, die intrinsisch und kategorial sind, dann können zwei mögliche Welten identisch in Bezug auf die Kausalbeziehungen sein, die in ihnen bestehen, sich jedoch in den fundamentalen intrinsischen und kategorialen Eigenschaften – den reinen Qualitäten – unterscheiden, die den Kausalrelationen zugrunde liegen. Wie Jackson es in dem Zitat oben in Kapitel VI.2a sagt, es besteht dann „die Möglichkeit, dass (i) es zwei durchaus verschiedene intrinsische Eigenschaften P und P* gibt, die sich in den kausalen Beziehungen, die sie eingehen, vollständig gleichen, dass (ii) manchmal die eine und manchmal die andere vorhanden ist und dass (iii) wir irrtümlicherweise annehmen, dass es sich nur um eine Eigenschaft handelt, weil der Unterschied keinen Unterschied macht“ ([6–19], S. 23–24). Es handelt sich hierbei um einen Fall von multipler Realisation: Die Kausalrelationen können durch kategoriale und intrinsische Eigenschaften des Typs P realisiert sein. Die gleichen Kausalrelationen können jedoch auch durch kategoriale und intrinsische Eigenschaften des Typs P* realisiert sein. Da gemäß der Hume’schen Metaphysik alle Kausalrelationen von der Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt insgesamt abhängen, ist es besser, diesen Sachverhalt in Begriffen ganzer möglicher Welten zu formulieren: Es gibt zwei mögliche Welten w und w*, die ununterscheidbar in Bezug auf die Kausalrelationen sind, sich jedoch durch die kategorialen und intrinsischen Eigenschaften – die reinen Qualitäten – unterscheiden, welche diese Kausalrelationen realisieren. Es ist folglich der kategoriale Charakter der Eigenschaften und nicht ihr intrinsischer Charakter, der zu den Einwänden des Quidditismus und der Bescheidenheit führt. Eine analoge Überlegung trifft daher zu, wenn man von kategorialen intrinsischen Eigenschaften zu kategorialen Strukturen übergeht. In diesem Falle ist wiederum das, was die Strukturen sind, ihr Wesen, von den kausalen Relationen unterschieden, die es in der Welt gibt. Wenn die Strukturen kategorial sind, dann kann man beispielsweise elektromagnetische von gravitationellen Strukturen nicht durch ihre Wirkungen unterscheiden, weil die Verbindung zwischen den physikalischen Strukturen und ihren Wirkungen dann kontingent ist.

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Kausalität und Naturgesetze Multiple Realisierbarkeit

Allgemein gesagt, wenn die Strukturen kategorial sind, dann besteht immer eine multiple Realisierbarkeit des gesamten Bereichs der Kausalrelationen – einschließlich des gesamten Bereichs der beobachtbaren Phänomene – durch verschiedene Typen von Konfigurationen fundamentaler physikalischer Strukturen. Für jede mögliche Welt w gibt es eine andere mögliche Welt w*, so dass w und w* ununterscheidbar in Bezug auf die Kausalrelationen sind, sich aber durch die zugrunde liegenden, rein qualitativen physikalischen Strukturen unterscheiden. Wir müssen mithin erneut Welten als unterschieden anerkennen, die ununterscheidbar sind: Es besteht nunmehr ein rein qualitativer Unterschied zwischen fundamentalen physikalischen Strukturen, der keinen Unterschied macht. Wenn die fundamentalen physikalischen Eigenschaften kategorial und intrinsisch sind, dann können wir nichts darüber wissen, was diese Eigenschaften sind. Wenn die fundamentalen physikalischen Eigenschaften kategorial und Strukturen sind, dann kann man die fundamentalen physikalischen Theorien zwar so verstehen, dass sie Hypothesen darüber aufstellen, was diese Strukturen sind, indem diese Theorien mathematische Strukturen verwenden. Da jedoch die Kausalrelationen in der Welt insgesamt durch verschiedenartige, rein qualitative fundamentale physikalische Strukturen realisiert sein können, können wir nicht wissen, welches die fundamentalen physikalischen Strukturen der realen Welt sind. Die Schlussfolgerung ist somit nicht, wie in dem Zitat von Jackson oben, dass wir nur ein kausalstrukturales Wissen erlangen können und nicht das intrinsische Wesen der Eigenschaften erkennen können, die den kausal-strukturalen Beziehungen zugrunde liegen. Die Schlussfolgerung ist vielmehr, dass wir nicht das qualitative Wesen der Strukturen kennen können, die den Kausalrelationen zugrunde liegen.

b) Kausale Strukturen in der Physik Strukturen als Kräfte

Wie im Rahmen der Metaphysik intrinsischer Eigenschaften die Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit ein starkes Argument dafür sind, von der Theorie kategorialer zur Theorie kausaler Eigenschaften überzugehen, so sind im Rahmen des Strukturenrealismus diese Einwände ein starkes Argument dafür, die Strukturen kausal statt kategorial zu konzipieren. Das heißt: Indem die fundamentalen physikalischen Strukturen bestimmte Qualitäten sind, sind sie Kräfte, bestimmte Wirkungen hervorzubringen. Wenn die fundamentalen Eigenschaften einschließlich Strukturen kausal sind, dann besteht keine multiple Realisierbarkeit des Bereichs der Kausalbeziehungen in einer Welt durch verschiedenartige Anordnungen von intrinsischen Eigenschaften oder Strukturen. Ein qualitativer Unterschied zwischen den fundamentalen Eigenschaften einschließlich Strukturen ist dann automatisch ein kausaler Unterschied, der zur Existenz verschiedener Kausalrelationen führt. Wenn es also zwei verschiedene Typen von Konfigurationen fundamentaler physikalischer Strukturen in zwei möglichen Welten gibt, dann besteht ein kausaler Unterschied zwischen diesen beiden Welten und damit auch ein Unterschied im Bereich der beobachtbaren Phänomene. Dieser Unterschied ist somit im Prinzip erkennbar, so dass es von Seiten der Metaphysik der Eigenschaften kein prinzipielles Hindernis

Physik und Kausalität

dessen gibt, die fundamentalen physikalischen Strukturen erkennen zu können. Zusammen damit, die Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit zu vermeiden, beantwortet der Übergang von einer Theorie kategorialer zu einer Theorie kausaler Strukturen in der Physik auch die Frage danach, wodurch sich reale physikalische Strukturen von ihrer Darstellung in Begriffen mathematischer Strukturen unterscheiden. Mathematische Strukturen bewirken nichts. Reale physikalische unterscheiden sich dadurch von bloßen mathematischen Strukturen, dass sie kausal wirksam sind. Die fundamentalen physikalischen Strukturen als kausale Strukturen anzusehen, steht jedoch einer empiristischen Strömung in der Naturphilosophie des 20. Jahrhunderts entgegen, die auf Bertrand Russell zurückgeht und die behauptet, dass Kausalität in den heutigen fundamentalen physikalischen Theorien keinen Platz mehr hat (siehe [6–50] und für zeitgenössische Vertreter dieser Position die Artikel in [6–51]; siehe dagegen [6–52] und die Fallstudien von [6–53] und [6–54]). Diese Strömung hat allerdings auf jeden Fall insofern recht, dass man nicht einfach ein Prinzip der Kausalität a priori in der Naturphilosophie voraussetzen kann. Wenn man für kausale Eigenschaften einschließlich Strukturen eintritt, muss man diese Sicht jeweils konkret anhand der Interpretation physikalischer Theorien belegen können. Kommen wir daher zunächst auf die Quantenphysik zurück. Die Zeiten, in denen die Quantentheorie aufgrund der Bedeutung, die Wahrscheinlichkeiten in ihr haben, so angesehen wurde, dass sie Kausalität widerspricht, sind lange vorbei. Zum einen gibt es seit den 1950er Jahren eine Fassung der Quantentheorie, die deterministisch ist, indem sie nur mit der Dynamik arbeitet, die durch die Schrödinger-Gleichung gegeben ist (die Fassung von [5–80]; siehe oben Kapitel V.6); ebenso gibt es seit Beginn der 1950er Jahre eine deterministische Alternativtheorie, die empirisch äquivalent zur Standard-Quantenmechanik ist (Bohms Theorie [5–53] und [5–54]; siehe oben Kapitel V.4). Zum anderen ist in der Wissenschaftsphilosophie seit Langem anerkannt, dass Kausalität ebenso probabilistisch wie deterministisch sein kann. Man kann so weit gehen, Folgendes zu sagen: Wenn man Zustandsverschränkungen als etwas anerkennt, das in der Welt existiert, dann ist man darauf festgelegt, ebenfalls Kausalität als einen fundamentalen Zug der Welt anzuerkennen, nämlich zumindest als dasjenige, was den Übergang von den Zustandsverschränkungen zu den beobachtbaren Phänomenen stiftet. Diejenige Fassung der Quantentheorie, die eine Dynamik mit Zustandsreduktionen einschließt, ist der primäre Ort für eine philosophische Interpretation in Begriffen kausaler Strukturen: Die Strukturen der Zustandsverschränkung sind Kräfte oder Dispositionen, durch Zustandsreduktionen klassische Eigenschaften mit definiten nummerischen Werten zu produzieren. Mit anderen Worten: Indem die Quantenstrukturen der Zustandsverschränkung bestimmte Qualitäten sind, sind sie kausal, nämlich die Kraft oder Disposition, als Ganze klassische Eigenschaften hervorzubringen (siehe [6–56], S. 426–433, [6–57] und [6–58]). Diese Disposition ist ontologisch fundamental: Ihr liegen keine nicht-dispositionalen, kategorialen Eigenschaften zugrunde. Es handelt sich um eine reale und aktuale Eigenschaft, statt um eine bloße Potentialität. Sie benötigt keine externen Manifestationsbedingungen: Gemäß der Dynamik von Ghirardi, Rimini und Weber, welche die

Physikalische Strukturen kausal

Russells Kritik

Quantentheorie und Kausalität

Strukturen der Zustandsverschränkung als Dispositionen

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Kausalität und Naturgesetze

Argumente für kausale Sicht

einzige physikalisch konkret ausgearbeitete Dynamik von Zustandsreduktionen ist (siehe oben Kapitel V.6), handelt es sich um eine Disposition für spontane Lokalisationen. Da die verschränkten Quantenzustände weder separierbar noch raumzeitlich lokalisiert sind, stellt es kein Problem dar, die Disposition für spontane Lokalisation so zu verstehen, dass sie den verschränkten Quantenzustand als Ganzen charakterisiert: Eine Quantenstruktur der Zustandsverschränkung ist die Kraft oder Disposition für spontane Lokalisationen der in dieser Struktur stehenden Objekte zusammengenommen. Die Relationen der Zustandsverschränkung verleihen den Objekten, die in diesen Relationen stehen, die Kraft, sich zusammengenommen spontan zu lokalisieren. Wenn sich diese Disposition manifestiert, dann sind automatisch alle Objekte, welche die betreffende Struktur umfasst, lokalisiert. Für diese Sicht der Quantenstrukturen der Zustandsverschränkung spricht eine ganze Reihe von Argumenten in der Interpretation der Quantentheorie, die unabhängig von der Debatte um die Hume’sche Metaphysik versus die kausale Theorie von Eigenschaften sind. Die wichtigsten dieser Argumente sind die folgenden vier (siehe dazu ausführlich [5–70], Kapitel 2.4): (1) Diese Interpretation gibt eine klare Antwort auf die Frage, was die Eigenschaften von Quantenobjekten sind, wenn keine zeitabhängigen Eigenschaften mit definiten nummerischen Werten vorliegen: Der quantentheoretische Zustandsvektor repräsentiert Strukturen, die Dispositionen sind, klassische Eigenschaften mit definiten nummerischen Werten zu erwerben. Diese Dispositionen sind reale und aktuale Eigenschaften. (2) Diese Interpretation enthält eine klare Lösung für das Messproblem, die sowohl Zustandsverschränkungen als auch klassische Eigenschaften als in der Welt existierend anerkennt, ohne auf Beobachter Bezug zu nehmen oder das Konzept eines Messgeräts in eine fundamentale physikalische Theorie hineinzuschmuggeln. Die Zustandsverschränkungen sind Dispositionen für Lokalisationen und damit für das Hervorbringen von klassischen Eigenschaften. Diese Dispositionen manifestieren sich spontan, ohne dass es Interaktionen mit Beobachtern oder Messgeräten bedarf. Messungen sind lediglich eine Art von Interaktionen unter anderen, die keine spezielle Behandlung in einer fundamentalen physikalischen Theorie erfordern. (3) Diese Interpretation berücksichtigt objektive Wahrscheinlichkeiten für Einzelfälle. Die genannten Dispositionen sind Propensitäten, das heißt Dispositionen mit einer jeweils quantifizierbaren Stärke, je einen bestimmten definiten nummerischen Wert aus dem Spektrum der möglichen Werte – spontan – hervorzubringen. Propensitäten sind objektive Wahrscheinlichkeiten für Einzelfälle, die unabhängig von epistemischen Subjekten in der Welt existieren (siehe [6–59], [6–56] und [6–57]). (4) Diese Interpretation erklärt den Ursprung der Zeitrichtung. Wenn es Prozesse der Zustandsreduktion von quantenphysikalischen zu klassischen Eigenschaften gibt, dann sind diese Prozesse unumkehrbar und zeichnen dadurch eine Zeitrichtung aus (siehe oben Kapitel V.7). Diese Prozesse sind ferner geeignet, die Grundlage für alle zeitlich nicht umkehrbaren Phänomene in der Welt zu bilden (siehe [5–91], Kapitel 7). Wenn wir die quantenphysikalischen Zustandsreduktionen als die Manifestation kausaler Strukturen interpretieren, dann haben wir eine Erklärung für den Ursprung der Zeitrichtung. Diese ergibt sich daraus, dass das Verhältnis von Ursache und Wirkung

Physik und Kausalität

unumkehrbar ist: Die Wirkung als Manifestation einer Disposition beziehungsweise als dasjenige, was von einer Kraft produziert wird, folgt zeitlich auf ihre Ursache, und man kann diesen Produktionsvorgang nicht rückgängig machen. Deshalb gibt es irreversible Prozesse und mit diesen eine Zeitrichtung in der Welt, und deshalb ist zu erwarten, dass auch die fundamentalen Naturgesetze, insofern sie kausale Prozesse beschreiben, nicht zeitlich umkehrbar sind. Wenn man keine Zustandsreduktionen anerkennt, die Schrödinger-Dynamik für die vollständige Dynamik von Quantensystemen hält und dementsprechend die Zustandsverschränkungen als universell ansieht, sprechen ebenfalls gute Gründe dafür, die Quantenstrukturen der Zustandsverschränkung als kausale Strukturen aufzufassen. Denn man muss in diesem Fall die folgenden beiden Fragen beantworten können:

Dekohärenz und kausale Strukturen

(1) Was ist die physikalische Realität der Quantenstrukturen der Zustandsverschränkung, so dass diese durch Dekohärenz zur Aufspaltung der Welt in unendlich viele, nicht miteinander interferierende Zweige führen können (siehe oben Kapitel V.6)? Es stellt sich wiederum das Problem, die Quantenstrukturen als physikalisch reale Strukturen von ihrer Repräsentation in Begriffen mathematischer Strukturen zu unterscheiden. Eine klare Antwort auf diese Frage, welche die physikalische Realität der Quantenstrukturen der Zustandsverschränkung anerkennt, ohne diese mit der mathematischen Realität des Zustandsvektors zu verwechseln, ist die folgende: Die Quantenstrukturen sind kausale Strukturen und damit Dispositionen, durch Dekohärenz unendlich viele verschiedene Zweige des Universums hervorzubringen, in denen jeweils definite nummerische Werte physikalischer Eigenschaften vorhanden sind. Dekohärenz ist demzufolge ein kausaler Prozess, der in der Manifestation von Dispositionen (kausalen Strukturen) besteht. (2) Wie kann Dekohärenz der Schlüssel für Irreversibilität sein (vergleiche oben Kapitel V.7)? Wenn man Dekohärenz kausal als Manifestation der Dispositionen, welche die Quantenstrukturen der Zustandsverschränkung sind, konzipiert, dann verfügt man über eine Erklärung dessen, wie Dekohärenz irreversibel sein kann. Welche Position auch immer man also zum Messproblem in der Quantentheorie einnimmt, es gibt eine Reihe von gewichtigen Argumenten dafür, die Quantenstrukturen der Zustandsverschränkung als kausale Strukturen aufzufassen. Im Gegensatz dazu gelten die raumzeitlichen Relationen als das Standardbeispiel für kategoriale, nicht-kausale Strukturen. Wir können solche Relationen zwischen materiellen Objekten zwar auch nur dadurch erkennen, dass die Objekte in einer Kausalbeziehung zu unseren Sinnen stehen, wie indirekt auch immer diese Kausalbeziehung sein mag; diese Relationen selbst scheinen aber nicht kausal sein zu können. Während jedoch in der klassischen Physik bis zur speziellen Relativitätstheorie die Raumzeit als ein passiver Hintergrund aufgefasst wird, in den die materiellen Objekte und ihre Eigenschaften eingefügt sind, hat diese Auffassung in der allgemeinen Relativitätstheorie keinen Bestand: Das metrische Feld ist vielmehr selbst dynamisch, indem es mit den Feldern der nicht-gravitationellen Energie-

Metrische Strukturen

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Kausalität und Naturgesetze

Materie ebenso wie mit sich selbst interagiert. Aus diesem Grund kann man dieses Feld als eine materielle Entität ansehen, die allen anderen physikalischen Feldern gleicht. In diesem Sinn kann man die Gravitation als eine fundamentale physikalische Interaktion gleich den anderen fundamentalen physikalischen Interaktionen konzipieren, ungeachtet dessen, dass sie alle physikalischen Objekte umfasst (während zum Beispiel die elektromagnetische Interaktion nur alle geladenen Objekte betrifft) (siehe insbesondere [6–60], Abschnitt 4). Vor diesem Hintergrund ist es möglich, die raumzeitlichen, gravitationellen Relationen als eine kausale Struktur wie alle anderen materiellen, kausalen Strukturen anzusehen: Indem es qualitative, metrische Eigenschaften der Punkte der Raumzeit gibt, handelt es sich dabei um Kräfte oder Dispositionen, die Gravitationseffekte hervorzubringen, und diese Effekte sind im Prinzip beobachtbar (siehe [4–46], Abschnitt 2.3 und [4–47]).

4. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen Zusammenfassung Die Unterscheidung zwischen intrinsischen Eigenschaften und Relationen ist unabhängig von der zwischen kategorialen Eigenschaften (reine Qualitäten) und kausalen Eigenschaften (Kräften, Dispositionen). Die Hume’sche Metaphysik ist die am meisten verbreitete Theorie kategorialer Eigenschaften. Sie betrachtet die Eigenschaften so, dass ihr Wesen unabhängig von den Naturgesetzen und den Kausalrelationen ist, in denen die Eigenschaften auftreten. Die Hume’sche Metaphysik akzeptiert die gesamte Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt als unhintergehbaren Ausgangspunkt. Naturgesetze und Kausalbeziehungen sind durch diese Verteilung insgesamt festgelegt. Gegen die Sicht von Eigenschaften als reine Qualitäten sprechen jedoch die Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit, welche die zentralen metaphysischen Argumente für die kausale Theorie von Eigenschaften sind. Gemäß dieser Theorie sind Eigenschaften, insofern sie bestimmte Qualitäten sind, Kräfte, bestimmte Wirkungen hervorzubringen. Infolgedessen ergeben sich Kausalrelationen und Naturgesetze aus dem Wesen der Eigenschaften und sind metaphysisch notwendig. Man kann die Strukturen, von denen die heutigen physikalischen Theorien handeln, sowohl als kategoriale Strukturen im Rahmen der Hume’schen Metaphysik als auch als kausale Strukturen im Rahmen der kausalen Theorie von Eigenschaften konzipieren. Erstere Konzeption hat Schwierigkeiten, die Frage zu beantworten, wodurch sich reale physikalische Strukturen von ihrer Repräsentation in Begriffen mathematischer Strukturen unterscheiden; letztere beantwortet diese Frage dadurch, dass physikalische im Unterschied zu mathematischen Strukturen kausal wirksam sind. Entgegen der auf Russell zurückgehenden empiristischen Position, gemäß der Kausalität in den zeitgenössischen fundamentalen physikalischen Theorien keinen Platz hat, gibt es eine Reihe von konkreten Argumenten aus der Interpretation der Quantentheorie und der allgemeinen Relativitätstheorie dafür, die physikalischen Strukturen, von denen diese Theorien handeln, als kausale Strukturen anzusehen.

Lektürehinweise – zur Hume’schen Metaphysik: [6–1] – zur kausalen Theorie von Eigenschaften: [6–24] – zur Theorie kausaler Strukturen in der Physik: [5–70]

Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen

Fragen und Übungen – – – – – – – – – – – – – – –

Was besagt die Konzeption von Eigenschaften als kategorial? Wofür steht der Begriff „Hume’sche Metaphysik“? Was beinhaltet Lewis’ Prinzip der freien Kombinierbarkeit von Eigenschaften? Welche Theorie von Naturgesetzen kann man vertreten, wenn man EigenschaftsTypen als Universalien akzeptiert? Diskutieren Sie die Theorie von Ramsey–Lewis in Bezug auf Naturgesetze! Kann diese Theorie Naturgesetze von kontingenten Regularitäten unterscheiden? Wodurch unterscheidet sich Lewis’ kontrafaktische Theorie der Kausalität von Humes Regularitätstheorie? Was haben beide Theorien gemeinsam? Wägen Sie die Argumente für und die Einwände gegen die Hume’sche Metaphysik ab! Wie kann man auf den Einwänden des Quidditismus und der Bescheidenheit eine Argumentation für die kausale Theorie von Eigenschaften aufbauen? Wieso ist es zentral für diese Theorie, keine ontologische Unterscheidung zwischen Eigenschaften als Qualitäten und Eigenschaften als Kräften, Wirkungen hervorzubringen, zuzulassen? Inwiefern erkennt diese Theorie notwendige Verbindungen in der Natur an? Diskutieren Sie den Vorbehalt, der besagt, dass notwendige Verbindungen in der Natur etwas Mysteriöses sind! Inwiefern kann Wheelers ursprüngliches Programm der Geometrodynamik die philosophische Position kategorialer Strukturen illustrieren? Erörtern Sie das Erfordernis, physikalische von mathematischen Strukturen zu unterscheiden und dessen Gewicht in der Debatte um kategoriale versus kausale Strukturen! Inwiefern kann man vertreten, dass die Einwände des Quidditismus und der Bescheidenheit auch die Konzeption kategorialer Strukturen treffen? Diskutieren Sie die Argumente aus der Physik dafür, die fundamentalen physikalischen Strukturen als kausale Strukturen anzusehen!

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VII. Philosophische Aspekte der Biologie Dieses Kapitel stellt die wichtigsten Themen vor, die in der Philosophie der Biologie diskutiert werden: was biologische Arten sind, welche Bedeutung die natürliche Selektion hat, welches die Einheiten der natürlichen Selektion sind, was biologische Funktionen sind und wie sich klassische und molekulare Genetik zueinander verhalten.

1. Die Philosophie der Evolutionsbiologie Merkmale von Organismen

Evolutionsbiologie als historische und regionale Wissenschaft

Nachdem im Ausgang von der Philosophie der Physik generelle naturphilosophische Themen behandelt wurden, geht dieses Kapitel auf philosophisch relevante Aspekte ein, die für die Biologie spezifisch sind. Im Mittelpunkt der Philosophie der Biologie stehen die Evolutionsbiologie und die Genetik. Philosophische Fragestellungen im Anschluss an diese Theorien bilden daher den Schwerpunkt dieses Kapitels (siehe zur Philosophie der Biologie allgemein insbesondere [7–1], [7–2], [7–3], [7–4], [7–5], [7–6] und [7–7]). Es ist in der heutigen Wissenschaft und Naturphilosophie unbestritten, dass Lebendiges aus anorganischer Materie entstanden ist und dass es im Bereich des Lebendigen keine eigenständigen Kräfte – wie etwa eine Lebenskraft, Entelechie oder Elan vital (siehe zum Beispiel [7–8]) – über die physikalischen Kräfte hinaus gibt. Alle biologischen Kausalbeziehungen erfolgen gemäß den physikalischen Wechselwirkungen, insbesondere dem Elektromagnetismus und der Gravitation. Einige komplexe physikalische Systeme sind somit Organismen (lebendige Systeme). Ganz allgemein kann man Lebendiges durch Vermehrung, Vererbung und Variation charakterisieren: Organismen zeichnen sich dadurch aus, dass sie physikalische Systeme sind, die sich reproduzieren und die daher einige ihrer Eigenschaften vererben; weil auch bestimmte Veränderungen von Eigenschaften vererbt werden, kann es zu einer Anpassung an Umweltbedingungen und deren Wandlung kommen. Abgesehen von der Kosmologie enthält die Physik keine historische Dimension. Auch wenn es mit dem Urknall einen Anfangszustand des Universums geben sollte, sind die gesetzesartigen Zusammenhänge, die in den grundlegenden physikalischen Theorien behandelt werden, doch etwas, das sich auf die gesamte Raumzeit bezieht. Anders verhält es sich mit der Evolutionstheorie. Diese ist eine historische Theorie. Ihr Untersuchungsgegenstand ist die Frage, wie die Evolution biologischer Arten abläuft. Zwei Formen von Evolution sind zu unterscheiden: (a) der Wandel von Eigenschaften von Individuen über Generationen innerhalb einer biologischen Art und (b) das Entstehen und Vergehen biologischer Arten. Die Evolutionstheorie ist ferner eine Theorie, deren Geltungsbereich regional begrenzt ist: Ihr Thema ist die Art und Weise, wie die Evolution der biologischen Arten auf der Erde verläuft (siehe zur Philosophie der Evolutionsbiologie insbesondere [7–9] und die Arbeiten in [7–10]).

Die Philosophie der Evolutionsbiologie

Gemäß der Sichtweise, die heute in der Philosophie der Biologie vorherrscht, sind biologische Arten nicht in erster Linie durch qualitative Eigenschaften, sondern durch gemeinsame Abstammung definiert. Eine notwendige Bedingung dafür, dass zwei Individuen der gleichen Art angehören, ist die gemeinsame Abstammung. Ob etwas beispielsweise ein Tiger ist, entscheidet sich durch dessen Abstammung. Künstlich hergestellte Wesen mit qualitativ gleichen Eigenschaften oder solche Wesen anderswo im Universum wären dementsprechend keine Tiger (siehe [7–1], Kapitel 6, und [7–3], Kapitel 9). Nichtsdestoweniger sind qualitative Eigenschaften erforderlich: Um unter der Bedingung der gemeinsamen Abstammung festzulegen, was eine Entwicklung innerhalb einer Art ist und wo der Übergang zu einer neuen Art stattfindet, bedarf es qualitativer Eigenschaften. Ein wichtiges qualitatives Kriterium für die Abgrenzung biologischer Arten ist die Reproduktionsfähigkeit: Sofern die Reproduktion auf sexuelle Weise stattfindet, können Angehörige einer Art – und nur diese – zusammen Nachkommen zeugen, die selbst wiederum reproduktionsfähig sind (siehe zum Beispiel [7–11], S. 26). Gemäß der heute vorherrschenden Sicht sind biologische Arten also keine natürlichen Arten – wie beispielsweise Elektronen, Wasser oder Kupfer –, die allein durch charakteristische Eigenschaften definiert sind, sondern historische Entitäten, die dementsprechend geographisch auf den Planeten Erde beschränkt sind. In diesem Zusammenhang besteht eine Diskussion darüber, ob biologische Arten Klassen im philosophischen Sinn oder Individuen sind. Wenn beispielsweise die Art „Tiger“ eine Klasse ist, dann sind die einzelnen Tiger Mitglieder dieser Klasse, und die Klasse ist etwas Allgemeines (siehe zum Beispiel [7–5], Kapitel 7 bis 9). Wenn hingegen die Art „Tiger“ ein Individuum ist, dann ist die Art ebenso etwas Partikuläres wie die einzelnen Tiger. Die Art ist dann ein Individuum, das sich über ein zusammenhängendes Gebiet der Raumzeit erstreckt (vorausgesetzt, dass alle Tiger auf eine gemeinsame Abstammung zurückgeführt werden können). Die einzelnen Tiger sind in diesem Falle raumzeitliche Teile der Art „Tiger“ (siehe zum Beispiel [7–1], Kapitel 6, und [7–12], insbesondere Kapitel 5, sowie [7–13], Kapitel D, und [7–14]). Arten als Individuen aufzufassen, wird erst durch ein historisches Konzept von Arten möglich. Wenn Arten allein durch qualitative Eigenschaften definiert wären, handelte es sich um – raumzeitlich unbegrenzte – Klassen. Wenn Arten jedoch in erster Linie durch gemeinsame Abstammung definiert sind und somit raumzeitlich begrenzt sind, dann kann es plausibel sein, sie wegen ihrer raumzeitlichen Begrenzung als Individuen aufzufassen. Die Evolutionstheorie geht auf Charles Darwin (1809–1882) zurück (siehe [7–15]). Darwins Leistung ist es insbesondere, zwei Prinzipien zusammenzuführen: 1. das Lebensbaum-Prinzip: Alle Lebewesen auf der Erde sind genetisch miteinander verwandt. Sie haben eine gemeinsame Abstammung. Leben ist aus anorganischer Materie entstanden, und die einzelnen Arten haben sich aus einem gemeinsamen Ursprung entwickelt. 2. das Prinzip der natürlichen Selektion (Auslese): Dieses ist in der Biologie das Prinzip sowohl für die Entwicklung innerhalb einer biologischen Art –

Definition biologischer Arten

Darwins Prinzipien

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Philosophische Aspekte der Biologie

indem sich die Eigenschaften der Individuen einer Art im Laufe der Generationen ändern – als auch für das Entstehen neuer Arten aus bereits vorhandenen Arten und das Vergehen von Arten. Vorausgesetzt für die Anwendbarkeit des Prinzips der natürlichen Selektion ist, dass Lebewesen sich vermehren können, dass sie Eigenschaften vererben können, die für ihr Überleben relevant sind, und dass in diesen Prozessen vererbbare Veränderungen auftreten können. Als Objekte der Selektion werden individuelle Organismen angesehen, aber auch Gene und ganze Gruppen von Individuen einer Art (auf die entsprechende Debatte gehe ich unten ein). Selektiert werden diese für bestimmte beziehungsweise aufgrund von bestimmten Eigenschaften (siehe zu letzterer Unterscheidung [7–16], Kapitel 3.2). Die Selektion von etwas für bestimmte beziehungsweise aufgrund bestimmter Eigenschaften bedeutet, dass das Objekt der Selektion dank der betreffenden Eigenschaften überlebt oder Erfolg in der Reproduktion hat („oder“ ist hier im einschließenden Sinne zu verstehen).

Evolution kein zufälliger Prozess

Natürliche Selektion

Diese beiden Prinzipien können so formuliert werden, dass sie allgemeine Gesetzesaussagen sind, wie sie auch in anderen naturwissenschaftlichen Theorien vorkommen. Das Lebensbaum-Prinzip kann dahingehend verallgemeinert werden, dass es Folgendes besagt: Für jeden Fall von Leben im Universum gilt, dass im jeweiligen Fall das Leben aus anorganischer Materie entstanden ist und dass es genetisch verwandt ist im Sinne einer gemeinsamen Abstammung. Zu einer historischen und regional begrenzten Theorie wird die Evolutionstheorie allein dadurch, dass die jeweiligen Arten von Lebewesen nicht nur durch qualitative Eigenschaften, sondern auch durch ihre gemeinsame Abstammung definiert sind. Das Prinzip der natürlichen Selektion ist ebenfalls ein allgemeines gesetzesartiges Prinzip (siehe [7–17]). Es formuliert eine Regel für die Entwicklung der Arten von Lebewesen – beziehungsweise allgemeiner ausgedrückt handelt es sich um eine Regel für die Evolution von was auch immer das Objekt der Selektion ist. Diese Regel ist im Prinzip auf alle Arten von Lebewesen wo auch immer anwendbar (siehe zum Prinzip der natürlichen Selektion [7–18]). Insbesondere aufgrund des Prinzips der natürlichen Selektion kann man nicht sagen, dass gemäß der Evolutionstheorie die Entwicklung der Lebewesen ein rein zufälliger Prozess ist. Die Evolution erfolgt in kleinen Schritten gemäß dem Prinzip der natürlichen Selektion. Genetische Mutationen sind nur in dem Sinne zufällig, dass es keine systematische Verknüpfung zwischen der Eintrittswahrscheinlichkeit einer Mutation und deren adaptivem Wert gibt. Mutationen sind also nicht zielgerichtet. Mit „zufällig“ im Sinne von „nicht zielgerichtet“ ist jedoch vereinbar, dass Mutationen kausal determiniert sind, beispielsweise durch Umweltfaktoren. Nichts spricht dagegen, dass es sich bei Mutationen um Ereignisse handelt, die zumindest gemäß chemischen und physikalischen Gesetzen determiniert sind. Allerdings gibt es in der Literatur auch Stimmen, die Mutationen mit genuin indeterministischen Quanten-Ereignissen in Verbindung zu bringen versuchen (siehe insbesondere [7–19]). Zwei Faktoren sind für die natürliche Selektion bestimmend: die Reproduktion von Eigenschaften von Individuen durch Vererbung, und die Veränderung von Eigenschaften aufgrund von Umwelteinflüssen. Anpassungen an

Die Philosophie der Evolutionsbiologie

die Umwelt werden im Lauf der Generationen in einer Gruppe von Individuen derselben Art (einer Population) weiter verbreitet. Eine Adaptation (Anpassung) ist eine Eigenschaft, die sich entwickelt und verbreitet hat, weil die Organismen, welche diese Eigenschaft haben, aufgrund dieser Eigenschaft selektiert wurden. Adaptationen sind also das Ergebnis natürlicher Selektion. Adaptiv sind diejenigen Eigenschaften, die gegenwärtig zum Überleben und damit zur Reproduktionsfähigkeit des Organismus, der diese Eigenschaften hat, beitragen. Was natürliche Selektion besagt, wird manchmal in dem Schlagwort vom Überleben der Organismen, welche die beste Fitness haben, zusammengefasst. Mit Fitness ist die Fähigkeit zum Überleben und die Fähigkeit, sich zu reproduzieren, gemeint. Eine Eigenschaft X trägt mehr zur Fitness eines Lebewesens bei als eine Eigenschaft Y, wenn X im Vergleich zu Y die Wahrscheinlichkeit des Überlebens und die Reproduktionsfähigkeit des Lebewesens in einer gegebenen Umwelt erhöht. Zum Beispiel sind schnelle Hasen fitter als langsame Hasen, und in einer Schneelandschaft sind Hasen mit weißem Fell fitter als Hasen mit braunem Fell. Schnelle Hasen haben mehr Fortpflanzungserfolge als langsame Hasen. Angenommen, dass das Merkmal der Schnelligkeit erblich ist, werden im Laufe der Zeit immer mehr schnelle Hasen in einer gegebenen Gruppe von Hasen existieren. Ferner ist eine Gruppe von schnellen Hasen weniger der Gefahr ausgesetzt, ausgerottet zu werden, als eine Gruppe von langsamen Hasen. In diesem Sinne kann Fitness auch auf ganze Gruppen bezogen werden. Adaptationen erfolgen schrittweise. Über eine Reihe von Schritten kann eine neue Art entstehen. Der geläufigste Fall ist die Evolution einer neuen Art dadurch, dass innerhalb einer vorhandenen Art eine neue Seitenlinie entsteht und dann schließlich zwei Arten statt einer vorhanden sind. Dieser Fall kann durch geographische Trennung eintreten, indem Gruppen derselben Art in unterschiedlichen Umwelten leben. Wegen der Verschiedenheit der Umwelt können Organismen derselben Art in den verschiedenen Umwelten aufgrund verschiedener Eigenschaften selektiert werden. Auf diese Weise können die Unterschiede zwischen den Gruppen schließlich so groß werden, dass die Mitglieder zweier solcher Gruppen miteinander keine selbst reproduktionsfähigen Nachkommen mehr zeugen können. Aus zwei Gruppen einer Art sind dann zwei verschiedene Arten geworden. Welche Bedeutung hat die natürliche Selektion? Gemäß der Position, die als „Adaptationismus“ bekannt ist, ist natürliche Selektion das bei Weitem vorherrschende Prinzip für die Evolution der Lebewesen auf der Erde. Genauer gesagt, der Adaptationismus behauptet das Folgende: Bei den meisten Arten von Lebewesen können die meisten Eigenschaften, die für die Individuen der betreffenden Art charakteristisch sind, durch Modelle erklärt werden, die allein natürliche Selektion als Evolutionskriterium berücksichtigen (siehe zum Beispiel [7–20], insbesondere Kapitel 8 und 9). Es ist jedoch umstritten, welches Gewicht dem Prinzip der natürlichen Selektion in der Entwicklung der Lebewesen auf der Erde genau zukommt und welche Rolle weitere Faktoren spielen. Gegen den Adaptationismus wird eingewendet, dass natürliche Selektion nur ein Faktor von mehreren ist, und nicht unbedingt der wichtigste (siehe insbesondere [7–21]; zur Kontroverse um den Adaptationismus siehe die Arbeiten in [7–22] und [7–2], Teil 1). Zufällige

Adaptationismus

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Philosophische Aspekte der Biologie

Die Objekte der Selektion

ZirkularitätsEinwand

historische Umstände und Beschaffenheiten der Umwelt können gerade bei kleinen Gruppen auch eine gewichtige Rolle spielen. Infolgedessen brauchen nicht alle Eigenschaften, die sich durchgesetzt haben, Adaptationen zu sein. Das gilt sogar für Eigenschaften, die gegenwärtig adaptiv sind. Daraus, dass eine Eigenschaft gegenwärtig zum Überleben und damit zur Reproduktionsfähigkeit des betreffenden Organismus beiträgt, kann man nicht automatisch schließen, dass eine Selektion des betreffenden Organismus aufgrund dieser Eigenschaft stattgefunden hat. Es besteht eine Diskussion darüber, was genau die Objekte der natürlichen Selektion sind: der einzelne Organismus, eine Gruppe von individuellen Organismen oder einzelne Gene (siehe zu dieser Diskussion die Aufsätze in [7–23], Teil 2). Ausgangspunkt der Diskussion ist, dass es zahlreiche Beispiele für Verhalten gibt, das die Fitness anderer Individuen auf Kosten der Fitness des betreffenden Organismus erhöht; solche Fälle werden als altruistisches Verhalten diskutiert, obwohl damit keine moralische Bewertung verbunden ist. Solche Fälle legen nahe, dass auch Gruppen insgesamt im Unterschied zu einzelnen Organismen die Objekte der natürlichen Selektion sein können (für einen Überblick siehe die Aufsätze in [7–2], Teil 7, sowie [7–3], Kapitel 8). Auf der anderen Seite des Spektrums wird die Position vertreten, dass sogar einzelne Gene im Unterschied zu und gegebenenfalls auch auf Kosten von ganzen Organismen das sein können, was selektiert wird. Auf dieser Grundlage kann man ebenfalls altruistisches Verhalten individueller Organismen erklären. Die Biologen George C. Williams und Richard Dawkins haben die These aufgestellt, dass die Gene die Bezugspunkte der natürlichen Selektion sind ([7–24] und [7–25] sowie [7–26] und [7–27]). Ihr Ansatzpunkt ist, dass nur Gene exakt reproduziert werden können und in dieser Reproduktion als die gleichen erhalten bleiben, während individuelle Organismen kommen und gehen. Organismen sind aus dieser Sicht dasjenige, durch welches die Interaktion der Gene mit der Umwelt stattfindet, die entscheidend für die Fortentwicklung der Gene ist. Dagegen kann man argumentieren, dass es auf der Ebene der Organismen Eigenschaften gibt, die Belege für Organismen als die Objekte der natürlichen Selektion sind: Die Vererbung der betreffenden Eigenschaften mag zwar einen genetischen Mechanismus involvieren, kann aber nicht ausschließlich als das Kopieren bestimmter einzelner Gene aufgefasst werden. Selektion auf der Ebene von Genen ist eine Form der natürlichen Selektion, aber offenbar nicht die einzige. Als Ergebnis der Diskussion um die Objekte der natürlichen Selektion ist weithin anerkannt, dass natürliche Selektion sowohl auf der Ebene von Genen als auch auf der Ebene von Organismen und auch auf der Ebene ganzer Gruppen stattfindet; die Gewichtung zwischen diesen Ebenen ist jedoch nach wie vor umstritten (für einen Überblick über die Debatte siehe [7–3], Kapitel 3 bis 5, und [7–16], Kapitel 7 bis 9, sowie die Aufsätze in [7–2], Teil 3). Gegen eine Erklärung von Eigenschaften von Lebewesen unter Bezugnahme auf natürliche Selektion wird gelegentlich eingewendet, dass eine solche Erklärung zirkulär ist: Es steht kein unabhängiger Maßstab für Fitness zur Verfügung. Etwas hat überlebt, weil es fit ist, und fit ist es, weil es überlebt hat. Fitness kann jedoch als ein Grad der Befähigung (Disposition) aufgefasst werden, wie gut ein Organismus in einer gegebenen Umwelt überle-

Die Philosophie der Evolutionsbiologie

ben kann und in einer solchen Weise Nachkommen zeugen kann, dass das langfristige Überleben der Gruppe, zu der er gehört, sichergestellt wird. Das ist die Propensitäts-Interpretation von Fitness (siehe [7–28] und zum gegenwärtigen Verständnis von Fitness auch [7–29] und [7–30]). Man gewinnt auf diese Weise einen Erwartungswert der Fitness für einen Organismus, der unabhängig von dessen tatsächlicher Lebensdauer und dessen tatsächlichem reproduktiven Erfolg ist. Es können dann entsprechende Voraussagen über die Fitness erstellt werden, die empirisch bestätigt oder widerlegt werden können. Fitness ist ein allgemeines Erklärungsschema. Selbstverständlich ist für jede Situation spezifisch zu zeigen, wie eine zu erklärende Eigenschaft die Fitness des betreffenden Lebewesens, der betreffenden Gruppe oder des betreffenden Gens erhöht. Biologische Begriffe, Theorien und Erklärungen sind allgemein darauf gerichtet, generelle Zusammenhänge herauszustellen, die für verschiedene Arten von Lebewesen unter verschiedenen Umweltbedingungen gelten. Der Wissenschaftsphilosoph Elliott Sober führt folgenden Fall an: „Die Lotka-Volterra Gleichungen in der Ökologie zum Beispiel beschreiben, wie sich die Anzahl der Räuberorganismen und die Anzahl der Beuteorganismen zueinander dynamisch verhalten. Diese Gleichungen treffen auf jedes Paar von Populationen zu, in denen Organismen der einen Population auf Organismen der anderen Jagd machen. Was ist diese Beziehung des Jagdmachens? Löwen machen Jagd auf Antilopen; Venus-Fliegenfallen machen Jagd auf Fliegen. Was hat ein Löwe mit einer Venus-Fliegenfalle gemeinsam, aufgrund dessen beide Räuberorganismen sind? Es gibt keine physikalische Ähnlichkeit, aufgrund derer diese beiden Organismen Räuber sind. Gewiss, Löwen fangen und fressen Antilopen, und Venus-Fliegenfallen fangen und fressen Fliegen. Aber die physikalischen Details dessen, worin fangen und fressen in diesen beiden Fällen bestehen, unterscheiden sich markant. Biologische Kategorien ermöglichen es uns, Ähnlichkeiten zwischen physikalisch unterschiedenen Systemen zu erkennen. Welche Antwort können wir vor diesem Hintergrund auf die Frage geben, ob die Physik alles das erklären kann, was die Biologie erklären kann? Wir müssen diese Frage zunächst in zwei Fragen unterteilen: (1) Wenn es eine biologische Erklärung dessen gibt, wieso ein bestimmtes einzelnes Ereignis eintritt, gibt es dann auch eine physikalische Erklärung? (2) Wenn es eine biologische Erklärung dessen gibt, was mehrere einzelne Ereignisse gemeinsam haben, gibt es dann auch eine physikalische Erklärung? Die erste Frage kann man vielleicht bejahen; die zweite Frage würde ich verneinen. Jedes einzelne Ereignis mag eine physikalische Erklärung haben, aber das bedeutet nicht, dass jedes Muster von Ereignissen im physikalischen Vokabular charakterisiert werden kann“ ([7–1], S. 76–77, eigene Übersetzung). Gemäß Sober ist es die Aufgabe der Biologie, generelle Muster (patterns) des Verhaltens auf der Ebene lebendiger Systeme zu identifizieren. Diese Muster sind funktionaler Art. Sie können physikalisch in ganz verschiedener Weise realisiert sein, wie in diesem Beispiel das Muster des Jagdmachens auf Beute.

Biologische Erklärungen

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Philosophische Aspekte der Biologie Funktionale statt teleologische Erklärungen

Ätiologische Theorie biologischer Funktionen

Funktionale Erklärungen sind in der Biologie und der Philosophie der Biologie an die Stelle teleologischer Erklärungen getreten. Der teleologische Anschein vieler biologischer Phänomene kann in funktionalen Erklärungen erfasst werden. Es ist nicht erforderlich, anzunehmen, dass die Evolution als solche auf ein Ziel ausgerichtet ist oder dass Zielursachen als eine eigene Kategorie von Ursachen in Lebewesen wirksam sind. Was als zielgerichtetes Verhalten erscheint, kann durch die natürliche Selektion der betreffenden Organismen aufgrund bestimmter Eigenschaften erklärt werden (siehe [7–31] und [7–32] sowie die Aufsätze in [7–33] und [7–34]). Es gibt im Wesentlichen zwei Sichtweisen von Funktionen und damit von funktionalen Erklärungen in der Biologie. Der ätiologischen Theorie zufolge ist die Funktion einer Eigenschaft dasjenige, aufgrund dessen diese Eigenschaft sich als etwas, das zum Überleben und damit zur Reproduktionsfähigkeit des betreffenden Organismus beiträgt, im Prozess der natürlichen Selektion durchgesetzt hat – in dem Sinne, dass der Organismus aufgrund dieser Eigenschaft einen Selektionsvorteil hat (siehe insbesondere [7–35] und [7–36]). Die Funktion des Herzens definiert sich beispielsweise dadurch, dass Herzen Organismen in der Vergangenheit einen Selektionsvorteil verschafft haben. Ein Herz besitzt jedoch viele verschiedene Wirkungen. Wir betrachten die Wirkung, Blut zu pumpen, als die charakteristische Wirkung im Unterschied beispielsweise zu den Wirkungen, Geräusche zu verursachen, rot zu erscheinen oder das Gewicht des Organismus zu erhöhen. Wie aber lässt sich die Wirkung, Blut zu pumpen, von den anderen Wirkungen des Herzens als objektiv charakteristisch oder zumindest charakteristischer herausgreifen? Die ätiologische Theorie verweist auf die evolutionäre Vergangenheit: Sofern in der Vergangenheit Organismen mit Herzen vor allem deshalb überlebt haben, weil sie durch das Herz in der Lage waren, Blut zu pumpen – und nicht etwa, weil Herzen Geräusche verursachen, rot erscheinen oder das Gewicht des Organismus erhöhen –, besteht die Funktion des Herzens in erster Linie darin, Blut zu pumpen. Die Funktion des Herzens ist demnach durch selektive Vorteile in der Vergangenheit definiert, wodurch auch erklärt wird, weshalb es heute noch Organismen mit Herzen gibt. Für diese Theorie spricht somit, dass sie die Funktion von etwas unmittelbar an die kausale Erklärung des Entstehens der betreffenden Eigenschaft bindet. Die ätiologische Theorie biologischer Funktionen ist allerdings mit zwei Haupteinwänden konfrontiert: 1. Wenn eine Eigenschaft zum ersten Mal auftritt, hat sie gemäß dieser Theorie keine Funktion. Erst dann, wenn sich diese Eigenschaft über ein paar Generationen hinweg als adaptiv durchgesetzt hat, hat sie eine Funktion. Es erscheint intuitiv unplausibel, der betreffenden Eigenschaft nicht auch schon bei ihrem ersten Auftreten eine Funktion zusprechen zu können. 2. Manche Eigenschaften, die eine Funktion hatten, können diese Funktion im weiteren Verlauf der Evolution verlieren und sogar zu etwas werden, das zum Überleben oder zur Reproduktion des betreffenden Organismus hinderlich ist. Einen Blinddarm zu haben ist eine Eigenschaft, die sich bei einigen Arten von Lebewesen durchgesetzt hat, weil sie einen Beitrag zum Überleben leistete; beim Menschen leistet diese Eigenschaft aber keinen

Die Philosophie der klassischen und der molekularen Genetik

solchen Beitrag mehr und hat damit keine Funktion mehr. Die ätiologische Erklärung kann den Wandel und den Verlust von Funktionen nicht erfassen. Der ätiologischen Theorie steht diejenige Theorie gegenüber, welche biologische Funktionen durch ihre gegenwärtige kausale Rolle definiert. Gemäß dieser Theorie ist die biologische Funktion einer Eigenschaft dasjenige, was diese Eigenschaft gegenwärtig zum Überleben und zur Reproduktionsfähigkeit des betreffenden Organismus beiträgt (siehe insbesondere [7–37], [7–38] und [7–39], Kapitel 2.4). Die Funktion einer Eigenschaft wird somit als der Beitrag der betreffenden Eigenschaft dazu konzipiert, dass das betreffende System zum Überleben und zur Reproduktion befähigt ist. Deshalb wird manchmal auch von einer dispositionalen Theorie biologischer Funktionen gesprochen. Diese Sicht ist dadurch motiviert, etwas eine Funktion unabhängig von der Weise, wie es entstanden ist, zusprechen zu können. Auf diese Weise werden die beiden genannten Einwände gegen die ätiologische Theorie vermieden. Die kausal-dispositionale Theorie biologischer Funktionen hat ferner den Vorteil, dass sie sich in eine generelle Theorie funktionaler Eigenschaften in Bezug auf die Einzelwissenschaften und darüber hinaus die Metaphysik kausaler Eigenschaften einfügt (siehe oben Kapitel VI.2b und dazu [5–70], Kapitel 3.4, sowie unten Kapitel VIII.3b und c). Funktionale Eigenschaften sind Eigenschaften, für die bestimmte charakteristische Wirkungen wesentlich sind, die sie unter Standardbedingungen haben. Unter diesem generellen Verständnis gehören zu der Eigenschaft, ein Herz zu sein, wiederum nicht nur die Wirkung, Blut zu pumpen, sondern auch die Wirkungen, Geräusche zu verursachen, rot zu erscheinen und das Gewicht des Organismus zu erhöhen. Den biologischen funktionalen Aspekt filtert man aus diesen Wirkungen heraus, indem man sich auf diejenigen Wirkungen bezieht, die in einer gegebenen Umwelt einen Beitrag zur Fitness des Organismus leisten. Die biologische Funktion von Eigenschaften ist demnach nicht statisch, sondern wandelt sich im Zusammenhang mit Veränderungen innerhalb des Organismus und seiner Umwelt.

Kausaldispositionale Theorie biologischer Funktionen

2. Die Philosophie der klassischen und der molekularen Genetik Die Genetik untersucht, wie bei der Reproduktion von Organismen Eigenschaften – und Eigenschaftsunterschiede – von Generation zu Generation weitergegeben werden. Der Beginn der Genetik wird allgemein mit Gregor Mendel (1822–1884) und dessen Züchtungsversuchen an Erbsen in Verbindung gebracht (siehe [7–40]). Mendel hat erste genetische Gesetze formuliert, die jedoch lediglich zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der naturwissenschaftlichen Forschung aufgenommen wurden und auf deren Grundlage sich dann in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts die klassische Genetik entwickelt hat. Diese konzipiert Gene als Träger des Erbgutes, die bei der Fortpflanzung weitergegeben werden. Im Vordergrund steht die

Genotyp und Phänotyp

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Philosophische Aspekte der Biologie

Gene als kausaldispositionale Eigenschaften

Übergang zur molekularen Genetik

Unterscheidung zwischen Genotyp und Phänotyp. Der Genotyp eines Organismus sind seine Gene: sowohl seine Vererbungsdispositionen, die an die nächste Generation weitergegeben werden können, als auch seine Disposition, bestimmte Phänotypen zu entwickeln. Der Phänotyp ist die – beobachtbare – Manifestation der kausal-dispositionalen Eigenschaften, welche der Genotyp hervorbringen kann, wie zum Beispiel die Farbe der Blüten einer Pflanze, die Schnabelgröße von Vögeln oder die Augenfarbe von Menschen. Der Begriff des Phänotyps wird heutzutage jedoch nicht mehr nur dafür verwendet, auf das unmittelbar Beobachtbare hinzudeuten. Ein Phänotyp ist beispielsweise auch die durch die Gene verursachte und regulierte Produktion von Proteinen, die dann unter anderem zu den mit bloßem Auge sichtbaren Wirkungen führen (siehe zum Beispiel [7–41]). Dabei hat sich im Laufe der genetischen Forschung gezeigt, dass ein Gen einen kausalen Einfluss auf mehr als einen Phänotyp haben kann und ein Phänotyp durch mehr als ein Gen beeinflusst sein kann. Man kann Gene als kausal-dispositionale Eigenschaften auffassen, bestimmte Phänotypen und vor allem bestimmte phänotypische Unterschiede hervorzubringen (siehe insbesondere [7–3], S. 87–93, [7–39], Kapitel 5, sowie [7–42] und [7–43] zu Genen als Unterschiedsmachern). Etwas genauer gesagt, Vorkommnisse von Genen, die unter den Gen-Typ F der klassischen Genetik fallen, lassen sich dadurch charakterisieren, dass sie unter Standardbedingungen S die phänotypischen Wirkungen FE hervorbringen (siehe [5–70], S. 160). Diese phänotypischen Wirkungen leisten einen Beitrag zur Fitness des betreffenden Organismus oder der betreffenden Population. So ist der Genbegriff der klassischen Genetik mit dem Fitnessbegriff der Evolutionsbiologie verbunden. Man kann jedoch nicht sagen, dass allein die Gene für die phänotypischen Eigenschaften eines Organismus ursächlich sind; Umwelteinflüsse sind ebenfalls wichtig, wobei das Verhältnis zwischen genetischen Faktoren und Umweltfaktoren umstritten ist (siehe zum Beispiel [7–44], Kapitel 8, für eine abwägende Diskussion der Frage eines genetischen Determinismus). Die klassische Genetik postuliert, dass es Gene gibt als dasjenige, welches für die vererbbaren phänotypischen Eigenschaften der Organismen ursächlich ist. Sie nimmt somit an, dass es eine Kausalkette von Genen zu phänotypischen Eigenschaften gibt. Sie fokussiert sich aber nicht darauf, wie diese Kausalkette im Einzelnen abläuft und wie Gene in Organismen physikalisch beziehungsweise molekular realisiert sind. Dieses zu untersuchen ist die Aufgabe der molekularen Genetik. Der Durchbruch zu dieser wurde durch James D. Watson (*1928) und Francis H. C. Crick (1916–2004) erzielt, die 1953 den molekularen Aufbau der DNA (Desoxyribonukleinsäure, auf deutsch oftmals als DNS abgekürzt) entdeckten, welche die molekulare Basis unserer Gene ist (siehe [7–45]). Die Molekularbiologie umfasst jedoch mehr als nur die molekulare Genetik, nämlich allgemein die Erforschung der Zusammensetzung und Funktion der biologischen Makromoleküle: In den Worten des Wissenschaftshistorikers Hans-Jörg Rheinberger ist die Molekularbiologie heute ein „die ganze Biologie durchziehendes experimentelles und theoretisches Paradigma“ ([7–46], S. 642). Die molekulare Genetik zeigt somit, wie die Gene, welche die klassische Genetik postuliert, jeweils durch Makromoleküle – insbesondere DNA-

Die Philosophie der klassischen und der molekularen Genetik

Sequenzen – im Organismus physikalisch realisiert sind. Sie ist dadurch in der Lage, den kausalen Mechanismus vom Genotyp zum Phänotyp jeweils im Einzelnen aufzuzeigen und so detaillierte kausale Erklärungen phänotypischer Eigenschaften zu geben. Infolgedessen ist es der molekularen Genetik auch möglich, die Gesetzesaussagen der klassischen Genetik zu präzisieren: Die in der klassischen Genetik vorkommenden Ausnahmen können häufig molekularbiologisch erklärt werden. Man kann in folgendem Sinne von einem Vollständigkeitsanspruch der molekularen im Vergleich zur klassischen Genetik sprechen (siehe [5–70], S. 166): Die molekulare Genetik ist kausal vollständig. Jedes mögliche Vorkommnis einer molekulargenetischen Eigenschaft mg2 hat hinreichende molekulare Ursachen mg1 (oder hinreichende chemische oder mikrophysikalische Ursachen). Diese Vollständigkeit ist, genauer gesagt, nur eine relative Vollständigkeit, weil die Möglichkeit besteht, dass mg2 nur chemische oder mikrophysikalische Ursachen besitzt. Alles, worauf es an dieser Stelle ankommt, ist jedoch, dass mg2 keine Ursache besitzt, die von der klassischen Genetik beschrieben werden, ohne dass es auch molekulare Ursachen gibt. Diese Vollständigkeit wird von der Forschung regelmäßig bestätigt. Es ist niemals der Fall, dass beispielsweise eine molekulare Veränderung, die zu mg2 führt, durch etwas verursacht wird, das durch die klassische, nicht jedoch durch die molekulare Genetik beschrieben werden kann. Molekularbiologen suchen nach Ursachen innerhalb der molekularen Genetik beziehungsweise der Molekularbiologie und nicht in der Theorie der klassischen Genetik, weil die molekulare Genetik genauere Kausalerklärungen geben kann. Es ist in der heutigen Biologie und Philosophie der Biologie allgemein anerkannt, dass jedes einzelne Vorkommnis eines Gens, das in den Gegenstandsbereich der klassischen Genetik fällt, mit einer molekularen Struktur – wie insbesondere einer bestimmten DNA-Sequenz – identisch ist (siehe zum Beispiel ([7–47], [7–41] und [7–48], Kapitel 4.4). Aber daraus folgt nicht, dass die klassische Genetik obsolet ist und nur noch eine historische Bedeutung als Vorstufe zur Entwicklung der molekularen Genetik und der Molekularbiologie allgemein hat. Denn die Gen-Typen, welche die klassische Genetik behandelt, sind nicht identisch mit den Typen, welche die molekulare Genetik betrachtet. Letztere konzentriert sich auf die molekulare Zusammensetzung der DNA-Sequenzen und allgemein der Makromoleküle, welche Gene der klassischen Genetik, charakterisiert durch ihre phänotypischen Effekte, realisieren. Verschieden zusammengesetzte DNA-Sequenzen können jedoch unter bestimmten Bedingungen im Organismus und in dessen Umgebung die gleichen signifikanten und für die Selektion relevanten phänotypischen Effekte hervorbringen. Mit anderen Worten: Die GenTypen, von denen die klassische Genetik handelt, können molekular multipel realisiert sein. Infolgedessen sind die Gen-Typen der klassischen Genetik in der Lage, signifikante Gemeinsamkeiten oder Muster (patterns) herauszustellen, welche die molekulare Genetik in der Beschreibung der molekularen Zusammensetzung der betreffenden DNA-Sequenzen und der kausalen Mechanismen, die jeweils diese Wirkungen hervorbringen, nicht zum Ausdruck bringt. Die Situation in der klassischen Genetik ist somit parallel zu der Situation in der Evolutionsbiologie, die im vorigen Kapitel anhand des Zitats von

Kausale Vollständigkeit der molekularen Genetik

Identität der Vorkommnisse und multiple Realisierbarkeit

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Philosophische Aspekte der Biologie Reduktion der klassischen auf die molekulare Genetik?

Sober zum Ausdruck gebracht wurde: Wie es für jedes einzelne Ereignis, das unter Begriffe der Evolutionsbiologie fällt, im Prinzip eine physikalische Erklärung gibt, so gibt es für jeden einzelnen Fall einer phänotypischen Wirkung eines Gens eine molekularbiologische Erklärung. Aber das bedeutet nicht, dass es physikalische beziehungsweise molekularbiologische Begriffe für die signifikanten Gemeinsamkeiten gibt, welche die Evolutionsbiologie oder die klassische Genetik zum Ausdruck bringen. Kurz gesagt: Multiple Realisation verhindert, dass man die Evolutionsbiologie oder die klassische Genetik einfach durch die Molekularbiologie ersetzen kann. Dennoch ist umstritten, ob eine Theorie-Reduktion der klassischen auf die molekulare Genetik möglich ist. Auf der einen Seite gibt es Philosophen der Biologie, welche die genannte multiple Realisierbarkeit so ansehen, dass sie eine solche Theorie-Reduktion prinzipiell unmöglich macht und der klassischen Genetik einen autonomen Status sichert (siehe vor allem [7–49], [7–41] und [7–50]). Auf der anderen Seite wird vertreten, dass multiple Realisierbarkeit nicht ausschließt, die klassische auf die molekulare Genetik reduzieren zu können und deren wissenschaftlichen Gehalt von der molekularen Genetik aus rekonstruieren zu können (siehe insbesondere [7–51], Kapitel 4, [7–52], [7–53], [7–54], Kapitel 9, und [7–48], Kapitel 7). Ich werde auf diese Kontroverse allgemein ausführlich in Kapitel VIII.3 eingehen.

3. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen Zusammenfassung In diesem Kapitel wurden die wesentlichen, philosophisch relevanten Fragestellungen der Evolutionsbiologie und der Genetik vorgestellt. Im Unterschied zu den bisher behandelten naturwissenschaftlichen Theorien ist die Evolutionsbiologie eine historische Theorie. Ihr Untersuchungsgegenstand ist die Frage, wie die Evolution der biologischen Arten auf der Erde verläuft. Gemäß dem heute vorherrschenden Verständnis sind biologische Arten nicht in erster Linie durch qualitative Merkmale, sondern durch gemeinsame Abstammung zusammen mit gemeinsamer Fortpflanzungsfähigkeit definiert. Die Evolution verläuft gemäß dem Prinzip der natürlichen Selektion. Umstritten ist, welches die wesentlichen Objekte der natürlichen Selektion sind: der einzelne Organismus, eine Gruppe von individuellen Organismen oder einzelne Gene. Biologische Erklärungen sind in erster Linie funktionale Erklärungen. Der teleologische Anschein vieler biologischer Phänomene kann durch funktionale Erklärungen erfasst werden, und die Eigenschaften, auf welche die Biologie sich bezieht, sind funktionale Eigenschaften. Die klassische Genetik arbeitet generelle Zusammenhänge zwischen Genotyp und Phänotyp heraus, während die molekulare Genetik detaillierte Kausalerklärungen dessen gibt, wie phänotypische Effekte jeweils hervorgebracht werden. Es ist allgemein anerkannt, dass einerseits die Gen-Typen, von denen die klassische Genetik handelt, molekular realisiert sind, andererseits diese GenTypen aber molekular verschieden realisiert werden können. Es ist daher umstritten, ob eine Theorie-Reduktion der klassischen auf die molekulare Genetik möglich ist.

Lektürehinweise – zur Philosophie der Biologie generell: [7–1], [7–3] und die Aufsätze in [7–6] und [7–7]

Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen – – – – –

zur Philosophie der Evolutionsbiologie: [7–9] und die Aufsätze in [7–10] zur natürlichen Selektion: [7–18] zum Adaptationismus: die Aufsätze in [7–22] zur Debatte um die Objekte der Selektion: die Aufsätze in [7–23] zu funktionalen Eigenschaften in der Biologie: [7–36] und die Aufsätze in [7–33] und [7–34] – zum Verhältnis von klassischer und molekularer Genetik: [7–41] und [7–48], Kapitel V–VII

Fragen und Übungen – Welche Merkmale charakterisieren lebendige Systeme? – In welchem Sinne ist die Biologie – im Unterschied zu Physik und Chemie – eine historische Wissenschaft? – Was bedeutet eine historische Definition biologischer Arten? – Was ist der Unterschied dazwischen, biologische Arten als Klassen, und biologische Arten als Individuen aufzufassen? – Welche Prinzipien kennzeichnen Darwins Evolutionstheorie? – Wie kann man die Entwicklung von Lebewesen unter Bezugnahme auf das Prinzip der natürlichen Selektion erklären? – Was besagt Fitness? – Was besagt der Adaptationismus und wieso ist diese Position umstritten? – Erörtern Sie die These, dass einzelne Gene Objekte der natürlichen Selektion sein können! – Was ist gemäß Sober das Verhältnis von Biologie und Physik? – Diskutieren Sie die beiden zentralen Theorien biologischer Funktionen: Was spricht für die ätiologische Theorie, was für die kausal-dispositionale Theorie? – Was ist die Leistung der klassischen Genetik, was die Leistung der molekularen Genetik? – Was besagt multiple Realisierbarkeit in diesem Zusammenhang? – Wieso ist es aufgrund multipler Realisierbarkeit umstritten, ob die klassische auf die molekulare Genetik reduziert werden kann?

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VIII. Universelle und spezielle Naturwissenschaft Dieses Kapitel geht auf den Zusammenhang zwischen Physik und Einzelwissenschaften ein. Die Argumente dafür, dass alle Vorkommnisse von Eigenschaften im Gegenstandsbereich der Einzelwissenschaften mit Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften identisch sind, werden dargelegt und die Frage der Reduzierbarkeit einzelwissenschaftlicher Theorien auf physikalische Theorien wird diskutiert.

1. Supervenienz und die Vollständigkeit der Physik Mikrophysikalische Eigenschaften

Physikalisches Duplikat der Welt

Was ist das Verhältnis zwischen dem Gegenstandsbereich der fundamentalen Physik und den Gegenstandsbereichen der anderen naturwissenschaftlichen Theorien, wie zum Beispiel der Chemie, der Geologie, der Biologie oder der Neurowissenschaften? Diese Frage betrifft das Thema der Einheit und Vielfalt der Natur ebenso wie der Naturwissenschaften. Ihr metaphysischer ebenso wie ihr epistemologischer Aspekt sind der Gegenstand dieses Kapitels. Nehmen wir an, dass der Bereich der Welt, der allein von den fundamentalen physikalischen Theorien beschrieben wird, in mikrophysikalischen Eigenschaften besteht im Sinne von Eigenschaften, die an Punkten der Raumzeit auftreten können; denn nichts Physikalisches kann kleiner als ein Punkt der Raumzeit sein. Die Eigenschaften von Quantensystemen können ebenfalls an Punkten oder punktförmigen Gebieten der Raumzeit auftreten, obwohl Quantensysteme dann, wenn ihre Zustände miteinander verschränkt sind, über keine wohldefinierte Lokalisation in der Raumzeit verfügen. Wenn es um die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Gegenstandsbereich der fundamentalen Physik und den Gegenstandsbereichen der Einzelwissenschaften geht, können wir jedoch ohne Weiteres voraussetzen, dass durch Zustandsreduktionen ein Übergang von verschränkten Zuständen zu klassischen Eigenschaften stattgefunden hat (oder durch Dekohärenz der Anschein von klassischen Eigenschaften in den jeweiligen Zweigen der Welt besteht) (siehe oben Kapitel V.6). Denn chemische, geologische, biologische Systeme usw. haben sich auf der Basis von Zustandsreduktionen, die zu klassischen Eigenschaften führen, entwickelt. Nehmen wir an, dass die gesamte Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Raumzeit verdoppelt wird – also eine Operation stattfindet, welche die gesamte Raumzeit und alle und nur die physikalischen Eigenschaften, die an den Punkten der Raumzeit auftreten, kopiert. Die so geschaffene Doppel-Welt w* ist folglich mit der realen Welt w mikrophysikalisch identisch. Enthält w* dann auch alles dasjenige, was es in w gibt – also auch alle Organismen, alle psychologischen, ökonomischen und

Supervenienz und die Vollständigkeit der Physik

sozialen Eigenschaften usw., einschließlich eines Duplikats dieses Buchs und seiner Leser? Mit anderen Worten, ist w* schlechthin ein Duplikat von w? Es gibt starke Argumente dafür, diese Frage zu bejahen. Wir wissen, dass alle Objekte, die in der realen Welt existieren, aus mikrophysikalischen Objekten entstanden sind und dass sie ausschließlich aus diesen zusammengesetzt sind. Es kann also keine Objekte geben, die in w vorhanden sind, aber in w* fehlen. Diese Tatsachen legen nahe, dass damit auch alle Eigenschaften, die komplexe, makroskopische Objekte in w haben, in w* ebenfalls vorhanden sind. Man beachte, dass es hier um keine deterministische Dynamik geht: Wir fordern, dass alle mikrophysikalischen Eigenschaften in der gesamten Raumzeit von w nach w* kopiert werden. Die Frage, wie die zeitliche Entwicklung innerhalb der Welt beschaffen ist, spielt daher an dieser Stelle keine Rolle. Wenn eine chemische, biologische, psychologische, ökonomische oder soziale Eigenschaft in w vorhanden ist, aber in w* fehlen würde, dann würden wir nach einem Grund für diesen Unterschied suchen. Diese Suche würde uns jeweils über den Bereich der Chemie, der Biologie, der Psychologie oder der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hinausführen: Nach allem, was wir über die Welt wissen, könnte es nicht sein, dass in einem Duplikat der Welt nur eine phänotypische Eigenschaft fehlen würde – sagen wir, die weiße Farbe der Blüten einer bestimmten einzelnen Pflanze, deren Blüten in w* rot statt weiß sind –, ohne dass es auch einen genetischen Unterschied oder einen Unterschied in den Umweltbedingungen gäbe. Damit gäbe es aber auch einen molekularbiologischen Unterschied zwischen w* und w und folglich auch einen mikrophysikalischen Unterschied. Die Welt w* wäre somit kein exaktes mikrophysikalisches Duplikat von w. Allgemein kann es keinen Unterschied in der Verteilung der chemischen, biologischen, psychologischen, ökonomischen oder sozialen Eigenschaft zwischen w und w* geben, ohne dass es auch einen Unterschied in der physikalischen Zusammensetzung der Objekte, die diese Eigenschaften haben, und somit wiederum einen mikrophysikalischen Unterschied zwischen w* und w gibt. Diese Tatsache greift in keiner Weise das Prinzip der freien Kombinierbarkeit von Eigenschaften in der Hume’schen Metaphysik an (siehe oben Kapitel VI.1a). Dieses Prinzip betrifft die fundamentalen physikalischen Eigenschaften. Wenn jedoch einmal die gesamte Verteilung der fundamentalen physikalischen Eigenschaften in der Welt gegeben ist, dann ist nach David Lewis alles Weitere, was es in der Welt gibt, festgelegt. Lewis spricht von Hume’scher Supervenienz (siehe vor allem [5–4], Einleitung, und [6–7]). Allgemein – und unabhängig von der Kontroverse um die Hume’sche Metaphysik versus der Metaphysik kausaler Eigenschaften – können wir von globaler Supervenienz sprechen. Die These globaler Supervenienz besagt, dass jede mögliche Welt, die ein mikrophysikalisches Duplikat der realen Welt ist, ein Duplikat schlechthin der realen Welt ist (siehe [6–19], S. 9–14, und [8–1], S. 32–42). Das Konzept der Supervenienz generell besagt Folgendes: Wenn ein Bereich B von Eigenschaften auf einem Bereich A von Eigenschaften superveniert, dann ist immer dann, wenn der Bereich A gleich ist, auch der Bereich B gleich. Mit anderen Worten (modus tollens): Es kann keinen Unterschied im Bereich B geben, ohne dass es auch einen Unterschied im

Globale Supervenienz

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Universelle und spezielle Naturwissenschaft

Universelle und fundamentale physikalische Theorien

Einzelwissenschaften weder universell noch fundamental

Bereich A gibt. Globale Supervenienz besagt in diesem Sinne: Durch die Verteilung der mikrophysikalischen Eigenschaften ist alles, was es in der Welt gibt, festgelegt. Wenn eine andere mögliche Welt die gleiche Verteilung der mikrophysikalischen Eigenschaften aufweist wie die reale Welt, dann ist diese andere Welt in Bezug auf alle Eigenschaften gleich beschaffen wie die reale Welt. Mit anderen Worten: Es kann keinen Unterschied geben, ohne dass es auch einen mikrophysikalischen Unterschied gibt. Wieso ist das so? Wieso kann es keinen Unterschied in der Verteilung chemischer, biologischer, psychologischer, ökonomischer oder sozialer Eigenschaften geben, ohne dass es auch einen mikrophysikalischen Unterschied gibt? Seit Newtons Mechanik verfügen wir über physikalische Theorien, die universell und fundamental sind. Diese Theorien sind universell, weil ihr Geltungsanspruch sich auf alle Systeme in der Natur bezieht. Alle Systeme in der Natur sind physikalische Systeme. Sie haben alle Eigenschaften wie Ort, Geschwindigkeit (Impuls), Ladung, Masse usw. Folglich beziehen sich die physikalischen Gesetze, welche diese Eigenschaften betreffen, auf alle Systeme in der Natur (wie die Gesetze der Mechanik, des Elektromagnetismus, der Gravitation usw.). Die Chemie zum Beispiel ist dagegen keine universelle Naturwissenschaft. Nur einige Systeme in der Natur sind Moleküle oder aus Molekülen zusammengesetzt. Ebenso ist die Biologie keine universelle Naturwissenschaft. Denn nur einige Systeme in der Natur sind Organismen. Selbiges gilt für die Geologie, die Neurobiologie, die Psychologie usw. Deshalb bezeichnet man alle anderen Wissenschaften außer der Physik als Einzelwissenschaften. Die Theorien der Physik sind fundamental, weil sie von keinen anderen Theorien mehr abhängen. Wenn man nach einer Erklärung für ein bestimmtes Vorkommnis einer physikalischen Eigenschaft (ein physikalisches Ereignis) an einem bestimmten Punkt oder in einem bestimmten Gebiet der Raumzeit sucht, ist es niemals erforderlich, den Bereich der physikalischen Gesetze zu verlassen. In dem Maße wie es eine Erklärung für das betreffende Ereignis gibt, gibt es eine Erklärung, die ausschließlich physikalische Gesetze involviert. Wenn man zum Beispiel nach einer Erklärung dessen sucht, weshalb an einer bestimmten Stelle ein Strom fließt oder weshalb zu einer bestimmten Zeit eine Sonnenfinsternis stattfindet usw., dann sind physikalische Gesetze – hier insbesondere die Gesetze des Elektromagnetismus oder der Himmelsmechanik – hinreichend, um diese Phänomene zu erklären. Um hingegen ein bestimmtes Vorkommnis einer chemischen, biologischen, psychologischen Eigenschaft usw. zu erklären, genügt es häufig nicht, sich nur auf chemische, biologische oder psychologische Gesetze zu beziehen. Es ist oft erforderlich, auch physikalische Gesetze einzubeziehen. Der Grund dafür ist, dass sich chemische, biologische, psychologische Systeme usw. aus physikalischen Systemen entwickelt haben und aus diesen zusammengesetzt sind. Physikalische Ursachen haben chemische, biologische und psychologische Auswirkungen. Im Frühjahr zum Beispiel entwickeln die Pflanzen Blüten, aber nur, wenn bestimmte physikalische Standardbedingungen im Organismus und dessen Umwelt erfüllt sind (genügend Wasser, die richtige Temperatur usw.). Physikalische Störungen, die in den chemischen oder biologischen Gesetzen nicht berücksichtigt sind, können die Entwicklung von Blüten verhindern.

Supervenienz und die Vollständigkeit der Physik

Die Gesetze der Einzelwissenschaften sind immer mit einer so genannten Ceteris-paribus-Klausel versehen. Sie gelten nur unter physikalischen Standardbedingungen, wobei im Vokabular der betreffenden Theorie nicht vollständig angegeben werden kann, was die Standardbedingungen und was die Ausnahmen von ihnen sind. Die Gesetze der fundamentalen Physik sind hingegen strikte Gesetze oder zumindest Kandidaten für strikte Gesetze. Es ist nicht erforderlich, ihren Geltungsanspruch durch eine Ceteris-paribus-Klausel zu beschränken. Sie lassen keine Ausnahmen zu, die nicht im Vokabular der betreffenden Theorie beschrieben werden können – oder es handelt sich eben doch nicht um eine fundamentale Theorie. Wenn ein fundamentales physikalisches Gesetz Eigenschaften des Typs F mit Eigenschaften des Typs G in Beziehung setzt, dann gibt es nichts, das die betreffende Beziehung verhindern könnte. Wenn die betreffende Beziehung doch nicht eintritt, folgt nicht, dass der Geltungsanspruch des Gesetzes durch eine Ceteris-paribusKlausel begrenzt werden muss, sondern dass die Theorie, in die das Gesetz eingebettet ist, eine Variable nicht berücksichtigt, der sie Rechnung tragen müsste. Wenn F, G und H Typen fundamentaler physikalischer Eigenschaften sind, dann ist eine Theorie, die nur die Beziehung zwischen F und G betrachtet, nicht vollständig. Es ist in diesem Fall erforderlich, die Theorie zu verändern (so die Standardantwort auf die Kritik von [8–2] an fundamentalen physikalischen Gesetzen; siehe zum Beispiel [8–3]). Betrachten wir ein aktuelles Beispiel: Die Gesetze der heutigen Quantenfeldtheorie berücksichtigen nicht die Gravitation. Dieses ist ein zwingender Grund dafür, nach einer Theorie der Quantengravitation zu suchen – das heißt, einer Theorie, welche die gegenwärtige Quantenfeldtheorie mit der Theorie der Gravitation, also der allgemeinen Relativitätstheorie, vereinigt. Die heutige Quantenfeldtheorie ist eine unvollständige Theorie. Die epistemische Möglichkeit von Nicht-Wissen oder Irrtum verhindert nicht, dass die physikalischen Gesetze den Status strikter Gesetze erlangen können. Chemische, biologische, psychologische Gesetze usw. sind hingegen keine Kandidaten für Gesetze, die diesen Status erlangen könnten; denn selbst wenn diese Gesetze alle chemischen, biologischen oder psychologischen Variablen berücksichtigen sollten, gäbe es immer noch physikalische Variablen, die den Gegenstandsbereich dieser Gesetze beeinflussen, die diese Gesetze aber nicht berücksichtigen können, sondern mit einer offenen Ceteris-paribus-Klausel abdecken müssen. Man kann das Konzept der Vollständigkeit der fundamentalen physikalischen Theorien noch unter einem anderen Aspekt betrachten: Man kann nicht vertreten, dass alle biologischen Systeme biologische Ursachen haben – das heißt Ursachen, die in den Gegenstandsbereich der Biologie fallen. Organismen haben sich im Laufe der Evolution aus anorganischer Materie entwickelt. Einige biologische Systeme haben daher ausschließlich chemische Ursachen, und die Molekularbiologie wurde konzipiert, um den Übergang von chemischen zu biologischen Systemen zu verstehen. Etwas Ähnliches gilt in Bezug auf die Chemie. Chemische Systeme – Moleküle wie zum Beispiel das Wassermolekül (H2O) – haben sich in der Evolution des Kosmos auf der Grundlage mikrophysikalischer Systeme entwickelt. Es gibt also einige chemische Systeme, die keine chemischen Ursachen haben, sondern nur physikalische Ursachen. Ferner bringen physikalische Ursachen weiterhin

Vollständigkeit der Physik

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Universelle und spezielle Naturwissenschaft

chemische und biologische Wirkungen hervor. Systeme mit ausschließlich physikalischen Eigenschaften haben hingegen immer rein physikalische hinreichende Ursachen, insofern sie überhaupt Ursachen haben. Physikalische Gesetze, die sich nur auf physikalische Variablen beziehen, erfassen die hinreichenden Ursachen aller Vorkommnisse physikalischer Eigenschaften (aller physikalischen Ereignisse). Man kann die Vollständigkeit der Physik in den folgenden drei Prinzipien zusammenfassen: – explanatorische Vollständigkeit: Für alle Vorkommnisse physikalischer Eigenschaften gilt, in dem Maße wie ein Vorkommnis einer physikalischen Eigenschaft eine Erklärung zulässt, besitzt es eine Erklärung in physikalischen Begriffen. – nomologische Vollständigkeit: Für alle Vorkommnisse physikalischer Eigenschaften gilt, in dem Maße wie ein Vorkommnis einer physikalischen Eigenschaft unter Gesetze fällt, kommt es unter physikalische Gesetze. – kausale Vollständigkeit: Für alle Vorkommnisse physikalischer Eigenschaften gilt, in dem Maße wie ein Vorkommnis einer physikalischen Eigenschaft Ursachen hat, verfügt es über physikalische Ursachen.

Kein Determinismus impliziert

Theorienwandel in der Physik

Diese drei Prinzipien schließen nicht aus, dass es weitere Erklärungen, Gesetze und Ursachen geben kann, die sich auf Vorkommnisse physikalischer Eigenschaften beziehen. Diese Prinzipien besagen lediglich Folgendes: Wenn man eine Erklärung, ein Gesetz oder eine Ursache für ein beliebiges Vorkommnis einer physikalischen Eigenschaft sucht, dann ist es niemals erforderlich, über den Bereich der physikalischen Eigenschaften hinauszugehen. Weitere Erklärungen, Gesetze und Ursachen können nichts zu dem hinzufügen, was nicht bereits in den physikalischen Erklärungen, Gesetzen und Ursachen enthalten ist (siehe [8–4], Anhang, für eine ausführliche Argumentation insbesondere für die kausale Vollständigkeit der Physik). Die Prinzipien der kausalen und der nomologischen Vollständigkeit der Physik implizieren keinen Determinismus. Die Formulierung „in dem Maße wie ein Vorkommnis einer physikalischen Eigenschaft Ursachen hat“ lässt offen, in welchem Maße es tatsächlich Ursachen für die Vorkommnisse physikalischer Eigenschaften gibt. Wenn die physikalischen Gesetze deterministisch sind, dann gibt es für jedes Vorkommnis einer physikalischen Eigenschaft p hinreichende physikalische Ursachen, deren Auftreten p herbeiführt. Wenn diese Gesetze probabilistisch sind, dann gibt es für alle Vorkommnisse physikalischer Eigenschaften Wahrscheinlichkeiten, die vollständig durch andere Vorkommnisse physikalischer Eigenschaften und die physikalischen Gesetze bestimmt sind. Mit anderen Worten: Die physikalischen Ursachen reichen hin, um für alle physikalischen Ereignisse die Wahrscheinlichkeiten ihres Eintretens festzulegen. Wenn man zum Beispiel annimmt, dass der Zerfall radioaktiver Atome nicht deterministischen Gesetzen unterliegt (siehe oben Kapitel V.6 und 7), so gibt es dennoch physikalische Gesetze, die es erlauben, eine objektive Zerfallswahrscheinlichkeit für einen gegebenen Zeitraum für jede gegebene Menge radioaktiver Atome zu berechnen. Die klassische Mechanik, die auf Newton zurückgeht, wurde im 20. Jahrhundert durch die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie sowie die

Ontologischer Reduktionismus

Quantentheorie überholt. Heute sucht man nach einer Vereinigung der Quantenfeldtheorie mit der allgemeinen Relativitätstheorie in einer Theorie der Quantengravitation, die, wenn sie einmal erreicht ist, ein neuer Kandidat für eine fundamentale physikalische Theorie sein wird. Die Tatsache, dass sich unsere fundamentalen physikalischen Theorien ändern, stellt die Prinzipien der kausalen, nomologischen und explanatorischen Vollständigkeit nicht in Frage. Diese Prinzipien besagen, dass die fundamentalen physikalischen Theorien, die zu einer Zeit anerkannt sind, in den drei genannten Sinnen vollständig im Vergleich zu den Theorien der Einzelwissenschaften sind. Diese relative Vollständigkeit bleibt bestehen, selbst wenn eine fundamentale physikalische Theorie durch eine andere fundamentale physikalische Theorie ersetzt wird; denn dieser Wandel erfolgt ausschließlich aus physikinternen Gründen. Die klassische Mechanik, Newtons Theorie der Gravitation und die klassische Feldtheorie des Elektromagnetismus wurden nicht deshalb durch die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie ersetzt, weil es Einwände beispielsweise aus der Chemie, der Biologie oder der Psychologie gegen ihren universellen Geltungsanspruch oder ihren fundamentalen Charakter gab, sondern weil die Objekte und Eigenschaften, die mit den Gesetzesaussagen dieser Theorien beschrieben werden können, sich nicht als wirklich fundamental erwiesen haben. Ebenso wird man die Vereinigung von Quantentheorie und allgemeiner Relativitätstheorie in einer neuen fundamentalen und universellen Theorie nicht aufgrund von Überlegungen erzielen, die sich auf Phänomene im Bereich der einen oder der anderen Einzelwissenschaft beziehen, sondern indem man gegenwärtige Voraussetzungen in Bezug auf die Beschaffenheit des fundamentalen physikalischen Bereichs in Frage stellt (wie zum Beispiel die Voraussetzung einer passiven Hintergrundraumzeit in der heutigen Quantenfeldtheorie und die Voraussetzung einer dynamischen, aber klassischen Raumzeit in der allgemeinen Relativitätstheorie).

2. Ontologischer Reduktionismus Alle Systeme in der Welt sind aus mikrophysikalischen Systemen entstanden und sind ausschließlich aus diesen zusammengesetzt. Diese Tatsachen rechtfertigen die philosophische These der globalen Supervenienz. Seit Newton verfügen wir über physikalische Theorien, die universell und fundamental sind. Diese Tatsache rechtfertigt die philosophische These der kausalen, nomologischen und explanatorischen Vollständigkeit des physikalischen Bereichs. Diese beiden Thesen sind ihrerseits die Grundlage für die philosophische Position des ontologischen Reduktionismus, die in der heutigen Naturphilosophie so etwas wie eine Standardposition ist: Alles, was es in der Welt gibt, ist mit Vorkommnissen fundamentaler physikalischer Eigenschaften und deren Konfigurationen identisch. Mit anderen Worten: Alle Vorkommnisse chemischer, biologischer, psychologischer Eigenschaften usw. sind mit Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften identisch. Das wesentliche Argument für diese Position ist das folgende: Die Vorkommnisse chemischer, biologischer, psychologischer Eigenschaften usw.

Identitätstheorie

Kausalargument

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Universelle und spezielle Naturwissenschaft

sind kausal wirksam. Wir erkennen diese Eigenschaften an und arbeiten die entsprechenden Einzelwissenschaften aus, weil es sich bei diesen Eigenschaften um etwas handelt, das kausal relevant für die Geschehnisse auf der Erde ist. Gemäß der These der globalen Supervenienz impliziert jedoch jede chemische, biologische, psychologische Veränderung usw. eine physikalische Veränderung; und gemäß dem Prinzip der kausalen Vollständigkeit des physikalischen Bereichs gibt es für jede physikalische Veränderung eine hinreichende physikalische Ursache, insofern es überhaupt eine Ursache gibt. Veranschaulichen wir uns die Situation anhand zweier Zeichnungen:

Gegeben seien zwei Vorkommnisse biologischer Eigenschaften b1 und b2. Nehmen wir an, dass diese biologischen Eigenschaftsvorkommnisse auf den physikalischen Eigenschaftsvorkommnissen p1 und p2 supervenieren, ohne mit diesen identisch zu sein. In der oberen Zeichnung wird angenommen, dass b1 dennoch kausal wirksam ist: b1 soll b2 verursachen. Damit b1 eine biologische Veränderung verursachen kann, muss es auch eine physikalische Veränderung verursachen, da gemäß dem Prinzip der Supervenienz jede biologische eine physikalische Veränderung impliziert. Da p2 die Supervenienz-Basis für b2 ist, muss b1 also auch p2 verursachen, um b2 bewirken zu können. Nun besitzt p2 jedoch eine hinreichende physikalische Ursache, nämlich p1; und indem p1 eine hinreichende Ursache für p2 ist, ist p1 dadurch auch eine hinreichende Bedingung für die Existenz von b2, gegeben dass b2 auf p2 superveniert. Wenn daher b1 und b2 nicht mit p1 und p2 identisch sind, ist die Situation in der oberen Zeichnung ununterscheidbar von der Situation in der unteren Zeichnung, in der b1 nichts bewirkt. Allgemein gesagt: Wenn Nicht-Identität besteht, dann gibt es für jede Wirkung, von der angenommen wird, dass sie

Ontologischer Reduktionismus

von einem Vorkommnis einer Eigenschaft einer Einzelwissenschaft verursacht wird, physikalische Bedingungen, die für sich allein hinreichend sind, um die Existenz der betreffenden Wirkung zu garantieren. Wenn mithin die Vorkommnisse chemischer, biologischer, psychologischer Eigenschaften usw. nicht mit Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften identisch sind, dann sind sie von Epiphänomenen nicht zu unterscheiden. Es gibt dann nichts, dass ihre kausale Wirksamkeit gewährleisten könnte. Die Schlussfolgerung dieser Überlegungen ist daher diese: Die Vorkommnisse chemischer, biologischer, psychologischer Eigenschaften usw. sind nur unter der Bedingung kausal wirksam, dass sie mit Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften identisch sind (siehe zu dieser Argumentation, die vor allem in der Philosophie des Geistes diskutiert wird, insbesondere [8–5], Kapitel 2, und [8–6], Kapitel 2, ebenso wie ausführlich [8–7], Kapitel 1–4). Betrachten wir diese Argumentation noch unter einem anderen Aspekt: Wir wissen, dass es nur die fundamentalen physikalischen Kräfte im Sinne von Wechselwirkungen gibt – gemäß unserem heutigen Kenntnisstand die starke und die schwache Wechselwirkung, der Elektromagnetismus und die Gravitation; nur die letzten beiden haben eine makroskopische Reichweite. Es gibt keine eigenen chemischen oder biologischen Kräfte – wie zum Beispiel eine Lebenskraft, Entelechie oder Elan vital, wie von manchen Philosophen zu Beginn des 20. Jahrhunderts angenommen wurde (siehe beispielsweise [7–8]). Die Kausalgesetze der Chemie und der Biologie beschreiben bestimmte Manifestationen der fundamentalen physikalischen Wechselwirkungen, insbesondere des Elektromagnetismus und auch der Gravitation. Wenn es eigenständige chemische oder biologische Kräfte gäbe, dann würden diese Wirkungen hervorbringen, welche auch Auswirkungen im Bereich der fundamentalen physikalischen Eigenschaften hätten. Man kann kein System chemisch oder biologisch verändern, ohne es dadurch auch physikalisch zu verändern. Wenn jedoch eigenständige chemische oder biologische Kräfte Auswirkungen im Bereich der fundamentalen physikalischen Eigenschaften hätten – Auswirkungen, die von den Wirkungen physikalischer Eigenschaften verschieden sind –, dann wären die physikalischen Theorien keine universellen Theorien, das heißt, Theorien, die sich auf alle Systeme und deren physikalische Eigenschaften beziehen. Insofern die physikalischen Theorien universell sind, schließen sie aus, dass es physikalische Eigenschaften geben könnte, die nicht-physikalische Ursachen, Gesetze oder Erklärungen erfordern. Die physikalischen Gesetze lassen nicht zu, dass nicht-physikalische Ursachen einen eigenständigen Beitrag zum Hervorbringen physikalischer Wirkungen leisten könnten. Selbst wenn die physikalischen Gesetze nicht deterministisch sein sollten, handelt es sich doch in jedem Fall um vollständige Wahrscheinlichkeitsgesetze: Diese Gesetze geben in jeder Situation für alle betreffenden physikalischen Eigenschaften (Ereignisse) Wahrscheinlichkeiten ihres Eintretens an. Wenn es nicht-physikalische Variablen geben würde, die wirksam sind, dann würde folgen, dass die physikalischen Gesetze falsch sind, weil sie dann in bestimmten Situationen nicht die korrekten Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten bestimmter physikalischer Ereignisse angeben würden (siehe [8–8] und [8–9]).

Nur physikalische Wechselwirkungen

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Universelle und spezielle Naturwissenschaft

Aus diesen Argumenten ergibt sich folgende Position: Alle Eigenschaftsvorkommnisse in der Welt sind entweder selbst Vorkommnisse fundamentaler physikalischer Eigenschaften oder mit Konfigurationen von Vorkommnissen fundamentaler physikalischer Eigenschaften identisch. Anders gesagt: Einige Konfigurationen von Vorkommnissen fundamentaler physikalischer Eigenschaften sind Vorkommnisse chemischer, biologischer, psychologischer Eigenschaften usw., weil sie qua Konfigurationen die Wirkungen hervorbringen, die für letztere Eigenschaften charakteristisch sind. Die Bereiche chemischer, biologischer, psychologischer Eigenschaften usw. sind somit innerhalb des Bereichs physikalischer Eigenschaften angesiedelt:

Ontologischer und epistemologischer Reduktionismus

Der ontologische Reduktionismus impliziert, dass alle Beschreibungen, die sich auf etwas in der Welt beziehen, auf Vorkommnisse fundamentaler physikalischer Eigenschaften und deren Konfigurationen referieren. Diese sind dasjenige, aufgrund dessen alle Beschreibungen und Theorien der Welt wahr sind, insofern sie wahr sind. Nichtsdestoweniger sind nicht alle Beschreibungen und Theorien in physikalischen Begriffen formuliert. Weil einige Konfigurationen von Vorkommnissen fundamentaler physikalischer Eigenschaften spezifische makroskopische Wirkungen hervorbringen, führt man chemische, geologische, biologische, neurobiologische, psychologische Theorien usw. ein, um diese Wirkungen zu erfassen. Abgesehen von der Chemie konzentrieren sich diese Theorien auf die Wirkungen, welche diese Konfigurationen hervorbringen und abstrahieren von deren mikrophysikalischer Zusammensetzung. Infolgedessen benutzen diese nicht die physikalischen Begriffe. Anders gesagt: Es besteht zwar keinerlei Grund für die Annahme, dass es spezifisch chemische, biologische, psychologische Seinsschichten etc. gibt (denn solche Seinsschichten wären Epiphänomene); aber es gibt zweifellos verschiedene Beschreibungsebenen – die chemische, biologische, psychologische Beschreibungsebene usw. –, die immer mehr von mikrophysikalischen Details abstrahieren (siehe [6–28], Kapitel 2–7 für eine detaillierte Argumentation in diesem Sinne). Die Bedeutung der Begriffe der Einzelwissenschaften ist verschieden von der Bedeutung physikalischer Begriffe. Es ist unerlässlich, zwischen dem Referenten eines Begriffs, einer Beschreibung oder einer Theorie und dessen

Ontologischer Reduktionismus

Bedeutung oder begrifflichem Inhalt zu unterscheiden (siehe dazu ausführlich [8–10], Teil 1). Die Bedeutung biologischer Begriffe zum Beispiel ist durch deren inferentielle Beziehungen innerhalb einer biologischen Theorie definiert, während deren Referent mit bestimmten Molekülkonfigurationen identisch ist. Um ein anderes Beispiel aus dem Alltag zu nehmen, Wasser ist chemisch mit H2O identisch, aber die Bedeutung der Begriffe „Wasser“ und „H2O“ ist verschieden. Man kann den Begriff „Wasser“ verstehen und intelligente Konversationen über Wasser führen, ohne über den Begriff „H2O“ oder überhaupt über irgendwelche chemischen Begriffe zu verfügen. Ontologischer Identität stehen somit verschiedene Beschreibungen gegenüber.

In dieser Zeichnung ist ein Vorkommnis einer biologischen Eigenschaft b1 mit einer Konfiguration von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften p1 identisch, lässt aber die beiden begrifflich verschiedenen Beschreibungen „B“ und „P“ zu. Nichtsdestoweniger folgt aus dem ontologischen Reduktionismus, dass es im Prinzip möglich ist, von allem, was es in der Welt gibt, eine Erklärung in physikalischen Begriffen zu geben; denn alles, was in der Welt existiert, ist mit Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften identisch. Wenn es Beschreibungen von etwas in der Welt gäbe, die sich prinzipiell nicht auf physikalische Beschreibungen reduzieren lassen, dann hätten diese Beschreibungen entweder keinen Erkenntniswert und könnten aus dem System der wissenschaftlichen Beschreibungen der Welt eliminiert werden (Konsequenz des Eliminativismus); oder diese Beschreibungen würden sich auf etwas in der Welt beziehen, das nicht mit etwas Physikalischem identisch ist, so dass der ontologische Reduktionismus falsch wäre (Konsequenz eines Eigenschafts-Dualismus mit der Folge, dass die Vorkommnisse von Eigenschaften, die nicht mit Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften identisch sind, nur Epiphänomene sein könnten). Der ontologische Reduktionismus impliziert auf diese Weise einen epistemologischen Reduktionismus. Das ist der Gesichtspunkt, unter dem heute die Frage nach der Reduzierbarkeit der Begriffe und Theorien der Einzelwissenschaften auf physikalische Begriffe und Theorien angegangen wird.

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Universelle und spezielle Naturwissenschaft

3. Theorien-Reduktion a) Die klassische Konzeption (Nagel) Brückenprinzipien

Reduktion verschieden von Elimination

Die klassische Konzeption der Theorien-Reduktion steht im Kontext des logischen Empirismus und geht insbesondere auf Ernest Nagel ([8–11], Kapitel 11) und Paul Oppenheim und Hilary Putnam [8–12] zurück. Um eine Theorie TE, sagen wir eine Theorie einer Einzelwissenschaft, auf eine andere Theorie TP, sagen wir eine physikalische Theorie, zurückzuführen, ist es notwendig und hinreichend (1) für jeden Begriff von TE einen koextensionalen Begriff in TP zu bilden – also einen Begriff, der sich auf genau die gleichen Entitäten in der Welt bezieht – und (2) die Gesetze von TE aus den Gesetzen von TP zu deduzieren. Um koextensionale Begriffe zu erreichen, sind Prinzipien erforderlich, die eine Verbindung zwischen den Vokabularen beider Theorien herstellen. Man spricht von Brückenprinzipien. Das Ziel ist, Bikonditionale der folgenden Art zu erreichen: Der Begriff A von TE ist zu dem Begriff B von TP äquivalent (A , B). Äquivalenz meint nicht, dass die Bedeutung der beiden Begriffe die gleiche ist. Der Begriff A von TE ist zu dem Begriff B von TP genau dann äquivalent, wenn gilt (1) dass der Begriff A von TE die gleiche Extension wie der Begriff B von TP hat, sich also auf genau die gleichen Entitäten in der Welt bezieht, und (2) diese Extensionsgleichheit nicht zufällig ist, sondern durch Gesetze innerhalb der beiden Theorien gestützt ist. So hat zum Beispiel der Alltagsbegriff „Wasser“ die gleiche Extension wie der chemische Begriff „H2O“, die Bedeutung beider Begriffe ist jedoch verschieden. Man findet jedoch in der Regel nicht einfach Begriffe in TP, welche die gleiche Extension wie die Begriffe von TE haben. Der Grund ist, dass TP normalerweise einen größeren Anwendungsbereich als TE hat, sich also nicht nur auf den Gegenstandsbereich bezieht, auf den TE zugeschnitten ist. Infolgedessen muss man versuchen, innerhalb von TP in dem Vokabular von TP Begriffe zu konstruieren, welche den gleichen Gegenstandsbereich wie die Begriffe von TE abdecken. Wenn man einmal koextensionale Begriffe beider Theorien gewonnen hat, so dass jedem Begriff von TE ein Begriff in TP zugeordnet werden kann, ist es erforderlich die Gesetze von TP – in dem Maße, wie diese Gesetze für den Gegenstandsbereich von TE relevant sind – in den Begriffen von TP zu formulieren, die mit den Begriffen von TE koextensional sind. Dann ist es möglich, die Gesetze von TE aus den Gesetzen von TP zu deduzieren. Auf diese Weise führt man die Reduktion von TE auf TP durch. Die Reduktion einer Theorie ist von ihrer Elimination zu unterscheiden. Man eliminiert eine falsche Theorie, indem man sie durch eine andere Theorie ersetzt, die man für einen besseren Kandidaten für eine wahre Theorie des betreffenden Gegenstandsbereichs hält. Wenn man hingegen eine Theorie TE auf eine andere Theorie TP reduziert, hält man TE für wahr oder approximativ wahr. Wenn TP wahr ist und TE aus TP deduziert werden kann, dann ist TE ebenfalls wahr. Die Motivation für eine Reduktion ist, das Verhältnis zwischen der Theorie TE, die sich auf einen begrenzten Gegenstandsbereich bezieht, und der Theorie TP, deren Gegenstandsbereich größer ist und den Anwendungsbereich von TE umfasst, aufzuklären. Die Reduktion von TE auf TP erlaubt es, TE als ein gültiges Element der Sicht der Natur zu bewahren.

Theorien-Reduktion

Reduktion kann also durchaus konservativ sein, indem sie eine systematische Beziehung zwischen verschiedenen Theorien herstellt. Nichtsdestoweniger schließt die Reduktion einer Theorie TE auf eine umfassendere Theorie TP in den meisten Fällen de facto eine Korrektur von TE im Lichte von TP ein: Aus TP deduziert man mit Hilfe von Brückenprinzipien in der Regel eine Theorie TE*, die zwar im Vokabular von TE formuliert ist, TE jedoch leicht korrigiert (siehe [8–13] ausführlich zu den formalen Beziehungen zwischen Theorien).

b) Verschiedene Klassifikationen und multiple Realisierbarkeit Kommen wir auf den ontologischen Reduktionismus zurück. Wenn alles in der Welt mit Vorkommnissen fundamentaler physikalischer Eigenschaften und deren Konfigurationen identisch ist, wieso ist dann die Physik nicht hinreichend für die Beschreibung und Erklärung alles dessen, was es in der Welt gibt? Wieso sollte man nicht alle anderen Theorien zugunsten der fundamentalen und universellen physikalischen Theorien eliminieren? Haben die Theorien der Einzelwissenschaften nur einen instrumentellen Wert, indem sich aus ihnen in vielen Fällen einfacher Voraussagen gewinnen lassen als aus den fundamentalen physikalischen Theorien, so dass Erstere in vielen Bereichen für alle praktischen Zwecke der Anwendung genügen? Oder haben diese auch einen Erkenntniswert, der nicht durch den der fundamentalen und universellen physikalischen Theorien ersetzt werden kann? Die fundamentale Physik beschäftigt sich mit mikrophysikalischen Eigenschaften, die, wie erwähnt, im Prinzip an Punkten der Raumzeit auftreten können, und sie studiert die gesetzesartigen Beziehungen zwischen solchen Eigenschaften. Es ist innerhalb der fundamentalen Physik möglich, Konfigurationen mikrophysikalischer Eigenschaften zu betrachten – beispielsweise indem man Begriffe für Atome und dann für Moleküle einführt. Wasserstoff zum Beispiel ist definiert durch den Aufbau aus einem Atomkern mit einem Proton sowie einem Elektron; Sauerstoff im Grundzustand ist definiert durch den Aufbau aus einem Atomkern mit acht Protonen und acht Neutronen (selten neun oder zehn Neutronen) sowie acht Elektronen. Entsprechend ist dann das Wasser-Molekül (H2O) definiert durch seine Zusammensetzung aus zwei Wasserstoff-Atomen und einem Sauerstoff-Atom. Allgemein sind Moleküle durch ihre atomare Zusammensetzung und eine bestimmte räumliche Anordnung ihrer Bestandteile definiert. Infolgedessen ist es möglich, die Theorie der Moleküle – die Chemie – auf die fundamentale Physik zu reduzieren, die Atome und deren Bestandteile behandelt. Allgemein ist es auf diese Weise im Prinzip möglich, alle diejenigen einzelwissenschaftlichen Theorien auf fundamentale physikalische Theorien zurückzuführen, welche die Phänomene in ihrem Gegenstandsbereich gemäß deren mikrophysikalischer Zusammensetzung klassifizieren. Nichtsdestoweniger ist die Chemie deswegen nicht überflüssig. Während die fundamentale Physik die mikrophysikalischen Eigenschaften im Allgemeinen untersucht, konzentriert sich die Chemie auf diejenigen Konfigurationen mikrophysikalischer Eigenschaften – mit anderen Worten: diejenigen Moleküle –, welche für die kosmische Evolution relevant sind. Aus diesem Grund sind die chemischen Theorien unentbehrlich für eine vollständige

Chemie

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Universelle und spezielle Naturwissenschaft

Funktion

Multiple Realisierbarkeit

Sicht der Natur. Das Gleiche gilt beispielsweise auch für die Festkörperphysik. Der Einfachheit halber übergehe ich jedoch alle diejenigen physikalischen Theorien, die auf die Seite der Einzelwissenschaften statt auf die Seite der fundamentalen und universellen physikalischen Theorien gehören. Die chemischen Theorien sind in die Physik integriert, weil sie die Phänomene, auf die sie sich beziehen, gemäß deren mikrophysikalischer Zusammensetzung klassifizieren. Die Begriffe, die sie verwenden, sind durch die mikrophysikalische Zusammensetzung ihrer Referenten definiert. Es gibt jedoch auch wissenschaftliche Theorien, welche die Phänomene, auf die sie sich beziehen, nicht gemäß deren mikrophysikalischer Zusammensetzung klassifizieren. Viele Einzelwissenschaften klassifizieren die Phänomene in ihrem Gegenstandsbereich gemäß deren Funktion und abstrahieren dabei von deren mikrophysikalischer Zusammensetzung. Mit Funktion ist in diesem Zusammenhang eine kausale Rolle gemeint, die insbesondere durch bestimmte charakteristische Wirkungen definiert ist (vergleiche die Ausführungen zu biologischen Funktionen am Ende von Kapitel VII.1). Bestimmte Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften bringen diese Wirkungen hervor. Man sagt deshalb, dass solche Konfigurationen die betreffende Rolle realisieren. Für die einzelwissenschaftliche Klassifikation kommt es aber nur darauf an, dass die betreffenden Wirkungen unter Standardbedingungen hervorgebracht werden, was auch immer die physikalische Zusammensetzung der Konfigurationen ist, auf welche die einzelwissenschaftliche Beschreibung im jeweiligen Fall referiert. Um auf das Beispiel der Genetik zurückzukommen (siehe oben Kapitel VII.2), stark vereinfacht gesagt, ein Genotyp ist durch die kausale Rolle definiert, bestimmte phänotypische Wirkungen hervorzubringen. Seit der Entwicklung der Molekularbiologie wissen wir, dass bestimmte DNA-Sequenzen die entsprechenden phänotypischen Wirkungen hervorbringen und aus diesem Grund den betreffenden Genotyp realisieren. Ein und derselbe Genotyp kann jedoch durch verschiedene DNA-Sequenzen realisiert werden. Mit anderen Worten: Verschieden zusammengesetzte DNA-Sequenzen können unter bestimmten Standardbedingungen im Organismus und in dessen Umgebung alle darin übereinkommen, bestimmte phänotypische Wirkungen hervorzubringen und auf diese Weise alle trotz ihrer verschiedenen Zusammensetzung denselben Typ von Genen realisieren. Man spricht von multipler Realisation. Allgemein gesagt: Jeder funktionale Eigenschaftstyp einer Einzelwissenschaft ist multipel realisierbar durch Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften, die unter verschiedene physikalische Typen fallen, weil sie verschieden zusammengesetzt sind. Diese Konfigurationen unterscheiden sich vom physikalischen Standpunkt, weil sie verschieden zusammengesetzt sind. Sie kommen aber alle darin überein, unter bestimmten Standardbedingungen diejenigen Wirkungen hervorzubringen, welche einen bestimmten Eigenschaftstyp einer Einzelwissenschaft definieren. Es gibt somit zwei verschiedene Weisen, makroskopische Phänomene zu klassifizieren – gemäß deren mikrophysikalischer Zusammensetzung und gemäß deren Funktion im Sinne einer kausalen Rolle. Diese beiden Klassifikationsweisen können divergieren: Ein bestimmter Typ einer funktionalen

Theorien-Reduktion

Eigenschaft einer Einzelwissenschaft kann durch Konfigurationen physikalischer Eigenschaften verschiedener Typen realisiert werden, weil diese Konfigurationen sich in ihrer Zusammensetzung unterscheiden. Während die Physik und die Chemie die Phänomene in ihrem Gegenstandsbereich vorwiegend gemäß deren mikrophysikalischer Zusammensetzung klassifizieren, führen die meisten Einzelwissenschaften – in jedem Fall ab der Biologie auf dem Niveau der klassischen Genetik – Klassifikationen gemäß der charakteristischen Wirkungen der Phänomene im Sinne von deren Funktion (kausaler Rolle) durch. Multiple Realisierbarkeit stellt den zentralen Einwand gegen die klassische Konzeption der Theorie-Reduktion von Nagel dar (siehe insbesondere [8–14], [8–15] und [8–16]). Multiple Realisierbarkeit verhindert, dass man zu jedem Begriff A einer Theorie TE einer Einzelwissenschaft einen koextensionalen Begriff B einer physikalischen Theorie TP bilden kann. Im Gegenteil, wenn multiple Realisation vorliegt, ist der Begriff A von TE äquivalent zu einer offenen Disjunktion verschiedener Begriffe in TP, von jeden jeder einen möglichen Realisationstyp von A erfasst: (VIII.1)

Einwand gegen Theorie-Reduktion

A , B1 v B2 v B3 v B4 v …

Wenn man jedoch keine koextensionalen Begriffe bilden kann, dann ist es nicht möglich, die Gesetze der einzelwissenschaftlichen Theorie TE aus den Gesetzen einer physikalischen Theorie TP zu deduzieren.

c) Funktionale Reduktion Es gibt eine Konzeption von Reduktion, die auf die Theorien der Einzelwissenschaften zugeschnitten ist, welche die Phänomene in ihrem Gegenstandsbereich gemäß deren Funktion klassifizieren. Diese Konzeption geht auf Frank Ramsey zurück. Sie wurde insbesondere von David Lewis ausgearbeitet (siehe [8–17]) und von Jaegwon Kim (*1934) weiterentwickelt (siehe [8–6], Kapitel 4, insbesondere S. 101–102). Unter Bezugnahme auf Kim kann man die Konzeption funktionaler Reduktion durch die folgenden drei Schritte charakterisieren: 1) Funktionale Definition: Man definiert einen Begriff F einer Einzelwissenschaft durch eine Funktion im Sinne der charakteristischen Wirkungen der Gegenstände, die unter F fallen. 2) Suche nach Realisatoren: Man sucht nach Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften, welche die kausale Rolle, die F definiert, realisieren. Das Kriterium, um diese Konfigurationen zu entdecken, ist, dass diese die Wirkungen manifestieren, welche F charakterisieren – das heißt Wirkungen, die man in dem funktionalen Vokabular der betreffenden Einzelwissenschaft beschreiben kann. 3) Erklärung: Für jeden Fall einer solchen Konfiguration von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften zeigt man, wie die Beschreibung der betreffenden Konfiguration in physikalischem Vokabular erklärt, wieso die betreffende Konfiguration ein Fall von F ist. Mit anderen Worten: Man beschreibt physikalische Kausalketten (physikalische Mechanismen) und erklärt auf diese Weise, wie die Wirkungen, welche F charakterisieren, konkret hervorgebracht werden können.

Drei Schritte funktionaler Reduktion

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Universelle und spezielle Naturwissenschaft

Einseitige Konditionale

Kommen wir auf das Beispiel einer funktionalen Definition von Genen im Rahmen der klassischen Genetik zurück. Nehmen wir stark vereinfacht an, dass diese ein Gen für weiße Blüten funktional durch den phänotypischen Effekt der Produktion weißer Blüten bei bestimmten Pflanzenarten im Frühjahr definiert (Schritt 1). Man entdeckt bestimmte Konfigurationen von Vorkommnissen biochemischer oder physikalischer Eigenschaften, welche die Kausalbeziehungen, die das Gen für weiße Pflanzen definieren, realisieren, nämlich bestimmte DNA-Sequenzen, aufgrund derer die Pflanze im Frühjahr unter Standardbedingungen im Organismus und dessen Umgebung weiße Blüten manifestiert (Schritt 2). Die Beschreibung in biochemischen oder physikalischen Begriffen erklärt, wie die Pflanze aufgrund der betreffenden DNA-Sequenzen im Frühjahr weiße Blüten produziert (Schritt 3). Ferner besteht eine gesetzesartige Beziehung zwischen den betreffenden DNA-Sequenzen und der phänotypischen Wirkung, die den genannten Genotyp definiert: Jedes Vorkommnis einer DNA-Sequenz des gleichen Typs hat unter Standardbedingungen im Organismus und dessen Umgebung zur Folge, dass die Pflanze im Frühjahr weiße Blüten hervorbringt. Folglich besteht allgemein eine gesetzesartige Beziehung zwischen den physikalischen Begriffen, die Typen von Realisatoren funktionaler Eigenschaftstypen der Einzelwissenschaften beschreiben, und den betreffenden funktionalen Begriffen der Einzelwissenschaften. Sei P1 ein physikalischer Begriff, der sich auf Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften bezieht, die auf eine bestimmte Weise zusammengesetzt sind und die aufgrund der Art und Weise ihrer Zusammensetzung unter Standardbedingungen solche Wirkungen hervorbringen, dass diese Konfigurationen ebenfalls unter den funktionalen Begriff F einer Einzelwissenschaft fallen. In diesem Fall können wir die folgende gesetzesartige Verallgemeinerung formulieren: (VIII.2)

8x (P1x ! Fx)

In Worten: Alles dasjenige, was unter den Begriff P1 kommt, fällt ebenfalls unter den Begriff F. Die umgekehrte Konditionalaussage gilt jedoch nicht: (VIII.3)

non 8x (Fx ! P1x)

Der Grund ist, dass Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften, die aufgrund ihrer anderen Zusammensetzung nicht unter P1, sondern unter einen anderen physikalischen Begriff P2 kommen, ebenfalls als Ganze so beschaffen sein können, dass sie unter Standardbedingungen diejenigen Wirkungen hervorbringen, welche den Begriff F definieren: (VIII.4) Brückenprinzipien

8x (P2x ! Fx)

Obwohl die Konzeption funktionaler Reduktion von der klassischen Konzeption der Theorie-Reduktion verschieden ist, ist sie dennoch ebenfalls auf Brückenprinzipien angewiesen. In jedem Fall sind Prinzipien erforderlich, welche eine Verbindung zwischen den Begriffen einer physikalischen Theorie und den Begriffen einer einzelwissenschaftlichen Theorie – wie zum Beispiel biologischen Begriffen – aufbauen. Der Unterschied zwischen der klas-

Theorien-Reduktion

sischen Konzeption der Theorie-Reduktion und der Konzeption funktionaler Reduktion besteht darin, dass im letzteren Fall die Brückenprinzipien nicht stark genug sind, um Koextensionalität zwischen den Begriffen der verschiedenen Theorien zu erreichen. Multiple Realisation verhindert dieses. Statt bikonditionaler Aussagen erreicht man nur einfache Konditionalaussagen, die einen physikalischen Begriff mit einem Begriff einer einzelwissenschaftlichen Theorie verbinden. Die Formeln VIII.2 und VIII.4 drücken Brückenprinzipien in diesem schwachen Sinne aus. Kein Versuch, der eine Reduktion einer Theorie TE einer Einzelwissenschaft auf eine physikalische Theorie TP – im Unterschied zu einer Elimination von TE zugunsten von TP – sein soll, kommt ohne Brückenprinzipien aus (siehe insbesondere [8–18] und [8–19]). Was die funktionale Reduktion betrifft, so sind die funktionalen Definitionen der Begriffe der Einzelwissenschaften in einem Vokabular formuliert, das nicht dasjenige ist, welches man benutzt, um die Realisatoren zu beschreiben. Die klassische Genetik beispielsweise spricht in Begriffen wie „Genotyp“ und „Phänotyp“, die Molekularbiologie hingegen in Begriffen wie „DNA-Sequenz“. Um die Realisatoren zu bestimmen, ist es daher unerlässlich, eine Brücke zwischen beiden Vokabularen zu schlagen. Diese Brücke baut man durch das Kriterium der Kausalität auf: Man entdeckt, dass bestimmte Ursachen, die in molekularbiologischen oder physikalischen Begriffen beschrieben werden, Wirkungen hervorbringen, die nicht nur im molekularbiologischen oder physikalischen Vokabular beschrieben werden können, sondern auch im funktionalen Vokabular zum Beispiel der klassischen Genetik. Wenn man über eine Verbindung zwischen den beiden Vokabularen verfügt in Form einseitiger Konditionalaussagen wie VIII.2 und VIII.4, dann bahnt das Konzept der Realisation den Weg für eine Erklärung: Weshalb gibt es zum Beispiel Vorkommnisse biologischer Eigenschaften in der Welt? Diese gibt es deshalb, weil sich Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften gebildet haben, die als Ganze (das heißt qua Konfigurationen) die Wirkungen haben, welche charakteristisch für bestimmte biologische, funktionale Eigenschaften sind. Die Konzeption funktionaler Reduktion zeigt, dass man im Prinzip jedes Vorkommnis einer Eigenschaft einer Einzelwissenschaft in physikalischen Begriffen beschreiben und erklären kann, selbst wenn multiple Realisierbarkeit eine Reduktion von Theorien der Einzelwissenschaften auf physikalische Theorien verhindert (siehe die Konzeption reduktiver Erklärungen von [8–1], S. 42–51, und [8–6], Kapitel 4).

Erklärung

d) Von funktionaler Reduktion zu Theorien-Reduktion Die Konzeption funktionaler Reduktion geht weiter, als lediglich eine reduktive Erklärung für jeden einzelnen Fall der korrekten Anwendung eines Begriffs einer Einzelwissenschaft auf ein Eigenschaftsvorkommnis in der Welt zu bieten. Wie oben erwähnt wurde, basiert diese Konzeption auf gesetzesartigen Verallgemeinerungen in Form einseitiger Konditionalaussagen. Diese Konditionalaussagen verbinden jeden physikalischen Begriff, der sich auf Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften bezieht, welche eine funktionale Eigenschaft eines bestimmten Typs einer Einzelwissenschaft realisieren, mit einem funktionalen Begriff einer Einzel-

Lokale Reduktionen

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Universelle und spezielle Naturwissenschaft

Eliminativistische Konsequenz

wissenschaft (siehe oben die Formeln VIII.2 und VIII.4). Auf dieser Grundlage schlagen Lewis und Kim so genannte lokale Reduktionen vor (siehe [8–20] sowie [8–5], S. 93–95, und [8–6], S. 25): In allen Fällen, in denen die Funktion F, die einen Begriff einer Einzelwissenschaft definiert – wie zum Beispiel die Funktion, die den Begriff eines Gens für weiße Blüten im Vokabular der klassischen Genetik definiert –, durch eine Konfiguration von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften des Typs P1 realisiert wird, ist es möglich, die einzelwissenschaftliche Theorie, die mit dem Begriff F arbeitet, auf die physikalische Theorie zu reduzieren, in die der Begriff P1 eingebettet ist. In allen Fällen, in denen die Funktion F, die einen Begriff einer Einzelwissenschaft definiert, durch eine Konfiguration von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften des Typs P2 realisiert wird, ist es möglich, die einzelwissenschaftliche Theorie, die mit dem Begriff F arbeitet, auf die physikalische Theorie zu reduzieren, in die der Begriff P2 eingebettet ist. Man erreicht auf diese Weise lokale Reduktionen in dem Sinne, dass die einzelwissenschaftliche Theorie, die F enthält, für den Gegenstandsbereich, in dem F durch physikalische Konfigurationen des Typs P1 realisiert wird, auf die physikalische Theorie reduziert wird, die P1 enthält usw. Diese lokale Reduktion wird insbesondere im Zusammenhang mit dem Thema der Reduktion der Psychologie auf die Neurobiologie diskutiert. Nehmen wir an, dass Schmerz ein psychologischer und funktionaler Eigenschaftstyp ist. Nehmen wir ferner an, dass Schmerzen bei Menschen neurobiologisch einheitlich durch das Feuern von C-Fasern realisiert sind. Bei Kraken seien Schmerzen hingegen neurobiologisch einheitlich durch das Feuern von G-Fasern realisiert. Wenn so etwas der Fall ist, dann kann man die psychologische Theorie des Schmerzes im Falle der Spezies Mensch auf die neurobiologische Theorie von C-Fasern reduzieren und im Falle der Spezies Krake auf die neurobiologische Theorie von G-Fasern. Man erreicht auf diese Weise eine lokale Reduktion im Sinne einer Spezies-spezifischen Reduktion. Falls auch innerhalb einer Spezies multiple Realisierbarkeit vorliegen sollte, muss man die Reduktion weiter auf kleinere Gruppen einschränken. Man gelangt auf diese Weise jedoch zu keiner Theorie-Reduktion; denn man erreicht keine physikalischen Begriffe, welche die gleiche Extension wie die funktionalen Begriffe der Einzelwissenschaften haben. Die Strategie lokaler Reduktionen erlaubt es beispielsweise nicht, die Psychologie auf eine neurobiologische Theorie zu reduzieren oder die klassische Genetik auf die Molekularbiologie zu reduzieren, weil keine molekularbiologischen Begriffe erreicht werden, welche mit den Gen-Begriffen der klassischen Genetik koextensional sind. Ferner berücksichtigt die Strategie lokaler Reduktion nicht die Einheit der Phänomene, die eine einzelwissenschaftlichen Theorie unter einem einzigen Begriff zusammenfasst (vergleiche das Zitat von Sober oben in Kapitel VII.1). Alles dasjenige in der Welt, das unter einen funktionalen Begriff F einer Einzelwissenschaft fällt, hat etwas Wichtiges gemeinsam. Alles dieses bringt hervorstechende Wirkungen eines bestimmten Typs unter Standardbedingungen hervor, obwohl es physikalisch verschieden zusammengesetzt ist. Diese Einheit geht verloren, wenn man Begriffe wie „F in P1“, „F in P2“ usw. einführt. Dieses sind nicht rein funktionale Begriffe, sondern physikalisch-funktionale Mischbegriffe. Sie relativieren das, was unter dem Gesichtspunkt der betreffenden Einzelwissenschaft

Theorien-Reduktion

ein einheitliches Muster (Pattern) ist, auf verschiedene physikalische Konfigurationen, in Bezug auf die F nunmehr (F in P1, F in P2 usw.) jeweils etwas anderes besagt in Abhängigkeit von dem betrachteten Konfigurationstyp. In dieser Konzeption bleibt keine wissenschaftliche Bedeutung für den funktionalen Begriff F als solchen mehr erhalten. Dieser Begriff tritt in keinen Gesetzen und Erklärungen mehr auf. Die Konzeption lokaler Reduktion läuft daher auf eine eliminativistische Einstellung in Bezug auf die homogenen funktionalen Muster hinaus, welche die Einzelwissenschaften thematisieren (siehe [8–21]). Die Konzeption lokaler Reduktion nähert sich auf diese Weise einer Strömung an, die unter dem Namen „new wave reductionism“ bekannt ist. Um die Theorien der Einzelwissenschaften auf physikalische Theorien zu reduzieren, sucht diese Strömung ebenfalls in physikalischem Vokabular abgrenzbare Gruppen auf, in Bezug auf welche die Referenz der Begriffe der betreffenden einzelwissenschaftlichen Theorie physikalisch einheitlich ist. Die Reduktion besteht dann in Folgendem: Man konstruiert im Vokabular einer umfassenden physikalischen Theorie ein Abbild der fraglichen Theorie der betreffenden Einzelwissenschaft, so dass man deren Begriffe, bezogen auf die jeweilige Gruppe, physikalischen Begriffen eindeutig zuordnen kann. Diese physikalisch-funktionalen Mischbegriffe kann man dann zugunsten der koextensionalen physikalischen Begriffe der abbildenden Theorie eliminieren; denn sie besagen nichts, das man nicht auch im physikalischen Vokabular allein ausdrücken kann. Auf diese Weise wird eine einzige Theorie der Einzelwissenschaften durch mehrere, jeweils auf eine bestimmte Gruppe bezogene physikalische Theorien, die im Vokabular einer umfassenden physikalischen Theorie konstruiert werden, ersetzt (siehe bereits [8–22], § 3, und dann [8–23] und [8–24]; für eine Kritik siehe [8–18]). Wir stehen damit vor einem Dilemma: Auf der einen Seite gibt es ein starkes Argument für den ontologischen Reduktionismus (das kausale Argument, dargestellt in Kapitel VIII.2) und damit auch für den epistemologischen Reduktionismus; angesichts der multiplen Realisierbarkeit scheint dieser Reduktionismus jedoch auf eine eliminativistische Konsequenz in Bezug auf den wissenschaftlichen Wert der Beschreibungen, Gesetze und Theorien der Einzelwissenschaften hinauszulaufen – diese werden einfach durch Beschreibungen, Gesetze und Theorien ersetzt, die innerhalb der Physik konstruiert werden. Wenn man hingegen auf der anderen Seite den wissenschaftlichen Wert der Einzelwissenschaften verteidigen möchte, indem man eine anti-reduktionistische Schlussfolgerung aus dem Argument der multiplen Realisierbarkeit zieht, dann läuft man in die Sackgasse der Konsequenz hinein, dass die Phänomene, von denen die Einzelwissenschaften handeln, nicht kausal wirksam sein können. Dieses Dilemma von Eliminativismus und Epiphänomenalismus habe ich schon oben am Ende von Kapitel VIII.2 angedeutet. Um es zu überwinden, muss man die Konzeption der funktionalen Reduktion so weiterentwickeln, dass sie nicht durch lokale Reduktionen de facto auf einen Eliminativismus in Bezug auf die Theorien der Einzelwissenschaften hinausläuft, sondern zu einer Konzeption konservativer Theorien-Reduktion ausgebaut wird. Anders ausgedrückt: Man muss die Konzeption funktionaler Reduktion mit der klassischen Konzeption der Theorie-Reduktion (Nagel) verbinden, indem man

New wave reductionism

Dilemma von Eliminativismus und Epiphänomenalismus

Funktionale Subtypen

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Universelle und spezielle Naturwissenschaft

trotz multipler Realisation physikalische und funktionale Begriffe der Einzelwissenschaften erreicht, die miteinander koextensional sind. Um die funktionale Reduktion zu einer Theorie-Reduktion auszubauen, kann man sich auf folgende Überlegungen stützen (siehe zum Folgenden [5–70], Kapitel 5): 1) Wenn dasjenige Seiende, auf das sich ein funktionaler Begriff F einer Einzelwissenschaft bezieht, unter verschiedene physikalische Begriffe P1, P2, P3 usw. fällt, dann gibt es verschiedene Weisen, die Wirkungen, die für F charakteristisch sind, hervorzubringen. Jeder physikalische Begriff P1, P2, P3 usw. beschreibt einen Realisationstyp von F und bezieht sich dadurch auf eine bestimmte Weise, diese Wirkungen hervorzubringen. 2) Die verschiedenen Weisen, die für F charakteristischen Wirkungen hervorzubringen, beinhalten jeweils spezifische Nebenwirkungen. Für jede dieser Nebenwirkungen ist es möglich, sich eine Umwelt vorzustellen, in der diese Wirkung für die Funktion, die F definiert, relevant ist. Mit anderen Worten: Unterschiede in der physikalischen Zusammensetzung der Realisatoren von F, aufgrund derer es verschiedene Typen von Realisatoren von F gibt, implizieren Unterschiede in der Produktionsweise der Wirkungen, die für F charakteristisch sind. Diese Unterschiede gehen daher mit Nebenwirkungen einher, die unter bestimmten Umständen für die Wirkungen, die F definieren, relevant sein können. 3) Man kann diese Nebenwirkungen, die für jeden Realisationstypen von F spezifisch sind, berücksichtigen, indem man die funktionale Definition von F präzisiert: Man kann Subtypen von F bilden (siehe auch [8–25], S. 201–204). Jeder dieser Subtypen F1, F2, F3 usw. enthält die Definition von F. Diese Subtypen unterscheiden sich darin, dass sie jeweils die spezifischen Nebenwirkungen berücksichtigen, durch welche sich die verschiedenen Typen von Realisatoren von F unterscheiden. Es ist im Prinzip möglich, für jeden funktionalen Typ F und jeden physikalischen Realisationstyp Pn von F einen funktionalen Subtyp Fn zu konzipieren, der die gleiche Extension wie Pn hat. Diese funktionalen Subtypen sind folglich selbst nicht mehr multipel realisierbar. Multiple Realisation verhindert demzufolge nicht, dass man im Vokabular der Einzelwissenschaften funktionale Begriffe bilden kann, die mit physikalischen Begriffen koextensional sind. Wenn F ein funktionaler Typ ist, der multiple Realisationen zulässt, dann ist die Definition von F immer in einem gewissen Sinne vage. Es ist immer möglich, die Beschreibung der charakteristischen Wirkungen von F weiter zu präzisieren, indem man insbesondere die verschiedenen spezifischen Nebenwirkungen berücksichtigt, welche die verschiedenen Realisatoren von F unter bestimmten Umweltbedingungen systematisch produzieren. Auf diese Weise kann man Subtypen F1, F2, F3 usw. einführen, welche die gleiche Extension wie die physikalischen Realisationstypen P1, P2, P3 usw. haben. Kommen wir auf das Beispiel eines Gens für weiße Blüten zurück und nehmen wir an, dass es zwei verschiedene molekularbiologische Realisationstypen dieses Typs eines Gens gibt, die sich durch ihre molekulare Zusammensetzung unterscheiden, sagen wir DNA-Sequenzen des Typs P1 und

Theorien-Reduktion

DNA-Sequenzen des Typs P2. Nehmen wir an, dass DNA-Sequenzen des Typs P1 über einen starken Widerstand gegen ultraviolette Strahlung verfügen, DNA-Sequenzen des Typs P2 hingegen nur über einen schwachen Widerstand gegen ultraviolette Strahlung verfügen. In Umwelten mit einem hohen Grad an ultravioletter Strahlung bringen DNA-Sequenzen des Typs P1 den phänotypischen Effekt, der den betreffenden Typ eines Gens charakterisiert (weiße Blüten), schneller hervor als DNA-Sequenzen des Typs P2. Organismen mit DNA-Sequenzen des Typs P2 müssen mehr Zeit und Energie aufwenden, um die Schäden durch ultraviolette Strahlung zu reparieren als Organismen mit DNA-Sequenzen des Typs P1. In solchen Umwelten haben daher Organismen mit DNA-Sequenzen des Typs P1 einen Selektionsvorteil gegenüber Organismen mit DNA-Sequenzen des Typs P2. Auf diese Weise ist es möglich, zwischen zwei verschiedenen Subtypen des Typs eines Gens für weiße Blüten zu unterscheiden. Jeder dieser Subtypen ist mit einem Realisationstyp des Typs eines Gens für weiße Blüten koextensional (dieses Beispiel ist stark vereinfacht; für ausführliche Darstellungen mit Bezugnahme auf die biologische Fachliteratur siehe [7–48], Kapitel VII, und [5–70], Kapitel 4.3). Der zentrale Grund, weshalb die funktionalen Typen der Biologie multiple Realisationen zulassen, ist die Selektion (siehe [8–26], Kapitel 2). Die Selektion berücksichtigt nicht die physikalische Zusammensetzung ihrer Objekte. Sie bezieht sich auf makroskopische Wirkungen, die für das Überleben und die Reproduktion der betreffenden Organismen (oder Gene oder Populationen) relevant sind, was auch immer deren molekulare Zusammensetzung ist. Nichtsdestoweniger führen Unterschiede in der molekularen Zusammensetzung zu phänotypischen Unterschieden. Für jeden phänotypischen Unterschied kann man sich Umweltbedingungen vorstellen, unter denen der betreffende phänotypische Unterschied selektionsrelevant ist (siehe [8–27], S. 32). Infolgedessen ist es möglich, für jeden Unterschied in der molekularen Zusammensetzung, aufgrund dessen unterschiedliche Realisationstypen bestehen, einen funktionalen Unterschied zu konzipieren, den man mittels funktionaler Subtypen im Vokabular der betreffenden Einzelwissenschaft ausdrücken kann. Auf dieser Grundlage kann man die funktionale Reduktion in folgender Weise zu einer Theorie-Reduktion ausbauen: 1) Innerhalb einer fundamentalen und universellen physikalischen Theorie P bildet man die Begriffe P1, P2, P3 usw., welche die verschiedenen Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften erfassen, die alle den gleichen funktionalen Typ F einer Einzelwissenschaft realisieren. Diese physikalischen Begriffe P1, P2, P3 usw. sind somit in die umfassende physikalische Theorie P integriert. 2) Man präzisiert F, indem man genauere funktionale Begriffe F1, F2, F3 usw. bildet. Die Begriffe F1, F2, F3 usw. sind mit den Begriffen P1, P2, P3 usw. nomologisch koextensional (obwohl ihre Bedeutung verschieden ist). Auf diese Weise etabliert man eine bikonditionale Verbindung zwischen funktionalen Begriffen der Einzelwissenschaften und physikalischen Begriffen. 3) Man reduziert F auf P durch F1, F2, F3 usw. und P1, P2, P3 usw. Von P ausgehend bildet man P1, P2, P3 usw. innerhalb von P, deduziert F1, F2, F3 usw.

Selektion als Grund für multiple Realisation

Theorie-Reduktion durch Subtypen

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Universelle und spezielle Naturwissenschaft

aus P1, P2, P3 usw. gegeben die nomologische Koextension und erreicht schließlich F, indem man von den Nebenwirkungen abstrahiert, die zwischen F1, F2, F3 usw. unterscheiden:

Konservative Reduktion

Diese Konzeption erlaubt es nicht, physikalische Begriffe zu bilden, die mit funktionalen Begriffen F der Einzelwissenschaften koextensional sind. Die multiple Realisierbarkeit verhindert dieses. Nichtsdestoweniger kann man präzisere funktionale Begriffe als F im Vokabular der Einzelwissenschaften formulieren, die mit physikalischen Begriffen koextensional sind. Auf diese Weise gewinnt man Brückenprinzipien in Form bikonditionaler Aussagen, die jeweils einen funktionalen Subtyp mit genau einem physikalischen Realisationstyp verbinden. Damit ist die notwendige und hinreichende Bedingung für eine Theorie-Reduktion erfüllt. Wenn man einmal über solche bikonditionalen Aussagen verfügt, dann kann man die Gesetze von P, insofern diese für die Realisatoren von F relevant sind, mit den Begriffen P1, P2, P3 usw. formulieren. Ferner kann man die Gesetze in Bezug auf F in Begriffen der Subtypen F1, F2, F3 usw. formulieren. Mit diesen Hilfsmitteln kann man die Gesetze in Bezug auf F aus den Gesetzen von P deduzieren. Diese Reduktion ist konservativ. Sie berücksichtigt die Einheit des funktionalen Typs F. Die Subtypen F1, F2, F3 usw. unterscheiden sich lediglich darin, dass sie funktionale Nebenwirkungen berücksichtigen, welche nicht den Kern der funktionalen Rolle, die F definiert, betreffen. Im Unterschied zur oben erwähnten Konzeption lokaler Reduktion handelt es sich bei diesen Subtypen um funktionale Begriffe, die alle auf die gleiche Weise die Definition des funktionalen Typs F enthalten. Die funktionalen Begriffe, Gesetze und Theorien der Einzelwissenschaften sind in dem Sinne nicht-physikalische Begriffe, Gesetze und Theorien, dass es keine physikalischen Begriffe, Gesetze und Theorien gibt, die mit ihnen koextensional sind. Die Begriffe, Gesetze und Theorien der fundamentalen Physik sind zu generell, da sie sich auf alles in der Welt beziehen; und die Begriffe und nomologischen Verallgemeinerungen, welche die Zusammensetzung der makroskopischen Objekte beschreiben, auf die sich die Einzelwissenschaften beziehen (die Begriffe P1, P2, P3 usw.), sind zu restriktiv. Nichtsdestoweniger handelt es sich hierbei lediglich um eine Teilung der

Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen

wissenschaftlichen Arbeit. Wenn man komplexe makroskopische Objekte untersucht, wie zum Beispiel Gene oder ganze Organismen, konzentrieren sich die physikalischen Begriffe auf deren Zusammensetzung. Aufgrund der Selektion gibt es jedoch hervorstechende kausale Ähnlichkeiten in den Wirkungen, welche diese Objekte als Ganze hervorbringen, obwohl sie sich in ihrer physikalischen Zusammensetzung unterscheiden. Die Begriffe, welche diese hervorstechenden kausalen Ähnlichkeiten erfassen, werden aus diesem Grund nicht als physikalische Begriffe angesehen, sondern als funktionale Begriffe der einen oder anderen Einzelwissenschaft. Da es auf der Erde kontingenterweise viele Umwelten gibt, in denen die Selektion von Unterschieden von der molekularen Zusammensetzung der betreffenden Objekte abstrahiert – in dem Sinne, dass sie sich nur auf bestimmte Wirkungen bezieht, welche die betreffenden Objekte als Ganze hervorbringen –, besitzen die funktionalen Begriffe der Einzelwissenschaften eine wissenschaftliche Qualität, die nicht durch physikalische Begriffe ersetzt werden kann: Diese funktionalen Begriffe erfassen Muster (patterns), die objektiv in der Welt bestehen (vergleiche das Zitat von Sober oben in Kapitel VII.1). Nichtsdestoweniger ist es prinzipiell möglich, diese Begriffe, Gesetze und Theorien auf dem genannten Weg in die Physik zu integrieren und aus ihr zu deduzieren, so dass das Dilemma von Eliminativismus und Epiphänomenalismus vermieden werden kann.

4. Zusammenfassung, Lektürehinweise, Fragen und Übungen Zusammenfassung Gemäß der These globaler Supervenienz ist ein mikrophysikalisches Duplikat der realen Welt ein Duplikat der realen Welt schlechthin. Diese These wird durch die Tatsachen begründet, dass alle Systeme in der Welt ausschließlich aus mikrophysikalischen Systemen zusammengesetzt sind und sich aus diesen entwickelt haben. Die Theorien, welche die mikrophysikalischen Systeme behandeln, sind fundamentale und universelle Theorien. Sie sind kausal, nomologisch und explanatorisch vollständig. Die Prinzipien der globalen Supervenienz und der kausalen Vollständigkeit der Physik sind das zentrale Argument für den ontologischen Reduktionismus, gemäß dem alles, was in der Welt existiert, entweder selbst ein Vorkommnis einer mikrophysikalischen Eigenschaft ist oder mit einer Konfiguration solcher Vorkommnisse identisch ist. Der ontologische impliziert einen epistemologischen Reduktionismus. Die multiple Realisierbarkeit der funktionalen Typen der Einzelwissenschaften durch verschieden zusammengesetzte Konfigurationen von Vorkommnissen physikalischer Eigenschaften steht der Theorie-Reduktion entgegen, weil sie verhindert, dass man physikalische Begriffe bilden kann, die mit den funktionalen Begriffen der Einzelwissenschaften koextensional sind. Die Konzeption funktionaler Reduktion ermöglicht es, eine physikalische Erklärung für jedes einzelne Vorkommnis in der Welt zu geben, das unter einen funktionalen Begriff einer Einzelwissenschaft fällt. Mittels funktionaler Subtypen ist es möglich, die Konzeption funktionaler Reduktion zu einer konservativen Theorie-Reduktion auszubauen.

Lektürehinweise – zur Vollständigkeit der Physik: [8–4], Anhang

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Universelle und spezielle Naturwissenschaft – – – –

zum ontologischen Reduktionismus: [8–6], Kapitel 2 zur klassischen Konzeption der Theorie-Reduktion: [8–11], Kapitel 11 zur multiplen Realisierbarkeit: [8–15] zur Theorie-Reduktion durch funktionale Subtypen: [5–70], Kapitel 5

Fragen und Übungen – – – – – – – – – – – – – – – – –

Welches sind die Argumente für das Prinzip der globalen Supervenienz? Impliziert dieses Prinzip, dass die Welt deterministisch ist? In welchem Sinne ist die Physik vollständig? Erwägen Sie die Konsequenzen der Prinzipien der globalen Supervenienz und der kausalen Vollständigkeit der Physik für die kausale Wirksamkeit biologischer Eigenschaften! Erörtern Sie das Verhältnis von ontologischem und epistemologischem Reduktionismus! Wieso basiert Nagels Konzeption der Theorie-Reduktion auf Brückenprinzipien? Was ist der Unterschied zwischen der Reduktion und der Elimination einer Theorie? In welchem Sinne kann man vertreten, dass die Chemie auf die Physik reduzierbar ist? Welches Problem stellt sich auf dem Beschreibungsniveau der Biologie? Was besagt multiple Realisierbarkeit? Wie trägt die Konzeption funktionaler Reduktion der multiplen Realisierbarkeit Rechnung? Erötern Sie die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen Nagels Konzeption der Theorie-Reduktion und der Konzeption funktionaler Reduktion! Was besagt die Idee lokaler Reduktion? Arbeiten Sie aus, inwiefern die Überlegungen zu multipler Realisation in ein Dilemma von Epiphänomenalismus und Eliminativismus hineinzulaufen drohen! Was besagt die Idee funktionaler Subtypen? Inwiefern kann man mittels dieser Idee die Konzeption funktionaler Reduktion zu einer Theorie-Reduktion ausweiten? Erötern Sie die Relevanz der natürlichen Selektion für die multiple Realisierbarkeit biologischer, funktionaler Typen und für die wissenschaftliche Qualität biologischer Begriffe, Gesetze und Theorien!

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Personenregister Albert, David 80 Aristoteles 10, 13–18, 51 Aspect, Alain 64 Bacon, Francis 17 Bell, John 62–68, 77, 82–83, 97 Bennett, Jonathan 26–28 Blumenberg, Hans 16 Bohm, David 56, 66–68, 82, 103 Bohr, Niels 47 Clarke, Samuel 21–22, 28 Darwin, Charles 109, 119 Dawkins, Richard 112 Demokrit 14, 21 Descartes, René 10–11, 13, 15–19, 22, 24–25, 27–28, 38, 42–43, 100 Dowe, Phil 96 Einstein, Albert 30–31, 33–39, 43, 47–51, 56, 58–63, 65, 68, 70, 73, 82, 84 Espagnat, Bernard de 57 Everett, Hugh 74 Ghirardi, GianCarlo 76, 103 Heisenberg, Werner 47, 51–52, 82 Heraklit 15 Hobbes, Thomas 17 Jackson, Frank 92–94, 100–102 Jarrett, Jon 63

Leibniz, Gottfried Wilhelm 10–11, 19, 21–23, 26, 28, 38–41, 43–45, 70 Lewis, David 35, 51, 85–89, 91, 93, 107, 121, 133, 136 Mackie, John 90, 96 Maxwell, James Clerk 31 Michelson 31 Morley 31 Nagel, Ernest 130, 133, 137, 142 Neumann, Johann von 71–76 Newton, Isaac 10–11, 19–22, 24, 28, 31, 37–39, 41, 45, 50, 122, 124–125 Oppenheim, Paul 130 Planck, Max 52 Platon 87 Putnam, Hilary 130 Quine, Willard Van Orman 35 Ramsey, Frank 87–88, 107, 133 Rheinberger, Hans-Jörg 116 Rimini, Alberto 76, 103 Russell, Bertrand 35, 103, 106 Salmon, Wesley C. 96 Schrödinger, Erwin 71, 73–76, 80–81, 103 Shimony, Abner 65 Sober, Elliot 113, 118–119, 136, 141 Spinoza, Baruch de 11, 19, 24–28, 38, 42–43, 45 Volder, Burcher de 22–23

Kant, Immanuel 21 Kim, Jaegwon 133, 136 Kistler, Max 96

Weber, Tullio 76, 103 Wheeler, John A. 41–43, 45–46, 100, 107 Williams, George C. 112

Sachregister Adaptation, Adaptationismus, adaptiv 110–112, 114, 119 ätiologische Theorie biologischer Funktionen 114–115, 119 Anisotropie der Zeit 36 Arten – biologische 16, 108–111, 113–114, 118–119 – natürliche 71 Atomismus 10, 19, 25, 28, 68–69, 85, 99 Bell-Experimente, Bells Theorem 62–68, 77, 82–83, 97 Bescheidenheit 92–94, 99–102, 106–107 Blockuniversum 33–37, 43–45 Brückenprinzipien 130–131, 134–135, 140, 142 Ceteris-paribus(-Klausel) 123 continuants 35 Dekohärenz, -theorie 72–75, 77, 80–83, 105 Determinismus 16, 20, 34, 40, 45, 66, 71, 81, 83, 89, 98–99, 110, 116, 121, 124, 127–128, 142 Diesheit, primitive 60, 69–70 Ding im Unterschied zu Ereignis 35, 45 Disposition, dispositional 66, 84, 95, 103–106, 112, 115–116, 119 Dynamik 31, 38, 40, 71–78, 80–81, 103–105, 121 Eigenschaft – funktionale 115, 118–119, 132–142 – geometrische 42–45, 100 – inkompatible 51–55, 70, 82 – intrinsische 15–16, 23–24, 47, 49, 51, 59–60, 63, 68–70, 82, 84–86, 92–95, 99–102, 106 – kategoriale 84–87, 89, 92–97, 99–103, 106–107 – kausale 22, 40, 84–85, 90–107, 115–119, 121 – zustands(un)abhängige 49, 53–54, 55, 57–59, 61–63, 66, 69, 73–75, 82 Einstein-Podolsky-Rosen-Korrelationen 56, 58–61, 65, 97 Einzelwissenschaften 11, 115, 120, 122–123, 125–141 Elimination, Eliminativismus, eliminieren 26, 42, 129–131, 135–137, 141–142 Empirismus, empiristisch 103, 106, 130 Entropie 78–80 Epiphänomen, Epiphänomenalismus 127–129, 137, 141–142 Ereignis 30–32, 34–38, 44–45

– im Unterschied zu Ding 35, 45 Evolution – -sbiologie 108–111, 113, 118–119 – -stheorie 16, 110, 119 Feld – klassisches 20, 23, 26–27, 29, 31, 37–45, 48–51, 62, 70, 73, 85, 95, 125 – metrisches 38–41, 43–45, 70, 73, 84–85, 100–101, 105–106 – quanten 47, 60–62, 67, 83, 100, 105–106, 123, 125 Fernwirkung 20, 28, 37, 50, 67–68, 82 Fitness 111–113, 115–116, 119 Form 13–14, 16 Funktion, funktional 132–142 – biologische 108–116, 118–119 Gen, Genetik 108–110, 112, 115–119, 121, 132–136 Geometrodynamik 41–46, 100, 107 Gesetze, Naturgesetze 14, 16–17, 20, 34, 48, 78–82, 84, 86–94, 96–98, 100, 102, 104–110, 115, 122–125, 127, 130–137, 140–142 Gravitation, gravitationell 20, 24, 37–45, 50, 70, 73, 84–85, 95, 97, 101, 105–106, 108, 122–123, 125, 127 Heisenberg’sche Unbestimmtheitsrelation 51–52, 82 Holismus 58, 69, 82–83, 85, 99 Homogenität des Raumes, der Zeit 36 Hume'sche Metaphysik 84–87, 89, 91–92, 96–99, 101, 106–107, 121 Hume'sche Supervenienz 121 Individualität, Individuen, individuell – biologisch 108–110, 112, 118–119 – physikalisch 47, 50, 59–62, 66, 68, 82–83 Inkompatibilität fi Eigenschaften intrinsisch fi Eigenschaften Kausalität, kausal – physikalische 24, 32, 34, 36–37, 50, 58, 66, 68 – Regularitätstheorie der 89–92 – Strukturen 100–106 – Theorie biologischer Funktionen 115 – Theorie von Eigenschaften 22, 40, 84–85, 92–99, 121 – Transfertheorie der 96–98 – Vollständigkeit 117, 124–125, 141–142 – zeitlich rückwärtsgerichtete 34, 68

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Sachregister kontrafaktisch, -e Abhängigkeit 77, 91–92, 107 Kraft (im philosophischen Sinne) 21–23, 40, 84, 94–95, 98, 103–105 Lebenskraft 108, 127 Lichtgeschwindigkeit 30–32, 44, 50, 62, 65–67 Lichtkegel 32, 34, 36–38, 91 Loch-Argument 39–40, 43–45, 70 Lokalisation, spontane 76, 80, 104 Lokalisiertheit, lokalisieren 47–53, 55, 58, 60, 62, 66, 82, 98, 104, 120 Mechanik – klassische 50, 73, 78, 122, 124–125 – Quanten- fi Quantentheorie – statistische 78–79 Messung, Messproblem, Messprozess 36, 47–48, 52, 54–58, 63–68, 71–78, 80–83, 92, 101, 104–105 Molekularbiologie 116–118, 121, 123, 132, 135–136, 138 Monaden 22–24 Nahewirkung 48, 50, 58–59, 62–63, 65, 67, 82 Nicht-Separabilität 58, 66–68, 70, 81–83 occurrents 35 Organismus 118–118, 122, 132, 134 Parameter – -unabhängigkeit 64 – verborgene 64–66, 75–76, 81, 83 Propensität 98–100, 113 Prozesse – irreversible 36, 44, 78–81, 83, 104–105 – kausale 36–37, 96–97, 105 Quanten – -feld, -feldtheorie 47, 60–62, 67, 83, 100, 105–106, 123, 125 – -gravitation 44–45, 123, 125 – -mechanik /-physik / -theorie 24, 30, 43, 47–83, 88, 97, 100, 103–106, 123, 125 – -potential 66–67 Quidditismus 92–94, 99–103, 106–107 Raum – absoluter 19–24, 27–28, 38 – leerer 20, 26–28, 39 Raumzeit, raumzeitlich – absolute 38, 45 – gekrümmte 24, 37–38, 41–42, 45, 101 – leere 41 – relationale 23, 39–41, 45 – substantielle 39–42, 45

Realisation, multiple Realisierbarkeit 101–102, 113, 116–119, 131–142 Reduktion, Reduktionismus 78, 97, 118 – funktionale 133–135, 138–139, 142 – lokale 135–137, 140, 142 – new wave reductionism 137 – ontologischer 125–129, 131, 137, 141–142 – Theoriereduktion 130–142 Regelmäßigkeit, Regularität – kausale 90–92 – gesetzesartige 11, 16 Relationen 11, 21–24, 28, 39–41, 45, 47, 49, 51–52, 57, 60, 62, 69–70, 82, 84–85, 92, 96–97, 99, 101–102, 104–106 Reproduktion 109–111, 114–115, 139 res cogitans 17 res extensa 16 Schrödinger-Dynamik, -Gleichung 71–76, 78, 80–81, 103, 105 Schrödingers Katze 72–77, 80 Selektion 108–112, 114, 117–119, 139, 141–142 Separabilität, separabel, separat 49–51, 55–56, 58–60, 62, 65–68, 73, 82–84 Singularität 37, 42 Singulettzustand 56–58, 63–64 Strukturen, Strukturenrealismus 68–70, 82, 84–85, 99–107 Substanz 16, 24–27, 35–36, 38–42, 44–45, 51, 68 Superposition 53–55, 60–62, 70–72, 74–76, 78, 82–83, 101 Super-Substantialismus 41–42 Supervenienz, supervenieren 120–123, 125–126, 141–142 Teleologie, teleologisch 14, 114, 118 Thermondynamik 78–79 Universalien 87, 107 Ununterscheidbarkeit 22, 28, 39, 59–60, 93–94, 99, 101–102, 126 Vollständigkeit der Physik 117, 124–125, 141–142 Wahrscheinlichkeit, wahrscheinlich 54–56, 58–59, 61, 63–65, 71–72, 77, 79, 89, 91, 98, 103–104, 110, 124, 127 Washeit, primitive 93–95, 99 Welten, mögliche 34, 39, 81, 86, 89, 91, 93–96, 98, 101–102, 120–122, 141 Zeit – absolute 19–24, 27–28, 38 – Gleichzeitigkeit 30–34, 44

Sachregister – zeitliche / zeitlose Sicht von Existenz 33–36, 45 Zeitrichtung 36–37, 44, 47, 78–82, 104 Zufall, zufällig 55, 110–112, 130

Zustand – gemischter, Gemisch 57 – -sreduktion 57, 71, 74–82, 97, 103–105, 120 – -sverschränkungen 47, 51–64, 69–84, 100–105

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