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German Pages 477 [482] Year 2016
Michael Schäfer Eine andere Industrialisierung
regionale industrialisierung Begründet von Toni Pierenkemper Herausgegeben von Dieter Ziegler Band 7
Michael Schäfer
Eine andere Industrialisierung Die Transformation der sächsischen Textilexportgewerbe 1790–1890
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
Umschlagabbildung: C. F. Neumann jun. in Eybau. Comptoir und Geschäftslocal, aus: Louis Oeser (Hg.), Album der sächsischen Industrie, Band 1, Neusalza 1856. SLUB, Hist.Sax.M.232.o-1 © SLUB Dresden / Deutsche Fotothek
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2016 Satz: DTP + TEXT Eva Burri, Stuttgart Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11318-2 (Print) ISBN 978-3-515-11335-9 (E-Book)
INHALTSVERZEICHNIS 1.
Einleitung ...............................................................................................
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2.
Profile des kursächsischen Textilexportgewerbes um 1790 ................... 2.1 Reviere und Branchen ................................................................. 2.2 Varianten der Protoindustrialisierung .......................................... 2.3 Wege zum Markt..........................................................................
27 27 46 64
3.
Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815 ........................ 3.1 Der Niedergang der vogtländischen Musselinmanufaktur ........... 3.2 Die Maschinisierung der sächsischen Baumwollspinnerei .......... 3.3 Die Baumwollwarenmanufaktur des Chemnitzer Reviers ........... 3.4 Die Leinen- und Wollwarengewerbe ........................................... Zwischenfazit: Überleben durch Absperrung? .......................................
83 83 100 119 136 151
4.
Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850......................................... 4.1 Erfolgsrezept Maschinisierung? .................................................. 4.2 Bewältigungsstrategien der südwestsächsischen Baumwollweberei ........................................................................ 4.3 Textilexportgewerbe und transatlantische Märkte I: Die Lausitzer Leineweberei ......................................................... 4.4 Textilexportgewerbe und transatlantische Märkte II: Die Strumpfwirkerei .................................................................... 4.5 Der Leitsektor als Sorgenkind: Die sächsische Maschinenspinnerei............................................. 4.6 Die Streich- und Kammgarnweberei zwischen Zunfthandwerk und Fabrik .......................................................... Zwischenfazit: Die verzögerte Industrialisierung ...................................
155 155
Industrialisierung und Globalisierung .................................................... 5.1 Die Chemnitzer und Glauchauer Weberei 1850–1879................. 5.2 Die Maschinenweberei in den anderen sächsischen Revieren vor 1879 ....................................................................................... 5.3 Die Garnindustrie zwischen Freihandelsära und Schutzzollpolitik ................................................................... 5.4 Die Weberei nach der handelspolitischen Wende 1879–1890 ..... 5.5 Die industrielle Transformation der sächsischen Webwarenwirtschaft ....................................................................
287 287
5.
176 192 209 220 254 281
319 339 361 383
6
Inhaltsverzeichnis
5.6 5.7
Vom Exportgewerbe zur Exportindustrie: Die Strumpfwirkerei .................................................................... 399 „Plauener Spitzen“: Globaler Markterfolg und dezentrale Produktion .................................................................. 422
6.
Eine andere Industrialisierung? .............................................................. 441
7.
Anhang ................................................................................................... 7.1 Tabellen ....................................................................................... 7.2 Quellen- und Literaturverzeichnis ............................................... 7.3 Abkürzungen ............................................................................... 7.4 Glossar zur Textilwirtschaft .........................................................
453 453 456 474 475
1. EINLEITUNG Von der Schwierigkeit, ein halbes Buch zu schreiben Die vorliegende Studie hat eine längere Vorgeschichte. Es begann damit, dass ich 2005 die Aufgabe übernahm, ein halbes Buch zu schreiben. Ich sollte nämlich innerhalb eines Jahres den ersten Teil einer Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter erarbeiten, in dessen Mittelpunkt der Prozess der Industrialisierung im 19. Jahrhunderts zu stehen hatte. Dabei war an eine Überblicksdarstellung für einen breiteren Leserkreis gedacht. Das klang zunächst einmal nach leicht verdientem Geld. Es gab ja schließlich zwei umfangreiche Standardwerke zur Geschichte der sächsischen Industrialisierung, auf die man zurückgreifen konnte. Je mehr ich mich aber in Rudolf Forbergers vierbändiges Kompendium zur „Industriellen Revolution in Sachsen“ und Hubert Kiesewetters dicken Band „Industrialisierung und Landwirtschaft“1 vertiefte, desto mehr Zweifel kamen mir, ob sich auf der Grundlage der hier präsentierten Befunde die Dynamik der sächsischen Industrialisierung hinreichend erfassen ließ. Forbergers Werk besteht zu großen Teilen aus detailreichen Beschreibungen technologischer Entwicklungen, ihrer Diffusion in Sachsen und der Dokumentation von Fabrikgründungen. Zwar stand hinter dieser Arbeit sicherlich ein modellhafter Entwurf, wie eine „Industrielle Revolution“ ablief und sich entfaltete. Notwendigerweise gründete eine in der DDR verfasste Studie regionaler Industrialisierung im geschichtsphilosophischen Werk von Karl Marx und Friedrich Engels bzw. den daraus hergeleiteten parteiamtlichen Lesarten. Forberger behandelt den Industrialisierungsprozess getreu dieser Vorgaben als nicht weiter zu hinterfragende, eherne Gesetzmäßigkeit und widmet sich ganz der deskriptiven Darstellung der Entwicklung der industriellen „Produktivkräfte“ in Sachsen.2 Im Ergebnis bestehen die beiden Text- und die beiden Materialbände aus der Aneinanderreihung empirischer Einzelbefunde. Ein schlüssiges Gesamtbild des Ablaufs der Industrialisierung in Sachsen, ihrer spezifischen Antriebskräfte und Wirkungszusammengänge ergibt sich daraus nicht. Kiesewetter orientiert sich in seiner Studie – soweit sich dies erschließen lässt – im wesentlichen an drei mehr oder minder gängigen Lesarten der historischen Industrialisierungsforschung. Der (ursprüngliche) Titel des Werks „Industrialisierung und Landwirtschaft“ rekurriert (1.) auf die These, dass „selbsttragendes“ Wirtschaftswachstum einen qualitativen Sprung des landwirtschaftlichen Produktivitätsniveaus voraussetze. Nur wenn eine rasch wachsende Bevölkerung dauerhaft 1 2
Forberger, Revolution; Kiesewetter, Industrialisierung und Landwirtschaft. Kiesewetters Buch ist 2007 in fast unveränderter Fassung unter dem Titel „Die Industrialisierung Sachsens“ neu erschienen. Im Folgenden wird diese Neuausgabe zitiert. Vgl. Forberger, Revolution 1/1, S. 15, 23, 38–41.
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1. Einleitung
ernährt werden konnte, ließ sich der Teufelskreis von Wirtschaftswachstum, Bevölkerungsvermehrung, Subsistenzkrise, Bevölkerungsschwund und schließlich des Rückfalls auf das ökonomische Ausgangsniveau durchbrechen, den vormoderne Wirtschaften immer wieder durchlaufen hatten.3 Kiesewetters Nutzanwendung dieses Interpretaments läuft auf die These hinaus, dass der Bevölkerungsanstieg in Sachsen den Industrialisierungsprozess forciert habe, da nur so der Import von Nahrungsmitteln aus ländlichen Überschussgebieten erwirtschaftet werden konnte.4 Hubert Kiesewetters Studie steht (2.) in der langen Reihe von Untersuchungen, die den Stellenwert staatlichen Handelns an der Einleitung und am Verlauf von Industrialisierungsprozessen in den Blick nehmen. Im Ergebnis schreibt Kiesewetter den staatlichen Maßnahmen der Gewerbeförderung, dem Ausbau von Bildungseinrichtungen und der Verkehrsinfrastruktur oder den vormärzlichen Agrar-, Verwaltungs- und Verfassungsreformen wichtige „industrialisierungsfördernde Wirkungen“ zu.5 Allerdings ließ sich der sächsische Staat für die Implementierung der vermeintlich bedeutsamsten institutionellen Rahmenbedingung zur Einleitung industriekapitalistischer Wachstumsprozesse ungebührlich viel Zeit: Erst zum 1. Januar 1862 wurde im Königreich Sachsen die alte Zunftverfassung außer Kraft gesetzt, und eine moderne, auf dem Prinzip von Gewerbefreiheit und ungehindertem Marktwettbewerb basierende Wirtschaftsordnung trat an ihre Stelle. Für die frühindustriellen Entwicklungen in Sachsen scheint diese Verspätung zumindest kein Hindernis gewesen zu sein: Sowohl für Forberger als auch für Kiesewetter setzt das Jahr 1861 den zeitlichen Schlusspunkt ihrer Industrialisierungsstudien. Schließlich knüpft Kiesewetter (3.) zumindest terminologisch an das lange Zeit in der historischen Industrialisierungsforschung außerordentlich einflussreiche Erklärungsmodell des amerikanischen Nationalökonomen Walt W. Rostow an. Rostows in den 1950er Jahren entwickeltes Konzept liest sich heute wie eine gedankliche Blaupause aus dem frühen „Atomzeitalter“: Die Industrielle Revolution vollzieht sich hier analog einer atomaren Kettenreaktion. Um eine solche Reaktion in Gang zu setzen, ist ein hoher Energieaufwand nötig, sprich: massive Investitionen in Betriebs- und vor allem Anlagekapital. Die „kritische Masse“ ist nach Rostow erreicht, wenn eine Volkswirtschaft permanent eine Investitionsquote in Sachkapital von mehr als zehn Prozent des Sozialprodukts verzeichnet. Danach läuft der Prozess der Industrialisierung in einem „Take-off into self-sustained growth“6 rasch und mit urwüchsiger Gewalt ab. Kiesewetter legt sich schon in der Einleitung punktgenau auf das Jahr 1832 fest als Datum, zu dem der Industrialisierungsprozess in Sachsen den „Zustand eines eigendynamischen Wachstums“ erreicht habe.7 Es 3 4 5 6 7
Als neuere Version dieser Lesart siehe etwa: Komlos, Überblick, S. 490–511. Vgl. Kiesewetter, Industrialisierung, S. 31–35; sowie ders., Erklärungshypothesen, S. 315–319. Kiesewetter, Industrialisierung, S. 571 f.; vgl. auch ders., Erklärungshypothesen, S. 324–327. Zur allgemeinen Forschungsdiskussion ausführlich: Boch, Staat. So der Titel eines Aufsatzes von 1956, abgedruckt in: Rostow, Stages, S. 36–58; sowie in knapper Darstellung: Buchheim, Einführung, S. 21; Pierenkemper, Gewerbe, S. 98 f. Vgl. Kiesewetter, Industrialisierung, S. 25 f.
1. Einleitung
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findet sich allerdings im ganzen Buch kein Hinweis darauf, wie er zu dieser erstaunlichen Erkenntnis gekommen ist. Eine zweite, für seine Untersuchung folgenreichere Anleihe bei Rostow nimmt Kiesewetter, indem er a priori „die für die sächsische Industrialisierung entscheidenden Gewerbebranchen“ benennt.8 Er knüpft damit offenbar an das Konzept der Leading Sectors an. Als Führungs- oder Leitsektoren gelten in der von Rostow beeinflussten Industrialisierungsforschung diejenigen Branchen und Wirtschaftssektoren, in denen sich industrielle Produktionsformen zuerst durchsetzten und die Ausbreitungseffekte auf andere Wirtschaftssektoren ausübten, die mit ihnen funktional verkoppelt waren. Rostow unterscheidet dabei Vorkopplungs- und Rückkopplungseffekte (Forward und Backward Linkages). Einerseits induziere der massiv erhöhte und verbilligte Output des Leitsektors eine industrielle Wachstumsdynamik in Wirtschaftsbereichen, in denen diese Produkte verbraucht wurden. Andererseits werde industrielles Wachstum über die Input-Seite der Leitsektoren auf andere, vorgelagerte Wirtschaftsbranchen übertragen. Die Industrialisierung der Eisen- und Stahlproduktion etwa hatte wichtige Vorkopplungseffekte, da durch eine massenhafte Bereitstellung hochwertiger und billiger Roh- und Halbwaren die industrielle Massenproduktion in den metallverarbeitenden Branchen angeregt wurde. Die Entstehung einer Eisen- und Stahlindustrie hatte aber auch bedeutsame Rückkopplungseffekte, da sie mit einer markanten Erhöhung des Steinkohlebedarfs verbunden war und somit die Wachstumsdynamik des Kohlenbergbaus mit in Gang setzte.9 Kiesewetter klopft nun am Beispiel Sachsens diejenigen Branchen ab, denen solche Funktionen gemeinhin zugeschrieben worden sind: den Steinkohlenbergbau, die Eisen- und Stahlerzeugung, die Baumwollspinnerei, den Maschinenbau und den Eisenbahnbau. Doch welchen Stellenwert besaßen diese von Kiesewetter a priori benannten Führungssektoren für die Ausprägung der Industrieregion Sachsen tatsächlich? Zwar entstand im Zuge des Eisenbahnbaus und der Erschließung der erzgebirgischen Steinkohlelager das ein oder andere Hütten- und Eisenwerk. Doch ein Montanverbund von Kohlenbergbau, Verhüttung, Roheisen- und Stahlerzeugung prägte sich hier nicht in nennenswertem Maße aus. Die Baumwoll-Maschinenspinnerei entwickelte sich zwar in Sachsen für deutsche Verhältnisse außergewöhnlich früh und kräftig. Doch schon ein flüchtiger Blick auf die einschlägigen Statistiken zeigte, dass dieser vermeintliche Führungssektor seit dem Ende der 1830er Jahre nur noch langsam wuchs und 1861 seine ehemals herausragende Position innerhalb des Zollvereingebiets eingebüßt hatte.10 Auf der anderen Seite spielt der ganz übrige Textilsektor bei Kiesewetter eine allenfalls periphere Rolle. Dies liegt wohl nicht zuletzt am Zuschnitt des Untersuchungszeitraums seiner Studie und den dahinter liegenden konzeptionellen Prämissen. Die Verengung des Untersuchungszeitraums auf gerade einmal 46 Jahre führt 8 9 10
Ebd., S. 40. Als knapper Abriss vgl. Pierenkemper, Gewerbe, S. 98 f.; sowie Kiesewetter, Erklärungshypothesen, S. 321 f. Vgl. Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte, S. 29 f., 70 f.; Kiesewetter, Industrialisierung, S. 358, 382.
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1. Einleitung
dazu, dass Kiesewetter in der regionalen Web- und Wirkwarenwirtschaft der Zeit offenbar nichts anderes erkennen kann als die „krisenträchtigen Textilbranchen“11, die einem unvermeidlichen Niedergang entgegen gingen. Nun ist aber das Profil der sächsischen Gewerbewirtschaft von jeher ganz wesentlich von den Garn verarbeitenden Branchen bestimmt. Schon in der Frühneuzeit waren im sächsischen Vogtland, im westlichen Erzgebirgsraum und in der Oberlausitz Leinenstoffe, Woll- und Baumwollgewebe, Strümpfe, Spitzen und andere Textilwaren in großen Mengen für den überregionalen Absatz gefertigt worden. Die frühzeitige Entstehung der südwestsächsischen Maschinenspinnerei dürfte ohne die Nachfrage dieser Garn verarbeitenden Gewerbe kaum zu erklären sein. Mit der Entscheidung für das Ausgangsjahr 1815 klammert Kiesewetter jedoch die „protoindustriellen“ Vorläufe der sächsischen Industrialisierung weitgehend aus. Allem Anschein nach verschwand der verarbeitende Textilsektor nicht während der Industriellen Revolution. Im Gegenteil, um 1900 war die Textilindustrie der bei weitem größte Zweig der sächsischen Gewerbewirtschaft, zumindest was seinen Anteil an den Beschäftigten angeht.12 Das „protoindustrielle“ Textilgewerbe hatte offensichtlich einen Wandel durchlaufen, war zur Textilindustrie geworden. Doch der Übergang zur Maschinenweberei, -wirkerei und -stickerei vollzog sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wenn man nun meint, die Industrialisierung in Sachsen habe schon 1861 einen Punkt erreicht hatte, an dem man sie getrost sich selbst überlassen konnte, dann gerät auch diese Entwicklung größtenteils aus dem Blickfeld. Kurz, im Laufe der Arbeiten an meinem halben Buch kam ich zunehmend zu der Erkenntnis, dass man die Industrialisierung in Sachsen als allmählichen Prozess begreifen sollte, der sich nicht nur über einige Jahrzehnte erstreckte. Da traf es sich gut, dass auch in der historischen Industrialisierungsforschung mittlerweile die Skepsis an der Stimmigkeit von Modellen überwiegt, die das Sprunghafte des Industrialisierungsprozesses hervorheben.13 Allerdings gestaltete sich nun die Erarbeitung meines Manuskripts, vor allem was die Industrialisierung des Textilsektors anbelangt, mühsamer als vorhergesehen. Ich musste auf eine ältere Literatur zurückgreifen, die größtenteils vor dem Ersten Weltkrieg erschienen war. Dies war nun doch kein so leicht verdientes Geld.14 Ich hatte also das Desiderat einer zeitgemäßen, wissenschaftlich fundierten Studie zur Genese der sächsischen Textilindustrie am eigenen Leibe erfahren. Was lag da näher als der Gedanke, diesem Mangel mit einem neuen Forschungsprojekt Abhilfe zu verschaffen?! Die Gerda-Henkel-Stiftung, Düsseldorf, hat dankenswerterweise dieses Projekt finanziert. Mein Dank gilt auch Rudolf Boch, der das Forschungsprojekt an seinem Lehrstuhl an der Technischen Universität Chemnitz organisatorisch betreut hat und mir mit Rat und Tat zur Seite gestanden ist. 11 12 13 14
Kiesewetter, Industrialisierung, S. 208. Vgl. Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte, S. 112. Vgl. Wengenroth, Igel; Cameron, View, S. 3–8; O’Brien, Typology, S. 305–310; Komlos, Überblick, S. 471 ff.; Hahn, Revolution, S. 58 f., 96 ff. Die zusammen mit Rainer Karlsch verfasste „Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter“ ist schließlich termingerecht im Herbst 2006 erschienen.
1. Einleitung
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Übergänge: Protoindustrielle Gewerberegionen und Industrielle Revolution Um eine solche Geschichte der Industrialisierung des sächsischen Textilgewerbes in der longue durée zu erarbeiten, ist eine Ausweitung des methodisch-theoretischen Rahmens nötig. Der Rückbezug auf frühneuzeitliche Vorläufe des industriellen Wandels verweist zunächst einmal auf eine Forschungsdiskussion, die vor allem in den 1970er und 80er Jahren intensiv geführt worden ist und die sich um den Begriff der „Protoindustrialisierung“ strukturierte. Begriff und Konzept gehen auf den amerikanischen Wirtschaftshistoriker Franklin F. Mendels und dessen Studie zu den Vorläufen der Industrialisierung in Flandern zurück. In Deutschland wurde die Thesen zur Protoindustrialisierung vornehmlich von Peter Kriedte, Hans Medick und Jürgen Schlumbohm programmatisch formuliert und vertreten. Es habe in bestimmten Regionen schon in der Frühneuzeit eine „Industrialisierung vor der Industrialisierung“ stattgefunden. Typischerweise seien protoindustrielle Verdichtungen außerhalb der Städte auf dem Land entstanden, und zwar vornehmlich dort, wo saisonale Arbeitslosigkeit, schlechte Bodenqualitäten und eine hohe Bevölkerungsdichte zu Verarmung und sozialer Differenzierung geführt hätten. Der Zwang für große Teile der ländlichen Bevölkerung in solchen Gegenden, nach zusätzlichen Erwerbsmöglichkeiten zu suchen, habe ein großes Arbeitskräftepotenzial entstehen lassen. Auf der anderen Seite stieg die Nachfrage nach gewerblichen Produkten, vor allem auf dem sich in der Frühneuzeit entfaltenden Weltmarkt. Da nun das städtische Handwerk mit seiner Ausrichtung auf den lokalen Bedarf und seinem Festhalten an rigiden Zunftregularien diese Nachfrage nicht oder nur unzureichend befriedigen konnte, verlagerte sich die gewerbliche Produktion zunehmend in diejenigen ländlichen Regionen, in denen ein großes Reservoir an überschüssigen Arbeitskräften vorhanden war.15 Bei Mendels bildete die Protoindustrialisierung die erste Phase der Industrialisierung. Medick und Kriedte verstanden sie dagegen als eigenständiges, über längere Zeiträume hinweg stabiles Produktionssystem. Doch auch in ihrer Variante wohnte der Protoindustrialisierung eine Dynamik inne, die zur Einleitung der Industriellen Revolution führte oder führen konnte. Auf der einen Seite drohte die von der Protoindustrialisierung ausgelöste demographische Entwicklung die Subsistenzgrundlagen der Gesellschaft zu sprengen. Die Verdienstmöglichkeiten durch die Ausweitung der protoindustriellen Gewerbe hatten es vielen ärmeren Landbewohnern erlaubt, frühzeitig Familien zu gründen. Zudem habe es die Logik der vormodernen Familienwirtschaft nahe gelegt, das familiale Gesamteinkommen durch möglichst hohe Geburtenzahlen zu steigern, konnten doch Kinder schon in frühem Alter als Arbeitskräfte gebraucht werden. Auf der anderen Seite gelangte das protoindustrielle Produktionssystem an die Grenzen seiner Kapazität: Ein weiteres Wachstum der Produktion war im Rahmen dezentraler Heimarbeit mit einfachen Arbeitsgeräten nicht mehr möglich. Um das ökonomische Wachstum aufrecht
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Mendels, Proto-Industrialization; Kriedte u. a., Industrialisierung. In knapper Darstellung: Pierenkemper, Gewerbe, S. 51–55.
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1. Einleitung
zu erhalten und eine demographische Katastrophe abzuwenden, sei ein Übergang zum industriellen Fabriksystem unabdingbar geworden.16 In neuerer Zeit hat Ulrich Pfister den Versuch unternommen, das Protoindustrialisierungsparadigma mit den Mittel der „Neuen Institutionenökonomik“ (NIÖ) konzeptuell wiederzubeleben. Ein „protoindustrielles“ Produktionssystem im Sinne Pfisters ist durch eine konstante Faktorproduktivität gekennzeichnet. Das bedeutet, dass das Wirtschaftswachstum einer protoindustriellen Region an eine Vermehrung der Arbeitskräfte gekoppelt ist. Produktivitätssteigerungen durch arbeitssparende Innovationen und Investitionen in fixes Anlagekapital sind selten und unbedeutend. Protoindustrielles Wachstum wird in diesem Modell als notwendigerweise kurzlebiges Phänomen angesehen. Die Ursache dieser Erscheinung liege in einem exponentiellen Wachstum der Transaktionskosten. „Transaktionskosten“ fallen im Prozess der Herstellung und Vermarktung von Waren und Gütern vor allem beim Abschluss und der Durchsetzung von Verträgen, bei der Arbeits- und Qualitätskontrolle sowie bei der Beschaffung von Marktinformationen an. Je stärker eine protoindustrielle Wirtschaftsregion wuchs, desto schwieriger und kostspieliger sei es für die unternehmerischen Funktionsträger gewesen, die wachsende Anzahl räumlich zunehmend verstreut wohnender Arbeitskräfte zu kontrollieren und eine angemessene Qualität der Waren zu gewährleisten. Je weiter sich das protoindustrielle Produktionsnetzwerk auf diese Weise räumlich und personell ausdehnte, desto länger wurden die Wege, die Rohmaterialien und Waren zwischen dem Lager des „Verlegers“ und den Werkstätten der Heimarbeiter und Handwerker zurücklegten, desto mehr Zwischeninstanzen mussten eingeschaltet werden.17 Wirtschaftswachstum in protoindustriellen Regionen war daher, so Pfister, zwangsläufig mit abnehmender Rentabilität verbunden. Ältere und größere Gewerberegionen fielen im Wettbewerb mit jüngeren und kleineren protoindustriellen Revieren bald zurück, so dass die Produktion an neue Standorte wanderte. Diese Volatilität und Kurzlebigkeit bringt Pfister zu dem Schluss, dass protoindustrielle Wachstumsprozesse per se keineswegs als „erste Phase der Industrialisierung“ angesehen werden könnten. Einen funktionalen Zusammenhang zwischen protoindustriellen und industriellen Entwicklungen stellt er dennoch her. Eine mögliche unternehmerische Strategie, die Profitraten stabil zu halten, wenn protoindustrielles Wachstum die Transaktionskosten explodieren ließ, bestand darin, Teile der Produktion zu zentralisieren und zu mechanisieren. In diesem Sinne konnten die Herausforderungen des protoindustriellen Wachstums den Weg in die Industrialisierung bahnen.18 Technologische Entwicklungen und ihre Folgen erscheinen in den neueren institutionenökonomischen Ansätzen eher als sekundär. Zum Motor der Industrialisierung wird vielmehr der Zwang zur Senkung von Transaktionskosten und zur 16 17 18
Vgl. Kriedte u. a., Industrialisierung, S. 287; Pfister, Protoindustrialisierung; Schremmer, Industrialisierung, S. 427–430; Pierenkemper, Gewerbe, S. 53. Vgl. Pfister, Wachstum, S. 36 ff. Zum Begriff der „Transaktionskosten“ vgl. Wischermann/Nieberding, Revolution, S. 22 ff.; North, Institutionen, S. 32. Vgl. Pfister, Wachstum, S. 44 f.
1. Einleitung
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Institutionalisierung effektiver Arbeitskontrollen erklärt. Damit verschieben sich auch die Kategorien, die den Charakter des industriellen Transformationsprozesses kennzeichnen. Zielpunkt der Entwicklung ist das integrierte Unternehmen, in dem Produktion und Absatz im Eigenbetrieb zusammengefasst sind – ob nun Maschinen eingesetzt werden oder nicht.19 Eine Variante dieser Lesart präsentiert Christian Kleinschmidt in seinem Versuch, die Sphäre des Marktes stärker in den Wandlungsprozess einzubeziehen. Demnach sollte die Entwicklung vom dezentralen Verlag zum integrierten Unternehmen vor allem als Antwort auf weltwirtschaftliche Herausforderungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verstanden werden. Die Vergrößerung der Märkte und die von Kriegen und Handelswegskrisen hervorgerufenen Unsicherheiten hätten für die exportorientierten Kaufleute die Probleme der Informationsbeschaffung erhöht. Zudem seien sie mit massiven Principal-Agent-Problemen konfrontiert gewesen. Wachsende Interessenunterschiede zwischen Verlegern/Kaufleuten und Produzenten hätten zur Erhöhung der Transaktionskosten, zu Qualitätseinbußen in der Warenproduktion und damit letztlich zum Verlust der Konkurrenzfähigkeit auf den überseeischen Märkten geführt. Diese Konstellation habe schließlich den Übergang zum zentralisierten Unternehmen und die Aufhebung der Funktionsteilung von Produktion und Absatz erzwungen.20 Globalisierung und Industrialisierung Kleinschmidts Szenario zählt zu den ganz wenigen Versuchen, das Protoindustrialisierung-Konzept in eine systematische Beziehung mit der Entwicklung der Absatzmärkte zu setzen. Im Rückblick erscheint es in der Tat bemerkenswert, dass die Entstehung protoindustriell verdichteter Zonen vor allem auf Entwicklungen des ländlichem Arbeitskräfteangebots zurückgeführt und argumentativ entfaltet worden ist. Zwar verweist schon die ältere Protoindustrialisierungsliteratur auf die „Nachfrage“ des „Weltmarktes“ als bedeutsamen Faktor für die Entfaltung protoindustrieller Strukturen. Doch letztlich interessieren sich die deutschen Protoindustrialisierungshistoriker mehr für die Familienwirtschaft der Kleinproduzenten als für das weit entfernte Weltmarktgeschehen.21 Ähnliches gilt cum grano salis auch für viele Studien zur regionalen Industrialisierung, die den Bereich der Vermarktung und des Wettbewerbs mehr oder minder ausklammern. Dies mag zum Teil arbeitsökonomische Gründe haben: Der Wettbewerb auf verstreuten Märkten lässt sich quellenmäßig wesentlich schwieriger erschließen als die Entwicklung der „Produktivkräfte“ in der Untersuchungsregion selbst. In der Regel wird dieses Vorgehen aber noch nicht einmal problematisiert. Viele Autoren scheinen von der impliziten Prämisse auszugehen, der Input an Produktionsfaktoren determiniere den Output des wirtschaftlichen Erfolgs. Was in der dazwischen geschalteten Black Box des Marktes passiert, erscheint daher von sekundärem Interesse. Die handelsgeschichtliche For19 20 21
Vgl. dezidiert: Wischermann, Unternehmensgeschichte, S. 456 f. Vgl. Kleinschmidt, Weltwirtschaft. Vgl. die Kritik von Gorißen, Handelshaus, S. 361; Kleinschmidt, Weltwirtschaft, S. 73
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1. Einleitung
schung wiederum hat bisher kaum einen systematischen Versuch unternommen, die Expansion der Handelswege und Handelsströme und die Modernisierung der Handelstechniken mit den Fragestellungen der Protoindustrialisierungs- und Industrialisierungshistoriographie zu verbinden.22 An dieser Stelle lohnt ein kleiner Exkurs auf das Gebiet der historischen Globalisierungsforschung. Der Aufschwung der protoindustriellen Textilwirtschaft seit etwa 1750 und ihre industrielle Transformation im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde von mindestens zwei mächtigen Globalisierungsschüben begleitet. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts verdichteten sich die transatlantischen Handelsbeziehungen. Auf der einen Seite stand die Ausbreitung und Intensivierung einer amerikanischen Plantagenwirtschaft, die auf den europäischen Konsum und den Rohstoffbedarf der protoindustriellen Gewerbe ausgerichtet war. Der anschwellende Strom des transatlantischen West-Ost-Handel fand auf der anderen Seite seine Entsprechung im Aufschwung des Fertigwarenexports in der umgekehrten Richtung. Gleichzeitig versuchten die beiden stärksten europäischen Kolonialmächte, Großbritannien und Frankreich, ihre Herrschaft auszudehnen und zu festigen. Damit verbunden war die Etablierung ähnlicher Austauschbeziehungen wie im transatlantischen Handelsverkehr – europäische Manufakturwaren gegen überseeische Rohstoffe und Agrarprodukte –, ein Prozess, dem schließlich die hochstehende indische Textilmanufaktur zum Opfer fiel. An den Bestrebungen konkurrierender europäischer Staaten, ihre überseeische Herrschaft zu intensivieren und auszuweiten, entzündete sich von den 1750er Jahren bis in die frühen 1820er Jahre eine lange Reihe von See-, Kolonial- und Unabhängigkeitskriegen. An deren Ende waren die meisten europäischen Siedlungskolonien des amerikanischen Kontinents zu unabhängigen Staaten geworden. Es ist wohl diese Periode der Kriege, Handelskriege und Seeblockaden und der dadurch hervorgerufenen „Handelswegkrisen“ und Störungen des transnationalen und überseeischen Warenaustauschs, auf die Kleinschmidt in seinem Aufsatz rekurriert. In diesem Sinne lassen sich hier durchaus auch desintegrierende und „de-globalisierende“ Tendenzen ausmachen.23 Ein zweiter Globalisierungsschub, eindeutiger greifbar und in seinen Folgen spektakulärer, setzte um das Jahr 1840 ein. Der europäische und interkontinentale Warenaustausch wurde durch eine Verkehrs-, Transport- und Kommunikationsrevolution – Eisenbahnen, ozeanweiter Dampfschiffverkehr, Telegraphenleitungsnetze usw. – massiv erleichtert und beschleunigt. Handelspolitische Barrieren wie Einfuhrzölle oder Importverbote wurden nach der Mitte des 19. Jahrhunderts gesenkt oder ganz weggeräumt. Es ist anzunehmen, dass dieser Globalisierungsschub nicht zufällig mit einer Kernperiode der kontinentaleuropäischen und nordamerikanischen Industrialisierung – dem dritten Viertel des 19. Jahrhunderts – zusammenfiel.24
22 23 24
Vgl. Gorißen, Handelshaus, S. 26. Vgl. Osterhammel/Petersson, Globalisierung, S. 46–49; Kleinschmidt, Weltwirtschaft, S. 76 f.; Wallerstein, Expansion, S. 196–201. Vgl. Osterhammel/Petersson, Globalisierung, S. 25 f.
1. Einleitung
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Der Globalisierungsbegriff bietet für eine Konzeptualisierung des industriellen Transformationsprozesses einen nützlichen heuristischen Zugang. „Globalisierung“ im Bereich der Wirtschaft kann als eine sukzessive, in der Tendenz weltweite Integration von (Kapital-, Rohstoff-, Waren-, Arbeits-) Märkten verstanden werden. Die wirtschaftshistorische Forschung macht diese Entwicklung statistisch etwa an einer zunehmenden Faktorpreiskonvergenz fest. Je mehr sich Arbeitskosten und Kapitalzinsen angleichen, je weniger die Transportkosten ins Gewicht fallen, desto stärker pegeln sich demnach die Warenpreise weltweit auf einem ähnlichen Niveau ein.25 Man kann diesen Zusammenhang auch aus einer institutionenökonomischen Perspektive formulieren: Je dichter und vertrauenswürdiger sich das institutionelle Rahmenwerk des globalen Handels ausbildete, desto mehr sanken die Transaktionskosten bei der Vermarktung von Waren. Für die Beziehung zwischen den europäischen Textilgewerberegionen würde dies im Prinzip bedeuten, dass sie auf einer wachsenden Zahl von Märkten in direkte Konkurrenz zueinander traten (oder treten konnten). Dadurch wurde es wiederum zunehmend wahrscheinlicher, dass Produktivitätsfortschritte, die in einer Region erzielt wurden, Produzenten der gleichen Branche in anderen Regionen unter Wettbewerbsdruck setzten.26 Mit dieser heuristischen Annahme lässt sich ein funktionaler Zusammenhang zwischen Globalisierungs- und Industrialisierungsprozessen herstellen. Exogene Faktoren regionaler Industrialisierung können konzeptionell einbezogen und damit ein „blinder Fleck“ gängiger Konzepte beseitigt werden. Noch Mendels hat in seinen programmatischen Aufsätzen die britische Herausforderung für die kontinentaleuropäischen Gewerberegionen im Blick. Dort, wo protoindustrielle Entwicklungen am kräftigsten ausgebildet waren, seien die Chancen am größten gewesen, diese Herausforderung zu bewältigen.27 Seitdem scheinen sich die Industrialisierungsmodelle der Protoindustrialisierungsforscher fast ganz auf eine endogene Dynamik zu beschränken: Wenn das protoindustrielle System seine Wachstumsgrenzen erreicht hat, stehen die regionalen Akteure vor die Wahl, den Sprung ins industrielle Zeitalter zu wagen oder den wirtschaftlichen Niedergang der Region hinzunehmen. Doch gerade für die meisten Textilgewerberegionen erscheint dies angesichts der frühindustriellen Entwicklungen in Großbritannien als ein ziemlich realitätsfernes Szenario. Waren nämlich die ersten Schritte zu industriellen Produktionsformen erst einmal in einer Region erfolgreich vollzogen, begannen fortan exogene Faktoren auf die weitere Entwicklung der übrigen Regionen einzuwirken.28 Je intensiver die protoindustriellen Gewerberegionen miteinander in Austausch- und Wettbewerbsbeziehungen standen, desto größere Wellen dürfte es geschlagen haben, wenn in einer von ihnen industrielle Produktivitäts- und Wachstumssprünge auftraten. Genau dieser Umstand trug allerdings wiederum dazu bei, dass der Prozess wirtschaftlicher Globalisierung von eigentümlichen Ambivalenzen und Gegenbe25 26 27 28
Vgl. Torp, Weltwirtschaft, S. 572–579; O’Rourke/Williamson, Globalization S. 5, 74. Vgl. Pohl, Aufbruch, S. 21–24; Osterhammel/Petersson, Globalisierung, S. 50–55. Vgl. Mendels, Proto-Industrialization, S. 245 f. Dies konzedieren auch Kriedte u. a., Industrialisierung, S. 278 f.
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1. Einleitung
wegungen geprägt war. Globalisierungsschübe veranlassten nicht selten die Erhöhung von Interaktionsbarrieren im zwischenstaatlichen Bereich. Wenn verkehrsund kommunikationstechnische Innovationen oder die Herausbildung und Verdichtung der kommerziellen Infrastruktur zu einem sprunghaften Wachstum des internationalen Austauschs von Wirtschaftsgütern führten, rief dies auf nationalstaatlicher Ebene in aller Regel Gegenkräfte hervor. Diejenigen Wirtschaftsakteure, die sich von der Globalisierung in ihren Interessen bedroht fühlten, forderten von ihren Regierungen handelspolitische Schutzmaßnahmen. Oft genug fanden sie dabei auch Gehör, so dass wirtschaftliche Globalisierungsprozesse abgebremst, u. U. sogar phasenweise revidiert wurden.29 Die Beziehungen und Wettbewerbsverhältnisse zwischen den europäischen Textilexportregionen formierten sich demnach in einem Spannungsfeld gegenläufiger Globalisierungstendenzen. Die Frage ist nun, in welcher Weise die Ambivalenzen des Globalisierungsprozesses mit der angenommenen Grundkonstellation eines industriellen Entwicklungsgefälles zwischen den britischen und den kontinentaleuropäischen Textilexportregionen in Beziehung zu setzen sind. Folgt man der einflussreichen Lesart des französischen Wirtschaftshistoriker François Crouzet, so waren die kontinentaleuropäischen Exportgewerbe angesichts des enormen industriellen Vorsprungs ihrer britischen Konkurrenten nach 1800 dazu gezwungen, ihre im 18. Jahrhundert erlangte Position auf den Weltmärkten aufzugeben. Die Napoleonische Kontinentalsperre habe Baumwollwaren produzierende Regionen wie Sachsen und die Schweiz vor dem ökonomischen Kollaps bewahrt und ihnen den Spielraum verschafft, industrielle Schlüsselinnovationen wie die Maschinenspinnerei einführen. Die Absperrung von europäischen Absatzgebieten nach 1807 und der Übergang vieler Staaten des Kontinents zum handelspolitischen Protektionismus bald nach 1815 habe wiederum die britische Industrie auf die überseeischen Märkte verwiesen. Der Preis, den die proto- und frühindustriellen Produzenten auf den europäischen Festland für ihre „Rettung“ zu zahlen gehabt hätten, sei ihre Beschränkung auf den eigenen Binnenmarkt gewesen.30 Pioniere und Nachzügler der Industrialisierung Auch der deutschen Industrialisierungsforschung ist dieses Szenario an sich nicht fremd gewesen. Schon in der zeitgenössischen Debatte wurde die Ungleichheit der industriellen Entwicklung in Europa als zentrales Problem begriffen. Wie konnte das industriell „rückständige“ Deutschland den Vorsprung der „Pioniernation“ Großbritannien aufholen? Die ältere Forschung hat diese Fragestellung willig aufgegriffen und in den Kategorien eines nationalen Konkurrenzkampfes sinnhaft gerahmt. In den 1950er Jahre hat Alexander Gerschenkron die Konstellation eines europäischen West-Ost-Gefälles des Industrialisierungsprozesses in einem einflussreichen theoretischen Ansatz verdichtet. Je rückständiger die Wirtschaftsstruktur in 29 30
Vgl. zu dieser Dynamik vor allem Fäßler, Globalisierung, S. 44 f., 94–97. Vgl. Crouzet, Wars, S. 577, 587 f.; ders., Export Economy, S. 220–223.
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einem Land war und je später die Industrialisierung einsetzte, so Gerschenkrons Leitthese, desto schneller verlief der Prozess industriellen Wachstum, wenn er einmal in Gang gekommen war. Charakteristisch für die Industrialisierung in „Nachzügler“-Ländern sei es, dass sie eher exogen als endogen gesteuert und angetrieben werde – etwa von einer aktiven staatlichen Industrialisierungspolitik oder von kapitalkräftigen Großbanken. Eine nachholende Industrialisierung bringe gewöhnlich eine Wirtschaftsstruktur hervor, die geprägt werde durch kapitalintensive Großunternehmen, die eher Investitions- als Konsumgüter produzierten. Der Aufstieg der deutschen Montanindustrie, der Elektro- und Chemiekonzerne, die Entwicklung der deutschen „Universalbanken“ und ihre Rolle bei der Industriefinanzierung, die Entstehung des „Interventionsstaates“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – all dies schien die Industrialisierung in Deutschland zum empirischen Musterbeispiel für Gerschenkrons Modell zu machen.31 Zwar gehörte die Annahme, dass sich in Deutschland eine „nachholende“ Industrialisierung unter den Bedingungen des Wettbewerbs mit der technologisch und betriebsorganisatorisch überlegenen westeuropäischen Konkurrenz zu vollziehen hatte, durchaus zum Gemeingut der deutschen Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Doch wurde dieser Umstand in vielen Studien vornehmlich als Rahmenbedingung hingenommen, ohne dass die Konkurrenzbeziehung als solche tiefergehend thematisiert worden wäre. Die Gerschenkron-These und ebenso Rostows Take-Off-Modell, das ja ursprünglich als Handlungsanleitung für industrielle Schwellenländer gedacht war, legten es der historischen Industrialisierungsforschung nahe, sich vor allem auf die Rolle des Staates zu konzentrieren. In jüngerer Zeit sind dann auch wieder die Wirtschaftsakteure selbst stärker in den Mittelpunkt des historischen Interesses gerückt. In Rudolf Bochs Studie zur Industrialisierungsdebatte des rheinischen Wirtschaftsbürgertums wird das von Crouzet entfaltete Szenario gewissermaßen aus der Perspektive der kontinentaleuropäischen Unternehmer und Großkaufleute betrachtet. Während eine ältere Generation von Großverlegern nach dem Ende der napoleonischen Ära vergeblich versuchte, auf dem Weltmarkt Fuß zu fassen, habe eine jüngere Generation rheinischer Wirtschaftsbürger auf eine beschleunigte Industrialisierung gesetzt. Statt mühsam neue Absatzwege für die Erzeugnisse der protoindustriellen Manufaktur auf unsicheren überseeischen Märkten zu erschließen, plädierten letztere dafür, in einem zollgeschützten Binnenraum eine „nationale Gesamtindustrie“ nach britischem Muster zu entwickeln.32 Eine Variante dieser Argumentation findet sich auch in den Studien zur Industrialisierung des ostwestfälischen Leinengewerbes. Auch hier erscheinen die kaufmännischen Verhaltensdispositionen der alten Verlegerelite als Hemmschuh des industriellen Fortschritts. Erst eine jüngere Generation habe – gerade noch rechtzeitig – den Übergang zur Maschinenweberei und mechanischen Flachsspinnerei im
31 32
Vgl. Gerschenkron, Backwardness; Ditt, Vorreiter, S. 29 f.; Vgl. Boch, Wachstum; ders., Transatlantikhandel.
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zentralen Eigenbetrieb vollzogen.33 Der Bielefelder Leinwandmanufaktur war damit – nach dieser Lesart – das Schicksal Schlesiens, der ehemals bedeutendsten mitteleuropäischen Leinenregion, erspart geblieben. Marcel Boldorf macht in seiner vergleichende Studie des protoindustriellen Leinenexportgewerbes in Schlesien und Nordirland die Ursachen der gescheiterten Industrialisierung in der niederschlesischen Textilwirtschaft allerdings auf einer noch früheren Entwicklungsstufe fest. Hier hatten die ansässigen Leinenhändler nicht einmal den Schritt vom Kaufmann zum Verlagsunternehmer gemacht.34 Erfolg und Scheitern des Industrialisierungsprozesses wird in allen diesen Studien letztlich am möglichst zeitigen Nachvollzug technologisch-betriebsorganisatorischer Entwicklungen festgemacht. Selbst Boldorf vergleicht vornehmlich das Produktionsregime der von ihm untersuchten Leinenregionen miteinander. Die Wettbewerbsbeziehungen dieser beiden auf den globalen Märkten konkurrierenden Regionen und die Bedingungen, unter den sich dieser Wettbewerb vollzog, interessieren ihn dagegen kaum. Möglicherweise verstellt die Fokussierung auf eine nachvollziehende Industrialisierung den Blick auf alternative Strategien, der Herausforderung einer industriell fortgeschrittenen Konkurrenz zu begegnen. Solche Strategien sollten nicht von vornherein als inadäquat, kurzsichtig oder irrational bewertet werden. Gerade für den Textilsektor liegen mittlerweile (vor allem französische) Befunde vor, nach denen die Beibehaltung bzw. Neuausbildung dezentraler Produktionssysteme sich als unternehmerisch rationaler erweisen konnten als ein frühzeitiger Übergang zur Fabrikindustrie.35 Hat nicht überhaupt das Paradigma der „nachholenden Industrialisierung“ dazu beigetragen, dass der Prozess der Industrialisierung in Deutschland auch noch in den neueren Überblicksdarstellungen36 allzu einseitig gezeichnet wird? Können tatsächlich die Groß-, Schwer- und Montanindustrie pars pro toto für das Ergebnis der deutschen Industrialisierung stehen? Der amerikanische Wirtschaftshistoriker Gary Herrigel hat in einer 1996 erschienenen Arbeit gegen diesen Strich argumentiert. Er glaubt die „Quellen der deutschen Industriemacht“ auf einem alternativen Industrialisierungspfad zu entdecken. Herrigel schlägt den Bogen zu den protoindustriellen Gewerberegionen und zeichnet eine Kontinuität dezentraler Produktionsstrukturen und Formen der Arbeitsteilung zwischen kleinen und mittleren Unternehmen bis in das späte 20. Jahrhundert. Die regionalen Basen dieser auf den globalen Märkten erfolgreichen Industrien verortet er im Rheinland, im südlichen Hessen, in Baden und Württemberg, in Thüringen – und in Sachsen.37
33 34 35 36 37
Vgl. Ditt, Industrialisierung, S. 30 ff.; Flügel, Region, S. 100 f.; Wischermann, Krisen, S. 23 ff.; ders./Nieberding, Revolution, S. 77 f. Vgl. Boldorf, Leinenregionen, S. 279 f.; hierzu auch schon Kisch, Textile Industries, S. 552 f. Vgl. Sabel/Zeitlin, Stories, S. 20–28; Piore/Sabel, Massenproduktion, S. 36 f.; Cottereau, Fate. Vgl. etwa Hahn, Revolution, S. 24–39; Ziegler, Revolution, S. 51–93. Herrigel, Industrial Constructions, S. 44–49.
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Zum Design der Studie: Reichweite, Begriffe, Methoden, Ziele Anspruch der vorliegenden Studie kann es nicht sein, die Industrialisierung in Sachsen in allen ihren Aspekten darzustellen. Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit ist ein einzelner Wirtschaftssektor, das protoindustrielle Textilgewerbe bzw. die Textilindustrie. Dieser gewerblich-industrielle Komplex ist in dem Sinne regional verortet, als seine Produktionsstandorte auf dem Territorium des Kurfürstentums bzw. Königreichs Sachsen lagen, wobei aber in einigen Fällen die Produktionsnetzwerke die Landesgrenze überschritten. Im Verlaufe des Untersuchungszeitraums veränderte sich der räumliche Umfang und die administrative Gliederung Sachsens erheblich. Die tiefste Zäsur entsprang der territorialen Neuordnung des Wiener Kongresses 1815, als das Königreich Sachsen mehr als die Hälfte seines Staatsgebiets an Preußen abgeben musste. Für die Studie hat diese Zäsur allerdings eher marginale Konsequenzen, da fast alle Standorte des Textilexportgewerbes innerhalb des verkleinerten Territoriums blieben. Bis 1835 war das Königreich in vier administrative Einheiten – Kreise – gegliedert und zwar den Meißner (mit Dresden und Großenhain), den Leipziger, den Vogtländischen (mit Plauen und Reichenbach) und den Erzgebirgischen Kreis (mit Chemnitz, Zwickau, Freiberg und Annaberg). Daneben gab es zwei größere Gebiete mit territorialen Sonderrechten und eigener Verwaltungsgliederung: die sog. Schönburgischen Rezessherrschaften (mit den Städten Glauchau, Meerane, Hohenstein und Lichtenstein) und das Markgraftum Oberlausitz (mit Bautzen, Kamenz, Löbau, Zittau). 1835 wurden die Oberlausitz und die schönburgischen Gebiete in stärkerem Maße in die reguläre Verwaltungsstruktur eingegliedert. Es gab nun vier Kreisdirektionen als staatliche Mittelbehörden, denen insgesamt elf Amtshauptmannschaften zugeordnet waren: Dresden, Leipzig, Zwickau (inklusive Chemnitz, dem Vogtland und den Schönburgischen Herrschaften) und Bautzen/Budissin. 1873/74 veränderte sich der Zuschnitt der Kreise noch einmal. Im wesentlichen betraf dies das Gebiet der Kreisdirektion Zwickau, das nun in die Kreishauptmannschaften Zwickau (inklusive dem Vogtland) und Chemnitz geteilt wurde.38 Sachsen als regionale Einheit ist für die Untersuchung insofern bedeutsam, als der sächsische Staat (zumindest bis 1871) das institutionelle Regelwerk wirtschaftlichen Handelns innerhalb der Landesgrenzen festlegte und überwachte. Die Dresdner Landesregierung gestaltete zudem vor 1834 die handelspolitischen Außenbeziehungen Sachsens und nahm damit Einfluss auf die Bedingungen des Marktzugangs der sächsischen Textilwirtschaft und ihre Marktposition gegenüber ausländischer Konkurrenz innerhalb der Landesgrenzen. Ansonsten erscheint es wenig sinnvoll, Sachsen in seinen politisch-administrativen Grenzen als Textilregion zu konzipieren, da sich die textilgewerblichen Verdichtungen in bestimmte Teilen des Landes konzentrierten. Man kann diese verdichteten Gebiete in ihrer Gesamtheit als Region kennzeichnen oder auch das Vogtland, den Erzgebirgsraum und die Oberlausitz als regionalen Einheiten benennen. Dies ist aber eher als Sprachregelung ohne tiefer gehende analytische Zielsetzung zu verstehen. 38
Vgl. Oettel, Verwaltungsgliederung.
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Für den Zweck der Untersuchung haben sich kleinere – subregionale – Einheiten als heuristisch brauchbarer erweisen. Sie werden im Folgenden als „Reviere“ bezeichnet. Dieser Begriff kombiniert wirtschaftsräumliche und funktionale Elemente. Ein „Revier“ ist als ein Gebiet definiert, in dem ähnliche Erzeugnisse hergestellt werden und in dem sich ein funktional verflochtenes Cluster von Produktionseinheiten und kommerziellen Einrichtungen herausgebildet hat. Damit können Produktionsnetzwerke, Formen der Arbeitsteilung und komplementärer Spezialisierung zwischen den Produzenten ebenso gemeint sein wie eine gemeinsame Infrastruktur der Rohstoff- und Halbwarenversorgung, der Endfertigung und des Vertriebs. Gewöhnlich ordneten sich die Produktionseinheiten eines Reviers um ein oder zwei zentrale Orte an, in denen sich die kommerzielle Infrastruktur – Rohstoffund Garnmärkte, Handels- und Verlagsgeschäfte, Spezialbetriebe der Endfertigung o. ä. – verdichtete. Solche Reviere überlappen sich u. U. räumlich. So kann die Stadt Chemnitz als Mittelpunkt zweier unterschiedlicher Produktionsnetzwerke gelten, der Baumwoll- und Mischgewebefertigung wie der Strumpfwirkerei.39 Die Darstellung ist in wesentlichen Teilen um diese räumlich-funktionalen Einheiten organisiert. Indem die Entwicklung nach Revieren aufgezeigt und gegenübergestellt wird, erschließt sich eine wichtige intraregionale Vergleichsebene. Es wird dabei allerdings nicht der Versuch unternommen, die Reviere räumlich exakt abzustecken und in irgend einer systematischen Weise quantitativ-statistisch zu erfassen. Dies wäre, wenn überhaupt, nur unter arbeitsökonomisch kaum zu rechtfertigendem Aufwand möglich gewesen. Zudem erscheinen die Außengrenzen eines Reviers, gemessen an der Reichweite der es konstituierenden Produktionsnetzwerke, oft einigermaßen fluide. In diesen Sinne stellen die Reviere eher heuristische Konstrukte dar als exakt definierte und umrissene Einheiten. Sie erlauben es, die Darstellung zu strukturieren und zu bündeln. Der allgemeine Zuschnitt der Studie, die die Interdependenzen zwischen Marktzugang und Marktwettbewerb einerseits und den Entwicklungen in der Sphäre der Produktion andererseits verfolgt, legt eine handlungs- und akteurszentrierte Grundperspektive nahe. Im Mittelpunkt steht demnach das Handeln von „Wirtschaftsakteuren“. Dies können sowohl die in einem engeren Sinne „unternehmerisch“ aktiven Personengruppen und Organisationen sein (Kaufleute, Verleger, Fabrikanten, Unternehmen), als auch ggf. selbständig agierende Kleinproduzenten wie Handwerksmeister und „Heimindustrielle“ oder Zwischenverleger. Die ungewöhnliche Vielgestaltigkeit der kursächsischen Textilwirtschaft eröffnet die Möglichkeit, nahezu sämtliche Branchen des Sektors in die Untersuchung einzubeziehen. Im wesentlichen sind dies: 1. die Baumwollweberei, inklusive der Baumwollmischweberei; 2. die Wollweberei und Tuchmacherei; 3. die Leineweberei, die jedoch nach 1850 wegen ihres Bedeutungsverlustes nur noch kursorisch behandelt wird; 4. die Strumpf-, Handschuh- und Trikotagenwirkerei; 5. die Maschinenstickerei (nach 1850); sowie, 6., die verschiedenen Sparten der Maschinenspinnerei. Ausgeklammert wurden dagegen die Spitzenklöppelei, die Posamenten39
Vgl. zum Begriff des Gewerbereviers: Gayot, Gewerberevier; allgemein zum Konzept der Region: Pierenkemper, Ansatz; Weichhart, Region, S. 29–38.
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macherei und die Bandweberei. Die Zuordnung der genannten Branchen zu den Revieren nehme ich im empirischen Teil vor. Die Studie ist in vier chronologische Blöcke eingeteilt. Zunächst präsentiere ich einen Querschnitt der protoindustriellen Textilgewerbelandschaft des Kurfürstentums Sachsens am Ausgang des 18. Jahrhunderts (Kapitel 2). Es werden dabei Entwicklung und Stand der verschiedenen Branchen und Reviere dargelegt, die Praktiken von Produktion und Vertrieb beleuchtet, und die Wege zu den Märkten nachgezeichnet. Im Anschluss an diese Bestandsaufnahme wird dann der Transformationsprozess über den Zeitraum eines Jahrhunderts verfolgt. Ich gehe dabei von der Prämisse aus, dass sich um 1790 die frühindustriellen Entwicklungen in den britischen Baumwollrevieren in ihren Auswirkungen für die sächsische Textilwarenmanufaktur bemerkbar machten. Dies ist zunächst einmal eine Vermutung, deren Reichweite und Stimmigkeit empirisch nachzuprüfen ist. Sie dient als heuristischer Ausgangspunkt, ohne dass damit von vornherein der Beginn der „Industrialisierung“ in Sachsen datiert werden soll. Die Kapitel 3 bis 5 verfolgen in zeitlicher Abfolge den Industrialisierungsprozess der sächsischen Textilgewerbe zwischen 1790 und 1890. Als die Darstellung strukturierende Zäsuren dienen dabei die Jahre 1815, 1850 und 1890. Das erste Datum, 1815, markiert das Ende der Napoleonischen Ära und damit den Abschluss einer 25jährigen Periode politischer Umwälzungen und Kriege. Die Zäsur 1850 steht für den Beginn der Maschinisierung in den garnverarbeitetenden Branchen. Als Endpunkt des industriellen Transformationsprozesses habe ich – etwas willkürlich – das Jahr 1890 angenommen. Es wird aber, wo dies angebracht erscheint, die Entwicklung in einzelnen Revieren oder Branchen ggf. auch über dieses Datum hinaus verfolgt. Die Transformation der sächsischen Textilwirtschaft wird im Folgenden als Prozess der „Industrialisierung“ charakterisiert, genauer gesagt: als Entwicklung von einer „protoindustriellen“ zu einer „industriellen“ Wirtschaftsweise. Die beiden, den Ausgangs- und den Endpunkt der Transformation bezeichnenden Begriffe sind auf eine bestimmte Produktionsweise verengt worden. Demnach bezieht sich das Adjektiv „protoindustriell“ auf ein dezentrales Produktionssystem, das auf dem Einsatz einfacher, handbetriebener Maschinen und Werkzeuge basiert. „Industriell“ bezeichnet eine Produktionsweise, die im zentralen Fabrikbetrieb mit kraftgetriebenen Maschinen gründet. Dies ist natürlich ein stark zugespitztes Konstrukt, das vor allem auf einen heuristischen Nutzen zielt. Damit sollen keinesfalls Ziel und Verlaufsform des Transformationsprozesses a priori festgelegt werden. In welchem Ausmaß sich in den verschiedenen Zweigen des sächsischen Textilgewerbes während des Untersuchungszeitraums tatsächlich industrielle Strukturen in dem oben genannten Sinn entwickelten, bleibt Gegenstand empirischer Analyse. Meine Studie verfolgt im wesentlichen drei allgemeine Ziele: Es sollen (1.) die überregionalen Einflussfaktoren regionaler Industrialisierungsprozesse in den Blick genommen werden. Lässt sich demnach der Verlauf der Industrialisierung in einem textilgewerblichen Produktionscluster im kausalen Zusammenhang zum Wettbewerb und den Wettbewerbsbedingungen auf überregionalen Märkten beschreiben? Können auf diese Weise Industrialisierung und Globalisierung in einen wechselsei-
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tigen Bezug gesetzt werden? Die Arbeit unternimmt (2.) den Versuch, die Transformation eines frühneuzeitlichen Exportgewerbe zu einer modernen Industriebranche – unter systematischem Einbezug der Marktsphäre – in einem längeren Zeitraum zu untersuchen. Damit möchte ich dazu beitragen, das immer noch vorherrschende Bild von der Industriellen Revolution in Deutschland modifizieren. Anstatt die industriellen Wandel allein am Take-Off der Schwer- und Montanindustrie und an der Entwicklung von großindustriellen Strukturen festzumachen, soll der Blick auf eine „andere“ Industrialisierung gelenkt werden: Die Genese von verarbeitenden Industrien, die Konsumgüter herstellten, die ihre Waren auf den Weltmärkten absetzten und die stärker „mittelständische“ und dezentrale Strukturen ausbildeten. Schließlich setzt sich die Studie (3.) mit zentralen Annahmen einer mittlerweile weit verbreiteten institutionenökonomischen Lesart der Industrialisierung auseinander. Bieten das Transaktionskostenproblem und die Principal-Agent-Beziehung tatsächlich den Schlüssel zum Verständnis der Industriellen Revolution, die nach einem Diktum von D. C. North letztlich nur als Oberflächenerscheinung institutioneller Innovationen40 erscheint? Es gilt also, am Beispiel der sächsischen Textilwirtschaft empirisch zu überprüfen, ob und inwiefern steigende Transaktionskosten bei der Kontrolle des Arbeitsprozesses und des Warenvertriebs den Übergang zum integrierten Unternehmen erzwangen. Quellen und Literatur Die archivalische und publizistische Überlieferung ist für die verschiedenen Zeitabschnitte und Themenfelder von sehr unterschiedlicher Dichte, Provenienz und Qualität. Als besonders ergiebig hat sich, zumindest für die erste Hälfte des Untersuchungszeitraums, die staatliche Überlieferung im Hauptstaatsarchiv Dresden erwiesen, vor allem der Bestand „Landes-, Oeconomie-, Manufaktur- und Commerzien-Deputation“. Die „Kommerziendeputation“ war als landesherrliche Zentralbehörde zwischen 1764 und 1831 mit vielfältigen Aufgaben der Wirtschaftsförderung und -lenkung betraut. Ihr Aufgabenbereich wurde nach 1831 von der Handels- und Gewerbeabteilung des Ministeriums des Innern übernommen, allerdings in wesentlich reduzierter Form. Ergänzend sind die Akten der Kreishauptmannschaft bzw. Kreisdirektion Zwickau im Staatsarchiv Chemnitz herangezogen worden. In den kommunalen Archiven ist dagegen für die Themenstellungen der Arbeit meist nur wenig Brauchbares zu finden gewesen. Einigermaßen enttäuschend gestaltete sich die Auswertung der unternehmensarchivalischen Überlieferung, die in Sachsen überwiegend in den Staatsarchiven Chemnitz, Dresden und Leipzig lagert. Dort sind zwar die hinterlassenenen Akten einer größeren Zahl textilindustrieller Unternehmen vorhanden, doch findet sich darin kaum Material für die Zeit vor 1900. Ergiebiger sind dagegen die Geschäftsunterlagen der Fa. Abraham Dürninger & Co. im Archiv der Brüder-Unität, Herrnhut, die Bestände F. L. Böhler und Poeschmann-Schneidenbach im Stadtarchiv 40
Vgl. Wischermann/Nieberding, Revolution, S. 25.
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Plauen und die Überlieferung des Handelshauses Ernst Sigismund Haupt im Stadtarchiv Zittau. Insgesamt sind diese Quellenbestände aber für die Erarbeitung einer Geschichte der sächsischen Textilindustrie im 19. Jahrhundert zu fragmentarisch. Sie decken nur einen eng umgrenzten Zeitraum ab oder beziehen sich – im Falle der Fa. Dürninger – auf eine Branche, die seit dem Vormärz aus dem Fokus der Untersuchung verschwindet. Dies ist zwar an sich schade, birgt aber auch einen konzeptionellen Vorteil. Eine überwiegend unternehmenshistorische Herangehensweise hätte zwangsläufig die größeren Textilunternehmen stärker in den Blickpunkt gerückt und möglicherweise die klein- und mittelbetriebliche Struktur der meisten sächsischen Textilbranchen nicht adäquat berücksichtigen können. Ergänzend zu den archivalischen Quellenbeständen konnte auf einen breiten Fundus zeitgenössischer Wirtschaftspublizistik zurückgegriffen werden. Zu den wichtigsten ausgewerteten Periodika zählen die Mittheilungen des Industrievereins für das Königreich Sachsen (1832–1843), das Gewerbeblatt für Sachsen (1834–43) und sein Nachfolgeorgan, die Deutsche Gewerbezeitung (1844–1870), die Berichte von diversen Gewerbe- und Industrieausstellungen, vor allem aber die Jahresberichte der Handels- und Gewerbekammern Plauen, Chemnitz und Zittau (seit 1862). Dazu kommt eine Reihe von Einzelveröffentlichungen von „Insidern“ der südwestund südostsächsischen Textilgewerbereviere wie die Schriften des Chemnitzer Wirtschaftspublizisten Friedrich Georg Wieck.41 Ein methodisches Problem der Untersuchung liegt naturgemäß in der Erfassung des Geschehens auf den überregionalen Märkten. Selbst eine Beschränkung der archivalischen Studien auf zentrale Umschlagplätze des sächsischen Textilexports wie Hamburg, London, Cádiz oder New York hätte sowohl die finanzielle Ausstattung des Projekts als auch die Arbeitskraft des Bearbeiters überfordert. Daher nehme ich wohl oder übel die gleiche Perspektive ein wie die meisten Akteure meiner Untersuchung: Ich verwende die Informationen, die von den globalen Marktplätzen ihren Weg nach Sachsen gefunden haben. Vor allem drei Überlieferungen haben sich hier als wertvolle Informationsquellen erwiesen: (1.) die Protokolle und Berichte von den Leipziger Messen, die „Messrelationen“, die von den Beamten der „Kommerziendeputation“ angefertigt wurden und auf Befragungen von Verlagsunternehmern und Großkaufleuten beruhten; (2.) die Berichte der sächsischen Handelskonsulate von europäischen und überseeischen Handelsplätzen; (3.) die bereits erwähnten Handelskammerberichte, die oft ein recht detailliertes Bild von den Absatzverhältnissen der einzelnen Textilbranchen wiedergeben. Auch einige Geschäftskorrespondenzen haben sich in den oben aufgeführten Unternehmensbeständen erhalten. Die großen Monographien Forbergers und Kiesewetters bieten ungeachtet der oben kritisierten Defizite einiges Material zur Genese der Textilindustrie. Für das protoindustrielle sächsische Leinengewerbe liegt eine Monographie vor, in der Jörg Ludwig die bemerkenswert dichten Handelsbeziehungen zwischen der Leinwandregion der südlichen Oberlausitz und den Absatzmärkten in Lateinamerika im 18. und frühen 19. Jahrhundert nachzeichnet.42 Zur Vermarktung sächsischer Textilwa41 42
Wieck, Zustände; ders., Manufaktur- und Fabrikindustrie. Ludwig, Handel.
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ren geben auch einige, meist ältere handelsgeschichtliche Arbeiten sowie Danny Webers neue Monographie zum Leipziger Handelshaus Frege einen ersten allgemeinen Zugang.43 Besonders aufschlussreich ist Gert Rössers Aufsatz zur Entwicklung von Organisation und Technik des Handels im 18. und 19. Jahrhundert, der sich ganz überwiegend auf das gut dokumentierte Beispiel des Herrnhuter Unternehmens Dürninger & Co. stützt.44 Karin Zachmann hat in einigen instruktiven Aufsätzen auf die weite Verbreitung handbetriebener Maschinen und von Heimarbeit gerade in den erfolgreichen textilen Exportbranchen, wie der Strumpfwirkerei und der Stickerei, bis ins 20. Jahrhundert hingewiesen.45 Erwähnenswert sind zudem die Aufsätze Matthias Hahns zum Profil der Chemnitzer Verlegerschaft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, Volker Scholz’ Arbeit zu den Chemnitzer Webern und Kattundruckern46 sowie die Beiträge einer wissenschaftlichen Tagung aus Anlass des 200. Jubiläums des Baus der ersten mechanischen Spinnereien in Sachsen.47 Noch aus DDR-Zeiten stammen die volkskundlichen Arbeiten von Bernd Schöne zu Strumpfwirkern, Bandwebern, Posamentierern und Spitzenklöpplerinnen im Erzgebirge und der Oberlausitz sowie eine Dissertation von Klaus Müller, die sich mit der Industrialisierung in Westsachsen beschäftigt.48 Steffen Sammler nähert sich der Industrialisierung in Sachsen in seiner bislang noch nicht veröffentlichten Habilitationsschrift auf der Ebene des zeitgenössischen wirtschaftspolitischen Diskurses.49 Rudolf Boch hat in einem längeren Aufsatz die sächsische und die preußische Industrialisierungspolitik im Vormärz verglichen.50 Aufschlüsse zum sozialen Profil der frühindustriellen Unternehmerschaft bieten Hartmut Zwahrs Arbeiten zur Konstituierung der Bourgeoisie in Sachsen und die an Zwahrs methodischer Vorgehensweise orientierten Studien zur Oberlausitz, zu Chemnitz und den Schönburgischen Rezessherrschaften.51 Zudem konnte ich hier auf eigene Forschungen zu sächsischen Familienunternehmen und Unternehmerfamilien zurückgreifen.52 Die ältere wirtschaftshistorische und nationalökonomische Literatur hat sich mit einer ganzen Reihe von Branchen und Revieren der sächsi43 44 45 46 47 48 49 50 51 52
Reinhold, Polen/Litauen; Netta, Handelsbeziehungen; Meinert, Handelsbeziehungen; Hasse, Leipziger Messen; Benndorf, Beziehungen; Weber, Frege; sowie Stübler, Textilwaren. Rösser, Beispiele. Vgl. zudem Gayot, Abenteuer; Hammer, Industriepionier; Luft, Textilregionen; Kunze, Frühkapitalismus; Leipoldt, Reichenbach; Poenicke, Betriebssystem; Sieber, Industriegeschichte; Nürnberger, Geschichte. Zachmann, Strumpfwirkerei; dies., Kraft; dies., Durchsetzung; dies., Ausformung; dies. Transformation. Hahn, Unternehmertum; ders., Herkunft; Scholz, Handwerk. u. a. Boch, Baumwollspinnerei; Kiesewetter, Unternehmen; Kirchner, Schafwoll-Maschinenspinnerei; Scholz, Kattundruckerei; Uhlmann, Bildungsreisen; Weber, Innovationstransfer; Welzel, Baumwollspinnerei. Schöne, Posamentierer; ders., Kultur; Müller, Faktoren. Sammler, Wissenstransfer. Boch, Vormärz. Zwahr, Klassenkonstituierung; Fleißig, Klassenkonstituierung; Uhlmann, Chemnitzer Unternehmer, Grohmann, Rezessherrschaften. Schäfer, Familienunternehmen.
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schen Textilwirtschaft beschäftigt.53 Einen hervorragenden Quellenwert besitzen einige Dissertationen zur Wirkwaren- und Stickereiindustrie, die offenbar von Brancheninsidern verfasst wurden. Hier finden sich detaillierte Angaben zur Marktposition sächsischer Erzeugnisse, zu den Vermarktungsstrategien der Hersteller und des Handels und zu deren Rückwirkungen auf den produktionstechnischen und betriebsorganisatorischen Bereich.54
53
54
So etwa König, Baumwollenindustrie; Meerwein, Baumwollspinnerei; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur; Bein, Industrie; Gröllich, Baumwollweberei; Schurig, Textilindustrie; Westernhagen, Leinwandmanufaktur; Bökelmann, Aufkommen; Hunger, Strumpfindustrie; Maschner, Weberei; Demmering, Textil-Industrie; Krebs, Entwicklung. Irmscher, Strumpfindustrie; Greif, Studien; Oppenheim, Wirkwarenindustrie; Bennewitz, Bedeutung; Hüttenbach, Maschinenstickerei; Illgen, Stickerei-Industrie; Jeenel, Produktionsbedingungen; Loeben, Absatz; Zeeh, Betriebsverhältnisse.
2. PROFILE DES KURSÄCHSISCHEN TEXTILEXPORTGEWERBES UM 1790 2.1 REVIERE UND BRANCHEN Die Glanzzeit der vogtländischen Musselinmanufaktur In der Mitte der 1780er Jahre konnte die vogtländische Baumwollweberei auf eine bemerkenswerte Wachstumsperiode zurückblicken. Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten hatte sich die Menge der im Vogtland gefertigten Baumwollgewebe mehr als verzehnfacht. 1765 hatte die „Schauanstalt“ der Plauener „Schleierhändler“-Innung insgesamt noch weniger als 20.000 Stück baumwollener Webwaren gestempelt. 1775 waren es fast 52.000, 1786 genau 206.974 Stück. Dieser enorme Zuwachs verdankte sich im Wesentlichen der überaus erfolgreichen Kopie eines überseeischen Produktes. Feine und leichte Baumwollgewebe aus Indien waren seit Beginn des 18. Jahrhunderts, vor allem von den britischen, niederländischen und französischen Ostindienkompanien auf die europäischen Märkte gebracht worden und hatten dort wachsenden Anklang gefunden. Im sächsischen Vogtland wurden diese Stoffe seit den 1730er Jahren nachgeahmt und zunächst als „Nesseltücher“, später unter dem international gebräuchlichen Sammelbegriff „Musselin“ (Mousselin, Muslin) vermarktet. Zudem entwickelte sich zwischen der Stadt Plauen und den Kleinstädten und Dörfern des östlichen Vogtlandes und des angrenzenden Erzgebirges ein lebhafter Veredelungsverkehr. Importierte indische Musseline und später auch in Sachsen selbst gefertigte Textilien dieser Art wurden hier mit Mustern bestickt. Der Aufschwung der vogtländischen Musselinmanufaktur1 nach der Mitte des 18. Jahrhunderts verdankte sich dem Zusammenwirken günstiger Standortfaktoren und globaler Rahmenbedingungen. Vergleichsweise niedrige Arbeitskosten waren notwendig, um mit den Erzeugnissen eines ausgesprochenen Niedriglohnlands wie dem frühkolonialen Indien in Konkurrenz treten zu können. Diese Konkurrenz wurde den vogtländischen Herstellern vor allem dadurch erleichtert, dass Kriege zwischen den Kolonialmächten England, Frankreich und den Niederlanden die Zufuhr indischer Baumwollstoffe nach Europa für kürzere oder längere Perioden behinderten und verteuerten. Die sukzessive Verbesserung und Verbilligung des Rohstoffes Baumwolle trug ebenfalls zur Marktfähigkeit der Plauener Musseline bei. Mit der Ausweitung des Anbaus in Südosteuropa und Kleinasien gelangten zusehends größere Mengen von Rohbaumwolle nach Sachsen. Selbst die besser für die Fertigung leichter Stoffe geeignete westindische Baumwolle wurde in den 1770er 1
Mit „Manufaktur“ ist im Folgenden in Anlehnung an die zeitgenössische Terminologie die Produktion von Waren für überregionale Märkte gemeint. Bei der Verwendung des Begriffs im Sinne einer zentralen Betriebsstätte wird dies explizit vermerkt.
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2. Profile des kursächsischen Textilexportgewerbes um 1790
und 80er Jahren vermehrt über Hamburg und Leipzig in die westsächsischen Baumwollreviere importiert.2 Die Herstellung leichter Baumwollstoffe im Vogtland kann man bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Seit etwa 1560 ließen Nürnberger Kaufleute in Plauen sog. Schleier von Heimarbeiterinnen weben. Die von ihnen beauftragten „Faktore“ verteilten die Baumwolle an die Arbeitskräfte, entlohnten sie und sammelten die Waren wieder ein. Unter den Schleiermacherinnen waren offenbar vornehmlich Plauener Bürgertöchter. Die vogtländische Baumwollwarenmanufaktur entwickelte demnach von Anfang Betriebsstrukturen jenseits des zünftigen Textilhandwerks. Es prägten sich aber dennoch bald Formen korporativer Produktionssteuerung heraus, spätestens seitdem am Ende des 16. Jahrhunderts die unternehmerische Kontrolle von den Nürnberger Fernhändlern auf örtliche „Schleierherren“ übergegangen war. 1600 erließ der Rat der Stadt Plauen eine „Schleierordnung“, die die ansässigen Baumwollwarenhändler zu einer Innung zusammenfasste und die Herstellung und den Handel mit solchen Waren regulierte. Den bisherigen Produzentinnen, den Frauen aus dem Plauener Bürgertum, wurden zwar besondere Zugangsrechte zur Innung eingeräumt. Doch im Laufe der Zeit verlor sich offenbar die Bedeutung dieser stadtbürgerlichen Schleiermacherinnen. Allerdings blieb die unzünftige Plauener Baumwollweberei eine überwiegend weibliche Tätigkeit. Noch 1785 war in einem amtlichen Schreiben davon die Rede, dass sie „vorzüglich von denen Weibs-Personen mehrentheils gemeinen Standes betrieben“ werde. Seit dem frühen 18. Jahrhundert kauften in der Regel die Mitglieder der Schleierhändlerinnung – die „Innungsverwandten“ – die rohe Baumwolle ein, ließen sie von ländlichen Arbeitskräften verspinnen und reichten das Garn an die unzünftigen Weber, die sog. Würker, in der Stadt Plauen selbst weiter. Die Würker (und Würkerinnen) arbeiteten gegen Lohn, mussten die fertigen Stücke der Schauanstalt der Innung vorlegen und sie schließlich an ihren Auftraggeber abliefern. Die Händler ließen dann die Gewebe bleichen, färben, bedrucken oder besticken und verkauften sie auf Jahrmärkten und Messen.3 Die Plauener Schleierordnung von 1600 und ihre diversen Neufassungen verschafften den Innungsverwandten eine rechtlich abgesicherte Schlüsselposition in der vogtländischen Baumwollwarenmanufaktur. Sie alleine waren berechtigt, Baumwolle verspinnen zu lassen und Würker zu beschäftigen. Durch ihre Schauanstalt unterwarfen sie die Arbeitskräfte einer strikten Qualitätskontrolle. Ihnen stand 2
3
Zahlen nach: Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 40, 54. Vgl. ebd., S. 46; Gebauer, Volkswirtschaft 2, 538; Goodman/Honeyman, Pursuit, S. 135; Wagner, Textilindustrien, S. 16; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1543 (Loc. 11142/XIV. 1773), Bl. 6: Bericht an Kurfürst, 12.10.1805; ebd. Nr. 1553 (Loc. 11119), Bl. 110 f.: Extrakt Relation Ostermesse, 9.6.1784; ebd. Bl. 154: Extrakt Relation Michaelismesse, 7.10.1784; Bl. 167: Extrakt Relation Ostermesse, 28.5.1785; Bl. 166 f.: Extrakt Relation Michaelismesse 9.11.1785; Artikel „Musselin“, in: Krünitz, Enzyklopädie Band 99, 1805, S. 68. Zitat: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1554 (Loc. 111168/XIV 1077), Bl. 57: Johann Friedrich Wehner, Plauen, an den Kurfürsten, 19.10.1785; Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 119–125; Bein, Industrie, S. 38, 56; Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 536; Zachmann, Ausformung, S. 15 f.
2.1 Reviere und Branchen
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zudem das exklusive Recht zu, im Vogtland Handel mit Schleiern und anderen Baumwollwaren zu treiben. Solange sich die Schleiermacherei in einer überschaubaren Nische abspielte, konnten die Innungsverwandten ihr fein ausgeklügeltes Produktionsregime relativ problemlos aufrecht erhalten. Nachdem sich aber die Musselinweberei in der Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem ausgedehnten und ertragreichen Exportgewerbe entwickelt hatte, geriet die Monopolstellung der Schleierhändler zunehmend unter Druck. Die Woll- und Leineweberinnnungen in Plauen und anderen vogtländischen Städten drängten nun mit Macht in diesen ihnen bislang vorenthaltenen Produktionsbereich hinein. Auf den Dörfern, wo die Plauener Innungsverwandten einen Großteil ihrer Baumwolle verspinnen ließen, breitete sich ebenfalls die Weberei aus. Die Plauener Schleierherren wiederum waren nicht gewillt, die Kontrolle über die vogtländische Baumwollwarenmanufaktur aus der Hand zu geben. In rascher Folge wurde das Manufakturreglement seit den 1750er Jahren revidiert und den neuen Gegebenheiten angepasst. Seit 1764 firmierte die Plauener Schleierherrengilde unter dem zeitgemäßeren Namen einer Innung der Baumwollwarenhändler. Ihr Einzugsbereich hatte sich auf das gesamte Vogtland ausgedehnt. Letztlich machte die massive Produktionsausweitung jeden ernsthaften Versuch zunichte, die Zahl der Wirtschaftsakteure in der vogtländischen Musselinmanufaktur zu beschränken. Die Strategie der Plauener Baumwollwarenverleger lief im Kern darauf hinaus, das Arbeitskräftepotenzial der Zunftweber zu nutzen, ohne allzu viel von ihrer korporativen Verfügungsmacht abzugeben. Einige Baumwollartikel wurden den Leinen- und Wollweberinnungen der vogtländischen Kleinstädte zur freien Fertigung überlassen. Die Musselinweberei selbst unterstand aber weiterhin dem Zuständigkeitsbereich der Baumwollwarenhändler-Innung. Wollten die Lein-, Zeug- und Wollenweber der vogtländischen Städte Musseline und ähnliche Baumwollstoffe fertigen, mussten sie sich in das Plauener Würkerregister eintragen lassen. Sie erhielten wie die Würker ihr Garn von den Baumwollwarenhändlern. Sie waren gehalten, ihre rohen Waren von den Plauener Schaumeistern begutachten zu lassen und durften sie nur zu dem von der Schauanstalt festgesetzten Preis an Innungsverwandte abgeben. Allerdings enthielt das Reglement von 1764 eine Ausnahmeregelung für die wohlhabenderen Webermeister: Sie durften auf eigene Rechnung arbeiten, Baumwolle selbst einkaufen, spinnen lassen und daraus so viel Ware, „als sie durch ihre Gesellen und Jungen zu verarbeiten möchten,“ fertigen.4 Diese erstaunlich großzügigen Bestimmungen zielten offenbar darauf, die Qualität der Produktion zu heben, um in das besonders gewinnträchtige Marktsegment der hochwertigen Musselinstoffe und Modeartikel vorzudringen. Die substantielleren Handwerksbetriebe schienen eher die Voraussetzungen für eine solche „Kunstweberei“ zu bieten als die unzünftigen Würker und die Masse der ärmeren Kleinmeister. Die Innungs-Verwandten hätten, so erklärte der Plauener Großverleger Baumgärtel 1785 den Vertretern der staatlichen Kommerziendeputation, „wider die freye Fertigung der feinen oder so genannten Kaufwaare nichts einzuwenden, son4
HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1553 (Loc. 11119), Bl. 116: Johann Friedrich Wehner, Bürgermeister und Rat, Johann August Fritzsch, Consul, Plauen, an Kurfürst, 4.3.1784.
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dern sie glaubten vielmehr, daß den Webern eine völlige Freyheit hierinnen zur Ermunterung ihres Fleißes in Erfindung neuer Dessins gereiche.“ Den Webermeistern war es zudem ohne weiteres möglich, in die Innung der Baumwollwarenhändler aufgenommen zu werden, so dass sie ihre Erzeugnisse frei vermarkten konnten.5 In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wuchs die Zahl der Innungsverwandten auf mehr als das Doppelte an. 1762, kurz vor ihrer Ausweitung auf die kleineren Nachbarstädte, waren in der alten Plauener Schleierherreninnung 123 Baumwollwarenhändler eingeschrieben. Am Ende des Jahrhunderts gab es an die 300 Innungsverwandte. Laut Reglement mussten die Bewerber ein Vermögen von mindestens 500 Talern nachweisen und eine Aufnahmegebühr von 60 Talern entrichten. Zudem hatten sie sich vor einer Aufnahme in die Innung einer Prüfung ihrer kaufmännischen Kenntnisse zu unterziehen. Doch reichte es in der Praxis offenbar, die Grundrechenarten zu beherrschen, um diese Prüfung zu bestehen.6 Die rasche Vermehrung der vogtländischen Baumwollwarenhändler wurde begleitet von bitteren Klagen der etablierten Innungsverwandten über die vermeintlich ruinöse Konkurrenz bei der Vermarktung der Musseline. In einem 1781 verfassten Memorandum zeichnete der Plauener Verleger Höfner ein düsteres Bild von der Lage des vogtländischen Baumwollwarenhandels. Die Leipziger Messen würden mittlerweile regelmäßig von mehr als 40 Innungsverwandten frequentiert, die dort jeweils bis 5000 Stück Musselin mit sich führten, obwohl das Reglement eigentlich nur 800 Stück pro Händler erlaube. Unter diesen Händlern gebe es zahlreiche Leute, die kaum über das nötige Kapital für den Großhandel verfügten. Sie müssten ihre zur Messe gebrachte Ware unbedingt verkaufen, da sie Baumwolle und Rohware im Vogtland auf Kredit erworben hätten. Dieser Umstand sei wiederum ihren Abnehmern, den aus Iserlohn, Berlin, Königsberg, Russland und Polen angereisten Kaufleuten, nur zu gut bekannt. In der Folge seien auch die solideren vogtländischen Baumwollwarenhändler gezwungen, ihre Waren zu Schleuderpreisen zu veräußern.7 Schon im Vorjahr hatten elf Plauener Verleger den Versuch unternommen, mit den Mitteln freier geschäftlicher Assoziation, den Wildwuchs im Vertrieb von Musselinen und anderen Baumwollstoffen einzuhegen. Sie gründeten unter der Firma Haußner & Comp. ein gemeinsames Kommissionsgeschäft, das kleineren Händlern anbot, ihre Waren zu vermarkten und ihnen nötigenfalls Vorschüsse zu gewähren. Auf diese Weise hofften sie, die zahlreichen kapitalschwachen Kleinverleger und auf eigene Rechnung arbeitenden Webermeister davon abzuhalten, ihre Waren auf den Messen zu verschleudern und ihnen selbst damit die Preise zu verderben. 1784 folgte eine zweite ähnliche Gründung – Conrad Hartenstein & Comp. mit sechs 5 6 7
Zitat: ebd., Bl. 175: Extrakt Relation Ostermesse 23.4.1785. Vgl. Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 33; König, Baumwollenindustrie, S. 122 ff.; Zachmann, Ausformung, S. 16 f.; Wolf, Guildmaster, S. 38 f. Vgl. Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 40 f.; König, Baumwollenindustrie, S. 145; Bein, Industrie, S. 78 f. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1553 (Loc. 11119), Bl. 24: Carl Heinrich Höfner: „Gedanken über die gegenwärtige Situation der baumw. Waaren-Manufactur zu Plauen“, 1781.
2.1 Reviere und Branchen
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Teilhabern. Die Formierung von Grossohandlungen verweist auf einen Konzentrationsprozess in der vogtländischen Baumwollwarenmanufaktur, die sich auch in den Kodifikationen der Händlerinnung widerspiegelte. Das Manufaktur-Reglement hatte die Höchstzahl der Stühle, die ein Innungsverwandter in und außer Haus gehen lassen durfte, auf zwanzig festgelegt. 1774 wurde dieses Klausel aufgehoben und damit dem Aufbau größerer Produktionskapazitäten durch einzelne Verlagsunternehmer freie Hand gegeben. Der Zusammenschluss zu kapitalkräftigen Handelskompanien wiederum eröffnete den Plauener Baumwollwarenverlegern größere Möglichkeiten, die eigenen Produkte direkt zu vermarkten. Seit den 1780er Jahren lieferten Haußner & Comp. große Mengen Musseline nach Konstantinopel, die dort in einer Textildruckerei, die ein Wiener Bankier angelegt hatte, weiter verarbeitet wurden. Auch in Hamburg und Erlangen ließ die Firma rohe Musseline aus dem Vogtland bedrucken.8 Neben den leichten luftigen Baumwollgeweben wurden im Vogtland im späteren 18. Jahrhundert auch dichtere Stoffe hergestellt, sog. Kattune, die meist bedruckt wurden. Bedruckte Kattune – Calicoes – waren ebenfalls ursprünglich eine Spezialität der indischen Baumwollmanufaktur gewesen, die seit dem 17. Jahrhundert als billige Massenware auf die europäischen Märkte gelangte. Bald entstanden auch in England und den Niederlanden Kattundruckereien. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte dieses neue Gewerbe in Hamburg und einigen süddeutschen Handelsstädten Fuß gefasst. 1755/56 verpflichtete ein Konsortium von acht Plauener Innungsverwandten einen Nürnberger Drucker und gründete unter der Firma Facilides & Comp. eine Kattundruckanstalt. Die Gesellschaft erhielt ein kurfürstliches Exklusivprivileg für die Dauer von 30 Jahren, das 1785 um weitere 20 Jahre verlängert wurde.9 Die Baumwollweberei des Chemnitzer Reviers Ein zweites Gravitationszentrum der kursächsischen Baumwollweberei hatte sich bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert in der Stadt Chemnitz gebildet. Im Vergleich zum Plauener Fall weist die Genese der Chemnitzer Baumwollwarenmanufaktur bemerkenswerte Unterschiede auf. Sie ging hier anders als im Vogtland in ziemlich gerader Linie aus der zünftigen Leineweberei hervor. Schon seit der Mitte des 14. Jahrhunderts hatte sich Chemnitz zu einem Zentrum des Leinengewerbes entwickelt. Ihre Position als regionaler Mittelpunkt einer funktional integrierten Textilgewerbelandschaft verdankte die Stadt vor allem dem landesherrlichen Bleichprivileg 8
9
Vgl. ebd. Bl. 53: Extrakt Relation Ostermesse, 25.5.1782; Bl. 56: Extrakt Relation Michaelismesse, 4.11.1782; ebd. Bl. 68: Johann Christian Baumgärtel, Plauen, an Kommerziendeputation, 26.4.1783; ebd. Bl. 111: Extrakt Relation Ostermesse, 9.6.1784; König, Baumwollenindustrie 138–141; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 47 f. Vgl. Verbong, Printing, S. 195 ff.; Bollinger, Textildruck, S. 97; Engel, Farben, S. 88 f.; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 87 ff.; König, Baumwollenindustrie, S. 158–161; Bein, Industrie, S. 94–99.
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2. Profile des kursächsischen Textilexportgewerbes um 1790
von 1357. Das Privileg gewährte der Chemnitzer Bleiche ein Monopol für praktisch das gesamte Territorium der Markgrafschaft Meißen. Die Stadt Chemnitz entwickelte sich in der Folgezeit zu einem regionalen Marktplatz für Leinenwaren. Schon im späten Mittelalter wurde sie in das Netzwerk überregionaler Handelsbeziehungen einbezogen. Eine bedeutsame Rolle übernahmen dabei Augsburger Handelshäuser, die in Chemnitz Leinwand einkauften, um sie in ihre weiträumigen Absatznetzwerke einzuspeisen.10 Die engen Verbindungen mit der oberdeutschen Handelsmetropole leiteten wiederum einen zukunftsweisenden Branchenwechsel ein. Augsburg war nämlich ein bedeutender Umschlagplatz für Baumwolle aus dem Orient, die dort auch zu Geweben verarbeitet wurde, vornehmlich zu mit Leinen gemischten Stoffen („Barchent“). Seit dem 17. Jahrhundert gingen auch die Chemnitzer Leineweber zunehmend dazu über, Barchent zu fertigen. Im frühen 18. Jahrhundert stellten sie schließlich ihre Produktion ganz auf Baumwoll- und Baumwollmischstoffe um. Strukturen dezentraler Produktionsnetzwerke lassen sich in Chemnitz bis seit dem späten Mittelalter zurückverfolgen, als viele auswärtige Weber ihre Produkte roh an Chemnitzer Kaufleute verkauften, die am Standort der Bleichen die weitere Verarbeitung übernahmen. Der Rang der Stadt als Umschlagplatz für Leinen- und später Baumwollwaren brachte es mit sich, dass von hier aus zahlreiche Textilgroßhandelsgeschäfte operierten und auswärtige Fernhandelshäuser durch ihre Faktore vertreten waren.11 Als wichtiger strategischer Vorteil der Kaufleute in der protoindustriellen Baumwollbranche gilt gemeinhin ihre Schlüsselposition bei der Rohstoffversorgung, da Baumwolle, anders als Flachs oder Schafwolle, ein Produkt war, das aus weit entfernten Anbaugebieten herangeschafft werden musste. Seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten sich in Wien griechische Handelshäuser etabliert, die Baumwolle aus den Anbaugebieten in Mazedonien, Thessalien und anderen Teilen des Osmanischen Reiches importierten. Einige Leipziger Großhändler bezogen von dort Rohbaumwolle für den Messehandel. Die Chemnitzer Kaufleute deckten sich direkt in Wien oder auf den Leipziger Messen ein. Seit Mitte der 1760er Jahre erweiterten die mazedonischen Kaufleute ihren Aktionsradius, ließen sich in Chemnitz nieder und gründeten bald auch Filialen in anderen Städten des Reviers. Schon 1775 gab es acht mazedonische Baumwollgroßhandlungen in Chemnitz und die sächsischen Kaufleute zogen sich zunehmend aus dem Importgeschäft zurück.12 Die Kontrolle über die Rohstoffzufuhr scheint allerdings für die Chemnitzer Verlegerkaufleute nur von begrenztem Wert gewesen zu sein. Zum Einen machte es gerade die Entwicklung Chemnitz’ zum zentralen Umschlagplatz des sächsischen Baumwollhandels den in der Stadt ansässigen Webern relativ leicht, sich selbst mit ihrem wichtigsten Rohmaterial zu versorgen. Zum Anderen konnten die Chemnitzer Textilkaufleute ihrerseits die Rohbaumwolle nicht ohne Weiteres nach dem Bei10 11 12
Vgl. Zöllner, Chemnitz, S. 99 ff.; Aubin/Kunze, Leinenerzeugung, S. 8 ff., 25–33. Vgl. Zöllner, Chemnitz, S. 214; Blumenstein, Baumwollenindustrie, S. 124. Zur Ähnlichkeit der Fertigungsschritte und der verwendeten Arbeitsgeräte in der Leinen- und der Baumwollwarenmanufaktur vgl. Mager, Protoindustrialisierung, S. 289. Vgl. Zöllner, Chemnitz, S. 418 ff.; Netta, Handelsbeziehungen, S. 87 ff.
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spiel der Plauener Schleierhändler auf eigene Rechnung zur Verspinnung aufs Land zu geben und dann das Garn in der Stadt von unzünftigen Webern und Weberinnen verarbeiten lassen. Die Chemnitzer Zeug- und Leinweberinnung hatte nämlich im Laufe ihrer jahrhundertelangen Organisationsgeschichte eine Reihe wertvoller Vorrechte und Befugnisse akkumuliert. Sie hatte sich frühzeitig das Recht gesichert, Baumwolle zu verweben, und übte in ihrem Zuständigkeitsbereich auch das Ius Prohibendi aus: Sie konnten jedem, der nicht der Innung angehörte, die Baumwollweberei untersagen. Diese Privilegien erstreckten sich auch auf das Verspinnen der Baumwolle und andere vorbereitende Arbeiten. Selbst das Färben ihrer Baumwollstoffe war den Mitgliedern der Chemnitzer Zeug- und Leinweberinnung seit 1748 ausdrücklich gestattet.13 Diese vergleichweise starke institutionelle Position der zünftigen Weber erschwerte es den Chemnitzer Kaufleuten, verlegerische Strukturen nach dem Muster der vogtländischen Musselinmanufaktur herauszubilden. Ihnen fehlten wesentliche Privilegien und Befugnisse, um direkt in die Produktion einzugreifen. Die Qualitätskontrolle übernahm die Schauanstalt der Weberinnung. Die Chemnitzer Großhandelskaufleute und Manufakturverleger verfügten noch nicht einmal über den so wichtigen Rückhalt einer zünftigen Korporation. Mehrere Anläufe zur Gründung einer Innung der Kaufleute scheiterten in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Im Prinzip herrschte in der Chemnitzer Baumwollwarenmanufaktur noch im ausgehenden 18. Jahrhundert ein Kaufsystem. Die Weber ließen die Baumwolle von ihren eigenen Familienangehörigen verspinnen oder beauftragten im näheren Umkreis ländliche Arbeitskräften damit. In der Regel legten die Meister die gewebten Stücke zur Schau vor, ließen sie dort stempeln und gaben sie roh an einen Großhändler weiter, der sie dann auf eigene Rechnung bleichen, sengen und appretieren ließ. Einige dieser Manufakturgroßhandlungen unterhielten auch eigene Bleichen.14 Auch in zeitgenössischen Quellen wird betont, dass hier anders als im Vogtland, die Webermeister auf eigene Rechnung arbeiteten und ihre Waren verkaufen könnten, an wen sie wollten.15 Doch hatten viele der Innungsmeister Probleme, genügend Betriebskapital für ihre Rohstoffversorgung aufzubringen. Teilweise gewährten ihnen ihre Abnehmer Vorschüsse zum Einkauf der Baumwolle. Eine übliche Praxis war, dass die Verlegerkaufleute den Webern einen Teil des Kaufpreises in Naturalien, sprich: einem Quantum an Rohbaumwolle erstatteten: „Es ist … bekannt, daß die hiesigen Handelsleute, denen Webern bei Abkaufung der Waaren, nur das Spinner- und Arbeitslohn baar bezalen, das rohe Materiale hingegen denselben … wieder restituiren, indem sie selbigen so viel Pfund Baumwolle geben, als zu dem erkauften Stück nach Verhältnis des Gewichts und seiner sonstigen Qualitaeten in circa erforderlich gewesen.“16 13 14 15 16
Vgl. Hahn, Unternehmertum, S. 114–120. Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 81, 118 f.; Hahn, Unternehmertum, S. 127. Vgl. etwa HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1553 (Loc. 11119), Bl. 175: Extrakt Relation Ostermesse, 23.4.1785; sowie eine bei König, Baumwollenindustrie, S. 108, zitierte Aufstellung der Weberinnung von 1806. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1514 (Loc. 11108/XIII. 833), Bl. 208: Bericht Dürisch, 31.3.1786.
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Es bleibt dabei offen, ob es diese Praxis den Webern ermöglichte, auf eigene Rechnung zu produzieren und frei zu verkaufen oder ob ihre Unabhängigkeit in vielen Fällen doch eher eine Formalie war. Nach den Innungsstatistiken arbeiteten zwischen einem Drittel und einem Zehntel der Chemnitzer Webermeister „ums Lohn“. Diese „Lohnmeister“ verdingten sich aber bei Innungsgenossen. Dies war wohl überwiegend eine Notstrategie in Absatzkrisen, die auch die Innungsartikel im Ausnahmefall zuließen. Ansonsten war den Mitgliedern der Zeug- und Leinweberinnung die Lohnarbeit offiziell untersagt. Unter den Landwebern war die Lohnarbeit offenbar verbreiteter. Aber auch hier waren es gewöhnlich Webermeister, die als Auftraggeber auftraten, möglicherweise fungierten sie hier als Zwischenverleger.17 Zumindest bei hochwertigeren Geweben, neu eingeführten Artikeln oder Modestoffen dürften die Chemnitzer Textilkaufleute als Auftraggeber aufgetreten sein. Sie nahmen hier oft detaillierten Einfluss auf den Herstellungsprozess selbst. Sie waren es im allgemeinen, die neue Produkte und Muster einführten, wenn auch wohl meist als Nachahmung marktgängiger Artikel von Herstellern aus anderen Regionen.18 Die in der Literatur gelegentlich zu findende Behauptung, es habe in der Chemnitzer Baumwollweberei des 18. Jahrhunderts überhaupt keine Verleger gegeben19, erscheint daher eher als Definitionsfrage. Auch für die These von einem „fast vollständigen Wegbrechen der durch Kaufleute dominierten Verlagsbeziehungen“20 in Chemnitz nach 1763 und den Übergang verlegerischer Funktionen auf zünftige Meister, finden sich in den Quellen kaum Anhaltspunkte. Die Eingaben, in denen die Chemnitzer Kaufleute und „Fabrique-Verleger“ am Ende der 1780er Jahre den Wunsch nach einer eigenen Innung begründeten, legen es nahe, dass sie nach wie vor verlegerische Funktionen wie Rohstoffverteilung, Musterung und Appretur übernahmen.21 Allerdings sahen sich sich die Chemnitzer Baumwollwarenhändler seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges von den Webermeistern auf ihrem eigenem Terrain herausgefordert. Zur Leipziger Michaelismesse von 1767 beklagten etwa die Chemnitzer Canevas-Verleger bei den Beamten der staatlichen „Kommerziendeputation“ das „Messziehen“ der Webermeister und die große Menge ungelernter 17 18 19
20 21
Vgl. ebd. Bl. 188 f. Vgl. Stadtarchiv Chemnitz Ratsarchiv Kap. V/II, Nr. 24a, o. Bl.: Johann Friedr. Gotth. Arnold an den Rat zu Chemnitz, 6.5.1789. Vgl. etwa Kaufhold, Gewerbelandschaften, S. 126. Diese Behauptung geht offenbar auf eine von König, Baumwollenindustrie, S. 108 f., zitierte Aussage der Weberinnung zurück, in der es heißt, in Chemnitz seien keine Verleger vorhanden, weil jeder Meister seine Waren verkaufe, wo er wolle. König selbst merkt an, dies sei ein engerer Verlegerbegriff, als ihn die nationalökonomische Literatur gebrauche. Der Verlegerbegriff taucht sogar in den Quellen als Selbstbezeichnung auf: siehe etwa das „Pro Memoria“ der „Bevollmächtigten der Chemnitzer Kaufund Handelsleute und Fabrique Verleger“ vom 4.2.1788 an den Rat der Stadt Chemnitz (Stadtarchiv Chemnitz Ratsarchiv Kap. V/II, Nr. 31, Bl. 2). 1780 hielten die „Messrelationen“ fest, in Chemnitz gebe es 20 Fabrikverleger in „Cottons“. (HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1514 [Loc. 11108/XIII. 833], Bl. 130: Extrakt Relation Ostermesse, 21.4.1780) Hahn, Unternehmertum, S. 124. Vgl. Stadtarchiv Chemnitz Ratsarchiv Kap. V/II, Nr. 31, Bl. 1 ff.: Pro Memoria, 4.2.1788; ebd. Nr. 24a, o. Bl.: Johann Friedr. Gotth. Arnold an den Rat zu Chemnitz, 6.5.1789.
2.1 Reviere und Branchen
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Kaufleute, die mit Baumwollwaren Handel treibe.22 Am Ende der 1780er Jahre beschwerten sich die Chemnitzer Verlagskaufleute heftig darüber, dass die Webermeister ihre neuen Modeartikel kopierten und sie so um den Lohn für ihre Aufwendungen brächten: Kaum habe nämlich der Kaufmann „die darzu nöthigen vielen Weber angestellt, so mengen sich gleich, weil es die Waaren im Fortgange leichter, als im Anfange nachzumachen ist, die gedachten handelnden Weber darein, kaufen solche Waaren ein, und auf, bringen sie auf Meßen und Märkte, und verkaufen sie um ein Spottgeld. Der Kaufmann hat also seine aufgewandten Kosten verlohren, hat keinen Lohn für seine Industrie, sondern muß sich von diesen Leuten die ungerechtesten Eingriffe thun lassen …“23
Ihre Innungsartikel gaben den Chemnitzer Zeug- und Leinewebern grundsätzlich die Befugnis, mit den von ihnen gefertigten Waren en detail und en gros Handel zu treiben. Neben den wenig bemittelten kleinen Meistern, die für den Rohstoffeinkauf auf die Vorschüsse ihrer Abnehmer angewiesen waren, gab es in Chemnitz auch eine Reihe besser situierter Weber, die in der Lage waren, ihre verbrieften Rechte auch effektiv wahrzunehmen. Einige von ihnen etablierten sich als durchaus substantielle Textilunternehmer, die in ihrer Werkstatt Modewaren fertigten, andere Webermeister auf Lohn beschäftigten, ihre Waren bleichen und appretieren ließen und schließlich auf eigene Rechnung in die Netze des Fernhandels einschleusten. So gab 1780 der Chemnitzer Webermeister Berthold auf der Leipziger Ostermesse zu Protokoll, er habe alle seine zur Messe mitgebrachten „Piquées“ und andere Baumwollwaren abgesetzt. Sein „türkisches“ (rotgefärbtes) Garn kaufe er in Leipzig ein, da er hier eine größere Auswahl als in Chemnitz habe. Bertholds Vertrieb beschränkte sich offenbar nicht auf das „Messziehen“. Er versende, so teilte er den Vertretern der staatlichen Wirtschaftsbehörde mit, viel nach Warschau „an dasige Kaufleute“.24 Allerdings scheinen solide fundierte Meister-Unternehmer mit umfangreichem Eigenvertrieb insgesamt eher die Ausnahme gewesen zu sein. „Kein hiesiger Weber“, so schrieb der Chemnitzer Justizamtmann Dürisch 1786, „ist im Stande, wie die mehresten hiesigen Kaufleute, wenn einmal der Vertrieb stockt, Waaren auf Speculation zu kaufen, und auf die Niederlage zu legen, sein Handel ist blose Sudeley.“25 Seit den 1770er Jahre erlebte die Chemnitzer Baumwollwarenmanufaktur einen spürbaren Aufschwung. Das Produktspektrum erweiterte sich über die meist halbleinenen Barchente, Canevasse und Cottonaden hinaus. Vor allem auf zwei Gattungen von Geweben konzentrierte sich die Baumwollweberei des Chemnitzer Reviers fortan. Zum Einen waren dies höherwertige, oft gestreifte oder gemusterte Modestoffe wie feine Canevasse oder Piquèes. Solche Webwaren waren zunächst 22 23 24 25
Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1514 (Loc. 11108/XIII. 833), Bl. 42: Extrakt Relation Michaelismesse, 5.11.1767. Stadtarchiv Chemnitz Ratsarchiv Kap. V/II, Nr. 24a, o. Bl.: Johann Friedr. Gotth. Arnold an den Rat zu Chemnitz, 6.5.1789. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1514 (Loc. 11108/XIII. 833), Bl. 128: Extrakt Relation Ostermesse, 21.4.1780. Ebd. Bl. 232: Bericht Dürisch, 31.3.1786. Vgl. König, Baumwollenindustrie S. 110.
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2. Profile des kursächsischen Textilexportgewerbes um 1790
vornehmlich in England, Frankreich und Holland produziert worden. Ihr Markterfolg auf den Leipziger Messen und anderen mitteleuropäischen Umschlagplätzen inspirierte die Chemnitzer Kaufleute und Webermeister dazu, Stoffe dieser Art selbst anzufertigen bzw. anfertigen zu lassen. Vor allem die Piquèes, feine Gewebe mit einer reliefartig erhabenen Musterung, entwickelten sich nach ihrer erstmaligen Herstellung in Chemnitz 1773 schnell zu einer Spezialität der örtlichen Weberei. Schon zwei Jahre später vermeldete der amtliche Bericht von der Leipziger Ostermesse, die „Etoffes piqué“ hätten „wegen ihrer guten Qualitaet und wohlfeilen Preises, indem sie in der Güte nunmehro den Englischen fast ganz gleich seyn sollen, und doch im Preiß weit wohlfeiler sind, einen so guten Abgang gehabt, daß davon eine weit größere Quantitaet, als auf dem Platz gewesen, [hätten] abgesetzt werden können“. Diese neuen Produkte stellten hohe Anforderungen an die handwerklichen Fertigkeiten der Weber.26 Das andere Standbein der Baumwollwarenmanufaktur des Chemnitzer Reviers bildete die Kattunweberei. Das Handelsbuch der Chemnitzer Weberinnung weist die baumwollenen Kattune erstmals für das Jahr 1755 aus. Zu diesem Zeitpunkt war gerade im benachbarten Burgstädt die erste kursächsische Kattundruckerei gegründet worden, die diese Gewebe als Rohmaterial aufkaufte. Zehn Jahre später siedelten sich auch in Chemnitz solche Betriebe an. Den Anfang machte 1765 der Hamburger Kolorist Wilhelm Gottlieb Schlüssel, der schon in der Burgstädter Druckerei tätig gewesen war, und nun mit staatlicher Unterstützung den Kattundruck in Chemnitz einführte. Anders als die Betreiber der Plauener Textildruckerei erlangte Schlüssel kein monopolistisches Produktionsprivileg. In den 1770er und 80er Jahren wurden vier weitere Druckereibetriebe in Chemnitz eröffnet. Auch in anderen Städten fasste die Kattundruckerei im ausgehenden 18. Jahrhundert Fuß, in Hohenstein, in Zschopau, in Frankenberg und selbst außerhalb der südwestsächsischen Baumwollregion, etwa in Großenhain oder in Zittau. Die Kattundruckereien waren zentrale Werkstätten, die Lohnarbeiter beschäftigten, und außerhalb der Regulierungsmacht des Zunfthandwerks standen. Ihre Gründer kamen aber offenbar dennoch überwiegend aus dem Chemnitzer Weberhandwerk, möglicherweise aufgrund ihrer Färberrechte. Die rohen Kattune wurden zunächst gebleicht oder gefärbt und dann in Fabrikationssälen auf langen Tischen mit Druckformen, in die das Negativ des Musters gestochen war, bearbeitet. Sog. Streichjungen bestrichen die Druckform mit Farbe und reichten sie an den Drucker weiter, der die Form mit der Hand auf den Stoff applizierte. Gegebenenfalls wurden dann die bedruckten Muster von weiblichen Arbeitskräften, den „Schildermädchen“, mit dem Pinsel von Hand ausgemalt. Die Druckereiunternehmen verbanden Produktions- und Absatzfunktionen. Gewöhnlich bezogen sie Rohkattune von den örtlichen Verlagsgroßhandlungen, um dann das fertige Produkt auf eigene Rechnung zu vermarkten.27 26 27
Zitat: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1514 (Loc. 11108/XIII. 833), Bl. 91 f.: Extrakt Relation Ostermesse, 31.5.1775; vgl. Maschner, Weberei, S. 46; Kunze, Frühkapitalismus, S. 18 f.; Deutsche Gewerbezeitung 23, 1858, S. 22. Vgl. Scholz, Kattundruckerei, S. 144; Uhlmann, Unternehmer, S. 21 f.; Hahn, Herkunft, S. 99– 104; Zöllner, Chemnitz, S. 214, 350, 415 ff.; Kunze, Frühkapitalismus, S. 20 f.; Maschner, We-
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Die Baumwollweberei hatte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts von Chemnitz aus auf das weitere Umland ausgebreitet. In Mittweida und Frankenberg wurden ähnliche Artikel wie in Chemnitz gefertigt, vor allem Canevasse und Kattune, wenn auch meist in einfacheren Qualitäten. Ernstzunehmende Konkurrenz erwuchs der Chemnitzer Baumwollwarenmanufaktur im Laufe des 18. Jahrhunderts durch die Weberei in und um Glauchau. Schon seit dem 16. Jahrhundert hatten die Glauchauer Leineweber ihr Produktionsspektrum auf wollene, baumwollene und Mischgewebe erweitert. Im Laufe des 18. Jahrhunderts verdrängte die Baumwollwarenherstellung allmählich die Leineweberei. Der Standort Glauchau profitierte dabei von seiner territorialen Sonderstellung. Die Stadt gehörte zu den Schönburgischen Herrschaften, die erst allmählich in das kursächsische Staatsgebiet integriert wurden. Die Schönburger Grafen hatten zwar durch den „Receß“ von 1740 ihren Anspruch auf Reichsunmittelbarkeit aufgegeben, aber eine ganze Reihe von autonomen Herrschaftsrechten behalten. Die „Rezessherrschaften“ galten gegenüber dem kursächsischen Territorium zollrechtlich als Ausland, und die Schönburger Grafen versuchten die Textilgewerbe in ihrem Gebiet mit allerlei steuerlichen Begünstigungen zu fördern. So wurden in Sachsen auf alle Waren eine „Generalaccise“ erhoben, die beim Eingang in eine Stadt zu entrichten war. Die Schönburger Herren hatten auf diese Warensteuer und einige andere in Kursachsen übliche Abgaben verzichtet, so dass die Glauchauer Verleger in der Lage waren, ihre Textilien um etwa 10 bis 12 Prozent billiger anzubieten als die Chemnitzer Konkurrenz. Ähnliches galt für die anderen Schönburger Städte – Meerane, Hohenstein, Ernstthal, Lichtenstein, Lößnitz und Waldenburg. Den Chemnitzer Kaufleuten war es zwar 1739 gelungen, die Dresdner Regierung zu veranlassen, ihre solcherart begünstigte Konkurrenz beim Einbringen ihrer Waren auf kursächsisches Gebiet mit Einfuhrzöllen zu belegen. Doch blieben den Schönburgischen Verlegern offenbar zahlreiche Schlupflöcher, um diese Zölle zu umgehen. Zudem bezogen auch etliche Chemnitzer Verlagskaufleute eines Teils ihres Sortiments aus dem Schönburgischen. Es lag demnach nicht in ihren Interessen, auf diese Waren Zölle zu entrichten.28 Die Heimindustrien des Erzgebirges: Spitzen, Posamenten, Strümpfe Ebenso eigentümlichen Mustern wie die Genese der Baumwollwarengewerbe im Vogtland und im Chemnitz-Glauchauer Raum folgte die Entstehung und Entwicklung der obererzgebirgischen Spitzen- und Kleiderbesatzherstellung und der Strumpfwirkerei des nordwestlichen Erzgebirgsrands. Die Fertigung von handge-
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berei, S. 48; Sebastian, Entstehung, S. 244 Naumanns Industrial- und Commercial-Topographie, S. 122. Vgl. die Beschwerden der Chemnitzer Kaufleute an den Kurfürsten, 13.12.1749, und an den Rat der Stadt 19.6.1777 (Stadtarchiv Chemnitz, Ratsarchiv Kap. V/II, Nr. 15, Bl. 6 f.; ebd. Nr. 24, Bl. 2–7); HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1514 (Loc. 11108/XIII. 833), Bl. 35: Ectract. Ostermesse. 14.5.1767; Krebs, Textilindustrie, S. 80 f.; Demmering, Textilindustrie, S. 50 f.; Die industrielle Bedeutung …, S. 8, 24: Naumanns Industrial- und Commercial-Topographie, S. 85, 142, 209.
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2. Profile des kursächsischen Textilexportgewerbes um 1790
klöppelten Spitzen und von Kleiderbesätzen, sog. Posamenten, geht bis in das 16. Jahrhundert zurück. Die Spitzenklöppelei wurde ganz überwiegend von Frauen ausgeübt. Die Heimarbeiterinnen waren in einem weitgehenden Maße an ihren jeweiligen Verleger gebunden. Das ausgeteilte Garn blieb Eigentum des „Spitzenherren“ (bzw. der „Spitzenherrin“). Zum Teil stellten die Verleger sogar das Arbeitsgerät, den Klöppelsack. Die landesherrlichen Spitzenordnungen verboten den Klöpplerinnen, für mehr als einen Verleger zu arbeiten.29 Merklich anders entwickelte sich das Produktionsregime in der Herstellung von Posamenten – Bändern, Litzen, Quasten, Tressen, Schnuren und anderen Verzierungen für Kleider, Wäsche, Vorhänge oder Möbelbezüge. Die Posamentiererei lag größtenteils in den Händen männlicher Arbeitskräfte, die sich bereits zu Beginn des 17. Jahrhundert zu Innungen zusammen geschlossen hatten. Dies verschaffte den Posamentierern zwar eine stärkere Position gegenüber ihren Auftraggebern als den unorganisierten Spitzenklöpplerinnen. Doch waren auch sie in weitgehendem Maße den Anweisungen und Dispositionen anderer Wirtschaftsakteure unterworfen. Beide Branchen weisen strukturelle Gemeinsamkeiten auf, die offenbar die Herausbildung eines Verlagssystems förderten. Hier wie dort ging die Initiative von Anfang an von Unternehmern aus, die Marktchancen erkannten und das Arbeitskräftepotenzial der Bergstädte und der landwirtschaftlich kargen Mittelgebirgsregion nutzten. Die Rohstoffzufuhr basierte zumindest partiell auf überregionalen Marktbeziehungen. Flachs wurde im Erzgebirge selbst angepflanzt und zu Leinengarn verarbeitet. Für feinere Spitzen und Bänder wurden jedoch gewöhnlich holländischer Zwirn und italienisches Seidengarn verwendet. Ihre Beschaffung und Finanzierung fiel den Verlegerkaufleuten wesentlich leichter als den Kleinmeistern und Heimarbeiterinnen. Spitzen und Posamenten waren Schmuck- und Luxusprodukte, für eine wohlhabendere Kundschaft bestimmt und wechselnden Moden unterworfen. Das Design dieser Erzeugnisse spielte für ihren Markterfolg eine bedeutsame Rolle. Die Posamentierer erhielten gewöhnlich die Muster für ihre Erzeugnisse vom Verleger, der sie entweder selbst entworfen oder aus Paris und anderen Modezentren und Messeplätzen mitgebracht hatte. Die erzgebirgischen Spitzen wurden oft nach französischen, italienischen und brabantischen Vorbildern angefertigt. Auch hier besorgten die Verleger die Muster, um sie dann auf vorgestochene Papiervorlagen, sog. Klöppelbriefen, zu reproduzieren und ihren Heimarbeiterinnen zu übergeben.30 Die Genese der Strumpfwirkerei zu einer bedeutsamen Branche des kursächsischen Textilgewerbes vollzog sich im Wesentlichen erst im 18. Jahrhundert. Beim Wirken werden wie beim Stricken Maschen gebildet, die den Stoffen eine höhere Elastizität verleihen als gewebten Waren. Diese Technik eignet sich vor allem für eng am Körper anliegende Kleidungsstücke: Strümpfe, Handschuhe, Unterwäsche, 29 30
Vgl. Keller, Kleinstädte, S. 215–218; dies., Nahrungszweig, S. 204 f.; dies., Zunft, S. 156–159; Floss, Entwicklung, S. 28–35; Schöne, Posamentierer, S. 120–125; Holzberg, Posamentenindustrie, S. 11; Peck, Beschreibung, S. 49 ff. Vgl. Finck, Stürme, S. 163 f., 178 ff.; Holzberg, Posamentenindustrie, S. 12; Schöne, Posamentierer, S. 113 ff.; Keller, Kleinstädte, S. 216 f.; dies., Zunft, S. 156.
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Mützen. Als Initialzündung für die Entstehung der sächsischen Strumpfwirkerei als Manufakturgewerbe wirkte ein Technologietransfer, der in den einschlägigen landes- und lokalhistorischen Darstellungen oft in anekdotischer Verdichtung beschrieben worden ist. Der Kutscher Johann Georg Esche, ein Bediensteter des Limbacher Rittergutsbesitzers Anton von Schönburg, bekam um 1710 in Dresden die Gelegenheit, einen Strumpfwirkerstuhl französischer Bauart näher zu zu besehen. Solche sog. Handkulierstühle waren schon im späten 16. Jahrhundert in England erfunden und später in Frankreich adaptiert worden. In den sächsischen Textilrevieren waren sie am Anfang des 18. Jahrhundert noch unbekannt. Ob nun Esche den Dresdner Wirkstuhl aus dem Gedächtnis nachbaute oder ob er das defekte Gerät kaufte und zu Hause reparierte, darüber gehen die Überlieferungen auseinander. Jedenfalls gelang es dem Limbacher Kutscher, funktionierende Handkulierstühle herzustellen und auf ihnen Seidenstrümpfe zu fertigen.31 Die Literatur ist sich ebenfalls nicht einig darüber, ob Esche diese Erzeugnisse in einem geschlossenen Manufakturbetrieb herstellte oder von Heimarbeitern fertigen ließ.32 Da aber mit der Ausbreitung der Strumpfwirkerei seit den 1720er Jahren der Rohstoff Seide bald größtenteils durch billigeres Baumwollgarn ersetzt wurde, setzte sich im allgemeinen eine dezentrale Betriebsweise durch. Mitte des 18. Jahrhunderts war das Gewerbe in zahlreichen Ortschaften des Chemnitzer Raums fest etabliert. Das Strumpfwirkerrevier zog sich von Penig und Burgstädt im Nordwesten über Limbach, Oberlungwitz und Chemnitz, bis in die Gegend um Stollberg, Thalheim und Thum im mittleren Erzgebirge. Auch im westlichen Vogtland, um Pausa und Mühltroff, wurden Strümpfe gewirkt. Der Mittelpunkt dieses Reviers lag allerdings jenseits der Grenze in Zeulenroda in der Grafschaft Reuß.33 Bereits für 1729 ist die Gründung einer Strumpfwirkerinnung in Chemnitz dokumentiert, die auch einen Teil der umliegenden Ortschaften erfasste. In vielen der kleineren Städte und Dörfer bildeten sich im Laufe der Zeit eigenständige Innungen. Die Zünfte der Strumpfwirker schrieben im allgemeinen eine mehrjährige Lehrzeit, Wanderjahre für die Gesellen und bestimmte Qualifikations- und Besitznachweise für die Zulassung als Meister vor. Ihre Statuten enthielten zumeist Bestimmungen und Befugnisse, um unzünftigen Personen das Strumpfwirken zu untersagen. Doch solche Verbietungsrechte wurden häufig unterlaufen. Der Einsatz von Frauen an den Wirkstühlen scheint ebenso verbreitet gewesen zu sein wie die Strumpfwirkerei als Nebenverdienst in den landwirtschaftlichen Ruhephasen. Zudem standen die lokalen Innungen offenbar untereinander in Konkurrenz um Mitglieder. Die Limbacher Strumpfwirkerzunft nahm ohne Weiteres auch ortsfremde Meister auf, und ihre Innungsartikel waren deutlich liberaler als die der Chemnitzer Stadtinnung. Sie verlangte von Lehrlingen nicht den Nachweis ehelicher Geburt 31 32 33
Vgl. Schöne, Posamentierer, S. 130; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 315; Meister, Führer, S. 23. Forberger, Manufaktur, S. 169, nimmt an, dass J. G. Esches Sohn und Nachfolger David Esche 1764 einen Betrieb mit 80 Stühlen leitete, während nach Schöne, Posamentierer, S. 129, diese Stühle bei Heimwirkern standen. Vgl. Hanschmann, Strumpfwirkerei, S. 45 f.; Gebauer, Volkswirtschaft 3, 340 f.: Kaufhold, Gewerbelandschaften, S. 131; Mager, Protoindustrialisierung, S. 289.
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2. Profile des kursächsischen Textilexportgewerbes um 1790
und stellte es den Meistern frei, eine beliebige Zahl von Gesellen und Lehrlingen zu beschäftigen.34 Der verstärkte Übergang vom wertvollen Rohstoff Seide zu Baumwolle oder Schafwolle machte die Produzenten weit weniger abhängig von kapitalkräftigen Verlegern, zumal für die Herstellung von Strümpfen, Handschuhen oder Mützen relativ wenig Garn notwendig war. Wo Rohbaumwolle oder Garn am Wohn- und Arbeitsort selbst problemlos beschafft werden konnte, zogen es die Strumpfwirker nicht selten vor, auf eigene Rechnung zu arbeiten. In Chemnitz war es offenbar im 18. Jahrhundert nicht unüblich, dass Wirkermeister ihre Waren an die in der Stadt ansässigen Großhändler verkauften. Die Strümpfe wurden gewöhnlich genäht, aber ansonsten roh verkauft. Die Kaufleute ließen das Zwickelnähen, Bleichen und Formen auf eigene Rechnung außer Haus besorgen und brachten sie dann in den Handel. Je weiter die Werkstätten der Strumpfwirker räumlich von den städtischen Handelsplätzen entfernt lagen, desto eher entwickelten sich verlagsähnliche Strukturen im engeren Sinne. Auf den Dörfern erhielten die Arbeitskräfte die Rohstoffe gewöhnlich von Faktoren, die auch die fertiggestellten Wirkwaren wieder einsammelten. Als Faktore traten oft ortsansässige Wirkermeister auf, die z. T. im Auftrag von Verlegerkaufleuten, z. T. auf eigene Rechnung arbeiteten.35 Zeugweberei und Tuchmacherei Im Unterschied zur Baumwollweberei, die sich um wenige regionale Zentren herum entwickelte, hatten sich die Schafwolle verarbeitenden Branchen wesentlich weitflächiger über das Territorium des Kurfürstentum Sachsens verstreut. Grundsätzlich lassen sich für die Frühe Neuzeit zwei Arten der Wollwarenfertigung unterscheiden, die Tuchmacherei und die Zeugweberei. Unter „Tuchen“ versteht man im allgemeinen schwere, lodenartige Stoffe, wie sie etwa für Mäntel verwendet werden. „Zeuge“ sind dagegen relativ leichte Wollgewebe mit ähnlichen Eigenschaften wie Baumwollstoffe. Im späteren Mittelalter hatte sich die Tuchmacher und Zeugweber in den meisten sächsischen Städten angesiedelt. Seit dem 17. Jahrhundert waren diese Branchen aber in einigen Regionen rückläufig, vor allem im Chemnitzer und Plauener Raum, den Zentren der Baumwollweberei. Im Großen und Ganzen lassen sich um 1785 drei größere, mehr oder weniger zusammenhängende Reviere unterscheiden, in denen Wollgewebe für überregionale Märkte hergestellt wurden. Im Westen zogen sich die Produktionsstandorte der sächsischen Tuch- und Zeugmacherei im thüringisch-kursächsischen Grenzgebiet entlang der Zwickauer Mulde und der Pleiße von Rochlitz, über Lunzenau, Burgstädt, Meerane, Crimmitschau und Wer34 35
Vgl. Irmscher, Strumpfindustrie, S. 34–37; Schöne, Posamentierer, S. 127 f.; Trensch, Strumpfwirker-Innung, S. 52; Hanschmann, Strumpfwirkerei, S. 79 ff.; Oppenheim, Wirkwarenindustrie, S. 16–19. Schönfeld, Dürisch, S. 45. Vgl. Schöne, Posamentierer, S. 126–131; Oppenheim, Wirkwarenindustrie, S. 39 ff.; Irmscher, Strumpfindustrie, S. 38, 53–56; Hunger, Strumpfindustrie, S. 24–28; Deutsche Gewerbezeitung 23.9.1845, S. 449.
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dau, nach Zwickau und Kirchberg bis ins nördliche Vogtland (Reichenbach, Mylau, Netzschkau, Treuen, Lengenfeld). Eine zweite Zone der Wollwarenfabrikation breitete sich an der Freiberger Mulde von Leisnig über Döbeln nach Roßwein und von dort in südwestlicher Richtung über Hainichen, Oederan bis nach Zschopau aus. Schließlich erstreckte sich, drittens, ein Tuchmacherrevier östlich der Elbe von den oberlausitzischen Städten Kamenz, Bischofswerda und Bautzen bis in das 1815 an Preußen abgetretene Gebiet um Görlitz. Dazu kamen noch weitere, räumlich eher isolierte Standorte, etwa die Städte Grimma, Oschatz und Großenhain.36 In den Wollgewerben Kursachsens hatte sich am Ende des 18. Jahrhunderts, was ihre Erzeugnisse wie ihren Absatzradius anbetraf, eine mehr oder minder deutliche Zweiteilung etabliert. Auf der einen Seite standen die noch stark in den Traditionen des Zunfthandwerks wirtschaftenden Produzenten, die ihre Gewebe, meist einfache Tuche und Wollzeuge, an Kaufleute verkauften, die sie wiederum über die Leipziger Messen vermarkteten oder auf die näher gelegenen deutschen Märkte brachten. Auf der anderen Seite hatten sich an einigen südwestsächsischen Standorten der Tuchund Zeugmacherei nach der Jahrhundertmitte weitläufigere Strukturen der Produktion und Vermarktung herausgebildet. Diese Entwicklung hing offenbar mit einem Wandel der Nachfrage auf den europäischen Textilmärkten zusammen. Statt schwerer robuster Tuche wurden zunehmend Kleidungsstücke aus leichteren Wollstoffen verlangt. Diese Stoffe – vor allem Flanelle – waren einem stärkeren Wechsel der Mode unterworfen. Sie wurden oft bedruckt und benötigten eine sorgfältige Appretur. Die Flanellweberei kam aus England. Ihre Erzeugnisse wurden zunehmend auf den kontinentaleuropäischen und bald auch auf den transatlantischen Märkten angeboten. Hier lagen die Ursprünge des Aufstiegs West Yorkshires (Leeds, Bradford) zur weitaus bedeutendsten britischen Exportregion für Wollwaren.37 Die Anfänge der Flanellweberei lassen sich in Sachsen bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts zurück verfolgen. Zunächst stellte vor allem das Grimmaer Tuchmacherhandwerk diese neuen Gewebe her, allerdings wohl eher einfache Ware. Erst seit der Mitte des Jahrhunderts gelang es der sächsischen Wollwarenmanufaktur in das wachsende und gewinnträchtige Marktsegment der Golgas und Berylls, hochwertigerer gefärbter und bedruckter Flannellstoffe einzudringen. Dieser erfolgreiche Vorstoß auf das Terrain des britischen Wollwarenexports ist vor allem mit dem Namen des Crimmitschauer Verlagsunternehmers David Friedrich Oehler (1725–1797) verbunden. Oehler, Sohn eines Färbers und Kaufmanns, hatte bereits als junger Mann nach der Übernahme des väterlichen Geschäfts eigene Textilfarbmischungen entwickelt. Nach einem einjährigen Aufenthalt in England begann er mit dem Beryll-Druck. Da die in Sachsen gefertigten Roh-Flanelle nicht seinen Qualitätsanforderungen entsprachen, bezog Oehler zunächst rohe Gewebe aus England. Bald fand er auch in der Nähe seiner Heimatstadt Weber und Tuchma36 37
Vgl. Bökelmann, Wollgewerbe, S. 27 ff.; Keller, Zunft, S. 154; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 75, 84 f.; Grosche, Zwickau, S. 36; Fritzsche, Werdau, S. 10 f., 23; Poenicke, Reichenbach, S. 45, Bräuer, Handwerk, S. 36–39. Vgl. Goodman/Honeyman, Pursuit, S. 126; Hudson, Genesis, S. 156; dies., Proto-industrialisation, S. 39 ff.
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2. Profile des kursächsischen Textilexportgewerbes um 1790
cher, die fähig und bereit waren, Stoffe von ähnlicher Qualität zu fertigen. Die Reichenbacher Tuchmacher, so erinnerte sich Oehler zwei Jahrzehnte später, hätten besonderes Geschick in der Nachahmung der englischen Waren gezeigt, „wozu ich Ihnen bey jedesmaliger Bestellung die nöthigen Anweisungen zu Fertigung derselben, nebst der ihnen ermangelnden feinen Wolle gegeben.“38 In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts verbreitete sich die Flanellweberei zwischen Rochlitz, Crimmitschau und dem nördlichen Vogtland, ebenso in den benachbarten thüringischen Städten Gera und Greiz. Neben Oehler etablierte sich eine Reihe weiträumig disponierender Verlegerkaufleute, die eine größere Anzahl von Arbeitskräften koordinierten. So ließ der Crimmitschauer Kaufmann Seyfarth, ein ehemaliger Kompagnon Oehlers, Mitte der 1780er Jahre die von ihm verlegten Waren von Tuch- und Zeugmachern in Frohburg, Borna, Penig, Werdau, Reichenbach und verschiedenen Dörfern fabrizieren, ebenso von Leinewebern im schönburgischen Städtchen Meerane. Der Rochlitzer Leinewebermeister Johann Christian Winkler hatte seit den späten 1740er Jahren ein ähnliches Verlagsnetzwerk aufgebaut. Dabei beschränkte sich die Fertigung der von Oehler, Seyfarth, Winkler und anderen Textilunternehmern verlegten Weber und Tuchmacher bald nicht mehr auf Flanellstoffe, sondern weitete sich auf ein breites Spektrum von Wollzeugen, feinen Tuchen und Halbtuchen, halbseidenen Geweben und selbst Baumwollstoffen aus.39 Den westsächsischen Wollwarenverlegern stand seit den späten 1760er Jahren ein hochwertiger Rohstoff aus regionaler Erzeugung zur Verfügung. Auf Initiative der neu gebildeten „Landes-, Oeconomie-, Manufaktur- und Commerzien-Deputation“ waren nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges spanische Merinoschafe im Kurfürstentum eingeführt wurden. Die Zucht dieser Schafe, deren Wolle von hoher Qualität war, verbreitete sich so schnell in Sachsen, dass die „Elektorenwolle“ bald zu einem auch anderswo begehrten Handelsgut wurde. Die Verwendung dieses Rohstoffes mag auch den Übergang zu Verlagsstrukturen beschleunigt haben, war es doch für die Weber schwierig, auf eigene Rechnung die teure Merinowolle einzukaufen. Ähnliches gilt wohl auch für halbseidene Gewebe, wie sie etwa in Burgstädt hergestellt wurden. So berichtete der Burgstädter „Zeug-Fabricant“ Adam Friedrich Hahn 1767, er lasse allein 60 seiner Mitmeister auf Lohn für sich arbeiten.40 Mindestens ebenso wichtig wie die Versorgung mit hochwertiger Wolle war für die Wettbewerbsfähigkeit der westsächsischen Flanell- und Tuchmanufaktur die Endfertigung der rohen Gewebe, das Färben, das Drucken und die Appretur. So 38 39
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HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 516 (Loc. 11096/XI. 316), Bl. 14: David Friedrich Oehler, Crimmitschau, an Kommerziendeputation, 12.12.1778. Vgl. Rößig, Handelskunde, S. 266 ff.; Kästner, Crimmitschau, S. 76–82. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1624 (Loc. 11117/XIII 1086), Bl. 27 f.: C. G. Vetter, Crimmitschau, an Kommerziendeputation, 12.12.1789; ebd., Bl. 21: Extrakt Relation Ostermesse, 17.6.1786; ebd. Bl. 22: dito Michaelismesse, 7.10.1786; Naumanns Industrialund Commercial-Topographie, S. 254. HStAD 10078 Kommerziendeputation Nr. 1694 (Loc. 11105/X. 705), Bl. 1: Extrakt Relation Ostermesse, 12.5.1767. Vgl. Forberger; Manufaktur, S. 81; Ansicht einiger Hauptzweige, S. 115 ff.
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berichtete 1770 Graf Einsiedel, zu dieser Zeit erzgebirgischer Kreishauptmann, der Kommerziendeputation, es bemühten „sich jetzund einige unter denen Peniger jungen Kaufleuten, die englische Appretur nachzuahmen, und daher nicht allein den Glantz, sondern auch den spielenden Schimmer zu geben“.41 Nicht zufällig hatte David Friedrich Oehler den Einstieg in das Geschäft mit den Golgas und Berylls über ein von ihm geheim gehaltenes Färb- und Druckverfahren gefunden. Man habe ihm, so schrieb er 1792 an seinen kurfürstlichen Landesherren, noch unlängst 1000 Pfund Sterling für seine „Farben-Arcana“ geboten, „welche die von mir gefertigten Waaren bisher vorzüglicher selbst als die Englischen machten“. Er habe den Kampf mit der englischen Konkurrenz schon oft „und allemahl zu meinem Vortheile bestanden.“42 Für Oehler war die väterliche Färberei der Ausgangspunkt zum sukzessiven Aufbau ausgedehnter eigener Produktionsanlagen. Zu seiner Garnfärberei fügte er nach seiner Rückkehr aus England eine Beryll-Druckerei hinzu. 1763 erwarb er ein Rittergut, wo er Merinoschafe züchtete. Für die Fertigung der wertvollsten Stoffe stellte Oehler Webstühle auf und ließ auch das Mangeln und andere Appreturprozesse auf dem eigenen Betriebsgelände vornehmen. Damit hatte er peu á peu den Schritt zu einem Unternehmen gemacht, das den gesamten Fertigungsprozess von der Rohstoffgewinnung bis zur Endfertigung in eigenen Betrieben integrierte. David Friedrich Oehler und seine ihm nachfolgenden Söhne waren also, wie es in einem rückblickenden Bericht 1811 heißt, zu „im eigentlichen Sinne des Worts: Fabrikanten“ geworden. In Rochlitz hatte Winkler schon 1746 eine solche Tuchmanufaktur gegründet. Unter der Leitung von sechs bis sieben angestellten Tuchmachermeistern arbeitete hier in den 1780er Jahren offenbar eine größere Zahl zünftig ausgebildeter Webergesellen. In Crimmitschau beschäftigte Johann Cristoph Seyffarth etwa zur gleichen Zeit Tuch- und Zeugmacher auf 18 Webstühlen mit der Herstellung von Wollzeugen und halbseidenen Artikeln – neben rund 180 Stühlen, auf denen außer Haus für sein Verlagsunternehmen wollene und baumwollene Stoffe gefertigt wurden.43 Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurden solche „Manufakturen“ im engeren Sinne – Großbetriebe mit handwerklichen Produktionsmitteln – in Kursachsen offenbar in größerer Zahl in verschiedenen Gewerbebranchen gegründet. Ihre Betreiber benötigten in der Regel eine besondere landesherrliche Konzession, die 41 42 43
HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1690 (Loc. 11095/XI. 286), Bl. 11: Extrakt des Schreibens von Kreishauptmann Graf von Einsiedel an Konferenzminister Wurmb, 13.4.1770. Ebd. Nr. 1701, (Loc. 11103/XVI. 579), Bl. 113: D. F. Oehler an den Kurfürsten, 2.10.1792: Vgl. ebd. Nr. 1702 (Loc. 11154/XIV. 2021), Bl. 14: Justizamt Zwickau an den König, 6.6.1811; Bein, Industrie, S. 106 f. Zitat: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1702 (Loc. 11154/XIV. 2021), Bl. 14: Justizamt Zwickau an den König, 6.6.1811; vgl. ebd. Nr. 1624 (Loc. 11117, XIII, 1086), Bl. 21: Extrakt Relation Ostermesse, 17.6.1786; ebd. Bl. 22: dito Michaelismesse, 7.10.1786 ; ebd. Bl. 27 f.: Carl Gottfried Vetter, Crimmitschau, an Kommerziendeputation, 12.12.1789; HStAD 10736: MdI Nr. 23508, Bl.19 ff.: Johann Christian Winkler, Rochlitz, an Kurfürst, 16.2.1776; Lorenz, Tuchmacherhandwerk 93 ff.; Kästner, Crimmitschau, S. 76–84, Leonhardi, Bemerkungen, S. 40.
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2. Profile des kursächsischen Textilexportgewerbes um 1790
sie von den an ihrem Standort geltenden Zunftregularien suspendierte. Meist waren die staatlichen Konzessionen mit weiteren Vergünstigungen verbunden wie Steuerbefreiungen oder Geldzuschüssen. Manchmal gewährte die Landesregierung den Manufakturgründern auch zeitlich begrenzte Exklusivprivilegien für die Fertigung und den Verkauf bestimmter Artikel, vornehmlich dann, wenn es sich um Produkte, Verfahren und Maschinen handelte, die neu im Kurfürstentum eingeführt wurden. Nicht selten wird es sich dabei um Unternehmungen gehandelt haben, die nur mit massiver staatlicher Subventionierung und Privilegierung überleben konnten. In den genannten Beispielen jedoch und wohl auch noch in einer Reihe weiterer ähnlicher Fälle erwies sich der Schritt zum integrierten Betrieb als unternehmerische Strategie, um den Wettbewerb auf überregionalen Märkten zu bestehen.44 Dass sich der zentrale Manufakturbetrieb gerade bei der Fertigung von feineren Tuchen und Wollzeugen ausprägte, dürfte nicht zuletzt daran gelegen haben, dass die Herstellung von Wollgeweben wesentlich mehr Arbeitsaufwand als etwa die Fertigung von Baumwoll- oder Leinenwaren erforderte. Die Rohwolle durchlief eine ganze Reihe von Verarbeitungsstufen, bevor sie überhaupt zu Garn gesponnen werden konnte. Die gewebten Stoffe mussten wiederum gewalkt, gestreckt, geraut, geschoren, gepresst und ggf. gefärbt werden, bevor sie in den Handel kamen. In der zünftigen Tuchmacherei wurden bestimmte Teile des Fertigungsprozesses von eigenständigen Handwerkern übernommen, wie den Tuchscherern und Tuchbereitern, die in gesonderten Innungen organisiert waren.45 Die Langwierigkeit und Komplexität des Fertigungsverfahrens schuf Anreize zur vertikalen Integration des Produktionsprozesses. Die Zusammenfassung von Spinnerei, Weberei und Appretur ersparte Kosten und Zeit für den Hin- und Hertransport der Garne und Rohgewebe zwischen den Spinnstuben, Weberwerkstätten, Walkmühlen, Tuchschererund Tuchbereiterbetrieben, Druckereien und Färbereien. Mit dem Zusammenziehen von Arbeitskräften in einem zentralen Produktionsbetrieb war zudem eine nachhaltigere Einflussnahme und Kontrolle auf den Fertigungsprozess verbunden – ein Zusammenhang, der weiter unten noch genauer beleuchtet wird.46 Die Oberlausitzer Leinwandmanufaktur Im westelbischen Teil des Kurfürstentums Sachsen war am Ende des 18. Jahrhunderts die Fabrikation von Leinengeweben weitgehend zugunsten anderer Textilien aufgegeben worden. In der Oberlausitz dagegen hatte sich die Leineweberei nicht nur halten können. Vielmehr waren die Produktionskapazitäten des Leinwandge44 45 46
Vgl. Forberger, Manufaktur, S. 34 ff., 89, 154–161; Bökelmann, Wollgewerbe, S. 42–55; allgemein: Pollard, Markets, S. 38 f. Eine ausführliche Beschreibung dieser Arbeitsprozesse findet sich bei Lorenz, Tuchmacherhandwerk, S. 42–59; vgl. Mager, Protoindustrialisierung, S. 291 ff.; Bökelmann, Wollgewerbe, S. 64 f.; Flik, Textilindustrie, S. 226; Hempe, Kette, S. 31 ff. Vgl. Forberger, Manufaktur, S. 236; allgemein: Mager, Protoindustrialisierung, S. 291 f.; Kisch, Textilgewerbe, S. 283 f.; Lis/Soly, Industrialisierungswege, S. 309.
2.1 Reviere und Branchen
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werbes in der Region um die Städte Zittau, Löbau und dem jenseits der Neiße gelegenen Lauban im Laufe des 18. Jahrhunderts enorm gewachsen. Schon im ausgehenden Mittelalter war das Leinwandgewerbe in der Oberlausitz in die Netzwerke des europäischen Fernhandels integriert. Um 1500 traten vornehmlich Nürnberger Handelshäuser als Großabnehmer der Lausitzer Leinwand auf, die sie als billige Massenware vor allem auf die italienischen Märkte brachten. Die süddeutschen Kaufleute schlossen mit den städtischen Leineweberinnungen gewöhnlich kollektive Lieferverträge mit einjähriger Laufzeit. Die Zünfte garantierten damit Quantität und Qualität der Waren. Um die Kontrakte erfüllen zu können, unterwarfen die Innungen die von ihren Mitgliedern gefertigten Gewebe auf mehreren Produktionsstufen einer intensiven Qualitätskontrolle. In der abschließenden Schau wurden die Leinenwaren gestempelt und erhielten damit ein Gütesiegel, mit dem die Innung für die Leinwand ihrer Meister bürgte. Die Lieferverpflichtungen der städtischen Leineweberzünfte führten bald dazu, dass auch das Arbeitskräftepotenzial der umliegenden Dörfer in die Produktion einbezogen wurde. Zur Ausbreitung der Leineweberei auf dem Land trugen nicht zuletzt auch zahlreiche adlige Landbesitzer bei, die gezielt Weber auf ihren Gütern ansiedelten. Der „Stuhlzins“, den die Heimarbeiter entrichten mussten, war für die lausitzischen Gutsherren eine willkommene Einnahmequelle. Nachdem die Verlagerung der Leineweberei aufs Land erst einmal in Gang gekommen war, gelang es den Stadtzünften nicht mehr, diese Entwicklung zu kontrollieren und zu begrenzen.47 Mit der Verlagerung der Handelsströme in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lösten Hamburger und bald auch englische Handelsfirmen die Nürnberger als Abnehmer der Lausitzer Leinwand ab. Die Praxis des „Zunftkaufs“ verschwand. Bautzner, Zittauer oder Löbauer Bürger übernahmen im Auftrag der auswärtigen Großhandelshäuser den Ankauf der Leinenwaren vor Ort. Zugleich vollzog sich eine Ausdifferenzierung der Produktpalette. Zu den einfachen, roh verkauften Geweben kamen nun auch hochwertigere und gemusterte Leinenwaren. Endfertigung und Veredlung verlagerte sich mit der vermehrten Anlage von Bleichen und Färbereien in die Region selbst. Am Anfang des 18. Jahrhunderts hatten sich die Oberlausitzer Kaufleute von ihren Hamburger Auftraggebern weitgehend verselbständigt und waren zu Geschäften auf eigene Rechnung übergegangen. Es bildeten sich um 1705 in Löbau, Zittau und einigen anderen Oberlausitzer Städten Kaufmannssozietäten, die danach strebten, den Leinwandhandel in ihrem Einzugsgebiet zu monopolisieren. Doch außerhalb des Stadtgebiets waren sie dabei kaum erfolgreich. Auf dem flachen Land erwuchs den städtischen Kaufleuten zunehmend Konkurrenz durch „Dorfgrossisten“, die als selbständige Verleger auftraten und ihre Waren auf Jahrmärkten und Messen absetzten oder an Hamburger und englische Großhandelsfirmen verkauften. Diese ländliche Händlerschicht rekrutierte sich wohl zu einem nicht geringen Teil aus dörflichen Honoratioren, die zuvor im Auftrag der städti-
47
Vgl. Schurig, Entwicklung, S. 12 f.; Staudinger, Leineweberei, S. 141 f., 147–163; Ludwig, Handel, S. 65 f.; Aubin/Kunze, Leinenerzeugung, S. 272–275.
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schen Kaufleute als ortskundige Faktore tätig gewesen waren.48 Ein Sonderfall war der Kaufmann Abraham Dürninger, ein gebürtiger Elsässer, der sich der Herrnhuter Brüdergemeine angeschlossen hatte. Seine Mitbrüder übertrugen ihm die Leitung des Ladengeschäfts der religiösen Gemeinschaft, die sich unweit von Zittau niedergelassen hatte. Dürninger baute dieses Geschäft zu einem umfangreichen Unternehmen aus, das zahlreiche Heimweber beschäftigte und Leinwandhandel in großem Stil betrieb. Am Ende des 18. Jahrhunderts galt die Firma Abraham Dürninger & Co. als größtes gewerbliches Unternehmen in Kursachsen.49 Die zünftige Leinenproduktion in den Städten verlor nach 1700 zusehends an Bedeutung. An einigen Orten entwickelten sich allerdings auch in den Oberlausitzer Weberdörfern Zunftorganisationen, vor allem bei den Damastwebern in Großschönau. Die Fertigung der oft stark gemusterten Damastgewebe erforderte eine vergleichsweise hohe handwerkliche Qualifikation und legte ein stärker formalisiertes Ausbildungssystems nahe. Ansonsten bildeten sich aber korporative Organisationen in der ländlichen Leinwandmanufaktur allenfalls rudimentär aus. Die Dorfweber arbeiteten in der Regel gegen Lohn. Faktore und Einkaufskommissionäre der städtischen Kaufleute und die selbständigen Dorfhändler gaben Leinengarn aus und sammelten die Gewebe wieder ein. Die Ausformung eines solchen Verlagssystems dürfte wohl auch durch die Bedingungen der Rohstoffversorgung gefördert worden sein. Der in der südlichen Oberlausitz angebaute Flachs reichte bei weitem nicht für den Bedarf der regionalen Leineweberei aus. Es mussten daher Rohstoffe und Halbwaren aus den benachbarten schlesischen und böhmischen Gebieten eingeführt werden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreitete sich der Flachsanbau, angeregt durch Zittauer Kaufleute, im Erzgebirge. Das Verspinnen erledigten zum Teil die Flachsbauern selbst, zum Teil übernahmen unterbäuerliche Arbeitskräfte diese Tätigkeit. Vor allem im Raum Görlitz, Bautzen und Löbau gab es Spinndörfer, in denen ein größerer Teil der Einwohner ihren Lebensunterhalt mit der Flachsspinnerei bestritt. Gewerbsmäßige Garnsammler kauften das Gespinst auf den Dörfern auf und lieferten es an die Leinwandverleger oder ihre Faktore. Zudem wurde Garn aus Böhmen und Schlesien importiert oder über die Grenze geschmuggelt.50 2.2 VARIANTEN DER PROTOINDUSTRIALISIERUNG Unser Streifzug durch die Reviere und Branchen der kursächsischen Textilgewerbe des ausgehenden 18. Jahrhunderts hat ein Bild von geradezu verwirrender Vielfältigkeit vermittelt. Es deutet sich hier an, dass sich protoindustrielle Produktionssys48 49 50
Vgl. Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 17 ff., 29–32; Staudinger, Leineweberei, S. 156– 162; Kunze, Leinengroßhandel, S. 43; Ludwig, Handel, S. 69–72; Weber, Leinwand, S. 146; Kaufhold, Gewerbelandschaften, S. 124 f. Vgl. Homburg, Dürninger, S. 274 ff.; Wagner, Dürninger, S. 29–122. Vgl. Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 9–15; Staudinger, Leineweberei, S. 162–168; Raetzer, Damast, S. 97 f.; Weber, Leinwand, S. 146 f.; Industrielle Zustände, S. 145–150.
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teme selbst auf dem vermeintlich überschaubaren Terrain eines Regionalstaats in sehr unterschiedlichen Formen und zahlreichen Varianten ausprägen konnten. Diese unübersichtliche Vielfalt gilt es nun systematisch aufzubereiten, ggf. zu ergänzen und in den Bezug mit den Befunden und Thesen der einschlägigen Forschung zu setzen. Land und Stadt Ein definitorisches Kernelement der Protoindustrialisierungsthese in ihrer klassischen Lesart verkoppelt die Verlagerung gewerblicher Produktion von den Städten auf das Land mit der Entstehung eines „überschüssigen“ Arbeitskräftereservoir in bestimmten agrarisch-ländlichen Regionen. Protoindustrielle Strukturen entstanden demnach häufig in landwirtschaftlich kargen Gebieten, wo wenig ertragreiche Böden zusätzliche Einnahmequellen notwendig machten und sich gleichzeitig die klein- und unterbäuerliche Bevölkerung stark vermehrte.51 In dieses naturräumliche und demographische Muster lässt sich das textilgewerblich verdichtete Gebiet am Nordrand des sächsisch-böhmischen Mittelgebirgszugs zwischen Plauen und Zittau zunächst einmal recht gut einpassen. Die Ertragskraft der landwirtschaftlichen Flächen war selbst in den tieferen Lagen der Region eher bescheiden. Gerade im oberen Erzgebirge hatte sich die Bevölkerung im Gefolge des Silberbergbaus auch außerhalb der Städte schon seit dem Mittelalter in einem Maße vermehrt, dass die von der Landwirtschaft gebotenen Subsistenzmöglichkeiten bei weitem nicht mehr hinreichten. Zudem setzte sich seit dem 16. Jahrhundert in der bäuerlichen Landwirtschaft des albertinischen Sachsens das Anerbenrecht durch. In der Regel erbte der jüngste Sohn den elterlichen Hof, musste aber seine Geschwister finanziell abfinden. Im Gefolge dieser institutionellen Weichenstellung wandelte sich die dörfliche Sozialstruktur bis zum 18. Jahrhundert in markanter Weise. Die Zahl der vollbäuerlichen Familien blieb zwei Jahrhundert lange relativ konstant, während der Anteil der Häusler, Gärtner und Inwohner an der ländlichen Bevölkerung ständig zunahm. Besonders hohe Zuwachsraten weisen dabei von der Mitte des 16. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts die gewerblich verdichteten Gebiete auf. Den Spitzenwert erzielten die Dörfer des Zittauer Amtsbezirks, wo sich die Einwohnerzahl in diesem Zeitraum mehr als vervierfachte. Weit über dem Landesdurchschnitt lag der Bevölkerungszuwachs auch im benachbarten Löbauer Gebiet, ebenso in den Bezirken Schwarzenberg im Erzgebirge, Auerbach im Vogtland und Glauchau. Das sächsische Anerbenrecht hatte demnach ganz ähnliche Effekte auf das protoindustrielle Arbeitskräftereservoir wie das Realteilungssystem.52 51 52
Vgl. Kriedte u. a, Sozialgeschichte, S. 234–242. Vgl. Blaschke, Bevölkerungsgeschichte, S. 180–189; Schirmer, Landwirtschaft, S. 140–143; Schöne, Posamentierer, S. 108–122; Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte, S. 22 ff.; Schäfer, Wirtschaftslandschaft, S. 81 ff., 88 f.; Fischer, Stadien, S. 486 f.; Herrigel, Industrial Constructions, S. 35 f.
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Dagegen sprechen die sächsischen Befunde eher gegen die These, eine von Frondiensten befreite bäuerliche Bevölkerung sei die Vorbedingungen dafür gewesen, dass genügend Arbeitskräfte für die gewerbliche Heimarbeit vorhanden waren.53 In der Lausitz, die erst im 17. Jahrhundert in das Territorium des Kurfürstentums eingegliedert wurde, hatte sich eine Form der Gutsherrschaft herausgebildet. Trotzdem entwickelte sich die südliche Oberlausitz zu einer der bedeutendsten deutschen Leinenexportregionen der Frühneuzeit. Und gerade hier breiteten sich Verlagssystem und ländliche Heimweberei besonders frühzeitig und nachhaltig aus. Der meißnische, überwiegend westlich der Elbe gelegene Teil Sachsens gehörte dagegen zu den Gebieten, in denen die ländliche Bevölkerung größere Verfügungsrechte über das von ihr bebaute Land besaß. Aber selbst in diesen grundherrschaftlichen Regionen des Kurfürstentums waren die Bauern zum Teil zu Frondiensten, ihre Kinder zum Gesindezwangsdienst verpflichtet. Die westelbischen Rittergüter mochten im Allgemeinen kleiner als ihre ostelbischen Pendants sein. Doch auch ihre Bewirtschaftung gründete auf bäuerlichen Dienstverpflichtungen. In beiden Landesteilen behinderte die Inanspruchnahme von Arbeitskräften für feudale Gutswirtschaften nicht die Entwicklung protoindustrieller Strukturen auf dem Land. Die Grund- und Gutsherren belegten die dörflichen Leinwand- und Baumwollweber, Strumpfwirker und Posamentierer mit Geldabgaben, sog. „Stuhlgeldern“. Dies war offenbar eine so gute Einnahmequelle, dass nicht wenige Oberlausitzer Gutsbesitzer aktiv Leinenoder Bandweberfamilien in ihrem Herrschaftsbereich ansiedelten.54 Im gesamten gewerblich verdichteten südwest- und südostsächsischen Raum stützte sich die Textilherstellung in der ein oder anderen Weise auf das Arbeitskräftereservoir der ländlichen Heimarbeit. Das Verspinnen von Flachs-, Woll- und Baumwollgarn, das Weben, Wirken und Besticken von Stoffen, die Herstellung von Posamenten, Bändern und Spitzen bot bäuerlichen wie unterbäuerlichen Familien eine mehr oder minder wichtige Quelle der Subsistenz. Die Gärtner, Häusler und zur Miete wohnende „Inwohner“ übten solche Tätigkeiten oft als Haupterwerb aus, auch wenn sie weiterhin selbst etwas Land bewirtschafteten oder sich als saisonale Tagelöhner bei Bauern und auf Gutshöfen verdingten. Aber: das protoindustrielle Textilgewerbe in Sachsen wurde nicht allein und nicht einmal überwiegend von ländlicher unzünftiger Heimarbeit in ihrer gewissermaßen klassischen Form getragen. Zum Einen hatte sich ein Teil der männlichen Textilarbeiter auf dem Land frühzeitig in eigenen Innungen organisiert oder sich einer städtischen Zunft angeschlossen. Dazu gehörten die obererzgebirgischen Posamentierer, die Strumpfwirker der Dörfer in der Chemnitzer Peripherie, die Großschönauer Damastweber in der Oberlausitz und vielerorts auch die Wollzeug- und Kattunweber auf den westsächsischen Dörfern. Die Zugangs- und Niederlassungsregeln dieser ländlichen 53 54
Vgl. vor allem Kriedte u. a., Industrialisierung, S. 49–56; sowie Schremmer, Industrialisierung, S. 434 f. Vgl. Ludwig, Handel, S. 67 f.; Schöne, Bandweber, S. 18 ff.; Boelcke, Bauer, S. 9 ff., 45, 88; Haun, Bauer, S. 162–168, 182–185; für den ähnlich gelagerten schlesischen Fall siehe auch Boldorf, Leinenregionen, S. 31–37; allgemein: Ogilvie, State Corporatism, S. 404–407; Pfister, Wachstum, S. 29 f.
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Innungen dürften allerdings meist weniger strikt als die ihrer städtischen Vorbilder gewesen sein. Ihre Mitglieder waren zudem wegen der räumlichen Zerstreutheit der Wohn- und Arbeitsstätten in der Regel stärker in die Netzwerke der Verleger und Faktoren eingebunden.55 Auf der anderen Seite war unzünftige Heimarbeit in Sachsen nicht allein ein ländliches Phänomen. Die Spitzenklöppelei wurde von Anfang an auch in den Bergstädten des Obererzgebirges betrieben. Die Schleiermacherinnen und „Würker“ der Plauener Baumwollwarenmanufaktur wohnten in der Regel in der Stadt. Die ländliche Weberei wurde hier erst 1764 freigegeben. Vor allem aber hatte das städtische Zunfthandwerk in Sachsen einen bedeutsamen Anteil am Produktionsvolumen der Textil-Exportwirtschaft. Nur in der Leinenmanufaktur der südlichen Oberlausitz war die zünftige Stadtweberei im Laufe des 18. Jahrhunderts definitiv auf dem Rückzug. Die relativ junge Baumwollweberei konnte sich zwar unter bestimmten Konstellationen, wie in Plauen, zunächst einmal als unzünftiges Gewerbe etablieren. Doch die alten städtischen Leineweberund Zeugmacherinnungen unternahmen vielerorts große Anstrengungen, in diesen neuen und dynamisch wachsenden Produktionszweig einzudringen und ihn, wenn möglich, für die eigene Zunft zu monopolisieren. Im Vogtland gelang es den Zunftwebern seit Mitte des 18. Jahrhunderts, das Monopol der Plauener Kaufmannsgilde auf die von ihr gesteuerte unzünftige Verlagsweberei aufzubrechen und so am Boom der Musselinfertigung teilzuhaben. Hier ebnete gerade die enorme Ausweitung des Produktionsvolumens den städtischen Weberinnungen den Weg. In Chemnitz sicherte sich die Zeug- und Leinweberinnung frühzeitig über die Fertigung von Mischgeweben den Zugriff auf die Baumwollweberei in der Stadt. Akteure und Arrangements Der Arbeitsprozess bei der Herstellung von Stoffen war in allen sächsischen Textilrevieren auch noch am Ende des 18. Jahrhunderts im Regelfall dezentral und kleinbetrieblich organisiert. Innerhalb dieser Grenzen gab es aber eine große Bandbreite verschiedener Formen und Stufen unternehmerischen Zugriffs auf die handwerklichen Arbeitskräfte. An einem Pol dieses Spektrums steht – idealtypisch gesprochen – der zünftig organisierte Handwerksmeister, der frei seine eigenen Dispositionen über Garneinkauf, Produktion und Vermarktung trifft. Am anderen Pol befindet sich der Verleger-Unternehmer, der unzünftige Heimarbeiter mit Rohstoffen oder Halbwaren beliefert, ihnen Quantität, Qualität und Musterung der Erzeugnisse genau vorgibt, Werkzeuge und Arbeitsgeräte stellt, die Waren zu einem vereinbarten Lohn wieder abnimmt, sie weiterverarbeiten lässt und schließlich auf den Markt bringt. Die Produktion und die Vermarktung von Textilien vollzog sich in einem institutionellen Rahmen, der den Akteursgruppen spezifische, im Prinzip exklusive Handlungs- und Verfügungsrechte zuordnete. Im Grundsatz galt eine strikte Arbeitsteilung zwischen Kaufleuten und Handwerkern, die in staatlichen Gewerbeordnungen wie in den Statuten der lokalen Innungen rechtlich fixiert war. Der Zugang zu den 55
Vgl. Trensch, Strumpfwirker-Innung 53; Hanschmann, Strumpfwirkerei, S. 46, 79 ff.
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Sphären der Warenproduktion und des Warenhandels wurde jeweils kontrolliert von Berufskorporationen und war an die Absolvierung formaler Ausbildungsgänge und Zulassungsprozeduren gebunden. Die Berufsausübung setzte meist die Mitgliedschaft in einer lokal verankerten Zunftorganisation voraus und wurde von dieser reguliert und kontrolliert.56 Die Vielfalt der institutionellen Arrangements zeigt aber an, dass der Rahmen der korporativen Wirtschaftsverfassung in den kursächsischen Textilgewerberegionen keineswegs so starr war, als dass er eine gegenseitige Durchdringung der Sphären von Produktion und Handel verhindert hätte. In der Praxis standen den Wirtschaftsakteuren Wege und Räume jenseits des ihnen zugeordneten Wirkungsbereichs offen, die ggf. den unternehmerischen Zugriff auf Produktion und Vertrieb ermöglichten. Für Kaufleute gestaltete sich das Vordringen in die Produktionssphäre dort relativ unproblematisch, wo sich keine korporativ organisierte Gegenmacht entwickeln konnte. Dies galt etwa in den Branchen, die auf vornehmlich weibliche Arbeitskräfte zurückgreifen konnten, wie die Plauener „Schleiermacherei“ oder die obererzgebirgische Spitzenklöppelei, ebenso dort, wo die Spinnerei, Weberei oder Wirkerei primär als saisonaler Nebenerwerb in einem agrarisch geprägten Wirtschaftszusammenhang betrachtet wurde. Allerdings erscheint diese klassische unzünftige „Heimarbeit“ in den protoindustriellen Textilrevieren des Kurfürstentums Sachsen insgesamt eher die Ausnahme gewesen zu sein. Denn häufig schlossen sich auch die Dorfweber, -wirker oder -posamenteure zu zünftigen Korporationen zusammen, wenn diese vielleicht auch nicht die Schlagkraft und Regulierungsmacht städtischer Handwerkerinnungen entwickelten. Schwieriger war es für verlegerisch agierende Kaufleute, in die von städtischen Zunfthandwerken beanspruchten Wirkungsbereiche einzudringen. Die Innungsartikel des Weber- und Tuchmacherhandwerks verboten gewöhnlich die Lohnarbeit oder beschränkten sie auf ein ausnahmsweises Arrangement zwischen Zunftmeistern. Oft besaßen die zünftigen Weber auch Exklusivrechte bei der Verarbeitung ihrer Rohstoffe. Sie allein waren dann befugt, Wolle bzw. Baumwolle verspinnen zu lassen oder weitere vorbereitende Arbeiten wie das Scheren der Ketten zu besorgen.57 Es gab aber auch hier durchaus Wege, um solche Regularien zu umgehen oder zu unterlaufen und Einfluss auf die Herstellung von Webwaren zu nehmen. Die Probleme vieler Webermeister bei der Finanzierung ihrer Rohstoffversorgung eröffneten den Kaufleuten die Möglichkeit, durch Vorschüsse oder Überlassung von Rohwolle oder Garn auf Kredit ein Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Gunsten zu schaffen. Je teurer die verwendete Wolle oder Baumwolle war, je mehr Seide, Goldfäden oder ähnliche Materialien verwebt wurden, desto eher dürften die Produzenten von kapitalkräftigen Auftraggebern abhängig gewesen sein.
56 57
Vgl. Horster, Gewerbeverfassung, S. 1–6, 30–36; allgemein: Wischermann/Nieberding, Revolution, S. 81. Vgl. Stadtarchiv Hohenstein-Ernstthal, Stadt Hohenstein, Abt. IV, Abschnitt II, Nr. 125, Bl. 52 ff., 56: Innungsartikel des Zeug-, Lein- und Wollen-Weber-Handwerks zu Hohenstein, bestätigt vom Reichsgrafen von Schönburg, 1.10.1775, Art. LVII, LXIV, LXVII, LXXII.
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Zudem stand es den städtischen Webermeistern ohne weiteres frei, auf Bestellung zu arbeiten, ohne dass damit der auftraggebende Kaufmann in den Produktionsprozess selbst eingegriffen hätte. Der Besteller konnte aber bestimmte Vorgaben und Wünsche über die Beschaffenheit der bestellten Stoffe formulieren. So findet sich im „Copierbuch“ des Plauener Kaufmanns Poeschmann das folgende Schreiben an einen Adorfer Webermeister: „Übersande 5 Stk. weißen Flanell habe wohlerhalten … Wenn Sie wieder ein 1 Stk. in Arbeit nehmen u. selbiges bald fertig ist, so ersuche mir es wissen zu laßen, weil ich gegen Ostern hin doch wieder 1 Stk. haben muß, aber recht gerne sähe ich wenn … künftig der Flanell nicht so grau wie zeithero sondern hübsch weiß seyn könnte, …“.58
Schließlich konnten die zunftrechtlichen Bestimmungen und Verbietungsrechte durch eine landesherrliche Konzession ganz außer Kraft gesetzt werden. Dies ermöglichte es kapitalkräftigeren Kaufleuten, direkt in der Produktionssphäre tätig zu werden und Webwaren im Eigenbetrieb durch zünftige oder unzünftige Arbeitskräfte fertigen zu lassen. Diese Möglichkeit, die zünftige Wirtschaftsverfassung zu durchbrechen, schlug sich mitunter auch als Vorbehalt in den vom Landesherren sanktionierten Innungsstatuten nieder. So führen die Artikel des Hohensteiner Zeug-, Lein- und Wollen-Weber-Handwerks, die 1775 von der Schönburger Regierung bestätigt wurden, zwar eine ziemlich umfassende Liste von Tätigkeiten auf, bei denen der Innung ein „Ius Prohibendi“ zustehe, schränken dies aber gleich wieder mit dem Zusatz ein: „außer was denen ausgestandenen Kauf- und Handelsleuten, so in Hohenstein Handlung betreiben, oder denenjenigen, so mit einer besonders erlangten Befreyung und Concession sich legitimiren können, dieserwegen zugestanden werden möchte.“59
Unmittelbaren Zugriff auf den Produktionsprozess nahmen die Verlagskaufleute eher im Bereich der Endfertigung. Sie erhielten die Gewebe oft roh und sorgten für ihre weitere Herrichtung. Wenn kein bereits gebleichtes oder gefärbtes Garn verwendet wurde, mussten die Rohgewebe gebleicht und/oder gefärbt werden. Ein Teil der Stoffe wurde bedruckt. Tuche mussten gewalkt und geschoren werden. Schließlich durchliefen die Webwaren verschiedene Appreturverfahren, die ihnen ein ansehnliches Äußeres, eine größere Elastizität o. ä. verleihen sollten. Strümpfe und Handschuhe mussten zusammengenäht werden; manche Gewebe wurden durch Besticken veredelt. Die basalen Weiterverarbeitungsschritte der Web- und Wirkwarenfertigung waren entweder von kommunalen bzw. zunfteigenen Betrieben oder von speziellen Handwerken – den Färbern, Tuchscherern, Tuchbereitern – übernommen worden. Zum Teil bedienten sich auch die Verlagsunternehmer dieser Einrichtungen. Im Laufe des 18. Jahrhunderts entstanden neben den Rats- und In58 59
Stadtarchiv Plauen: Geschäfts- und Familienbücher Poeschmann-Schneidenbach: Nr. 1: Copierbuch Poeschmann 1789–1806: Brief an Joh. Georg Ebner, Adorf, 8.11.1792. Stadtarchiv Hohenstein-Ernstthal IV/II, Nr. 125, Bl. 49: Innungsartikel des Zeug-, Lein- und Wollen-Weber-Handwerks zu Hohenstein, bestätigt vom Reichsgrafen von Schönburg, 1.10.1775. Vgl. zur sächsischen Konzessionierungspraxis: Horster, Gewerbeverfassung, S. 19 f.; Forberger, Manufaktur, S. 256 f.
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nungsbleichen vielerorts neue „privat“ betriebene Bleichen und „Appreturanstalten“, in denen Verleger und auf eigene Rechnung produzierende Handwerksmeister ihre Stoffe auf Lohn zurichten lassen konnten. Näh- und Stickarbeiten wurden gewöhnlich an Heimarbeiterinnen ausgelagert, wenn sie nicht, wie oft bei den Strumpfwirkern im meisterlichen Familienbetrieb erledigt wurden. Einen mehr oder minder großen Teil der Endfertigungsarbeiten ließen die Verleger aber im eigenen Haus oder in eigenen Werkstätten unter ihrer direkten Aufsicht ausführen. Größere Verlagshandlungen unterhielten auch eigene Bleichen oder Färbereien oder fassten – wie die Tuch- und Flanellunternehmer – eine größere Zahl von Fertigungsstufen zu einem Manufakturbetrieb zusammen.60 Auf der anderen Seite griffen aber auch die zünftigen Webermeister in die kaufmännische Sphäre aus. Ihre Innungsstatuten gaben ihnen gewöhnlich die Berechtigung, die eigenen Erzeugnisse auf Messen und Jahrmärkten zu vertreiben oder damit hausieren zu gehen. In den behördlichen Akten finden sich denn auch zahlreiche Klagen von Kaufleuten über das „Messziehen“ der Weber- und Tuchmachermeister und die daraus hergeleiteten negativen Folgen für das eigene Geschäft. Einzelne Handwerksmeister verfolgten mit der Vermarktung ihrer eigenen und der von Mitmeistern auf Lohn gefertigten Waren wohl durchaus eine unternehmerische Strategie: Sie hofften, selbst zum Verleger aufzusteigen. Für die meisten Weber dürfte aber der Eigenvertrieb eher eine mühsame Angelegenheit gewesen sein, die vornehmlich als Notstrategie in Zeiten der Absatzkrise aufgenommen wurde. Letztlich übten die Kaufleute und die als Verleger agierenden Meister Funktionen aus, von denen im Prinzip auch das Weberhandwerk profitierte. Sie erleichterten den Kleinproduzenten die Versorgung mit Rohstoffen, werteten die Erzeugnisse durch eine marktgerechte Endfertigung auf und sorgten für ihren überregionalen Vertrieb. Dabei hing es nicht selten von der Initiative einzelner unternehmender Kaufleute oder Handwerksmeister ab, ob sich am Ort verlagsähnliche Strukturen entwickelten. So hieß es in einem amtlichen Bericht 1766, die Baumwollmanufaktur in den Schönburger Rezessherrschaften sei der Chemnitzer erst gefährlich geworden, als „reiche Kaufleute sich daselbst etablirt“.61 Manche solcher Vorstöße scheiterten wohl am Widerstand der örtlichen Zünfte oder sie wurden aufgegeben, weil die Handwerker allzu notorisch das ihnen ausgehändigte Rohmaterial unterschlugen. Doch die Innungen der Textilhandwerker nahmen nicht generell eine Abwehrhaltung gegenüber dem Verlagssystem ein. Eine effektive Organisation des überregionalen Vertriebes der Erzeugnisse durch einen kapitalkräftigen, am Ort ansässigen Verlegerkaufmann konnte den örtlichen Zünften höchst vorteilhaft erscheinen. So klagte die Falkensteiner Zeug-, Leinen- und Wollenweberinnung 1795 in einer Petition an den Landesherren:
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Vgl. Maschner, Weberei, S. 46, 56, 88; König, Baumwollenindustrie, S. 118; Kunze, Frühkapitalismus, S. 17; Bein, Industrie, S. 74; Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 528 f., 538; Schurig, Entwicklung, S. 71 ff.; Barbe, Tuchindustrie, S. 45 f. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1514 (Loc. 11108/XIII. 833), Bl. 16: Bericht, 25.4.1766.
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„Einzig und allein an hinlänglichem unumgänglich hierzu erforderlichem Verlage, fehlt es uns bey dieser Industriellen Bearbeitung, im Betracht, wir, größtentheils armen, bedrängten Arbeiter, sobald wir etwas von … Cammertuch gefertigt haben, solches sofort wiederum in Geld zu setzen, oftmals leyder! zu verschleudern, und um einen nur allzu niedrigen Preis zu verkaufen gedrungen, und mithin weder einigen Vorrath hierunter zu erlangen noch auch die erforderlichen Materialia in Quantität, und mit Nutzen einzukaufen im Stande sind.“62
Mancherorts gingen die lokalen Strukturen der dezentralen Manufaktur mit der Zeit ein. So gaben die Wollwarenverleger der vogtländischen Städte Reichenbach, Netzschkau und Mylau im 18. Jahrhundert ihre Geschäfte auf. Die dort ansässigen Zeug- und Tuchmacher arbeiteten fortan größtenteils für thüringische Verleger aus Greiz und Gera oder für die Crimmitschauer Unternehmer Oehler und Seyfarth. Nicht selten entglitt den Großkaufleuten, die in einem größeren regionalen Umkreis agierten, nach einiger Zeit die Kontrolle über ihr verlegerisches Netzwerk. Lokale, produktionsnähere Akteure nahmen ihnen die Fäden aus der Hand und verselbständigten sich. Man kann daher im 18. Jahrhundert nicht unbedingt einen allgemeinen Trend zur stärkeren Konzentration unternehmerischer Funktionen in der Hand kapitalkräftiger Verlegerkaufleute erkennen.63 Diese Befunde mögen zwar in gewisser Weise den von Pfister konstatierten volatilen Charakter protoindustrieller Produktionssysteme bestätigen.64 Doch war mit dieser Volatilität in den meisten Fällen kein länger anhaltender Niedergang des betreffenden Reviers oder Produktionsstandorts verbunden. Es zeigt sich hier vielmehr eine bemerkenswerte Adaptionsfähigung der Wirtschaftsakteure. Wenn weitgespannte, von Verlegern koordinierte Produktionsnetzwerke immer wieder zerfielen, so hatte dies vielleicht nicht so viel mit steigenden Transaktionskosten zu tun, wie dies institutionenökonomische Lesarten suggieren, die allzu einseitig auf die Perspektive der Principals fixiert erscheinen. Es waren in diesem Falle wohl mehr die Agents – lokale Kaufleute, Zwischenverleger, Handwerker u. a. – denen eine Verselbständigung ökonomische Chancen eröffnete. Vertrauen und Kontrolle Protoindustrielle Principal-Agent-Beziehungen werden in der jüngeren Forschung vor allem an zwei miteinander verknüpften Problemen der dezentralen Manufaktur diskutiert. Zum Einen wird problematisiert, dass es für die „Prinzipale“ schwierig gewesen sei, die mit der Fertigung beauftragten Kleinproduzenten daran zu hindern, die ausgegebenen Rohmaterialien zu unterschlagen, indem sie einen Teil davon verkauften oder für die Produktion auf eigene Rechnung verwendeten. Zum Anderen konnte eben solche „vertragswidrige“ Aneignung von Rohwolle oder 62 63 64
Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr 281, Bl. 3: Zeug-, Leinen- und Wollenweberinnung Falkenstein an Kurfürst, 9.3.1795. Vgl. ebd. Nr. 2538, Bl. 24 f.: Karl Haupt, Justitiarrat Kirchberg, an Kreisdirektion Zwickau, 6.6.1836; Krebs, Glauchauer Textilindustrie, S. 67–70; Bein, Industrie, S. 106 f.; Poenicke, Betriebssystem. Vgl. Pfister, Wachstum, S. 36 f.
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Garn dazu führen, dass die angefertigten Waren nicht dem vom Auftraggeber gewünschten und vereinbarten Qualitätsstandard entsprachen. Auch wenn Weber- und Tuchmachermeister auf eigene Rechnung arbeiteten, konnte die Produktqualität leiden, sei es durch wenig sorgfältige oder bewusst betrügerische Verarbeitung, sei es wegen Verwendung ungeigneter oder minderwertiger Materialien. Die Auftraggeber und/oder Abnehmer von in dezentraler Manufaktur erzeugten Waren standen demnach vor dem Problem, dass sie nicht darauf vertrauen konnten, ein Produkt zu erhalten, das qualitativ den verausgabten Rohmaterialien, dem gezahlten Lohn oder Kaufpreis angemessen war. Wurde das Problem einer effizienten Qualitätssicherung nicht gelöst, gefährdete dies den „Ruf“ und damit die Wettbewerbsfähigkeit eines protoindustriellen Produktionsstandorts.65 Besonders kontrovers ist in diesem Zusammenhang die These debattiert worden, inwiefern die Handwerkerzünfte und Kaufmannssozietäten institutionelle Arrangements zur Qualitätssicherung bereit stellten. Während einige Autoren den frühneuzeitlichen Korporationen jegliche Ambitionen zur Hebung der Produktqualität absprechen, glauben andere, etwa den Warenschauen solche Funktionen zuschreiben zu können, zumindest wenn die Kaufleute und Verleger oder staatliche Instanzen an diesen Einrichtungen beteiligt waren.66 Nun unterlagen auch in den kursächsischen Textilrevieren des 18. Jahrhunderts die dort gefertigten Web- und Wirkwaren in der Regel der Begutachtung und Zertifizierung. Die städtischen, z. T. auch die ländlichen Weber-, Tuchmacher- und Strumpfwirkerinnerungen unterhielten Schauanstalten oder benannten aus ihren Reihen einzelne Schaumeister. Manchmal lag die Warenschau, wie im Falle der Plauener Baumwollwarenmanufaktur, auch in den Händen kaufmännischer Korporationen. Der sächsische Staat engagierte sich in der Qualitätssicherung mit der Einführung eines Qualitätssiegels. Alle im Land hergestellten Wollwaren mussten geprüft und mit einem „Landesstempel“ versehen werden. 1765 wurde diese Regelung auf die anderen Gewebearten ausgedehnt, allerdings in der Lausitzer Leinenmanufaktur nicht umgesetzt. Da aber die Begutachtung und Stempelung gewöhnlich den örtlichen Innungsschauen übertragen war, dürfte sich die Effizienz der Qualitätskontrolle kaum verbessert haben.67 Die zahlreichen Beschwerden der Manufakturkaufleute und -verleger, die sich in den Akten der städtischen und staatlichen Behörden niedergeschlagen haben, vermitteln den Eindruck, dass es mit der Qualitätssicherung in der sächsischen Textilwirtschaft im späteren 18. Jahrhundert nicht gerade zum Besten stand. Einen ausgesprochen schlechten Ruf scheint in dieser Beziehung der Chemnitzer Baumwollwarenmanufaktur angehangen zu haben. Als die Burgstädter Wollwarenkaufleute 1789 in einem Gutachten zur örtlichen Warenschau die allgemeinen Missstände besonders drastisch beleuchten wollten, verwiesen sie auf das Beispiel der großen Nachbarstadt. Dort fabriziere man seit einiger Zeit einen „englischen Artikel“, 65 66 67
Vgl. Pfister, Guilds, S. 30 f.; ders., Produktionsregimes, S. 163; Gorißen, Unternehmer, S. 52. Vgl. dezidiert für die erste Position: Ogilvie, Corporatism, S. 439 ff., 468–473; für die zweite Position: Wischermann, Krisen, S. 18; ders., Unternehmensgeschichte, S. 464–472; Pfister, Guilds, S. 44 ff. Vgl. Keller, Handwerksgesetzgebung, S. 84; Staudinger, Leineweberei, S. 169.
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nämlich Piquée, der anfänglich auch dem Original in Güte und Beschaffenheit ähnlich gewesen sei. Bald habe aber eine rapide Qualitätsverschlechterung eingesetzt, „und dieses sey auch der Verderb aller Sächs. Fabriquen, daß man nicht vorher festgesetzte Güte, Breite und Länge beybehielte.“ Die Burgstädter Kaufleute zitierten anschließend das Bonmot eines englischen Berufskollegen, der in Leipzig Geschäfte machte: „Wir wißen, daß alles in Sachßen nachgeäffet wird, alleine keine ausländische Fabrique hat Ursache sich dafür zu fürchten, denn kaum ein Jahr bleibt die Waare in ihrer Güte, nachher ist sie nur ein Schatten von der, die sie vorstellen soll …“68
Dabei musste in Chemnitz jedes vom Weber gefertigte Stück einer Schauanstalt vorgelegt werden, wo es auf seine ordnungsgemäße Beschaffenheit geprüft werden sollte. Doch scheinen die Schaumeister ihren Pflichten nur unzureichend nachgekommen zu sein. „Unter 10, 20 Stücken“, hielt der Amtmann Dürisch 1786 fest, „wird, zumal wenn die Arbeit häufig ist, kaum eines geschauet, über die Tafel gezogen und vermessen, die meisten werden sogleich nach der Angabe der von den Webern geschickten Weiber und Kinder mit dem Ellenmaas bezeichnet und mit dem Stempel bedruckt“.69 Schon 1779 hatte sich der Chemnitzer Kaufmann Johann Hieronymus Lange in Dresden beschwert, die örtliche Schauanstalt verwende seit Jahren ein unkorrektes Ellenmaß und habe damit die Verleger und Händler als Abnehmer der geschauten Waren geschädigt. Trotz mehrfachen Protests habe sich der Rat der Stadt Chemnitz geweigert, hier Abhilfe zu schaffen. Drei Jahre später legte Lange den örtlichen Behörden ein ihm angebotenes, von der Schauanstalt gestempeltes Stück Piquée vor, das zu einem Drittel aus Leinengarn gewebt worden war. In der Untersuchung verteidigte der Obermeister der Zeug- und Leinweberinnung den betroffenen Webermeister mit dem Argument, die Kaufleute trügen selbst Schuld an solchen Vorkommnissen, „weil sie an dem darzu zu gebenden Materiali, nehmlich an der Baumwolle, abbrächen, und gleichwohl verlangten, daß diese Waaren schwer ins Gewicht fallen sollten, daher der Fabricant um des Gewichts willen leinernes Garn mit einarbeite.“70 Diese Schlaglichter auf die Praxis der Warenschau in Chemnitz legen zunächst einmal den Schluss nahe, dass die Schauanstalt von der Ausweitung der Baumwollwarenproduktion seit der Mitte des 18. Jahrhunderts schlichtweg überfordert war. Sie verfügte offenbar weder über das Personal noch über die materielle Ausstattung, um die Masse an Geweben, die in der Stadt und ihrer weiteren Umgebung angefertigt wurden, hinreichend zu prüfen. Die Kaufleute und Verleger konnten nicht darauf 68 69 70
Zitate: HStAD 10078 Kommerziendeputation Nr. 1694 (Loc. 11105/X. 705), Bl. 52 f.: Johann Andreas Herrmann Hörßelmann, Amt Rochlitz, an Kurfürst, 18.2.1789. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1514 (Loc. 11108/XIII. 833), Bl. 210 f.: Bericht Dürisch, 31.3.1786. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1514 (Loc. 11108/XIII. 833), Bl. 146 f.: Rat der Stadt Chemitz an Kurfürst, 11.11.1782. Vgl. ebd. Bl. 109: Johann Hieronymus Lange, Chemnitz, an Conferenz-Minister Wurmb, 15.12.1779; ebd. Bl. 113: Kommerziendeputation an Landesregierung, undatiert [1779]; ebd. Bl. 116: Johann Hieronymus Lange, Chemnitz, an Kommerziendeputation, 8.5.1780.
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vertrauen, dass die von ihnen abgenommenen Waren tatsächlich den festgelegten Maßen und Qualitätskriterien entsprachen. Hinzu kam, dass in Chemnitz und vielen anderen sächsischen Textilstädten die Warenschau in der Hand der örtlichen Weberinnungen lag. Gewöhnlich wurden die Schaumeister aus den Reihen der Innungsmitglieder rekrutiert, waren teilweise auch selbst als Webermeister aktiv, hatten also gewiss kein Interesse daran, ihrer Aufgabe allzu akribisch nachzugehen. Doch selbst in Plauen, wo die Schauanstalt von der Kaufmannsgilde getragen wurde, führte man in den 1780er Jahren ganz ähnliche Diskussionen wie in Chemnitz. Die Warenschau, so schrieb der Plauener Baumwollwarenverleger Carl Heinrich Höfner 1781 in einem Memorandum für die Kommerziendeputation, wäre an sich der einzige Damm gegen Missbräuche und schlechte Waren. Wenn aber an den wenigen Schautagen 100 Stück in acht bis zwölf Minuten gestempelt würden, wie könne da jedes Stück nach Gebühr beurteilt worden sein? In den folgenden Jahren beschäftigten sich mehrere Kommissionen mit einer Reform des Plauener Schausystems, ohne dass jedoch eine nennenswerte Ausweitung der personellen und materiellen Kapazitäten der Schauanstalt erfolgt wäre. Die Innungsverwandten selbst verweigerten sich einem kostspieligen Ausbau des bestehenden Begutachtungsapparats. Hier war man offenbar mehrheitlich der Meinung, es werde sowieso schon erheblicher Aufwand betrieben. Die unzünftigen Plauener Würker wurden bereits während des Arbeitsprozesses in ihren Webstuben den Kontrollen durch einen von der Händlerinnung beauftragten „Würkermeister“ unterworfen. Den Zunftwebern stand es zwar seit Mitte der 1780er Jahre frei, ihre Waren von der eigenen Innung beschauen zu lassen. Doch mussten sie ihre Webstücke nach der Bleiche und zum Zweck der Abführung der Akzisegebühren noch einmal der Plauener Schauanstalt vorlegen, eine Regelung, die von den Weberinnungen heftig kritisiert wurde. In einigen der vogtländischen Kleinstädten gab es zudem Nebenschauen, die von den dort ansässigen „Innungsverwandten“ getragen und mehr oder minder regelmäßig von den Plauener Schaumeistern inspiziert wurden.71 In den Debatten, die in Chemnitz, Plauen und andernorts um eine Reform der Warenschau geführt wurden, nahmen letztlich die Kaufleute und Verleger selbst eine ambivalente Haltung ein. Ein Schlaglicht auf die Ursachen dieser Ambivalenz wirft ein Bericht des Plauener Bürgermeisters an die Landesregierung von 1792, in dem die Praxis der Nebenschauen in Oelsnitz, Auerbach, Mühltroff und Lengenfeld geschildert wird. Man habe mit der Warenschau, wie sie von den dortigen Mitgliedern der Händlerinnung organisiert werde, keine guten Erfahrungen gemacht,
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Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1553 (Loc. 11119), Bl. 23 f.: Carl Heinrich Höfner: „Gedanken über die gegenwärtige Situation der baumw. Waaren-Manufactur zu Plauen“, 1781; ebd. Bl. 75 ff.: Landesregierung an Kommerziendeputation, 2.4.1783; ebd. Bl. 108 f.: Christian Gottfried Schmidt, Plauen, an Kommerziendeputation, 18.2.1784; ebd. Nr. 1554 (Loc. 111168/XIV 1077), Bl. 285 f.: Johann Friedrich Wehner, Bürgermeister u. a., Plauen, an Kurfürst, 24.9.1787; ebd. Nr. 1556 (Loc. 11126/XIV. 1278), Bl. 60: Johann Friedrich Wehner, Johann Gottlieb Facilides, Plauen, an Kurfürst, 2.12.1789; ebd. Bl. 142 f.: Zeug-, Lein- und Wollenweber-Handwerk zu Plauen an Kurfürst, 6.5.1791; König, Baumwollenindustrie, S. 125.
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„weil in diesen kleinen Städten die nächsten Anverwandte die Schaumeister sind, und sämtlich selbst handeln, mithin sich die Waaren selbst schauen und unrichtig passiren lassen, weil jeder selbst eben so wenig Zuthat als der andere giebt, so dürfen sie dem Arbeiter auch nichts sagen, wenn er sie noch überdies um die Zuthat bevortheilt.“
Vorbedingung einer effektiven Qualitätskontrolle sei daher, dass der Schaumeister einerseits „vollkommener Waaren-Kenner“ sei, sich andererseits aber nicht selbst in größerem Maße als Händler betätige. Zumindest in den kleineren Städte sei dies aber kaum zu machen.72 Im Klartext hieß dies aber auch, dass die Verleger selbst maßgeblich für die Qualität der Waren verantwortlich zu machen waren. Sie waren es in der Regel, die den von ihnen beauftragten Webern Rohmaterialen übergaben oder erstatteten. Sie konnten daher realistischerweise nur diejenige Warenqualität erwarten, die sie selbst durch ihren Input an Rohstoffen vorgegeben hatten. Aus eben diesen Gründen verliefen auch die Vorstöße zu einer durchgreifenden Reform der Qualitätskontrolle in der Burgstädter Wollwarenmanufaktur letztlich im Sand. Dort oblag die Warenschau der Zeugmacherinnung, die diese Aufgabe recht unaufwendig ausführte: Die Weber legten jedes gefertigte Stück dem Obermeister der Innung vor, der es nach kursorischer Prüfung abstempelte, wonach es der betreffende Webermeister zum Kaufmann brachte. Die Burgstädter Verleger hatten schon 1770 auf der Leipziger Messe gegenüber den Beamten der Kommerziendeputation, die dort routinemäßig Erkundigungen zur Lage der heimischen Gewerbewirtschaft einzogen, über diese Praxis geklagt und angekündigt, demnächst deswegen in Dresden vorstellig zu werden. Diese Ankündigung wiederholten sie einige Jahre später. Aber es dauerte bis Mitte der 80er Jahre, bis die Verlegerkaufleute tatsächlich aktiv wurden und der Landesregierung den Mangel einer regulären Schauordnung in Burgstädt anzeigten. Die schließlich in die Wege geleitete amtliche Untersuchung erbrachte, dass die örtlichen Wollwaren-Kaufleute selbst nicht so recht an einer Änderung der Zustände interessiert waren. Der Bericht des mit der Sache betrauten Rochlitzer Amtmannes gibt eine bemerkenswerte Stellungnahme der Burgstädter Kaufleute wieder: „Nun könnten diese Meister doch die Waare nicht höher in Gängen, Breite und Länge fertigen, als sie Garn darzu erhielten …, so ferne nun aber eine Waaren-Schau eingeführet…, auch festgesetzt würde, wieviel der hier fabricirte Artikel Gänge haben, breit und lang seyn sollte, wie würden die Meister bestehen, und wer könnte sie strafen, wenn sie sagten, wir bekommen nicht mehr Werfte oder Kette, und nicht mehr Einschuß oder Eintrag? Der die Waaren aber fertigte sagte: ich kann die Waaren nicht höher in Gängen, Breite und Länge gebrauchen? würde es da nicht zu beständigen Zwistigkeiten Anlas geben …(…) Aus allem diesem erhelle doch nur wenigstens soviel, daß es immer beßer sey, es bleibe wie es sey …“73 72 73
HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1556 (Loc. 11126/XIV. 1278), Bl. 269 f.: Johann Friedrich Wehner, Bürgermeister, Gottlob Ferdinand Schneider, Consul, Plauen, an Kurfürst, 19.6.1792. HStAD 10078 Kommerziendeputation Nr. 1694 (Loc. 11105/X. 705), Bl. 53 f.: Johann Andreas Herrmann Hörßelmann, Amt Rochlitz, an Kurfürst 18.2.1789. Vgl. ebd. Bl. 9: Extrakt Relation Michaelismesse, 27.10.1770; ebd. Bl. 18: Extrakt Relation Michaelismesse, 30.10.1776; ebd. Bl. 49 f.: Johann Andreas Herrmann Hörßelmann, Amt Rochlitz, an Kurfürst 27.3.1786.
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Hier standen letztlich die Qualitätskriterien bei der Warenschau in einer Spannung mit der unternehmerischen Dispositionsfreiheit, also in diesem Falle der Freiheit, geringwertige Ware fertigen zu lassen und zu vermarkten. Ähnlich galt letztlich auch für die Herstellung von Modeartikeln und anderen Stoffen, die in einer ganz spezifischen Aufmachung auf den Märkten nachgefragt wurden. Daher zeigte auch wohl der sächsische Staat wenig Interesse, wie gelegentlich vorgeschlagen wurde, selbst als unparteiischer Qualitätskontrolleur tätig zu werden. Die Kommerziendeputation vertrat im Prinzip die Meinung, dass der Kaufmann selbst der „beste Schaumeister“ sei.74 Nicht wenige der betroffenen Großhändler und Verleger hätten die Warenkontrolle und die damit verbundenen Transaktionskosten wohl gerne weiterhin einer öffentlichen Einrichtung übertragen. Er könne doch nicht jedes ihm gelieferte Webstück selbst nachmessen, teilte der Chemnitzer Manufakturverleger J. H. Lange der Dresdner Wirtschaftsbehörde 1780 mit. Bei bis zu 30.000 Stück im Jahr hätte er dann nichts anderes mehr zu tun.75 In den Schauanstalten ließen sich allerdings nur einige wenige Kriterien überprüfen: die Länge und Breite des vorgelegten Webstückes, bestenfalls noch die Dichte des Stoffs. Dies mochte für einförmige Massenund Stapelwaren wie auch für die rohen Druckkattune vollauf genügen. Doch bei höherwertigen Modeartikeln und Spezialitäten konnte die Qualitätskontrolle kaum an die Innungsschaumeister delegiert werden. Hier mussten die Auftraggeber wohl oder übel selbst überprüfen, ob die gelieferte Ware ihren Vorgaben und Wünschen entsprach. Die gesetzlich vorgeschriebene Innungsschau war für Unternehmen, die diese Marktsegmente bedienten wohl eher eine hinderliche Prozedur. Oft stimmten die Artikel in Breite, Verarbeitung und Material nicht mit den von der Innung vorgegebenen Normen überein. Daher strebten manche Textilunternehmer von sich aus danach, zum eigenen Schaumeister zu werden. David Friedrich Oehler hatte schon frühzeitig die Aushändigung des kursächsischen Landesstempels erbeten und erhalten, um seine neuartigen Flanellstoffe selber einer Qualitätskontrolle unterziehen zu können. Oehlers ehemaliger Kompagnon Seyfarth reichte bei der Kommerziendeputation ebenfalls das Gesuch ein, ihm möchte der Landesstempel anvertraut werden. In der Begründung führte er an, es sei „mit vielen Schwierigkeiten und Aufenthalt verbunden, wenn wir unsre Waaren vor dem Absenden zu den Schauund Siegelmeistern schicken müßen“ und zudem noch deren Willkür überlassen seien.76 Nun beschäftigten aber selbst Oehler oder Seyffarth in ihren Arbeitssälen nur eine kleinere Anzahl von Weber. Das Gros ihrer Tuch-, Wollzeug- und Baumwollstoffe ließen sie auch weiterhin in den verstreuten Werkstätten der Handwerker und 74 75 76
So wiedergegeben in: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1514 (Loc. 11108/XIII. 833), Bl. 116: Johann Hieronymus Lange, Chemnitz, an Kommerziendeputation, 8.5.1780. Ebd.; vgl. auch HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1553 (Loc. 11119), Bl. 23: Carl Heinrich Höfner: „Gedanken über die gegenwärtige Situation der baumw. Waaren-Manufactur zu Plauen“, 1781. Ebd. Nr. 1623 (Loc. 11117/XIII, 1086), o. Bl.: Johann Adolph und Johann Heinrich Seyffarth, Crimmitschau, an Kurfürst, 29.8.1795. Vgl. ebd. Nr. 516 (Loc. 11096/XI. 316, Bl. 14 f.: David Friedrich Oehler an Kommerziendeputation, 12.12.1778.
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Heimarbeiter herstellen. Solange überwiegend glatte Gewebe gefertigt wurden, die ihr äußeres Ansehen in erster Linie in den nachgelagerten Endfertigungsstufen erhielten, blieb wohl die Einflussnahme auf das Verweben der Stoffe auch für diese frühen Fabrikanten von sekundärer Bedeutung. Wo aber Gewebe mit farbigen Mustern oder – wie bei den Piquèes – reliefartigen Erhebungen produziert wurden, kam es in wesentlich stärkerem Maße auf akribische Arbeit am Webstuhl an. Hier bestand zudem die Gefahr, dass Muster und Dessins vorzeitig an raubkopierende Konkurrenten weitergegeben wurden oder von den Eigenhandel betreibenden Webern selbst verwertet wurden. Für die Verleger-Kaufleute dürfte es wesentlich schwieriger gewesen sein, in das Arkanum der Zunftweberei einzudringen, als die nachgelagerten Produktionsstufen an sich zu ziehen. Es lassen sich aber im Segment der Kunst- und Musterweberei, das vor allem im Chemnitzer und Plauener Baumwollwarenrevier zunehmend bedeutsamer wurde, gewisse Tendenzen zur Betriebskonzentration beobachten, die von den Produzenten selbst ausgingen. Im Vogtland ist Mitte der 1780er Jahre von Meistern die Rede, die sieben und mehr Gesellen hielten.77 Auch einige der Chemnitzer Weber gingen daran, ihre Produktionskapazitäten auszubauen. In den Akten der Kommerziendeputation haben sich etwa die Bemühungen des Webermeisters Salomon Hösel niedergeschlagen, seine Baumwollwarenproduktion auf größeren Fuß zu stellen. Hösel versuchte sich recht erfolgreich an der Nachahmung feiner ostindischer Kattune. Er hatte hochfeine Baumwolle aus Curaçao beschaffen können und sie im Zucht- und Arbeitshaus Zwickau, offenbar der besten Adresse für solche Arbeiten, verspinnen lassen. Mit seinen Geweben erregte er auf der Leipziger Ostermesse 1787 unter den sächsischen Großverlegern und den Beamten der Kommerziendeputation einiges Aufsehen. Hösel versuchte in den folgenden Jahren, bei den kapitalkräftigeren Kaufleuten und der Dresdner Regierung die Geldmittel aufzutreiben, um sich auf diesem Feld geschäftlich zu etablieren. Dazu müsse er, so erklärte er in einem Schreiben an die Kommerziendeputation, zunächst einmal ein größeres Haus ankaufen, um genügend Platz für die Aufstellung weiterer Webstühle zu haben. Die Fertigung in eigener Werkstatt sei in diesem Falle unabdingbar, „denn solche Sorten, die noch nicht usuel sind, außer dem Hause bey andren arbeiten zu laßen, gehet fast garnicht, man findet nicht sobald feine Leute, wenn man sie nicht succesive an sich gezogen hat, sie bevortheilen zu viel, und es wird geschleudert. Kurz die schnell wachsende Pflanze fällt eher um, als sie zur Reife kommt …“78
Eine Ausweitung der eigenen Produktionskapazitäten schien Hösel auch für den geschäftlichen Erfolg des Unternehmens notwendig. Ehe man nicht ein Lager produzieren könne, sei bei den Handelshäusern, die solche Waren vertrieben, nicht auf billige Konditionen zu hoffen. Nachdem Hösel zunächst mit kleineren Prämien ab77 78
Vgl. ebd. Nr. 1554 (Loc. 11168/XIV 1077), Bl. 92: Christian Markstein u. a. an Kurfürst, 29.7.1786. Ebd. Nr. 1581 (Loc. 11121/XIV. 1163), Bl. 13: Salomon Hösel, an Kommerziendeputation, 9.7.1787.
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gespeist worden war, bewilligte ihm die sächsische Regierung schließlich 1790 einen Vorschuss von 1000 Talern.79 Für die Verlagskaufleute galt es, mit solchen qualifizierten und leistungsfähigen Handwerker-Unternehmern ins Geschäft zu kommen, sie durch finanzielle und logistische Hilfeleistung bei der Rohstoff- und Materialbeschaffung und beim Ausbau ihrer Werkstätten an sich zu binden. Ihre fachliche Expertise und ihr handwerkliches Können machte Webermeister wie Hösel für die Chemnitzer Verlagsunternehmer zu begehrten Partnern, denen man wohl oder übel Freiräume bei der Herstellung und Vermarktung ihrer Erzeugnisse gewähren musste. Ähnliches dürfte auch für die Plauener Musselinmanufaktur gelten, wo den zünftigen „Kunstwebern“ selbst im Reglement der Kaufmannsinnung weitgehende Befugnisse eingeräumt worden waren. Die Kooperation mit diesen Partnern entwickelte sich allerdings wohl nicht immer nach den Wünschen und Vorstellungen der Verleger-Kaufleute. So übersandte J. W. F. Bugenhagen, einer der führenden Chemnitzer Verleger, der Kommerziendeputation 1794 zwei kunstvoll gearbeitete Webstücke, die der Meister Johann Michael Schram gefertigt hatte. Bugenhagen erbat eine finanzielle Unterstützung, die es dem jungen Webermeister ermöglichen sollte, seinen Betrieb auszubauen. „Ich würde mich zwar gerne als Kaufmann dazu aufwerfen, ihn zu unterstützen und ihm einigen Vorschuß zu geben“, fuhr der Verleger in seinem Bittschreiben an die Behörde fort, „allein da es nur mehr als zu sehr bekannt, wieviel ich schon an baaren Geld und Wolle bey denen Meistern für’s Beste und Wohl der Fabrique aufgeopfert, und bey allen meinen rechtmäßigen Forderungen mit Schnödigkeit zurückgewiesen worden; so kann es mir mein gnädiger Landes Vater selbst und niemand verargen, in diesem Falle behutsamer und vorsichtiger zu Werke zu gehen.“80
Alles in allem gibt es allerdings kaum Anzeichen dafür, dass die eben behandelten Probleme der Qualitätssicherung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts die Wettbewerbsfähigkeit der sächsischen Textilexportwirtschaft ernstlich beeinträchtigt oder gar ihren Bestand gefährdet hätten. Die Principals mochten sich zwar immer wieder bitterlich über die Unzuverlässigkeit und die betrügerischen Machenschaften ihrer Agents beklagen. Doch letztlich wussten die im Revier ansässigen Textilwarenhändler wohl recht genau, was sie von den einzelnen Webern in Punkto Qualität und Verlässlichkeit zu erwarten hatten und wer etwa zu den „schwarzen Schafen“ zu zählen war. So heißt es in einer 1811 erschienenen Schrift: „Die fremden Käufer, besonders diejenigen, welche die Messen besuchen, haben … nicht die Zeit, jedes einzelne Stück gehörig prüfen zu können und so kommt es denn, daß unter der sonst 79 80
Vgl. ebd. Bl. 1 f.: Bericht, 7.5.1787; ebd. Bl. 5 f.: Extrakt aus Schreiben Hösels an Seeber, 3.7.1787; Bl. 27 f.: Hösel an Amtshauptmann von Ziegesar, Schönau, 28.1.1788; Bl. 67 f.: Hösel an Kommerziendeputation, 13.10.1789; Bl. 89: Hösel an Kurfürst, 17.3.1790. Ebd. Nr. 1532 (Loc. 11129/XIII.1419), Bl. 17 f.: J. W. F. Bugenhagen an Kommerziendeputation, 10.4.1794. Vgl. auch die Schilderung in den Memoiren des Mylauer Großunternehmers Christian Gotthelf Brückner, der seine unternehmerische Laufbahn im ausgehenden 18. Jahrhundert als Webermeister in Plauen mit Hilfestellung eines Verlegers begonnen hatte: Forberger, Revolution 1/1, Anhang, S. 492.
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guten Sächsischen Waare viele schlechte mit gekauft wird. Um sicher zu gehen, kauft deshalb der Ausländer lieber von den Tuchhändlern, … die im Großen damit handeln, als von einzelnen Meistern, in der Voraussetzung, daß jene die guten und schlechten Arbeiter kennen und mit Sachkenntniß nur das Bessere wählen“.81
Wirtschaftsakteure, Korporationen und Staat Während die Innungsschauen im Laufe des 18. Jahrhunderts vielerorts an die Grenzen ihrer Kapazitäten gelangten und die Aufgabe der Qualitätskontrolle oft eher schlecht als recht erfüllten, erscheinen die institutionellen Leistungen der zünftigen Korporationen im Bereich der Qualifikation von Arbeitskräften wesentlich bedeutsamer für die protoindustriellen Exportgewerbe. Die Zünfte setzten gemeinhin einen verbindlichen Rahmen für die berufliche Ausbildung ihres Nachwuchses und überwachten und überprüften diese Vorgaben selbstverantwortlich. Im Vogtland wie im Chemnitzer Revier wäre ein erfolgreiches Eindringen in den gewinnträchtigen Modewarensektor kaum ohne die zünftig ausgebildeten „Zeug- und Leinweber“ denkbar gewesen. Ähnliches gilt für wohl auch für die gehobenere Wollwarenmanufaktur, deren Arbeitskräfte sich wesentlich aus den Mitgliedern der Tuch- und Zeugmacherinnungen rekrutierten. In den nicht zünftig organisierten Heimgewerben wurden handwerkliche Fertigkeiten meist unsystematisch und informell weitergegeben. Verwandte, Freunde oder Nachbarn führten die Anfänger in die Grundtechniken des Spinnens, Webens oder anderer Arbeiten ein. Wo sich ein Fertigungszweig lokal noch nicht verwurzelt hatte, musste der Verleger oder Faktor selbst die Einweisung übernehmen. In Phasen schneller Produktionsausweitung genügte diese Art des Anlernens allenfalls für die Fertigung einfacher und billiger Leinen- und Baumwollgewebe. Doch dort, wo die unzünftige Fertigung von Textilien auf einem längerem Traditionsvorlauf gründete, mochte auch das Fehlen korporativer Ausbildungssysteme durch die Weitergabe handwerklicher Fertigkeiten von Vater auf Sohn, von Mutter auf Tochter kompensiert werden. So brachte die obererzgebirgische Spitzenklöppelei trotz des Fehlens zünftiger Ausbildungsprozeduren einen Stamm handwerklich qualifizierter Heimarbeiterinnen hervor. Hier sah sich allerdings der sächsische Staat seit 1767 veranlasst, Mittel zur Gründung von Klöppelschulen bereitzustellen. In anderen Bereichen der ländlichen Textilienherstellung, wie in der Strumpfwirkerei, der Posamentenherstellung oder der Damastweberei, sorgte in Sachsen offenbar die Ausbreitung zünftiger Organisationsformen für die notwendige handwerkliche Qualifikation der Arbeitskräfte. Auch hier griff der sächsische Staat insofern regulierend ein, als er 1767 und 1793 gesetzlich festlegte, dass sich Dorfhandwerker einer städtischen Innung anschließen und in der Stadt das Handwerk erlernen sollten.82 Man kann zwar durchaus argumentieren, dass die Korporationen der Handwerker und Kaufleute auf die ein oder andere Weise institutionelle Leistungen zur Sen81 82
Ansicht einiger Hauptzweige, S. 121. Vgl. Keller, Zunft, S. 156 f.; Schöne, Posamentierer, S. 137; Horster, Gewerbeverfassung, S. 20 f.
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kung von Transaktionskosten erbrachten. Doch letztlich waren die Innungen primär Zusammenschlüsse zur Interessenwahrung und Nahrungssicherung ihrer Mitglieder, selbst dort, wo unternehmerisch aktive Eliten Einfluss in diesen Korporationen gewannen und sie für eigene Zwecke nutzen konnten.83 Überhaupt hat es wohl einen eher begrenzten Erkenntniswert, die Produktionsstrukturen in den verschiedenen Branchen und Regionen der südwest- und südostsächsischen Textilreviere als stabiles, aufeinander abgestimmtes System zu beschreiben. Vielmehr erscheinen diese Strukturen als Ergebnis eines volatilen und dynamischen Kräfteverhältnisses zwischen Gruppen von Wirtschaftsakteuren, die um die Kontrolle des Produktionsprozesses rangen. Dabei führten die Strategien der Akteure, ihre eigene Position durch landesherrliche Privilegierung und die rechtliche Exklusion anderer Akteursgruppen abzusichern, in den sächsischen Textilrevieren keineswegs zu Stagnation und Niedergang. Denn konkurrierende Gruppen und einzelne Außenseiter versuchten, die verbrieften Rechte ihrer jeweiligen Kontrahenten immer wieder zu unterlaufen. Die Kaufmannsgesellschaften und Leineweberzünfte der Oberlausitzer Städte verfügten zwar auf dem Papier über weitgehende Verbietungsrechte gegenüber den „Dorfhändlern“ und den unzünftigen Webern. Doch gelang es ihnen im 18. Jahrhundert immer weniger, diese Rechte auch de facto durchzusetzen. Die Plauener Baumwollwarenhändler hatten zwar das unzünftige Arbeitskräftepotenzial des Vogtlands einer straffen und effektiven Kontrolle unterworfen. Ihre Handlungsmacht hatten sie in einem mehrfach aktualisierten „Manufakturreglement“ staatlich sanktionieren lassen. Doch mit dem Aufschwung der Musselin- und Kattunweberei forderten die städtischen Weberzünfte den umfassenden Kontrollanspruch der Schleierherrenelite über das vogtländische Baumwollwarengewerbe recht erfolgreich heraus. Der sächsische Staat wirkte, aus dieser Perspektive betrachtet, häufig weniger wie ein aktiv gestaltender Akteur denn wie ein von allen Seiten bedrängter Schiedsrichter. Für die eine Seite sollte die kurfürstliche Regierung korporative Privilegien gewähren und bekräftigen, die andere Seite strebte nach Dispens von Zunftgesetzen und Innungsartikeln. Unternehmende Kaufleute und Handwerker versuchten Konzessionen zu erwirken, um ihren Betrieb von zünftigen Regularien und Verbietungsrechten zu befreien, während lokale Zünfte eben genau dies zu verhindern trachteten. Die Regierung in Dresden und ihre örtlichen und regionalen Vertreter wurden um Hilfe angerufen, wenn privilegierte Wirtschaftsakteure ihre wohlerworbenen Rechte durch unbefugte Konkurrenten verletzt sahen. So war es zwar dem Konsortium der Plauener „Innungsverwandten“ 1755 gelungen, für seine neu errichtete Kattundruckerei zahlreiche staatliche Privilegien und Vergünstigungen zu erwirken und diese auch mehrmals verlängert zu bekommen. Doch glückte es der Firma Facilides & Comp. offenbar nie, ihr regionales Produktionsmonopol auch faktisch durchzusetzen. Statt dessen führte sie einen endlosen Gerichtsprozess gegen einen Plauener Färbermeister, der ein Konkurrenzunternehmen betrieb. Auch die Großenhainer Kattundruckerei besaß ein kurfürstliches Exklusivprivileg für einen 4-Meilen-Radius. Dies schützte sie aber nicht davor, dass sich in der Nach83
Vgl. auch Pfister, Produktionsregimes, S. 168, 172 f.
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barstadt Meißen ein Konkurrenzunternehmen etablierte. Dessen Gründer gelang es, in Dresden ein Privileg zu erwirken, das ihn dem Einspruchsrecht aus Großenhain entzog. Die Stadt Zittau besaß zwar weitreichende herrschaftliche Rechte über die umliegenden Ortschaften, konnte aber selbst dort nicht die unternehmerischen Aktivitäten der „Dorfhändler“ unterbinden. Als etwa 1780 in einem dieser „Ratsdörfer“, in Ebersbach, die Dorfunternehmer daran gingen, Mangeln anzulegen, sprach der Rat der Stadt Zittau zwar umgehend ein Verbot aus. Doch 1783 intervenierte die Kommerziendeputation und nötigte die Stadt dazu, das Verbot wieder aufzuheben.84 Nicht selten gelang es den Widersachern im Streit um die Wirksamkeit von Privilegien und Verbietungsrechten, die lokalen Gewalten für ihre jeweilige Sache einzuspannen. In Plauen konnten die Baumwollwarenhändler in ihren Auseinandersetzungen mit den Weberinnungen gewöhnlich auf Rückendeckung von der Stadt hoffen. In Chemnitz dagegen paktierte der Stadtrat im allgemeinen mit der örtlichen Zeug- und Leinweberinnung. Auf dem Land waren es oft die feudalen Herrschaftsträger, die ihre spinnenden, webenden oder wirkenden Untertanen in Schutz nahmen und ihre Belange „höheren Orts“ vertraten. Die Gründung einer eigenen Innung gegen den Widerstand der Chemnitzer Zunft 1785 verdankten die Limbacher Strumpfwirker vor allem der Lehnsfrau Helene Dorothea von Schönburg auf Limbach und deren Bruder, dem Minister von Wallwitz.85 Auch die vogtländischen Dorfweber konnten auf die Protektion ihrer Feudalherren zählen. 1784 wurden die Besitzer der Rittergüter Falkenstein, Dorfstadt und Ellefeld beim Kurfürsten persönlich mit dem Ansuchen vorstellig, die zur Falkensteiner Zeug-, Lein- und Wollweberinnung gehörenden Landmeister rechtlich den Stadtmeistern gleichzustellen. Anfang der 1790er Jahren beschwerten sich die Plauener Baumwollwarenhändler darüber, die Falkensteiner Weber hätten „nun mehro zu verschiedenen malen, wenn sie mit ihren Gesuchen höchsten Orts gerechtest abgewiesen worden wären, an ihre Gerichtsherrschaften sich gewendet, welche das nemliche Object wieder in höchsten Vortrag zu bringen sich bemüht hätten, um vielleicht eine ihnen gefällige höchste Absolution [zu] bewürken“.86
Im Allgemeinen zeigte der sächsische Staat wenig Neigung, sich für die faktische Durchsetzung korporativer und individueller Privilegien nachdrücklich zu engagieren. Im Zuge des „Retablissements“ nach dem für das Kurfürstentum Sachsen desaströsen Siebenjährigen Krieg verfolgte die Landesregierung eine Politik aktiver Gewerbeförderung. Institutioneller Träger dieser Politik war die 1764 als zentrale staatliche Wirtschaftsbehörde installierte „Landes-Oeconomie-, Manufactur- und Commercien-Deputation“. Die Kommerziendeputation entfaltete bald eine um84 85 86
Vgl. Bein, Industrie, S. 94–99; Wagner, Textilindustrien, S. 113–126; Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 270, Bl. 20–24: Maria Magdalena Gösselin und Cons., Plauen, an Kurfürst, 4.12.1803; Industrielle Zustände, S. 164 f.; Wauer, Industriedörfer, S. 698–701. Vgl. Fritzsching, Geschichte, S. 3. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1556 (Loc. 11126/XIV. 1278), Bl. 169: Johann Friedrich Wehner, Johann Gottlieb Facilides, Plauen, an Kurfürst, 16.8.1791; vgl. ebd. Nr. 1553 (Loc. 11119), Bl. 134: Landesregierung an Kommerziendeputation, 31.8.1784.
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fangreiche Tätigkeit, um die Wirtschaft des hoch verschuldeten Territorialstaates anzukurbeln. Sie lobte etwa staatliche Geldprämien für die Einführung neuer Produkte, Verfahren und Technologien aus und offerierte andere Hilfestellungen, um die Wettbewerbsfähigkeit der kursächsischen Exportgewerbewirtschaft zu stärken. Man bemühte sich um einen Meinungs- und Informationsaustausch mit führenden Kaufleuten und Verlegern, die regelmäßig während der Leipziger Oster- und Michaelismessen von den Vertretern der Deputation zu gemeinsamen Konferenzen geladen wurden. Die Gewerbeförderungspolitik der Kommerziendeputation richtete sich tendenziell auch gegen wachstumshemmende Regulierungs- und Verbietungsrechte der lokalen Handwerker- und Kaufmannsinnungen. Die staatliche Wirtschaftsbehörde bediente sich dabei nicht selten erstaunlich marktliberaler Argumentationsmuster. Als etwa die Innung der Plauener Baumwollwarenhändler 1784 Beschwerde dagegen einlegte, dass es den vogtländischen Zunftwebern erlaubt werden sollte, Musselin auf eigene Rechnung zu fertigen, bekamen sie zu hören, dies sei für die Manufaktur nicht nachteilig. Es würden vielmehr „solchergestalt mehr Waare gefertiget, selbige aber durch ihre Menge wohlfeiler werden und also die auswärtige Concurrenz desto leichter auszuhalten seyn“.87
Die Dresdner Landesregierung gewährte Konzessionen zur Anlage zentraler Manufakturbetriebe relativ großzügig. Zudem wurde das Innungsrecht einer gründlichen Revision unterzogen und 1780 in landesweit geltenden „Generalinnungsartikeln“ vereinheitlicht. Damit verbunden war eine gewisse Tendenz zur Deregulierung: Die Bestimmungen zur Beschränkung der Zahl der Gesellen und Lehrlinge, die ein einzelner Meister beschäftigten durfte, wurden gelockert. Die Beschäftigung von Frauen in Handwerksbetrieben wurde erleichert. Die Regierung bot den Innungen Dispensationen vom Wanderzwang für Gesellen an, was vornehmlich in den Textilgewerben genutzt wurde.88 2.3 WEGE ZUM MARKT Die Textilien, die in den sächsischen Gewerberegionen gefertigt wurden, fanden ihre Endkonsumenten zum allergrößten Teil außerhalb des Kurfürstentums. Allerdings gibt es kaum verlässliche Statistiken, die eine genauere Quantifizierung des Exportvolumens der sächsischen Textilgewerbe ermöglichen würden. Nach einer Veröffentlichung des vormaligen Oberberghauptmanns Friedrich Anton von Heynitz’ machte die Ausfuhr von Textilien zwischen Mitte der 1770er und Mitte der 80er Jahre im Jahresdurchschnitt wertmäßig rund 36 Prozent des kursächsischen Gesamtexports (1,8 von 5 Millionen Talern) aus. Es fielen demnach etwa 1,17 Millionen Taler auf Leinenwaren, 340.000 Taler auf Baumwoll- und 290.000 Taler auf 87 88
Ebd. Nr. 1553 (Loc. 11119), Bl. 154: Extrakt Relation Michaelismesse, 7.10.1784. Vgl. Forberger, Manufaktur, S. 81, 237, 265; Kleinschmidt, Weltwirtschaft, S. 77 ff.; Keller, Handwerksgesetzgebung, S. 79 f.; Horster, Gewerbeverfassung, S. 5 f.,10; Bräuer, Das zünftige Handwerk, S. 79 ff.
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Wollprodukte. Diese Zahlen sind allerdings wohl deutlich zu niedrig. Schon in einer zeitgenössischen Schrift wurden die Angaben Heynitz’ stark angezweifelt. Man könne beim Leinenexport selbst bei vorsichtiger Rechnung von rund 2,17 Millionen Taler im Durchschnitt der Jahre 1777 bis 1787 ausgehen. Bei der Ausfuhr von Tuchen allein müsse man fast den Wert veranschlagen, den Heynitz für alle Wollgewebe angegeben hat. Diese Vermutung wird auch durch die Angabe David Friedrich Oehler gestützt, er allein habe 1785 Textilien im Wert von fast 400.000 Talern nur nach Cádiz versandt.89 In idealtypischer Bündelung lassen sich drei Richtungen unterscheiden, in denen Baumwoll-, Woll- und Leinenwaren aus Sachsen ihren Weg auf die europäischen, vorderasiatischen und überseeischen Märkte fanden: (1.) nach Westen, vor allem über den Nordseehafen Hamburg; (2.) nach Osten, über den Messeplatz Leipzig; (3.) nach Süden, über die oberdeutschen und italienischen Handelsstädte und Marktplätze. Westwärts Die Freie und Hansestadt Hamburg erlangte im Laufe des 18. Jahrhunderts ein eindeutiges Übergewicht gegenüber anderen deutschen und niederländischen Nordseehäfen. Der Handelsverkehr zwischen Hamburg und Leipzig verstetigte sich über die Messetermine hinaus. Hamburger Handelshäuser setzten über ihre Leipziger Filialen Kolonialwaren ab und kauften hier, teils auch in den Textilrevieren selbst, Leinwand, Woll- und Baumwollwaren ein. Besonders bedeutsam war der Weg über Hamburg und die benachbarte dänisch-holsteinische Hafenstadt Altona für den Oberlausitzer Leinenexport. Von hier aus gingen die Leinenwaren aus Sachsen in großen Quantitäten nach Übersee: über London und andere englische Häfen in die britischen Kolonien in Nordamerika und Westindien, über Amsterdam in die niederländischen Besitzungen in der Karibik oder auch direkt nach St. Thomas, dem dänischen Freihafen auf den Antillen. Schließlich war die Hansestadt der Ausgangspunkt für die Verschiffung der Lausitzer Leinwand nach Spanisch-Amerika. Bis 1780 spielten auch niederländische Kaufleute beim Export sächsischer Leinenund Wollwaren eine bedeutsame Rolle, ebenso Fernhändler aus Iserlohn. Sie kauften gewöhnlich in Leipzig ein und speisten die Textilien aus Sachsen in Amsterdam in das transatlantische Handelsnetz ein. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war Großbritannien das bedeutendste Ausfuhrland für sächsisches Leinen. Zunächst hatten Hamburger und Londoner Großhändler die Stoffe in der Oberlausitz einkaufen lassen und auf eigene Rechnung weiter vertrieben. Bald aber nahmen regionale Akteure, zunächst die städtischen Kaufleute, später auch die „Dorfhändler“, den überregionalen Vertrieb der heimischen Textilwaren selbst in die Hand. Um 1750 hatten zahlreiche Zittauer Leinengroßhändler eigene Verkaufsniederlassungen in London etabliert, die ihre 89
Heynitz, Tabellen; Hunger, Denkwürdigkeiten, S. 348 f., 355 f.; Hasse, Messen, S. 357; vgl. Ludwig, Handel, S. 29 f., 43 f.; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 90.
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Waren an englische Großabnehmer verkauften oder sie ihnen in Kommission übergaben. Seit den 1770er Jahren schlossen sich die Dorfhändler aus Ebersbach, Eibau und anderen Orten zu Handelskonsortien zusammen und begannen, ihre Leinenwaren in Hamburg und bald auch in London direkt zu abzusetzen. Dabei kamen nur die feineren Sorten auf dem britischen Binnenmarkt selbst in den Einzelhandel. Die Masse der importierten Oberlausitzer Leinenstoffe wurde über den Atlantik in die amerikanischen Siedlungskolonien und auf die westindischen Zuckerrohrinseln verschifft. Seit den 1760er Jahren begann sich der Weg über London für den kursächsischen Leinenexport zu verengen. In Irland und Schottland hatte sich die Leinenherstellung für überregionale Märkte ausgeweitet. Die britische Regierung belastete nun die Einfuhr ausländischer Leinenstoffe mit einem Zoll von 25 Prozent, seit 1766 gar mit 40 Prozent des Warenwerts. Diese Zölle wurden zwar für den Re-Export nach Übersee zurückerstattet. Doch der Ausbruch des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs 1775 brachte den Transithandel sächsischer Leinwand in die nordamerikanischen und westindischen Kolonien fast ganz zum Erliegen. Eine Reihe von Konkursen im Londoner Exporthandel schlug Wellen bis nach Hamburg und nach Ostsachsen. Einige der Zittauer und Löbauer Leinenkaufleute nahmen den Niedergang des England- und Nordamerikahandels zum Anlass, ganz auf dem Geschäft auszusteigen.90 Kompensiert wurde der Rückgang im Handel über London vor allem durch den Ausbau des Leinenexports nach Spanien und den spanischen Kolonien in Mittelund Südamerika. Die transatlantischen Handelsströme zwischen Lateinamerika und dem europäischen Kontinent wurden letztlich strukturiert durch die Förderung und Zufuhr amerikanischer Edelmetalle. Seit dem 16. Jahrhundert floss Silber in großen Mengen auf den europäischen Kontinent und in den Orient. Dies schlug sich in einem steilen West-Ost-Gefälle der Löhne und Preise nieder, das den Gewerbelandschaften an der östlichen Peripherie Mitteleuropas entgegen kam. Dies galt in besonderem Maße für das Massenprodukt Leinwand. Niedrige Gestehungskosten eröffneten den in der Oberlausitz und im benachbarten Schlesien produzierten Leinenwaren außerordentlich günstige Absatzchancen auf den Märkten Spanisch-Amerikas. Zwar belegte auch Spanien die Einfuhr und Durchfuhr von Leinen mit Zöllen, doch zielte die spanische Handelspolitik weniger auf den Schutz inländischer Gewerbe. Für die spanische Krone waren die Importzölle vielmehr zu einer unverzichtbaren Einnahmequelle geworden. Legal waren die lateinamerikanischen Märkte nur über das spanische Mutterland zugänglich. Der bei weitem wichtigste Umschlagplatz für die transatlantischen Handelsströme war die andalusische Hafenstadt Cádiz, die lange Zeit eine staatlich abgesicherte Monopolstellung für den Seehandel zwischen Spanien und seinen Kolonien inne hatte. Waren durften von Cádiz aus nur auf spanischen Schiffen im Auftrag spanischer Kaufleute über den Atlantik transportiert werden. 1765 wurde 90
Vgl. Schurig, Entwicklung, S. 17 ff.; Kunze, Leinengroßhandel, S. 43; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 31–34, 47; Wagner, Dürninger, S. 56 f.; Weber, Kaufleute, S. 61–65; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 128 f.; Reinhard, Polen/Litauen, S. 21; Harte, Rise, S. 78 f., 85; Collins/Ollerenshaw, Industry, S. 9 f.
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dieses Monopol zwar aufgehoben, und es konnten fortan für die Kolonien bestimmte Waren auch über andere spanische Häfen ausgeführt werden. Doch die überragende Position von Cádiz als Drehscheibe des spanischen Transatlantikhandels wurde dadurch kaum beeinträchtigt. Trotz der formalen Privilegierung spanischer Kaufleute wurde das Leinwandgeschäft überwiegend von ausländischen Firmen dominiert. Vor allem französische, britische und hanseatische Handelsgesellschaften, die über verwandtschaftliche Netzwerke meist in engem Kontakte zu ihren Heimatstädten standen, hatten sich in Cádiz niedergelassen.91 So waren es zunächst einmal die Hamburger, die dem Oberlausitzer Leinwandexport einen Zugang zu den transatlantischen Schiffkonvois verschafften, die ein oder zweimal im Jahr die andalusische Seehandelsstadt verließen. Auch einzelne Leipziger Großkaufleute wie C. G. Frege engagierten sich nach dem Siebenjährigen Krieg zunehmend im spanisch-amerikanischen Leinwandgeschäft. Die Oberlausitzer Kaufleute und Verleger zogen es zunächst vor, auf Bestellung nach Hamburg oder nach Leipzig zu liefern. Das war eine relativ sichere Angelegenheit, die Lieferwege waren kurz, der Warenumschlag zügig, der Kapitaleinsatz gering. Auch wenn sie ihre Waren dem Kommissionshandel anvertrauten, kamen sie gewöhnlich rasch an einen größeren Teil ihres Geldes. Sobald die Ware in Hamburg eintraf überwies ihnen der Kommissionär die Hälfte bis zwei Drittel des zu erwartenden Erlöses in bar oder per Wechsel. Es dauerte jedoch nicht lange, bis einige größere und wagemutigere Oberlausitzer Leinenhändler und -verleger dazu übergingen, riskantere, aber auch potenziell einträglichere Geschäfte auf eigene Rechnung zu tätigen. Die Intensivierung und Verstetigung des Schiffsverkehrs zwischen Hamburg und Cádiz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erleichterte es ihnen, ihre Erzeugnisse direkt nach Spanien zu senden. Sie konnten dabei auf die Dienste von Spediteuren in Hamburg oder dem benachbarten Altona zurückgreifen, die es in die Hand nahmen, die ihnen überantworteten Leinensendungen auf einem der nach Cádiz auslaufenden Handelsschiffe unterzubringen. Die in Cádiz ansässigen Exporthandelshäuser wiederum nahmen die Warenlieferungen gewöhnlich in Kommission entgegen und setzten sie auf Rechnung ihres Auftraggebers gegen drei Prozent Provision plus zwei bis drei Prozent „Del Credere“ in Spanisch-Amerika ab.92 Solche Transaktionen konnten allerdings nur die kapitalkräftigeren Wirtschaftsakteure stemmen, wie das Herrnhuter Handels- und Verlagshaus Dürninger & Co., das als erstes Oberlausitzer Unternehmen den Direktverkehr mit Cádiz aufnahm. Da es oft geraume Zeit brauchte, bis der beauftragte Kommissionär die ihm übergebenen Waren jenseits des Atlantiks abgesetzt und die Zahlungen erhalten hatte, vergingen nicht selten zwei Jahre, bis der Erlös eines solchen Geschäfts in die Lausitz zurückgeflossen war. Zudem zahlten die Cádizer Kommissionäre ihren 91 92
Vgl. Ludwig, Handel, S. 23 ff.; Weber, Kaufleute, S. 48–51; Weber, Frege, S. 49–55, 73 f. Vgl. Ludwig, Handel, S. 46 ff.; Rodriguez, Cádiz, S. 418–423; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 38 f.; Hasse, Messen, S. 154 f.; Weber, Kaufleute, S. 280 f.; Rösser, Beispiele, S. 171, 174 ff.; Büsch, Handlung, S. 217 f. „Del Credere“ stand ein Kommissionär, wenn er beim Warenverkauf auf Kredit das Risiko übernahm, was er sich von seinem Kommittenten mit einer Provision vergüten ließ (vgl. ebd., S. 223–226).
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Kommittenten gewöhnlich keine Vorschüsse. Dies war in diesem Falle offenbar auch gar nicht erwünscht. 1787 offerierte ein französisches Exporthandelshaus aus Cádiz, das über die sächsische Botschaft in Madrid Kontakt mit sächsischen Leinen- und Tuchkaufleuten und -verlegern aufzunehmen versuchte, die Hälfte oder zwei Drittel des Warenwerts „gegen mäßige Zinsen“ vorzuschießen. Mit diesem Angebot stieß man in der Oberlausitz auf wenig Gegenliebe. Ein Bautzner Kaufmann teilte der Kommerziendeputation mit: „Vorschüsse jedoch auf Waaren zu nehmen, die man für eigene Rechnung versendet, ist allemahl für den Eigenthümer bedenklich, weil, wenn der Absatz, wie es oft der Fall ist, nicht geschwind erfolgen kann, durch langes Interesse der beste Nutzen entgehet, und man am Ende genöthigt ist, die Waaren zu schädlichen Preißen hinzugeben, da sie nicht unser alleiniges Eigenthum mehr ist.“93
Beschleunigen ließ sich das lateinamerikanische Exportgeschäft, wenn die sächsischen Leinwandhändler bereit waren, überseeische „Retouren“ entgegen zu nehmen. Die Hamburger Exporteure boten ihren Lieferanten aus der Oberlausitz an, größere Mengen an Leinen abzunehmen und höhere Preise zu zahlen, wenn sie Kolonialwaren anstelle von Bargeld akzeptierten. Im Kommissionshandel über Cádiz konnten solche „Barattogeschäfte“ dazu beitragen, Gewinne schneller zu realisieren. Wenn die Kommissionäre in Spanisch-Amerika von den dortigen Großhändlern heimische Produkte in Zahlung nahmen, mussten sie die Leinenwaren nicht auf halbjähriges oder noch längeres Zahlungsziel abgeben. Allerdings trugen sie dann auch das Risiko, beim Verkauf der in Zahlung genommenen Kolonialwaren nicht auf ihre Kosten zu kommen. Die Oberlausitzer „Dorfhändler“ waren wesentlich eher als die städtischen Kaufleute bereit, sich auf Barattogeschäfte einzulassen. Statt Bargeld nahmen sie Kaffee, Zucker oder Tabak an und brachten diese Waren in der Region und im benachbarten Böhmen in den Handel. Dürninger & Co. nutzten solche Retouren aus Übersee, um in die Weiterverarbeitung von Lebensmitteln einzusteigen. Das Unternehmen der Herrnhuter Brüder betrieb seit den 1750er Jahren eine Tabakfabrik, ließ Kaffee rösten und Schokolade herstellen und unterhielt eine Zuckerraffinerie.94 Die Herrnhuter Kaufleute streckten auch frühzeitig Fühler nach Süd- und Mittelamerika aus, um sich den zeitaufwändigen und mit hohen Abgaben und Spesen belasteten Umweg über Cádiz zu ersparen. Über den dänischen Freihafen St. Thomas und britische, französische und niederländische Handelsstützpunkte in der Karibik entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ein lebhafter Schmuggelhandel in die spanischen Kolonien. Auch das Leipziger Großhandelshaus Frege hatte in den 1760er Jahren versucht, Waren auf eigene Rechnung nach Lateinamerika zu versenden, dies aber bald wieder aufgegeben. Dürninger verfügte dagegen im kari93
94
HSTAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 784 (Loc. 11122/V. 1192), Bl. 49 f.: Johann Christoph Prentzel, Bautzen, an Kommerziendeputation, 25.3.1788; vgl. ebd. Bl. 9 f.: Drucksache: Madrid, Dezember 1787; Rösser, Beispiele, S. 176; Pohl, Beziehungen, S. 140 f.; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 39 f. Vgl. Ludwig, Handel, S. 58–61; Rösser, Beispiele, S. 175 ff.; Wagner, Dürninger, S. 79 f.; Weber, Kaufleute, S. 42 f.
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bischen Raum über ausgezeichnete Marktkenntnisse aus erster Hand. In St. Thomas, Jamaika, Berbice und Surinam gab es nämlich Missionsniederlassungen der Brüdergemeine, die seit 1745 eigene Zuckerrohr- und Baumwollplantagen angelegt hatten. Die Firma Dürninger unterhielt in St. Thomas und auf Curaçao Lager für ihre importierten Leinenwaren, die offenbar überwiegend zur illegalen Weiterversendung in die spanischen Kolonialgebiete bestimmt waren.95 Ein größerer Teil der in der Lausitz produzierten Leinwand ging als Massenerzeugnis auf die transatlantischen Märkte. Als leichte Kleiderstoffe, als Bett- und Tischwäsche fanden Leinenstoffe einerseits in den relativ bevölkerungsreichen spanischen Kolonien in Mittel- und Südamerika Absatz. Andererseits lieferten die sächsischen und schlesischen Exportgewerbe Leinen in billigen Qualitäten für die Zuckerrohr- und Baumwollregionen des karibischen Raums. Diese Stoffe dienten zur Einkleidung der zahlreichen Sklavenbevölkerung, auf deren Arbeit die Plantagenwirtschaft weitgehend beruhte. Insofern waren die sächsischen Exportgewerbe im 18. Jahrhundert in das Netzwerk des transatlantischen Sklavenhandels involviert und profitierten von der Sklavenarbeit. Sie lieferten Kleidung für die brutal verschleppten und ausgebeuteten Zwangsarbeitskräfte und nahmen die Produkte der amerikanischen Plantagen ab: Baumwolle, Zucker, Tabak, Kaffee oder Kakao.96 Seit den 1780er Jahren öffnete sich dem sächsischen Leinwandexport ein transatlantisches Absatzgebiet, das ihm bislang nur auf indirektem Weg zugänglich und längere Zeit fast ganz verschlossen gewesen war: die neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika. Wie die spanische Kolonialmacht in Süd- und Mittelamerika hatte auch die britische Krone den Handel mit ihren nordamerikanischen Kolonien den eigenen Untertanen vorbehalten. Zwar waren größere Mengen von Lausitzer Leinwand über England nach Nordamerika und Westindien exportiert worden. Doch die zunehmende Begünstigung der irischen und schottischen Leinenmanufaktur hatte dieses Geschäft beeinträchtigt, bis es während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs ganz zum Erliegen kam. Schon 1778 diskutierten die Kommerziendeputation und führende sächsische Textilverleger und Exportkaufleute die Möglichkeiten eines unmittelbaren Warenaustauschs mit Nordamerika. David Friedrich Oehler unterbreitete sogar den Plan einer Handelskompanie auf Aktien, die sächsische Waren in den neuen Siedlerstaaten jenseits des Atlantik vertreiben sollte. Doch stießen solche Vorschläge auf wenig Begeisterung in der sächsischen Kaufmannschaft, so dass die Angelegenheit bis zum Ende des Unabhängigkeitskrieges auf Eis gelegt wurde.97 Unmittelbar nach dem Friedensschluss 1783 nahm die kursächsische Diplomatie in Paris und Madrid mit den dortigen Repräsentanten der Amerikaner Verhandlungen wegen eines Handelsabkommens auf, das allerdings letztlich nicht zustande kam. Gleichzeitig begann in den nordwesteuropäischen Handelsstädten ein Wettlauf um die besten Plätze auf den neu geöffneten Märkten. Die Kommerziendeputa95 96 97
Vgl. Ludwig, Handel, S. 76; Vogt, Beitrag, S. 61; Rösser, Beispiele, S. 176; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 45. Vgl. Weber, Kaufleute, S. 61. Vgl. Reinhold, Frege, S. 96 f.; Weber, Frege, S. 97 f.
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tion berichtete 1783, Hamburger und holländische Exporteure hätten sich in Sachsen mit großen Mengen Woll-, Baumwoll- und Leinenwaren eingedeckt, um sie nach Nordamerika zu verschiffen. Auch Leipziger und Zittauer Kaufleute hätten, „theils einzeln, theils in verschiedenen kleinen Societäten“, Waren nach Boston und Philadelphia versandt.98 Selbst Benjamin Franklin, der amerikanische Gesandte in Paris, vermittelte auf diplomatischen Kanälen einen beträchtlichen Auftrag seines Schwiegersohns für Leinwand und Tuche nach Sachsen, den das Handelshaus Frege übernahm.99 Auch die Idee einer sächsisch-amerikanischen Handelskompanie wurde auf einer Konferenz zwischen Kommerziendepuation und Leipziger und Zittauer Kaufleuten im März 1783 in Dresden wieder aufgegriffen. Hier sprach sich vor allem der Leinwandgroßhändler Ernst Sigismund Haupt gegen diesen Plan aus. Er fürchtete, die Gründung einer solchen Kompanie würde die Geschäftsbeziehungen zu den hanseatischen und niederländischen Exporthandelshäusern beschädigen. Zudem sei der Direkthandel mit Nordamerika riskant und kostspielig. Man müsse mit sehr langen Zahlungszielen rechnen. Retourladungen mit amerikanischen Landesprodukten seien in Sachsen selbst kaum in größerem Umfang abzusetzen, so dass sie erst langwierig an auswärtigen Plätzen zu Geld gemacht werden müssten. Haupt drang in Dresden mit seinen Einwänden allerdings vorerst nicht durch. Schließlich reiste der in Bordeaux ansässige Leipziger Kaufmann Philip Thieriot 1784 im Auftrag der sächsischen Regierung nach Philadelphia, um dort die Möglichkeiten direkter Handelsbeziehungen auszuloten und Geschäftskontakte zu knüpfen. Bei seiner Rückkehr nach Europa brachte Thieriot wenig ermutigende Nachrichten mit. Die nordamerikanischen Märkte seien in den vergangenen Jahren mit Importwaren geradezu überschwemmt worden. Ihre unzureichende Marktkenntnis habe vielen kontinentaleuropäischen Kaufleuten herbe Verluste eingebracht. Sie hätten weder auf die amerikanischen Bedürfnisse geachtet noch hätten sie die amerikanische Art, Geschäfte zu machen, verstanden. Ein großes Problem seien die exorbitant langen Kreditlinien von 12 bis 18 Monaten, die amerikanische Handelshäuser in Anspruch nähmen. Dagegen seien die englischen Kaufleute mit dem Markt in den ehemaligen Kolonien wesentlich besser vertraut und könnten auch aufgrund ihrer Kapitalkraft mehr Kundenkredit geben. Damit bestätigte Thieriot im Grunde die Vorbehalte Haupts gegen die Aufnahme des Direkthandels mit den nordamerikanischen Freistaaten. Eine sächsische Handelskompanie hielt auch er nun für wenig erfolgversprechend. Eine solche Gesellschaft würde nur den Neid der Hamburger Kaufleute erregen und sie zu Vergeltungsmaßnahmen gegen die sächsische Textilmanufaktur reizen. Der unmittelbare Handelsverkehr zwischen Sachsen und den Vereinigten Staaten blieb in den folgenden Jahren und Jahrzehnten auf einem eher bescheidenen Niveau. Die Oberlausitzer Leinwandhändler und -verleger verließen sich beim Export ihrer Erzeugnisse nach Nordamerika nach den
98 99
Zit. nach Hasse, Messen, S. 349. Vgl. Reinhold, Frege, S. 102–106; Lingelbach, Relations, S. 520 f.; Weber, Frege, S. 99.
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negativen Erfahrungen von 1783/85 wieder überwiegend auf den Hamburger und Londoner Zwischen- und Kommissionshandel.100 Die Masse der westwärts über den Atlantik exportierten sächsischen Textilien bestand offensichtlich aus Oberlausitzer Leinenstoffen. Die Einfuhr von Woll- und Baumwollwaren nach Spanien und Großbritannien bzw. ihre transatlantischen Kolonien war dagegen immer wieder handelspolitischen Beschränkungen unterworfen. Die spanische Regierung verbot den Import baumwollener Manufakturwaren und ihren Transit nach Spanisch-Amerika schließlich ganz. Eine Reihe von Chemnitzer, Glauchauer, Hohensteiner und Leipziger Handelshäusern operierte offenbar in einer rechtlichen Grauzone weiter. Sie versandten mit Leinen gemischte Baumwollgewebe, die das spanische Verbotsedikt nicht ausdrücklich erwähnte, nach Cádiz oder den Freihafen Bilbao. Als 1790 das spanische Einfuhrverbot von Baumwollwaren kurzzeitig aufgehoben wurde, ergriff die Plauener Handelsgesellschaft Haußner & Comp. sofort die Gelegenheit, eine Lieferung von Musselinen über die Vermittlung eines Handelshauses in Bayonne nach Spanien zu senden. Doch schon während der Leipziger Ostermesse 1791 berichtete Kaufmann Baumgärtel den Beamten der Kommerziendeputation, er habe „hier bey Cammerrath Fregen 3 nach Spanien bestimmt gewesene Kisten Mußeline stehen“, die wegen des neuerlichen spanischen Einfuhrverbotes nicht abgesandt werden könnten.101 Lebhafter blieb dagegen der Export sächsischer Wollwaren nach Spanien. In den 1770er Jahren gingen Tuche und Wollzeuge vornehmlich über Bilbao auf den spanischen Binnenmarkt. Die Regierung in Madrid versuchte zwar durch Zollerhöhungen, eine einheimische Wollwarenmanufaktur aufzupäppeln. Die Einfuhr von Wollstrümpfen wurde 1778 sogar ganz untersagt. Doch konnten die spanischen Hersteller den inländischen Bedarf allenfalls in den einfachsten Qualitäten decken. In der Karibik war die Marktnachfrage für Wollstoffe wegen der klimatischen Bedingungen naturgemäß beschränkt. In den klimatisch gemäßigteren Zonen Südamerikas ließen sich aber Flanelle und andere Erzeugnisse der sächsischen Wollweberei absetzen. In den 1780er Jahren machten offenbar die großen westsächsischen Wollwarenverleger gute Geschäfte mit dem Export nach Spanisch-Amerika. David Friedrich Oehler teilte anlässlich der Michaelismesse 1783 den Beamten der Kommerziendeputation mit, er habe eine starke Bestellung aus Cádiz erhalten, die zur Weiterversendung nach Lima bestimmt sei. Zwei Jahr später berichtete die Deputation, trotz einer neuerlichen Zollerhöhung habe Oehler „für nahezu 400 000 Thlr. von seinen Fabrikaten nach Cadix gesendet“.102 Auch nach Portugal hatte Oehler seine Fühler ausgestreckt. Er musste aber 1777 die Lieferungen nach Lissabon „mit größtem Schaden“ einstellen, als die portugiesi100 Vgl. Reinhold, Frege, S. 99–107; Lingelbach, Relations, S. 524–531; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 49; Weber, Frege, S. 99 ff. 101 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1556 (Loc. 11126/XIV. 1278), Bl. 135: Extrakt Relation Ostermesse, 20.5.1791; vgl. ebd. Bl. 30 f.: dito Ostermesse, 2.6.1790; 102 Zit. nach Hasse, Messen, S. 357. Vgl. Ludwig, Handel, S. 14 ff.; Pohl, Beziehungen, S. 150; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 785 (Loc. 11141/V. 1725), Bl. 87 f.: Dürisch an Kommerziendeputation, 19.4.1803; ebd. Nr. 1701 (Loc. 11103/XVI. 579), Bl. 72: Extrakt Relation Michaelismesse, 10.11.1783
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sche Regierung die Einfuhr sächsischer Wollwaren untersagte.103 Oehler vermutete hinter diesem Verbot die Machenschaften der englischen Konkurrenz, die den Handel in Portugal fast ganz beherrsche. Als Vorwand diente offenbar der Schutz einiger im Land errichteter Flanelldruckereien, die ihre rohen Flanelle aus England bezogen. So hätten denn die Engländer „mit ihrem bekannten Einfluße erzwungen, was sie nicht mit gleicher Preißwürdigkeit der Waaren erlangen konnten“. Portugal hatte seinem politischen Bündnispartner Großbritannien seit 1703 erlaubt, Wolltextilien zu vorteilhaften Bedingungen ins Land einzuführen. Große Mengen dieser nach Lissabon gebrachten britischen Waren wurden anschließend nach Brasilien verschifft.104 Nach Osten und Süden Für den Absatz sächsischer Textilien nach Ost- und Südosteuropa spielte die Handels- und Messestadt Leipzig eine bedeutsame Rolle. Leipzig hatte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer Drehscheibe des Handels zwischen den Hafenstädten der Nordsee und den Märkten in Russland, Polen und den europäischen Gebieten des Osmanischen Reiches etabliert. Über London, Amsterdam, Hamburg und Bremen kamen beträchtliche Mengen überseeischer Rohstoffe und „Kolonialwaren“ in die kursächsische Messestadt. Direkt bedeutsam für die heimischen Textilmanufakturen war dabei vor allem die wachsende Zufuhr nordamerikanischer und karibischer Baumwolle sowie von Farbstoffen wie Cochenille und Indigo, die zum Färben von Garnen und Geweben Verwendung fanden. Aber auch große Mengen an Manufakturwaren fanden ihren Weg aus Westeuropa nach Leipzig, nicht zuletzt Textilien: englische und niederländische Wollgewebe und Tuche, Seidenstoffe aus Lyon, indische Muslins und Calicoes. Die Einbringung von Waren in die Stadt Leipzig war von der regulären kursächsischen Generalakzise befreit worden. Statt dessen wurde nur eine mäßige Handelsabgabe erhoben. Auf ausländische Handelswaren, die wieder ausgeführt wurden, mussten keine Zölle gezahlt werden. Zu den Leipziger Neujahrs-, Oster- und Michaelismessen deckten sich die Provinzgrossisten der näher gelegenen deutschen Gebiete mit Waren ein. Vor allem fanden sich aber Kaufleute aus Ost- und Südosteuropa zu den Messeterminen in Leipzig ein. Eine besondere Rolle beim Warenaustausch nach Osteuropa spielten polnische Kaufleute, oft jüdischen Glaubens, die ihre Heimatbasis in Warschau oder in der galizischen Stadt Brody (östlich Lemberg) hatten. Diese Händler kauften auf den Leipziger Messen – neben anderen Waren – Leinwand, Tuche und Baumwollstoffe, die sie auf den polnischen und russischen Märkte absetzten.105 103 HStAD Kommerziendeputation Nr. 788 (Loc. 11114/VI. 1014), Bl. 1: Oehler an Wurmb, 25.7.1778. 104 Zitat: Ebd. Nr. 1701, (Loc. 11103/XVI. 579), Bl. 113: Oehler an den Kurfürsten, 2.10.1792. Vgl. ebd. Bl. 37: Extrakt Relation Ostermesse, 24.5.1776; ebd. Bl. 72: dito Michaelismesse, 10.11.1783; ebd. Nr. 788 (Loc. 11114, VI. 1014), Bl. 3 f.: Kaufmann J. M. Wagner, Lissabon, an Oehler, 11.7.1778; ebd. o. Bl.: Extrakt Schreiben v. Gersdorf, Madrid 31.12.1783; ebd. o. Bl.: Extrakt Relation Ostermesse, 10.5.1787; Miller, Britain, S. 32. 105 Vgl. Denzel, System, S. 228; Adressbuch 1826, S. 81.
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Die Verkehrswege von Leipzig zu den Rohstoff- und Verbrauchermärkten im Osten führten größtenteils über Land. In Planwagen wurden die Waren in die Messestadt gebracht und von dort wieder abtransportiert. Eine viel befahrene Handelsroute ging von Leipzig über Berlin, Königsberg, Mittau, Riga nach St. Petersburg. Mit dem Ostseeraum waren Leipzig und die sächsischen Textilreviere zudem über die Hansestadt Lübeck verbunden. Von hier aus fanden sächsische Gewerbeerzeugnisse ihren Weg nach Schweden, Dänemark und zu den baltischen Häfen. Eine weitere Route führte über Breslau, Warschau und Smolensk nach Moskau. Weiter südlich verlief die Handelsstraße über Krakau und Lemberg nach Brody, das seit der Ersten Polnischen Teilung 1772 zum Territorium des Habsburgerreichs gehörte. Von dort aus wurden die in Leipzig erworbenen Manufaktur- und Kolonialwaren über die Messen in Berditschew (nahe Kiew) in die Ukraine oder über die Hafenstadt Odessa in den östlichen Schwarzmeerraum und das Kaukasusgebiet weiter verfrachtet. Die ostgalizische Stadt profitierte vor allem von den weitreichenden handelsrechtlichen Ausnahmeregelungen der neuen österreichischen Verwaltung, die Brody den Status einer Freihandelsstadt zubilligten. Nachdem im gleichen Jahr die jüdischen Kaufleute auf der Leipziger Messe von den bislang geltenden Sonderabgaben befreit wurden, stieg die Zahl der „Meßfieranten“ aus Brody in der Folgezeit stark an. Auch in das osmanische Herrschaftsgebiet gelangten die in Leipzig umgeschlagenen Konsumwaren. Kaufleute aus Jassy und Bukarest, in den Quellen gewöhnlich „Griechen“ genannt, besuchten regelmäßig die Leipziger Messen, kauften dort ein oder gaben Bestellungen auf.106 Die räumliche Nähe des Umschlagplatzes Leipzig eröffnete vor allem den südwestsächsischen Textilgewerbe-Revieren einen relativ einfachen Zugang zu den überregionalen Märkten. Größere und kleinere Kaufleute, Verleger und selbst einzelne Handwerksmeister brachten ihre Erzeugnisse zu den Messeterminen in das zwei bis drei Tagesreisen entfernte Leipzig. Gerade die finanziell weniger gut fundierten Wirtschaftsakteure mochte der unkomplizierte Zugang zur Leipziger Messe in die Lage versetzen, ihre Selbständigkeit zu bewahren. Mancher Webermeister, der auch die Stoffe seiner lokalen Zunftgenossen mit zur Messe transportierte, machte damit selbst den ersten Schritt zum Verlagsunternehmer. Einige andere Messen im weiteren Umkreis – im kursächsischen Naumburg an der Saale, in Braunschweig, in Frankfurt am Main und im preußischen Frankfurt an der Oder – wurden ebenfalls von den Textilkaufleuten und -verlegern aus dem sächsischen Textilgürtel mehr oder minder regelmäßig besucht. Seit dem frühen 18. Jahrhundert galt Leipzig als bedeutendste deutsche Messestadt. Sie war die Operationsbasis von zahlreichen großen Fernhandelshäusern mit weitreichenden internationalen Geschäftsverbindungen, und auch andere europäische Handelsgesellschaften waren hier mit eigenen Filialen oder Vertretern dauernd präsent. Allerdings dürften die Beziehungen zwischen der kursächsischen Messeund Handelsmetropole und den Exportgewerberegionen in Südost- und Südwest106 Vgl. Reinhold, Polen/Litauen, S. 118–129, 140–146; Netta, Handelsbeziehungen, S. 73, 86; Sammler, Messen, S. 262 ff.; Kuzmany, Brody, S. 50–54; Middell, Brody, S. 531–536; König, Baumwollenindustrie, S. 48 f.
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sachsen durchaus ambivalent gewesen sein. Die Leipziger Großhändler agierten nicht unbedingt als Vertriebsorganisation ihrer Chemnitzer, Plauener oder Zittauer Landsleute. Sie betätigten sich vornehmlich als Vermittler im Fernhandel zwischen West- und Osteuropa. Ihre einträglichsten Geschäfte machten die Leipziger Großkaufleute im allgemeinen mit den Erzeugnissen der britischen, französischen oder niederländischen Konkurrenz der sächsischen Textilwarenmanufaktur. Dabei betrieben sie wenig „Propre“-Handel – „Eigenhandel“ in dem Sinne, dass sie Manufakturwaren oder Rohstoffe kauften und auf eigene Rechnung verkauften. Sie übernahmen Waren auf Kommission, handelten also auf Rechnung eines Auftraggebers. Die Dienstleistungen des Leipziger Großhandels für die „Messfieranten“ aus den sächsischen Textilrevieren bestanden nicht primär im Vertrieb der dort erzeugten Woll-, Baumwoll- oder Leinenstoffen, sondern eher in Hilfestellungen bei der Geschäftsabwicklung. Leipziger Spediteure organisierten den Warentransport auf längeren Überlandstrecken. Leipziger Bankhäuser – meist hervorgegangen aus Kommissions- und Speditionsgeschäften oder immer noch Teil von diesen – wechselten das in unzähligen Denominationen umlaufende Bargeld und diskontierten die Handelswechsel, die die Messebesucher aus Crimmitschau, Limbach, Glauchau oder Hainichen für ihre Web- und Wirkwaren entgegen genommen hatten. Den substantielleren Verlegern und Kaufleuten der südwest- und südostsächsischen Textilreviere räumten die Leipziger Bankiers Kontokurrentkredit ein.107 Allerdings zählte Leipzig nicht zu den großen europäischen Wechselplätzen. Der direkte Wechselverkehr beschränkte sich auf die Messen selbst. Verkäufer nahmen „Messwechsel“ ihrer Kunden entgegen, die meist zum nächsten Messetermin fällig waren. Ansonsten fungierte die Infrastruktur des Leipziger Handels auch hier eher als Vermittler zwischen den europäischen Wechselplätzen. Russische Kaufleute etwa erwarben für ihre geschäftlichen Transaktionen gewöhnlich in St. Petersburg, dem Hauptexporthafen für Holz und ähnliche in Westeuropa gefragten Rohstoffe, auf Amsterdam trassierte Wechsel, mit denen sie dann ihre Einkäufe in Leipzig bezahlten. Im Warenhandel mit Süd- und Südosteuropa wurden oft Wechsel verwendet, die in Augsburg oder Wien eingelöst werden mussten. Der Wechselverkehr im sächsischen Handel mit Westeuropa vollzog sich meist über Hamburg, London oder Amsterdam. Ihre besondere Bedeutung bezogen aber die Leipziger Messen aus ihrer Funktion als „Grenzmärkte“: Sie schlossen Gebiete, die von den elaborierten Netzwerken des bargeldlosen Waren- und Güteraustauschs noch weitgehend unberührt waren, an die gesamteuropäischen und globalen Wirtschaftsströme an. Die jüdischen und „griechischen“ Händler aus Brody, Jassy oder Bukarest wickelten ihre Geschäft zumindest teilweise mit Bargeld ab. Sie verkauften ihre aus dem Osten mitgebrachten Waren entweder in Leipzig selbst oder auf ihrem Hinweg zur Messe in Wien und auf anderen österreichischen Marktplätzen. Den Erlös dieser Verkäufe, den sie in Münzgeld, Wechseln oder Wiener Banknoten mit sich führten, benutzten sie dann, um sich auf der Leipziger Messe mit Manufaktur107 Vgl. Homburg, Messeprivilegien, S. 338; Sammler, Messen, S. 265; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 39; Rösser, Beispiele, S. 170 f.; Weber, Frege, S. 199 f.; Zerres, Wechselplätze, S.123 f.
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und Kolonialwaren für den Rückweg einzudecken. Allerdings nahmen sie oft auch längere Kreditlinien in Anspruch und beglichen ihre beim Einkauf in Leipzig gemachten Schulden erst auf einer der folgenden Messen.108 Die zunehmende Verdichtung der kommerziellen Infrastruktur des europäischen und transatlantischen Handels trug auf der anderen Seite zu einem tendenziellen Bedeutungsverlust der Messen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei. Für viele der größeren südwest- und südostsächsischen Verlags- und Handelsgeschäfte dienten die Messen primär zur Kontaktpflege, zum Informationsaustausch und zur Aufgabe und Entgegennahme von Bestellungen, die dann zwischen Lieferanten und Abnehmern direkt abgewickelt wurden. Statt eines großen und kostspieligen Warenlagers brachten etwa einige der Oberlausitzer Leinwandfirmen schon vor 1800 Muster zur Messe mit. Auch für die großen Plauener Baumwollwarenverleger spielte der direkte Messeverkauf eine zusehends geringere Rolle. So konstatierte die „Meßrelation“ im Frühjahr 1781, von den Plauischen Musselinen sei auf der Leipziger Ostermesse nicht viel abgesetzt worden. Die anwesenden vogtländischen Musselinkaufleute versicherten den Beamten der Kommerziendeputation aber, man habe zahlreiche Bestellungen und die Manufaktur sei „in großem Flor“.109 Die Geschäftsbeziehungen zu den wichtigsten überregionalen Geschäftspartnern hatte sich über Messezeiten hinaus verstetigt. Eine dichte und vergleichsweise rasche briefliche Kommunikation mit den meisten größeren europäischen Handelsplätzen ermöglichten regelmäßige Postverbindungen. Finanzielle Transfers ließen sich einigermaßen gefahrlos per Handelswechsel abwickeln oder erfolgten bei regelmäßigen Geschäftsverbindungen über ein laufendes Verrechnungskonto. Der Warentransport konnte Spediteuren überlassen werden. Bei Transaktionen über weitere Strecken wurden nicht selten mehrere Kommissionäre und Spediteure hintereinander eingeschaltet, denen auch weitergehende Aufgaben übertragen werden konnten. Dies ist etwa aus einem Geschäftsbrief, den der Plauener Großhändler Poeschmann 1794 nach Lübeck sandte, gut zu ersehen: „Ich gebe mir die Ehre Ihnen zu berichten, daß ich heute durch Gebrüder Röder in Leipzig an Sie [diverse Waren] abgesendet habe. Ich ersuche die [zu] bezahlende Fracht & dero Spesen davon bez. nachzunehmen u. selbiges mit ersterer Gelegenheit von M. Spring & Meyer nach Mosco [Moskau, M. S.] durch einen Ihnen selbst gefälligen Spediteur in Reval oder Bernau zu expediren, und mir von dem Erfolg bez. Nachricht zu geben.“110
Auf eine gewachsene kommerzielle Infrastruktur konnten die kursächsischen Kaufleute und Verlagshandelshäuser im ausgehenden 18. Jahrhundert größtenteils auch beim Vertrieb ihrer Waren nach Italien und den östlichen Mittelmeerraum zurück108 Vgl. Rösser, Beispiele, S. 171 f.; Denzel, System, S. 228 f.; ders., Sachsen, S. 20 f.; Büsch, Handlung, S. 116–126; Baldauf, Aus den Büchern, S. 17 ff.; König, Baumwollenindustrie, S. 46–49; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 38 f. 109 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1553 (Loc. 11119), Bl. 21: Extrakt Relation Ostermesse, 20.6.1781. Vgl. Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 38; ähnlich für Chemnitz: Maschner, Weberei, S. 95. 110 Stadtarchiv Plauen: Bestand Poeschmann-Schneidenbach Nr. 1: Copierbuch Poeschmann: M. A. Souchay, Lübeck, 24.3.1794; Vgl. Rösser, Beispiele, S. 171, 174 f.
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greifen. Vor 1750 lief dieser Handelsverkehr gewöhnlich über die Zwischenstation des Kommissionshandels in Augsburg, Lindau, Bozen oder Triest. Auch Hamburger Kommissionäre vermittelten den Absatz sächsischer Waren nach Italien auf dem Seeweg nach Genua und Livorno. Nach Italien wurde eine breite Palette kursächischer Textilerzeugnisse exportiert, sowohl größere Quantitäten an Leinwand und Leinenwaren als auch Wollzeuge und Tuche, baumwollene Musseline, Piquèes, Canevasse und Kattun, zudem Strümpfe, Spitzen und Posamenten. Ein Teil dieser Waren fand Absatz auf den italienischen Verbauchermärkten, ein anderer Teil wurde per Schiff weiter in die Levante „expediert“. In den Hafenstädten – Genua, Livorno, Venedig und Neapel – und auf den großen Messen wie vor allem in Senegallia bei Ancona übernahmen italienische Exporthandelsfirmen die Textilien aus Sachsen auf eigene Rechnung oder in Kommission und verfrachteten sie in die Handelsstädte an den östlichen Küsten des Mittelmeers: Smyrna, Beirut, Alexandria. Kaufleute aus dem Osmanischen Reich versorgten sich wiederum auf den italienischen Markt- und Messeplätzen.111 Der Wechselverkehr im Italiengeschäft lief häufig über Augsburg. Grundlage des bargeldlosen Verrechnungsausgleich war vor allem der Import von Seide und Seidengarnen, aus dem die Augsburger Guthaben italienischer Kaufleute stammten. Bei Übergabe ihrer Waren an die süddeutschen Kommissionäre nahmen die sächsischen Verleger-Kaufleute auf Augsburg gezogene Wechsel an, die sie bei ihren Leipziger Bankiers diskontierten. In ähnlicher Weise funktionierte auch der Zahlungsverkehr über Triest und Wien. Hier war es zunehmend die mazedonische Baumwolle, die für den Ausgleich der Wechselkonten sorgte. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gingen einige der sächsischen Großhandels- und Manufakturunternehmen zusehends dazu über, direkte Geschäftsbeziehungen mit italienischen Kaufleuten zu knüpfen. Sie mussten sich dabei aber häufig auf Baratto-Geschäfte einlassen: Statt Bargeld oder Wechsel nahmen sie italienische Landesprodukte oder aus dem Orient eingeführte Waren, etwa Rohseide, entgegen.112 Einige der sächsischen Verlagskaufleute versuchten im späteren 18. Jahrhundert, direkte Handelsbeziehungen zum Osmanischen Reich aufzubauen. Oehler schickte Mitte der 1770er Jahre Wollwaren an die Firma Arens & Comp. in Konstantinopel, einem Ableger eines Wiener Handelshaus. Der Geschäftspartner am Bosporus sollte Oehler mit Marktinformationen, Warenproben und Anleitungen versorgen. Die Lieferungen aus Crimmitschau sollten auf gemeinschaftliche Rechnung abgesetzt werden. Nachdem aber ein erster Versuch wegen der schon länger in Konstantinopel etablierten französischen Konkurrenz nur einen sehr mäßigen Gewinn abgeworfen hatte, verzichtete Oehler auf weitere Lieferungen.113 Nachhal111 Vgl. Meinert, Handelsbeziehungen, S. 37–40, 56; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 38. 112 Vgl. Rösser, Beispiele, S. 172 f., 175; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 32; Meinert, Handelsbeziehungen, S. 39 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 736 (Loc. 11118/VI. 1101), Bl. 38 f.: Pro Memoria, 28.6.1815. 113 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 736 (Loc. 11118/VI. 1101), Bl. 18: Extrakt Plan zur Etablierung eines unmittelbaren Handels nach der Levante [1786/87]: Kommentar Oehler.
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tiger entwickelte sich dagegen der Absatz von vogtländischen Musselinen ins Osmanische Reich. Haußner & Comp., die führende Plauener „Grossohandlung“, gab 1787 bei einer Befragung der Kommerziendeputation an, man betreibe schon seit etlichen Jahren einen nicht unbedeutenden Direkthandel nach Konstantinopel und die Levante. Dabei lasse man sich nicht auf Kommissionsgeschäfte ein, sondern liefere auf Bestellung für Kunden aus Konstantinopel, Smyrna und anderen osmanischen Handelsstädten. Diese Transaktionen würden auf die „bequemste und sicherste Weise der Welt“ abgewickelt: Man liefere nach Wien, wo die Ware vom Besteller in Empfang genommen und bezahlt werde. In ähnlicher Weise gestaltete sich offenbar der Absatz einiger Bautzner und Zittauer Tuchhandelshäuser nach Vorderasien. Vogtländische Musseline und Lausitzer Tuche wurden wohl auch ohne Bestellung versandt. Doch selbst in diesem Falle endete für die sächsischen Verlagskaufleute der Vertriebsweg gewöhnlich schon in Wien, wo die eingesandten Woll- und Baumwollwaren von Kommissionären gegen Barzahlung an griechische Einkäufer abgesetzt wurden.114 Globale Märkte und protoindustrielles Exportgewerbe Ähnlich wie die Herstellung von Textilien weist auch ihre Vermarktung am Ende des 18. Jahrhunderts eine große Vielfalt an Varianten auf. Die Spannbreite reichte von der Selbstvermarktung gewebter und gewirkter Waren durch die Kleinproduzenten auf Jahrmärkten und durch Hausieren, über den Verkauf auf Messen, die Belieferung von Kunden auf Bestellung, den Vertrieb über den Kommissionshandel bis hin zum direkten Absatz auf eigene Rechnung auf den Märkten im europäischen Ausland und in Übersee. Diese Vielfalt war wohl nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass sich im Laufe des 18. Jahrhunderts die globalen und europaweiten Handelsbeziehungen verdichtet hatten und eine zusehends elaboriertere kommerzielle Infrastruktur entstanden war. Der Aufstieg des Kommissionshandel, die Verfügbarkeit der Dienste von Speditionen und Reedereien, die Möglichkeiten des bargeldlosen Zahlungsverkehrs – all dies erweiterte die Vermarktungsoptionen der sächsischen Textilwarenmanufaktur. Der Drang regionaler, produktionsnaher Wirtschaftsakteure, sich einen möglichst direkten Zugang zum Markt zu verschaffen, lässt sich an einer Reihe von Entwicklungen illustrieren. Dazu gehören etwa das Bestreben von Webermeistern und dörfliche Faktoren, sich verlegerischer Funktionen zu bemächtigen und die eigenen bzw. die am Produktionsort eingesammelten Waren selbst zu vermarkten. Dazu gehört auch die Loslösung der Textilwarenmanufaktur vom organisatorischen Zugriff der süddeutschen, Hamburger und Londoner Fernhandelshäuser. Ebenso lassen sich seit der Jahrhundertmitte verstärkte Versuche südwest- und südostsächsischer Textilunternehmer beobachten, den Kommissionshandel zu umgehen, um die west- und südeuropäischen und selbst überseeische Marktplätze direkt zu beliefern. 114 Edb., Bl. 21: Kommentar Haußner & Co.; vgl. ebd., Bl. 39: Pro Memoria, 28.6.1815.
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Der Direktvertrieb nach London, Cádiz, Livorno oder Moskau, nach Boston, Philadelphia oder St. Thomas bot die Chance, deutlich mehr zu verdienen als beim Verkauf an einen Hamburger Großhändler. Allerdings wuchs auch das Risiko beträchtlich. Beim Versuch, kurz nach dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg die neuen Freistaaten direkt zu beliefern, holten sich die sächsischen Großhändler und Verlagsunternehmer schnell eine blutige Nase. Sie hatten sich ohne tiefer gehende Kenntnisse der Konsumgewohnheiten und Geschäftsgepflogenheiten auf den US-amerikanischen Markt gewagt und waren dort nicht selten an wenig vertrauenswürdige Geschäftspartner geraten. Solide Geschäftskontakte und verlässliche Informationskanäle nach Übersee mussten gewöhnlich erst mühsam aufgebaut werden. Die Firma Abraham Dürninger war aufgrund ihrer Verflechtung mit der Herrnhuter Brudergemeine in der glücklichen Lage, über ihre Missionsstationen in der Karibik Marktinformationen aus erster Hand zu erhalten. Die Leipziger Großkaufleute, die sich am Export sächsischer Textilien beteiligten, waren an wichtigen Handelsplätzen oft über ihre Söhne oder andere nähere Verwandte präsent. Christian Gottlob Frege sr. schickte seinen ältesten Sohn Abraham seit Mitte der 1760er Jahren für längere Zeit nach Spanien. Christian Gottlob Frege jr. beauftragte 1796 seinen Neffen Ludwig Krumbhaar mit der Knüpfung von Geschäftskontakten in New York und Philadelphia. Ein anderer Neffe, Emanuel Frege, hatte sich zur gleichen Zeit in Hamburg als Exportkaufmann etabliert. Auch größere Verlagsunternehmen des sächsischen Textilgürtels verschafften sich offenbar auf diese Weise ein verlässliches Standbein auf wichtigen Auslandsmärkten. So war der Plauener Baumwollwarenverleger C. C. Poeschmann spätestens seit 1790 durch seinen Schwiegersohn in Moskau vertreten.115 Die Wege zu den Märkten waren für den sächsischen Textilexport im 18. Jahrhundert trotz der zunehmenden Verdichtung des europäischen und transatlantischen Handelsverkehrs immer noch durch zahlreiche Interaktionsbarrieren behindert. Die kursächsischen Produktionsstandorte lagen einige hundert Kilometer vom nächsten Seehafen entfernt. Der Transport von Stoffballen über Land mit Planwagen war aufwändig und teuer. Wesentlich einfacher und kostengünstiger konnten solche Güter auf schiffbaren Flüssen bewegt werden. An sich bot die Elbe dem sächsischen Exporthandel einen bequemen Wasserweg zur Nordsee. Doch die Elbschifffahrt war zeitweise so stark mit Zöllen und Abgaben belastet, dass der mühselige Landweg letztlich oft billiger kam. Oberlausitzer Leinen wiederum wurde gewöhnlich über die Oder und den Spree-Havel-Kanal zum Unterlauf der Elbe verschifft. Von wesentlicher Bedeutung für die Ausfuhr sächsischer Manufakturwaren über die Nordseehäfen Hamburg und Altona waren daher die politischen Beziehungen des Kurfürstentums mit dem Königreich Preußen. Da preußisches Territorium nur sehr umständlich über die Landstraße durch den Harz und Braunschweig umgangen werden konnte, war die Regierung in Berlin in der Lage, die sächsische Exportwirt115 Vgl. Weber, Frege, S. 60, 100 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 677 (Loc, 11166/ II. 2244), Bl. 1 f.: Emanuel Frege an den Kurfürsten, 7.1.1802; Stadtarchiv Plauen: Geschäftsund Familienbücher Poeschmann-Schneidenbach Nr. 1: Poeschmann an Gebr. Fabricius, Burtscheid, 13.12.1790.
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schaft empfindlich zu treffen. Phasenweise belasteten hohe preußische Transitzölle oder das 1747 wiederbelebte Magdeburger Stapelrecht den sächsischen Leinenund Wollwarenhandel wohl tatsächlich nicht unerheblich. Ähnliches galt für den Warenvertrieb nach Italien und Südosteuropa, wo die günstigsten Handelsrouten für den Vertrieb sächsischer Textilien durch das Habsburgerreich führten.116 In noch stärkerem Maße als die Durchgangszölle und Binnenschifffahrtsabgaben hing das Wohlergehen des protoindustriellen Textilgewerbe in Sachsen von den handelspolitischen Weichenstellungen der Exportländer ab. Die europäischen Staaten folgten mehr oder minder konsequent der merkantilistischen Maxime, die Rohstoffe im Lande zu behalten und die heimische Fertigwarenmanufaktur gegen äußere Konkurrenz zu schützen. Spanien etwa verbot den Import von Baumwollgeweben, ließ aber die Einfuhr von Leinen und meist auch von Wollstoffen grundsätzlich zu. Zwar mussten die Importeure auf diese Produkte recht hohe Zölle zahlen, die aber primär fiskalischen Zwecken dienten. Wo Aussicht bestand, bestimmte Artikel im eigenen Land in hinreichender Menge zu erzeugen, wurden Einfuhrverbote erlassen. Wenn Importverbote und hohe Zölle allerdings zu Engpässen in der Güterversorgung oder zu allzu überteuerten Verkaufspreisen führen, erhöhte dies gewöhnlich den Anreiz, die gesetzlichen Bestimmungen zu unterlaufen. Das spanische Einfuhrverbot für Baumwollwaren wurde von einer Reihe sächsischer Verleger und Großhändler durch die Lieferung von Mischgeweben umgangen. Es gab offenbar sogar informelle Abmachungen mit dem spanischen Handelskonsul in Hamburg, sächsische Baumwollstoffe unter falscher Etikettierung in Spanien einzuführen.117 Auch die Versorgung der spanischen Kolonien mit Manufakturwaren ließ sich in der Praxis nicht auf die offiziellen Handelsrouten über Cádiz und andere iberische Hafenstädte begrenzen. Nachdem die Leinen- und Wollstoffe beim Transit durch Spanien kräftig mit Zollabgaben belastet worden waren, wurde es ein um so lohnenderes Geschäft, solche Waren einzuschmuggeln. Mindestens ebenso groß war die Kluft zwischen dem Buchstaben des Gesetzes und der Praxis des Einfuhrhandels in Russland, einem anderen wichtigen Absatzgebiet der sächsischen Textilwarenmanufaktur. Die russischen Herrscher machten im 18. Jahrhundert immer wieder den Versuch, die Einfuhr ausländischer Manufakturwaren zu beschränken oder ganz zu verbieten. Verschärfte Importbestimmungen und Grenzkontrollen verpufften angesichts der notorischen Bestechlichkeit der russischen Grenzbeamten meist relativ schnell wieder. Österreich verschärfte 1784 sein zuvor eher gemäßigtes Schutzzollsystem, konnte aber den Schmuggel über die lange und gebirgige sächsisch-böhmische Grenze nie ganz unterbinden.118 Das Inselkönigreich Großbritannien war dagegen in der Lage, solchen „Schleichhandel“ effektiver zu verhindern. Hier wurde vor allem die inländische Wollwarenmanufak116 Vgl. Ludwig, Handel, S. 19 f.; ders., Kolonialwaren, S. 14–17; Weber, Frege, S. 64 f.; Meinert, Handelsbeziehungen, S. 41; Weber, Kaufleute, S. 81 f.; Bertz, Elbhandel, S. 99 ff.; Pohl, Beziehungen, S. 128. 117 Vgl. hierzu: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 785 (Loc. 11141/V. 1725), Bl. 86–89: Bericht Dürisch, 19.4.1803. 118 Vgl. Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 55 f.; Bollinger, Textildruck, S. 151.
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tur durch rigide Einfuhrverbote geschützt. Sogar der Verkauf von bestimmten Baumwollwaren, ob aus heimischer oder fremder Produktion, war hier längere Zeit aus Rücksicht auf die Zeug- und Tuchmacherei verboten gewesen. Nachdem auch zunehmend ausländische Leinenwaren durch hohe Zölle vom britischen Binnenmarkt ferngehalten wurden, beschränkte sich der Vertrieb sächsischer Textilien immer mehr auf den Transithandel. Frankreich belegte sächsische Baumwollwaren Anfang der 1770er Jahren mit Einfuhrverboten. Allerdings gelangten die Chemnitzer und Plauener Erzeugnisse auch weiterhin ins Land, meist mit gefälschten Papieren über die Schweiz. Erst als die französische Regierung 1785 auch die Grenze für Schweizer Importe dicht machte, scheint der Absatz sächsischer Canevasse und Musseline spürbar zurückgegangen zu sein.119 Die kursächsischen Textilexportgewerbe hatten angesichts der handelspolitischen Kräfteverhältnisse in Europa mit mehreren Handicaps fertig zu werden. Ihre Erzeugnisse wurden von einer Reihe potenziell ergiebiger europäischer Absatzmärkte ferngehalten oder durch Einfuhrabgaben gegenüber inländischen Konkurrenten benachteiligt. Da das kleine Binnenland Sachsen weder über Kolonien in Übersee noch über eine Handelsflotte verfügte, vollzog sich der überseeische Vertrieb sächsischer Manufakturwaren oft unter weniger günstigen Bedingungen als etwa bei den Erzeugnissen der See- und Kolonialmächte. In Spanien und Portugal mussten es die sächsischen Exporteure hinnehmen, dass ihre britischen bzw. französischen Konkurrenten aufgrund bilateraler Handelsverträge Leinen- und Wollwaren zu einem deutlich niedrigeren Zoll einführten. Das Zarenreich gewährte die Einfuhr britischer Tuche und Flanelle schon 1734 und 1766 zu erniedrigten Zollsätzen. In den 1780er Jahren kamen auch französische, österreichische und napoletanische Wollwaren in den Genuss dieser Vergünstigungen, während die sächsischen Erzeugnisse davon ausgeschlossen blieben.120 Sachsen selbst schloss Handelsverträge während des gesamten 18, Jahrhunderts nur mit Preußen und der Republik Venedig. Nicht, dass man in Dresden an solchen Abkommen nicht interessiert gewesen wäre – im Gegenteil: Die kursächsische Diplomatie versuchte längere Zeit, die spanische Regierung zum Abschluss eines Handelsabkommens zu bewegen, hatte aber keinen Erfolg. Ebenso wenig führten die Verhandlungen mit den neu gegründeten Vereinigten Staaten in den 1780er Jahren zu einem greifbaren Ergebnis. Die sächsische Regierung stand vor dem grundsätzlichen Dilemma, dass sie einem potenziellen Handelsvertragspartner kaum etwas zu bieten hatte. Der Wert des mitteldeutschen Kleinstaats als politischer Verbündeter war namentlich nach dem Verlust der polnischen Königswürde und der verheerenden Niederlage im Siebenjährigen Krieg äußerst beschränkt. Auch wirtschaftlich waren die möglichen Gegenleistungen einer Öffnung der Gren119 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1514 (Loc. 11108/XIII. 833), Bl. 76 f.: Extrakt Relation Ostermesse, 15.5.1771; ebd. Bl. Bl. 128 f.: dito Ostermesse, 21.4.1780; ebd. Nr. 1553 (Loc. 11119), Bl. 207: dito Michaelismesse, 6.10.1785.; ebd. Bl. 189: Baumgärtel an Wurmb (undatierter Extrakt). 120 Vgl. Williams, Policy, S. 148 f.; Wallerstein, Expansion, S. 124 ff.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 781 (Loc. 11147/VI. 1898), Bl. 9: Pro Memoria, 17.2.1808.
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zen für sächsische Manufakturwaren für andere Staaten kaum attraktiv. Das Kurfürstentum mit seinen zwei Millionen Einwohnern war als Verbrauchermarkt wenig aufnahmefähig. Der Zugang zu den Leipziger Messen stand sowieso allen ausländischen Kaufleuten gleichermaßen ohne besondere Abgaben offen. Die sächsischen Einfuhrzölle waren im allgemeinen vergleichsweise niedrig, wenn sie überhaupt erhoben wurden. Das Drohpotenzial, das von handelspolitischen Vergeltungsmaßnahmen Sachsens ausging, war dementsprechend gering. Als die Dresdner Regierung 1765 mit Differentialzöllen zulasten Österreichs und Preußens tatsächlich einmal auf Konfrontationskurs ging, schädigte sie damit vor allem die eigene Wirtschaft.121
121 Vgl. Ludwig, Regionen, S. 76; ders., Staat, S. 28–32; ders., Aufrüstung; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 49 f.; Meinert, Handelsbeziehungen, S. 42 f.; Hasse, Messen, S. 150 f. Forberger, Revolution 1/1, S. 86.
3. INDUSTRIELLE REVOLUTION, MÄRKTE UND KRIEGE 1790–1815 3.1 DER NIEDERGANG DER VOGTLÄNDISCHEN MUSSELINMANUFAKTUR Im Schatten des Maulesels Im Sommer 1791 reiste der Plauener Verlagskaufmann Johann Christian Baumgärtel durch die englischen Textilreviere, wo er die Erzeugnisse und die Fertigungsmethoden der Konkurrenz in Augenschein nahm. Aus Manchester, dem urbanen Knotenpunkt der Baumwollregion Lancashire im Nordwesten Englands, brachte er feine bunte und gestreifte Musselinstoffe mit nach Sachsen. Noch mehr scheint sich Baumgärtel für die spektakulären technologischen Errungenschaften der Engländer interessiert zu haben. Die Engländer hätten „unglaubliche Fortschritte in der Maschinen-Spinnerey“ gemacht, berichtete er auf der Leipziger Michaelismesse der Kommerziendepuation. Es war allerdings für einen reisenden sächsischen Baumwollwarenunternehmer nicht so einfach, auf solche Maschinen und Apparate mehr als nur einen flüchtigen Blick zu werfen. Ihre Besitzer versuchten tunlichst zu verhindern, dass ausländische Konkurrenten hinter die wohl gehüteten Konstruktionsgeheimnisse kamen. Die Ausfuhr dieser Textilmaschinen war strikt verboten. Es war sogar technisch kundigen Untertanen seiner Majestät bei Strafe untersagt, dieses Wissen außerhalb der britischen Inseln weiterzugeben oder anzuwenden. Baumgärtel gelang es aber, zumindest eine Neuerung der Textiltechnik ins heimatliche Vogtland zu transferieren, das sog. Flying Shuttle, eine Vorrichtung am Webstuhl, bei der das Webschiffchen per Seilzug in der Weblade hin und her geschnellt wurde. Damit konnten breite Stücke gewebt werden, ohne dass der Weber eine Hilfskraft benötigte. Der Webvorgang beschleunigte sich beträchtlich, die Gewebe wurden gleichmäßiger.1 Das „fliegende Webschiffchen“ trug allerdings kaum zur Lösung des dringlichsten Problems der vogtländischen Musselinfabrikation bei, des chronischen Mangels an Baumwollgarn. Zwischen 1765 und 1790 hatte sich der Ausstoß der 1
Zitat: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 893 (Loc.11466): Relationen Michaelismesse 1791, Bl. 40 ff.: Sitzung der Kommerziendeputation, Leipzig, 13.10.1791; vgl. ebd. Nr. 1435 (Loc. 11126/XIII. 1276), Bl. 214 f.: Johann Christian Baumgärtel, Plauen, an Kurfürst, 14.11.1791; Bein, Industrie, S. 119 f.; König, Baumwollenindustrie, S. 11 ff.; Jeremy, Lancashire 216 f.; sowie allgemein zur Diffusion der „Schnellweberei“: Bythell, Handloom Weavers, S. 66 f.; Adelmann, Baumwollgewerbe, S. 150 ff.; für die Schweiz: Tanner, Baumwollindustrie, S. 170. In einem Bericht von 1805 heißt es, seit zwei Jahren würden sich die vogtländischen Weber des „Flugschützen“ für breite Musseline bedienen (vgl. HStAD 10736: Kommerziendeputation Nr. 1543 [Loc. 11142/XIV. 1773], Bl. 21 f.: Bericht vom 12.10.1805).
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
Baumwollweberei im vogtländischen Kreis enorm gesteigert. Ende der 1780er Jahre waren die regionalen Produktionskapazitäten der Handspinnerei praktisch ausgereizt. Eine amtliche Erhebung schätzte 1787, dass allein 16.000 Vogtländer mit dem Spinnen von Baumwolle beschäftigt waren – bei einer Gesamteinwohnerzahl von 64.000. Die Innung der Plauener Baumwollwarenhändler hatte ein Ausfuhrverbot von Garn in ihr Reglement aufgenommen und ihm per landesherrlicher Bestätigung quasi Gesetzeskraft verliehen. Zudem wurden in großem Umfang Garne aus den benachbarten reußischen, bayreuthischen und böhmischen Gebieten importiert – ein durchaus riskantes Arrangement, denn ein Ausfuhrverbot der Nachbarländer konnte jederzeit diesen Zustrom stoppen. Selbst die westsächsische Wollweberei war von dem enormen Bedarf an Baumwollgarn betroffen. Ein großer Teil der bislang mit dem Spinnen der Schafwolle beschäftigten ländlichen Arbeitskräfte fand es lohnender, Baumwolle zu verspinnen.2 Wir haben hier also deutliche Anzeichen dafür, dass schon am Ende der 1780er Jahre die protoindustriellen Produktionskapazitäten im Bereich der Spinnerei nicht mehr ausreichten, um den rapide gewachsenen Bedarf der Baumwollmanufaktur zu decken. In diesem Sinne waren auch im Vogtland die endogenen Bedingungen für den Übergang zu industriellen Produktionsweisen vorhanden, noch bevor der exogene Druck der Industrialisierung in den konkurrierenden britischen Baumwollregionen spürbar geworden war. Als Baumgärtel seine Reise nach England antrat, stand die vogtländische Musselinmanufaktur in voller Blüte. Im Jahr zuvor hatte der Plauener Textilgroßhändler Christian Gottlob Poeschmann einem Moskauer Geschäftspartner mitgeteilt, dass die gewünschten Musselinstoffe „wegen Mangel an Gespinst … nicht zum Überfluß zu haben“ seien. Ihr Preis sei „seit der Leipziger Oster-Meße wegen der starken Nachfrage und Begehrs sehr ins Steigen gekommen“ und werde „allem Ansehen nach noch höher gehen“.3 Wenn es auch eine endogene Entwicklung war, die die protoindustrielle vogtländische Baumwollmanufaktur an die Grenzen ihrer Produktionskapazitäten brachte, so waren es vornehmlich exogene Lösungen, die nachhaltige Abhilfe versprachen. Mitte der 1760er Jahre hatte der englische Weber James Hargreaves seine Spinning Jenny entwickelt, eine von Hand betriebene Spinnmaschine, mit der ein einzelner Arbeiter zunächst acht, später an die hundert Spindeln auf einmal in Gang setzen konnte. Einem Verleger aus Chemnitz gelang es 1782, drei Handspinnmaschinen französischer Bauart zu besorgen und in Ernstthal aufzustellen. Zwei Jahre später konnte der Chemnitzer Zimmermann Matthias Frey eine selbst gebaute Maschine präsentieren, die in ihren Leistungen allerdings zunächst deutlich hinter dem englischen Vorbild zurück blieb. Als in der zweiten Hälfte der 1780er Jahre auch andere sächsische Maschinenbauer die Fertigung dieser Apparatur aufnahmen, ver2 3
Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 87; Hammer, Industriepionier, S. 73 f.; Bein, Industrie, S. 108, 118 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1701 (Loc. 11103/XVI. 579), Bl. 134: David Friedrich Oehler & Sohn an den Kurfürsten, 17.7.1797. Stadtarchiv Plauen: Geschäfts- und Familienbücher Poeschmann-Schneidenbach Nr. 1: Copierbuch Poeschmann: Schreiben an Veuve Susanne Dolgoff & Fils, Moskau, 28.6.1790. Vgl. auch die Einschätzung von Hahn, Motor, S. 21.
3.1 Der Niedergang der vogtländischen Musselinmanufaktur
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breitete sie sich langsam im Kurfürstentum, wenn auch zunächst vornehmlich in der Kattunweberei um Mittweida. Die sächsische Version der Jenny produzierte vorerst nur grobes Garn, das sich für die luftigen Plauener Musseline kaum eignete.4 Inzwischen war aber auf der britischen Insel eine zweite Generation von Spinnmaschinen in Gebrauch gekommen. Richard Arkwrights Water Frame wurde 1769 patentiert und konnte – wie der Name andeutet – mit einem Wasserrad angetrieben werden. Diese Maschine erzeugte starkes Garn, das als Kettgarn geeignet war und als solches auch leinene Ketten ersetzte. 1779 präsentierte der Erfinder-Unternehmer Samuel Crompton eine Spinnmaschine, die er Mule nannte, gewissermaßen eine Kreuzung, die Konstruktionsprinzipien von Spinning Jenny und Water Frame kombinierte. Cromptons „Maulesel“ war eine zunächst hand-, später kraftgetriebene Spinnmaschine, mit der es möglich war, auch feinere Baumwollgarne zu spinnen. Mule und Water Frame, zunächst nur vereinzelt eingesetzt, verbreiteten sich nach 1785 rasch in den nord- und mittelenglischen Textilrevieren. Hinzu kamen bald auch Maschinen, die Rohbaumwolle in mehreren Arbeitsschritten in ein für die maschinelle Verspinnung geeignetes Vorgarn verwandelten. Diese Schlag-, Krempel- und Streckmaschinen wurden ebenfalls an das Wasserrad angeschlossen. Auf diese Weise wurde der Arbeitsprozess von der Baumwolle bis zum aufgespulten Garn in kleine Schritte aufgeteilt und einzeln mechanisiert. Anders als die kleinen hölzernen Jennies, die in den Spinnstuben der Heimarbeiter aufgestellt werden konnten, machte der Einsatz dieser elaborierten Spinnmaschinensysteme den Übergang zur zentralen Fabrikation zwingend notwendig. Die Water Frames, die größeren Mules und die ihnen vorgeschalteten Vorspinnmaschinen benötigten für ihren Antrieb eine zentrale Kraftquelle, sei es – wie anfangs noch recht verbreitet – einen Pferdegöpel, ein Wasserrad oder, was vor 1800 auch in England eine seltene Ausnahme war, eine Dampfmaschine. Alle diese Maschinen waren kostspielig in der Anschaffung, und sie mussten in eigenen Fabrikgebäuden untergebracht werden. Dazu waren beträchtliche Geldsummen notwendig, die als fixes Kapital angelegt werden mussten. An die Stelle der in ihren eigenen Werkstätten tätigen Arbeitskräfte traten Lohnarbeiter. Kurz: Die Maschinenspinnereien stellten den Prototyp des industriellen Fabrikbetriebs dar.5 Dem Unternehmer Baumgärtel war sofort klar, dass die rasche Industrialisierung der Baumwollspinnerei in England und Schottland weitreichende Rückwirkungen für die sächsische und vor allem die vogtländische Baumwollwarenmanufaktur haben würde. Es stehe „mit gutem Grunde zu besorgen“, teilte er den Experten der Kommerziendeputation 1791 mit, 4
5
Vgl. Forberger, Revolution 1/1, S. 104 f., 179 ff.; König, Baumwollenindustrie, S. 89; Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 18 f.; Martin, Aufschwung, S. 8; Meister, Führer, S. 33; Kunze, Frühkapitalismus, S. 27; Weber, Innovationstransfer, S. 59; Kiesewetter, Unternehmen, S. 15; Blumenstein, Baumwollenindustrie, S. 123. Vgl. Baines, Baumwollenmanufactur, S. 63–77, 88; Rose, Firms, S. 29–41; Edwards, Trade, S. 199–215; Cooke, Rise, S. 29 f., 42, 101–108; Bohnsack, Spinnen, S. 204–223; Adelmann, Baumwollgewerbe, S. 77; Martin, Aufschwung, S. 15.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815 „die Englischen Manufacturen würden gar bald durch die Menge, Güte und Wohlfeilheit ihres Gespinnsts, andre Baumwollen-Manufacturen, denen es an mechanischen Hülfsmitteln von gleicher Wirkung fehlt, sehr zurücksezen. Schon jetzt fingen die Schweitzer Mousseline-Manufacturen an, die überwiegende Concurrenz der Englischen zu spüren, und in einiger Zeit würden sie wahrscheinlich gar nicht mehr im Stande seyn, diese Concurrenz auszuhalten. Mit gleichem Schicksal sehe sich dann auch die Mousselin-Manufactur im Vogtländischen Creiße bedroht, wenn es ihr nicht glücken sollte, Spinnmaschinen von gleicher Beschaffenheit, wie die Englischen, zu erlangen …“6
Zurück in Plauen, beauftragte Baumgärtel den Chemnitzer Maschinenbauer Forkel, eine Spinnmaschine englischen Typs nach seinen Beschreibungen nachzubauen. Allerdings hatte der Plauener Verleger die Maschine in England nur zehn Minuten lang sehen können. Forkel kam für einige Monate ins Vogtland, doch gelang es ihm nicht, einen brauchbaren Mule fertig zu stellen. Baumgärtels Bemühungen, eine englische, schottische oder wenigstens französische Spinnmaschine moderner Bauart zu besorgen, schlugen in den folgenden Jahren fehl.7 Seit den frühen 1790er Jahren eröffnete sich für die vogtländische Musselinmanufaktur jedoch zunehmend eine alternative Option, um an die begehrten feinen Maschinengarne zu gelangen. Nachdem es in England 1790 gelungen war, eine verbesserte Version des Mule „ans Wasser zu legen“, hatte sich Baumwollgarn schnell zu einem Exportgut entwickelt. Bereits 1792 wurden mehr als 5000 Pfund in Großbritannien gesponnenen Baumwollgarns in Sachsen eingeführt. Zwei Jahre später hatte die Einfuhr solche Ausmaße angenommen, dass sich die Stimmen mehrten, die um den Broterwerb der vogtländischen und erzgebirgischen Handspinner fürchteten. Die kleineren Fabrikverleger wiederum fühlten sich in ihrer Existenz bedroht, da nur ihre kapitalkräftigeren Konkurrenten „dergleichen aus England kommen … lassen“ könnten.8 Zumindest die letzteren Befürchtungen dürften sich bald zerstreut haben, denn in den folgenden Jahren flossen große Mengen Maschinengarn über Hamburg und Leipzig in die westsächsischen Baumwollreviere. 1798 hatte die Zufuhr britischen Baumwollgarns in das Vogtland allein ein Gesamtgewicht von fast 185.000 Pfund erreicht.9 Zunächst wurden im Vogtland nur die feineren Garnsorten aus England und Schottland bezogen, die von der heimischen Handspinnerei nicht oder nur unter großem Aufwand hergestellt werden konnten. Doch die britische Mule-Spinnerei machte in den Jahren vor und nach 1800 so rasche Produktivitätsfortschritte, dass bald auch die mittelfeinen Musselin-Garne in Plauen als Importware preiswerter zu 6
7 8 9
HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 891 (Loc. 11465): Relationen Michaelismesse 1791, Bl. 41: Sitzung der Kommerziendeputation, Leipzig, 13.10.1791. Vgl. ähnlich auch Baumgärtels Brief an den Kurfürsten vom 14.11.1791 (ebd. Nr. 1435 [Loc. 11126/XIII. 1276], Bl. 214 f.). Vgl. Bein, Industrie, S. 119 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1436 (Loc. 11128/ XIII. 1350), Bl. 15: Carl Gottfried Baldauf, Freiberg, an Kommerziendeputation, 11.2.1792. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 731 (Loc. 11130, XIV. 1421): „Pro Memoria“, 15.5.1794. Vgl. Bein, Industrie 119 f.; König, Baumwollenindustrie, S. 52–66; Farnie, Zeitalter, S. 47 f.; Zahlen nach: Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 67.
3.1 Der Niedergang der vogtländischen Musselinmanufaktur
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haben waren als das in der Umgebung per Hand oder auf Jennymaschinen gefertigte Gespinst. Zwischen 1798 und 1806 fielen die Preise des aus Großbritannien eingeführten Maschinengarns mittlerer Güte in Sachsen um mehr als ein Drittel, während sich gleichzeitig die dafür verwendete westindische Baumwolle zum Teil beträchtlich verteuerte. Im Herbst 1805 konstatierte ein Bericht der Kommerziendeputation, im ganzen vogtländischen Kreis gebe es mittlerweile nur noch etwa 500 Spinner. Die Kunst, fein zu spinnen sei hier fast ganz verloren gegangen.10 Glanz und Ende des „Fürsten von Plauen“ Nicht allein britisches Maschinengarn gelangte seit den frühen 1790er Jahren in wachsenden Quantitäten nach Sachsen. Auch die mit solchem Garn in Lancashire und Lanarkshire gefertigten Baumwollstoffe wurden auf den wichtigsten Umschlagplätzen der sächsischen Musselinmanufaktur zunehmend preiswerter und in immer größeren Mengen angeboten. Schon zur Leipziger Michaelismesse 1792 beklagten sich die Plauener Musselinverleger bei den Beamten der Kommerziendeputation über einen massiven Geschäftseinbruch. Englische und indische Baumwollwaren hätten den Markt geradezu überschwemmt und würden zu solch niedrigen Preisen verkauft, dass die meisten vogtländischen Verlagskaufleute ihre Musseline nur mit herben Verlusten loswerden konnten. Auch auf den folgenden Messen in Leipzig, in Braunschweig und Frankfurt am Main verbesserte sich die Lage des vogtländischen Musselinhandels nicht. Im Mai 1794 schrieb C. G. Poeschmann an seinen Schwiegersohn nach Moskau: „Es ist freylich jetzo hier auch gar nichts zu machen, alle Nahrung und Fabriquen liegen, … u. wer etwas unternimmt, daß [!] geschieht gemeinliglich mit Schaden.“ Seiner verzweifelten Lage gab der Plauener Kaufmann mit dem Stoßseufzer Ausdruck: „Es wolte [!] doch der gütige Gott mir Mittel und Wege zeigen etwas zu verdienen, damit ich doch auch noch mit durch die Welt käme“.11 Dabei war die britische Konkurrenz im Geschäft mit Musselinen auf den kontinentaleuropäischen Märkten einigermaßen neu. Auf der Insel selbst hatte die Fertigung und der Vertrieb baumwollener Gewebe lange Zeit im Schatten der Tuchund Zeugweberei gestanden. Die mächtige Interessengruppe der Wollwarenfabrikanten hatte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dafür gesorgt, dass indische Baumwollstoffe, deren Einfuhr nach Europa in den Händen der East India Company lag, nicht mehr in Großbritannien verkauft werden durften. Im Schutze dieses Verbots wuchs die englische und schottische Baumwollweberei heran, die sich allerdings lange Zeit auf recht einfache Kattune beschränken musste, da man nicht in 10 11
HStAD 10736: Kommerziendeputation Nr. 1543 (Loc. 11142/XIV. 1773), Bl. 12: Bericht 12.10.1805. Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 52–61; allgemein: Goodman/Honeyman, Pursuit, S. 137. Stadtarchiv Plauen: Bestand Poeschmann-Schneidenbach Nr. 1: Copierbuch Poeschmann: Schreiben an C. P. Sandhagen, Moskau, 17.5.1794; vgl. Edwards, Trade, S. 79–84, 88 ff.; Bein, Industrie, S. 120 f.; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 63 ff.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
der Lage war, Baumwollgarne in einer Feinheit zu spinnen, wie sie etwa für indische „Nesseltücher“ verwendet wurden. Dies änderte sich mit dem Übergang zur Mule-Spinnerei schlagartig. Auf der „Maulesel“-Maschine konnten seit den 1780er Jahren Garne in allen Feinheitsgraden, in großen Mengen und zu stark reduzierten Kosten gesponnen werden. Die Preise für feine Garne (Nr. 180) fielen in Großbritannien zwischen 1785 und 1800 um 15 Prozent – im Jahresdurchschnitt! Bei mittleren Garnen (Nr. 40) lag die Rate der Preisrückgangs immerhin noch bei durchschnittlich vier Prozent im Jahr. In den Textilrevieren um Manchester und Glasgow stellte sich die Baumwollweberei rasch auf die gewinnträchtigen Musseline ein, mit denen vor allem die Schweizer und die Sachsen in den Jahrzehnten zuvor so glänzende Geschäfte gemacht hatten. Dieser Produktwechsel schlug sich markant auf die Entwicklung des britischen Baumwollwarenexports nieder. 1780 waren baumwollene Gewebe im Wert von rund £ 355.000 aus Großbritannien ausgeführt worden, was nicht mehr als ein Zehntel des Wollwarenexports ausmachte. 1790 gingen Baumwollstoffe im Wert von £ 1,66 Mio. ins Ausland. Weitere zehn Jahre später, als sich der Einsatz kraftgetriebener Mules verallgemeinert hatte, war der Export baumwollener Waren noch einmal auf mehr als Vierfache – rund £ 5,4 Mio. – angewachsen. Dabei waren die Preise der Muslins, Calicoes und anderer britischer Baumwollstoffe selbst deutlich gefallen.12 Die Krise der vogtländischen Musselinmanufaktur, die durch die Überschwemmung der mitteleuropäischen Marktplätze mit britischen und indischen Muslins seit 1792 ausgelöst worden war, schien zunächst nur vorübergehender Natur zu sein. Die „Relationen“ der Kommerziendeputation von der Ostermesse 1795 hörten sich schon wieder sehr viel entspannter an: Die sächsischen Musseline seien zu guten Preisen weggegangen und man habe sogar die alten Lagerbestände losschlagen können. Doch letztlich erwies sich diese Erholung nur als Atempause. Drei Jahre später gerieten die vogtländischen Verlagshandlungen erneut unter den Druck eines rapiden Preisverfalls. Auf der Leipziger Ostermesse 1798 waren sie wieder mit Unmengen britischer Muslins konfrontiert, die um 20 bis 25 Prozent billiger angeboten wurden als ihre eigenen Waren. Dies sollte sich auch in den folgenden Jahren nicht grundlegend ändern.13 Die Plauener „Innungsverwandten“ reagierten auf diese Situation mit verschiedenen Modifikationen ihrer Produktionsstrategien. Auf der einen Seiten spezialisierte sich ein Teil der Verleger, unter ihnen Baumgärtel, auf breite, feine Musseline nach „englischer Art“. Sie versorgten ihre Weber mit importiertem britischem Maschinengarn, ließen die Rohgewebe aufwändig appretieren und gaben sie an Heimarbeiterinnen zum Besticken. Damit hofften sie, in den Segmenten des Marktes, wo 12
13
Vgl. Baines, Baumwollenmanufactur, S. 38–41, 62, 82, 140 f.; Beckert, King, S. 60 ff.; Hudson, Limits, S. 338 f.; Rose, Firms, S. 28–32; Goodman/Honeyman, Pursuit, S. 135, 141 f.; Harley, Prices 56, 67 f. Der Feinheitsgrad der Garne wurde durch eine Nummer ausgedrückt, die sich jeweils auf die Länge des Garnfadens bezog, der aus einem Pfund Baumwolle gewonnen wurde (vgl. Dudzik, Innovation, S. 31). Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 906 (Loc. 11467), Bl. 87 f.: Relation Ostermesse 1798; ebd. Nr. 907 (Loc. 11467): Bl. 78 f.: Relation Michaelismesse 1798; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 68 f.
3.1 Der Niedergang der vogtländischen Musselinmanufaktur
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die deutlich niedrigeren Arbeitskosten des vogtländischen Reviers stärker ins Gewicht fielen, den Briten Paroli bieten zu können. Diese Strategie erwies sich insofern als erfolgreich, als sich solche Waren bis 1815 durchaus gegen die britische (und Schweizer) Konkurrenz behaupten konnten. Doch war dieses Marktsegment einigermaßen beschränkt. Zudem hing die Herstellung dieser Gewebe von der ungehinderten Zufuhr feiner britischer Maschinengarne ab, was in den folgenden anderthalb Jahrzehnten, wie noch deutlich werden wird, keineswegs die Regel war.14 Andere Verleger und Kaufleute schlugen den umgekehrten Weg ein, indem sie sich den „ordinären“, geringwertigen Warenqualitäten zuwandten. Da sich die Verwendung von Mule-Garn vorerst nur bei den feineren Gewebesorten rechnete, konnten sie hier weiterhin auf das heimische handgesponnene Garn zurückgreifen. Da aber das vogtländische Baumwollwarenmanufaktur-Reglement eine Qualitätsgrenze nach unten zog, mussten diese „ordinären“ Musseline überwiegend aus der benachbarten Grafschaft Reuß bezogen werden. Trotz des offiziellen Verbots der Einfuhr von Baumwollwaren ins sächsische Vogtland, brachten diese „Innungsverwandten“ die im Reußischen gefertigten Musselinstoffe nach Plauen, ließen sie dort bleichen und appretieren und warfen sie als vogtländische Ware auf den Markt. Damit verband sich auch eine Senkung der Gestehungskosten, mit der man hoffte, den anhaltenden Preisverfall auf den Märkten kompensieren zu können. Im reußischen Revier um Greiz, Zeulenroda und Schleitz wurde nämlich die Baumwollweberei, anders als im Vogtland, vornehmlich von ländlichen Arbeitskräften im Nebenerwerb betrieben.15 Dieses Vorgehen rief allerdings heftige Gegenreaktionen hervor. Wenn die Plauener Baumwollwarenhändler ihre Rohgewebe aus dem benachbarten Ausland bezogen, konnte dies nur auf Kosten der vogtländischen Weber und Würker geschehen, denen das Manufakturreglement ja überhaupt untersagte, geringwertige Stoffe nach Reußer Art herzustellen. Anfang 1800 sahen sich Landesregierung und Händlerinnung veranlasst, die aufgebrachten Musselinweber durch eine Modifikation des Reglements zu besänftigen. Ihnen wurde nun erlaubt, die bisher gültigen Mindestanforderungen für die Dichte des Gewebes zu unterschreiten. Die mangelnde Beschäftigung durch ihre Verleger brachte zunehmend mehr Würker und Zunftweber dazu, auf eigene Rechnung zu produzieren, ihre Waren über die nahe Landesgrenze zu schmuggeln und in Böhmen oder Reuß abzusetzen. Den Innungsverwandten blieb nichts anderes übrig, als diesen Einbruch in ihre verbrieften Vorrechte stillschweigend hinzunehmen. Dies war nicht der einzige Kontrollverlust, den die vogtländischen Baumwollwarenhändler erlitten. Innerhalb weniger Jahre vollzog sich auch auf der anderen Seite der Landesgrenze eine Verselbständigung 14
15
Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 12 ff., 143; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 65 ff.; Schuster, Plauen, S. 47 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1543 (Loc. 11142/XIV. 1773), Bl. 9 ff.: Bericht an Kurfürsten, Leipzig, 12.10.1805; ebd. Nr. 1562 (Loc. 11142, XIV. 1778b), Bl. 103: Extractus Protocolli in der Leipziger Michaelis-Messe, 10.10.1806; ebd. Bl. 225 ff.: Carl Gottlob Schmidt, August Hartenstein, Plauen, an Kommerziendeputation, 2.9.1810. Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 25, 134, 146, Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 71 f.; Rößig, Handelskunde, S. 282 f.
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lokaler Wirtschaftsakteure von ihren Auftraggebern. Die reußischen „Faktore“, die zunächst als Zwischenverleger aufgetreten waren, ließen ihre Waren zunehmend selbst bleichen und appretieren und traten auf den Märkten mit ihren bisherigen Abnehmern in Konkurrenz.16 Die vogtländischen Manufakturverleger versuchten auch, die kurfürstliche Regierung für handelspolitische Protektionsmaßnahmen gewinnen, um der Flut der britischen Musseline zumindest auf den Leipziger Messen einen Damm entgegen zu setzen. Baumgärtel forderte gegenüber der Kommerziendeputation auf der Ostermesse 1798 dringlich eine Einfuhrabgabe von 20 Prozent des Werts für englische Baumwollwaren. Doch die staatlichen Wirtschaftsbeamten blockten diesen Vorstoß sofort ab. Das Protokoll der Sitzung hielt fest: „Allein diesem Antrag stellt sich sofort die Betrachtung entgegen, daß der Flor, worinnen sich die Leipziger Meßen allen Local-Hindernißen zum Trotz bis jetzt noch immer erhalten haben, hauptsächlich auf der dem Meßhandel zeither unwandelbar vergönnten billigen Schonung und Freyheit, und auf der in Folge dessen von Zeit zu Zeit zugewonnenen Beträchtlichkeit und Vollständigkeit des Meßwaaren-Sortiments beruhet …“17
Auch in den folgenden Jahren stießen solche Forderungen aus den südwestsächsischen Textilrevieren in Dresden auf taube Ohren. An dieser Haltung hatte gewiss auch der politische Einfluss der Leipziger Großkaufleute gehörigen Anteil, zumal nicht wenige von ihnen ein direktes Interesse am freien Zufluss britischer Manufakturwaren nach Sachsen hatte. Waren es nämlich zunächst überwiegend britische Großhändler, die Musseline und ähnliche Artikel auf den Leipziger Messen anboten, so drängten bald auch die heimischen Kaufleute in dieses lukrative Geschäft. Schon seit 1802 erlangten die Leipziger Handlungen offenbar das Übergewicht auf diesem Feld.18 In den Jahren nach 1800 gingen die Produktionsziffern der vogtländischen Musselinmanufaktur rasch zurück. Im Zeitraum 1800/05 wurden im Vogtland pro Jahr nur noch etwas mehr als 120.000 Stück Musselin hergestellt, fast ein Drittel weniger als im Jahresdurchschnitt des vorhergehenden Jahrfünfts. Nach einem kurzen Zwischenhoch 1810 sank die Jahresproduktion von Musselingeweben im vogtländischen Kreis in den folgenden Jahren auf etwa 58.000 Stück jährlich, also rund ein Drittel dessen, was 20, 25 Jahre zuvor produziert worden war. In den vogtländischen Kleinstädten, die seit den 1760er Jahren an der Ausweitung der Baumwollwarenmanufaktur partizipiert hatten, in Voigtsberg, Oelsnitz, Pausa oder Elsterberg, hörte die Musselinweberei bis 1805 fast ganz auf. Nun häuften sich die Geschäftsaufgaben unter den Plauener Baumwollwarenhändlern. 1801 zählte die Innung noch 343 Mitglieder. Vier Jahre später hatte sich die Zahl der Innungsverwandten glatt halbiert, und auch von den verbliebenen 174 Baumwollwarenhändlern ließen 16 17 18
Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 26 f., 134 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. Nr. 1562 (Loc. 11142/XIV. 1778b), Bl. 38: Extractus Protocolli Ostermesse, 14.3.1805; ebd. Nr. 1543 (Loc. 11142/XIV. 1773), Bl. 8 f.: Bericht 12.10.1805. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 906 (Loc. 11467), Bl. 89: Relation Ostermesse 1798. Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 33 f. Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 24, 36, 42 f.
3.1 Der Niedergang der vogtländischen Musselinmanufaktur
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nur noch 99 tatsächlich arbeiten. Selbst führende Plauener Handels- und Verlagsunternehmen wurden von dieser Entwicklung nicht verschont. Drei der acht großen Handlungen, die seit den 1780er Jahren die vogtländische Musselinmanufaktur dominiert hatten, überstanden den Umbruch der Jahrhundertwende nicht. Dazu gehörte die Firma J. F. Haußner, die größte Plauener Verlagshandlung, ebenso wie Baumgärtels Geschäft, das mittlerweile auf seine Söhne übergegangen war. Beide Verlagshandelshäuser „faillierten“ 1804. Der einstige „Fürst von Plauen“, Johann Christian Baumgärtel, erlebte dieses traurige Ende seines Unternehmens selbst nicht mehr. Er war einige Jahre zuvor gestorben.19 Woran scheiterte die Plauener Musselinmanufaktur? Die Gründe für den raschen Niedergang scheinen auf der Hand zu liegen: Der größte Teil der vogtländischen Musselinmanufaktur war offenkundig ein Opfer der Industriellen Revolution in England und Schottland geworden. Die großen Schlüsselinnovationen in der Baumwollspinnerei – allen voran die kraftgetrieben Mules – hatten der britischen Konkurrenz einen kurz- und mittelfristig nicht einzuholenden Produktivitätsvorsprung verschafft. Doch diese Entwicklungen in der Sphäre der Produktion allein erklären bei genauerem Hinsehen den Niedergang der vogtländischen Musselinweberei noch nicht hinreichend. In Bolton, Glasgow und Paisley, den Zentren der britischen Musselinweberei, konnten Maschinengarne sicherlich zu einem günstigeren Preis erstanden werden als im Vogtland, wo erst um 1810 die Maschinenspinnerei eingeführt wurde. Doch grundsätzlich partizipierte seit Mitte der 1790er Jahre auch die vogtländische Musselinmanufaktur an den industriellen Produktivitätsfortschritten in der Garnproduktion. Baumgärtels Geschäftsstrategie, englische Artikel unter Verwendung importierter Maschinengarne nachzuahmen, war zunächst durchaus erfolgreich. Auch noch um 1810 machten einzelne Plauener Verleger mit dieser Methode offenbar gute Geschäfte.20 Es gab also für die Wirtschaftsakteure in Sachsen durchaus gangbare Wege, um die britische Herausforderung auf der produkttechnischen Ebene zu bestehen. Das imposante Ansteigen der Maschinengarnzufuhren nach Plauen zeigt an, dass diese Wege auch frühzeitig beschritten wurden. Sobald der vogtländischen Musselinweberei die gleichen Materialien wie ihrer britischen Konkurrenz zur Verfügung standen, hätte sich die Waage angesichts des bedeutend niedrigeren Lohnniveaus in Südwestsachsen eigentlich wieder auf ihre Seite neigen müssen. Im Vogtland wie in Lancashire und Schottland wurden Mus19
20
Vgl. Bein, Industrie, S. 130 ff., 147; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 71–78, 85; König, Baumwollenindustrie, S. 11–16, 142; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1562 (Loc. 11142/XIV. 1778b), Bl. 38: Extractus Protocolli Ostermesse, 14.3.1805; ebd. Nr. 1543 (Loc. 11142/XIV. 1773), Bl. 11–16: Bericht 12.10.1805. Siehe Tabelle 1 im Anhang. Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 12 ff., 287; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 905 (Loc. 11467), Bl. 68 f.: Relation Michaelismesse 1797; ebd. Nr. 1562 (Loc. 11142/XIV. 1778b), Bl. 194 f.: Extractus Protocolli Michaelismesse, 2.10.1810.
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selinstoffe auf Webstühlen mit vergleichbarem technologischem Entwicklungsstand gefertigt. In Großbritannien gab es zwar schon kraftgetriebene mechanische Webstühle, die aber noch auf Jahrzehnte nicht für feinere Gewebe einsetzbar waren. Innovationen wie der „Flugschütze“ waren, wie gesehen, seit den frühen 1790er Jahren auch in Sachsen verfügbar. Zwar hatte die weitere Verarbeitung der Stoffe in England durch den Einsatz neuer chemischer Methoden bei der Bleiche und von arbeitssparenden Appreturmaschinen im späten 18. Jahrhundert merkliche Fortschritte gemacht. Doch auch diese verfahrenstechnischen und technologischen Innovationen scheinen schon seit Anfang der 1790er Jahre bei der Fabrikation feiner Musseline zumindest teilweise Eingang gefunden zu haben.21 Offenbar konnten sich die Plauener Baumwollwarenhändler lange selbst keinen rechten Reim darauf machen, wie es den Engländern möglich war, hochwertige Musselinstoffe zu konkurrenzlos niedrigen Preisen anzubieten. Als der Londoner Großhändler Humphries auf der Leipziger Ostermesse 1798 große Mengen feiner Musseline zu Preisen, die um 20 Prozent unter denen der vogtländischen Anbieter lagen, absetzte, waren die wildesten Gerüchte im Umlauf. Die Gebrüder Bernhard, die in Manchester ein Baumwollwarengeschäft betrieben und gerade mit der sächsischen Regierung wegen der Errichtung einer Mule-Spinnerei verhandelten, gaben den Beamten der Kommerziendeputation in Leipzig eine erstaunliche Geschichte zu Protokoll: „Der Minister Pitt, um baares Gold in die Staats-Casse zu bekommen, kaufe für Rechnung der Englischen Regierung dasigen Manufaktur-Verlegern große Quantitäten Waaren ab, bezahle diese Waaren mit Papiergeld, und laße sie in Deutschland durch seine Commissionaires, deren er außer Humphries, noch mehrere in Hamburg und anderen Orten halte, für jeden zu verlangenden Preiß verkaufen, und die daraus gelösete klingende Münze nach England remittiren…“22
Der Berichterstatter der Kommerziendeputation zählte diese Version zwar zu den „sehr unwahrscheinlichen Vermuthungen und Behauptungen“. Bemerkenswert erscheint aber immerhin, dass selbst Kenner der Baumwollindustrie in Lancashire hinter dem Markterfolg der englischen Musseline eher finstere politische Machenschaften vermuteten als etwa überlegene Fertigungsmethoden. Tatsächlich ließ die Dresdner Wirtschaftsbehörde 1798/99 Nachforschungen in England anstellen und spannte dafür sogar den kurfürstlichen Gesandten in London ein. Die in Leipzig, Plauen und Chemnitz umlaufenden Verschwörungstheorien erwiesen sich bald als Hirngespinste. Vielmehr kam der Bericht des sächsischen Gesandten zu einem wesentlich prosaischeren Ergebnis: Der langwierige Krieg mit Frankreich habe den Absatz britischer Musseline und anderer Baumwollwaren auf den kontinentaleuropäischen Märkten beträchtlich vermindert. In der Hoffnung auf einen baldigen Friedensschluss hätten aber die großen Verleger in Manchester weiter produzieren lassen, um ihre Arbeitskräfte zu halten, „weil sie dieselben bey wiederhergestelltem Frieden schwerlich wieder an sich ziehen könnten“. Da nun aber der 21 22
Vgl. Bein, Industrie, S. 125 f., König, Baumwollenindustrie, S. 23. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 906 (Loc. 11467), Bl. 88: Relation Ostermesse 1798. Vgl. auch König, Baumwollenindustrie, S. 32 f.
3.1 Der Niedergang der vogtländischen Musselinmanufaktur
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Frieden auf dem Kontinent auf sich warten lasse und zunehmend mehr Kapital in den wachsenden Lagerbeständen festliege, sähen sich viele Verlagskaufleute gezwungen, ihre Waren weit unter dem üblichen Preis loszuschlagen. Humphries und einige andere Londoner Kaufleute wiederum würden in großem Stil diese überschüssigen Lagervorräte in Manchester aufkaufen oder auf Auktionen in London ersteigern, um sie dann mit Gewinn in Hamburg und Leipzig zu vermarkten.23 Mittlerweile war man offenbar auch in Leipzig auf diese Praktiken aufmerksam geworden und einige Handelshäuser hatten ihre Vertreter nach London geschickt, um ebenfalls von den Notverkäufen der Musselinverleger zu profitieren. Der Leipziger Handelsreisende Johann Gottfried Rosentreter hatte in der kurfürstlichen Gesandtschaft zu Protokoll gegeben, man könne jetzt Baumwollwaren in London um gut zehn Prozent billiger als in Manchester oder Glasgow einkaufen. An den Produktionsstandorten würden die Verleger gegenüber fremden Käufern so lange wie möglich an ihren gewöhnlichen Preisen festhalten, um ihren „Credit“ nicht zu schädigen. Doch würden viele von ihnen ihre Lager auf diskrete Weise abbauen, indem sie große Mengen an Baumwollstoffen auf Auktionen in London verschleudern ließen. Diesen Umstand habe sich auch Rosentreter zu Nutzen gemacht und er könne nun britische Baumwollwaren in Leipzig ebenso billig auf den Markt bringen wie Humphries. Im Übrigen konnte der Leipziger Handelsreisende – anders als die Plauener „Innungsverwandten“ – an diesen Geschäftspraktiken nichts Ehrenrühriges finden. Humphries’ Verfahren bestehe „vollkommen mit kaufmännischer Ehrlichkeit, und habe nichts Auffallendes für den, welcher in die Geheimniße dieser Art von Handels-Geschäften eingeweiht ist.“24 Die Ursachen für den Niedergang der vogtländischen Musselinmanufaktur dürften letztlich nicht ohne einen genaueren Blick auf die Vermarktungsbedingungen zu verstehen sein. Zunächst einmal sahen sich die Exporteure von sächsischen Baumwollwaren schon seit Mitte der 1780er Jahre mit einer Welle handelspolitischer Abschließungsmaßnahmen konfrontiert, mit denen vor allem die größeren kontinentaleuropäischer Staaten die heimische Textilproduzenten vor ausländischer Konkurrenz schützen wollten. Frankreich, zuvor einer der Hauptabnehmer vogtländischer Musseline, erließ 1785 ein generelles Einfuhrverbot für Baumwollwaren. Seit dem folgenden Jahr gelangten aber im Gefolge des britisch-französischen Handelsvertrag britische Muslins und Calicos nahezu ungehindert ins Land. Die österreichische Regierung belegte 1787 fremde Baumwollwaren mit Einfuhrzöllen, die einem faktischen Importverbot entsprachen. Gleichzeitig erschwerte sie die Durchfuhr der Plauener Musseline auf dem bisher stark frequentierten Weg über Wien oder Triest nach Konstantinopel, Smyrna und in die Levante durch eine Reihe belastender Durchgangszölle und Transitvorschriften. Auch das Zarenreich schloss sukzessive seine Grenzen für ausländische Baumwolltextilien. 1789 wurde die Einfuhr über die Landgrenze untersagt und auf die 23 24
HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1518 (Loc. 11134/XIII. 1546), Bl. 139 f.: Abschrift der erstatteten Anzeige des Churfürstlichen Gesandten zu London …, 14.5.1799. Ebd. Bl. 145 f. Vgl. zur Geschäftsstrategie der englischen Großhändler auch: Krawehl, Schiffsund Warenverkehr, S. 257.
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Ostseehäfen St. Petersburg und Riga sowie Odessa am Schwarzen Meer beschränkt. Sächsische Textilien wurden jetzt vorzugsweise über Lübeck nach Riga verschifft, was sich aber als wenig lohnend erwies. Seit 1797 wurden zudem die russischen Einfuhrzölle auf 30 Prozent des Warenwerts und mehr hoch gesetzt. Am „Copierbuch“ des Plauener Textilkaufmanns Poeschmann kann man die Auswirkungen dieser Politik für den vogtländischen Musselinexport deutlich nachvollziehen. Noch in der ersten Hälfte der 1790er Jahre zeugt ein dichter Briefwechsel mit Großhändlern und Spediteuren in Moskau, Reval und Lübeck von einem lebhaften Russlandgeschäft. Nach 1795 versandeten diese Handelskontakte, der letzte Brief nach Moskau datiert vom September 1798. Preußen verschärfte 1793 seine handelspolitischen Abschottungsmaßnahmen durch Einfuhrverbote und prohibitive Zölle. Mit den polnischen Teilungen von 1793 und 1795 und der Integration dieser Regionen in das handelspolitisch zunehmend abgeschottete österreichische bzw. russische Wirtschaftsgebiet, wurde den vogtländischen Musselinen der legale Zugang auf weitere angestammte Märkte verwehrt.25 Allerdings hieß dies nicht, dass die sächsischen Textilwaren durch diese Verbotsdekrete tatsächlich von den solchermaßen geschützten Märkten ferngehalten wurden. Über die nahe österreichische Grenze gelangten Musseline auch weiterhin auf lang erprobten Schleichwegen auf die andere Seite des Erzgebirges. Dort angekommen und ggf. mit einem böhmischen Fabrikstempel versehen, konnten sie im gesamten Habsburgerreich vermarktet werden. Geradezu notorisch war die illegale Einfuhr sächsischer Manufakturwaren nach Russland. Von Zeit zu Zeit verschärfte die Regierung des Zarenreiches die Zollkontrollen und wechselte die Grenzbeamten aus. Es dauerte aber gewöhnlich nicht mehr als ein Jahr, bis auch die neuen Beamten der Versuchung erlegen waren, durch die Annahme von Bestechungsgeldern ihr karges Einkommen aufzubessern. Selbst der russische Handelskonsul in Leipzig stellte offenbar, gegen ein entsprechendes Entgelt, regelmäßig falsche Atteste für die Einfuhr verbotener Waren nach Russland aus. Phasenweise wies die russische Regierung selbst die Zollbehörden an, die Einfuhrbestimmungen nachlässiger zu handhaben, vor allem wenn im Land Versorgungsmängel aufgetreten waren. Auch die Einbringung von Textilien als „Contrabande“ über die französische Grenze scheint zumindest phasenweise relativ unproblematisch möglich gewesen zu sein. Doch war diese Form des Warenvertriebs natürlich mit vielen Risiken behaftet, immer mal wieder längeren Verzögerungen ausgesetzt und mit Umwegen und besonderen Ausgaben verbunden.26
25
26
Vgl. Stadtarchiv Plauen: Bestand Poeschmann-Schneidenbach Nr. 1: Copierbuch Poeschmann; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 68; Bein, Industrie, S. 90 ff., 126; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 67 ff.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 731 (Loc. 11130/XIV. 1421): Communicat 2.1.1799; ebd. Nr. 781 (Loc. 11147/VI. 1898), Bl. 8: Pro Memoria 17.2.1808; ebd. Nr. 1532 (Loc. 11129/XIII. 1419), Bl. 1 f.: J. W. F. Bugenhagen an Kurfürst, 12.12.1793. Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 29 f., 45 f.; Middell, Brody, S. 538 f.; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 67 f. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 725 (Loc. 11138/V. 1652), Bl. 17–20: Bericht 15.7.1801.
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Die französische Expansion seit Mitte der 1790er Jahre und die damit einher gehende fast ununterbrochene Reihe von Kriegen wirkte sich ebenfalls störend auf den Marktzugang der sächsischen Musseline aus. Immer wieder wurden Absatzgebiete infolge militärischer Auseinandersetzungen für die Warenzufuhr gesperrt. Auf dem Weg zu Märkten, Messen und Umschlagplätzen mussten weitläufige Umwege in Kauf genommen werden. Warentransporte blieben oft für längere Zeit stecken, mussten umkehren oder wurden beschlagnahmt. Nach und nach wurden das linksrheinische Deutschland, die Niederlande, Italien, schließlich die Hansestädte in den französischen Staats- und Herrschaftsverband aufgenommen. Alle diese Gebiete und Handelsplätze gingen sukzessive für die vogtländischen Musselinhändler weitgehend verloren. Dass die Einfuhr britischer Waren in das französische Herrschaftsgebiet seit 1793 meist ganz verboten war, konnte für die Plauener „Innungsverwandten“ nur ein schwacher Trost sein, denn auch ihre Erzeugnisse wurden mit massiven Zöllen belastet. Zeitweise verweigerten die französischen Grenzbeamten den feinen vogtländischen Musselinen die Ein- und Durchfuhr ganz – mit dem Argument, sie seien schließlich aus englischem Maschinengarn hergestellt.27 Der Verlust der italienischen Märkte traf die vogtländische Musselinmanufaktur besonders empfindlich. Seit Mitte der 1780er Jahre hatten die Plauener Verlegerkaufleute ihren Absatz nach Italien kräftig gesteigert. In den Hafenstädten Genua, Venedig und Livorno, auf den Messen in Salerno und Senegallia wurden große Mengen einfacher und feinerer Musselinstoffe umgesetzt, die wiederum zum Teil von dort aus weiter auf die Märkte des östlichen Mittelmeerraums gingen. In Italien fand Johann Christian Baumgärtel in den Jahren nach 1791 einen aufnahmefähigen Markt für seine feinen, mit Maschinengarn gewebten Modestoffe nach englischem Muster. Baumgärtel ließ die italienische Halbinsel sogar zeitweise durch einen eigenen Agenten mit Musterkarten bereisen, und es gelang ihm und anderen Plauener Händlern zunächst, die britische Konkurrenz zurückzudrängen. In der zweiten Hälfte der 1790er Jahre wurde Italien zum Hauptkriegsschauplatz. Zwischenzeitlich stockte der Handel nach Norditalien ganz. Neu gebildete französische Satellitenstaaten wie die Cisalpinische Republik belegten sächsische Baumwollwaren mit Prohibitivzöllen und Einfuhrverboten. Zeitweise profitierten die vogtländischen Musselinhändler aber auch davon, dass die siegreichen Franzosen die Einfuhr britischer Waren auf die italienischen Handelsplätzen unterbanden. Sobald sich jedoch in den Jahren nach 1800 die italienischen Märkte wieder für die britischen Manufakturerzeugnisse öffneten, brach auch hier der Absatz der Plauener Musseline schlagartig ein. Mit Entsetzen registrierten die vogtländischen Verleger, dass ihre Nemesis, der englische Großhändler Humphries, ein großes Warenlager in Livorno eröffnet hatte und von dort aus die italienische Halbinsel mit Baumwollwaren zu Tiefstpreisen versorgte. 1802 war die sächsische Musselinausfuhr nach Italien fast ganz zum Erliegen gekommen.28 27 28
Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 45 f.; Bein, Industrie, S. 132; Dufraisse, Zollpolitik, S. 329 f.; Saalfeld, Kontinentalsperre, S. 123; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 725 (Loc. 11138/V. 1652): Bericht 15.7.1801, Bl. 18 ff. Vgl. Meinert, Handelsbeziehungen, S. 64: Bein, Industrie, S. 127 f., 132 f.; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 70 f.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
Noch einigermaßen stabil blieb die Marktposition der vogtländischen Musseline im Osmanischen Reich, wo die luftigen Baumwollstoffe aus Plauen von jeher großen Anklang gefunden hatten. Schon seit den 1780er Jahren hatten sich mit dem regelmäßigen Versand roher Musseline nach Konstantinopel zum Bedrucken direkte Handelsbeziehungen zwischen den großen Plauener Verlagshandlungen etabliert. Allerdings hatte der sächsische Handel mit dem Balkan und dem vorderen Orient seit der zweiten Hälfte der 1790er Jahren ebenfalls mit wachsenden Widrigkeiten zu kämpfen. Zum Einen bereitete der Transit der Waren durch die habsburgischen Gebiete Probleme. Von den hohen österreichischen Durchgangszöllen war schon oben die Rede. Zudem zog die langwierige Involvierung Österreichs in die Koalitionskriege gegen Frankreich die Landeswährung in Mitleidenschaft. Da nun die Wechselgeschäfte mit den „griechischen“ Handelshäusern gewöhnlich über den Finanzplatz Wien abgewickelt wurden, liefen die Plauener Musselinverleger bald Gefahr, dass ihre Erlöse von der österreichischen Papiergeldinflation aufgefressen wurden. Zum Anderen blieb auch der Handel mit dem Osmanischen Reich von kriegerischen Auseinandersetzungen nicht verschont. Der Ägyptenfeldzug Napoleon Bonapartes 1798/99 sorgte prompt für Stockungen des Absatzes Plauener Musseline. Größere Kontingente, die für Alexandria bestimmt waren, stapelten sich in den Lagerhäusern in Konstantinopel. Zwischen 1806 und 1812 führten Russland und das Osmanische Reich einen langwierigen Krieg, in dessen Gefolge der vogtländische Export von Musselinwaren nach Jassy und Konstantinopel immer wieder in Mitleidenschaft gezogen wurde. Hinzu kam, dass die „Hohe Pforte“ im Verlaufe dieses Krieges zunehmend Anlehnung an Großbritannien suchte und die türkischen Häfen für britische Handelsschiffe öffnete. Dies gab der englischen Konkurrenz eine willkommene Gelegenheit, die mittlerweile verhängte napoleonische „Kontinentalsperre“ zu durchbrechen. Während der Leipziger Michaelismesse 1812 klagte der Plauener Baumwollwarenverleger Hartenstein, in Konstantinopel lägen so viele englische Waren, dass die griechisch-türkischen Einkäufer kaum geneigt seien, sich auf den Leipziger Messen mit sächsischen Baumwollstoffen einzudecken.29 Der Verweis auf die Kontinentalsperre deutet an, dass nicht allein die sächsischen Musselinfabrikanten sondern auch ihre britischen Kontrahenten mit massiven handelpolitischen und kriegsbedingten Absperrungsmaßnahmen zu kämpfen hatten. Der Dauerkonflikt zwischen den Großmächten Frankreich und Großbritannien verschloss den englischen Exportgewerben seit den frühen 1790er Jahren sukzessive die Märkte im beständig größer werdenden französischen Einflussbereich auf dem europäischen Kontinent. Beinahe gleichzeitig sorgte aber die mechanisierte Mule-Spinnerei – in Lancashire wie in Sachsen – für sprunghaft gesteigerte Produktionskapazitäten bei der Herstellung hochwertiger Baumwollwaren. Die
29
HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 935 (Loc. 11471): Sitzung der Kommerziendeputation, Leipzig, 8.10.1812; vgl. ebd. Nr. 731 (Loc. 11130/XIV. 1421): Communicat 2.1.1799; ebd. Nr. 1562 (Loc. 11142/XIV. 1778b), Bl. 38: Extractus Protocolli Ostermesse, 14.3.1805; Bein, Industrie, S. 126, 132, 155–161; König, Baumwollenindustrie, S. 287 f.; Denzel, Zahlungsverkehr, S. 158; Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 543 f.
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Folge war, dass immer größeren Quantitäten an Musselinen und anderen Baumwollstoffen auf eine schrumpfende Anzahl offener Märkte drängten. Schon der erste schockartige Markteinbruch der Plauener Musseline 1792/94 wird nur mit dem Blick auf globale Markt- und Machtkonstellationen nachvollziehbar. Zuvor hatten kriegerische Unruhen in Indien die indischen Musseline eine Zeitlang von ihren europäischen Absatzmärkten ferngehalten. Als sich seit Ende 1791 die Handelswege zwischen Europa und dem Subkontinent wieder öffneten, drängten die britischen und französischen Ostindien-Kompanien, die den Fernhandel mit indischen Baumwollwaren monopolisiert hatten, um so nachdrücklicher auf die europäischen Märkte. Sie transportierten ihre zwischenzeitlich stark angewachsenen Lagerbestände zu den Umschlagplätzen Nordwesteuropas und warfen sie dort in großen Mengen auf den Markt. In London wurden indische Musseline auf Auktionen geradezu verschleudert. Da mit der rapiden Verschlechterung der britisch-französischen Beziehungen die französischen und niederländischen Häfen für Einfuhren aus England zunehmend versperrt waren, suchten sich diese Warenströme ihren Weg auf den Kontinent um so mehr über Hamburg und Leipzig. Die Leipziger Messen wurden zum Schauplatz eines heftigen Verdrängungswettbewerb zwischen der East India Company und den Baumwollwarenexporteuren aus Manchester. Den Kollateralschaden hatte gewissermaßen die Plauener Musselinmanufaktur.30 Die anhaltenden Kampfhandlungen und Absperrungen auf dem europäischen Kontinent und die Überfüllung der deutschen Handelsplätze bewegten die britischen Baumwollwarenhändler aber bald dazu, sich verstärkt den überseeischen Märkten zuzuwenden. Bis Ende der 1790er Jahre gingen die Musseline aus Lancashire und Lanarkshire vornehmlich nach Nordamerika und zu den westindischen Inseln. Als sich die Lage in Europa wieder halbwegs stabilisiert hatte und die Aussichten auf einen längerfristigen Frieden zwischen Frankreich und Großbritannien günstig zu sein schienen, kehrten die englischen Musselinwaren mit Macht auf die europäischen Märkte zurück. Die sächsischen Baumwollwarenverleger mutmaßten gar, die Engländer würden sie durch eine aggressive Dumpingpreisstrategie vom Markt zu fegen wollen. Ein solches koordiniertes Vorgehen ist schwer schlüssig nachzuweisen; die Ergebnisse der Erkundigungen der sächsischen Regierung in London im „Fall Humphries“ sprechen eher gegen solche Vermutungen. Ob nun bewusstes Dumping im Spiel war oder ob die englischen Großhändler (und bald auch ihre Hamburger und Leipziger Kollegen) einfach nur die besonders günstigen Gelegenheiten nutzten, billig an große Mengen britischer Baumwollwaren zu gelangen – das Ergebnis blieb letztlich das gleiche: Innerhalb von drei, vier Jahren waren die vogtländischen Musseline vielerorts vom Markt gefegt worden.31
30 31
Vgl. Bein, Industrie, S. 120–123; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 63; Edwards, Trade, S. 53 f., 67. Vgl. als zeitgenössische Einschätzung: Rößig, Handelskunde, S. 286 f.; kritisch zu den in den Quellen und in der älteren deutschen Literatur erhobenen Dumping-Vorwürfen: Tilly, England, S. 185 ff.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
Mit dem Wiedereinsetzen der Feindseligkeiten zwischen dem napoleonischen Frankreich und Großbritannien 1803 und den Blockaden von Elbe und Weser 1804/05 flossen die britischen Baumwollwarenexporte wieder zunehmend nach Nordamerika. Als der US-Kongress 1807 begann, durch gesetzliche Maßnahmen den Handel mit Großbritannien zu unterbinden, fanden die Briten schnell Ersatz auf den lateinamerikanischen Märkten. Dabei kam ihnen entgegen, dass Spanien und Portugal nach der französischen Besetzung ihr Handelsmonopol mit den amerikanischen Kolonien nicht mehr aufrecht erhalten konnten. Havana, Caracas und Veracruz, Pernambuco und Rio de Janeiro, Montevideo und Buenos Aires öffneten sich für britische Handelsschiffe.32 Für die vogtländische Musselinmanufaktur brachte diese Entwicklung aber kaum Nutzen. Als sich 1810 die Märkte am Bosporus und in der Levante noch einmal kurzzeitig für die Plauener Baumwollwarenhändler öffneten, waren sie kaum noch in der Lage, die plötzliche Nachfrage zu erfüllen. Zum Einen waren aufgrund der Kontinentalsperre die feinen englischen Baumwollgarne knapp und teuer geworden. Zum Anderen fehlte es den vogtländischen Verlegern an geeigneten Arbeitskräften. Der zwischenzeitliche Niedergang der Musselinmanufaktur hatte viele Würker und Weber veranlasst, sich anderen Zweigen der Textilherstellung zuzuwenden. Einen nicht geringen Teil der Bestellungen aus Konstantinopel mussten die Plauener Verleger von reußischen Arbeitskräften ausführen lassen. Zudem war ihnen nun neue Konkurrenz entstanden. Den Schweizer Musselinherstellern war ebenfalls der Zugang nach Frankreich und Italien versperrt worden. Nun drängten auch sie auf die wenigen noch offenen europäischen Märkte. 1811/12 überschwemmten die Schweizer mit ihren Lagerbeständen die Leipziger Messen und boten hier sie hier „a tout prix“ an. Der Verleger Hartenstein gab 1811 zu Protokoll, die Schweizer, hätten „den vogtländischen Musselineverkäufern mehr Schaden getan als vormals die Engländer.“33 Ein anderer Plauener Baumwollwarenhändler, Johann Christian Kanz, hatte Gelegenheit, dem Hauptverantwortlichen für seine Absatzschwierigkeiten persönlich sein Leid zu klagen. Napoleon übernachtete nämlich im Mai 1812 in Kanz’ Haus. Als nun der Kaiser seinen Gastgeber fragte, wie denn die Geschäfte liefen, antwortete dieser: Sie stockten, weil die Länder, in denen er sonst Absatz gefunden hatte, ihm nun meistenteils verschlossen seien: die Rheingegenden, die unteren Elbgegenden, Holland, Italien – allesamt mittlerweile Teil des französischen Herrschaftsverbandes – sowie die Türkei.34 Es kommt hier ein schon vertrautes Muster des Marktgeschehens zwischen 1795 und 1815 zum Vorschein: Die Musselinverleger, ob aus Plauen, Manchester, Glasgow oder St. Gallen, standen immer wieder vor dem Problem, dass ihnen der 32 33
34
Vgl. Edwards, Trade 68–72; Goebel, Trade, S. 298 f.; Crouzet, Economy, S. 237. Zitate nach: Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 110; Vgl. ebd. S. 107 ff.; Bein, Industrie, S. 156–161; König, Baumwollenindustrie, S. 268 f., 286–290; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1562 (Loc. 11142/XIV. 1778b), Bl. 127: Extractus Protocolli Michaelismesse 5.10.1808; ebd. Bl. 175: Notiz zur Königl. Geheimen Cabinets-Canzley [1809]; ebd. Bl. 181 f.: Extractus Protocolli Michaelismesse, 2.10.1809: Hartenstein, Plauen; ebd. Nr. 935 (Loc. 11147), Bl. 90 ff.: Relation Michaelismesse 1812. Vgl. Wagner, Textilindustrien, S. 66.
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Zugang zu wichtigen Märkten gewissermaßen von heute auf morgen versperrt wurde. Gewöhnlich ließen Verleger und Faktoren ihre Weber in der Hoffnung auf eine baldige Besserung erst einmal weiter arbeiten. Das Ergebnis war aber nur allzu oft, dass die verbliebenen offenen Märkte mit Waren überschwemmt wurden und ein rapider Preisverfall eintrat. Insgesamt besaß aber die englische und schottische Musselinmanufaktur in der Vermarktungssphäre gegenüber der sächsischen wie der schweizerischen Konkurrenz die besseren Karten. Ihr stand zum Ersten ein relativ großer, nach außen hin geschützter Binnenmarkt auf den britischen Inseln und in den eigenen Kolonien offen. Zum Zweiten verfügte die Baumwollweberei in Lancashire und Südwest-Schottland über mehrere wichtige Standortvorteile. Dazu gehörte die relativ störungsarme Versorgung mit dem Rohstoff Baumwolle über die Atlantikhäfen Liverpool und Glasgow und mit hochwertigen Garnen durch die regionale Maschinenspinnerei.35 Vor allem aber bot die Insellage, die große Handelsflotte wie die schlagkräftige Marine den britischen Wirtschaftsakteuren zahlreiche Vermarktungsoptionen, die ihren sächsischen Kontrahenten nicht ohne Weiteres zur Verfügung standen. Während die Planwagen der sächsischen Textilkaufleute immer wieder vor geschlossenen Schlagbäumen standen, fanden die britischen Musseline oft Wege, um kriegsbedingte Blockaden und handelspolitische Barrieren per Seetransport zu umgehen. So blieb der russische Markt den britischen Musselinen einigermaßen zugänglich. Die Beschränkung der Einfuhr auf einige Seehäfen, so beklagten sich die Plauener Händler 1798 bei der Kommerziendeputation, sei geradezu „auf Verdrängung der deutschen und vorzüglich auf Begünstigung der Englischen Waaren berechnet, indem für diese kein geraderer, bequemerer und wohlfeilerer Weg, als der zur See nach Riga und Petersburg … vorgezeichnet werden könne“.36 Zwar mussten die britischen Kaufleute dort einen 30-prozentigen Einfuhrzoll entrichten. Sie konnten diese Abgabe aber um so eher verkraften, als sich die Transportkosten für vogtländische Musseline durch die Schließung der russischen Landgrenzen massiv erhöht hatten. Für die russisch-polnischen und Moskauer Großhändler, die sich zuvor auf der Leipziger Messe bedient hatten, wurde es nun einfacher und billiger, ihren Bedarf aus den Warenmagazinen der Engländer in den beiden Importhäfen an der Ostsee zu decken.37 Die Vorteile des Marktzugangs der britischen Baumwollwaren durch den Transport von See, die Basis eines geschützten Binnenmarkts und die Möglichkeiten des Wechsels zwischen europäischen und amerikanischen Absatzgebieten – all dies gab den britischen Baumwollwarenproduzenten gegenüber ihrer sächsischen Konkurrenz einen gewaltigen Marktvorteil. Sie konnten einen Teil ihrer Produktion zu hohen Preisen zu verkaufen und überschüssige Warenkontingente notfalls unter dem Gestehungspreis absetzen. Zudem waren in den beiden großen Baumwollwa35 36 37
Vgl. etwa HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1519 (Loc. 11136/XIII. 1623), Bl. 144: Bericht Dürisch, 3.10.1801. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 907 (Loc. 11467), Bl. 79: Relation Michaelismesse 1798. Vgl. ebd.; ebd, Bl. 87: Relation Ostermesse 1798; Bein, Industrie, S. 131 f.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
renregionen, in Lancashire sowie im Westen Schottlands um Glasgow und Paisley, im Zuge der Industrialisierung der Spinnerei auch in der Handweberei riesige Produktionskapazitäten aufgebaut worden. Kapitalkräftige Exporthändler waren damit weit eher in der Lage als die vogtländischen Grossohandlungen, bei Abnahme großer Mengen von Musselinen mit sehr geringen Gewinnspannen pro Stück zu kalkulieren. Gewöhnlich boten die britischen Exporteure ihren ausländischen Abnehmern darüber hinaus ausgesprochen günstige Zahlungskonditionen. Während die Plauener Händler bedacht waren, ihre Verkaufserlöse möglichst schnell in ihre Kassen zurückfließen zu lassen, besaßen ihre britische Konkurrenten einen wesentlich größeren finanziellen Spielraum. In den 1790er Jahren gewährten sie ihren Abnehmern auf der Leipziger Messe Zahlungsziele von einem Jahr und mehr. Die Engländer waren offenbar auch bereit, sich auf riskantere Geschäfte einzulassen. Als 1793/94 eine Welle von Konkursen und Zahlungseinstellungen vor allem das Finanzzentrum Amsterdam und die Handelsplätze Warschau und Brody erschütterten, gehörten sie zu den wenigen Verkäufern, die polnischen und russischen Kaufleuten in Leipzig noch Kredit einräumten.38 3.2 DIE MASCHINISIERUNG DER SÄCHSISCHEN BAUMWOLLSPINNEREI Im Juni 1799 machte der Schriftsteller Karl Ruhheim auf seiner Reise durch das sächsische Erzgebirge in Chemnitz Station. In seinem später veröffentlichten Reisebericht beschreibt er eine geschäftige Textilgewerbestadt: „Kattundruckereien giebt es hier zwölfe, und an diesen sind einige Hundert Arbeiter; und 9 Bleichen, darunter 7 Kommunbleichen. (…) Es befinden sich überdies noch über 900 Leinweber hier, die gegen 800 Gesellen und einige 1000 Stühle beschäftigen, außer der großen Menge Lehrjungen und Wollmacherinnen, Spinnerinnen u. d. g. Diese verfertigen Kannefasse, Wallisse, Barchente, Nankins, Kattun, Kottonaden und feine den Engländern nachgemachte Pikees, viele andere seidene und halbseidene Waaren, Strümpfe, Handschuhe, Westen u. d. g. Die hiesige Innung, der die auf dem Lande arbeitenden Meister größtentheil beigetreten sind, besteht aus 2700 Meistern. Durch jetzigen Krieg hat die Stadt besonders sehr viel gewonnen und hebt sich immer mehr.“39
Während man in Plauen die Musselinmanufaktur zum gleichen Zeitpunkt schwer mit der britischen und indischen Konkurrenz zu kämpfen hatte und massive Absatzeinbußen hinnehmen musste, brummte in Chemnitz offenbar das Geschäft mit Baumwollwaren. Und Ruhheims Impressionen waren keineswegs bloß eine Mo38
39
Vgl. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1557(Loc. 11128/XIV. 1393), Bl. 24: Extractus Protocolli Ostermesse 29.4.1793 ebd., Bl. 51: Extractus Protocolli Michaelismesse 16.10.1793; ebd. Nr. 1516 (Loc. 11128/XIII. 1392), Bl. 4 f.: Dürisch an Kommerziendeputation, 22.4.1793; König, Baumwollenindustrie, S. 47 f.; Reinhold, Polen/Litauen, S. 101; Denzel, Zahlungsverkehr, S. 157; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 68 f.; Bein, Industrie, S. 120 f. Ruhheim, Reise, S. 151 f. Die Bezeichnung „Leinweber“ bezieht sich auf die Mitglieder der Chemnitzer „Zeug- und Leinweberinnung“, die, wie oben gesehen, überwiegend Baumwollgewebe fertigten.
3.2 Die Maschinisierung der sächsischen Baumwollspinnerei
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mentaufnahme. Im 1804 erschienenen zweiten Teil seiner „Produkten- Fabrik- Manufaktur- und Handelskunde von Chursachsen“ beschäftigt sich W. E. G. Rößig eingehend mit dem Verdrängungswettwerb im Baumwollwarensektor. Er schränkt aber zugleich ein: „Indessen traf diese so nachtheilige Concurrenz bis jetzt nur einen Hauptzweig der Sächsischen Baumwollenmanufaktur, da andere Manufakturen von Baumwolle, sonderlich die zu Chemnitz, Falkenstein, Frankenberg, Mittweyda, Oedern, Zschopau und einigen andern Orten mit den Engländern mit Glück an Gehalt und Werth wetteifern und sich sonderlich seit zehen bis zwölf Jahren sehr gehoben haben, so, daß über zwey und eine halbe Million Thaler davon in dem Auslande abgesetzt worden.“40
Es wird also im Folgenden zu klären sein, warum die Baumwollweberei im Chemnitzer Revier offensichtlich die Herausforderung des britischen Industrialierungsschubs so viel besser bewältigte als ihr Pendant im südlichen Vogtland – und zwar bereits bevor sie durch die napoleonische „Kontinentalsperre“ vor der scheinbar übermächtigen Konkurrenz geschützt wurde. Auf dem Weg zur Maschinenspinnerei In Ruhheims Schilderung fällt zunächst einmal die außerordentliche Mannigfaltigkeit der in Chemnitz und Umgebung hergestellten Textilien ins Auge. Im südlichen Vogtland hatte sich dagegen die Musselinweberei im Verlaufe des 18. Jahrhunderts beinahe zu einer „Monokultur“ entwickelt. Das Spektrum der im Chemnitzer Revier hergestellten Web- und Wirkwaren reichte von kunstvoll gemusterten Piquées nach englischer Art bis zu groben Rohkattunen, von kostbaren Limbacher Seidenstrümpfen bis zu einfachen Baumwollmützen aus den erzgebirgischen Dörfern. Während die leichten Gewebe der Plauener Manufaktur relativ feine Garne benötigten, beschränkte sich der Bedarf an solchen Garnsorten auf die hochwertigeren – „englischen“ – Artikel. Entsprechend unterschiedlich hatte sich in beiden Revieren bis in die 1790er Jahre die Handspinnerei entwickelt. Im Vogtland wurden Garne mit einem Feinheitsgrad zwischen Nr. 50 und Nr. 100 gesponnen, während im Chemnitzer Raum meist Baumwollgespinst der Nummern 10 bis 40 auf der üblichen Messskala hergestellt wurde.41 Die unterschiedliche Bedarfsstruktur der Baumwollgarn verbrauchenden Gewerbe wirkte nicht zuletzt auch auf die Genese der Maschinenspinnerei in beiden Zentren der sächsischen Baumwollwarenmanufaktur zurück. Nachdem in den frühen 1790er Jahren die Versuche Baumgärtels, brauchbare englische Spinnmaschinen nachzubauen, fehlgeschlagen waren, spielte sich in der vogtländischen Musselinweberei für die nächsten fünfzehn Jahre eine Arbeitsteilung zwischen der regionalen Handspinnerei und den britischen Spinnfabriken ein. In der erzgebirgischen Baumwollspinnerei lag dagegen die Messlatte, was die Anforderung an die Feinheit 40 41
Rößig, Handelskunde, S. 286 f. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 906 (Loc. 11467): Relation Ostermesse 1798, Bl. 85 f.; König, Baumwollenindustrie, S. 84 f.
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des Garns anging, deutlich niedriger. Hier wurden schon seit Mitte der 1780er Jahre handbetriebene Spinnmaschinen eingesetzt. In den Zentren der einfachen Kattunweberei, um Mittweida und Frankenberg, wurde bereits zehn Jahre später fast der gesamte Garnbedarf auf nachgebauten Jennies oder Eigenkonstruktionen ähnlicher Art gesponnen. Eine 1794 erstellte Statistik weist für Mittweida und Umgebung 134, für Chemnitz und Umgebung 60 und im übrigen Sachsen nur ganze drei solcher Handspinnmaschinen aus. 1798 hatte sich die Zahl dieser Maschinen in Chemnitz verzehnfacht, die in der Mittweidaer Gegend etwas mehr als verdoppelt.42 Die rasante Verbreitung der Spinning Jenny in Chemnitz gründete auch darauf, dass es örtlichen Maschinenbauern wie Forkel und Irmscher gelungen war, die Leistung dieser Maschinen sukzessive bedeutend zu erhöhen. 1798 hielt ein Memorandum der Kommerziendeputation fest, Spinnmaschinen nach Irmschers Bauart hätten sich in den letzten Jahren sehr vermehrt und sich „durch die Menge und Güte des darauf erzeugten Gespinstes bewährt“.43 Irmscher war es gelungen, sowohl die Zahl der Spindeln pro Maschine deutlich zu erhöhen als auch feinere Garne herzustellen. Der englische Techniker Whitfield, auf den gleich noch zurückzukommen sein wird, hielt Irmschers Konstruktionen 1799 „beßer als die eigentlichen alten Jennys der Engländer“. Er bemängelte aber gleichzeitig die eingesetzten Krempelmaschinen, die ein wenig brauchbares Vorgespinst lieferten.44 Doch trotz der schnellen Vermehrung der handbetriebenen Spinnmaschinen wurde auch in Chemnitz Garn in rasch wachsender Menge aus England und Schottland importiert. Die Kommerziendeputation schätzte den Anteil des britischen Maschinengarns am Gesamtverbrauch im Chemnitzer Revier bereits 1797 auf mehr als ein Drittel. Wie im Vogtland wurde auch hier das importierte Muletwist vorrangig für die feineren und hochwertigeren Gewebe verwendet. Selbst mit Irmschers verbesserten Jenny-Maschinen konnte nur Garn bis Feinheitsgrad 40 gesponnen werden.45 Es wurde nun ein neuerlicher Anlauf unternommen, die Mule-Spinnerei in Sachsen einzuführen. Anders als bei den Versuchen Baumgärtels, Irmschers und Forkels einige Jahre zuvor übernahm nun ein Mann die Initiative, der die englische Baumwollspinnerei aus erster Hand kannte. Carl Friedrich Bernhard hatte zusammen mit seinem Bruder Ludwig in Manchester ein umfangreiches Garnhandelsunternehmen aufgebaut und war dort Teilhaber einer Maschinenspinnerei. In den 1790er Jahren verlagerte sich das Geschäft der Brüder Bernhard & Comp. zusehends nach Sachsen. In Leipzig eröffneten die Bernhards 1796 eine Filiale, die mit englischen roten und weißen Garnsorten und auch mit Baumwollstoffen handelte. Das deutsche Handelshaus aus Manchester gehörte offenbar zu den wichtigsten 42
43 44 45
Zahlen nach: Forberger, Manufaktur, S. 288; vgl. ders., Revolution 1/1, S. 237 f.; Kunze, Frühkapitalismus, S. 27 f.; Kiesewetter, Unternehmen, S. 12, 15; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1473 (Loc. 11171/XIII. 2311), Bl. 2: Memorandum „Die baumwollene Maschinenspinnerey im Königreich Sachsen“, 1814. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1518 (Loc. 11134/XIII. 1546), Bl. 11 f.: Pro Memoria, Friedrich Ludwig Wurmb, 24.2.1798. Ebd. Bl. 131: Bericht Dürisch, 13.4.1799. Vgl. Kunze, Frühkapitalismus, S. 28. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 904 (Loc. 11467): Relation Ostermesse 1797, Bl. 81; ebd. Ostermesse 1798, Bl. 85 f.; König, Baumwollenindustrie, S. 61–65.
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Maschinengarnlieferanten der Plauener und Chemnitzer Baumwollwarenverleger. Seit 1794 führten Carl Friedrich Bernhards Geschäftsreisen ihn regelmäßig nach Chemnitz, wo er sich bald mit neugierigen Fragen bedrängt sah. Doch ließ er sich, wie der Justizamtmann Dürisch festhielt, „nie, so oft ich mich auch bemühte, ihn in Beziehung auf die Einrichtung der englischen Maschinen-Spinnerey gesprächig zu machen, über die Construction der Maschinen im Geringsten heraus“.46 Kurz vor Weihnachten 1797 erschien Bernhard in Begleitung des Chemnitzer Großverlegers Johann Wilhelm Bugenhagen bei Dürisch und eröffnete ihm, er habe „aus dringenden Familien- und anderen Ursachen“ sein Vermögen aus dem englischen Geschäft herausgezogen und beabsichtige, sich in Sachsen niederzulassen. Bernhard suchte zunächst um einige behördliche Hilfestellungen bei der Errichtung einer Garnfärberei in Chemnitz nach, die ihm Dürisch ohne Weiteres zusagte. Es war aber wohl das zweite Projekt, das ihm Bernhard vortrug, das den Amtmann elektrisierte: der Bau einer wasserbetriebenen Mule-Spinnerei in Harthau, einem einige Kilometer südlich von Chemnitz an der Würschnitz gelegenen Dorf. Diese Spinnerei sollte feinstes Garn herstellen können. Bernhard brachte Konstruktionszeichnungen der englischen Spinn- und Vorspinnmaschinen aus Manchester mit. Als Teilhaber hatte er Bugenhagen und den Leipziger Kaufmann A. C. F. Köhler gewonnen. 1798 erhielt Bernhard ein kurfürstliches Privileg, das ihm auf zehn Jahre das Monopol für die Herstellung von Mule-Baumwollgarn in Sachsen zusicherte. Der Nachbau der Maschinen vor Ort in Harthau stieß allerdings bald auf größere Probleme. Bernhard gelang es schließlich, in Altona einen englischen Techniker anzuwerben, der den Bau der Maschinen fachgerecht anleitete. Zu Michaelis 1800 nahm die Harthauer „Spinnmühle“ den Betrieb auf. C. F. Bernhards Teilhaber zogen sich bald aus dem Geschäft zurück. Nach dem Eintritt Ludwig Bernhards firmierte das Unternehmen seit 1802 als „Gebrüder Bernhard“.47 Mittlerweile waren auch die Chemnitzer Baumwollwarenverleger Konrad Wöhler und Johann Friedrich Lange in den Besitz von Zeichnungen und Modellen kraftgetriebener britischer Spinnmaschinen gelangt. Sie hatten sich gleich von vornherein der Hilfe eines Fachmanns aus England versichert, eben jenes oben zitierten William Whitfields. Da Bernhard und seine Partner bereits ein Exklusivprivileg für den Mule erhalten hatten, mussten Wöhler & Lange ihre Spinnerei in Furth an der Chemnitz mit Water Frames ausrüsten. 1799 erhielten sie ein Privileg für die Fertigung von Water-Garnen in Sachsen, ebenfalls für den Zeitraum eines Jahr46 47
HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1518 (Loc. 11134/XIII. 1546), Bl. 5: Extract Bericht Dürisch, 28.12.1797. Zitat: Ebd. Im überlieferten Extrakt des Berichts über die Unterredung vom Dezember 1797 bricht der Text ab, bevor die Rede auf das zuvor angekündigte zweite Projekt Bernhards kommt. Aus einem rückblickenden Memorandum („Die baumwollene Maschinenspinnerey im Königreich Sachsen“) von 1814 geht aber hervor, dass sich Bernhard Ende 1797 an die Regierung mit der Bitte um ein Privileg für eine Mule-Spinnerei gewandt hatte. Vgl. ebd. Nr. 1473 (Loc. 11171/XIII. 2311), Bl. 4 f.; Uhlmann, Chemnitzer Unternehmer, S. 25 f.; Blumenstein, Baumwollenindustrie S. 123; Meister, Führer, S. 38 f.; Kiesewetter, Das Bernhardsche Unternehmen, S. 12; Forberger, Manufaktur, S. 289; zur sächsischen Privilegierungs- und Patentierungspraxis vgl. Naumann, Gewerbeprivilegien, S. 54 ff.
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zehnts, und konnten ihre Spinnmühle im folgenden Jahr, genau eine Woche vor Bernhard, in Betrieb nehmen. Wöhlers Spinnmaschinen waren zwar insoweit produktiver als die der Bernhards, als sie bei gleicher Laufzeit größere Garnmengen herstellen konnten. Doch lieferten die Harthauer Mules feineres und besseres Garn als die Further Water Frames einige Kilometer flussabwärts.48 In beiden Fällen war es nicht mit dem Bau der Spinnmaschinen allein getan. Um etwa ordentliches Mule-Garn zu fertigen, brauchte man einen ganzen Satz von Vorbereitungsmaschinen. Zunächst wurde die gelockerte und grob gereinigte Baumwolle in einer Krempelmaschine durch Kratzen (Karden), die auf eine Trommel gespannt waren, weiter gereinigt und die Fasern gleichzeitig nebeneinander zu einem Fließ angeordnet. Das Baumwollfließ wurde dann in Streck- und Kannenmaschinen durch Walzen, die in unterschiedlichen Rotationsgeschwindigkeiten liefen, gestreckt, gedreht und zu einem Band vereinigt. In einer Vorspinnmaschine durchliefen die Baumwollfäden weitere Streck- und Drehvorgänge. Erst dieses Vorgarn konnte in der eigentlichen Mule-Spinnmaschine Verwendung finden. Der Bau des modernen Spinnerei-Maschinenparks in den Chemnitzer Vororten stellte die angeworbenen britischen Mechaniker und Handwerker vor einige Probleme. Die überwiegend aus Eisen gefertigten Maschinen waren Produkte fortgeschrittener britischer Metallverarbeitungstechniken. In Sachsen fehlte es an tauglichen Materialien und Werkzeugen für einen Nachbau solcher komplexen Metallkonstruktionen. Die heimischen Handwerker, die mit der andersartigen Technologie und den neuen Verarbeitungstechniken nicht vertraut waren, mussten erst einmal mühsam angelernt werden.49 Um 1800 war damit die Garnversorgung der Chemnitzer Baumwollweberei und -wirkerei innerhalb weniger Jahre auf eine neue Grundlage gestellt worden. Nach wie vor gab es zahlreiche Handspinner und vor allem Spinnerinnen, die vornehmlich einfache Qualitäten herstellten, die für die Produktion billiger Kattune und Strümpfe taugten. Das Handgespinst war locker gedreht und ließ die nicht appretierten Stoffe dicht aussehen. Doch nach dem Bleichen und Waschen wirkten die Gewebe oft dünn und fadenscheinig. Dagegen gewannen die mit Maschinengarn gefertigten Stoffe während des Zurichtungsprozesses. Die Fäden waren scharf und glatt gedreht und lockerten sich durch das Bleichen und Waschen, was den Geweben eine dichtere Struktur gab.50 Mit den handbetriebenen Jennies ließen sich vor allem feste und starke Garne herstellen. Diese Gespinste waren gut für Rohkattune geeignet, so dass einige große Kattundruckereien seit 1798 dazu über48
49 50
Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 905 (Loc. 11467): Relation Michaelismesse 1797, Bl.74 f.; ebd. Nr. 1517 (Loc. 11131/XIII. 1454), Bl. 215: Bericht Dürisch, 2.10.1797; ebd. Nr. 1473 (Loc. 11171/XIII. 2311), Bl. 4: Memorandum „Die baumwollene Maschinenspinnerey im Königreich Sachsen“, 1814; König, Baumwollenindustrie, S. 336; Uhlmann, Chemnitzer, Unternehmer, S. 27; Meister, Führer, S. 38; Forberger, Manufaktur, S. 290; Welzel, Baumwollspinnerei, S. 85. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1473 (Loc. 11171/XIII. 2311), Bl. 3: „Die baumwollene Maschinenspinnerey im Königreich Sachsen“, 1814; Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 25; Weber, Innovationstransfer, S. 60; Welzel, Baumwollspinnerei, S. 84 f. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1519 (Loc. 11136, XIII./Nr. 1623), Bl. 94 f.: Bericht Dürisch, 27.4.1801.
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gingen, die Handmaschinenspinnerei auf eigene Rechnung zu zentralisieren. Während C. F. Kreyssig seine Chemnitzer „Hand-Maschinen-Spinnerey-Anstalt“ nach einigen Jahren stilllegte, bauten die Gebrüder Pflugbeil ihre Jenny-Spinnerei aus und legten 1804 ihre Vorspinnmaschinen „ans Wasser“. Im Jahrzehnt nach 1798 verzehnfachte sich die Zahl der Jennies in Sachsen auf rund 9000, die über eine Gesamt-Kapazität von mehr als 400.000 Spindeln verfügten.51 Auch Konrad Wöhlers Water Frames lieferten robuste Garne von einfacher Qualität, doch wollte sich seine Spinnmühle nicht recht rentieren. Die vergleichsweise billige „weiße“ Baumwolle aus Südosteuropa und Vorderasien ließ sich wegen ihrer kurzen, harten und trockenen Fasern auf kraftgetriebenen Maschinen nur mühsam verspinnen. Die Fäden brachen leicht und das Garn war oft unregelmäßig. Wesentlich besser für die Maschinenspinnerei geeignet war die amerikanische „gelbe“ Rohbaumwolle, deren Preise aber oft stark fluktuierten und im allgemeinen höher lagen als die der mazedonischen und levantinischen. Daher stand Wöhler vor einem Dilemma: Verwendete er gelbe Baumwolle lief er Gefahr gegenüber dem Jennygarn und dem importierten britischen Maschinengespinst zu teuer zu produzieren. Passte er seine Maschinen an die Verspinnung weißer Baumwolle an, sank die Qualität seiner Garne. Kein Wunder, dass Wöhler nach 1800 wenig Eifer an den Tag legte, seine Watertwist-Spinnerei auszubauen. Statt dessen begannen er und sein englischer Mechaniker, auf dem Terrain der Brüder Bernhard zu wildern. Whitfield rüstete die Further Spinnmühle mit selbst entwickelten „Batard“-Maschinen aus, bei denen es sich aber nur um wenig modifizierte Mules handelte. Damit brachte Wöhler naturgemäß die Inhaber des kurfürstlichen Exklusivprivilegs für die Mule-Spinnerei, die Gebrüder Bernhard, gegen sich auf. Schließlich gelang es dem Amtmann Dürisch, die Widersacher zu einem gütlichen Kompromiss zu bewegen. Die Bernhards konzedierten Wöhler, eine begrenzte Zahl von 1800 Spindeln auf seinen verkappten Mules laufen zu lassen. Sie selbst hatten bis 1805 ihre Spinnerei auf eine Kapazität von 11.000 wassergetriebenen Mule-Spindeln ausgebaut.52 Allem Anschein nach konnten die Gebrüder Bernhard ihr zehnjähriges Produktionsmonopol für Sachsen gewinnbringender nutzen als Konrad Wöhler. Zwischen Michaelis 1804 und 1805 produzierte die Harthauer Spinnerei 65.000 Pfund Garn (= ca. 3.000 Stein). Diese Mule-Garne erreichten eine deutlich bessere Qualität als Wöhlers Watertwist, das kaum Nummer 30 erreichte. Die Bernhards sponnen Garn bis Nummer 66. Dies waren mittlere Qualitäten, für die gelbe Baumwolle aus Brasilien, der Karibik oder den Südstaaten der USA verwendet wurden. 1803 hielt Dürisch in seinem Bericht an die Kommerziendeputation fest: „Die Güte und Schönheit des Garns wird von iedem Sachkundigen gelobt und das Unternehmen 51 52
Vgl. ebd. Bl. 107; ebd. Nr. 1521 (Loc. 11144, XIII./Nr. 1797), Bl. 110: Bericht Dürisch, 29.9.1805; ebd. Nr. 1473 (Loc. 11171/XIII. 2311), Bl. 3: „Die baumwollene Maschinenspinnerey im Königreich Sachsen“, 1814; Forberger, Revolution I/1, S. 237 f. Vgl. Welzel, Baumwollspinnerei, S. 85 f.; Forberger, Revolution I/1, S. 239; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII./Nr. 1679), Bl. 136 f.: Bericht Dürisch, 28.4.1803; ebd. Bl. 264 f.: Bericht Dürisch 21.4.1804; ebd. Nr. 1521 (Loc. 11144/XIII. 1797), Bl. 110 f.: Bericht Dürisch, 29.9.1805.
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selbst rentirt so ansehnlich, daß die Inhaber die Zinsen ihres aufgewandten Capitals mit einem ansehnlichen Ueberschuß verdienen müßen.“ Im folgenden Jahr bemerkte der Chemnitzer Amtmann, Bernhards Spinnerei liefere Garne „in einer Blüte, Schönheit und Festigkeit, die den besten Englischen völlig gleich ist. Ihre Garne gehen reißend ab, und die Innhaber sind nicht im Stande, ihre Commissiones zu befriedigen, ob sie schon mit den Engländern fast gleiche Preise halten.“53 Wenn Dürisch gegenüber seinen Dresdner Vorgesetzten die Erfolge der Bernhards nicht allzu schön geredet hat, dann teilte sich die Harthauer Mule-Spinnerei den Markt für die mittleren Qualitäten mit den Erzeugnissen der britischen Maschinenspinnereien. Deren Absatz hatte sich, von einer kriegsbedingten Wachstumsdelle abgesehen, nach 1800 weiter erhöht. 1805 wurden in Chemnitz 5.001 Stein (= 112.200 Pfund) britisches Maschinengarn verkauft. Verwendung fanden die importierten Mule-Garne vornehmlich in der Fertigung hochwertiger Gewebe, eben jener „englischen“ Piquèes, Canevase und Wallise, die ein Teil der Chemnitzer Verleger so eifrig nachahmen ließ.54 Letztlich bedeutete dies auch, dass gerade in den Marktsegmenten, in denen die Chemnitzer Baumwollwarenhersteller die direkte Konkurrenz zu den Briten gesucht hatten, sie von der Lieferung britischer Halbwaren bzw. überseeischer Rohstoffe abhängig waren: von Maschinengarn aus Lancashire und amerikanischer „gelber“ Baumwolle. Die Rohstoff- und Halbwarenzufuhr Der Übergang zur feinen Baumwollweberei in Chemnitz seit den 1770er Jahren war mit einer Verschiebung der Rohstoffversorgung verwunden gewesen. Die bislang verwendeten südosteuropäischen und vorderasiatischen Rohwollen und das aus ihnen gesponnene Garn eigneten sich kaum für die „englischen“ Stoffe, die ein Teil der Chemnitzer, und bald auch der Glauchauer Verleger fertigen ließen. Das Garn aus der „gelben“ Baumwolle wurde, wie Bugenhagen 1788 zu Protokoll gab, „zu Wallis, feinen Cattunen, feinen Piquées und anderen feinen Waaren“ verarbeitet.55 Während sich mit der Niederlassung der griechischen Großhändler die Stadt Chemnitz zum zentralen Umschlagsplatz für mazedonische und smyrnaische Baumwolle entwickelt hatte, übernahm bei der überseeischen Baumwolle Leipzig diese Funktion. Vor 1790 stammte die in der Messestadt vermarktete Rohbaumwolle vornehmlich aus dem karibischen Raum. Die gebräuchlichsten, in den „Messrelationen“ genannten Sorten – „Berbice“, „Surinam“, „Essequebo“ – verweisen allesamt auf ihre Herkunft aus den holländischen Plantagenkolonien am Nord53
54 55
Zitate: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 202: Bericht Dürisch, 29.9.1803; ebd. Bl. 263 f.: Bericht Dürisch 21.4.1804. Vgl. ebd. Nr. 1519 (Loc. 11136/XIII. 1623), Bl. 107 f.: Bericht Dürisch, 27.4.1801; ebd. Nr. 1521 (Loc. 11144/XIII. 1797), Bl. 110 f.: Bericht Dürisch, 29.9.1805; Kunze, Frühkapitalismus, S. 25. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1521 (Loc. 11144/XIII. 1797), Bl. 188 f.: Bericht Dürisch 24.4.1806; ebd. Nr. 1519 (Loc. 11136/XIII. 1623), Bl. 93 ff.: Bericht Dürisch, 27.4.1801. Ebd. Nr. 1515 (Loc. 11123/XIII. 1206), Bl. 9: Extractus Protocolli Ostermesse, 19.4.1788.
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ostrand des südamerikanischen Kontinents. Dazu kam noch „Domingo“-Baumwolle vom spanischen Teil der Karibikinsel Hispaniola. Solche Rohwollen kamen überwiegend über Amsterdam bzw. die spanischen Häfen Cádiz und Bilbao nach Europa. Dort wurden sie meist von Hamburger Großhändlern aufgekauft. In der Hansestadt versorgten sich einerseits Leipziger Kaufleute mit der westindischen Baumwolle. Andererseits brachten auch Hamburger Handelshäuser die Rohwolle zu den Leipziger Messen oder unterhielten dort permanent eigene Verkaufsfilialen. Die westsächsischen Baumwollwarenverleger wiederum kauften gewöhnlich ihren Bedarf an solchen Wollen in Leipzig ein.56 Seit den frühen 1790er Jahren verschob sich nun das Gefüge der transatlantischen Baumwollwirtschaft auf nachhaltige Weise. Der amerikanische Baumwollanbau selbst war einem Umbruch unterworfen, der in einem direkten Zusammenhang mit dem Durchbruch der britischen Maschinenspinnerei stand. Nachdem der Flaschenhals in der Baumwollspinnerei einmal gesprengt war, dehnte sich auch der Baumwollanbau entlang der amerikanischen Atlantikküsten rasch aus. Zu den westindischen Anbauregionen traten in verstärktem Maße die portugiesische Kolonie Brasilien und vor allem die Südstaaten der USA. Die 1793 erfundene Entkernungsmaschine erhöhte die Produktivität der amerikanischen Baumwollwirtschaft beträchtlich. Doch sollte man nicht vergessen, dass die stark gesteigerte Nachfrage nach Rohbaumwolle in fast allen diesen Anbauregionen vor allem durch eine Ausweitung der Sklavenarbeit befriedigt wurde. Diese Entwicklung lässt sich auch gut am Leipziger Baumwollmarkt ablesen, wo etwa seit der Jahrhundertwende vermehrt „New Orleans“-, „Georgia“-, die teure „Sea Island“-Wolle – alles nordamerikanische Sorten – und auch die brasilianischen „Pernambuc“ oder „Bahia“-Baumwollen angeboten wurden.57 Die Kriege zwischen den atlantischen Seemächten seit der Mitte der 1790er Jahre ließen die Zufuhr von Baumwolle aus den amerikanischen Anbaugebieten nicht unberührt. Bald häuften sich in Chemnitz die Klagen über steigende Baumwollpreise und Engpässe in der Versorgung. Nach der französischen Okkupation der Niederlande 1794/95 und der Eroberung der holländischen Plantagenkolonien in der Karibik durch die Briten 1796 war der für die Versorgung der sächsischen Baumwollreviere so wichtige Importhandel über Amsterdam völlig zusammengebrochen. Die britische Blockade der spanischen Atlantikhäfen beeinträchtigte die Zufuhr aus Spanisch-Amerika. Ähnliches galt für die Zufuhr überseeischer Farbmaterialien für den Bedarf der sächsischen Textilfärbereien und Kattundruckereien. Das blaue Indigo etwa kam überwiegend von der niederländischen Karibikinsel Curaçao, das rötliche Cochenille, ein anderer wichtiger Textilfarbstoff, aus dem spanischen Mittelamerika.58 Die Stockungen der transatlantischen Rohstoffzufuhr waren zwar zunächst vorübergehender Natur. Die Übermacht der Royal Navy und die britischen Erobe56 57 58
Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 163 f. Vgl. Edwards, Trade, S. 79–84, 88 ff.; Beckert, King, S. 99–126; Goodman/Honeyman, Pursuit, S. 137 f. Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 165; Maschner, Weberei, S. 85; allgemein: Engel, Farben, S. 47–58.
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rungen in der Karibik hatten dennoch längerfristige Folgen für Rohstoffversorgung der sächsischen Baumwollwarenmanufaktur. Die Dominanz der Seemacht Großbritanniens führte phasenweise zu einem monopolartigen Übergewicht britischer Kaufleute im transatlantischen Kolonialwarenhandel. 1801 konstatierte Dürisch, „die Engländer treiben noch immer einen vortheilhaften Alleinhandel mit der gelben Baumwolle und allen Arten Farben und Material-Waaren, in enormen Preißen“.59 Während der kurzen Friedenszeit 1802/03 fielen die Preise für die „gelbe“ Baumwolle wieder. Doch schon 1804 hatte die Wiederaufnahme des britisch-französischen Seekriegs und der wechselseitigen Kaper- und Blockadeaktionen Preissteigerungen auf den Baumwollmärkten im Gefolge. Würde nicht noch gelbe Baumwolle via Spanien und Portugal auf dänischen Schiffen nach Deutschland gelangen, schrieb Dürisch im September 1804 erbittert, so würden die Engländer sie noch höher im Preis treiben, „gar nichts nach Deutschland laßen und die deutschen Baumwollen-Manufacturen und Spinnereien gänzlich ruiniren. Sie laßen ohnedies Wolle von guter Qualitaet gar nicht aus dem Lande gehen. Nur Mittel- und schlechte Sorte verkaufen sie an die Deutschen.“ Selbst die mazedonische Baumwolle hatte sich im Gefolge von Unruhen auf dem Balkan eine Zeit lang verknappt und verteuert.60 Weit weniger von diesen kriegsbedingten Marktstörungen war zunächst die Versorgung der Chemnitzer Baumwollweberei mit britischem Maschinengarn betroffen. Nur 1800/01 scheint sich das Angebot spürbar verknappt zu haben und die Preise erreichten einen Punkt, an dem es für Verleger und Webermeister unrentabel wurde, englische Garne zu verwenden. Doch schon im folgenden Jahr hatte der Frieden von Amiens das Maschinengarn aus Lancashire so verbilligt, dass Dürisch nach Dresden meldete, die „Leichtigkeit, mit welcher ietzt die englischen Garne um wohlfeile Preiße selbst auf Credit zu erlangen sind“, habe die Baumwollwarenproduktion „sehr erleichtert und befördert“.61 Da die britischen Kriegsschiffe, die vor den deutschen Nordseehäfen patrouillierten, dem Export eigener Manufakturgüter und Kolonialwaren keine Hindernisse in den Weg legten, blieb die Zufuhr von Maschinengarn nach Chemnitz bis 1806 einigermaßen unbehelligt. In diesem Sinne partizipierte auch die sächsische Baumwollwarenmanufaktur an der gewaltsamen Umlenkung weiterer Teile des transatlantischen Baumwollhandels nach Liverpool, Manchester und London. Die politischen Umwälzungen in Mitteleuropa im Zuge der Siege Napoleons bei Austerlitz und Jena 1805/06 legten der Rohstoff- und Halbwarenversorgung der 59 60
61
HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1519 (Loc. 11136/XIII. 1623), Bl. 80 f.: Bericht Dürisch, 27.4.1801. Zitat: Ebd. Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), o. Bl. : Bericht Dürisch, 24.9.1804; vgl. ebd. Bl. 18 f.: Bericht Dürisch, 8.5.1802; ebd. Bl. 231, 257: Bericht Dürisch, 21.4.1804; ebd. Nr. 1518 (Loc. 11134/1546), Bl. 36 f.: Bericht Dürisch, 29.4.1798; ebd. Bl. 127: Bericht Dürisch, 13.4.1799; ebd. Nr. 1521 (Loc. 11144/XIII. 1797), Bl. 32 f.: Bericht Dürisch, 2.5.1805; ebd. Bl. 187 f.: Bericht Dürisch, 24.4.1806. Ebd. Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 112 f.: Bericht Dürisch, 28.4.1803; vgl. ebd. Nr. 1519 (Loc. 11136/XIII. 1623), Bl. 56: Bericht Dürisch, 5.10.1800; ebd. Bl. 93 ff.: Bericht Dürisch, 27.4.1801.
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sächsischen Baumwollwarenmanufaktur weitere Hindernisse in den Weg. Mit der Besetzung Hamburgs durch französische Truppen Ende 1806 nahm das napoleonische Regime den bisherigen kontinentalen Umschlagplatz dieses für die Chemnitzer Textilwirtschaft so wichtigen Gutes in Beschlag. In Sachsen selbst wurden die regionalen und lokalen Verwaltungskörperschaften der Anordnungsgewalt französischer Intendanten unterstellt. Im sog. Berliner Dekret vom November 1806 untersagte Napoleon die Einfuhr aller britischen Manufaktur- und Kolonialwaren auf den französisch kontrollierten Kontinent und ordnete die Beschlagnahme aller vorhandenen Waren britischer Provenienz an.62 Die Ära der Kontinentalsperre erscheint allerdings in vieler Hinsicht eher als nahtlose Fortsetzung der kriegsbedingten Handelsstörungen der vorangegangenen Dekade denn als scharfe Zäsur. Zunächst einmal wies die faktische Wirksamkeit der gegenseitigen Absperrungsmaßnahmen in den Jahren zwischen Ende 1806 und 1813 eine bemerkenswerte Variationsbreite auf. Der transatlantische Handelsverkehr war schon seit der Jahrhundertwende in zunehmendem Maße auf Schiffe unter neutraler Flagge übergegangen. Zwischen Boston, New York und Baltimore, den westindischen Inseln und den dänischen Häfen an der schleswig-holsteinischen Nord- und Ostseeküste – Tönning, Husum, Altona, Kiel – war in wenigen Jahren eine vielbefahrene Handelsroute entstanden, auf der amerikanische Rohstoffe und britische wie kontinentaleuropäische Manufakturwaren ausgetauscht wurden. Bis Sommer 1807 brachten vor allem US-amerikanische und dänische Schiffe so viel überseeische Baumwolle ins französisch besetzte Hamburg, dass dort die Preise für diesen wichtigen Rohstoff der sächsischen Maschinenspinnerei beträchtlich fielen. Doch dann bereitete die Beschießung Kopenhagens durch die Royal Navy und die erzwungene Auslieferung der dänischen Flotte diesem regen transatlantischen Verkehr ein Ende. Das Königreich Dänemark trat im Oktober 1807, ebenso wie Russland schon einige Monate zuvor, dem napoleonischen „Kontinentalsystem“ bei. Kurze Zeit später erließ die britische Regierung eine Verordnung, die darauf gerichtet war, den Handel neutraler Schiffe mit (aus ihrer Sicht) feindlichen Häfen zu unterbinden. Dies traf vor allem die Handelsschifffahrt der Vereinigten Staaten, so dass die Jefferson-Administration mit einem Embargo antwortete, das amerikanische Häfen für den fremden Handel sperrte und den Aktionsradius von US-Schiffen auf die Küstenschifffahrt begrenzte. Der amerikanisch-britische Handelskrieg traf nicht zuletzt die kontinentaleuropäischem Baumwollgewerbe. 1809 kostete ein Zentner gelber Baumwolle in den USA 25 Taler, in England 30 Taler, in Sachsen aber 90 Taler.63 Im Frühjahr 1809 hob die amerikanische Regierung ihr Embargo wieder auf. US-Schiffen war es zwar weiterhin untersagt, in Handelsbeziehungen mit Frankreich oder Großbritannien zu treten, was aber weithin unterlaufen wurde. Die amerikanischen Kapitäne nahmen entweder in neutralen Häfen britische Waren auf oder 62 63
Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 170 f. Angaben nach Reyer, Handelsverhältnisse, S. 21; vgl. Crouzet, Variations, S. 328 f.; Edwards, Trade, S. 68 f.; König, Baumwollenindustrie, S. 167; Marzagalli, Merchants, S. 151–155; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1522 (Loc. 11147/XIII. 1903), Bl. 23: Bericht Dürisch, 26.4.1807; ebd., Bl. Bl. 73: Bericht Dürisch, 29.9.1807.
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liefen direkt britische Häfen an. Längere Zeit wurde diese Praxis auch von den beiden kriegführenden Kontrahenten hingenommen. Schon Mitte 1809 liefen „amerikanische Schiffe in Menge mit reichen Ladungen von Baumwolle, Farbematerialien und andern Colonialproducten“ im dänisch-holsteinischen Hafen Tönning ein und fanden von dort aus offenbar ohne größere Probleme ihren Weg nach Leipzig und Chemnitz.64 Sogar hochwertige langfaserige Rohbaumwolle kam auf diesem Wege in größeren Mengen und zu günstigeren Preisen als vor 1806 nach Sachsen. Im Mai 1810 berichtete Christian Gottlob Emanuel Frege, seit dem Vorjahr königlich sächsischer Konsul in Hamburg, nach Dresden, überseeische Baumwolle würde in großen Quantitäten von amerikanischen und schwedischen Schiffen nach Stralsund und Stettin gebracht. Die sächsischen Verleger könnten sich problemlos versorgen, wenn sie Aufträge nach Hamburg geben würden. Sein eigenes Handelshaus habe immer große Partien amerikanischer und feiner brasilianischer Baumwolle zu verkaufen. Auch über Königsberg und Triest gelangte amerikanische wie levantische Baumwolle nach Sachsen. Im ukrainischen Schwarzmeerhafen Odessa hatten amerikanische Schiffe 1810 „unermeßliche Mengen“ von Baumwolle, Farbstoffen und anderen Kolonialwaren abgeladen, die mit „ganze[n] Karawanen“ via Brody nach Wien und Leipzig geschafft wurden.65 Seit Herbst 1810 verengten sich die Zufuhrkanäle wieder. Dänemark hatte schon seit Mitte des Jahres die holsteinischen Häfen für amerikanische Schiffe geschlossen. Das napoleonische Frankreich ließ zwar nun die Einfuhr von Kolonialwaren auf US-Schiffen offiziell zu, belegte sie jedoch in den Dekreten von Trianon und Fountainebleu mit hohen Zöllen und veranlasste seine deutschen Verbündeten zum gleichen Schritt. Allerdings unterlief die sächsische Regierung diese ihr aufgezwungene handelspolitische Maßnahme, indem sie bei der Bezahlung der Baumwollzölle statt Bargeld langfristige Wechsel annahm, auf deren Einlösung sie schließlich ganz verzichtete. Nachdem sich seit 1811 die britisch-amerikanischen Beziehungen wieder eintrübten und schließlich zum offenen Krieg eskalierten, ging der zeitweise rege transatlantische Handelsverkehr auf US-Schiffen wieder zurück. Allerdings schlug sich dies kaum auf die Versorgung mit überseeischer Baumwolle nieder. Während 1808/09 die Einfuhr der „gelben“ Baumwolle fast versiegt war (1809: 781 Stein), explodierte die Baumwollzufuhr aus Übersee zwischen Michaelis 1810 und 1811 geradezu: In Chemnitz registrierten die Steuerbehörden in die64 65
Jahresbericht Kommerziendeputation 1809, zit. nach Hasse, Leipziger Messen, S. 416. Zitat: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1523 (Loc. 11148/XIII. 1937), Bl. 221 f.; vgl. ebd. Nr. 677 (Loc, 11166/II. 2244), Bl. 51 f.: Schreiben Konsul Frege 12.5.1810; ebd. Nr. 1522 (Loc. 11147/XIII. 1903), Bl. 87 f.: Bericht Dürisch, 29.9.1807; ebd. Bl. 164 f.: Bericht Dürisch, 6.5.1808; ebd. o. Bl.: Bericht Dürisch, 9.10.1808; ebd. Nr. 1523 (Loc. 11148/XIII. 1937), Bl. 42: Bericht Dürisch, 29.4.1809; ebd. Bl. 114 f.: Bericht Dürisch, 29.9.1809; ebd. Bl. 175: Bericht Dürisch, 17.5.1810; ebd. o. Bl.: Bericht Dürisch, 28.9.1810; ebd. Nr. 1524 (Loc. 11154/ XIII. 2034), Bl. 16 f.: Bericht Dürisch, 22.4.1811; Bl. 54 ff.: Bericht Dürisch, 2.10.1811; ebd. Bl. 92: Bericht Dürisch, 15.4.1812; Bl. 149 f.: Bericht Dürisch, 30.9.1812; ebd. Nr. 781 (Loc. 11147/VI. 1898), Bl. 73: Bericht Kommerziendeputation, 24.10.1810; Mittheilungen Industrieverein 1839, S. 25; Edwards, Trade, S. 68–72; Dufraisse, Zollpolitik, S. 334; Köppen, Handelsbeziehungen, S. 133; Williams, Policy, S. 232 ff.
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sem Jahr 22.950 Stein gelber Baumwolle, überwiegend aus den Südstaaten der USA und aus Brasilien. Der Preis dieser Baumwollsorten hatte sich innerhalb von zwei Jahren halbiert. Die feinen brasilianischen Sorten, die 1808/09 vier mal soviel gekostet hatten wie die aus dem Osmanischen Reich eingeführte Baumwolle, waren zur Ostermesse 1811 nur noch doppelt so teuer. Die US-Baumwolle war 1811/12 fast auf das Niveau der mazedonischen und levantischen „weißen“ Sorten gesunken.66 Die Versorgung des Chemnitzer Textilreviers mit englischem Maschinengarn während der Kontinentalsperre unterlag ähnlichen Schwankungen. Im Vergleich zur Baumwolleinfuhr tauschten die beiden gegnerischen Großmächte gewissermaßen die Rollen: Nun waren es die Briten, die ein gesteigertes Interesse daran hatten, die Erzeugnisse ihrer Spinnfabriken auf den Kontinent einzuschleußen, während die Franzosen dies zu unterbinden versuchten. Das napoleonischen Regime schaffte es nur phasenweise, die Sperrung des Kontinents gegen britische Manufakturwaren auch faktisch durchzusetzen. Vor allem dann, wenn Truppen an militärischen Brennpunkten gebraucht wurden, bekam die Überwachung der Küstenlinien schnell größere Lücken. Auf der 1807 von den Briten besetzten Insel Helgoland vor der Elbmündung stapelten unternehmende Handelshäuser und Spediteure derweil Kisten und Ballen mit Stoffen und Garnen aus Manchester und Glasgow und warteten auf eine Gelegenheit, sie auf dem norddeutschen Festland zu landen. Auch über Stralsund, Stettin und Danzig fanden britische Maschinengarne ins Landesinnere, nicht zuletzt in die südwestsächsischen Baumwollreviere. In Chemnitz hatte sich der Verkauf britischen Maschinengarns 1807 gegenüber dem Vorjahr deutlich gesteigert. Zunächst gelang es der französischen Ordnungsmacht nur zwischen Ende 1807 und Mitte 1808, den von ihr illegalisierten britischen Warenimport einigermaßen einzudämmen. Nur noch etwas mehr als die Hälfte des vorjährigen Quantums an Garnen von der britischen Insel fand 1808 seinen Weg nach Chemnitz. Mit dem Ausbruch von Aufständen gegen die napoleonische Herrschaft in Spanien und Tirol belebte sich der Schmuggelhandel gleich wieder. Zur Leipziger Neujahrsmesse 1809 wurden große Quantitäten englischer Garne angeboten zu Preisen, die unter den Rohbaumwollpreisen lagen. Im gesamten Jahr 1809 erreichte die Einfuhr britischen Baumwollgarns mit 6.682 Stein einen neuerlichen Rekordstand.67 Manchem Kaufmann, der auf eine nachhaltigere Durchsetzung der französischen Absperrungspolitik spekuliert hatte, verdarb diese Wendung der Dinge das Geschäft. Der 66
67
Vgl. Dufraisse, Zollpolitik, S. 332 f.; Mittheilungen Industrieverein 1839, S. 29; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 677 (Loc, 11166/II. 2244): Bericht Konsul Frege, 8.10.1810; König, Baumwollenindustrie, S. 168 ff., 197; Saalfeld, Kontinentalsperre, S. 124–129; Edwards, Trade, S. 72; Köppen, Handelsbeziehungen, S. 133 ff. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1522 (Loc. 11147/XIII. 1903), Bl. 24 f.: Bericht Dürisch, 26.4.1807; ebd. Bl. 166: Bericht Dürisch, 29.9.1807; ebd. Nr. 1523 (Loc. 11148/ XIII. 1937), Bl. 6 f.: Dürisch an Kommerziendeputation, 28.1.1809; ebd. Bl. 43 f.: Bericht Dürisch, 29.4.1809; ebd. Bl. 115 f.: Bericht Dürisch, 29.9.1809; ebd. Bl. 177 f.: Bericht Dürisch, 17.5.1810; ebd. Nr. 1524 (Loc. 11154/XIII. 2034), Bl. 56: Bericht Dürisch, 2.10.1811; ebd. Bl. 93: Bericht Dürisch, 15.4.1812; Crouzet, Variations, S. 324 f., 328 f.; ders., Economy, S. 237.
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Verleger Christian Gotthelf Brückner aus dem vogtländischen Mylau hatte „ehe die Continentalsperre eintrat, 2500 pfd. beste Englische Garne in den Nummern 70 und 80“ für weniger als drei Taler das Pfund eingekauft. Bald hatten sich die Preise für Garn dieser Qualität in Leipzig mehr als verdoppelt und Brückner winkte ein Gewinn von 10.000 Talern – wenn er denn verkauft hätte. In seinen etwa zwei Jahrzehnte später verfassten Memoiren ist Brückners Reue über dieses Versäumnis noch schmerzhaft präsent: „Was that ich! Ich behielt meine Garne aus der unverzeihlichsten falschen Ansicht, damit meine Weber darunter nicht leiden solten, und wie meine Waaren zum Verkauf kamen, waren englische Waaren in Quantitäten zu alten Preißen im Uiberfluß zu haben, und weg waren die rth. 10 mille, die mir ein guter Genius zugewießen hatte, von mir aber aus falschen Princip unbenüzet blieben. (…) Möchte diese herbe Lexion, die mich öfters mit mir selbst unzufrieden machet, meinen Söhnen zur Warnung dienen, im Glücke nicht stolz zu werden.“68
Noch bis 1811 wurden in Leipzig die Preise der eigentlich mit einem strikten Einfuhrverbot belegten englischen Maschinengarne offen notiert. Seit dem Herbst 1810 verschärfte sich aber die französische Absperrungspolitik merklich. In Leipzig wurden größere Vorräte an britischen Textilien und Garnen öffentlich verbrannt. Die Behörden unternahmen nun nachhaltigere Anstrengungen, um den Schmuggel an der Nord- und Ostseeküste zu unterbinden. Nach der Leipziger Ostermesse 1811 ging das Angebot an englischen Maschinengarnen, die nun von ständiger Konfiszierung bedroht waren, massiv zurück. Zur Michaelismesse 1812 hielt das Protokoll einer Sitzung von Vertretern der Kommerziendeputation und Textilkaufleuten fest, in Leipzig „komme englisches Maschinengespinnst im öffentlichen Handel nicht mehr zum Vorschein“. Allerdings gelangten aus Konstantinopel große Partien englischer Garne über Lemberg nach Wien, die überwiegend in Süddeutschland und in der Schweiz verarbeitet würden. Auf der gleichen Sitzung beklagten sich die Baumwollwarenverleger über die Konkurrenz durch die Schweizer, die „unmöglich für so wohlfeile Preise verkaufen könnten, wenn sie nicht Mittel und Wege hätten, englisches Maschinengespinnst sehr wohlfeil zu erlangen.“69 Als aber nach dem Russlandfeldzug von 1812 die Macht des napoleonischen Regimes ins Wanken geriet, begannen auch wieder die auf Helgoland gestapelten Garnballen ihren Weg aufs norddeutsche Festland und von dort nach Sachsen zu finden. Die Lage auf dem Leipziger und Chemnitzer Baumwollgarnmarkt entspannte sich wieder, was aber in Südwestsachsen nun nicht mehr ungeteilte Freude hervorrief. Im August 1813 richteten die Gebrüder Bernhard, Konrad Wöhler, die Firma Pflugbeil & Co. und rund zwanzig weitere Chemnitzer Spinnmühlenbesitzer ein Schreiben an die königliche Regierung, in dem sie gegen die Einfuhr ausländischer Garne protestierten. Neben der Messestadt Leipzig habe sich Seifhennersdorf 68 69
Zit. nach Forberger, Revolution I/1, S. 496 f.; vgl. Dufraisse, Zollpolitik, S. 334–338; Edwards, Trade, S. 60; Bein, Industrie, S. 156 f. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 935 (Loc. 11471), Bl. 43 ff.: Sitzung der Kommerziendeputation, Leipzig, 13.10.1812; vgl. Stieda, Kontinentalsperre, S. 131 f., 137; Dufraisse, Zollpolitik, S. 335; Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 22 f.; König, Baumwollenindustrie, S. 246 f.
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bei Zittau zu einem Umschlagplatz für illegal eingebrachtes englisches Maschinengarn entwickelt. Englische Reisende würden dort ihre über die böhmische Grenze geschmuggelten Waren offen anbieten. Die Chemnitzer Garnfabrikanten deuteten die von der napoleonischen Besatzungsmacht zur Durchsetzung der Kontinentalsperre erzwungenen Maßnahmen auf ganz eigene Weise: Die königlich-sächsischen Erlasse von 1810/11 hätten den Zweck verfolgt, „den Eingang der englischen und preußischen Garne in hiesige Lande, zu Aufrechterhaltung der inländischen Garnspinnereyen“, zu unterbinden.70 Die sächsische Maschinenspinnerei während der Kontinentalsperre Diese Wendung der Dinge verweist wiederum darauf, dass die Chemnitzer Maschinenspinnerei in den Jahren zuvor eine rasante Entwicklung genommen hatte. 1806 gab es in Kursachsen (außer einer Kleinspinnerei im thüringischen Landesteil) nur die beiden privilegierten Maschinenspinnereien von Bernhard und Wöhler mit insgesamt 12.800 Mule-Spindeln und einigen hundert Water-Spindeln. Im Herbst 1812 liefen rund 255.000 Spindeln in sächsischen Spinnereien, knapp 160.000 davon im erzgebirgischen und in den angrenzenden Teilen des Leipziger Kreises. Ein zweites Zentrum der mechanischen Baumwollspinnerei hatte sich im Vogtland mit etwa einem Drittel der Gesamtspindelzahl gebildet. Demnach hatte sich die Kapazität der Maschinenspinnerei in Sachsen in nur sechs Jahren ziemlich genau verzwanzigfacht. Die Spindeln verteilten sich auf insgesamt 108 Spinnereien, wovon aber nur 21 (mit einer Gesamtspindelzahl von rund 149.000) mit einer Wasserkraftanlage ausgerüstet waren. In 38 „Spinnmühlen“ erfolgte der Antrieb der Maschinen mit Pferdegöpel, allerdings wohl nur der Krempel- und Streckmaschinen, nicht der Mules. 49 arbeiteten ohne jeglichen mechanische oder tierische Antriebskraft. Water Frame-Maschinen wurden auch nach 1806 selten verwendet; 1814 gab es in Sachsen nur 7.546 Water-Spindeln.71 Diese rasante Entwicklung der sächsischen Maschinenspinnerei wird gemeinhin in einen ursächlichen Zusammenhang mit der napoleonischen Kontinentalsperre gebracht. Die Aussperrung des britischen Maschinengarns von den kontinentaleuropäischen Märkten habe es möglich gemacht, dass in Sachsen, in der Schweiz und anderen protoindustriellen Textilrevieren industrielle Entwicklungen in Gang kamen.72 Nun haben wir aber gerade gesehen, dass britisches Maschinengarn in den Jahren zwischen 1807 und 1813 über längere Zeiträume relativ ungehindert nach Leipzig, Plauen und Chemnitz gelangte, ja der Garnimport aus Großbritannien zwischenzeit70 71
72
HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 731 (Loc. 11130/XIV. 1421), o. Bl.: Chemnitzer Fabrikanten an Kommeriendeputation, 17.8.1813; vgl. Kiesewetter, Unternehmen, S. 29. Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 324, 332 ff.; Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 27–34; Kunze, Frühkapitalismus 33; Bein, Industrie, S. 154; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 92–100. Zur Interpretation von Angaben zur Maschinenspinnerei in zeitgenössischen Gewerbestatistiken vgl. Adelmann, Baumwollgewerbe, S. 77. Siehe auch Tabelle 5 im Anhang. Vgl. etwa Crouzet, Wars, S. 574–577; Kiesewetter, Industrialisierung, S. 45.
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lich einen Rekordstand erreichte. Nur 1808 und dann wieder 1811 und 1812 entfaltete die Kontinentalsperre in dieser Hinsicht tatsächlich die intendierte Wirkung. Zunächst einmal sollte man nicht vergessen, dass vor 1808 der Ausweitung der sächsischen Maschinenspinnerei ein wesentliches rechtliches Hindernis entgegenstand: die 1798/99 auf zehn Jahre an Bernhard und Wöhler erteilten landesherrlichen Exklusivprivilegien für den Betrieb von Mule- bzw. Watertwist-Spinnereien. Dieses Monopol hatte den Gebrüdern Bernhard auch in den Zeiten, als englisches Maschinengarn ungehindert importiert werden konnte und in großen Mengen in Chemnitz verkauft worden war, volle Auftragsbücher, reißenden Absatz und ansehnliche Gewinne beschert. Selbst ihren Konkurrenten Wöhler, dessen Privileg auf Watertwist sich als weit weniger lukrativ erwiesen hatte, hatte es vor 1806 mit Macht auf das Feld der Mule-Spinnerei und damit auf ein von den Briten dominiertes Marktsegment gezogen. Auch im Vogtland hatten sich schon in den Jahren nach der Jahrhundertwende wieder Bestrebungen bemerkbar gemacht, nach dem vergeblichen Anlauf zehn Jahr zuvor nun doch die Maschinenspinnerei einzuführen. 1802 wandten sich die Plauener „Innungsverwandten“ an den Kurfürsten mit der Bitte, einen Fonds von 300.000 Talern bereitzustellen, um im Vogtland eine große Maschinenspinnerei zu errichten. Man sei sich mit den Brüdern Bernhard über die käufliche Überlassung eines Maschinenwerks handelseinig geworden. Auf diese Weise hoffte man in Plauen, die bisherige Abhängigkeit vom Import feinen britischen Maschinengarns zu überwinden. Nur so könne man „die Kaufleute und übrigen Innungsverwandten in den Stand setzen, die feinen Musselinwaaren ohne Schaden um wohlfeilere Preiße zu verkaufen, und dadurch neben den Englischen und Schottischen die Messen zu Leipzig und Naumburg besuchenden Kaufleuten, bestehen“. Zudem bestehe die Gefahr, dass in Großbritannien die Ausfuhr der Maschinengarne verboten würde, was dann der „unvermeidliche Todesstoß“ der Plauener Manufaktur wäre.73 Die Dresdner Regierung zeigte allerdings wenig Bereitschaft, sich „auf Landesherrliche Rechnung und Gefahr“ in einem solch kostspieligen Großprojekt zu engagieren. Daher präsentierten die Plauener Innungsverwandten bald einen deutlich abgespeckten „Plan B“: Der Landesherr möge den englischen Techniker Watson, der bislang im Dienst der Bernhards stand, veranlassen, „einen Satz Handmaschinen nach der besten englischen Art“ zu fertigen. Diese Maschinen könnten an einem sicheren Ort verwahrt werden und jedem Innungsmitglied zum Nachbau zugänglich gemacht werden. „Ohnfehlbar würden viele derselben einzelne Maschinen bauen laßen, und wenn nach und nach eine gute Anzahl davon vorhanden wäre, so könne man selbige dem ärmeren Landmanne in einzelnen Unterabtheilungen an Devil, Drawing, Roving, Stretching-Frames usw. übergeben, und dadurch die doppelte Absicht erreichen, daß Verrath der Bauart des Ganzen nicht leicht möglich sey, und daneben bey jeder einzelnen Gattung mehr Geschicklichkeit und Fertigkeit erlangt werden könne.“74 73 74
Zitate: HStAD 10736: Kommerziendeputation Nr. 1543 (Loc. 11142/XIV. 1773), Bl. 22, 27: Bericht an den Kurfürsten, Leipzig, 12.10.1805. Ebd. Bl. 28 f.
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Solche Vorstellungen einer dezentralisierten Maschinenspinnerei stießen bei der Kommerziendeputation allerdings auf starke Skepsis. Deren Bericht an den Kurfürsten im Oktober 1805 äußerte gehörige Zweifel an der Sachkenntnis der Supplikanten. Die verschiedenen Krempel-, Streck-, Vorspinn- und Feinspinnmaschinen seien ein nicht zu trennendes Ganzes. Jede Maschine müsse „der anderen vom Krempeln bis zum Vorspinnen, gleichsam in die Hand arbeiten; und wenn sie mit dem bestens gleichen Nutzen arbeiten sollen, müßen sie in Einem Saale beysammen seyn, folglich auch nur Einem Unternehmer, oder wenigstens Einer zu der Spinnerey Anstalt vereinigten Gesellschaft zugehören.“75
Schließlich lobte die Dresdner Regierung 1807 für den vogtländischen Kreis eine Prämie von einem Taler pro Spindel aus und stellte Vor- und Zuschüsse von jeweils mehreren tausend Talern für den Bau neuer Spinnmühlen in Aussicht. Offenbar war man nun auch bereit, das Privileg der Gebrüder Bernhard vor der Zeit auslaufen zu lassen, nachdem diese in Berlin mit finanzieller Unterstützung des preußischen Staates eine weitere Mule-Spinnerei in Betrieb genommen hatten. Die Spindelprämie war auf drei Jahre bis Mitte 1810 beschränkt. Dieser Anreiz bewirkte immerhin, dass sich im Vogtland eine Maschinenspinnerei entwickelte, die, was ihre Spindelkapazitäten angeht, bis 1809/10 mit der des erzgebirgischen Reviers gleichzog. In Chemnitz hatte weder der Ablauf der Exklusivprivilegien noch der Ende 1807 einsetzende Mangel an britischem Importgarn zum Ausbau der Produktionskapazitäten geführt. Die etwas mehr als 3000 neuen Spindeln, die hier zwischen Sommer 1807 und Herbst 1809 installiert wurden, gingen ganz überwiegend auf Erweiterungsbauten der Harthauer Spinnerei der Bernhards zurück. Die Kontinentalsperre wirkte in dieser Phase eher kontraproduktiv für eine Industrialisierung der sächsischen Spinnerei. Es ging nämlich nicht allein die Zufuhr britischen Garns zurück, sondern auch die Versorgung mit überseeischer Rohbaumwolle geriet ins Stocken.76 Das Spinnereiunternehmen der Bernhards war im Laufe des Jahres 1806 in Schwierigkeiten geraten, als sich die Zufuhr „gelber“ Baumwolle verknappte und gleichzeitig größere Mengen britisches Garn in reduzierten Preisen auf den Markt kamen. Man behalf sich in der Folgezeit mit Mischungen „gelber“ und „weißer“ Baumwollsorten, musste dabei aber in Kauf nehmen, gröberes Garn als bisher zu spinnen. 1807 erhielten die Gebrüder Bernhard eine größere Lieferung hochwertiger Baumwolle, für deren Einkauf sie mit Hilfe ihrer Bankverbindungen in Berlin ein Kapital von 60.000 Talern mobilisiert hatten. Nun konnte die Harthauer Spinnmühle den Feinheitsgrad ihrer Maschinengarne wieder von Nr. 26–36 auf bis zu Nr. 70 steigern. Die Produktionskapazität der Spinnerei wurde auf 13.000 Spindeln hochgefahren. Doch infolge des Versiegens der überseeischen Baumwollimporte reduzierte sich die Zahl der gangbaren Spindeln im Frühjahr 1809 auf 8.000. Die Verfügbarkeit größerer Mengen mazedonischer Baumwolle zu günstigen Preisen 75 76
Ebd. Bl. 29. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1562 (Loc. 11142/XIV. 1778b), Bl. 106 f.: Communicat der Kommerziendeputation an die Landesregierung, 22.7.1807; König, Baumwollenindustrie, S. 321 f.
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wiederum resultierte 1807 noch einmal in einer beträchtlichen Vermehrung des Bestandes an Jenny-Handspinnmaschinen in Sachsen.77 Auf der anderen Seite erreichte der Absatz britischer Maschinengarne in Sachsen gerade während der Initiationsphase des staatlich subventionierten Spinnmühlenprogramms seinen Höhepunkt. Im Januar 1809 warnte Amtmann Dürisch seine Dresdner Vorgesetzten, die Engländer suchten es „möglichst zu verhindern, daß nach Deutschland Baumwolle gebracht werde, bemühen sich aber eifrigst, Garn so viel nur möglich, einzupaschen.“ Dadurch brächten sie die inländischen Spinnmühlen in nicht geringe Verlegenheit, da diese wegen des Mangels und des exorbitanten Preises der „gelben“ Baumwolle nicht mehr konkurrenzfähig seien.78 Erst als sich 1810 die Lage auf dem Chemnitzer Baumwollmarkt entspannte und beinahe gleichzeitig der Zufluss britischen Maschinengarns für längere Zeit austrocknete, begann die „goldene Zeit“ der sächsischen Maschinenspinnerei. Zwischen Herbst 1810 und Herbst 1812 vermehrte sich die Zahl der Baumwollspindeln im Großraum Chemnitz um etwa das Dreieinhalbfache, im Vogtland um mehr als das Doppelte. Insgesamt erhöhte sich der Bestand an Maschinenspindeln in Sachsen in diesem Zeitraum von 72.851 auf 255.904.79 In seinem Halbjahresbericht zu Michaelis 1810 konstatierte Dürisch: „Seit langen Jahren ist bei den Manufacturen und Fabricken kein Gewerbe vorgekommen, welches ohne großes Risico so lucrativ gewesen wäre, als es ietzt die Maschinenspinnerei ist.“ Das Pfund amerikanischer Baumwolle – zu 3/4 aus Georgia oder New Orleans, vermischt mit einem Viertel feiner brasilianischer Bahia- oder Pernambuco-Wolle – koste den Chemnitzer Spinner einen Taler, bei Betriebskosten von 8–10 Groschen. Da er aber das Pfund Garn Nr. 40 für fast den doppelten Betrag verkaufen könne, „so ist es kein Wunder, wenn dieser beträchtliche Gewinn anlockend ist und zu häufigen Speculationen Anlaß giebt.“ Doch war sich der Chemnitzer Amtmann bewusst, dass dieser Boom einen Pferdefuß hatte: „Freilich ist die ganze Speculation ietzt darauf berechnet, daß keine englischen Garne weiter hergebracht werden sollen.“80 Dass die Chemnitzer Spinnereibesitzer 1813, als die Kontinentalsperre sich faktisch aufzulösen begann, Alarm schlugen, ist daher aus ihrer Sicht durchaus nachvollziehbar. In wenigen Jahren waren beträchtliche Summen fixen Kapitals in die Anlage von Spinnfabriken investiert worden. Eine größere Spinnmühle, wie sie C. G. Brückner im Mylauer Schloss bauen ließ, erforderte einen Kapitalaufwand von mehr als 30.000 Talern. Die von Becker & Schraps in Altchemnitz erbaute sechsstöckige wassergetriebene Maschinenspinnerei, ein schlossartiges Gebäude
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Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1521 (Loc. 11144, XIII./Nr. 1797), o. Bl.: Bericht Dürisch, 6.10.1806; ebd. Nr. 1522 (Loc. 11147/XIII. 1903), Bl. 95 f.: Bericht Dürisch, 29.9.1807; ebd. Bl. 174: Bericht Dürisch, 6.5.1808; Kiesewetter, Unternehmen, S. 13; König, Baumwollenindustrie, S. 299 f. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1523 (Loc. 11148/XIII. 1937), Bl. 7: Dürisch an Kommerziendeputation, 28.1.1809. Angaben nach König, Baumwollenindustrie, S. 320–323. HStAD 10098: Kommerziendeputation Nr. 1523 (Loc. 11148/XIII: 1937), o. Bl.: Bericht Dürisch, 28.9.1810.
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mit neun Sälen, soll sogar das Dreifache, 96.000 Taler, gekostet haben.81 Je mehr Geld ein Textilunternehmer in solche Anlagen steckte, desto mehr dürfte sich sein geschäftlicher Blickwinkel vom Garnhändler und -verbraucher zum Garnproduzenten verschoben haben. Die Eingabe der Chemnitzer Spinner vom August 1813 war ein deutliches Zeichen dafür, dass sich hier eine neue Interessengruppe formiert hatte. Als Verleger und Kaufleute hatten die Chemnitzer und Plauener Spinnereibesitzer in den vorangegangenen beiden Jahrzehnten zudem leidvolle Erfahrungen mit den Geschäftspraktiken ihrer britischen Konkurrenz gemacht. Nun hatten die Garnexporteure aus London und Manchester mindestens zwei Jahre lang Vorräte auf Helgoland und anderen Handelsstützpunkten angehäuft, die sie mit einem Schlag zu Dumpingpreisen auf die mitteleuropäischen Märkte zu werfen drohten. Alles in Allem präsentiert sich die sächsischen Maschinenspinnerei in der napoleonischen Zeit aber kaum als elementar schutzbedürftige Industriebranche, die nur unter den Bedingungen rigider Abschottung nach außen entstehen und auf Dauer bestehen konnte. Zum Einen spielte etwa der technologische Rückstand gegenüber der britischen Maschinenspinnerei selbst in der Chemnitzer Petition bei der Begründung von Schutzmaßnahmen argumentativ keine Rolle. Vielmehr wurden die englischen Garne in einem Atemzug mit den Erzeugnissen der Elberfelder und Berliner Spinnmühlen genannt, deren technischer Standard sich wenig von dem der Chemnitzer und vogtländischen Spinnereien unterschieden haben dürfte. Zum Anderen schuf die Kontinentalsperre ungestörte Wachstumsbedingungen tatsächlich nur für den kurzen Zeitraum, während dessen die überseeische Rohstoffzufuhr halbwegs gesichert, die britischen Maschinengarne effektiv ausgesperrt und die Nachfrage der weiterverarbeitenden Branchen einigermaßen lebhaft war. Schon im Sommer 1812, lange bevor die britische Konkurrenz mit Macht auf den mitteleuropäischen Garnmärkte zurückkehrte, begann sich die Konjunktur für die sächsische Maschinenspinnerei einzutrüben. Die Krise der heimischen Baumwollweberei und Strumpfwirkerei, auf die im nächsten Abschnitt noch näher einzugehen sein wird, hatte einen spürbaren Nachfragerückgang nach Baumwollgarnen im Gefolge.82 Die Blütezeit der sächsischen Maschinenspinnerei während der Kontinentalsperre, die im kollektiven Gedächtnis der Zeitgenossen wie der Geschichtsschreiber beschworen worden ist, dauerte demnach nicht länger als zwei Jahre und sie trug nur zu deutlich die Züge einer Spekulationsblase. Die Rohstoff- und Halbwarenversorgung der Baumwollgarn verarbeitenden sächsischen Exportgewerbe lässt sich in der Zeit zwischen Mitte der 1790er Jahre und 1814 – cum grano salis – auf eine recht einfache Formel bringen: Der Bedarf der Weberei und Strumpfwirkerei an einfacheren stärkeren Gespinsten konnte im allgemeinen wesentlich nachhaltiger gedeckt werden als die Nachfrage nach hochwertigen und feineren Garnsorten. Die kriegsbedingten Störungen der transatlantischen Handelswege, ebenso die Absperrungsmaßnahmen gegen den britischen Ex81 82
Vgl. die Lebenserinnerungen Brückners in: Forberger, Revolution I/1, S. 497; Sächsischer Fabrik- und Gewerbefreund Nr. 1, Oktober 1836, S. 2. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1524 (Loc. 11154/XIII. 2034), Bl. 145: Bericht Dürisch, 30.9.1812.
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porthandel verteuerten und verknappten für kürzere oder längere Zeiträume sowohl die Zufuhr amerikanischer Rohbaumwolle als auch den Import britischen Maschinengarns. Dagegen war die Beschaffung der südosteuropäischen und vorderasiatischen Baumwolle zwar auch immer wieder mit Schwierigkeiten verbunden. Doch im allgemeinen fand die „weiße“ Baumwolle aus Mazedonien und Kleinasien verlässlicher und zu stabileren Preisen ihren Weg nach Sachsen als die amerikanische „gelbe“ Baumwolle. Die mazedonische und Smyrnaische Rohwolle eignete sich aber vornehmlich für die Fertigung fester Garne in den unteren Nummern des Feinheitsspektrums. Sie konnte zwar ohne weiteres auf dem Handspinnrad oder der Spinning Jenny verarbeitet werden. Doch die Verspinnung auf den kraftgetriebenen Mules gestaltete sich zunächst mühsam und wenig wirtschaftlich. Zudem war die sächsische Spinnerei, selbst wenn sie ausreichend mit überseeischer Baumwolle versorgt war, vorerst nicht in der Lage, ähnlich feines Garn zu spinnen wie die Maschinenspinnereien in Lancashire und Glasgow. Nur wenige der im Erzgebirge errichteten Spinnmühlen fertigten Garne von einem Feinheitsgrad über 40 – auch in Zeiten, in denen sie vor der britischen Konkurrenz rundum geschützt waren. Im Vogtland, wo man für die dort gefertigten leichten Gewebe wesentlich feineres Gespinst benötigte, wurden seit 1807 im allgemeinen Garnstärken zwischen Nr. 40 und Nr. 60 hergestellt. Die Spinnerei des Kaufmanns Heubner in Plauen kam auf einen Feinheitsgrad von 80. Damit hatten die vogtländischen Spinnereien um 1810 in etwa den Standard der traditionellen Handspinnerei des Reviers erreicht und diese endlich überflüssig gemacht. Bei allen hochwertigeren Musselin-Artikeln waren die Plauener Verleger und Webermeister nach wie vor auf britisches Importgarn angewiesen.83 Im Plauener Revier trug die unsichere Versorgungslage in den feineren Garnsorten dazu bei, dass sich die Musselinweberei auch im Jahrzehnt nach 1804 nicht mehr recht erholte. Beim kurzen Boom von 1810, als der Ausstoß der vogtländischen Baumwollwarenmanufaktur noch einmal die Produktionsziffern der frühen 1790er Jahren erreichte, trafen für einen kurzen Zeitraum eine günstige Versorgungslage mit britischem Maschinengarn und gelber Baumwolle zusammen mit der Aussperrung der britischen Konkurrenz von wichtigen Märkten. Die Garn verarbeitenden Branchen des erzgebirgischen Kreises waren dagegen offenbar weniger von überseeischen Rohstoffen und ausländischen Halbwaren abhängig. Demnach müssten für die Baumwollwarenproduzenten und -verleger des Chemnitzer Reviers günstigere Voraussetzungen als im Vogtland bestanden haben, die doppelte Herausforderung von beginnender Industrialisierung und kriegsbedingten Marktstörungen zu bewältigen.
83
Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1562 (Loc. 11142/XIV. 1778b), Bl. 176 f.: Christian Friedrich Weller, Amt Plauen, an Kommerziendeputation, 15.4.1809.
3.3 Die Baumwollwarenmanufaktur des Chemnitzer Reviers
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3.3 DIE BAUMWOLLWARENMANUFAKTUR DES CHEMNITZER REVIERS 3.3 Die Baumwollwarenmanufaktur des Chemnitzer Reviers Produktwechsel als Krisenstrategie In seinen regelmäßigen Halbjahresberichten an die Kommerziendeputation hat Johann Friedrich Carl Dürisch die Vielfalt der Textilwaren, die in Chemnitz und Umgebung hergestellt wurden, in einigen recht handlichen Kategorien zusammengefasst. Nach ihrem Verkaufswert zur obersten Kategorie zählten die feinen Piquées und Wallise, oft Nachahmungen englischer Muster und Qualitäten. Ihnen folgten auf einer mittleren Qualitätsstufe die Cattonaden, Cannevase und feinen Kattune. Schließlich waren die „ordinairen“ Kattune, Barchente und Tücher zu einer dritten Gruppe von eher geringwertigen Geweben zusammengefasst. Nach der Statistik der Chemnitzer Schauanstalt hielt sich die Fertigung dieser drei Sammelkategorien von Baumwollstoffen noch Mitte der 1790er Jahre mengenmäßig in etwa die Waage. So registrierte Dürisch für 1793 über 19.000 Stück feine Piquées und Wallise, für die Baumwollstoffe der mittleren Kategorie etwas mehr als 14.000 und für die einfachen Gewebesorten rund 20.000 Stück. Drei Jahre später bewegten sich die drei Produktgruppen quantitativ zwar insgesamt noch in ähnlichen Dimensionen. Doch hatten sich Relationen zwischen ihnen insofern verschoben, als die von der Chemnitzer Schau registrierten „englischen“ Artikel auf 15.000 Stück zurückgegangen waren. Die anderen beiden Kategorien hatten dagegen mengenmäßig mehr oder minder deutlich zugelegt.84 Die Chemnitzer feinen Webereiartikel hatten ähnliche Probleme, sich am Markt zu behaupten, wie die Plauener Musseline. Seit den Frankfurter und Leipziger Frühjahrsmessen 1796 bot die britische Konkurrenz solche Waren oft zu deutlich geringeren Preisen an. Bereits am Ende der 1790er Jahre begannen die Chemnitzer Baumwollwarenverleger ihr Produktprogramm umzustellen. Statt hochpreisiger Baumwollstoffe ließen sie Artikel herstellen, die auf andere Marktsegmente zielten: bunte Tücher, halbseidene Stoffe, einfache Kattune. Am Vorabend der Kontinentalsperre wurden nur noch ein Drittel der Menge an feinen Piquées und Wallisen – weniger als 5000 Stück – von den Chemnitzer Schaumeistern gestempelt wie zehn Jahre zuvor. Die mittlere Qualitätskategorie der Cattonaden, Canevase und feineren Kattune (einschließlich der halbseidenen Stoffe) bewegte sich noch auf einem ähnlichen Stand wie Mitte der 90er Jahre. Dagegen hatte sich die Stückzahl der einfachen Kattune und ähnlicher Gewebe im gleichen Zeitraum auf über 53.000 erhöht, demnach gegenüber dem Stand von 1796 mehr als verdoppelt. In den folgenden Jahren setzten sich diese Tendenzen in massiver Weise fort. Die Fertigung hochwertiger Baumwollstoffe hörte in Chemnitz fast ganz auf. Die Schauregister wiesen für 1811 noch ganze 188 Stück feine Piquées und Wallise auf. Die Menge der mittelfeinen Baumwoll- und Halbseidenartikel, die in Chemnitz und Umgebung hergestellt wurden, fiel nach 1807 auf etwa die Hälfte des vorherigen Niveaus. Dagegen 84
Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1517 (Loc. 11131/XIII. 1454), Bl. 6: Bericht Dürisch, 28.4.1795; ebd. Bl. 159: Bericht Dürisch, 6.5.1797; siehe auch Tabelle 3 im Anhang.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
setzte sich die Ausbreitung der einfachen Kattunweberei – vor 1800 eine Domäne der Dorfweber – unvermindert fort. In den Jahren 1809 und 1810 überschritt die Stückzahl der im Chemnitzer Revier registrierten einfachen Baumwollgewebe jeweils die Marke von 100.000.85 Die Hinwendung der Verlagskaufleute und Webermeister des Chemnitzer Reviers zu den einfacheren Qualitäten hatte wohl zunächst einmal mit der Versorgung von Rohmaterial und Halbwaren zu tun. Auf der einen Seite verfügte die britische Konkurrenz bei der Fertigung feiner und hochpreisiger Baumwollwaren seit den 1790er Jahren mit dem Mule-Garn über ein Halbfabrikat, das sowohl qualitativ als auch preislich den in Sachsen gefertigten Gespinsten überlegen war. Zwar konnten bald auch die Chemnitzer Weber auf das Maschinengarn aus Lancashire und Lanarkshire zurückgreifen, doch zu einem höheren Einkaufspreis als ihre britischen Kollegen. Die nach 1800 zunehmend häufiger auftretenden Engpässe bei der Versorgung mit feinen britischen Garnen und langfaseriger überseeischer Baumwolle verschlechterten die Wettbewerbsposition der sächsischen Baumwollwarenmanufaktur, was die feinen Piquées und Wallise anging, weiter. Die sächsischen Mule-Spinnereien wiederum waren offenbar bis zum Ende der Kontinentalsperre nicht in der Lage, feinere Garne in genügender Menge, ausreichender Qualität und zu konkurrenzfähigen Preisen herzustellen. Auf der anderen Seite bot die an sich weniger einträgliche Kattunweberei unter diesen Bedingungen den Chemnitzer Webern und Verlegern einige Vorzüge, die ihren Erzeugnissen gegenüber britischen Baumwollwaren ähnlicher Qualität Wettbewerbsvorteile verschafften oder doch leichter deren Konkurrenz aushalten ließen. Bei den einfachen Druckkattunen schlug sich der Übergang zur Maschinenspinnerei längst nicht in dem Maße auf den Rückgang der Verkaufspreise nieder wie bei den feineren Baumwollstoffen. Nach britischen Schätzungen befanden sich einfache Rohkattune 1815 nominal noch auf einem ähnlichen Preisniveau wie um 1770, während die feineren Qualitäten um bis zum einem Drittel weniger kosteten. Musseline gingen noch wesentlich stärker im Preis zurück. Der Wettbewerbsvorteil, den die günstigere Versorgung mit Maschinengarn der britischen Baumwollweberei verschaffte, war im allgemeinen um so geringer je stärkeres Garn verwendet wurde.86 Darüber hinaus konnte die erzgebirgische Kattunweberei (und Strumpfwirkerei) auf Rohstoffe zurückgreifen, deren Zufuhr zwischen 1795 und 1815 im Vergleich zum Import der amerikanischen Baumwolle auf einem relativ soliden Fundament stand. Für die Fertigung dieser Artikel genügte die preiswerte mazedonische und Smyrnaische kurzfaserige Baumwolle vollkommen. Zudem war die billige „weiße“ Rohbaumwolle bei den niedrigen Garnnummern für die Jenny-Spinnerei zunächst besser geeignet als für die Mule- oder Water-Spinnerei. Die kraftgetriebene Maschinenspinnerei stellte nämlich zunächst relativ hohe Anforderungen an die Qualität der Baumwolle und verbrauchte mehr Rohwolle als die Verspinnung mit der Jenny. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang es schließlich auch den erzgebirgischen Maschinenspinnereien, für die einfacheren Qualitäten Baumwol85 86
Vgl. die Tabellen 2 und 3 im Anhang. Vgl. Harley, Prices, S. 50, 67 f.; Hudson, Limits, S. 344 f.
3.3 Die Baumwollwarenmanufaktur des Chemnitzer Reviers
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len aus Mazedonien und Kleinasien zusammen mit den amerikanischen Sorten zu verspinnen.87 Die verstärkte Konzentration auf die Herstellung von schweren, robusten Kattunstoffen bot wegen der Relation von Transportspesen und Verkaufspreisen einen gewissen Schutz vor der britischen (und Schweizer) Konkurrenz. Je schwerer und geringwertiger die Baumwollwaren desto weniger lohnte sich der Transport über weite Entfernungen, zumal, wenn über längere Strecken der Landweg benutzt werden musste. Auch deshalb hielten sich die Chemnitzer Kattune auf den Leipziger Messen und anderen Umschlagplätzen des mitteldeutschen Raums selbst in Zeiten, in denen englischen Waren der Weg dorthin offen stand, deutlich besser als die Plauener Musseline. „Unsere Manufakturen“, so fasste eine 1811 erschienene Druckschrift diese Entwicklung zusammen, „konnten in ordinairen und mittelfeinen Waaren … auch selbst mit den Engländern Concurrenz halten, da sie den weit wohlfeileren Arbeitslohn gegen den in England genossen. Russen, Polen und Griechen kauften unsere Waaren der Art sehr häufig, und unsere Manufakturisten machten darin oft große Messen, trotz der überhäuften Englischen Lager.“88
Der Aufstieg der Chemnitzer Kattundruckerei Der Aufschwung der „ordinairen“ Baumwollwarenherstellung im Chemnitzer Revier stand offenbar in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Textildruckerei. Die Kattunweberei war zu großen Teilen letztlich Zuliefergewerbe der Druckereien, die gewöhnlich die rohen Gewebe abnahmen, sie bleichen ließen, bedruckten und meist auf eigene Rechnung vermarkteten. 1790 hatte es in Chemnitz sechs Druckereien gegeben, die in diesem Jahr zusammengenommen 36.530 Stück Kattun bedruckt hatten. Zehn Jahre später waren es schon 14 Druckereien mit einer Jahresproduktion von 96.946 Stück. 1810 hatte sich der jährliche Ausstoß noch einmal fast verdoppelt (187.407 Stück).89 Zudem entstanden Kattundruckereien auch in den kleineren Städten des Chemnitzer Einzugsgebiets. In Frankenberg war die erste Druckerei schon 1778 gegründet gegründet worden; 1809 gab es dort zehn solcher Betriebe mit einem Jahresausstoß von zusammengenommen 46.500 Stück. Auch in Mittweida, Penig, Hohenstein, Ernstthal, Oederan und anderswo fasste dieses Gewerbe Fuß.90 Ursprünglich überwiegend von unternehmenden Handwerksmeistern gegründet, zog die Chemnitzer Kattundruckerei in ihrer Expansionsphase verstärkt kapitalkräftige Unternehmer mit kaufmännischem Hintergrund an. So erwarb der Senftenberger Kaufmann Christian Gottfried Seeber 1798 die Firma B. G. Pflugbeil & Comp., eine der ältesten Chemnitzer Kattundruckereien. Die Kaufleute Christian Gottlieb Becker 87 88 89 90
Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 336. Ansicht einiger Hauptzweige, S. 93 f. Zahlen nach: Meister, Führer, S. 44; Scholz, Kattundruckerei, S. 144 f. Vgl. Meister, Führer, S. 34 f., 43 f.; Scholz, Kattundruckerei, S. 144 f.; Kurrer, Zeugdruckerei, S. 12–19; König, Baumwollenindustrie, S. 273 f.; Mittheilungen Industrieverein 1839, S. 23, 29.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
und Johann Gottlob Schraps übernahmen zwei Jahre später die Druckerei C. G. Seiferth und bauten sie zu einem (nach zeitgenössischen Maßstäben) Großbetrieb aus. Neue Druckereiunternehmen wurden oft in Partnerschaft von Handwerkern und Kaufleuten gegründet. Schon Mitte der 1790er Jahre beschäftigten vier Chemnitzer Textildruckereien jeweils mehr als 100 Arbeiter. Ein Teil dieser Unternehmen unterhielt einen eigenen Webereiverlag oder ihre Besitzer waren schon zuvor als Verleger tätig gewesen. Aus den Reihen der Kattunfabrikanten kamen nach 1807 die Gründer von einigen der größten Baumwollspinnereien des Chemnitzer Raums. Hier formte sich um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine Fabrikunternehmerschaft, die beträchtliches Kapital in Produktionsanlagen festlegte und verschiedene Stufen des Herstellungsprozesses, wo nicht in einem Betrieb zusammenfasste, so doch unternehmerisch koordinierte: Spinnerei, Verlagsweberei, Bleiche, Druckerei und Appretur.91 Die massive Ausdehnung der Kattundruckerei des Chemnitzer Reviers seit den 1790er Jahren erscheint insofern erklärungsbedürftig, als gerade sie offensichtlich in direkter Konkurrenz mit einer Boombranche der frühen britischen Baumwollindustrie stand. Ähnlich wie die Muslins waren auch die schottischen und englischen Calicos in den 1770er und 80er Jahren auf die Märkte vorgedrungen, die bislang von indischen und kontinentaleuropäischen Erzeugnissen bedient worden waren. Zudem war hier der produktionstechnische Vorsprung der Briten besonders stark ausgeprägt, da er sich nicht allein auf die Garnversorgung, sondern auch auf den Kern des Herstellungsprozesses – die Druckerei selbst – bezog. Auf der britischen Insel hatte der Walzenrotationsdruck seit seiner erstmaligen Anwendung in einem Londoner Betrieb 1783 die Textildruckerei zunehmend mechanisiert. Die Stoffe wurden mittels rotierender Kupferwalzen, die wiederum mit Wasser- oder Dampfkraft angetrieben werden konnten, in fortlaufenden Bahnen bedruckt. Dagegen hatte keine sächsische Kattundruckerei diesen Schritt in die industrielle Fertigung vollzogen. Hier verließ man sich auf das hergebrachte Blockdruckverfahren: Der Drucker und sein Gehilfe legten den Stoff auf einen Tisch aus und bedruckten ihn von Hand mit einer Kupferplatte, in die das Muster seitenverkehrt eingraviert war. Erst als sich der Rotationsdruck in Frankreich, der Schweiz und in Augsburg zu verbreiten begann, wurden Vorstöße aktenkundig, diese Innovation auch in Sachsen einzuführen. 1809 ersuchten die Chemnitzer Kattunfabrikanten Kreyssig und Wiede um ein Privileg für die Aufstellung einer Walzendruckmaschine, zu deren Konstruktion William Whitfield „einiges Räderwerk“ gefertigt hatte. Anscheinend erwies sich diese Maschine aber als nicht recht funktionstüchtig. 1810 traten einige Chemnitzer Kattundruckereibesitzer mit dem Plan an die Kommerziendeputation heran, eine Walzendruckmaschine aus dem Ausland zu besorgen. Man hoffte auf einen staatlichen Zuschuss, da eine solche Maschine rund 8000 Taler koste, ein Aufwand, der für einen einzelnen Unternehmer zu groß sei. Offenbar wurde auch dieses Vorhaben aufgegeben.92 91 92
Vgl. König, Baumwollenindustrie, S. 273, 298; Hahn, Herkunft, S. 105 f.; Uhlmann, Chemnitzer Unternehmer, S. 44 f.; Ein Jahrhundert Baumwollspinnerei Clauß, S. 15 f. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1523 (Loc. 11148/XIII. 1937), Bl. 138: Bericht Dürisch, 29.9.1809; ebd. Bl. 203 f.: Bericht Dürisch, 17.5.1810; ebd. o. Bl.: Bericht Dü-
3.3 Die Baumwollwarenmanufaktur des Chemnitzer Reviers
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Dass die Chemnitzer Kattundruckerei trotz ihres Produktivitätsrückstandes expandieren konnte, lag daran, dass der mechanisierte Walzendruck vorläufig nur bei einfacheren Mustern anwendbar war. Daher war es wohl kein Zufall, dass in Chemnitz vornehmlich Stoffe produziert wurden, die mit Ornamenten und komplexen Mustern bedruckt waren. Zudem konnten die sächsischen Kattunfabrikanten in anderen wichtigen Bereichen des Produktionsprozesses durchaus technologisch mithalten. Die Ablösung der alten Rasenbleiche durch chemische Verfahren setzte in der Chemnitzer Kattundruckerei bereits in den 1790er Jahren ein. Der Chemnitzer Arzt Johann Gottlob Tenner hatte ein Verfahren entwickelt, durch das der Prozess des Bleichens mittels Salzsäure beschleunigt wurde. Amtmann Dürisch setzte sich für den Erfinder nachdrücklich bei seinen Vorgesetzten in Dresden ein und verhalf Tenner zu einem landesherrlichen Darlehen von 400 Reichstalern. Dürisch war es auch, der die Chemnitzer Textilunternehmer für das neue Verfahren zu interessieren suchte. 1792 hielt er in einem Bericht fest, nur wenige der von ihm angesprochenen Kaufleute und Manufakturverleger seien geneigt gewesen, sich mit den Fortschritten in der chemischen Bleiche zu befassen. Nur die Kattundruckereibesitzer hätten sich aufgeschlossener gezeigt. Sie waren es denn auch, die Tenners Erfindung frühzeitig aufgriffen und zur Bleiche von Rohkattunen einsetzten. 1805 schrieb Dürisch, die „Fixbleiche“, habe sich in den vergangenen Jahren so ausgebreitet, „dass sie keiner weiteren Aufmunterung mehr bedarf, und schon auf den Dörfern und in den schönburgischen Bleichen üblich wird“.93 Auch in der Appretur der Stoffe scheint die Diffusion neuer Verfahrensweisen und Techniken und die Adaption britischer, schweizerischer oder Elberfelder Innovationen meist recht zügig vorangegangen zu sein. Die amtlichen Berichte aus Chemnitz vermeldeten in den Jahren nach 1800 immer wieder große Fortschritte bei Druck und Zurichtung der Baumwollstoffe. So hieß es im Jahresbericht für 1802, die Chemnitzer Kattundruckereien fertigten nun viel feinere Stoffe in geschmackvolleren Mustern, in haltbareren und schöneren Farben als früher und hätten in der Appretur große Fortschritte gemacht. Zwei Jahre später berichtete Dürisch über den Einsatz einer neuen Seng-Maschine und die Anwendung englischer Methoden in der Appreturanstalt von Enderly, Oehley & Büttner. Man habe dort verschiedene Gewebearten so geschickt appretiert, dass selbst Kenner getäuscht worden seien und sie „für wirkliche englische Waren“ gehalten hätten. „Gerade diese Appretur hat noch den hiesigen Waaren gefehlt, um den Engländern in feinen Waaren die Concurrenz abzugewinnen“. Schon im Vorjahr hatte der Chemnitzer Amtmann stolz verkündet, die „Fabrication der gedruckten Cattune“ habe sich „seit kurzem so gehoben, daß selbst die Ausländer sie nächst den englischen für die bes-
93
risch, 28.9.1810; Verbong, Printing, S. 197 f.; Baines, Baumwollenmanufactur, S. 108 ff.; Timmins, Change, S. 51; Flik, Textilindustrie, S. 118 ff.; Kunze, Frühkapitalismus, S. 21; Weber, Innovationstransfer, S. 57; Scholz, Kattundruckerei, S. 148. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1521 (Loc. 11144, XIII./Nr. 1797), Bl. 115: Bericht Dürisch, 29.9.1805; vgl. ebd. Nr. 1515 (Loc. 11123/XIII. 1206), Bl. 191: Bericht Dürisch, 25.4.1792; Schlicht, Textilbleichen, S. 151–154; König, Baumwollenindustrie, S. 156 f.; Maschner, Weberei, S. 32; Meister, Führer, S. 47; Ruhheim, Reise, S. 151.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
ten in Europa halten.“94 Solche Erfolgsmeldungen machen aber auch deutlich, dass die englische Kattundruckerei vorerst das Maß aller Dinge blieb. Märkte und Marktzugang bis 1806 Die Produktionsziffern sowohl der einfachen Baumwollweberei als auch ihres bedeutendsten Abnehmers, der Kattundruckerei, deuten auf einen insgesamt recht kontinuierliche Absatzsteigerung dieser Erzeugnisse seit den frühen 1790er Jahren hin: Dies erscheint um so erstaunlicher, als die Bedingungen des Marktzugangs und des Marktwettbewerbs in dieser Periode einem beständigen Wechsel unterworfen waren. In gewisser Weise kam der Chemnitzer Baumwollwarenmanufaktur entgegen, dass dem Export ihrer Erzeugnisse nach Westeuropa und nach Amerika von jeher eine untergeordnete Bedeutung zugekommen war. Nach Spanien waren wegen des Einfuhrverbots baumwollener Textilien vornehmlich Leinenmischgewebe in bescheidenen Quantitäten gegangen. Seit den späten 1790er Jahren konnten die in Chemnitz eingehenden Bestellungen für halbleinene Waren wegen der britischen Seeblockade nicht mehr realisiert werden. Kaum waren die Handelswege nach Spanien wieder offen, verschärfte die spanische Krone im Oktober 1802 das Importverbot für Baumwollwaren, das nun auch Mischgewebe einschloss.95 Dabei schien sich zwischenzeitlich sogar eine viel versprechende Handelsverbindung nach Spanien zu öffnen, als das Cádizer Handelshaus de la Yglesia & Sohn ein Privileg zum Import sächsischer Baumwollwaren erlangte. Dies wäre vor allem der Chemnitzer Kattunweberei zugute gekommen, denn das Importprivileg konnte mit dem Bedarf der neu entstandenen andalusischen Kattundruckerei begründet werden. Offenbar scheiterte aber der Plan schließlich an der Intervention mächtiger Interessengruppen am Madrider Hof. Die staatlich privilegierte Philippinische Handelskompanie, zu deren Direktoren und Teilhabern zahlreiche einflussreiche Adlige gehörten, belieferte nämlich die südspanischen Kattundruckereien mit Rohkattunen. Zudem betrieben die Briten einen mehr oder minder geduldeten Schmuggelhandel mit diesen Stoffen. Der Einfluss der Patrone der Philippinenkompanie und englische Bestechungsgelder hatten, so mutmaßte zumindest Dürisch 1803, die spanische Regierung veranlasst, der Firma de la Yglesia & Sohn das zugesicherte Importprivileg zu entziehen und so die sächsische Konkurrenz auszuschalten.96 Auf dem nordamerikanischen Markt wurden nach der Gründung der USA allenfalls baumwollene Strümpfe in nennenswerten Quantitäten abgesetzt. Nach 94 95
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Zitate: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 113 f.: Bericht Dürisch, 28.4.1803; ebd. Nr. 1521 (Loc. 11144, XIII./Nr. 1797), Bl. 48: Bericht Dürisch, 2.5.1805; ebd. Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 240: Bericht Dürisch, 21.4.1804. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1519 (Loc. 11136/XIII 1623), Bl. 81 f.: Bericht Dürisch, 27.4.1801; ebd. Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 20 f.: Bericht Dürisch, 8.5.1802; ebd. Nr. 785 (Loc. 11141/V. 1725), Bl. 89 f.: Dürisch an Kommerziendeputation, 19.4.1803. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 785 (Loc. 11141/V. 1725); Bl. 85–90: Dürisch an Kommerziendeputation, 19.4.1803.
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1800 wurden in Chemnitz immer mal wieder die Möglichkeiten des Exports in die Vereinigten Staaten diskutiert. Als die französische Regierung 1802/05 entlang des Rheins einige Freihäfen als Entrepộtplätze öffnete, um den Handel nach Nordamerika zu stimulieren, zeigte man auch in Sachsen Interesse. Dürisch berichtete 1803 von einem Besuch amerikanischer Kaufleute in Chemnitz, die die Öffnung der Schelde für einen „Tauschhandel mit sächsischen Waaren“ nutzen wollten. Doch betrachtete die Chemnitzer Verleger- und Kaufmannschaft solche Pläne wegen der Unsicherheit der transatlantischen Handelsrouten und der fehlenden „kaufmännischen Einrichtung“ wohl eher mit Skepsis.97 Frankreich hatte die Einfuhr bedruckter Kattune – Indiennes – schon 1785 auf Betreiben der französischen Ostindienkompanie und der einheimischen Textildruckereien strikt untersagt. Seit Mitte der 1790er Jahre gingen zudem immer mehr mittel- und südeuropäische Absatzmärkte im handelspolitisch stark abgeschirmten französischen Staatsverband auf. Die Einfuhr nach Frankreich, in die linksrheinischen deutschen Gebiete und die Niederlande scheint zwar nicht ganz aufgehört zu haben. Doch beklagten die Chemnitzer Verleger und Exporthändler immer wieder die unberechenbare Auslegung der Einfuhr- und Zollbestimmungen durch die französischen Grenzbeamten.98 Zehn bis 15 Jahre lang bot auch in diesem Falle der italienische Markt eine gewisse Kompensation für den sukzessive Ausschluss von anderen Absatzgebieten. Nach 1790 lieferte das Chemnitzer Revier bedeutende Quantitäten Piquèes und Wallise, Kattune und Strümpfe per Schiff nach Livorno, Genua und Neapel oder auf dem Landweg über die Alpen nach Oberitalien. „Dermalen“, so schrieb Dürisch 1792, „sind die meisten feinen Waaren und Strümpfe nach Italien gegangen, wohin die hiesigen Kaufleute sich ganz neue unmittelbare Wege zu eröfnen [!] angefangen haben.“99 Auch die Koalitionskriege unterbrachen den Export nach Italien offenbar nur kurzzeitig. Von den zwischenzeitlichen Aussperrungen der britischen Baumwollwarenzufuhr in den französisch eroberten Gebieten scheinen die Chemnitzer Kattundrucker und Verlagskaufleute besonders profitiert zu haben. Doch spätestens Mitte 1806 verschlossen sich die Grenzen für die Erzeugnisse des erzgebirgischen Reviers auch hier, als das neue Königreich Italien die Einfuhr sämtlicher Baumwollwaren untersagte. Nur wenn französische Textilien nicht in ausreichender Menge geliefert werden konnten, erhielten die Grenzbeamten Order, ggf. auch
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HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 115: Bericht Dürisch, 28.4.1803; vgl. ebd. Nr. 1520 (Loc. 11144/XIII. 1797), Bl. 27 f.: Bericht Dürisch, 2.5.1805; Messrelationen 1796, zit. nach Hasse, Leipziger Messe, S. 385; Bollinger, Textildruck, S. 152 f. Vgl. Dufraisse, Zollpolitik, S. 329 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1518 (Loc. 11134/XIII. 1546), Bl. 63: Bericht Dürisch, 2.10.1798; ebd. Nr. 1519 (Loc. 11136/XIII. 1623), Bl. 180: Extractus Protocolli Michaelismesse, 8.10.1801; ebd. Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 17: Bericht Dürisch, 8.5.1802. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1515 (Loc. 11123/XIII. 1206), Bl. 186: Bericht Dürisch, 25.4.1792.
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Waren aus anderen Ländern einzulassen. Auf diese Weise fanden vor allem sächsische Strümpfe immer mal wieder Eingang auf die italienischen Märkte.100 In den größeren deutschen Nachbarstaaten, Preußen und Österreich, waren die in Sachsen gefertigten Baumwollwaren schon seit den 1780er Jahren fast durchweg mit Einfuhrverboten belegt. Doch scheinen sich immer wieder Möglichkeiten ergeben zu haben, diese Verbote zu umgehen. Im Falle Preußens konnten baumwollene Stoffe zeitweise über Königsberg eingeführt werden, ein recht umständlicher Transportweg, der aber dennoch von einigen Chemnitzer Handelshäusern genutzt wurde. Selbst der Vertrieb sächsischer Waren über die Messe in Frankfurt an der Oder nach Russland und Polen wurde durch hohe Abgaben behindert.101 Nach Österreich wurden sächsische Baumwollwaren in zunehmend größeren Maßstab über die böhmische Grenze geschmuggelt. So berichtete Amtmann Dürisch 1802 nach Dresden, der Schleichhandel nach Böhmen sei noch nie so verbreitet gewesen. Zwischen Neustadt und Zittau hatten zahlreiche südwestsächsische Textilkaufleute Zweigniederlassungen gegründet, um ihre Waren in großen Transporten „einzupaschen“. „Fast alle Fabrikanten, selbst in denen inneren Oestereichischen Landen, machen Schleichhändler. Sie profitiren beym Verkauf der Sächs. und englischen Waaren weit mehr, als wenn sie solche selbst fabriciren im Stande wären.“102 Allerdings vermeldete Dürisch schon im folgenden Jahr, durch „verschärfte Mautverfügungen“ habe der „Paschhandel“ nach Böhmen und Österreich einen „starken Stoß“ bekommen.103 Wesentlich bedeutsamer für die Chemnitzer Baumwollwarenmanufaktur als der illegale Handel über die böhmische Grenze war der Transitverkehr über die habsburgischen Handelsdrehscheiben Wien und Triest in die südosteuropäischen und vorderasiatischen Gebiete des Osmanischen Reiches. Waren erst einmal die österreichischen Durchfuhrabgaben entrichtet, versperrten weder prohibitive Zölle und Einfuhrverbote noch kriegsbedingte Absperrungen in größerem Maße den Handel. Bis auf einige zeitlich und örtlich begrenzte russisch-türkische Scharmützel blieb der südosteuropäisch-vorderasiatische Raum vor 1806 von kriegerischen Auseinandersetzungen weitgehend verschont. Griechische, armenische und jüdische Kaufleute aus Jassy, Bukarest oder Smyrna gehörten seit Jahrzehnten zu den regelmäßigen Leipziger „Messfieranten“. Über sie lief im Wesentlichen der Export der Chemnitzer Baumwollwaren auf die Märkte des Balkan, Anatoliens und der halbautonomen Donaufürstentümer Moldau und Wallachei. Den Warenabzug zur 100 Vgl. ebd. Nr. 903 (Loc. 11467): Relation Michaelismesse 1796, Bl. 81 f.; ebd. Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 18: Bericht Dürisch, 8.5.1802; Meinert, Handelsbeziehungen, S. 62 f.; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 102 f.; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 80. 101 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1518 (Loc. 11134/XIII: 1546), Bl. 60 f.: Bericht Dürisch, 2.10.1798; ebd. Nr. 1519 (Loc. 11136/XIII. 1623), Bl. 51 f.: Bericht Dürisch, 5.10.1800; ebd. Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 21: Bericht Dürisch, 8.5.1802; Maschner, Weberei, S. 99. 102 Ebd. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 19 f.: Bericht Dürisch, 8.5.1802; vgl. ebd. Nr. 1519 (Loc. 11136/XIII. 1623), Bl. 18: Bericht Dürisch, 3.5.1800; ebd. Bl. 151: Bericht Dürisch, 3.10.1801; ebd. 1523 (Loc. 11148/XIII. 1937), Bl. 6: Bericht Dürisch, 28.1.1809. 103 Ebd. Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII.1679), Bl. 117: Bericht Dürisch, 28.4.1803.
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Levante über die Hafenstadt Triest besorgten meist Triestiner, Wiener und Leipziger Handelshäuser. Seit der zweiten Hälfte der 1790er Jahre scheint der relativ ungehinderte Handelsverkehr mit dem osmanischen Herrschaftsraum die vorübergehend und längerfristig abgebrochenen Verbindungen zu anderen Märkten in gewissem Maße kompensiert zu haben. Vor allem der Absatz bunt gemusterter Kattune aus Chemnitz, wie sie vornehmlich die großen Druckereien von Kreißig & Comp. und der Fa. Gebr. Pflugbeil lieferten, steigerte sich offenbar beträchtlich.104 Allerdings war der Warenabsatz nach Südosteuropa und dem östlichen Mittelmeerraum gerade seit Mitte der 1790er Jahren für die Chemnitzer Textilkaufleute mit erhöhten Risiken verbunden. Dies hatte vor allem mit der Handels- und Finanzpolitik des Habsburgerreiches zu tun. Die orientalischen Kaufleute mussten auf ihrem Weg nach Leipzig wohl oder übel österreichisches Territorium passieren. Dort wurden sie gezwungen, den Großteil der Waren, die sie aus ihren Heimatländern mitbrachten, zu verkaufen. Gewöhnlich erhielten sie dafür Wiener Banknoten, mit denen sie dann ihre Einkäufe in Leipzig bezahlten. Da nun aber Österreich seit den 1790er Jahren die Hauptlast bei dem wenig erfolgreichen Versuch, die militärische Expansion der Franzosen auf dem Kontinent einzudämmen, trug, war das Wiener Papiergeld bald einem mehr oder minder schleichenden Wertverlust ausgesetzt. Ähnliches galt im Übrigen für den Italienhandel, wo ebenfalls gerne in Wiener Banknoten bezahlt wurde und das Wechselgeschäft vornehmlich über die österreichische Hauptstadt lief.105 In den Berichten Dürischs an die Kommerziendeputation häuften sich um 1800 die Klagen über die Folgen der österreichischen Papiergeldinflation. In seinem Rückblick auf das Jahr 1799 konstatierte der Chemnitzer Amtmann, dass „durch die hiesigen Griechen, und von Leipzig, alles mit Wiener Banco-Noten überschwemmt ward. Wer nicht Wiener Banco-Noten … für voll nahm, der konnte nicht verkaufen.“ Zwei Jahre später führte er die Handelsstockungen in den Adriahäfen auf die „daselbst noch coursirenden schlechten kaiserlichen Gelde“ zurück „und weil die dasigen Handels-Häuser nicht anders als auf Wien in Courrent oder Banco-Noten trassiren können oder wollen.“ Kaufleute aus Chemnitz und Plauen, die stark im Levantehandel über Triest und Wien engagiert seien, so hieß es in Dürischs Bericht zur Michaelismesse 1805, hätten wegen des Wiener Geldkurses mehrere tausend Taler verloren. Im Vorfeld der Schlacht von Austerlitz beschleunigte sich die Geldentwertung noch, nachdem die österreichische Armee dazu übergegangen war, ihre Soldaten nur noch mit „Wiener Banco-Noten“ zu entlohnen.106 104 Vgl. Ebd., Bl. 50 f.: Bericht Dürisch, 5.10.1800; ebd. Bl. 93 ff.: Bericht Dürisch, Bericht, 27.4.1801; ebd. Bl. 143: Bericht Dürisch, 3.10.1801; ebd. Nr. 1521 (Loc. 11144/XIII. 1797), Bl. 170: Bericht Dürisch, 24.4.1806; Netta, Handelsbeziehungen, S. 58, 73; König, Baumwollenindustrie, S. 162. 105 Vgl. Netta, Handelsbeziehungen, S. 86; Meinert, Handelsbeziehungen, S. 64, 69; Denzel, Zahlungsverkehr, S. 158. 106 Zitate: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1519 (Loc. 11136/XIII. 1623), Bl. 25: Bericht Dürisch, 3.5.1800; ebd. Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 17: Bericht Dürisch, 8.5.1802; ebd. Nr. 1521 (Loc. 11144/XIII. 1797), Bl. 130: Bericht Dürisch, 12.10.1805; ebd. Bl. 80 f.: Bericht Dürisch, 29.9.1805.
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Nicht allein der Wertverfall der Wiener Banknoten und anderer Papiergeldwährungen machte die Waren- und Geldtransaktionen in der napoleonischen Ära unsicher. Die kriegerisch-politischen Umwälzungen in den beiden Jahrzehnten vor 1815 lösten immer wieder direkt oder indirekt Bankrottkaskaden aus. Man denke etwa an die zahlreichen Insolvenzen und Konkurse polnisch-jüdischer Handelshäuser während der polnischen Teilungen 1793/95 oder an die Welle von Bankrotten an den Finanz- und Handelsplätzen Amsterdam, London und Hamburg zwischen 1795 und 1799. Solche Handels- und Finanzkrisen konnten die südwestsächsischen Exportgewerbe empfindlich treffen. Als etwa nach der Schlacht von Austerlitz und der Besetzung der österreichischen Hauptstadt durch französische Truppen 1805/06 der gesamte Wiener Wechselverkehr suspendiert wurde, brach in Chemnitz Panik aus. Innerhalb einer Woche gingen protestierte Wechsel im Gesamtwert von einer Viertelmillion Gulden ein. Die betroffenen Chemnitzer Kaufleute baten Dürisch, er möge bei der Regierung ein dreimonatiges Moratorium für sie erwirken. Der Amtmann riet ihnen von diesem Schritt „ihres Credits halber“ ab. Es gelang ihm statt dessen, den bedrängten Landsleuten durch „meine Connexiones in Leipzig… billige Nachsicht zu verschaffen“ und bereits eingeleitete Wechselverfahren für einige Wochen aussetzen zu lassen. „Glücklicherweise arrangirte sich auch binnen dieser Zeit alles, die Wiener Häuser deckten oder bezahlten die erst protestirten Wechsel und die hiesigen Handels-Häuser erhielten sich aufrecht.“107 Schon im Jahr zuvor hatte Dürisch die Verunsicherung unter den Chemnitzer Verlegern, Fabrikanten und Kaufleuten eindringlich beschrieben: „Alles hängt jetzt vom Zufall und von der augenblicklichen Benutzung des Zeitpuncts ab. (…) Weder Vorsicht noch Bedachtsamkeit hilft mehr. Sonst war es Thorheit noch so gut einzukaufen, wenn man nicht schon im Voraus eines guten Absatzes versichert war; ietzt muß der Kaufmann und Grosso-Händler größtentheils auf gut Glück einkaufen, ohne die Bedürfnisse und Wünsche seiner Abnehmer zu kennen, und wenn er auch Waaren von bester Qualität und in den leidlichsten Preisen auf dem Lager hatte, so ist er doch bei dem sonst nie erhörten schnellen und oft genug unerwarteten Wechsel der Waaren-Preise, bei der immer noch mehr zunehmenden Handelsmanie und Concurrenz mehrerer Verkäufer, bei den launenhaft und fast täglich wechselnden Moden, bei dem nun gänzlich herabgesunkenen Handels-Credit, der gänzlichen Vernachläßigung der sonstigen gewöhnlichen Achtung für kaufmännische Treue und Glauben,… weder seiner alten Kunden und seines sonstigen Absatzes, noch weniger aber eines wahrscheinlichen Gewinnes gewiß.“108
Die Unsicherheit und der Vertrauensverlust, die durch die in schnellem Wechsel sich ablösenden Krisen des Geld- und Warenverkehrs generiert wurde, schlug sich nicht zuletzt in hohen Diskontsätzen, steigenden Versicherungsprämien und einem allgemeinen Mangel an Kredit nieder. Im Gefolge einer geplatzten Hamburger Spekuationsblase mit Baumwollwaren drehten die involvierten Leipziger Bankiers ihren Chemnitzer Kunden pünktlich zur Michaelismesse 1799 den Kredithahn zu und verweigerten ihnen die für die Aufrechterhaltung ihres Geschäfts benötigten Vorschüsse. In Chemnitz ging man nun daran, den akuten Mangel an Betriebskapital 107 Ebd. Nr. 1521 (Loc. 11144/XIII. 1797), Bl. 171: Bericht Dürisch 24.4.1806. 108 Ebd. Bl. 9 f.: Bericht Dürisch, 29.9.1805.
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durch Ausgabe von lokal kursierenden Geldscheinen notdürftig zu beheben.109 1805 wurde unter den Chemnitzer Textilunternehmern der Ruf nach einer „Leihbank“ nach dem Vorbild der preußischen Seehandlungskompanie laut. Man habe immer wieder die Erfahrung gemacht, „daß die Manufacturen sich gerade am wenigsten auf die Leipziger Banquiers verlaßen können und daß diese dann am weitesten zurücktreten, wenn sie einige Stockung im Gewerbe gewahr werden, oder auch nur vermuthen.“110 Die Krisenanfälligkeit des kaufmännischen Kreditsystems in Sachsen steht wiederum in augenfälligem Kontrast mit der hoch entwickelten finanztechnischen Infrastruktur, auf die britische Verlagsunternehmer, Fabrikanten und Exportkaufleute zurück greifen konnten. Auf der britischen Insel kreuzten sich nach der sukzessiven Ausschaltung, Störung und Zurückdrängung des überseeischen Handelsverkehrs der konkurrierenden europäischen Kolonialmächte mehr denn je die globalen Geld- und Warenströme. Nach England und Schottland flossen nicht allein die Gewinne aus dem Manufakturwaren- und Garnexport zurück, sondern auch die Erlöse aus dem Handel mit überseeischen Rohstoffen und Lebensmitteln, den britische Handelshäuser um 1800 – mit Unterstützung der Königlichen Marine – zunehmend monopolisierten. London hatte sich nach dem plötzlichen Niedergang Amsterdams Mitte der 1790er Jahre als unbestrittene europäische Finanzdrehscheibe und als zentraler Wechselplatz etabliert. All dies verschaffte den britischen Baumwollwarenunternehmern gegenüber ihrer sächsischen Konkurrenz nicht unerhebliche Wettbewerbsvorteile. Der Wechselverkehr über das dicht vernetzte Finanzzentrum London vereinfachte und verbilligte die Zahlungstransaktionen. Die reichhaltigere Versorgung mit kaufmännischem Kredit gab den britischen Exporteuren den finanziellen Spielraum, ihren Kunden wiederum großzügige und langfristige Zahlungsziele zu gewähren. Zudem vollzog sich der Warenaustausch zwischen Großbritannien und wichtigen kontinentaleuropäischen Märkten relativ problemlos in beiden Richtungen. Dies machte sich seit den 1790er Jahren vor allem für den Absatz der kursächsischen Baumwollwarenmanufaktur in Russland und Russisch-Polen negativ bemerkbar.111 Im Gefolge der völligen Aufteilung Polens 1793/95 drohte ein bislang ergiebiger Absatzmarkt für den südwestsächsischen Manufakturwarenexport wegzubrechen. Preußen und Österreich untersagten den Import baumwollener Waren in die 1793/95 annektierten polnischen Landesteile ganz. Die ins Zarenreich eingegliederten Gebiete waren fortan den Schwankungen der russischen Außenhandelspolitik unterworfen. Russland hatte 1789 seine Eingangszölle für Baumwollwaren von 30 auf 60 Prozent verdoppelt und die Einfuhr nur noch zur See über Riga und Petersburg zugelassen. Von nun an hing der Handel mit den östlichen Nachbarländern in weitgehendem Maße davon ab, inwieweit die polnisch-jüdischen Kaufleute gewillt waren, das Risiko auf sich zu nehmen, die Chemnitzer Druckkattune und an109 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1519 (Loc. 11136/XIII. 1623), Bl. 25: Bericht Dürisch, 3.5.1800. 110 Ebd. Nr. 1521 (Loc. 11144/XIII. 1797), Bl. 25 f.: Bericht Dürisch, 2.5.1805. 111 Vgl. ebd. Nr. 781 (Loc. 11147/VI. 1898), Bl. 6–11: Pro Memoria, 17.2.1808.
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dere Baumwollwaren über die Landgrenze einzuschmuggeln. Die „Risikoprämien“ dieses Contrabande-Handels zahlten letztlich auch die sächsischen Manufakturverleger und Kattunfabrikanten. Schon 1796 hielt der Bericht der Kommerziendeputation zur Leipziger Michaelismesse fest, die zur Messe erschienenen Polen und Russen wollten sich bei Barzahlung nur auf äußerst niedrige Preise einlassen. „Waren auf Kredit an sie zu verkaufen – wenn sie gleich solchenfalls gern zu höhern Preißen sich verstünden“ – sei wiederum „ein unkluges und gefahrvolles Unternehmern“. Offenbar hatte die englische Konkurrenz weniger Vorbehalte, ihre Waren auf langfristigen Kredit zu verkaufen.112 In den folgenden Jahren gaben die Chemnitzer Verleger und Fabrikanten ihre vorsichtige Haltung wohl notgedrungener Maßen auf. Zur Michaelismesse 1804 verkauften sie den russischen Händlern größere Mengen an Textilien mit zwölfmonatigem Zahlungsziel. Im Herbst 1805 warteten viele von ihnen vergeblich auf ihr Geld. Ihre Debitoren erklärten ihnen, die im Vorjahr gekauften Waren würden immer noch an der Grenze liegen, einen „günstigen Augenblick zum Einpaschen erwartend“.113 Die Regelung, dass Manufakturwaren nur über die beiden russischen Ostseehäfen ins Land gebracht werden durfte, begünstigte wiederum den britischen Exporthandel vor allem in den Zeiten, in denen die Landgrenzen nachdrücklicher kontrolliert wurden. Für das Zarenreich waren diese Handelsbeziehungen von besonderer Wichtigkeit, da Großbritannien große Mengen an russischen Landesprodukten abnahm. Die britischen Handelsschiffe brachten Manufaktur- und Kolonialwaren nach Petersburg oder Riga und nahmen auf dem Rückweg Rohstoffe und Getreide für ihren aufnahmefähigen und kaufstarken Binnenmarkt mit. Als 1801 die britisch-russischen Handelsbeziehungen nach einer Unterbrechung wieder aufgenommen worden waren, legte Dürisch seinen Vorgesetzten auseinander, mit welcher Leichtigkeit die Engländer diesen Markt zurückerobern konnten. Sobald die russischen Häfen wieder offen waren, hätten die englischen Kaufleute „alle Waaren-Häuser mit ihren Fabricaten“ angefüllt, sie „mit Vortheil abgesetzt“ und sie auch bald verkauft gehabt, „weil sie langen Credit gaben.“ Als Rückfracht wurde vor allem Schiffsbauholz, aber auch Hanf, Flachs, Werg, grobe Leinwand, Potasche, Weizen und Roggen geladen. „Da überhaupt die Kaufleute aus Rußland nicht Fonds, und vorzüglich baares Geld genug hatten, um ihre Manufacturen, während der Zeit als ihr Handel mit England unterbrochen war, aufrecht zu erhalten; so suchten die Engländer alsbald nach dem Frieden durch baare Geld-Sendungen sich des dasigen Producten-Handels im voraus zu versichern.“114
112 Ebd. Nrf. 903 (Loc. 11467): Relation Michaelismesse 1796, Bl. 83. 113 Ebd. Nr. 1521 (Loc. 11144/XIII. 1797), Bl. 124 f.: Bericht Dürisch, 12.10.1805; vgl. ebd. Nr. 1518 (Loc. 11134/XIII. 1546), Bl. 24: Bericht Dürisch, 29.4.1798; ebd. Nr. 1519 (Loc. 11136/ XIII. 1623), Bl. 147: Bericht Dürisch, 3.10.1801; ebd. Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 20 f.: Bericht Dürisch, 8.5.1802; ebd. Nr. 1521 (Loc. 11144/XIII. 1797), Bl. 166 f.: Bericht Dürisch 24.4.1806. 114 Ebd. Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 14 f.: Bericht Dürisch, 8.5.1802.
3.3 Die Baumwollwarenmanufaktur des Chemnitzer Reviers
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Der Chemnitzer Baumwollwarenexport während der „Kontinentalsperre“ Mit dem Beitritt des Zarenreichs zum napoleonischen Kontinentalsystem brach der rege russisch-britische Handelsverkehr über die Ostsee ab. Seit September 1807 sperrte Russland seine Einfuhrhäfen für britische Schiffe und Waren. Es kamen zwar immer noch britische Manufakturwaren ins Land, aber nur in kleinen Mengen und auf verschlungenen Pfaden. Ähnlich galt wohl auch für die Einbringung englischer und schottischer Kattune und andere Textilien in den übrigen von den französischen Sperrmaßnahmen betroffenen kontinentaleuropäischen Gebieten. Dies war nicht zuletzt die Folge einer Umorientierung der Absatzstrategien der britischen Textilexporteure. Während nämlich die Baumwollspinner aus Manchester und Glasgow wohl oder übel versuchen mussten, ihre Garne auf den Kontinent einzuschleusen, öffnete sich für die Konsumwarenhersteller in den neu geöffneten Märkten der spanischen und portugiesischen Kolonien Süd- und Mittelamerikas eine attraktive Alternative zum mit zahlreichen Transaktionsrisiken befrachteten Schmuggelhandel nach Deutschland, Holland oder Italien.115 Nutznießer dieser Entwicklung waren nicht zuletzt die Chemnitzer Baumwollwarenverleger und Kattunfabrikanten. Sie konnten nun hoffen, die zuvor von der englischen Konkurrenz gehaltenen Marktanteile zu übernehmen, zumal sich die Zugangsbedingungen zu den osteuropäischen Märkten in den folgenden Jahren spürbar verbesserten. Die russische Grenze wurde nun wieder durchlässiger für sächsische Textilien. Mit der Etablierung des Großherzogtums Warschau unter der zumindest nominellen Herrschaft des neuen Königs von Sachsen stand der südwestsächsischen Baumwollwarenmanufaktur ein größerer Absatzmarkt zu Vorzugsbedingungen offen. Doch auch nach der erzwungenen Räumung der kontinentaleuropäischen Märkte durch die Hersteller aus Glasgow und Manchester blieben Produktion und Absatz der sächsischen Baumwollwaren sehr volatil. Es gelang den Chemnitzer Verlagskaufleuten und Kattundruckereibesitzern offenbar nicht, die volle Bandbreite des britischen Baumwollwarensortiments zu ersetzen. Die Chemnitzer Produktionsziffern verweisen darauf, dass sich zwar die Herstellung von einfachen Kattunen und Canevassen von Michaelis 1807 bis Michaelis 1808 gegenüber den beiden Vorjahren gesteigert hatte (von 54.180 bzw. 60.385 auf 67.697 Stück). Doch gleichzeitig hatten die Chemnitzer Weber deutlich weniger feinere Baumwollstoffe gefertigt. Bei den mittleren Qualitätsstufen gingen die Produktionsziffern von über 27.000 Stück auf rund 22.600 und schließlich 1807/08 auf unter 20.000 Stück zurück. Die Piquèe-Weberei war 1807/08 weiter marginalisiert worden.116
115 Vgl. Williams, Policy, S. 171 f.; König, Baumwollenindustrie, S. 210, 237 f. 116 Berechnet nach Angaben bei: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1521 (Loc. 11144/ XIII. 1797), o. Bl.: Bericht Dürisch, 6.10.1806; ebd. Nr. 1522 (Loc. 11147/XIII. 1903), Bl. 21: Bericht Dürisch, 26.4.1807; ebd. Bl. 83: Bericht Dürisch, 29.9.1807; ebd. Bl. 161: Bericht Dürisch, 29.9.1807; ebd. o. Bl.: Bericht Dürisch, 9.10.1808; Maschner, Weberei, S. 111–114. Siehe Tabelle 2 im Anhang.
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Bestellungen auf Piquèes waren zwar auch in Chemnitz eingegangen, doch fast alle Verleger und Verlagsweber hatten sich mittlerweile von dieser ehemaligen lokalen Spezialität abgewandt. Nennenswerte Vorräte waren nicht mehr vorhanden und die Weber hatte ihre Stühle längst auf andere Stoffe umgerüstet. Statt dessen ernteten die Glauchauer Verlagskaufleute, die an den Piquèes festgehalten hatten, nun fürs erste die Früchte der neuen Absatzmarkt-Ordnung. Insgesamt waren aber die Vermarktungschancen der sächsischen Baumwollweberei für diesen Artikel trotz des weitgehenden Wegfalls der britischen Konkurrenz eher beschränkt. Die italienischen Märkte, ehedem die wichtigsten Umschlagsplätze für Chemnitzer Piquèes, schlossen sich seit 1806 für sächsische Baumwollwaren fast ganz. Andere hochwertige Baumwollgewebe waren zwar weiterhin begehrt, doch setzte ihre Herstellung eine ausreichende Versorgung mit „gelber“ Baumwolle oder britischem Maschinengarn voraus. Die Manufaktur halbseidener Waren hatte ebenfalls mit Rohstoffproblemen zu kämpfen.117 Die Hochkonjunktur in der Chemnitzer Baumwollwarenmanufaktur wurde bereits im Laufe des Jahres 1808 von einem Absatzeinbruch abgelöst. Die Produktion der Kattundruckereien fiel gegenüber dem Vorjahr um ein gutes Viertel, die der feineren Webwaren halbierte sich glatt.118 Die weitgehenden Blockademaßnahmen der kontinentaleuropäischen Staaten gegen den britischen Manufakturwarenimport bescherten den sächsischen Baumwollerzeugnissen zwar einen beträchtlichen Marktvorteil. Ob aber die Chemnitzer Verlegerkaufleute und Kattunfabrikanten in der Lage waren, diesen Vorteil auch tatsächlich zu nutzen, hing von einer ganzen Reihe von Unwägbarkeiten ab. Um die sich neu eröffnenden Marktchancen gewinnbringend zu realisieren, bedurfte es einmal einer verlässlichen Versorgung mit preiswerten und hochwertigen Rohstoffen und Halbprodukten. Der „kalte“ Handelskrieg zwischen Großbritannien und seinen ehemaligen nordamerikanischen Kolonien wie der britische Militärschlag gegen die dänische Flotte sorgten dafür, dass die Zufuhr an überseeischer Baumwolle, Farbstoffen und anderen Kolonialwaren nach Sachsen verebbte. Gleichzeitig begann die napoleonische Kontinentalsperre effektiver zu greifen. Der Import englischen Maschinengarns ging spürbar zurück.119 Nachdem aber im Laufe des Jahres 1809 die US-amerikanische Handelsflotte ihre transatlantischen Kolonialwarentransporte wieder aufgenommen hatte, entspannte sich die Versorgungslage der Chemnitzer Baumwollweberei und Kattundruckerei wieder merklich. Eine vorübergehende Lockerung der französischen 117 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1522 (Loc. 11147/XIII. 1903), Bl. 21: Bericht Dürisch, 26.4.1807; ebd. Bl. 79 f., 161: Bericht Dürisch, 29.9.1807; König, Baumwollenindustrie, S. 285. 118 1807: 134.649 Stück; 1808: 102.335; 1809: 139.071. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1523 (Loc. 11148/XIII. 1937), Bl. 35: Bericht Dürisch, 29.4.1809; ebd. Bl. 109: Bericht Dürisch, 17.5.1810; sowie Tabelle 2 und 3 im Anhang. 119 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1522 (Loc. 11147/XIII. 1903), o. Bl.: Bericht Dürisch, 9.10.1808; ebd. Nr. 1523 (Loc. 11148/XIII. 1937); ebd. Bl. 31 ff.: Bericht Dürisch, 29.4.1809; ebd. Bl. 105–109: Bericht Dürisch, 29.9.1809; ebd. Bl. 161: Bericht Dürisch, 17.5.1810; König, Baumwollenindustrie, S. 277 ff.
3.3 Die Baumwollwarenmanufaktur des Chemnitzer Reviers
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Kontinentalsperre brachte auch wieder englisches Garn in großen Quantitäten nach Leipzig, Chemnitz und Plauen. Die britischen Textilexporteure fanden dagegen für ihre Baumwollstoffe allenfalls an der europäischen Peripherie Eingang – und waren im übrigen damit beschäftigt, Märkte in Lateinamerika zu erschließen. So erlebte die Chemnitzer Baumwollwarenmanufaktur 1809/10 ihr Annus Mirabilis. Verleger und Kaufleute wurden mit Bestellungen aus vielen Teilen des europäischen Kontinents so überhäuft, dass sie Schwierigkeiten bekamen, auch nur den größeren Teil dieser Aufträge ausführen zu lassen. Auf den Messen in Leipzig, Braunschweig oder Naumburg leerten sich ihre Lager im Nu. Es waren allerdings vor allem die Kattundruckereien, die von dem Boom profitierten, und zwar überwiegend in den einfacheren Qualitäten. Die Chemnitzer Produktionsziffern für die feineren Webwaren und hochwertigeren Druckkattune stiegen zwar wieder etwas. Doch selbst während des Booms erreichten sie das Niveau der Jahre vor 1807 nicht einmal annähernd.120 Schon im Herbst 1810 trübte sich die Konjunktur erneut ein. Eine neue Welle von Abschließungsmaßnahmen versperrte nun den sächsischen Manufakturerzeugnissen den Zugang zu wichtigen Märkten. Das russische Reich machte wieder einmal einen Anlauf, seine Landgrenzen gegen die Einfuhr fremder Baumwollwaren zu sperren und kommandierte 90.000 Soldaten ab, um dem Ukas des Zaren Geltung zu verschaffen. Auf der anderen Seite hatten sich die britisch-russischen Handelsbeziehungen wieder belebt. Über die Ostsee und den Schwarzmeerhafen Odessa, meist auf Schiffen unter neutraler Flagge, war der Austausch russischer Landesprodukte gegen britische Manufaktur- und Kolonialwaren wieder in Gang gekommen. Zur Michaelismesse 1810 berichtete die Kommerziendeputation, die russischen Messfieranten würden nur noch nach Artikeln fragen, in denen ein Wettbewerb mit den Briten kaum oder gar nicht stattfinde, wie etwa bestimmten Seiden-, Leinenoder Wollgeweben. Dagegen würden Baumwollstoffe von ihnen fast gar nicht mehr verlangt. Diese immer offenere Durchbrechung des „Kontinentalsystems“ führte schließlich geradewegs zu Napoleons russischem Feldzug von 1812.121 Auch im Westen schlugen sich nun die Wendungen der „großen Politik“ eindeutig negativ auf den sächsischen Textilexport nieder. Die formale Einverleibung Hollands, Nordwestdeutschlands und der Hansestädte in den französischen Staatsverband 1810 hatte zur Folge, dass nun auch diese Gebiete dem rigiden Protektionismus des napoleonischen Regimes unterworfen waren. Beinahe alle ausländischen Manufakturwaren unterlagen nun einem Einfuhrverbot. Die Errichtung einer bewachten Zollgrenze quer durch Nordwestdeutschland im Sommer 1811 verlieh diesem Verbot faktische Geltungskraft. Die französische Douanenlinie versperrte den sächsischen Baumwollwaren mit einem Schlag den Zugang zu wichtigen Absatzgebieten und Handelswegen, nach Niedersachsen, den den Nordseehäfen und
120 Vgl. Tabelle 2 und 3 im Anhang; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1523 (Loc. 11148/ XIII. 1937), Bl. 161 f., 167 ff.: Bericht Dürisch, 17.5.1810. 121 Vgl. ebd. Nr. 1524 (Loc. 11154/XIII. 2034), Bl. 7–11: Bericht Dürisch, 22.4.1811; König, Baumwollenindustrie, S. 262; Saalfeld, Kontinentalsperre, S. 125, 128 f.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
nach Holland.122 In Sachsen begannen nun die Hoffnungen zu sinken, die heimischen Manufakturgewerbe würden von einem kontinentalen Wirtschaftsgebiet unter französischer Herrschaft profitieren. Das Ziel der französischen Politik, englische Waren durch Fabrikate des Kontinents zu ersetzen, schrieb Dürisch im April 1811, sei „nichts als schöner Traum“. Einige Monate später kommentierte der Chemnitzer Amtmann: „Das von der französischen Regierung angenommene Continental-System liegt jetzt mit seiner ganzen Last fest auf allen europäischen Staaten, würde aber doch besonders für Sachsen weniger drückend seyn, wenn nicht der freie Handel zwischen Frankreich und allen übrigen Staat gestört, fast iedes merkantilistische Verhältniß aufgehoben, und alle neue und alte französische Länder durch die strengsten Einfuhr-Verbote geschlossen, ia neuerlich sogar allda alle und iede Exportation von baarem Gelde strenge untersagt worden wären.“123
Schon in den Jahren zuvor hatte sich die Situation auf den mitteleuropäischen Geldmärkten weiter verschlechtert und den sächsischen Textilwarenexport vor große Probleme gestellt. Mit den militärischen Niederlagen Preußens, Österreichs und Sachsens und ihrer faktischen Eingliederung in den französischen Herrschaftsbereich mussten die unterworfenen Staaten mit hohen Kontributionen und Sachleistungen zur napoleonischen Kriegsmaschine beitragen. Für die sächsische Textilwirtschaft hatte dies eine wachsende Abgabenbelastung zur Folge, sowohl im eigenen Land als auch in den Ländern, in die sie Waren exportierten oder durchleiteten. Inflationäre Tendenzen und die damit verbundenen geldwirtschaftlichen Transaktionsprobleme verschärften sich weiter. Dies galt auch und besonders für das noch relativ unabhängige Zarenreich. Die Messrelationen aus Leipzig berichteten im Oktober 1808, der schlechte Rubel-Kurs habe die Kaufkraft der russischen Messfieranten stark gemindert. Russische Großhändler, die sonst mit 300.000 Talern in Gold auf der Messe erschienen seien, hätten nun nur noch 15.000 bis 20.000 Taler mitbringen können. Zu diesem Zeitpunkt waren die russischen Geldpapiere auf etwa die Hälfte ihres Werts von 1803 gefallen. Drei Jahre Später hatte sich der Wechselkurs des Rubels im Wert noch einmal halbiert.124 Noch rascher war der Wert der österreichischen Währung nach einem weiteren unglücklich verlaufenen Krieg des Kaiserreichs mit Napoleon nach 1809 verfallen. Auf der Leipziger Ostermesse 1811 wurden die Wiener „Bankzettel“ zu einem Zehntel des ursprünglichen Nominalwertes gehandelt. In seinem Halbjahresbericht für 1810/11 hielt Dürisch fest: „Fast 2/3tel der Geld-Surrogate und Ausgleichungsmittel für den Handel, Kaufmännische Wechsel, Banco-Noten und alle auswärtige Staats-Papiere haben entweder gar keinen Credit, oder sind im Cours so herabge122 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1524 (Loc. 11154/XIII. 2034), Bl. 43–51: Bericht Dürisch, 2.10.1811; König, Baumwollenindustrie, S. 261; Saalfeld, Kontinentalsperre, S. 124. 123 Zitate: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1524 (Loc. 11154/XIII. 2034), Bl. 2: Bericht Dürisch, 22.4.1811; ebd. Bl. 43 f.: Bericht Dürisch, 2.10.1811. Zur kontroversen sächsischen Debatte um das„Kontinentalsystem“: Ansicht einiger Hauptzweige; Reyer, Ansichten; sowie Sammler, Freihandel, S. 112–115. 124 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1562 (Loc. 11142/XIV. 1778b), Bl. 128: Extrakt Relation Michaelismesse, 5.10.1808; König, Baumwollenindustrie, S. 262 f.
3.3 Die Baumwollwarenmanufaktur des Chemnitzer Reviers
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sunken und schwankend, daß sie zu einem Ausgleichungs-Mittel oder Geld-Surrogat im Grunde nicht mehr dienen können.“ Auf der Leipziger Ostermesse von 1812 kamen die Geld- und Warentransaktionen fast zum Stillstand, aus „Mangel an Geld und Handels-Credit“ und weil „so viele von den letzten Messen her gefällige Zahlungen“ nicht beglichen worden waren.125 Die vorhandenen Statistiken zeigen seit 1811 insgesamt einen merklichen Produktionsrückgang in der Baumwollwarenwirtschaft des Chemnitzer Reviers an, wenn sich auch die Kattundruckerei mengenmäßig noch einmal erholte. Dürisch berichtete zur Michaelismesse 1812, „da die sächsischen Cattun-Druckereien wohlfeiler als andere arbeiten, und den englischen am nächsten am Schönheit und Haltbarkeit der Farben kommen, so ist ihr Vertrieb in die Rheinbund-Staaten, nach Pohlen und bei den weniger besetzten Grenz-Douanen, auch in den letztabgewichenen Monaten in die Elb- und Weser-Departements zur Zeit noch immer ziemlich lebhaft gewesen.“126
Die Strumpfwirkerei, die bislang noch größere Quantitäten nach Italien geliefert hatte, war von ihren ergiebigsten europäischen Exportmarkt ausgesperrt worden und kam fast zum Stillstand. Noch schwerer traf die Chemnitzer Baumwollwarenmanufaktur das Katastrophenjahr 1813, als das Königreich Sachsen im Sommer und Herbst zum Kriegsgebiet wurde. Angesichts dieser Entwicklung erscheint der Rückblick mancher Zeitgenossen auf die „goldenen Jahre“ der sächsischen und Chemnitzer Baumwollgewerbe während der Kontinentalsperre doch eher als nostalgisch vernebelte Reminiszenz. Die Stimmung unter der Chemnitzer Verlegerschaft unmittelbar nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft gibt Dürischs Halbjahresbericht zur Michaelismesse 1814 ganz anders wieder: „Die ehemaligen Freunde des Continental-Systems, welche aus der zurückgedrängten Concurrenz der Engländer einige vorübergehende Vortheile in Einzelnem gezogen, bekennen nun selbst, daß es wohl beßer sey, wieder einen freyen und erweiterten Waaren-Markt … zu haben, als sich durch angelegte Douanenlinien in einem sehr engen Creis mit dem Waaren-Vertrieb eingeschloßen zu sehen.“127
125 Zitate: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1524 (Loc. 11154/XIII. 2034), Bl. 1 f.: Bericht Dürisch, 22.4.1811; ebd. Bl. 117: Bericht Dürisch, Leipziger Ostermesse, 30.4.1812. Vgl. ebd. Nr. 1523 (Loc. 11148/XIII. 1937), Bl. 107 f.: Bericht Dürisch, 29.9.1809; sowie König, Baumwollenindustrie, S. 263. 126 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1524 (Loc. 11154/XIII. 2034), Bl. 44: Bericht Dürisch, 30.9.1812. Vgl. Tabelle 2 im Anhang; König, Baumwollenindustrie, S. 250–258; Maschner, Weberei, S. 115 f. 127 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1524 (Loc. 11154/XIII. 2034), o. Bl.: Bericht Dürisch, 29.9.1814; vgl. ebd. Bl. 188 ff.: Bericht Dürisch, 25.4.1813; ebd. Bl. 210: Bericht Dürisch, 29.4.1814. Zur Strumpfwirkerei vgl. die Berichte vom 2.10.1811, 15.4. und 30.9.1812 (ebd. Bl. 51, 89, 144). Ein ähnliches Bild zeichnet auch Clasen, Weben, S. 244, für die Augsburger Kattunmanufaktur.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
3.4 DIE LEINEN- UND WOLLWARENGEWERBE Die Oberlausitzer Leinwand und die transatlantischen Märkte Die zahlreichen militärischen Konflikte und handelspolitischen Absperrungsmaßnahmen der Jahrzehnte vor 1815 trafen nicht allein die südwestsächsische Baumwollwarenmanufaktur und andere Textilbranchen, die ihre Erzeugnisse vornehmlich auf dem europäischen Festland vermarkteten. Sie hatten überdies tiefgreifende Folgen für diejenigen textilen Exportgewerbe, die zu größeren Teilen auf den Absatz nach Übersee angewiesen waren. Die Störungen und Umwälzungen des Atlantikhandels stellten die größte der textilen Exportbranchen Sachsens, das Leinengewerbe der Oberlausitz, vor massive Herausforderungen. Im Laufe des 18. Jahrhundert hatte der Absatz via Hamburg und Cádiz nach Spanisch-Amerika eine zentrale Bedeutung für die ostsächsischen Leinwandverleger erlangt. Die Schifffahrtsrouten zu dem südspanischen Atlantikhafen waren nie sonderlich sicher gewesen. Vor der andalusischen Küste lauerten marokkanische und algerische Piraten und trieben die Versicherungsprämien der Leinenexporteure in die Höhe. Eine Reihe englisch-spanischer Kriege (1739–48, 1756–63, 1778–83) hatte immer wieder für zusätzliche Unruhe gesorgt. Britische Kriegsschiffe, von ihrer Regierung mit Kaperbriefen ausgestattet, hatten die Schiffsrouten und Küstengewässer diesseits und jenseits des Atlantiks durchkämmt und spanische und nicht selten auch unter neutraler Flagge segelnde Handelsschiffe aufgebracht. Solche Handelskriege zur See führten zwar zu einer empfindlichen Erhöhung der Transportkosten, ohne jedoch den überseeischen Absatz des lausitzischen Leinens auf längere Zeit ernsthaft zu beeinträchtigen.128 Eine neue Dimension bekamen die kriegsbedingten Handelsstörungen am Beginn der nachrevolutionären Koalitionskriege. 1793 ging die französische Marine dazu über, auch neutrale Schiffe, die mit Fracht nach feindlichen Häfen unterwegs waren, zu kapern. Gleichzeitig hatten die „Barbaresken“, die algerischen Piraten, ein Friedensabkommen mit der portugiesischen Regierung ausgehandelt, das ihnen erlaubte, einigermaßen ungehindert entlang der iberischen Atlantikküste bis in die Biscaya Jagd auf die Hamburger Spanienfahrer zu machen. Auf der anderen Seite wies Spanien alle französischen Kaufleute kurzfristig aus Cádiz aus. Die Leipziger und Oberlausitzer Kaufleute, die im spanisch-amerikanischen Leinenhandel engagiert waren, teilten im Mai 1793 ihrem Landesherren mit, sie sorgten sich um ihr Eigentum, „so wir in den Händen der Französischen Häuser hatten, und welches theils in Privat-Forderungen an die Häuser selbst, theils in den unter ihrer Aufsicht befindl. gewesenen Waaren, theils in den für unsere Rechnung außenstehenden Schulden für verkaufte Waaren bestehet.“129 Zwar gelang es den sächsischen Kaufleuten schließlich, sich gütlich mit ihren von der Ausweisung betroffenen Geschäftspartnern zu einigen. Doch hatten die seit langem in der andalusischen Hafen128 Vgl. Weber, Kaufleute, S. 237 f.; Pohl, Beziehungen, S. 80–88; Hasse, Messen, S. 340 f., 345. 129 HStA Dresden 10078: Kommerziendeputation Nr. 784 (Loc. 11122/V. 1192), Bl. 178 f.: Frege & Comp. u. a. an den Kurfürsten, 18.5.1793; ebd. Nr. 785 (Loc. 11141/V. 1725), Bl. 115: Bericht, August 1803.
3.4 Die Leinen- und Wollwarengewerbe
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stadt ansässigen französischen Handelshäuser eine Schlüsselposition bei der Abwicklung der Exportgeschäfte mit Spanisch-Amerika inne gehabt. Mit ihrem plötzlichen Wegzug aus Cádiz rissen auch viele Geschäftsverbindungen nach Übersee ab und der transatlantische Leinenhandel geriet augenblicklich ins Stocken. Die drei größten im Spanienhandel engagierten Leipziger Handels- und Wechselhäuser – Frege & Co., Küstner & Co., Löhr & Sohn – zogen sich aus diesem Geschäft zurück und waren auch noch zehn Jahre später nicht nach Cádiz zurückgekehrt.130 Es kam aber noch schlimmer, als Spanien 1795 die Seite wechselte und ein Bündnis mit Frankreich einging. Nun ging zur Abwechslung die britische Kriegsmarine gegen den Seehandel nach Spanien und dessen Kolonien vor. Die englischen „Korsaren“ durchsuchten die unter neutraler Flagge zwischen Hamburg und Cádiz segelnden Handelsschiffe, derer sie habhaft werden konnten, und beschlagnahmten alle Güter, die im Verdacht standen, spanisches Eigentum zu sein. Die Assekuranzen weigerten sich bald, solche Schiffsladungen überhaupt zu versichern. Zeitweise versuchten die Oberlausitzer Leinenexporteure diese massiven Störungen des Seeverkehrs entlang der Atlantikküste dadurch zu umgehen, dass sie ihre Waren auf dem Landweg in die italienischen Häfen an der ligurischen Mittelmeerküste brachten. Vor allem von Livorno aus fanden diese Lieferungen dann ihren Weg nach Cádiz. Doch auch diese Ausweichroute wurde binnen zwei Jahren obsolet, als die Briten 1797 dazu übergingen, den Hafen von Cádiz mit einer Kriegsflotte zu blockieren. Bis 1801 war der Schiffsverkehr zwischen der andalusischen Hafenstadt und den spanischen Kolonien in Amerika vollständig unterbrochen. Damit war die bislang wichtigste Verbindung der oberlausitzischen Leinwandmanufaktur zu ihren überseeischen Märkten auf längere Zeit abgerissen. Noch 1803 teilte das Bautzener Handelshaus C. G. Tietzen & Brause der Kommerziendeputation mit, die Leinwand, die man sieben Jahre zuvor nach Cádiz gesandt hatte, würde dort größtenteils immer noch unverkauft lagern.131 Die Unterbrechung der Handelsroute zwischen Hamburg, Cádiz und Spanisch-Amerika schlug sich allerdings vorerst bemerkenswert wenig auf die Exportziffern der oberlausitzischen Leinwandwirtschaft nieder. Außer einem Einbruch 1793 hielt sich der Gesamtwert der ausgeführten Leinenwaren auf dem Niveau der 1780er Jahre und kam sogar 1796 beinahe an den bisherigen Rekordstand von 2,567 Mio. Talern aus dem Jahr 1788 heran. Offenbar öffneten sich für die Oberlausitzer Leinwand in den 1790er Jahren genügend alternative Abfuhrwege und Absatzmärkte, um den Ausfall der spanischen Transatlantikroute zu kompensieren. Da der Schiffsverkehr zwischen den deutschen Nordseehäfen und London noch kaum vom britisch-französischen Seehandelskrieg beeinträchtigt wurde und überdies Hamburg nach der französischen Besetzung der Niederlande vom plötzlichen Ausfall Amsterdams profitierte, wurden seit 1795 zusehends größere Mengen an säch130 Vgl. ebd. Nr. 784 (Loc. 11122/V. 1192), Bl. 168: Christian Gottlob Frege, Leipzig, an Kommerziendeputation, 9.11.1793; ebd. Bl. 188 f.: Extrakt Bericht, 20.1.1794. 131 Ebd. Nr. 785 (Loc. 11141/V. 1725), Bl. 21: Tietzen & Brause, Bautzen, an Kommerziendeputation, 14.4.1803; Vgl. Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 56, 64; Pohl, Beziehungen, S. 91 ff.; Weber, Kaufleute, S. 169.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
sischen und schlesischen Leinenwaren in die englische Hauptstadt verbracht. Diese Waren wurden, wie schon zuvor, großenteils nach Nordamerika re-exportiert.132 Das Gros der über Hamburg und London in die Vereinigten Staaten gelieferten Leinenstoffe war aber ebenfalls nicht für die Binnenkonsum des Exportlandes bestimmt. Von den Hafenstädten der amerikanischen Ostküste wurde die Lausitzer Leinwand in die Karibik und ins spanische Amerika weiter vertrieben. Auf diesen verschlungenen Wegen gelangten die Erzeugnisse der oberlausitzischen Leinenmanufaktur dann doch wieder auf ihre angestammten überseeischen Hauptabsatzmärkte. Es etablierte sich rasch ein ausgedehntes Netzwerk des Schmuggels, das europäische Manufakturwaren über die USA und Karibikinseln wie St. Thomas und St. Croix in die spanischen Kolonien schleuste. Schon während des gesamten 18. Jahrhundert waren die spanischen Einfuhrverbote durch Schmuggler und bestechliche Kolonialbeamte mehr oder minder systematisch unterlaufen worden. Mit der Sperrung der legalen Handelsrouten zwischen Spanien und seinen transatlantischen Kolonien nahm aber der Schleichhandel einen zuvor nicht gekannten Umfang an. Den spanischen Kolonialbehörden blieb angesichts ausbleibender Warenlieferungen aus dem Mutterland kaum etwas anderes übrig, als den Schmuggel zu tolerieren. Im November 1797 gab die spanische Regierung den Handel zwischen neutralen ausländischen Häfen und dem spanischen Amerika frei, nahm allerdings anderthalb Jahre später dieses Dekret wieder zurück133 In den späten 1790er Jahren setzte in den Hansestädten eine wilde Spekulation ein. Zahlreiche Schiffsladungen mit Leinenwaren und anderen Exportgütern wurden zusammengestellt und nach Spanisch-Amerika versandt. Auch US-amerikanische Großhändler orderten in Hamburg große Mengen an sächsischer und schlesischer Leinwand, um sie im eigenen Land auf den Markt zu bringen, vor allem aber, um sie nach Westindien und Südamerika weiter zu verschiffen. 1803 berichtete ein Zittauer Leinwandkaufmann der Kommerziendeputation, es hätten sich in den Jahren zuvor zahlreiche Oberlausitzer „Dorfhändler“ durch Hamburger und andere Zwischenhändler verleiten lassen, „ansehnliche Quantitäten Leinen-Waaren an selbige zu consigniren“.134 Über Hamburg und Bremen seien diese Lieferungen vor allem nach Nordamerika gegangen und von dort aus als „Kontrabande“ in die spanischen Besitzungen geschmuggelt worden. Dass auch die Stadthändler solche Absatzwege nicht verschmähten, zeigt ein Schreiben aus dem Kontor Ernst Sigismund Haupts von 1801 an Ludwig Krumbhaar, den Vertreter des Leipziger Handelshauses Frege in Philadelphia. Haupt, einer der renommiertesten Zittauer Kaufleute, kündigt darin eine Leinwandlieferung mit der suggestiven Bemerkung an: „Wir wissen, daß dieser Artikel im Spanischen Amerika sehr begehrt ist …“135 132 Vgl. Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 56–59, 90. 133 Vgl. Pohl, Beziehungen, S. 245 f., 254; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 60; Goebel, Trade, S. 290 f. 134 HStA Dresden 10078: Kommerziendeputation Nr. 785 (Loc. 11141/V. 1725), Bl. 38: Sohns & Comp., Zittau, an Kommerziendeputation, 9.4.1803. 135 Stadtarchiv Zittau Abteilung IV: Gewerbepolizei Ic, Abs. 2 K 3, Nr. 9 f., Bd. 32: Copier-Buch Haupt 1798–1801, S. 1351 f.: Haupt an Ludwig Krumbhaar, Philadelphia, 12.3.1801. Vgl. HStA Dresden 10078: Kommerziendeputation Nr. 785 (Loc. 11141/V. 1725), Bl. 20 ff.: Tietzen
3.4 Die Leinen- und Wollwarengewerbe
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Die Versendungen von Leinenwaren in die spanisch-amerikanischen Kolonien nahmen nun solche Ausmaße an, dass die sächsischen Kaufleute und Verleger bald darüber klagten, die überseeischen Märkte seien völlig überschwemmt. 1799 lösten fehlgeschlagene Spekulationsgeschäfte im Transatlantikhandel in den Hafenstädten rund um die Nordsee eine Welle von Insolvenzen und Geschäftszusammenbrüchen aus. Im letzten Quartal dieses Jahres fallierten 54 Hamburger Handelshäuser, was nicht zuletzt auch die geschäftlich mit ihnen verbundenen Lausitzer Leinwandverlage in Mitleidenschaft zog.136 Nach dem Frieden von Amiens 1802 verschärfte sich die Überfüllungskrise noch. Nun nahmen die Lausitzer Leinwandhändler und ihre schlesischen Konkurrenten die Lieferungen nach Cádiz wieder auf, wo immer noch große unverkaufte Warenmengen aus der Zeit vor der Hafenblockade lagerten. Selbst einen Teil der Leinenlieferungen, die in Nordamerika auf ihren Abtransport nach Havana warteten, transportierte man über den Atlantik zurück nach Cádiz. Zeitweise, so heißt es in einem Bericht von 1803, hätten in der südspanischen Handelsmetropole „Oberlausitzische Leinen-Artikel um einige Procente wohlfeiler gekauft werden können, als sie am Orte der Fabrikation zu erlangen stünden.“137 Doch trotz der Wiedereröffnung der „legalen“ Handelsroute via Cádiz verminderte sich die Einfuhr von europäischen Waren auf dem Weg des Schmuggels über die USA und die westindischen Inseln nicht wesentlich. Nachdem sich die Strukturen dieses neuen Handelsnetzwerks einmal etabliert hatten und die Wirtschaftsinteressen zahlreicher Beteiligter daran hingen, lösten sie sich nicht so ohne weiteres auf. Offenbar hatten die spanischen Kolonialbehörden weder den Willen noch die Ressourcen, um den Contrabande-Handel wirksam zu unterbinden. Da die sächsischen Leinenwaren bei der Einfuhr in Cádiz mit einem 20prozentigen Zoll belegt wurden, konnte die geschmuggelte Leinwand zu einem bedeutend niedrigeren Preis auf die spanisch-amerikanischen Märkte gebracht werden.138 Ähnlich wie die Plauener Musselinfabrikanten versuchten auch die Oberlausitzer Leinenverleger, ihre Probleme beim Zugang zu ihren angestammten Märkten durch verstärkte Bemühungen zu kompensieren, auf anderen Märkten Fuß zu fassen. Auch in diesem Falle konzentrierten sich die Vermarktungsstrategien vor allem auf die italienische Halbinsel. Doch infolge der kriegsbedingten Störungen und der politischen Umwälzungen seit Mitte der 1790er Jahre erwies sich gerade der italienische Markt als ausgesprochen unsicheres Terrain. Die vornehmlich in Oberitalien ausgetragenen Koalitionskriege 1796/97 und 1799/1800 führten zu häufigen Unterbrechungen der Handelswege. Der Seeverkehr nach Genua und Livorno war bald & Brause, Bautzen, an Kommerziendeputation, 14.4.1803; ebd. Bl. 116 f.: Bericht August 1803. 136 Vgl. Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 60 f.; Vogt, Beitrag, S. 45 f.; Köppen, Handelsbeziehungen, S. 112–117; 219 ff.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 785 (Loc. 11141/V. 1725), Bl. 14: Johann von der Breling, Dresden, an Kommerziendeputation, 13.4.1803. 137 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 785 (Loc. 11141/V. 1725), Bl. 118: Bericht August 1803. Vgl. Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 57–61. 138 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 785 (Loc. 11141/V. 1725), Bl. 39 f.: Sohns & Comp., Zittau, an Kommerziendeputation, 9.4.1803; ebd. Bl. 20 ff.: Tietzen & Brause, Bautzen, an Kommerziendeputation, 14.4.1803.
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mit ähnlichen Gefahren verbunden wie der Schiffstransport in die spanischen Hafenstädte. Zudem brachte das Absinken des Wiener Wechselkurses um zwölf Prozent die sächsischen Leinwandexporteure gegenüber ihrer böhmischen Konkurrenz ins Hintertreffen. Die Frustrationen des Italienhandels spiegeln sich auch in der erhaltenen Geschäftskorrespondenz des Zittauer Leinenverlegers Ernst Sigismund Haupt. Noch zu Jahresanfang 1800 war Haupt intensiv bemüht, neue Kontakte nach Livorno zu knüpfen. Am Ende des Jahres musste er einem Geschäftsfreund gestehen: „Dermahlen und bey gegenwärtigen Umständen können wir uns nicht entschließen, Waaren nach Italien zu senden, sondern wir suspendiren alle Absendungen an unsere Freunde …“ Seit dem Frieden von Lunéville 1801 gingen zwar wieder zahlreiche Bestellungen aus Italien in der Oberlausitz ein. Doch der Wiener Wechselkurs war weiter gefallen und die italienischen Kunden zeigten wenig Neigung, solche Abwertungsverluste mitzutragen oder den Zahlungsausgleich über den stabileren Finanzplatz Augsburg abzuwickeln. Es wurde daher offenbar nur ein kleinerer Teil der Bestellungen tatsächlich ausgeführt. In den folgenden Jahren wurden zudem immer größere Regionen Italiens in den französischen Herrschaftsraum eingegliedert und mit rigiden handelspolitischen Maßnahmen nach außen hin abgesperrt.139 Auch die Rückkehr zu halbwegs geordneten Verhältnissen im Lateinamerikahandel seit dem Friedens von Amiens erwies sich für die sächsischen Leinenverleger und -kaufleute nur als kurzes Zeitfenster von 15 Monaten. Schon im Juli 1803 nahmen die Briten den Handelskrieg gegen das napoleonische Frankreich wieder auf. Englische Kriegsschiffe kreuzten vor Cuxhaven an der Elbmündung und konfiszierten die Ladungen aller Handelsschiffe, derer sie habhaft werden konnten. Bald sperrten sie auch die Mündung der Weser, so dass der Weg über die Hansestadt Bremen, auf den die Oberlausitzer Leinwandhändler zunächst ausgewichen waren, blockiert war. Nun wurden die für die amerikanischen Märkte bestimmten Waren aus Sachsen im dänischen Tönning an der holsteinischen Nordseeküste, in Lübeck und Kiel oder in den preußischen Ostseehäfen Stettin und Danzig für den Seetransport verladen. Damit verlängerten sich aber die Transportwege über Land für die Lausitzer Leinenwaren z. T. beträchtlich und mit ihnen die Kosten. Zudem brachte das plötzliche Abreißen lange etablierter Geschäftsbeziehungen für die sächsischen Leinwandhändler auch dann spürbare Gewinneinbußen mit sich, wenn es gelang, schnell neue Vertriebswege aufzubauen. Die hanseatischen Handelshäuser konnten dem Oberlausitzer Leinenexport nach Spanien und Portugal wesentlich günstigere Bedingungen bieten als etwa die Stettiner und Danziger Kaufleute, die nun an ihre Stelle traten. Die Hamburger und Bremer hätten, so hieß es in einem Bericht an die Kommerziendeputation 1804, „del credere“ gestanden und gewöhnlich schon beim 139 Zitat: Stadtarchiv Zittau Abteilung IV: Gewerbepolizei Ic, Abs. 2 K 3, Nr. 9 f., Bd. 32: Copier-Buch Haupt 1798–1801, S. 1246: Haupt an J. F. Mey Seel. Eydam & Co, Sebnitz, 31.12.1800; vgl. ebd., S. 695 ff.: Haupt an Wolfgang Friedrich Österreicher, Triest, 28.1.1800; Haupt an Senn, Guebhard & Co., Livorno, 28.1.1800; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 66 f.; Meinert, Handelsbeziehungen, S. 69 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 725 (Loc. 11138/V. 1652), Bl. 91 f.: Bericht, 5.3.1806.
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Empfang der Leinwandlieferungen aus Sachsen die Hälfte des Warenwertes auf sich trassieren lassen. Trotzdem hätten sie die sächsische Leinwand den Käufern in Cádiz und Lissabon billiger liefern können als die Stettiner und Danziger, da sie Kolonialwaren in Zahlung nahmen und mit diesen Retouren zusätzlichen Gewinn machten. Zwar habe man nun auch in den preußischen Ostseehäfen angefangen, Schiffe nach Spanien, Portugal und Amerika zu befrachten – „allein sie haben dort weder den Credit noch die Bekanntschaft, in deren Besitz die Hamburger schon so lange waren, vorzüglich aber fehlt es ihnen an zulänglichen Fonds und Hülfs-Quellen, dieses Geschäft sogleich ins Große mit Nachdruck treiben zu können.“140 1805 hob die britische Regierung zwar die Blockade der Elbe und der Weser auf, doch auch dies war für die nach Übersee exportierenden sächsischen Textilgewerbe nur eine kurze Atempause, die bald von einer weiteren Verschärfung des Handelskriegs beendet wurde. Mit der französischen Besetzung Hamburgs 1806, der Verkündung der Kontinentalsperre für britische Waren und den neuerlichen englischen Blockademaßnahmen spitzte sich die Lage des ostsächsischen Leinwandgewerbes weiter zu. Schon im Februar 1807 wandten sich die Oberlausitzer Leinenkaufleute und -verleger hilfesuchend an den Landesherren und schilderten die prekäre Lage ihres Fabrikationszweiges: „Die brittischen Kaper- und Kriegsschiffe nehmen alles Privateigenthum Königl. Sächs. Unterthanen hinweg und unsre Versendungen können aus diesem Grunde sogar gegen sehr hohe Prämien nicht mehr versichert werden und unser Handel nach Spanien liegt gänzlich darnieder. Es kann nicht fehlen, daß dies in der Oberlausitz, deren größte Handelshäuser vorzüglich mit Spanien in Handelsverkehr standen, eine Menge Fabrikanten und Arbeiter außer Brod setzet, und der gänzliche Verfall ihrer Nahrung ist ihr gewißes Loos, wofern nicht ein anderer sicherer Handelsweg nach Spanien eröffnet werden kann.“141
Die Leinwandhändler baten den frischgebackenen König von Sachsen, sich bei Kaiser Napoleon für die Aufhebung der hohen Einfuhrzölle einzusetzen. Dies würde es ihnen ermöglichen, ihre Waren auf dem Landweg durch Frankreich nach Spanien zu schaffen. Auch die spanischen Kaufmannsvertretungen und die Straßburger und Lyoner Spediteure hatten sich bereit erklärt, bei ihren Regierungen für die Belange ihrer sächsischen Geschäftspartner vorstellig zu werden. Einige Oberlausitzer Handelshäuser starteten einen Probelauf und schafften kleinere Lieferungen zu Lande nach Barcelona. Dass die Leinwand in kleinen Kisten auf Mauleseln über die Pyrenäen transportiert werden musste, deutet die immensen Probleme und die Kosten solcher Expeditionen an.142 Die transatlantischen Schifffahrtswege über die deutschen und dänischen Nordund Ostseehäfen waren allerdings auch nach 1806 nicht völlig unterbrochen. Bis 140 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII. 1679), Bl. 228 f.: Bericht Dürisch 21.4.1804; vgl. ebd. Nr. 677 (Loc, 11166/II. 2244), Bl. 9: Extract Bericht, 24.8.1803; Pohl, Beziehungen, S. 96 f.; Vogt, Beitrag, S. 46 f.; Wagner, Dürninger, S. 131 f.; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 70. 141 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 786 (Loc. 11147/V. 1888), Bl. 1 f.: Tietzen & Brause u. a., an den König, 19.2.1807. 142 Vgl. ebd., Bl. 42 f.: Bericht, 20.1.1808; ebd., Bl. 10: Extractus Protocolli Ostermesse, 30.4.1807; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 77 ff.
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zum Embargo Act der amerikanischen Regierung vom Dezember 1807 und dann wieder nach der Aufhebung dieses Gesetzes im Frühjahr 1809 tauchten US-Schiffe mit Kolonialwaren in Tönning auf und nahmen Leinenstoffe und andere Manufakturwaren auf ihrem Weg über den Atlantik zurück. So findet sich in den Geschäftsakten der Firma Dürninger & Co. ein Schreiben aus Philadelphia vom September 1807, worin ein amerikanischer Geschäftspartner, den Erhalt von vier Kisten mit verschiedenen Leinenwaren bestätigte.143 Anfang 1810 berichtete der sächsische Handelskonsul in Hamburg, Emanuel Frege, „einige bedeutende Lausitzer Häuser“ hätten sich seit dem letzten Sommer entschlossen, „einen Theil ihrer Vorräthe durch mein Haus übers Meer senden zu lassen. Selbiges ist mit Nutzen und prompt realisiert worden – statt hier noch mehrere Jahre zu vermodern und jährlich durch Intereßen theurer zu werden.“144 Als sich im Laufe des Jahres 1810 eine Entspannung im britisch-französischen Handelskrieg anzubahnen schien, schlug Konsul Frege vor, von Hamburg aus mit französischen Ausfuhrlizenzen versehene Leinwandlieferungen nach Nordamerika und den Westindischen Inseln zu versenden. Die Oberlausitzer Kaufmanns- und Verlegerschaft äußerte sich jedoch skeptisch über die Erfolgschancen eines solchen Vorgehens. Der Löbauer Kaufmann Carl Gotthelf May listete die Schwierigkeiten auf, die eine Wiederaufnahme des transatlantischen Leinenexports mit sich bringen würde. Um von Hamburg aus sicher nach Amerika zu kommen, brauche ein Frachtschiff nicht nur französische, sondern auch englische Papiere. Ansonsten laufe es Gefahr, von einem britischen Kaperschiff aufgebracht zu werden. Selbst wenn die Waren sicher in den Vereinigten Staaten ankämen, sei das kaufmännische Risiko beim Vertrieb der Waren auf dem nordamerikanischen Markt unübersehbar: Der „seit so vielen Jahren unterbrochene directe Verkehr mit jenem Welttheile hat den Kaufmann unwissend gemacht, welche gute und sichere Häuser es dort wohl giebt, denen man mit Ruhe und Sicherheit seine Waaren anvertrauen kann.“ Hinzu komme weiterhin, dass das Schiff für den Rücktransport nur Kolonialwaren mitnehmen könnte. Diese müssten in einem französischen Hafen abgesetzt und von deren Erlös wiederum französische Produkte und Manufakturwaren eingekauft werden. Kurz: May ging davon aus, dass nur „sehr wenige Speculanten geneigt seyn dürften, eine Unternehmung auch von bescheidener Art zu wagen“. Das Risiko hätten dabei wohl die sächsischen Leinenhändler zu tragen, da die Hamburger Exporthäuser unter den herrschenden Umständen nur noch bereit seien, Waren auf Kommissionsbasis zu übernehmen.145 Derweil begünstigten die geopolitischen Konstellationen die Position der britischen Konkurrenz auf den lateinamerikanischen Märkte nachhaltig. Die französische Besetzung Spaniens und Portugals nahm den iberischen Kolonialmächten jede Option eines machtvollen Zugriffs auf ihre überseeischen Kolonien. Zudem waren 143 Unitätsarchiv Herrnhut: Dürninger & Co., Nr. 522, Mappe 1: Jacob Sperry, Philadelphia, an Dürninger & Co., 29.9.1807. Vgl. Gröllich, Baumwollweberei, S. 15. 144 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 677 (Loc, 11166/II. 2244), Bl. 37: Bericht Frege, 17.1.1810. 145 Ebd., Bl. 63 ff.: Carl Gotthelf May, Löbau, an Kommerziendeputation, 10.10.1810; vgl. auch ebd. Bl. 70 f.: Handlungssocietät Zittau an Kommerziendeputation, 7.11.1810.
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mit dem Beginn des blutigen Guerillakriegs gegen die napoleonische Okkupation die spanischen und portugiesischen Exilregierungen vollständig auf die Unterstützung Großbritanniens angewiesen. Der portugiesische Hof war sogar unter dem Schutz englischer Kriegsschiffe von Lissabon ins Exil nach Rio de Janeiro übergesiedelt. 1808/09 öffneten sich die brasilianischen und spanisch-amerikanischen Häfen für britische Handelsschiffe. Die lange aufrecht erhaltenen Handelsmonopole der iberischen Kolonialmächte waren nun endgültig obsolet geworden. In den spanischen Kolonien breitete sich eine Unabhängigkeitsbewegung aus, deren Führern ebenfalls am Wohlwollen der Briten gelegen war. Die Juntas von Caracas und Buenos Aires schlossen ebenso wie der portugiesische Prinzregent in Rio de Janeiro Handelsverträge mit Großbritannien. Die Zölle auf britische Importwaren wurden gesenkt. In den Hafenstädten genossen die englischen, schottischen und irischen Kaufleute fortan weitgehende Selbstverwaltungsrechte. Seit dem Ausbruch des Krieges zwischen Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika 1812 hielt eine Seeblockade US-Handelsschiffe von den Karibikhäfen, vor allem vom kubanischen Havana fern. Während also die oberlausitzischen Leinwandhändler darauf hoffen mussten, ein gelegentliches Schlupfloch in der französischen Kontinentalsperre und der britischen Blockade zu finden, warfen ihre Konkurrenten aus Schottland und Nordirland ungehindert große Mengen an Leinenwaren auf die lateinamerikanischen Märkte. Zudem gelangten mit der Aufhebung der spanischen und portugiesischen Handelsrestriktionen auch billige britische Baumwollstoffe in größeren Quantitäten nach Süd- und Mittelamerika. Hier bahnte sich der massenhafte Übergang vom Leinen zur Baumwolle in der Bekleidung der weniger wohlhabenden Bevölkerungsschichten an – und damit eine der wichtigsten Ursachen der kommenden Strukturkrise der kontinentaleuropäischen Leinwandmanufaktur.146 Die Krise des oberlausitzischen Leinenexportgewerbes schlug sich in den offiziellen Ausfuhrstatistiken mehr oder minder markant nieder. 1788 hatte der Export von Leinenwaren mit einem Gesamtwert von mehr als 2,5 Millionen Talern einen Rekordstand erreicht. Bis zur Kontinentalsperre konnten die kriegsbedingten Handelsstörungen noch halbwegs kompensiert werden. Die Ausfuhrziffern hielten sich bis auf einige wenige schlechte Jahre über der Marke von zwei Millionen Talern. Nach 1806 ging die Kurve des Oberlausitzer Leinwandexportes aber steil nach unten. 1808 wurden erstmals Leinenwaren im Wert von weniger als eine Million Taler ausgeführt. Noch eine andere Entwicklung erscheint in diesem Zusammenhang bemerkenswert: Seit den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts verschoben sich die Gewichte zwischen dem städtischen Leinwandhandel und den „Dorfhändlern“ in signifikanter Weise. Seit Ende der 1780er Jahre hatte sich der Anteil der nicht-städtischen Verleger und Großhändler am Leinenexport bei etwa einem Drittel eingependelt. Nach 1800 näherten sich die Anteile der beiden Gruppen wertmäßig zunehmend an. 1809 exportierten die dörflichen Kaufleute zum ersten Mal mehr als die städtischen. 1815 bewegte sich der gesamte Wert der von den städtischen Leinen146 Vgl. Miller, Britain, S. 40–43; Goebel, Trade, S. 296–301, 309; Williams, Policy, S. 151; Böttcher, Monopol, S. 74–80, 113 f.; Schneider, Außenhandelsfinanzierung, S. 78 f.; Walter, Relations, S. 443.
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handlungen ausgeführten Waren noch bei einem Fünftel des Werts von 1788, während die Dorfgroßhändler auch in absoluten Zahlen mehr ins Ausland lieferten als drei Jahrzehnte zuvor. Hier scheint die Krise der napoleonischen Zeit ähnlich wie in der Plauener Musselinmanufaktur zu einer Dezimierung der alten Kaufmanns- und Verlegerschaft geführt zu haben.147 Die sächsische Wollwarenmanufaktur Teile der sächsischen Wollwarenwirtschaft hatten in den 1770er und 80er Jahren eine ähnliche Entwicklung genommen wie die Manufaktur der feineren Baumwollwaren im Chemnitzer Revier. Großverleger wie Oehler und Seyffarth in Crimmitschau oder Winkler in Rochlitz waren, nicht zuletzt durch die Nachahmung britischer Modeartikel, in lukrative Marktsegmente vorgedrungen. Sie nutzten dabei einerseits die vergleichsweise niedrigen Arbeitskosten in Sachsen und den angrenzenden thüringischen Gebieten, um die britische, die französische und niederländische Konkurrenz preislich unterbieten zu können. Andererseits waren einige Verlagsunternehmer schon vor 1790 dazu übergegangen, Teile des Produktionsprozesses in Eigenbetrieben zu zentralisieren. Diejenigen Verleger, deren Waren in direkter Konkurrenz mit den Erzeugnissen der britischen Tuch- und Wollzeugmanufaktur standen, sahen sich im ausgehenden 18. Jahrhundert mit ähnlichen, von England und Schottland ausgehenden technologisch-industriellen Fortschritten konfrontiert wie ihre Kollegen in den Baumwollgarn verarbeitenden Gewerben. Grundsätzlich ließen sich nämlich die Mules und Water Frames auch auf die Verspinnung von schafwollenem Garn umrüsten. Die dem Spinnen vorausgehenden Verarbeitungsstufen der Wolle wurden ebenfalls seit Mitte der 1770er Jahre sukzessive mechanisiert. Im Westen der Grafschaft Yorkshire entwickelte sich um die Städte Leeds, Bradford und Halifax das bedeutendste Zentrum der englischen Wollwarenproduktion. Hier vollzog sich die Industrialisierung der Spinnerei von Streichgarn, das vor allem für die Tuchfabrikation gebraucht wurde, im Verlauf der 1790er Jahre. Der Durchbruch der Kammgarn-Maschinenspinnerei in West Yorkshire lässt sich auf das folgende Jahrzehnt datieren.148 Anders als im Falle des Baumwollgarns untersagte die britische Regierung den Export von Wollgarnen. Was an wollenen Maschinengespinsten auf den Kontinent kam, war so teuer, dass die sächsischen Wollwarenverleger die Finger davon ließen. Mit den daraus gefertigten Waren könnte man, so die Gebrüder Oehler 1799, preislich gegen die englische Konkurrenz nicht bestehen. Allerdings scheint die sächsische Wollweberei – anders als die feinere Baumwollwarenmanufaktur – auch ohne die in Großbritannien gefertigten Maschinengarne durchaus wettbewerbsfähig gewesen zu sein. Zum Einen fiel die Wertsteigerung der Wolle durch die Verspinnung längst nicht in dem Maße ins Gewicht wie bei der vergleichsweise billigen Rohbaumwolle. Der Wert der rohen Schafwolle lag gewöhnlich bei etwa der Hälfte 147 Zahlen nach: Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 32, 90. 148 Vgl. Jenkins/Ponting, Industry, S. 28 ff.; Hudson, Proto-industrialisation, S. 46.
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dessen, was das daraus gesponnene Garn kostete. Im Falle der Baumwolle konnte sich der Wert durch das Spinnen verzehnfachen. Daher machte es für die Weber zunächst wenig Unterschied, ob sie handversponnenes, auf Jennies oder Mules gefertigtes Wollgarn verwendeten. Zum Anderen gestaltete sich die Rohstoffversorgung der sächsischen Wollwarenmanufaktur ungleich günstiger als die der Baumwollweberei. Gerade die Produzenten hochwertiger Wollstoffe konnten überwiegend auf Landesprodukte zurückgreifen, vor allem die begehrte kursächsische Merinowolle. Die sächsische Wolle eignete sich besonders gut für Gewebe wie das sog. Casimir, einer der Hauptartikel der britischen und niederländischen Konkurrenz. Im ausgehenden 18. Jahrhunderts 1800 war es den sächsischen Verlegern und Fabrikanten nicht allein gelungen, Casimir in gleicher Qualität fertigen zu lassen, sondern sie boten solche Artikel wesentlich billiger an. In Yorkshire und anderen britischen Wollwarenrevieren bezog man dagegen einen nicht unbeträchtlichen Teil der Rohwolle aus dem Ausland, zunächst überwiegend aus Spanien und Portugal, nach 1800 vermehrt aus Deutschland, nicht zuletzt aus Sachsen. Im Vergleich zu den Baumwolle verarbeitenden Gewerben herrschten demnach bis zu einem gewissen Grad umgekehrte Konstellationen: Die sächsischen Wollwarenhersteller erhielten wertvolle Rohstoffe preisgünstiger als ihre britische Konkurrenten und waren weniger den Folgen kriegsbedingter Versorgungsengpässe ausgesetzt.149 Es war daher wohl weniger der äußere Wettbewerbsdruck sondern die Probleme der Garnversorgung, von denen Impulse zur Mechanisierung der Wollspinnerei in Sachsen ausgingen. Denn auch in den Wolle verarbeitenden Gewerben hatte sich in den Jahrzehnten vor 1800 der Flaschenhals des Garnmangels spürbar verengt. Gerade im südwestlichen Sachsen waren infolge der enormen Ausbreitung der Baumwoll-Handspinnerei Arbeitskräfte für die Verspinnung der Wolle rar geworden. Bereits um 1790 sind erfolgreiche Versuche dokumentiert, auf Handspinnmaschinen lockeres Gespinst für die Tuchherstellung zu fertigen.150 Im Frühjahr 1801, ein halbes Jahr nach der Inbetriebnahme der ersten sächsischen Baumwollmaschinenspinnereien, berichtete Amtmann Dürisch nach Dresden, der Graf von Einsiedel habe mit William Whitfield einen Kontrakt abgeschlossen „wegen Verfertigung einer Spinn-Mühle auf schaafwollenes Garn zu Tuch und Casimirs“. Auf dem Gut des Grafen in Wolkenburg bei Penig solle eine Maschinenspinnerei „am Waßer in einem neuen dazu zu fertigenden Gebäude angelegt und wo möglich in diesem Jahre fertig werden“. Zudem stehe Whitfield mit zwei Kaufleuten in Döbeln in Verhandlungen wegen einer ähnlichen wassergetriebenen Spinnmühle.151 Doch 149 Vgl. HStAD Kommerziendeputation Nr. 1701 (Loc. 11103/XVI. Nr. 579), Bl. 159 f.: Extractus Protocolli Michaelismesse, 7.10.1799; Saldern, Netzwerkökonomie, S. 132; Jenkins/Ponting, Industry, S. 43–46; Ansicht einiger Hauptzweige, S. 117 f.; Leonhardi, Bemerkungen, S. 40. 150 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1435 (Loc. 11126/XIII. 1276), Bl. 129: Extractus Protocolli Michaelismesse, 15.10.1790. 151 Ebd. Nr. 1519 (Loc. 11136/XIII. 1623), Bl. 111: Bericht Dürisch 27.4.1801. Kirchner, Schafwoll-Maschinenspinnerei, S. 79, datiert den Baubeginn der Wolkenburger Spinnerei auf 1795. Dass schon Mitte der 1790er Jahre kraftgetriebene Spinnmaschinen aufgestellt wurden, ist unwahrscheinlich. Noch auf der Michaelismesse 1799 diskutierten die Beamten der Kommerziendeputation und die Gebüder Oehler den Einsatz von Wollspinnmaschinen in Sachsen als
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scheint der englische Mechaniker mit seinen Konstruktionsversuchen keinen rechten Erfolg gehabt zu haben. 1805 übernahm der walisische Techniker Evan Evans die Aufgabe, die Wolkenburger Spinnerei mit brauchbaren Maschinen auszurüsten. Zwar gelang es Evans schließlich, ein recht gleichmäßiges und haltbares Garn herzustellen. Allerdings entsprach dieses Erzeugnis wohl nicht den Qualitätsansprüchen seines Auftraggebers. Als kurfürstlicher Minister hatte Detlev Carl von Einsiedel nach 1763 die Einführung der Merinoschafzucht in Sachsen maßgeblich initiiert und beteiligte sich auf seinen Ländereien selbst an diesem einträglichen Geschäft. Mit der Anlage einer eigenen Maschinenspinnerei stieg der unternehmende Graf in die Verarbeitung der in seinen Schäfereien gewonnenen Rohstoffe ein. Einsiedels Plan lief offenbar darauf hinaus, seine Merinowolle zu hochwertigen Garnen zu verarbeiten. Dies stieß aber zunächst einmal auf große technische Probleme. Im Herbst 1799 hatte etwa einer der Oehler-Söhne rundweg erklärt, das zur Zeugfabrikation nötige Gespinst möchte „auf Maschinen wohl darzustellen seyn … Wie solches aber bey der Tuchfabrikation, wo die Garne eine kurze und lockere Wolle erforderten, anwendbar seyn solle, sey ihm nicht begreiflich.“152 Zehn Jahre später waren diese Probleme in Sachsen immer noch nicht vollständig gelöst worden. Weder Whitfield noch einem anderen, schrieb Dürisch im September 1809, sei es gelungen, vollkommen funktionierende Maschinen herzustellen und Fabrikanten von ihrer Nützlichkeit zu überzeugen. Die größte Schwierigkeit bestehe in der Krempelung, wo man die technologischen Errungenschaften der britischen Wollspinnerei noch nicht nachvollzogen habe. Nachdem es seine Mechaniker nach jahrelangen Bemühungen nicht geschafft hatte, solches Garn herzustellen, entschloss sich Einsiedel, seine Maschinenspinnerei zu verpachten. 1808 übernahmen zwei Chemnitzer Kaufleute den Wolkenburger Betrieb und stellten ihn auf die Produktion von Baumwollgarn um. Erst 1814, als die Gebrüder Oehler in Crimmitschau zwei Maschinensortimente aufstellen ließen, scheint die kraftgetriebene Wollspinnerei in Sachsen kontinuierlich Fuß gefasst zu haben.153 Nachdem die Maschinisierung der Spinnerei für die Wettbewerbsposition der sächsischen Wollwarenmanufaktur augenscheinlich einen deutlich geringeren Stellenwert besaß als bei den Baumwolle verarbeitenden Gewerben, hing der geschäftliche Erfolg um so mehr vom Zugang zu den Exportmärkten ab. In den Akten der Kommerziendeputation haben sich seit den 1790er Jahren zahlreiche Beschwerden und Klagen der Wollwarenunternehmer über die Probleme niedergeschlagen, ihre Erzeugnisse auf bislang angestammte Absatzmärkte zu bringen. Diese Entwicklungen lassen sich etwa am Fall der Oehlers gut nachverfolgen. Die Verschärfung der protektionistischen Handelspolitik der großen europäischen Flächenstaaten, in Spahypothetische Frage. Vgl. HStAD Kommerziendeputation Nr. 1701 (Loc. 11103/XVI. Nr. 579) Bl. 159 f.: Extrakt Relation Michaelismesse, 7.10.1799. 152 HStAD Kommerziendeputation Nr. 1701 (Loc. 11103/XVI. Nr. 579), Bl. 160. 153 Vgl. Kirchner, Schafwoll-Maschinenspinnerei, S. 78 ff.; Kästner, Crimmitschau, S. 85 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1520 (Loc. 11139/XIII.1679), o. Bl.: Bericht Dürisch, 24.9.1804; ebd. Nr. 1521 (Loc. 11144/XIII. 1797), Bl. 113 f.: Bericht Dürisch 29.9.1805; ebd. o. Bl.: Bericht Dürisch, 6.10.1806; ebd. Nr. 1523 (Loc. 11148/XIII. 1937), Bl. 130 f.: Bericht Dürisch, 29.9.1809.
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nien, Österreich und Russland, wohin schafwollene Stoffe in größeren Quantitäten exportiert worden waren, traf das Crimmitschauer Unternehmen zeitweise empfindlich. Zur Leipziger Michaelismesse 1797 klagte etwa der Vertreter des Hauses Oehler, die jüdisch-polnischen Kaufleute hätten Bestellungen im Wert von insgesamt 40.000 Talern storniert, weil die russischen Behörden angekündigt hatten, die in den Vorjahren erlassen Einfuhrverbote mit aller Härte durchzusetzen. Schmugglern drohe die Auspeitschung und die Verbannung nach Sibirien. Bestechliche Zollbeamten würden mit sofortiger Entlassung, bei größeren Delikten mit dem Tode bestraft. Oehler und die anderen westsächsischen Verlagsunternehmer versuchten, solche Absatzmarktverluste ganz ähnlich wie die Plauener Musselinkaufleute zunächst zu kompensieren, indem sie verstärkt auf den Export nach Italien und die levantinischen Verbindungen der italienischen Handelshäfen setzten. Auch in diesem Falle versperrte ihnen die französische Expansion und die protektionistische Abschirmungspolitik Napoleons zusehends den Zugang nach Süd- und Westeuropa.154 Andererseits hinderten kriegsbedingte Störungen immer wieder den Zugang zu den europäischen und transatlantischen Absatzmärkten. In den Akten der Kommerziendeputation finden sich zahlreiche Berichte über die Probleme der sächsischen Wollwarenverleger, ihre Erzeugnisse in den vom Krieg betroffenen Regionen zu vermarkten. Im Herbst 1797 kamen die Söhne und Nachfolger des gerade verstorbenen David Friedrich Oehler nach Verlusten im Spanien- und im Italiengeschäft in eine prekäre Lage. In Italien hatten die Behörden größere Geldsummen aus den Erlösen der dort umgesetzten Waren beschlagnahmt. Die Crimmitschauer Verleger machten sich wenig Hoffnung, die konfiszierten Gelder wieder zu erlangen. Sie mutmaßten, dass ihre italienischen Geschäftspartner „auf Betrug ausgingen und im Einverständniße mit genannten Commißarien, die Bezahlung ihrer Schulden unter dem Vorwand der Confiscation verweigerten.“155 Zwei Jahre später meldeten die Oehlers der Kommerziendeputation, ihnen seien beträchtliche Warenmengen in der Messestadt Senegallia durch plündernde französische Soldaten verloren gegangen.156 Zudem geriet mit der britischen Blockade von Cádiz der Export nach Spanien ins Stocken. Die Gebrüder Oehler verloren bei der Aufbringung eines dänischen Frachtschiffes durch die Engländer Waren im Wert von 50.000 Mark, „obgleich selbige mit Attestaten und Stempeln zur Beglaubigung ihrer hierländischen Qualität versehen gewesen.“157 Trotz voller Auftragsbücher mussten die Oehlers die Produktion drosseln, da die „Assekuranz“-Unternehmen nicht mehr bereit waren, Schiffsfrachten nach Spanien zu versichern. Hinzu kamen Probleme mit der Zahlungsabwicklung infolge des Kursverfalls einiger wichtiger Währungen, so dass 154 Vgl. HStAD Kommerziendeputation Nr. 1701, (Loc. 11103/XVI. 579), Bl. 137: Extrakt Messrelationen, 22.10.1797; Meinert, Handelsbeziehungen, S. 56 f.; Pönicke, Betriebssystem, S. 154. 155 HStAD Kommerziendeputation Nr. 1701, (Loc. 11103/XVI. 579), Bl. 136: Extrakt Messrelationen, 22.10.1797. 156 Ebd. Bl. 159: Extrakt Messrelationen, 7.10.1799. 157 Ebd. Bl. 136: Extrakt Messrelationen, 22.10.1797.
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beim Wechselverkehr empfindliche Verluste drohten. Die Gebrüder Oehler entließen 1797/98 einen größeren Teil der Arbeiter, die sie in den hauseigenen Färbereien, Druckereien, Appreturanstalten und Webmanufakturen beschäftigt hatten. Die „geschicktesten und brauchbarsten derselben hätten sich sogleich ins Ausland gewendet, auch meistens schon beym Lagerhauß zu Berlin die gesuchte Wiederanstellung gefunden“ oder seien in den Niederlanden untergekommen. Im Frühjahr 1799 sahen sich die Gebrüder Oehler schließlich gezwungen, den größeren Teil der von ihnen verlegten Weber zu verabschieden.158 Insofern unterschieden sich die Marktbedingungen seit der zweiten Hälfte der 1790er Jahre im sächsischen Tuch- und Wollzeugexport wenig von denen anderer Textilbranchen des Kurfürstentums. Doch anders als in der Plauener Musselinmanufaktur und der Chemnitzer Piquéeweberei überstanden die Produzenten und Verleger feinerer und hochwertigerer Artikel aus Schafwolle die turbulenten Jahre vor und nach 1800 insgesamt vergleichsweise unbeschadet. Von Überschwemmungen der Messe- und Umschlagplätze in Hamburg, Leipzig oder Livorno mit britischen Stoffen zu Niedrigstpreisen, wie sie die Baumwollbranchen in unschöner Regelmäßigkeit erleben mussten, blieben die sächsischen Wollwarenverleger offenbar weitgehend verschont. Dies lag wohl nicht zuletzt daran, dass sich die Produktion von Geweben aus Baumwolle trotz des Übergangs zur Maschinenspinnerei längst nicht in dem Maße steigern ließ wie der Ausstoß von Baumwollstoffen. Hinzu kamen die bereits oben erwähnten Vorteile der sächsischen Weberei hinsichtlich der Zufuhr hochwertiger Merinowolle. Der britische Wollwarenexport fand zudem in Nordamerika einen dynamisch wachsenden Absatzmarkt, der ihm von der kontinentaleuropäischen Konkurrenz unter den Bedingungen des Seehandelskriegs kaum ernsthaft streitig gemacht werden konnte. Nach 1805 ging die Einfuhr britischer Wollwaren nach Deutschland im Zuge der französischen Sperrmaßnahmen deutlich zurück. Oehler und andere sächsische Manufakturverleger ahmten nun vermehrt Westen- und Hosenzeuge nach, die, „ganz nach Englischer Art verpackt, von den Ausländern für ächt Englisch“ gekauft wurden.159 Zudem scheint der sächsische Wollwarenexport im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts nicht mehr so stark von kriegsbedingten Störungen betroffen gewesen zu sein. Vor allem die wichtigen italienischen Märkte standen nun dem Vertrieb der Flanelle, Casimire und feinen Tuche aus Sachsen für längere Zeiträume relativ ungehindert offen. Dieser Aufschwung schlug sich auch in der Gründung einiger weiterer zentraler Manufakturbetriebe in den Jahren nach 1800 nieder. J. G. Gräser und J. T. Weitz vermeldeten im Frühjahr 1804 aus Werdau, sie hätten seit einem dreiviertel Jahr eine Feintuch- und Casimir-Fabrik mit zugehöriger Färbe- und Appreturanstalt eingerichtet. Auf sechs Webstühlen ließen sie im eigenen Haus arbeiten, neben etwa 25 bis 30 Stühlen außer Haus. 1807 mussten Gräser & Weitz aber nach 158 Zitat nach: Pönicke, Betriebssystem, S. 154 f.; vgl. HStAD Kommerziendeputation Nr. 1701 (Loc. 11103/XVI. 579), Bl. 140, 158 f.: Extrakte Messrelationen, 9.5.1798, 23.4.1799, 7.10.1799. 159 Zitat: Ansicht einiger Hauptzweige, S. 120; vgl. ebd. S. 91 f., 101, 117–120; Jenkins/Ponting, Industry, S. 59–64; Hudson, Genesis, S. 163; James, History, S. 307.
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handgreiflichen Protesten der örtlichen Tuchmachergesellen die Weberei aus ihrer Fabrik ausgliedern.160 Ein ähnliches Etablissement entstand unter der Firma Fischer & Zumpe 1805 in Dresden. Hier wurden auf sieben, später auf 14 Stühlen feine Tuchwaren gewebt und anschließend gefärbt und appretiert. Seit 1808 verfügten Fischer & Zumpe zudem über eine eigene Walke im nahen Dippoldiswalde und beschäftigten an die 300 Arbeitskräfte. Schon 1794 hatte der Wollwarenkaufmann Christian August Roch in Freiberg eine Manufaktur eröffnet, die zunächst neun Webstühle für Tuche, Halbtuche und Casimir unter einem Dach vereinigte. In den Jahren 1803 bis 1806 vergrößerte Roch seinen Betrieb beträchtlich, so dass dieser schließlich fast 300 Beschäftigte zählte.161 Erst in der Endphase der Kontinentalsperre trübte sich die Lage der sächsischen Wollwaren-Exportgewerbe nachhaltig ein. Noch im November 1810 berichteten die Gebrüder Oehler ihrem König stolz, es sei ihnen gelungen, die häufigsten bisher aus England bezogen Woll- und z. T. auch Baumwollwaren „durch geschickte, belohnungswürdige Arbeiter“ so zu fertigen, „daß die meisten unserer Artikel, sowohl in Leipzig, als auswärts für wirklich englische anerkannt worden“. Man beschäftige zur Zeit 1200–1500 Arbeitskräfte und sei trotzdem nicht in der Lage, „alle eingehenden Bestellungen hinlänglich und geschwind genug befriedigen [zu] können“.162 Das Crimmitschauer Verlags- und Manufakturunternehmen wollte angesichts blendender Geschäftsaussichten expandieren, scheute aber vor den hohen Kreditzinsen der Leipziger Bankiers zurück. Um die benötigten Mittel aufbringen zu können, erbaten sich die Gebrüder Oehler vom Landesherren einen Zinszuschuss, was ihnen schließlich auch bewilligt wurde. Doch erwies sich der Optimismus des Crimmitschauer Unternehmens hinsichtlich der künftigen Entwicklung des sächsischen Wollwarenhandels als voreilig. Schon einige Wochen später vollzog das Zarenreich wieder eine seiner notorischen handelspolitischen Pirouetten und untersagte plötzlich die Einfuhr fast aller ausländischer Fabrikwaren. Mit der Sperrung der Elb- und Wesermündung und der Errichtung der nordwestdeutschen Zollgrenzlinie schloss sich einige Monate später ein weiterer wichtiger Vertriebsweg. Als im Verlauf des Jahres 1813 das Königreich Sachsen selbst zum Kriegsschauplatz wurde, kamen Produktion und Absatz fast völlig zum Stillstand. Winkler & Sohn berichteten den Beamten der Kommerziendeputation während der Ostermesse 1814, „daß sie im vorjährigen unglücklichen Sommer-Halbjahr fast ganz geschäftslos, und die von ihnen verlegten Wollkämmer, Spinner und Weber durch Mangel an Arbeit und Verdienst, noch mehr aber durch Einquartierungslasten, Plünderung, und sonstige Kriegsdrangsale zum größ160 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1648 (Loc. 11145/XI. 1835), Bl. 1 f.: Johann Gottlieb Gräser & Johann Tobias Weitz an Kurfürst, 30.4.1804; ebd. Bl. 13 ff.: dito, 28.7.1804; ebd. Bl. 23: Justizamt Zwickau an Kurfürst, 15.3.1805; ebd. Bl. 60 f.: Extrakt Relation Ostermesse, 30.4.1807; Bl. 64 f.: Justizamt Zwickau an König, 16.6.1807; sowie Bökelmann, Wollgewerbe, S. 60 f. 161 Vgl. Bökelmann, Wollgewerbe, S. 48–51, 62 f. 162 Zitate: HStAD Kommerziendeputation Nr. 1702 (Loc. 11154/XIV. 2021), Bl. 6 f.: Gebr. Oehler an König, 13.11.1810; Vgl. zum Folgenden: ebd. Bl. 30: Gebr. Oehler an Kommerziendeputation, 14.8.1811; Pönicke, Betriebssystem, S. 157.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815 ten Theile so erschöpft worden wären, daß dieselben, um Brod für sich und die Ihrigen kaufen zu können, zu oft wiederholtenmalen mit Geld hätten unterstützt werden müßen.“
Im Vorfeld der Leipziger Völkerschlacht habe die „Handels-Communication mit dem Auslande und selbst mit einem Theile des Inlandes, ja sogar fast aller Postenlauf“ aufgehört.163 Insgesamt scheinen aber die exportorientierten Crimmitschauer und Rochlitzer Wollwarenunternehmer wesentlich besser durch die napoleonische Zeit mit ihren permanenten Veränderungen der Vermarktungsbedingungen gekommen zu sein als die Kaufleute und Produzenten in denjenigen Orten und Regionen, die an der traditionellen Tuch- und Zeugmacherei festgehalten hatten. Die Hersteller der groben, geringwertigen Wollgewebe mochten zwar die britische Konkurrenz, die ein anderes Marktsegment bediente, kaum spüren. Doch dafür fügten ihnen preußische und böhmische Anbieter auf den Leipziger Messen um so mehr Schaden zu. Eine 1802 erschienene Schrift des Leipziger Ökonomen F. G. Leonhardi konstatierte einen zunehmenden Verfall bei den Herstellern ordinärer Tuche, Flanelle und Zeuge. Leonhardi führte diesen Verfall zum Teil auf die mangelnde Sorgfalt bei der Verarbeitung und Appretur der Gewebe und eine ineffektive Qualitätskontrolle durch die zünftigen Schauanstalten zurück. Zudem waren auch die Wollwarengewerbe mit einem eher begrenzten Vermarktungsradius von der Welle des handelspolitischen Protektionismus im ausgehenden 18. Jahrhundert betroffen. Die Nachbarländer Bayern und Österreich, wo ein gewichtiger Teil der sächsischen Tuche und Wollzeuge seinen Absatz gefunden hatte, hoben ihre Einfuhrzölle beträchtlich an. Auch der Einbezug des linken Rheinufers in den französischen Staatsverband 1798 beeinträchtigte den Absatz ordinärer Wollwaren aus Sachsen.164 Große Probleme bereitete den Herstellern einfacher Wollwaren offenbar die Entwicklung des kursächsischen Wollmarktes. Je mehr sich die Zucht von Merinoschafen und die Ausfuhr von hochwertiger „Elektorenwolle“ als gewinnträchtiges Betätigungsfeld erwies, desto mehr verknappte sich für die Tuch- und Zeugmacher die gewohnte Rohstoffzufuhr aus den heimischen Schäfereien. Während die preußische und österreichische Konkurrenz billige und einfache Wollen aus den neuen polnischen Landesteilen erhielt, ging das Angebot ähnlicher Qualitäten in Sachsen zurück. Die sächsischen Tuchmacherinnungen und Wollwarenkaufleute forderten zwar die Dresdner Regierung immer wieder auf, den ungehinderten Export sächsischer Wolle ins Ausland zu verhindern. Sie drangen aber mit diesem Anliegen umso weniger durch, als es gerade die landbesitzenden Eliten waren, die sich in der Schafzucht engagiert hatten und die sich den Zugang zu den lukrativsten Wollmärkten nicht versperren lassen wollten.165 163 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 938 (Loc. 11471), o. Bl.: Relation Ostermesse 1814. Vgl. ebd. Nr. 935 (Loc. 11471), Bl. 109: Relation Michaelismesse 1812; ebd. Nr. 1524 (Loc. 11154/XIII. 2034), Bl. 118: Bericht Dürisch, 30.4.1812. 164 Vgl. Leonhardi, Bemerkungen, S. 48, 54–58; Poenicke, Tuchmacherei, S. 60; Rößig, Handelskunde, S. 273 f. 165 Vgl. Bein, Industrie, S. 203; Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 284, Bl. 2–10: Lengenfelder Tuchmacher und Kaufleute an den Kurfürsten, 17.6.1802.
Zwischenfazit: Überleben durch Absperrung?
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Schließlich hatten die Zeugmacher ähnlich wie die Leineweber damit zu kämpfen, dass ihre Erzeugnisse zusehends durch Kleidungsstoffe aus billigerer Baumwolle verdrängt wurden. Im vogtländischen Lengenfeld, einem Zentrum der Wollweberei, ging ein Teil der Tuch- und Zeugmacher zur Herstellung von Kattunen und ähnlichen Baumwollstoffen über oder wechselte zur Anfertigung von wollenen Modestoffen wie Casimir und Flanell. Damit begaben sie sich auf das gleiche Feld wie ihre Zunftgenossen, die für die Crimmitschauer, Geraer und Greizer Verleger arbeiteten. Auch hier wurden die handwerklichen Produzenten um 1800 stärker in verlagsähnliche Strukturen einbezogen. Sie stellten nur noch Rohware her, deren Endverarbeitung sie ihren Abnehmern überließen. Das Tuchmachergewerbe konnte mancherorts die Aussperrung von den Märkten der Nachbarländer durch die verstärkte Nachfrage der Militärverwaltungen nach einfachen Tuchen für Uniformen kompensieren. Doch auch hier klagten die Innungen, ihre Mitglieder würden wegen der exorbitanten Wollpreise kaum auf ihre Kosten kommen.166 ZWISCHENFAZIT: ÜBERLEBEN DURCH ABSPERRUNG? Am Anfang dieses Kapitels stand ein heuristisches Experiment. Ausgangspunkt war die gedankliche Prämisse, dass industrielle Entwicklungen in einer Textilexportregion zwangsläufig auf die Marktposition konkurrierender Regionen zurückwirkten und die dortigen Wirtschaftsakteure zur Reaktion zwangen. Noch etwas zugespitzter formuliert könnte die Eingangsthese lauten: Die Industrialisierung wichtiger Teile und Stufen der britischen Textilproduktion drängte zwangsläufig die sächsischen Textilproduzenten zum Nachvollzug industrieller Entwicklungen. Oder anders herum formuliert: Die frühindustriellen Entwicklungen in den sächsischen Textilrevieren wurden angetrieben, hervorgerufen, erzwungen durch die Herausforderung, den der britische Produktivitätssprung im ausgehenden 18. Jahrhundert setzte. Eine solche Challenge and Response-Konfiguration scheint, zumindest auf den ersten Blick, für die Diffusion der industriellen Schlüsselinnovationen in der Spinnerei durchaus aussagekräftig. Dass der Durchbruch der kraftgetriebenen Mule-Spinnerei in Lancashire und Lanarkshire weitreichende Folgen für die sächsische Baumwollwarenmanufaktur haben würde, war wichtigen unternehmerischen und staatlichen Akteuren bereits bewusst, bevor sich diese Entwicklung auf das Marktgeschehen selbst niederschlug. Der Nachvollzug dieser Innovationen ging trotz aller Hindernisse und Probleme des technologischen Wissenstransfers ausgesprochen rasch vonstatten: Zwischen Baumgärtels Erkundungsreise nach England 1791 und dem Beginn des Baus der ersten sächsischen Maschinenspinnerei 1798 lagen ganze sieben Jahre. Die weitere Diffusion der Mule-Spinnerei nach 1800 wäre wohl noch deutlich rascher abgelaufen, hätten die staatlicherseits gewährten 166 Vgl. Bein, Industrie, S. 203 ff.; HStA Dresden 10078: Kommerziendeputation Nr. 935 (Loc. 11471), Bl. 106–110: Relation Michaelismesse 1812; ebd. Bl. 33 f.: Sitzung Kommerziendeputation, Leipzig, 12.10.1812; Meinert, Handelsbeziehungen, S. 59; Poenicke, Tuchmacherei, S. 60 f.
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
Exklusivverwertungsrechte den Bau weiterer Spinnfabriken nicht um fast ein Jahrzehnt verzögert. Bei etwas genauerem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass der Druck zur Maschinisierung der Spinnerei wohl nicht allein von der Bedrohung durch die britische Konkurrenz ausging. Erstens hatte sich infolge des notorischen Garnmangels in der südwestsächsischen Baumwollweberei schon vor 1790 ein veritabler endogener Push-Faktor aufgebaut. Die Kapazitäten der Handspinnerei waren vor allem im Vogtland ausgereizt. Die neue Spinntechnologie versprach daher einen Ausbruch aus dem „Flaschenhals“ der Halbwarenproduktion. Ein Pull-Faktor für die rasche Durchsetzung der Maschinenspinnerei in Südwestsachsen dürften – zweitens – sicherlich auch die zu erwartenden Gewinne aus der Anlage von „Spinnmühlen“ gewesen sein. Dies galt vor allem für die Phase, in der die napoleonische Kontinentalsperre den sächsischen Spinnern tatsächlich einen effektiven Schutz vor der britischen Konkurrenz bot, also in den Jahren 1810–12. Doch war die Aussperrung der Briten wohl eher ein zusätzlicher Investitionsanreiz, der auch zur Gründung zahlreicher Betriebe führte, die sich unter „normalen“ Umständen als wenig wettbewerbsfähig erwiesen. Die Kontinentalsperre kann damit keinesfalls als konstitutiver Faktor für Entstehung und Überleben der sächsischen Maschinenspinnerei gelten. Schließlich waren drittens die verschiedenen Branchen und Reviere der sächsischen Baumwollwarenmanufaktur in sehr unterschiedlichem Maße von den industriellen Entwicklungen in England und Schottland betroffen. Da der Produktivitätsgewinn der Mule-Spinnerei zunächst vor allem bei der Herstellung feinerer Garne durchschlug, geriet vornehmlich die vogtländische Musselinweberei in ernsthafte Schwierigkeiten. Und gerade in diesem Falle brachte der Übergang zur Maschinenspinnerei keine adäquate Antwort für die britische Herausforderung hervor. Es gelang nicht, auf den nachgebauten sächsischen Mules Garne von ähnlicher Qualität wie in Glasgow oder Manchester zu spinnen. Die rasche Industrialisierung der Spinnerei stellte demnach letztlich kein hinreichendes Mittel dar, um die Krise der sächsischen Musselinmanufaktur zu beheben. Ansatzweise erfolgreicher erwiesen sich andere Strategien der Krisenbewältigung. Solange britisches Maschinengarn in ausreichender Menge importiert werden konnte, bot etwa die Fertigung arbeitsintensiver hochwertiger, durch Stickereien veredelter Gewebe eine Nische für die Plauener Musselinverleger. Im vogtländischen Falkenstein verhalf die britische Maschinenspinnerei seit Mitte der 1790er Jahre der örtlichen Webwarenmanufaktur sogar zu einem ansehnlichen Aufschwung. Dort hatte nämlich 1788 der Webermeister Andreas Hahn begonnen, einen Stoff zu fertigen, den er in Flandern kennen gelernt hatte. Mangels feiner Baumwollgarne behalf er sich zunächst damit, solches Cambray aus Leinen herzustellen. Schon 1795 wurde das Falkensteiner „Kammertuch“ überwiegend aus importiertem Maschinengarn gewebt und behauptete sich erfolgreich gegen die Erzeugnisse der französischen Konkurrenz, der die Halbwarenzufuhr aus England versperrt war.167 167 Vgl. Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 281, Bl. 64 ff.: Gottlob Friedrich Thomas, Lengenfeld, an Kreishauptmannschaft, 15.9.1795; Bein, Industrie, S. 102 ff., 197 f.
Zwischenfazit: Überleben durch Absperrung?
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Ein zweiter Sektor der sächsischen Textilwirtschaft, in dem sich zentrale Produktionsformen in größerem Maße durchsetzten, entwickelte sich um 1800 in der Kattundruckerei. Allerdings hatte es solche Betriebe schon in den Jahrzehnten zuvor gegeben. Zudem vollzogen die sächsischen Kattundruckereien vor 1815 nicht den Schritt zur Maschinisierung der Produktion, die in Großbritannien, in Frankreich und anderswo in Westeuropa bereits in Gang gekommen war. Sie blieben demnach Manufakturen im engeren Sinne und wurden nicht zu Fabriken. In diesem Sinne kam in der Gründungswelle der Textildruckereibetriebe nicht unbedingt ein Nachvollzug industrieller Entwicklungen in anderen Regionen zum Ausdruck. Sie erscheint vielmehr in gewisser Hinsicht als Teil einer Strategie des Ausweichens vor den Folgen der Industrialisierung in Großbritannien. Nachdem es zunehmend schwierig geworden war, mit feineren Webwaren in den Wettbewerb mit der britischen Konkurrenz zu treten, bot die Konzentration auf die Fertigung robuster dichter Gewebe und deren Veredelung durch den Textildruck einen erfolgversprechenden Ausweg. Gerade die Kattunweberei profitierte wiederum von der Maschinisierung der sächsischen Spinnerei, die starke und feste Garnsorten relativ preisgünstig und in annehmbarer Qualität liefern konnte. Für die sächsische Textilexportwirtschaft insgesamt besaßen allerdings die industriellen Entwicklungen in Großbritannien in der Zeit zwischen 1790 und 1815 nur recht begrenzte Auswirkungen. Branchen wie die Wollweberei und Tuchmacherei, die Strumpfwirkerei oder die Leinwandmanufaktur erscheinen allenfalls peripher betroffen. Ein wesentlich höherer Stellenwert für das Wohl und Wehe der sächsischen Textilmanufaktur kam in diesem Vierteljahrhundert den Bedingungen des Zugangs zu den Rohstoff-, Halbwaren- und Absatzmärkten zu. Unter gewissen Konstellationen mögen einige ihrer Branchen von wirtschaftsspolitischen Kampfmaßnahmen, Handelsblockaden und staatlichen Umwälzungen in der napoleonischen Ära profitiert haben. Wenn etwa der Konkurrenz für einige Zeit der Weg zu bestimmten Absatzregionen versperrt war oder wenn sich, wie im Gefolge der Schaffung des Großherzogtums Warschau, ein privilegierter Marktzugang öffnete, kam dies sicher auch der sächsischen Textilwirtschaft entgegen. Doch im Ganzen gesehen überwogen die negativen Folgen. Dies galt vor allem für diejenigen Sektoren der Textilmanufaktur, die ihre Hauptabsatzgebiete in Übersee hatten – wie der Lausitzer Leinenexport – oder die von der Zufuhr überseeischer Rohstoffe und britischer Halbwaren abhängig waren – wie Teile der Baumwollweberei. Selbst der Boom der sächsischen Kattunweberei und -druckerei ging letztlich großenteils zu Lasten der zuvor gefertigten feineren Webwaren, einer gewöhnlich gewinnträchtigeren Produktlinie. Können wir schließlich einen Zusammenhang herstellen zwischen den Handelswegkrisen der Jahrzehnte vor 1815 und der Entwicklung integrierter Unternehmen? Versuchten die unternehmerischen Akteure in den sächsischen Textilrevieren im Zeichen rapide steigender Transaktionskosten die Produktion unter dem eigenen Dach zu zentralisieren und ihre Vertriebsorganisation auszubauen und auszudehnen? Nun kann man etwa in der Neugründung von Tuch- und Wollwarenmanufakturen in der Zeit nach 1800 durchaus Tendenzen zu einer Zentralisierung der Produktion erkennen. Doch handelte es sich dabei meist um die Herstellung hochwer-
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3. Industrielle Revolution, Märkte und Kriege 1790–1815
tiger Erzeugnisse, bei denen eine Zentralisierung der Produktion primär auf die Sicherung der Qualitätskontrolle zielte. Zumindest im Baumwollsektor ging der Trend während der napoleonischen Zeit aber in die entgegengesetzte Richtung: weg von den hochwertigen, hin zu den einfachen Stoffen. Die Rohkattune wurden auch von den großen Druckerei-Unternehmen von außen bezogen, sei es von eigenen Verlagsarbeitern, sei es vom Zwischenhandel. Soweit zu übersehen ist, wurden keine Versuche unternommen, auf einander bezogene Produktionsstufen wie Baumwollspinnerei, Kattunweberei und Druckerei in einem Betrieb zu integrieren. Ebenso wenig sind Bestrebungen erkennbar, die zunehmenden Transaktionsrisiken beim Vertrieb der Waren durch den Ausbau eigener Vertriebsorganisationen zu vermindern. Ganz im Gegenteil: Gerade die Unternehmer, die sich vor 1790 bei der Anknüpfung direkter Handelsbeziehungen am weitesten hinausgewagt hatten, die Plauener Musselinkompanien und die großen Oberlausitzer Leinenhandlungen, standen nun oft vor den Trümmern ihrer geschäftlichen Existenz. Der Anstieg der Transaktionskosten des Vertriebs infolge von Seeblockaden, kriegerischen Unruhen oder Grenzschließungen ließ sich wohl kaum durch Gründung von eigenen Verkaufsfilialen und Warenlagern kompensieren.
4. DIE VERZÖGERTE INDUSTRIALISIERUNG 1815–1850 4.1 ERFOLGSREZEPT MASCHINISIERUNG? Die Herausforderung der Maschinendruckerei Die Chemnitzer Kattundrucker und Baumwollwarenverleger sahen im Frühjahr 1814 dem Anbruch der nach-napoleonischen Zeit mit gemischten Gefühlen entgegen. Amtmann Dürisch stellte in seinem Halbjahresbericht zwar fest, dass die Branche seit der Leipziger Neujahrsmesse wieder in schwunghaftem Umtrieb sei. Es habe den Anschein, als ob der hiesige Manufaktur-Waaren-Handel wieder seinen alten Gang nehmen, und mehr auch den Absatz der Mittel und ordinairen als der feinen Waaren für die Zukunft zu rechnen seyn würde. Es speculiren zwar die beyden Cattundruckereyen Becker und Schrapps und Pflugbeil und Comp. welche sich bisher vorzüglich mit feinen Druckwaaren beschäftigt haben, noch um deswillen auf die jetzige Jubilate-Messe, weil noch keine neue englische Waaren ankommen können und haben dahero ihre Drucktische ansehnlich vermehrt; allein es ist nicht zu erwarten, daß sie in dieser Art Waare mit den Engländern werden Concurrenz halten können.“1
In Dürischs Bericht schwingt einerseits die gespannte Erwartung darüber mit, was passieren würde, wenn die in den vergangenen drei Jahren recht effektiv von den kontinentaleuropäischen Messen und Märkten fern gehaltene britische Konkurrenz ihre Baumwollerzeugnisse in Leipzig und anderswo tatsächlich wieder ungehindert anbieten würde. Andererseits interpoliert der Chemnitzer Amtmann recht umstandslos die Erfahrungen der letzten anderthalb Jahrzehnte für seine Prognose künftiger Marktkonstellationen: Die eindrucksvollen Wachstumsziffern der Baumwollweberei und Textildruckerei in der napoleonischen Zeit basierte vor allem auf dem Markterfolg der bedruckten Kattune in den einfachen und mittleren Preislagen. Dagegen waren die Chemnitzer Baumwollwaren in den gehobeneren Qualitätssegmenten des Textilmarktes seit den späten 1790er Jahren zunehmend von der Konkurrenz aus Manchester und Glasgow zurückgedrängt worden. Zur Ostermesse 1815 schwappte die befürchtete Flutwelle über die Handelsdrehscheibe Leipzig. Die Briten räumten nun ihre in den Jahren zuvor auf Helgoland und anderen Stützpunkten an der Peripherie des französischen Sperrgürtels angehäuften Lager. Das „enorme Verschleudern der englischen Waaren fast um jeden Preiß, wenn er nur in Baarzahlung erfolgte“, beklagte Dürisch in seinem Bericht an die Kommerziendeputation, habe den Markt für die sächsischen Erzeugnisse völlig verdorben. Die sächsischen Textilunternehmer und Gewerbebeamten mutmaßten, dass die Engländer nicht nur ihre überschüssigen Lagerbestände abstoßen wollten. Vielmehr versuche eine „starke Association von Manufacturisten und 1
HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1524 (Loc. 11154/XIII. 2034), Bl. 210: Bericht Dürisch, 29.4.1814. „Jubilate-Messe“ meint die Leipziger Ostermesse.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
Kaufleuten in England“ planmäßig, „besonders die sächsischen Cattun-Druckereyen und Spinnereyen niederzudrücken, und wäre es auch mit bedeutenden Aufopferungen und Verlust zu erfüllen“. Es sei ein Eingangszoll für englische Manufakturwaren nötig, zumal „die innländischen Fabriken … in der Feinheit der Waaren, in schönen Mustern und in der Dauer der Farben so weit gekommen, daß sie nicht nur die englische Concurrenz aushalten konnten, sondern sogar … Vorzüge erlangt hatten.“ Gegen diesen gezielten Verdrängungswettbewerb durch Dumpingpreise unter den Gestehungskosten solle der sächsische Staat vorgehen. Der Ruf nach zollpolitischen Maßregelungen verhallte in Dresden ungehört, doch nachdem die Lager der britischen Exporteure geräumt waren, konsolidierte sich die Marktposition der Chemnitzer Druckkattune wieder.2 Doch dies war nur eine Atempause. Schon zur Leipziger Ostermesse 1817 entwarf Dürischs Halbjahresbericht ein wahres Katastrophenszenario: Die sächsische Baumwollwarenmanufaktur stehe vor der völligen Auflösung. „Den ganzen Winter hindurch ist kein einziger Artikel gesucht worden; alle sonst gewöhnlichen Bestellungen sind außen geblieben, und bey dem Wenigen, was für den augenblicklichen Bedarf noch in Einzelnen, … gekauft wird, werden die Preiße, wenn sie auch noch so billig stehen, bis aufs äußerste gedrückt.“3 Zu einer Auflösung der Chemnitzer Baumwollweberei und Kattundruckerei, wie sie Dürisch in sicherlich etwas zu dramatischer Diktion beschwor, ist zwar in den nächsten Jahren nicht gekommen. Doch deuten die Produktionsdaten auf eine scharfe Absatzkrise hin. Zwischen 1816 und 1820 ging der Ausstoß der Chemnitzer Kattundruckereien von 96.905 auf 44.850 Stück zurück. Gegenüber dem Boomjahr 1810 war er auf weniger als ein Viertel geschrumpft. Die Zahl der „gangbaren“ Drucktische verminderte sich im Jahrfünft 1814/19 von 519 auf etwa 300. In Chemnitz stabilisierte sich die Lage der Kattundruckereien in den 1820er Jahren wieder. Schon 1820 wurden drei neue Kattundruckereien gegründet. Doch erreichten die Produktionsziffern in den 1820er und 30er Jahren den Stand der napoleonischen Zeit nicht einmal annähernd. Verließen im Jahrzehnt vor 1814 oft zwischen 100.000 und 150.000 Stück bedruckter Kattune jährlich die Chemnitzer Druckereien, so waren es nach 1820 in auch in den besten Jahren kaum über 50.000. Allerdings kamen dazu noch bedruckte Kopf-, Hals- und Taschentücher, deren Fertigung erst seit 1820 aufgenommen worden war und die in Dutzenden berechnet wurden. In zahlreichen Orten des erzgebirgischen Kreises, im Vogtland und ebenso in Meißen, Grimma, Bautzen oder Zittau erlosch die Kattundruckerei zwischen 1815 und 1830 ganz.4 Der Einbruch der sächsischen Kattundruckerei lässt sich in den ersten Jahren nach 1815 sicherlich zu einem großen Teil mit den Auswirkungen der allgemeinen 2
3 4
Zitate: Ebd. Nr. 1525 (Loc. 11157/XIII. 2141), Bl. 27, 29: Bericht Dürisch, 23.4.1815. Vgl. ebd., Bl. 92 ff., 184: Berichte Dürisch, 9.10.1815, 3.10.1816; ebd. Nr. 1563 (Loc. 11154/XIV. 2031), Bl. 124: Bericht General-Accis-Inspection Zschopau, 5.6.1815; Bodemer, Revolution, S. 16. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1526 (Loc. 11161/XII 2177), Bl. 1: Bericht Dürisch, 23.4.1817. Vgl. Kurrer, Zeugdruckerei, S. 11–21; Maschner, Weberei, S. 117 f.; Scholz, Kattundruckerei, S. 148; Meister, Führer, S. 54.
4.1 Erfolgsrezept Maschinisierung?
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Wirtschafts- und Subsistenzkrise der Nachkriegszeit erklären. Missernten und in ihrem Gefolge stark ansteigende Lebensmittelpreise zwischen 1817 und 1819 verminderten in weiten Teilen Europas die Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten beträchtlich. Dies bekamen nicht zuletzt die Anbieter buntbedruckter Baumwollstoffe für den Massenbedarf zu spüren. Dass aber die sächsische Kattundruckerei auch nach dem Ende der krisenhaften Nachkriegszeit weit hinter den Produktionsziffern der napoleonischen Zeit zurückblieb, hing wohl wesentlich damit zusammen, dass sich ihre Wettbewerbsposition gegenüber der westeuropäischen Konkurrenz verschoben hatte. Diese Verschiebungen kann man zunächst durchaus an technologischen Innovationen im Produktionsbereich festmachen. Wie im vorigen Kapitel beschrieben, war in England und Schottland schon seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine Industrialisierung des Kattundrucks in Gang gekommen. In Chemnitz war dagegen um 1810 der Versuch, Walzendruckmaschinen in Gang zu setzen, vorerst an technischen Problemen gescheitert. Der Marktposition der sächsischen Druckkattune scheint diese Entwicklung aber bis in die erste Zeit nach den napoleonischen Kriegen kaum Abbruch getan zu haben. In ihrer Domäne, den bedruckten Baumwollstoffen einfacher und mittlerer Qualität, hatten sich die sächsischen Hersteller auch gegen britische Konkurrenz am Markt gehalten. Noch im Herbst 1816 berichtete Dürisch, die sächsischen Kattundruckereien hätten auf vielen europäischen Märkten die englische Konkurrenz nicht nur ausgehalten, sondern sie teilweise sogar verdrängt.5 In den folgenden Jahren begann sich der industriell-technische Vorsprung der westeuropäischen Kattundruckereien auf die Wettbewerbssituation der sächsischen Manufaktur nachhaltiger niederzuschlagen. Im Mai 1821 vermeldete der Kreishauptmann von Fischer in seinem halbjährlichen Bericht nach Dresden – Dürisch war 1818 gestorben – eine merkliche „Verminderung des Umtriebes der sächsischen Cattunfabriken“. Die Ursache dieser Probleme liege in der zunehmenden Verbreitung der maschinell hergestellten englischen Fabrikate, mit denen die heimischen Erzeugnisse preislich nicht konkurrieren könnten.6 Auf der einen Seite waren die kraftgetriebenen Walzendruckmaschinen technisch nun so ausgereift, dass sie nicht nur für die einfachsten Muster geeignet waren. Zudem war in Manchester um 1810 ein Verfahren zur mechanischen Gravur der Druckwalzen entwickelt und eingeführt worden. Dadurch verkürzte sich die Zeit, die es brauchte, eine Walze zu gravieren von mehreren Monaten auf einige Tage.7 Auf der anderen Seite kam der Maschinendruckerei ein Wandel der Kleidermode zustatten. Solange mehrfarbige, stark gemusterte Textilien in breiten Käuferschichten Anklang gefunden hatten, hatte die sächsische Handdruckerei mit ihren vergleichsweise geringen Arbeitskosten gegenüber westeuropäischen Konkurrenten in diesem Marktsegment die Nase vorn. Doch nach 1815 machten die bunten Stoffe mit wuchernder Ornamentik zunehmend einfarbigen Geweben und einfa5 6 7
Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1525 (Loc. 11157/XIII. 2141), Bl. 184: Bericht Dürisch, 3.10.1816. ebd. Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 134 f.: Bericht v. Fischer, 9.5.1821. Vgl. Timmins, Technological Change, S. 52.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
chen Mustern Platz. Möglicherweise formte hier auch das vermehrte Angebot preisgünstiger, maschinell hergestellter Druckkattune die geschmackliche Umorientierung der Konsumenten hin zu dezenteren Mustern und Farben mit. Nun verlor sich zunehmend der Kostenvorteil der Chemnitzer Kattundruckerei in ihrer bisherigen Domäne, den „ordinairen“ und mittleren Qualitäten. Eine einzige, von einem Arbeiter und seinem Gehilfen bediente Walzendruckmaschine konnte in der gleichen Zeit so viele Kattunstücke bedrucken wie bis zu einhundert Blockdrucker (und ebenso viele jugendliche Hilfskräfte). Eine solche Produktivitätskluft war über die Lohnkosten nicht mehr zu kompensieren.8 Einige Chemnitzer Kattundruckerereien machten nun Anstalten, ebenfalls zur industriellen Produktionsweise überzugehen. Doch standen der Einführung der Maschinendruckerei in Sachsen zunächst einmal nicht unerhebliche Schwierigkeiten und Widerstände entgegen. Dabei scheint die Beschaffung tauglicher Maschinen noch das kleinere Problem gewesen zu sein. Es gelang wohl, eine Walzendruckund eine Gravurmaschine aus Frankreich nach Chemnitz zu überführen. Doch die Kattundrucker, die in den vergangenen Jahrzehnten meist deutlich höhere Arbeitseinkommen als die Verlagsweber erzielt hatten, leisteten den Maschinisierungsbestrebungen ihrer Arbeitgeber heftigen Widerstand. Die in den Quellen gewöhnlich als „Druckergesellen“ firmierenden Blockdrucker besaßen zwar nicht den Status eines formal selbständigen Meisters, doch sie hatten sich kraft gut entlohnter Spezialqualifikationen zu einer selbstbewussten und schlagkräftigen Gruppe qualifizierter Handwerker formiert. Als die Druckereibesitzer angesichts wachsender Absatzprobleme begannen, die Löhne zu reduzieren, traten die Chemnitzer Druckergesellen 1819 in den Streik. Mit den gleichen Mitteln begegneten sie im folgenden Jahr dem Vorstoß C. G. Beckers, Walzendruckmaschinen aufzustellen. Zudem versuchten sie offenbar, ihre innovationswilligen Arbeitgeber durch „sehr bestimmte Drohungen gegen unsere kostbaren Mechaniques“ einzuschüchtern.9 Letztlich verzögerten diese Widerstände aber die Einführung der Maschinendruckerei nur für kurze Zeit. 1822 stellte schließlich die Chemnitzer Kattundruckerei Ackermann & Kühn eine in Gent gebaute Druckmaschine auf, „mittelst welcher durch eine Kupferplatte, in die das Muster eingestochen ist, der Druck in großer Schnelligkeit vollendet wird“. Drei Jahre später vermeldete der Bericht des Kreishauptmanns, mehrere Walzendruckmaschinen seien bei Becker & Schraps in Betrieb genommen worden und Pfaff & Söhne würden demnächst ebenfalls solche Maschinen aufstellen Seit 1828 kamen bei Ackermann & Kühn die neuen englischen Double Rollers zum Einsatz, die zweifarbig drucken konnten. Zwei Jahre später ging das Unternehmen aber in Konkurs. 1834 verzeichnete die amtliche Statistik für den erzgebirgischen und den vogtländischen Kreis nur noch eine gangbare 8 9
Vgl. Scholz, Kattundruckerei, S. 148; Timmins, Technological Change, S. 51; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 94 ff.: Schreiben eines Chemnitzer Kattundruckereibesitzers, ca. Mitte 1820. Zitat: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 95; vgl. ebd. Bl. 92–95; ebd. Nr. 950 (Loc. 11472), o. Bl.: Relation Ostermesse 1820; Müller/Wächtler, Issues, S. 294 ff.; Forberger, Revolution 1/1, S. 163.
4.1 Erfolgsrezept Maschinisierung?
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Kattundruckmaschine, die von Becker & Schraps, während die von Pfaff & Söhne still lag. 15 weitere Textildruckmaschinen wurden zu diesem Zeitpunkt von zwei Merino- und Flanellfabriken (Oeser/Crimmitschau und Petzold/Reichenbach) eingesetzt. 1839 waren es immer noch nur drei Chemnitzer Betriebe, die auf den Walzendruck setzten. Auch in den anderen sächsischen Standorten der Kattundruckerei kamen Walzendruckmaschinen nur in wenigen Fällen zum Einsatz. Die große Mehrzahl der rund 40 sächsischen Kattundruckereien arbeitete bis zum Ausgang der 1830er Jahren allein im herkömmlichen Handblockdruck-Verfahren.10 Verschlossene Märkte Hier deutet sich an, dass ein Tunnelblick auf die Diffusion technologischer Innovationen das Sichtfeld stark einschränken würde. Ohne eine genauere Betrachtung des Marktgeschehens und der Vermarktungsbedingungen ergibt sich auch in diesem Falle kaum ein aussagekräftiges Bild. Die sächsische Baumwollwarenmanufaktur hatte nach 1815 mit außerordentlich widrigen Marktkonstellationen zu kämpfen. Das Königreich Sachsen schrumpfte 1815 auf weniger als die Hälfte seiner Fläche und etwa 60 Prozent seiner Bevölkerung. Verloren gingen dabei vor allem die ländlich-agrarischen Gebiete und mit ihnen ein beträchtlicher Teils des Binnenmarktes. Die während der Verhandlungen auf dem Wiener Friedenskongress angekündigte stärkere Öffnung der innerdeutschen Handelsgrenzen blieb nach der Gründung des Deutschen Bundes eine wertlose Absichtserklärung. Das politische Gewicht Sachsens hatte sich nach der Abtrennung größerer Landesteile vermindert – gerade gegenüber dem mächtigen Nachbar Preußen, in dessen Territorium diese Gebiete aufgegangen waren. Diese politischen Gewichtsverschiebungen schlugen sich auch auf die Rahmenbedingungen des sächsischen Textilexports nieder. Der Warenverkehr zwischen Sachsen und den Nord- und Ostseehäfen war nun kaum noch unter Umgehung preußischen Staatsgebiets möglich. Das Wohl und Wehe der sächsischen Exportgewerbe hing mehr denn je von der Handelspolitik Preußens ab. Vor allem das neue preußische Zolltarifgesetz von 1818 legte den Chemnitzer Druckkattunfabrikanten beträchtliche Hindernisse in den Weg. Das Gesetz zielte nicht zuletzt auf die systematische Förderung der heimischen Baumwollwarenproduzenten. Daher konnten Rohstoffe wie Baumwolle und Färbematerialien im allgemeinen zollfrei eingeführt werden. Halbfabrikate wie Garne wurden nur mit mäßigen Einfuhrabgaben belastet. Für Textilfertigwaren galt dagegen ein wesentlich höherer Zoll, der nach dem Gewicht erhoben. Der Import relativ schwerer und eher geringwertiger Stoffe wie eben Kattunen für den Massenkonsum wurde dadurch 10
Zitat: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 237: Bericht v. Fischer, 13.5.1822; ebd. Nr. 1528 (Loc. 11170/XIII. 2287), Bl. 16: Bericht v. Fischer, 13.6.1825; ebd. Nr. 1444 (Loc. 11155/XIV 2071), Bl. 120 f.: Heinrich Bodemer, Großenhain, an Kommerziendeputation, 21.11.1827; HStAD 10736: MdI Nr. 01395, Bl. 18–37, 88, 93: Tabellerische Übersichten 1834; Müller/Wächtler, Issues, S. 296; Kurrer, Zeugdruckerei, S. 15– 22; Uhlmann, Unternehmer, S. 52.
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massiv belastet. Die preußische Handelspolitik erschwerte damit nicht allein die Konkurrenzfähigkeit der Erzeugnisse der Baumwollmanufaktur aus dem kleineren Nachbarstaat auf dem eigenen Binnenmarkt, der seit 1815 den weitaus größten Teil Nord- und Westdeutschlands umfasste. Schlimmer noch, Durchgangszölle und andere Transitabgaben verteuerten die Transportspesen sächsischer Exportwaren, die ihren Abzug gewöhnlich über die Nordseehäfen, vor allem Hamburg fanden. „Dass das preußische Zollsystem auf den verminderten Vertrieb der Sächsischen Fabricate einen wesentlichen Einfluß hat“, hielt der Chemnitzer Kreishauptmann Fischer 1821 fest, „ist schon daraus zu erkennen, daß diejenigen Manufacte, welche am meisten ins Gewicht fallen und um deswillen oder sonst Vorzugsweise vom Preußischen Ein- und Durchgangszoll und der Verbrauchssteuer betroffen werden, auch am wenigsten Absatz gefunden haben.“11 Auch anderswo machten sich bald wieder handelspolitische Absperrungsmaßnahmen geltend, die unmittelbar nach dem Ende der napoleonischen Kriege vielerorts ausgesetzt oder gelockert worden waren. So erwies sich die Wiederaufnahme der Baumwollwarenexporte nach Holland nur als kurze Episode, die von der niederländischen Regierung 1816 mit dem Hochziehen der Zollschranken beendet wurde. Im gleichen Jahr belegten die Vereinigten Staaten von Amerika ausländische Baumwollwaren mit einem Einfuhrzoll von bis zu einem Drittel des Warenwerts. Bis Mitte der 1820er Jahre hatte ein großer Teil der europäischen Staaten die Einfuhr von Textilwaren entweder durch Schutzzölle belastet oder ganz verboten. Der privilegierte Zugang sächsischer Waren auf den polnischen Markt hatte mit der Eingliederung des ehemaligen Großherzogtums Warschau in den russischen Staatsverband ein Ende gefunden. Das Zarenreich wiederum nahm seine prohibitive Handelspolitik bald wieder auf und belegte bedruckte Kattune und andere Baumwollwaren mit hohen Einfuhrzöllen. Österreich untersagte den Import solcher Erzeugnisse ganz und erschwerte die Bedingungen des Warentransits. Frankreich hatte 1814 auf britischen Druck seine Grenzen für Manufakturwaren geöffnet, schlug aber bald wieder einen protektionistischen Kurs ein und verbot die Einfuhr ausländischer Baumwollwaren schließlich ganz. Auch die italienischen Staaten und deutsche Mittelstaaten wie Bayern und Württemberg hatten bis Mitte der 1820er Jahren den Import von Baumwollwaren aus Sachsen erheblich erschwert oder ganz untersagt.12 Unter den Chemnitzer Kattundruckereibesitzern wurde zwar auch immer mal wieder der Ruf nach höheren Einfuhrabgaben laut, um den ungehinderten Zustrom ausländischer Waren zu den Leipziger Messen einzudämmen. Doch bot eine protektionistische Handelspolitik für die sächsische Textilmanufaktur wohl keine realistische Alternative. Die Dresdner Landesregierung folgte letztlich der Logik des 11
12
HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 136: Bericht v. Fischer, 9.5.1821; vgl. ebd. Nr. 1525 (Loc. 11157/XIII. 2141), Bl. 103 f.: Bericht Dürisch, 30.4.1816; ebd. Nr. 947 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1818; Singleton, World Textile Industry, S. 167; Jacobs, Textilzölle, S. 13; Thieme, Eintritt, S. 12–23; Boch, Wachstum, S. 115 f. Vgl. Mittheilungen Industrieverein 1839, S. 28 f.; Meister, Führer, S. 61; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 206: Bericht v. Fischer, 11.10.1822; Stübler, Textilwaren, S. 173; Sandberg, Movements, S. 16 f.; Fremdling, Zoll- und Handelspolitik, S. 38 f.
4.1 Erfolgsrezept Maschinisierung?
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Arguments, dass diskriminierende Abgaben auf ausländische Messegüter den Rang Leipzigs als zentraler Umschlagplatz schnell infrage stellen würde. Der Binnenmarkt des 1815 um fast die Hälfte seiner Einwohnerschaft verkleinerten Königreichs Sachsen konnte die Produkte der heimischen Textilmanufaktur nur zu einem kleinen Teil aufnehmen. Die südwestsächsischen Baumwollwarenhersteller waren mehr denn je auf Gedeih und Verderb auf die Ausfuhr ihrer Erzeugnisse jenseits der Landesgrenzen angewiesen. Hier lag ein bedeutsames Handicap der sächsischen Kattundruckerei gegenüber ihrer Konkurrenz aus größeren Staaten, vor allem aus Großbritannien. Ohne einen großen, nach außen hin abgesicherten Binnenmarkt konnten sie sich kaum gegen Dumpingstrategien der Konkurrenz wehren. Ihre weitgehende Abhängigkeit vom Absatz auf ausländischen Märkten, die jederzeit versperrt werden konnten, machte es auf der anderen Seite für die Kattundrucker riskant, auf industrielle Massenproduktion zu setzen und in teure Maschinen zu investieren. Noch Anfang der 1830er Jahre hielt der Bericht zur ersten sächsischen Gewerbeausstellung fest: „Das Monopol des Absatzes in einem Bedarfs-Kreise von mehr als 100 Millionen Menschen, mit Einschluß der Colonien, sichert dem englischen Fabrikanten jederzeit einen vortheilhaften großen Markt, und gestattet ihm nicht allein, wenn er den beßten Verdienst von einem Artikel abgeschöpft hat, … den Rest seines Lagers mit einigem, oft nicht unbedeutendem Verlust dem Kaufmann zu überlassen, sondern nöthigt ihn sogar die von der Großartigkeit seines Geschäfts gebotene Nothwendigkeit eines raschen Capital-Umsatzes hierzu. Dadurch bringt der Manufaktur-Waarenhändler … eine Masse Druckwaaren auf den teutschen Markt, mit deren Mannichfaltigkeit und Preisen der sächsische Fabrikant, welcher großentheils erst die Moden der vorhergegangenen Messe für die nächste nachahmt, in der Regel um so weniger zu concurriren vermag, je mehr sein eingeschränktes Geschäft und die Entbehrung eines durch Schutzzoll gesicherten Absatzes ihn nöthigen, bei dem Verkauf jedes Stückes den selbstkostenden Preis zu calculiren.“13
Einige der südwestsächsischen Kattundruckereien versuchten diesem Dilemma nach 1815 durch eine Verlagerung ihres Betriebs in das benachbarte Ausland zu entkommen. Ihr neuer Produktionsstandort in Preußen oder Böhmen öffnete ihnen einen wesentlich größeren und zudem geschützten Binnenmarkt. Die Textildruckereien, die sich in Chemnitz und einigen anderen sächsischen Städten gehalten hatten, standen dagegen vor wachsenden Problemen, ihre Erzeugnisse auf den ausländischen Absatzmärkten unterzubringen. Die Verengung und Schließung des Markzugangs für die sächsischen Baumwollwaren auf dem europäischen Kontinent veranlasste die Kattunfabrikanten und Textilhandelshäuser, nach Möglichkeiten des Absatzes außerhalb Europas zu suchen. Nach 1815 schien ein solches Unterfangen wesentlich aussichtsreicher als in den Jahrzehnten zuvor. Zum Einen wurde die Handelsschifffahrt nach dem Ende der napoleonischen Kriege nicht länger von Hafenblockaden und staatlich lizensierter Piraterie beeinträchtigt. Zum Anderen öffnete die Auflösung der spanischen und portugiesischen Kolonialreiche in Lateinamerika dem sächsischen Baumwollwarenexport bevölkerungsreiche Märkte, die bislang allenfalls auf illegalen Schleichwegen zu erreichen gewesen waren. In den 13
Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 20.
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1820er Jahren starteten die sächsischen Textilkaufleute zahlreiche Versuche, bedruckte Baumwollstoffe nach Nord- und Südamerika, in den nahen und mittleren Osten, nach Ostasien und selbst nach Afrika zu versenden. Nicht alle diese Versuche erwiesen sich als erfolgreich. Doch da zunächst jeweils nur kleinere Mengen verschickt wurden, um die Gewinnträchtigkeit eines neuen Marktes zu testen, hielt sich das Risiko des Verlustes gewöhnlich in Grenzen. Zwar scheint dabei kein einzelner überseeischer Markt in dem Sinne „erobert“ worden zu sein, dass dort die Erzeugnisse der Kattundruckereien in großen Quantitäten abgesetzt worden wären. Doch konnten immerhin so viele neue Vertriebswege erschlossen werden, um den Absatzrückgang in Europa halbwegs zu kompensieren.14 Eng verbunden mit dem Vorstoß des sächsischen Baumwollwarenexports auf die überseeischen Märkte, war eine Strategie der Produktdiversifizierung. Die Kattundruckereien und Webereiverlage setzten nicht allein ihre schon zuvor bewährte Praxis fort, die auf den Messen erfolgreichen Modeartikel der englischen und französischen Anbieter zu imitieren und möglichst rasch damit selbst am Markt zu erscheinen. Sie stellten sich zudem gezielt auf die spezifischen Bedürfnisse der Konsumenten der neu erschlossenen außereuropäischen Märkte ein. Man habe, so hieß es in einem zeitgenössischen Zeitschriftenartikel „oft Ideen komponirt, um in neuer Weise für die Nazionaltrachten weißer, brauner und schwarzer Menschen Annehmliches zu liefern“.15 In Chemnitz gefertigte malayische „Sarongs“ gingen nach Singapur und Sumatra. Regionstypische Männerkleidung („Agalugs“) und Kopftücher wurde über die Schwarzmeerhäfen und Konstantinopel nach Mittelasien versandt. Gebleichte Kattune fanden ihren Weg als Leinenimitate auf die karibischen Märkte. Mit Bordüren bestickte Frauenkleider verkauften sich gut in Peru und Chile, weniger gut in Mexiko. Violettblau gefärbte schwere Kattune aus Sachsen wurden als „Salampores“ nach Ostasien exportiert. Sogar Lendenschurze für die Sklavenarbeiter der Baumwollplantagen in Surinam gehörten zum Produktspektrum der Chemnitzer Textilhersteller.16 Zudem gingen etliche Kattundruckereien dazu über, auch andere Textilien als Baumwollstoffe zu bedrucken. Es wurden wollene und halbwollene Gewebe, Leinenstoffe, Strümpfe und Handschuhe, ja selbst Garn bedruckt. Produktdiversifizierung dieser Art und das Ausweichen auf überseeische Absatzmärkte war sicherlich eine aus der Not geborene Überlebensstrategie. Doch war „diese Mannigfaltigkeit“, wie im Rückblick eines Jahrzehnts in den Mitteilungen des Industrievereins für Sachsen zu lesen war, „in jener Nothzeit der wahre Rettungsanker des Bestehens“ – „wenn sie auch den Gewinn beschränkte, weil zu viel Einrichtungskosten dabei aufgingen.“17 Der Zwang, mit verschiedenartigen und häufig wechselnden Produkten auf vielen Märkten präsent zu sein und sich dabei jeweils speziellen Konsumentenwünschen anzupassen, hatte offensichtlich Rückwirkungen auf die Produktionsstrate14 15 16 17
Vgl. Mittheilungen Industrieverein 1839, S. 31 f. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 31 f.; Maschner, Weberei, S. 118 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 945 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1817. Mittheilungen Industrieverein 1839, S. 33; vgl. Meister, Führer, S. 82.
4.1 Erfolgsrezept Maschinisierung?
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gien der sächsischen Kattundruckereien. Ein Übergang zur maschinellen Massenproduktion einzelner oder einiger weniger Muster dürfte angesichts solcher Vermarktungsbedingungen den meisten Betrieben kaum als aussichtsreiche Alternative zur bisherigen handwerklichen Blockdruckerei erschienen sein.18 Die Versuche „die Anwendung des Walzendrucks und aller Maschinen-Einrichtungen englischer Druckereien nach Sachsen zu übertragen“, seien wenig erfolgreich gewesen, resümierte der Bericht zur sächsischen Gewerbeausstellung 1831. „Fabrikanlagen dieser Art“ entsprächen wohl nur „den großartigen Absatzverhältnissen der Engländer“. Dagegen sei es der Firma Pflugbeil & Co. als einziger der etablierten Kattundruckereien gelungen, ihr Geschäft annähernd auf dem früheren Stand zu halten. Pflugbeil & Co. hatten bis zu diesem Zeitpunkt auf die Anschaffung von Druckmaschinen verzichtet und sich statt dessen auf die Fertigung bedruckter Stoffe für den „Luxus höherer Stände“ konzentriert. Mit dieser Strategie fuhr sie offensichtlich besser als ihre örtlichen Konkurrenten, die ihren Betrieb maschinisiert hatten. Bezeichnenderweise war die Firma Ackermann & Kühn, die technologisch innovativste der Chemnitzer Druckereien, 1830 in Konkurs gegangen. Selbst die wenigen Druckereien, die zum Walzendruck übergegangen waren, betrieben ihre Maschinen nicht allein für den Eigenbedarf. Sie bedruckten für andere, nicht maschinisierte Kattundruckereien Rohgewebe mit einfachen Grundmustern, die danach von ihren Auftraggebern im Handdruck weiterverarbeitet wurden.19 Die Betriebe, die nicht zum Maschinendruck übergingen, fanden oft ihre Nische in der Fertigung bunter, ornamentreicher Stoffe. Die Walzendruckmaschinen konnten nämlich in den 1820er Jahren meist nur einfarbig, bestenfalls zweifarbig drucken. Mit dieser Spezialisierung war auch eine stärkere Orientierung auf die gehobeneren Marktsegmente verbunden. Während der napoleonischen Zeit hatte die sächsische Kattundruckerei vornehmlich Stoffe einfacher Qualität für den Massenbedarf hergestellt. Seit 1815 hatten sich auf der einen Seite die Voraussetzungen für eine konkurrenzfähige Erzeugung hochwertiger Baumwolldruckwaren in Sachsen wesentlich gebessert: Amerikanische Rohbaumwolle, feines britisches Maschinengarn und überseeische Farbstoffe standen nun in beliebiger Menge und zu annehmbaren Preisen zur Verfügung. Auf der anderen Seite war ein Wettbewerb gegen die britische und französische Fabrikware überall dort ausgeschlossen, wo die Stückkostendegression der industriellen Massenproduktion ins Gewicht fiel. „Es ist nur zu bekannt“, konstatierten die Inhaber der Firma Pflugbeil & Co. schon 1824 in einem Schreiben an die Kommerziendeputation, „daß das Ausland durch die Muster auf Walzen – die für unseren schutzlosen Debitkreis nicht paßen – unerreichbar Vorsprung gewonnen hat“.20 Die Gebrüder Clauß zogen aus dieser Analyse letztlich 18 19
20
Vgl. Mittheilungen Industrieverein 1839, S. 31 ff.; Meister, Führer, S. 82. Zitate: Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 20 f.; vgl. Maschner, Weberei, S. 124; Scholz, Kattundruckerei, S. 148 f.; Thierot, Einfluss, S. 59; zu ähnlichen Erfahrungen in der Schweizer Kattundruckerei: Dudzik, Innovation, S. 50; Tanner, Baumwollindustrie, S. 172,; allgemein: Bollinger, Textildruck, S. 172. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1597 (Loc. 11146/XIII. 1855), Bl. 41: P. O. und E. I. Clauß an Kommerziendeputation, 8.3.1824. Vgl. allgemein: Bollinger, Textildruck, S. 156
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die Konsequenz, ihr Augenmerk künftig auf die „geschmackvollsten Modeartikel“21 zu legen. Ihr bedeutendster lokaler Konkurrent dagegen, Becker & Schraps, der noch in den Nachkriegsjahren als Spezialist für besonders feine und hochwertige Druckereiwaren gegolten hatte, setzte auf den Maschinendruck und damit auch auf ein neues Produktprofil. Mitte der 1830er Jahre fertigten Becker & Schraps „fast nur für den Bedarf der niederen und mittleren Klassen bestimmte Waren“.22 Zollverein und Kattundruckerei Mit dem Beitritt des Königreichs Sachsen zum Deutschen Zollverein zum 1. Januar 1834 vermehrten sich die Vermarktungsoptionen der Chemnitzer, Frankenberger und Großenhainer Kattundruckereien. Für die sächsischen Baumwollwaren öffnete sich nun mit einem Mal ein frei zugänglicher Markt von beträchtlicher Konsumkraft. Zudem kam die sächsische Textilmanufaktur erstmals in den Genuss eines durch Einfuhrzölle geschützten Binnenmarktes. Die Importbestimmungen des Zollvereins orientierten sich an den Prinzipien des preußischen Zollgesetzes von 1818: Keine Beschränkungen für die Einfuhr von Rohstoffen, mäßige Abgaben für gewerblich nutzbare Halbwaren und deutlich höhere Zölle für Fertigprodukte. Da die verschiedenen Kategorien von Baumwollwaren nicht nach ihrem Verkaufswert, sondern allein nach dem Gewicht verzollt wurden, wurden vor allem schwere und billige Stoffe vor auswärtiger Konkurrenz geschützt. Einfache gedruckte Calicos waren etwa mit dem Standardzoll für Baumwollwaren von 50 Talern pro Zentner belastet – bei einem Verkaufswert von nur 60 Talern. Diese Regelung begünstigte die Hersteller, die an der herkömmlichen Spezialität der sächsischen Textildruckerei, den gröberen Kattunen, festgehalten hatten. Im Gebiet des Zollvereins waren solche Erzeugnisse nun gegen die britische oder auch schweizerische Konkurrenz recht wirksam geschützt. Hochwertige Druckwaren, wie sie vor allem französische Hersteller lieferten, gelangten dagegen nach wie vor relativ problemlos auf die deutschen Märkte.23 In den Jahren nach 1834 erlebte die sächsische Kattundruckerei durchaus einen gewissen Aufschwung. Der neue, nach außen geschützte Binnenmarkt befeuerte offenbar den unternehmerischen Optimismus in der Branche. Neue Textildruckereibetriebe entstanden, die Produktionskapazitäten wurden in den ersten Jahren nach der Zollvereinsgründung erweitert, die vorhandenen stärker ausgelastet. Allein 19 21 22 23
So HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 980 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1835, o. Bl. Ebd. Dagegen argumentiert Scholz, Kattundruckerei, S. 148 f., die britische Konkurrenz habe die größeren Chemnitzer Kattundruckereien in den 1820er Jahren zum maschinellen Großbetrieb gezwungen. Vgl. Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 50 ff.; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1837, S. 138; Bericht Commission Gewerbs- und Arbeitsverhältnisse 1848/49, S. 153: Bericht der fünften Abtheilung über Fabrik- und Maschinenwesen im Allgemeinen, 16.4.1849; Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 368; Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 50 f.; allgemein: Best, Interessenpolitik, S. 63.
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neue Kattundruckereien wurden in Sachsen zwischen 1834 und 1836 gegründet. Doch insgesamt konnte die sächsische Kattundruckerei nicht mehr an die Boomperiode zwischen 1790 und 1812 anknüpfen. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die innerdeutsche Konkurrenz gegenüber der napoleonischen Zeit sehr viel lebhafter geworden war. Vor allem an einigen Standorten in Preußen – in Berlin, in der Provinz Sachsen, in Breslau – hatte die Baumwolldruckerei nach 1815 Fuß gefasst. Sie hatte sich unter dem Schutz des Zollgesetzes von 1818 in den vorangegangenen anderthalb Jahrzehnten einigermaßen unbehelligt von britischer und sächsischer Konkurrenz auf einem Binnenmarkt eingerichtet, der nun den größeren Teil des Zollvereinsgebietes ausmachte. In einigen Fällen waren es sogar sächsische Unternehmer gewesen, die ihren Betrieb in den Nachkriegsjahren ins Preußische verlagert hatten.24 Auch den Export der Chemnitzer Druckkattune in Staaten außerhalb des Deutschen Zollvereins scheint die neu gewonnene Basis eines leidlich abgesicherten Binnenmarktes nicht unbedingt befördert zu haben. In Russland und Österreich, wo solche Erzeugnisse trotz einer prohibitiven Einfuhrpolitik auch nach 1815 legal oder illegal den Weg auf die Märkte gefunden hatten, war den sächsischen Kattundruckereien bis in die 1830er Jahre eine zunehmend ernst zunehmende einheimische Konkurrenz erwachsen.25 Auch scheinen nicht wenige sächsische Kattunfabrikanten nach 1834 das mühsame und oft wenig ergiebige Exportgeschäft nach Übersee und in den Mittelmeerraum eher vernachlässigt zu haben. So resümierte das Gewerbeblatt für Sachsen 1840 die Entwicklung des Exports sächsischer bedruckter Baumwollstoffe über den Umschlagplatz Livorno nach Italien und die Levante: „Vor Begründung des deutschen Zoll-Vereins wurde in den geringern Gattungen … von einigen sächsischen Fabrikanten ziemlich viel hierher gesandt, jetzt finden aber die Fabrikanten ohne Zweifel bessere Rechnung beim inländischen Vertrieb.“ Preiswerte baumwollene bedruckte Zeuge würden hier in großen Mengen aus England bezogen. Die im Vergleich zu Sachsen höheren Arbeitslöhne würden die britischen Fabrikanten durch Kostenvorteile in anderen Bereichen kompensieren, „durch die Vortheile hinsichtlich des rohen Materials, Maschinen-Drucks, der Produktion in großen Massen und durch die geringen Transportspesen“. Dort wo es weniger auf den Preis als auf die Qualität ankomme, sei die französische Konkurrenz kaum zu überwinden, „da deren Fabrikate durch Vorurtheil und Mode zu sehr begünstigt sind“.26 Der Zollschutz, der vor allem den „ordinairen“ Qualitäten zugute kam, mag auch zu einer stärkeren Maschinisierung der sächsischen Kattundruckereien beigetragen haben. Am Ende der 1830er Jahren gab es in Sachsen insgesamt sieben Wal-
24 25 26
Vgl. Mittheilungen Industrieverein 1839, S. 34 f.; Gewerbeblatt 5.4.1834, Sp. 211 f.; ebd. Nr. 6, 8.2.1838, S. 43 f. Vgl. Mittheilungen Industrieverein 1833, S. 148, 155; ebd. 1839, S. 35. Gewerbeblatt 9.7.1840, S. 230; vgl. zu den ähnlichen Konstellationen des US-amerikanischen Marktes: HStAD 10736: MdI Nr. 1422a, Bl. 120 f.: Bericht Konsul Melly, 1834; Mittheilungen Industrieverein 1834, S. 186 f.
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zendruckmaschinen, 1843 waren es schon 14, 1848/49 schließlich 21.27 Neben diesen Maschinen wurden nun sog. Perrotinen eingesetzt, eine relativ neue Erfindung, die dem Blockdruckverfahren ähnelte und sich vor allem für die Herstellung von Qualitätswaren in kleiner Auflage eignete. Offenbar passte diese Technologie besser als die rotierenden Druckwalzen zum eingeführten Produktspektrum der Chemnitzer Baumwolldruckereien. 1843 konstatierte das Mitteilungsblatt des Industrievereins, die Lage der sächsischen Kattundruck-Industrie habe sich in den vergangenen Jahren wesentlich verändert. Die Anwendung des Walzen- und Perrotinendrucks habe die Produktivität gesteigert; die qualitativen Leistungen hätten sich ebenfalls verbessert. Doch war die verstärkte Maschinisierung auch mit größeren Risiken verbunden, die gerade während der krisenhaften 1840er Jahre den Fabrikanten zu schaffen machten. Ungeachtet der Fortschritte befänden sich die Druckereibesitzer, so fuhr der Autor des eben erwähnten Artikels fort, „vielleicht mehr als je in einer kritischen Lage, wenn man die ungleich größeren und erst seit kurzer Zeit werbend gemachten Anlagekapitalien und außerordentlich gewachsenen Betriebsspesen berücksichtigt.“28 Von einem durchgreifenden fabrikindustriellen Wandel wird man aber kaum sprechen können. Mitte der 1840er Jahren waren in den sächsischen Kattundruckereien neben den 15–20 Walzendruckmaschinen und etwa zehn Perrotinen noch an die 1000 Drucktische vorhanden, an denen wie eh und je mit Druckerblöcken von Hand gearbeitet wurde. Auch in den industriell am weitesten fortgeschrittenen Regionen weisen die Statistiken zwar um 1840 auch noch eine größere Anzahl von Drucktischen aus. Doch in Lancashire liefen schon 1836/37 mehr als 400 Walzendruckmaschinen (bei insgesamt 8410 Drucktischen); im französischen Revier um Rouen standen zum gleichen Zeitpunkt 860 Drucktischen immerhin 24 Walzendruckmaschinen und 56 Perrotinen gegenüber. Insgesamt änderte sich an der überwiegenden Ausrichtung der sächsischen Textildruckerei auf die Nischen jenseits der Massenmärkte offenbar wenig.29 Wenn auch die Textildruckerei im Chemnitzer Raum und einigen anderen Standorten bis 1850 trotz widriger Bedingungen als Branche überlebte, büßte sie im Vergleich zu ihren Glanzzeiten am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts merklich an Bedeutung ein. Seit der Begründung des sächsischen Kattundrucks im 18. Jahrhundert hatten die Inhaber der Druckereien eine unternehmerische Schlüsselposition eingenommen. Sie disponierten eigenständig den Einkauf der benötigten Rohstoffe (etwa Farben) und Halbwaren (Rohkattune), verarbeiteten sie und vermarkteten die bedruckten Stoffe gewöhnlich auf eigene Rechnung. In den frühen 1840er Jahren bemerkte der Chemnitzer Wirtschaftspublizist Friedrich Georg Wieck 27 28 29
Zahlen nach: Kurrer, Zeugdruckerei, Angang Tabelle I; Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 51; Bericht Commission Gewerbs- und Arbeitsverhältnisse 1848/49, S. 141: Bericht der fünften Abtheilung über Fabrik- und Maschinenwesen im Allgemeinen, 16.4.1849. Mittheilungen Industrieverein 1843, II. Lieferung, S. 8 f.; AZNI Nr. 91, 12.11.1844, S. 516; vgl. Forberger, Revolution 1/1, 463; ebd. 2/1, 259; Verbong, Printing, S. 204 f.; Bollinger, Kattundruck, S. 106. Vgl. Kurrer, Zeugdruckerei, S. 59, 71; Zachmann, Ausformung, S. 22. Siehe Tabelle 4 im Anhang.
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im Sächsischen Gewerbeblatt, das Bedrucken von baumwollenen, halbwollenen und wollenen Stoffen für fremde Rechnung richte sich immer mehr ein. Es waren gerade die maschinisierten Fabrikbetriebe, die diesen Weg einschlugen. So verlegte sich etwa der Prager Unternehmer Schnebely, der 1837 sein Fabrikgeschäft nach Chemnitz verlagert hatte, hier ganz auf Lohnarbeiten. Der neu errichtete Betrieb verfügte über eine moderne Zweifarben-Walzendruckmaschine, wodurch, wie der Bericht zur sächsischen Gewerbeausstellung 1837 vermerkte, auch die Kattundruckereien, für die eine eigene Einrichtung des mehrfarbigen Walzendrucks nicht passend sei, an den Vorteilen dieser Erfindung teilnehmen könnten. Darüber hinaus übernahm die Firma Schnebely die Gravur von Druckwalzen auf Bestellung.30 Die Kattundruckerei war gewissermaßen dabei, wie Bleicherei und Appretur zum Hilfsgewerbe zu werden. Die Druckereibetriebe und spezielle Gravuranstalten, die das gewünschte Muster auf die Druckplatten und -walzen übertrugen, übernahmen einzelne Fertigungsschritte und erhielten dafür von einem Auftraggeber einen vereinbarten Lohn.31 Machinenwebstühle für Sachsen? Der Durchbruch des Walzendrucks war nicht der einzige technologische Innovationsschub, der die Konkurrenzfähigkeit der sächsischen Kattundruckerei nach 1815 bedrohte. Im Laufe der 1820er Jahre begann sich der mechanische Webstuhl in größerem Maße in den britischen Baumwollrevieren zu verbreiten. Um 1830 waren schon einige zehntausend dieser Powerlooms vor allem in Lancashire und Lanarkshire, aber auch in den USA und in Frankreich in Betrieb. Vorläufig beschränkte sich ihre Brauchbarkeit noch auf robuste und „glatte“ (= ungemusterte) Baumwollstoffe, wie sie vor allem die Kattundruckereien in Massen verarbeiteten. Für die sächsischen Druckkattunproduzenten wurde es zu einer ernsthaften Herausforderung, wenn ihre auswärtigen Konkurrenten auf maschinell gefertigte Halbwaren zurückgreifen konnten. Die modernen mechanischen Webstühle hatten den eigentlichen Arbeitsvorgang automatisiert und sie wurden von Dampfmaschinen oder Wasserrädern angetrieben. Sie produzierten einerseits pro Zeiteinheit wesentlich mehr Stoff als ein Handwebstuhl. Andererseits senkte ihr Einsatz die Arbeitskosten: Die Arbeit eines Maschinenwebers beschränkte sich darauf, die Garnspulen einzulegen, den Webvorgang zu überwachen und ggf. gerissene Fäden zu reparieren. Eine einzelne Arbeitskraft, die handwerklich nicht sonderlich qualifiziert sein musste, konnte daher zwei oder drei Webmaschinen auf einmal bedienen. Für die Kattundruckereien fiel dabei nicht allein der Produktivitätsvorsprung der Fabrikweberei ins Gewicht. Die maschinell hergestellten Rohkattune waren regelmäßiger, glatter und dichter und sie eigneten sich daher besser als die handgewebten für das Bedrucken, vor allem dann, wenn Walzendruckmaschinen eingesetzt wurden.32 30 31 32
Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1837, S. 59. Vgl. Sächsisches Gewerbeblatt 17.8.1842, S. 261; Maschner, Weberei, S. 121. Vgl. Baines, Baumwollenmanufaktur, S. 89–95; Bythell, Weavers, S. 78 ff., 88 ff.; Flik, Textilindustrie, S. 158 f.; Gewerbeblatt 13.2.1840, S. 50; ebd. Nr. 40, 19.5.1843, S. 241 f.
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Im Herbst 1833, am Vorabend der Zollvereinsgründung, schrieb Friedrich Georg Wieck, „gerechte Bekümmerniß“ ergreife den, „der näher bekannt mit den Verhältnissen der englischen Weberei, sich gestehen muß, daß eine Hauptursache des Kränkelns der Sächsischen darin zu suchen ist, daß man die Verbesserungen, die die Mechanik in die Technik der Weberei eingeführt hat, nicht benutzt. Ich verstehe darunter das Weben durch Umdrehung, wodurch der uralte Webstuhl zur Maschine wird, der Weber selbst aber aufhört Maschine zu seyn und denkender, die Maschine durchdringender Geist wird.“33
Es seien, so Wieck weiter, in England schon an die 60.000 solcher Webmaschinen im Einsatz, in Nordamerika 20.000 und in Frankreich 5.000, in Sachsen jedoch keine einzige. Nun hatte es aber schon gut zwei Jahrzehnte zuvor ernsthafte Versuche gegeben, die Maschinenweberei in Sachsen einzuführen. Und es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass diese Initiativen vornehmlich aus den Reihen der Kattundruckereibesitzer gekommen waren. Er sei schon vor einigen Jahren mit dem Gedanken umgegangen, schrieb Ernst Gössel im Sommer 1815 an die sächsische Regierung, Maschinenwebstühle mit Wasserkraft wie in England aufzustellen, um seiner Fabrik und Spinnerei die höchstmögliche Vollkommenheit zu geben.34 Gössel hatte 1792 die Witwe eines Teilhabers der privilegierten Plauener Kattundruckerei Facilides & Co. geheiratet und die Leitung des Betriebs in die Hand genommen. Anders als seine Mit-Innungsverwandten, die vom Niedergang der Musselinmanufaktur betroffen waren, profitierte er vom weithin boomenden Geschäft mit bedruckten Baumwollstoffen und beteiligte sich frühzeitig am gewinnträchtigen Einstieg in die Maschinenspinnerei. Als Gössel 1814 alleiniger Inhaber der Firma Facilides & Co. geworden war, galt er als einer der führenden vogtländischen Textilunternehmer. Inzwischen war es ihm gelungen, durch einen Erfurter Mechaniker einen mechanischen Webstuhl konstruieren und in zwanzig Exemplaren bauen zu lassen.35 Im Laufe des Jahres 1815 errichtete Gössel in Plauen ein großes Fabrikgebäude, das Raum für den Betrieb von etwa 100 Maschinenwebstühlen bieten sollte und über eine Wasserradanlage als Antriebskraft verfügte. Dieses Vorgehen alarmierte die vogtländischen Weberinnungen, die im August 1815 in einer gemeinsamen Eingabe bei der Dresdner Regierung Einspruch gegen die im Bau befindliche „Schnellweberei“ einlegten, die vielen von ihnen die erlernte Arbeit entziehen und „höchste Noth und Armuth“ über Tausende von Arbeitern bringen würde.36 Gössel argumentierte dagegen, er könne nur dann weiterhin zahlreichen Menschen in seinen Fabriken Arbeit geben, wenn er den Engländern nicht nachstehe. Zudem verwies er auf die Minderung seiner Transaktionskosten, die eine Zentralisierung 33 34 35 36
Mittheilungen Industrieverein 1833, S. 241. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1485 (Loc. 11158/XIV. 2149), Bl. 1: Gössel an Hofrat Sahr, 26.8.1815. Vgl. ebd., Bl. 1 f.; Neupert, Kattunfabrik, S. 111 f. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1485 (Loc. 11158/XIV. 2149), Bl. 5/2 f.: Innungen des Zeug-, Lein- und Wollenweber-Handwerks zu Plauen u. a. an Kommission der Baumwollwaren-Manufaktur des Vogtl. Kreises, 14.8.1815.
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der Weberei im eigenen Fabrikbetrieb nach sich ziehen würde. Gössel kleidete diese Überlegung für die Dresdner Ministerialbeamten allerdings in reichlich blumige Formulierungen: Würden die Weber „unter meiner Aufsicht und in meinem Hauß arbeiten“, so sei es „eine süße Belehrung für mich, dem Staate Menschen zu erziehen, die keinen Betrug lernen, und diejenigen, die den Betrug kennen, davon in meinem Hauße abgehalten werden.“ Müsste er dagegen „meinen Webern in ihre Wohnung mein Garn geben“, so sei er gezwungen, die gefertigte Ware annehmen, „sie mogte gut oder schlecht sein“.37 Auch aus den Reihen der Baumwollwarenverleger regte sich bald Widerstand gegen Gössels Pläne. In seinem ausführlichen Gutachten stellte sich Carl Gottlob Schmidt, einer der prominentesten Plauener „Innungsverwandten“, ganz auf die Seite der Weberzünfte. Die Einführung der Schnellweberei sei nicht nur überflüssig, sondern auch wirtschaftlich schädlich. Zum Einen seien die Handwebstühle mittlerweile durch den Einsatz des Schnellschützen und andere Vorrichtungen so verbessert worden, dass sie mindestens doppelt so schnell und wesentlich gleichmäßiger arbeiteten als noch ein, zwei Jahrzehnte zuvor. Der Weber könne damit mindest ebenso gute und „egale“ Ware wie die Webmaschinen herstellen. Zum Anderen gewähre die Schnellweberei lediglich den „Vortheil der Menge“, was nichts weniger als ein Vorteil sein würde, „denn es ist ja zu bekannt, daß eine übergroße Menge an Waaren den Preiß derselben gedrückt hat und drücken muß, und daß daher gerade die Menge die Ursache wird, welche allen Nutzen und Gewinn, verhindert.“ Im Übrigen habe man selbst in England die Maschinenweberei mittlerweile wieder aufgegeben, „ weil darüber in manchen Gegenden sehr gefährliche Volksbewegungen entstanden“. Von einer ausländischen Konkurrenz sei somit nichts zu befürchten.38 Ungeachtet solcher Einwände wies die Dresdner Regierung den Widerspruch der Plauener Weber zurück. Es sei eine irrige Ansicht, wenn argumentiert werde, dass durch den Einsatz von Maschinen nur noch mehr Waren gehäuft und so die Krise der vogtländischen Baumwollwarenfabrikation verschärft würde. „Denn man kann mit Recht annehmen, daß nicht die Menge der Waaren dem Fortkommen der Baumwollen-Manufaktur des voigtländischen Kreises, sondern nur ihr, bey der Concurrenz ausländischer Manufakturen, verhältnismäsig allzuhoher Preis und ihr Mangel an Vollkommenheit hinderlich gewesen ist, und daß sie Gefahr läuft bald ganz zu Grunde zu gehen, wenn sich nicht etwa noch Mittel und Wege finden, sie an Gestalt und Preis mit der concurrirenden ähnlichen Waare des Auslandes Schritt halten zu laßen.“39
Nachdem die Widerstände vor Ort durch landesherrlichen Bescheid überwunden waren, wurde es jedoch bald recht still um Gössels „Schnellweberei“. Zur Michaelismesse 1816 berichtete der Plauener Kaufmann Hartenstein der Kommerziendeputation, Gössels Hoffnungen bezüglich seiner dreistöckigen Webfabrik seien mitt37 38 39
Ebd. Bl. 2: Gössel an Hofrat Sahr, 26.8.1815. Ebd. Bl. 10, 12–16: C. G. Schmidt an Kommission der Baumwollwaren-Manufaktur des Vogtl. Kreises, 25.9.1815. Ebd., Bl. 72: Recommunicat W. v. Gutschmid an Landeregierung, 8.11.1815. Vgl. auch Forberger, Manufaktur, S. 144.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
lerweile sehr herabgesunken. Es könne wohl dazu kommen, dass dort künftig Spinn- statt Webmaschinen aufgestellt würden. Ein Jahr danach räumte Gössel selbst ein, sein Unternehmen habe bisher keinen sonderlichen Erfolg gehabt. Er habe aber seinen Besuch auf der Leipziger Messe genutzt, um eine in Berlin gebaute Handwebmaschine zu erwerben. Nach „Anleitung derselben“ wolle er versuchen, „seine durch Waßer in Bewegung gesetzten Webmaschinen zu vereinfachen und zu verbeßern.“40 Daraus ist wohl nichts geworden. 1818 gab Gössel die Kattundruckerei auf.41 Spätestens zu diesen Zeitpunkt dürfte auch seine Maschinenweberei ein Ende gefunden haben. Gössels Chemnitzer Pendant, der Kattunfabrikant und Spinnereibesitzer Christian Gottfried Becker, hatte etwa zur gleichen Zeit ein ganz ähnliches Vorhaben vorangetrieben. Becker war es gelungen, mechanische Webstühle englischer Bauart zu erlangen. Er hatte bereits ein mehrstöckiges Fabrikgebäude errichten lassen und mit der örtlichen Weberinnung ein Übereinkommen getroffen, nach der nur Innungsmeister die Maschinen bedienen sollten. Doch nahm er die Fabrik nie in Betrieb. Becker waren zunehmend die negativen Erfahrungen anderer Fabrikanten zu Ohren gekommen. Garne einfacher Qualität rissen auf Maschinen dieser Bauart so häufig, so dass er wesentlich teueres Gespinst hätte verwenden müssen. Da sich in diesem Falle der Maschinenbetrieb nicht mehr rechnete, verkaufte Becker das neu gebaute Fabrikgebäude samt der Maschinen.42 Auch ein Versuch des Kattunfabrikanten Johann Jacob Bodemer, der Textildruckereien in Großenhain und im gerade preußisch gewordenen Eilenburg betrieb, die Maschinenweberei im Königreich Sachsen einzuführen, endete anscheinend auf ähnliche Weise. 1818 stellte Bodemer in Zschopau, wo er seit der Jahrhundertwende eine Einkaufstelle und eine Bleicherei für Rohkattune unterhielt und gerade eine große Maschinenspinnerei angelegt hatte, eine Webmaschine auf. Die aufgebrachten örtlichen Weber verlangten sogleich die Entfernung der Maschine, woraufhin die Betriebsleitung Militärschutz anforderte und erhielt. Auch in diesem Falle intervenierte die Dresdner Regierung zugunsten des Fabrikanten. Bodemer eröffnete 1819 seine Maschinenweberei, verlagerte sie aber bald von Zschopau nach Eilenburg. Dafür dürften wohl weniger die Widerstände in Zschopau verantwortlich gewesen sein als das neue preußische Zollgesetz. Im Nachbarland stand ihm ein wesentlich größerer, noch dazu gegen die britische Konkurrenz geschützter Markt offen.43 In den folgenden fünfzehn Jahren beschäftigten sich Textilunternehmer und staatliche Wirtschaftsbürokratie nur noch wenig mit der Maschinisierung der Baumwollweberei. Und wenn, dann ging die Initiative augenscheinlich von der 40 41 42 43
HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1485 (Loc. 11158/XIV. 2149), Bl. 106: Extrakt Relation Michaelismesse, 12.10.1816; ebd. Nr. 945 (Loc. 11471), o. Bl.: Relation Michaelismesse 1817. Vgl. Kurrer, Zeugdruckerei, S. 21. Vgl. Kunze, Frühkapitalismus, S. 35. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1525 (Loc. 11157/XIII 2141), Bl. 210: Dürisch an Kommerziendeputation, 3.10.1816; Briefwechsel zwischen Bodemer & Co. und den Behörden, abgedruckt in: Zschopauer Baumwollspinnerei Gedenkschrift, S. 11–14; Forberger, Revolution 1/1, S. 242.
4.1 Erfolgsrezept Maschinisierung?
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Kommerziendeputation aus, meist ein untrügliches Zeichen dafür, dass die kapitalkräftigen Wirtschaftsakteure kaum Gewinnchancen in dem staatlicherseits angeregten Technologietransfer sahen.44 Die Fehlschläge Gössels und Beckers in der Nachkriegszeit dürften die Meinung befestigt haben, dass die verfügbaren mechanischen Webstühle zumindest im Niedriglohnland Sachsen vorerst kaum rentabel eingesetzt werden konnten. Man wird aber auch vermuten können, dass der oben beschriebene Strukturwandel der sächsischen Kattundruckerei nicht unwesentlich zu diesem Desinteresse beigetragen hat. Nachdem eine Massenproduktion mit Walzendruckmaschinen für die allermeisten Kattunfabrikanten angesichts der widrigen Vermarktungsbedingungen nicht infrage kam und überhaupt der Bedarf an Rohkattunen nur noch ein Drittel der Zeit vor 1812 ausmachte, schwand wohl auch der unternehmerische Anreiz zum Übergang zur Maschinenweberei. Erst unter den veränderten Konstellationen der 1830er Jahre wurde die Maschinenweberei in Sachsen wieder zu einer ernsthaften unternehmerischen Option. Auf der einen Seite hatte die Entwicklung in Großbritannien und Frankreich gezeigt, dass die neuen Maschinenwebstuhlmodelle tatsächlich rentabel einsetzbar waren. Es schien nun nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die Handweber aus der Herstellung der einfacheren Stoffe verdrängt werden würden. Auf der anderen Seite erweiterte der Beitritt Sachsens zum Deutschen Zollverein den Binnenmarkt beträchtlich. Trotz dieser veränderten Rahmenbedingungen blieben Versuche zur Einführung der Maschinenweberei im Königreich Sachsen in den 1830er Jahren rar. 1836 stellte Friedrich August Proßwimmer in einem Nebengebäude seiner Baumwollspinnerei in Kunnersdorf nahe Erdmannsdorf fünf eiserne Maschinenwebstühle auf. Die Stühle waren als Powerlooms in der Chemnitzer Maschinenfabrik C. G. Haubold gebaut worden, mussten aber wegen „gänzlicher Ungangbarkeit nach ihrer Ablieferung“ vor Ort mühsam angepasst und justiert werden, bis sie halbwegs einsatzfähig waren. Sie wurden durch Wasserkraft angetrieben und stellten einfache blau-weiß oder rot-weiß gestreifte Baumwollstoffe her. Außer einem für das Schichten der Ketten zuständigen Webermeister beschäftigte Proßwimmer in seiner Weberei ausschließlich junge Frauen zur Beaufsichtigung der Maschinenstühle. Die örtliche Weberinnung tolerierte dieses Vorgehen stillschweigend, offenbar weil die neue Maschinenweberei keine Stoffe fertigte, die in der Gegend normalerweise hergestellt wurden. Dieser Betrieb ist noch mehr als zehn Jahre später belegt, verfügte allerdings auch 1847 nur über 20 Maschinenwebstühle.45 Wesentlich ambitionierter als die Webfabrik Proßwimmers war das Projekt des Bleicherei- und Färbereibesitzer Holberg, auf dem Gelände eines ehemaligen Hammerwerkes bei Aue eine große Maschinenweberei zu errichten. Holberg initiierte 44 45
Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1444 (Loc. 11155/XIII. 2071), Bl. 101, 105: Kommerziendeputation an Einsiedel, 29.8.1827; ebd. Bl. 121: Heinrich Bodemer, Großenhain, an Kommerziendeputation, 21.11.1827. Zitat: Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 1779, Bl. 23: Bericht Amtshauptmannschaft Chemnitz, 27.7.1836. vgl. ebd. Bl. 21: Justizamt Augustusburg an Kreisdirektion Zwickau, 25.4.1836; Deutsche Gewerbezeitung 20.4.1847, S. 190; HStAD 10736: MdI Nr. 01398a, Bl. 117: Übersicht der in den Jahren 1835 und 1836 im Bezirk der Kreisdirektion Zwickau errichteten Fabriken.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
1836/37 die Gründung eines „Aktien-Vereins“, zu dessen Geldgebern neben einigen Textilunternehmern aus der Umgegend auch eine Reihe Leipziger Kaufleute gehörten. Das immer noch geltende britische Ausfuhrverbot für Textilmaschinen machte die Ausstattung der Fabrik schwierig. Die Beschaffung mechanischer Webstühle aus England war den Gründern zu riskant und zu kostspielig. Zudem erwarteten sie, dass sie auf diesem Weg nicht unbedingt die besten und modernsten Modelle erhalten würden. Statt dessen entschied man sich für den Ankauf von Webmaschinen aus der Schweiz, für deren Güte „der ehrenvolle Namen des Erbauers“ bürge. Es wurden zunächst 24 Webstühle angeschafft, die aber nur den Grundstock des Maschinenparks bilden sollten. Sie sollten als Modelle für den Nachbau weiterer Maschinen dienen, „wodurch sowohl Kostenersparniß erzielt, als auch der Nutzen erlangt würde, etwaige Verbesserungen auf Erfahrung gegründet anbringen zu können“. Auf diese Weise hofften die Gründer ihren Bestand auf bis zu 400 Webmaschinen erweitern zu können. Noch bevor das Fabrikgebäude gebaut war, trafen die Schweizer Maschinen „unter Begleitung eines tüchtigen Contremaitre“ in Aue ein. Sie wurden provisorisch aufgestellt, um zunächst einmal eine Stammbelegschaft anzulernen. Nach einer gewissen Anlaufzeit, so rechneten die Initiatoren ihren künftigen Aktionären vor, könnte man die Produktionskosten pro Stück auf etwa die Hälfte des üblichen Weberlohnes für vergleichbare handgefertigte Ware drücken. Zudem erhalte die Fabrik als Großabnehmer die benötigten Garne zu „billigsten Preisen“. Die Nachfrage nach weißen, glatten Baumwollwaren wiederum sei „immerwährend stark“ und nicht der Mode unterworfen, was sicheren Absatz verspreche.46 Doch die Gewinnerwartungen der Gründer erwiesen sich schon bald, nachdem die Maschinenweberei Auerhammer 1838 ihren Betrieb aufgenommen hatte, als zu optimistisch. Die Leistung der angeschafften Schweizer Webmaschinen ließ sehr zu wünschen übrig, so dass die erzielten Verkaufspreise die Kosten zunächst nicht deckten. Die Hochkonjunktur der Zeit nach der Zollvereinsgründung brach in den späten 1830er Jahren zusammen. Der vermeintlich sichere Absatz kam ins Stocken, die Lager häuften sich an, die Schuldenlast des Unternehmens wurde drückender. Zwar waren die innerdeutschen Märkte durch Zölle leidlich vor der britischen und schweizerischen Konkurrenz geschützt. Doch die Produktionskapazitäten der Fabrikweberei hatten sich auch in den Zollvereinsstaaten mittlerweile kräftig vermehrt. Anfang der 40er Jahre lieferte sich das Auer Unternehmen mit den Baumwollfabriken in Ettlingen und Augsburg einen zunehmend härteren Preiskampf. Schließlich unterlag die sächsische Maschinenweberei ihren süddeutschen Konkurrenten. 1842 beschloss die Generalversammlung des Aktienvereins, das Unternehmen zu verkaufen. Im Jahr darauf wurde der Betrieb fürs erste eingestellt. Der Chemnitzer Spinnereibesitzer Ernst Iselin Clauß übernahm schließlich die Anlage aus der Konkursmasse und ließ in Auerhammer eigenes Gespinst verweben.47 46 47
Gewerbeblatt 9. 3, 1837, S. 124 ff.; vgl. Sieber, Aue, S. 50 f. Nach einer anderen Quelle bezog die Auer Maschinenweberei ihre Maschinen von einem nahegelegenen Maschinenbau-Unternehmen, Nestler & Breitfeld in Wittigsthal (vgl. Industrielle Zustände, S. 28). Vgl. Sächsisches Gewerbeblatt 30.3.1842, S. 98; Gewerbeblatt 13.1.1843, S. 21; Ein Jahrhundert Baumwollspinnerei Clauß, S. 22.
4.1 Erfolgsrezept Maschinisierung?
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Das sang- und klanglose Scheitern der Aktienweberei mag auch am unglücklichen Timing ihrer Gründung am Beginn einer wirtschaftlichen Abschwungperiode gelegen haben. Zudem scheint das Management des Unternehmens in seinem Handlungspielraum von den Aktionären allzu sehr beschnitten worden zu sein. So hielt das kurzlebige Sächsische Gewerbeblatt 1842 fest: „Die eigenthümliche Stellung der Administration eines Akzienvereins gegen diesen verhindert kräftige durchgreifende Entschlüsse und bildet einen Hauptgrund gegen die Nützlichkeit industrieller merkantilischer Unternehmungen auf Akzien, in die viel Geschäftstaktik und Spekulazion hineingehört.“48 Doch sollte man die strukturell bedingten Handicaps eines Übergangs zur Maschinenweberei im vormärzlichen Sachsen nicht übersehen. Der Bau von Fabrikgebäuden und ihre Ausstattung mit einer größeren Zahl von Maschinen erforderte hohe Kapitalinvestitionen. Von 200.000 Talern war in der Gründungsphase der Auer Maschinenweberei die Rede. Dabei konnten die Gründer solcher Unternehmen nicht einmal davon ausgehen, für ihre Investitionen auch wirklich brauchbare Maschinen zu erhalten. Hinzu kam das Problem der Antriebsenergie. Die natürlichen Wasserkraftressourcen näherten sich mit der Ausbreitung der Maschinenspinnerei in den Flusstälern des Erzgebirges ihrer Kapazitätsgrenze. Für einen regelmäßigen Betrieb waren die Wasserräder wegen der jahreszeitlichen und sonstigen klimatischen Schwankungen des Wasserstandes oft zu unzuverlässig. Der wirtschaftliche Betrieb von Dampfmaschinen hing wiederum von der ausreichenden Versorgung mit preiswerter Steinkohle ab. Nur Standorte in unmittelbarer Nähe von Kohlengruben oder von schiffbaren Gewässern eigneten sich wegen der immensen Transportkosten solcher schweren Güter über Land vor dem Eisenbahnzeitalter für die Aufstellung von Dampfmaschinen. Auf der anderen Seite fanden die Erzeugnisse der Auer Maschinenweberei allenfalls auf dem Zollvereins-Binnenmarkt einen halbwegs gesicherten Absatz. Die Ausfuhr maschinengewebter Stoffe erschien wiederum wenig erfolgversprechend. Hier traf die sächsische Maschinenweberei auf eine technologisch wesentlich besser ausgestattete britische Konkurrenz. Bei den Bestrebungen, mechanische Webstühle in Sachsen einzuführen, stand das Modell der zentralen Fabrik zunächst gar nicht im Mittelpunkt der Überlegungen. Selbst Wieck dachte in seinem Artikel von 1833 nicht an eine Nachahmung der englischen Fabrikweberei. Ihm schwebte eine Lösung vor, die „Verhältnisse unserer Weberei und unserer geldarmen Industrie“ zugeschnitten war: „eine leichte tragbare Maschine, die nur ungefähr die Hälfte von dem Platze einnimmt, den die jetzt gebräuchlichen Stühle in Anspruch nehmen und die man in beliebiger Anzahl in jedes Webers Stube aufschlagen kann, ohne die Voraussetzung einer großen Webefabrik, die in unserem Sachsen gewiß weniger am Platz ist als irgendwo; eine Maschine so leicht zu bewegen, daß ein Mann circa 4, auch 6 derselben mittelst Laufriemen, Welle und Schwungrad in Umtrieb setzen kann.“
Diese Maschine müsste aus Holz sein und dürfte nur zwischen 25 und 30 Taler kosten. „Es bedarf in der That keiner Anhäufung von Maschinen in Fabriken; die in Häusern verstreute Manufactur bietet manche Vortheile dar…“49 48 49
Sächsisches Gewerbeblatt 30.3.1842, S. 98; Mittheilungen Industrieverein 1833, S. 244 f.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
Auf die Verwirklichung dieser Vorgabe konzentrierten sich im folgenden Jahrzehnt die Bemühungen des Industrievereins für das Königreich Sachsen, der 1828 in Chemnitz gegründet worden war. Vor allem der Maschinenbauer Wilhelm Schönherr und sein noch jugendlicher Bruder Louis widmeten sich der Aufgabe, eine Maschine zu konstruieren, die kompatibel für die Weberwerkstatt war. Mit Hilfe einiger Geldgeber aus den Kreisen der Chemnitzer Verlegerschaft und gelegentlichen staatlichen Zuschüssen bauten sie in ihrer Werkstatt in Niederschlema im Erzgebirge mechanische Webstühle für den Handbetrieb. Diese Konstruktionen kamen auch seit den späteren 1830er Jahren in Sachsen, im Rheinland, in Schlesien, selbst in Russland zum Einsatz. Doch Anfang der 40er Jahre begann es sich abzuzeichnen, dass die Webstühle der Schönherr-Brüder letztlich keine gangbare Alternative zur fabrikindustriellen Powerloom-Weberei bieten würden.50 1843 berichtete das Mitteilungsblatt des Industrievereins, die vom Verein ausgeschriebene Preisaufgabe zur Einführung der Schönherrschen Maschinenwebstühle, habe nicht erfüllt werden können. Die bisherigen Erfahrungen hätten nicht den Erwartungen entsprochen. Es habe sich statt dessen immer deutlicher herausgestellt, „daß der nützliche Betrieb durch Maschinenstühle der Elementarkraft zur Hülfe bedarf“.51 Ein einzelner Weber konnte mehrere mechanische Webstühle nicht zugleich beaufsichtigen und mit Muskelkraft antreiben. Die hölzernen Stühle waren so reparaturanfällig, dass man sie durch solidere Eisenkonstruktionen ersetzen musste. Diese Maschinen überforderten aber die Körperkraft eines einzelnen Arbeiters erst recht. Wenn aber die Zahl der Arbeitskräfte für den Betrieb solcher mechanischen Handwebstühle vermehrt werden musste, schwand der Produktivitätsgewinn der Mechanisierung.52 Zwei Entwicklungen in Großbritannien besiegelten 1842 das Ende der Hoffnungen auf einen für die dezentrale Manufaktur geeigneten Maschinenwebstuhl. Mit der Einführung einer neuen Generation von Powerlooms machte die Produktivität der britischen Fabrikweberei einen weiteren Sprung.53 Zu diesem Push-Faktor kam im gleichen Jahr ein Pull-Faktor für den Übergang zur kraftgetriebenen Maschinenweberei in Sachsen: Die britische Regierung hob das Exportverbot für Textilmaschinen auf. Nun war es auf einmal möglich, ganz legal und ohne prohibitiven Kostenaufwand die modernste Webtechnologie aus England zu erwerben und in die sächsischen Textilreviere zu transferieren. Auch das Problem der Antriebsenergie näherte sich nun einer Lösung, nachdem im westlichen Erzgebirge größere Kohlenvorkommen entdeckt worden waren. In der Zwickauer Gegend wurden Steinkohlen schon seit der Frühneuzeit abgebaut, wenn auch nur in sehr bescheidenem Umfang. Zwischen dem Ausgang der napoleonischen Zeit und den späten 1830er Jahren vervierfachte sich die jährliche Förde50
51 52 53
Vgl. Sächsisches Gewerbeblatt 15.6.1842, S. 188 f., zum Industrieverein vgl. Kiesewetter, Industrialisierung, S. 80–84. Die Schönherr-Brüder bauten auch Kraftwebstühle, die in der Kammgarnweberei in Gera, Leeds und Verviers – nicht aber in Sachsen – zum Einsatz kamen (vgl. Haubold, Schönherr, S. 311 ff., Industrielle Zustände, S. 28). Mittheilungen Industrieverein 1843, II. Lieferung, S. 12 Vgl. ebd. Vgl. Lyons, Profitability, S. 393 ff., 400–404; Bythell, Weavers, S. 78.
4.1 Erfolgsrezept Maschinisierung?
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rung der Zwickauer Kohlengruben. Seit 1837 entstand um Oelsnitz (Erzgebirge) und Lugau, nur 20 bis 25 km von Chemnitz entfernt, ein weiteres Steinkohlenrevier. 1843 wurden hier die ersten Kohlen gefördert.54 1839 wurde zudem die erste sächsische Eisenbahnverbindung zwischen Leipzig und Dresden in Betrieb genommen. In den folgenden Jahren kamen auch die ersten Standorte der Textilmanufaktur in den Genuss eines Eisenbahnanschlusses und damit zur Möglichkeit, Steinkohlen wesentlich billiger als bislang zu erhalten. Werdau und Crimmitschau lagen an der Strecke, die von Leipzig nach Plauen und Hof führte. Eine Zweigbahn verband seit 1845 Werdau mit Zwickau. Etwa zur gleichen Zeit wurde eine Nebenstrecke der Dresden-Breslauer Bahn zwischen Löbau und Zittau dem Verkehr übergeben.55 Bis zum Ende der 1840er Jahre schlugen sich die verbesserten Standortfaktoren für eine Maschinisierung der sächsischen Weberei allerdings kaum materiell nieder. Noch im Frühjahr 1847 waren offenbar nur die beiden Mitte der 30er Jahre gegründeten Betriebe vorhanden: die Weberei Auerhammer, nun im Besitz von Ernst Iselin Clauß, wo von 400 mechanischen Webstühlen meist nur die Hälfte arbeiteten, und die kleine Fabrik der Gebr. Proßwimmer in Kunnersdorf mit ihren 20 Maschinenstühlen. Einige Versuche, zur Powerloom-Weberei scheiterten offenbar am Widerstand der örtlichen Weber. In Chemnitz hatte 1847 der Unternehmer Robert Hösel mechanische Webstühle britischen Fabrikats aufgestellt, musste diese aber nach wenigen Monaten unter massivem Druck wieder demontieren. Die Chemnitzer Webergesellen hatten im April 1848, befeuert durch die revolutionären Ereignisse, in einer Versammmlung beschlossen, niemand von ihnen solle mehr für den „Brotverderber“ Hösel arbeiten.56 Die Probleme mit unzuverlässigen Maschinen, der Abhängigkeit von der Wasserkraft und den Begrenzungen des Marktzugangs können letztlich wohl nur zum Teil als Erklärung für die mehr als zögerliche Einführung der mechanischen Weberei in Sachsen in den 1830er und 40er Jahren dienen. Auch die Widerstände seitens der Weber und ihrer Zünfte dürften kaum als entscheidender Faktor für die längerfristige Verzögerung industrieller Innovation herhalten können. Mancherorts – wie in Kunnersdorf – reagierten die Weberinnungen offenbar gar nicht auf die Aufstellung von Maschinenstühlen. Bei anderen Gelegenheiten, wie beim Versuch C. G. Beckers, in Chemnitz eine mechanische Weberei zu gründen, fanden sie schon im Vorfeld zu einem für sie akzeptablen Konsens mit dem Fabrikanten. Dort wo es Proteste und Einsprüche seitens der zünftig organisierten Webermeister und ihrer Gesellen gab, scheiterten sie gewöhnlich schnell an der Haltung der Staatsbehör54 55 56
Vgl. Eckardt/May, Entwicklung, S. 69–94; Kiesewetter, Durchdringung, S. 120, 127 ff., 134; ders., Erz, S. 483 f.; ders., Industrialisierung, S. 433–436. Vgl. zum frühen sächsischen Eisenbahnbau: Kiesewetter, Industrialisierung, S. 450–469; Beyer, Leipzig; Ulbricht, Geschichte, S. 8–13; ders., Eisenbahnen; sowie Boch, Vormärz, S. 362 f., 367 f. Vgl. Maschner, Weberei, S. 71; Uhlmann, Chemnitzer Unternehmer, S. 50; Deutsche Gewerbezeitung 20.4.1847, S. 190; ebd. 1.6.1849, S. 261. Zu weiteren am Widerstand der örtlichen Weberbevölkerung gescheiterten Initiativen der Maschinisierung vgl. für Crimmitschau: Kästner, Crimmitschau, S. 93 f.; für Seifhennersdorf/Oberlausitz: Grüllich, Leben, S. 26,32; Nürnberger, Geschichte, S. 106.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
den. Mochten auch Kommunalverwaltungen und örtliche Amtsmänner des öfteren mit den Belangen der Handwerker sympathisieren – in Dresden fanden die Widerstände gegen die Einführung von Maschinen kaum Resonanz. Die Kommerziendeputation und später die Handels- und Gewerbeabteilung des Innenministeriums stellte sich im Regelfall unzweideutig hinter die innovationswilligen Unternehmer. Nötigenfalls setzte die Regierung Militär ein, um etwaigen „Maschinenstürmen“ einen Riegel vorzuschieben. Nur in Zeiten revolutionären Aufruhrs entwickelten die Weber genügend Durchsetzungsmacht, um die Aufstellung von Maschinenwebstühlen für einige Zeit zu verhindern. Solche Aktionen waren aber selbst im Revolutionsjahr 1848/49 eher selten. Mitte 1849 kam die von Friedrich Georg Wieck herausgegebene Deutsche Gewerbezeitung zu der bemerkenswerten Einschätzung: „Wir haben schon seit langer Zeit Webemaschinen in Sachsen, und wir vermögen keine Agitazion dagegen nachzuweisen, mit Ausnahme gegen die Mühlenstühle für die Bandweberei unweit Annaberg im vorigen Jahrhundert.“57 Der zähe Widerstand der obererzgebirgischen Posamentierer gegen die handbetriebenen „Mühlenstühle“ wiederum diente im zeitgenössischen Diskurs (und in der historiographischen Literatur!) als abschreckendes Standardbeispiel für den Niedergang eines Gewerbes infolge verweigerter Innovation.58 Tatsächlich scheint dies auch so ziemlich das einzige Beispiel zu sein, das für einen solchen Vorgang in Sachsen herangezogen werden kann. Ebenso wenig Sinn dürfte es machen, die verzögerte Entwicklung der sächsischen Maschinenweberei des Vormärz per se einer mangelnden Innovationsbereitschaft der sächsischen Textilunternehmer und Verlagskaufleute zuzuschreiben. Unmittelbar nach dem Ende der napoleonischen Ära, also zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt, hatten gleich mehrere Fabrikanten zum Sprung in das Zeitalter der Maschinenweberei angesetzt. Warum danach noch mehr als drei Jahrzehnte vergingen, bevor ihre Nachfolger tatsächlich sprangen, erschließt sich nicht zuletzt mit dem Blick auf die Entwicklung der westsächsischen Baumwollweberei nach 1815. 4.2 BEWÄLTIGUNGSSTRATEGIEN DER SÜDWESTSÄCHSISCHEN BAUMWOLLWEBEREI Der Übergang zur Bunt- und Musterweberei Der Rückgang des Ausstoßes der sächsischen Kattundruckereien bis auf die Hälfte, ja auf ein Drittel im Jahrzehnt nach 1810/12 hatte naturgemäß auch Rückwirkungen auf deren wichtigstes Zuliefergewerbe, die Kattunweberei. Schon 1822 vermeldete der Kreishauptmann, wegen des sehr beschränkten Bedarfs der Druckereien sei ein großer Teil der Chemnitzer und Frankenberger Weber mit der Fertigung bunter Tü57 58
Deutsche Gewerbezeitung 1.6.1849, S. 261. Vgl. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 27; Gewerbeblatt 1.6.1841, S. 257 f.; ebd. 14.2.1843, S. 77; Finck, Stürme, S. 178 ff.; Floss, Entwicklung, S. 52 f.; Holzberg, Posamentenindustrie, S. 15 f.; Schöne, Posamentierer, S. 116 f.
4.2 Bewältigungsstrategien der südwestsächsischen Baumwollweberei
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cher beschäftigt. Eine im gleichen Jahr erschienene Chemnitzer Ortsbeschreibung hielt fest, die hiesige Manufakturweberei zeichne sich mittlerweile „weniger in der Menge ordinairer roher Kattune als in feineren baumwollenen Weißzeug zu Frauenkleidern, bunten Westen, Kantenwirkerei und andern gesuchten Waaren, z. B. den Franzentüchern und den beliebten Gingham“ aus. Dabei trachteten die Weber immer mehr danach, die Zeichnungen des Kattundrucks im Gewebe selbst auszuführen.59 In gewissem Sinne bahnte sich nun eine Rückkehr der Chemnitzer Weberei zu einer hochwertigeren und handwerklich anspruchsvolleren Produktpalette an, die unter den Bedingungen der Kriegszeit aufgegeben worden war. Die Chemnitzer Weber lagen mit dieser Ausrichtung durchaus im Trend der Zeit. Druckkattune wurden seit den 1820er Jahren in den mittleren und gehobenen Marktsegmenten zunehmend von anderen Kleiderstoffen verdrängt. Die Haltbarkeit der bedruckten Textilien blieb trotz aller Fortschritte in Färberei, Drucktechnik und Appretur begrenzt. Nach öfterem Waschen begannen die Stoffe unansehnlich zu werden, die aufgedruckten Muster verblichen und verschwammen. Wesentlich haltbarer waren dagegen Stoffe mit eingewebten Mustern. Deren Fertigung war naturgemäß deutlich aufwändiger und verlangte höheres handwerkliches Können als die einfache Kattunweberei. Zur ernsthaften Konkurrenz für die bedruckten Kattune wurden die Erzeugnisse der Buntweberei durch die ingeniöse Erfindung des Lyoner Seidenwebers Joseph-Marie Jacquard. Mittels eines Lochkartensystems, das am Webstuhl angebracht wurde, konnten die Kettfäden angehoben und gesenkt und auf diese Weise ein vorgegebenes Muster automatisch auf das Gewebe übertragen werden. Damit vereinfachte und beschleunigte sich die Herstellung gemusterter Stoffe beträchtlich. Die Webstühle konnten durch Auswechseln der Lochkarten problemlos und schnell auf neue Muster eingestellt werden. Hilfskräfte, die bislang die Kettfäden per Hand geführt hatten, wurden überflüssig, während gleichzeitig die Muster präziser, als es bisher möglich war, auf die Gewebe übertragen werden konnten.60 Der Jacquard-Mechanismus erlaubte es, mehrfarbige, komplex gemusterte Stoffe zu weben, die auch für breitere Käuferschichten erschwinglich waren und somit zu den Erzeugnissen der Textildruckereien in Konkurrenz traten. War das Aufkommen der Jacquardweberei daher sicherlich ein bedeutsamer Faktor für die rückläufige Entwicklung der Kattundruckereien, so bot sie doch andererseits der Chemnitzer Baumwollmanufaktur eine willkommene Chance, diesen Rückgang zu kompensieren. Die Diffusion dieser Innovation in den sächsischen Textilrevieren vollzog sich wesentlich rascher und nachdrücklicher als etwa die der Walzendruckmaschinen. Im Jahrzehnt nach 1800 hatte Jacquard seine Erfindung zur Betriebsreife entwickelt. 1824 rüstete erstmals ein Chemnitzer Weber seinen Webstuhl mit einer Jacquard-Vorrichtung aus. Zunächst wurden Seidenstoffe für Regen- und Sonnenschirme hergestellt. Seit Ende der 1820er Jahre verbreitete sich das System 59 60
Kretschmar, Chemnitz, S. 232; vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 177: Bericht v. Fischer, 3.5.1822; Maschner, Weberei, S. 74 f. Vgl. Hudson, Limits, S. 329; Piore/Sabel, Massenproduktion, S. 40; Cottereau, Fate, S. 140 f.; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 21; Mittheilungen Industrieverein 1832, S. 119.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
in Chemnitz und Umgebung bei der Verfertigung baumwollener, halbseidener und halbwollener Gewebe.61 Die Möglichkeiten des Jacquardwebstuhls, gerade im Vergleich zur Kattundruckerei, erläuterte Friedrich Georg Wieck 1832 an einer der „gangbarsten“ neuen Spezialitäten der Chemnitzer Buntweberei, den Ginghams: „Man will jetzt die bunten gestreiften quartirten und jaspirten Ginghams, durch eingestreute, abgesetzte Blumen und Figuren verzieren, und wenn man auch diese Blumen und Figuren hineindruckt, so fehlt eines Theils dem Zeuge das gediegene gewebte Ansehen, andern Theils liegt es außerhalb des Drucks, die Blumen und Figuren einfarbig, aber erhaben auf dem Zeuge darzustellen, en relief, wie es sich für verschiedene weiße und einfarbige Artikel der Weberei schickt, wozu die Jacquardvorrichtung sich eignet.“62
Der Übergang zur Buntweberei und der Einsatz des neuen Lochkartensystems erwies sich letztlich als wesentlich erfolgreichere Produktionsstrategie als etwa die Maschinisierung der Kattundruckerei. Die Chemnitzer Baumwollwarenhersteller vermieden es hier, sich mit der britischen Konkurrenz auf einem Feld zu messen, auf dem sie produktionstechnisch unterlegen waren. Sie spielten vielmehr die Möglichkeiten und Stärken der sächsischen Textilmanufaktur aus. Die Umrüstung von Webstühlen auf das Jacquardsystem erforderte vergleichsweise bescheidene Kapitalinvestitionen. Grundsätzlich bestand keine Notwendigkeit, das bestehende dezentrale Produktionssystem aufzugeben. Die aufgerüsteten Webstühle passten problemlos in die Werkstätten der Webermeister und benötigten keine mechanische Antriebskraft. Auch der Arbeitskostenvorteil der sächsischen Textilreviere kam in der Jacquardweberei zum Tragen. Den Verlegern und Manufakturisten standen zu vergleichsweise geringen Löhnen genügend handwerklich qualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung, die für diese Art „Kunstweberei“ geeignet waren. Schließlich erleichterte der Einsatz der Jacquardwebstühle auch die Performanz der Chemnitzer Baumwollartikel unter den Marktbedingungen des Vormärz. Die flexible Handhabung der Lochkarten kam nicht allein den altbekannten Praktiken der Nachahmung englischer und französischer Design- und Produktnovitäten und der raschen Anpassung an aktuelle Modetrends entgegen. Die Suche nach Marktnischen, die Belieferung einer Vielzahl von kleinen Absatzgebieten mit jeweils spezifischer Nachfrage, der häufige Wechsel zwischen rigider handelspolitischer Schließung von Märkten und der Öffnung von halblegalen Schlupflöchern – all dies legte der Chemnitzer Baumwollwarenmanufaktur nahe, ein möglichst vielseitiges und flexibel anpassbares Produktprogramm zu verfolgen.63
61 62 63
Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1528 (Loc. 11170/XIII. 2287), Bl. 41 f.: Bericht v. Fischer, 17.11.1825; Kretschmar, Chemnitz, S. 473 f.; Meister, Führer, S. 59 f.; Zöllner, Geschichte, S. 470; Deutsche Gewerbezeitung 23, 1858, S. 23 f. Mittheilungen Industrieverein 1832, S. 119 f. Vgl. Meister, Führer, S. 74; Gewerbeblatt 9.7.1840, S. 230; ebd. Nr. 1, 3.1.1843, S. 2; HStAD 10736: MdI Nr. 01422a, Bl. 120: Bericht Konsul Melly, New York, 1834; vgl. allgemein: Piore/ Sabel, Massenproduktion, S. 40; zu ähnlichen Entwicklungen in der Schweizer Baumwollweberei: Fischer, Buntweberei, S. 186 f.; Tanner, Baumwollindustrie, S. 174.
4.2 Bewältigungsstrategien der südwestsächsischen Baumwollweberei
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Der frühzeitige Übergang zur Fertigung bunter, komplex gemusterter Stoffe bewahrte die Chemnitzer Weber und ihre Auftraggeber nicht zuletzt davor, sich in direkte Konkurrenz mit der britischen Maschinenweberei zu begeben. Seitdem in England und Schottland glatte Kattune und andere einfache Baumwollstoffe in Massen und zu niedrigen Gestehungskosten in Fabriken mit Powerlooms hergestellt wurden, fanden von Hand gewebte Artikel dieser Art allenfalls unter dem Schutz hoher Zölle einen Markt. In Sachsen warf die einfache Glattweberei seit den 1830er Jahren nur noch Hungerlöhne ab und wurde vornehmlich auf den Dörfern in der Lausitz und im Vogtland betrieben. Die Chemnitzer Ginghams und ähnliche Artikel der Bunt- und Jacquardweberei ließen sich vorerst nicht maschinell verweben und hielten auch außerhalb des Zollvereingebiets dem Wettbewerb mit den Erzeugnissen der britischen Handweberei stand. Ganz ähnliche Strategien verfolgten Verlagskaufleute und handwerkliche Produzenten in einer Reihe weiterer sächsischer Textilbranchen und -revieren. Schon Anfang der 1830er Jahre wurden auf 8000 bis 9000 Stühlen Artikel der Buntweberei gefertigt, demnach auf mehr als einem Drittel des Gesamtbestands an Baumwoll-Webstühlen in Sachsen. Die Jacquardvorrichtung wurde von den Plauener und Glauchauer Baumwollwebern ebenso rasch adaptiert wie von den Posamentierern im oberen Erzgebirge und den Damastwebern im oberlausitzischen Großschönau. Mitte der 1840er Jahre waren in ganz Sachsen schätzungsweise 4000 bis 5000 Jacquardstühle allein bei der Fertigung von Geweben aus Baumwolle und Mischgarnen in Betrieb. Etwa ein Siebtel aller Webstühle in diesen Branchen besaßen demnach eine Lochkartenvorrichtung. Zudem wurden buntgewebte Stoffe wie eh und je mit Schaftstühlen hergestellt. die durch verschiedene Vorrichtungen zur Verwebung kunstvoller Muster adaptiert worden waren.64 Zu einer ernsthaften innersächsischen Konkurrenz der Chemnitzer Buntweberei entwickelte sich bald die auf ähnliche Artikel spezialisierte Textilwarenmanufaktur in den Schönburgischen Rezessherrschaften. Die Glauchauer Webereiverlage hatten während der napoleonischen Zeit – anders als die Chemnitzer – die Herstellung von Piquèes und anderen feinen Baumwollartikeln nicht aufgegeben. Aus dieser Tradition entwickelte sich in der Folgezeit eine Spezialität, die den Glauchauer Webern in den 1820er Jahren gute Beschäftigung sicherte: die Fertigung von halbwollenen Westenstoffen. Diese Gewebe waren mit allerlei Brochierungen, Punkten und Blümchenmustern versehen und stellten hohe Anforderungen an das Können der Weber. Rund zehn Jahre lang hielt die „goldene Westenzeit“ für die Glauchauer Weberei an. Sie endete um 1830, als die verschärfte Konkurrenz mit englischen und Elberfelder Fabrikaten Profitmargen und Arbeitslöhne schwinden ließ.65 In den 1830er und 40er Jahren waren die Glauchauer Manufakturgeschäfte immerwährend auf der Suche nach neuen Artikeln, die ihnen ähnliche Gewinne ver64 65
Zahlen nach Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 20; Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 41; AZNI Nr. 91, 12.11.1844, S. 511. Vgl. Mittheilungen Industrieverein 1832, S. 120; Demmering, Textilindustrie, S. 72; Maschner, Weberei, S. 69 f. Vgl. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 19; Krebs, Textilindustrie, S. 89 ff.; Demmering, Textilindustrie, S. 62 ff.; zum verstärkten Übergang zur Baumwollmischweberei in West Yorkshire seit den 1820er Jahren vgl. Hudson, Limits, S. 333; Jenkins/Ponting, Industry, S. 131 ff.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
sprachen wie zuvor die Westenstoffe. Beinahe jährlich wechselten die bevorzugten Produktsorten, meist Mischgewebe aus Wolle und Baumwolle, manchmal auch mit Seidenanteilen, oder rein wollene Stoffe. Auf Crepp Rachel folgten Poil de Chevre, Napolitaine, Plaid, Lama, Pure Lain u. a. m. Die Benennungen deuten daraufhin, dass sich die Glauchauer Weberei vornehmlich an den Erzeugnissen der französischen Konkurrenz orientierte, sie aber zu einem günstigeren Preis anbot. Der Preisvorteil resultierte dabei, neben den niedrigeren Lohnkosten, vor allem aus der Verwendung billigerer Garne. Die Konkurrenzfähigkeit der Glauchauer Stoffe dürfte nicht zuletzt den intensiven Bemühungen um Produktivitätserhöhungen im Herstellungsprozess zu verdanken gewesen sein. Wie in der Chemnitzer Buntweberei wurden auch hier die Webstühle technologisch aufgerüstet. Seit 1833 fand der „Schnellschütze“ vermehrt Verwendung und fünf Jahre später begannen auch die Glauchauer Weber, die Jacquardvorrichtung für ihre oft extravagant gemusterten Stoffe zu nutzen. Die örtliche Bleicherei, Färberei und Appretur machte rasche Fortschritte, eine wichtige Voraussetzung, um den Imitationen edler französischer Modestoffe äußere Ansehnlichkeit zu verleihen.66 Seit den 1820er Jahren entwickelte sich die Stadt Glauchau zu einem bedeutenden regionalen Zentrum der sächsischen Textilwirtschaft. Die Weberdörfer und Städtchen der näheren und weiteren Umgebung wurden zunehmend in die Netzwerke der Glauchauer Verleger einbezogen. An der westlichen Peripherie Zwickaus, im Vogtland, ja sogar jenseits der bayerischen Grenze, im Raum Hof und Kulmbach, versorgten Faktore die Heimweber im Auftrag von Glauchauer Verlagshäusern mit Garn und Webmustern und sammelten die fertig gewebten Stücke wieder ein. Zahlreiche Weber siedelten sich in Glauchau selbst an. Auch in der Nachbarstadt Meerane, wo bislang vornehmlich Wollzeuge für Verlagshäuser in Rochlitz, Penig und Gera produziert worden waren, gingen nun die Weber vermehrt auf halbwollene Gewebe über. Die Zahl der Weber in beiden Städten wuchs bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts beträchtlich. 1820 waren es noch knapp 700 Meister und Gesellen gewesen, zehn Jahre später gab es 950 Innungsweber in Glauchau und Meerane, 1840 fast 1300 und 1850 schließlich mehr als 1900. Spätestens in den 1840er Jahren hatte Glauchau bei der Herstellung gemusterter Kleiderstoffe Chemnitz den Rang abgelaufen. Die Weber der kleineren Städte des Chemnitz-Glauchauer Raums spezialisierten sich auf ähnliche gemusterte Ware, produzierten aber meist einfachere und entsprechend billigere Qualitäten. Die Ernstthaler Weberei hielt auch nach 1830 an den Westenstoffen fest, die für die folgenden Jahrzehnte zu einer lokalen Spezialität wurden. Im benachbarten Hohenstein wurden nun vornehmlich gemusterte Bettdecken in zahlreichen Varianten hergestellt. Die Lichtensteiner und Callnberger Weber fertigten vorzugsweise Stoffe für Morgenkleider und Unterröcke. Auch hier verbreiteten sich um 1840 die Jacquardstühle. Die Frankenberger
66
Vgl. Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 140; Krebs, Textilindustrie, S. 97; Sächsische Industrie-Zeitung 20.7.1860, S. 57; Demmering, Textilindustrie; S. 77 f.
4.2 Bewältigungsstrategien der südwestsächsischen Baumwollweberei
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Buntweberei hielt an den Ginghams fest, kam aber deswegen offenbar in den 1840er Jahren zunehmend in Bedrängnis.67 Die Chemnitzer Weberei, wo von jeher höhere Löhne gezahlt wurden als in den kleineren Städten, gab seit Mitte der 1830er Jahre die baumwollenen und halbwollenen Kleiderstoffe zunehmend zugunsten einer neuen Produktpalette auf. In Chemnitz wurden seitdem vornehmlich Möbelstoffe gefertigt – schwere, meist aus Baumwolle und Wolle gemischte aber auch reinwollene Stoffe. Diese Webwaren zeichneten sich gewöhnlich durch eine aufwändige Musterung aus und eigneten sich besonders für den Einsatz von Jacquardvorrichtungen. Mit dem Übergang zur Möbelstoffweberei erschloss sich die Chemnitzer Textilmanufaktur ein relativ neues und rasch expandierendes Feld der Produktion. Sie verfügte damit über einen Artikel, der auch außerhalb des deutschen Binnenmarktes gesucht und erfolgreich war. Dabei gelang es den Chemnitzer Verlegern, Manufakturisten und Webermeistern ihre „Möbeldamaste“ zu einem bemerkenswert vielseitigen Produkt aus zu differenzieren. Die gemusterten Stoffe taugten nicht allein zu Bespannungen für Stühle, Sessel und Sofas. Sie dienten ebenso zur Herstellung gediegener Tischdecken und Vorhänge oder für Satteldecken und Ponchos, Artikeln, mit denen der sächsische Textilwarenexport auf mittel- und südamerikanischen Märkten reüssierte.68 Bemerkenswerterweise verstärkte sich die Ausrichtung größerer Teile der Glauchauer und Chemnitzer Weberei an der Herstellung bunter und gemusterter Stoffe nach 1834 noch, obwohl ja nun gerade die einfachen und billigen Textilwaren mit prohibitiven Zöllen vor ausländischer Konkurrenz geschützt wurden. Zwar verschaffte der Zollverein auch der sächsischen Buntweberei einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ähnlichen britischen, französischen und schweizerischen Herstellern und öffnete ihr einen bislang großenteils verschlossenen Markt. Doch war damit keineswegs eine Beschränkung auf den deutschen Binnenmarkt verbunden. Im Gegenteil, mit dem Wegfall der preußischen Durchgangszölle und anderer Transitbeschränkungen verbilligten sich die Transportkosten für den sächsischen Manufakturwarenexport auf einem der wichtigsten Wege zu überseeischen Märkten. Seit 1834 intensivierten sich die Geschäftsverbindungen zwischen den Glauchauer und Chemnitzer Verlagsunternehmen und dem Hamburger Großhandel. Von der Hansestadt aus gingen die Erzeugnisse der sächsischen Buntweberei in die USA, die Karibik und Lateinamerika, später auch nach Südostasien, China und Japan.69
67 68 69
Zahlen nach Demmering, Textilindustrie, S. 80. Vgl. ebd., S. 66 f.; Krebs, Textilindustrie, S. 98 f.; Radziwill, Textilgeschichte, S. 20; Die industrielle Bedeutung …, S. 8, 24; Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, 327; Sächsische Industrie-Zeitung 20.7.1860, S. 58; ebd. 5.10.1860, S. 192. Vgl. Maschner, Weberei, S. 62, 74 ff., 104 f.; Meister, Führer, S. 74; Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 327. Vgl. Krebs, Textilindustrie, S. 101; Thieriot, Einfluss, S. 57; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 141; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 979 (Loc. 11473), o. Bl.: Relation Michaelismesse 1834; Sächsische Industrie-Zeitung 20.7.1860, S. 57.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
Auf dem Weg zum „geschlossenen Etablissement“? Mit dem Übergang von der Fertigung relativ geringwertiger, glatter Stoffe zur Bunt- und Musterweberei in der Chemnitz-Glauchauer Baumwollwarenmanufaktur dürften sich für die Principals – die Auftraggeber und Abnehmer der Rohgewebe – die vor 1800 oft beklagten Probleme mit der Zuverlässigkeit ihrer Agents wieder vermehrt haben. Den Webern mussten nun relativ teure, größtenteils importierte Rohmaterialien anvertraut werden. Für Wollmisch- und reine Wollgewebe brauchte man gewöhnlich britisches Kammgarn; bisweilen wurde auch Seide verarbeitet. Selbst die in der Buntweberei verwendeten Baumwollgarne wurden offenbar überwiegend aus dem Ausland bezogen.70 Zudem stellten die gemusterten, oft aus mehreren Garnsorten hergestellten Gewebe viel höhere Anforderungen an eine akkurate Verarbeitung als rohe Druckkattune und andere einfache Baumwollstoffe. Schließlich handelte es sich bei den Erzeugnissen der Kleider- und Möbelstoffweberei oft um Waren, die dem Wechsel der Moden unterworfen waren. Die Verlagsunternehmer besaßen daher ein Interesse daran, dass neue Muster und Dessins nicht vorzeitig in falsche Hände gerieten und kopiert wurden. In Chemnitz stand die Verbesserung der Qualitätskontrolle in der Baumwollwarenmanufaktur bereits in den Jahren nach dem Ende der napoleonischen Kriege wieder auf der Agenda der lokalen Wirtschaftsakteure. Im November 1817 hatte der Fabrik- und Verlagsunternehmer C. G. Becker in einem Schreiben an die Kommerziendeputation den Niedergang der Chemnitzer Baumwollweberei beklagt und die Missstände der Warenschau angeprangert. Gegenüber dem Amtmann Dürisch, der von seinen Dresdner Vorgesetzten um ein Gutachten gebeten worden war, stellte Becker einen umfangreichen Maßnahmenkatalog auf. Er schlug u. a. vor, die Anforderungen der Meisterprüfung zu verschärfen, strenger gegen Betrügereien der Weber vorzugehen und die halbjährliche Visitation der Webstühle wieder einzuführen. Zudem sollten die Schaumeister nicht mehr jedes Jahr wechseln und nach ihrer Kennerschaft statt ihrem Alter benannt werden. Auch sei nur gute und preiswürdige Ware mit dem Schaustempel zu versehen. Eine anschließende Konferenz der Chemnitzer Verleger, Kaufleute und Kattundrucker schloss sich diesen Forderungen einstimmig an. Durch eine neue „Fabrikordnung“ sollten „die eingerissenen Missbräuche und Betrügereien der Lohnweber“ ebenso hart „verpönt“ werden wie die Ausgabe schlechten Garns seitens der Verleger.71 Doch dieser Vorstoß endete im Grunde wie all die anderen Versuche, die korporative Qualitätskontrolle in der Chemnitzer Textilmanufaktur zu verbessern. Ein halbes Jahr später berichtete die „Messrelation“ zur Leipziger Michaelismesse: „In dem Maaße, als der Abzug wieder lebhaft zu werden anfängt, will man bemerken, daß auch die Klagen über die schlechte Beschaffenheit des Fabrikats nachlaßen, daher denn auch von 70 71
Vgl. Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 1656, Bl.265gg-hh: Bericht Kreisdirektion Zwickau, 1.7.1839; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1845, S. 19. HSTAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1547 (Loc. 11163/XIII. 2201), Bl. 11 f.: C. G. Becker an Kommerziendeputation, 23.11.1817; ebd. Bl. 52–58: Bericht Dürisch, 21.3.1818 (Zitat: Bl. 58).
4.2 Bewältigungsstrategien der südwestsächsischen Baumwollweberei
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den darüber besorgten Verlegern auf den frühern Antrag, die Schauanstalten zu verbeßern, kein sonderlicher Werth mehr gelegt wurde und sie selbst nicht in Abrede stellten, daß der Nutzen derselben, wie die Erfahrung von jeher gezeigt habe, sehr problematisch sey, dahingegen eigentlich jeder Verleger und Einkäufer die Güte der Waare am besten zu beurtheilen wiße.“72
Im Laufe der 1820er Jahre scheint die Warenschau der Chemnitzer Weberinnung ganz eingeschlafen zu sein.73 Für die Buntweberei wäre eine Begutachtung durch eine öffentliche Schauanstalt allerdings wohl kaum ein geeignetes Mittel der Qualitätskontrolle gewesen. Verbindliche Vorgaben für eine qualitative Prüfung aufzustellen, dürfte angesichts der unübersehbaren Vielfalt der Artikel der Chemnitzer Kleider- und Möbelstoffweberei des Vormärz ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen gewesen sein. Soweit sich dies aus der spärlichen Quellenlage ersehen lässt, verstärkte sich seit den 1820er Jahren der unternehmerische Zugriff der Chemnitzer Verleger auf die Kleinproduzenten. Die Zahl der Webermeister, die zumindest formal auf eigene Rechnung arbeiteten, ging auch in der Stadt Chemnitz deutlich zurück. Garne für die Buntweberei wurden nun bereits gefärbt an die Weber ausgegeben, samt detaillierter Anweisungen für Art und Muster der zu fertigenden Gewebe. Mit der Einführung der Jacquardweberei verstärkte sich die Abhängigkeit vieler Kleinproduzenten von ihren Auftraggebern, da die Anschaffung der benötigten Gerätschaften oft ihre Kapitalkraft überstieg. Verleger und Faktore stellten den Webern Jacquardstühle leih- oder mietweise zur Verfügung und vermieteten ihnen gleich auch noch die Arbeitsräume.74 Von hier war es dann nur noch kleiner Schritt zum Manufaktursaal, in dem eine größere Zahl von Webern unter Aufsicht des Fabrikanten zu festgelegten Zeiten arbeiteten und einen Arbeitslohn dafür erhielten. Solche Webmanufakturen gab es vereinzelt wohl schon vor 1815. In einer 1822 veröffentlichten Stadtbeschreibung von Chemnitz heißt es, einige Kattunfabrikanten betrieben die „fabrikmäßige Weberei in Buntwaaren von Baumwolle, Schaafwolle und Seide, wovon die Beckersche in einem seit 1818 neu erbauten Fabrikgebäude von 3 Stockwerken … zu großen Sälen eingerichtet ist und schon 75 Stühle dazu im Gange sind.“75
Im Laufe der 1830 und 40er Jahre erhöhte sich die Zahl der geschlossenen Webereibetriebe in Chemnitz beträchtlich, 1839 waren es 17, neun Jahre später, 1848, gar 51. Einige dieser Betriebe vereinigten 40, 50, einer über 90 Handwebstühle unter einem Dach.76 Diese Entwicklung brachte wohl auch die Chemnitzer Textilunternehmer der Lösung ihrer Transaktionskostenprobleme näher. Im „geschlossenen Etablissement“ ließ sich die Unterschlagung von Rohmaterial oder die unsachgemäße Ausführung wesentlich effektiver unterbinden als im dezentralen Betrieb. Auch die Geheimhal72 73 74 75 76
Ebd. Nr. 947 (Loc. 11471), o. Bl.: Messrelation Michaelismesse 1818. So Meister, Führer, S. 59. Nähere Informationen zu diesem Vorgang waren nicht aufzufinden. Vgl. Maschner, Weberei, S. 90; Sächsische Industrie-Zeitung 1.6.1860, S. 3 f.; Grohmann, Kapital, S. 63, Schaller, Zeit, S. 40 ff. Kretschmar, Chemnitz, S. 231 f. An anderer Stelle spricht Kretschmar von 100 Stühlen (S. 482). Zahlen nach Uhlmann, Unternehmer, S. 50. Vgl. ebd. S. 45; ZSBI 9, 1863, S. 36.
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tung von Mustern dürfte der Übergang zur Fertigung in eigenen Räumen befördert haben. Doch scheint der Chemnitzer Fall für die vormärzliche südwestsächsische Baumwollwarenmanufaktur eher die Ausnahme als die Regel gewesen zu sein. Die Glauchauer Konkurrenz bewältigte den Aufschwung der Kleiderstoffweberei offenbar vornehmlich durch die Ausweitung und Differenzierung des dezentralen Produktionsnetzwerkes. Auch hier war der Übergang zur Musterweberei mit ähnlichen arbeitsorganisatorischen Veränderungen verbunden wie in Chemnitz. Die meisten Weber arbeiteten nicht mehr auf eigene Rechnung. Sie erhielten das benötigte Schuss- und Kettgarn genau abgewogen vom Verleger und bekamen für die nach den Vorgaben des Auftraggebers gefertigte Rohware einen festen Stücklohn. In den weiter entfernten Orten übernahmen vermehrt Zwischenverleger die Aufgabe der unternehmerischen Steuerung der Produktion und wohl auch der Qualitätskontrolle.77 Der Umbruch in der vogtländischen Baumwollwarenmanufaktur In der vogtländischen Musselinmanufaktur setzte sich in den Nachkriegsjahren die Abwärtsentwicklung der napoleonischen Zeit nahtlos fort. Seit den Glanzzeiten des Gewerbes am Ende des 18. Jahrhunderts, als in Spitzenjahren im Plauener Revier mehr als 200.000 Stück Musselin gefertigt wurden, waren die Produktionsziffern in den Jahren nach 1810 auf weniger als 60.000 Stück im Jahresdurchschnitt gefallen. Im Quinquennium 1815/19 stürzte die Produktion auf unter 30.000 Stück pro Jahr ab. 1820 bis 1824 erreichte der Ausstoß der vogtländischen Musselinmanufaktur nicht einmal 22.000 Stück im Jahresdurchschnitt.78 Diese Daten zeigen eine massive Verschärfung der Krise im wichtigsten Sektor der vogtländischen Textilmanufaktur an. Die Ursachen dieses Einbruchs kann man zunächst einmal in der handelspolitischen Abschottung der europäischen Märkte suchen, mit der auch die Chemnitzer Baumwollwaren-Exportgewerbe nach 1815 zu kämpfen hatten. Im Falle der Plauener Manufaktur galt dies vor allem für die italienische Halbinsel, wo sich die meisten Märkte nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft nur für eine kurze Übergangsperiode wieder öffneten. Besonders traf den sächsischen Musselinexport, dass die von Habsburgerreich in Besitz genommenen lombardisch-venezianischen Gebiete 1817 das österreichische Prohibitivsystem übernahmen und den Import von Baumwollwaren ganz verboten. Die preußischen Transitzölle verteuerten seit 1818 die Ausfuhr sächsischer Musseline nach Russland, die weiterhin legal nur auf dem Seeweg über Petersburg und Riga möglich war. Im Effekt wurden dadurch die Transportkostenvorteile der britischen Konkurrenz, denen nun wieder der Zugang zur Ostsee offen stand, weiter vergrößert.79 77 78 79
Vgl. Krebs, Textilindustrie, S. 112 ff.; Demmering, Textilindustrie, S, 81. In Frankenberg gab es 1845 elf größere Webereien mit zusammen 225 Webstühlen (Vgl. Radziwill, Textilgeschichte, S. 20). Zahlen nach: Bein, Industrie, Anhang: Tabelle IIa. Vgl. ebd. S. 187; Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 545; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1547 (Loc. 11163/XIII. 2201), o. Bl.: Bericht v. Planitz, 20.2.1821.
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Damit verblieb unter den früheren großen Absatzgebieten des Plauener Reviers nur noch das Osmanische Reich, wo sich die Bedingungen für den sächsischen Export im Jahrzehnt nach 1815 ebenfalls verschlechterten. Der Landtransport über Wien und Triest und die österreichischen Transitbestimmungen erschwerten hier die Konkurrenz mit der englischen und schottischen Konkurrenz. Während die Muslins von Glasgow und Liverpool aus ungehindert auf dem kostengünstigen Seeweg zu den die Umschlaghäfen des Levantehandels im Mittelmeer gelangten, verlangten die österreichischen Grenzämter, dass beim Wareneingang der dreifache Wert der Sendungen hinterlegt wurde, um auch eine tatsächliche Wiederausfuhr zu garantieren. Zudem unterbrach der griechische Unabhängigkeitskrieg seit den frühen 1820er Jahren immer wieder für kürzere oder längere Phasen die Handelsverbindungen in das Osmanische Reich. Die „griechischen“ Einkäufer auf den Leipziger Messen blieben des öfteren aus, die Risiken des Seetransports in den östlichen Mittelmeerraum stiegen. Auch in dieser Hinsicht operierte der britische Musselinhandel unter günstigeren Bedingungen, genoss er doch den Schutz der in der Kriegszone operierenden Royal Navy. Die zunehmende Entwertung des türkischen Piasters sorgte für weitere Hemmnisse und Erschwernisse des Absatzes Plauischer Musseline auf den Märkten der Levante.80 Die vogtländische Musselinmanufaktur musste sich im Jahrzehnt nach 1815 daher mit ihrer britischen Konkurrenz unter mindestens ebenso ungünstigen Konstellationen auseinandersetzen wie während der napoleonischen Zeit. Auf der einen Seite hatten sich die Bedingungen des Marktzugangs für die sächsischen Musselinwaren nicht grundlegend verbessert. Zum anderen standen den schottischen und englischen Exporteuren nun die mitteleuropäischen Hafen- und Messeplätze, namentlich Hamburg und Leipzig wieder dauerhaft offen. Zudem hinterließen die Kriegs- und Blockadejahre in der vogtländischen Musselinweberei gewisse Dequalifizierungseffekte, die sich negativ auf ihre Konkurrenzfähigkeit auswirkten. Wegen der Unsicherheit und Kostspieligkeit der Versorgung mit feinen britischen Garnsorten hatte man im Plauener Revier zunehmend auf Gespinst aus der Region zurückgreifen müssen. Webermeister und „Würker“ hatten nur noch die geringeren Musselin-Qualitäten gefertigt oder die Musselinweberei ganz aufgegeben. Zu Michaelis 1817 bemerkte der halbjährige Handelsbericht der Kommerziendeputation, die englischen und Schweizer Musseline hätten auf den Messen in Frankfurt am Main und Leipzig starken Abgang gefunden, während „die ihnen an Güte weit nachstehenden hierländischen Musselinwaaren“ kaum gekauft worden seinen.81 Bald nach 1815 konstatierten die Leipziger Messeberichte wieder die schon seit den 1790er Jahren regelmäßig beobachteten Phänomene. Britische Musseline wurden auf den Messen und den Seehandelsplätzen des Kontinents in großen Quantitäten und zu konkurrenzlos günstigen Preisen angeboten. Zu Ostern 1818 vermeldeten die Messrelationen etwa, die Glasgower Kaufleute Macrivar und Maclean 80 81
Vgl. Bein, Industrie, S. 245–250; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 949 (Loc. 11472): Relation Michaelismesse 1819; ebd. Nr. 1547 (Loc. 11163/XIII. 2201), o. Bl.: Bericht v. Planitz, 20.2.1821. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 945 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1817.
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hätten sich eine ganze Etage im Rückgebäudes eines großen Leipziger Messehauses geteilt und feine Musseline und Cambricks für 300.000 Taler abgesetzt. Noch mehr zu schaffen machte den vogtländischen Erzeugern, dass Hamburger Großhändler die Messen mit „Auctionsgut“ überschwemmten – geringwertiger britischer Ware, die meist in London zu Schleuderpreisen ersteigert worden war.82 Gegen die Verkäufe überschüssiger Lagerbestände auf den offenen mitteleuropäischen Umschlagsplätzen fanden die Plauener Musselinverleger auch nach 1815 kein Mittel. Ebenso wenig gelang es ihnen, gegen die Vorteile der Konkurrenz aus Lancashire und Schottland bei der Stückkostenkalkulation anzukommen. Gelegentlich gewährte eine marktstrategische Umorientierung der Briten der vogtländischen Manufaktur eine Atempause. So verstärkten die englischen und schottischen Musselinwarenexporteure seit 1822 ihre Bemühungen, auf den US-amerikanischen Märkten Fuß zu fassen. Zuvor hatten die Kaufleute aus Manchester und Glasgow beim Verkauf an russische, polnische und griechische Händler, denen man lange Zahlungsziele gewährt hatte, empfindliche Verluste erlitten. Die Umlenkung des Hauptstroms des britischen Musselinhandels nach Übersee verschaffte der Baumwollwarenmanufaktur des Vogtlandes vorübergehend stärkeren Absatz auf den europäischen Märkten. Zur gleichen Zeit gelangten auch Plauener Musseline über die Rheinisch-Westindische Kompagnie auf die transatlantischen Absatzgebiete. Insgesamt scheinen aber wenig Versuche unternommen worden zu sein, den vogtländischen Musselinwaren neue überseeische Märkte zu erschließen.83 Der mangelnde Impetus, neue Märkte und alternative Vertriebswege für den Absatz der vogtländischen Baumwollspezialitäten zu entwickeln, mag auch mit dem personellen Umbruch der regionalen Verlegerschaft zu tun haben. Die Plauener Weberinnung fasste diese Entwicklung in einer Eingabe im Herbst 1823 folgendermaßen zusammen: „Der ganze Musselinhandel ist seit längerer Zeit aus den Händen der Verleger in die Hände der Fabrikanten übergegangen. … nur noch wenige, kaum 6–8 bestehen noch, aber auch diese sind nicht mehr unsere Verleger, sondern beschäftigen sich größtentheils mit dem Verkauf genähter Waaren … Kein Verleger kaufte mehr die zur Manufakturschau gebrachten Waaren, und um nicht zu hungern mußten wir unsere eigenen Verleger werden, unsere Waaren auf Märkten und Messen selbst zum Verkauf bringen.“84
Fünf Jahre zuvor hatte es in der Leipziger Oster-Messrelation gehießen, das einzige vogtländische Musselinverlagsunternehmen, das noch bedeutende Geschäfte mache, sei die Firma Wehner & Sohn in Mylau. Die Wehners verlegten insgesamt mehr als 500 Weber. Allerdings wurden auf fast der Hälfte der Stühle nicht Musselin, sondern andere Baumwollstoffe – feine Kattune und Cambray – gefertigt. Trotz dieser Diversifizierung der Verlagsproduktion hatte Wehner herbe Verluste hinneh-
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Ebd. Nr. 946 (Loc. 11471): Relation Ostermesse 1818. Vgl. Bein, Industrie, S. 248 f. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1565 (Loc. 11168/XIV. 2272), Bl. 22 f.: Eingabe des Plauener Weberhandwerks, 18.10.1823. Vgl. bereits: ebd. Nr. 946 (Loc. 11472), o. Bl.: Relation Ostermesse 1818.
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men müssen. 1828 bewahrte nur ein staatlicher Not-Kredit das Haus Wehner & Sohn vor dem Konkurs.85 Der freiwillige oder unfreiwillige Rückzug der alten Elite der Plauener „Innungsverwandten“ aus dem Musselinverlagsgeschäft brachte beinahe zwangsläufig auch das im Baumwollwaren-Manufakturreglement kodifizierte Produktionsregime ins Wanken. Bereits 1809 hatte die Plauener Zeug-, Lein- und Wollweberinnung ein landesherrliches Reskript erwirkt, das ihnen gestattete, alle Baumwollartikel außer den Musselinen auf eigene Rechnung zu fertigen. 1815 wurde den Webern zudem gestattet, solche Waren durch die eigene Innung schauen und stempeln zu lassen.86 In den Nachkriegsjahren wurde die Verfassung der vogtländlischen Baumwollwarenmanufaktur zunehmend ganz zur Disposition gestellt. Der Plauener Kreishauptmann von der Planitz berichtete 1821 nach Dresden, das Reglement entspreche längst nicht mehr der gängigen Praxis: „Viele, ja fast die meisten Vorschriften sind schon außer Anwendung gekommen, besonders seit dem Entstehen der Spinnmaschinen und sogar der Maschinen-Weberey, wozu das Bedürfnis und die Nachfrage nach ganz andern Sorten Waaren als sonst gewöhnlich war, auch das ihrige beygetragen hat. Das Verhältnis zwischen dem Fabrikanten oder Verleger und dem Spinner hat ganz aufgehört und dieses zwischen dem Würker oder Weber und dem Verleger ist auch fast ganz aufgelöst, da letztere immer seltener werden und dieselben die Fabrikarbeiter nicht hinlänglich mehr beschäftigen können. Jeder arbeitet fast einzig für seine Rechnung und verkauft seine Waare da, wo er am besten gelohnt wird.“87
Besonders nachdrücklich verlangten die Weber die Rücknahme der den „Schleierherren“ verliehenen Privilegien. In ihrer Eingabe vom Oktober 1823 entwickelte die Plauener Weberinnung eine erstaunlich wirtschaftsliberale Argumentationslinie, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Die bisherige Manufakturschau der Baumwollwarenhändler-Innung lege viel zu enge Maßstäbe an die von den Webern gefertigten Stoffe. Man könne daher keine Bestellungen ausführen, bei denen die Wünsche der Kunden von den vom Reglement vorgeschriebenen Normen abweiche. Die Folge sei, „daß unsere Waaren auf dem Laager bleiben, während die unserer auswärtigen Concurrenten, als der Holländer, Engländer, Schweizer und Franzosen gesucht und gekauft werden, indem letztere, soviel uns bekannt, vollkommen Gewerbefreiheit genießen und von allem Zunftzwange entfesselt sind“. Es sei auch nicht anzunehmen, dass durch die Gewerbefreiheit die Fabrikation verschlechtert würde. Finde nämlich der Weber keinen Absatz, so sei er von selbst gezwungen, „sich auf besseres Fabricat zu legen“.88 1825 suspendierte eine königliche Verordnung schließlich das Baumwollwaren-Manufakturreglement für 85 86 87 88
Vgl. Ebd. Nr. 946 (Loc. 11471): Relation Ostermesse 1818; ebd. Nr. 980 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1835. Vgl. ebd. Nr. 1563 (Loc. 11154/XIV. 2031), Bl. 70: G. F. von Watzdorf u. a., Plauen, an Landesregierung, 27.8.1814; ebd. 10736: MdI Nr. 06008, Bl. 14 f.: Bericht Kreisdirektion Zwickau, 12.8.1839; Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 545 f.; König, Baumwollenindustrie, S. 293 f. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1564 (Loc. 11161/XIV 2176), Bl. 147/2: Extrakt Bericht v. Planitz, 20.1.1821. Ebd. (Loc. 11168/XIV. 2272), Bl. 18 f.: Eingabe des Plauener Zeug-, Lein-, und Wollen-Weber-Handwerk an den König, 18.10.1823.
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fünf Jahre und hob die Schauanstalt der Kaufmannsinnung auf. Dieses Provisorium blieb bis zur endgültigen Aufhebung des Reglements 1843 in Kraft.89 Eine Abordnung der Plauener Musselinkaufleute hatte 1821 in einer Besprechung mit dem Kreishauptmann davor gewarnt, eine Suspension des Reglements würde die Weberinnungen ermutigen, die unzünftigen Würker zu verdrängen. Schon fünf Jahre zuvor hatte das Pausaer Weberhandwerk beantragt, den Würkern zu verbieten, andere Gewebe als Musselin zu fertigen. Die Landesregierung war diesem Verlangen zunächst nachgekommen, zog aber ihre Entscheidung offenbar bald wieder zurück. Nach dem faktischen Ende des verhassten Manufakturreglements gelang es den Zunftwebern nicht, ihrerseits die vogtländische Baumwollwarenfertigung zu monopolisieren. Die Erlaubnis zur Betreibung der Weberei ohne zünftige Lehre und Erlangung des Meisterrechts wurde durch die Suspension des Reglements 1825 nicht beeinträchtigt. Es fielen vielmehr auch noch die zuvor geltenden Bestimmungen weg, der Eintrag in das Würkerregister und die dafür zu entrichtenden Gebühren. Damit war die Baumwollweberei im Vogtland faktisch ein freies Gewerbe geworden.90 Die vogtländische Weißwarenwirtschaft nach dem Ende der Musselin-Ära Mit dem raschen Niedergang der Musselinmanufaktur drohte das Plauener Revier zum Notstandsgebiet zu werden. Der sächsische Staat versuchte mit Wirtschaftsförderungsmaßnahmen diesem sozialen Katastrophenszenario entgegen zu steuern. Dazu gehörte etwa 1817/18 die Initiative des Plauener Kreishauptmanns von Wietersheim, im Vogtland die Kammgarnhandspinnerei einzuführen, worauf unten noch einmal zurückzukommen sein wird.91 Bedeutsamer als solche aktenkundigen Versuche regionaler Wirtschaftspolitik dürften aber die gewissermaßen spontanen Verschiebungen der Beschäftigungs- und Branchenstrukturen gewesen sein. Das System der dezentralen Manufaktur erwies insoweit seine Flexibilität, als sich ein größerer Teil der freigesetzten Weber und Würker in neue und alternative Produktionsnetzwerke integrieren ließ. Schon während der napoleonischen Zeit hatten viele Musselinweber begonnen, Rohkattune zu fertigen, eine Tendenz, die sich nach 1815 trotz des Produktionseinbruchs der sächsischen Kattundruckerei zunächst fortsetzte. Dieser Trend ist in den amtlichen Statistiken deutlich abzulesen. Im Jahrfünft 1805/09 waren im Vogtland 89 90
91
Vgl. Ebd. Bl. 73: König Friedrich August an Baumwollen-Manufactur-Commission zu Plauen, 13.7.1825; Bein, Industrie, S. 271 f.; Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 545 f.; König, Baumwollenindustrie, S. 133. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1547 (Loc. 11163/XIII. 2201), o. Bl.: Bericht v. Planitz, 20.2.1821; ebd. Nr. 1564 (Loc. 11161/XIV 2176), Bl. 1 f.: Bericht v. Planitz, 3.12.1816; ebd. Bl. 11 f.: Bericht F. G. d Frötscher, Pausa, 28.10.1816; ebd. 10736: MdI Nr. 06008, Bl. 18 f.: Bericht Kreisdirektion Zwickau, 12.8.1839; Horster, Gewerbeverfassung, S. 40 f. Vgl. Bein, Industrie, S. 206, 255 f., Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 40; Wolf, Guildmaster, S. 40 f.
4.2 Bewältigungsstrategien der südwestsächsischen Baumwollweberei
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pro Jahr durchschnittlich 1342 Stück rohe Kattune gewebt worden. In den Jahren bis 1814 hatte sich diese Zahl mehr als vervierfacht (5542 Stück p. a.). 1815 bis 1819 stieg der Jahresdurchschnitt der vogtländischen Kattunproduktion sprunghaft auf über 22.000 Stück, um im darauf folgenden Quinquennium noch einmal zuzulegen (26.364 Stück p. a.). Ein zunehmend größerer Teil dieser rohen Kattune wurde wohl von den Druckereien des Chemnitzer Reviers und im benachbarten Bayern und Böhmen abgenommen.92 An der östlichen Peripherie des Vogtlands breitete sich die Spitzenklöppelei und die Stickerei aus und beschäftigte vor allem Frauen in Heimarbeit. Im Norden des Reviers gingen ehemals von den Musselinverlegern organisierte Manufakturzonen auf Verlagsnetzwerke über, die ihren Mittelpunkt außerhalb der Region hatten. Die Reichenbacher Wollzeugweberei war schon länger überwiegend mit Verlagshäusern verbunden gewesen, die vom benachbarten Thüringen aus operierten. Nun wurden zahlreiche ehemalige Musselinweber des nördlichen Vogtlands von deren Faktoren betreut oder sie begannen für die Verleger von Woll- und Mischgeweben aus Crimmitschau, Rochlitz oder Glauchau zu arbeiten. In einzelnen vogtländischen Manufakturstädten halfen lokale Spezialitäten, die auf den Märkten nach wie vor gefragt waren, den Baumwollwebern über die Krisen des Nachkriegsjahrzehnts hinweg. In Falkenstein hielt man recht erfolgreich an der Fabrikation des Kammertuchs fest. Die Weber in Treuen hatten in den vorangegangenen Jahrzehnten ebenfalls eine lokale Spezialität entwickelt. Die sog. Treuener Tücher erfreuten sich in den Nachkriegsjahren noch so großer Nachfrage, dass 1818 ein englischer Unternehmer den (erfolglosen) Versuch unternahm, sie zu kopieren. Er versuchte, „ihnen äußerlich beym Einpacken und Etiquettiren ganz dieselbe Form zu geben und dergleichen Waare nicht nur in die Levante zu versenden sondern auch sogar mit anher auf die Messe zu bringen und als sächsische zu verkaufen“.93 Eine Bestandsaufnahme der vogtländischen Textilmanufaktur, die Wietersheim 1827 der königlichen Regierung präsentierte, belegt diese Verschiebungen eindrucksvoll. Der Plauener Kreishauptmann verwies auf eine Erhebung, nach welcher der Gesamtertrag der Baumwollgewerbe – Weberei, Druckerei und Spinnerei – im Vogtland sowohl von den Erträgen der Wolle verarbeitenden Branchen als auch von denen der Spitzenklöppelei jeweils deutlich übertroffen worden war. Selbst die Fertigung von Rohkattunen hatte zu schrumpfen begonnen, nachdem Bayern zum Schutzzoll übergegangen war und die böhmische Grenze strenger überwacht wurde. Bald machte auch die britische Maschinenweberei den Kattunwebern des Vogtlands das Leben schwer. Die Kattundruckerei war ebenfalls rückläufig und verschwand schließlich ganz aus dem Plauener Revier. Doch erwähnte Wietersheims Memorandum auch eine zukunftsträchtige Branche, die sich in den 92 93
Zahlen: Bein, Industrie, Anhang: Tab. IIa; vgl. ebd. S. 245–248; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 944 (Loc. 11471): Relation Ostermesse 1817; ebd. Nr. 947 (Loc. 11417) Relation Michaelismesse 1818. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 947 (Loc. 11417): Relation Michaelismesse 1818; vgl. ebd. Nr. 945 (Loc. 11417) Relation Michaelismesse 1817; Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 559; Bein, Industrie, S. 199.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
folgenden Jahrzehnten zum Träger einer Renaissance der Baumwollwarenfertigung im Vogtland entwickeln sollte: „die künstliche, mehr Handarbeit erfordernde Waare, welche theils in weißer, verschiedenartig gemusterter, oder durchbrochener Arbeit, sogenannter faconnirter und brochirter, theils in ausgenähter und bestickter Waare besteht. Diese Artikel gewähren den doppelten Vortheil, einmal daß sie fast ausschließlich dem europäischen Markte, dem nächsten und sichersten angehören, und zweitens, daß die Handarbeit gerade das Feld ist, auf welchem der Engländer, wegen der theureren Arbeitslöhne am entschiedensten rechnen muß.“94
Musseline und andere leichte weiße Gewebe waren in der Schweiz bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts bestickt worden. Seit 1770 verbreitete sich diese Tätigkeit in den Dörfern und Städtchen des östlichen Vogtlands und im angrenzenden oberen Erzgebirge. 1810 führte der Plauener Baumwollwarenhändler Carl Gottlob Krause mit Hilfe seiner Frau ein neues Verfahren, die sog. Plattstichstickerei, im Vogtland ein. Dabei wurden mit einer Nähnadel, den Umrissen einer unterliegenden Zeichnung folgend, reliefartige Muster auf einen weißen Stoff appliziert. Die Krauses legten damit den Grundstein der vogtländischen „Weißwarenstickerei“, die in Plauen ihr organisatorisches Zentrum fand und Ende der 1820er Jahren im Vogtland rund 2000, meist weibliche Arbeitskräfte beschäftigte.95 Dass Carl Gottlob Krause wie auch Friedrich Ludwig Böhler zu den wenigen größeren Verlegern unter den Plauener Innungsverwandten zählten, die die Krise der vogtländischen Musselinmanufaktur geschäftlich überlebten, dürfte daher kein Zufall sein. Sie waren offenbar rechtzeitig auf dieses zukunftsträchtige Geschäftsfeld gewechselt. Der Begleitband zur ersten sächsischen Gewerbeausstellung 1831 stellte die vogtländische Weißwarenstickerei bereits als bedeutende Branche vor, die um so wichtiger sei, „weil Sachsen theils wenig Concurrenz, theils die vorhandene so gut als überwunden hat. Höher als Sachsen stand in der eigentlichen Stickerei seit längerer Zeit nur Frankreich; aber Sorgfalt und Anstrengung, in Verbindung mit fortwährender Beziehung französischer Muster, haben die ersten Plauenschen Fabrikhäuser hierin, wie Krause, Böhler und Sohn und andere, dahin gebracht, die französische Stickerei in der Qualität im Allgemeinen zu erreichen, …“
Vor allem kamen den sächsischen Verlegern in dieser arbeitsintensiven Spezialbranche die niedrigen Löhne des ländlichen Vogtlandes entgegen. Ihre hartnäckigsten Konkurrenten saßen während des gesamten 19. Jahrhunderts im Raum St. Gallen, wo sich die Stickerei in den Dörfen und Städtchen rund um den Bodensee auf ein ähnliches Reservoir zahlreicher und genügsamer Arbeitskräfte stützen konnte.96 94 95 96
Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 3431, Bl. 84 f.: Bericht v. Wietersheim, 18.6.1827; vgl. ebd. Bl. 82–88; Bein, Industrie, S. 255 f.; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 16; Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 39; Kurrer, Zeugdruckerei, S. 11 f. Vgl. Zachmann, Ausformung, S. 28 ff.; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 4 f.; Schuster, Plauen, S. 47 f. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 23; vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 979 (Loc. 11473): Relation Michaelismesse 1834; Bein, Industrie, S. 269 f.; Tanner, Baumwollindustrie, S. 172 f.
4.2 Bewältigungsstrategien der südwestsächsischen Baumwollweberei
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Seit 1834 profitierte die vogtländische Weißwarenstickerei von Einfuhrzöllen, die ihren St. Galler Kontrahenten die deutschen Märkte weitgehend verschlossen. Die Schweizer Stickwarenhersteller hatten schon seit dem vorhergehenden Jahrzehnt überseeische Märkte, vor allem in Nordamerika, für ihre Erzeugnisse erschlossen. Die größeren Plauener Verlags- und Handelshäuser, allen voran die Firma F. L. Böhler & Sohn, folgten diesem Beispiel in den 1830er Jahren. Auch der Export von Weißwaren in die Levante nahm nun bedeutend zu. Nach dem Ende der Kriegsunruhen im östlichen Mittelmeerraum und der Lockerung der österreichischen Transitbestimmungen 1829/30 hatten sich die Rahmenbedingungen für die sächsischen Textilwarenausfuhr auf die Märkte des Osmanischen Reiches verbessert. Nun erlebte auch die Herstellung „glatter“ (unbestickter und ungemusterter) Musseline und ähnlicher Gewebe im Vogtland wieder einen gewissen Aufschwung. Die Relation zur Leipziger Ostermesse 1835 vermeldete, das Mylauer Verlagshaus Wehner & Sohn, das wenige Jahre zuvor knapp an einem Konkurs vorbeigeschrammt war, beschäftige allein an die 1000 Webstühle mit der Fertigung ordinärer glatter Musseline, hauptsächlich für den Absatz nach Konstantinopel. Allerdings scheinen die vogtländische Musseline am Ende der 1830er Jahre hier wieder von der britischen und auch Schweizer Konkurrenz zurückgedrängt worden zu sein.97 Mitte der 1830er Jahre zeigten die Branchenstrukturen der vogtländischen Textilmanufaktur in gewisser Hinsicht wieder das Muster der Zeit um 1800. Die zwischenzeitlichen Verschiebungen zur Wollwarenfertigung, zur Kattunweberei und -druckerei und zur Spitzenklöppelei waren Alles in Allem ein Intermezzo geblieben. Das Vogtland blieb ein Revier, in dem vornehmlich leichte und durchsichtige Baumwollstoffe hergestellt wurden. Hier kamen auch gewisse Pfadabhängigkeiten zum Vorschein. Der Industrieverein äußerte sich 1833 in einer gutachterlichen Stellungnahme zum Notstand der Weber in Falkenstein und Auerbach skeptisch zu Plänen, dort die Kattunweberei einzuführen. Solche einfachen und schweren Gewebe mochten wohl im Zollverein einen gesicherten Absatzmarkt finden. Da aber die Falkensteiner und Auerbacher Weber gewohnt seien, „aus wenig Garn viel Waare – nämlich nur ganz dünne Waare – zu machen, wird auch schwerlich die Fertigung irgend einer anderen dichtern Waare bei ihnen einzuführen seyn, wie schon Versuche, die einzelne dortige Weber in Merinos und bunten Köpern auf kurze Zeit gemacht, hinlänglich bewiesen haben.“98
Weniger Vorbehalte hatten die vogtländischen Weber dort, wo man an die Musselinweberei anknüpfen konnte, bei Fertigung von Rohgeweben für die Stickerei wie auch beim Übergang zu neuen luftigen gemusterten Stoffen. Seit 1835 kam zunächst in Falkenstein der Jacquardstuhl in Gebrauch. Dort entwickelte sich in den 1840er Jahren eine neue Spezialbranche, die von der Art der Materialverarbeitung
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Vgl. Bein, Industrie; S. 268 f.; Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 549 f.; Schuster, Plauen, S. 48; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 980 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1835; HStAD 10736: MdI Nr. 06161,Bl. 33 f., 87 f.: Berichte 1835 und 1839; Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 202. Mittheilungen Industrieverein 1833, S. 297 f.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
ebenfalls gewisse Parallelen zur Musselinmanufaktur aufwies: die Gardinenweberei.99 4.3 TEXTILEXPORTGEWERBE UND TRANSATLANTISCHE MÄRKTE I: DIE LAUSITZER LEINEWEBEREI Der Rückweg nach Veracruz Als sich mit dem Ende der napoleonischen Kriege die transatlantischen Handelswege wieder öffneten, standen die Oberlausitzer Leinenhändler und -verleger vor einem schwierigen Neuanfang. Rund zwanzig Jahre lang war ihnen die Absatzroute über Hamburg und Cádiz zu den Häfen Spanisch-Amerikas versperrt gewesen. Sie hatten in dieser Zeit nur notdürftig Ersatz auf den kontinentaleuropäischen Märkten oder in meist hoch riskanten transatlantischen Warensendungen gefunden. Seit 1815 kam der Vertrieb der oberlausitzischen Leinenwaren über die alte Transatlantikroute zwar zunächst schnell wieder in Gang. Doch bald klagten die sächsischen Leinwandexporteure über Störungen des Handelsverkehrs zwischen den spanischen Ausfuhrhäfen und den amerikanischen Kolonien. Schon zur Leipziger Ostermesse 1816 vermerkten die Messrelationen der Kommerziendeputation, die Leinwandausfuhr über Cádiz würde schon längst mehr zugenommen haben, wenn nicht Unruhen in Spanisch-Amerika und die „Seeräuberei der Barbaresken“ den Cádizer Handelshäusern bei ihren Warenversendungen über See „manche Hindernisse“ in den Weg legten. Zur Michaelismesse des gleichen Jahres war der Leinwandabsatz über Cádiz schon wieder rückläufig. In den amtlichen Berichten war aus den „Unruhen“ ein ausgewachsener „Revolutionskrieg“ geworden.100 Zweieinhalb Jahre später, zu Michaelis 1819, konstatierten die Messrelationen, es gebe wenig Hoffnung, dass sich der Lausitzer Leinenexport eher heben werden, „als bis die politischen Verhältnisse zwischen Spanien und seinen südamerikanischen Besitzungen sich gewendet haben werden. Auf directem Wege nach Buenos-Ayres Versendungen zu machen, ist unter den gegenwärtigen Umständen zu gefährlich, indem man theils das Begegnen spanischer Schiffe, deren Capitaine die strenge Ordre haben, alle auf dorthin addressierte Verladungen wegzunehmen, theils das willkürliche Verfahren der unter südamerikanischer und sogenannter Imperial-Flagge in dortigen Gewässern herumschwärmenden Freibeuter zu fürchten hat.“101
Die Leinwandausfuhr aus der sächsischen Oberlausitz, die sich 1815 auf einen Gesamtwert von mehr als 1,3 Millionen Taler gehoben hatte, unterschritt in den frühen
99 Vgl. Bein, Industrie, S. 260–264; Klett, Tüllgardinen-Industrie, S. 21 f. 100HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 942 (Loc. 11471), o. Bl.: Relation Ostermesse 1816; ebd. Nr. 943 (Loc. 11471), o. Bl.: Relation Michaelismesse 1816; ebd. Nr. 945 (Loc. 11471), Relation Ostermesse 1817. 101 Ebd., Nr. 949 (Loc. 11472), o. Bl.: Relation Michaelismesse 1819.
4.3 Textilexportgewerbe und transatlantische Märkte I: Die Lausitzer Leineweberei
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1820er Jahren wieder die Millionen-Marke und stand damit nur noch wenig über dem Niveau während der Kontinentalsperre.102 Erst im Laufe des Jahres 1822 trafen wieder hoffnungsvollere Nachrichten von jenseits des Atlantiks in der Oberlausitz ein. So teilte ein Geschäftspartner aus Philadelphia der Firma Dürninger & Co. mit, die Nachfrage nach sächsischem und schlesischem Leinen für Mexiko und Südamerika sei seit dem vergangenen Winter in den US-amerikanischen Umschlagplätzen „fortwährend lebhaft“ gewesen. Einige Tage später schrieb derselbe amerikanische Kommissionär nach Herrnhut: „Da zu folge bestätigter Nachrichten die Patrioten nun mehr in Besitz von Valparaiso in Chili und von Lima in Peru sind, der offizielle Bericht von der Uebergabe von La Vera Cruz in Neu Spanien auch täglich erwartet wird, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß … Gattungen, von sehr guter und feiner Qualität hier einen prompten und vortheilhaften Absatz finden werden …“103
Allerdings stellte das Ende der spanischen und portugiesischen Kolonialreiche in Amerika die sächsischen Leinwandexporteure vor weitere ernsthafte Herausforderungen. Zwar waren die Handelsmonopole der iberischen Mächte endgültig gefallen und ein direkter Handel nach Lateinamerika ohne Umwege über Cádiz, Lissabon oder verschlungene karibische Schmuggelrouten möglich geworden. Doch damit waren auch die institutionellen Arrangements der Kolonialhandelszeit endgültig zerbrochen. Seit dem Zusammenbruch des kommerziellen Drehkreuzes Cádiz 1797 hatten sich kaum neue institutionelle Strukturen entwickeln können, die einen geregelten Handelsverkehr zwischen den sächsischen Produktionsstandorten und den transatlantischen Absatzmärkten ermöglicht hätten. Der zwischenzeitliche Dreieckshandel über US-amerikanische Häfen scheint zu chaotisch und volatil gewesen zu sein, als dass sich stabile und vertrauensvolle Geschäftsbeziehungen eingespielt hätten. Den sächsischen Leinenhändlern waren dabei vor allem die schlechten Erfahrungen mit windigen und skrupellosen Spekulanten im Gedächtnis geblieben. Weder die Handelshäuser der Hansestädte noch die Leipziger oder oberlausitzischen Großhändler verfügten daher 1815 über nennensbewerte kaufmännische Direktkontakte nach Lateinamerika. Selbst der Fa. Abraham Dürninger & Co., dem bedeutendsten Verlags- und Handelsunternehmen der Oberlausitz mit seinen Missionsstationen und Konsignationslagern in der Karibik, bereitete es große Mühe, im ehemaligen Spanisch-Amerika Geschäftskontakte anzuknüpfen.104 Zudem waren wichtige Zwischenglieder der Vertriebskette brüchig geworden. Dies gilt vor allem für den bedeutendsten deutschen Umschlagplatz für Leinenwaren, die Freie und Hansestadt Hamburg. Allein der Transport der Leinenstoffe von den sächsischen Manufakturrevieren nach Hamburg gestaltete sich zunehmend schwieriger und kostspieliger. Seit 1818 mussten bei der Durchfuhr sächsischer Manufakturwaren über preußisches Territorium kräftig angehobene Transitabgaben entrichtet werden. Hinzu kam, dass die in der napoleonischen Zeit abgeschafften 102 Vgl. die Daten in: HStAD 10736: MdI Nr. 01439, Bl. III–XVII, 60, 67. 103 Unitätsarchiv Herrnhut: Dürninger & Co. Nr. 522, Mappe 1: Jacob Sperry, Philadelphia, an Dürninger & Co., 17.10. und 28.10.1822. 104 Vgl. Rösser, Beispiele, S. 177.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
Elbzölle schon seit 1814 wieder in alter Höhe und Vielzahl erhoben wurden. 1821 verkündete ein Abkommen der Anrainerstadten zwar grundsätzlich die Freiheit der Schifffahrt auf der Elbe und eine grundlegende Neuordnung des Abgabewesens. Doch im Effekt blieben die Entlastungen für den Warentransport auf der Elbe in der Folgezeit marginal. Nicht zuletzt spielte hier das handelspolitische Kalkül Preußens eine wichtige Rolle, wollte man doch in Berlin die Handelsströme von Hamburg und Altona zu den eigenen Häfen an der Ostsee umleiten. Dieses Kalkül hatte insofern Erfolg, als Oberlausitzer Leinen seit den 1820er Jahren vermehrt über Cottbus und Stettin – und vor dort aus meist nach Hamburg – expediert wurde. Ohne die Elbzölle und mit dem Anreiz eines auf die Hälfte reduzierten preußischen Durchgangszolls kam dieser merkwürdige Umweg die Zittauer, Löbauer und Herrnhuter Leinenhändler immer noch billiger zu stehen als der Transport auf der Elbe.105 Die Stadt Hamburg selbst und ihre Großkaufmannschaft hatten noch lange mit den Folgen der französischen Besatzungszeit zu kämpfen. Ein Jahrzehnt der Absperrung hatte die Eigenkapitalbasis des Hamburger Handels erschüttert. Die hanseatischen Handelsfirmen waren nun nur noch in beschränkten Maße in der Lage, Leinwand aus der Oberlausitz auf eigene Rechnung zu vermarkten. So teilte ein Hamburger Kaufmann der Firma Dürninger 1822 mit, „unser Leinen Handel“ habe „gegen früher eine so ganz andere Gestalt angenommen hat, daß er dem hiesigen Leinen Händler nicht erlaubt Aufträge zum Einkauf von mehr Waare zu ertheilen“. Statt dessen schlug er ein Geschäft vor, das seinen sächsischen Lieferanten stärker am Kapitalaufwand und am Risiko beteiligte: Ihm stehe nämlich eine Summe von 40.000 Mark Banco zur Anlage in sächsischem und schlesischem Leinen zur Verfügung, „falls die Verkäuffer eine gleiche Summe mit consigniren, um mit dem allerersten Früh-Jahr Schiff von hier abzusenden.“ Drei Jahre später erklärte derselbe Hamburger Kaufmann rundweg, dass „keine hiesigen Häuser für eigene Rechn. kauffen“.106 Der Blick vieler hanseatischer Kaufleute richtete sich seit 1815 darauf, die Geschäftsverbindungen nach London zu reaktivieren und zu intensivieren, um so ihre Eigenkapitalbasis wieder aufzubauen. Für mindestens ein Jahrzehnt fungierten die Hamburger Handelshäuser vornehmlich als Kommissionäre und Spediteure des britischen Überseehandels. Nicht wenige Hamburger Kaufleute etablierten ihrerseits Kommissionsgeschäfte in englischen Hafenstädten, um von dort aus den Export irischer und schottischer Leinwand oder Baumwollwaren aus Manchester und Glasgow in die ehemaligen spanischen und portugiesischen Kolonien jenseits des Atlantiks zu vermitteln. Sie ernteten damit die Früchte der britischen Handelsexpansion in Lateinamerika. In zahlreichen Häfen Brasiliens und der sich neu bildenden unabhängigen Staaten des ehemaligen spanischen Amerika hatten britische
105 Jentzsch, Elbschiffahrt, S. 14–17; Bertz, Elbhandel, S. 100; Deutsche Gewerbezeitung 25.7.1845, S. 347; ebd. 28., 1863, S. 157 f. 106 Unitätsarchiv Herrnhut: Dürninger & Co., Nr. 522, Mappe 31: G. F. Schmidt, Hamburg, an Dürninger & Co., 14.12.1822 und 31.8.1825.
4.3 Textilexportgewerbe und transatlantische Märkte I: Die Lausitzer Leineweberei
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Kaufleute, durch vorteilhafte Handelsabkommen begünstigt, mittlerweile dauerhaft Fuß gefasst.107 Die auf den überseeischen Export ausgerichtete Leinenmanufaktur des Zittauer Reviers hatte nach 1815 demnach mit einem doppelten Handicap zu kämpfen. Zum Einen fehlte ihr eine verlässliche kommerzielle Infrastruktur, um ihre Waren auf die lateinamerikanischen Märkte zu bringen. Zum Anderen war ihnen in Irland und Schottland eine ernstzunehmende Konkurrenz entstanden, die über eben diese Infrastruktur verfügte. Vor diesem Hintergrund wird auch ein Neuansatz der Vertriebsorganisation verständlich, der zunächst einmal anachronistisch anmutet: die Gründung einer staatlich privilegierten Handelskompanie. Im 18. Jahrhundert waren solche Pläne immer mal wieder von Wirtschaftsbeamten, Großkaufleuten und Verlegern diskutiert worden. Doch gewöhnlich fanden diese Überlegungen in der kursächsischen Bürokratie und unter den Diplomaten wesentlich mehr Anklang als bei den betroffenen Geschäftsleuten. Vorstöße in den 1780er und 90er Jahren, eine sächsische Handelskompanie für die Vereinigten Staaten von Amerika zu gründen oder eine Handelsgesellschaft auf Aktienbasis zu etablieren, die den sächsischen Leinenexporteuren in Cádiz einen festeren Stand verschaffen sollte, wurden in Leipzig wie in Zittau mit Skepsis und Ablehnung betrachtet. Hier vertraute man lieber auf die bereits bestehenden Geschäftsbeziehungen. Vor allem wollte man nicht riskieren, das über längere Zeiträume gewachsene Vertrauensverhältnis zu Geschäftspartnern in Hamburg oder Cádiz durch merkantilistische Kopfgeburten der Dresdner Bürokratie zu gefährden.108 Angesichts der prekären Situation des sächsischen Textilexportgewerbes – der sukzessiven Schließung der europäischen Märkte, des Zusammenbruchs der transatlantischen Vertriebsorganisation, der verstärkten Hinwendung des Hamburger Großhandels nach London und der monopolartigen Marktposition der Briten in weiten Teilen Lateinamerikas – gewann das Projekt einer Handelskompanie für Großkaufleute und Verleger in den frühen 1820er Jahren größere Attraktivität. Die Initiative zu einem solchen Projekt kam allerdings zunächst aus einer anderen Exportgewerberegion, dem preußischen Rheinland, wo man mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatte. 1821 wurde in Elberfeld eine „Rheinisch-Westindische Kompagnie“ (RWK) gegründet, die vor allem von Kaufleuten und Textilverlegern aus dem Bergischen Land und vom Niederrhein getragen wurde. Die Kompagnie sollte, ausgestattet mit einem Aktienkapital von bis zu einer Million Taler, in der Karibik und in den gerade unabhängig gewordenen Staaten Lateinamerikas eigene Handelsniederlassungen errichten. Sie sollte kapitalkräftig genug sein, um transatlantische Warensendungen vorzufinanzieren und überseeischen Kunden genügend langfristigen Kredit zu gewähren. Nur so schien es möglich, mit dem wesentlich günstiger 107 Vgl. Arfs, Hansestadt, S. 105–110; Böttcher, Monopol 119 ff.; Schwarzer, Exporthandel, S. 46 ff. 108 Vgl. etwa HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 784 (Loc. 11122/V. 1192), Bl. 141–144: Extrakt Relation Ostermesse, 23.5.1791; ebd. Bl. 188–191: Extrakt Bericht v. Forell, Madrid, 20.1.1794; Lingelbach, Relations, S. 528 f.; Weber, Frege, S. 98 f.; Reinhold, Frege, S. 96–99. Siehe oben S. 142 f.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
positionierten britischen Manufakturwarenexport, der auf ein hoch entwickeltes institutionelles Rahmenwerk kaufmännischer Kreditfinanzierung zurückgreifen konnte, zu konkurrieren.109 Schon in der Gründungsphase der RWK war die sächsische Exportwirtschaft prominent unter ihren Aktionären vertreten. Am Gesellschaftskapital hatten sich neben Leipziger Großkaufleuten und Chemnitzer Großverlegern vor allem auch die großen Oberlausitzer Leinenhändler, u. a. die Fa. Dürninger & Co, beteiligt. In Leipzig wurde eine Agentur der RWK für Sachsen und Böhmen gegründet. Deren Leitung übernahmen die Brüder Carl und Gustav Harkort, gewissermaßen der sächsische Zweig der rheinischen Großkaufmannsfamilie. Bei der ersten transatlantischen Warenversendung der Kompagnie nach Port-au-Prince (Haiti) 1821/22 war ein Viertel der Frachtgüter in Sachsen hergestellt worden. Auch noch Mitte der 1820er Jahre scheint der sächsische Amerika-Handel eng mit der Elberfelder Kompagnie verbunden gewesen zu sein. So regte der mexikanische Hauptagent der RWK bei den sächsischen Mitgliedern der Kompagnie 1825 an, „daß es sehr zum Vortheil des unmittelbaren Sächsischen Handels gereichen werde, wenn von Seiten dieser Regierung im Mexicanischen Reiche gleichfalls ein besonderes Handels-Consulat errichtet würde“. Als sächsischen Konsul in Mexiko schlug er einen anderen RWK-Agenten, offenbar einen gebürtigen Sachsen vor.110 Allerdings hatte sich mittlerweile eine sächsische Konkurrenzgründung zur Rheinisch-Westindischen Kompagnie etabliert. Die Konstituierung der „Elbamerikanischen Compagnie“ (EAC) ging wesentlich auf die Initiative von Oberlausitzern Verlagskaufleuten zurück. Offenbar waren dies vor allem kleinere und mittlere Unternehmer, die einen ihren Bedürfnissen angemessene Vertriebsorganisation zu schaffen versuchten.111 Die EAC war ebenfalls als Kapitalgesellschaft konzipiert, doch blieben die Aktienzeichnungen zunächst hinter den Erwartungen der Gründer zurück. Nach einem Jahr waren gerade einmal 70.000 Taler zusammen gekommen. Die enttäuschende Resonanz hatte wohl nicht zuletzt mit dem Profil der Gründer selbst zu tun. 1824 beklagte ein Mitinitiator gegenüber der Kommerziendeputation, „die größten Fabrikverleger und Handelshäußer, besonders auch aus der Gegend von Chemnitz, dem Vogtland und der Oberlausitz“ seien der Compagnie fern geblieben. Er führte diese Zurückhaltung vor allem darauf zurück, dass den größeren „Fabrikinhabern“ „ein Unternehmen, wodurch sich die hierbey hauptsächlich interessierenden Fabricanten 2ten oder 3ten Ranges zu einer Concurrenz gegen sie durch vereinigte Mittel in Stand setzen wollten, nicht angenehm sey…“112 Erst als sich eine Reihe Leipziger Großkaufleute dem Projekt annahm und die EAC Anfang 1825 in die Messestadt umgezogen war, engagierten sich auch führende Unterneh109 Zur Geschichte der RWK: Beckmann, Kompagnie; Oehm, Kompagnie; Boch, Wachstum, S. 60–63; ders. Transatlantikhandel. 110 HStAD 10736: MdI Nr. 01422a, Bl. 1 f.: Theodor H. Märtens, Meißen, an Kommerziendeputation, 28.1.1826; vgl. Oehm, Kompagnie, S., 77 Ludwig, Handel, S. 176; Zeuske, Hinterländer, S. 173, 177,. 111 Vgl. Ludwig, Handel, S. 179; ders., Sächsischer Handel, S. 26 ff. 112 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 789 (Loc. 11168/VI. 2268), Bl. 94 f.: Johann Friedrich Gehe an Kommerziendeputation, 3.7.1824.
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men aus den sächsischen Textilrevieren mit dem Erwerb von Aktienanteilen an der Compagnie, u. a. Bodemer in Großenhain, Pflugbeil & Comp. in Chemnitz oder Winkler in Rochlitz. Seit 1825 versandte die EAC sächsische Manufakturwaren, meist Textilien, in die USA, nach Mexiko, in die Karibik und nach Südamerika. Das größte Kontingent unter den Textilwaren nahmen wertmäßig die Leinenstoffe ein.113 Letztlich war aber weder der Elbamerikanischen noch der Rheinisch-Westindischen Kompagnie längerfristiger Erfolg beschert. Beide Gesellschaften wurden nach herben Verlusten liquidiert. Die direkten Ursachen des Scheiterns lagen im Falle der EAC im Fehlverhalten des Managements. 1828 kamen betrügerische Machenschaften des Geschäftsführers der Gesellschaft ans Tageslicht. Eine Revision der Geschäftsbücher legte bedeutende Verluste offen. Dies führte zu einem rapiden Vertrauensverlust unter Anteilseignern und Geschäftspartnern. Noch im gleichen Jahr löste sich die Elbamerikanische Compagnie auf. Allerdings hatte die EAC, ähnlich wie die RWK, nach anfänglich ermutigenden Resultaten schon seit Mitte der 1820er Jahre mit Absatzproblemen zu kämpfen gehabt. Dies lag einerseits an einer Reihe äußerer Widrigkeiten, die beiden Handelskompanien zu schaffen machten. 1825 erlitt der transatlantische Handel infolge einer Welle von Geschäftszusammenbrüchen in London und anderen Handelszentren einen schweren Einbruch. Im gleichen Jahr musste die RWK ihre erste Niederlassung in Port-au-Prince wieder aufgeben, nachdem die junge Republik Haiti ihrer ehemaligen Kolonialmacht Frankreich Vorzugszölle gewährt hatte. In den folgenden Jahren lähmte der langwierige Krieg zwischen Argentinien und Brasilien den Handel am La Plata. Auch erwies sich der Export von Manufakturwaren in die meisten lateinamerikanischen Staaten als kapitalaufwändiger als erwartet. Es mussten gewöhnlich lange Perioden zwischen der Lieferung und dem Erhalt der Zahlungen überbrückt werden. Eine adäquate Erhöhung der Kapitalausstattung der Kompanien scheiterte meist am Widerstand der Aktionäre. In vielen der mittel- und südamerikanischen Staaten, in denen die Kompanien Handelsstützpunkte unterhielten, war es auch schwierig, Retourfachten zu erhalten, die in Europa ohne Verluste abgesetzt werden konnten. Mexiko, Chile und Peru boten fast nur Metalle, Argentinien vor allem Rinderhäute. Solche Produkte waren starken Preisschwankungen ausgesetzt und ihre Vermarktung war daher mit erheblichen Risiken belastet. Schließlich überforderte der Run der britischen und kontinentaleuropäischen Exporteure auf die Märkte der unabhängig gewordenen lateinamerikanischen Kolonien bald deren Aufnahmefähigkeit. Im Konkurrenzkampf unter den verschärften Bedingungen von Überangebot und Preisverfall hatten wiederum die britischen Überseekaufleute gegenüber den sächsischen und rheinischen Handelskompanien die besseren Karten und den längeren Atem.114 Auf der anderen Seite hatte sich der Großhandel der Hansestädte in den späten 1820er Jahren soweit erholt, dass er den sächsischen Textilwarenherstellern bessere 113 Vgl. Ludwig, Handel, S. 183 f.; ders., Sächsischer Handel, S. 29–40. 114 Vgl. Ludwig, Handel, S. 190; ders., Sächsischer Handel, S. 42; Boch, Wachstum, S. 64 f.; Oehm, Kompagnie, S. 80–90; Beckmann, Kompagnie, S. 36, 39 f., 48 f., 63, 97.
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Bedingungen für den Export anbieten konnte. Die großen Hamburger Handelshäuser lösten sich langsam aus ihrer notgedrungen übernommenen Rolle eines Dienstleisters für den britischen Export- und Importhandel. Sie trennten sich wieder vom Reedereigeschäft und engagierten sich zusehends aktiver im überseeischen Warenhandel. Dabei kamen ihnen wiederum ihre seit 1815 neu geknüpften und intensivierten Geschäftsverbindungen nach Großbritannien zugute. Die Hamburger Großkaufleute nutzten nun die Dienstleistungen der Londoner Merchant Bankers und ihre Filialniederlassungen in britischen Hafenstädten, um eigenständig im transatlantischen Handel Fuß zu fassen. Sie wickelten Warenabsatz und Rückladung in den überseeischen Hafenstädten über die dort etablierten britischen Handelshäuser ab, bevor sie schließlich dazu übergingen, eigene Vertriebs- und Einkaufsorganisationen vor Ort aufzubauen.115 Die neu gewonnene Schlüsselposition der Hansestädte im deutschen Transatlantikhandel wurde nicht zuletzt durch einige wichtige handelspolitische Weichenstellungen gestärkt. Zum Einen lockerte die britische Regierung ihre rigiden Zollbestimmungen. Seit 1825 konnte sächsisches Leinen in London und anderen englischen Häfen eingebracht und ohne Entrichtung prohibitiver Transitzölle re-exportiert werden. Gleichzeitig öffnete Großbritannien die eigenen Überseekolonien für ausländische Waren, sofern ihr Transport über britische Häfen und mit britischen Schiffen erfolgte. Dies erleichterte und erweiterte die Möglichkeiten des hanseatischen und sächsischen Übersee-Exports beträchtlich. Die Neuregelung gewähre, so hieß es in einem Bericht aus London im August 1825, „nicht allein die Gelegenheit, über hier, wo zu jeder Zeit Schiffe nach allen Theilen der Welt in Ladung liegen, zu versenden, sondern man hat auch noch die Wahl, den hiesigen Markt erst zum Absatz zu versuchen, der wohl häufig eben so gute und auf jeden Fall schnelle Abrechnungen geben möchte, als die directen Sendungen nach Westindien und Nord- und Südamerika. Bey den vielen Unternehmungen, welche man von hier aus nach jenen Gegenden und nach Afrika und Ostindien einleitet, dürfte sich immer Gelegenheit finden, zur Ausfuhr zu verkaufen und auch zum inländischen Verbrauch werden für manche Artikel gute Preise zu bedingen seyn.“116
Die Hoffnungen auf eine Öffnung des britischen Binnenmarktes für Lausitzer Leinen und andere sächsische Exportwaren, die in dem Bericht mitschwingen, erfüllten sich allerdings vorerst nicht. Sächsische Artikel wie „feine Leinenwaaren, feinste wollene Merinos, einige gedruckte Baumwollwaaren, Stickereyen, Posamentirarbeiten, durchbrochene Strümpfe“ würden wohl, so schrieb der Chemnitzer Textilunternehmer Peter Otto Clauß 1828, in England ohne weiteres Absatz finden können. Doch werde dies durch hohe Abgabensätze unterbunden. Immerhin sah man in Sachsen die neu belebten Handelsbeziehungen nach Großbritannien als so bedeutsam an, dass 1827 ein Londoner Kaufmann, James Colquhoun, zum Königlich-Sächsischen Generalkonsul bestellt wurde.117 115 Vgl. Arfs, Hansestadt, S. 105–108. Zum Aufstieg der Merchant Bankers im britischen Textilwarenexport nach 1815 vgl. Chapman, Restraints, S. 54 f. 116 HStAD 10736: MdI Nr. 01434a, Bl. 25: Bericht F. H. Roch, London, 5.8.1825. 117 Zitat: ebd. Bl. 57. Vgl. ebd., Bl. 33 f.: Einsiedel an Kommerziendeputation, 14.12.1827; ebd. Bl. 46–52: Leipziger Kramermeister und Handlungsdeputierte an Kommerziendeputation,
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Zum Anderen ernteten die Hansestädte in den späten 1820er Jahren die Früchte ihrer vorausschauenden Lateinamerikapolitik. Während Preußen, Sachsen und andere deutsche Monarchien eine Anerkennung der neuen „revolutionären“ Staaten zunächst verweigerten, begannen die hanseatischen Regierungen schon seit 1822 diplomatische Kontakte zu den gerade unabhängig gewordenen spanischen und portugiesischen Kolonien zu knüpfen. Ende 1827 schlossen Hamburg, Bremen und Lübeck einen Handelsvertrag mit Brasilien ab, der auch den sächsischen Manufakturwarenexport begünstigte. Es sei, so teilte Minister Einsiedel der Kommerziendeputation mit, „der Hanseatischen Deputation über Erwarten gelungen, unerachtet der Opposition bisher begünstigter, blos eigne Producte einführender Seemächte, … denjenigen Staaten des inneren Deutschlands, deren natürliche Häfen die Hansestädte sind, die Theilnahme an allen für die erlangten Begünstigungen, unerschwert durch die lästige Formalität der Ursprungs-Constatierung und anderer Beschränkungen zu erwerben.“
Alle Waren, die aus Handelsniederlassungen der Hansestädte, auf brasilianischen, hanseatischen oder den Schiffen anderer in Brasilien begünstigter Nationen eingeführt wurden, sollten bei den Zollabgaben den britischen gleichgestellt werden, ohne dass ein Herkunftszertifikat vorgelegt werden musste.118 Ähnliche Abkommen wurden in den folgenden Jahren mit Mexiko, den La-Plata-Staaten und den USA vereinbart. Das Königreich Sachsen und später der Zollverein schlossen seit den 1830er Jahren ebenfalls Handelsverträge mit den süd- und mittelamerikanischen Staaten und benannten Handelskonsuln in den Haupt- und Hafenstädten.119 Die zeitgenössischen Berichte aus Mittel- und Südamerika deuten daraufhin, dass die sächsischen Leinenwaren im Laufe der 1830er Jahre wieder an Wettbewerbsfähigkeit gewannen. Noch 1829 hieß es in einem Bericht zum Bremer Überseehandel, in Rio de Janeiro könnten die deutschen Leinenwaren, trotzdem sie neuerlich im Einfuhrzoll gleichgestellt seien, nicht gegen irisches Leinen aufkommen. Allerdings habe dies weniger mit ihrem Preis oder ihrer Qualität zu tun. Vielmehr würde die britische Konkurrenz von ihrer langjährigen Begünstigung zehren, so dass die Verbraucher in Brasilien eben an ihre Waren gewöhnt seien. Vier Jahre später wurde aus Salvador de Bahia vermeldet, sächsische Leinenstoffe hätten trotz starker britischer Zufuhren gute Preise erzielt. Damit sei der Beweis erbracht worden, „daß englische Fabrikate obgleich sie billiger einstehen, weil nicht der gehörige Fleiß auf die Art und Weise der Fabrication verwandt wird, in Ländern, wo die Civilisation zunimmt, nicht mit den schönen und fleißig gearbeiteten sächsischen Manufacten concurriren können.“ 1838 berichtete der sächsische Generalkonsul in 12.7.1825; ebd. Bl. 53 f.: Jacob Heinrich Thieriot u. a., Leipzig, an Kommerziendeputation, 4.3.1828; ebd. Nr. 01419, Bl. 2: „Bittschrift an die Königl. Majestät Geheimen Raath für Handelsangelegenheiten“, London, 6.4.1825. Offenbar fungierte Colquhoun auch als hanseatischer Generalkonsul (vgl. Becker, Hansestädte, S. 22). 118 HStAD 10078 Kommerziendeputation Nr. 790 (Loc. 11172/VI. 2321), Bl. 29 f.: Einsiedel an Kommerziendeputation, 16.2.1828. Vgl. Manchester, Preeminence, S. 286 ff., 312 f. 119 Vgl. Becker, Hansestädte, S. 22 f.; Weber, Kaufleute, S. 109 f.; Ludwig, Exportunternehmen, S. 37 ff.; Dane, Beziehungen, S. 37–41.
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Mexiko nach Dresden, der mexikanische Schutzzoll auf Baumwollwaren habe den Leinwandimport sehr begünstigt. Die Lausitzer Creas und Platillas seien rasch und aufgrund der „billiger gestellten Preise, auch mit Vortheil abgesetzt“ worden.120 Der erleichterte Zugang zu den angestammten lateinamerikanischen Märkten trug sicherlich zu einer gewissen Konsolidierung der Lausitzer Leinwandmanufaktur bei. Mitte der 1840er Jahre wurden in der sächsischen Oberlausitz Leinenwaren im Gesamtwert von etwa 1,5 Millionen Talern hergestellt. Dies war eine deutliche Steigerung gegenüber dem Tiefpunkt um 1820, ohne dass aber das Niveau der Zeit vor 1800 auch nur annähernd wieder erreicht worden wäre. Gründe für diese nur sehr bescheidene Erholung lassen sich sowohl in der Produktions- als auch in der Vermarktungssphäre finden. Zum Ersten blieben gerade die lateinamerikanischen Märkte trotz verbesserter Zugangsbedingungen für die sächsischen Leinenexporteure ein schwieriges Terrain. Albert Küstner, der sächsische Handelskonsul in Mexiko, schrieb etwa 1833 nach Dresden, es sei nicht so leicht, dem Handelsverkehr zwischen Sachsen und dem mittelamerikanischen Land eine größere Ausdehnung zu geben. „Es sind nämlich in Sachsen wenig Fabrikanten, die über so große Capitalien gebieten können und geneigt seyen, wie die Engländer, für große Parthien ihrer gefertigten Waaren selbst einen überseeischen Markt zu suchen. Die Engländer machen, ich möchte sagen mit Gewalt, ihre Erzeugniße im Auslande heimisch und erzwingen einen Abzug für den Überschuß ihres Absatzes in Europa selbst mit Verlust. Bei den deutschen Fabriken ist dieß nur zuweilen in viel kleinerem Maasstabe der Fall, man ziehet vor auf feste Ordres, und daher weniger zu arbeiten, während dagegen hier in Mexiko wenige sind, die sich darauf einlaßen wollen solche zu geben.“
Im allgemeinen würden, so fuhr Küstner fort, die in Mexiko ansässigen Importhandelsfirmen kaum für eigene Rechnung arbeiten. Es habe sich im Handel mit den amerikanischen Ländern mittlerweile das „System der Consignationen von Seiten der Fabrikanten“ verbreitet.121 Damit lag letztlich das Risiko bei den exportierenden Herstellern. Und gerade in Lateinamerika waren die Risiken des Handelsverkehrs unübersehbar, selbst nachdem die Unabhängigkeitskriege vorüber waren. Häufige Regierungswechsel, Militärputsche, Aufstände, Unruhen, Bürgerkriege und andere militärische Auseinandersetzungen verschafften den meisten der neuen Staaten bald den Ruf von notorischer innenpolitischer Instabilität. Die konsignierten Warenlieferungen blieben immer mal wieder längere Zeit in den Hafenstädten liegen oder kamen auf dem Transport ins Inland zu Schaden. Auch mit Hilfe der Assekuranzen ließen sich solche Transaktionsrisiken oft nur unzureichend begrenzen. So sah sich die Firma Dürninger & Co. beim Abschluss einer Feuerversicherung für ihre mexikanischen Warenlager 1839 vor Probleme gestellt: Die englischen Versicherungsfirmen verlangten nicht allein erhöhte Prämien, sondern wollten das Risiko nur in Veracruz und Mexiko-Stadt, nicht aber für den Transport zwi120 Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 375, o. Bl.: Manuskript: „Übersicht des Bremer Handels, Ende des Jahres 1829“; Mitteilungen Industrieverein 1834, S. 193; HStAD 10736: MdI Nr. 01432 Bl. 78/1: Bericht Generalkonsul de Drusina, Mexico, 5.3.1838. 121 HStAD 10736: MdI Nr. Nr. 06192, Bl. 32: Bericht Küstner, 11.3.1833. Vgl. allgemein: Arfs, Hansestadt, S. 106 f.
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schen beiden Städten oder überhaupt für einen anderen Teil des Landes übernehmen.122 Die meisten Lausitzer Leinenhandlungen zogen es daher wohl vor, sich auf den hanseatischen Exporthandel zu verlassen.123 Die kriegsbedingten Störungen des transatlantischen Handelsverkehrs und der strukturelle Wandel der Bedingungen des Marktzugangs in Lateinamerika in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts trugen wohl wesentlich zu einem eigentümlichen Konzentrationsprozess in der oberlausitzischen Leinenwirtschaft bei. Ein größerer Teil der Zittauer und Löbauer Leinwandkaufleute hatte sich schon um 1800 aus dem Geschäft zurückgezogen. Waghalsige Versendungen auf Konsignationsbasis während der napoleonischen Zeit und ähnlich riskante Operationen in den Jahren nach 1815 lichteten auch die Reihen der größeren „Dorfhändler“. Gleichzeitig vollzog sich der Aufstieg der Firma Abraham Dürninger & Co. zum dominierenden Unternehmen der Oberlausitzer Leinwandwirtschaft. Vor 1800 waren die Herrnhuter normalerweise für etwa 10 bis 20 Prozent des sächsischen Leinenexports verantwortlich gewesen. Bis 1813 stieg dieser Anteil auf über 40 Prozent, bis 1816 auf rund 60 Prozent. Anfang der 1820er Jahre trugen annähernd drei Viertel der aus dem Zittauer Revier stammenden Leinwand den Fabrikstempel von Dürninger.124 Es ist sicher kein Zufall, dass gerade die Fa. Abraham Dürninger & Co. die jahrzehntelange Krise der Lausitzer Leinenmanufaktur relativ unbeschadet überstand, während ein Großteil ihrer regionalen Konkurrenten aufgeben oder auf ein anderes Geschäftsfeld wechseln musste. Das Management von Dürninger hatte sich nicht ausschließlich auf die Dienste des Hamburger und Bremer Überseehandels verlassen, sondern schon frühzeitig eigene direkte Handelskontakte nach Amerika geknüpft. Diese Verbindungen waren offenbar dank der Missionsstationen der Brüdergemeine und der Handelsstützpunkte in der Karibik auch während der Zeit des Kaperkriegs, der Blockaden und Unabhängigkeitskriege nie ganz abgerissen. Nach anfänglichen Fehlschlägen, in Lateinamerika Fuß zu fassen, gelang es Dürninger in den 1820er Jahren eine Reihe eigener Niederlassungen in den Umschlagszentren entlang der amerikanischen Atlantikküste zu etablieren. Das Herrnhuter Unternehmen unterhielt schließlich Konsignationslager in New York, Philadelphia, Baltimore, New Orleans, Havana, St. Domingo, St. Thomas, Curaçao, Montevideo, Rio 122 Vgl. Unitätsarchiv Herrnhut: Dürninger & Co., Nr. 522, Mappe 12: H. M. Hansen, Hamburg, an Dürninger & Co., 12.3.1839. Vgl. Rösser, Beispiel, S. 177 f.; sowie den Bericht des US-Handelskonsuls in Leipzig, nach dem wegen einer Blockade der mexikanischen Häfen durch französische Kriegsschiffe der ganze Export nach Mexiko ausgefallen sei. (HStAD 13779: Dispatches MF 1: Bericht Flügel. 22.11.1838). 123 Vgl. Rösser, Beispiele, S. 177 f. Für die La-Plata-Staaten vgl. den Bericht des Handelskonsuls Arthur Blank, Buenos Aires, 25.7.1854 (HStAD 10736, MdI Nr. 01432, Bl. 190), aus dem hervorgeht, dass auch noch zu diesem Zeitpunkt, der Lateinamerika-Export sächsischer Textilhersteller meist über Hamburger Häuser lief und nur ausnahmsweise auf dem direkten Weg der Konsignation. 124 Zahlen nach Wagner, Dürninger, S. 143; allerdings sind bei der letzten Prozentzahl die an Preußen gefallenen Gebiete nicht mehr eingerechnet. Vgl. Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 84 f.; Fleißig, Klassenkonstituierung, S. 46 ff.
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de Janeiro und Buenos Aires. Zudem gelang es Dürninger & Co., das Problem der langwierigen und riskanten Warenkonsignationen durch die Möglichkeiten des Barattogeschäftes zu entschärfen. Die Leinenexporte nach Lateinamerika und in die Karibik wurden im Austausch mit Landesprodukten verrechnet. In Herrnhut nutzte man die überseeischen Retouren, um ein zweites geschäftliches Standbein aufzubauen. Die Firma verarbeitete schon seit dem 18. Jahrhundert Rohzucker, Tabak und Kaffeebohnen zu gebrauchsfertigen Produkten und unterhielt einen ausgedehnten Groß- und Detailhandel mit Kolonialwaren in Ostsachsen und in den benachbarten böhmischen und schlesischen Gebieten.125 Dass der Oberlausitzer Leinenwarenexport auch nach 1830 nicht wieder die frühere Bedeutung zurück erlangte, lag auch an einer grundlegenden Verschiebung der Nachfrage. Der massenhafte Export mitteleuropäischer Leinenwaren im 18. Jahrhundert basierte auf einer eigentümlichen Konstellation des Verbrauchs solcher Waren. Während in Europa einfaches Leinen von bäuerlichen Wirtschaften für den Eigenbedarf gefertigt wurde, wurden in den amerikanischen Kolonialreichen große Mengen billiger Kleidungsstoffe aus der Oberlausitz, Schlesien und zahlreichen anderen protoindustriellen Gewerbelandschaften eingeführt. Seit der Öffnung der spanisch-amerikanischen und brasilianischen Häfen für den britischen Manufakturwarenhandel im Jahrzehnt nach 1800 wurden die lateinamerikanischen Märkte mit großen Mengen an preiswerten Baumwollstoffen aus Lancashire und Westschottland überschwemmt. Offenbar ahmten die englischen und schottischen Baumwollproduzenten bewusst die gängigen Leinenartikel nach, die nun als preiswertes Surrogat das Leinen als Kleiderstoff vor allem in den einfacheren Qualitäten zunehmend verdrängten. Daher waren die Absatzmöglichkeiten für die oberlausitzischen Leinenwaren, als sie in den 1820er und 30er Jahren wieder den Weg auf die transatlantischen Märkte fanden, trotz zunehmender Bevölkerungszahlen in der „Neuen Welt“ merklich geschrumpft. Der relative Niedergang der Oberlausitzer Leinenmanufaktur lässt sich schließlich mit dem Aufstieg einer irischen und schottischen Konkurrenz in Verbindung bringen, die über wesentliche handelspolitische Privilegien und produktionstechnische Vorteile verfügen konnte. Vor 1800 waren die Absatzgebiete der iro-schottischen Leinwand noch weitgehend auf den handelspolitisch geschützten Binnenraum Großbritanniens und des britischen Kolonialreichs beschränkt gewesen. Die langwierige Aussperrung der kontinentaleuropäischen Leinenwaren von den lateinamerikanischen Märkten hatte der britischen Leinwand dort zeitweise eine beinahe monopolartige Stellung verschafft. Zudem war es in Großbritannien gelungen, Flachs maschinell zu spinnen und auf diese Weise die Herstellungskosten der Leinenweberei bedeutend zu senken.126
125 Vgl. Schurig, Entwicklung, S. 87; Wagner, Dürninger, S. 139. Siehe auch oben S. 67 f. 126 Vgl. Wagner, Dürninger, S. 137; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1837, S. 17 f.; Ditt Vorreiter, S. 33 f., 50 f.; Pollard, Erfahrung, S. 457 f.; siehe oben S. 142 f.
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Mangelnde Innovationsbereitschaft? Gerade die Entwicklung des deutschen Leinengewerbes in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt in der einschlägigen historiographischen Literatur als eine Art Lehrbeispiel, wie mangelnde Innovationsbereitschaft angesichts einer industriell-technologisch fortgeschrittenen Konkurrenz unweigerlich in den wirtschaftlichen Niedergang führte.127 Tatsächlich lassen sich aber die Versuche, in Sachsen brauchbares Leinengarn maschinell herzustellen, bis zum Ausgang der napoleonischen Zeit zurück verfolgen. 1814 hatten die Gebrüder Bernhard begonnen, in ihrer Harthauer Mule-Spinnerei Flachs zu verspinnen. In Anbetracht des Umstandes, dass das Unternehmen am Anfang des nächsten Jahres in Konkurs ging, dürfte dies aber eher ein verzweifelter Versuch gewesen sein, einen Ausweg aus der Krise des Baumwollgarnmarktes zu finden. Immerhin bestand aber diese Flachsspinnerei noch bis 1830. Auch in einer zweiten der frühen sächsischen Maschinenspinnereien des Chemnitzer Raums, der vom Grafen Einsiedel errichteten Anlage in Wolkenburg bei Penig, wurde seit 1821 Flachs versponnen. Ende der 20er Jahre stellte aber die Wolkenburger Spinnerei die Leinengarnherstellung ebenfalls ein, da sie „die Concurrenz mit den wohlfeilsten Handspinnlöhnen nicht ausdauernd bestehen“ konnte.128 Während einige Chemnitzer und erzgebirgische Spinnmühlenbesitzer frühzeitig Versuche unternahmen, ihr Produktionsspektrum auf Leinengarn zu erweitern, betrachtete man eine Maschinisierung der Flachsspinnerei im Zittauer Leinwandrevier längere Zeit ausgesprochen skeptisch. Die Kommerziendeputation hatte schon 1814 führende Leinenverleger um gutachterliche Stellungnahmen über die Einführung von Flachsspinnmaschinen gebeten. Zwei Argumente sprachen aus der Sicht der Oberlausitzer Verlagskaufleute gegen den Übergang zur Maschinenspinnerei. Zum Einen versprach die Flachsmaschinenspinnerei nicht die enorme Kostenersparnis wie etwa die Maschinisierung des Spinnvorgangs bei der Baumwolle. Vergleichsweise höhere Kapitalkosten standen hier sehr geringen Lohnkosten gegenüber. „Selbst wenn gedachte Maschinen alle mögliche Vervollkommnung erhielten und das brauchbarste Garn lieferten“, gab ein „sehr wohl unterrichtete[r] oberlausitzische[r] Fabrikverleger“ auf der Leipziger Michaelismesse 1816 zu Protokoll, dürfte „der Gewinn dabey für deren Unternehmer schwerlich groß seyn, da es keineswegs an Spinnern mangelt, vielmehr deren weit mehr da sind, als die Leinwandfabrikation, selbst in guten Zeiten, hinlänglich beschäftigen kann.“129 Die Flachshandspinnerei galt in der Oberlausitz und im oberen Erzgebirge als „Beschäftigung für die minder Kräftigen, die Alten und Kinder“. Noch Ende der 1840er 127 Vgl. für Schlesien: Boldorf, Leinenregionen, S. 274 ff.; für Ostwestfalen: Flügel, Region, S. 98 ff.; für die Oberlausitz: Fleißig, Klassenkonstituierung, S. 27 f.; vergleichend: Ditt, Rise, S. 262 f.; ders., Industrialisierung, S. 31 f.; Kiesewetter, Revolution, S. 162 f.; allgemein: Blumberg, Beitrag, S. 99 f. 128 Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831,S. 7; vgl. Kiesewetter, Unternehmen, S. 13 f.; Kirchner, Schafwoll-Maschinenspinnerei, S. 81. 129 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 943 (Loc. 11471), o. Bl.: Relation Michaelismesse 1816.
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Jahren waren die Löhne dieser marginalen Arbeitskräfte so niedrig, dass das Handgespinst mit dem von Maschinen gesponnenen Flachsgarn preislich konkurrieren konnte.130 Zum Anderen führten die Leinenverleger 1816 gegenüber den Beamten der Kommerziendeputation an, die Versuche in sächsischen Spinnereien, Flachs zu verarbeiten, seien nicht sonderlich erfolgreich gewesen und hätten nur minderwertiges Garn hervorgebracht. Diese Einschätzung sollte sich auch in den kommenden Jahrzehnten nicht grundsätzlich ändern. Die Firma Abraham Dürninger & Co. stellte in den 1820er und 30er Jahren mehrfach Versuche mit der maschinellen Verspinnung von Flachs an. Man kam aber dabei jedesmal zu dem Ergebnis, Maschinengarn eigne sich nicht für Creas und andere Leinwandsorten, die in der Oberlausitz vorzugsweise hergestellt würden. Der Bericht zur sächsischen Gewerbeausstellung von 1840 hielt fest, die Regierung habe eine Flachsspinnmaschine neuester englischer Bauart zur freien Vervielfältigung beschafft. Doch hätten die heimischen Leinenfabrikanten diese Möglichkeit – „unbegreiflicher Weise“ – nicht genutzt. Erst in den folgenden Jahren gingen die Oberlausitzer Leinwandverleger dazu über, auch maschinengesponnene Garne an ihre Weber zu verteilen. Dieses Gespinst war allerdings aus England oder Württemberg eingeführt worden.131 Noch 1849 listete die keinesfalls innovationsfeindliche Kommission zur Untersuchung der Gewerbe- und Arbeitsverhältnisse in Sachsen in einem ihrer Berichte die Nachteile des maschinengesponnenen Flachsgarns auf: Der seidenartige Glanz der Stoffe gehe bei Verwendung von Maschinengarn schnell verloren, die Gewebe würden sich schnell abnutzen und nach der ersten Wäsche ein baumwollartiges Aussehen annehmen. Die Ursache davon liege in der zu scharfen Behandlung des Flachses durch die Spinn- und Vorspinnmaschinen. Die Verwendung handgesponnener Flachsgarne lege von daher allein schon die auf den Absatzmärkten der Oberlausitzer Leinwandmanufaktur vorherrschende Nachfrage nahe: „In Deutschland wird fast größtentheils Gewebe aus Handgespinnst bestellt, auch von Italien und zum Theil auch von den überseeischen Consumenten werden dieselben Ansprüche gemacht, eben weil ein größerer Halt und Glanz darin anerkannt wird und die Schönheit desselben auch eine größere Dauer gewährt …“132
Diese letzte Passage verweist auf die marktbedingten Handlungsspielräume der oberlausitzischen Verlagsunternehmer und Leinenkaufleute. Nachdem in ihren angestammten überseeischen Absatzgebieten der Markt für einfache Kleiderstoffe weggebrochen oder von ihrer geopolitisch begünstigten britischen Konkurrenz besetzt worden war, fokussierten die führenden Leinwandhäuser der Oberlausitz ihre Produktions- und Absatzstrategien auf diejenigen Nischen und Segmente des Marktes, in denen erfolgversprechender Wettbewerb möglich schien. Sie konzentrierten sich vermehrt auf höherwertige und relativ arbeitsintensive Produkte, die in wohl130 Bericht Commission Gewerbs- und Arbeitsverhältnisse 1848/49, S. 175. 131 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 943 (Loc. 11471), o. Bl.: Relation Michaelismesse 1816; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1840, S. 8; Wagner, Dürninger, S. 135 f., 179; Viebahn, Leinen- und Woll-Manufakturen, S. 24; Industrielle Zustände, S. 154. 132 Bericht Commission Gewerbs- und Arbeitsverhältnisse 1848/49, S. 174.
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habenderen Konsumentenschichten in Amerika wie in Europa nach wie vor gefragt waren. Die Leinenunternehmer des Zittauer Reviers setzten dabei verstärkt auf gemusterte Stoffe und Mischgewebe mit Baumwollanteil. Sie verfolgten damit ganz ähnliche Strategien wie die Chemnitzer und Glauchauer Baumwollwarenfabrikanten und -verleger. Die Lausitzer Leinwandmanufaktur, so fasste Friedrich Georg Wieck diese Entwicklung 1850 zusammen, produziere jetzt mehr gemusterte Ware, zum Teil mit Baumwollgarn gemischt, wodurch die Fabrikation glatter Leinwand in den Hintergrund gedrängt werde.133 In diesen Marktnischen hielten sich die Oberlausitzer Leinenwaren bis zur Jahrhundertmitte und darüber hinaus. Die Damastweberei überstand die Umbrüche der ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts sogar ziemlich unbeschadet und nahm nach der Zollvereinsgründung einen neuen Aufschwung. Mitte der 1840er Jahre fertigten in den Dörfern Großschönau und Neuschönau etwa 2500 Arbeitskräfte auf rund 1000 Webstühlen schwere, oft stark gemusterte Tischzeuge und Servietten mit einem geschätzten Gesamtwert von einer halben Million Taler. Demnach hatte die Damastmanufaktur einen Anteil von rund einem Drittel am Wert der gesamten oberlausitzischen Leinenproduktion. Die relativ günstige Lage der Damastweberei hing sicherlich auch damit zusammen, dass dieser Zweig der Leinenherstellung vergleichsweise wenig vom überseeischen Export abhängig war. Gerade weiße Tischdecken mit reliefartig eingewebten Motiven – Blumen, Früchte, Landschaften, Wappen u. ä. – wurden vornehmlich auf dem deutschen Markt abgesetzt.134 Doch selbst auf dem schwer zugänglichen britischen Binnenmarkt reüssierten solche Spezialitäten des Lausitzer Leinenreviers. Konsul Colquhoun hielt in seinem Bericht für 1847 fest, sächsische Leinwand, insbesondere Damast, werde in den Häusern der Reichen „vorzüglich geschätzt“, während sich hingegen die Mittelklasse mit weniger haltbaren, aber billigeren schottischen und irischen Leinenartikeln begnüge. Ein anderer zeitgenössischer Beobachter führte die Marktführerschaft der feinen sächsischen Damaste gerade auf die Persistenz der Handspinnerei zurück. In der Lausitz hätten die Damastweber eine ungleich bessere Auswahl an „Handgarnen“ als die in diesen Segment bedeutsame französische Konkurrenz.135 Die vergleichsweise zögerliche Maschinisierung der Flachsspinnerei in Sachsen muss man also nicht unbedingt auf die Innovationsfeindlichkeit der Oberlausitzer Wirtschaftsakteure zurückführen. Sie war vielmehr das Resultat durchaus rationaler und nachvollziehbarer unternehmerischer Strategien, um ausgesprochen schwierige Marktbedingungen zu bewältigen. Dort, wo technologische Neuerungen dem Produktionsprofil und den Marktstrategien der Verlagsunternehmer entgegenkamen, wurden sie relativ zügig eingesetzt. In Waltersdorf, dem Zentrum der Zwillichmanufaktur, wurde schon 1827 einer der ersten Jacquardwebstühle in Sachsen 133 Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 324 f. 134 Zahlen nach: Allgemeine Zeitung f. National-Industrie Nr. 91, 12.11.1844, S. 511; vgl. Viebahn, Leinen- und Woll-Manufakturen, S. 27. 135 HStAD 10736: MdI Nr. 01434b, Bl. 41: Bericht Colquhoun, 20.1.1848; Viebahn, Leinen- und Woll-Manufakturen, S. 27.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
aufgestellt. Die Großschönauer Webermeister beschafften 1833/34 auf eigene Initiative und Kosten zwei moderne Jacquardstühle aus Wien. In den folgenden Jahren verbreitete sich die Lochkartenvorrichtung rasch in der Damastweberei.136 Von der Leinen- zur Baumwollweberei Auf längere Sicht bedeutsamer für die Entwicklung des südostsächsischen Textilreviers erwies sich aber eine alternative Strategie bei der Bewältigung der durch die Krise des überseeischen Leinwandexports hervorgerufenen Herausforderungen: der Wechsel von der Leinen- zur Baumwollweberei. Die Abkehr vom Leinen hatte in der südlichen Oberlausitz schon um 1800 eingesetzt.137 Zu einem Teil vollzog sich dieser Prozess auf der untersten Stufe der Produktion. Leineweber, die wegen der notorischen Absatzstockungen keine Beschäftigung mehr fanden, wechselten über die nahe böhmische Grenze, um einfache Baumwollgewebe wie Nankings und rohe Kattune für den geschützten Markt des Habsburgerreiches anzufertigen. Auch ein Teil der oberlausitzischen Verleger versuchte, im Baumwollwarengeschäft Fuß zu fassen. Hier waren die produktionsnäheren „Dorfhändler“ und Faktoren gegenüber den städtischen Kaufleuten im Vorteil. Sie verteilten Baumwollmaschinengarne an ihre Weber und veranlassten sie, ihre Stühle an das neue Material anzupassen. Auf diese Weise wechselten die dörflichen Heimweber von der Fertigung einfacher Leinenstoffe zu ebenso anspruchslosen Baumwollprodukten, die problemlos auf den vorhandenen Webstühlen hergestellt werden konnten. Der Vertrieb dieser Waren ließ sich relativ einfach auf der Leipziger Messe oder im halblegalen Handel über die böhmische Grenze organisieren. Auch die Kattundruckereien im Chemnitzer Raum oder im nahegelegenen Großenhain dürften auf die billig produzierten Oberlausitzer Baumwollstoffe zurückgegriffen haben. Am Ende der napoleonischen Ära hielten die Leipziger Messrelationen fest, die Zahl der Oberlausitzer Leineweber sei schon seit längerer Zeit stark rückläufig, da ein großer Teil von ihnen „zur Baumwollenfabrikation übergegangen ist.“138 1821/22 betrug der Gesamtwert der aus der Oberlausitz versendeten Baumwollwaren schon nahezu 680.000 Taler, und hatte damit mehr als zwei Drittel des Werts der Leinwandausfuhr erreicht. Spätestens in den 1830er Jahren löste die Baumwolle den Flachs endgültig als vorherrschenden Werkstoff der Oberlausitzer Textilfertigung ab. 1844/45 wurden im Zittauer Revier reine Baumwoll- und mit Schafwolle gemischte Gewebe im Gesamtwert von rund fünf Millionen Talern aus136 Vgl. Wagner, Dürninger, S. 139; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 8; ebd.1834, S. 9; Industrielle Zustände, S. 234; Raetzer, Damast, S. 192 f.; Viebahn, Leinen- und Woll-Manufakturen, S. 27. 137 Bereits in „Naumanns Industrial- und Commercial-Topographie von Chursachsen“ von 1789/90 heißt es, die Großhennersdorfer Weber stellten überwiegend baumwollene Zeuge her (S. 125). 138 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 943 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1816. Vgl. Fleißig, Klassenkonstituierung, S. 46 ff.; Westernhagen, Leinwandmanufaktur, S. 24; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 25 f.; Schurig, Entwicklung, S. 91; Wauer, Industriedörfer, S. 871; Quataert, Strategies, S. 156 f., 161.
4.3 Textilexportgewerbe und transatlantische Märkte I: Die Lausitzer Leineweberei
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geführt, mehr als das Dreifache der Leinen- und Damastproduktion.139 Dabei übernahm die entstehende ostsächsische Baumwollweberei offenbar das Produktspektrum, das die Weber und Verleger im Chemnitzer Revier gerade aufgaben. In der Oberlausitz war mit dem Übergang der Leinenmanufaktur in die hochwertigeren Marktsegmente ein großes Reservoir von unzünftigen Arbeitskräften mit eher rudimentärer berufsfachlicher Ausbildung frei geworden. Der fließende Übergang zur Baumwollweberei vollzog sich zunächst innerhalb der bereits vorhandenen Verlagsstrukturen der ländlichen Leinwandmanufaktur. Die meist in den Dörfern selbst ansässigen Verleger kauften Garn, ließen es im Eigenbetrieb färben oder bleichen und zu Ketten scheren. Die Ketten gaben sie dann samt Schussgarn an die Weber aus, um die rohe Ware schließlich – im eigenen Haus oder auf Lohn – appretieren zu lassen. In Weberdörfern wie Neugersdorf, Seifhennersdorf oder Reichenau wurden nun einfache ungemusterte Stapelwaren, wie die oben erwähnten Nankings, oder Rohkattune für die Textildruckereien produziert, zu Löhnen, die noch merklich unter denen der Chemnitzer und Glauchauer Peripherie lagen. Diese West-Ost-Verschiebung schlug sich auch in der Ansiedlung einiger Kattundruckereien in der Oberlausitz nieder.140 Die niedrigen Arbeitslöhne ermöglichten es, dass die baumwollenen Stapelwaren aus Neugersdorf und Seifhennersdorf bis in die frühen 1830er Jahre trotz britischer Konkurrenz und widrigen Bedingungen des Marktzugangs einigermaßen Absatz fanden. Gelbe Nankings, so hielt etwa der Bericht zur ersten Landes-Gewerbeausstellung von 1831 fest, würden in großen Mengen nach Nordamerika exportiert. Über die Leipziger Messe gingen die Oberlausitzer Baumwollstoffe nach Osteuropa. Es scheint sich zudem ein reger, stillschweigend geduldeter Handel mit solchen Waren ins nahe Böhmen entwickelt zu haben. Erst nach dem Beitritt Sachsens zum Deutschen Zollverein unterbanden die österreichischen Behörden diese halblegale Praxis mit verschärften Kontrollmaßnahmen. Der Zollverein wiederum eröffnete der Oberlausitzer Baumwollwarenmanufaktur die zuvor kaum zugänglichen preußischen Märkte. Seit 1834 verlagerte sich daher der Vertriebsweg von Süden nach Norden. Anstatt bedruckte Kattune und Nankings über die böhmische Grenze „einzupaschen“, wurde nun ganz legal nach Preußen exportiert. Vor allem in den preußischen Ostprovinzen fanden die Baumwollgewebe aus dem Zittauer Revier Absatz. Die einfachen und relativ schweren Stapelwaren genossen hier zudem den Schutz der Gewichtszölle des Zollvereins vor der britischen und Schweizer Konkurrenz.141 139 Vgl. HStAD 10736: MdI Nr. 01439, Bl. 73: „Nachweisung der im Jahre … aus der Oberlausitz versendeten leinenen und baumwollenen Waaren nach den von selbigen entrichteten Zoll-Gefälle“; Fleißig, Klassenkonstituierung, S. 29. 140 Vgl. HStAD 10736, MdI Nr. 01399, Bl. 1: Bericht Kreishauptmann v. Ingenhoff, 28.3.1835; Fleißig, Klassenkonstituierung, S. 27, 50; Gröllich, Baumwollweberei, S, 18; Kretschmar, Chemnitz, S. 471 f. 141 Vgl. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 19; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 946 (Loc. 11471), o. Bl.: Relation Ostermesse 1818; Quataert, Strategies, S. 172; Fleißig, Klassenkonstituierung, S. 28; Ludwig, Handel, S. 81 f.; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 26; Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 327; Thieme, Eintritt, S. 55.
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Auf der anderen Seite spürte aber die lausitzische Baumwollwarenmanufaktur die Herausforderung der Maschinenweberei besonders frühzeitig. Mitte der 1840er Jahre zählte Friedrich Georg Wieck die glatte Baumwollweberei der Oberlausitz zu den schlechtlohnendsten Fabrikgewerben der Hausindustrie. Mittlerweile hatte aber auch hier eine ähnliche Absetzbewegung von den einfachen, „glatten“ Baumwollstoffen eingesetzt wie zuvor in den südwestsächsischen Revieren. Seit den 1830er Jahren wurden vermehrt „bunte“ Gewebe gefertigt. Zu den Spezialitäten der Oberlausitzer Weberei gehörten zum einen die sog. „orientalischen Köper“, gestreifte und karierte Stoffe, oft in bunten Farben, die für den Export nach Südosteuropa und Vorderasien bestimmt waren. Zum anderen fertigten die Weber des Zittauer Reviers baumwollene Rock- und Hosenstoffe für den deutschen Binnenmarkt, die hier in den ärmeren Käuferschichten zunehmend die teureren Wollgewebe substituierten.142 Schließlich ging man seit den 1840er Jahren auch in der Oberlausitz dazu über, gemischte Baumwoll-Kammgarn-Gewebe herzustellen. Als besonders bedeutsam für die folgende Entwicklung erwies sich dabei 1847 die Einführung der Orleans-Weberei in Zittau. Orleans, ein Gewebe aus Baumwollzwirnkette und Kammgarnschuss, gehörte zu den sog. Bradforder Artikeln, den Spezialitäten des Wollwarenreviers von West Yorkshire. Auf dem deutschen Binnenmarkt hatten hohe Zölle dafür gesorgt, dass die britischen Importe von inländischen Erzeugnissen substituiert werden konnten. Doch galt dies bald nur noch für die gemusterten Orleans-Stoffe. Anders verhielt es sich mit glattem Orleans, das in ungleich größerer Menge nachgefragt wurde als das gemusterte. Dies war der eigentliche Stapelartikel der Bradforder Weberei, der nun durchgängig auf mechanischen Webstühlen gefertigt wurde. Die maschinelle Produktion machte diese Stoffe nicht nur beträchtlich billiger als die auf dem Handstuhl gewebten, sondern verbesserte durch die Gleichmäßigkeit des Gewebes auch ihre Qualität wesentlich. Am Ende der 1840er Jahre reichte ein Zoll von etwa einem Viertel des Verkaufswerts nicht mehr hin, um handgewebten glatten Orleans-Stoffen ein unbehelligtes Absatzgebiet zu sichern.143 Diese Konstellation dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Zittauer Orleans-Weberei relativ frühzeitig zum maschinellen Fabrikbetrieb überging. Die Standortbedingungen für den Dampfmaschinenbetrieb waren hier relativ günstig, denn in unmittelbarer Nähe der Stadt wurden brauchbare Braunkohlen gefördert. An die 30 Bergwerke mit insgesamt rund 1000 Beschäftigten waren hier in den 1850er Jahren in Betrieb. Allerdings wurden Dampfmaschinen in den frühen Zittauer Orleans-Webereien zunächst nur für die nachgelagerten Appreturarbeiten eingesetzt. 1853/55 schafften dann die Fabrikanten Könitzer und Dannenberg sowie die Fa. Esche & Schmidt mechanische Webstühle an.144 142 Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 39. Vgl. Fleißig, Klassenkonstituierung, S. 49; Gröllich, Baumwollweberei, S. 17; Quataert, Strategies, S. 158 f.; dies., Combining, S. 151. 143 Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 204. 144 Vgl. Oeser, Album, Band 1, S. 52 ff. In der Literatur wird der Beginn der Zittauer Orleans-Maschinenweberei bereits auf das Jahr 1847 datiert (vgl. Gröllich, Baumwollweberei, S. 39; Kunze, Weg, S. 39; Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte, S. 73). In den amtlichen Verzeichnissen, in denen die in den Fabriken vorhandenen Maschinen akribisch aufgelistet werden, tauchen mechanische Webstühle erst ab 1853 auf (HStAD 10736: MdI Nr. 05950, Bl. 47, 69 f.,
4.4 Textilexportgewerbe und transatlantische Märkte II: Die Strumpfwirkerei
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4.4 TEXTILEXPORTGEWERBE UND TRANSATLANTISCHE MÄRKTE II: DIE STRUMPFWIRKEREI Go West! Der erzgebirgische Strumpfwarenexport in die USA Nach dem Ende der napoleonischen Zeit stand die Strumpfwirkerei im Chemnitzer Raum vor ähnlichen Problemen wie andere sächsische Textil-Exportgewerbe. Auf der einen Seite wurde den Strumpf- und Wirkwaren aus Sachsen der Zugang zu ehemals ergiebigen kontinentaleuropäischen Absatzmärkten durch handelspolitische Protektionsmaßnahmen zunehmend versperrt. Besonders hart traf die sächsischen Strumpfhersteller, dass das neue Lombardisch-Venezianische Königreich, das nun zum habsburgischen Staatsverband gehörte, 1817 die Einfuhr fremder Fabrikwaren kategorisch verbot. Damit verschloss sich „eins der vornehmsten Debouchès der Chemnitzer Strumpfmanufaktur“, der oberitalienische Markt, für die legale Warenzufuhr.145 Allerdings fanden Käufer und Verkäufer immer wieder Mittel und Wege, dieses Verbot zu unterlaufen. So hielt der Bericht der Kommerziendeputation von der Leipziger Michaelismesse 1819 fest, jüdische Händler aus Böhmen hätten größere Mengen an baumwollenen Strumpfwaren eingekauft, die sie über die Grenze nach Warnsdorf brachten. Dort hatten in ihrem Auftrag zwei Chemnitzer Strumpfwirker einen kleinen Betrieb eröffnet, um einen böhmischen Fabrikstempel zu erlangen und damit sächsische Schmuggelware umzudeklarieren. Von dort aus konnten die Chemnitzer Strümpfe ungehindert in Oberitalien eingeführt werden. Einige Mailänder Handelsfirmen unterhielten sogar eigene Faktoreien in dem böhmischen Grenzort.146 Auch die Märkte für sächsische Wirkwaren in Russland und Polen gingen im Gefolge der diversen Einfuhrverschärfungen des Zarenreichs nicht völlig verloren. Wie eh und je kamen jüdische Kaufleute aus Polen und Galizien zu den Leipziger Messen, versorgten sich dort mit Strümpfen und anderen Baumwollwaren und brachten ihre Einkäufe – notfalls auf Schleichwegen – in Polen und Russland auf den Markt. 1824 etwa berichteten nicht näher spezifizierte „Sachkundige“ der Kommerziendeputation, dass die Warschauer Juden, die auf der Messe „nicht unbedeutende Einkäufe“ gemachten hatten, die Strümpfe in kleinen Kontingenten durch „Fußgänger“ über die Grenze bringen ließen.147 Trotz aller Pfiffigkeit, die diese Händler bei der Überlistung der russischen und österreichischen Zollbehörden an den Tag legten – für das Chemnitzer Strumpfexportgewerbe konnte der Absatz seiner Erzeugnisse auf solchen Wegen allenfalls als Notbehelf gelten. Die Risiken, Umwege und Transportmodalitäten des Schleichhandels erhöhten einerseits die Preise sächsischer Strümpfe auf den Absatzmärkten und ebneten ggf. den Vor96 f., 132 f., 142 f., 164 f.: Verzeichnisse der im Bautzener Kreisdirektionsbezirk neu errichteten Fabrikanlagen 1847–1855). Vgl. auch explizit: Centralblatt für die Textilindustrie Nr. 19, 1.10.1875, S. 461. 145 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 945 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1817. 146 Vgl. ebd. Nr. 949 (Loc. 11472): Relation Michaelismesse 1819. 147 Ebd. Nr. 959 (Loc. 11473): Relation Michaelismesse 1824.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
sprung ein, den sie aufgrund geringer Lohnkosten etwa gegenüber der britischen Konkurrenz besaßen. Andererseits waren die Verkaufspreise ab Chemnitz oder Leipzig oft so niedrig, dass die Produzenten kaum auf ihre Kosten kamen. Die amtlichen Relationen von den Leipziger Messen berichteten denn auch im Jahrzehnt nach 1815 immer wieder von Stockungen des Wirkwarenabsatzes auf den italienischen und osteuropäischen Märkten. Seit den frühen 1820er Jahren wurde zudem der sächsische Strumpfwarenhandel in Südosteuropa durch den griechischen Unabhängigkeitskrieg in Mitleidenschaft gezogen. Kurz: Die Störungen und Umbrüche der napoleonischen Ära setzten sich ziemlich nahtlos fort.148 Auf der anderen Seite hatte die britische Wirkwarenmanufaktur, deren Produktionsstandorte vor allem in Nottinghamshire lagen, in den zwei Jahrzehnten, in denen die Royal Navy die Transatlantikrouten kontrollierte, die amerikanischen Märkte beinahe monopolisiert. Mitte der 1820er Jahren mehrten sich aber die Anzeichen dafür, dass die Chemnitzer, Limbacher und Hohensteiner Strumpfwaren jenseits des Atlantiks Fuß gefasst hatten. 1824 schrieb Kreishauptmann von Fischer nach Dresden, schon seit einiger Zeit unterhalte der sächsische Handel, „besonders durch die rheinisch-westindische Compagnie in Elberfeld“, einen lebhaften Handelsverkehr mit Südamerika, was sich besonders günstig auf den Vertrieb feiner Baumwollstrümpfe ausgewirkt habe.149 Ungleich bedeutsamer als der Ausfuhr in die neuen südamerikanischen Staaten erwies sich jedoch bald der Strumpfwarenexport in die USA. Die britische Konkurrenz besaß zwar auch hier 1815 einen Vorsprung, was ihre Präsenz an den Märkten anging. Doch war diese Position weit weniger durch handelspolitische Privilegien und eine direkte Kontrolle der Vertriebsinfrastruktur im Land abgesichert als etwa im ehemaligen Spanisch-Amerika und in Brasilien. Im Frühjahr 1824 war in den „Messrelationen“ davon die Rede, dass amerikanische Kaufleute auf den Messen in Frankfurt am Main und in Leipzig bedeutende Einkäufe gemacht hätten.150 Auch in den Hansestädten blieben die Gewinnchancen, die der Export sächsischer Strümpfe nach Amerika eröffnete, nicht unbemerkt. Einer überlieferten Anekdote zufolge, war ein junger Sachse, der als Maklerkommis in Bremen Anstellung gefunden hatte, auf die Idee gekommen, sich Strümpfe aus seiner Heimat kommen zu lassen, um sie Schiffskapitänen, die nach Westindien und Nordamerika fuhren, mitzugeben. Die guten Geschäfte, die mit sächsischen Strumpfwaren in Amerika zu machen waren, habe
148 Vgl. ebd. Nr. 945 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1817; ebd. Nr. 951 (Loc. 11472): Relation Michaelismesse 1820; ebd. Nr. 952 (Loc. 11472): Ostermesse 1821; ebd. ebd. Nr. 955 (Loc. 11472): Michaelismesse 1822; ebd. Nr. 958 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1824; ebd. Nr. 959 (Loc. 11473): Michaelismesse 1824; sowie ebd. Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 179: Bericht v. Fischer, 3.5.1822. 149 Ebd. Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 278: Bericht v. Fischer, 10.6.1824; vgl. Bl. 254: Bericht v. Fischer; 3.11.1823. 150 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 958 (Loc. 11473): Relation, Ostermesse 1824; vgl. ebd. Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 278: Bericht v. Fischer, 10.6.1824; Greif, Wirkwarenindustrie 12 f.
4.4 Textilexportgewerbe und transatlantische Märkte II: Die Strumpfwirkerei
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schnell auch den Hamburger Exportgroßhandel zu größeren Bestellungen in Chemnitz veranlasst.151 Wer immer auch zuerst die Möglichkeiten des transatlantischen Wirkwarenexports erkannt haben mag – die sächsischen Strümpfe erwiesen sich im folgenden Jahrzehnt als transatlantischer Exportschlager. Die Vereinigten Staaten belasteten zwar Baumwollwaren bei der Einfuhr mit einem Drittel des Warenwerts. 1833 wurden diese Zölle auf 23,5 Prozent reduziert. Doch behinderten diese Belastungen die Zufuhr sächsischer Strumpfwaren kaum, da es eine nennenswerte inländische Konkurrenz noch nicht gab. 1826 wurde ein amerikanisches Handelskonsulat in Leipzig eingerichtet, dessen Hauptaufgabe es war, den Wert von Handelswaren zu bescheinigen. Die US-Zölle wurden nämlich nicht nach dem Gewicht, sondern nach dem Schätzwert der Textilien erhoben. Bereits im letzten Quartal 1826 fielen ziemlich genau 40 Prozent des Gesamtwerts der vom Leipziger Konsulat zertifizierten Waren auf Erzeugnisse der sächsischen Wirkerei.152 Der königlich-sächsische Handelskonsul in Baltimore wiederum vermeldete in seinem Bericht für 1827: „Von den sächs. Baumwollenfabrikaten scheinen die Strumpfwaaren in eine sehr erfolgreiche Concurrenz mit der englischen zu treten, und es ist fast nicht zu bezweifeln, daß in Kurzem diese Waaren … wohlfeiler als aus England werden bezogen werden können.“153
1834 berichtete sein New Yorker Kollege: „Die Vervollkommnung Sächsischer Strümpfe etc. findet allgemeine Anerkennung, so daß das Englische Fabrikat immer mehr verdrängt wird …“154 Der britische Strumpfexport beschränkte sich fortan auf einige wenige kontinentaleuropäische Absatzgebiete – Belgien, Frankreich und die Mittelmeerländer. In seinem Bericht nach Washington zitierte der Leipziger Handelskonsul 1839 einen Wirkwarenkaufmann aus Nottingham, der diese Entwicklung aus seiner Sicht zusammenfasste: Noch bis 1824 habe er Strümpfe nach Sachsen versandt. Bis 1834 hätten die englischen Strumpfwaren die Konkurrenz mit den sächsischen auf dem nordamerikanischen Markt wenigstens halten können. Mittlerweile kaufe er selbst Strümpfe in Sachsen und führe sie in England ein. Trotz 20 Prozent Eingangszoll und fünf Prozent weiterer Spesen erziele er damit einen guten Gewinn. Die gleiche Ware, für die er in Chemnitz oder Leipzig etwas mehr als zwei Shilling zahle, koste in Nottingham mindestens fünf Shilling.155 Dabei erschien die Ausgangsposition der sächsischen Strumpfwirkerei am Beginn der 1820er Jahre alles andere als günstig. Ihre Konkurrenten aus England hatten sich nicht nur auf den überseeischen Märkten bereits geschäftlich etabliert. Sie waren zudem technologisch moderner ausgerüstet und lieferten Erzeugnisse von deutlich besserer Qualität. Die Defizite der Herstellungstechnik und der Produktqualität wurden auch in Sachsen registriert. Die staatliche Kommerziendeputation 151 Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 23.9.1845, S. 449; Oppenheim, Wirkwarenindustrie, S. 42 f. 152 Errechnet nach den Angaben in: HStAD 13779: Dispatches MF 1: „Statement of Goods … 15.9.–31.12.1826.“ Zu den amerikanischen Einfuhrzöllen: Flügel, Zoll-Tarif, S. 5 ff.; Taussig, History, S. 80. 153 HStAD 10736: MdI Nr. 01422a, Bl. 31/1: Auszug Bericht, 11.1.1828. 154 Ebd. Bl. 120: Bericht Konsul A. A. Melly [1833/34]. 155 Vgl. HStAD 13779: Dispatches MF 1: Bericht 1839.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
unternahm in den frühen 1820er Jahren einige Vorstöße zur Hebung der heimischen Strumpfwirkerei. Zunächst konzentrierten sich diese Bestrebungen auf die Verbesserung der Strumpfwirkerstühle. Hier lag ein bedeutsamer Unterschied zur ausländischen Konkurrenz, der das Zurückbleiben der sächsischen Wirkerei zu erklären schien. Während nämlich in der englischen, wie der französischen und Schweizer Strumpfwirkerei, ja selbst im benachbarten reußischen Zeulenroda eiserne Wirkstühle eingesetzt wurden, arbeitete man im Chemnitzer Revier gewöhnlich auf hölzernen Stühlen. Im Herbst 1820 machten die Beamten der Kommerziendeputation anlässlich der Leipziger Michaelismesse die anwesenden Verleger „auf die bekannten Vorzüge der englischen Strümpfe hinsichtlich der mehreren Elasticität und der festen Naht“ aufmerksam. Sie erhielten die Antwort, „daß zwar die allgemeine Einführung der eisernen Wirkerstühle, als einzige Ursache dieser Erscheinung, sehr zu wünschen sey, jedoch um so schwieriger seyn dürfte, als die Anschaffung eines solchen Stuhls sehr hoch ins Geld laufe und von den Arbeitern die wenigsten darauf eingerichtet wären. Ihres Orts könnten sie sich zu einiger Mitwirkung hierunter, vor der Hand um so weniger entschließen, als diese veränderte Einrichtung jedem Meister allein zu überlassen sey, und zu sehr ins Große gehe, indem es hier nicht auf nur etwa hundert, sondern auf etliche tausend Stühle ankomme …“
Die Strumpfwarenverleger fanden sich lediglich dazu bereit, „die ihnen beigebrachte Idee, mit einigen Meistern daheim in weitere Ueberlegung“ ziehen zu wollen.156 Zwei Jahre später schlug der Chemnitzer Amtmann von Polenz vor, Prämien oder Vorschüsse für die Aufstellung eiserner Strumpfwirkerstühle auszuschreiben. Da solche Stühle an die 100 Taler kosteten, sei nicht zu erwarten, dass sie die armen Strumpfwirker ohne eine solche staatliche Unterstützung anschaffen würden. Polenz’ Vorgesetzter in Reichenbrand, der Kreishauptmann von Fischer, äußerte sich allerdings recht skeptisch zu diesem Vorschlag. Solle eine solche Unterstützung etwas auf’s Ganze bewirken, müsste sie bei dem großen Umfang dieser Fabrikation sehr bedeutend sein. Es sollte daher den diese Geschäfte betreibenden Handelshäusern überlassen bleiben, „auf die Verbreitung solcher Stühle, wenn sie von deren Anwendung einen besonderen Vortheil für die Fabrication und den Vertrieb der Fabricate wirklich erwarten, jedes in seinem Kreise zu wirken“.157 Der ein oder andere eiserne Wirkstuhl scheint in der Folgezeit in Sachsen aufgestellt worden zu sein. Doch insgesamt änderte sich an der Ausstattung der Wirkerstuben und -werkstätten wenig. Noch im Bericht zur sächsischen Gewerbeausstellung 1834 ist von „schnell arbeitenden hölzernen Stühlen“ die Rede – die nun allerdings zu den Aktivposten gerechnet wurden, denen der Erfolg der Chemnitzer Strumpfmanufaktur zu verdanken sei.158 Wie sich bald herausstellen sollte, wäre die flächendeckende Anschaffung eiserner Wirkstühle eine ziemlich teure Fehlinvestition gewesen. Anders als die Verleger 1820 in Leipzig zu Protokoll gaben, rührte der Qualitätsvorsprung der britischen Konkurrenz nicht primär von solideren 156 Zitate: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 951 (Loc. 11472): Relation, Michaelismesse 1820; vgl. ebd. Nr. 954 (Loc. 11472): Relation Ostermesse 1822. 157 Ebd. Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 179 f.: Bericht v. Fischer, 3.5.1822. 158 Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1834, S. 27 f. Vgl. Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 42
4.4 Textilexportgewerbe und transatlantische Märkte II: Die Strumpfwirkerei
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Arbeitsgeräten. Die entscheidenden Unterschiede lagen vielmehr in der handwerklichen Herstellungstechnik und der Appretur. Die sächsischen Strumpfwirker stellten noch in den 1820er Jahren meist sog. gezwungene Ware her. Die Waden-, Fersen- und Fußspitzenpartien wurden nicht „gemindert“, d. h. sie wurden ebenso breit gewirkt wie der Rest des Strumpfes. Ihre Form erhielten diese Strümpfe, indem sie nach dem Bleichen feucht über Holzformen zum Trocknen gespannt wurden. Solche Ware besaß wenig Elastizität und verlor bald die Form.159 Seit die sächsischen Strümpfe reichlich Absatz in den USA fanden, verbesserte sich auch ihre Qualität. Die amerikanischen Kaufleute, die zu den Frühjahrsmessen 1824 in Frankfurt am Main und Leipzig größere Mengen an sächsischen Strümpfen gekauft hatten, fanden „an der Form der Strümpfe und an der Naht einiges auszusetzen“.160 Im Lauf der nächsten Jahre unternahmen Verleger und Handwerksmeister einige Anstrengungen, um die Qualität ihrer Erzeugnisse zu verbessern. Die Strumpfwirker des Chemnitzer Reviers gingen dazu über, „geminderte Ware“ herzustellen. Zudem wurden bessere, feinere Garne verwendet. Auch Bleiche und Appretur der Strümpfe näherten sich den britischen Standards. 1828 brachte Friedrich Georg Wieck von einer Studienreise durch englische Strumpfwirkerreviere ein dort angewandtes Verfahren zur Haltbarmachung und Steigerung der Elastizität von Strümpfen mit. Man habe, so resümierte 1845 ein Zeitungsartikel „Zur neueren Geschichte der sächsischen Strumpfmanufaktur“, in den Jahren 1827 bis 1830 durch die Übernahme der „Mindernadel“, durch eine verbesserte Bleiche, durch Plätten u. a. m. dem Fabrikat Weichheit und Elastizität beigebracht. Damit hätten die sächsischen Strumpfhersteller auf ihren hölzernen Stühlen fast dasselbe Ergebnis erreicht wie die Konkurrenz in Thüringen und in Nottingham auf eisernen.161 Letztlich war es wohl gerade der vergleichsweise geringe Aufwand an Arbeitsund Kapitalkosten, der den sächsischen Strumpfwaren in den 1820er und 30er Jahren ihren entscheidenden Wettbewerbsvorteil in den mittleren und einfachen Segmenten dieses schnell wachsenden Massenmarktes verschaffte. Die Strumpfwirker standen am unteren Ende der (männlichen) Lohnskala der sächsischen Textilgewerbe. Trotz verbreiteter zunftrechtlicher Organisation glichen die Lebensumstände vieler erzgebirgischer Strumpfwirker denen dörflicher Heimarbeiter. Häufig besserten landwirtschaftliche Nebeneinkünfte und die Selbstversorgung mit Lebensmitteln die kargen Einkünfte der Strumpfwirkerfamilien aus der handwerklichen Tätigkeit auf. Dies verbreiterte die Kluft zu den Arbeitskosten in den britischen oder französischen Produktionsregionen. Solange die westeuropäische Konkurrenz nicht über Maschinen verfügte, die eine merkliche Steigerung der Arbeitsproduktivität im Gefolge hatte, war diese Kluft schwerlich zu überbrücken. Dabei 159 Vgl. Oppenheim, Wirkwarenindustrie, S. 32 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1523 (Loc. 11148/XIII. 1937), Bl. 6: Bericht Dürisch, 28.1.1809; ebd. Nr. 950 (Loc. 11472): Relation Ostermesse 1820. 160 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 958 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1824. 161 Deutsche Gewerbezeitung 23.9.1845, S. 449; vgl. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1834, S. 21; Gewerbeblatt 16.5.1843, S. 234; Gebauer, Volkswirtschaft 3, 316 f.; Trensch, Strumpfwirker-Innung, S. 57.
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konnten die sächsischen Strumpfwarenverleger auf ein handwerklich qualifiziertes Arbeitskräftereservoir zurückgreifen. Die Strumpfwirkerei hatte um Limbach, Chemnitz und Hohenstein eine lange, bis ins frühe 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition. Handwerkliches Know-how hatte sich hier über Generationen akkumuliert und war in einem zünftig organisierten Ausbildungssystem weitergegeben worden.162 Der anhaltende Boom der sächsischen Strumpfwirkerei gab vielen Wirkermeistern in den 1830er Jahren die finanziellen Mittel in die Hand, um ihre Gerätschaften zu erneuern und zu modernisieren. So kam seit 1833 in Limbach vermehrt der Ketten- oder Werftenstuhl zum Einsatz, der schon mehr als drei Jahrzehnte zuvor von einem örtlichen Wirkermeister entwickelt worden war. Damit wurden gemusterte Strümpfe hergestellt. Es war also nicht unbedingt technologische Rückständigkeit dafür verantwortlich, wenn sich Verbesserungen der Gerätetechnik nur langsam im Chemnitzer Revier verbreiteten. Wirkstuhlbauer, Mechaniker oder technisch begabte Strumpfwirker tüftelten an den Gerätschaften und sorgten für einen ständigen Fluss von größeren und kleineren Innovationen. Schon 1797, im gleichen Jahr, in dem der Limbacher Strumpfwirkermeistes Uhlig seinen Kettenstuhl konstruierte, präsentierte sein Kollege Lindner einen „Malefizstuhl“. Die schnelle Übernahme des französischen Petinetstuhl um 1800 und der ebenfalls in Frankreich entwickelten Doppelschlagmaschine zehn Jahre später durch einzelne sächsische Fabrik- und Verlagsunternehmer zeigt an, dass in der Branche ein durchaus reges Interesse an den technologischen Entwicklungen im In- und Ausland vorhanden war.163 Selbst kraftgetriebene Wirkstühle wurden am Ende der 1830er Jahre im Erzgebirge eingesetzt. Die Chemnitzer Kaufleute Gustav Jahn und August Bauer stellten in Mittweide bei Schwarzenberg eine Reihe mechanischer Stühle auf, an denen jeweils vier Strümpfe gleichzeitig gewirkt werden konnten, und legten sie ans Wasser. Mit diesen eisernen Wirkmaschinen ließ sich aber nur „geschnittene Ware“ von einfachster Qualität herstellen. Die Strümpfe wurden aus dem gewirkten Stoffstück herausgeschnitten und zusammen genäht.164 Die Frage war demnach nicht so sehr, ob und wie in Sachsen die Entwicklung der Wirkmaschinentechnik nachvollzogen werden konnte. Es ging vielmehr um das Tempo und die Reichweite der Diffusion solcher Innovationen in den Zentren der sächsischen Strumpfmanufaktur. Solange das Kapital für Geräte und Maschinen von den einzelnen Wirkermeistern aufgebracht werden musste, war an eine zügige und großflächige Verbreitung kostspieliger Technologien nicht zu denken. Ganz aufgeholt hatte die sächsische Strumpfwirkerei den Qualitätsstandard ihrer britischen Konkurrenz auch Mitte der 1830er Jahre noch nicht. 1834 listete ein 162 Vgl. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1834, S. 27 f.; Bowring, Bericht, S. 53 f., 86. 163 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation: Nr. 904 (Loc. 11467): Relation Ostermesse 1797; Trensch, Strumpfwirker-Innung, S. 57; Schöne, Posamentierer, S. 130; Gewerbeblatt Nr. 39, 16.5.1843, S. 233. 164 Vgl. HStAD 10736: MdI Nr. 01275a, Bl. 17 f.: Kreisdirektion Zwickau an MdI, 8.9.1839; ebd., Bl. 24 f.: Strumpfwirkerinnung Zschopau an MdI, 1.7.1839; Gewerbeblatt Nr. 23, 26.3.1841, S. 141; Schöne, Posamentierer, S. 130; Horster, Gewerbeverfassung, S. 69.
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Artikel im Mitteilungsorgan des Industrievereins für das Königreich Sachsen die Defizite der heimischen Strumpfmanufaktur auf. Das Bleichen der Strümpfe dauere in Sachsen gewöhnlich Tage, während in England „in wenigen Stunden große Massen gebleicht werden können“. Zudem verstünden „unsere Bleicher nicht, der Waare jene Silberweise [!] zu geben, wodurch sich das englische Fabrikat auszeichnet“. Auch besaßen die sächsischen Strümpfe nicht die Weichheit und Elastizität der englischen Fabrikate. In Sachsen war man sich noch nicht einmal einig, ob diese Unterschiede auf die Appreturmethoden der Engländer, auf das verwendete Material oder auf die dortigen Strumpfwirkerstühle zurückzuführen waren.165 Drei Jahre später berichtete der sächsische Generalkonsul in London nach Dresden, die sächsischen Baumwollhandschuhe (ein zunehmend wichtiges Wirkereifabrikat) besäßen zwar eine schöne Textur, seien jedoch fast zu fein zum Gebrauch. Den Strümpfen aus Sachsen wiederum mangele es an Dauerhaftigkeit. Beide Fabrikate seien daher einigermaßen verbesserungswürdig.166 Produktionsregime und Distributionskette Die vergrößerten Absatzmöglichkeiten für sächsische Strümpfe auf den nordamerikanischen Märkten überstiegen bald die vorhandenen Produktionskapazitäten des Chemnitzer Reviers. Da arbeitssparende Maschinen allenfalls sehr begrenzt zur Verfügung standen, wurden Kapazitätssteigerungen vornehmlich über eine Vermehrung von Arbeitskräften erreicht. In den 15 Jahren zwischen 1815 und 1830 vermehrte sich die Zahl der Strumpfwirkermeister in Sachsen um 60 Prozent, von 4507 auf 7165. Insgesamt waren 1830 in der Strumpfwirkerei 21.591 Personen tätig. Zehn Jahre später zählte die sächsische Wirkwarenbranche schätzungsweise 34.000 bis 36.000 Beschäftigte.167 Zur Mobilisierung dieses Arbeitskräftepotenzials trug nicht zuletzt bei, dass andere Textilbranchen der Region wie die Kattunweberei rückläufig waren und viele Verlagshandwerker und Heimarbeiter zur Strumpfwirkerei wechselten. Erst Mitte der 1830er Jahre mehrten sich die Anzeichen, dass sich das Arbeitskräftereservoir des Chemnitzer Reviers seinen Kapazitätsgrenzen näherte. So vermeldete die Kommerziendeputation zur Michaelismesse 1834, dass die Handschuhfabrikation „so viel Hände auf einträgliche Weise beschäftigt, daß die eigentliche Strumpfwirkerei darunter leidet“.168 Die rapide Ausweitung der Produktion brachte es auch mit sich, dass die handwerklichen Fertigkeiten vieler rasch angelernter und ausgebildeter Strumpfwirker zu wünschen übrig ließ. In einem Gutachten des Industrievereins, ebenfalls von 1834, war etwa von Fällen die Rede, „wo unfertige Strumpfwirkergesellen sich ihr Meisterstück bei dem ersten besten 165 Mitteilungen Industrieverein 1834, S. 204. 166 Vgl. HStAD 10736: MdI Nr. 01434a, Bl. 139: Bericht Colquhoun, 30.6.1837; ähnlich auch: ebd. Nr. 06136, Bl. 41 f., 50: Berichte J. F. Vogeler, Bahia, 20.3.1829; 31.5.1830. 167 Vgl. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, Übersicht C; Oppenheim, Wirkwarenindustrie, S. 27 f., 52. 168 HStAD 10078: KommerziendeputationNr. 979 (Loc. 11473): Relation, Michaelismesse 1834.
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Strumpfwaarenverleger kauften“.169 Auch die steigenden Löhne machten den Strumpfverlegern und -exporteuren Sorge, da man befürchtete, den Lohnkostenvorteil gegenüber der britischen Konkurrenz zu verlieren. 1835 berichtete der sächsische Handelskonsul in Baltimore, die Preise sächsischer Strümpfe seien „seit einem Jahre … beständig im Steigen gewesen, Aufträge haben nicht zum Vollen ausgeführt werden können, und man fängt nicht ohne Grund an zu befürchten, daß das Auge des Importeurs sich wieder nach England hinwendet, um von dort das Mangelnde zu ersetzen, und den in Sachsen so sehr gestiegenen Preisen durch billigere Importe von England entgegen zu kommen“.170
Der schnelle Kapazitätsausbau der sächsischen Strumpfwirkerei stellte die bisherigen Arrangements des Produktionsprozesses wie der Vertriebs- und Vermarktungsorganisation zur Disposition. Die Zahl der einzelnen Arbeitsstätten und ihre räumliche Streuung nahm zu, so dass die unternehmerische Koordination und Kontrolle der Produktion schwieriger wurde. Eine direkte Konsequenz des Booms der Strumpfwirkerei war die Vermehrung vermittelnder Instanzen zwischen Verlagskaufleuten und handwerklichen Produzenten. Ein wachsendes Heer von „Faktoren“ verteilte Aufträge an die kleinstädtischen und dörflichen Strumpf- und Handschuhwirker, versorgte sie ggf. mit Garn und nahm ihnen die Rohware wieder ab. Diese Zwischenverleger arbeiteten nicht selten auf eigene Rechnung und waren nicht an ein einzelnes Handels- oder Verlagsgeschäft gebunden. „Sie sind die Organe“, hieß es 1838 im Gewerbeblatt für Sachsen, „und wenn man will, die freien Agenten der den weiteren Verkauf betreibenden Fabrikanten, die von ihnen meistentheils die rohe Waare kaufen.“171 Die eigentlichen Verleger, die meist in den alten Produktionsmittelpunkten, in Limbach, Chemnitz oder Hohenstein wohnten, unterhielten aber gewöhnlich auch direkte Beziehungen zu den örtlichen Wirkermeistern.172 An sich waren dies keine grundsätzlich neuen Formen der Organisation des Produktionsprozesses. Verlagsähnliche Strukturen lassen sich wohl bis in die Entstehungszeit der Limbacher Strumpfwirkerei zurückverfolgen. Die Zwischenschaltung von Faktoren hatte schon mit der Schrumpfung der Wirkerei in der Stadt Chemnitz und ihrer zunehmenden Verlagerung in die ländliche Peripherie im späten 18. Jahrhundert eingesetzt. Die Vermehrung der Faktore seit den 1820er Jahren gehört letztlich zu einem allgemeinen Trend zur Dezentralisierung und verstärkter Arbeitsteilung in der sächsischen Strumpfwirkerei. Und dies stand wiederum in einem ursächlichen Zusammenhang zu den Herausforderungen des Amerikaexports und des davon angetriebenen Kapazitätsausbaus. Die Relation zur Ostermesse 1835 beschrieb diese Entwicklung folgendermaßen: „…mehrere große Fabrikhäuser, besonders in Strumpfwaaren, sind hinsichtlich ihrer überseeischen Exportgeschäfte nicht sowohl als Fabrikanten, als vielmehr als Kaufleute zu betrachten, indem sie die Waare von den kleineren Fabrikanten, denen sie hinsichtlich der Qualität, der 169 170 171 172
Mittheilungen Industrieverein 1834, S. 115. Vgl. Irmscher, Strumpfindustrie, S. 48 f. HStAD 10736: MdI Nr. 01422a, Bl. 132: Bericht Konsul Brauns, 17.12.1835. Gewerbeblatt 6.2.1838, S. 42. Vgl. ebd.; Zachmann, Transformation, S. 128 f.; Oppenheim, Wirkwarenindustrie, S. 56 f.; Floss, Entwicklung, S. 122 f.; Irmscher, Strumpfindustrie 1929, S. 55
4.4 Textilexportgewerbe und transatlantische Märkte II: Die Strumpfwirkerei
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Form u. s. w. mit ihrer Anleitung an die Hand gehen, kaufen, nur die letzte Hand daran legen um den Anforderungen der Committenten hinsichtlich auf Appretur und sonstige Behandlung der Waare zu entsprechen, im Uebrigen aber ihre ganze Thaetigkeit auf den Vertrieb richten und das commercielle Prinzip an die Spitze ihres Geschäfts stellen.“173
In diesem Sinne führte die Markt- und Produktionsausweitung unter den Bedingungen der dezentralen Manufaktur nicht zu einer Zentralisierung und Integration des Produktions- und Vermarktungsprozesses in der Hand einzelner Verlagsunternehmer. Vielmehr verstärkte sich im Gegenteil die Arbeitsteilung zwischen zumindest formal unabhängigen Akteuren und das Outsourcing von Produktionsschritten aus der unmittelbaren Kontrolle der Verlagsunternehmer. Die Beschaffung des Rohmaterials Baumwolle und dessen Verspinnung zu Garn war den Strumpfwarenverlegern durch die Entwicklung der heimischen Maschinenspinnerei aus der Hand genommen worden. Die Koordination der Strumpffertigung besorgten relativ eigenständig agierende Faktore. Dies erlaubte es den Verlagsunternehmern, sich stärker auf den kaufmännischen Bereich ihres Geschäfts zu konzentrieren, der mit der Intensivierung der transatlantischen Absatzbeziehungen wesentlich mehr Aufmerksamkeit verlangte.174 Die Hinwendung der sächsischen Strumpfmanufaktur zur Fertigung für den nordamerikanischen Markt brachte weitreichende Veränderungen der Vertriebsorganisation mit sich. Vor 1820, als die Chemnitzer Strumpfwaren vornehmlich auf den kontinentaleuropäischen Märkte umgesetzt wurden, dienten die Messen als wichtigster Umschlagplatz. Seit den 1820er Jahren ging deren Bedeutung für das Geschäft mit Baumwollstrümpfen stark zurück. Die größeren Verlagsfirmen stießen Mitte der 30er Jahre auf der Leipziger Messe allenfalls noch überschüssige Vorräte ab.175 Bei der Ausfuhr in die USA traten vor allem drei Vertriebswege an die Stelle des Messhandels. Bis zu ihrer Liquidation 1828 bzw. 1832 spielten die rheinischen und sächsischen Überseehandelskompanien eine gewisse Rolle im transatlantischen Strumpfwarenexport. So stammten nahezu zwei Drittel der von der Rheinisch-Westindischen Kompagnie bis Ende 1831 seewärts ausgeführten Baumwollwaren aus Sachsen. Der Wert der sächsischen Baumwollwarenexporte über die RWK, vermutlich ganz überwiegend Strümpfe, übertraf selbst den des von der Kompagnie übernommenen Oberlausitzer Leinens.176 Ein zweiter Vertriebskanal bot sich den Wirkwaren aus Sachsen über die nach Übersee exportierenden Handelshäuser in Hamburg und Bremen. Zudem gelangten die Erzeugnisse der Chemnitzer Strumpfmanufaktur im Transitverkehr über London nach Übersee, nicht allein in die USA, sondern auch in die britischen Kolonien. Nachdem sich die sächsischen Strümpfe auf den US-Märkten erst einmal etabliert hatten, bestellten die Hamburger und Bremer Exportfirmen oft auf eigene Rech173 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 980 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1835. 174 Vgl. Gewerbeblatt Nr. 6., 8.2.1838, S. 42; Zachmann, Transformation, S. 128 f. 175 Vgl. HStAD 13779: Dispatches MF 1: Bericht Flügel, 22.11.1838; Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 1703, Bl. 36 f.: Strumpfwirkerinnung Lichtenstein an Kreisdirektion Zwickau, 6.7.1843. 176 Vgl. die Tabelle in: Beckmann, Kompagnie, S. 104 f.
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nung oder übernahmen bei von ihnen vermittelten Geschäften die Garantie für den Verkauf zum vereinbarten Preis. Daher waren die südwestsächsischen Wirkwarenhändler und -verleger, zumindest solange der Exportboom nach Amerika anhielt, nicht genötigt, „Konsignazionsjägern“ Gehör zu geben.177 Schließlich wandte sich auch der Leipziger Großhandel, seit das Geschäft mit englischen Textilien mit der Zollvereinsgründung 1834 rückläufig war, verstärkt dem Export sächsischer Produkte zu. Es hätten, so heißt es in der Relation zur Ostermesse 1835, „bereits diejenigen Leipziger Handelshäuser, welche für den Export solcher Fabrikate nach den vereinigten Staaten von Amerika als Vermittler eingetreten sind, den wohlthätigsten Einfluß auf den Gang dieser wichtigen Geschäfte zum größten Vortheil der betheiligten Fabrikanten geltend gemacht …, indem nun auch minder Bemittelte, denen der unmittelbare Zugang dazu nicht, oder doch nur unter ungünstigen Voraussetzungen offen steht, daran Theilnehmen können.“178
Bereits Mitte der 1820er Jahre hatten schließlich, wie oben erwähnt, amerikanische Kaufleute den Weg nach Sachsen auf sich genommen, um dort Strümpfe zu kaufen oder zu ordern. Zunächst diente ihnen der Besuch der Leipziger Messe als Anlaufstation, doch bald führten ihre Geschäftsreisen nach Chemnitz und andere Produktionsstandorte. Vom Boom zur Krise 1837–1848 Das Exportgeschäft nach Übersee steigerte zwar den Absatz der sächsischen Strumpfmanufaktur beträchtlich, trug aber auch zur größeren Volatilität und Krisenanfälligkeit des Gewerbes bei. Vor 1820, so heißt es rückblickend in einem Schreiben der Lichtensteiner Strumpfwirkerinnung sei der Absatz der Strümpfe „ziemlich gleichförmig und den Handelsconjuncturen … nicht unterworfen“ gewesen. Da „der Kleinhändler und der auf dem Continente lebende Großist nicht leicht Waare kauft oder bezieht, als er auf eine gewiße Zeit sicher abzusetzen glaubt“, sei das Verhältnis von Erzeugung und Verbrauch relativ gleichgewichtig und berechenbar gewesen. Die rasche Ausdehnung von Absatz und Produktionskapazitäten trug dagegen zuweilen spekulative Züge. In Boomphasen wurden große Mengen von Strümpfen auf den vermeintlich unersättlichen nordamerikanischen Markt geworden. „Bei der geringsten Stockung des Absatzverkehrs drohte indeß die Production die Consumtion zu übersteigen, und wirklich trat in den Jahren von 1826 bis 1834 eine solche, kurze Zeit dauernde Crisis wiederholt ein“. Allerdings waren diese Krisen bald wieder vorüber und sie hatten jeweils einen neuen, um so größerem Produktionsschub im Gefolge. Strumpfwirkermeister und Verleger reagierten auf Absatzeinbrüche, indem sie kurzfristig auf die Fertigung neuer Wirkerei-Artikel auswichen. „Nicht mehr auf Strümpfe und Mützen allein wurde die Regsamkeit des 177 Zitat: Deutsche Gewerbezeitung 23.9.1845, S. 450. Vgl. Hunger, Strumpfindustrie 29 f.; Oppenheim, Wirkwarenindustrie, S. 48; HStAD 10736: MdI Nr. 01434b, Bl. 40: Bericht Colquhoun, 20.1.1848. 178 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 980 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1835.
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Strumpfwirkergewerbes hingewiesen, sie erstreckte sich von nun an auf fast alle Kleidungsstücke des Körpers und die Zahl der verschiedenen gangbaren Artikel beläuft sich nun auf mehrere Hundert.“179 Mitte der 1830er Jahre baute sich im transatlantischen Strumpfwarenhandel eine veritable Spekulationsblase auf. Die ansehnlichen Gewinne, die mit der Einfuhr sächsischer Strumpfwaren zu erzielen waren, veranlasste die US-amerikanischen Importhändler und eine zunehmend größere Zahl branchenfremder Spekulanten Strümpfe aus Sachsen in großen Quantitäten zu ordern. Seit 1834/35 wurden die sächsischen Wirkwarenverleger mit Bestellungen derart überhäuft, „daß mehrere Jahre kaum hinreichend zu seyn schienen, um nur die Hälfte der gegebenen Aufträge auf den Weg zu richten.“180 Ermutigt durch die schier unerschöpflich erscheinende Nachfrage aus Nordamerika und steil ansteigende Löhne investierten viele Strumpfwirkermeister in die Anschaffung neuer Wirkstühle, mit denen sich der Ausstoß erhöhen ließ. Nach zwei, drei Jahren war der amerikanische Markt mit Strumpfwaren restlos übersättigt. Anfang 1837 registrierte man im Chemnitzer Revier mit Sorge das Ausbleiben neuer Bestellungen. Die Mehrzahl der Strumpfwirker, warnte das Gewerbeblatt für Sachsen, „hat sich dem Ackerbau ganz entfremdet, und man kann sich daher leicht vorstellen, in welche Not so viele Familien der ärmeren Klassen geraten würden, wenn die Fabrikanten genötigt sein sollten, die Zahl der von ihnen beschäftigten Weberstühle [!] einzuschränken.“181 Dieses Mal ging der Einbruch der amerikanischen Nachfrage nicht so glimpflich an der sächsischen Strumpfwarenmanufaktur vorüber wie die Stockungskrisen des vorangegangenen Jahrzehnts. Dazu trug wohl nicht zuletzt der Umstand bei, dass die USA im gleichen Jahr von einem verheerenden Finanz-Crash heimgesucht wurde. Ausgelöst wurde diese Krise durch Bodenspekulationen in großem Stil, die durch weitgehend ungesicherte Bankkredite befeuert worden waren. 1837 platzte die Blase und verursachte eine Welle von Banken- und Geschäftspleiten. Bald schwappte diese Welle auf die andere Seite des Atlantischen Ozeans und brachte in London und Hamburg eine Reihe größerer Handelshäuser in die Bredouille, die im Amerikageschäft engagiert waren. Auch einige der führenden Leipziger Großkaufleute erlitten offenbar empfindliche Verluste. Die Außenstände der Fa. Harkort bei ihrem New Yorker Geschäftspartner waren so bedeutend, dass sie 1840 einen Vertreter über den Atlantik sandte, der ihre Ansprüche vor Ort sichern sollte.182 Das südwestsächsische Strumpfwirkerrevier erreichte die transatlantische Krise mit zwei, drei Jahren Verspätung, dann aber um so heftiger. Zunächst waren nach der ersten Stockungsphase wieder zahlreiche Bestellungen aus den USA eingetroffen. Aber diese neuen Lieferungen beträchtlicher Mengen von Wirkwaren aus dem Chemnitzer Revier nach Amerika dienten vor allem dazu, die Liquidität der Besteller kurzfristig zu steigern. Mit langfristigem Zahlungsziel eingekauft, wur179 Alle Zitate: Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 1703, Bl. 37 f.: Strumpfwirkerinnung Lichtenstein an Kreisdirektion Zwickau, 6.7.1843. 180 Ebd. Bl. 38. 181 Gewerbeblatt 19.1.1837, S. 72. 182 Vgl. Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 53 f.; Bohner, Dresden, S. 25.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
den die sächsische Strümpfe sofort nach ihrer Ankunft auf Auktionen – meist beträchtlich unter dem Einkaufspreis – abgestoßen. Bei Zinssätzen, die infolge der Krise auf 20 bis 25 Prozent angestiegen waren, hatten die amerikanischen Strumpfimporteure damit einen verhältnismäßig günstigen Kredit erhalten, mit dem sie ihren dringendsten Verbindlichkeiten nachkommen konnten. Doch viele Chemnitzer Strumpfwarenverleger und Großhändler warteten schließlich vergeblich auf die Bezahlung der ausstehenden Rechnungen.183 Der plötzliche Zusammenbruch des amerikanischen Absatzes stürzte die sächsische Strumpfmanufaktur in eine lange Krise. Ein Wechsel auf andere Märkte, durch das die Produktionskapazitäten des Chemnitzer Reviers halbwegs ausgelastet worden wären, erwies sich als schwierig. Die lateinamerikanischen und europäischen Absatzgebiete waren jahrelang zugunsten des kompakten, leicht zugänglichen und ergiebigen US-Markts vernachlässigt worden. Ein Ausweichen auf Artikel wie Handschuhe und Trikotagen brachte nur wenig Erleichterung. Noch 1843 hieß es im Gewerbeblatt für Sachsen, mehr als ein Drittel der Wirkstühle stehe ganz still und die anderen seien nur unzureichend beschäftigt. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen für das erzgebirgische Strumpfwirkerrevier waren gravierend. Der Bericht des Gewerbeblatts konstatierte eine „zunehmende Verarmung und Entblösung von wenigstens 30,000 erwachsenen Individuen“. Dazu wurden zahlreiche mit der Wirkwarenmanufaktur verbundene Hilfsgewerbe und Zulieferbranchen von deren plötzlichem Niedergang getroffen: Tausende „der mit Nähen und Sticken der Waare beschäftigten Frauen und Kinder“, Färber, Bleicher und Stuhlbauer, schließlich die „Faktoren, die theils nothgedrungen, theils aus unrichtiger Beurtheilung der Verhältnisse ohne entsprechende Kräfte, große Läger anhäuften, die nun völlig entwerthet sind.“184 Die Krise der Strumpfwirkerei traf nicht nicht zuletzt die am weitesten entwickelte Fabrikindustrie des Königreichs Sachsen, die Baumwollspinnerei. 4.5 DER LEITSEKTOR ALS SORGENKIND: DIE SÄCHSISCHE MASCHINENSPINNEREI Die Baumwollspinnerei nach der Kontinentalsperre Das Ende der napoleonischen Ära kam für die Chemnitzer Baumwollmaschinenspinnerei zeitiger als für den großen Korsen selbst. Anfang Juni 1815, rund zwei Wochen vor der Schlacht von Waterloo, schickte der Zschopauer General-Accis-Inspektor Emanuel Friedrich Köhler einen alarmierenden Bericht an seine Vorgesetzten in der Landeshauptstadt: 183 Vgl. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1845, S. 8 f.; Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 54. 184 Gewerbeblatt 16.5.1843, S. 234; vgl. ebd. 26.1.1841, S. 39; ebd. 3.1.1843, S. 2.; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1845, S. 10; Deutsche Gewerbezeitung 23.9.1845, S. 450; Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 1703, Bl. 39 ff.: Strumpfwirkerinnung Lichtenstein an Kreisdirektion Zwickau, 6.7.1843.
4.5 Der Leitsektor als Sorgenkind: Die sächsische Maschinenspinnerei
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„Der – man kann sagen totale – Verfall der Baumwoll-Garn-Spinnereyen in und um Chemnitz, hat etliche Tausend Menschen, die aus den Dörfern und Städten in einem Umkreis von etlichen Meilen um Chemnitz dabey ihr Brod hatten, außer Arbeit gesezt. So steht anjezt die Bernhardische Spinnerey in Harthau mit 107 Mule Twist und 45 Water Twist Maschinen und die Schnabelische in Erfenschlag mit 35 Mule und etlichen 20 Water Twist Maschinen stille. Die große Beckern und Schrapsische Spinnerey bey Chemnitz läßt seit der Leipziger Ostermeße nicht spinnen. Eben so haben ein großer Theil anderer kleiner Spinnereyen das Spinnen ganz eingestellt, und die noch umgehen, laßen nur auf einigen Maschinen, und diese auch ganz sachte spinnen.“185
Die Aufhebung des „Kontinentalsystems“ hatte ganz offensichtlich die sächsische Baumwollwarenwirtschaft erreicht. Die Leipziger Ostermesse des Jahres 1815 war von britischen Baumwollgarnen und Kattunen geradezu überschwemmt worden. Die unter dem Schutz der Kontinentalsperre aufgeblühte Maschinenspinnerei des Chemnitzer und Plauener Reviers stand, so schien es nun, auf tönernen Füßen. Denn, so fuhr der Steuerinspektor Köhler in seinem Bericht fort: „Der große Verdienst, den die Baumwoll-Garn-Spinnerey vor einigen Jahren gab, verleitete Menschen aus allen Ständen zu Anlegung von Maschinen Spinnereyen. Der größte Theil hatte nicht den zehnden Theil eigenen Vermögens zu einem solchen Unternehmen und rechnete in längstens zwey Jahren die Spinnerey verdient zu haben. Die Maschinenbauer creditirten, weil ihr Verdienst ebenfalls übermäßig war, und Baumwolle zum Spinnen fand sich auch auf Credit. Ihr Sturz war daher unvermeidlich, da der hohe Garn Preis nicht Jahre lang anhielt, und eigne Kräfte ihnen mangelten, um über eine Zeitperiode wie die jetzige hinüber zu kommen.“186
Der große Zusammenbruch der sächsischen Garnindustrie blieb allerdings aus. Nachdem die angehäuften Lager der britischen Garnexporteure geräumt waren, verminderte sich der Druck auf die Spinnmühlenbesitzer des Chemnitzer Reviers wieder. Zur Ostermesse 1817, keine zwei Jahre nach dem Alarmbrief des Zschopauer Inspektors, konnte von einem totalen Verfall der Baumwollmaschinenspinnerei in der Stadt Chemnitz und ihrer Umgebung keine Rede mehr sein. Zu diesem Zeitpunkt waren nach der amtlichen Statistik im Erzgebirgischen Kreis 84 Baumwollspinnereien mit insgesamt etwas über 165.000 Mule-Feinspindeln in Betrieb. Dies waren elf Spinnereien aber nur rund 4000 Spindeln weniger als im Herbst 1814. In den folgenden Jahren wuchsen die Produktionskapazitäten der erzgebirgischen Maschinenspinnerei kräftig an. Schon 1818 legte der Kattunfabrikant Johann Jacob Bodemer in Zschopau den Grundstein zum Bau einer mit Wasserkraft getriebenen Baumwollspinnerei, die im folgenden Jahr den Betrieb aufnahm. Zwischen 1821 und 1824 wurden auch im Chemnitzer Vorort Einsiedel, in Flöha und Schlettau weitere größere Spinnfabriken erbaut.187 Zur Ostermesse 1825 zählte die Kommerziendeputation im Erzgebirgischen Kreis 81 Baumwollspinnereien mit zusammengenommen 234.100 Spindeln. Zwar 185 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1563 (Loc. 11154/XIV. 2031), Bl. 125: Bericht Köhler, 5.6.1815. 186 Ebd. Bl. 126. 187 Vgl. Sieber, Studien, S. 31; Uhlmann, Unternehmer, S. 31; Zschopauer Baumwollspinnerei Gedenkschrift, S. 14 f.; Kiesewetter, Unternehmen, S. 16 f., 21; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 939 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1814; ebd. Nr. 1528 (Loc. 11170/XIII. 2287), Bl. 6: Bericht v. Fischer, 29.10.1824.
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war die Zahl der Betriebe leicht gesunken, doch hatte sich die Spindelzahl um gut die Hälfte vermehrt. Die Spinnereien waren demnach im Durchschnitt deutlich größer geworden. 1814 kamen auf eine erzgebirgische Spinnmühle 1781 Spindeln. 1825 waren es 2890. Sechs Jahre später, 1831, hatte sich die durchschnittliche Betriebsgröße der Baumwollspinnereien des Erzgebirgischen Kreises noch einmal kräftig, auf 3934 Feinspindeln, erhöht. Nun liefen in 72 Spinnereien mehr als 283.000 Spindeln. Dabei ging die Bedeutung Chemnitz’ als Standort von Spinnbetrieben im Jahrzehnt nach dem Krieg deutlich zurück. 1817 beherbergte die Stadt noch gut 40 Prozent der Betriebe mit fast 60 Prozent der Gesamt-Spindelkapazität im Erzgebirgischen Kreis. 1825 gab es nur noch 15 (statt 37) Baumwollspinnereien in Chemnitz. Deren Produktionskapazität hatte sich in acht Jahren fast halbiert, von 98.906 auf 51.950 Feinspindeln. Das waren nur noch etwa 22 Prozent aller im Erzgebirgischen Kreis „gangbaren“ Baumwollspindeln.188 Beide Entwicklungen – die steigende Spindelzahl pro Betrieb wie die rückläufige Maschinenspinnerei im Chemnitzer Stadtgebiet – verweisen auf betriebliche Modernisierungsprozesse in der erzgebirgischen Spinnereindustrie. Die neugebauten größeren Spinnmühlen entstanden vor allem entlang wasserreicher Flussläufe mit starkem Gefälle, der Zschopau, der Flöha, der Zwickauer Mulde. Solche meist ländlichen Standorte waren zur Anlage leistungsfähiger Wasserräder besser geeignet als die Chemnitz auf dem Gebiet der nach ihr benannten Stadt. In Chemnitz hatten sich viele der frühen Spinnereibesitzer mit Pferdegöpeln zum Antrieb der Spinn- und Vorspinnmaschinen beholfen, oder ihre Mules liefen im Handbetrieb. Solche Betriebe verschwanden nun allmählich. Einige Chemnitzer Spinnereien stellten allerdings schon in den frühen 1820er Jahren erste Dampfmaschinen auf. Der Dampfbetrieb in der Garnindustrie blieb aber solange Ausnahme und Episode, wie die Kohle von einigen kleinen Gruben in der Nähe der Stadt bezogen werden musste. Daher erwies sich dieser zukunftsweisende industrielle Entwicklungsweg, der die Energieversorgung des „sächsischen Manchester“ von der Fließkraft der Chemnitz unabhängig gemacht hätte, vorerst nur als schmaler Pfad.189 Der Einbruch der erzgebirgischen Baumwoll-Maschinenspinnerei nach dem Ende der Kontinentalsperre hatte, so gesehen, eher den Charakter einer Reinigungskrise. Im Allgemeinen stellte sich bald nach 1815 eine Arbeitsteilung zwischen der britischen und der sächsischen Garnindustrie ein, wie sie auch schon in der Ära der Spinning Jennies vor 1810 bestanden hatte. Die erzgebirgischen Spinnmühlen versorgten die sächsische Weberei und Wirkerei mit starken, allenfalls mittelfeinen Garnen und exportierten diese auch nach Böhmen, Thüringen, Bayern und Schlesien. Ihre Erzeugnisse fanden Verwendung für eher robuste Baumwollwaren: rohe Kattune für die Druckereien, einfache Stoffe wie die Nankings, auf die sich die junge oberlausitzische Baumwollweberei spezialisierte, baumwollene Posamenten 188 Daten nach: Kiesewetter, Unternehmen, S. 16 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 960 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1825, Bl. 50 f.; Meerwein, Baumwollenspinnerei, S. 45 f. 189 Vgl. Kretschmar, Chemnitz, S. 486 f.; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 954 (Loc. 11472): Relation Osternesse 1822. Zur Diffusion der Dampfmaschine siehe unten S. 229 f., 299 f.
4.5 Der Leitsektor als Sorgenkind: Die sächsische Maschinenspinnerei
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oder die Massenwaren der Strumpfwirkerei. In diesem Marktsegment waren die sächsischen Garne auf dem eigenen Binnenmarkt und im angrenzenden Ausland durchaus konkurrenzfähig. Je stärker nämlich die Transportkosten bei solchen vergleichsweise schweren und billigen Sorten ins Gewicht fielen, desto eher konnte in Sachsen gefertigtes Maschinengespinst preislich mit Garnen aus Lancashire und Lanarkshire mithalten, desto weniger lukrativ fanden die britischen Exporteure deren Versand nach Leipzig. In den feineren Garnqualitäten blieb britisches Maschinengarn selbst in Chemnitz marktbeherrschend. Zwar könnten, wie ein zeitgenössischer Autor 1822 bemerkte, die Chemnitzer Baumwollspinnereien auch Garne bis in sehr hohe Nummern spinnen. Doch werde tatsächlich nur bis höchstens Nr. 80 gesponnen. Ab dem Feinheitsgrad 50 oder 60 war gewöhnlich der Punkt erreicht, an dem die Transportkosten nicht mehr die Preis- und Qualitätsvorteile kompensierten, die das Importgarn aufgrund des Produktivitätsvorsprungs der britischen Baumwollspinnerei genoss.190 Dieser Modus Vivendi wurde nur dann ernsthaft zur Disposition gestellt, wenn die englische und schottische Garnindustrie mit Überproduktions- und Absatzkrisen zu kämpfen hatte. Dann fanden überschüssige Bestände in den stärkeren Garnsorten auf die von den erzgebirgischen Spinnereien beanspruchten Märkten. Oft wurden diese Garne bei Auktionen in London und Hamburg zu Preisen unter den Herstellungskosten verschleudert. In diese Kategorie mehr oder minder zyklischer Marktüberschwemmungen passt bereits der plötzliche Absatzeinbruch der erzgebirgischen Spinnereien seit der Leipziger Ostermesse von 1815. Die Auswirkungen der allgemeinen Wirtschaftskrise von 1819 erreichten die sächsischen Garnmärkte spätestens zur Leipziger Ostermesse des folgenden Jahres. Leipzig sei stark mit englischem Twist „überführt“, das zu Preisen unter denen in England selbst angeboten werde, vermerkten die „Messrelationen“ im Frühjahr 1820. Um die eigenen Kosten zu dämpfen, gingen die „hierländischen Spinnereybesitzer“ dazu über, statt mazedonischer und türkischer Baumwolle „die wohlfeilere ostindische mit den Abgängen der amerikanischen und westindischen zu vermischen, woraus aber ein … wenig haltbares und sonst ungleiches Garn entstehet, worüber die Weber und Käufer des Fabrikats vielfältige Klage führen.“191 Zur Michaelismesse 1820 hatte die britische Krise voll auf den Absatz sächsischer Garne durchgeschlagen. Der hiesige Platz sei „mit englischem und schottischem Maschinengespinnste dermaasen überführt, daß … die Preise dieser Garne von einem Tage zum anderen tiefer gingen“. Es kamen nun auch „die ordinären Twistsorten, mit denen die englischen zeither keine Concurrenz auszuhalten vermochten, auf hiesigem Platze immer häufiger zum Vorschein“.192 Doch bereits zur nächsten Ostermesse gaben die „Messrelationen“ Entwarnung: Englische Garne machten sich seit einiger Zeit etwas rarer und
190 Vgl. Kretschmar, Chemnitz, S. 494; Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 1656, Bl. 265gg-hh: Bericht Kreisdirektion Zwickau, 1.7.1839; Mittheilungen Industrieverein 1843, II. Lieferung, S. 5. 191 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 950 (Loc. 11472): Relation Ostermesse 1820. 192 Ebd. Nr. 951 (Loc. 11472): Relation Michaelismesse 1820.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
seien im Preis gestiegen. Infolgedessen habe auch die Erzeugung inländischen Maschinengespinsts wieder zugenommen.193 Ein weiterer scharfer Konjunktureinbruch jenseits des Ärmelkanals zeitigte Mitte der 1820er Jahre in Sachsen ähnliche Auswirkungen. Zu Michaelis 1825 vermeldeten die Beamten der Kommerziendeputation aus Leipzig, in ganz Großbritannien herrsche eine „starke Krisis“, „so daß mehrere der wichtigsten Baumwollhändler und Maschinen-Spinnerey-Inhaber fallit wurden, dieses hatte wiederum Einfluß auf die Preise der Garne, indem nun auch eine Menge Vorräthe davon theils freywillig, theils gezwungen in der Versteigerung für die wohlfeilsten Preise wegging. Aufkäufer benutzten solches und überführten nun mit den an sich gebrachten Quantitäten des festen Landes, namentlich zu Hamburg, Bremen und Leipzig und die Preise drückten sich hierdurch mit einem Male so tief herunter, daß die hierländischen Twistfabrikanten in der Concurrenz dagegen nicht aufnehmen konnten.“194
Die sächsischen Spinnereien hätten infolge dieser Marktüberflutung große Verluste erlitten. Zu Ostern 1826 registrierte die amtliche Statistik, dass im Erzgebirgischen Kreis 5.545 Feinspindeln weniger als im Vorjahr „gangbar“ waren.195 Das waren allerdings nicht mehr als 2½ Prozent des Gesamtbestandes, also eigentlich ein Indikator dafür, dass die Spinnerei des Chemnitzer Reviers trotz der lautstarken Klagen der Garnfabrikanten von der britischen Absatzkrise nicht sonderlich tiefgehend betroffen war. Wesentlich nachteiliger wirkten sich die Marktkonstellationen der Zeit nach 1815 auf die Baumwollspinnerei des Plauener Reviers aus. Während der Kontinentalsperre mit staatlichen Subventionen aufgepäppelt, trat die Maschinenspinnerei des Vogtlandes nach deren Ende in einen augenscheinlich unaufhaltsamen Schrumpfungsprozess ein. Noch zu Michaelis 1814 waren 36,6 Prozent aller im Königreich Sachsen gezählten Baumwollspindeln in den 21 vogtländischen Maschinenspinnereien gelaufen. Dabei waren die vogtländischen Spinnereien im Durchschnitt deutlich größer als die erzgebirgischen; auf einen Betrieb kamen hier schon 1814 fast 5000 Spindeln. 1831 war der Anteil des Chemnitzer Reviers auf 78,1 Prozent der sächsischen Gesamtspindelzahl gestiegen, der des Plauener Bezirks auf 19,1 Prozent gefallen. Es gab jetzt nur noch zehn Maschinenspinnereien im Vogtland. Absolut hatte sich die Zahl der Spindeln in den vogtländischen Baumwollspinnereien in diesen 17 Jahren um gut ein Drittel, von 104.289 auf 69.390, vermindert. Ein Jahrzehnt später gab es im Vogtland nur noch zwei größere Baumwollspinnereien.196 Dieser Niedergang war ganz offensichtlich der anhaltenden Marktdominanz britischer Baumwollgarne in den höheren Feinheitsgraden geschuldet. Die vogtländische Weißwarenweberei und -stickerei benötigte im allgemeinen wesentlich feiner gesponnene Garne und Zwirne als die meisten im Erzgebirgsraum und in der Oberlausitz produzierten Web- und Wirkwaren. Weder im Preis noch in der Qualität 193 194 195 196
Ebd. Nr. 952 (Loc. 11472): Relation Ostermesse 1821. Ebd. Nr. 959 (Loc. 11473): Relation Michaelismesse 1825, Bl. 29. Ebd. Nr. 962 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1826, Bl. 35. Zahlen nach: Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 96, 100; vgl. Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 35 ff.; Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 522.
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waren die heimischen Spinnmühlen gegenüber der britischen Konkurrenz wettbewerbsfähig. Die Baumwollwarenhersteller des Vogtlands bezogen daher einen größerem Teil ihres Garns aus England und Schottland, während die verbliebenen vogtländischen Spinnereien gezwungen waren, ihre Produktion vornehmlich in das benachbarte Ausland zu exportieren.197 Wege aus der Nische? Insgesamt erscheint die sächsische Maschinenspinnerei am Beginn der 1830er Jahre als vergleichsweise wohl fundierte Fabrikindustrie, die sich auch ohne den Schutz von Einfuhrzöllen im eigenen Land und in den benachbarten Regionen behauptet hatte. Sie hatte im innerdeutschen Vergleich zu diesem Zeitpunkt bei weitem die größten Produktionskapazitäten aufgebaut. Dennoch blieb es den erzgebirgischen und vogtländischen Baumwollspinnern beständig ein Dorn im Auge, dass ihnen die potenziell lukrativsten Segmente des heimischen Garnmarktes durch die ausländische Konkurrenz streitig gemacht wurden. Wohl kaum eine andere Frage beschäftigte die sächsischen Textilunternehmer, Wirtschaftspolitiker und -publizisten zwischen 1815 und 1848 so sehr als die, wie es möglich sein könnte, auch in den höheren Nummern die britischen Garne durch sächsische zu ersetzen, um dadurch den heimischen Spinnereien ein „unermeßliches Feld des Absatzes“198 zu erschließen. Zunächst einmal mussten sich die sächsischen Spinnereibesitzer mit einem altbekannten Problem auseinandersetzen: Die Baumwollspinnereien in Manchester und Umgebung konnten bessere und modernere Maschinen einsetzen als ihre sächsische Konkurrenten. Daran hatte sich auch nach 1815 nichts geändert. Der technologische Vorsprung der Briten war in den Jahren der kriegsbedingten Absperrung wohl eher noch gewachsen. Zumindest in den ersten Nachkriegsjahren war man sich in Sachsen noch nicht einmal recht darüber im Klaren, worin denn nun genau die Überlegenheit der englischen Spinnereien begründet war. Man habe den Rückstand der sächsischen Spinnmühlen, so führte der Direktor der Kommerziendepuation im Frühjahr 1818 in einem Memorandum aus, „theils in den bey den englischen Spinnmaschinen angebrachten Verbesserungen, theils in der geheimnisvollen Zubereitungsart des Stoffes und der dazugenommenen … Substanzen finden wollen, …“199
Aus späteren Berichten lässt sich erschließen, dass in den anderthalb Jahrzehnten nach 1815 – zumindest aus sächsischer Sicht – die Marktführerschaft der britischen Maschinenspinnerei auf der technologischen Ebene namentlich darauf beruhte, dass die Garnfabriken in Lancashire und Südwestschottland in der Lage waren, aus 197 Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 15; Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 1656, Bl. 265gg: Bericht Kreisdirektion Zwickau, 1.7.1839 198 Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 15. 199 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1444 (Loc. 11155/XIII. 2071), Bl. 34: Pro Memoria v. Gutschmidt, Leipzig, 16.4.1818. Zu den technologischen Fortschritten der britischen Maschinenspinnerei um 1820: Niess, Baumwoll-Spinnerei, S. 59.
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billigen Baumwollsorten relativ hochwertiges Garn zu spinnen. Dagegen müsse man, so der Zschopauer Spinnereiunternehmer Bodemer 1827, „in Sachsen ungleich bessere Gattungen haben …, um ähnliche Garne daraus zu verfertigen“. Vor allem die in Sachsen verwendeten Vorbereitungsmaschinen scheinen nicht dem in der britischen Spinnereitechnologie erreichten Standard entsprochen zu haben. Der „fehlerhaften Bereitung des Vorgespinnstes“, das in Sachsen entweder nicht fein genug oder zu teuer ausfiel, habe man, so ein Messebericht 1826, „das Uebergewicht der brittischen Twiste hauptsächlich zuzuschreiben.“200 Ein Transfer solcher Spinnerei-Technologie aus fortgeschritteneren Gewerbeund Industrieregionen nach Sachsen erwies sich auch im Vierteljahrhundert nach 1815 als schwierig, kostenaufwändig und letztlich meist wenig erfolgreich. Mitte der 1820er Jahre startete die staatliche Wirtschaftsbehörde einen neuerlichen Vorstoß, um fortgeschrittene Textiltechnologie nach Sachsen zu transferieren. Angesichts der Pleitewelle in den britischen Spinnerei-Distrikten 1825/26 schien die Gelegenheit günstig, „Englische Maschinerien und damit vertraute Arbeiter ins Ausland zu ziehen“.201 Erkundigungen des Kreishauptmanns erbrachten aber einen wenig ermutigenden Konsens unter den erzgebirgischen Fabrikanten, Verlegern und Maschinenbauern: Textilmaschinen aus England zu besorgen, sei wegen des Ausfuhrverbots, wenn überhaupt, nur mit sehr hohen Kosten möglich. Auch das Mittel der Industriespionage hielt man für wenig erfolgversprechend, „da man einem Ausländer ein genaues Anschauen der dasigen Maschinen nicht gestattet“. Es bleibe damit nur der Weg, britische Techniker anzuwerben.202 Die Bemühungen der Kommerziendeputation, der heimischen Textilwirtschaft zu modernen britischen Spinnereimaschinen zu verhelfen, verliefen bald wieder im Sand. Mittlerweile war es allerdings den Gebrüdern Clauß gelungen, Modelle von Vorspinnmaschinen, wie sie in Großbritannien eingesetzt wurden, zu beschaffen und für ihre Spinnerei in Plaue bei Flöha nachbauen zu lassen. Sie hofften, so teilten sie zur Ostermesse 1826 den Beamten der Kommerziendeputation mit, dass damit „die Concurrenz mit dem englischen und schottischen Garne nunmehr ihnen möglich wird“. Die Clauß-Brüder suchten in Dresden um ein Exklusivprivileg zum Bau dieser Maschinen für zehn Jahre nach. Die Regierung bewilligte ihnen aber nur eine Prämie von 500 Talern. Die Erteilung eines Privilegs hätte es Ernst Iselin Clauß, der seit 1828 die Spinnerei an der Flöha alleine betrieb, ermöglicht, die Diffusion dieser Innovation im Königreich Sachsen zum eigenen Nutzen für längere Zeit zu blockieren. Die neuen Vorspinnmaschinen wurden in Plaue bald durch Mules modernerer Bauart, die aus Frankreich bezogen worden waren, ergänzt.203 200 Zitate: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1473 (Loc. 11171/XIII. 2311), Bl. 74: Extrakt Schreiben Bodemer, Großenhain, 24.11.1827; ebd. Nr. 962 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1826, Bl. 36. 201 Ebd. Nr. 1444 (Loc. 11155/XIII. 2071), Bl. 39: Graf Einsiedel an Finanzrat Zahn, Kommerziendeputation, 26.8.1826. Vgl. auch Uhlmann, Bildungsreisen, S. 112 f. 202 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1444 (Loc. 11155/XIII. 2071), Bl. 68 f.: v. Fischer an Kommerziendeputation, 7.5.1827. 203 Zitat: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 962 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1826, Bl. 35. Vgl. ebd. Nr. 1473 (Loc. 11171/XIII. 2311), Bl. 54: P. O. und E. I. Clauß an König,
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Augenscheinlich gelang es aber der Spinnerei Clauß auch nach der gründlichen Erneuerung ihres Maschinenparks nicht, in die Domäne der Briten einzudringen. Immerhin vermehrten sich um 1830 die Anzeichen dafür, dass es für die Spinnereifabrikanten einfacher geworden war, leistungsfähige Maschinen zu erhalten. Vor allem in Chemnitz hatte sich eine Reihe größerer Maschinenbau-Werkstätten etabliert, allen voran der Betrieb von Carl Gottlieb Haubold. Haubolds Werkstatt war Ende der 1820er Jahre zu einer regelrechten Maschinenfabrik angewachsen, die rund 100 Arbeiter beschäftigte. Die „Haubold’sche Maschinen-Werkstatt“, so rühmte der Bericht zur ersten sächsischen Gewerbeausstellung 1831, sei „nach schweren Opfern und jahrelangen rastlosen Mühen endlich dahin gelangt …, die bewährtesten englischen Spinn-Systeme herstellen zu können.“204 Grundsätzlich blieb es aber auch in den 1830er und 40er Jahren bei der Arbeitsteilung zwischen britischer und erzgebirgischer Baumwollspinnerei in der Versorgung der sächsischen Garn verarbeitenden Gewerbe. Aus einer Übersicht für das Jahr 1848 geht hervor, dass ganze sechs der 136 sächsischen Baumwollspinnereien Garne spannen, die einen Feinheitsgrad von 50 überstiegen. Eli Evans, Sohn und Nachfolger des Maschinenbauers Evan Evans, erreichte bei den Mule-Garnen, die er in seiner Spinnerei in Siebenhöf nahe Geyer fertigte, mitunter den Feinheitsgrad 80. Er war damit der einzige sächsische Spinnfabrikant, der feineres Baumwollgarn als Nummer 60 spann. Die große Mehrzahl der sächsischen Spinnmühlen hatte sich auch noch am Ende der 1840er Jahre auf starke Garnsorten mit einem Feinheitsgrad von unter 40 spezialisiert.205 Dies ist um so bemerkenswerter, als sich mittlerweile in der südwestsächsischen Baumwollweberei ein Wechsel zu feineren Geweben vollzogen hatte, während die Bedeutung der Kattunweberei als einem der wichtigsten Abnehmer starker Garne rückläufig war. Ein Bericht der Zwickauer Kreisdirektion über eine Unterredung mit Textilverlegern und Fabrikanten hielt 1839 fest, dass die Bunt- und Musterweberei des Chemnitzer und Glauchauer Reviers größtenteils britische Garne verbrauchte, auch weil das heimische Gespinst sich zum Färben weniger, zur Annahme „gewißer schwierigerer Farben“ gar nicht eignen würde. Für die Spezialitäten der Plauener Textilmanufaktur, die dünnen weißen Baumwollzeuge, werde ebenfalls meist englisches Garn verwendet. Bei Kattunen und Piquées benutzten die Weber etwa zu gleichen Teilen in- und ausländisches Baumwollgarn. Bei Strümpfen und baumwollenen Posamenten überwiege sächsisches Gespinst; bei ganz einfachen Stoffen wie den Nankings werde es durchweg verwebt.206 Warum gelang es den sächsischen Spinnereien auch in den 1830er und 40er Jahren nicht, wenigstens auf dem eigenen Binnenmarkt die Einfuhr britischen 1.3.1826; ebd. Bl. 67: v. Fischer an König, 19.7.1826; ebd. Bl. 69: Kommerziendeputation an v. Fischer, 15.8.1826; ebd. Nr. 1444 (Loc. 11155/XIII. 2071), Bl. 67 f.: v. Fischer an Kommerziendeputation, 7.5.1827; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 15. 204 Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 15; vgl. Haubold, Haubold, S. 143–173; Kiesewetter, Industrialisierung, S. 392 f. 205 Daten nach: Deutsche Gewerbezeitung 12.6.1849, S. 281. Vgl. Mittheilungen Industrieverein 1843, II. Lieferung 1, S. 5; Boch, Baumwollspinnerei, S. 203. 206 Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 1656, Bl. 265gg–265ii: Bericht Kreisdirektion Zwickau, 1.7.1839.
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Garns überflüssig zu machen? Eine wesentliche Ursache für die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der sächsischen Baumwollspinnereien lag sicherlich auch weiterhin in ihrer technischen Ausstattung. Mit dem mühevollen Nachvollzug „bewährter“ englischer Konstruktionen hatten C. G. Haubold und andere Pioniere des Chemnitzer Maschinenbaus noch nicht unbedingt den technologischen Vorsprung der Konkurrenz aus Lancashire aufgeholt. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts blieb das Tempo der technischen Innovationen in der britischen Baumwollspinnerei außergewöhnlich hoch. Zu dem Zeitpunkt, als man in Sachsen die Nachbauten Haubolds feierte, vollzog sich in Lancashire gerade ein weiterer Produktivitätssprung der Maschinenspinnerei. Der Selfacting Mule, die „selbsttätige“ Mule-Spinnmaschine, automatisierte den gesamten Spinnprozess. Zur Bedienung solcher „Selfaktoren“ genügten neben einigen wenigen qualifizierten Spinnmeistern billige ungelernte Arbeitskräfte, in der Regel Kinder oder junge Frauen.207 Es dauerte rund ein Jahrzehnt, bis diese Schlüsselinnovation der Spinnereitechnik in Sachsen erstmals zum Einsatz kam. Seit 1840 benutzte die Wolkenburger Spinnerei der Gebrüder Krauße Selfaktoren, die sie aus der Schweiz, von der Maschinenfabrik Escher, Wyß & Co. in Zürich erhalten hatten. Der Mechaniker Lauckner konstruierte in seiner Werkstatt in Schlema Anfang der 1840er Jahre einen Selfaktor, der leichter als die britischen Modelle zu bedienen war und der in der Folgezeit in einigen sächsischen und böhmischen Spinnereien Verwendung fand.208 Mittlerweile konnten die Spinnereifabrikanten aber nach der Aufhebung des britischen Maschinenexportverbots auch englische Selfaktoren legal erwerben. 1846 stellte E. W. Strauß ein vollständiges, aus Bury bei Manchester bezogenes Spinnmaschinenset in seiner Spinnerei in Grumbach auf. Darunter waren auch acht Selfaktoren mit jeweils 336 Spindeln. Wiecks Deutsche Gewerbezeitung kommentierte diese unternehmerische Entscheidung: „Würde man die Strecken und Fleyer auch wahrscheinlich um den gleichen Preis in Sachsen bekommen haben, während die Konstrukzion, das Material und die Arbeit an und durch diese Maschinen von C. Pfaff in Chemnitz, den besten ausländischen unbedingt zur Seite zu setzen ist, so kann doch kein sächsischer Maschinenbauer in den selbstthätigen Mulemaschinen mit den Engländern konkurrieren.“209
Bis zum Ende des Jahrzehnts blieb die Verbreitung selbsttätiger Spinnmaschinen im Königreich marginal. 1848 hatten sieben Spinnereien Selfaktoren angeschafft, auf denen insgesamt 15.176 Spindeln liefen. Das waren 2,8 Prozent des gesamten Feinspindelbestands der sächsischen Baumwollspinnerei.210 Am Ausgang der 1840er Jahre beklagte die Commission für Erörterung der Gewerbs- und Arbeitsverhältnisse in Sachsen den Produktivitätsvorsprung der englischen Spinnereien, die nun fast durchweg mit Selfaktoren ausgerüstet waren: 207 Vgl. Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 54 ff.; Dudzik, Innovation, S. 45; Farnie, Zeitalter, S. 48; Bohnsack, Spinnen, S. 243 f. 208 Vgl. Allgemeine Zeitung f. National-Industrie 26.1.1844, S. 47; ebd. 13.2.1844, S. 74; Deutsche Gewerbezeitung 7.9.1847, S. 430. 209 Deutsche Gewerbezeitung 3.11.1846, S. 528. 210 Daten nach: Deutsche Gewerbezeitung 12.6.1849, S. 281.
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„In Manchester bedient ein Spinner mit 4 bis 5 Kindern zwei Maschinen von 1128 Spindeln, womit er wöchentlich 550 Pfund, Nummer 40, erzeugt. Der Arbeitslohn beträgt 11 Thaler, mithin zahlt der englische Spinner für das Pfund 6 Pfennige Spinnerlohn. In Chemnitz bedient ein Arbeiter mit einem Kinde eine Maschine mit 300 Spindeln, erzeugt damit 142 Pfund Garn, und erhält 3 Thaler 18 Neugroschen, oder pro Pfund 7½ Pfennig Spinnerlohn, also 25 Procent mehr, als in England.“211
Dass die Probleme der Baumwollspinnerei in Sachsen nicht allein mit dem Wegräumen der bisherigen Barrieren des Technologietransfers zu beheben waren, zeigte sich, nachdem die britische Regierung 1842 das Ausfuhrverbot für Textilmaschinen aufgehoben hatte. An und für sich hätten die sächsischen Spinnereiunternehmer nun ihren Betrieb grundlegend modernisieren und womöglich mit dem Einsatz von Selfaktoren auch noch ihren Fachkräftebedarf reduzieren können. Doch gehörte der oben erwähnte Fabrikant Strauß zu den wenigen, die im folgenden Jahrzehnt in die Anschaffung der neuesten Spinnmaschinenmodelle und -systeme investierten. Eine mögliche Erklärung für dieses „Versäumnis“ hängt mit einem Problem zusammen, das schon angesprochen worden ist, als es um den Übergang zur Maschinenweberei ging: die Beschränkungen und Nachteile der Wasserkraft. Dabei hatten zeitgenössische Kommentatoren lange Zeit gerade die zahlreichen schnell fließenden Gewässer als wesentliche Ressource der erzgebirgisch-vogtländischen Gewerberegion angesehen. Noch 1840 rechnete Friedrich Georg Wieck die „reichlich vorhandene Wasserkraft“, die stets billiger als Dampfkraft sein werde, zu den „natürlichen“ Vorteilen der einheimischen Spinnerei gegenüber der britischen Konkurrenz.212 Die aus Wasserrädern (und zunehmend auch durch Turbinen) gewonnene Energie mochte wohl billiger als die Dampfkraft sein, doch sie war zugleich auch wesentlich unzuverlässiger. Frost, Trockenheit oder Hochwasser konnten die Wassermühlenanlagen für kürzere oder längere Zeit stilllegen. Zudem benötigten die modernen Selfaktor-Spinnsysteme zunehmend mehr Antriebskraft, was das Energiepotenzial der meisten südwestsächsischen Bäche und Flüsse bald überfordert hätte.213 Die betriebsorganisatorischen Folgen der Abhängigkeit der sächsischen Baumwollspinnerei von der Wasserkraft als Energieträger beschränkten sich dabei nicht allein auf die Störungen im kontinuierlichen Betriebsablauf. Da die Spinnfabriken überwiegend außerhalb der Städte, oft in entlegenen Tälern angelegt werden mussten, war es schwierig, genügend geeignete Arbeitskräfte zu finden. Die Fabrikanten seien zudem genötigt, so Wieck 1847, „doppeltes Komptoir“ führen, da ihre Präsenz auf den Hauptgarnmärkten des Landes unumgänglich sei. „Das Auge des Herrn fehlt oft in der Spinnerei und der wechselnde Markt erheischt häufig Anordnungen, die zu treffen Zeit erfordern, wenn die Spinnerei weit von dem Markte entfernt ist …“.214 Die Nutzung fossiler Energieträger als Alternative zur Wasserkraft wurde in Sachsen schon relativ frühzeitig diskutiert und auch vereinzelt realisiert. 1820 211 Bericht über die Berathungen …, S. 155. 212 Wieck, Zustände, S. 81; siehe auch: Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 15. 213 So die Einschätzung von Forberger, Sachsen, S. 252 f. Vgl. Kiesewetter, Industrialisierung, S. 458 f.; Müller, Faktoren, S. 110. 214 Deutsche Gewerbezeitung 8.10.1847, S. 604.
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setzte erstmals eine sächsische Spinnerei Dampfmaschinen ein. Zwei Jahre später hieß es zu dieser Entwicklung in einem Bericht des Freiherrn von Fischer nach Dresden: „In denjenigen Spinnfabriken, welche nicht durch Wasser getrieben werden können, sondern die man durch den Trampel oder andere Maschinerien in Umtrieb setzen muß, fängt man an zur Erleichterung der letzteren und zur Ersparung der Kosten sich Dampfmaschinen zu bedienen“. Der erzgebirgische Kreishauptmann sprach dabei die Hoffnung aus, dass vielleicht „künftig, wenn diese Einrichtung allgemeiner wird und besonders durch die Erlangung von Steinkohlen in der Nähe der Preiß des Feuerungsmaterials sich vermindert, der noch immerfortdauernden Klage über Mangel an Verdienst bey der Garnproduktion abgeholfen“ würde. Doch diese Hoffnungen erfüllten sich in den folgenden drei Jahrzehnten kaum. 1846/48 setzten nur 18 Baumwollspinnereien in Sachsen Dampfmaschinen ein. Lediglich sechs von ihnen vertrauten allein auf Dampfkraft.215 Die Ära der Dampfkraft in der sächsischen Baumwollspinnerei blieb mehr als zwei Jahrzehnte lang in den Startlöchern sitzen. Dies hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass die Erwartungen der Akteure, es werde in absehbarer Zeit ein billiger Energieträger verfügbar sein, enttäuscht wurden. 1821 hatte Kreishauptmann Fischer berichtet, der Gebrauch von Steinkohlen zum Antrieb von Dampfmaschinen werde immer gewöhnlicher, seit sie in der Gegend von Chemnitz und Hohenstein gefördert würden. Auch hoffte er, dass hierzu „das neue Steinkohlen-Mandat, welches den Ständen bey der letzten Landes-Versammlung mitgetheilt worden, zweckbeförderlich seyn würde“.216 Zwar wurde diese Reform der sächsischen Bergordnung 1822 tatsächlich verabschiedet. Fortan waren Besitzer von Grundstücken, auf denen Kohlevorkommen entdeckt worden waren, verpflichtet, das Förderrecht an andere abzutreten, wenn sie die Kohlen nicht selbst abbauten. Der Kohlenbergbau wurde von staatlichen Abgaben entlastet, und, anders als im sächsischen Erzbergbau, lag die Betriebsleitung hier ganz in den Händen der Bergwerksbesitzer. Insofern hatte der sächsische Staat Anfang der 1820er Jahre günstige Rahmenbedingungen für eine zügige privatkapitalistische Ausbeutung der reichhaltigen Steinkohlenlager zwischen Zwickau und Chemnitz geschaffen. Bis aber die Erschließung der Kohlenfelder um Lugau und Oelsnitz/Erzgebirge in größerem Umfang in Gang kam, dauerte es noch gut zwei Jahrzehnte. Erst 1837 war man bei Probebohrungen auf größere abbauwürdige Vorkommen gestoßen. 1843 wurden hier die ersten Steinkohlen gefördert. Doch bis die Stadt Chemnitz einen Eisenbahnanschluss an das Kohlenrevier erhielt, vergingen noch einmal eineinhalb Jahrzehnte. Weiter westlich, um Zwickau war die Erschließung der Kohlefelder schon etwas früher in Gang gekommen. Seit Mitte der 1840er Jahre waren 215 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 176: Bericht v. Fischer, 3.5.1822. Der Bericht vom 1.10.1821 gibt an, die in Chemnitz verwendeten Kohlen stammten aus Ebersdorf, einem nordöstlichen Vorort (vgl. ebd. Bl. 163). Vgl. ebd. Bl. 150 f.: Fa. Pfaff & Söhne, Chemnitz, an Kommerziendeputation, 20.9.1821; ebd. Nr. 954 (Loc. 11472): Relation Ostermesse 1822; Kretschmar, Chemnitz, S. 486 f.; ZSBI 5, 1859, S. 9; Engel, Baumwollen-Spinnerei, S. 13. 216 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 163: Bericht v. Fischer, 1.10.1821.
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einige der westsächsischen Textilstädte – Crimmitschau, Werdau, Reichenbach – mit der Eröffnung einer Zweigbahn der Linie Leipzig – Hof in den Genuss billiger Steinkohlelieferungen aus dem Zwickauer Revier gekommen. Vom Eisenbahnbau und der Erschließung der regionalen Steinkohlevorkommen gingen daher vor 1850 kaum Impulse für eine Modernisierung der sächsischen Maschinenspinnerei aus.217 Die Probleme einer ausreichenden und regelmäßigen Energieversorgung dürften auch dazu beigetragen haben, dass im Vormärz nur wenige größere Fabrikanlagen gebaut wurden. Nur sieben von 136 Baumwollspinnereien verfügten 1848 über mehr als 10.000 Spindeln, eine Größe, die der Betrieb der Gebrüder Bernhard schon mehr als vier Jahrzehnte zuvor erreicht hatte. Die durchschnittliche Betriebsgröße der sächsischen Spinnereien stagnierte in den 1830er und 40er Jahren. 1830 kamen auf eine Baumwollspinnerei rechnerisch 4.300 Feinspindeln; 1848 waren es 130 Spindeln weniger. Allerdings hatte sich die Produktivität in diesen 18 Jahren dann doch deutlich erhöht, von 13,8 auf 34,1 Pfund Garn pro Spindel und Jahr. 45 Prozent der Spinnmühlen in Sachsen arbeiteten noch 1848 mit weniger als 3.000 Feinspindeln. Die kleinsten Betriebe erreichten gerade einmal Produktionskapazitäten von einigen 100 Spindeln, für die eine einzelne Mule-Spinnmaschine genügte.218 Die überragende Marktposition der britischen Baumwollgarne gründete nicht allein im technologischen Vorsprung der englischen und schottischen Spinnfabriken, sondern auch auf nicht zu unterschätzenden Vorteilen im Bereich der Rohstoffversorgung und der Vermarktung. Vor allem in Lancashire genoss die Baumwollspinnerei die kostensparenden Effekte eines großen, über längere Zeit etablierten Markt- und Umschlagszentrums. Im Hafen von Liverpool wurden enorme Quantitäten Rohbaumwolle aus allen überseeischen Anbaugebieten gelöscht. Nach dem Ende der napoleonischen Kriege bildete sich eine komplexe, hoch arbeitsteilige kommerzielle Infrastruktur des Baumwollhandels heraus: Die Importeure konzentrierten sich auf den Kontakt nach Übersee. Den Verkauf der Rohbaumwolle in Liverpool überließen sie spezialisierten Selling Brokers, während Buying Brokers im Auftrag der Großhändler und der größeren Spinner agierten. In Manchester und anderen Städten des Reviers unterhielten die Baumwollgroßhändler wiederum riesige Warenhäuser, die den ansässigen Spinnereien ständig eine mannigfaltige Auswahl verschiedener Sorten und Qualitäten boten. Die räumliche Nähe zu den Umschlagzentren Liverpool und Manchester verschaffte den nordwestenglischen Baumwollspinnereien nicht unerhebliche Kostenvorteile und Dispositionsspielräume. Sie ersparte ihnen eine größere Lagerhaltung und ermöglichte es, schnell auf die häufigen Preis- und Mengenfluktuationen des Baumwollmarkts zu reagieren. Die Spinnereien konnten einerseits ohne weiteres Aufträge übernehmen, die 217 Vgl. Kiesewetter, Industrialisierung, S. 545–573; ders., Erz, S. 484; Eckhardt/May, Entwicklung S. 69–94, 101–115; Forberger, Revolution, 2/1, S. 293–299; Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte, S. 43 ff.; Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 45 f.; Kiesewetter, Industrialisierung, S. 459. 218 Vgl. Kiesewetter, Industrialisierung, S. 357 ff.; Engel, Baumwollen-Spinnerei, S. 10; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 96; Deutsche Gewerbezeitung 12.6.1849, S. 278–281. Siehe Tab. 5 im Anhang.
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unterschiedliche Sorten und Qualitäten erforderten und anderseits ihre Produktion an den jeweiligen Preisen der verschiedenen Baumwollsorten ausrichten. Der regelmäßige und persönliche Kontakt der Akteure schuf zudem Vertrauen und minderte Risiken, Unsicherheit und die damit zusammenhängenden Transaktionskosten.219 In Sachsen war man sich der Nachteile, die das Fehlen eines vergleichbaren institutionellen Arrangements den heimischen Spinnereibesitzern brachte, sehr wohl bewusst. So hielt das Gewerbeblatt für Sachsen 1839 fest: „Der deutsche Spinner entbehrt die Vortheile des Einkaufs seines Rohstoffes an der Quelle und muß sich der Zwischenhand bedienen, welche ihn meist um einige Nummern der Qualität schlechter bedient, abgesehen von den Gefahren, die er bei dem Vertrauen in die Solidität seines Kommissionärs läuft. Er muß den Einkauf für den Winter und das Frühjahr schon im Herbst zuvor machen, seine Beziehungen schweben mehrere Monate lang unterwegs und werden durch Unterbrechung der Schiffahrt oft noch länger aufgehalten; er verliert aus diesen Ursachen beim Fallen der Preise, ohne in gleichem Grade beim Steigen derselben zu gewinnen.“220
Schließlich profitierten die britischen Baumwollspinner von wesentlich günstigeren Absatzmarktbedingungen als ihre sächsischen Pendants. Einen größerer Teil ihrer Garnproduktion nahmen die zahlreichen Maschinenwebereien und Handweber in der Region selbst ab. Kostengünstige Transportmöglichkeiten eröffneten den Spinnereien der küstennahen nordenglischen und schottischen Baumwollreviere zudem den Zugang zu zahlreichen Märkten bis weit ins kontinentaleuropäische Binnenland hinein, solange sie nicht durch prohibitive Einfuhrzölle ausgesperrt wurden. Dies barg für die britischen Spinnereiunternehmen wesentliche betriebsorganisatorische Kostenvorteile. Sie konnten sich auf die Verspinnung einiger weniger Garnsorten spezialisieren. Sie waren in der Lage, durch Produktion in großen Mengen auch bei vergleichsweise niedrigen Profitmargen per Einheit hohe Gewinne zu erzielen. Den sächsischen Baumwollgarnproduzenten stand dagegen nur ein sehr begrenzter Absatzmarkt außerhalb des eigenen Landes offen. Hohe Transportkosten und die Zollhürden der Nachbarstaaten beschränkten den Absatzradius der sächsischen Spinnereien gerade in ihren Spezialitäten, den groben und starken Gespinsten. Der regionale Garnmarkt in Sachsen selbst bot wegen der ausgesprochenen Branchendiversität der Textilgewerbe wenig Chancen, die Vorteile der Massenproduktion in ähnlicher Weise zu nutzen wie die englische und schottische Konkurrenz. Die Weißwarenweberei- und stickerei des Vogtlandes, die Bunt- und Möbelstoffweberei des Chemnitz-Glauchauer Reviers, die Kattun- und Nanking-Fertigung, die Posamentenfabrikation, die Strumpf- und Handschuhwirkerei – sie alle verlangten nach einer fast unübersehbaren Auswahl an Garnen und Zwirnen. Diese Absatz- und Produktionsbedingungen spiegeln sich in den Strukturen der regionalen Spinnereiindustrie. Die größeren sächsischen Spinnfabriken – im interregionalen Vergleich bestenfalls mittlere Betriebe – versorgten die heimische Baumwollwarenmanufaktur mit der gängigeren „Stapelware“ an Strumpf- und 219 Vgl. Rose, Firms, S. 71; Mass/Lazonik, Industry, S. 14 f.; Riewald, Textilindustrie, S. 25 f.; Beckert, King, S. 198–220. 220 Gewerbeblatt 20.6.1839, S. 197.
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Webgarnen. Sofern diese Spinnereien mit Kattundruckunternehmen verbunden waren, ist anzunehmen, dass zumindest ein Teil ihrer Produktion im eigenen Webereiverlag Verwendung fand. Die Kattunfabrikanten und Spinnereibesitzer Becker, Gössel und Bodemer verfolgten offensichtlich ebenfalls eine Strategie vertikaler Betriebsintegration, als sie in der Zeit um 1815 Maschinenwebstühle aufstellten. Ähnliches gilt für den zweiten Anlauf zur Einführung der Fabrikweberei in Sachsen. Friedrich August Proßwimmer legte 1836 eine kleine Maschinenweberei in einem Seitengebäude seiner Spinnmühle an und schloss die Powerlooms an die vorhandene Wasserradanlage an. Ernst Iselin Clauß nutzte die fallierte Auer Maschinenweberei seit Mitte der 1840er Jahre, um dort die in der eigenen Spinnerei produzierten Garne zu verarbeiten. Johann Jacob Bodemer und seine Söhne verbanden in ihrem grenzübergreifenden Unternehmen eine Spinnerei in Sachsen mit einer mechanischen Weberei in Preußen und Druckereien in beiden Staaten. In den beiden letzten Fällen kam die Unternehmer allerdings nicht in den Genuss der betriebsorganisatorischen Vorteile einer gemeinsamen Antriebsanlage und kurzer Wege vom Spinnsaal zur Weberei.221 Dabei lagen wohl die Vorteile solcher vertikalen Integration eher auf der Seite der Spinnerei als auf der der Weberei. Das Interesse einer Weberei, gute und preisgünstige Garne zu erhalten, könne in Sachsen durch eine eigene Spinnerei nicht besser befriedigt werden als durch eine fremde, befand die Deutsche Gewerbezeitung 1847.222 Für ein Spinnereiunternehmen konnte es dagegen von Vorteil sein, zumindest einen Teil der Produktion bei einem sicheren Abnehmer unterzubringen. Die Kombination von Spinnerei und Weberei war daher wohl eher ein Zeichen der Begrenztheit des Absatzmarktes der sächsischen Spinnereien als eine zukunftsweisende unternehmerische Strategie. In Lancashire begannen sich Spinnerei und Weberei wieder zu trennen, als im Laufe der 1820er und 30er Jahre der Export vermehrte Absatzchancen für britisches Baumwollgarn bot. Damit relativiert sich auch der Verweis auf die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit der sächsischen Spinnerei aufgrund einer fehlenden Integration der Produktionsstufen Spinnerei und Weberei.223 Charakteristischer als der ohnehin mehr latente Drang zur vertikalen Integration erscheint allerdings für die sächsische Baumwollspinnerei, dass im Vormärz nur etwa die Hälfte der Unternehmen auf eigene Rechnung arbeitete und ihre Erzeugnisse selbst vermarktete. Die andere Hälfte betrieb die Spinnerei gegen Lohn. Auftraggeber waren gewöhnlich Garnhändler, die dem Spinner ein Quantum Rohbaumwolle übergaben und das fertig gesponnene Garn zu einem zuvor vereinbarten Preis wieder abnahmen. Unter den Lohnspinnereien herrschten die Klein- und Kleinstbetriebe vor. Sie wurden oft von branchenfremden Besitzern ohne tiefergehendes technisches Know-how und unzureichender Kapitalkraft geleitet. Ein offenbar nicht seltener Zugang zur Lohnspinnerei war der Besitz einer Getreidemühle, 221 Vgl. Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 1779, Bl. 24: Bericht der Amtshauptmannschaft Chemnitz, 27.7.1836; Ein Jahrhundert Baumwollspinnerei Clauß, S. 22. 222 Deutsche Gewerbezeitung 20.4.1847, S. 190. 223 Zu diesem Argument: Zachmann, Kraft, S. 525 f.; zeitgenössisch: Wieck, Zustände, S. 29 f. Vgl. Rose, Firms, S. 77 f.
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die über eine Wasserkraftanlage und die dazugehörigen Wasserrechte verfügte. In Zeiten boomender Konjunktur in den Baumwollbranchen erschien es manchen Wassermühlenbetreibern als lohnendes Unterfangen, die wenig ertragreiche Müllerei durch eine Spinnerei zu ersetzen oder zu ergänzen. Es bildeten sich demnach selbst in der Maschinenspinnerei des Vormärz partiell verlagsähnliche Strukturen heraus, die sich denen der dezentralen Manufaktur in der Weberei und Wirkerei annäherten. Ein Artikel in der Sächsischen Industriezeitung schilderte diese Zustände im Rückblick von zwei Jahrzehnten in besonders drastischer Weise: „Das ganze Spinnereigeschäft schien zum handwerksmäßigem Betriebe herabzusinken und eine Spinnfabrik gleichsam als ein, zu jeder Mühle gehörendes Nebengeschäft betrachtet werden zu sollen. (…) Als es aber so weit gekommen war, daß z. B. eine gebirgische Spinnersfrau, barfuß in den Schuhen steckend, hinter ihrem Garnwagen herlief, um ihre Garnbündel in Chemnitz zu verkaufen und Wolle dagegen in Empfang zu nehmen, so mußte man sich doch fragen, ob die Spinnerei auf diese Weise existiren könne.“224
Dies mag eine etwas überspitzte Darstellung der sächsischen Baumwollspinnerei der 1830er und 40er Jahre sein. Bisweilen diente das Lohnspinnen auch als Einstieg in ein erfolgreiches, auf eigene Rechnung arbeitendes Unternehmen. Max Hauschild und Wilhelm Pansa hatten ihre berufliche Laufbahn als kaufmännische Angestellte in den großen Spinnereien von Evans in Geyer und Heymann in Gückelsberg bzw. beim Wollwarenfabrikanten Fiedler in Oederan begonnen. 1833 erwarben sie mit eigenen Ersparnissen und Krediten aus dem Verwandtenkreis ein Grundstück und einen Teil der Wasserrechte einer Mühle in Hohefichte an der Flöha, um dort eine neue Spinnerei zu bauen. Pansa & Hauschild begannen damit, um Lohn für Chemnitzer Handelshäuser zu spinnen. Nachdem sie sich auf diesem Wege „Kredit“ erworben und ihre Betriebsmittel vermehrt hatten, gaben sie die Lohnspinnerei auf und gingen zur Produktion auf eigene Rechnung über.225 Die Verbreitung der Lohnspinnerei in Sachsen dürfte auch mit den Gegebenheiten des heimischen Garnmarktes zu tun gehabt haben. Die außerordentliche Diversität der Garn verarbeitenden Gewerbe trug wohl dazu bei, dass ein breites Spektrum unterschiedlicher Qualitäten in oft relativ kleinen Quantitäten nachgefragt wurde. Die Lohnspinnerei bot den Garnhändlern die Möglichkeit, solche Nachfrage flexibel zu befriedigen. Allerdings schlug sich gerade der häufige Wechsel der verlangten Garnsorten für die Spinner in beträchtlichen Produktivitätseinbußen nieder. Friedrich Georg Wieck machte 1847 in der Deutschen Gewerbezeitung auf diesen Zusammenhang aufmerksam: Der Lohnspinner sei genötigt, diejenigen Garnsorten zu spinnen, die ihm der Garnhändler vorgebe. Oft müsse er vier oder fünf verschiedene Nummern auf einmal liefern und ständig die Einstellungen der Spinnmaschinen ändern. Es sei dem Spinner auch häufig nicht möglich, mit der erhaltenen Rohbaumwolle die gewünschte Garnqualität zu fertigen. Der Garnhänd224 Sächsische Industrie-Zeitung Nr. 32. 9.8.1861, S. 382. Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 8.10.1847, S. 602; Deutsche Gewerbezeitung 21, 1856, S. 2; sowie Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 56 f.; Zum 50jährigen Bestehen der Firma Gebr. Schüller, S. 6. 225 Vgl. Denkschrift Hauschild, S. 3 ff.
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ler halte ihm dann vor, die Engländer würden aus gleicher Wolle gutes Garn spinnen. Doch müssten die englischen Spinnereien auch nicht morgens 15er und abends 30er Garn produzieren. Solche Veränderungen kosteten Zeit und schadeten zudem den Maschinen.226 Ihr überwiegend kleinbetriebliches Profil und der hohe Stellenwert der Lohnspinnerei lassen erahnen, welche Probleme einer durchgreifenden Modernisierung der sächsischen Baumwollspinnerei im Vormärz im Weg standen. Die große Mehrheit der Spinnmühlenbesitzer war wohl weder willens noch in der Lage, die zahlreichen Neuerungen der Spinnereitechnologie nachzuvollziehen. Kapitalmangel als Industrialisierungsbremse? Wenn nun eine große Mehrheit der vormärzlichen Spinnfabrikanten offensichtlich überfordert schien, ihre Betriebe in ähnliche Weise auszurüsten wie ihre britischen und andere westeuropäischen Konkurrenten – kann man dann die Probleme der sächsischen Baumwollgarnindustrie nicht auch auf eine defizitäre Kapitalversorgung zurückführen? Damit kommt eine in der historischen Industrialisierungsforschung seit langem kontrovers diskutierte Frage ins Blickfeld, die Frage nämlich, inwieweit der Übergang zur Fabrikindustrie in Deutschland durch einen Mangel an Kapital und ein wenig entwickeltes Banken- und Finanzsystem behindert und verzögert worden ist. In der zeitgenössischen Debatte wurde in Sachsen über die Frage der Finanzierung industrieller Anlagen lebhaft gestritten. Aus den Textilrevieren wurden immer wieder Klagen laut über die allgemeine Kreditnot und über das Zurückbleiben gegenüber der britischen Konkurrenz, die über wesentlich reichere und günstigere Kapitalquellen verfügen könne.227 Zunächst schien die Gründung einer Staatsbank der erfolgversprechendste Weg. Alternativ wurde über eine Adaption des schottischen System diskutiert. Es sollte eine Reihe von privaten Banken konzessioniert werden, die mit der Ausgabe eigener Banknoten Kreditschöpfung betrieben. Den damit verbundenen Risiken hoffte man mit der Installation einer strengen staatlichen Aufsicht begegnen zu können. Nun wurde allerdings kaum etwas von diesen zahlreichen Vorschlägen und Anregungen zur Verbesserung der Kapitalversorgung realisiert. Einzig zur Gründung der Leipziger Bank 1838 gab die Dresdner Landesregierung ihre Zustimmung. Diese neue Bank verfügte über ein Aktienkapital von 1,5 Millionen Taler und besaß das Recht zur Ausgabe von Banknoten. Sie sollte, wie Bernhard Eisenstuck rückblickend vor der Generalversammlung des Industrievereins 1846 ausführte, „durch Verzweigung über das ganze Land den Industrien und Gewerben diejenigen Mittel darbieten, die man von solchen Anstalten in allen Ländern, wo gewerbliche Tätigkeit und Handel Hauptbasis des Wohlstands bieten, empfängt“.228 226 Deutsche Gewerbezeitung 8.10.1847, S. 602; vgl. Meerwein, Baumwollindustrie, S. 56. 227 Vgl. Kiesewetter, Paradigma, S. 11 f., 17; Boch, Vormärz, S. 361–370; Sammler, Wissenstransfer, S. 239–262; zusammenfassend zur allgemeinen Debatte: Hahn, Revolution, S. 71 f. 228 Zit. nach: Deutsche Gewerbezeitung 3.3.1847, S. 141. Vgl. Sammler, Wissenstransfer, S. 244 ff.; Bericht Commission Gewerbs- und Arbeitsverhältnisse 1848/49, S. 62 f.
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Der Leipziger Bank war von der Regierung die Auflage gemacht worden, in Chemnitz eine Zweigstelle zu eröffnen, um hier im Zentrum des sächsischen Industriegebiets ihre Wirksamkeit zu entfalten. Es folgte nun ein jahrelanges Tauziehen zwischen der Leitung der Bank in Leipzig und der Vertretung der Chemnitzer Kaufleute und Fabrikanten um die Ausgestaltung der geplanten Zweigbank. In Chemnitz dachte man an ein weitgehend eigenständiges und kapitalkräftiges Kreditinstitut, zugeschnitten auf Bedürfnisse der regionalen Wirtschaft. Die Leipziger Seite wollte dagegen den Ball offenbar möglichst flach halten. Man wollte, so mutmaßte Eisenstuck 1846, „lediglich einen Kommis hierher schicken, um Wechsel, die etwa vorkämen, zu diskontiren.“ Schließlich kam die Gründung der Chemnitzer Filiale der Leipziger Bank überhaupt nicht zustande. Es blieb der Eindruck, als habe die messestädtische Finanzelite diesen Plan bewusst hintertrieben.229 Der Konflikt um die Chemnitzer Bankzweigstelle verweist auf eine typische Konstellation des sächsischen Finanzsystems im 19. Jahrhundert. Das Großbürgertum der Handels- und Messestadt Leipzig hatte im Vormärz beträchtliche Kapitalvermögen akkumuliert, die aber aus der Sicht der Unternehmer aus Chemnitz und den anderen Zentren des frühindustriellen Wachstums in Sachsen nicht in der rechten Weise investiert wurden. Nun spielten die Leipziger Großkaufleute, Unternehmer und Bankiers bei der Aufbringung der Kapitalien im sächsischen Eisenbahnbau der 1830er und 40er Jahre eine wesentliche Rolle. Auch flossen Leipziger Kapitalien großzügig in die Erschließung des Zwickauer und des Lugau-Oelsnitzer Steinkohlenreviers. „Multipotente“ Unternehmer wie die Brüder Gustav und Carl Harkort, Albert Dufour-Feronce oder Wilhelm Seyfferth kombinierten das Handels- und Bankgeschäft mit der Gründung und dem Erwerb von Eisenbahngesellschaften, Kohlengruben, Hütten- und Eisenwerken oder Maschinenbauanstalten, die zu mehr oder minder funktionalen Konglomeraten zusammengefasst wurden. Auch in textilindustrielle Projekte, wie die Übernahme und den Ausbau der Kammgarnspinnerei Pfaffendorf bei Leipzig 1836, investierten diese „Geldleute“ gelegentlich.230 Insofern hatte die Leipziger Großkaufmannselite bedeutenden Anteil am Aufbau einer industriellen Infrastruktur in Sachsen. Sie verfügte auch wohl durchaus über das finanzielle Potenzial, im südwest- und südostsächsischen Gewerbegürtel selbst industrielle Produktionsanlagen größeren Stils hochzuziehen. Doch waren die Versuche in diese Richtung offensichtlich alles andere als ermutigend. Das Scheitern der Auer Maschinenweberei ist schon im vorigen Abschnitt behandelt worden. Die Übernahme der Maschinenbaufabrik von C. G. Haubold durch eine Aktiengesellschaft 1836 endete ebenfalls in einem Fiasko. Auch in diesem Fall hatten Leipziger Investoren den Löwenanteil des Kapitals eingebracht. Als sie aber versuchten, den Schwerpunkt des Unternehmens von Chemnitz an neue Standorten entlang der neu eröffneten Leipzig-Dresdner Eisenbahn zu verlagern, sperrten sich die Chemnitzer Teilhaber vehement dagegen. Die sich gegenseitig blockierenden 229 Zitat: Deutsche Gewerbezeitung 3.3.1847, S. 141; vgl. Boch, Vormärz, S. 361 f.; Karlsch/Schäfer, Wirtschaftsgeschichte, S. 50 f. 230 Vgl. Zwahr, Klassenkonstituierung, S. 107–112; ders., Entstehung, S. 26 f.
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Leipziger und Chemnitzer Aktionäre brachten es schließlich fertig, das führende Unternehmen des sächsischen Maschinenbaus in den Konkurs zu treiben.231 Letztlich lässt sich die mangelnde Bereitschaft potenzieller Investoren, ihr Geld in Baumwollspinnereien oder Maschinenwebereien im sächsischen Textilgürtel anzulegen, auf ganz basale Ursachen zurückführen: Ein hohes Verlustrisiko paarte sich hier mit Gewinnerwartungen, die im allgemeinen kaum über den Renditen „mündelsicherer“ Staatspapiere lagen.232 Hier beißt sich die Katze gewissermaßen in den Schwanz: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen machten einerseits Investitionen in eine durchgreifende Modernisierung der sächsischen Baumwollspinnerei wenig attraktiv und fügten damit andererseits dem vormärzlichen Industriestandort Sachsen ein weiteres Handicap hinzu. Dass aber Kapital für textilindustrielle Anlagen unter günstigeren Voraussetzungen in Sachsen durchaus verfügbar war, demonstriert auf eindrucksvolle Weise der Gründungsboom der Baumwollmaschinenspinnerei um 1810. Die Kombination von staatlicher Subventionierung, Mobilisierung eigener und fremder Kapitalien und Inanspruchnahme von Lieferantenkrediten reichte aus, um innerhalb von drei, vier Jahren die sächsische Baumwollgarnindustrie geradezu aus dem Boden zu stampfen. Krise und Kritik: Die sächsische Baumwollspinnerei nach 1834 Die Frühgeschichte der sächsischen Maschinenspinnerei verweist darauf, dass es eine nahe liegende wirtschaftspolitische Option gab, um die Position der sächsischen Baumwollspinner zumindest auf dem eigenen regionalen Binnenmarkt gegenüber der übermächtigen britischen Konkurrenz zu stärken, ihnen ein Vordringen in das Marktsegment der feineren Garnsorten zu erleichtern und sie nachhaltiger vor den Folgen der zyklischen Überproduktionskrisen zu schützen. Tatsächlich war der Ruf nach Einfuhrzöllen für ausländisches Maschinengarn fast so alt wie die sächsische Spinnereiindustrie selbst. Schon 1813 hatten die Chemnitzer Spinnmühlenbesitzer die Dresdner Regierung zu diesem Schritt gedrängt. Als Kreishauptmann Fischer zwölf Jahre später seinen Vorgesetzten über die gedrückte Lage der südwestsächsischen Spinnereien und die „Ueberhäufung aller Stapelorte mit Englischen Garnen“ berichtete, hatte sich an der Haltung der Baumwollspinner nichts geändert. Sie hatten den Chef der staatlichen Bezirksbehörde wissen lassen, ihrer Meinung nach könnte „diesem Uebelstande nur durch höhere Auflagen auf den Import jenes ausländischen Fabricats“ abgeholfen werden. Und als Ernst Iselin und Peter Otto Clauß der Kommerziendeputation 1827 die Möglichkeiten einer technischen Vervollkommung der sächsischen Baumwollspinnerei erläuterten, erklärten sie rundheraus: Man sei sich in Chemnitz der technologischen Rückständigkeit gegenüber den Engländern sehr wohl seit langem bewusst, nur halte man sich, „bey der unbeschränkten sächsischen Handelsfreyheit, zurück von dem theueren Versu231 Vgl. Gebauer, Volkswirtschaft Band 2, S. 157 f.; AZNI Nr. 10, 2.3.1844, S. 53 f.; ebd. Nr. 13, 13.2.1844, S. 70 f.; sowie Schäfer, Handelsmetropole, S. 194–197. 232 Vgl. Kiesewetter, Paradigma, S. 11.
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che, ein Assortiment der neuesten englischen … Spinmaschinen, hier einzuführen.“ Ohne einen effektiven Schutz vor den Dumping-Praktiken der englischen Konkurrenz fehlte den sächsischen Garnproduzenten nach Ansicht der Clauß-Brüder jeder Anreiz, ihre Anlagen zu modernisieren.233 Die sächsische Landesregierung ließ sich allerdings nicht zu einer Implementierung von Schutzzöllen zur Unterbindung der Einfuhr ausländischer Baumwollgarne bewegen. Die eloquentesten und wirtschaftspolitisch einflussreichsten Widersacher der südwestsächsischen Spinnerei-Unternehmer formierten sich in der Messestadt Leipzig. Seit den 1790er Jahren gehörte die Einfuhr britischer Maschinengarne nach Sachsen zu den einträglichsten Geschäftsfeldern zahlreicher Leipziger Handelshäuser. Nach 1815 wurde die Route des Garnimports über Hamburg und Leipzig schnell reaktiviert und ausgebaut. In Manchester ging der Exporthandel nach Mitteleuropa dabei zunehmend in die Hände deutscher Kaufleute über, die der englischen Baumwollmetropole zwischenzeitlich den Ruf einbrachte, the last and greatest of the Hanseatic towns, die letzte und größte der Hansestädte zu sein.234 Doch dürfte die „freihändlerische“ Haltung der Staatsregierung nicht allein auf den wirtschaftspolitischen Einfluss der Leipziger „Handelsbourgeoisie“ zurückzuführen sein. Widerstand gegen Garnzölle kam auch aus den sächsischen Textilrevieren selbst. Kreishauptmann von Fischer berichtete 1827 nach Dresden, es sei ihm notwendig erschienen, „auch die Meynung derjenigen Kaufleute und Fabrikanten zu vernehmen, welche nicht in Besitz einer Baumwollspinnerey sich befinden und dahero in Ermangelung eigenen Fabricats fremde Garne verarbeiten lassen“. Da ein Teil des benötigten Gespinstes nicht im Lande hergestellt werden könne, so fasste Fischer die Position der Chemnitzer Baumwollenwarenhändler und -verleger zusammen, sei die Einfuhr englischen Garns unbedingt notwendig. Importzölle würde daher einem großen Teil der Fabrikanten zum Nachteil gereichen.235 Ähnliche Stellungnahmen kamen auch aus anderen sächsischen Baumwollmanufakturrevieren. So teilte schon 1817 der Plauener Musselinverleger Johann Christian Kanz der dortigen Kreishauptmannschaft mit: „Sollte die künftige Zeit es nothwendig machen, … die engl. Waaren, wie in Preußen, mit einem starken Zolle zu belegen, so würde ich sehr widerrathen dieses auch auf engl. Garne auszudehnen“.236 Die exportorientierten Web- und Wirkwarengewerbe befürchteten, prohibitive Garnzölle würden zu einer massiven Verteuerung ihrer Materialkosten führen. Dies würde es ihnen noch schwerer machen, mit den britischen und Schweizer Baumwollwarenherstellern auf den Auslandsmärkten und der Leipziger Messe in Konkurrenz zu treten. 233 Zitate: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1528 (Loc. 11170/XIII. 2287), Bl. 34 f.: Bericht v. Fischer, 17.11.1825; ebd. Nr. 1444 (Loc. 11155/XIII. 2071), Bl. 106 f.: P. O. & E. I. Clauß an Kommerziendeputation, 24.8.1827. 234 So Farnie, Industry, S. 89. Vgl. Thieriot, Einfluss, S. 22 f.; Williams, Policy, S. 203 f.; Zwahr, Klassenkonstituierung, S. 111 f.; Mittheilungen Industrieverein 1839, S. 28. 235 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1473 (Loc. 11171/XIII. 2311), Bl. 80 f.: Bericht v. Fischer, 23.10.1827. 236 Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 287, Bl. 17: J. C. Kanz an Kreishauptmannschaft Plauen, 5.12.1817.
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An dieser Konstellation änderte auch die Gründung des Deutschen Zollvereins 1834 zunächst wenig. Die sächsischen Spinnereibesitzer waren schon während der Beitrittsverhandlungen mit einer Eingabe bei ihrer Landesregierung vorstellig geworden, in der sie höhere Eingangszölle für ausländisches Baumwollgarn einforderten. Wegen der kontroversen Haltung seiner Mitgliedschaft musste sich der Industrieverein für das Königreich Sachsen damit begnügen, in seinem von der Regierung angeforderten Gutachten, die Argumente pro und contra einander gegenüber zu stellen.237 In der Sache blieb die Intervention der Spinnereifabrikanten erfolglos. Die Zollvereinstarife orientierten sich an den Prinzipien des preußischen Zollgesetzes von 1818: Um die verarbeitenden Gewerbe und Industrien im Inland nicht ungebührlich zu belasten, konnten die meisten ausländischen Rohstoffe abgabenfrei eingeführt werden und auf Halbwaren wie Garne wurde nur ein sehr mäßiger Zoll erhoben. Zudem wurden die eingeführten Waren der Einfachheit halber nicht nach ihrem Wert, sondern nach ihrem Gewicht verzollt. Für Baumwollgarn galt ein Einheitszoll von zwei – seit 1846 von drei – Talern pro Zentner, ohne Rücksicht auf Qualitäten und Sorten. Im Effekt zementierte diese Regelung die bisherige Konzentration der sächsischen Spinnerei auf die geringwertigen Garnqualitäten. Wurden 100 Pfund Baumwollgarn pauschal mit zwei oder drei Talern verzollt, so machte dies bei den billigen groben Sorten, die nur 20 Taler kosteten, immerhin 10 bis 15 Prozent vom Wert aus. Ein Zentner feinen Garns Nr. 150 war aber am Ende der 1840er Jahre gut 180 Taler wert und wurde folglich nur mit 1,67 Prozent belastet. Eine solche marginale Abgabe machte selbst nach der Zollerhöhung von 1846 kaum einen Unterschied.238 Auch ohne den Schutz prohibitiver Zölle nahm die sächsische Baumwollspinnerei in den 1830er Jahren zunächst einen bemerkenswerten Aufschwung. Innerhalb von sieben Jahren, zwischen 1830 und 1837 vermehrte sich die Zahl der Spinnfabriken im Königreich Sachsen von 84 auf 130. Ihre Gesamtspindelzahl wuchs von 361.202 auf 490.325.239 Dieses Wachstum wurde aber wohl weniger, wie häufig in der Literatur zu lesen240, von der Gründung des Zollvereins angetrieben. Ein offensichtlicherer Impuls für die Ausweitung der Spinnereikapazitäten ging vielmehr vom Exportboom der erzgebirgischen Strumpfwarenmanufaktur aus. Für die Masse an Strümpfen Made in Saxony, die in den 1830er Jahren ihren Weg auf die nordamerikanischen Märkte fanden, wurden vor allem Garne niederer, bestenfalls mittlerer Nummern verwendet, die zu den Spezialitäten der Spinnereien des Chemnitzer Reviers gehörten. Dieser Bedarf war offenkundig so groß, dass selbst der Industrieverein Anfang 1838 davon abriet, staatliche Prämien zur Erzeugung von Baumwollgarnen höherer Qualität aus zu loben. Solange die Spinnereien den vollen Bedarf an Garn niedriger Nummern nicht befriedigen könnten, sei die Erzeugung höherer Nummern nicht lukrativ.241 237 238 239 240 241
Vgl. Mittheilungen Industrieverein 1832, S. 93; ebd. 1834, S. 16. Diese Rechnung findet sich in: Bericht über die Berathungen …, S. 153. Vgl. ebd. S. 153 f. Zahlen nach: Kiesewetter. Industrialisierung, S. 358. Siehe auch Tabelle 5 im Anhang. Vgl. etwa ebd. S. 357. Mittheilungen Industrieverein 1838, S. 10.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
Es waren es denn auch die Entwicklungen in Nordamerika, die die erzgebirgische Baumwollspinnerei seit dem Ende der 1830er Jahre in ihre bislang schärfste Krise stürzten. Der US-Finanzkrach von 1837 beendete nicht allein den sagenhaften Aufschwung der sächsischen Strumpfwirkerei, sondern trug auch wesentlich zum Zusammenbruch der Konjunktur in der britischen Baumwollindustrie bei. Nun strömten große Mengen überschüssiger britischer Garne auch in den niedrigen Feinheitsgraden auf die nur mäßig geschützten Zollvereinsmärkte. Der plötzliche Nachfrageeinbruch in der Wirkwarenbranche und der massive Verfall der Garnpreise bereiteten dem neu gewonnenen Optimismus in der sächsischen Baumwollspinnerei ein abruptes Ende. Eine ganze Reihe von Spinnmühlen stellte den Betrieb ein, unter ihnen auch die größte Spinnerei des Vogtlandes in Mylau, die einige Jahre zuvor noch mit einer Dampfmaschine ausgerüstet worden war.242 Mit dem Wiederaufschwung der britischen Baumwollweberei seit 1842 nahm der Druck auf die Garnpreise in Hamburg und Leipzig wieder ab. Aber noch im September 1845 wurden in Sachsen erst wieder 116 Spinnereien mit insgesamt rund 475.000 Spindeln gezählt, 14 Betriebe und 15.000 Spindeln weniger als 1837. In den folgenden Jahren, als sich auch die erzgebirgische Strumpfwirkerei wieder erholte, vermehrten sich aber die Spinnereikapazitäten rasch. Schon 1848 lagen sie deutlich über dem Höchststand der 30er Jahre. In Sachsen gab es nun 136 Baumwollspinnereien mit 541.848 Feinspindeln.243 Die Krise der späten 1830er und frühen 40er Jahren gab der Schutzzollkampagne der sächsischen Baumwollspinner neuen Auftrieb. 1839 wurden 29 Spinnereibesitzer beim Ministerium des Innern mit dem Vorschlag vorstellig, die sächsische Regierung möge sich bei der nächsten Zollvereinskonferenz für eine spürbare Erhöhung der Garnzölle einsetzen. Um solchen Forderungen in Dresden Nachdruck zu verleihen, war es für die Spinner von erheblicher Bedeutung, die Garnverbraucher in den sächsischen Textilrevieren selbst für ihre Sache zu gewinnen. Dieses Unterfangen war aber nach dem Beitritt Sachsens zum Zollverein schwieriger geworden. Die Webwarenhersteller waren seit 1834 im Vereinsgebiet vergleichsweise effektiv vor britischer oder schweizerischer Konkurrenz geschützt, besaßen daher im allgemeinen wenig Anlass, nach höheren Zöllen zu verlangen. Auf der anderen Seite würde aber eine substantielle Erhöhung der Garnzölle auf ihre Gestehungskosten zurückwirken und damit ihre Wettbewerbsposition zumindest im außerdeutschen Export beeinträchtigen. Als das Innenministerium 1839 Erkundigungen über die Haltung der Baumwollwarenverleger zur Petition der Spinnereibesitzer einziehen ließ, vermeldete die Kreisdirektion Zwickau: „Die Gegner der beantragten Erhöhung, zu denen insbesonderheit alle von mir im Voigtlande gesprochenen Baumwollenfabricanten gehören, behaupten, daß daraus viel Vortheil für die vaterländi242 Nach dem Bericht der Commission für Erörterung der Gewerbs- und Arbeitsverhältnisse in Sachsen 1848/49, S. 155, gingen in Sachsen zwischen 1837 und 1843 41 Spinnereien mit 380.000 Spindeln ein. Diese Zahlen erscheinen allerdings zu hoch gegriffen. 243 Vgl. Meerwein, Baumwollindustrie, S. 53–58; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1845, S. 10 f.; Farnie, Industry, S. 84; Brückner 1789–1939, S. 10; Deutsche Gewerbezeitung 12.6.1849, S. 281 f. Siehe Tabelle 5 im Anhang.
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schen Spinnereien nicht entstehen werde.“ Eine Preiserhöhung der englischen Garne würde nämlich nur die Fabrikation von Baumwollwaren verteuern, nicht aber den Verbrauch des inländischen Gespinstes steigern, „da man es zu Waaren, für die es sich einmal nicht eigne, doch nicht verarbeiten“ könne.244 Gerade die vogtländischen Verleger, die oft feine und leichte Gewebe fertigen ließen, waren auf die ungehinderte Zufuhr von Baumwollgarnen der höheren Feinheitsgrade angewiesen. Ein Schutzzoll für diese Garne, so fürchteten sie, würde ihre sowieso schon prekäre Wettbewerbsposition auf den europäischen und levantinischen Märkten vollends untergraben. Im Chemnitzer Revier fanden die zollpolitischen Vorstöße der Spinnereibesitzer unter den Vertretern der Garn verarbeitenden Branchen offenkundig ein etwas größeres Entgegenkommen. Die Strumpfwarenverleger G. C. Hübner und Gustav Adolf May, die Weberei-Unternehmer Eduard Lohse und C. G. Hösel sowie der Kattundrucker Peter Otto Clauß, mit denen die Beamten der Kreisdirektion wegen der Eingabe der Spinnereien 1839 konferierten, gaben zu Protokoll, „daß eine Zollerhöhung, wenn sie nur nicht über zwei Thaler auf den Centner Garnes betrage, auf den Exporthandel einen nachtheiligen Einfluß nicht äußern dürfte.“245 Hier mochte der Industrieverein als Forum der Diskussion und der Konsensfindung dazu beigetragen haben, dass Garnerzeuger und Garnverbraucher sich auf eine gemeinsame Position verständigen konnten. Auch lässt sich zumindest bei Clauß als Bruder und früheren Kompagnon des Garnfabrikanten Ernst Iselin Clauß eine gewisse interessengeleitete Nähe zur Spinnerei vermuten. Allerdings waren die vorgeschlagenen zwei Taler pro Zentner eine recht mäßige Steigerung des Einfuhrtarifs, der bei den feineren Garnsorten wohl wertmäßig wenig ins Gewicht gefallen wäre. Zudem äußerten auch die Vertreter der Chemnitzer Baumwollwarenmanufaktur Vorbehalte gegenüber Garn-Schutzzöllen, die sich im Grundsatz wenig von den zentralen Argumenten der Leipziger „Freihändler“ unterschieden: „Auch ward angeführt, wie ein zu hoher Schutzzoll leicht wieder nachtheilig auf die Spinnereien selbst zurückwirken, ihre, mindestens in diesem Augenblicke nicht rathsame Vermehrung hervorrufen und die Spinner im Gefühle der Sicherheit ihres Gewerbezweigs, am Ende abhalten werde, mit pecuniären Opfern ihre Maschinen und mit ihnen ihr Fabricat zu vervollkommnen.“246
Noch weniger entgegenkommend äußerten sich andere von der Kreisdirektion befragte Webwarenhersteller des Chemnitzer Reviers. Der Hohensteiner Unternehmer Rahlenbeck wollte allenfalls einen Taler mehr pro Zentner konzedieren; andere erklärten sich gegen jede Garnzollerhöhung.247 Um die verarbeitenden Gewerbe mit ins Boot zu holen, schlugen die Spinnereibesitzer in ihrer Eingabe vor, der Fiskus solle künftig bei der Ausfuhr von Baumwollwaren, in denen Importgarn verwendet wurde, die darauf gezahlten Zölle er244 Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau: Nr. 1656, Bl. 265bb-cc: Bericht Kreisdirektion Zwickau, 1.7.1839. Vgl. Mittheilungen Industrieverein, Anlage zu Lieferung 1, 1839, S. 2 f. 245 Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau: Nr. 1656, Bl. 265ll: Bericht Kreisdirektion Zwickau, 1.7.1839. 246 Ebd. Bl. 265ll. 247 Vgl. ebd. Bl. 265nn.
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statten. Damit wollten sie den Einwand entkräften, eine Verteuerung der feinen Baumwollgarne würde die Wettbewerbsfähigkeit sächsischer Textilien beeinträchtigen. Wenn man allerdings den Garnverbrauchern bei der Verwendung ausländischen Gespinsts eine Rückerstattung des Zolls versprach, hätte dies einen Großteil des Effekts unterlaufen, den sich die sächsischen Spinner von einer substanziellen Einfuhrabgabe erhofften. Ein Wettbewerbsvorteil gegenüber der britischen Konkurrenz hätte sich dann allein beim Absatz an die für den Binnenmarkt produzierende Weberei ergeben. Möglicherweise spekulierten die Spinnereibesitzer darauf, dass bei der Rückerstattung der Zölle ein Herkunftsnachweis des verwendeten Garns kaum möglich sein würde. Die „Rückzölle“ wären dann zu einer allgemeinen Exportprämie geworden und die Zollerhöhungen hätten das Importgarn voll getroffen.248 Das Innenministerium belehrte denn auch die Spinnereibesitzer über die praktische Undurchführbarkeit einer solchen Maßnahme, da „der Ursprung des verwendeten Materials in der fertigen Waare nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden kann, denn, daß eine Vergütung auf sämmtliche ausgehende vereinsländische Baumwollenwaaren auch ohne solchen Nachweis zu bewilligen sei, kann schon um deswillen nicht in Frage kommen, weil eine solche Vergütung sodann kein Stückzoll, sondern eine, mit den verfassungsmäßigen Grundsätzen des Zollsystems unvereinbare Prämie seyn würde.“.249
Dennoch unterbreitete der Vertreter Sachsens der nächsten Zollvereinskonferenz den Plan, die Garnzölle von zwei auf vier Taler anzuheben und diesen Betrag beim Export damit gefertigter Waren zurück zu erstatten. Es fand sich jedoch keine Mehrheit für diesen Vorschlag.250 Im Laufe der 1840er Jahre verschärfte sich die Debatte um die Höhe der Garnzölle und wurde zunehmend ideologisch aufgeladen. Der Industrieverein für das Königreich Sachsen ergriff nachdrücklicher als zuvor Partei für die Belange der Baumwollspinner. Er büßte dadurch seinen Rang als staatlich subventioniertes halboffizielles Konsultationsorgan ein und trat nach 1845 kaum noch in Erscheinung. Zum publizistischen Sprachrohr der Chemnitzer „Schutzzöllner“ wurde das halbwöchentlich erscheinende Gewerbeblatt für Sachsen, das seit Ende 1844 als Deutsche Gewerbezeitung firmierte. In handelspolitischen Fragen kamen hier seit etwa 1840 fast nur noch die Schutzzoll-Befürworter zu Wort, was die Zeitung zwangsläufig in Gegensatz zur sächsischen Landesregierung brachte. Sie erhielt fortan nicht mehr die offiziellen Berichte der sächsischen Handelskonsuln. Die Redaktion des Gewerbeblatts hatte 1838 Friedrich Georg Wieck, der sich zuvor auch als Konstrukteur und Unternehmer betätigt hatte, übernommen. Bis zu seinem Tod Anfang 1860 blieb er, abgesehen von einem Intermezzo 1842 mit einem eigenen Sächsischen Gewerbeblatt, Redakteur dieser Zeitung.251 248 Vgl. ebd. Bl. 265nn-uu; Jacobs, Textilzölle, S. 18 f.; Best, Interessenpolitik, S. 74 f.; Sammler, Wissenstransfer, S. 284. Zu ähnlichen Debatten im Rheinland vgl. Boch, Wachstum, S. 155. 249 Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau: Nr. 1656, Bl. 265c-d: Ministerium des Innern an Kreisdirektion Zwickau, 6.6.1839. 250 Vgl. Jacobs, Textilzölle, S. 18 f. 251 Vgl. Best, Interessenpolitik, S. 87 f.; Boch, Vormärz, S. 357 f.; Deutsche Gewerbezeitung 3.4.1846, S. 157; ebd. 25, 1860, S. 57 ff. (Nachruf Wieck); Sächsisches Gewerbeblatt 5.1.1842, S. 2.
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Noch 1835 hatte Wieck auf der Generalversammlung des Industrievereins zu Protokoll gegeben, er sei „der individuellen Ansicht, daß hohe Zölle nie den Wohlstand eines Landes befördern könnten, und überzeugt, daß die sächsische Industrie nimmer Schutzzölle nöthig habe, ja man selbst darauf verzichten könne, wenn auch andere Staaten unsere Artikel prohibirten.“252 In den folgenden Jahren entwickelte Wieck zunehmend protektionistische Vorstellungen, was möglicherweise auch mit dem Scheitern der eigenen unternehmerischen Projekte zu tun hatte. Seine Anfang der 1830er Jahre gegründete „Bobinet“-Fabrik konnte sich nicht lange gegen die technologisch avancierte britische Konkurrenz auf dem Markt für maschinell fabrizierten Spitzengrund behaupten. Zudem hatte Wieck mit seinem Bruder 1836 eine große Spinnerei in Oberlungwitz übernommen und sie durch Aufstellung einer Dampfmaschine modernisiert. Schon drei Jahre später musste er den Spinnereibetrieb einstellen.253 Unter Wiecks Leitung vertrat das Gewerbeblatt ein dezidiert schutzzöllnerisches Programm mit weitreichenden wirtschaftspolitischen Konzeptionen, wie sie etwa schon Friedrich List in den Jahrzehnten zuvor vertreten hatte: Die Baumwollspinnerei und andere industriell entwicklungsfähige Wirtschaftssektoren sollten auf dem deutschen Binnenmarkt durch „Erziehungszölle“ vor erdrückender ausländischer Konkurrenz geschützt werden, um auf diese Weise ihren technologischen und betriebsorganisatorischen Rückstand aufholen zu können. Ein effektiver Schutz des Binnenmarktes vor der Überschwemmung mit britischen Garnen würde auch die sächsische Baumwollspinnerei so profitabel werden lassen, dass sie einen starken Anreiz für die Investition von Kapital in moderne Produktionsanlagen bieten würde. Nur so schien eine leistungsfähige Spinnereiindustrie in Sachsen entstehen zu können, die in der Lage war, die eigene Region auch mit den begehrten feineren Garnsorten zu versorgen. Längerfristig würden daher auch die Garn verarbeitenden Industrien und Gewerbe von höheren Garnzöllen profitieren.254 Mit dem Einsetzen der langwierigen Krisenerscheinungen in der Baumwollspinnerei und der Strumpfwirkerei in den späten 1830er Jahren gewannen die wirtschaftspolitischen Argumente und Vorstellungen der Chemnitzer Garnfabrikanten offenbar auch außerhalb ihres engeren Interessentenkreises an Zustimmung und Plausibilität. War es nicht langfristig auch für die Fertigwarenproduzenten klüger, ihre Absatzstrategien auf den nach außen abgesicherten Binnenmarkt des Zollvereins auszurichten – anstatt sich für kurzfristige Konjunkturgewinne auf Gedeih und Verderb den globalen Märkten mit ihren notorischen Überproduktionskrisen, Spekulationsblasen und wilden Fluktuationen auszusetzen? Hatte nicht das Schicksal der sächsischen Strumpfwirkerei die enormen Risiken einer einseitigen Exportabhängigkeit gezeigt? Doch gelang es den Chemnitzer Schutzzöllnern kaum, Einfluss auf die handelspolitische Linie der sächsischen Regierung zu nehmen. Als die Regierung 1845 Vertreter von Handel, Industrie und Gewerbe zu ei252 Mittheilungen Industrieverein 1835, S. 82 f. 253 Vgl. Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 43 f.; Hommel, Chronik, S. 91 f. 254 Vgl. ausführlich zur handelspolitischen Debatte im vormärzlichen Sachsen: Sammler, Wissenstransfer, S. 263–291; sowie ders., Freihandel; Boch, Vormärz, S. 360 ff.
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ner Konferenz nach Dresden einlud, gaben in der Frage des Garnzolles die Leipziger Importeure und die Manufakturverleger dort den Ton an. Die sächsische Regierung folgte im allgemeinem dem preußischen Kurs, an den mäßigen Gewichtszöllen auf Baumwollgarn festzuhalten. Damit liefen die Vorstöße der süddeutschen Zollvereinsmitglieder, die Garnzölle kräftig herauf zu setzen, regelmäßig ins Leere. Erst 1846 einigte man sich auf eine Erhöhung des Einfuhrtarifs für Baumwollgarn von zwei auf drei Taler. Diese Maßnahme verbesserte zwar den Schutz des groben Garne vor ausländischer Konkurrenz. Doch die Belastung der aus Großbritannien in großen Mengen eingeführten feineren Garnqualitäten, auf deren Substitution durch heimisches Gespinst die sächsischen Spinner gehofft hatten, blieb marginal.255 Erst im Revolutionsjahr 1848/49 bekamen die Schutzzollbefürworter (vorübergehend) Oberwasser. Als im Frühjahr 1848 eine Kommission zur Untersuchung der Gewerbeverhältnisse in Sachsen einberufen wurde, waren die Protektionisten dort offenbar weitgehend unter sich. Im Ausschuss, der sich mit handelspolitischen Fragen zu befassen hatte, fanden freihändlerische Ansichten gar kein Gehör mehr. Der offizielle Bericht über die Verhandlungen in diesem Ausschuss liest sich wie das Protokoll einer Tagung der Chemnitzer Baumwollspinner. Die Erörterung der Folgen eines erhöhten Einfuhrzolles für die Garn verbrauchenden Gewerbe endete mit dem lapidaren Fazit: „Die Erzeugung des Garns im eigenen Lande ist daher die erste Grundbedingung einer gesunden Weberei …“ Gleichzeitig überschüttete die sächsische Schutzzollbewegung die Nationalversammlung in Frankfurt am Main mit einer Flut von Petitionen für protektionistische Maßnahmen.256 In der Öffentlichkeit kam die dezidierteste Gegenposition aus den Reihen der Leipziger „Handelsbourgeoisie“ und der ihr nahestehenden, in der Messestadt erscheinenden Deutschen Allgemeinen Zeitung. Die Schutzzollgegner mutmaßten, höhere Einfuhrabgaben würden diesen Industriezweig „anstatt zu heben, nur noch mehr in seinem falschen Systeme bestärken“.257 Mehr Zollschutz würde weniger zur „Erziehung“ der Spinner beitragen als ihre Trägheit vergrößern. Je sicherer sie der „Rente“ eines zollgestützten Garnpreises sein könnten, desto weniger Antrieb würden sie verspüren, in die Verbesserung der Anlagen zu investieren. Ihre freihändlerischen Kontrahenten hielten den Chemnitzer Spinnereibesitzern regelmäßig das Beispiel der Schweiz vor. Dort war nach 1815 trotz aller Widrigkeiten eine konkurrenzfähige, modern ausgerüstete Feinspinnerei entstanden, die tatsächlich in der Lage war, die Garnversorgung der inländischen Weberei abzudecken, und zwar ohne irgendeinen Zollschutz. Die Commission zur Erörterung der Gewerbs- und Arbeiterverhältnisse sah sich 1849 sogar zur Erstellung eines eigenen Gutachtens
255 Vgl. Hahn, Geschichte, S. 118 ff.; Jacobs, Textilzölle, S. 18 ff.; Meerwein, Baumwollindustrie, S. 61 f.; Boch, Vormärz, S. 361 f.; ders., Wachstum, S. 154 ff.; Flik, Textilindustrie, S. 210 ff. 256 Zitat: Bericht über die Berathungen …, S. 154. Eine Liste der Kommissionsmitglieder findet sich in: Mittheilungen Gewerbs- und Arbeitsverhältnisse Nr. 2, 15.8.1848, S. 45 f. Vgl. Horster, Gewerbeverfassung, S. 89 ff.; Best, Differenzierung, S. 254–258. 257 So ein Leserbrief „mehrerer Fabrikanten“ in: Gewerbeblatt 12.9.1839, S. 293.
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über die gewerblichen Verhältnisse der Schweiz veranlasst, um dieser Lesart entgegen zu treten.258 Den Spinnereibesitzern gelang es allenfalls partiell, die Garnverbraucher der südwest- und südostsächsischen Textilreviere mit der Aussicht auf Rückvergütungen und Ausfuhrprämien auf höhere Einfuhrzölle einzuschwören. In Chemnitz selbst traten in schöner Regelmäßigkeit die Weber- und Strumpfwirkerinnungen gegen Garnzollerhöhungen auf.259 Selbst aus der Oberlausitz, wo vor allem einfachere Baumwollgewebe, die gemeinhin durch hohe Zölle auf dem deutschen Binnenmarkt vor ausländischer Konkurrenz geschützt waren, kamen überwiegend kritische Stimmen, wenn Zollerhöhungen für Garne zur Debatte standen. So sandte die Zittauer Grossokaufmanns-Societät im Vorfeld der Zollvereinskonferenz von 1846 eine Petition an das sächsischer Finanzministerium, „um einer Erhöhung des Zolles auf Leinen- und Baumwoll-Garne vorzubeugen“. Nachdem die Konferenz tatsächlich die Zollsätze angehoben hatte, legte die Societät in einem Schreiben an die Landesregierung die Nachteile dar, „welche der hiesigen Fabrikation durch Erhöhung des Zolles“ entstanden seien.260 In seinem Rückblick auf die Leipziger Industrieausstellung von 1850 zog Friedrich Georg Wieck ein ernüchterndes Fazit zu den Anstrengungen der sächsischen Baumwollspinner, den Briten die gewinnträchtigeren Segmente des heimischen Garnmarktes streitig zu machen. Deutschlands Spinnerei (die noch zu fast zwei Dritteln im Königreich Sachsen ansässig war) decke nur zu einem kleinen Teil das Bedürfnis der Garn verarbeitenden Gewerbe. Vornehmlich die niederen Nummern würden von deutschen Spinnereien geliefert.261 Es ist nun natürlich recht müßig, darüber zu spekulieren, ob es mit „Erziehungszöllen“ gelungen wäre, die sächsische Baumwollspinnerei in die Lage zu versetzen, die regionale Weberei und Wirkerei mit feineren Garnqualitäten ebenso preiswert zu versorgen wie ihre Konkurrenten aus Lancashire und Lanarkshire. Die oben angeführten vielfältigen Handicaps und Standortnachteile der sächsischen Spinnerei des Vormärz lassen aber vermuten, dass Garnschutzzölle vor allem die globale Wettbewerbsfähigkeit der sächsischen Baumwoll- und Mischgewebemanufaktur beeinträchtigt hätten. Es scheint daher gute Gründe für die Wirtschaftsakteure in den sächsischen Textilexportgewerben gegeben zu haben, lieber weiterhin mit britischen und schweizerischen Importgarnen zu leben als auf die mit vielen Unwägbarkeiten versehenen Pläne der Schutzzöllner zu setzen. In Großbritannien wurde in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts im Übrigen eine ähnliche Debatte geführt wie in Sachsen und im Rheinland – nur mit diametral umgekehrten Vorzeichen. Eigentlich hätte man ja annehmen können, dass 258 Vgl. Bericht über die Berathungen …, S. 164 f.: „Bericht der siebenten Abtheilung über Zölle, Handelsverträge und Handelsconsulate“, 18.4.1849; sowie Sammler, Wissenstransfer, S. 284; zum Schweizer Fall: Dudzik, Innovation, S. 228–239; Buchheim, Revolution, S. 94. 259 Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 25.7.1845, S. 34; ebd. 13.4.1847, S. 179. 260 Stadtarchiv Zittau Abteilung IV: Gewerbepolizei Ic, Abs. 2 K 3, Nr. 6, Bd. 2. o. Bl.: Protokolle Grosso-Kaufmann-Societät 27.5.1846, 30.8.1847. Vgl. auch Freude, Zustände, S. 9. 261 Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 323.
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der massenhafte Export von Garn auf den Kontinent jedem aufrechten britischen Patrioten Anlass zum Frohlocken bot. Doch hier wurde der wirtschaftsnationalistische Diskurs offenbar von den Vertretern der Garn verarbeitenden Industrien und Gewerben geprägt: Trug nicht die reichliche und kostengünstige Versorgung der sächsischen und anderer kontinentaleuropäischer Baumwollwarenhersteller mit hochwertigen Garnen aus Manchester und Glasgow dazu bei, der britischen Weberei und Wirkerei gefährliche Konkurrenten heran zu züchten? Wurden hier nicht die Früchte der technologischen Errungenschaften Großbritanniens preisgegeben – mit dem Effekt, dass Billiglohnprodukte aus Sachsen die englischen und schottischen Textilwaren von den Märkten fegen konnten? Ausfuhrzölle für britisches Baumwollgarn schienen diesen Kritikern ein probates Mittel, um solchen Missständen einen Riegel vorzuschieben. Die britischen Baumwollwarenfabrikanten und die sächsischen Spinner einte eigentümlicherweise in dieser Beziehung das gleiche Ziel: die Austrocknung der Garnhandelsroute Manchester-Hamburg-Leipzig.262 Die Argumente der britischen Exportzoll-Befürworter enthielten wohl zumindest ein Körnchen Wahrheit. Denn in gewisser Weise kam der ungehinderte Zustrom dieses Halbproduktes der längerfristigen Entwicklung der sächsischen Textilgewerbereviere zur Industrieregion zugute. Die britischen Baumwollspinnereien sicherten in den Jahrzehnten nach 1815 die Versorgung der sächsischen Textilgewerbereviere mit hochwertigen und billigen Halbwaren, die zu keinem Zeitpunkt in Sachsen selbst in vergleichbarer Qualität und zu ähnlichen Preisen hätten hergestellt werden können. In diesem Sinne leisteten sie einen wertvollen Beitrag zur Erhaltung der Konkurrenzfähigkeit der sächsischen Baumwollmanufaktur. Die Verfügbarkeit von Garnen der höheren Feinheitsgrade trug zum Überleben der vogtländischen Weißwarenbranche ebenso bei wie zum erfolgreichen Übergang der Chemnitzer und Glauchauer Weberei zu bunt gemusterten höherwertigen Stoffen.263 Die Streichgarn- und Kammgarnspinnerei Wesentlich weniger Aufmerksamkeit als die klassische Pilotindustrie der Baumwollspinnerei erregte sowohl in der zeitgenössischen Debatte als auch bei den Historikern der sächsischen Industrialisierung die Entwicklung der Maschinenspinnerei im Wollsektor. Die Genese der sächsischen Wollspinnerei vollzog sich in einem Faktorengefüge, das sich wesentlich von der Konstellation in der Baumwollwirtschaft unterschied. Zunächst einmal fallen drei Faktoren ins Auge, die allesamt dazu angetan waren, die eigenständige Entwicklung einer sächsischen Wollgarnindustrie zu erleichtern und ihr eine günstigere Marktposition als der Baumwollspinnerei zu verschaffen. Erstens waren die Wolle verarbeitenden Gewerbe nicht auf die Versorgung mit einem – oft aus Übersee – importierten Rohstoff angewiesen. Das Königreich Sachsen zählte seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts selbst zu den bedeutendsten Wolle erzeugenden Regionen Europas. Es war in diesem Falle 262 Vgl. Redford, Mechants, S. 129 f. 263 Vgl. hierzu allgemein: Best, Interessenpolitik, S. 68 ff.; Tilly, England, S. 187.
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die britische Konkurrenz, die einen größeren Teil ihres Rohwollbedarfs aus dem Ausland, und zwar zunehmend aus Deutschland, importieren musste.264 Zweitens verlief die Maschinisierung der Wollspinnerei in Großbritannien wesentlich langsamer als die der Baumwollgarnproduktion und hatte auch nicht deren sprunghafte Produktivitätssteigerungen im Vergleich zur Hand- und Handmaschinenspinnerei im Gefolge. Drittens mussten sich die sächsischen Wollspinner zunächst überhaupt nicht mit der englischen Konkurrenz auseinandersetzen, weil in Großbritannien bis 1824 die Ausfuhr wollener Garne gesetzlich verboten war. Bedeutsam für das Verständnis der produktionstechnischen Grundlagen der Wollspinnerei ist die Unterscheidung von Streich- und Kammgarnen. Die Unterschiede zwischen den beiden Garnsorten beruhten auf der Beschaffenheit der Wolle und der Methode ihrer Verarbeitung. Streichwolle bestand aus kurzen, stark gekräuselten Fasern. Sie wurde vor dem Verspinnen mit sog. Kratzen oder Streichen aufgelockert und geglättet, die einzelnen Fasern schließlich untereinander verwirrt zu einem verfilzten Garnfaden versponnen. Aus dem so gewonnenen Gespinst wurden Gewebe mit rauer Oberfläche hergestellt. Streichgarn wurde daher in der Tuchmacherei verwendet, ebenso für einige weitere Wollgewebearten wie Flanelle und Buckskins. Als Kammwolle eigneten sich dagegen nur die längeren Fasern, die weniger oder gar nicht gekräuselt waren. Die Fasern wurde durch heiße Kämme gestreckt, parallel nebeneinander ausgerichtet und zu einem möglichst glattem Faden verarbeitet. Kammgarn eignete sich zur Fabrikation glatter und leichter Stoffe und wurde von den Zeugmachern verwendet. Die Materialeigenschaften der Kammwolle ähnelten in gewissem Maße der Baumwolle und für ihre Verspinnung konnten daher die in der Baumwollspinnerei benutzten Maschinen einfacher adaptiert werden als im Falle der kurzfaserigen und widerspenstigen Streichwolle.265 Dieser Umstand würde nun eigentlich die Vermutung nahe legen, dass zunächst die Erzeugung von Kammgarn maschinisiert wurde. In Sachsen war es jedoch gerade umgekehrt. Schon Einsiedels letztlich vergeblicher Versuch, eine Schafwollspinnerei zu etablieren, zielte darauf, Garn für Tuche, also Streichgarn, herzustellen. Auch die Gebrüder Oehler in Crimmitschau, die 1814 den nächsten Anlauf zur Maschinisierung der Wollspinnerei machten, stellten hier Streichgarn her. In den Nachkriegsjahren folgte eine Reihe weiterer sächsischer Fabrikanten diesem Beispiel. Die Relation der Kommerziendeputation zur Michaelismesse 1817 berichtete von zwei weiteren Streichgarnmaschinenspinnereien, die von Fiedler in Wingendorf bei Oederan und den Gebrüdern Eckhardt in Großenhain betrieben würden. Fiedler hatte zur Messe ein größeres Lager von Tuchen mitgebracht, die durchgehend mit Maschinengarn gewebt worden waren. Streichgarnspinnereien wurden zunächst vorwiegend von kapitalkräftigeren Verleger-Fabrikanten wie Oehler, Fiedler und anderen betrieben, die feine Tuche und Flanelle herstellen ließen und die ihren Produktionsbetrieb schon zuvor partiell durch die Anlage von Färbereien, Appreturanstalten und die Aufstellung von Webstühlen und Schermaschinen zen264 Vgl. Blumberg, Textilindustrie, S. 159; Jenkins/Ponting, Industry, S. 46, 95. 265 Vgl. Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 37; Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 30; Müller, Faktoren, S. 115; Teuteberg, Wollgewerbe, S. 78; Kiesewetter, Revolution, S. 168.
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tralisiert hatten. Für sie war die Anschaffung von Spinn- und Vorspinnmaschinen ein gewissermaßen logischer Schritt, um eine weitere Produktionsstufe in ihren schon vorhandenen zentralen Betrieb zu integrieren. Sie beseitigten damit einen Engpass im Herstellungsprozess, der zuvor in notorischer Regelmäßigkeit Produktionsstockungen verursacht hatte.266 Diese frühen sächsischen Wollspinnereien produzierten wohl zunächst überwiegend für den Eigenbedarf der Webfabriken ihrer Besitzer bzw. der von diesen verlegten Tuchmacher und Zeugweber. Aber schon 1818 hieß es über die Gebrüder Eckhardt, „daß sie seit einiger Zeit sich mehr auf den Verkauf ihres Maschinengespinnstes und auf das Spinnen ums Lohn, als auf die Tuchfabrikation legten, weil letztere ihnen minderen Gewinn als Ersteres abwerfe“.267 Adolf Fiedler ging bereits Mitte der 1820er Jahre daran, das in seiner Wingendorfer Spinnerei produzierte Streichgarn zu exportieren. Kreishauptmann von Fischer berichtete nach Dresden, der Oederaner Unternehmer beabsichtige, in Russisch-Polen eine Tuchfabrik zu gründen. Fiedler habe von der dortigen Regierung die Konzession erhalten, wollene Garne in großen Quantitäten einzuführen. Die sächsischen Behörden sahen diese Entwicklung allerdings mit eher gemischten Gefühlen, „da uns weniger an der Fabrication und dem Vertriebe der hierländischen Garne als der Tuche gelegen und ein Ueberfluß an schaafwollenen Maschinengarnen, der deßen Exportation wünschenswerth machen könnte, wenigstens vor jetzt noch nicht vorhanden ist.“268 Die Ausbreitung der maschinellen Streichgarnspinnerei in Sachsen im Jahrzehnt nach 1814 verhalf nicht allein den Verleger-Fabrikanten zur Auflösung eines „Flaschenhalses“ in der Tuch- und Flanellmanufaktur. Sie ermöglichte es zudem den zahlreichen Tuchmachermeistern, die immer noch auf eigene Rechnung arbeiteten, ihren Betrieb wesentlich rationeller zu gestalten. Sie sahen sich nun zum Einen „der Mühe, Gefahr und Zeitversäumnis überhoben, sich selbst seine rohe Wolle einzukaufen, sie zu sortiren, zuzurichten, spinnen zu laßen und das Gespinnst wiederum zu sortiren“. Zum Anderen erhielten sie „eine nach Maasgabe der verlangten Nummer und des Pfundgewichts, bereits vollkommen assortirtes, durchaus gleiches Garn, welches dem Gewebe einen egalen, reinen Faden giebt, wodurch es auch an innrer Güte gewinnt“. Insgesamt versorgte die Maschinisierung der Spinnerei die sächsische Tuchweberei mit Streichgarnen, die dem Handgespinst sowohl preislich als auch qualitativ überlegen waren. Dies war auch deswegen bedeutsam, weil die Konkurrenz in den britischen Revieren wie in Frankreich und im Raum Aachen-Verviers-Lüttich bereits vor 1815 angefangen hatte, mit solchem Maschinengarn zu arbeiten. Auch nahm die Kommerziendeputation 1820 mit Sorge zur Kenntnis, dass jenseits der preußischen Grenze in Görlitz, Wittenberg und Burg bei Magdeburg, und ebenso in Warschau, Petersburg und Moskau staatlich subventio266 Vgl. Kirchner, Schafwoll-Maschinenspinnerei, S. 79 f.; Kästner, Crimmitschau, S. 86; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 944 (Loc. 11471): Relation Ostermesse 1817; ebd. Nr. 945 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1817; ebd. Nr. 949 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1820; Gayot, Abenteuer, S. 76–80; ähnlich: Saldern, Netzwerkökonomie, S. 131. 267 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 946 (Loc. 11471): Relation Ostermesse 1818. 268 Ebd. Nr. 1528 (Loc. 11170/XIII. 2287), Bl. 4: Bericht v. Fischer, 29.10.1824
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nierte „Tuchfabrikations-Anlagen“ errichtet worden waren, die Spinnerei, Färberei und Weberei in einem Betrieb vereinten.269 Die Beschaffung brauchbarer Spinnereimaschinen scheint die sächsischen Tuch-Unternehmer nicht vor größere Probleme gestellt zu haben. Bei der Gründung ihrer Spinnerei waren die Gebrüder Oehler 1814 offenbar mit der Firma C. & J. Cockerill, die seit 1807 in Verviers Wollspinnmaschinen baute, eine Partnerschaft eingegangen. Auch Fiedlers Maschinenpark in Oederan und Wingendorf bestand zumindest teilweise aus Produkten aus den Werkstätten der Cockerills, die 1815 in Berlin eine große Maschinenfabrik eröffnet hatten.270 Die problemlose Verfügbarkeit solcher Maschinen, die bald auch von sächsischen Maschinenbauern hergestellt wurden, machte es möglich, dass seit den späten 1820er Jahren zahlreiche kleinere selbständige Streichgarnspinnereien entstanden. Vor allem um Zwickau, Reichenbach, Crimmitschau und Werdau schossen diese Kleinbetriebe phasenweise wie Pilze aus dem Boden. Sie waren meist nur mit dem nötigsten Sortiment an Krempel-, Vorspinn- und Spinnmaschinen ausgestattet und übernahmen gewöhnlich Aufträge gegen Spinnlohn. Schon Ende der 1830er Jahre prägten diese kapitalschwachen, oft kurzlebigen Lohnspinnereien das Profil der sächsischen Streichgarnindustrie. Sie arbeiteten allerdings nicht wie ihre Pendants in der Baumwollindustrie als eine Art Verlagsbetrieb für die Garngroßhändler. Ihre Auftraggeber waren meist die örtlichen Tuchmachermeister. Eine größere Anzahl der sächsischen Streichgarnspinnereien war wiederum Teil eines umfassenderen Wollwarenbetriebs. „In der Regel“, so heißt es im Bericht zur sächsischen Industrie- und Gewerbeausstellung von 1845, habe „jeder Tuchfabrikant und selbst jeder einigermaaßen bedeutende Tuchmacher seine eigene Spinnerei“. Auch gab es Tuchmachermeister, die sich zum Betrieb einer gemeinsamen Wollspinnerei zusammen fanden. So erklärt sich denn auch die bemerkenswerte Größenstruktur der sächsischen Streichgarnspinnerei des Vormärz. 1838 arbeiteten nämlich von den 126 Streichgarne produzierenden Maschinenspinnereien in Sachsen nur etwa 15 bis 20 mit mehr als 1.000 Spindeln. Acht Jahre später, 1846, waren es schon 172 Streichgarnspinnereien, die aber zusammen genommen nur auf 78.693 Spindeln kamen. Das waren im Durchschnitt gerade einmal 459 Feinspindeln pro Betrieb.271 Die Maschinisierung der sächsischen Streichgarnspinnerei vollzog sich offenbar nach 1815 nicht wesentlich langsamer als in den westeuropäischen Revieren. Eine durchgängige Ablösung der Jennies durch kraftgetriebene Mules setzte selbst 269 Alle Zitate: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 951 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1820. Vgl. ebd. Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 182: Bericht v. Fischer, 3.5.1822. 270 Vgl. Kästner, Crimmitschau, S. 86; Gayot, Abenteuer, S. 77; Blumberg, Textilindustrie, S. 75; Zunkel, Wolle, S. 265; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 41. 271 Zitat: Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1845, S. 18. Zahlen nach: Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 30; Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 61. Vgl. Leipoldt, Reichenbach, S. 233; Sarfert, Vigognespinnerei, S. 31; Blumberg, Textilindustrie, S. 100, 135, 165; Sächsisches Gewerbeblatt 10.8.1842, S. 250. Die Spindelzahlen der Wollspinnereien lassen sich allerdings mit denen der Baumwollspinnereien nicht in eine direkte Relation setzen, da die Ausbringmenge einer Wollspindel wesentlich höher war als die einer Baumwollspindel (vgl. Teuteberg, Wollgewerbe, S. 75).
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in West Yorkshire erst seit dem Ende der 1820er Jahre ein. Weiter fortgeschritten war dagegen die Verwendung kraftgetriebener Spinnmaschinen in der britischen Worsted-Spinnerei, wo sich die Mules schon seit der Jahrhundertwende verbreitet hatten.272 In der sächsischen Kammgarnspinnerei kam dagegen eine Maschinisierung auch nach 1815 zunächst nicht in Gang. Dies mag daran gelegen haben, dass es zunächst zweifelhaft schien, ob sich eine solche Investition überhaupt lohnen würde. Zwar führte die Kommerziendeputation 1818 den Preisvorteil, den englische Kammgarnstoffe gegen sächsische Fabrikaten behaupteten, zu einem guten Teil darauf zurück, dass „Kämmgarn dort zu Lande durchgehends auf Maschinen gesponnen“ werde. Doch zwei Jahre später konstatierte eine Messrelation einen bemerkenswerten Niedergang der englischen Wollzeuge, der nicht zuletzt auf das verwendete Maschinengarn zurückzuführen sei. Maschinell gekrempeltes Kammgarn würde allzu sehr gerissen und auseinander gezogen, wogegen beim Krempeln von Hand das Material schonender behandelt würde.273 Die Erwartung, dass brauchbares Kammgarn auf absehbare Zeit allenfalls in den einfachen Qualitäten mit Maschinen hergestellt werden könnte, bewog offenbar auch die sächsische Landesregierung 1817 auf Initiative des Plauener Kreishauptmanns Wietersheim 3.000 Taler zu bewilligen, um in Netzschkau im Vogtland eine Kammgarn-Handspinnerei samt Spinnschule zu gründen. Damit sollte angesichts der Krise der vogtländischen Baumwollbranche ein zukunftsträchtiger Gewerbezweig ins Leben gerufen und der darbenden Landbevölkerung eine neue Nahrungsquelle eröffnet werden.274 Dieser Plan erwies sich bald als Fehleinschätzung. Schon im Herbst 1821 vermeldete ein Bericht des erzgebirgischen Kreishauptmanns Fischer, dass es den Engländern gelungen sei, „das zu den Merinos und Zeugen erforderliche Gespinst durch Maschinen zu produciren, wodurch sie auch in diesen Artikeln eine bisher nicht statt gefundene Ueberlegenheit erlangen würden“. Die Maschinisierung der sächsischen Wollspinnerei würde daher immer dringender.275 Zudem war es einem Eisenacher Unternehmer gelungen, mit Spinnmaschinen englischer Bauart Kammgarn in annehmbarer Qualität zu produzieren, worauf sich die Kammgarnmaschinenspinnerei in Thüringen rasch verbreitete. Diese Garne fanden bald auch im benachbarten Königreich Sachsen Absatz. Die Gebrüder Winkler aus Rochlitz vereinbarten 1824 mit einer Kammgarnspinnerei aus Langensalza, deren gesamte Produktion in den feineren Sorten abzunehmen. In Sachsen sah man diese Verlagerung der Produktion nach Thüringen mit Besorgnis und in der staatlichen Wirtschaftsbürokratie wurden Pläne geschmiedet, um dieser Gefahr zu begegnen. Der Leipziger Kaufmann Köhler hatte bereits seit 1821 in Schedewitz bei Zwickau Versuche zur 272 Vgl. Jenkins/Ponting, Industry, S. 31, 46; Hudson, Proto-Industrialisation, S. 46. 273 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 946 (Loc. 11471): Relation Ostermesse 1818; ebd. Nr. 951 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1820. 274 Vgl. Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 262; Bl. 1 f.: Protokoll der Konferenz vom 17.3.1817 in Plauen; ebd., Bl. 58 ff.: C. G. Klinkhardt, Heinsdorf, an den König, 30.7.1819; Bökelmann, Wollgewerbe, S. 67 f.; Forberger, Revolution 1/1, S. 336 f.; Bein, Industrie, S. 206; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 39 f.; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 12. 275 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 163: Bericht v. Fischer, 1.10.1821. Zur englischen Kammgarnspinnerei um 1820 vgl. James, History, S. 383 ff.
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maschinellen Verspinnung von Kammwolle unternommen. Doch ihm fehlten die finanziellen Mittel zum Ausbau seiner Anlagen. In unmittelbarer Nähe von Köhlers Spinnmühle siedelte sich zwar 1825 am gegenüberliegenden Ufer des Mühlgrabens der Zwickauer Mulde eine zweite Kammgarnspinnerei an. Beide Unternehmen kamen jedoch bis zum Ende der 1820er Jahre nicht recht vorwärts. In Chemnitz wurde etwa zur gleichen Zeit ebenfalls eine Kammgarn-Maschinenspinnerei gegründet, die aber nach einigen Jahren in Konkurs ging.276 Die ersten sächsischen Kammgarnspinnereien standen zunächst vor dem Problem, geeignete Maschinen zu beschaffen. Die Thüringer Spinner hielten ihre nachgebauten englischen Modelle vor der sächsischen Konkurrenz tunlichst geheim. Schließlich kamen in Sachsen vor allem französische Spinnmaschinen zum Einsatz. Dies war nicht unbedingt ein Nachteil, denn die Spinnmaschinen britischer Bauart erwiesen sich als wenig geeignet für die Verarbeitung der verhältnismäßig kurzen und krausen sächsischen Kammwolle. Die ersten sächsischen Kammgarnspinnereien hatte ein französischer Mechaniker eingerichtet, der in der Folgezeit das Know-How in der Region verbreitete. Bald stellten auch Chemnitzer Maschinenbauwerkstätten technisches Equipment für die Wollspinnerei her.277 Um 1830 waren die technischen Schwierigkeiten soweit behoben, dass in schneller Folge eine Reihe großer Spinnereien die Fertigung von Kammgarnen aufnahmen. In Plauen kamen die Gründer der Kammgarnspinnerei Facilides & Hänel aus den Reihen der alteingesessenen Familien der Baumwollwaren-Innungsverwandten. In Pfaffendorf bei Leipzig errichtete der Wollkaufmann Ferdinand Hartmann eine Spinnfabrik, deren Maschinen mit Dampfkraft angetrieben wurden. Der Betrieb wurden in den folgenden Jahren großzügig erweitert, das Unternehmen schon 1836 mit Unterstützung der Bankhäuser Dufour und Harkort in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Betriebe in Schedewitz und Chemnitz wurden peu a peu von einem Konsortium von Unternehmern übernommen und konsolidiert. Zunächst ersteigerten zwei unternehmende Rittergutsbesitzer aus dem Erzgebirge, die Herren von Petrikowsky und von Leipziger, Gebäude und Maschinen der in Konkurs gegangenen Chemnitzer Kammgarnspinnerei und führten sie unter der Firma Petrikowsky & Co. weiter. Da aber die Ausbaumöglichkeiten in Chemnitz wegen unzureichender Wasserkraft beschränkt waren, erwarben Petrikowsky & Co. eine der beiden Schedewitzer Spinnmühlen. Die benachbarte Spinnerei war schon 1829 in den Besitz des Ronneburger Textilkaufmanns J. C. G. Haentze übergegangen. 1835 verbanden sich beide Unternehmen zu einer Partnerschaft und Haentze übernahm die Leitung der nun mit 5.800 Spindeln ausgerüsteten Anlage.278 276 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 136, 231: Berichte v. Fischer, 9.5.1821, 13.5.1822; ebd. Nr. 1528 (Loc. 11170/XIII. 2287), Bl. 2 ff., 73: Berichte v. Fischer, 29.10.1824, 28.10.1826; ebd. Nr. 1474 (Loc. 11170/XI. 2293), Bl. 3–6: Köhler an König, 10.2.1825; ebd. Bl. 23 f.: Bericht v. Fischer, 13.4.1825; Gebauer, Volkswirtschaft 3, 63 f.; 100 Jahre Schedewitz, S. 50 ff. 277 Vgl. Gewerbeblatt 6.7.1841, S. 316; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 63; Bökelmann, Wollgewerbe, S. 69; Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 33 f. 278 Vgl. Bökelmann, Wollgewerbe, S. 68 f.; Blumberg, Textilindustrie, S. 138; Wolf, Kammgarnspinnerei, S. 28, 37, 48, 56; 100 Jahre Schedewitz, S. 49–53.
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Der forcierte Übergang der sächsischen Streich- und Kammgarnspinnerei zur Fabrikindustrie drängte die häusliche Handspinnerei schnell zurück. Schon Mitte der 1840er Jahre konstatierte Wieck, nur ganz grobe Garne für Teppiche, Decken und die einfachsten Tuchqualitäten würden noch von Hand gesponnen.279 In der Kammgarnindustrie blieb aber mindestens bis Mitte des Jahrhunderts ein Flaschenhals der Produktion bestehen. Das Kämmen der Wolle, ein langwieriger und arbeitsaufwändiger Prozess konnte lange Zeit nicht auf befriedigende Weise mechanisiert werden. Die Brüder Friedrich Georg und Heinrich Wieck hatten schon in den späten 1820er Jahren zusammen mit dem Leipziger Wollkaufmann Johann Opelt eine Kämmmaschine entwickelt, die aber nur in wenigen Spinnereibetrieben und einer 1831 in Reichenbach im Vogtland eingerichteten Wollkämmerei zum Einsatz kam. Offenbar war sie nur für die einfacheren Garnqualitäten brauchbar. Mitte der 1840er Jahre hieß es in einer zeitgenössischen Veröffentlichung, die Maschinen Opelts würden die feineren Wollen zu sehr angreifen und beim Spinnen einen minder haltbaren Faden erzeugen. Deshalb habe sie sich nicht in Sachsen verbreiten können. Für die weniger feinen britischen Kammwollen scheint sich das System Wieck-Opelt besser geeignet zu haben. Denn 1837/40 hatten die Erfinder ein britisches Patent auf die Maschine angemeldet und sie von einer Maschinenfabrik in Bradford in Serie bauen lassen. Um 1850 waren in West Yorkshire rund 50 solcher Maschinen in Betrieb.280 Die manuelle Wollkämmerei, die den Einsatz einer größeren Zahl von Arbeitskräften erforderte, scheint in recht unterschiedlicher Weise organisiert gewesen zu sein. Einige Spinnereien beschäftigten Wollkämmer in ihren Fabriken. Meistens wurde dieser Arbeitsgang aber ausgelagert. Auch selbständige Handwollkämmereien entstanden, die eine meist recht begrenzte Zahl von Arbeitskräften in geschlossenen Räumen zusammenzogen. Selbst die Insassen des Zwickauer Arbeitshauses kämmten Wolle und arbeiteten so der örtlichen Kammgarnspinnerei zu. Zudem war wohl die Heimarbeit recht verbreitet. Der Einstieg des Major a. D. von Petrikowsky in die Kammgarnindustrie verlief über seine Tätigkeit als Verleger/Faktor in diesem Bereich. Er befuhr die Wollmärkte im preußischen Osten, schaffte die Wolle mit eigenen Gespannkolonnen ins Erzgebirge, ließ sie dort kämmen, um sie an die Chemnitzer und Zwickauer Spinnereien zu verkaufen. Nach der Gründung der eigenen Spinnerei und selbst nach der Zusammenlegung der Schedewitzer Betriebe sorgte Petrikowskys Verlag für die Zufuhr der gekämmten Wolle. Andere Kammgarnspinner erhielten fertige „Kammzüge“ – gekämmte Wolle in etwa 50 cm langen Wollbändern – von Faktoren, die sie bei Heimarbeitern eingesammelt hatten.281 Im Vergleich zu den sächsischen Streichgarnspinnereien fällt bei den Kammgarnfabriken schon seit den 1830er Jahren die im Durchschnitt deutlich größere Auslegung und Beschäftigtenzahl ins Auge. 1836/37 gab es in Sachsen 14 Kamm279 Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 30. 280 Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 17, 1852, S. 222–226; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1845, S. 20; Blumberg, Textilindustrie, S. 83 f.; Wieck, Zustände, S. 30; Teuteberg, Wollgewerbe S. 78. 281 Vgl. Bökelmann, Wollgewerbe, S. 69; Leipoldt, Umschichtungen, S. 233; 100 Jahre Schedewitz, S. 49 f., 53; Gewerbeblatt 6.7.1841, S. 316 f.
4.5 Der Leitsektor als Sorgenkind: Die sächsische Maschinenspinnerei
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garnspinnereien mit zusammengenommen 19.620 Spindeln. Im Durchschnitt war demnach jede Kammgarnspinnerei mit 1.401 Spindeln ausgestattet, während in der Streichgarnspinnerei zu diesem Zeitpunkt 572 Spindeln auf einen Betrieb kamen.282 Als Grund für diese offenkundigen Größenunterschiede werden in der einschlägigen historischen Literatur meist die höheren Anlage- und Betriebskosten genannt. Namentlich sei zur Erzeugung von Kammgarn ein besonders teurer und umfangreicher Maschinenpark notwendig gewesen.283 Nun ist zwar nicht zu bestreiten, dass es in der sächsischen Kammgarnspinnerei mehr gut ausgestattete Großbetriebe gab als in der Streichgarnbranche. Doch scheint dies nicht unbedingt auf die Maschinenausstattung per se zurückzuführen sein. Zur Verspinnung selbst konnten hier wie dort adapierte Mules und/oder Water Frames verwendet werden, also im Prinzip bekannte und bewährte Technologien. Das Kämmen der Wolle wiederum war bis Mitte des Jahrhunderts nur in geringem Ausmaß maschinell möglich.284 Der höhere Kapitalbedarf der Kammgarn- gegenüber den Streichgarnspinnereien betraf vor allem die laufenden Betriebskosten. Nur ein Teil der Rohwolle, die längeren Fasern, konnten nämlich zur Verspinnung benutzt werden. Die kürzeren Fasern wurden aussortiert und fanden als Rohstoff für die Streichgarnspinnerei Verwendung. Von 300 Pfund eingekaufter Wolle könne der Kammgarnspinner 280 Pfund nicht gebrauchen, kommentierte die Deutsche Gewerbezeitung 1845. Den großen Rest müsse er wieder verkaufen. Zudem müsse der gesamte Jahresbedarf auf einmal direkt nach der Wollschur eingekauft werden. Daher sei in dieser Branche ein unsinnig hohes Kapital nötig, das in keinem Verhältnis zur Produktion stehe.285 Die feine Kammgarnspinnerei habe in Sachsen, so gab ein Wollwarenfabrikant in einer Erhebung des gleichen Blattes 1849 zu Protokoll, „fast den Charakter eines großen Wollgeschäfts“286 angenommen. Das Chemnitzer Spinnereiunternehmen Kühne & Solbrig hatte einen recht eleganten Ausweg aus diesem Dilemma gewählt, indem sie die Kammgarn- mit der Streichgarnproduktion im gleichen Betrieb kombinierte. Auch konnte es für die Kammgarnspinner ratsam sein, die Kämmerei in ihren Betrieb zu integrieren, war er doch dem Risko der „Uebervortheilung und der ungewissen Lieferung überall ausgesetzt, wenn er nicht ganz besonders zweckmäßige Einrichtung in eigener Behausung getroffen hat“.287 Weit weniger Kapital war für den Betrieb einer Kammgarnspinnerei notwendig, wenn auf Lohn gearbeitet wurde und der Auftraggeber für die Lieferung der bereits gekämmten Züge sorgte. Nachdem sich die großen Fabrikspinnereien bis Mitte der 1830er Jahre die Filetstücke des Kammgarnmarktes aufgeteilt hatten, entstanden vermehrt solche kleinen Lohnspinnereien. Im Jahrzehnt nach 1836 erhöhte sich die Zahl der Kammgarnfabriken in Sachsen von 14 auf 39. Die durchschnittliche Spin282 Zahlen nach: Mittheilungen des Statistischen Vereins, 8. Lieferung, 1837, S. 35. 283 Vgl. etwa Blumberg,Textilindustrie, S. 77. 284 Vgl. Teuteberg, Wollgewerbe, S. 78; Blumberg, Textilindustrie, S. 82; Wieck, Zustände, S. 218– 221; Gewerbeblatt 6.7.1841, S. 316 f.; ebd. 9.7.1841, S. 322 f. 285 Deutsche Gewerbezeitung 4.11.1845, S. 523; vgl. Gewerbeblatt 9.7.1841, S. 323. 286 Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 105. 287 Gewerbeblatt 9.7.1841, S. 323; vgl. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1845, S. 19; Blumberg, Textilindustrie, S. 77, 100 f.
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delzahl verminderte sich dagegen von 1401 auf 1363. Vor allem im nördlichen Vogtland bildete sich zunehmend eine Kammgarn-Lohnspinnerei heraus.288 Längerfristig war das Marktpotenzial der sächsischen Kammgarnspinnerei allerdings einigermaßen beschränkt. Dies lag nicht zuletzt an der Beschaffenheit der heimischen Kammwolle, die für bestimmte weiche Gewebe wie Merinos oder Thibets hervorragend geeignet war, allerdings nur ein Hochpreissegment des Marktes abdeckte. Ihre größte Konkurrenz blieben die Thüringer Kammgarnspinnereien, die in den 1830er Jahren versuchten, ihre Marktmacht durch eine gemeinsame Verkaufsorganisation zu stärken. Für die mittleren und einfachen Kammgarnqualitäten fehlten der sächsischen Spinnerei dagegen die heimischen Rohstoffe. Dieser Bereich blieb die Domäne der Briten, denen die langfaserige, auch in geringeren Qualitäten leicht verspinnbare Wolle aus der schottischen Schafzucht zur Verfügung stand.289 Seit den 1830er Jahren wurden größere Mengen britisches Kammgarn in Sachsen verbraucht. Diese Entwicklung stand vor allem im Zusammenhang mit dem Übergang der Chemnitzer und Glauchauer Buntweberei zu gemischten und reinwollenen Stoffen, die ganz überwiegend importiertes britisches Worsted-Garn verwendeten. Dies wurde zwar in Sachsen immer mal wieder von den Kammgarnspinnern, den Wirtschaftsbeamten und anderen Kommentatoren beklagt, aber nicht mit der Vehemenz der Debatte um die Wettbewerbsfähigkeit der Baumwollspinnerei. Hier fand kein Verdrängungswettbewerb statt; britisches Worsted und sächsisches feines Kammgarn teilten sich den Markt, ohne in größerem Maße miteinander zu konkurrieren. In den 1840er Jahren unternahmen die sächsischen Kammgarnspinnereien aber Versuche, geringerpreisige Wollsorten zu verspinnen, um einen Zugang zu den ihr bisher verschlossenen Verbrauchermärkten zu erlangen. Viel Erfolg hatten diese Anstrengungen aber nicht. So heißt es im Bericht zur Dresdner Industrie- und Gewerbeausstellung von 1845, die Versuche ordinäre siebenbürgische und ungarische Wolle zu verspinnen, hätten zwar für manche Artikel passende Kammgarne hervorgebracht. Doch die englischen Worsted Yarns seien überall dort unentbehrlich, wo es auf den Glanz des darzustellenden Stoffes ankomme.290 4.6 DIE STREICH- UND KAMMGARNWEBEREI ZWISCHEN ZUNFTHANDWERK UND FABRIK Es sind bereits einige Eigentümlichkeiten der Schafwolle verarbeitenden Textilbranchen angesprochen worden, die sie vom Baumwollsektor unterscheiden. Von wesentlicher Bedeutung erscheint dabei, dass das enorme Wachstumspotenzial, das 288 Vgl. Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 34; Sächsisches Gewerbeblatt 10.8.1842, S. 250; Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 61. 289 Vgl. Blumberg, Textilindustrie, S. 165; Singleton, Industry, S. 167. 290 Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1845, S. 19. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 989 (Loc. 11474): Relation Ostermesse 1844; Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 220 f.; Thieriot, Einfluss, S. 36; Jenkins/Ponting, Industry, S. 137; Mittheilungen Industrieverein 1840, S. 15; Gewerbeblatt 6.7.1841, S. 316; Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 205; Zunkel, Wolle, S. 266; Landes, Prometheus, S. 167 f.; Best, Interessenpolitik, S. 61.
4.6 Die Streich- und Kammgarnweberei zwischen Zunfthandwerk und Fabrik
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die vergleichsweise rapide Industrialisierung der Baumwollwarenmanufaktur angetrieben hatte, in den Wollbranchen zunächst nur in abgeschwächter und eingeschränkter Form vorhanden war. Die Schafzucht war aufwändiger und kostspieliger als der Anbau von Baumwolle. Eine rasche Erweiterung des Rohstoffes Wolle war nicht ohne Weiteres möglich. Die Haltung von Wollschafen stieß in Europa um 1800 langsam an natürliche ökologische Grenzen. In Sachsen gab es zu diesem Zeitpunkt schätzungsweise zwei Millionen Schafe.291 Erst die umfassende Verlagerung der kommerziellen Schafzucht in wenig besiedelte überseeische Gebiete weitete die Rohstoffbasis der Wollindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kräftig aus. Auch der Produktionsweg von der Schur zum verkaufsfertigen Gewebe war langwieriger und etappenreicher als bei baumwollenen Waren. Die Schafwolle musste in Wollwäschereien sorgfältig von Schmutz und Tierfett gereinigt werden. Die Vorrichtung der Wolle zur Verspinnung erforderte eine Reihe weiterer, je nach Garnart unterschiedlicher Arbeitsgänge. Das rohe Gewebe musste aufwändigen Appreturverfahren unterzogen werden. Tuche etwa wurden gewalkt und geschoren. Tierische Wolle eignete sich zudem im allgemeinen weniger gut zur mechanischen und maschinellen Verarbeitung als Baumwolle. Wollfasern und -fäden waren im Vergleich empfindlicher und widerspenstiger. Die Adaption der für die Baumwollverarbeitung entwickelten Vorspinn-, Spinn- und Webmaschinen an die Verspinnung von Schafwolle vollzog sich mit einem gewissen Zeitabstand. Zudem sorgten einzelne Engpässe im Herstellungsprozess wie etwa die Kämmerei dafür, dass das Potenzial industrieller Produktionsmethoden über längere Zeit nicht voll genutzt werden konnte. Die vergleichsweisen hohen Rohstoff- und Herstellungskosten in der Wollwarenproduktion hatten zudem zur Folge, dass schafwollene Webwaren durch qualitativ ähnliche, aber ungleich billigere Baumwollstoffe oder Mischgewebe mit Baumwollanteilen vom Markt verdrängt wurden.292 Gerade diese enger gezogenen Grenzen industriellen Wachstums machte die Wollweberei für die sächsischen Textilhersteller des Vormärz attraktiv. Der Wechsel zu Misch- und reinen Wollgeweben im Chemnitz-Glauchauer Baumwollwarenrevier implizierte einen Rückzug vom Feld der Massenproduktion. In Yorkshire folgte der Übergang zur Mischweberei dagegen entgegengesetzten Impulsen. Hier ersetzte man Wollgarn durch Baumwolltwist, um die Materialkosten zu senken und zur maschinellen Massenproduktion übergehen zu können.293 Um Markt- und Produktionsstrategien im Einzelnen zu analysieren, empfiehlt sich eine Differenzierung der sächsischen Wollweberei nach Garn- und Gewebearten. Streichgarne wurde zum Einen zur Fertigung von Tuchen verwendet. Zum Anderen wurden in Sachsen eine ganze Reihe leichterer Gewebearten aus Streichgarn gefertigt, wie Flanelle, Moltons oder später das Buckskin, ein gerauter, oft gemusterter Kleiderstoff. Solche Gewebe wurden vornehmlich um Crimmitschau und 291 Vgl. Kiesewetter, Revolution, S. 168. 292 Vgl. aber Hudson, Limits, S. 344 ff., die eine Substitution von Woll- durch Baumwollwaren in größerem Ausmaß nicht erkennen kann. 293 Vgl. Jenkins/Ponting, Industry, S. 125–133.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
Werdau, im nördlichen Vogtland und im Raum Hainichen-Roßwein-Oederan produziert. Die Standorte der Kammgarnweberei lagen größtenteils im äußersten Westen des sächsischen Textilgewerbe-Gürtels, um Rochlitz, Glauchau, Meerane, Penig und Reichenbach. Kammgarne wurden zudem für die mit Baumwollgarn gemischten Gewebe verwendet, zu deren Fertigung die Baumwollweber des Glauchauer, Chemnitzer und Zittauer Reviers im Laufe des Vormärz zunehmend übergegangen waren.294 Die Tuchmacherhandwerk Jedes halbe Jahr destillierte die Kommerziendeputation (bzw. die Handels- und Gewerbeabteilung des sächsischen Innenministeriums) aus den Protokollen der Besprechungen ihrer Beamten mit Verlagsunternehmern und Großkaufleuten auf den Leipziger Oster- und Michaelismessen einen ausführlichen Bericht zur Lage des sächsischen Gewerbewirtschaft. Diese „Messrelationen“ befassen sich in der Regel auch mehr oder minder ausführlich mit dem Messeabsatz der in Sachsen gefertigten Tuche. Es taucht dabei meist eine ähnliche Reihung von Orten auf, aus denen solche, oft im traditionellen Handwerksbetrieb hergestellten Tuchqualitäten nach Leipzig gebracht und den dort anwesenden „Messfieranten“ zum Kauf angeboten wurden. Feine Tuche wurden vornehmlich in der Oberlausitz – die besten Qualitäten in der Stadt Bischofswerda – gefertigt sowie in Grimma bei Leipzig. Die „mittleren“ Tuche lieferten gewöhnlich die Städte Großenhain, Oschatz, Döbeln, Leisnig und Werdau. „Ordinäre“ Tuche kamen vorzugsweise aus Roßwein, und in den allerbilligsten Qualitäten aus Kirchberg. Hier fällt zunächst einmal die räumliche Verstreutheit dieser Tuchmacherstädte auf. Allenfalls die Lausitzer Standorte Bautzen, Kamenz, Bischofswerda und Pulsnitz sowie Leisnig, Döbeln und Roßwein in Mittelsachsen bildeten so etwas wie ein räumlich verdichtetes Produktionsrevier.295 Die Situation der kleinbetrieblichen Tuchhersteller, ihr Markt- und Produktionsprofil unter den Bedingungen des frühindustriellen Wandels soll im Folgenden zunächst an einem relativ extremen Fallbeispiel – den Kirchberger Tuchmachern – skizziert werden. Die Tuchmacherei im Städtchen Kirchberg, südlich von Zwickau an einem Nebenfluss der Mulde gelegen, trug noch im Vormärz in vieler Hinsicht die Züge eines alten Zunfthandwerks. Bis in die 1840er Jahre hinein kauften die Tuchmachermeister die für ihre Produktion notwendige Wolle von örtlichen Schafzüchtern oder Wollhändlern und verspannen sie im eigenen Handwerksbetrieb zu Garn. Zwar war schon 1826 im nahe gelegen Niederzwönitz und später auch in Kirchberg selbst eine Streichgarnspinnerei gebaut worden, doch ließen die Kirchberger Tuchmacher allenfalls einen Teil ihrer eingekauften Wolle hier auf Lohn verspinnen. Die Meister 294 Vgl. Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 31 f.; Allgemeine Zeitung f. National-Industrie Nr. 91, 12.11.1844, S. 511; Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 325. 295 Vgl. etwa HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 974 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1832; sowie Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 32 f.
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empfanden die Verfügbarkeit des Maschinengarns keinesfalls als Erleichterung. 1837 beschwerte sich ihre Innung bei der Zwickauer Kreisdirektion, die kurzen Wollen, die man in der örtlichen Tuchfabrikation verwende, würden beim maschinellen Spinnen wesentlich größeren Abgang erleiden als bei der Handspinnerei. Zudem sei das Maschinengarn nur für die Kettfäden brauchbar. Das Schussgarn müsse man nach wie vor mit der Hand spinnen, da es für die in Kirchberg hergestellten Gewebe „durchaus nicht brauchbar ist.“ Beim Walken gingen gröbere Tuche aus Maschinengarn mehr zusammen als aus handversponnenem Garn. Zudem sei es für den Meister finanziell günstiger, wenn er seine Lehrlinge, Gesellen oder Familienangehörigen für solche vorbereitenden Arbeiten einsetze, als wenn er die Wolle gegen Lohn verspinnen lasse. Die Beschwerde der Kirchberger Tuchmacherinnung gipfelte in der Forderung nach einem gänzlichen Verbot von Maschinengarn für gröbere Tuchwaren.296 In den Akten der Zwickauer Kreisdirektion, die sich in den späten 1830er und frühen 40er Jahren mit dem Zurückbleiben der Kirchberger Tuchmacherei zu beschäftigen hatte, werden deren Probleme nicht zuletzt an einer innovationsfeindlichen Klüngelwirtschaft der örtlichen Handwerkerzünfte festgemacht. Seitdem 1808 ein königliches Rescript es den Gesellen erleichtert hatte, sich von der obligatorischen Wanderschaft dispensieren zu lassen, habe sich das Kirchberger Tuchmacherhandwerk zunehmend von auswärtigen Einflüssen und Impulsen abgeschottet. Die allermeisten der örtlichen Tuchmachermeister seien in Kirchberg selbst geboren, hätten den Beruf ihres Vaters erlernt und sich, ohne auch nur für kurze Zeit auf Wanderschaft zu gehen, in ihrer Heimatstadt niedergelassen. „Auf solche Weise wird es erklärlich“, so lautete das harsche Urteil des Kirchberger Justitiars Haupt, der 1836 an seine vorgesetzte Behörde nach Zwickau berichtete, „warum jetzt Viele der hiesigen Meister wahre Stümper in ihrer Profession sind; sollen sie einmal etwas Besseres leisten, so sind sie dessen nicht fähig, auch begreifen sie die Vorschläge nicht, die ihnen zur Verbesserung ihres Metiers etwa gemacht werden, vielmehr sind sie selbigen auf alle mögliche Weise entgegen und zwar lediglich um des willen, weil sie dann etwas würden leisten müssen was über ihre Fähigkeiten hinaus geht.“297
Die meisten Kirchberger Tuchweber verkauften ihre Erzeugnisse in rohem Zustand an Händler, die wohl zum Teil selbst den Reihen des örtlichen Handwerks entwachsen waren. Diese Tuchhändler ließen die Stoffe walken und färben, übergaben sie dann den ebenfalls in einer örtlichen Innung organisierten Tuchscherern zur Appretur. Die fertigen Tuche verkauften sie schließlich auf Märkten der weiteren Umgebung oder den Leipziger und Braunschweiger Messen weiter. Manche der Kirchberger Meister brachten aber auch ihre auf eigene Rechnung appretierten Tuche selbst zu den Messen und Jahrmärkten. Die zeitgenössischen Quellen beschreiben das Verhältnis von Handwerkern und Kaufleuten als konfliktreiches, von „Mißtrauen, Heucheley, Arglist und Schelmerey“ geprägtes Gegeneinander. Einerseits 296 Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 2538, Bl. 112 ff.: Tuchmacherinnung Kirchberg an Kreisdirektion Zwickau, 14.2.1837; vgl. ebd. Nr. 1779, Bl. 56: Schönburgische Gerichte Niederzwönitz an Kreisdirektion Zwickau, 21.11.1836; Daehne, Wolf, S. 42. 297 Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 2538, Bl. 14 f.: Bericht Haupt, 6.6.1836.
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würden die Tuchhändler die Meister oft in minderwertigen Geldstücken bezahlen, „in der Regel in lauter leichten Dukaten, … an deren Jedem der Meister, wenn er ihn … ausgiebt, zum allermindesten zwey Groschen verliert.“ Andererseits lieferten ihnen die Tuchmachermeister dafür aber auch Ware, „deren Detailverkauf in der Eigenschaft und unter der Benennung von Tuch geradezu verboten sein sollte.“298 Die Knappheit der Ressource Vertrauen hemmte offensichtlich auch eine stärkere Ausprägung von Verlagsstrukturen in der Kirchberger Tuchfabrikation. Es habe zwar, hieß es in dem ausführlichen Bericht des Justizamtmanns Haupt vom Juni 1836, in der Vergangenheit Versuche von Tuchhändlern gegeben, „wenigstens einen Theil der Meister dadurch zu beschäftigen, daß sie die Waare bey ihnen bestellt und ihnen zu dem Ende das rohe Material zur Verarbeitung ins Hauß gegeben haben“. Doch seien solche Versuche meist sehr schnell wieder eingestellt worden, nachdem die Händler „von mehreren Meistern hintergangen worden sind, indem sie das Material entweder gegen schlechteres umgetauscht oder auch eine Parthie davon veruntreut und solche zu Tüchern zum freien Verkauf für sich verbraucht haben.“ Nun würden nur noch einige wenige der in Kirchberg ansässigen Tuchkaufleute örtliche Handwerker auf ihre Rechnung beschäftigen, dies aber unter ihrer unmittelbaren Aufsicht. Sie ließen Meister oder Gesellen bei sich zu Hause arbeiten, was sie aber aus Platzmangel nicht in großem Stil betreiben könnten.299 Dabei ging es den Kirchberger Tuchherstellern Mitte der 1830er Jahre keineswegs schlecht. Selbst in Haupts Bericht von 1836 heißt es, die hiesigen Tuchhändler hätten ihre Warenvorräte auf der letzten Ostermesse in Leipzig fast ganz absetzen können, wenn auch zu wenig gewinnträchtigen Preisen.300 Seit 1834 hatte die Öffnung des deutschen Marktes gerade den Herstellern der billigen Tuchsorten ansehnliche Absatzsteigerungen beschert. So hielt die Messrelation vom Herbst dieses Jahres fest, zahlreiche Käufer aus den Zollvereinsstaaten, vor allem aus Hessen, Württemberg und Bayern hätten den Tuchmachern ihre Ware geraderzu aus den Händen gerissen. Allerdings wurde auch hier vermerkt, die Preise stünden in keinem Verhältnis zur lebhaften Nachfrage. Diesen Umstand führte der Berichterstatter auf Defizite der kleinen Tuchhändler und „meßziehenden“ Tuchmacher bei der Vermarktung ihrer Erzeugnisse zurück: Die meisten dieser Verkäufer seien „zu wenig Kaufleute …, um die Verhältnisse beurtheilen und einen Vortheil daraus ziehen zu können“.301 Schon vor 1834 hatten die Kirchberger Tuchmacher und die anderen sächsischen Produzenten von Tuchen minderer Qualitäten relativ viel in den süddeutschen Raum verkauft. Zum Teil wurden die Gewebe in Oberschwaben und der Schweiz gefärbt und appretiert, um sie dann legal oder illegal nach Frankreich und Oberitalien zu verfrachten. In den Jahren nach 1815 gehörten auch Polen und Russland zu den bevorzugten Märkten für sächsische Tuche. Seit 1817 hatte ein preußisch-russisches Handelsabkommen sogar den Transit von billigen Tuchwaren 298 299 300 301
Zitate: Ebd. Bl. 21 f.; vgl. ebd. Bl. 10 f., 15; Daehne, Wolf, S. 42. Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 2538, Bl. 24 f.: Bericht Haupt, 6.6.1836. Ebd., Bl. 12. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 979 (Loc. 11473): Relation Michaelismesse 1834.
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nach China gefördert. Über den Messeplatz Leipzig waren auch größere Lieferungen sächsischer Tuche auf diesem Weg in den fernen Osten gelangt. Nachdem das Transitabkommen aber vornehmlich genutzt worden war, um Textilien illegal auf die russischen Binnenmärkte zu bringen, schob die russische Regierung diesem Handel bald einen Riegel vor. Die russische Hochzollpolitik machte es im Übrigen für die Tuche aus Sachsen in den 1820er Jahren immer schwerer, auf die ehedem so ergiebigen Märkte im Zarenreich und in Russisch-Polen zu gelangen. Ein gewisser Ausgleich für diese Verluste bot seit Mitte der 20er Jahre der verstärkte Export nach Übersee, vor allem via Leipzig und Hamburg in die USA. Die sächsischen Tuchmacher standen auf den Leipziger Messen vornehmlich im Wettbewerb mit Herstellern aus dem benachbarten Böhmen und Schlesien, nicht zuletzt den 1815 abgetretenen ober- und niederlausitzischen Gebieten.302 1830 richtete die Kirchberger Tuchmacherinnung eine Eingabe an den Landesherren, in der über den Verfall der lokalen Tuchfabrikation geklagt wurde. Die wichtigste Ursache ihrer Misere sahen die Meister in der mangelhaften Versorgung mit ordinärer Schafwolle. Diesen Rohstoff müssten sie überwiegend aus Preußen beziehen und darauf beträchtliche Abgaben entrichten. Zum preußischen Ausgangszoll würden noch ein sächsischer Einfuhrzoll und die Akzise kommen. Da namentlich die preußischen Tuchmacher von diesen Abgaben fast ganz frei seien, könne man preislich nicht mit ihnen konkurrieren. Es hätten daher seit der Einführung des preußischen Grenzzolls die Hälfte der Kirchberger Tuchmachermeister ihr Handwerk aufgeben müssen. Der einzige und sicherste Ausweg aus diesem Dilemma war nach Ansicht der Petenten der Anschluss des Königreichs Sachsens an das preußische Zollsystem.303 Tatsächlich verbesserten sich mit der Gründung des Zollvereins die Rahmenbedingungen des Wettbewerbs für die Kirchberger Tuchhersteller. Sie erlangten Zugang zu einem großen Absatzmarkt, der gegen böhmische und belgische Tuche mit hohen Zöllen gesichert war. Die preußische Tuchmacherei hatte wiederum ihre Marktprivilegien gegenüber der sächsischen Konkurrenz verloren, die nun ihre Rohstoffe zu gleichen Konditionen beziehen konnte.304 Trotz der Verbesserung des Marktzugangs sah sich die zunfthandwerklich strukturierte kleine Tuchmacherei in Kirchberg, Roßwein und anderen sächsischen Städten in den 1830er und 40er Jahren mit ernsthaften Problemen konfrontiert. Vor allem hatten sie mit einer zunehmend defizitären technischen Ausrüstung zu kämpfen. Im Mittelpunkt standen dabei nicht die Handwebstühle. Bei der Anfertigung von Tuchen und anderen Streichgarngeweben setzten sich die Powerlooms selbst in 302 Vgl. Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 2538, Bl. 12: Bericht Haupt, 6.6.1836; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 948 f., 951, 954, 974 (Loc. 11472 f.): Relationen Ostermessen 1819 und 1820, Michaelismesse 1820, Ostermessen 1821 und 1832; ebd. Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 280 f.: Bericht v. Fischer, 10.6.1824. 303 Vgl. HStAD 10078 Kommerziendeputation Nr. 517 (Loc. 11096/XI. 315), Bl. 138 f.: Tuchmacherhandwerk Kirchberg an König, 7.12.1830. Vgl. mit ähnlichem Tenor für das Roßweiner und Großenhainer Tuchmacherhandwerk: ebd. Nr. 1528 (Loc. 11170/XIII. 2287), Bl. 72: Bericht v. Fischer, 28.10.1826; ebd. Nr. 530 (Loc. 11107/Loc. XIII. 764), o. Bl.: Tuchmacherinnung Großenhain an König, 6.3.1831. 304 Vgl. Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 48; Thieme, Eintritt, S. 53, 57.
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West Yorkshire erst nach 1850 auf breiter Front durch.305 Vielmehr war die sächsische Tuchmacherei in der Qualität der Zurichtung der gewebten Stoffe gegenüber der ausländischen Konkurrenz ins Hintertreffen geraten. Es werde allgemein geklagt, hieß es etwa in der Relation zur Leipziger Ostermesse 1832, „daß die Sächsischen Tuchmacher so schlechte Apretur haben, und deshalb bei sonst gleichen Waaren gegen die Niederlausitz und Schlesien zurückstehen.“306 Dies war letztlich ein strukturelles Problem: Weder die selbständigen Tuchmacher- und Tuchscherermeister noch die örtlichen Tuchhändler verfügten in der Regel über die finanziellen Ressourcen, um durch Anschaffung der seit 1815 vermehrt in Gebrauch kommenden Scher-, Rau- und ähnlicher Maschinen die Appretur der wollenen Gewebe auf einen zeitgemäßen Stand zu bringen. Auch die gemeinschaftlich im Rahmen der Innungsorganisation betriebenen Walken und Färbehäuser entsprachen vielerorts nicht dem inzwischen von den Tuchkäufern erwarteten Qualitätsstandard. So beschwerten sich die italienischen Einkäufer auf der Leipziger Ostermesse 1833 über die „Fettigkeit“ der von ihnen erstandenen sächsische Tuche. Das in der Wolle enthaltene Tierfett war beim Walken nur unzulänglich entfernt worden.307 Mitte der 1830er Jahre entschloss sich die staatliche Wirtschaftsbürokratie, diesem Problem ihre besondere Aufmerksamkeit zu widmen. 1836 visitierte ein niederländischer Walkmeisters im Auftrag der Landesregierung die Tuchwalken des Königreichs und der sächsische Staat bot organisatorische und finanzielle Hilfestellung bei der Modernisierung solcher Einrichtungen an. Die drei dicken Aktenbände der Zwickauer Kreisdirektion, „die Tuchmanufactur zu Kirchberg betr.“, geben Zeugnis darüber, dass die Umsetzung dieses staatlich initiierten Programms im Einzelfall nicht unbedingt planmäßig verlief. Unter den Missständen im Kirchberger Tuchmacherhandwerk, die der Bericht des Justitiars Haupt auflistete, findet sich auch die Klage, dass weder die notwendigen Appreturmaschinen angeschafft noch die örtliche Innungs-Walkmühle verbessert worden sei. Allerdings war einige Jahre zuvor im Dorf Wolfersgrün, eine Stunde Fußweg von Kirchberg entfernt, eine zweite Walke errichtet worden und die alte Innungswalke hatte ihre Kapazitäten heruntergefahren. Ursprünglicher Zweck dieser neuen Anlage war es gewesen, es den Tuchmachern der Gegend zu ermöglichen, Stoffe besserer Qualität zu fertigen. Nur wenige Kirchberger Handwerksmeister hatten sich aber davon tatsächlich bewegen lassen, ihre gewohnte Produktion der geringwertigsten Tuche aufzugeben. Durch die Wolfersgrüner Walke hatten sich daher für die Kirchberger Tuchmacher nur die Wege verlängert und der Aufwand vergrößert.308 Der Vorschlag der Zwickauer Kreisdirektion, in Kirchberg eine weitere Walkmühle zu bauen, stieß deshalb bei der Tuchmacherinnung auf wenig Begeisterung. Nach längerem Hin und Her wurde 1845 aber doch eine moderne, mit Dampfkraft 305 306 307 308
Vgl. Jenkins/Ponting, Industry, S. 115; Lipson, History, S. 176. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 974 (Loc. 11473): Messrelation Ostermesse 1832. Vgl. ebd. Relation Ostermesse 1833; Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 31 f. Vgl. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1837, S. 31; Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 2538, Bl. 30, 35: Bericht Haupt, 6.6.1836; ebd. Nr. 2539, Bl. 2, 49: Berichte Justitiariat Kirchberg, 3.5. und 3.8.1838.
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ausgestattete Walkmühle in Kirchberg von der Innung in Betrieb genommen. Glücklich scheinen die Kirchberger Tuchmacher aber mit diesem modernen Anlage nicht geworden zu sein. Acht Jahre später resümierte die Tuchmacherinnung, das Unternehmen sei ein Fehlschlag gewesen, „als durch den Aufwand für die Feuerung des Dampfkessels und das Aufsichtspersonal bei der Maschine das Walkerlohn so erhöht werden muß, daß Jeder es zu umgehen sucht, seine Tuche im Dampfwerke zu walken. So kommt es, daß das Dampfwerk auf Kosten der Innung in Umtrieb gesetzt wird, insbesondere bei ausreichendem Wasser die längste Zeit des Jahres still steht…“309
Die Verbesserung der Appretur fiel dagegen überwiegend in den Aufgabenbereich der Tuchschererinnung. Die Zwickauer Kreisdirektion drängte in den späten 1830er Jahren die Innung, eine Appreturanstalt einzurichten. Der Staat würde für die Anschaffung der benötigten Maschinen aufkommen. Die Tuchschererinnung sollte dafür ein Fabrikgebäude mit Wasserradanlage zur Verfügung stellen, in dem die Rau-, Scher- und Dekatiermaschinen aufgestellt und betrieben werden konnten. Die Innung ließ sich die Bereitstellung von Maschinen auf Staatskosten wohl gerne gefallen, zeigte sich aber unwillig, auf die von der Kreisbehörde gestellte Bedingung der Einrichtung einer zentralen Produktionsstätte einzugehen. Nach Einschätzung des Kirchberger Justitiars sträubten sich die Tuchscherer vor allem deswegen gegen diesen Plan, weil ihnen das „Vertrauen zur guten Sache“ abging. Sie fürchteten, dass angesichts der geringen Bereitschaft der örtlichen Tuchmacher, zur Fertigung besserer Stoffe überzugehen, die „keineswegs unbeträchtlichen Kosten am Ende vergeblich aufgewendet seyn und der Innung verloren gehen“ würden. Zudem hatten sich einige Kirchberger Tuchscherermeister bereits eigene Zylinderscherund Dekatiermaschinen angeschafft. Es war also abzusehen, dass gerade die innovationsfreudigsten örtlichen Tuchscherer „dem heilsamen Zwecke der Hohen Staatsregierung hindernd entgegen treten“ würden.310 Die Vorschläge der Tuchschererinnung liefen zunächst darauf hinaus, die neuen Maschinen bei einzelnen ihrer Mitgliedern unterzubringen und auf einen Kraftantrieb zu verzichten. Schließlich einigte sich die Innung aber 1839 mit einem örtlichen Mühlenbesitzer, die für Rechnung der Staatskasse angeschafften und noch anzuschaffenden Appreturmaschinen in dessen Betrieb aufzustellen und ans Wasser zu legen. Im folgenden Jahr wurden dort zwei Zylinderschermaschinen, eine Bürstenmaschine, eine Raumaschine und eine Wollwaschmaschine in Betrieb genommen. Es dauerte eine geraume Zeit, bis diese neue Einrichtung auch tatsächlich angenommen wurde. Die Raumaschine wurde von den Kirchberger Tuchscherern ein Jahr lang gar nicht benutzt, „indem sich dieselben aus Unbekanntschaft mit der Behandlung der Maschine und deren Kräften nicht getraut haben, Tuche darauf zu machen“. Erst als die Staatsregierung androhte, die Maschinen wieder zurückzunehmen, hätten sich die Tuchscherer entschlossen, 309 Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 2540, Bl. 90: Tuchmacherinnung Kirchberg an Kreisdirektion Zwickau, 15.7.1853; vgl. ebd. Nr. 2539, Bl. 24 ff.: Tuchmacherinnung Kirchberg an Kreisdirektion Zwickau, 4.7.1838; ebd. Nr. 2540, Bl. 52: Tuchmacherinnung Kirchberg an Kreisdirektion Zwickau, 6.7.1845. 310 Ebd. Nr. 2539, Bl 2: Bericht Justitariat Kirchberg, 3.5.1838.
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1845 hatte sich das Vertrauen der Kirchberger Tuchschererinnung in die so widerwillig in Angriff genommene Einrichtung so weit gefestigt, dass sie bei der Regierung in Dresden beantragte, die fünf Jahre zuvor aufgestellten Maschinen käuflich zu erwerben.311 Mitte der 1840er Jahre scheint sich die Lage der Tuchmacher in Kirchberg tatsächlich konsolidiert zu haben. Ein Artikel der Deutschen Gewerbezeitung vom Mai 1845 vermittelt allerdings den Eindruck, dass sich an der Grundausrichtung und der Betriebsorganisation der lokalen Tuchmacherei nicht allzuviel gegenüber dem Jahrzehnt zuvor verändert hatte. Nach wie vor fertigte man in Kirchberg Tuche geringer Qualität, zu fünf Groschen die Elle, wenn auch „kühne Geister … sich inzwischen auch zur Fabrikation von zehn bis 15 Gr.-Tuchen, ja einzelne bis zu Thalerwaare“ empor schwingen würden. In der technischen Ausstattung sei die Kirchberger Tuchmacherei nicht zurückgeblieben. Die Spinnerei habe sich verbessert, wenngleich Schussgarn immer noch mit der Hand gesponnen werde. Es seien neue Scher- und gute Appreturmaschinen vorhanden. „Die Unabhängigkeit der einzelnen Meister im Gewerk hat sich erhalten, und jeder arbeitet auf eigene Hand seine paar Stücke …“ Insgesamt übten an die 700 Tuchmachermeister in dem Städtchen ihr Gewerbe aus. Mehr als hundert von ihnen brachten ihre Erzeugnisse zu den Messen nach Leipzig. Bemerkenswerterweise hatte sich der Vertriebsradius der Kirchberger Tuche nun weit über den Zollvereinsmarkt hinaus erweitert. Die Webwaren aus Kirchberg gingen hauptsächlich in das benachbarte Bayern, in die Türkei und nach Persien, sodann über Holland und die Hansestädte nach Amerika und die niederländischen Kolonien und schließlich in den hohen Norden, „wo man wegen Schur und Appretur nicht so heiklig ist und am liebsten kauft, was da warm hält“. Selbst über die örtlichen Geschäftsusancen wusste der Autor des Artikels Lobenswertes zu berichten. Es mache sich unter den Kirchberger Tuchmachern ein „gewisser Genossenschaftsgeist (Gewerks- oder Zunftgeist)“ geltend, „der Einen dem Andern auf die Finger passen läßt, so daß nicht gar zu viel Ungehöriges und Geschäfts-Zerrüttendes vorkommen kann“.312 Auf dem Weg zur Fabrik? In Kirchberg und anderen sächsischen Tuchmacherstädten, in denen sich zunfthandwerkliche Strukturen erhalten hatten, versuchte man augenscheinlich seit der Mitte der 1830er Jahre die Chancen zu nutzen, die sich mit dem Wegräumen inner311 Beide Zitate: ebd. Nr. 2540, Bl. 9 f.: Bericht Justitariat Kirchberg, 29.4.1841; vgl. ebd. Nr. 2539, Bl. 24: Tuchmacherinnung Kirchberg an Kreisdirektion Zwickau, 4.7.1838; ebd. Bl. 86 f.: Bericht Justitariat Kirchberg,14.5.1839; ebd. Nr. 2540, Bl. 61: MdI an Kreisdirektion Zwickau, 13.12.1845. 312 Deutsche Gewerbezeitung 23.5.1845, S. 240.
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deutscher Zollbarrieren, der Erschließung überseeischer Märkte und der verbesserten Konkurrenzfähigkeit durch den verbilligte Rohstoffversorgung eröffnet hatten. Dies geschah offenbar weitgehend im Rahmen des hergebrachten Produktionssystems. Mit staatlicher Unterstützung wurden Einrichtungen der Tuchverarbeitung modernisiert oder neu geschaffen und in kollektiver Trägerschaft von den Innungen oder freien Zusammenschlüssen der Meister betrieben. Lohnwalken und Lohnspinnereien boten den Tuchmachern ihre Dienste an. Zwar weiteten wohl einzelne Tuchmacher ihren Betrieb aus, schafften eigene Scher- und Raumaschinen an, übernahmen für weniger unternehmende Mitmeister Appretur und Vertrieb und wurden so zu Fabrikanten und Verlegern.313 Doch sollte man solche Erscheinungen nicht voreilig zur Regel, zu einer sich zwangsläufig vollziehenden Entwicklung machen. Zumindest bis zum Ende der 1840er Jahre erscheint die zunfthandwerkliche, auf eigene Rechnung arbeitende Tuchmacherei vielerorts strukturdominant gewesen zu sein. Auf der anderen Seite lassen sich aber gerade in der sächsischen Wollwarenmanufaktur des Vormärz deutliche Tendenzen verstärkter Betriebskonzentration erkennen. Diese Entwicklung hatte schon im 18. Jahrhundert begonnen, vor allem dort, wo hochwertige Tuche und Zeugwaren hergestellt wurden. Einzelne Kaufleute oder Handwerksmeister hatten unternehmerische Funktionen an sich gezogen und zwar oft nicht nur als Verleger, sondern auch als Fabrikanten im engeren Sinne. Oehler in Crimmitschau, Winkler in Rochlitz, Fiedler in Oederan oder die Gebrüder Eckhardt in Großenhain gehörten nach 1815, zum Teil schon in zweiter Generation zu den führenden Unternehmen der Wollwarenbranche in Sachsen. Die Verfügbarkeit technologischer Innovationen in der Wollspinnerei und in der Zurichtung der Gewebe verstärkte hier die Tendenz zum zentralen, verschiedene Verarbeitungsstufen integrierenden Fabrikbetrieb, und zwar in deutlich ausgeprägterer Weise als in der vormärzlichen Baumwollwarenbranche. Im Allgemeinen ging diese Entwicklung zunächst von den großen und kapitalkräftigen Manufaktur- und Verlagsgeschäften aus, die schon vor 1815 Teile ihres Betriebes zentralisiert hatten. Einige dieser Tuch- und Wollzeug-Unternehmer erweiterten und maschinisierten ihren Produktionsanlagen in den Jahren nach dem Ende der napoleonischen Kriege in schneller Abfolge. Als der Oederaner Textilunternehmer Adolf Fiedler 1817 in die Maschinenspinnerei einstieg, standen in seinem Betrieb insgesamt 33 Webstühle, auf denen Tuche unterschiedlicher Qualitäten gefertigt wurden. Darüber hinaus verlegte er in Zschopau zehn bis zwölf Tuchmachermeister, die in eigener Werkstatt geringwertige Tuche webten. Schließlich wurden in Oederan 15 Schermaschinen benutzt, die offenbar aus den Werkstätten der Firma Cockerill stammten. Die Konstrukteure dieser frühen Schermaschinen hatten sich an den Handgriffen der Tuchscherer orientiert und den Arbeitsablauf insoweit mechanisiert, als der Stoff mit vier bis sechs Scheren gleichzeitig bearbeitet wurde. Inzwischen war in Frankreich eine „heliocoidische“ Tuchschermaschine entwickelt worden, bei der ein mit 16 Klingen be313 Vgl. Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 31 f.; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1840, S. 17; ebd. 1845, S. 17; Deutsche Gewerbezeitung 16.4.1847, S. 182.
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setzter Zylinder den Stoff längs (statt quer) scherte, womit eine sprunghafte Produktivitätssteigerung einher ging. 1818 reiste ein Vertreter des französischen Herstellers nach Sachsen, um dort ein königliches Privileg für die neue Maschine zu beantragen. Adolf Fiedler erklärte sich auf Bitte der Kommerziendeputation bereit, die heliocoidische Tuchschermaschine in Oederan aufzustellen und zu testen. Nachdem Fiedler, sein Schwager, der Großenhainer Tuchmanufakteur Friedrich Eckhardt, und die Sachverständigen der Deputation sich von der Originalität und Brauchbarkeit der französischen Maschine überzeugt hatten, erteilte die Dresdner Regierung das Privileg für das Königreich Sachsen auf die Dauer von sechs Jahren. Fiedler und die anderen sächsischen Tuchunternehmer zögerten jedoch, sich solche Maschinen anzuschaffen. 6000 Taler erschien ihnen ein exorbitant hoher Preise zu sein. 1821 berichtete Fiedler den Beamten der Kommerziendeputation auf der Leipziger Michaelismesse von einem Arrangement mit dem französischen Hersteller, das den Wünschen und Bedürfnissen der sächsischen Interessenten entgegen kam. Die Zylinderschermaschine sei nun so modifiziert worden, dass der Tuchmacher mit ihr nach Belieben längs oder quer scheren könne. Zwar erreiche diese Maschine nicht die Leistung der Standardversion, doch koste sie dafür sehr viel weniger.314 Als Kreishauptmann von Fischer ein halbes Jahr später Fiedlers Fabrikanlagen in Oederan und Wingendorf besichtigte, fand er dort 36 mit Wasserkraft betriebene Schermaschinen alter Bauart vor – und eine neue französische Maschine, die Fiedler für 6000 Francs (ein Drittel des ursprünglich geforderten Preises) erstanden hatte. Fiedler präsentierte seinem Besucher ein eben vollendetes großes Fabrikgebäude, in dem eine größere Zahl Rau- und Schermaschinen ans Wasser gelegt und zudem ein Dampfapparat zur Heizung der Trockenstube untergebrachte werden sollte. Berichtenswert fand der Kreishauptmann auch, dass die in Oederan und Wingendorf aufgestellten Tuchmacherstühle mit Schnellschützen ausgerüstet waren. Dadurch erfordere das Weben feiner breiter Tuche statt zwei Arbeitern pro Stuhl nur noch einen. Im Vorjahr hatte Fiedler in Falkenhain an der Flöha mit einem Kostenaufwand von über 7000 Talern eine neue Walkmühle nach englischem Vorbild erbaut, „worin er die Tuche, nach vorgängigen ihnen ertheilten Zurichtungen, die er geheim hält – kalt walken läßt, was man bisher für etwas ganz Unmögliches … erachtet hat“.315 Eine Reihe weiterer sächsischer Tuchunternehmer baute Anfang der 1820er Jahre ähnliche Produktionsanlagen auf. Der Manufakturverleger Christian Wilhelm Pilz verließ 1820 seine Heimatstadt Roßwein, um auf seinem Rittergut jenseits der Elbe mit billigeren Arbeitskräften einen integrierten Großbetrieb mit Tuchweberei, Spinnerei, Walke und Appreturanstalt hochziehen. Trotz der Proteste der Bautzener 314 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 944, 947 (Loc. 11471): Relationen Ostermesse 1817 und Michaelismesse 1818; ebd. Nr. 953 (Loc. 11472): Relation Michaelismesse 1821; Gayot, Abenteuer, S. 75–83; Bökelmann, Wollgewerbe, S. 63, 70; Industrielle Zustände, S. 43 f. 315 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 953 (Loc. 11472): Relation Michaelismesse 1821; vgl. ebd. Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 183 f.: Bericht v. Fischer, 3.5.1822. Zur Maschinisierung des Spinnens, Scherens und Rauens bei Oehler in Crimmitschau seit 1814 vgl. Buttler, Textilindustrie S. 27 f.; sowie Forberger, Revolution 2/1, S. 257 f.
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und Kamenzer Tuchmacherinnungen erhielt Pilz eine obrigkeitliche Konzession für dieses Projekt. In Freiberg entstand zur gleichen Zeit unter der Firma Bucher & Löhrmann eine Tuchfabrik mit einer Belegschaft von an die 100 Arbeitern, die eine Dampfmaschine für den Antrieb von Krempel-, Scher- und Raumaschinen einsetzte. Nicht alle diese Unternehmungen waren erfolgreich. Die eben erwähnte Freiberger Fabrik wurde schon 1827 zwangsversteigert. Doch viele kleinere Akteure der Branche taten sich gegen die Konkurrenz der Großunternehmen, die den gesamten Verarbeitungsprozess der Tuchmacherei zusammengefasst und maschinisiert hatten, zusehends schwerer.316 Ähnliche Entwicklungen wie in der Tuchmanufaktur lassen sich in den 1820er und 30er Jahren in der sächsischen Streichgarn-Zeugweberei verfolgen. Einen Einblick in die Situation der weniger kapitalstarken Wirtschaftsakteure bietet dabei das gut dokumentierte Fallbeispiel Friedrich Gottlob Lehmanns aus Hainichen, der ein Tagebuch aus den Jahren 1827 bis 1830 hinterlassen hat. Lehmann, Jahrgang 1805, entstammte einem wohlhabenden Tuchschererhaushalt, lernte selbst das Tuchmacherhandwerk und ließ sich nach seiner Rückkehr von der Wanderschaft im Alter von 20 Jahren in Hainichen als Meister nieder. Lehmann verfügte über ein recht beachtliches Startkapital von 6000 Talern, das er für den Aufbau eines Manufakturund Verlagsgeschäftes einsetzte. Er stellte sechs Webstühle in einem Hintergebäude des väterlichen Geschäfts auf und ließ dort überwiegend Flanellstoffe fertigen. Zudem beschäftigte er noch einige Tuchmacher in ihrer eigenen Werkstatt als Verlagsarbeiter. Lehmann besorgte den Einkauf der Rohwolle, unterzog sich selbst der stupiden und zeitaufwendigen Arbeit des Lesens der Wolle, ließ sie in Freiberg in einer Maschinenspinnerei zu Streichgarn verarbeiten und verteilte das Garn an seine Weber. Über die weitere Bearbeitung und Zurichtung der rohen Flanellstoffe ist aus Lehmanns Tagebuch nur Bruchstückhaftes zu erfahren. Breiten Raum nimmt dagegen die Vermarktung der Erzeugnisse ein. Auf der einen Seite versandte Lehmann Stoffe auf Bestellung an auswärtige Handelshäuser, u. a. nach Dresden, Hamburg und Amsterdam. Auf der anderen Seite brachte er seine Streichgarngewebe im Frühjahr und im Herbst zu den beiden viel besuchten Leipziger Messen.317 Rund zwei Wochen verbrachte Friedrich Gottlob Lehmann jeweils im April/ Mai und im September/Oktober in Leipzig, mietete einen Verkaufsraum an und bot seine im Planwagen von Hainichen aus herbeigeschafften Moltons, Hemdenflanelle und ähnliche wollene Stoffe zum Verkauf an, akquirierte Bestellungen und kaufte Wolle ein. Seine Tagebuchaufzeichnungen zwischen der Ostermesse 1827 und der Michaelismesse 1829 dokumentieren eine lange und frustrierende Reihe geschäftlicher Misserfolge. Lehmann sah sich immer wieder vor die Wahl gestellt, entweder 316 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 951 (Loc. 11472): Relation Michaelismesse 1820; ebd. Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 185: Bericht v. Fischer, 3.5.1822; Bökelmann, Wollgewerbe, S. 70 f.; Keil (Hg.), Lehmanns Tagebuch 1, S. 146 f. (13.7.1827). Zu ähnlichen Entwicklungen im Aachener Revier vgl. Ebeling, Existenzbedingungen, S. 143; ders., Macht, S. 441 f. 317 Vgl. Keil, Lehmanns Dorf, S. 5–8; ders. (Hg.), Lehmanns Tagebuch 1, S. 132 (13.6.1827); 137 (21.6.1827); 155 (19.7.1827); ebd, 2, S. 95 (28.10.1828), S. 217 f. (12.6.1829).
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mit Verlust zu verkaufen oder seine Ware wieder mit nach Hause zu nehmen. Dabei musste er zur Kenntnis nehmen, dass die größeren Konkurrenten, ihre Flanelle billiger anboten und dennoch auf ihre Kosten zu kommen schienen.318 „Es ist hier auf der Messe ein wahrer Jammer und Elend mit den Preisen“, schrieb er im April 1828, „und oft frage ich mich, thust du auch alles, um sie so billig herstellen zu können als Andere?“319 Gewiss spielte auch die geschäftliche Unerfahrenheit des 22- bis 24jährigen Lehmann eine Rolle, der es in Leipzig mit ausgefuchsten Händlern zu tun bekam, die aus Hamburg, Brody, Odessa oder Bukarest angereist waren, um hier große Warenpartien einzukaufen. Soweit sich aus den Tagebüchern herauslesen lässt, ging es aber den anderen kleinen Wollwarenverlegern und Tuchmachermeistern aus Hainichen und Umgebung kaum anders.320 Im Mai 1829 notierte Lehmann eine niederschmetternde geschäftliche Bilanz: „Meine gehaltene Inventur hat … ausgewiesen, dass ich verloren habe. 834 Thaler 8 Groschen ist das Defizit. Eine schreckliche Summe für einen, der nur 2 Jahr Geschäfte macht, welches nur 5.500 Thaler ohngefähr werth ist, und noch keine wirklichen Verluste erlitten hat!“.321
Mehrfach spielte Lehmann mit dem Gedanken, sein Geschäft ganz aufzugeben und lieber von den Zinsen seines Vermögens zu leben, anstatt seine Kapitalressourcen immer mehr schrumpfen zu sehen. Es finden sich aber auch in den Aufzeichnungen Ansätze zu anderen Wegen aus der Misere. Zwei Monate vor der betrüblichen Geschäftsinventur hatte sich Lehmann gemeinsam mit einem befreundeten Kollegen eine Dekatiermaschine angeschafft. Zwar sei die Maschine „für das Geld viel zu theuer“ gewesen, „welches uns jedoch noch nicht reuen soll, wenn sie nur ihren Endzweck“ erreiche, nämlich das Einlaufen der Ware zu verhindern und ihren Glanz zu erhöhen.322 Das Bestreben, die Konkurrenzfähigkeit der eigenen Erzeugnisse durch eine verbesserte Appretur zu erhöhen, spricht auch aus dem Versuch, mit dem Chemiker Lampadius, Professor an der Freiberger Bergakademie, ins Gespräch zu kommen. Lehmann wollte herausfinden, „ob es nicht möglich sey, unsere Waare ohne Walken rein und weiß zu machen, und ob man nicht das Einlaufen der Waare (so wie die Englische) verhindern könne“. Lampadius stellte auch tatsächlich mit den Flanellproben, die ihm Lehmann geschickt hatte, Versuche an. Was letztlich dabei herauskam, ist dem Tagebuch nicht zu entnehmen.323 Dafür findet sich im August 1829 ein Eintrag, der wegweisend für die weitere unternehmerische Laufbahn Friedrich Gottlob Lehmanns erscheint. Es dränge sich ihm der Gedanke auf, heißt es da, „nur wenn ich Maschinerie am Wasser hätte, ist es möglich mit anderen zu concurrieren und etwas zu verdienen“. Lehmann hatte zwar schon eine ihm geeignet erscheinende Stelle für die Anlage einer Wassermühle ausfindig gemacht, rätselte aber noch, wie er die notwendigen Kapitalien 318 Vgl. Keil (Hg.), Lehmanns Tagebuch 2, S. 5 f. (24.4.1828); S. 226 (29.6.1829); ebd. S. 276 (30.9.1829). 319 Ebd. S. 289 f. (21.4.1828). 320 Vgl. ebd. S. 76 (28.9.1828). 321 Ebd. S. 206 (23.5.1829). 322 Ebd. S. 165 (18.3.1829). 323 Zitat: ebd. S. 173 (27.3.1829); vgl. ebd. S. 190 (26.4.1829).
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aufbringen sollte.324 Da das Tagebuch Anfang 1830 abbricht, bleibt im Dunkeln, wie es ihm in Laufe der nächsten Jahre gelang, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Es ist aber wohl anzunehmen, dass auch Lehmanns Geschäft einen Aufschwung genommen hatte, seitdem der Zollverein der sächsischen Streichgarnweberei 1834 die deutschen Rohstoff- und Absatzmärkte geöffnet hatte. F. G. Lehmann taucht erst wieder in den überlieferten Quellen auf, als er 1837 im Dorf Böhrigen bei Roßwein eine Streichgarnspinnerei in Betrieb nahm. Im Laufe des folgenden Jahres kamen auf dem Nachbargrundstück eine Walkmühle und eine Wollwäscherei dazu. Lehmann hatte also doch noch die Mittel aufbringen können, um „Maschinerie ans Wasser“ zu legen. Zunächst führte er seine Handweberei und seinen Tuchverlag in Hainichen weiter. 1843/45 konzentrierte er seinen gesamten Betrieb in Böhrigen und erweiterte die dortigen Anlagen in den folgenden Jahren stetig. Schon 1846 fand das „großartige geschlossene Etablissement von F. G. Lehmann in Böhrigen bei Roßwein“ und die hier produzierten Flanelle in einem Marktbericht der Deutschen Gewerbezeitung aus dem italienischen Umschlaghafen Livorno lobende Erwähnung.325 Friedrich Gottlob Lehmanns Fabrikgründung Mitte der 1830er Jahre war kein Einzelfall, sondern zeigt einen Entwicklungsschub bei der Entstehung einer sächsischen Streichgarnindustrie an. Allein zwischen 1834 und 1836 entstanden in Sachsen 38 Tuchappreturbetriebe und 16 Appreturanstalten für Wollzeuge, die meisten von ihnen als Teil größerer Produktionsanlagen, dazu 35 Streichgarnspinnereien und zehn Walkmühlen für Tuche und Wollwaren.326 Neben die wenigen großen Verlagsunternehmer, die schon im 18. Jahrhundert angefangen hatten, ihre Eigenbetriebe auszubauen, trat nun eine zusehends breitere Schicht von Fabrikanten, die Spinnerei, Appreturanstalt und Weberei im eigenen Betrieb integrierten. Gleichzeitig wuchs aber in den lokalen und regionalen Zentren des Wollwarengewerbes auch die absolute Zahl der auf Lohn oder eigene Rechnung arbeitenden Tuch- und Zeugmachermeister. Ebenso vermehrten sich die reinen Verlagsgeschäfte und die selbständigen Zuliefer- und Endfertigungsbetriebe. Dieser Wandel lässt sich gut an der Entwicklung der Stadt Crimmitschau seit dem späten 18. Jahrhunderts nachvollziehen. 1794 hatte die Stadt 1800 Einwohner und wurde wirtschaftlich dominiert von den Fabrik- und Verlagsunternehmern Oehler und Seyffarth. Beide Unternehmen stellten eine breite Palette von Textilien her: Tuche, andere Streichgarnstoffe, Kammgarnzeuge und sogar baumwollene und seidene Waren. Fünfzig Jahre später lebten in Crimmitschau etwa 6000 Menschen. 300 Tuchmacher-, 200 Zeugmacherund 60 Leinewebermeister mit insgesamt 1100 Gesellen und 300 Lehrlingen arbeiteten in der Stadt auf rund 2000 Webstühlen. Die Grenzen zwischen den Weberinnungen hatten sich mittlerweile stark verwischt. Es stand den Meistern und ihren Gesellen faktisch frei, Woll- und Baumwollgewebe aller Art zu fertigen. Vornehm324 Ebd. S. 260 f. (23.8.1829). 325 Deutsche Gewerbezeitung 3.4.1846, S. 157; Vgl. Keil, Lehmanns Dorf, S. 38–47, 73 f.; HStAD 10736: MdI Nr. 05950, Bl. 13 f.: Tabellarische Übersicht über die im Laufe des Jahres 1845 im Leipziger Kreis-Directions-Bezirke neuerrichteten Fabrikanlagen. 326 Daten nach: Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1837, Beilagen II und III, S. 138, 142 ff.
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lich wurden in Crimmitschau in den 1830er und 40er Jahren gemusterte Hosenstoffe – Buckskins, Cassinets – auf Streichgarnbasis gefertigt.327 1845 gab es in Crimmitschau 25 Streichgarnspinnereien, deren Besitzer nicht selten verschiedene Endfertigungsstufen auf dem Betriebsgelände integriert hatten. Insgesamt 16 Dampfmaschinen waren zu diesem Zeitpunkt dort in Betrieb und der bevorstehende Anschluss an die Eisenbahnstrecken nach Leipzig und ins Zwickauer Kohlenrevier ließ einen weiteren Aufschwung der Fabrikindustrie erwarten. Manche Fabrikanten hatten sich für bestimmte Produktionsstufen assoziiert und betrieben etwa Färberei oder Spinnerei gemeinsam. Daneben boten selbständige Lohnspinnereien, Färbereien und Appreturanstalten ihre Dienste an. Ihre Kunden dürften wohl vor allem unter den vielen kleinen Fabrikverlagsgeschäften zu suchen sein, die mit „geringem Kapital ausgestattet“, ihre Fabrikate „in fremden Localen gegen Lohn“ fertigen ließen. Trotz der beschriebenen Tendenzen der Betriebszentralisierung wurden die Gewebe selbst zum allergrößten Teil von den Webermeistern in ihren eigenen Werkstätten und Wohnungen hergestellt.328 In der vormärzlichen Kammgarnweberei war dagegen der Trend zur Zentralisierung der Produktionsanlagen wesentlich weniger ausgeprägt gewesen als in den Streichgarn verarbeitenden Branchen. Mitte der 1840er Jahre waren in der (reinen) Kammgarnweberei des Königreichs Sachsen etwa 4.000 Webstühle gangbar, eine ähnliche Zahl wie in der Tuchmacherei und rund doppelt so viele wie in der sonstigen Streichgarnweberei. An der Produktionsweise hatte sich hier seit dem ausgehenden 18. Jahrhunderts offenbar wenig geändert. Die Verleger und Kaufleute bezogen die Stoffe roh von den Webern und übernahmen die Endfertigung, das Färben oder Bedrucken und die Appretur im eigenen oder fremden Betrieb. Es lassen sich mehrere mögliche Ursachen benennen, dass der Anreiz zur Integration der diversen Produktionsstufen im zentralen Fabrikbetrieb in der sächsischen Kammgarnweberei vergleichsweise schwach ausgeprägt war.329 Zum Ersten lag dies wohl an der signifikant unterschiedlichen Entwicklung der Spinnerei. Wie oben ausgeführt, formierte sich die industrielle Kammgarnspinnerei als eigenständige Branche mit relativ großen Betrieben, die ihre Erzeugnisse überwiegend auf eigene Rechnung vermarkteten. Wegen der hohen Risiken und des exorbitanten Kapitalaufwands der Rohwollversorgung machte es für die Kammgarnwarenunternehmer wenig Sinn, ihr Gespinst selbst zu erzeugen – zumal wenn Kammgarne in guter Qualität in der Region verfügbar waren. Zum Zweiten wurden in Sachsen vorzugsweise weiche und wollige Kammgarngewebe gefertigt. Hier fiel eine Reihe von Verarbeitungsschritten weg, in denen in der Tuchmacherei und Streichgarnweberei von jeher Maschinen eingesetzt oder die nach 1815 mechanisiert wurden: das Walken, das Scheren und das Rauen der Rohgewebe. Schließlich 327 Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 19.8.1845, S. 391; ebd. 10.8.1847, S. 381; Kästner, Crimmitschau, S. 96 ff. 328 Zitat: Deutsche Gewerbezeitung 19.8.1845, S. 391; vgl. ebd. 10.8.1847, S. 381; Kästner, Crimmitschau, S. 95. 329 Vgl. Allgemeine Zeitung f. National-Industrie Nr. 91, 12.11.1844, S. 511; Wieck, Maunfakturund Fabrikindustrie, S. 35 f.
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zählten zu den sächsischen Kammgarnspezialitäten, zum Dritten, überwiegend glatte Artikel, die Merinos, Thibets, die für den Druck bestimmten Wollmusseline u. a. m. Anders als in der Chemnitz-Glauchauer Kammgarn-Mischweberei, die gemusterte Kleider- und Möbelstoffe fertigte, mussten hier den Webern keine teuren Jacquardstühle überlassen oder Muster geheim gehalten werden.330 Die statistischen Daten belegen, dass der Prozess der Unternehmenskonzentration in der sächsischen Wollwarenmanufaktur des Vormärz deutlich weiter fortgeschritten war als im Baumwollsektor. Ende 1836 wurden im Bereich der Wollwarenfertigung in Sachsen 216 Fabrik-, Verlags- und Faktorgeschäfte (ohne Spinnereien) gezählt. Genau die Hälfte davon, 108, fiel in die Kategorie der größeren Fabrik- und Verlagsunternehmen. Dagegen lag der Anteil der größeren Geschäfte in der Strumpfwirkerei bei rund 15 Prozent (44 von 278), in der Baumwollweberei nur bei knapp über zehn Prozent (91 von 870).331 Diese Unterschiede sind zwar wohl zu einem Teil darauf zurückzuführen, dass gerade in der Tuchmacherei das Verlagssystem sich von jeher weniger als in den Baumwollweberei und Strumpfwirkerei ausgeprägt hatte. Aber der Vergleich der absoluten Zahl der größeren Geschäfte in der Baumwoll- und der Wollweberei (91 zu 108) verweist immer noch auf einen signifikanten Unterschied in der Unternehmenskonzentration, wenn man bedenkt, dass die erstere Branche etwa drei mal soviel Arbeitskräfte beschäftigte wie die letztere.332 Anfänge der Maschinenweberei Auch dort, wo die Weberei in einem Zentralbetrieb zusammengefasst war, kamen kraftgetriebene mechanische Webstühle vor 1850 nur in ganz wenigen Fällen zum Einsatz. Mitte der 1830er Jahre gab es wohl erste Versuche, Maschinenstühle zur Fabrikation von Tuch- und Zeugwaren in Sachsen einzuführen. Die Statistik der 1836 neu entstandenen Fabrikunternehmungen führt die Weberei des Zwickauer Fabrikanten C. F. Semmel auf, die kammwollene Merinos auf mechanischen Webstühlen der Gebrüder Schönherr herstellte, ohne dass dabei klar wird, ob diese Maschinen über einen Kraftantrieb verfügten. Etwa zur gleichen Zeit kaufte die Regierung einige US-amerikanische Powerlooms an und überließ sie dem Kamenzer Tuchfabrikanten Heinrich Hüllmann unter der Bedingung, einheimischen Interessenten diese Maschinen vorzuführen und die nötigen Informationen zu ihrem Nachbau zu geben.333 Allerdings kamen diese Versuche nicht über ein Experimentierstadium hinaus und wurden wohl bald aufgegeben. Am Ende der 1840er Jahre gab es 330 Vgl. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1845, S. 20; Viebahn, Leinen- und Woll-Manufakturen, S. 46. 331 Daten nach: Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1837, Beilagen II und III, S. 138, 142 ff. 332 Vgl. Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 30 f., 33, 35, 41. 333 Vgl. HStAD 10736: MdI Nr. 01398a, Bl. 118: Übersicht der in den Jahren 1835 und 1836 im Bezirk der Kreisdirektion Zwickau errichteten Fabriken; Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1837, S. 138; Bökelmann, Wollgewerbe, S. 76.
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in Sachsen offenbar nur zwei Webfabriken, die Wollgarne auf kraftgetriebenen Maschinenwebstühlen verarbeiteten. In Zschopau wurden Cassinets, leichte Wollstoffe mit Baumwollkette, auf (wohl wassergetriebenen) Maschinenstühlen gewebt. Den gleichen Artikel stellte eine 1849 in Lindenau bei Leipzig errichtete Maschinenweberei her.334 Insgesamt waren die Anreize zu einer Maschinisierung des Webvorganges in den Wollwarengewerben schwächer als in der Baumwollwarenmanufaktur. Der Produktivitätsgewinn der frühen Maschinenwebstühle war hier zunächst nicht sehr erheblich. Bis in die 1840er Jahre hinein erreichten die Powerlooms nur das anderthalb bis zweieinhalbfache der Produktionskapazität eines Handwebstuhls. Zudem rissen die Wollgarnfäden häufiger als das Baumwollgarn. Gerade das aus kurzen Wollfasern hergestellte Streichgarn neigte leicht zum Reißen. Daher mussten die Fabrikanten entweder häufige Arbeitsunterbrechungen hinnehmen oder aber Garne für die Maschinenstühle verwenden, die um einiges teurer waren als das für ähnliche Stoffe von den Handwebern benutzte Gespinst. Die Vorteile des mechanischen Betriebs lagen vor allem in der gleichmäßigeren Verarbeitung der Gewebe.335 Schließlich scheint der Druck der britischen Konkurrenz in der Wollwarenfabrikation weniger ausgeprägt als in der Baumwollweberei gewesen zu sein. In der Streichgarnweberei vollzog sich die Maschinisierung selbst in Yorkshire aufgrund der eben genannten Materialeigenschaften bis in die 1840er Jahre hinein relativ langsam. Erst am Ende des Jahrzehnts vermeldete eine Umfrage unter sächsischen Verlegern und Fabrikanten, dass vor allem leichtere Streichgarn- und Mischgewebe nun in Großbritannien auf Maschinen gewebt würden. In der Worsted-Weberei waren Powerlooms dort schon seit den 1830er Jahren verbreitet, da die harten britischen Kammgarne wesentlich leichter als Streichgarne für die maschinelle Verarbeitung zu adaptieren waren. Britisches Worsted-Garn wurde auch in der sächsischen Kammgarn-/Baumwoll-Mischweberei in großen Mengen verwendet, aber eben meist für gemusterte Stoffe. Die weichen sächsischen Merino-Garne wiederum eigneten sich vorerst noch wenig für kraftgetriebene Maschinenstühle.336 Im Übrigen stellten sich einem Übergang zur Maschinenweberei im vormärzlichen Sachsen ähnliche Hindernisse in den Weg wie in der Baumwollweberei: Der Einsatz von Dampfmaschinen zum Antrieb der Webstühle war vorerst auf einige wenige Standorte in der Nähe von Kohlengruben beschränkt. Auch hatten innovationswillige Wollwarenunternehmer mit Protestaktionen und Widerständen der örtlichen Tuch- und Zeugmachermeister und -gesellen zu rechnen. So berichtet C. F. Kästner in seiner 1853 erschienenen Crimmitschauer Stadtchronik, der Fabrikant Bergner sei 1849 zur Auswanderung nach Amerika veranlasst worden, weil man ihm „in Brandbriefen drohte, sein Wohnhaus den Flammen Preis geben zu wollen,
334 Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 1.6.1849, 261; ebd. 15, 1850, S. 204 f.; Blumberg, Textilindustrie, S. 89; Barbe, Tuchindustrie, S. 51. 335 Vgl. Teuteberg, Wollgewerbe, S. 86 f.; Blumberg, Textilindustrie, S. 91 f. 336 Vgl. Lipson, History, S. 176; Hudson, Proto-industrialisation, S. 46; James, History, S. 511; Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 204 f.
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wenn er nicht von seinem Vorhaben, mechanische Webstühle oder sogenannte Kraftstühle anzuschaffen, abstehen würde.“ Allerdings hätten die Maschinenstühle, so fährt Kästner fort, in den folgenden Jahren bei einigen der Crimmitschauer Fabrikanten doch Eingang gefunden, „scheinen aber zu dem hiesigen Fabrikate sich weniger practisch auszuweisen.“337 Von Europa nach Übersee Bei der Vermarktung ihrer Wollzeuge und Tuche sahen sich die sächsischen Fabrikanten, Verleger und Kaufleute der Wollwarenbranchen nach 1815 vor ein ganz ähnliches Grundproblem gestellt wie ihre Pendants im Baumwollwarensektor: Vormals ergiebige Absatzmärkte in Ost- und Südeuropa oder in den größeren deutschen Staaten waren nur unter erschwerten Bedingungen oder gar nicht mehr zu erreichen. Russland war gerade für die sächsischen Fabrikate aus Schafwolle ein großer und wichtiger Markt gewesen. Zum russischen Staatsverband gehörte nun auch wieder der größte Teil Polens, allerdings durch eine Zollgrenze von den weißrussischen, baltischen und ukrainischen Gebieten des Zarenreiches getrennt. Zunächst waren die sächsischen Wollwarenunternehmer noch recht optimistisch, mit den altbekannten Widrigkeiten der russischen Außenhandelspolitik wie eh und je zurecht zu kommen. Auf der Michaelismesse 1817 vertrauten etwa die Rochlitzer Verleger-Fabrikanten Winkler & Sohn den Beamten der Kommerziendeputation an, wie sie gedachten, ihre Merinos trotz eines ausdrücklichen Einfuhrverbots in Russland auf den Markt zu bringen. Sie hatten gerade größere Mengen dieser feinen Wollzeuge an Kaufleute aus Brody verkauft. Diesen „sehr geübten und kühnen Contrabandiers“, so glaubten die Winklers, würde es „bey der bekannten Bestechlichkeit der Rußischen Grenzzoll-Officianten so gar schwer nicht fallen, neben den unverbotenen auch verbotene Waaren, zu welchen letztern die Merinos gehörten, … einzuschleifen“.338 Die Nachrichten von den Leipziger Messen über den Handel nach Nordosteuropa lassen aber vermuten, dass sich die Erwartungen und Hoffnungen der sächsischen Wollwarenhersteller in den nächsten Jahren nicht erfüllten. So brachte die Relation zur Michaelismesse 1821 die stark rückläufige Nachfrage der russischen und polnischen Messfieranten nach sächsischen Casimirs, Bombassins und WollCords mit der Anhebung des Zolltarifs an der Grenze zwischen Russland und Kongress-Polen in Verbindung. Den Petersburger Beamten waren die stark gesunkenen Zolleinnahmen aufgefallen. Nachforschungen brachten ans Licht, dass sächsische Waren in großem Stil auf der Warschauer Messe mit gefälschten Herkunftszertifikaten versehen wurden, um bei der Einfuhr über Brest-Litowsk in den Genuss des ermäßigten Zolles für polnische Produkte zu kommen.339 Zur gleichen Zeit hatten die russischen Behörden dem Missbrauch des Transit-Tuchhandels nach China ein 337 Kästner, Crimmitschau, S. 94. Vgl. Bergler/Ober, Pfau, S. 145. 338 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 945 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1817. 339 Vgl. ebd. Nr. 953 (Loc. 11472): Relation Michaelismesse 1821.
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Ende bereitet und damit ein weiteres Schlupfloch für sächsische Wollwaren gestopft. Spätestens Mitte der 1820er Jahre scheinen sich Winkler & Sohn nicht mehr primär auf die Schmuggelkünste der Brodyer Fernhändler verlassen zu haben. Sie versandten nun größere Mengen feiner und mittelfeiner Wollstoffe über England nach Russland. Da bestimmte britische Wollgewebe zu ermäßigten Zollsätzen in das Zarenreich eingeführt wurden, nutzte das Rochlitzer Unternehmen die Entrepôt-Drehscheibe London, um als Camlots deklarierte Stoffe „unter englischer Firma“ auf die russischen Märkte zu bringen.340 Bei aller Findigkeit beim Umgehen und Unterlaufen prohibitiver Einfuhrbestimmungen – der sächsische Tuch- und Zeugwarenexport nach Russland und Polen war seit 1820 offenkundig rückläufig. Allenfalls ganz feine Gattungen wie die Thibets, denen die russischen Gewichtszölle weniger anhaben konnten, fanden auf legalem Weg nach St. Petersburg und Moskau. Ansonsten regierte in den Messrelationen und Handelsberichten zunehmend der Konjunktiv: Wäre nicht durch den seit vier Jahren verdoppelten Eingangszoll in Russland der nordische Markt für diesen Artikel verloren, so hieß es 1834 über das Flanell, würde er in der sächsischen Fabrikation wohl eine große Rolle spielen.341 Ähnlich erging es dem sächsischen Wollwarenexport zumindest phasenweise in den italienischen Staaten, in Österreich und (vor 1834) in Preußen, Bayern und Württemberg. Ende 1827 klagte die Lengenfelder Tuchmacherinnung in einer Eingabe an den Landesherren, die Tuchfabrikation der Stadt sei infolge der hohen preußischen und bayerischen Zölle und des österreichischen Einfuhrverbots ganz in Verfall geraten. Die sächsischen Geschäftsleute seien gezwungen, die Ware in die Nachbarländer „einzupaschen“ und würden damit ihr Vermögen aufs Spiel setzen.342 Die Glauchauer und Meeraner Verleger behalfen sich damit, in den preußischen Grenzstädten Zeitz, Düben und Eilenburg Dependancen zu eröffnen und dort in Sachsen gesponnenes Kammgarn verweben zu lassen. Zwischen den ins Preußische verbrachten Garnballen befand sich aber „wohl auch mancher Posten roher Wollenwaaren, wie Camlots, Bercans, Bombasets, Merinos“, der im Schönburgischen Revier gefertigt worden war.343 Auch Spanien war vor den napoleonischen Kriegen ein wichtiger Absatzmarkt für kursächsische Kammwollerzeugnisse gewesen. Anfang der 1820er Jahre schien sich dort eine liberalere Außenhandelspolitik anzubahnen und aus Cádiz und anderen spanischen Seehäfen trafen Anfragen und Probebestellungen auf Merinos, Bombassins und ähnliche kammwollene Modestoffe in Sachsen ein. Zur Leipziger Ostermesse 1820 äußerten die Oehlers, die Winklers und andere sächsische Fabrikanten und Verleger die Hoffnung, „das Zollsystem dort zu Lande“ würde „in Folge der neuen Staatsverfaßung, eine gänzliche, die Waaren-Einfuhr minder beschrän340 Vgl. HStAD 10736: MdI Nr. 01433: Winkler & Sohn, Rochlitz, an Kommerziendeputation, 22.11.1824; ebd. 10078: Kommerziendeputation Nr. 980 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1835; Mittheilungen Industrieverein 1833, S. 150 f.; Blumberg, Textilindustrie, S. 150. 341 Ebd. 10078: Kommerziendeputation Nr. 979 (Loc. 11473): Relation Michaelismesse 1834; vgl. ebd. Nr. 974 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1832 342 Ebd. Nr. 517 (Loc. 11096/XI. 317), Bl. 187 f.: Tuchmacherinnung, Lengenfeld, an König, 19.11.1827. Vgl. ebd. Bl. 193: Bericht v. Wietersheim, 5.3.1828. 343 Sächsische Industrie-Zeitung 13.7.1860, S. 46.
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kende Umgestaltung erfahren“. Dies könnte auch einen erleichterten Zugang zu den spanisch-amerikanischen Kolonien eröffnen. Doch schon im folgenden Jahr musste man in Sachsen zur Kenntnis nehmen, dass die spanische Regierung ein Zollgesetz erlassen hatte, das die Einfuhr ausländischer Fabrikate entweder ganz verbot oder mit außerordentlich hohen Zöllen belastete. Fortan fand der spanische Markt in den Leipziger Messrelationen und den Berichten zur sächsischen Wollwarenausfuhr fast gar keine Erwähnung mehr.344 Die sukzessive Schließung europäischer Märkte beantwortete auch die sächsische Wollwarenwirtschaft mit verstärkten Bemühungen, ihre Produkte nach Übersee zu exportieren. Schon 1821 berichtete die Firma Oehler von bedeutenden Bestellungen für ihre bunten Flanelle aus Südamerika. Tuche aus Oederan, Zschopau und Hainichen fanden Mitte der 20er Jahre auf den Expeditionen der Rheinisch-Westindischen und Elbamerikanischen Kompanien ihren Weg über den Atlantik. 1825 war der Export sächsischer Wollwaren nach Lateinamerika schon so bedeutend, dass Kreishauptmann von Fischer die Befürchtung äußerte, Mexiko könnte die Einfuhr aus europäischen Ländern, die seine Unabhängigkeit noch nicht anerkannt hätten, erschweren oder ganz verbieten „und dadurch auch den zeitherigen, vortheilhaften Absatz der vaterländischen Fabricate vermindern oder gar vernichten“.345 Seit der zweiten Hälfte der 1820er Jahre fokussierte sich aber der transatlantische Export sächsischer Wollwaren mehr und mehr auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Der US-amerikanische Markt erwies sich auch in diesem Sektor auf längere Sicht als aufnahmefähiger und weniger risikoreich als die Ausfuhr in die Nachfolgestaaten des spanisch-amerikanischen Kolonialimperiums. Der Vertrieb nach Nordamerika war traditionell eine Domäne der britischen Wollwarenmanufaktur gewesen. Auch die Loslösung der 13 Kolonien vom Mutterland hatte daran nur vorübergehend etwas ändern können. Noch um 1820 kamen 95 Prozent der in die USA eingeführten Wolltextilien aus Großbritannien. Die kaum bestrittene Dominanz der Briten gründete nicht zuletzt in schwierigen Vermarktungsbedingungen, die hohe Kapitalkraft und Risikobereitschaft erforderten. Den Abnehmern mussten lange Kreditlinien eingeräumt werden. Die amerikanischen Großhändler übernahmen die europäischen Wollwaren gewöhnlich im Konsignationsverfahren, verkauften sie also auf Rechnung und Risiko der Lieferanten. Wer schnell Verkaufserlöse zu realisieren hoffte, musste seine Waren auf Auktionen versteigern lassen, meist zu stark reduzierten Preisen. Im Laufe der 1820er Jahre verlor das US-Exportgeschäft aber zunehmend seine spekulativen Züge, die es in den Jahrzehnten zuvor gekennzeichnet hatten. Die Konsignation von Waren, die in Süd- und Mittelamerika noch lange üblich war, trat in den USA zurück. Die Auktionen in den großen Hafenstädten der Ostküste, auf denen im Jahrzehnt nach 1814 Textilien in großem Stil verschleudert worden waren, verloren an Bedeutung, auch weil sie mit einer Abgabe belegt worden waren. An die Stelle solcher spekulativer Vertriebsformen traten ver344 Zitat: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 950 (Loc. 11472): Relation Ostermesse 1820; vgl. ebd. Nr. 952 f. (Loc. 11472): Relationen Ostermesse und Michaelismesse 1821. 345 Ebd. Nr. 1528 (Loc. 11170/XIII. 2287), Bl. 35 f.: Bericht v. Fischer, 17.11.1825.
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mehrt feste Bestellungen amerikanischer Importeure auf eigene Rechnung. Die Kreditlinien im Nordamerikageschäft verkürzten sich beträchtlich. Statt Zahlungszielen von einem Jahr waren in den 1830er Jahren nur noch vier Monate üblich. All dies kam nicht zuletzt den sächsischen Herstellern von Tuch-, Flanell- und Kammgarnwaren zugute, deren transatlantische Geschäftsbeziehungen sich nun zusehends verstetigten. Schon im letzten Quartal des Jahres 1826 fiel mehr als ein Viertel des Gesamtwerts aller beim neu eingerichteten US-Konsulat in Leipzig vorgelegten Waren auf Wollstoffe, überwiegend Casimir, feine Tuche und Flanelle. In den frühen 1830er Jahren hatten sich vor allem feine sächsische Kammgarngewebe einen beachtlichen Marktanteil in den USA erobert.346 Der Siegeszug der sächsischen Merinos Die nordamerikanischen Märkte waren in der Tat so bedeutsam geworden, dass eine Änderung der US-Zollbestimmungen im Herbst 1833 die sächsischen Wollzeug-Exporteure in helle Aufregung versetzte. Ab dem 1. Januar 1834 sollten nämlich Kammgarngewebe zollfrei zugelassen werden, der Zoll auf die aus Streichgarn gefertigten Stoffe jedoch auf 50 Prozent des Warenwertes erhöht werden. Doch eine Fehlübersetzung hatte dazu geführt, dass auch die sächsischen Merinos von den amerikanischen Zollbehörden zu den Woollen Goods gezählt wurden, die den 50-Prozent-Zoll zu tragen hatten. Im Dezember 1833 sandten die Leipziger Großkaufleute Gustav Harkort und Albert Dufour-Feronce, deren Handelshäuser stark im sächsischen Wollwarenexport in die USA engagiert waren, ein Memorandum nach Dresden, in dem sie die Regierung dringend um eine diplomatische Intervention baten: „Da das sächsische sehr wichtige Fabrik-Geschäft in Merinos zu größtem Theile durch den Absatz nach den Vereinigten Staaten belebt und unterhalten wird, so würde die in Rede stehende Maßregel eine höchst unglückliche Stockung derselben, und mittelst dessen Ruin herbeiführen, und es ist deshalb dringenst zu wünschen, daß mit der größten Beschleunigung alle geeigneten Schritte gethan werden, um deren Zurücknahme zu bewirken.“
Es sei im Übrigen leicht nachzuweisen, dass die Merinos aus Kammwolle hergestellt würden, also zu den künftig zollfreien Worsted Goods gehörten. Im Februar 1834 konnte die Landesregierung Entwarnung geben: Die US-Behörden hatten ihre irrtümliche Interpretation des Zollgesetzes korrigiert, die New Yorker Handelsfirmen zwischenzeitlich stornierte Bestellungen sächsischer Merinos ohne Vorbehalt erneuert.347 1842 führte die amerikanische Regierung die Zölle auf Worsteds wieder ein, ohne dass damit aber das US-Geschäft der sächsischen Kammgarnprodu346 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 136: Bericht v. Fischer, 9.5.1821; ebd. Nr. 1528 (Loc. 11170/XIII. 2287), Bl. 17: Bericht v. Fischer, 13.6.1825; ebd. Nr. 979 (Loc. 11473): Relation Michaelismesse 1834; ebd. 10736: MdI Nr. 01422a, Bl. 31/1: Bericht Konsul Baltimore, 11.1.1828; ebd. Bl. 121: Bericht Konsul A. A. Melly, New York [1834]; ebd. 13779: Dispatches MF 1: „Statement of Goods …“ 15.9.– 31.12.1826; Hudson, Genesis, S. 163–177; Jenkins/Ponting, Industry, S. 146. 347 Zitat: HStAD 10736: MdI Nr. Nr. 06192, Bl. 35 f.: Memorandum 9.12.1833; vgl. ebd. Bl. 39 f.: MdI an Außenministerium, 10.12.1833; ebd. Bl. 49 f.: Bericht 8.2.1834.
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zenten beeinträchtigt worden wäre. Die amerikanische Worsted-Weberei war längst noch nicht in der Lage, die Nachfrage auf dem Binnenmarkt selbst zu decken.348 Die sächsischen Merinos und andere hochwertige Kammgarnartikel reüssierten nicht allein auf den amerikanischen Märkten, sondern fanden auch in Europa und der Levante beträchtlichen Absatz. Bemerkenswerterweise schreiben die Messrelationen, die Berichte der sächsischen Handelskonsuln und ähnliche Quellen den sächsischen Kammgarnartikeln seit den 1830er Jahren fast durchweg eine überlegene Marktposition zu. Beinahe euphorisch, aber dennoch nicht untypisch, mutet etwa die folgende Stellungnahme des Londoner Kaufmanns John Colquhoun, seines Zeichens königlich-sächsischer Generalkonsul für Großbritannien, aus dem Jahr 1837 an: „The British Manufacturers with all the advantages of capital & machinery cannot compete in quality with the Saxon fabric. Saxony … now surmounted every obstacle, has entered into fair Commercial Competition with her more wealthy opponent and must ultimately succeed in securing for the Sale of her Merino Woollens the undisturbed possession of the Markets of the world.“349
Dabei waren die Kammgarnwarenhersteller in Leeds und Bradford zu diesem Zeitpunkt längst zum massenhaften Einsatz kraftgetriebener Webmaschinen übergegangen, während in Sachsen noch kein einziger mechanischer Wollwebstuhl in Betrieb war. Wie war es also möglich, dass die sächsischen Merinos und Thibets unter diesen Bedingungen unangefochten die Weltmärkte beherrschten? Ein Ansatzpunkt, um dieses offenkundige Rätsel aufzulösen, liegt in den schon erwähnten Unterschieden der sächsischen und britischen Kammwolle. Die kurze, krause sächsische Merinowolle, auf deren Verfügbarkeit im Lande die regionale Kammgarnweberei gründete, war ein hochwertiger Rohstoff, der für Gewebe in den oberen Preislagen verarbeitet wurde. Die schottische Schafwolle mit ihren langen und glatten Fasern taugte für ein qualitativ breiteres Spektrum an Worsted Goods. Die Bezeichnungen für die einzelnen in Sachsen und in Yorkshire hergestellten Kammgarnstoffe waren zum Teil identisch. Es gab sächsische Merinos und englische Merinos, sächsische Bombassins und englische Bombassins usw. Doch die unter solchen Gattungsnamen zusammengefassten Stoffe konnten recht unterschiedliche Qualitätsmerkmale aufweisen und entsprechend unterschiedliche Marktsegmente bedienen. So heißt es in der Relation zur Leipziger Michaelismesse von 1817, es seien zwar eine große Menge an englischen Merinos am Platz. Dies sei aber dem Absatz der sächsischen Stoffe gleichen Namens nicht abträglich, „denn wenn auch hier die Englische Schafwolle vor der Sächsischen den Vorzug eines mehrern Glanzes habe, so sey sie dagegen weniger fein und geschmeidig … und daher zu den feinen Merinos nicht geeignet.“350 Bis in die späten 1820er Jahre wurden diese in den Materialeigenschaften der Wolle angelegten Unterschiede zudem von der Verschiedenheit der Verspinnungs348 Vgl. Jenkins/Ponting, Industry, S. 133 f.; Taussig, History, S. 144 f. 349 HStAD 10736: MdI Nr. 01434a Bl. 137 f.: Bericht Colquhoun, 30.6.1837. 350 Ebd. 10078: Kommerziendeputation Nr. 945 (Loc. 11471): Relation Michaelismesse 1817. Vgl. James. History, S. 417. Inwieweit die britische Kammgarnweberei importierte sächsische Merinowolle verwendete, bleibt allerdings unklar.
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verfahren akzentuiert. In Großbritannien hatte sich bereits 1815 die maschinelle Kammgarnspinnerei auf breiter Front durchgesetzt. Doch scheint sich dadurch die qualitative Kluft zu den sächsischen feinen Kammgarnstoffen noch erweitert zu haben, denn das Maschinengarn war zunächst nur zu Geweben minderer Güte tauglich. Zudem machte das britische Wollwarengewerbe um 1820 wegen des hohen Pfund-Wechselkurses eine Absatzkrise durch – mit den für die dezentrale Manufaktur typischen Folgeerscheinungen: Die Weber versuchten sinkende Stücklöhne zu kompensieren, indem sie mit dem zugeteilten Garn mehr Ware produzierten, naturgemäß auf Kosten der Gewebedichte. In Sachsen konstatierte man zu Michaelis 1820 bereits einem Niedergang der englischen Zeugweberei.351 Diese Diagnose mag etwas voreilig gewesen sein. Doch der sächsisch-englische Wettbewerb im Worsted-Sektor blieb im Nachkriegsjahrzehnt von der eben skizzierten Konstellation geprägt. Auf der einen Seite waren die sächsischen Merinos und Bombassins den britischen Produkten gleichen Namens qualitativ überlegen, so dass sie auch zu deutlich höheren Preisen absetzbar waren. Sie traten daher nicht in die direkte Konkurrenz zu den in Leeds und Bradford wesentlich kostengünstiger produzierten Geweben. Doch gab es wohl auch Marktsegmente, in den die in Westsachsen gefertigten Kammgarnartikel die britische Konkurrenz stärker zu spüren bekamen. So wies Dürisch seine Vorgesetzten in Dresden 1818 auf eine um sich greifende Praxis hin, deren sich auch die sächsischen Verlagsunternehmer unter umgekehrten Vorzeichen von jeher gern und ausgiebig bedient hatten. Die englischen Wollwarenproduzenten würden sich nämlich, „der List bedienen, ihren Waaren das äußere Ansehen der Sächsischen zu geben, indem sie solche wie die hiesigen legen, einbinden und mit ähnlichen Etiquetten versehen.“352 Zur Ostermesse 1820 beklagten die sächsischen Kammgarnwarenunternehmer, dass die englischen Merinos weit besseren Abgang fänden als die sächsischen, obwohl sie „mit den hierländischen in Hinsicht auf innere Güte und Dauerhaftigkeit keine Vergleichung aushalten“. Sie seien nicht allein wesentlich billiger, sondern die Appreturmethoden der Engländer würden ihnen auch ein sehr ansprechendes Äußeres verleihen. Dies würde ihnen „unter der minder bemittelten Classe von Consumenten größere Abnahme“ verschaffen. Selbst unter den wohlhabenderen Verbrauchern fanden die mit allerlei Tricks äußerlich aufgebesserten englischen Kammgarnstoffe Anklang. „Die Engländer“, so der gleiche Messebericht webten in ihre Bombassins seidene Fäden ein, um ihnen den Glanz vollseidener Gewebe zu geben. Dieser Modeartikel werde „von der vornehmen Welt, absonderlich in Rußland zur Sommertracht sehr gesucht“. Dabei seien die englischen Bombassins so wenig dauerhaft, dass sie kaum einen kurzen russischen Sommer aushielten.353 Vorstöße sächsischer Kammzeugverleger und -manufakteure, in solche, von der britischen Konkurrenz bedienten Märkte einzudringen, scheinen wenig erfolgreich gewesen zu sein. Die Firma Winkler & Sohn aus Rochlitz, die als Marktführer unter 351 Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 951 (Loc. 11472): Relation Michaelismesse 1820. 352 Ebd. Nr. 1526 (Loc. 11126/XIII. 2177), Bl. 165: Bericht Dürisch, 27.12.1818. 353 Ebd. Nr. 950 (Loc. 11472): Relation Ostermesse 1820.
4.6 Die Streich- und Kammgarnweberei zwischen Zunfthandwerk und Fabrik
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den sächsischen Merino-Anbietern galt, versuchte sich seit 1817 mit der Herstellung des sog. Merino moiré. Zwar gelang es schnell, die Qualität des Vorbilds zu übertreffen. Doch gaben die Winklers ihr Experiment bald wieder auf, „weil dieses Zeug bey dem höheren Preise, den die Verfertiger ohne eigne Einbuße nicht niedriger stellen können, neben der englischen Waare gleicher Art unverkäuflich gewesen sein würde.“354 Auf der Basis eines von Hand gesponnenen Halbfabrikats waren die Expansionsmöglichkeiten der sächsischen Merino-Weberei recht beschränkt. Um so größere Attraktivität entwickelte umgekehrt die Anlage von Kammgarnfabriken in Sachsen für finanzkräftige Investoren, als Ende der 1820er Jahre die technischen Hindernisse einer Adaption der heimischen Merinowolle für die maschinelle Verspinnung beiseite geräumt waren. Das Marktpotenzial der sächsischen Kammgarngewebe erfuhr daher mit dem Durchbruch der regionalen Maschinenspinnerei einen bedeutenden Schub. 1837 hatten sich in Sachsen 29 größere Verlags- und Fabrikationsgeschäfte auf Herstellung und Vertrieb von Merinos und anderen kammwollenen Geweben spezialisiert; 1843 waren es bereits 66. Rund 4000 Webstühle waren zu diesem Zeitpunkt auf kammwollene Gewebe eingerichtet, und insgesamt 8000 Arbeitskräfte beschäftigte diese Branche, vor allem im nördlichen Vogtland um Reichenbach und im Raum Glauchau, Meerane, Rochlitz, Penig.355 Mit dem Durchbruch der Kammgarn-Maschinenspinnerei begann auch der Siegeszug der sächsischen Merinos auf den nordamerikanischen Märkten. Vor allem mit einer besonders feinen Merino-Variante, einem breit gewebten, Thibet genannten Stoff, waren die sächsischen Verlagshäuser nun erfolgreich. Winkler & Sohn gaben auf der Leipziger Ostermesse 1835 zu Protokoll, sie könnten den Andrang der Bestellungen auf Thibets, vornehmlich aus Amerika, bei weitem nicht befriedigen.356 Hochwertige Kammwollwaren aus sächsischer Produktion gelangten seit den 1830er Jahren selbst auf die stark abgeschirmten britischen und russischen Märkte.357 Auch im Osmanischen Reiches fanden Merinos und andere Kammwollfabrikate, wie aus einem Bericht über den Handel in Konstantinopel vom November 1835 hervorgeht, „runden Absatz und giebt man den Sächsischen Erzeugnissen den verdienten Vorzug“. Acht Jahre später war im einen Handelsbericht aus der osmanischen Metropole über die sächsischen Thibets zu lesen, man habe „um so weniger zu fürchten, daß dieser schöne Artikel verdrängt werde, weil die beispiellos niedrigen Preiße keine aufkeimende Concurrenz zulassen und der leichte, dabei dauerhafte Stoff, der in den lebhaftesten Farben zu liefern ist, sich vorzugsweise für die levantischen Trachten eignet und nicht leicht durch einen andren Stoff zu ersetzen ist.“358
354 Ebd. Nr. 946 (Loc. 11471): Relation Ostermesse 1818. 355 Zahlen nach: Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1837, Anlage III, S. 143; Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie, S. 35. 356 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 980 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1835. 357 Vgl. ebd. Nr. 974, 979 (Loc. 11473) Relationen Ostermesse 1832 und Michaelismesse 1834; ebd. 10736: MdI Nr. 01434a Bl. 137 f.: Bericht Colquhoun, 30.6.1837. 358 Zitate: ebd. 10736: MdI Nr. 06161, Bl. 32, 110: Berichte aus Konstantinopel November 1835 und 1843.
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Seit den 1830er Jahren entwickelte sich die Kammwollweberei in West Yorkshire zu einer Fabrikindustrie, die auf kraftgetriebenen mechanischen Webstühlen in Massen Merinos, Camlots und andere Stoffgattungen produziert worden. Die Vermarktung dieser Erzeugnisse folgte den Strategien der Baumwollwarenbranche, die sich nun als Bradford Principle auch in der britischen Wollwarenindustrie durchsetzten: aggressive Erschließung und Eroberung von Massenmärkten mit Produkten, bei denen hohe Umsätze niedrige Stückpreise kompensierten. Doch in diesem Fall kamen sich die britische Worsted-Industrie und die sächsische Kammwollwarenmanufaktur kaum in die Quere. Die jeweils im Land verfügbaren Rohstoffe besaßen markant unterschiedliche Materialeigenschaften, dem wiederum ebensolche Unterschiede des fertigen Produkts entsprachen. Zudem eigneten sich die hochwertigen, aus Merinowolle hergestellten sächsischen Kammgarne vorerst kaum zur maschinellen Weberei. Entsprechend gering war noch in den 1830er Jahren der Druck für die sächsische Merino-Manufaktur, in Nischen auszuweichen oder den Übergang zu industriellen Produktionsformen nachzuvollziehen. Ernsthafte Konkurrenz erwuchs den feinen sächsischen Merinos und Thibets allenfalls von französischen Artikeln ähnlicher Qualität.359 Der Boom der sächsischen Merinos und Thibets ebbte im Laufe der 1840er Jahre ab. Sie wurden in einigen Marktsegmenten von feinen Kammgarn-Baumwoll-Mischgeweben wie den Poils de Chèvre und Mousselines de Laines substituiert. Auch diese Artikel wurden im westsächsischen Revier, vor allem in Glauchau, gefertigt und durchaus erfolgreich vermarktet, selbst wenn importierte britische Garne verwendet wurden. Hier sicherte die Spezialisierung auf gemusterte Stoffe der sächsischen Handweberei einstweilen ihre Konkurrenzfähigkeit.360 Sächsische Tuche, Flanelle und Buckskins auf den globalen Märkten Bei der Vermarktung feinerer und mittlerer Tuche hatten es die sächsischen Produzenten – neben den Briten – vor allem mit Konkurrenten aus Belgien und dem Aachener Revier zu tun. Die Mechanisierung und betriebsorganisatorischen Zentralisierung dieser „niederländischen“ Tuchmanufaktur war weiter fortgeschritten als in Sachsen. Die Maschinenspinnerei hatte sich hier frühzeitig verbreitet, nachdem die Brüder John und James Cockerill 1807 in Verviers eine große Maschinenbauwerkstatt eröffnet hatten. So vermerkte die Relation zur Leipziger Ostermesse 1820 eine zunehmende Konkurrenz der Niederländer, die ihre Waren zu Preisen verkaufe, zu denen „hier zu Lande dasselbe in gleichguter Qualität nicht wohl herzustellen ist“. Der Bericht führte diese Diskrepanz vor allem darauf zurück, 359 Vgl. Hudson, Genesis, S. 168; Teuteberg, Wollgewerbe 83–87; Wieck, Manufaktur- und Fabrikindustrie S. 35 f.; Deutsche Gewerbezeitung 15, 1850, S. 325; Viebahn, Leinen- und Wollmanufakturen, S. 46; HStAD 13779: Dispatches MF 1: Bericht Flügel, 22.11.1838. Zur französischen Kammgarnwarenindustrie vor 1850 vgl. Honeyman/Goodman, Integration. 360 Vgl. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1845, S. 20; Jacobs, Textilzölle, S. 44; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 989 (Loc. 11474): Relation Michaelismesse 1844; ebd. 10736: MdI Nr. 01422a, Bl. 191: Bericht Konsul New York, Mai 1842.
4.6 Die Streich- und Kammgarnweberei zwischen Zunfthandwerk und Fabrik
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„daß dort zu Lande es mehr Maschinenspinnereyen giebt als in Sachsen, und daß alles mehr fabrikmäßig betrieben wird, als hier, wo der Tuchmacher sein Tuch von zünftigen Händen außer Haus walken, rauhen, färben, scheeren und appretiren laßen muß, während dort diese Operationen unter seinen Augen von abhängigen, unzünftigen Tagelöhnern und was das Rauhen und Scheeren insbesondere anlangt, meist mittelst Maschinen vorgenommen werden.“361
Der Vorsprung der Tuchmacher aus Aachen, Lüttich und Verviers war aber, folgt man den Leipziger Messrelationen, schnell aufgeholt. Schon zur Michaelismesse 1821 notierte der Berichterstatter der Kommerziendeputation, die Einführung der Schafwoll-Maschinenspinnerei in Sachsen, die vermehrte Verwendung von Schermaschinen und die Fortschritte der „großen Tuch-Manufacturen in Verfeinerung, und guter Appretur der Tuche und Casimire“ hätten dazu geführt, dass den Niederländern die Konkurrenz ihrer sächsischen Rivalen lästig zu werden beginne. Zudem hätten die Sachsen den Vorteil, die benötigte Wolle billiger einkaufen zu können. Ebenso begünstige sie die räumliche Nähe zum Leipziger Handelsplatz. Allerdings ist auch in den folgenden zweieinhalb Jahrzehnten in den amtlichen Berichten immer wieder von einem Vorsprung der „niederländischen“ Tuchgewerbe gegenüber der heimischen Manufaktur die Rede. Vor allem bei der Zurichtung der Rohgewebe in der Walke und den verschiedenen Stufen der Appretur blieb die belgisch-niederrheinische Konkurrenz offenbar der sächsischen Tuchmacherei überlegen. An diesem Standard orientierten sich meist auch die Anstrengungen der Wirtschaftsbeamten und größeren Fabrikanten-Verleger, die Produktionsanlagen und Herstellungsverfahren in Sachsen zu verbessern. Es war daher sicherlich kein Zufall, wenn die Dresdner Regierung 1836 einen niederländischen Walkmeister mit der Inspektion der sächsischen Walkmühlen beauftragte.362 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Marktlage der sächsischen Tuchwarenhersteller insoweit verbessert, als sie seit der Zollvereinsgründung auf dem preußischen Binnenmarkt gegenüber der Aachener Konkurrenz zu gleichen handelspolitischen Konditionen in Wettbewerb traten und vor belgischen Fabrikaten durch Einfuhrzölle geschützt waren. 1840 stellte Wieck fest, die belgische wie die englische Konkurrenz sei wegen der Eingangssteuer von 30 Talern pro Zentner auf ausländische Tuche im Zollvereinsgebiet ganz ausgeschieden.363 Weniger erfolgreich waren Streichgarngewebe aus Sachsen in den 1830er Jahren auf den europäischen und überseeischen Märkten. In einem 1834 verfassten Bericht führte der New Yorker Generalkonsul Melly den mäßigen Erfolg der sächsischen Tuch- und Flanellstoffe in den USA darauf zurück, dass diese Gewebe nicht so verarbeitet seien, wie es die amerikanischen Konsumenten von den englischen Tuchwaren gewöhnt seien. Melly schlug vor, die sächsischen „Fabrikanten“ sollten „ihre Tuche mehr den Englischen nachmachen, was nicht so schwer ist, da es die Niederländer schon mit gu361 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 950 (Loc. 11472): Relation Ostermesse 1820. Vgl. Zunkel, Wolle, S. 265; Viebahn, Leinen- und Woll-Manufakturen, S. 38. 362 Zitat: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 953 (Loc. 11472): Relation Michaelismesse 1821. Vgl. Forberger, Revolution 2/1, S. 48 Zum Industrialisierungsvorsprung des Aachener Reviers: Zunkel, Wolle, S. 265 f. 363 Wieck, Zustände, S. 48.
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
tem Erfolg begonnen haben“. Eine ähnliche Rückmeldung hatte im Jahr zuvor der sächsische Konsul in Mexiko gegeben: „Je mehr Fortschritte übrigens unsere sächsischen Tuchverfertiger in der gefälligen Appretur machen, je mehr werden sie hier Abzug finden.“364 Seit Mitte der 1830er Jahre mehrten sich die Versuche, diese Vorschläge in die Tat umzusetzen. Bereits 1835 gelang es mehreren Leipziger Kommissionshandelshäusern, vor allem der Firma Dufour Gebr. & Co., sächsische Tuche gewinnbringend nach Amerika zu exportieren. Voraussetzung dafür sei gewesen, dass es endlich gelungen sei, „die Zurichtung und äußere Ausstattung dieser Tuche in den Mittelgattungen von 36 bis 48 gr. per Elle nach Art der englischen Tuche, wie solche in Amerika vorzugsweise begehrt sind, zu bewirken.“ Aus Sicht der sächsischen Wirtschaftsbürokratie hatte dieser Erfolg einen Schönheitsfehler. Ein Teil der Tuch-Lieferungen in die Vereinigten Staaten war in Preußen gefertigt worden, „welche sich im Allgemeinen den zeitgemäßen Anforderungen besser zu fügen wissen, als die sächsischen“. Für den Berichterstatter von der Leipziger Messe waren solche Defizite in der Struktur der sächsischen Tuchmacherei begründet, in der „allgemeine[n] Zersplitterung der Kräfte im Handwerksbetriebe“.365 Ein Bericht des New Yorker Handelskonsulats von 1842 deutet an, dass diese Defizite nicht so einfach zu beseitigen waren. Dass mit sächsischen Tuchen „bis jetzt kein befriedigendes Resultat zu machen gewesen“ sei, führt der Bericht vor allem auf die Nachfragestruktur in den USA zurück. Die amerikanischen Verbraucher seien „von jeher an engl. Tuche, demnach an englische Appretur und besonders an bestimmte, stets gleiche, aus großen Fabriketablissements herstammende Qualitäten gewöhnt, welche in Sachsen, bei der Zersplitterung der Tuchfabrikation in vielen Ortschaften und besonders unter lauter Tuchmachern oder kleinern Fabrikanten, bis jetzt noch nicht zu erlangen gewesen sind.“366
Ähnliche Klagen sind auch den zeitgenössischen Marktberichten von den südeuropäischen Umschlagsplätzen zu entnehmen. 1840 berichtete das Gewerbeblatt für Sachsen aus Livorno, der Absatz sächsischer Tuche nach Italien habe in den vergangenen Jahren eher ab- als zugenommen. Ursache sei die mangelnde Haltbarkeit der in Sachsen gefertigten Tuchwaren, die beim Waschen stark eingingen. Daher würden rheinpreußische und belgische Fabrikate von soliderer Qualität und dauerhafterer Appretur den sächsischen meist vorgezogen. Mit dem gleichen Makel waren die Flanelle aus Sachsen behaftet. Man habe englische Hemden-Flanelle nachgeahmt und damit anfänglich großen Beifall gefunden. Als aber die Käufer „den Uebelstand des Eingehens“ bemerkten, „gaben sie der englischen Waare wieder den Vorzug“. Wäre dieser Übelstand zu beseitigen, „so würde das englische Fabrikat durch das sächsische leicht zu verdrängen sein“.367 Der gleiche Bericht machte die heimischen Wollwarenfabrikanten auf einen neuartigen Artikel aufmerksam, der in großen Mengen in ganz Italien abgesetzt 364 HStAD 10736: MdI Nr. 1422a, Bl. 121: Bericht Melly, [1834]; ebd. Nr. 06192, Bl. 32: Bericht Küstner, 11.3.1833. 365 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 980 (Loc. 11473): Relation Ostermesse 1835. 366 Ebd. 10736: MdI Nr. 1422a, Bl. 191: Bericht Konsulat New York, Mai 1842. 367 Gewerbeblatt 9.7.1840, S. 223.
Zwischenfazit: Die verzögerte Industrialisierung
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werde: Hosenzeuge aus Streichgarn, sog. Buckskins, die ganz überwiegend aus England und zu einem kleineren Teil aus dem Aachener Revier und aus Elbouf bei Rouen kämen. Ähnliches meldete das Gewerbeblatt im folgenden Jahr aus Triest. Es sei zu verwundern, dass die sächsischen Hersteller nicht versuchten, mit den englischen Fabriken „in die Schranken zu treten“, zumal „man bei einem schönen Dessein oft weniger auf die Güte des Stoffes achtet, und gern auch hohe Preise bezahlt, die den sächsischen Fabriken um so nutzbringender seyn dürften, als sie an der Quelle aller, für diesen Artikel geeigneten Wollqualitäten sind, und somit gleich beim Einkaufe des rohen Materials alle bedeutenden Spesen, als Transport, Zoll etc. ersparen, welche obige Länder entrichten, und somit auf die Waaren schlagen.“368
Die Buckskins entwickelten sich in den folgenden Jahren tatsächlich zu einer Spezialität der Crimmitschauer Weberei, die gerade auch auf den italienischen Märkten guten Absatz fand. 1846 war in einem Zeitungsbericht über das „sächsische Manufakturgeschäft in Livorno“ zu lesen, selbst Rheinpreußen habe in diesem Artikel gegen Sachsen einen schweren Stand. Auch beim Absatz von Flanellen habe man keine Ursache zu klagen, hätten doch die sächsischen Fabrikanten hier in den vergangenen Jahre große Fortschritte gemacht. Das leidige Problem des Einlaufens der Wollzeuge hatte man mittlerweile offenbar in den Griff bekommen.369 Dass die sächsischen Tuch- Buckskin- und Flanellproduzenten zu Beginn der 1840er Jahren daran denken konnten, ihre britische Konkurrenz von den amerikanischen und südeuropäischen Märkten zu fegen, lag nicht zuletzt daran, dass die Streichgarn-Maschinenweberei auch in Bradford und Leeds vor 1850 sich nicht flächendeckend verbreitet hatte. Seit Mitte der 1840er Jahre mehrten sich in den Marktberichten von den europäischen und überseeischen Umschlagplätzen die Anzeichen, dass die rheinischen, belgischen und sächsischen Streichgarnartikel ihre britischen Vorbilder zunehmend verdrängten. Zwischen 1844 und 1849 verloren die britischen Woollen Goods in den USA mehr als die Hälfte ihres Marktanteils an ihre kontinentaleuropäischen Konkurrenten. In seinem Jahresbericht für 1847 hielt der sächsische Generalkonsul in London die steigende Einfuhr sächsischer Tuchwaren fest. Die Sachsen lieferten um 15 Prozent billiger als ihre englische Konkurrenten. Meist würden diese Stoffe in die britischen Kolonien, nach China und Brasilien weiter versandt.370 ZWISCHENFAZIT: DIE VERZÖGERTE INDUSTRIALISIERUNG „Was haben wir von London gelernt?“, fragte im Herbst 1851 eine Artikelserie in Friedrich Georg Wiecks Deutscher Gewerbezeitung. Der Titel bezog sich auf die eben zu Ende gegangene berühmte Londoner Weltausstellung, auf der sich die britische Industrie als „Werkstatt der Welt“ präsentiert hatte. Dieses Ereignis gab u. a. 368 Gewerbeblatt 11.5.1841, S. 217. 369 Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 3.4.1846, S. 157; ebd. 15, 1850, S. 325; HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 989 (Loc. 11474): Relation Michaelismesse 1844, o. Bl. 370 HStAD 10736: MdI Nr. 01434b, Bl. 37 f.: Bericht Colquhoun, 20.1.1848. Vgl. Jenkins/Ponting, Industry, S. 147; sowie Saldern, Netzwerkökonomie, S. 122 f.
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auch den Anlass für eine Bestandsaufnahme der industriellen Entwicklung in Sachsen. Zunächst wurde hier am Schicksal der schlesischen Weber den Lesern vor Augen gehalten, welche Folgen es habe, wenn eine Region in ihrer technologischen und ökonomischen Entwicklung zurückblieb. Für das Königreich Sachsen fiel die Bestandsaufnahme jedoch alles in allem durchaus positiv aus. Es gebe zwar auch hier in bestimmten Branchen wie der Leinenweberei und der Kattundruckerei gewisse Parallelen zur schlesischen Misere. Doch insgesamt seien die Folgen des gewerblichen Niedergangs nie so grell zutage getreten wie im Nachbarland. Die große Mannigfaltigkeit der nebeneinander bestehenden Industriezweige, „die vielseitigere Berührung Sachsens und seiner Einwohner mit dem Weltverkehr, die größere Verbreitung geschlossener Etablissements, die im Ganzen seit längerer Zeit größere Sorge für Verbreitung gewisser Kenntnisse und die durch alle diese Umstände bedingte, von natürlicher Anlage unterstützte größere Beweglichkeit der Unternehmer nicht allein, sondern namentlich auch der Arbeiter, sind Ursache gewesen, daß an die Stelle einer verloren gegangenen Beschäftigung immer wieder eine neue getreten ist …“371
Der Verfasser der Artikelreihe führt hier das Überleben der sächsischen Exportgewerbewirtschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht primär auf den Übergang zu industriellen Produktionsformen zurück. Zwar registriert er gewisse Tendenzen zur Zentralisierung der Produktion und Bestrebungen zum Wissens- und Innovationstransfer. Doch im Vordergrund stehen andere Faktoren und Strategien: gewerbliche Diversität, Weltmarktorientierung, die Anpassungsfähigkeit und Flexibilität der Wirtschaftsakteure. Das Zwischenfazit, das sich aus den empirischen Befunden zur Entwicklung der sächsischen Textilwirtschaft zwischen 1815 und 1850 ziehen lässt, kann recht umstandslos an diese zeitgenössische Analyse anknüpfen. Am Ende dieses Zeitraums steckte die fabrikindustrielle Entwicklung in den meisten Branchen und Revieren des sächsischen Textilgürtels zwischen Plauen und Zittau immer noch in den Anfängen. Nur Baumwoll- und Wollgarne wurden maschinell im zentralen geschlossenen Betrieb hergestellt. In der Weberei und Wirkerei war fast überall die dezentrale Manufaktur die betriebsorganisatorische Regel. Dagegen hatte sich in den nordenglischen und schottischen Textilregionen die maschinelle Fertigung von Webwaren am Ausgang der 1840er Jahre bereits weithin durchgesetzt. Erstaunlicherweise waren aber die textilindustriellen Schlüsseltechnologien in Sachsen schon in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eingeführt oder zumindest erprobt worden. Am Anfang der 1820er Jahre wurden Baumwolle, Schafwolle und vereinzelt auch Flachs maschinell versponnen. Es wurden Appreturmaschinen für die Wollstoffverarbeitung verwendet, die ersten Walzendruckmaschinen hatten gerade ihren Betrieb aufgenommen und die ersten Dampfmaschinen waren in Spinnereien und Appreturbetrieben aufgestellt worden. Selbst mit kraftgetriebenen mechanischen Webstühlen hatten einige sächsische Fabrikanten bereits Erfahrungen gesammelt – noch bevor sich diese Maschinen in England und Schottland in größerem Maße verbreitet hatten. 371 Deutsche Gewerbezeitung 16, 1851, S. 424.
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Allerdings verlief die weitere Diffusion solcher industrieller Technologien in den sächsischen Textilrevieren in den folgenden drei Jahrzehnten oft ausgesprochen langsam. In der Weberei brach sie sogar für längere Zeit ganz ab. Dabei wurde die technische Ausstattung der textilgewerblichen Betriebe im Detail durchaus modernisiert, Verfahren wurden verbessert und verfeinert. Vor allem die rasche Verbreitung des Jacquard-Systems in den 1830er Jahren zeigt an, dass die man wohl nicht von einer generellen Innovationsfeindschaft der regionalen Wirtschaftsakteure sprechen kann. Doch zielten Verbesserungen der Webstuhltechnologie primär auf ihren Einsatz in der Handweberwerkstatt und nicht unbedingt im Fabriksaal. Zwar machte die Zentralisierung der Produktion in bestimmten Branchen – der Streichgarnwarenherstellung, der Möbelstoffweberei – merkliche Fortschritte. Doch gerade (vermeintliche) „Pilotindustrien“, die frühzeitig den Übergang zum Fabrikbetrieb vollzogen hatten, erlebten im vormärzlichen Sachsen längere Phasen der Stagnation (die erzgebirgische Baumwollspinnerei), schrumpften (die Kattundruckerei) oder verfielen fast vollständig (die vogtländische Baumwollspinnerei). Bis zu einem gewissen Grade kann man durchaus Probleme des Technologietransfers für den solchermaßen verzögerten Industrialisierungsprozess verantwortlich machen. Die in Großbritannien entwickelte und eingesetzte Spinnerei- und Weberei-Spitzentechnologie war auf legalem Wege lange Zeit kaum zu beschaffen und dementsprechend kostspielig. Allerdings machten auch in den Jahren nach der Aufhebung des britischen Maschinenexportverbots 1842 nur sehr wenige sächsische Textilunternehmer Gebrauch von den sich ihnen nun eröffnenden Möglichkeiten technologisch-industrieller Aufrüstung. Der Einsatz von Selfaktoren und Powerlooms blieb in Sachsen bis 1850 seltene Ausnahme. Mancherorts scheiterte der Übergang zur Webfabrik vorerst am Widerstand der Handweber. Die Industrialisierung der sächsischen Textilwirtschaft wurde auch aufgrund von Problemen mit der Energieversorgung verzögert. Der Betrieb von Wasserkraftanlagen war stark ortsgebunden und zudem oft jahreszeitlichen und klimatischen Schwankungen unterworfen. Dampfmaschinen konnten wiederum nur dann kostendeckend eingesetzt werden, wenn die Zufuhr billiger Kohle gesichert war. Erst im Laufe der 1840er Jahre rückte die Lösung des Energieproblems im Zuge des frühen Eisenbahnbaus und der Erschließung der erzgebirgischen Steinkohlenlager näher. Bis aber die südwest- und südostsächsischen Textilreviere flächendeckend per Bahn mit Stein- oder Braunkohlen versorgt werden konnten, sollten noch mehrere Jahrzehnte vergehen. Nun wurden aber selbst dort, wo Kohlen billig verfügbar oder genügend Wasserkraft vorhanden war, kaum kraftbetriebene Web-, Wirk- oder Druckmaschinen eingesetzt. Gelegentliche Versuche, solche Maschinen aufzustellen, wurden entweder rasch abgebrochen oder fanden keine Nachahmer, weil sie sich als wenig profitabel erwiesen hatten. Dieser Umstand lässt sich ohne die Berücksichtigung der Vermarktungsoptionen der sächsischen Textilwirtschaft in der Periode zwischen dem Ende der napoleonischen Kriege und der Gründung des Deutschen Zollvereins kaum schlüssig erklären. Die sukzessive Aussperrung des sächsischen Webwarenexports von fast allen europäischen Märkten schob hier einer erfolgversprechenden industriellen Massenproduktion einen Riegel vor. Diese Konstellation trieb namentlich in den südwestsächsischen Baumwollrevieren nach 1820 eine Neuorien-
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
tierung der Produktions- und Vermarktungsstrategien an: Weg von den einfachen, „glatten“ Baumwollstoffen, hin zur handwerklich anspruchsvolleren Fertigung bunter und gemusterter Gewebe in höheren Qualitäten; partieller Ersatz von Baumwollgarn durch teurere Materialien wie Kammgarn und Seide; Veredelung weißer Gewebe durch Besticken; Konzentration auf komplexe, mehrfarbige Muster beim Textildruck. Der in den Nachkriegsjahren eingeschlagene Pfad einer gedrosselten Industrialisierung bot sich den südwestsächsischen Wirtschaftsakteuren in mehrerer Hinsicht als erfolgversprechende Bewältigungsstrategie an: (1.) Das eben entfaltete Produktspektrum erhöhte die Vermarktungschancen auf zollgeschützten Absatzgebieten, indem es auf spezielle Nischen ausgerichtet war oder zu Preisen verkauft werden konnte, bei denen die Zölle weniger ins Gewicht fielen. Dafür konnte sogar in Kauf genommen werden, dass die Halbmaterialien (feines Baumwollgarn, hartes Kammgarn, Seide) importiert werden mussten. (2.) Die Konzentration auf Erzeugnisse, die mit Handwebstühlen und manuell einsetzbaren Druckplatten hergestellt wurden, erlaubte es den sächsischen Textilunternehmern, ihre Arbeitskostenvorteile gegenüber der westeuropäischen und nordamerikanischen Konkurrenz voll auszuspielen. (3.) Durch das Ausweichen auf Produkte und Artikel, die für eine maschinelle Fertigung noch nicht oder noch nicht hinreichend geeignet waren, gingen die sächsischen Wirtschaftsakteure wiederum einer Konkurrenz aus dem Weg, gegen die sie unter den obwaltenden Bedingungen kaum bestehen konnten. Die britische Baumwollwarenwirtschaft verfügte für den Übergang zur Fabrikweberei nicht allein über wesentlich bessere technologische Voraussetzungen und günstigere Kapitalmarktbedingungen. Sie war auch in der Lage, die Vorteile der Massenproduktion auszureizen: Ihren maschinell gefertigten Webwaren standen große geschützte Binnen- und Kolonialmärkte offen und sie genoss aufgrund handelspolitischer Vergünstigungen und ausgebauter Vertriebsnetzwerke privilegierten Zugang zu zahlreichen anderen, vor allem überseeischen Absatzgebieten. Die britischen Fabrikanten und Großhändler besaßen damit einen wesentlich größere Spielraum als ihre sächsischen Pendants, geringe Profitmargen über die Warenmenge zu kompensieren und Konkurrenten auf umstrittenen Märkten ggf. mittels Dumping auszuschalten. Allerdings lassen sich die vormärzlichen Entwicklungen in der südwestsächsischen Baumwollweberei nicht unbedingt für die gesamte Textilmanufaktur des Königreichs verallgemeinern. Die verschiedenen Branchen des Textilsektors waren mit den Herausforderungen protektionistischer Abschottung der Exportmärkte und des Wettbewerbs mit industriell fortgeschrittenen Konkurrenten in unterschiedlicher Ausprägung, Intensität und zeitlicher Abfolge konfrontiert. Die Oberlausitzer Leinwandmanufaktur musste sich nach 1815 im Zuge der Substitution einfacher Leinengewebe durch Baumwollstoffe damit abfinden, dass der Markt für ihre Erzeugnisse allgemein schrumpfte. Auch hier sind gewisse Tendenzen zur Musterweberei und zur stärkeren Konzentration auf höherpreisige Marktsegmente zu erkennen. In einzelnen Nischen, wie in der Damastweberei, war diese Strategie durchaus erfolgreich. Wegen des hohem Anteils un- und angelernter ländlicher Heimarbeiter waren solchen Übergängen zur „Kunstweberei“ hier aber wohl engere Grenzen ge-
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setzt als in Südwestsachsen. Auf den Oberlausitzer Dörfern drang zunehmend die einfache Baumwollweberei vor, die aufgrund des außerordentlich tiefen Lohnniveaus die Konkurrenz maschinengewebter Massenprodukte bis zur Jahrhundertmitte mehr schlecht als recht bestehen konnte. Seit den 1830er und 40er Jahren zeichnete sich aber auch hier ein Wechsel zur Wollmisch- und Buntweberei ab. Die sächsische Streichgarnweberei des Vormärz lässt sich wegen ihrer großen Varianz und räumlichen Zerstreutheit – um im Bild zu bleiben – kaum über einen Kamm scheren. Die Produktionsstrategien reichten hier vom Festhalten an zunfthandwerklich gefertigter Billigware bis zur quasi fabrikmäßigen Herstellung hochwertiger Artikel. Die technologisch-betriebsorganisatorischen Herausforderungen ließen sich in diesen Branchen im allgemeinen leichter durch Nachvollzug bewältigen als in der Baumwollweberei, da sie weniger von der Maschinisierung der Gewebeherstellung ausgingen als von Fortschritten in den Endfertigungsstufen. Die Kammgarnwarenbranche zehrte dagegen lange von einem Alleinstellungsmerkmal der westsächsisch-thüringischen Weberei, die auf den Materialeigenschaften der heimischen Merinowolle beruhte. Diese relativ hochpreisigen Stoffe, deren Fertigung sich auch bei glatten Artikeln noch für einige Zeit der Maschinisierung widersetzte, waren auf vielen der zollgeschützten Absatzmärkte begehrt und beinahe konkurrenzlos. Doch spätestens in den 1840er Jahren breitete sich auch im Kammgarnwarensektor die Muster- und Modeweberei aus. Die wohl eigentümlichste Entwicklung machte im Zeitraum zwischen 1815 und 1815 die erzgebirgische Wirkwarenmanufaktur durch. Die Erzeugnisse der Strumpf- und Handschuhwirkerei fanden zum Einen frühzeitig Zugang zu einem expandierenden überseeischen Massenmarkt. Zum Anderen stand hier die fabrikindustrielle Entwicklung auch in den westeuropäischen Revieren bis zur Jahrhundertmitte noch in den Anfängen. In diesem Falle gelang es den sächsischen Herstellern und Exporteuren, ihrer bereits länger etablierten englischen Konkurrenz innerhalb kurzer Zeit die Massenmärkte für einfache, ungemusterte Stapelwaren, vor allem in Nordamerika streitig zu machen und sie schließlich fast ganz zu verdrängen. So bleibt eine Gemeinsamkeit, die alle Branchen der Garn verarbeitenden Gewerbe des Königreichs Sachsens vereinigte: Nirgendwo machten fabrikindustrielle Entwicklungen im Kern des Produktionsprozesses, der Gewebeherstellung, im Zeitraum zwischen 1815 und 1850 nennenswerte Fortschritte. Dabei hatten sich die Bedingungen des Marktzugangs in den meisten Branchen seit den 1830er Jahren spürbar verbessert. Doch trotz der Zollvereinsgründung und der Erschließung des nordamerikanischen Marktes, vollzogen die sächsischen Wirtschaftsakteure – abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen – nicht den Übergang zum zentralisierten kraftgetriebenen Maschinenbetrieb, und zwar auch dort nicht, wo dies technisch wohl durchaus möglich gewesen wäre. Dies wird man wohl vor allem darauf zurückführen können, dass sich mittlerweile gewisse „Pfadabhängigkeiten“ herausgebildet hatten: Auf der einen Seite hatte die auswärtige Konkurrenz, seien es die preußische Kattundruckereien, sei es die britischen Maschinenweberei, bis Mitte der 1830er Jahre ihren Vorsprung an betriebstechnischem Know-how gegenüber den sächsischen Herstellern bedeutend vergrößern können. Auf der anderen Seite waren die Sachsen mit dem Übergang zur Bunt- und Jacquardweberei, zu Modear-
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4. Die verzögerte Industrialisierung 1815–1850
tikeln und mittleren und höheren Qualitäten immerhin so erfolgreich gewesen, dass sie dieses Terrain nicht ohne Weiteres aufzugeben bereit waren. Erst mit der durchgreifenden Maschinisierung der Musterweberei und der Wirkwarenherstellung sollten die Karten neu gemischt werden.
5. INDUSTRIALISIERUNG UND GLOBALISIERUNG 5.1 DIE CHEMNITZER UND GLAUCHAUER WEBEREI 1850–1879 Anfänge der Chemnitzer Fabrikweberei Im Dezember 1851 teilte der Rat der Stadt Chemnitz der ihr vorgesetzten Staatsbehörde mit, die „Herren Robert Hoesel und Rudolph Heydenreich allhier“ hätten um die Erteilung einer Konzession zur Errichtung einer Webwarenfabrik samt Färberei und Appretur gebeten. Die Bittsteller wollten mechanische Webstühle im „geschlossenen Etablissement“ von unzünftigen Arbeitskräften bedienen lassen. Der Chemnitzer Stadtrat befürwortete das Gesuch „auf das Wärmste“: „Denn ohne Einführung der Maschinenweberei würde Chemnitz in der Weberei auf die Dauer mit dem Auslande nicht zu Conkurriren vermögen und dieser so wichtige Industriezweig voraussichtlich bald aus den Mauern unserer Stadt verdrängt werden.“
Das geplante Unternehmen werde die Weberei in Chemnitz vor dem Untergang retten, werde es doch sicherlich zahlreiche Nachahmer finden.1 Nach einigem Hin und Her erteilte die Kreisdirektion Zwickau schließlich der Firma Hösel & Heydenreich im Juni 1852 die gewünschte Genehmigung zum Betrieb der mechanischen Weberei.2 Robert Hösel entstammte einer Familie unternehmender Webermeister. Salomon Hösel ist uns bereits als solcher am Ausgang des 18. Jahrhunderts begegnet. Ein Christian Gottlieb Hösel taucht in den 1830er Jahren in den Quellen als „Fabrikant“ bunter Baumwollwaren auf. Robert Hösel selbst hatte das Weberhandwerk erlernt, sein Geschäft dürfte aber wohl den Rahmen eines Handwerksbetriebs deutlich überschritten haben.3 Schon 1847/48 hatte Hösel einen ersten, vergeblichen Anlauf zur Gründung einer Maschinenweberei gemacht. Einige Jahre später erwarben nun er und sein Partner ein Fabrikgebäude der 1849 liquidierten Kattundruckerei Pflugbeil & Comp. Bis Ende 1852 waren mehr als 50 dampfgetriebene „Webemaschinen neuester Bauart“ in Gang gesetzt. 1855 errichtete Hösel zudem auf dem gleichen Gelände eine moderne, mit Selfaktoren ausgerüstete Baumwollspinnerei, die die eigene Weberei mit Garn versorgte.4 Kurze Zeit nach Hösel & Heydenreich beantragte auch der Wollwarenfabrikant Karl Moritz Fiedler aus Hainichen eine Konzession zur Anlage einer Flanellwebe1 2 3 4
Alle Zitate: Stadtarchiv Chemnitz: Ratsarchiv Kap. V/III, Nr. 116, Bl. 2: Stadtrat Chemnitz an Kreisdirektion Zwickau, 18.12.1851 Vgl. ebd. Bl. 17: Kreisdirektion Zwickau an Stadtrat Chemnitz, 18.6.1852. Vgl. HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 904 (Loc. 11467): Relation Ostermesse 1797, Bl. 87; Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau Nr. 1656, Bl. 265 g/h: Bericht 1.7.1839. Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 17, 1852, 472; ebd. 21, 1856, S. 62; Maschner, Weberei, S. 75; Welzel, Hösel, S. 6 f.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
rei auf dem Gelände der ehemaligen Hauboldschen Maschinenfabrik. Dort hatte er fünf Säle angemietet, um Maschinenwebstühle „durch Wasser-, wenn nötig durch Dampfkraft in Bewegung [zu] setzen“ und „gleichzeitig Färberei und Appretur, namentlich Rauen und Scheren“ zu betreiben. Schon im Oktober 1852 konnte Fiedler die ersten Webmaschinen in Betrieb nehmen.5 In den folgenden Jahren entstanden in Chemnitz eine Reihe weiterer solcher Betriebe. Von einer durchgehenden Ablösung der handbetriebenen Webstühle durch die Powerlooms konnte aber selbst noch in den 1860er Jahren nicht die Rede sein. 1860 waren in den Werkstätten der Chemnitzer Webermeister 2344 Handstühle „gangbar“, was noch annähernd dem Niveau der zweiten Hälfte der 40er Jahre entsprach. Zur gleichen Zeit liefen schätzungsweise 400 Webstühle im geschlossenen Fabrikbetrieb, wovon aber wiederum nur ein Teil von ihnen Maschinenstühle war.6 In den folgenden Jahren beschleunigte sich die Ausbreitung der Maschinenweberei in Chemnitz. Schon 1863 wurden in der Stadt 510 mechanische Webstühle gezählt. Zwei Jahre später gab es hier 17 mechanische Webereien mit insgesamt 786 Webmaschinen. Nun ging auch die Zahl der Handwebstühle signifikant zurück. 1863 war sie laut Innungsstatistik unter die 2000er-Marke gefallen; neun Jahre später gab es in den Hausweberwerkstätten noch 1441 handbetriebene Webstühle in Chemnitz, 1876 nur noch 920.7 Der Rat der Stadt Chemnitz scheint demnach doch etwas zu dick aufgetragen zu haben, als er Anfang der 1850er Jahre den bevorstehenden Untergang der Handweberei an die Wand gemalt hatte. Gerade bei den bunt gemusterten Artikeln, auf die sich die Chemnitzer Weber in den vorhergehenden Jahrzehnten spezialisiert hatten, blieb die Fertigung auf dem Handstuhl noch längere Zeit gegenüber der maschinellen Weberei konkurrenzfähig, bei komplexeren Mustern sogar überlegen. In den frühen 1860er Jahren waren denn auch gut drei Viertel der Chemnitzer Handstühle mit Jacquardvorrichtungen ausgerüstet. Robustere Gewebe wie Möbelstoffe und Tischdecken wurden 1863 auf rund 1000 Handstühlen und immerhin 290 mechanischen Stühlen gefertigt. Bei Kleiderstoffen und Tüchern kamen auf ebenfalls etwa 1000 Handwebstühle nur 60 Webmaschinen. Einfache glatte Baumwollgewebe wurden dagegen schon zu diesem Zeitpunkt vollständig maschinell produziert.8 Die Chemnitzer Maschinenwebereien fertigten zunächst hauptsächlich
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Stadtarchiv Chemnitz: Ratsarchiv Kap. V/III, Nr. 129, Bl. 3: Stadtrat Chemnitz an Kreisdirektion Zwickau, 23.9.1852; vgl. Deutsche Gewerbezeitung 18, 1853, S. 464. Daten nach: Sächsische Industrie-Zeitung Nr. 1, 1.6.1860, S. 4. Die Zahlenangaben in den zeitgenössischen Quellen sind oft widersprüchlich und unpräzise. So ist in der Deutschen Gewerbezeitung (20, 1855, S. 383) von 46 Chemnitzer „Webefabriken“ die Rede, von denen die beiden größten zusammengenommen 1.100 Webstühle verfügt haben sollen. Möglicherweise wurden hier die Stühle der beschäftigten Verlagsweber mitgezählt. Für die größte Firma – Eduard Lohse – die in der Gewerbezeitung mit 650 Stühlen und 800 Arbeitern verzeichnet ist, listet Uhlmann, Unternehmer, Anlage 56 (CD-R), für 1853 19 Arbeiter, sechs Kontoristen und 250 Verlagsarbeiter auf. Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 96 f.; ebd. 1871/72, S. 301; Deutsche Industrie-Zeitung 26.6.1878, S. 262; Maschner, Weberei, S. 68; Uhlmann, Unternehmer, S. 95. Zahlen nach: Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 96 f. Vgl. Maschner, Weberei, S. 72.
5.1 Die Chemnitzer und Glauchauer Weberei 1850–1879
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Moleskins, geköperte Baumwollstoffe für Arbeitshosen. Mit dem Übergang zur Fabrikweberei war also nicht selten ein Produktwechsel verbunden.9 Daher sollte man wohl nicht unbedingt von einem fließenden Übergang von der geschlossenen „Webmanufaktur“ zur mechanischen Fabrikweberei ausgehen. Unter den Gründern der Chemnitzer mechanischen Webereien befanden sich zwar durchaus Unternehmer, die schon zuvor eine mehr oder minder große Zahl von Handwebstühlen unter einem Dach vereinigt hatten. Nicht selten wurden in den neuen Fabriken neben den mechanischen auch Handwebstühle aufgestellt. So gaben etwa Hösel & Heydenreich 1852 an, sie hätten einen Saal mit 18 Handstühlen eingerichtet und würden zudem „fortwährend für gewisse Artikel außer Hause eine namhafte Anzahl von Webermeistern“ beschäftigen.10 Doch unterschieden sich die Motive für eine Zentralisierung der Produktion im geschlossenen Betrieb bei der Hand- und der Maschinenweberei signifikant. Die Chemnitzer Textilunternehmer, die in in den 1840er und 50er Jahren Webmanufakturen errichteten, hofften dadurch vornehmlich, eine größere Kontrolle über den Produktionsprozess zu erlangen und die mit der Verlagsweberei verbundenen Transaktionsrisiken zu minimieren. Die Herstellung komplex gemusterter, hochwertiger Gewebe erforderte eine besondere Sorgfalt. Es schien zudem ratsam, besseres Gerät einzusetzen als den Hauswebern gemeinhin zur Verfügung stand. Ein Dorn im Auge war den Verlagsunternehmern von jeher die Unterschlagung der von ihnen an die Hausweber ausgegebenen Materialien gewesen. Die Weber wiederum sahen es als eine Art Gewohnheitsrecht an, denjenigen Teil des ihnen ausgehändigten Garns, den sie nach der Fertigung des Stoffs übrig hatten, für eigene Zwecke zu verwenden. Dass es für diesen Vorgang ein eigenes Verb – „metzen“ – gab, deutet an, wie verbreitet diese Praxis offenbar immer noch war. Rechtlich stand das Garnmetzen zwar als Diebstahl oder Veruntreuung unter Strafe. Doch griff dieses Verbot nicht in den Fällen, in denen, wie in Chemnitz üblich, das vom Verleger gelieferte Garn formal in den Besitz des Webers übergegangen war. Bei billigen Baumwollstoffen mochte dies nicht sonderlich ins Gewicht fallen, vor allem, wenn Verleger und Faktoren von vornherein diesen Schwund in ihre Kalkulation einrechneten. Je mehr es aber auf eine hohe und gleichmäßige Verarbeitungsqualität ankam, desto weniger konnte dem Auftraggeber daran gelegen sein, dass der Weber auf Kosten der Dichte des Gewebes an Garn sparte. „Ueberhaupt ist“, so hielt 1858 ein Artikel in der Deutschen Gewerbezeitung über die Chemnitzer Weberei fest, „je kostbarer der zu verarbeitende Stoff je wichtiger die genaue Ueberrechnung des Aufwandes in einem gegebenen Fall. Denn es hängt oft Wohl und Wehe eines ganzen Industriezweiges von der richtigen Kenntniß des Selbstkostenpreises des Stoffes seiten der Fabrikanten ab …“11
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Vgl. Stadtarchiv Chemnitz, Ratsarchiv Kap. V/III, Nr. 116, Bl. 14 f.: Hösel & Heydenreich an Stadrat Chemnitz, 10.6.1852; Maschner, Weberei, S. 75; Deutsche Gewerbezeitung 17, 1852, S. 472; ebd. 21, 1856, S. 62. Stadtarchiv Chemnitz, Ratsarchiv Kap. V/III, Nr. 116, Bl. 14: Hösel & Heydenreich an Stadtrat Chemnitz, 10.6.1852. Vgl. auch ähnliche Angaben in anderen Konzessionsgesuchen: ebd. Nr. 129, Bl. 3: Stadtrat Chemnitz an Kreisdirektion Zwickau, 23.9.1852 (Fiedler); ebd. Nr. 130, Bl. 1: Wilhelm Vogel, Chemnitz, an den Stadtrat Chemnitz, 6.1.1853. Deutsche Gewerbezeitung 23, 1858, S. 81. Vgl. Horster, Gewerbeverfassung, S. 70 f.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Einige der im Stadtarchiv Chemnitz überlieferten Konzessionsanträge aus den 1850er und frühen 60er Jahren zielten allerdings gar nicht auf die Verlagerung der Produktion in ein „geschlossenes Etablissement“. Die Antrag stellenden Kaufleute wollten vielmehr lediglich die Erlaubnis, das Scheren der Ketten im eigenen Haus zu beaufsichtigen, um diese dann an die Heimweber auszugeben. Dadurch wäre ihnen die Kontrolle des Materialverbrauchs wesentlich erleichtert worden.12 In seinem Konzessionsgesuch an den Chemnitzer Stadtrat von 1855 zählte der Kaufmann Carl Anton Unger noch eine Reihe weiterer Gründe auf, die es für die örtlichen Verleger wünschenswert und notwendig mache, unmittelbaren Zugriff auf die Produktion zu nehmen. Den Webermeistern wäre es am liebsten, so führte Unger aus, „wenn der Kaufmann lediglich den Verkauf der Waare übernehme, in Anfertigung derselben aber ihnen vollkommen freie Hand ließe, und nur, weil ihnen das Capital dazu mangelt, die Rohstoffe ihnen zur Verarbeitung übermittelte“. Dies sei bei einfacheren Anforderungen durchaus weiterhin möglich. Wenn es sich aber um Modewaren handele, könne sich der „Fabricant … sich nicht mehr an die Zeiteintheilung und den guten Willen des Arbeiters binden.“ Zudem nötigten „Rücksichten auf das Mustereigenthum, das ohnehin unsicher genug dasteht, auf schleunige Effectivirung von Aufträgen, auf möglichst genaue Eintheilung des Rohmaterials, und deßen Verarbeitung … den Fabricanten, einen Theil der Vorbereitungsarbeiten selbst in die Hand zu nehmen …“13
Gerade das Risiko des Musterdiebstahls taucht besonders häufig als Begründung in den Konzessionsanträgen auf, bei denen es um die Aufstellung von Handwebstühlen ging. Die Verlagsunternehmer steckten u. U. beträchtliche Arbeit und Kostenaufwand in die Musterung ihrer Waren und deren Übertragung auf die Jacquard-Lochkarten. Oft handelte es sich um Modeartikel, so dass sie im raschen saisonalen Wechsel größere Kollektionen verschieden gemusterter Stoffe präsentieren mussten. Wurden Musterzeichnungen außer Haus gegeben, war es für skrupellose Konkurrenten ein Leichtes, sich dieser wertvollen Vorlagen zu bemächtigen und die Stoffe ohne den Kostenaufwand für die Musterung zu kopieren.14 So heißt es in einem Gesuch von 1856, es sei „unbedingt nothwendig, die Musterstühle im eigenen Haus zu haben, theils um sicher zu sein, daß die neuen Muster nicht in fremde Hände gelangen, theils aber auch, um das Entstehen & Anfertigen derselben überwachen & leiten zu können und nicht unnöthigerweise Geld & Zeit durch fehlgeschlagene Versuche zu verlieren“.15
In diesem Bereich standen die „Principale“ augenscheinlich noch vor ganz ähnlichen Problemen wie im ausgehenden 18. Jahrhundert. Das sächsische Urheberrecht schützte zwar Fabrikstempel und andere Warenzeichen, nicht aber Webmuster. Erst 12 13 14 15
Vgl. etwa Stadtarchiv Chemnitz Ratsarchiv Kap. V, Sektion III, Nr. 185, Bl. 4: C. A. Unger an Stadtrat Chemnitz, 20.8.1855; ebd., Nr. 152, o. Bl.: R. Albrecht an Stradtrat Chemnitz, 1.11.1856. Ebd., Nr. 185, Bl. 3: C. A. Unger an Stadtrat Chemnitz, 20.8.1855. Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 23, 1858, S. 81 ff.; ebd. 16, 1851, S. 427. Stadtarchiv Chemnitz Ratsarchiv Kap. V, Sektion III, Nr. 152, o. Bl.: E. Lohse und C. Illing an Stadtrat Chemnitz, 27.3.1856. Vgl. ebd., o. Bl.: R. Albrecht an Stadtrat Chemnitz, 1.11.1856.
5.1 Die Chemnitzer und Glauchauer Weberei 1850–1879
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1876 stellte ein Reichsgesetz die unauthorisierte Nachahmung von Mustern unter Strafe.16 Beim Übergang zur Maschinenweberei standen dagegen ganz andere Überlegungen im Vordergrund. Hier ging es weniger um die Reduktion von Transaktionskosten, sondern primär um eine Erhöhung der Produktivität: Mit dem Einsatz kraftgetriebener Webmaschinen ließen sich die Gestehungskosten pro Einheit u. U. drastisch senken, um so mehr, wenn es dadurch möglich wurde, gelernte durch ungelernte Arbeitskräfte zu ersetzen. Ein strittiger Punkt in den Konzessionierungsverfahren der 1850er Jahre war gewöhnlich, inwieweit es dem Antragsteller erlaubt werden solle, nicht-zünftige Arbeiter in seiner Fabrik zu beschäftigen. Hösel & Heydenreich erklärten 1852 kategorisch, es sei unmöglich, im Saal mit den mechanischen Webstühlen nur zünftige Weber zu verwenden. „Diese mechanischen Webstühle werden durch Dampfkraft getrieben, und wir brauchen zur Beaufsichtigung junge Leute und Mädchen. Wir haben z. B. in unserer mechanischen Weberei bei ganz großen Jacquardmaschinen zünftige Meister oder Gesellen arbeiten, dagegen bei mittelgroßen und kleinen Maschinen erwachsene Mädchen, die uns lieber als Meister und Gesellen sind, da sie die bei diesen Maschinen hauptsächlich anfallenden Arbeiten mit viel mehr Geschicklichkeit, Ruhe und Geduld verrichten als die männlichen Arbeiter.“
In der mechanischen Weberei seien daher „Frauenzimmer … dem besten Webermeister vorzuziehen“.17 Das nahe liegende Argument für die Bevorzugung weiblicher Arbeitskräfte verschwiegen die Konzessionäre allerdings: Frauen verdienten in der Maschinenweberei nur etwa die Hälfte dessen, was ein männlicher Arbeiter an Lohn erhielt.18 Zunftverfassung, Gewerbefreiheit und Industrialisierung Im Königreich Sachsen trat zum 1. Januar 1862 eine neue Gewerbeordnung in Kraft, die mit einem Schlag, die alte Zunftverfassung suspendierte und die allgemeine Niederlassungs- und Gewerbefreiheit verkündete. Es stand nun jedermann in Sachsen frei, Waren in unbegrenzter Menge und mit beliebigen Mitteln zu produzieren, zu diesem Zweck gelernte und ungelernte Arbeitskräfte beiderlei Geschlechts in beliebiger Zahl zu beschäftigen, und die so gefertigten Waren zu vertreiben. Verbietungs- und Regulierungsrechte lokaler Handwerks- und Kaufmannskorporationen wurden aufgehoben.19 Staatliche und kommunale Interventions- und Konzessionsbefugnisse wurden stark eingeschränkt. Allerdings verweist die eben dargelegte Praxis der Konzessionierung von Fabrikbetrieben darauf, dass nicht erst diese gesetzliche Reform der institutionellen Rahmenbedingungen unternehmerischen Handelns den Weg für eine Industrialisierung der Weberei frei machte. Mittels staatlicher Konzessionierung war es schon im 18. Jahrhundert möglich gewe16 17 18 19
Vgl. Horster, Gewerbeverfassung, S. 72; Maschner, Weberei, S. 161. Ebd. Nr. 116, Bl. 14 f.: Hösel & Heydenreich an Stadtrat Chemnitz, 10.6.1852. Vgl. die Angaben bei Maschner, Weberei, S. 81. Vgl. zur sächsischen Gewerbeordnung von 1861: Kiesewetter, Industrialisierung, S. 157–162.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
sen, ein „geschlossenes Etablissement“ unter Aufhebung zünftiger Verbietungsund Regulierungsrechte zu betreiben. Im Jahrzehnt vor dem formalen Ende der Zunftverfassung verliefen die Konzessionsverfahren bei den Fabrikwebereien bemerkenswert rasch und unbürokratisch. Hösel & Heydenreich mussten noch vergleichsweise lange, ein halbes Jahr, auf ihre Konzession warten. Das hinderte sie aber nicht daran, in der Zwischenzeit ihre Maschinenweberei in der von ihnen geplanten Form in Betrieb zu nehmen. Als sie Mitte 1852 in einem Schreiben an den Rat der Stadt Chemnitz erläuterten, warum die Beschäftigung von Frauen an den Maschinenstühlen notwendig sei, schilderten sie ihren Fabrikbetrieb bereits im Präsens und nicht etwa im Futur. Erst eine Woche später erhielten Hösel & Heydenreich dann tatsächlich die Konzession zum Einsatz nichtzünftiger Arbeitskräfte in der Weberei.20 Die folgenden Konzessionsgesuche wurden gewöhnlich wesentlich zügiger bewilligt. So vergingen zwischen dem Weiterreichen des Antrags durch die Chemnitzer Stadtverwaltung und dessen Bewilligung durch die Kreisdirektion Zwickau im Falle des Tuchfabrikanten Carl Moritz Fiedler und der Strumpfwarenfirma Hecker & Söhne im Herbst 1852 nur jeweils eine Woche.21 Die Bewilligung erfolgte offenbar ohne vorherige Rücksprache mit der Weberinnung, die bisweilen nicht einmal von der Entscheidung der Behörden in Kenntnis gesetzt wurde. So beklagte sich Anfang 1854 die Chemnitzer Innung darüber, dass der Möbelstofffabrikant Wilhelm Vogel gescherte Ketten ausgebe, obgleich ihm dies in der im Vorjahr erteilten Konzession nicht gestattet worden sei. Laut einer Aktennotiz wurde dem daraufhin ins Rathaus bestellten Obermeister eröffnet, die Kreisdirektion habe Vogel dieses Recht schon ein dreiviertel Jahr zuvor offiziell zugebilligt.22 1854 protestierte die Chemnitzer Weberinnung im Ministerium des Innern gegen dieses Procedere. Die zahlreichen Konzessionen, die in den vergangenen zwei Jahren zur Errichtung von Web- und Wirkwarenfabriken erteilt worden waren, hätten allgemeine Besorgnis unter den Webermeistern hervorgerufen. Das Ministerium solle solche Konzessionen künftig nicht mehr „ohne Bedürfnis im Interesse der Gesamtheit“ und nicht ohne vorherige Anhörung der Weberinnung erteilen. Der Protest der Chemnitzer Zunftmeister richtete sich keinesfalls gegen die Maschinenweberei an sich. Es ging der Innung vielmehr darum, die Beschäftigung nichtzünftiger Arbeiter in den Fabrikwebereien möglichst zu beschränken und die Verdienstmöglichkeiten ihrer Mitglieder beim Scheren der Ketten zu erhalten.23 An solchen 20 21
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Vgl. Stadtarchiv Chemnitz Ratsarchiv Kap. V, Sektion III, Nr. 116, Bl. 14 f.: Hösel & Heydenreich an Stadtrat Chemnitz, 10.6.1852; ebd. Bl. 17: Kreisdirektion Zwickau an Stadtrat Chemnitz, 18.6.1852. Vgl. Stadtarchiv Chemnitz, Ratsarchiv Kap. V/III, Nr. 129, Bl. 3: Stadtrat Chemnitz an Kreisdirektion Zwickau, 23.9.1852; ebd. Bl. 4: Kreisdirektion Zwickau an Stadtrat Chemnitz, 1.10.1852; ebd. Nr. 122; Bl. 3: Stadtrat Chemnitz an Kreisdirektion Zwickau, 28.10.1852; ebd. Bl. 4: Kreisdirektion Zwickau an Stadtrat Chemnitz, 3.11.1852. Vgl. ebd. Nr. 130, Bl. 15: Obermeistercollegium an Stadtrat Chemnitz, 21.1.1854, Aktennotiz, 10.2.1854. Zitat: Ebd. Kap. V/II, Nr. 151a, Bl. 1: Kreisdirektion Zwickau an Stadtrat Chemnitz, 28.10.1854; vgl. ebd. Bl. 4–7: Weberinnung Chemnitz an MdI, 18.9.1854; Maschner, Weberei, S. 77.
5.1 Die Chemnitzer und Glauchauer Weberei 1850–1879
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Fragen entzündeten sich in den 1850er Jahren immer wieder Konflikte zwischen den Fabrikunternehmen und den Innungen. So verlangte die Chemnitzer Schlosserinnung 1856 von Robert Hösel die Entlassung eines in der betriebseigenen Werkstatt beschäftigten Mitglieds, da es dem Unternehmen nicht gestattet sei, zünftige Schlosser zu beschäftigen. Die Zwickauer Kreisdirektion wies zwar die Beschwerde Hösels gegen dieses Verbot als unbegründet zurück, dispensierte ihn aber gleichzeitig „bis auf Widerruf“ von dieser Vorschrift. Damit hatte die Staatsbehörde der geltenden Rechtslage formal Rechnung getragen, sich aber faktisch umstandslos über sie hinweggesetzt.24 In der einschlägigen Literatur sind solche Auseinandersetzungen gerne als haarsträubende Beispiele für eine verkrustete Zunftwirtschaft angeführt worden, die einer rascheren Industrialisierung im Weg gestanden habe.25 Doch zumindest im Falle der Chemnitzer Weber ähnelt das Vorgehen der Innung bei näherer Betrachtung eher der Closed Shop-Strategie einer Facharbeitergewerkschaft. Es ging in den 1850er Jahren nicht mehr ernsthaft darum, den Übergang zur Maschinenweberei zu verhindern. Es ging den gelernten Meistern und Gesellen vielmehr darum, sich eine angemessene Existenz in einem sich wandelnden institutionellen Umfeld zu sichern. 1848 hatten die Chemnitzer Weber, die Textilwarenkaufleute und Fabrikanten eine Vereinbarung über Mindestlöhne geschlossen. Die Weberinnung war offenbar auf dem Weg zur Gewerkschaft zu werden. Die Aufhebung der Innungen als Zwangskorporationen und die Suspension ihrer Rechte und Befugnisse war dazu angetan, die Verhandlungsposition der Weber im Aushandeln von Löhnen und Arbeitsbedingungen empfindlich zu schwächen.26 Verfolgt man die Praxis der Fabrikgründungen im Chemnitzer Raum in den 1850er Jahren anhand der behördlichen Aktenüberlieferung, so erscheinen die rechtlichen Barrieren allenfalls marginal. Für einen angehenden Fabrikanten bedeutete die staatliche Konzessionierung vielleicht einen ihm lästigen bürokratischen Aufwand. Sie war aber doch wohl eher eine Formalie als ein ernsthaftes Hindernis. Ein Robert Hösel richtete seine Maschinenweberei nach eigenem Gutdünken ein, in der festen Überzeugung, die Zwickauer Kreisdirektion würde dieses Vorgehen letztlich sanktionieren. Die Behörden selbst sahen ein solches Procedere offenbar bald als selbstverständliche Praxis an. Als nämlich dem Kaufmann Eduard Lohse 1858 die Konzession zum Betrieb einer Webfabrik erteilt wurde, erhielt er die Aufforderung, den im Bewilligungsbescheid genannten Bedingungen binnen drei Wochen nachzukommen. Lohse musste daraufhin um Aufschub bitten, da er „die Errichtung des erwähnten Etablissements & der hierzu nöthigen Bauten nicht früher beginnen wollte, als bis ich im Besitz betr. Concession wäre“.27 Sowohl die Stadt Chemnitz als auch die mittlere Staatsbehörde in Zwickau und das Dresdner 24 25 26 27
Vgl. Stadtarchiv Chemnitz, Ratsarchiv Kap. V/III, Nr. 116, Bl. 25 f.: R. Hösel an Stadtrat Chemnitz, 17.10.1856; ebd. Bl. 30: Kreisdirektion Zwickau an Stadtrat Chemnitz, 6.11.1856. Vgl. etwa Forberger, Revolution 2/1, S. 346; Ludwig, Maschinenbauwerkstatt, S. 30. Vgl. Boch, Zunfttradition, S. 52 f., 60 f.; Schaller, Zeit, S. 87–92. Stadtarchiv Chemnitz Ratsarchiv Kap. V, Sektion III, Nr. 182, Bl. 11: E. Lohse an den Stadtrat Chemnitz, 15.10.1858.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Ministerium zeigten sich gegenüber den Wünschen der Fabrikgründer im allgemeinen äußerst entgegenkommend. Die Weberzünfte wurden in der Regel nicht mehr konsultiert, ihre verbrieften korporativen Rechte wurden beiseite geschoben, ihre nachträglichen Proteste ignoriert. Eine Politik der Eindämmung zünftiger Prärogativen hatte die sächsische Staatsregierung schon während des Vormärz verfolgt. Seit den 1820er Jahren wurden die Innungen aus dem Zuständigkeitsbereich der Stadtverwaltungen gelöst und direkter staatlicher Aufsicht unterstellt. Die Regierung versagte nun bei Vorlage der Statuten neu gebildeter Innungen jedweden Verbietungsrechten die obrigkeitliche Bestätigung. Der wohl ambitionierteste Versuch, eine ganze regionale Branche, per Innungsstatut zu organisieren, das vogtländische Baumwollwaren-Manufakturreglement, wurde 1825 suspendiert und schließlich 1843 endgültig abgeschafft. Andererseits sah der sächsische Staat aber lange keinen Anlass, die alte Zunftordnung förmlich außer Kraft zu setzen. Die Dualität von korporativer Wirtschaftsverfassung und deren fallweisen Suspendierung durch staatliche Konzession verhalf der Regierung zu einem einfach zu handhabenden wirtschaftspolitischen Steuerungsinstrument. Gesetzliche Reformen wie die Freigabe des Betreibens unzünftiger und bestimmter zünftiger Gewerbe auf dem Land 1840 sanktionierten im Grunde nur eine, zumindest in der Textilmanufaktur seit langem bestehende Praxis.28 Nicht viel anders ist daher auch der praktische Stellenwert der 1861 erlassenen neuen sächsischen Gewerbeordnung einzuordnen: Sie formalisierte größtenteils bislang informell bestehende institutionelle Arrangements. Sie brachte damit einen Gewinn an Rechtssicherheit, aber es wurden mit ihrem Erlass wohl kaum Schleusentore für die Gründung von Fabrikunternehmen geöffnet. Die Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit bot allenfalls für die Handwerksmeister, die bislang von ihren Zunftgenossen an der Beschäftigung nichtzünftiger Arbeitskräfte gehindert worden waren, die Möglichkeit, ihren Betrieb kostengünstiger zu organisieren und ggf. zum Unternehmer aufzusteigen. Die Chemnitzer Webermeister hatten schon 1857 mehrheitlich der Meinung Ausdruck gegeben, „daß es weit besser sei, sie bekämen Gewerbefreiheit, als wenn ein Zustand länger fortdauern solle, der die Innungsartikel unwirksam mache, ohne die Fessel zu lösen, die den zünftigen Meister an der freien Bewegung auf seinem Arbeitsgebiet hindere“.29
28 29
Vgl. Tipton, Variations, S. 35 f.; Horster, Gewerbeverfassung, S. 22–25, 67 f.; Kiesewetter, Industrialisierung, S. 174 ff. Zitiert nach Maschner, Weberei, S. 77. Vgl. Kiesewetter, Industrialisierung, S. 195 f.; für das Vogtland: Jahresbericht HK Plauen 1862/63, S. 7. In Chemnitz wurden im ersten Quartal 1862 20 Webereien und drei Strumpfwarengeschäfte angemeldet. Die Masse der insgesamt 305 neuen Gewerbeanmeldungen bezog sich auf Handwerksbetriebe (vor allem Schneider, Schuster und Tischler) sowie den Lebensmittel- und Spirituosenhandel (vgl. Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 16, 18.4.1862, S.187).
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Kapitalmarkt, Bankensystem und Fabrikweberei nach 1850 Seit Ende der 1840er Jahre machte der Ausbau des Bankensystem in den Industrieregionen Sachsens deutliche Fortschritte. 1848 waren die Chemnitzer Kaufleute und Unternehmer angesichts einer sich abzeichnenden schweren Liquiditätskrise bei der Regierung in Dresden vorstellig geworden und hatten die Genehmigung zur Gründung einer kommunalen Bank erhalten. Die Chemnitzer Stadtbank erhielt das Recht der Kreditschöpfung durch die Ausgabe von Kassenscheinen, die zu einem Drittel ihres Werts durch Silbergeld gedeckt sein mussten. Für die Bonität der Bank sorgte im Übrigen die Gewährleistung der Stadtgemeinde.30 In der zweiten Hälfte der 1850er Jahre eröffneten zwei Thüringer Banken, die Weimarische und die Geraer Bank, Filialen in Chemnitz, ein Zeichen dafür, dass die Industriefinanzierung nun im „sächsischen Manchester“ als attraktives Geschäft wahrgenommen zu werden begann. Auf diesen Geschäftsbereich konzentrierte sich ebenso die 1856 in Leipzig als Aktiengesellschaft gegründete Allgemeine Deutsche Credit-Anstalt (ADCA). Überall in den Industrierevieren entstanden nun sog. „Vorschussvereine“ auf genossenschaftlicher Basis. Schon 1849 hatte die Commission für Erörterung der Gewerbsund Arbeitsverhältnisse die Empfehlung abgegeben, kleine „Gewerbsbanken“ mit Verankerung in der lokalen Geschäftswelt ins Leben zu rufen, denn: „Hier muß nicht allein die Sicherheit, die der Creditsuchende geben kann, in Anschlag gebracht werden, sondern dessen moralischer Character, dessen Lebensweise, die Art, wie er seinem Geschäfte vorsteht, müssen den Ausschlag geben, ob er direct einen Credit überhaupt und zu welcher Höhe er denselben verdient, und ob er als Bürge für einen anderen annehmbar ist. Die Beurtheilung solcher Verhältnisse ist nur dem möglich, der sich unmittelbar im Kreise derer bewegt, die durch Credite unterstützt werden sollen; es würde daher durchaus nöthig sein, daß sich kleinere Gewerbsleute selbst bei solchen Instituten betheiligten und zum Theil das Directorium derselben bildeten.“31
Als der sächsische Landtag in den frühen 1860er Jahren eine Bankenenquete abhielt, hatte sich die Lage soweit entspannt, dass die frisch konstituierte Zittauer Handels- und Gewerbekammer zu Protokoll gab, es beständen überhaupt keine Lücken mehr im heimatlichen Bankwesen. Auch ein Bedürfnis nach weiteren Bankfilialen liege nicht vor. Die Chemnitzer Handelskammer sah dies allerdings etwas anders und sprach sich für die Errichtung eines großen Bankinstitutes mit einem Netz von Zweigstellen im ganzen Land aus. 1865 wurde schließlich mit der Gründung der Sächsischen Bank in Dresden ein solches Institut geschaffen. Die Sächsische Bank übernahm die Funktionen einer staatlichen Notenbank, war aber als Aktiengesellschaft organisiert.32 Mit der Liberalisierung des Aktienrechts 1870 eröffneten sich der Finanzierung größerer Unternehmen weitere Spielräume. Bislang war die Gründung von Kapit30 31 32
Vgl. Uhlig, Stadtbank, S. 17; Chemnitzer Bankverein, S. 9 f. Bericht Commission Gewerbs- und Arbeitsverhältnisse 1848/49, S. 64: Bericht der siebenten Abtheilung über die Verwendung des Capitals in Industrie und Handel, 3.2.1849. Vgl. Chemnitzer Bankverein, S. 11; Poschinger, Banken, S. 80 f.; Uhlig, Stadtbank, S. 24 f. Vgl. Poschinger, Banken, S. 84 ff.; Jahresbericht HK Chemnitz 1871/72, S. 50;
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algesellschaften einem langwierigen staatlichen Genehmigungsverfahren unterworfen gewesen. Konzessionen wurden vergleichsweise sparsam vergeben. 1870 gab es im Königreich Sachsen 82 Aktiengesellschaften. Bis Mitte 1873 hatte sich deren Zahl auf das Dreieinhalbfache (268) vermehrt. Unter diesen Neugründungen waren auch zahlreiche Banken, von denen allerdings nur ein Teil den „Gründerkrach“ überlebte. Dazu gehörten drei Aktienbanken, die ihren Sitz in den Industrierevieren hatten, die Zwickauer Bank, der Chemnitzer Bankverein und die Oberlausitzer Bank in Zittau. Diese Banken waren 1871/72 mit einem Aktienkapital von jeweils einer Million Taler (drei Millionen Mark) gegründet worden. Sie mussten aber im Gefolge des Börsencrashs von 1873 ihr Grundkapital teilweise beträchtlich reduzieren. Alle drei Bankinstitute entwickelten sich bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts zu Unternehmen von bestenfalls mittlerer Größe. Daneben bestanden vielerorts die Kreditgenossenschaften fort. Eine ganze Reihe dieser „Vorschussvereine“ wurde seit Mitte der 1880er Jahre in Aktienbanken umgewandelt. Die kreditwirtschaftliche Infrastruktur der südwest- und südostsächsischen Textilregionen erscheint demnach in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt von Instituten, die in den einzelnen Revieren selbst verwurzelt waren und einen eher beschränkten Aktionsradius besaßen. Erst um die Jahrhundertwende gingen die größeren Leipziger, Dresdner und außersächsischen Banken daran, ihr Filialnetz im Industriegürtel zwischen Plauen und Zittau auszubauen.33 Diese Entwicklung lässt vermuten, dass es für die im Industriegebiet agierenden Kreditinstitute in den Jahrzehnten nach der Jahrhundertmitte vor allem darauf ankam, über ein genaues lokale Insiderwissen zu verfügen. Sie mussten die „Bonität“ der zahlreichen mittleren und kleineren Fabrik- und Verlagsunternehmen ihres Standorts und seiner näheren Umgebung einschätzen können. Dagegen waren die Kreditgenossenschaften, lokalen Aktienbanken und Privatbankiers wohl nicht darauf ausgelegt, große Kapitalien zu mobilisieren. Man kann demnach annehmen, dass die Kreditbedürfnisse der meisten sächsischen Webereiunternehmen eher begrenzt waren. Diese Vermutung wird auch dadurch belegt, dass die Spielräume, die das liberalisierte Aktienrecht seit 1870 für die Finanzierung von Industrieunternehmen bot, zwar von zahlreichen Chemnitzer Maschinenbauunternehmen genutzt wurden – nicht aber von den Webereien. Die als Kapitalgesellschaften organisierten sächsischen Webfabriken konnte man noch in den 1880er Jahren buchstäblich an einer Hand abzählen. Unter den 1883 im Handelsregister eingetragenen Firmen gab es nur vier Aktien-Webereien: die Bautzner Tuchfabrik (vorm. C. G. E. Mörbitz), eine Meißener Jute-Spinnweberei, eine Filztuchfabrik in Dittersdorf bei Chemnitz und die Fränkelsche Orleansweberei AG, Zittau. Risikokapital zur Investition in industrielle Unternehmungen war demnach auch in den südwestsächsischen Industrierevieren vorhanden. Doch es floss nicht unbedingt in den Textilsektor.34 33 34
Vgl. Poschinger, Banken, S. 96 f., 107 ff.; Schreiber, Lokalbankwesen, S. 16–21; Chemnitzer Bankverein, S. 12 ff. Vgl. Verzeichnis Firmen, S. 22, 70, 73, 108. Als Aktiengesellschaften firmierten zudem sieben Spinnereien, Zwirnereien und Kämmereien, eine Appreturanstalt, sowie eine Chemnitzer Strumpfwarenfabrik. Vgl. Maschner, Weberei, S. 178 f.; allgemein für die deutsche Textilindu-
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Maschinen-Webstühle aus Chemnitz Ein erfolgreicher Übergang zur Fabrikproduktion setzte voraus, dass brauchbare Maschinen zu angemessenen Kosten beschafft werden konnten. In dieser Hinsicht hatten sich die Rahmenbedingungen für die sächsischen Fabrikunternehmer merklich verbessert. Mit der Aufhebung des Maschinenexportverbots 1842 konnten Innovationen in der britischen Webstuhltechnologie legal und ohne exorbitante Kosten nach Sachsen übertragen werden. Dies war um so bedeutsamer, als die Maschinenweberei in England und Schottland in den 1840er und 50er Jahren zu einen mächtigen Produktivitätssprung ansetzte. Der Transfer dieser Technologien auf den europäischen Kontinent konnte sich nun über den problemlosen Ankauf englischer Maschinenwebstühle vollziehen. Die im Vormärz allgegenwärtigen Klagen sächsischer Textilunternehmer, Publizisten und Wirtschaftsbeamten über die immensen Schwierigkeiten, die technologische Überlegenheit der westeuropäischen Konkurrenz aufzuholen, wurden nun leiser und verschwanden schließlich fast ganz.35 Die Gründung der ersten Maschinenwebereien in Chemnitz am Anfang der 1850er Jahre wurde sicherlich auch dadurch erleichtert, dass sich die Stadt in den vorangegangenen Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Zentren des deutschen Maschinenbaus entwickelt hatte. Für eine sachgerechte Installation und Wartung, ggf. auch für eine zügige Reparatur defekter Maschinenstühle bestanden am Ort daher die besten Voraussetzungen. Zudem wurden nun auch in Chemnitz selbst Webmaschinen gebaut, deren Konstruktion sich spezifisch an den Bedürfnissen der lokalen Weberei orientierte. Eine wesentliche Rolle spielte dabei der Konstrukteur Louis Schönherr. Der jüngere der Schönherr-Brüder hatte nach vielen frustrierenden Erfahrungen bei der geschäftlichen Verwertung seiner Konstruktionen 1849 eine Anstellung in der Maschinenbaufabrik Richard Hartmanns angenommen, um dort den Aufbau einer Webstuhlabteilung zu leiten. Schon zwei Jahre später wagte Schönherr mit dem Prokuristen Ernst Seidler und 7.000 Talern Startkapital einen neuerlichen Versuch, sich geschäftlich auf eigene Beine zu stellen. Schönherr und sein Kompanion mieteten 1851 in Altchemnitz Fabrikräume an und begannen mit der Produktion mechanischer Webstühle. Das Unternehmen erwies sich als so gewinnträchtig, dass Schönherr schon nach sechs Jahren seinen Teilhaber mit 30.000 Talern auszahlen konnte. Grundstein dieses Erfolges war letztlich eine Neuorientierung der Konstruktionstätigkeit Schönherrs. Bis in die 1840er Jahre hinein beschäftigte er sich vornehmlich mit dem Bau leichter mechanischer Baumwollwebstühle mit und ohne Kraftantrieb. 1844, zwei Jahre nach der Aufhebung des britischen Maschinenexportverbots, begann Louis Schönherr mit der Konstruktion eines kraftgetriebenen Tuchwebstuhls. Er wechselte damit auf ein Feld, auf dem auch in Großbritannien die Technologie noch weit weniger ausgereift war als in der maschinellen Herstel-
35
strie: Ditt, Vorreiter, S. 37; mit ähnlichen Befunden für Großbritannien: Farnie, Industrie, S. 289 f. Vgl. Farnie, Industry, S. 282; Sammler, Wissenstransfer, S. 55, 61.
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lung von Baumwollstoffen und Mischgeweben mit ähnlichen Materialeigenschaften (wie Orleans). Während seiner Zeit als Abteilungsleiter „Webstuhlbau“ bei Hartmann gelang es Schönherr, diese Maschine zur Produktionsreife zu bringen und er erhielt ein Patent darauf. Der rasche Erfolg dieses Modells, einem schweren und robusten Webstuhl, verdankte sich offenbar zunächst nicht so sehr seinem Einsatz in der eigentlichen Tuchfabrikation sondern seiner vielseitigen Verwendbarkeit. Er wurde nicht zuletzt für eine der Spezialitäten der Chemnitzer Weberei adaptiert: wollene und halbwollene Möbelstoffe. Zu den den ersten Kunden der Webstuhlfabrik Schönherr & Seidler gehörte die Firma Ufert & Eifler, die in unmittelbarer Nachbarschaft in Altchemnitz glatte Möbeldamaste fertigte. Auch der Möbelstoff-Fabrikant Wilhelm Vogel kaufte 1853 zehn Webstühle aus Schönherrs Produktion.36 Louis Schönherrs einfacher Tuchwebstuhl, so stellte der Jahresbericht der Chemnitzer Handels- und Gewerbekammer in einem historischen Rückblick 1887 fest, sei in seiner Bauart 30 Jahre lang unverändert geblieben und „heute noch die beste Webmaschine für glatte Tuche, Satins und Verlours“. Sie könne aber auch für Flanelle, halbwollene Waren, Möbeldamaste, Vorhangstoffe, Leinen und andere breite und schwere Gewebe verwendet werden.37 Um 1860 wandte sich Schönherr verstärkt der Konstruktion mechanischer Webstühle zu, mit denen gemusterte Stoffe gefertigt werden konnten, die eigentliche Domäne der Woll- und Halbwollwarenweberei zwischen Chemnitz, Glauchau, Crimmitschau und Reichenbach. Die Altchemnitzer Webstuhlfabrik bot etwa Webmaschinen mit Jacquardvorrichtungen an. Der Schwerpunkt des Geschäfts verlagerte sich jedoch in den 1860er und 70er Jahren auf die Konstruktion und die Fertigung von Webstühlen für die Herstellung von Buckskin-Stoffen. Bis dahin hatte es einen wirklich brauchbaren Kraftstuhl für diese geköperten Herrenkleiderstoffe aus Streichgarn nicht gegeben. Von den 30.000 Webstühlen die das Unternehmen bis 1887 auslieferte, waren mehr als die Hälfte, 16.000, Buckskinstühle gewesen. Die Maschinisierung der Weberei in Crimmitschau, Werdau und anderen westsächsischen Städten, in denen solche Artikel gefertigt wurden, dürfte ganz überwiegend mit den Schönherr-Webstühlen vollzogen worden sein.38 In Chemnitz entstanden in den 1860er Jahren auch einige andere Maschinenwerkstätten, die mechanische Webstühle anfertigten. Sie konnten aber allenfalls kleine Nischen auf einem Markt besetzen, der im Segment der Streichgarnweberei und später auch in der Kammgarnwarenindustrie größtenteils von Schönherr dominiert wurde. Einige der größeren Chemnitzer Maschinenbaufirmen sowie Geßner in Aue lieferten Vorbereitungs- und Appreturmaschinen für die Woll- und Halbwollwarenfertigung. An diesem Geschäft waren auch Maschinenbaubetriebe beteiligt,
36 37 38
Vgl. Haubold, Schönherr, S. 319–325; Festschrift Webstuhlfabrik, S. 11–14; Barth, Entwicklung, S. 30 ff.; Jahresbericht HK Chemnitz 1887, S. 173 f. Jahresbericht HK Chemnitz 1887, S. 174. Vgl. ebd., S. 175–178; Festschrift Webstuhlfabrik, S. 15; Haubold, Schönherr, S. 325 f.; Welzel, Webstuhlbau, S. 114 f.
5.1 Die Chemnitzer und Glauchauer Weberei 1850–1879
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die sich in den Woll-Fabrikstädten Crimmitschau und Werdau selbst niedergelassen hatten.39 In gewisser Weise trugen die Produktstrategien, mit denen die Verleger des Chemnitz-Glauchauer Reviers im Vormärz die widrigen Marktverhältnisse zu bewältigen versucht hatten, nun nachträglich Früchte. Die Aufgabe der einfachen Baumwollweberei zugunsten der Fertigung von Woll- und Wollmischgeweben ebnete nach 1850 den Weg zur Entstehung eines eigenständigen Textilmaschinenbau auf einem Feld, das noch nicht von den etablierten britischen Marktführern besetzt war. Der Chemnitzer Webstuhl- und Appreturmaschinenbau war auf die spezifischen Bedürfnisse der westsächsischen Tuch-, Buckskin-, Kammgarn- und Halbwollweberei eingestellt. Den regionalen Fabrikunternehmern standen wiederum frühzeitig brauchbare Maschinen zur Verfügung, ohne dass sie dafür hohe Transportspesen entrichten mussten, die sie gegenüber einer besser positionierten Konkurrenz benachteiligt hätten. Eine ähnlich eindrucksvolle Entwicklung nahm der sächsische Dampfmaschinenbau. Schon 1856 waren mehr als drei Viertel der im Lande vorhandenen Dampfmaschinen von sächsischen Herstellern gebaut worden. Fast 45 Prozent dieser modernen Antriebsaggregate (244 von 550) stammten aus den Chemnitzer Werkstätten und Maschinenbaufabriken. In ganz Sachsen gab es zu diesem Zeitpunkt nur noch zwei Dampfmaschinen englischen Fabrikats.40 Maschinisierung, Dampfkraft und Kohlenzufuhr Der Einsatz kraftgetriebener Webmaschinen setzte die Verfügbarkeit ausreichender Antriebsenergie zu akzeptablen Kosten voraus. Eine zunächst einmal nahe liegende Option bestand in der Nutzung der Kraft der zahlreichen schnell fließenden Gewässer der südsächsischen Mittelgebirgslandschaften. Gerade einige der größeren frühen Fabrikunternehmen setzten auf diese Option und hielten längere Zeit daran fest. Die Weberei in Auerhammer bewegte noch am Ende der 1860er Jahre 700 mechanische Webstühle mittels Wasserrädern, zu denen nur aushilfsweise eine 40 PS-Dampfmaschine gekommen war. Auch die Baumwollweberei in Tannenbergsthal im vogtländischen Teil des westlichen Erzgebirges verfügte über eine Wasserkraftanlage, um ihre 260 Maschinenstühle (1862) anzutreiben. Beide Anlagen erhielten ihr Treibwasser von gefällereichen Nebenflüssen der Zwickauer Mulde. Der Chemnitzer Möbelstofffabrikant Wilhelm Vogel stellte 1853 seine ersten mechanischen Webstühle in einem angemieteten Fabriksaal des Blaufarbenwerkes Zschopenthal auf und legte sie ans Wasser der Zschopau. Vier Jahre später entschloss sich Vogel wegen der beschränkten Raumverhältnisse zu einer Verlagerung des Produktionsstandortes. Er hielt aber am Wasserkraftbetrieb fest und erbaute seine neue Fabrik auf einem Mühlengrundstück in Lunzenau am Unterlauf der Zwickauer Mulde. Hier war diese natürliche Antriebsenergie offenbar so reichlich 39 40
Vgl. Maschner, Weberei, S. 71 f., 131–134; Uhlmann, Unternehmer, S. 78, 84, 87; Geßner, Geßner-Werke, S. 20; Jahresbericht HK Plauen 1868, S. 86 ff.; ebd. 1881, S. 79 f.; ebd. 1884, S. 121. Vgl. ZSBI 5, 1859, S. 12–16.
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vorhanden, dass das Unternehmen 1873 noch zusätzlich eine Papierfabrik anlegte. Selbst in der Oberlausitz wurden gelegentlich mechanische Webstühle mit Wasserkraft angetrieben. Eine Bautzener Fabrikweberei nutzte 1863 das Wasser der Spree für die dort aufgestellten 22 mechanischen Webstühle.41 Die Wasserkraft bot für eine Maschinisierung der Weberei in der Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber der Dampfkraft durchaus einige Vorteile. Immerhin war der Wasserradantrieb eine in der Region lang erprobte Technologie, die nicht mit den „Kinderkrankheiten“ des Dampfmaschinenbetriebs zu kämpfen hatte. So mussten sich die Fabrikanten bis in die 1850er Jahre hinein mit dem Problem auseinandersetzen, dass sich der vergleichsweise unregelmäßige Gang der Dampfmaschinen auf die mechanischen Webstühle übertrug. Andererseits machte auch die Wasserkrafttechnik während des 19. Jahrhunderts bedeutsame Fortschritte. Seit dem Vormärz galten Turbinen als zukunftsweisende Alternative zu den herkömmlichen Wasserrädern und auch die Wasserradtechnologie war noch längst nicht ausgereizt. So klagte ein Chemnitzer Techniker in der Sächsischen Industrie-Zeitung 1861, viele Anlagen würden weit weniger effizient arbeiten, als dies mit „einem gut construirten Wasserrade“ möglich wäre.42 Leistungsfähige Wasserkraftanlagen erforderten zwar gewöhnlich mehr Kapital als die Aufstellung von Dampfmaschinen. Es mussten Kanal und Wehr angelegt werden. Wasserräder oder Turbinen wurden als Einzelexemplare angefertigt und den jeweiligen Standortbedingungen angepasst, während der Dampfmaschinenbau mittlerweile standardisiert war. Auch war die Wasserkraft kein frei verfügbares Gut, das nur den Kauf eines Grundstücks mit Zugang zum Fluss erfordert hätte. Die Wasserrechte mussten vielmehr eigens erworben werden. War jedoch eine Wasserkraftanlage erst einmal in Betrieb genommen, waren die laufenden Kosten u. U. deutlich geringer als beim kohlefressenden Dampfmaschinenbetrieb. So hielt etwa die Firma Wilhelm Vogel in ihrer Lunzenauer Möbeldamastweberei auch dann noch am Wasserkraftbetrieb fest, nachdem die Eröffnung der Muldentalbahn 1876 die Zufuhr preisgünstiger Kohle eröffnet hatte. Mit der Vergrößerung der Weberei 1880 wurde auch die Wasserkraftanlage modernisiert und ihre Leistung erhöht. Im Jahr zuvor hatte die Zeitschrift des Königlich-Sächsischen Statistischen Bureaus gemeldet, man habe in neuester Zeit auf die Erbauung von Wassermotoren viel Sorgfalt verwandt und selbst bei veränderlicher Wassermenge noch Nutzeffekt erzielt. Die Kalkulation müsse hier in jedem einzelnen Fall erörtern, ob die bedeutenden Kosten des Wassermotors einen billigeren Betrieb ergeben als die Anschaffungs-, Amortisations- und Unterhaltungskosten von Dampfmaschinen mit Zubehör.43 Insgesamt entschied sich aber die große Mehrzahl der sächsischen Webfabrikanten für die Dampfmaschine und gegen Wasserrad oder Turbine. Schon 1861 besaß der Dampfbetrieb ein deutliches Übergewicht in der Maschinenweberei des 41 42 43
Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1862/63, S. 180 f.; ebd. 1868, S. 157 f.; ZSSB 25, 1879, S. 26 f.; Wilhelm Vogel Möbelstoffweberei, S. 14, 19; Jahresbericht HK Zittau 1862/63, S. 51, 53. J. D. Fischer, in: Sächsische Industrie-Zeitung Nr. 33, 16.8.1861, 393; vgl. ZSSB 25, 1879, S. 26; Blumberg, Textilindustrie, S. 91 f.; Radkau, Technik, S. 31–34. ZSSB 25, 1879, S. 27; vgl. Wilhelm Vogel Möbelstoffweberei, S. 19 f.
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Königreichs Sachsen. 44 mechanische Webereien mit insgesamt 2.128 Webstühlen setzten allein Dampfkraft ein, elf Betriebe mit 695 Stühlen sowohl Wasseranlagen als auch Dampfmaschinen. 26 Webfabriken kamen ganz ohne Dampf beim Antrieb ihrer zusammengenommen 492 mechanischen Webstühle aus. Die Nachteile der Wasserkraft für den Fabrikbetrieb sind schon für die Zeit vor 1850 dargelegt worden und sie wurden auch nach 1850 nicht beseitigt. Die naturräumlichen Voraussetzungen für den Wasserradbetrieb schränkten die Wahl des Standortes stark ein. Die besten physikalischen Bedingungen zur Energieerzeugung fanden sich gewöhnlich in den oberen Gebirgsregionen. In solchen entlegenen Gegenden war es mitunter schwierig, geeignete Arbeitskräfte zu finden. An- und Abfuhr der Rohmaterialien und gefertigten Waren gestalteten sich meist kostspielig und mühsam. Die Kapazitäten von Wasserkraftanlagen ließen sich nicht beliebig steigern. In den Flusstälern des mittleren und westlichen Erzgebirges machten sich schon seit Anfang des 19. Jahrhunderts zahlreiche Maschinenspinnereien gegenseitig Konkurrenz. Nachdem es um die Mitte des Jahrhunderts möglich geworden war, Holz zur Papierherstellung zu verwenden, breiteten sich zudem die Zollstofffabriken hier aus. Schließlich beeinträchtigten klimatisch-saisonale Störungen – Hochwasser, Frost, Wassermangel – mit schöner Regelmäßigkeit den Betrieb von Wasserkraftanlagen.44 In Chemnitz waren die Möglichkeiten, Wasserkraft zum Fabrikbetrieb einzusetzen, einigermaßen beschränkt. Nach 1815 war die Baumwollspinnerei deswegen an günstigere Standorte abgewandert. Die ersten Dampfmaschinen wurden in Chemnitz zwar schon in den frühen 1820er Jahren aufgestellt. Doch ein kostendeckender Betrieb setzte die Versorgung mit billiger Kohle voraus. Es gab nun wohl einige kleinere Kohlengruben in unmittelbarer Nähe der Stadt, doch waren deren Förderkapazitäten für einen ausgedehnten Einsatz von Dampfmaschinen zu gering. Mit der Eröffnung der Linie zum Elbhafen Riesa erhielt Chemnitz am 1. September 1852 einen Eisenbahnanschluss. Allerdings dürften über diese Strecke zunächst kaum Kohlen zum Betrieb der Dampfmaschinenanlagen, mit denen die meisten Chemnitzer Webfabriken ausgestattet waren, herbeigeschafft worden sein. Über weitere Strecken transportierte Kohle wurde rasch teurer, solange sich die Eisenbahnverwaltungen bei der Festlegung ihrer Frachttarife an den Preisen der Fuhrwerksspediteure orientierten. Zudem fehlten in Riesa bis in die frühen 1860er Jahre geeignete Hafenanlagen und Anschlussgleise für die Umladung der auf der Elbe transportierten Kohle. Es ist eher anzunehmen, dass die Kohlen für den Dampfmaschinenbetrieb in den ersten Chemnitzer Fabrikwebereien von nahe gelegenen Gruben auf der Landstraße herangebracht wurden. Erst die Eröffnung der Bahnstrecke nach Zwickau, samt der Abzweigung nach Lugau, ermöglichte ab 1858 eine grundlegende Verbilligung der Kohlenzufuhr ins „sächsische Manchester“. Drei Jahre später resümierte die Sächsische Industriezeitung: „Hätte man früher so billige Kohlen gehabt, als jetzt, ganz Chemnitz würde noch weit mehr eine Fabrik sein, als es dies schon ist.“45 44 45
Vgl. ZSBI 9, 1863, S. 37; ZSSB 25, 1879, S. 27. Siehe oben S. 173 ff., 229 f. Sächsische Industriezeitung Nr. 33, 16.81861, S. 393. Vgl. Eckardt/May, Entwicklung, S. 126; Ulbricht, Eisenbahnen, S. 21 f.; ders., Geschichte S. 15.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Die Maschinisierung der Weberei im Chemnitz-Glauchauer Revier In den meisten anderen Städten und Ortschaften des Chemnitz-Glauchauer Raums fasste die Maschinenweberei erst gut ein Jahrzehnt später Fuß als in Chemnitz. In Meerane eröffnete 1860 die erste Maschinenweberei mit 230 Stühlen ihren Betrieb. Im benachbarten Glauchau dauerte es bis 1864, ehe die Firma Seydel & Söhne erstmals kraftgetriebene Webmaschinen einsetzte. 1870 gab es in Meerane schließlich 400, in Glauchau 330 mechanische Webstühle – gegenüber 2.464 bzw. 2.371 Handstühlen. In den kleineren Städten des Reviers setzte die Maschinisierung der Weberei erst seit Mitte der 1860er Jahre peu à peu ein. Dabei hatten diese Städte ihre Bahnverbindung zum Zwickauer oder Lugauer Kohlenrevier meist nicht später als Chemnitz erhalten. Lichtenstein, Hohenstein, Ernstthal konnten sogar Kohle aus der unmittelbaren Nachbarschaft beziehen.46 Demnach war der Bahnanschluss bzw. die ausreichende Versorgung mit billiger Kohle zwar wohl in vielen Fällen eine wichtige Voraussetzung für den Übergang zur Maschinenweberei. Der Umkehrschluss aber, dass sobald der Dampfmaschinenbetrieb an einem Webereistandort rentabel wurde, sich dort auch sogleich die mechanischen Webstühle verbreiten und die Handstühle zügig ablösen würden, trifft selbst für Chemnitz allenfalls partiell zu. Ein wichtiger Faktor für den Zeitpunkt, an dem der Übergang zur Fabrikweberei einsetzte, und für das Tempo ihrer Diffusion, dürfte sicherlich das jeweilige örtliche Produktspektrum gewesen sein. Je einfacher und schlichter die Gewebe waren, die gefertigt wurden, desto mehr eigneten sie sich zur maschinellen Herstellung, zumal wenn es sich um Baumwollstoffe handelte. Allerdings erscheint es gerade deswegen schwierig, den etwa zehnjährigen Vorsprung, den die Chemnitzer Maschinenweberei vor den anderen Städten des Reviers besaß, an den Eigentümlichkeiten der dort hergestellten Gewebe festzumachen. Denn seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten die kleineren und größeren Standorte der Baumwollwarenmanufaktur im Chemnitzer Raum und den angrenzenden Schönburgischen Gebieten in einem eigentümlichen Beziehungsverhältnis gestanden: Im allgemeinen wanderte die Produktion im Zeitverlauf von den Zentren in die Peripherie. Es waren meist die länger am Markt eingeführten, weniger anspruchsvollen und billigeren Gewebe, deren Fertigung peu à peu von Chemnitz über Glauchau in die kleineren Orte verlagert wurde, wo die Lohnkosten niedriger waren. Die Webermeister und Webmanufakturen in den größeren Städten gingen wiederum zu neuen, meist hochwertigeren Produkten über, deren Herstellung eine höhere handwerkliche Qualifikation und eine sorgsamere Appretur erforderte. Am Anfang der 1850er Jahren stellte die Chemnitzer Weberei einerseits wollene, halbwollene und halbseidene Kleiderstoffe her. Andererseits hatten sich halbwollene Damaste, die als Möbelstoffe, Tischdecken oder Vorhänge Verwendung fanden, zu einer lokalen Spezialität entwickelt. Der zügige Übergang zur maschinellen Fabrikweberei lag bei diesem vergleichsweise anspruchsvollen Produktpro46
Vgl. Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 16, 145, 150 f.; Jahresbericht HK Chemnitz 1867, S. 33; ebd. 1879/80, S. 141.
5.1 Die Chemnitzer und Glauchauer Weberei 1850–1879
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fil zunächst einmal nicht unbedingt nahe. Zum Teil musste dabei ein Produktwechsel vollzogen werden – hin zu „glatten“ Baumwollstoffen wie den Moleskins. Zum anderen Teil eigneten sich die gröberen und einfacher gemusterten Möbelstoffe wohl recht gut zur maschinellen Verwebung. In diesem Segment mochten dann auch die relativ hohen Lohnkosten in der Stadt Chemnitz eine Rolle spielt haben, ebenso möglicherweise die wachsende unternehmerische Herausforderung fabrikmäßig produzierender Konkurrenten aus anderen Regionen. Als Hauptort des Reviers bot Chemnitz zudem bessere Möglichkeiten zur Aufbringung des notwendigen fixen Kapitals für den Einstieg in die Fabrikweberei. Hier gab es mehr kapitalkräftige Verleger, Kaufleute, Fabrikanten und Manufakturunternehmer als in Frankenberg oder Mittweida. Es war in Chemnitz einfacher, eine Bank, einen anderen Geldgeber oder einen Teilhaber zu finden, die willens und fähig waren, in eine Webfabrik zu investieren. Vom Standortvorteil, den der Textilmaschinenbau dem „sächsischen Manchester“ für eine Ansiedlung mechanischer Webereien verschaffte war schon die Rede.47 Die Vorreiterrolle, die die Stadt Chemnitz beim Übergang zur Maschinenweberei einnahm, drehte in gewissem Sinne das Muster der Abwanderung vom Zentrum zur Peripherie um. Nun ging die Chemnitzer Weberei auf robustere und einfacher gemusterte Stoffe über, während in den kleineren Weberstädten des Reviers zunehmend hochwertigere Modewaren mit anspruchsvollerem Design gefertigt wurden. Die Kleiderstoff-Buntweberei verschwand bis 1870 ganz aus Chemnitz und verlagerte sich mehr denn je nach Glauchau und Meerane. In Hohenstein, Ernstthal und Lichtenstein hatten sich die Webwarengeschäfte seit dem Vormärz zunehmend auf Piquèes, Ginghams und halbwollene Westenstoffe spezialisiert, Artikel, deren Fertigung die Chemnitzer und die Glauchauer Weberei mittlerweile aufgegeben hatte. Zudem wurden hier gemusterte Bettdecken gefertigt, die schon um 1830 als örtliche Spezialität galten, als „wahrhaft ausgezeichnet und kaum irgend erreicht“.48 Am Ende der 1850er Jahre war die Gingham-Weberei in den kleineren Städten rückläufig. Man webte nun auch hier zunehmend „bessere Artikel“, verwendete größere Anteile an Kammgarn und – wie in Frankenberg – Seide und legte mehr Wert auf modische Musterung und Appretur. An vielen dieser Standorte hatten die Weber bereits im Vormärz die Jacquardvorrichtungen adaptiert, so dass der Übergang zur Produktion anspruchsvollerer Modeartikel wohl relativ problemlos zu bewältigen war. Je mehr man in Glauchau und Meerane, Hohenstein und Ernstthal, Lichtenstein oder Frankenberg zur Fertigung bunter Kleiderstoffe und ähnlicher Woll- oder Wollmischgewebe überging, desto länger verzögerte sich hier der Übergang der Maschinenweberei. Man kann vermuten, dass solche Strategien des Produktwechsel auch mit der Ausbreitung mechanischer Webstühle in anderen Revieren und Regionen zu tun hatten.49 47 48 49
Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 23, 1858, S. 24; Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 96; ebd. 1865, S. 161. Bericht Gewerb-Erzeugnisse 1831, S. 17. Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 23, 1858, S. 25; Jahresbericht HK Chemnitz 1868, S. 236; ebd. 1871/72, S. 308; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 8 f.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Vom Produktprofil allein betrachtet, hätte der Übergang zur Maschinenweberei eigentlich in Mittweida wesentlich näher gelegen als in Chemnitz. In der Stadt an der Zschopau hatte sich die alte Baumwollweberei über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinweg erhalten. Von hier kamen vor allem Futterkattune, baumwollene Hemdenflanelle und roher Barchent als Unterlage für die Wachstuchfabrikation. Bis zur Gründung der ersten Maschinenwebereien dauerte aber es bis 1864/65, als gleich vier solcher Fabriken mit insgesamt etwa 150 mechanischen Webstühlen in Mittweida ihren Betrieb aufnahmen. Hier mag die Baumwollkrise im Gefolge des US-Bürgerkriegs für eine Verzögerung der industriellen Entwicklung gesorgt haben. Dass ein Teil der Mittweidaer Handweber noch bis weit in die 1870er Jahre hinein bei der Fertigung der alten Baumwollartikel blieb, deutet auf das ausgesprochen niedrige Lohnniveau in der Stadt und ihrer Umgebung hin, was ebenfalls zu dieser Verzögerung beigetragen haben dürfte.50 Marktzugang und Marktposition der Chemnitz-Glauchauer Weberei 1850–1861 In dem Konzessionsgesuch, das Wilhelm Vogel in den ersten Januartagen 1853 beim Rat der Stadt Chemnitz einreichte, zeichnete der Möbelstoff-Verleger ein dramatisches Bild von der Wettbewerbsposition der örtlichen Webwarenwirtschaft. Die Branche habe „in neuerer Zeit so gewaltige Umgestaltungen erlitten und sind insbesondere die Fortschritte der englischen Maschinenweberei so mächtig und von solchem Einfluß auf Geschäfte, wie das meinige, geworden, daß ich, um nicht gänzlich aus dem Geschäfte verdrängt zu werden, darauf bedacht sein muß, ähnliche Wege wie Andre, welche dasselbe Geschäft betreiben, einzuschlagen und um Conceßion zur Errichtung einer Weberwaarenfabrik nachzusuchen…“51
Sieht man sich allerdings die statistischen Basisdaten für die Standorte der Buntund Möbelstoffweberei des erzgebirgisch-schönburgischen Reviers an, so deutet wenig auf eine Branche hin, die von einer übermächtigen, industriell fortgeschrittenen Konkurrenz bedrängt wurde. Die Einwohnerzahl der Stadt Chemnitz verdoppelte sich mit einem Zuwachs von 92 Prozent zwischen 1834 und 1858 nahezu. Glauchau wies im gleichen Zeitraum ein Bevölkerungswachstum um rund 128 Prozent auf. Meerane wuchs in diesen 24 Jahren gar von 4.172 Einwohner auf mehr als 11.000. Das war ein Plus von 167,2 Prozent, ein sächsischer Spitzenwert. Auch in den Statistiken der Weberinnungen der beiden schönburgischen Schwesterstädte erscheint das Jahrzehnt vor der Einführung mechanischer Webstühle als Zeit kräftigen gewerblichen Wachstums. Zwischen 1850 und 1860 vermehrte sich die Zahl der Webermeister in Glauchau und Meerane von 1933 auf genau 3000. Dass die starke Vermehrung der Weber in den beiden westsächsischen Textilstädten keines50 51
Vgl. Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 16–20; Jahresbericht HK Chemnitz 1867, S. 33; Maschner, Weberei, S. 165 Stadtarchiv Chemnitz, Ratsarchiv Kap. V/III, Nr. 130, Bl. 1: Vogel an Stadtrat Chemnitz, 6.1.1853. Vgl. mit ähnlichen Tenor schon den Artikel „Die Zukunft der Weberei in Deutschland“ in: Deutsche Gewerbezeitung 11.4.1848, S. 169.
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falls Zeichen einer krisenhaften Überfüllung des Handwerks war, darauf deutet das phänomenale Wachstum der von dort aus agierenden Fabrikverlagsgeschäfte seit dem Vormärz. In Glauchau gab es 1818 vier solcher Unternehmen, dazu eine Appreturanstalt und eine Kattundruckerei; in Meerane waren es gerade einmal zwei Verlagsunternehmen mit Färberei und Appretur. 1860, dem Jahr der Inbetriebnahme der ersten mechanischen Weberei Meeranes, wurden in dieser Stadt 98 Textilwarengeschäfte, davon 21 größere, und elf Färbereien und Druckereien gezählt. Im benachbarten Glauchau hatten in diesem Jahr 43 Geschäfte, die Textilwaren herstellen ließen, ihren Sitz (davon 18 größere), dazu 14 Färbereien und Textildruckereien sowie sieben selbständige Appreturbetriebe. In Chemnitz stagnierte dagegen die Zahl der Innungsweber nach 1850, möglicherweise auch als Folge der Beschäftigung unzünftiger Arbeitskräfte in den Maschinenwebereien. Bestenfalls bescheidene Zuwächse verzeichneten die Innungsstatistiken zwischen 1850 und 1856 in einigen der Weberstädten der Chemnitzer Peripherie, vor allem dort wo, überwiegend einfache Baumwollgewebe hergestellt wurden (Zschopau: 3,3 %, Mittweida: 0,1 %).52 Diese Zahlen kann man als Beleg deuten, dass für die Glauchauer und Meeraner Kleider- und Möbelstoffhersteller in ihren Spezialitäten vorerst wenig von der Konkurrenz der Maschinenwebereien zu befürchten hatten. Sie deuten auch darauf hin, dass die 1850er Jahre im erzgebirgisch-schönburgischen Revier eher eine Periode der Hochkonjunktur denn der Krise waren. Die Überwindung der Subsistenzkrisen der 40er Jahre und die rasche Bevölkerungszunahme stärkten die Konsumkraft des deutschen Binnenmarktes. Die südwestsächsischen Webwarenhersteller fanden hier ein zusehends befriedigenderes Absatzgebiet. Besonders auffällig schien es zeitgenössischen Beobachtern, dass sich die Chemnitzer, Glauchauer und Meeraner Erzeugnisse auch dort durchsetzten, wo sie direkt der englischen und französischen Konkurrenz ausgesetzt waren. Der Chemnitzer Textilfabrikant Carl Hermann Findeisen schrieb 1858 in einem Zeitungsartikel: „Der Schnitthändler, welcher vor 8 bis 10 Jahren nach Leipzig zur Messe ging um Waaren einzukaufen, fand in den großen Manufakturwaaren-Laden sicherlich kein Stück Chemnitzer oder Glauchauer Waare, sondern nur englische und französische. Heut zu Tage ist’s anders geworden. Die Chemnitzer gemischten Stoffe, besonders die halbseidenen Kleiderzeuge haben eine große, sehr große Rolle gespielt und spielen sie hoffentlich noch längere Zeit.“53
Der sächsischen Webwarenwirtschaft kam sicherlich entgegen, dass sich der rigide Handelsprotektionismus in den europäischen Nachbarstaaten am Ausgang der 1840er Jahre zu lockern begonnen hatte. Die österreichischen und russischen Einfuhrzölle standen wieder auf einem Niveau, das den Import mittelpreisiger Textilien zuließ. Russland hatte schon in der zweiten Hälfte der 1840er Jahre einen Kurswechsel seiner Handelspolitik vollzogen und seine Grenzen der Einfuhr westlicher Industrie- und Manufakturwaren ein Stück weit geöffnet. Zwischen 1850 und 1867 52 53
Zahlen nach: ZSBI 6, 1860, S. 134; Demmering, Textilindustrie, S. 60; Sächsische IndustrieZeitung Nr. 18, 19.10.1860, S. 214; Vgl. auch Leopold, Meerane, S. 197–200. Deutsche Gewerbezeitung 23, 1858, S. 25. Vgl. Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 67 ff.; Jahresbericht HK Chemnitz 1867, S. 33.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
senkte das Zarenreich mehrmals seine Importzölle. Die handelspolitische Öffnung spiegelte die wachsende Bedeutung der Getreideausfuhr für die russische Handelsbilanz wider. Dies kam nicht zuletzt dem sächsischen Textilwarenexport nach Russland zugute, der in der ersten Hälfte der 1850er Jahre einen merklichen Aufschwung nahm. Allerdings brach im Gefolge der Weltwirtschaftskrise von 1857 der Absatz ein und erholte sich danach nur langsam.54 Österreich und der Zollverein räumten sich 1853 gegenseitige Handelsvergünstigungen ein. Dies erleichterte den südwest- und südostsächsischen Textilherstellern den Zugang auf die Märkte des großen Nachbarlandes, der ihnen bislang auf legalem Weg verschlossen gewesen war. Allerdings profitierten die sächsische Textilwarenexporteure von dem Abkommen wohl weniger, als sie vielleicht gehofft hatten. Die notorische Zerrüttung der österreichischen Staatsfinanzen und die daraus resultierenden Geldwertverschlechterungen und Valutaschwankungen erschwerten den Absatz sächsischer Waren in Österreich und machten Geld- und Warentransaktionen riskant. Zudem lasteten auf der Einfuhr nach Österreich immer noch vergleichsweise hohe Zölle. Wichtig für die sächsische Textilwirtschaft war aber die Bestimmung, dass Waren, die zur Bearbeitung oder Veredelung ins Nachbarland gebracht wurden, zollfrei die Grenze passieren konnten. Dies erlaubte es den sächsischen Verlegern vor allem in den grenznahen Revieren, die niedrigeren böhmischen Arbeitslöhne zu nutzen.55 Auch auf den Märkten in Italien, Südosteuropa und der Levante verkauften sich die westsächsischen Webwaren offenbar trotz britischer und französischer Konkurrenz gut. Selbst auf die Binnenmärkte der schärfsten Konkurrenten drangen sächsische Woll- und Halbwollstoffe nun in vermehrtem Maße. Großbritannien hatte nach der Rücknahme der Corn Laws 1846 peu á peu auch die Zölle für die Einfuhr von Manufaktur- und Industriegütern einseitig gesenkt. Seit 1852 fanden kammwollene Fabrikate aus Glauchau Absatz auf den englischen und schottischen Home Markets, zwei Jahre später auch in Frankreich und Belgien. Zudem wurden Kleider- und Möbelstoffe aus Westsachsen in London zum Re-Export nach Übersee abgesetzt, vor allem in britische Kolonien wie Indien oder Australien.56 Weitere mehr oder minder ergiebige Märkte fand die Glauchau-Meeraner und Chemnitzer Woll- und Mischgewebemanufaktur in Lateinamerika – Mexiko, Brasilien, den La-Plata-Staaten und den Ländern an der Pazifikküste. Der sächsische Handelskonsul in Valparaiso (Chile), Robert Münchmeyer, vermeldete in seinem Bericht für 1854, unter den deutschen Fabrikaten „dürften die des Königreichs Sachsen als die belangreichsten zu nennen sein, welche namentlich in der Winter-Saison einen großen Theil der Verkäufe von deutschen Waaren ausmachen“. Unter den aufgelisteten Warengattungen nahmen Erzeugnisse des Textilreviers zwischen Chemnitz und Meerane einen prominenten Platz ein. Halbwollene und wol54 55 56
Vgl. Jaeger, Maßnahmen, S. 69; Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 8. Vgl. Riewald, Textilindustrie S. 6–11; Hahn, Geschichte, S. 149, 160 f.; Renzing, Handelsbeziehungen, S. 88; Zeise, Bourgeoisie, S. 251, 256 f.; Quataert, Strategies, S. 172. Vgl. Demmering; Textilindustrie, S. 79; Krebs, Textilindustrie, S. 102; Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 91; ebd. 1868, S. 234.
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lene Damaste (Möbelstoffe, Tischdecken sowie Satteldecken und Ponchos) „werden noch am besten und, in Berücksichtigung ihrer Güte, am billigsten vom Königreich Sachsen bezogen“. Bei den Kleiderstoffen aus Wolle und Mischgewebe würden zwar in den feineren Klassen französische Waren vorgezogen. Ansonsten könne auch hier kein Land mit Sachsen konkurrieren. Noch in seinem letzten Bericht für das Jahr 1860/61 stellte Münchmeyer fest: „Für gemischte Kleiderstoffe behauptet das Sächsische Fabricat siegreich die Oberhand und kann kein Land in den meisten Classen mit ihm concurriren“.57 Der wichtigste Exportmarkt der Glauchau-Meeraner und Chemnitzer Webwarenmanufaktur waren aber nach wie vor die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Poil de Chèvres, die Napolitains oder die Pure Laines, die sich seit den 1840er Jahren zu Stapelartikeln der südwestsächsischen Weberei entwickelt hatten, fanden in dem riesigen Land, das Jahr für Jahr Hunderttausende europäischer Einwanderer aufnahm, in großen Mengen Absatz. Dem sächsischen Textilexport kam auch entgegen, dass handelspolitische Barrieren niedriger gelegt wurden. 1846 senkten die USA ihre Einfuhrzölle für Woll- und Baumwollwaren merklich herab. Elf Jahre später wurden die Importabgaben noch einmal reduziert. 1857 lagen die amerikanischen Zölle für Textilien nur noch bei etwa 20 Prozent des Warenwertes und hatten damit den niedrigsten Stand seit 1816 erreicht.58 Für die Kleiderstoffhersteller des Chemnitz-Glauchauer Reviers bot die rasch wachsende amerikanische Bevölkerung einen schier unerschöpflich erscheinenden Konsumentenmarkt. Als etwa infolge des Krieges in Italien 1859 dort die Geschäfte stockten, ließen sich die angehäuften Lager problemlos in den USA absetzen. Und als man etwa zur gleichen Zeit in den sächsischen Textilrevieren eine Auflösung des Deutschen Zollvereins befürchtete, sahen sich zwei große Meeraner Handelshäuser veranlasst, Niederlassungen in New York zu eröffnen. Man wollte für den Fall gerüstet sein, dass der preußische Binnenmarkt sich wieder für sächsische Manufakturwaren schließen würde.59 Amerika macht dicht Die Befürchtungen der westsächsischen Kleiderstoffexporteure am Ende der 1850er Jahre, dass ihnen mit einer Auflösung des Zollvereins der preußische Markt verloren gehen könnte, sollten sich nicht bewahrheiten. Für die Meeraner, Glauchauer und Chemnitzer Webwarenunternehmer kam es im folgenden Jahrzehnt allerdings noch weit schlimmer als befürchtet: Der Zugang zum „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ wurde ihnen versperrt. Der Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs 1861 kappte nicht allein die Rohstoffzufuhr der Baumwolle 57 58 59
HStAD, MdI Nr. 06159, Bl. 14: Bericht Münchmeyer, 12.5.1855; ebd. o. Bl.: Bericht Münchmeyer, Juli 1862. Vgl. ebd. Bl. 42: Bericht Konsulat Buenos Aires, 28.2.1857; Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 91; ebd. 1868, S. 234; Blumberg, Textilindustrie, S. 213. Vgl. Taussig, History, S. 109–115, 144–149; Jenkins/Ponting, Industry, S. 156. Vgl. Sächsische Industrie-Zeitung Nr. 5. 20.7.1860, S. 58; Krebs, Textilindustrie, S. 101–104; Demmering, Textilindustrie, S. 79.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
verarbeitenden Branchen, sondern er war auch mit empfindlichen Einbußen für den Manufakturwarenabsatz in den USA verbunden. Die Einfuhr auf die Märkte der Südstaaten war ganz blockiert. Die Häfen und Umschlagplätze des Nordens standen dem Import sächsischer Textilien zwar weiterhin grundsätzlich offen, doch der Krieg wirkte zusehends negativ auf die Kaufkraft der amerikanischen Konsumenten ein. Allenfalls in den gehobeneren Marktsegmenten, bei Modeartikeln und Luxuswaren wie handgeklöppelten Spitzen und teuren Posamenten aus dem oberen Erzgebirge, waren in New York noch ansehnliche Geschäfte zu machen. Die enormen finanziellen Belastungen, die der langwierige und mit massivem Aufwand geführte Bürgerkrieg für die Staatskassen der Union im Gefolge hatte, wirkten bald auf den Wechselkurs des US-Dollars zurück. Die Valutaschwankungen erhöhten das Verlustrisiko beim Vertrieb der in Sachsen hergestellten Waren in den USA. Inflationäre Tendenzen verteuerten die importierten sächsischen Textilien auf dem amerikanischen Markt. Für die exportorientierten Branchen und Unternehmen der sächsischen Textilwirtschaft waren dies die erwartbaren Folgen, die ein längerer Krieg in einem auswärtigen Absatzgebiet mit sich brachte. Es blieb ihnen aber die Zuversicht, dass mit dem Ende der Kampfhandlungen und der Stabilisierung der Währungsverhältnisse das Exportgeschäft wieder in die alten Bahnen zurückkehren würde. Der amerikanische Bürgerkrieg brachte aber für den sächsischen Webwarenexport eine Zäsur, deren Auswirkungen das Kriegsende lange überdauern sollten. Der massiv erhöhte staatliche Geldbedarf veranlasste die Lincoln-Administration bald nach Kriegsausbruch dazu, ihre Einnahmen durch eine Heraufsetzung der Zollsätze zu erhöhen. 1864 wurden die amerikanischen Einfuhrzölle nochmals erhöht und ihre Berechnung einem komplizierten Verfahren unterworfen. Für Textilien, die in die USA eingeführt wurden, galt fortan ein kombinierter Gewichts- und Wertzoll, der nochmals nach bestimmten Qualitätsmerkmalen gestaffelt war. Zudem wurde auf Waren, die auf nicht-amerikanischen Schiffen transportiert worden waren, zusätzlich eine besondere Abgabe erhoben. In Chemnitz argwöhnte man, die neuen US-Einfuhrregularien würden den Importeur allen erdenklichen Schikanen der Zollbehörden preisgeben.60 Darüber hinaus ergriff die Regierung in Washington Maßnahmen, um den neuen Zolltarifen praktische Geltung zu verschaffen. Bereits 1862 war eine gesetzliche Regelung in Kraft getreten, nach der die in den Zollerklärungen gemachten Angaben vor einem Konsul der Vereinigten Staaten beschworen werden mussten. Die Chemnitzer Handelskammer bat daraufhin die sächsische Regierung, in Washington vorstellig zu werden, damit „in Chemnitz ein Viceconsulat oder doch eine Consularagentur errichtet werden möge“. 1866 entsprachen die Amerikaner schließlich diesem Wunsch mit der Eröffnung eines Handelskonsulats im „sächsischen Manchester“.61 Allerdings bekam das neue US-Konsulat in den folgenden Jahrzehnten wohl nicht so viel zu tun, wie es sich seine Initiatoren in Chemnitz erhofft hatten. Im 60 61
Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 5 f.; Jahresbericht HK Plauen 1864, S. 122 f.; Jenkins/ Ponting, Industry, S. 156. Zitat: Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 15; vgl. ebd. 1866, S. 45.
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ersten Jahr nach dem Ende des Bürgerkriegs konnten die sächsischen Handelskammern noch ein lebhaftes Exportgeschäft in die USA vermelden: „Alle unsere sächsischen Artikel wie Tuche, Damaste, Kleiderstoffe, Flanelle, Strumpfwaaren, Posamenten u. s. w. haben reichlichen Absatz gefunden, so daß der Bedarf im Allgemeinen nicht so schnell befriedigt werden konnte, als es das plötzliche Aufleben des Geschäftes verlangte …“. Am stärksten war die Nachfrage nach Stapelartikeln für den Konsum der breiten Bevölkerung, die während des Krieges stark zurückgegangen war. Doch bereits im Frühjahr 1866 zeigten zahlreiche Auktionen in New York und anderen amerikanischen Importhäfen an, dass der Run der europäischen Webwarenexporteure auf die US-Märkte zu einem Überangebot geführt hatte. Für die sächsische Weberei sollte es noch schlimmer kommen. Die amerikanische Regierung machte keine Anstalten, die während des Bürgerkrieges hochgefahrenen Einfuhrzölle wieder auf das Vorkriegsniveau ab zu senken. Im Gegenteil, der neue US-Zolltarif, der 1867 in Kraft trat, zeigte ausgesprochen protektionistische Züge. Vor allem Woll- und Wollmischgewebe wurden mit Abgaben von 50 bis 100 Prozent des Warenwerts belegt.62 Seit dem Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs enthielten die Wirtschaftsund Konjunkturberichte aus den westsächsischen Webereirevieren mit unschöner Regelmäßigkeit den Hinweis auf die ehemals so ergiebigen nordamerikanischen Märkte, die nun leider fast völlig verschlossen seien. In ihrem Jahresbericht für 1868 vermeldete die Handels- und Gewerbekammer Chemnitz, der „frühere Hauptconsument, die Vereinigten Staaten, welcher vor Jahren oft allein genügte, einen blühenden Geschäftsgang auf lange Zeit zu sichern, war aus bekannten Gründen ganz still …“. Noch Mitte der 1870er Jahre findet sich in den Handelskammerberichten die Reminiszenz an die golden Zeiten des Amerikageschäfts: „Der Absatz nach Nord-Amerika ist kaum noch nennenswerth im Vergleich zu den Massen, welche dieses Land in früheren Jahren von Glauchauer Fabrikanten bezog.“ Am Ende der 1860er Jahre begannen die westsächsischen Webereigeschäfte ihre Handelsniederlassungen in New York dicht zu machen. Fortan konnten allenfalls teure reinwollene Modeartikel die hohen Zollabgaben beim Import in die USA kompensieren.63 Es stellte sich bald heraus, dass andere überseeische Absatzgebiete für die Webwarenhersteller aus dem Chemnitz-Glauchauer Revier keinen gleichwertigen Ersatz für den Verlust des US-Marktes bieten konnten. Der sächsische Export nach Lateinamerika, der in den 1850er Jahren einen spürbaren Aufschwung genommen hatte, wurde nach 1860 wieder stärker von den Auswirkungen politischer Krisen beeinträchtigt. Revolutionen und Kriege unterbrachen immer wieder den Geschäftsverkehr und setzten die Warenlieferungen aus Europa den Gefahren von Konfiskation, Diebstahl und Zerstörung aus. Die Mexikaner litten bis 1866 unter einem langwierigen und blutigen Bürgerkrieg, in den zeitweise auch die europäi62 63
Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1865, S. 9; ebd. 1866, S. 15; Taussig, History, S. 206, 218, 235; Jaeger, Maßnahmen, S. 65. Zitate: Jahresbericht HK Chemnitz 1868, S. 232; ebd. 1875/76, S. 298. Vgl. ebd. 1863, S. 5; ebd. 1865, S. 9, 160; ebd. 1867, S. 29–32; ebd. 1869/70, S. 245, 248; Maschner, Weberei, S. 105; sowie am Fall eines rheinischen Unternehmens: Röhlk, Organisation, S. 387.
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sche Großmacht Frankreich involviert war. Brasilien und die Staaten am La Plata – Argentinien, Uruguay und Paraguay – führten beinahe regelmäßig in wechselnden Konstellationen Krieg miteinander. An der Pazifikküste trugen Bolivien, Peru und Chile ihre Streitigkeiten um Bodenschätze und den Zugang zum Meer mit militärischen Mitteln aus. Währungsfluktuationen, Inflationen und Schuldenkrisen machten den Geldverkehr mit diesen Regionen zu einem riskanten Unterfangen. Dazu kam die notorisch unausgeglichene Handelsbilanz vieler mittel- und südamerikanischer Länder, deren Export sich oft auf einige wenige Mineralien, Rohstoffe oder Lebensmittel beschränkte. Ihre Wirtschaft war damit in hohem Maße den Schwankungen der Weltmarktpreise für einzelne Produkte unterworfen. So hieß es im Jahresbericht der Chemnitzer Handelskammer für 1863, Brasilien könne für seine Hauptexportartikel Kaffee in Europa keine lohnenden Preise erhalten. Dies habe eine „geschmälerte Kauflust für unsere Exportartikel“ zur Folge gehabt.64 Die Rahmenbedingungen des Exports nach Lateinamerika erschienen für die sächsischen Textilwarenhersteller auch in „normalen“ Zeiten bei weitem nicht so vorteilhaft wie sie es bis 1860 in Nordamerika gewesen waren. In den USA hatten heimische Importfirmen Bestellungen direkt in Chemnitz, Glauchau oder Meerane aufgegeben. Die größeren sächsischen Webwarenunternehmen ließen über ihre nordamerikanischen Agenten und eigene Handelsfilialen Aufträge vor Ort einwerben. Hier war der hanseatische Kommissions- und Zwischenhandel zunehmend zurückgedrängt worden. Das Lateinamerikageschäft war dagegen noch relativ fest in der Hand des Hamburger Überseehandels. Dies war für die Textilfabrikanten und Verlagsunternehmer meist weit weniger profitabel als der Direktexport. Zudem mangelte es ihnen dabei an verlässlichen Marktinformationen: „Häufig weiß der Fabrikant kaum, wohin seine Waare geht, noch weniger hat er aber Gelegenheit, sich mit den Verkäufern am Consumtionsplatze persönlich in Vernehmen zu setzen und von diesen, über die Specialitäten des Bedarfs, unterrichtet zu werden.“65 Ohne eine gut ausgebaute inländische Handelsinfrastruktur – wie es sie in den USA gab – machte der Aufbau intensiver direkter Geschäftsbeziehungen zu diesen Ländern wenig Sinn. Bei den westsächsischen Textilhandelshäusern kamen zwar immer wieder Angebote aus Rio de Janeiro, Buenos Aires oder Valparaiso an, Waren auf Kommissionsbasis nach Südamerika zu versenden. Doch bei solchen „Consignationen“ trug letztlich der Exporteur das volle Risiko und musste gewöhnlich lange auf den Verkaufserlös warten – wenn er denn überhaupt sein Geld sah. Der Verfasser des Chemnitzer Handelskammerberichts von 1864 wertete das „fortgesetzte Verlangen nach Consignationen“ als untrügliches Zeichen dafür, dass die südamerikanischen Importeure, „bei den langen Verkaufsterminen, dem hohen Zinsfuß und der schwankenden Valuta keinen Nutzen mit festen Einkäufen zu erlangen wussten, der mit Risiko und Kapital-Aufwand im Verhältniß stand. Man suchte deshalb die Fabrikanten in Mitleidenheit zu veranlassen und fand trotz der meist ungünstigen Erfahrungen, doch immer wieder Leute, die darauf eingingen.“66 64 65 66
Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 7. Ebd. 1865, S. 10. Ebd. 1864, S. 5; vgl. ebd. 1863, S. 7.
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Insgesamt scheint der nachhaltige Bedarf für die Exportartikel aus Meerane, Glauchau und Chemnitz in den meisten Regionen Süd- und Mittelamerikas relativ begrenzt gewesen zu sein. Im bevölkerungsreichen Mexiko etwa verkauften sich vornehmlich billige Kleiderstoffe, wie sie in Bradford in Massen auf mechanischen Webstühlen fabriziert wurden. In diesem Marktsegment machten die westsächsischen Hersteller beim Export nach Mittelamerika kaum ertragreiche Geschäfte. Hamburger Exportgroßhändler kauften die Restbestände solcher Stoffe auf den Messen und in den Fabrikstädten billig auf, um sie dann nach Tampico und Veracruz zu verschiffen. Chemnitzer Meubles – „Möbelstoffe“ – wurden in Mexiko und den südamerikanischen Ländern offenbar vornehmlich in Varianten abgesetzt werden, die auf die Besonderheiten des Landesbedarfs zugeschnitten waren: als Pferdedecken und Ponchos.67 Neue überseeische Märkte erschlossen sich den Chemnitzer Damasten und Glauchau-Meeraner Kleiderstoffen seit den 1860er Jahren in Asien. Der Export nach Indien profitierte während der amerikanischen „Baumwollkrise“ davon, dass die europäischen Spinnereien in verstärktem Maße indische Baumwolle verwendeten und sich auf diese Weise die Handelsbilanz des Landes aufbesserte. Die sächsischen Textilwaren fanden ihren Weg nach Indien und auch Australien allerdings meist als Re-Export über London. Insgesamt dürften sie aber in der britischen Kronkolonie, wo die im Mutterland hergestellten Manufaktur- und Industriewaren durch vielfältige formale und informelle Handelsprivilegien begünstigt waren, nur einige wenige Absatznischen gefunden haben. Zudem hatte der Export sächsischer Ginghams – karierter und gestreifter Baumwollstoffe – nach Indien nun ganz aufgehört. Diese ehemalige Chemnitzer Spezialität, die mittlerweile von einigen kleineren Nachbarstädten übernommen worden war, war auf dem indischen Subkontinent dem Konkurrenzdruck der schottischen Maschinenweberei erlegen.68 Zur gleichen Zeit setzten die westsächsischen Textilfabrikanten einige Hoffnung darauf, von der Öffnung der ostasiatischen Märkte für die europäische Warenzufuhr zu profitieren. Vor allem Japan erschien ihnen als zukunftsträchtiges Absatzgebiet für Webereierzeugnisse aus Sachsen. Anfang der 1860er Jahre versandten Chemnitzer, Meeraner und Crimmitschauer Textilunternehmen versuchsweise kleinere Warenkontigente auf eigene Rechnung nach China und Japan. Es entwickelte sich nach einiger Zeit ein regelmäßigesr Exporthandel mit westsächsischen Damasten und Wollstoffen in diese Länder. Allzu optimistische Erwartungen wurden jedoch recht bald gedämpft. 1866 hatte die Ausfuhr nach Ostasien wieder etwas nachgelassen. Die Gründe hierfür seien aber, so die Chemnitzer Handelskammer, „bei der großen Entfernung und den wenigen Verbindungsfäden, kaum mit annähernder Sicherheit anzudeuten.“ Überhaupt könne bei „Cultur-Völkern, wie Chinesen und Japanesen, die ihre eigene, für alle Bedürfnisse sorgende Industrie haben, die Einführung neuer Gebrauchsgegenstände nur sehr langsam gehen.“ Immerhin blieb der Textilwarenexport nach China und Japan auch im folgenden Jahrzehnt so bedeut-
67 68
Vgl. Ebd. 1865, S. 9 f.; ebd. 1863, S. 6 f. Vgl. Ebd. 1863, S. 7 f.; ebd. 1867, S. 39: ebd. 1871/72, S. 303 f.; Maschner, Weberei, S. 105.
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sam, dass er einer regelmäßigen Erwähnung in den Handelskammerberichten wert schien.69 Die Kleider- und Möbelstoffweberei in der Ära des Freihandels Bessere Möglichkeiten, die Verluste auf dem nordamerikanischen Absatzmarkt zu kompensieren, boten sich – so könnte man zumindest annehmen – in Europa. Seit Beginn der 1860er Jahre entwickelte sich zwischen den europäischen Staaten ein umfassendes Handelsvertragssystem, das einen zunehmend großzügigeren Austausch von Waren und Gütern über nationale Grenzen hinweg gewährleistete. Als besonders effektives Instrument bei der Ausbreitung des Freihandels in Europa erwies sich das Prinzip der „Meistbegünstigung“. Gewöhnlich enthielten die bilateralen Handelsverträge eine Klausel, durch die die vertragschließenden Staaten sich gegenseitig die jeweils günstigsten Einfuhrtarife zusicherten. Konzedierte nun einer der Kontrahenten einem anderen Staat niedrigere Zollsätze, so kam dies automatisch auch den Partnern früher abgeschlossener Handelsverträge zugute. Der Deutsche Zollverein war seit Mitte der 1860er Jahre fest in dieses System eingebunden. Beim Neuabschluss des Zollvereinsvertrages 1865 wurde das Tarifregelwerk systematisch nach freihändlerischen Maximen umgestaltet. Die Einfuhrzölle auf Garne und Webwaren wurden um bis zu 80 Prozent gesenkt. Weitere einseitige Zollsenkungen erfolgten 1870 und 1873. Damit waren die Schutzzölle für Wollund Baumwollgewebe faktisch beseitigt worden.70 Unter den sächsischen Textilproduzenten rief der handelspolitische Kurswechsel gemischte Reaktionen hervor. Vor allem die Baumwollspinner, die von jeher den harten Kern der Schutzzollbefürworter bildeten, bekämpften die Zollsenkungen vehement. Dagegen versprachen sich viele der Verlags- und Fabrikunternehmer der sächsischen Webereireviere mehr von der Öffnung der Auslandsmärkte als von der Aufrechterhaltung der Einfuhrzölle des Zollvereins. Für Sachsens Weberei, so kommentierte der Leiter des sächsischen Statistischen Bureaus, Albert Weinlig, 1862, sei es durchaus zulässig, prohibitiv gewordene Zollsätze zu senken. Die Baumwollwarenhersteller, die am ehesten eine Überschwemmung des Binnenmarktes mit britischer Maschinenware zu befürchten hätten, seien auch durch die abgesenkten Tarife genügend geschützt. Die sächsische Wollwarenbranche benötige an sich gar keinen Zollschutz.71 Es kam daher wohl nicht von ungefähr, dass sich das Königreich Sachsen 1864 dem preußisch-französischen Handelsabkommen noch vor dessen Übernahme durch den Zollverein anschloss. Die Ausdehnung des europäischen Handelsvertragssystems mit seinen Meistbegünstigungsklauseln entfaltete eine Dynamik, der 69 70 71
Zitate: Jahresbericht HK Chemnitz 1866, S. 16 f.; vgl. ebd. 1865, S. 11; ebd. 1867, S. 30, 39; ebd. 1868, S. 232; ebd. 1871/72, S. 303 f.; ebd. 1875/76, S. 297. Vgl. Torp, Globalisierung, S. 131–135; Renzing, Handelsbeziehungen, S. 52 f., 86 ff., 99–103; Hahn, Geschichte, S. 169 f.; Metzler, Großbritannien, S. 243. Zit. nach Zeise, Bourgeoisie, S. 255 f.
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sich die Textilexportregion Sachsen letztlich kaum entziehen konnte. Auf den italienischen Märkten bekamen es die sächsischen Textilexporteure schmerzhaft zu spüren, was es bedeutete, von Meistbegünstigungsrechten ausgeschlossen zu bleiben. Nach dem Ende der Einigungskriege hatte sich der Handelsverkehr Sachsens mit dem neuen Königreich zunächst deutlich belebt. Nachdem jedoch Italien mit einer ganzen Reihe europäischer Staaten Handelsverträge abgeschlossen hatte, wurden sächsische Textilwaren bald durch die britische und französische Konkurrenz, die nun merklich niedrigere Einfuhrzölle entrichten musste, von den italienischen Märkten verdrängt. Einem Handelsvertrag mit dem Zollverein stand die Weigerung einiger deutscher Staaten entgegen, den neuen italienischen Nationalstaat anzuerkennen. Insbesondere die Dresdner Regierung legte sich wegen der dynastischen Loyalitäten der Wettiner zu den abgesetzten Herrschern zunächst quer. Der Abschluss des deutsch-italienischen Handelsvertrag 1865 wurde daher selbst im Chemnitzer Bezirk, wo die schutzzöllnerische Baumwollspinnerei ihre stärkste Basis hatte, mit Aufatmen registriert. Nun werde es, so vermeldete der Chemnitzer Handelskammerbericht, „unseren Fabrikanten“ möglich, verlorenes Terrain wieder zu gewinnen.72 Die Ausformung eines freihändlerischen europäischen Handelsvertragssystem in den 1860er Jahren dürfte allerdings bei genauerer Betrachtung für den sächsischen Textilwarenexport eine weniger bedeutsame Zäsur gewesen sein, als dies auf den ersten Blick scheinen könnte. Große Absatzgebiete waren auch nach dem Abschluss von Handelsverträgen für Textilien aus Sachsen schwer zugänglich. In Frankreich war der traditionelle Protektionismus zwar gelockert worden. Aber die französischen Einfuhrzölle standen immer noch auf einem wesentlich höheren Niveau als vergleichbare Abgaben des Zollvereins. Dies genügte im allgemeinen, um der französischen Textilindustrie auf ihrem Binnenmarkt einen bequemen Wettbewerbsvorsprung vor der sächsischen Konkurrenz zu verschaffen. Ähnliches gilt wohl auch für Spanien. Der 1868 in Kraft getretene Handels- und Schifffahrtsvertrag senkte zwar die Einfuhrzölle für Waren aus den Zollvereinsstaaten. Doch war der Handelsverkehr mit Spanien immer noch durch zahlreiche Schutzzölle, ja sogar Einfuhrverbote belastet.73 In Großbritannien, dem Vorreiterland des europäischen Freihandels, ging die Senkung der Zollschranken nicht unbedingt mit einer nennenswerten Vergrößerung der Marktanteile westsächsischer Woll- und Mischgewebeartikel einher. England sei, so vermeldete der Chemnitzer Handelskammerbericht 1872 lapidar, „wie früher“ kein nennenswertes Absatzgebiet für Möbeldamaste. Das Geschäft mit feinen Kleiderstoffen, die „früher sehr beträchtlich“ für den britischen Home Trade von Sachsen importiert worden seien, sei still geworden, hieß es schon 1866 an gleicher Stelle. In Großbritannien waren die eingeführten Glauchauer, Meeraner und Chemnitzer Fabrikate nach wie vor überwiegend für die Wiederausfuhr nach Übersee
72 73
Jahresbericht HK Chemnitz 1865, S. 11 f.; vgl. Jahresbericht HK Plauen 1865, S. 22. Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1866, S. 21 f.; ebd. 1867, S. 33–36.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
bestimmt. Auf den britischen Binnenmärkten konnten sie sich gegen die hoch entwickelte heimische Konkurrenz nur schwer durchsetzen.74 Die russische Regierung hatte zwar in den 1850er und 60er Jahre Einfuhrverbote aufgehoben und Zölle herunter gesetzt. Schließlich setzte das Zarenreich 1869 auch die Regelungen außer Kraft, die bewirkt hatten, dass ausländische Waren legal nur über See eingeführt werden konnten.75 Doch beinhalteten die russischen Zollgesetze für die sächischen Textilwarenexporteure immer noch zahlreiche Fallstricke und Hindernisse. So klagte 1863 ein Artikel in der Gewerbezeitung: „Was nur irgend einmal gebraucht werden kann, von wie verschiedenen Rohstoffen ein Artikel zu fertigen ist, welcher Grad der Feinheit irgend einer Waare gegeben werden könnte – mit Aufwendung des feinsten Unterscheidungsvermögens ist jeder Artikel 6-, 8-, 10mal verschieden normirt, in der Regel aber möglichst hoch angesetzt. Damit ist nicht nur die Einfuhr außerordentlich erschwert, sondern der Willkür der Beamten Thür und Thor geöffnet. Fast noch schlimmer als die hohen Zollsätze wirkt dann die geringe Achtung, die der russische Beamte vor dem Gesetz zu haben scheint, die Entscheidung nach Ermessen und Willkür, die sich vielfach nach den beigefügten Beweisgründen in klingender Münze richtet.“76
Die russischen Abnehmer forderten zudem lange Zahlungsfristen ein, ihre Zahlungsmoral galt als zweifelhaft. Im Streitfall war es für ausländische Kaufleute schwierig, in Russland „ohne große Spesen Recht zu erlangen“. Die notorischen Schwankungen der russischen Valuta machten gerade langfristige Geldtransaktionen besonders riskant. Bei der Inflationsanfälligkeit des Rubels liefen die Kreditoren immer Gefahr, nur einen Bruchteil des Realwerts der gelieferten Waren erstattet zu bekommen.77 Auch die Wirtschaftsnachrichten aus Südosteuropa und der Levante, waren für die Textilexporteure aus Westsachsen meist alles andere als ermutigend. Die zunehmenden Auflösungserscheinungen des Osmanischen Reiches, Geldwertverfall, sinkende Kaufkraft und unsichere Geschäftsverhältnisse erschwerten den Absatz auf diesen Märkten, die seit dem 18. Jahrhundert regelmäßig sächsische Manufakturwaren abgenommen hatten. 1867 konstatierten die Chemnitzer Kleiderstoff-Hersteller, „das große Absatzgebiet der Donaufürstenthümer, Türkei, Levante und des Orients“ habe für sie keine Bedeutung mehr, „da die trostlosen Rechtsverhältnisse dieser Länder, bei der Schutzlosigkeit des Ausländers, von directen Geschäften dahin nur abmahnen müssen“. In Ägypten waren die sächsischen Textilwarenexporteure – nach eigener Aussage – Opfer von „betrügerischen Zahlungseinstellungen fast sämmtlicher eingeborner Händler“ geworden. Anfang der 1870er Jahre trafen zwar immer noch reichlich Aufträge für Möbelstoffe aus der Türkei, Griechenland, Syrien und Ägypten ein. Doch die Chemnitzer Unternehmen waren wegen der gedrückten Preise, des mangelnden Vertrauens in die Solidität der Besteller und der „gänzlich ungeregelten Geschäftsverhältnisse jener Länder“ mittlerweile sehr zu74 75 76 77
Zitate: Jahresbericht HK Chemnitz 1871/72, S. 302; ebd. 1866, S. 18. Vgl. Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 50, 16.12.1869, S. 491; Jahresbericht HK Plauen 1868, S. 17. Deutsche Gewerbezeitung 1863, S. 239. Vgl. Zitat: Jahresbericht HK Chemnitz 1864, S. 6; vgl. ebd. 1863, S. 8; ebd. 1866, S. 18.
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rückhaltend geworden, sich auf solche Kommissionsgeschäfte einzulassen.78 Die Anknüpfung direkter Geschäftsverbindungen setzte den sächsischen Webwarenhandel offenbar vermehrten Risiken aus. Solche Risiken hatten früher die „griechischen“ Kaufleute auf sich genommen, die ihre Waren auf den Leipziger Messen eingekauft und auf den Märkten des Osmanischen Reiches abgesetzt hatten. Die Entfaltung des europäischen Freihandelssystems brachte für die Webwarenhersteller des Chemnitz-Glauchauer Reviers wohl kaum eine ausreichende Kompensation für die Aussperrung von den amerikanischen Märkten. Die sächsischen Möbel- und Kleiderstoffe fanden in den 1860er und 70er Jahren offenbar nur in einer beschränkten Anzahl europäischer Länder einigermaßen dauerhaften und befriedigenden Absatz: Skandinavien, Italien, den Niederlanden sowie in der schon seit Längerem freihändlerischen Schweiz.79 Die eher dunkel gefärbten Marktberichte der Chemnitzer Handelskammer hellten sich nur während der frühen 1870er Jahre für einige Zeit auf. Der gewaltige Konjunkturboom im Gefolge der Reichseinigung von 1871 erfasste auch die Kleider- und Möbelstoffindustrie. Nicht allein auf dem deutschen Binnenmarkt setzten die westsächsischen Textilhersteller deutlich mehr ab als in den vorangegangenen Jahren. Auch das Exportgeschäft, vor allem nach Italien, der Levante und Lateinamerika, nahm einen merklichen Aufschwung. Gerade die Möbelstoffbranche profitierte davon, dass die Konkurrenz aus dem besiegten Frankreich vorübergehend von den Märkten verschwunden war. Die Chemnitzer Unternehmen hatten Probleme, die zahlreichen Bestellungen halbwollener Möbeldamaste auszuführen, nachdem sich die Zahl der heimgewerblichen Webstühle in der Stadt im Laufe der vergangenen zwölf Jahre sich um beinahe tausend, von 2415 auf 1441, vermindert hatte. Viele Chemnitzer Damastweber hatten sich mittlerweile anderen Branchen und Tätigkeiten zugewandt. Es wurden nun eine ganze Reihe neuer Fabrikbetriebe gegründet, die mechanische Webstühle aufstellten.80 Der Aufschwung der Chemnitz-Glauchauer Weberei erwies sich allerdings von kurzer Dauer. Bereits Anfang 1873, noch vor den großen Börsenkrächen dieses Jahres, machten sich deutliche Anzeichen einer Abkühlung der Konjunktur bemerkbar.81 Nachdem das Feuerwerk der überhitzten Hochkonjunktur abgebrannt war, kehrten in den folgenden Jahren die Absatzprobleme der Kleider- und Möbelstoffhersteller mit verstärkter Wucht zurück. Die Märkte wurden – wie in jeder Überproduktionskrise – mit großen Warenmengen zu Schleuderpreisen überschwemmt, wobei nun die neu errichteten Maschinenwebereien die Situation noch verschärften. Zudem war der Abbau der deutschen Einfuhrzölle mittlerweile so weit fortgeschritten, dass wollene und halbwollene Gewebe in den gröbsten Sorten mit etwa zehn Prozent, die feineren Qualitäten mit weniger als fünf Prozent des Warenwerts belastet wurden. Ausländische Fabrikate strömten daher fast ungehin78 79 80 81
Zitate: ebd. 1867, S. 28, 40; ebd. 1871/72, S. 303. Zitate: ebd. 1871/72, S. 302; ebd. 1866, S. 18; vgl. ebd. 1867, S. 28; ebd. 1869/70, S. 243 f., 248; ebd. 1871/72, S. 302 f. Vgl. ebd. 1871/72, S. 300 ff. Vgl. ebd. 1873/74, S. 272–276.
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dert auf den deutschen Binnenmarkt, während andere kontinentaleuropäische Staaten (Frankreich, Spanien, Russland, Österreich) deutlich höhere Zölle erhoben und der größte überseeische Markt, die USA, für die sächsischen Webwaren weitgehend verschlossen war. Am Ende der 1870er Jahre sah sich die sächsische Regierung veranlasst, eine Kommission zur Untersuchung der Notlage der Glauchau-Meeraner Webwarenindustrie einzuberufen.82 Es war nun nicht mehr so sehr die britische Konkurrenz, die den westsächsischen Kleiderstoffherstellern zu schaffen machte. Ihren Platz hatte eine ganze Reihe kontinentaleuropäischer Webereiregionen eingenommen, deren Erzeugnisse mit den halbwollenen und wollenen Stoffen aus dem westsächsischen Revier in Wettbewerb traten. Als schärfster Konkurrent der sächsischen Kleiderstofffabrikation galt in den 1870er Jahren gemeinhin die nordfranzösische Weberei, die ihr Zentrum in den Städten Roubaix und Tourcoing hatte. Die räumliche Nähe zu großen Rohwoll- und Wollgarnmärkten verschaffte diesem Revier einen gehörigen Standortvorteil, zumal selbst die sächsischen Webereien mittlerweile große Mengen Kammgarns aus dieser Region bezogen. Am Ende der 1870er Jahre waren sogar einiger Meeraner Unternehmen dazu übergegangen, Stoffe roh aus Roubaix zu importieren und sie gefärbt und appretiert in den Handel zu bringen.83 Auch mit einer starken innerdeutschen Konkurrenz – aus Elberfeld, Schlesien, vor allem aber aus den thüringischen Nachbarstädten Greiz und Gera – mussten sich die westsächsischen Webwarenhersteller auseinandersetzen. Seit 1871 hatten zudem die elsässischen Kleiderstoffwebereien einen ungehinderten Zugang in das deutsche Zollgebiet erhalten. Selbst die unter dem Schutz hoher Einfuhrzölle aufgepäppelten Textilindustrien der östlichen Nachbarstaaten machten sich nun als ernstzunehmende Konkurrenten auf den ungeschützten Märkten bemerkbar. Dies galt vornehmlich für die Webwaren aus dem Habsburgerreich. Direkt jenseits der sächsisch-böhmischen Grenze, um Asch, Haslau und Roßbach, hatte sich ein Produktionszentrum für halbwollene und halbseidene Kleiderstoffe etabliert, das von Arbeitslöhnen profitierte, die noch niedriger waren als die auf der sächsischen Seite.84 Die Wettbewerbssituation des Glauchau-Meeraner und Chemnitzer Weberei wurde in den 1870er Jahren auch durch eine schwindende Nachfrage nach ihren lange Zeit marktgängigsten Spezialitäten beeinträchtigt. Die bunt gemusterten Damenkleiderstoffe aus Baumwollkettgarn und hartem glänzenden Kammgarnschuss waren aus der Mode gekommen. An ihre Stelle traten weiche einfarbige Stoffe aus reiner Wolle. Das Preisniveau der Schafwolle war infolge der massenhaften Zufuhr australischer, südafrikanischer und südamerikanischer Rohwollen nach Europa so weit gesunken, dass solche Stoffe relativ preisgünstig hergestellt werden konnten. Die westsächsischen Kleiderstoffhersteller hatten es auf diesem Feld mit einer Konkurrenz zu tun, die auf die Erzeugung solcher Artikel besser eingestellt gewe82 83 84
Vgl. Jacobs, Textilzölle, S. 63; Jahresbericht HK Plauen 1880, S. 18 ff.; Jahresbericht HK Chemnitz 1879/80, S. 142–156; Bericht Enquête-Commission. Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1877/78, S. 382; ebd. 1879/80, S. 145 f. Vgl. ebd. 1873/74, S. 272; ebd. 1877/78, S. 378; ebd. 1879/80, S. 145 f.; Bebel, Weber, S. 4.
5.1 Die Chemnitzer und Glauchauer Weberei 1850–1879
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sen war. In den nahe gelegenen thüringischen Städten Greiz und Gera hatte man schon seit längerer Zeit im Stück gefärbte, solide Uni-Stoffe hergestellt. Webstühle und Färberei waren dort auf diese Artikel eingerichtet. Die Maschinenweberei hatte sich in den reußischen Städten frühzeitiger ausgebreitet als im benachbarten sächsischen Revier. Die Weber in Glauchau und Meerane waren dagegen überwiegend auf gemusterte Stoffe eingerichtet. Sie konnten zwar ohne weiteres auch einfarbige Wollstoffe fertigen, aber ihre komplizierteren Webstühle arbeiteten langsamer als die der reußischen Konkurrenz.85 Die Webwarenunternehmen im Glauchau-Meeraner Revier versuchten diese Herausforderung auf recht unterschiedliche Weise zu bewältigen. In Meerane setzte man in den 1870er Jahren auf einen forcierten Übergang zur Fabrik. 1870 hatte es in der Stadt erst 230 mechanische Webstühle gegeben. Innerhalb weniger Jahre verzehnfachte sich diese Zahl. Mitte der 1870er Jahre liefen in sieben Meeraner Webfabriken insgesamt rund 2500 Maschinenstühle. Diese Strategie erwies sich zunächst als ziemlich erfolgreich. Die sieben mechanischen Webereien seien in der letzten Zeit fast stets voll beschäftigt gewesen, verkündete der Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer Chemnitz für 1875 und 1876. „Auch die übrigen 60 theils größeren, theils kleineren in Meerane bestehenden Fabrikgeschäfte, die ihre Waare außer dem Hause auf Handstühlen fertigen lassen, hatten genügende Beschäftigung.“86 In Glauchau ging der Übergang zur Maschinenweberei in den 1870er Jahren dagegen wesentlich gemächlicher vor sich als in der Schwesterstadt Meerane. Die Glauchauer Kleiderstoffproduzenten fuhren die Fertigung von Stapelartikeln, deren Rentabilität in zunehmendem Maße auf maschineller Massenproduktion beruhte, zurück. Sie konzentrierten sich noch mehr als bisher schon auf die feinen Modeartikel und „Phantasiestoffe“, die immer noch vornehmlich auf handbetriebenen Schaft- und Jacquardstühlen gewebt werden konnten. Der Erfolg dieser Strategie war eher durchwachsen. Einerseits wichen die Glauchauer Verleger und Fabrikanten mit der Option für ein Hochpreissegment des Marktes der Konkurrenz der preisgünstigen Wollkleiderstoffe aus, mit denen die thüringischen und nordfranzösischen Webereien im Laufe der 1870er Jahre regelmäßig die Märkte überschwemmten. Es gelang den relativ teuren Modestoffen aus Glauchau zudem besser, auf zollgeschützte Märkte vorzudringen. Am Ende der 1870er Jahre hatte sich hier sogar der Export in die USA wieder belebt. Doch barg der Rückzug in eine solche Marktnische andererseits auch unübersehbare Nachteile. Der quantitativ eher beschränkten Aufnahmefähigkeit des Marktes stand ein außerordentlich aufwändiger Produktions- und Vermarktungsprozess gegenüber. Die Modeartikelhersteller stellten oft umfangreiche Musterkollektionen zusammen. Je flauer das Geschäft war, desto größere Anstrengungen wurden darauf verwandt, mit ansprechenden Dessins Absatz zu erzielen. Die Glauchauer Firmen benutzten dabei gewöhnlich französische Musterabonnements als Vorlagen für eigene Stoffe. Einige Fabrikanten beschäftigten um 1880 zweimal jährlich 60 bis 80 85 86
Vgl. Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 142; Jahresbericht HK Chemnitz 1879/80, S. 145, 151. Jahresbericht HK Chemnitz 1875/76, S. 299.
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Stühle für jeweils acht bis zehn Wochen nur mit Musterungsarbeiten. Modische Damenkleiderstoffe für die „höheren Stände“ waren zudem meist eine sehr „verderbliche“ Ware. Zunächst einmal hing es in hohem Maße „vom Zufall ab, ob die herrschende Geschmacksrichtung sie als derselben entsprechend und als neu anerkennt.“ Es konnte durchaus passieren, dass Artikel, die zu Beginn der Verkaufssaison als Modeneuheit angesehen wurden, zur Zeit der Lieferung schon wieder als antiquiert galten.87 Diese Risiken wiederum schoben die Abnehmer gerne auf die Hersteller ab. „Bei dem überhand genommenen Reisegeschäft“, hieß es in einem Handelskammerbericht schon zu Anfang der 1870er Jahre, komme es oft vor, dass „viele Kunden ihre Aufträge entweder an zu Viele oder an Wenige zu reichlich vertheilen. In Folge dessen entstehen durch Annullirungen und Retournirungen jene großen Läger, mit denen schließlich die Messen überführt werden; denn um zu räumen, sieht sich der Fabrikant genöthigt, zu forcirten Verkäufen zu schreiten, die aber auch nur durch gedrückte, oft verlustbringende Preise bedingt sind.“88
Die ausgeprägte Saisonalität des Geschäfts mit Mode- und Phantasiestoffen stellte die Fabrikanten und die Weber vor das Problem, dass sich im Jahresverlauf Phasen hoher Arbeitsintensivität mit Zeiten weitgehender Beschäftigungslosigkeit abwechselten. Die halbjährigen Saisonwechselpausen dauerten in Meerane höchstens 14 Tage. In Glauchau dagegen dehnten sich diese Perioden auf jeweils acht bis zehn Wochen aus, in denen die Fabrikweber notdürftig im Wechsel beschäftigt wurden, die Heimweber aber oft völlig beschäftigungslos blieben. Die Glauchauer Webwarenunternehmer hielten wohl diese extremen saisonalen Produktionsschwankungen vorerst davon ab, allzu viel Kapital in mechanischen Fabrikwebstühlen festzulegen.89 Die Chemnitzer Weberei hatte sich von den wollenen und mit Baumwolle gemischten Kleiderstoffen, wie sie in Meerane und Glauchau gefertigt wurden, schon im Laufe der 1860er Jahre abgewandt. Das relativ hohe Lohnniveau in der Stadt hatte offenbar dazu beigetragen, dass die Kleiderstoffweberei hier nicht mehr dem Wettbewerb der Nachbarstädte standhielt. Statt dessen ging man in Chemnitz zu einem teureren Rohstoff, der Seide über und stellte fortan vor allem mit Wolle gemischte Gewebe her. Allerdings war das Absatzvolumen für solche halbseidenen Kleiderstoffe eher begrenzt. Am Ende der 1860er Jahren beschränkte es sich „ausschließlich auf das zollvereinsländische Geschäft und der Hauptconsum nur auf ein kleines Gebiet, vorwiegend Süddeutschland“. Im Laufe der 70er Jahre stellte sich zunehmend heraus, dass die Nachfrage für diese Art von Stoffen schrumpfte. Die größte Teil der in Sachsen fabrizierten halbseidenen Gewebe war für eine noch in traditionalen Zusammenhängen lebende ländliche Bevölkerung bestimmt und diente ihr als Surrogat für ganzseidene Stoffe. „Der Absatz in solchen Genres, die speciell für Nationaltrachten berechnet sind …, nimmt in Deutschland leider mit jedem Jahre ab und einzelne Gegenden, die früher stark hierin consumirten, verbrauchten an deren Stelle andere Stoffe.“90 87 88 89 90
Zitat: ebd. 1871/72, S. 306; vgl. ebd. 1879/80, S. 143 f. Ebd. 1869/70, S. 246. Vgl. ebd., S.247; ebd. 1879/80, S. 151 f. Zitate: ebd.1869/70, S. 243; ebd. 1877/78, S. 378.
5.2 Die Maschinenweberei in den anderen sächsischen Revieren vor 1879
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Die andere Spezialität der Chemnitzer Weberei, die Möbeldamaste, machten in den 1870er Jahren eine ähnliche Entwicklung mit wie die Glauchauer Damenkleiderstoffe. Die Herstellung der einfacheren Stapelwaren wurde zugunsten produktionstechnisch und qualitativ anspruchsvollerer Mode- und „Phantasie“-Stoffe in den Hintergrund gedrängt oder ganz aufgegeben. Zwar machte dieser Produktwechsel „das Geschäft an und für sich beträchtlich schwieriger und vor allem die Fabrikation ungleich complicirter“. Doch in den neuen Artikeln waren die Märkte weniger überfüllt; die Konkurrenz – französische Hersteller, in Deutschland allein Elberfelder Fabrikanten – war überschaubar. Kurz: Es ließen sich zumindest fürs erste bessere Preise und höhere Gewinnmargen erzielen.91 5.2 DIE MASCHINENWEBEREI IN DEN ANDEREN SÄCHSISCHEN REVIEREN VOR 1879 5.2 Die Maschinenweberei in den anderen sächsischen Revieren vor 1879 Die Genese der Fabrikweberei in der Oberlausitz Wenn bisher davon die Rede war, dass in Chemnitz die Maschinisierung der Weberei besonders frühzeitig einsetzte, so gilt dies zunächst einmal nur für das erzgebirgisch-schönburgische Revier. Sobald man aber den Blick auf die anderen Webwarenreviere des Königreichs Sachsens ausweitet, relativiert sich die industrielle Vorreiterrolle des „sächsischen Manchester“. Die rund 500 Maschinenwebstühle, die es 1863 in Chemnitz gab, entsprachen zu diesem Zeitpunkt nur etwa einem Siebtel des sächsischen Gesamtbestands. Schon zwei Jahre zuvor zählte die Landesstatistik 3315 kraftgetriebene Webstühle, die sich auf 81 Fabrikbetriebe verteilten. Bemerkenswerterweise hatte die Maschinisierung in den frühen 1860er Jahren bereits in allen Hauptsparten der sächsischen Weberei – außer bei der Leinenherstellung – eingesetzt. Es wurden sowohl Streichgarnartikel (506 Stühle, u. a. für Tuche, Cassinets, Buckskins, Flanelle) als auch Kammgarn- und Mischgewebe (1391 Stühle, vor allem Orleans und Möbeldamaste) und Baumwollwaren (1418 Stühle, meist glatte und dichte Gewebe wie Shirtings, Futterkattune und Moleskins) hergestellt.92 Ein regionaler Schwerpunkt der frühen sächsischen Maschinenweberei bildete sich in der südlichen Oberlausitz. In Zittau waren die ersten mechanischen Webstühle wohl 1853 aufgestellt worden. 1861/62 wurden in der Stadt und ihrer weiteren Umgebung bereits 1430 Maschinenstühle gezählt, fast drei mal so viel wie zur gleichen Zeit in Chemnitz. Die rasche Verbreitung der Webmaschinen im Zittauer Revier lässt sich sicherlich an der Beschaffenheit der dort vornehmlich gefertigten Stoffe festmachen. Hier wurden seit dem Übergang vom Leinen zur Baumwolle vor allem dichte und robuste Gewebe gefertigt, für die relativ problemlos mechanische Webstühle eingesetzt werden konnten. So wurden in einer größeren Fabrikweberei in Cunnersdorf bei Bernstadt auf 330 Kraftstühlen Kattune gefertigt. Die weitaus meisten Maschinenstühle des Zittauer Reviers (935 von 1430) wurden aber in den 91 92
Zitat: ebd. 1875/76, S. 295; vgl. ebd- 1877/78, S. 356 f.; ebd. 1879/80, S. 134 f. Vgl. ZSBI 9, 1863, S. 37 f.
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frühen 1860er Jahre zur Fertigung von Orleans, einem Mischgewebe mit baumwollener Zwirnkette und Schuss aus englischen Kammgarn, verwendet. Der Stoff wurde in großen Mengen zu Damenkleidern, Herrenröcken und Rockfutter („Rock“ im Sinn von Jacke) verarbeitet. Für diesen Artikel bot der Einsatz von Powerlooms nicht allein die Aussicht auf hinreichende Produktivitätsgewinne, sondern die maschinelle Gleichmäßigkeit der Verarbeitung brachte zudem eine Verbesserung der Produktqualität: Orleans-Stoffe könnten, so heißt es im Bericht der Handels- und Gewerbekammer Zittau für 1862/63, „schön nur auf Kraftstühlen hergestellt werden“. Am Ende des Jahrzehnts besaß die Hälfte der ca. 3000 auf Orleans gehenden Webstühle in der Oberlausitz einen Kraftantrieb.93 Dabei war die Orleans-Weberei in der Oberlausitz relativ neu. Erst 1847 hatte ein Zittauer Verleger dieses „englische“ Woll-Baumwollgewebe im Revier eingeführt – zunächst im dezentralen Manufakturbetrieb, bald auch in geschlossener Handweberei und schließlich ab 1853/54 mit kraftgetriebenen Webstühlen. Eine ähnlich rasche Stufenfolge vom Verlag über die Webmanufaktur zur mechanischen Weberei lässt sich auch für einzelne andere oberlausitzische Fabrikunternehmen nachverfolgen. So baute der Baumwollwarenverleger H. R. Marx 1857 an seine in Seifhennersdorf betriebene Färberei einen Websaal an und stellte dort 50 Handwebstühle auf. Der Versuch scheiterte aber nach Darstellung der Firmenfestschrift daran, dass es nicht gelang, genügend Arbeitskräfte zu erhalten. Den Webern habe es nicht gepasst, bestimmte Arbeitszeiten und eine Hausordnung einzuhalten. Fünf Jahre später eröffnete Marx an gleicher Stelle eine mechanische Weberei, offenbar ohne größere Probleme bei der Rekrutierung von Arbeitskräften. Für den Maschinenbetrieb konnten ungelernte Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen eingesetzt werden, die zum Teil aus den benachbarten schlesischen und böhmischen Regionen angeworben wurden. Im östlich der Neiße gelegene Reichenau und den umliegenden Orten gab es um 1860 sechs geschlossene Betriebe, die für insgesamt etwa 25 „Fabrikanten“ auf Lohnbasis arbeiteten. Drei erledigten nur Appreturarbeiten, die anderen drei ließen auch weben, auf insgesamt 120 Kraft- und 130 Handstühlen.94 Eine wesentliche Voraussetzung für die frühzeitige Entwicklung der Maschinenweberei war auch hier eine kostengünstige Energieversorgung. Auffällig erscheint dabei der Vorsprung der Stadt Zittau und ihrer näheren Umgebung, während die weiter westlich gelegenen Standorte – Ebersbach, Seifhennersdorf, Neugersdorf – erst allmählich zum Fabrikbetrieb übergingen. Diese Vorreiterposition Zittaus ist aber wohl weniger auf den frühen Anschluss an die Bahnstrecke Dresden-Breslau (seit 1847) zurückzuführen. Bedeutsamer erscheint, dass in der unmittelbaren Umgebung der Stadt Braunkohlen gefördert wurden. Neben einer größeren 93 94
Zitat: Jahresbericht HK Zittau 1862/63, S. 46 f.; vgl. ebd. S. 39 f.; ebd. 1868/69, S. 87; Fleißig, Klassenkonstituierung Anhang II, Abt. 8, Bl. 4.; Grüllich, Marx, S. 30 f. Vgl. HStAD 10736: MdI Nr. 05950, Bl. 47, 132 f., 142 f.: Verzeichnisse der im Bautzener Kreisdirektionsbezirk neu errichteten Fabrikanlagen 1847, 1853, 1854; Centralblatt f. d. Textil-Industrie Nr. 19, 1.10.1875, S. 461; Grüllich, Marx, S. 24, 27; Jahresbericht HK Zittau 1862/63, S. 47 ff.; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 27. Im Jahresbericht der HK Zittau für 1866/67, S. 74, ist ein „geschlossenes Etablissement auf Handstühlen“ in Berthelsdorf bei Herrnhut erwähnt.
5.2 Die Maschinenweberei in den anderen sächsischen Revieren vor 1879
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Anzahl von Kleinbetrieben hatte sich hier eine Bergwerksgesellschaft aus dem benachbarten böhmischen Reichenberg engagiert, die auf dem Gebiet des Zittauer Vorortes Hartau eine größere Abbauanlage unterhielt. Die frühen Zittauer Orleans-Fabriken nutzten diese heimischen Bodenschätze – und nicht die zunächst noch relativ teure schlesische Steinkohle. Ähnliches gilt auch für Reichenau, wo in unmittelbarer Umgebung des Ortes Braunkohlen gefördert wurden. Hier gab es schon um 1860 zwei Betriebe, in denen auf 120 Kraftstühlen Orleans produziert wurde, wohl die eben erwähnten „Lohnfabriken“. 1863/64 errichtete die Fa. C. A. Preibisch eine neue Fabrik mit 200 weiteren Maschinenwebstühlen. Am Beginn der 1870er Jahre war die Zahl der dampfgetriebenen Webstühle in Reichenau auf über 600 angewachsen.95 In den weiter von den Braunkohlegruben entfernten Teilen des Reviers kam die Maschinisierung der Weberei zwar meist deutlich langsamer voran. Doch scheint der Transport der Zittauer Kohlen über 20 bis 25 km in den industriedörflichen Ballungsraum zwischen Ebersbach und Großschönau nicht derart verteuert zu haben, dass ein rentabler Einsatz von Dampfmaschinen unmöglich gewesen wäre. Die in den 1850er Jahren eröffnete Cunnersdorfer Kattunweberei lag unmittelbar an der Bahnstrecke Löbau – Zittau. Bei den anderen westlichen Standorten der Oberlausitzer Baumwoll- und Orleansweberei dürfte diese frühe Eisenbahnverbindung die Strecke, die die Zittauer Braunkohle per Pferdefuhrwerk unterwegs war, in etwa halbiert haben. Insgesamt hatte sich der Preis für die Zittauer Braunkohle, wenn sie in Seifhennersdorf oder Neugersdorf ankam, durch den Transport auf Schiene und Landstraße annähernd verdoppelt.96 Trotzdem begann die Ausbreitung der dampfbetriebenen Maschinenweberei hier vielerorts bereits zehn bis 15 Jahre, bevor die Eisenbahn diese „Industriedörfer“ erreichte. Als in Großschönau zum Jahresbeginn 1868 die Bahnstrecke nach Löbau eingeweiht wurde, standen hier schon mindestens drei Fabrikwebereien. In Neugersdorf gab es Ende 1873, ein Jahr vor der Eröffnung des örtlichen Bahnhofs, sechs Fabrikbetriebe, die über insgesamt 930 Kraftwebstühle mit Dampfkraft verfügten. Hier hatte der Verlagsunternehmer C. G. Hoffmann bereits 1855 eine Dampfmaschine in einer Garnzwirnerei aufgestellt. 1862 baute er einen Websaal mit Maschinenstühlen an. Im gleichen Jahr eröffnete H. R. Marx im benachbarten Seifhennersdorf seine Maschinenweberei. Die Webfabriken im dörflichen Industriegürtel entlang der böhmischen Grenze stellten vornehmlich Rock- und Hosenstoffe her. Solche glatten oder einfach gemusterten Baumwollgewebe hatten schon im Vormärz zu den Stapelartikeln der Handweberei des Reviers gehört. Die frühzeitige Konkurrenz maschinengewebter Stoffe konnte wohl noch eine Zeit lang durch die außergewöhnlich niedrigen Löhne der dörflichen Hausweber kompensiert wer95 96
Vgl. Jahresbericht HK Zittau 1862/63, S. 28, 47; Gröllich, Baumwollweberei, S. 39; Fleißig, Klassenkonstituierung Anhang II, Abt. 8, Bl. 4; ebd. Abt. 11, Bl. 1; Festschrift Preibisch, S. 10. Vgl. Gröllich, Baumwollweberei, S. 39; Grüllich, Marx, S. 26, 53. Möglicherweise bezogen die grenznahen Industriedörfer auch Braunkohle aus Böhmen. Rumburg und Warnsdorf, direkt jenseits der Grenze gelegen, erhielten schon in den 1860er Jahren größere Mengen an Kohlen per Bahn aus dem Revier um Teplitz. (Vgl. Pechar, Erläuterungen, S. 3 ff.).
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5. Industrialisierung und Globalisierung
den. Doch war hier der Druck zum Übergang zur Maschinenweberei besonders ausgeprägt. Ein Ausweichen auf buntgewebte Stoffe höherer Qualität wie im südwestsächsischen Raum war wegen des Qualifikationsprofils der unzünftigen Weber wohl nur bedingt möglich.97 Seit den 1860er Jahren drängten die Webereifabrikanten aus Neugersdorf und den benachbarten Orten die Staatsregierung zunehmend nachdrücklicher, für eine Anbindung an das sächsische Eisenbahnnetz zu sorgen. Von der Streckenführung der zunächst in Angriff genommenen Südlausitzer Bahn, die die grenznahen Industriedörfer in Löbau mit der Strecke Dresden-Görlitz verband, versprachen sich die Neugersdorfer Fabrikanten, was die Kohlenzufuhr betraf, jedoch wenig Vorteil. Sie drängten vielmehr auf eine direkte Verbindung nach Zittau: „Wir erinnern nur an den, durch diese Abkürzung erst ermöglichten Bezug der billigen Braunkohlen aus dem Zittauer Becken.“98 Schließlich dauerte es noch bis 1879, bis die Neugersdorfer, Ebersbacher und Seifhennersdorfer Fabrikanten zu einer Eisenbahnverbindung kamen, die ihnen zu einer durchschlagenden Verbilligung ihres Kohlenbedarfs verhalf. In diesem Jahr wurde die kurze Schienenstrecke zwischen Oberoderwitz und Eibau in Betrieb genommen, die die Zittau-Löbauer mit der Südlausitzischen Bahn verband. Erst in den frühen 1890er Jahren erhielten die letzten Industriedörfer des Reviers einen Bahnanschluss.99 Anders als im Chemnitzer Raum vollzog sich die Maschinisierung der Oberlausitzer Weberei in den 1850er und 60er Jahren unter Einsatz britischer Webstuhltechnologie. Der Vorsprung der Maschinenbauer aus Lancashire und Yorkshire auf dem Feld der Baumwoll- und Orleans-Stoffe behinderte hier die Entstehung einer konkurrenzfähigen Webmaschinenindustrie. Ein Einstieg in den Webstuhlbau, wie er Louis Schönherr in Chemnitz für Tuche, Möbeldamaste, Buckskins und ähnliche Wollgewebe gelungen war, erschien in der Oberlausitz wenig erfolgversprechend. Für die regionale Maschinenweberei brachte die Abhängigkeit von importierter Technologie spürbare Wettbewerbsnachteile. Die Transportkosten verteuerten die in England erworbenen Webstühle beträchtlich. Die Handels- und Gewerbekammer Zittau errechnete in den frühen 1860er Jahren, ein gewöhnlicher Powerloom, wie man ihn für die Fertigung von Orleans verwendete, sei in Bradford für etwa 70 Taler zu haben. Den Zittauer Fabrikanten komme das gleiche Modell wegen der Spesen für Verpackung, Fracht, Kommission, Zoll usw. aber ungleich teurer zu stehen. Er zahle für einen solchen Webstuhl 118 Taler. Das sei aber immer noch ungleich billiger, als wenn er ein vergleichbares Gerät von einer „vereinsländi97
98 99
Vgl. HStAD 11726: Fa. August Hoffmann AG, Neugersdorf, Nr. 24, o. Bl.: Verein Industrieller zu Alt- & Neugersdorf an Finanzministerium, 13.12.1873; Gröllich, Baumwollweberei S. 42– 47; Grüllich, Marx, S. 92.; Fleißig, Klassenkonstituierung Anhang II, Abt. 8, Bl. 4; Oeser, Album Bd. 1, S. 45 f. HStAD 11726: Fa. August Hoffmann AG, Neugersdorf, Nr. 24, o. Bl.: Abschrift einer Petition an das sächsische Finanzministerium [Aug. 1873]. Vgl. ebd.: Verein Industrieller zu Alt- & Neugersdorf an Finanzministerium, 13.12.1873. Vgl. ebd.: Rundschreiben 29.10.1873; Fleißig, Klassenkonstituierung Anhang II, Abt. 11, Bl. 1; Schurig, Entwicklung, S. 97; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 27; Gröllich, Baumwollweberei, S. 51.
5.2 Die Maschinenweberei in den anderen sächsischen Revieren vor 1879
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schen“ Maschinenbauwerkstätte beziehe. Dann müsste er mit rund 160 Talern rechnen.100 Bei den Baumwoll-Webstühlen änderte sich an dieser Konstellation in den folgenden Jahrzehnten nichts Grundlegendes, wenn auch wohl die Differenz zwischen den Verkaufspreisen in England und in Sachsen wegen fallender Transportkosten und verbesserter Vertriebsorganisation allmählich kleiner wurde. Dem britischen Maschinenbau gelang es in dieser Sparte, seinen Vorsprung gegenüber der kontinentaleuropäischen Konkurrenz zu wahren. Um 1880 siedelte sich zwar eine Webstuhlfabrik in Neugersdorf an, die ihre Erzeugnisse an die in der Region ansässigen Fabriken für baumwollene Rock- und Hosenstoffe, Orleans u. ä. lieferte. Für die Oberlausitzer Textilfabrikanten wurden dadurch aber die Webstühle keineswegs billiger. Denn nur die inzwischen kräftig erhöhten deutschen Maschineneinfuhrzölle gewährten der „Oberlausitzer Webstuhlfabrik“ einen halbwegs effektiven Schutz vor der britischen Konkurrenz.101 Sowohl die unverhältnismäßig hohen Kosten bei der Anschaffung der mechanischen Webstühle als auch die Angewiesenheit auf importiertes britisches Kammgarn verwiesen die oberlausitzische Halbwoll-Weberei zunächst auf den zollgeschützten Binnenmarkt. Am Anfang der 1860er Jahre beschränkte sich der Absatz von Orleans aus dem Zittauer Revier auf das Zollvereinsgebiet, „da die Concurrenz mit England und der Schweiz im Auslande aus sehr vielen Gründen unmöglich ist und von jedem Exportgeschäft abgesehen wird“.102 Am Ende des Jahrzehnts hatten die sächsischen Orleans-Webereien aber offenbar ihre Wettbewerbsnachteile kompensieren können. Nun vermeldeten die Handelskammerberichte Exporte sowohl in den europäischen Nachbarländern (Schweiz, Holland, Österreich) als auch in die USA sowie nach China und Japan, wo man versuchsweise Verbindungen angeknüpft habe. Insgesamt war aber die Ausfuhr von Lausitzer Orleans auch noch am Ende der 1870er Jahre relativ unbedeutend.103 Während die Orleans-Stoffe überwiegend in wohlhabenderen Konsumentenschichten Absatz fanden, war die andere Domäne der Baumwollweberei des Zittauer Reviers, die Rock- und Hosenstoffe, eher für den Verbrauch der „unteren Stände“ bestimmt. Dies waren meist Stapelwaren, die vor allem zur Herstellung von Arbeitskleidung Verwendung fanden. Die Nachteile des ungünstigen verkehrsräumlichen Standorts kompensierten die Oberlausitzer Fabrikwebereien mit niedrigen Lohnkosten und – auf dem Binnenmarkt – durch den relativ weitgehenden Schutz den die deutschen Gewichtszölle bei solchen schweren und billigen Stoffen gegenüber der ausländischen Konkurrenz gewährten. Die benötigten Garne wurden sowohl aus Chemnitz bezogen wie auch aus England importiert, eine Anbieterkonkurrenz, die zum Nutzen der Webereien auf die Preise drückte. In Deutschland standen die Lausitzer Rock- und Hosenzeuge mit Fabrikaten vom Niederrhein (Mönchengladbach) und dem bayerischen Vogtland in Wettbewerb. Auf den Aus100 101 102 103
Jahresbericht HK Zittau 1862/63, S. 27. Vgl. Ebd. 1884, S. 33. Ebd. 1862/63, S. 48. Vgl. ebd. 1864/65, S. 47 f.; ebd. 1868/69, S. 87; ebd. 1879, S. 190 f.
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landsmärkten hatten sie es eher mit belgischer als mit britischer oder Schweizer Konkurrenz zu tun. Exportiert wurden diese Baumwollstoffe in den 1860er Jahren in die meisten europäischen Länder, aber auch nach Übersee – wo nicht wie in Spanien und Frankreich hohe Zölle ihnen den Eingang verwehrten. Dort änderten offenbar auch die Handelsverträge nicht viel an der faktisch prohibitiven Einfuhrpraxis. Wesentlich günstigere Absatzchancen erhofften sich die Oberlausitzer Rockund Hosenstoff-Fabrikanten dagegen vom Abschluss eines Handelsvertrags mit Russland, „was diese Art Waaren in großen Massen verbraucht und wo man in deren Herstellung noch wenig bewandert ist.“104 Letzteres sollte ein frommer Wunsch bleiben, doch insgesamt scheint die Oberlausitzer Baumwollweberei selbst in den Krisen nach 1873 ihre Erzeugnisse recht erfolgreich exportiert haben. Die Maschinisierung, die sich mit der Bahnerschließung der industriedörflichen Zone im Westen des Reviers um Ebersbach, Neugersdorf und Seifhennersdorf weiter beschleunigte, führte im Laufe der 1870er Jahre gerade bei den einfachen baumwollenen Rock- und Hosenstoffen zu einer starken Ausweitung der Produktionskapazitäten. 1879 resümierte der Zittauer Handelskammerbericht, die Fertigung dieses Artikels habe im Kammerbezirk einen Umfang angenommen, der weit über die Befriedigung der Bedürfnisse des Binnenmarktes hinausgehe und den Vertrieb eines großen Teils der Produktion ins Ausland zur Notwendigkeit mache. „Dieser Weg des Vertriebes der eigenen Erzeugnisse nach überseeischen Plätzen, nach den Donauländern etc., wo man überall mit einer sehr ebenbürtigen, zumeist sogar günstiger situirten Concurrenz der europäischen Industrie-Länder, neuerdings auch Amerika’s, zu rivalisiren hat, ist in den letzten Jahren von leistungsfähigen Firmen der hier berührten Branche mit einigem Erfolg betreten worden.“105
Während die einfacher gemusterten Rock- und Hosenstoffe und das Orleans spätestens in den 1870er Jahren auf mechanischen Webstühlen gefertigt wurden, bleiben andere Produktbereiche der Oberlausitzer Baumwoll- und Halbbaumwollwaren-Herstellung noch länger ein Refugium der Handweberei. Dazu gehörten bessere Qualitäten der Rock- und Hosenstoffe, Bett-, Sofa- und Tischdecken sowie bunt gemusterte Frauenkleiderstoffe zu Unterröcken, Schürzen und Blusen. Manche dieser Gewebe waren mit Flachsgarn gemischt oder gingen auf schon länger in der Region gefertigte Leinwand-Artikel zurück. Zum Teil waren sie einem saisonalen Modewechsel unterworfen, was in gewisser Weise den Strukturen des Oberlausitzer Arbeitsmarktes entgegenkam: In den flauen Sommermonaten nahmen viele der männlichen Weber Arbeit im Hoch- und Tiefbau an. Ein Teil der mechanischen Webereien stellte in ihren Fabriksälen auch Handwebstühle, oft mit Jacquardvorrichtungen ausgerüstet, auf. Es gab auch einige reine Webmanufakturen. Ein größerer Teil der handgewebten Stoffe wurde aber auch noch am Ausgang der 1870er Jahre wie eh und je in den Werkstätten der Heimarbeiter gefertigt.106 104 Ebd. 1866/67, S. 75. Vgl. ebd. 1862/63, S. 43; Gröllich, Baumwollweberei, S. 38 f., 56. 105 Jahresbericht HK Zittau 1879, S. 189. 106 Vgl. Gröllich, Baumwollweberei, S. 37, 64 f.
5.2 Die Maschinenweberei in den anderen sächsischen Revieren vor 1879
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Die vogtländische Weißwarenweberei in den 1860er und 70er Jahren 1861, fast 50 Jahre nach dem gescheiterten Versuch Ernst Gössels, Rohkattune auf mechanischen Webstühlen zu fertigen, nahm im Vogtland – in Netzschkau – wieder eine Baumwoll-Maschinenweberei ihren Betrieb auf. Dabei hatten die Weberstädte des Reviers mit der Fertigstellung der Strecke zwischen Reichenbach und Plauen 1851 schon einige Jahre früher eine Bahnverbindung zum Kohlenumschlagplatz Zwickau erhalten als etwa Chemnitz. Wenn es danach noch ein Jahrzehnt bis zur Eröffnung der ersten vogtländischen Webfabrik dauerte, so lag dies wohl vor allem daran, dass die luftigeren Gewebe des vogtländischen Baumwollwarenreviers sich auf den zunächst verfügbaren Maschinenwebstühlen nicht so einfach fertigen ließen wie die robusteren und dichteren Stoffe. 1866 gab es in Netzschkau, Plauen sowie in Tannenbergsthal schon acht Webfabriken, die meist einfache Musselin-Futterstoffe herstellten. Seit Ende der 1860er Jahre wurde auch die Weberei feinerer und dünnerer Weißwaren zunehmend mechanisiert. Viele Handweber wechselten nun zur Fertigung von Gardinen, Woll- und Wollmischwaren sowie zur (Hand-)Maschinenstickerei.107 Die Weißwarenfabrikation des südlichen Vogtlandes entwickelte sich in den 1860er und 70er Jahren unter insgesamt eher ungünstigen Bedingungen. Zunächst einmal war sie ungleich schwerer als die benachbarten Woll- und Mischgewebe-Reviere von der Baumwollkrise während des amerikanischen Bürgerkriegs betroffen. Mit der Verteuerung und Verknappung des Baumwollgarns verminderte sich auch die Menge der im Plauener Revier gefertigten baumwollenen Gewebe. Zwar versuchten einige der Weißwarenverleger und -fabrikanten, diesen Ausfall mit dem Übergang zu halbwollenen Stoffen zu kompensieren. Doch die im Vogtland vornehmlich hergestellten dünnen und feinen Gewebe ließen sich nur schwer adäquat durch einen Wechsel von der Baumwolle zur Wolle substituieren. Mancherorts wechselten die Heimweber ihre Auftraggeber und fanden im Verlagsnetzwerk der Reichenbacher Wollwarenmanufaktur lohnendere Beschäftigung. Die Eigentümlichkeit der Weißwarenmanufaktur trug allerdings auch zum relativ glimpflichen Verlauf der Baumwollkrise im Plauener Revier bei. Bei den dünnen und feinen Stoffen fiel das Rohmaterial relativ wenig ins Gewicht, so dass sich die Garnknappheit meist erst im Laufe des Jahres 1863 fühlbar machte. Am stärksten war der Produktionsrückgang bei den gröberen und dichteren Geweben, vor allem den sog. Futtermusselinen. Solche Stoffe benötigten im Verhältnis zu ihrem Verkaufswert relativ viel Garn. Sie konnten auch eher als die feineren Baumwoll-Weißwaren durch Artikel, die aus anderem Material gefertigt waren, ersetzt werden. Zudem machte die Damenmode gerade eine Phase durch, in der Kleider und Mäntel kaum noch „wattiert“ und gefüttert wurden.108 Die vogtländische Weißwarenweberei war auf der anderen Seite offenbar weniger als die Glauchau-Meeraner Kleiderstoff-Fabrikation von der Schließung der nord107 Vgl. Bein, Industrie, S. 341–344; Schuster, Plauen, S. 70; Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 553; Jahresbericht HK Plauen 1862/63, S. 180 f.; ebd. 1866, S. 130 f.: Bein, Industrie, S. 344; Klett, Tüllgardinen-Industrie, S. 25 ff. 108 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1862/63, S. 176, 180 ff.; ebd. 1864, S. 208, 211.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
amerikanischen Absatzmärkte betroffen. Im Jahrfünft nach dem Ende des US-Bürgerkrieges registrierten die vogtländischen Bleichereien und Färbereien ansehnliche Steigerungsraten. Zwischen 1866 und 1871 vermehrte sich die Zahl der hier verarbeiteten Baumwollgewebe um mehr als 80 Prozent. Besonders eindrucksvoll fiel das Produktionswachstum mit einer Steigerung um mehr als Anderthalbfache (172,5 Prozent) bei den Futterstoffen aus. Nicht allein das Ende der kriegsbedingten Rohstoffknappheit hatte zu diesem Aufschwung beigetragen, sondern auch ein neuerlicher Wechsel der Damenmode. Die Reifröcke, die „Krinolinen“, verschwanden. Gepolsterte Kleider waren wieder gefragt, ebenso extravagante Hüte, Gürtel, Schleppen, Rüschen u. ä. Der Bedarf an Futtermusselinen und neuen Artikeln wie Rollbooks oder Steifgaze für Gürteleinlagen und Hutfaçons verhalf der vogtländischen Weißwarenweberei in den späten 1860er Jahren zu gefüllten Auftragsbüchern. Es gelang, gegenüber der Konkurrenz Boden gut zu machen und „die größeren Konsumenten, die früher Futterstoffe aus Frankreich bezogen haben, zu der Überzeugung zu bringen, daß das Fabricat des Bezirks nicht zu wünschen übrig läßt“.109 Der Boom in der Futterstoff-Fabrikation beschleunigte wiederum die Maschinisierung der vogtländischen Baumwollweberei. Diese eher gröberen und einfacheren Gewebe eigneten sich besonders gut für die Herstellung auf mechanischen Webstühlen. Schon 1867 wurden Futtermusseline nahezu ausschließlich maschinell gewebt. Der Ausstoß der mechanischen Weißwarenwebereien des Plauener Reviers weist im Jahrfünft bis zur Reichsgründung enorme Zuwachsraten auf. 1866 belief sich die Gesamtproduktion auf 71.516 Stück, zwei Jahre später hatte sich diese Zahl fast verdoppelt (135.576 Stück). 1871 stellten im Vogtland ingesamt neun Fabriken 345.733 solcher Baumwollgewebe her. Nicht nur die Futterstoffe, sondern auch ein schnell wachsender Teil der anderen glatten Weißwaren – Mulls, Nansocs, Jaconets, Cambrics usw. – wurde nun maschinell gewebt.110 Die mit der Reichsgründung einsetzende Hochkonjunktur forcierte den Übergang zur Maschinenweberei noch einmal. Ende 1872 gab es im südlichen Vogtland bereits 15 Webfabriken, die baumwollene Weißwaren produzierten. Die Fabrikanten und Verleger, die feinere Gewebe fertigen ließen, beklagten sich nun zunehmend über den Mangel an Arbeitskräften. Bereits im Plauener Handelskammerbericht für 1869 war zu lesen, es werde bei anhaltener Konjunktur „sicher an Waare fehlen, wenn nicht die mechanische Weberei derartige Fortschritte macht, daß alle Nummern bis 130 oder 140 Kette dem Handstuhle entnommen werden.“111 Zwei Jahre später hieß es an gleicher Stelle, bei der Fertigung feiner Mulls herrsche ein Mangel an leistungsfähigen Arbeitern und besonders an Lehrlingen. Man habe daher große Schwierigkeite, die in den Lagern entstandenen Lücken wieder aufzufüllen. Die rapide Maschinisierung im Plauener Weißwarenrevier hatte offenbar eine Ausbildung zum Handweber unattraktiv werden lassen.112 109 Jahresbericht HK Plauen 1869, S. 120; vgl. ebd. 1870, S. 107; ebd. 1871, S. 275. 110 Vgl. die Zahlen in: ebd. 1867, S. 145; ebd. 1871, S. 261. 111 Ebd. 1869, S. 121. Noch 1871/72 konnten nur Gewebe bis zum Feinheitsgrad 110 maschinell hergestellt werden. (vgl. ebd. 1871, S. 276). 112 Vgl. ebd. 1871,S. 253 ff., 276.
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Noch wenige Jahre zuvor waren zahlreiche Handweber, nachdem ihnen die Baumwollkrise und die anlaufende Maschinisierung die Fertigung von Futtermusselinen aus der Hand genommen hatte, in einen zukunftsträchtiger erscheinenden Zweig der Weißwarenmanufaktur übergewechselt, zur Gardinenweberei. Dieses Manufakturgewerbe hatte sich seit etwa 1840 vor allem in Falkenstein, Ellefeld und Umgebung ausgebreitet. In den 1850er und 60er Jahren besaßen die vogtländischen Gardinen auf dem Zollvereinsmarkt beinahe eine Monopolstellung. Zudem wurden sie in großen Mengen in die mitteleuropäischen Nachbarländer, nach Skandinavien, England und Russland exportiert. In den frühen 1870er Jahren erreichte die vogtländische Gardinenweberei ihren Zenit. Im darauf folgenden Jahrzehnt erlebte sie aber einen raschen Niedergang. Diese Entwicklung stand in einem offenkundigen Zusammenhang mit einer Produktinnovation der britischen Gardinenindustrie, der sog. Tüllgardine. Solche „Englischen Gardinen“ wurden nicht gewebt, sondern gewirkt und zwar mit Hilfe von extrabreiten Bobinetmaschinen. Sie waren nicht nur preiswerter sondern oft auch in Qualität und Design ansehnlicher als die vogtländischen Webgardinen. Seit 1871 importierten Leipziger Großhandelsfirmen englische Gardinen und warfen sie auf den deutschen Markt. Bald nahmen auch die Plauener Gardinengroßhändler diesen Artikel in ihr Sortiment auf. Schließlich entwickelte sich im Vogtland ein regelrechter Veredelungsverkehr: gewirkte Gardinen wurden aus England roh eingeführt und in Plauen gebleicht und appretiert.113 Der Niedergang der vogtländischen Gardinenweberei in den 1870er Jahren ist in der einschlägigen Literatur nicht zuletzt einer mangelnden Innovationsbereitschaft der dortigen Wirtschaftsakteure zugeschrieben worden. Die Gardinenfabrikation sei von kleinen selbständigen Unternehmern betrieben worden, die „große Verständnislosigkeit für kaufmännische Notwendigkeiten bewiesen, und in Ermangelung hinreichenden Kapitals mit der Zeit nicht Schritt halten konnten“. Man habe immer die gleichen Muster verwendet und sich den Erfordernissen des Modewechsels verschlossen.114 Die Lektüre der zeitgenössischen Handelskammerberichte bestätigt allerdings dieses Urteil nicht unbedingt. Zunächst einmal hatte die Maschinisierung der vogtländischen Gardinenweberei schon vor der Herausforderung durch die „englischen Gardinen“ eingesetzt. 1868 wurden hier die ersten mechanischen Stühle in Gang gesetzt. Zwar ging die Maschinisierung hier langsamer voran als in der Futterstoffweberei. Doch war dies wohl dem Umstand geschuldet, dass die Gardinen überwiegend gemusterte Artikel waren. Nichts desto weniger wurden bereits 1874 erstmals mechanische Jacquardstühle in der vogtländischen Gardinenweberei eingesetzt. Im folgenden Jahr führte ein Plauener Fabrikant eine selbst erfundene Bogmaschine zum Ausschneiden und Einfassen der Ränder ein. 1879 wurde eine neue, in Frankreich entwickelte dampfbetriebene Bogmaschine versuchsweise in Plauen aufgestellt. Bis zum Jahresende wurden im Vogtland 33 solcher Maschinen in Betrieb genommen. 1877 hatte der Plauener Handelkammerbericht resümiert, die Leistungsfähigkeit der vogtländischen Gardinenweberei habe 113 Vgl. Klett, Tüllgardinen-Industrie, S. 22–34, 42–50; Jahresbericht HK Plauen 1868, S. 165; ebd. 1871, 256 f.; ebd. 1875, S. 118; ebd. 1877, S. 185 ff.; Luft, Textilregionen, S. 63. 114 Klett, Tüllgardinen-Industrie, S. 40 f.
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sich in den letzten Jahren beträchtlich gesteigert und auch „in Bezug auf die Vervollkommnung der Muster hat es nicht an Anstrengungen gefehlt.“115 Auch der Übergang zur Herstellung von Tüllgardinen wurde unter den vogtländischen Webgardinenfabrikanten diskutiert. So vermeldete der Bericht der Plauener Handelskammer für 1876, es werde die Einführung der „Englischen Spitzen- und Guipurestühle in den Kammerbezirk neuerdings wieder mehrfach ventilirt“.116 Doch Anschaffungskosten von ca. 12.000 Mark pro Stuhl schreckten auch die etwas kapitalkräftigeren Gardinenunternehmer ab. Angesichts der allgemeinen Wirtschaftsrezession im Gefolge des „Gründerkrachs“ bestand Mitte der 1870er Jahre wenig Anreiz für solche Investionen. Überfüllte Märkte und niedrige Verkaufspreise boten kaum Aussicht auf eine baldige Amortisation des in derart teure Maschinen angelegtes Kapitals. Die extrem ungünstigen konjunkturellen Rahmenbedingungen der Jahre nach 1873 machen es schwierig, die Ursachen der Krise der vogtländischen Gardinenweberei trennscharf zu bestimmen. Beides, die britische Konkurrenz wie die langwierige Talfahrt der Konjunktur, dürften hier in einer Weise zusammengewirkt haben, die in der Geschichte der Baumwollwarenmanufaktur des Vogtlands nur allzu geläufig erscheint. Während der bis zum Ende der 1870er Jahre anhaltenden Überproduktionskrise gelangten britische Tüllgardinen in großen Mengen auf die deutschen Märkte und wurden dort zu Schleuderpreisen abgestoßen. Erschwerend kam nun hinzu, dass die im Laufe der „Freihandelsära“ gesenkten deutschen Einfuhrzölle bei den leichten und filigranen Gardinenstoffen kaum mehr ins Gewicht fielen.117 Im Übrigen ging es den meisten anderen Zweigen der vogtländischen Weißwarenwirtschaft kaum besser als der Gardinenweberei. Bei den Futterstoffen hatte der rasche Ausbau der Maschinenweberei in den Jahren um 1870 nach dem Einsetzen der Krise zu größeren Überkapazitäten geführt. Trotz Absatzmangel produzierten die Fabriken weiter, um die gerade angeschafften kostspieligen Maschinenwebstühle in Gang zu halten.118 Nun wurde es für die vogtländischen Weißwaren zusehends schwieriger, sich auf ihren bisherigen Märkten zu behaupten. Die Ausfuhr von Rollbooks nach Österreich versiegte Mitte der 70er Jahre ganz, nachdem einige Fabriken in Wien die Fertigung dieser Artikel aufgenommen hatte. Im Vogtland klagte man darüber, die Wiener Konkurrenz habe zu diesem Zweck Arbeitskräfte aus dem Kammerbezirk abgeworben. Zudem sei sie durch bedeutende Eingangszölle geschützt worden. Ähnlich lagen die Dinge in Russland, wo nun die Zollmauern wieder so weit hochgezogen worden waren, dass ein Export sächsischer Weißbaumwollstoffe dorthin kaum noch möglich war. Hier deckten nun Fabriken in Lodz und Moskau den Bedarf an solchen Textilien. Versuche, den Export nach Italien zu intensivieren, wurden bald aufgegeben, „da der größte Theil der Italienischen Kundschaft sich chicanös zeigte“. Am Ende der 1870er Jahre sahen sich die 115 Jahresbericht HK Plauen 1877, S. 187 f. Vgl. ebd. 1869, S. 121; ebd. 1872–74, S. 255 f.; ebd. 1875, S. 118; Bein, Textilindustrie, S. 346 f.; Klett, Tüllgardinen-Industrie, S. 27. 116 Jahresbericht HK Plauen 1876, S. 158. 117 Vgl. ebd., S. 158 f.; ebd. 1877, S. 185 f.; Klett, Tüllgardinen-Industrie, S. 46 f. 118 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1877, S. 181 f.; ebd. 1878, S. 99.
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vogtländischen Weißwarenhersteller ganz überwiegend auf den Absatz in Deutschland beschränkt.119 Doch auch auf dem Binnenmarkt gerieten die Baumwollstoffe aus dem Plauener Revier zunehmend in Bedrängnis. Allgemeine Zollsenkungen und die in den Handelsverträgen gewährte „Meistbegünstigung“ hatten seit Mitte der 60er Jahre die Eingangsabgaben für Baumwollstoffe so weit reduziert, dass mit dem Einsetzen der „Gründerkrise“ große Quantitäten überschüssiger Textilwaren vor allem aus Großbritannien und der Schweiz auf den relativ offenen deutschen Markt geworfen wurden. Hinzu kam, dass sich die vogtländischen Weißwarenwebereien auch im Inland mit vermehrter Konkurrenz auseinandersetzen mussten. Die leistungsstarke Baumwollindustrie des Elsass sah sich nach der Einverleibung der Region in das neue Deutsche Reich zu einer Reorientierung ihrer Absatzstrategie veranlasst. Elsässische Textilien wurden auf ihren angestammten Märkten nach einer zweijährigen Übergangsphase seit 1873 durch die immer noch substantiellen französischen Zölle verteuert. Bereits im Jahresbericht für 1872/74 wies die Plauener Handelsund Gewerbekammer auf die Anstrengungen der Elsässer hin, ihren Fabrikaten den Eingang nach Deutschland zu eröffnen. Dies habe den Fabrikanten des Bezirks das Geschäft in empfindlicher Weise erschwert.120 Sowohl gegenüber der britischen als auch der Schweizer Weißwarenfabrikation trat nun wieder das alte Handicap der vogtländischen Baumwollweberei hervor: Ein großer Teil der Garne musste aus den Regionen bezogen werden, mit deren Webwaren die Hersteller des Plauener Reviers im Wettbewerb standen. Nicht anders entwickelten sich nun auch die Beziehungen zur elsässischen Konkurrenz. Im neuen Reichsland hatte sich in den Jahrzehnten vor der Reichsgründung unter dem Schirm der französischen Hochzollpolitik eine leistungsfähige Baumwollspinnerei entwickelt, die die Weißwarenwebereien der Region mit feinen Garnen versorgte und einen Teil ihrer Produktion auch exportierte. Schon Mitte der 1870er Jahre bezogen die Plauener Fabrikanten feiner Mullgewebe „so ziemlich den ganzen Bedarf in feinen Kettengarnen von Nr. 130–190 und Schußgarnen von Nr. 140–200“ von einer einzelnen Elsässer Großspinnerei.121 Baumwollgarn aus dem Elsass verdrängte nun zunehmend das englische und Schweizer Importgespinst. Unter den Bedingungen der Überproduktionskrise und des damit einhergehenden wachsenden Drucks auf die Verkaufspreise wuchs sich die kostspieligere Garnversorgung für die vogtländische Weißwarenweberei rasch zu einem veritablen Wettbewerbsnachteil aus. Durch die Ausbreitung der Maschinenweberei fielen die niedrigen Arbeitskosten im Vogtland nun zunehmend weniger ins Gewicht. Auch ein Ausweichen auf stärker gemusterte Ware, wie es in Glauchau noch in den 1870er Jahren recht erfolgreich praktiziert worden war, bot im Plauener Revier kaum eine gangbare Alternative. Es handelte sich nämlich bei den unter dem Sammelbegriff „Weißwaren“ subsumierten Stoffen – außer bei Gardinen – gewöhnlich um ungemusterte – „glatte“ – Gewebe. 119 Zitat: ebd. 1878, S. 99; vgl. ebd. 1875, S. 116; ebd. 1877, S. 180 f.; ebd. 1879, S. 214–217. 120 Vgl. ebd. 1872/74, S. 253; ebd. 1875, S. 116; ebd. 1876, S. 160 f. 121 Ebd. 1876, S. 160.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Im Laufe der 1870er Jahre wurden die vogtländischen Weißwaren selbst im eigenen Revieren von der auswärtigen Konkurrenz zurückgedrängt. In Plauen waren in den Jahrzehnten zuvor eine Reihe großer Appreturanstalten entstanden, die – auf eigene Rechnung oder gegen Lohn – auch Rohgewebe aus anderen Revieren veredelten. 1876 hatten diese Betriebe damit begonnen, Tarlatans aus Frankreich einzuführen und herzurichten, einen Stoff, der vorzugsweise für Ballkleider Verwendung fand. Die vogtländische Weißwarenweberei nahm nun ebenfalls die Fertigung roher Tarlatans auf und es gelang dies in einer Qualität, die den Ansprüchen der heimischen Veredelungswirtschaft genügte. Doch die Hoffnungen der Webereien, einen zukunftsweisenden neuen Artikel gefunden zu haben, zerschlugen sich bereits im folgenden Jahr. Schon Ende 1877 war der größte Teil der in Plauen veredelten Tarlatans im Elsass und der Schweiz gewebt worden.122 Hinter dieser Entwicklung stand offenbar eine grundlegende Umorientierung zahlreicher vogtländischer Weißwarenunternehmer: Sie gaben im Zuge der Maschinisierung der Weberei das Verlagsgeschäft auf, investierten aber nicht etwa in den Bau von Webfabriken. Sie importierten vielmehr rohe Ware aus der Schweiz, England oder dem Elsass, ließen sie in Plauen appretieren und brachten sie in den Handel.123 Ähnlich wie bei den Tarlatans erging es den vogtländischen Weißwarenfabrikanten bei der Fertigung eines anderen Halbstoffes, der in großen Mengen in der Region verbraucht wurde: Grundgeweben für die Maschinenstickerei. Schon Mitte der 1870er Jahre hielt der Plauener Handelskammerbericht fest: „An die Anfertigung dicht geschlagener Cambrics, wie solche für die Maschinenstickerei verwandt werden, denkt kein Fabrikant mehr, da das Ausland billiger und schöner fabricirt und fast sämmtliche größere Elsasser Industrielle Consignationslager im Bezirke haben.“
Allerdings wurde auch den Elsässer Webereien dieses Geschäft in den folgenden Jahren durch britische Hersteller abspenstig gemacht.124 Am Ende der 1870er Jahre war die vogtländische Weißbaumwollweberei auf dem Weg in eine eher bescheidene Produktnische. Auf mechanischen Webstühlen wurden einfache Futterstoffe und Verbandsmull fabriziert, Gewebe, für deren Fertigung Baumwollgarn vom Feinheitsgrad Nr. 60 genügte. Und solches Gespinst konnte dann auch aus dem nahen Chemnitz bezogen werden.125 Der Maschinisierungsprozess in der Streich- und Kammgarnweberei Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, dass der Übergang zum zentralen Fabrikbetrieb in den Branchen, die Tuche und andere aus Streichgarn hergestellte Wollgewebe fertigten, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts relativ weit fortgeschritten war. Hier kamen mancherorts auch schon Dampfmaschinen zum Einsatz. In Frei122 123 124 125
Vgl. ebd., S. 184 f.; ebd. 1878, S. 106. Vgl. ebd. 1877, S. 182 f. Zitat: ebd. 1872/74, S. 255; vgl. ebd. 1876, S. 161; ebd. 1877, S. 183; ebd. 1878, S. 101. Vgl. Schuster, Plauen, S. 70 f.; Jahresbericht HK Plauen 1878, S. 100.
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berg arbeitete eine Tuchfabrik bereits in 1820er Jahren mit Dampfkraft, ein Betrieb, der allerdings bald in Konkurs ging. In den Wollgewerbestädten Crimmitschau und Werdau vermehrten sich mit der Eröffnung der Zweigbahn nach Zwickau 1845 die Dampfmaschinen in rascher Folge. Im gleichen Jahr bekam selbst das rückständige Kirchberg, in der unmittelbaren Peripherie des Zwickauer Kohlenreviers gelegen, eine moderne Tuchwalke mit Dampfantrieb.126 In allen diesen Fällen wurde allerdings die Dampfkraft zunächst in den der Weberei vor- und nachgelagerten Produktionsstufen eingesetzt, zum Spinnen, zum Walken und in der Appretur (etwa beim Scheren). Trotz der vergleichsweise günstigen Voraussetzungen, die eine bereits vorhandene Fabrikanlage mit Dampfbetrieb für die Aufstellung von mechanischen Webstühlen bot, kam der Übergang zur Maschinenweberei auch hier bis zum Ende der 1850er Jahren nur langsam voran. Streichgarn ließ sich wegen seiner spezifischen Materialeigenschaften schwieriger mechanisch verweben, als Baumwoll- und Kammgarne. Die verfilzten Garnfäden rissen beim Kraftbetrieb leicht und verursachten daher häufige Arbeitsunterbrechungen. Selbst in Großbritannien ging man bei den Streichgarnstoffen – den Woollens – erst zwischen 1856 und 1867 auf breiter Front zur Maschinenweberei über.127 Immerhin gab es 1861 im Königreich Sachsen bereits 49 Betriebe, die Tuche, Flanelle und andere Streichgarngewebe maschinell herstellten, deutlich mehr als in allen anderen Zweigen der sächsischen Weberei zusammen. Allerdings liefen in diesen 49 Maschinenwebereien zusammen genommen nur 506 kraftgetriebene Webstühle, im Durchschnitt demnach kaum mehr als zehn pro Betrieb. Zum Vergleich: In den 15 reinen Baumwoll-Maschinenwebereien standen zur gleichen Zeit 1418 mechanische Webstühle, das sind 94,5 pro Betrieb. In der Kammgarnmischund reinen Kammgarnweberei kamen auf einen Betrieb durchschnittlich 66,2 Maschinenstühle (21 Webereien mit 1391 Stühlen).128 Die geringe durchschnittliche Betriebsgröße der mechanischen Tuch- und Flanellwebereien lässt vermuten, dass die massenhafte Produktion einfacher Qualitäten nicht im Vordergrund unternehmerischer Strategien stand. Vielmehr entwickelte sich hier die Fabrikweberei offensichtlich in weitgehendem Maße innerhalb und aus den bereits vorhandenen Strukturen. Diese Entwicklungen lassen sich etwa aus der Bestandsaufnahme herauslesen, die die Handels- und Gewerbekammer Zittau für diese Branche in ihrem ersten Jahresbericht für 1862/63 präsentierte. Danach konzentrierte sich die oberlausitzische Tuchmacherei nun im wesentlichen auf die Städte Bischofswerda, Kamenz und Bautzen. In Bautzen war die handwerkliche Tuchmacherei am Anfang der 1860er Jahre bis auf wenige Reste verschwunden. Hier hatte sich aber eine Tuchfabrik angesiedelt, die über 22 mit Wasserkraft angetriebene Maschinenwebstühle und 16 Handstühle verfügte. Gerade in Bischofswerda, wo traditionell hochfeine 126 Vgl. die Zahlen für 1846 in ZSBI 5, 1859, S. 9, wonach von den 37 Dampfmaschinen, die in Sachsen in der Streichgarnspinnerei und Tuchappretur eingesetzt wurden, allein 32 in Crimmitschau, Werdau und Umgebung standen. Vgl. ebd., S. 11. 127 Vgl. Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 105, Jahresbericht HK Plauen 1871, S. 297; Jenkins/ Ponting, Wool Textile Industry, S. 112–115. 128 Vgl. ZSBI 9, 1863, S. 26 f.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Tuche gefertigt wurde, war der Übergang zur Maschinenweberei am weitesten fortgeschritten. Es gab hier 1863 zwei mit Dampf- und Wasserkraft ausgerüstete Fabrikwebereien, die zusammengenommen 50 mechanische und 24 Handwebstühle einsetzten. Beide Betriebe stellten glatte schwarze Tuche in gehobener Qualität her. In Kamenz gab es eine Fabrik, die 1863 über eine Dampfkraftanlage und 42 Handstühle verfügte; zwei Jahre später waren 16 Maschinenwebstühle hinzugekommen. Am Ende der 1860er Jahre war die Zahl der Tuchfabriken in Kamenz auf neun angewachsen. Bis 1873 wuchs die Zahl der mechanischen Tuchwebstühle in den drei Lausitzer Städten sowie in Reichenbach bei Königsbrück auf insgesamt 172 (in 11 Betrieben). Dem Druck zur Zentralisierung und Maschinisierung der Produktion konnten sich auch die selbständigen Tuchmachermeister nun immer weniger entziehen. Im Lausitzer Revier versuchten sie, diesen Herausforderungen durch genossenschaftlichen Zusammenschluss begegnen. In Bischofswerda waren Anfang der 1860er Jahre noch 13 auf eigene Rechnung produzierende Tuchmachermeister aktiv, die sich in vier Gesellschaften zusammengeschlossen hatten und außerhalb der Stadt gemeinsame Appreturbetriebe unterhielten. In Kamenz hatten sich um 1860 fast alle kleineren Tuchmachermeister zu fünf Assoziationen vereint, die jeweils eine eigene Appreturanstalt und Schererei besaßen. Am Ende des Jahrzehnts resümierte die Bericht der Bezirkshandelskammer: „Durch das Associationswesen ist die Tuchfabrikation vornehmlich in Kamenz zu einer festeren Basis gelangt. Die meisten der dortigen neun Fabriken, welche jährlich 28–30.000 Stück Tuche … liefern, stehen unter genossenschaftlichem Betriebe.“129
In Kirchberg lag zu diesem Zeitpunkt die Tuchfabrikation noch „ausschließlich in den Händen kleinerer Meister“. Im benachbarten Lengenfeld gab es sechs Betriebe, die neben Spinnerei, Walke und anderen Appretureinrichtungen auch die Weberei integriert und insgesamt rund 40 Webstühle, darunter sechs mechanische, aufgestellt hatten. Die ersten Kirchberger Maschinenwebstühle wurden schließlich an der Wende zu den 1870er Jahren in Betrieb genommen. Ansonsten ähnelten die Produktionsstrukturen immer noch denen, die Mitte der 1830er Jahre in den Nachforschungen der Kreisdirektion Zwickau aktenkundig geworden waren. In der Regel kauften die Lengenfelder und Kirchberger Tuchmachermeister auch noch um 1870 ihre Wolle selbst ein, ließen sie gegen Lohn verspinnen, gaben dann das gewebte Tuch zur Innungswalke oder einer der mittlerweile entstandenen Lohnwalken und verkauften sie in rohem Zustand an einen der örtlichen Tuchhändler. Diese ließen die noch erforderlichen Appreturarbeiten vornehmen und brachten die fertigen Waren in den Handel. 1871 arbeiteten aber noch etwa 40 Kirchberger Tuchmacher ganz auf eigene Rechnung. Sie brachten ihre Stoffe in vollständig appretiertem Zustand zur Leipziger Messe und auf die Jahrmärkte und setzten sie dort einzeln ab. Etwas mehr als ein Zehntel der gangbaren Handwebstühle in Kirchberg (46 von
129 Vgl. Jahresbericht HK Zittau 1862/63, S. 50–54; ebd. 1864/65, S. 51 f.; 1868/69, S. 87 f.; ZSBI 6, 1860, S. 135; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 88 f.; Barbe, Tuchindustrie S. 53 ff.; Fleißig, Klassenkonstituierung Anhang II, Abt. 8, Bl. 4.
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440) standen zu diesem Zeitpunkt in sechs kleinen Webmanufakturen. In Lengenfeld war das Verhältnis ähnlich (24 von 201).130 In den folgenden Jahren begannen sich jedoch in der Kirchberger Tuchmacherei die Gewichte zwischen handwerklich-hausindustrieller und fabrikmäßiger Produktion rasch zu verschieben. Die Hochkonjunktur der Reichsgründungszeit beschleunigte offenbar diese Entwicklung. Einerseits hatten die kleinen Tuchmachermeister mit notorischen Materialengpässen zu kämpfen. Die Kirchberger Meister waren nämlich zunehmend dazu übergegangen, Abfälle aus anderen Standorten der Streichgarnindustrie, vor allem aus der preußischen Niederlausitz, zur Fertigung ihrer Billigtuche zu verwenden. In dem Maße, in dem Woll- und Stoffabfälle auch anderswo als Rohmaterial für solche Shoddy-Garne interessant wurden, verlor die Kirchberger Tuchmacherei diese vorteilhafte Rohstoffquelle. Auf der anderen Seite ermutigte die boomende Nachfrage der frühen 70er Jahre die örtlichen Webereiunternehmer, ihre geschlossenen Betriebe zu erweitern und vermehrt mechanische Stühle anzuschaffen. In den vier Jahren von 1871 bis 1875 stieg die Zahl der in Kirchberg vorhandenen Maschinenwebstühle von elf auf 70.131 Im benachbarten Crimmitschau-Werdauer Wollwarenrevier war die Tuchmacherei schon um die Jahrhundertmitte stark rückläufig. Die Crimmitschauer Weberei hatte sich vornehmlich auf Buckskins spezialisiert. Die größeren und mittleren Buckskin-Fabrikanten, ob sie nun selbst einen geschlossenen Webereibetrieb unterhielten oder nicht, besaßen entweder eine eigene Streichgarnspinnerei oder waren an einer Assoziationsspinnerei beteiligt. Die kleineren Unternehmer ließen gewöhnlich auf Lohn spinnen. Ein überregionaler Garnmarkt hatte sich in dieser Branche noch kaum entwickelt. Allerdings deutete sich schon im Laufe der 1860er Jahre ein Umbruch in der Rohwollversorgung an: Heimische Schurwolle wurde zunehmend durch südafrikanische und südamerikanische Wollen ersetzt. Diese Entwicklung wurde zumindest am Ende der 60er Jahre durchaus positiv rezipiert. Der Import von Rohwollen aus Übersee, so hielt der Handelskammerbericht 1868 fest, habe der Buckskin-Fabrikation, die bislang oft unter Materialknappheit und hohen Rohstoffpreisen zu leiden hatte, einen erheblichen Wachstumsimpuls gegeben.132 In der Stadt Crimmitschau wurden bereits um 1850 vereinzelte Versuche mit mechanischen Kraftstühlen unternommen. Festen Fuß fasste die Maschinenweberei aber erst seit dem Ende der 1850er Jahre.133 Noch 1868 gab es nur insgesamt 22 mechanische Webstühle, die sich auf drei Kleinfabriken verteilten. Am Ende der 1860er Jahre herrschte hier ein ähnliches Neben- und Miteinander von einigen mittleren und vielen kleineren Betrieben wie ein Vierteljahrhundert zuvor. Rund 240 selbständige „Buckskinfabrikanten“ zählte der Handelskammerbericht für 1868 in der westsächsischen Wollweberstadt. Diese „Fabrikanten“ hatten gewöhnlich zwei bis fünf Hand130 Zitat: Jahresbericht HK Plauen 1867, S. 151; vgl. ebd. 1862/63, S. 163; ebd. 1871, S. 283 f.; ebd. 1875, S. 120. 131 Vgl. ebd. 1872–74, S. 260 f.; ebd. 1875, S. 120. 132 Vgl. ebd. 1868, S. 173; ebd. 1871, S. 288. 133 Vgl. Kästner, Crimmitschau, S. 94 f.; ZSBI 5, 1859, S. 2–5; Buttler, Textilindustrie, S. 28.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
webstühle im eigenen Haus aufgestellt und beschäftigten darüber hinaus eine kleinere oder größere Zahl von Lohnmeistern, die meist jeweils zwei Stühle besaßen. Etwa 300 auf Lohn arbeitender Webermeister, die von ihren Auftraggebern Ketten, Schussgarn und anderes Material erhielten, gab es zu diesem Zeitpunkt in Crimmitschau. Dazu kamen noch vier Handwebereien mit insgesamt 90 Webstühlen. Im benachbarten Werdau wurden neben den Buckskins auch halbwollene Gewebe, meist Cassinets, hergestellt. Ursprünglich bestanden die Cassinets aus baumwollener Water-Garn-Kette und Streichgarn-Schuss. Nach 1865 wurde für den Schuss zunehmend Vigogne-Garn genommen. Vigogne bezeichnete ein nach Streichgarnmethode gesponnenes, aus Wolle und Baumwolle meliertes Garn, das sich seit den 1850er Jahren zur Spezialität der Spinnerei des Crimmitschau-Werdauer Reviers entwickelt hatte. Bald gelang es den westsächsischen Spinnereien, die teure Schaf- ganz durch die billigere Baumwolle zu ersetzen. Bei einem erheblichen Teil der Werdauer Cassinets handelte es sich daher schon in den 1870er Jahren faktisch um reine Baumwollgewebe. Diese Entwicklung dürfte auch dazu beigetragen haben, dass die Maschinenweberei in Werdau raschere Fortschritte machte als in der Schwesterstadt Crimmitschau. Es waren nämlich vor allem die Cassinets, die auf Kraftstühlen gewebt wurden, während die rein streichwollenen Buckskins sich vorerst noch weniger für die maschinelle Herstellung eigneten. Schon 1868 liefen in Werdau 72 Kraftwebstühle, mehr als dreimal so viele wie in Crimmitschau.134 Auf breiter Front setzte der Übergang zur Maschinenweberei in Crimmitschau und Werdau etwa Mitte der 1870er Jahre ein. Allein 1876 wurden in den beiden Städten rund 140 mechanische Webstühle aufgestellt, wozu der Handelskammerbericht festhielt: „Verschiedene kleinere Fabrikanten haben im Laufe des Jahres ihre Zahlungen einstellen müssen, andere sind freiwillig zu anderen Erwerbszweigen übergegangen oder haben sich associirt; wer die Mittel dazu hatte, schaffte mechanische Webstühle an.“135
Auch hier schlossen sich kleinere Unternehmer zum gemeinsamen Betrieb einer mechanischen Webfabrik zusammen. So vereinten in Crimmitschau 1876 Ferdinand Ehrler und Bernhard Pfitzner ihre Buckskin-Geschäfte. Zunächst stellten sie acht mechanische Webstühle in einem gepachteten Fabrikraum auf und beschäftigten je nach Auftragslage zusätzlich Handweber außer Haus. Zudem unterhielten Ehrler & Pfitzner mit drei weiteren örtlichen Kleinfabrikanten einen gemeinsamen Appreturbetrieb. Ende der 1880er Jahre trennten sich die Partner wieder.136 Auch hinsichtlich ihrer Absatzmärkte unterschieden sich Buckskins und Cassinets nicht unerheblich. Die ersteren gehörten zu den Standardartikeln der Bradforder Wollwarenindustrie, so dass die westsächsischen Buckskins vornehmlich innerhalb des Zollvereins ihre Käufer fanden. Am Ende der 1860er Jahre wurden sie 134 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1868, S. 173 f., 181; ebd. 1871, S. 310 f. 135 Ebd. 1876, S. 166. Vgl. Buttler, Textilindustrie, S. 28 f.;. 136 Vgl. Staatsarchiv Chemnitz 31187: Fa. Ferdinand Ehrler KG & Nachf., Crimmitschau, Nr. 505: firmengeschichtliches Material; sowie mit weiteren Beispielen: Bergler/Ober, Pfau, S. 149 f.
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zudem auf den zugänglichen kontinentaleuropäischen Märkten abgesetzt, in der Schweiz, in Skandinavien, in den Niederlanden, in Italien und auch in Österreich. Bis 1861 hatte auch der Export in die USA eine gewisse Rolle gespielt. Insgesamt war aber das Exportgeschäft für die Crimmitschauer und Werdauer Buckskins, so vermerkte der Plauener Handelskammerbericht 1868, „weder früher noch jetzt von erheblicher Bedeutung“.137 Dagegen wurden die Cassinets in erheblichem Maße exportiert. Vor allem in Lateinamerika und in Südosteuropa scheinen größere Quantitäten dieses Werdauer Mischgewebes konsumiert worden zu sein.138 Die Rezessionskrise nach 1873 traf beide Zweige der Crimmitschau-Werdauer Weberei, wenn auch in jeweils eigentümlicher Weise. Die Buckskins-Fabrikanten des Reviers beklagten sich über einen von der englischen und französischen Konkurrenz mit Waren überschwemmten deutschen Markt. Zudem drängten zunehmend auch die rheinischen Webereien, die zuvor in größerem Maße nach Amerika exportiert hatten, mit ihren Erzeugnissen auf den Binnenmarkt. Zollerhöhungen schienen den westsächsischen Buckskin-Fabrikanten Mitte der 1870er Jahre ein probates Mittel zu sein, um die Überflutung ihres binnenländischen Absatzgebietes durch ausländische Fabrikate einzudämmen. Auch die Werdauer Cassinet-Hersteller beschworen die „Ungunst der Zollverhältnisse“, um ihre Absatzprobleme zu erklären. Sie bezogen sich damit aber auf die handelspolitischen Absperrungsmaßnahmen ihrer überseeischen und osteuropäischen Absatzländer, was dazu geführt habe, dass der „früher kolossale Export“ von Jahr zu Jahr geschrumpft sei. Hinzu kam ein neuerlicher russisch-türkischer Krieg, der bis 1878 die Ausfuhr in die Donaufürstentümer Moldau und Wallachei stark beeinträchtigte. Am Ende der 70er Jahre lieferte die Werdauer Weberei vornehmlich billige Vigogne-Cassinets in die preußischen Ostprovinzen. Viel Gewinn war damit nicht zu machen, angesichts der Niederlausitzer Konkurrenz „mit ihren Hungerlöhnen“.139 Im nördlichen Vogtland, in Reichenbach und Lengenfeld, produzierte die Streichgarnweberei vor allem Flanelle und geköperte Circassiens, die für Hemden, Kleidern, Tischdecken und Tücher Verwendung fanden. Diese Stoffe wurden sowohl weiß wie bunt gewebt, der größte Teil anschließend gewalkt, meist in den Innungswalken oder privaten Lohnbetrieben. Die rohweißen Gewebe wurden entweder in Reichenbach oder Meerane gefärbt; oder sie gingen an die Chemnitzer, Glauchauer oder Greizer Textildruckereien. Hier scheint man besonders von der Krise der Baumwollwirtschaft während des amerikanischen Bürgerkriegs profitiert zu haben. 1864 verdoppelte sich die Streichgarnwarenproduktion in Reichenbach gegenüber dem Vorjahr. Die Stadt galt nun als wichtigster Stapelplatz für diese Gewebe. Was „Billigkeit, Mannichfaltigkeit und Geschmack betrifft“, hieß es in einem zeitgenössischen Handelskammerbericht, dürfte „wohl kein anderer Fabrikplatz des Continents einen Vergleich aushalten“.140 Auch in der zweiten Hälfte der 137 Jahresbericht HK Plauen 1868, S. 175. 138 Vgl. ebd. 1868, S. 182; ebd. 1875, S. 126; ebd. 1877, S. 195. 139 Zitate: ebd. 1875, S. 126; ebd. 1879, S. 232; vgl. ebd. 1875, S. 122 f.; ebd. 1876, S. 166, 169 f.; ebd. 1877, S. 191 f., 194 f.; ebd. 1879, S. 225 ff. 140 Vgl. ebd. 1864, S. 197 f.; vgl. ebd. 1862/63, S. 170 f.; ebd. 1868, S. 178.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
1860er und in den frühen 70er Jahren hielt das Wachstum der vogtländischen Streichgarnweberei unvermittelt an. Zwar wurde 1869 in Reichenbach eine erste Flanellfabrik mit kraftbetriebenen Webstühlen eröffnet. Die Expansion der Produktion erfolgte jedoch vornehmlich durch eine Ausweitung der dezentralen Manufaktur. Unter den vogtländischen Handwebern, die infolge der nun einsetzenden raschen Maschinisierung der Weißwarenweberei beschäftigungslos geworden waren, fanden die Reichenbacher Flanellverleger ein nutzbares Arbeitskräftepotenzial. Noch am Ausgang der 1870er Jahre expandierte dieses Verlagsnetzwerk und hatte nun das südliche obere Vogtland um Oelsnitz erreicht.141 Der Aufschwung der Flanell- und sonstigen Streichgarnweberei im Reichenbacher Revier wurde nicht zuletzt durch eine Ausweitung des Exports getragen. Neben kontinentaleuropäischen Absatzgebieten – vor allem Skandinavien, Holland, Italien – gingen die vogtländischen Flanelle und Tischdecken vor allem in die Levante und nach Südamerika. Selbst die „Gründerkrise“ scheint sich hier weit weniger als etwa im benachbarten Crimmitschau-Werdauer Revier auf den Geschäftsgang der Streichgarnwarenunternehmen niedergeschlagen zu haben. Die breite Vielfalt der Artikel und die Streuung der Märkte ermöglichten es, dass Einbrüche in einzelnen Marktsegmenten und Absatzgebieten relativ problemlos kompensiert werden konnten. Nicht zuletzt dürfte auch der vorerst geringe Maschinisierungsgrad in diesem Zweig der Weberei dazu beigetragen haben, dass der Konjunktureinbruch einigermaßen glimpflich verlief. Da der Aufbau neuer Produktionskapazitäten während des Booms in den Jahren vor 1873 sich noch ganz überwiegend im alten Stil über die Ausdehnung der Handweberei vollzogen hatte, mussten die Reichenbacher Flanellunternehmer nach 1873 nicht auf Märkten agieren, die von Massen maschinengewebter Textilien überschwemmt wurden.142 Der Boom der Reichenbacher Flanellweberei in den 1860er und 70er Jahren ist auch deswegen bemerkenswert, weil in der Stadt in den vorangegangenen Jahrzehnten vornehmlich Kammgarnstoffe gefertigt worden waren. „Vor zehn Jahren“, so ist im Handelskammerbericht für 1871 über die Fabrikation von Flanellen und Circassiens zu lesen, „war dieser Industriezweig noch in den Anfängen und hat sich seitdem von Jahr zu Jahr erweitert.“ Im Jahr der Reichsgründung gab es in Reichenbach 33 „Fabrikfirmen“, die ausschließlich oder teilweise Flanelle produzierten.143 Offenbar war ein größerer Teil der örtlichen Verlagsgeschäfte von Kammgarn- auf Streichgarnstoffe umgestiegen bzw. hatte die letzteren zusätzlich in ihr Sortiment aufgenommen. In dieser Entwicklung dürfte sich auch die eher ungünstige Lage der Kammgarnweberei während der 1860er Jahre niedergeschlagen haben. Der amerikanische Bürgerkrieg und der Übergang zum Hochschutzzoll in den USA erschwerte es den westsächsischen Kammgarnwarenhersteller zusehends, ihre Thibets und Merinos auf diesem bislang wichtigen Absatzmarkt unterzubringen. Hinzu 141 Zitat: ebd. 1875, S. 124; vgl. ebd. 1867, S. 153; ebd. 1868, S. 178 f.; ebd. 1869, S. 125; ebd. 1871, S. 296 f.; ebd. 1879, S. 228. 142 Vgl. ebd. 1869, S. 125; ebd. 1870, S. 113 f. ; ebd. 1871, S. 299; ebd. 1876, S. 168; ebd. 1877, S. 193; ebd. 1878, S. 110; ebd. 1879, S. 229. 143 ebd. 1871, S. 296.
5.2 Die Maschinenweberei in den anderen sächsischen Revieren vor 1879
337
kam in die Ungunst der Damenmode der 60er Jahre, „indem zu der überall herrschenden bauschigen Frauentracht mit Crinolinen sich härtere Stoffe weit besser eigneten als die sich anschmiegenden weichen Kammgarnartikel.“ Dies begünstigte naturgemäß die britische und französische Konkurrenz, die gewöhnlich harte Kammgarne verarbeitete, gegenüber der sächsischen Kammgarnweberei mit ihren flauschigen Wollgeweben.144 Am Anfang der 1870er Jahre verbesserten sich auch die Marktbedingungen für die traditionellen Artikel der westsächsischen Kammgarnweberei wieder. Die Damenmode war mit dem Ende der Krinolinenzeit wieder von den harten zu den weichen Wollgeweben geschwenkt. Die französische Kammgarnwarenindustrie litt unter den Auswirkungen des deutsch-französischen Krieges und musste viele ihrer angestammten Exportmärkte der sächsischen und thüringischen Konkurrenz überlassen. Allerdings konsolidierte sich die französische Wollwarenwirtschaft bald wieder und unternahm große Anstrengungen, das zwischenzeitlich verlorene Terrain zurück zu gewinnen. Auch mit einer anderen Folge des Krieges musste sich die Kammgarnbranche des Reichenbacher Reviers auseinandersetzen. In Mylau und Netzschkau waren in den 1860er Jahren vor allem leichte Wollmusseline und Cachemirs gefertigt worden, von denen ein erheblicher Teil roh zum Druck in das badische Lörrach geliefert wurde. Sobald nach dem deutsch-französischen Krieg die Zollgrenze zum neuen „Reichsland“ Elsass-Lothringen aufgehoben war, konnten sich die Lörracher Druckereien ihre Rohwaren günstiger von der anderen Rheinseite besorgen.145 Beide Entwicklungen – die französische Exportoffensive wie der Verlust von Binnenmärkten an die Elsässer Konkurrenz – belasteten die westsächsische Kammgarnindustrie nach dem Eintritt der „Gründerkrise“ zusätzlich. Mitte der 1870er Jahren häuften sich in den Marktberichten aus den überseeischen und südosteuropäischen Absatzgebieten der Kammgarntücher aus dem Reichenbacher Revier die Katastrophenmeldungen. Die Auswirkungen der US-amerikanischen Kreditkrise im Gefolge des New Yorker Börsen-Crashs von 1873, die Cholera in Montevideo und Buenos Aires, das Gelbfieber in Brasilien, die politischen Wirren in den Staaten an der südamerikanischen Westküste trugen dazu bei, dass sich das überseeische Exportgeschäft mit Longshawls immer ungünstiger gestaltete. Der Absatz nach Russland und das Osmanische Reich war infolge des Balkankrieges 1876/78 zwei Jahre lang fast ganz zum Stillstand gekommen. Nach dem Friedensschluss machten Valutakrisen, die verschärfte russische Schutzzollpolitik und die Konkurrenz billiger Baumwollschals aus Böhmen auf den osteuropäischen Märkten den Reichenbacher Herstellern das Leben schwer.146 Ihr variables Produktspektrum und flexible Vermarktungsstrategien halfen der Reichenbacher Kammgarnweberei, auch diese Krise zu überstehen. Den Ausfall des russischen und türkischen Marktes versuchte man mit der Fertigung ähnlicher Fabrikate für Spanien und Portugal zu kompensieren. Sogar auf dem deutschen Binnenmarkt gelang es, für rot und gelb bedruckte 144 Zitat: ebd. 1867, S. 126; vgl. ebd., 1862/63, S. 169; ebd. 1866, S. 136; ebd. 1868, S. 179. 145 Vgl. ebd. 1862/63, S. 169; ebd. 1871, S. 305; ebd. 1872/74, S. 271. 146 Vgl. ebd. 1872/74, S. 272 f.; ebd. 1876, S. 169; 1878, S. 111 f.; ebd. 1879, S. 231.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Tücher „in orientalischem Geschmack“ zahlreiche Käufer zu finden. Am Ende der 1870er Jahre konstatierte der Plauener Handelskammerbericht einen lebhaften Geschäftsgang in der Kammgarnwarenbranche des Bezirks. Die Merinos und Cachemirs seien nun wieder gefragt, Kammgarnstoffe für die Kleiderkonfektion hätten den Rückgang bei den Tüchern und Schals mehr als kompensiert. Zudem sei ein neuer, aus meliertem Garn gewebter Saisonartikel – Beige – zu ziemlicher Bedeutung gelangt.147 Anders als die aus spröden Streichgarnen gefertigten, oft gemusterten Flanelle eigneten sich die glatten Stoffe aus Kammgarn, die Thibets, Cachemirs, Merinos oder Ripse, mittlerweile relativ gut für die Herstellung auf Maschinenstühlen. Wo es auf Gleichmäßigkeit ankam, erwies sich die Maschinen- der Handweberei auch qualitativ bald überlegen. Schon Mitte der 1860er Jahre entstanden daher zwischen Mylau und Reichenbach die ersten mechanischen Webfabriken, die vornehmlich Thibets produzierten. Zudem ließ ein Reichenbacher Unternehmen bei Schwarzenberg im Erzgebirge Kammgarn spinnen und auf mechanischen Stühlen verweben. 1871 wurde diese Weberei nach Oberreichenbach verlagert. In den frühen 1870er Jahren gingen vor allem Fabrikanten in Mylau und Netzschkau dazu über, Wollmusseline und leichte Cachemirs – glatte Ware für den Druck – maschinell herzustellen. 1874 wurde nur noch ein kleinerer Teil der „Stückwaren“ (im Unterschied zu den einzeln gewebten Tüchern) auf Handwebstühlen gefertigt. Doch taten sich die Fabrikwebereien mit der flexiblen Anpassung an den Wechsel der Konjunkturen, Moden und handelspolitischen Rahmenbedingungen schwerer als die Verlagsunternehmer. Als Mitte der 1870er Jahre schwere schwarze Thibet-, Cachemir- und Merino-Stoffe für die Konfektion in großen Mengen nachgefragt wurden, ging dieses einträgliche Geschäft größtenteils an den Reichenbacher Kammgarnwirtschaft vorbei. Die Fabrikwebereien hatten ganz überwiegend schmale Webstühle aufgestellt, die Stoffe wurden aber in einer Breite von 120 cm verlangt. Gerade die Anpassung an volatile Marktverhältnisse ließ sich leichter im alten System der dezentralen Manufaktur bewältigen. Noch 1879 registrierte der Berichterstatter der Handels- und Gewerbekammer, dass Crepe-Musseline, die eigentlich schon seit Jahren der Maschinenweberei zugefallen waren, nun in vermehrtem Maße auf Handstühlen in Heimarbeit gefertigt würden. Solche leichten Kammgarnstoffe gingen in großen Mengen über Hamburg nach Japan – ein Vertriebsweg, der sich ganz schnell wieder schließen konnte.148
147 Vgl. ebd.1878, S. 111 f. 148 Vgl. ebd. 1868, S. 180; ebd. 1870, S. 115; ebd. 1871, S. 303 f.; ebd. 1872/74, S. 271; 1875, S. 125; ebd. 1876, S. 169; ebd. 1878, S. 111; ebd. 1879, S. 230 f.
5.3 Die Garnindustrie zwischen Freihandelsära und Schutzzollpolitik
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5.3 DIE GARNINDUSTRIE ZWISCHEN FREIHANDELSÄRA UND SCHUTZZOLLPOLITIK 5.3 Die Garnindustrie zwischen Freihandelsära und Schutzzollpolitik Die Baumwollspinnerei Die sächsische Baumwollspinnerei verlor während der 1850er Jahre ihre bisherige herausragende Stellung innerhalb des Deutschen Zollvereins. Hatten die Spinnmühlen des Königreichs Sachsen 1846 zusammengenommen noch fast zwei Drittel (63,3 %) der Gesamtzahl der Feinspindeln im deutschen Zollgebiet auf sich vereint, so war dieser Anteil 15 Jahre später, 1861, auf weniger als ein Drittel (31,7 %) gesunken. Damit stand Sachsen, was die Zahl der Spindeln anging, zwar immer noch an der Spitze der Zollvereinsstaaten, aber vor allem Bayern (von 6.8 auf 24,0 %) und Baden (von 2,4 auf 13,3 %) hatten in den anderthalb Jahrzehnten nach 1846 stark aufgeholt. In diesen süddeutschen Staaten waren große und modern ausgerüstete Baumwollspinnereien entstanden. Die 54 bayerischen und badischen Spinnfabriken verfügten 1861 über mehr als 830.000 Spindeln. In Sachsen gab es im gleichen Jahr fast dreimal soviel Baumwollspinnereien (153), doch deren Gesamtspindelzahl belief sich nur auf rund 707.000. Im Durchschnitt war eine sächsische Spinnmühle Anfang der 1860er Jahre mit nur unwesentlich mehr Feinspindeln ausgestattet als 30 Jahre zuvor. Allerdings hatte sich die Produktivität pro Spindel in dieser Zeit offenbar merklich erhöht. 1830 stellten 84 Spinnereien mit rund 360.000 Spindeln zusammengenommen 5 Millionen Pfund Garn her. 1861 kam man mit einer knapp verdoppelten Spindelzahl auf die sechsfache Menge an Garn, nämlich 30 Millionen Pfund.149 Bis zur Mitte der 1850er Jahre deuten die statistischen Grunddaten auf eine Stagnation der sächsischen Spinnereiindustrie hin. Für die folgenden Jahre finden sich aber deutliche Anzeichen für einen Aufschwung der Branche. Zwischen 1855 und 1861 nahm die Gesamtspindelzahl um über 150.000 zu, eine Vermehrung um 27,5 Prozent in sechs Jahren. Die sächsische Jahresproduktion an Baumwollgarn stieg im gleichen Zeitraum sogar um mehr als die Hälfte. Verantwortlich für diesen offensichtlichen Produktivitätssprung waren eine Reihe neuer und moderner Spinnereien vor allem in Chemnitz und Umgebung. Dazu gehörte die oben erwähnte Baumwollspinnerei, die Robert Hösel Mitte der 1850er Jahre auf dem Fabrikgelände seiner Maschinenweberei baute, ebenso wie die neue Spinnerei von J. G. Schwalbe & Sohn nahe der Stadt. Beide Spinnereien waren mit Dampfmaschinenanlagen ausgerüstet und setzten Selfaktor-Spinnmaschinen ein. Während Hösels Spinnerei mit ihren eher bescheidenen 5000 Spindeln für die eigene Weberei arbeitete und das Unternehmen damit die einzige kombinierte „Spinnweberei“ in Sachsen betrieb, war die Fabrik der Schwalbes auf eine Kapazität von 12.000 bis 13.000 Spindeln ausgelegt. Die bislang größte Chemnitzer Spinnerei, die von Becker & Schraps, verfügte nur über knapp 10.000 Spindeln. Die Firma Schwalbe & Sohn zählte selbst zu den bedeutendsten Maschinenbauunternehmen der Stadt, hatte aber 149 Vgl. die Zahlen bei Kiesewetter, Industrialisierung, S. 358, 382; ZSBI 9, 1863, S. 24 f.; sowie Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 65 ff.; Kirchhain, Wachstum, S. 61.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
die selbstspinnenden Mules vom führenden britischen Spinnereimaschinenhersteller der Zeit, Platt & Co. aus Oldham bei Manchester, erworben. Womöglich wollte man beim Betrieb dieser Selfaktoren in der eigenen Spinnerei auch Erfahrungen für künftige Konstruktionen sammeln. Die meisten anderen Maschinen waren in den Werkstätten von Schwalbe und Sohn selbst angefertigt worden. Auch der Maschinenpark der Spinnerei Hösels entstammte ganz überwiegend aus Chemnitzer Produktion, z. T. ebenfalls aus der Maschinenfabrik der Schwalbes. Die Selfaktoren hatte in diesem Fall die Firma Richard Hartmann „nach neuester und bester Bauart“ geliefert.150 Mitte der 50er Jahre gingen die Meinungen der sächsischen Spinnfabrikanten über den Einsatz von Selfaktoren noch immer auseinander. Der Wolkenburger Spinnmühlenbesitzer C. M. Riedig erkärte der Deutschen Gewerbezeitung 1856, seine beiden im Vorjahr in Betrieb genommenen „Selbstspinner“ hätten ihm keinen betriebswirtschaftlichen Vorteil gegenüber den normalen Mule-Maschinen gebracht. Man spare letztlich kaum Arbeitskräfte, und die Selfaktoren nähmen deutlich mehr Triebkraft in Anspruch. Auch sei „für sächsische Verhältnisse“ zu erwägen, dass sich die einfachen Mules leichter und schneller für einen Wechsel der Garnnummern umstellen ließen. Andere Spinnereiunternehmer gaben der Zeitung zu Protokoll, sie würden infolge des Gebrauchs von Selfaktoren sehr wohl billiger produzieren.151 Am Ende der 1850er Jahre bestanden 9,5 Prozent der sächsischen Spinnereikapazität aus Selfaktorspindeln. In den drei süddeutschen Staaten liefen zum gleichen Zeitpunkt bereits fast die Hälfte der Spindeln auf selbsttätigen Mules. Acht Jahre später hatte sich der Anteil der Selfaktorspindeln in Sachsen auf mehr als ein Drittel vermehrt.152 Die Möglichkeiten des Selfaktoreinsatzes verbesserten sich nicht zuletzt durch die Verbreitung der Dampfmaschinen. Zwischen 1855 und 1861 entstanden im Chemnitzer Revier sechs neue Baumwollspinnereien, die ausschließlich Dampfkraft verwendeten. Zahlreiche ältere Betriebe ergänzten nun ihre Wasserkraftanlagen durch Dampfmaschinen, die bei Niedrig- oder Hochwasser zum Einsatz kommen sollten. In den sechs Jahren nach 1855 stieg der Anteil der Baumwollspindeln, die in Spinnereien mit gemischtem Wasser- und Dampfantrieb liefen, in Sachsen von 17,7 auf 25,9 Prozent. Der Anteil der nur dampfgetriebenen Spindeln machte im gleichen Zeitraum einen noch größeren Sprung von 5,6 auf 14,7 Prozent. Demnach befanden sich schon am Anfang der 1860er Jahre rund 40 Prozent der sächsischen Spinnereikapazitäten in Betrieben, die mit Dampfmaschinen ausgestattet waren. Auch an den Standorten entlang der erzgebirgischen Flussläufe, die noch nicht über einen Eisenbahnanschluss verfügten, modernisierten die größeren Spinnfabriken ihre Wasserkraftanlagen. Die Spinnerei von Max Hauschild in Ho150 Vgl. Kiesewetter, Industrialisierung, S. 358; Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 67 ff.; Deutsche Gewerbezeitung 21, 1856, S. 61 f. (Zitat: S. 62); ebd. 20, 1855, S. 382 f.; Geschichte der Maschinenfabrik Germania, S. 26 f. 151 Deutsche Gewerbezeitung 21, 1856, S. 3. 152 Daten nach: Jacobs, Textilzölle, S. 22 f.; Kirchhain, Wachstum (Diss.), S. 45 f.; vgl. allgemein zum Einsatz von Selfaktoren: Dudzik, Innovation, S. 274–277.
5.3 Die Garnindustrie zwischen Freihandelsära und Schutzzollpolitik
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henfichte an der Flöha erhielt 1853 statt des alten hölzernen Wasserrads eine moderne eiserne Turbine. Johann Georg Bodemer machte sich auf einer Reise in die Schweiz persönlich mit den Fortschritten dieser Technologie vertraut. 1855 ließ er die Chemnitzer Maschinenfabrik Hartmann nach Anleitung durch einen Schweizer Ingenieur eine Turbinenanlage für seine Zschopauer Spinnerei bauen. Den gleichen Weg ging auch Ernst Iselin Clauß, der im gleichen Jahr die alte Schaufelradanlage seiner schon seit 1809 in Plaue an der Flöha bestehenden Spinnerei durch eine Wasserturbine ersetzte.153 Die bei weitem größte Baumwollspinnerei, die in der zweiten Hälfte der 1850er entstand, war ein Gemeinschaftsprojekt führender Chemnitzer Textilunternehmer. 1857 konstituierte sich eine Aktiengesellschaft, an der sich u. a. Robert Hösel, der Möbelstofffabrikant Wilhelm Vogel, die Spinnereibesitzer Max Hauschild und C. F. Solbrig, ebenso wie die kurz zuvor in Leipzig gegründete Allgemeine Deutsche Credit-Anstalt beteiligten. Die „Chemnitzer Aktienspinnerei“ war auf eine Kapazität von über 50.000 Spindeln berechnet, zu diesem Zeitpunkt fast ein Zehntel des Gesamtbestands der sächsischen Baumwollspinnerei. Dazu kam noch eine Zwirnerei mit etwa 9.500 Spindeln. Die Chemnitzer Aktienspinnerei verfügte über moderne Selfaktor-Spinnmaschinen. Sie war ausgerüstet mit einer mächtigen Zwillings-Dampfmaschine, die mit einer Leistung von 500 PS das acht- bis zehnfache an mechanischer Antriebskraft bereitstellte, die den neuen Spinnereien von Hösel und Schwalbe jeweils zur Verfügung stand. Während der Bauarbeiten unternahmen die Direktoren der Aktienspinnerei eine mehrwöchige Informationsreise durch England, die Schweiz und das Elsass. Sie brachten aus den technisch fortgeschrittensten Regionen der Baumwollspinnerei die beruhigende Überzeugung mit, „daß die in den Vorarbeiten projektirte Maschinenzusammenstellung sowie Maschinenkonstrukzion den besten und neuesten englischen Anlagen ähnlicher Art vollkommen entspricht, daß alle dortigen jüngsten Verbesserungen an Maschinen bereits in unseren heimischen Werkstätten eingeführt sind, und daß letztere mit nur geringen Ausnahmen alle Maschinen und zwar in vorzüglicher Qualität liefern. Bezüglich der Preise stellen sich englische Maschinen inclusive aller Spesen nach Chemnitz gelegt im Durchschnitt nicht billiger, eher höher als Chemnitzer Maschinen.“154
Die neue Chemnitzer Großspinnerei war auf den Bedarf der regionalen Baumwollund Mischstoffweberei zugeschnitten und lieferte sowohl Mule- als auch Water-Garne. Offensichtlich verfolgten ihre Initiatoren den Plan, damit in die bisherigen Marktdomänen der Briten und Schweizer einzudringen. 28.000 Spindeln gingen an Water Frames, einem Spinnmaschinentyp, der in Sachsen bislang selten zum Einsatz gekommen war. Solche Garne wurden aber nun zunehmend in der sächsischen Weberei für starke und dicke Baumwollstoffe und für Mischgewebe wie Möbeldamaste verwendet. Hier schien sich also der sächsischen Spinnerei ein 153 Daten nach: Jacobs, Textilzölle, S. 23 f.; vgl. Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 506; Denkschrift Hauschild, S. 6, 8 f.; Zschopauer Baumwollspinnerei Gedenkschrift, S. 24; Ein Jahrhundert Baumwollspinnerei Clauß, S. 6. 154 Geschäftsbericht Chemnitzer Aktienspinnerei 1857, zit. nach: Deutsche Gewerbezeitung 23, 1858, S. 223
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5. Industrialisierung und Globalisierung
ergiebiges Geschäftsfeld zu eröffnen, das bislang überwiegend der auswärtigen Konkurrenz überlassen war. Die in der Aktienspinnerei gesponnenen Water-Garne bewegten sich mit einem Feinheitsgrad zwischen Nummer 34 und 46 im Bereich der üblicherweise in Sachsen gefertigten Garne. Dagegen konzentrierte sich die Mule-Spinnerei des Unternehmens auf die mittleren und feineren Garnnummern zwischen 50 und 120, die zu Zwirn für höherwertige, mit Wolle und Seide gemischte Modestoffe verarbeitet werden sollten. Die Chemnitzer Spinner hatten seit Jahrzehnten beklagt, gerade die gewinnträchtigsten Marktsegmente des eigenen Binnenmarkts der britischen Konkurrenz überlassen zu müssen. Nun hatten sie sich offenbar zusammen gefunden, um mit einer kapitalkräftigen Großspinnerei dieser Importabhängigkeit eine Ende zu bereiten.155 Doch war der Chemnitzer Aktienspinnerei bei diesem Unterfangen wohl allenfalls beschränkter Erfolg beschieden. Für die sächsischen Baumwollspinnereien insgesamt brachten die 1860er und 70er Jahre überwiegend Krisen und Rückschläge. Mit dem Ausbruch des amerikanischen Bürgerkrieges 1861 und der Blockade der Südstaatenhäfen trocknete schlagartig die bei weitem wichtigste Rohstoffquelle der europäischen Baumwollspinnereien aus. Zwar waren wohl die britischen Garnerzeuger stärker von dieser „Baumwollkrise“, die die gesamte vierjährige Kriegsdauer bis zum Frühjahr 1865 anhalten sollte, betroffen als die sächsischen Spinnereien. In Sachsen war schon vor 1861 in größerem Maße indische Rohbaumwolle, die ähnliche Eigenschaften wie die mazedonische und levantinische besaß und sich für die billigen und groben Qualitäten gut eignete, verbraucht worden. Doch bald war auch die indische Baumwolle, der sich jetzt die Nachfrage aus dem britischen Mutterland zuwandte, exorbitanten Preissteigerungen unterworfen. Schon Ende 1862 hatten sich die Preise für Rohbaumwolle am Hauptumschlagplatz Liverpool gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt. Die sächsischen Baumwollspinnereien mussten ihre Produktion einschränken und ihre Kapazitäten herunterfahren. Ende 1863 lag ihre Auslastung im Chemnitzer Revier noch bei 43 Prozent. Ein Teil der Spinnereiunternehmen, besonders die kleineren, die für Lohn arbeiteten, stellte den Betrieb ganz ein. Zwar waren die sächsischen Spinner auf dem Binnenmarkt nun auch der britischen Konkurrenz ledig. Doch sie konnten diesen Freiraum wohl nur in begrenztem Maße nutzen, da ihnen für die Übernahme der zuvor von den Briten abgedeckten Marktsegmente der nötige Rohstoff, die hochwertige US-amerikanische Baumwolle, fehlte.156 Auch nachdem sich seit dem Ende des US-Bürgerkriegs die Rohstoffversorgung der Baumwollindustrie wieder normalisiert hatte, taten sich die sächsischen Spinner schwer, zumindest ihre um 1860 erreichte Marktposition zu festigen. Es waren nicht zuletzt neue politische Rahmensetzungen, die den Baumwollspinnereien in Sachsen zu schaffen machten. Die sukzessive gesetzliche Eindämmung der Kinderarbeit in den sächsischen Fabrikbetrieben im Laufe der 1860er Jahre erhöhte 155 Vgl. ebd.; ebd. 22, 1857, S. 122 f.; Hofmann, Aktienspinnerei, S. 64–67; Uhlmann, Unternehmer, S. 92. 156 Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 82 ff.; ebd. 1865, S. 151 f.; Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 81–85; Deutsche Gewerbezeitung 27. Jg., 1862, S. 41 f.
5.3 Die Garnindustrie zwischen Freihandelsära und Schutzzollpolitik
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die Lohnausgaben der Spinnereien und beraubte sie eines Kostenvorteils gegenüber der britischen Konkurrenz. Zudem büßten die sächsischen Garnproduzenten mit dem Eintritt des Zollvereins in das europäische Handelsvertragssystem 1864/65 den bisherigen – mäßigen – Zollschutz vor der britischen, schweizerischen und elsässischen Konkurrenz ein. Mit der Eingliederung von Elsass-Lothringen in das neugegründete Deutsche Reich 1871 erhöhte sich die Spindelzahl im Zollvereinsgebiet mit einem Schlag um mehr als die Hälfte. Die hoch entwickelte elsässische Spinnereiindustrie drängte nun zunehmend auf die deutschen Absatzmärkte.157 Wenn die sächsischen Baumwollspinner gehofft hatten, durch die Modernisierung ihrer Anlagen und den Bau neuer, großer, mit Dampfkraft und Selfaktoren ausgerüsteter Fabrikanlagen, das lukrative Marktsegment der feineren Garnsorten besetzen zu können, so wurden, so wurden sie bitter enttäuscht. Zwar galten der sächsischen Baumwoll- und Mischweberei in den 1860er und 70er Jahren die britische Garne nur noch in den ganz hohen Nummern als unentbehrlich (ab Feinheitsgrad 170, 180). Doch zwischen den Nummern 80 und 170 teilten sich nun die Schweizer und die Elsässer Spinner mit den Engländern den Markt im sächsischen Webereigürtel. Selbst in ihrer Domäne, den starken Garnen, mussten sich die Baumwollspinnereien des Chemnitzer Reviers nun ihre bisherigen Märkte mit den süddeutschen Spinnereien, vor allem aus Hof, Bamberg und Augsburg teilen. Nur bei den Garnen für die heimische Strumpfwirkerei behaupteten die sächsischen Spinnereien das Feld.158 In den Daten der zeitgenössischen Gewerbestatistik spiegelt sich der Abwärtstrend der sächsischen Garnindustrie markant wider. Im Handelskammerbezirk Chemnitz war die Zahl der Baumwollspindeln zwischen 1861 und 1872 um ein mehr als ein Drittel gesunken (von 685.470 auf 440.822). Die Zahl der Spinnereien hatte sich sogar beinahe halbiert. Statt der 146 Baumwollspinnereien von 1861 wurden elf Jahre später nur noch 78 von ihnen im Chemnitzer Revier gezählt. Nach dem Einsetzen der „Gründerkrise“ gingen die Spinnereikapazitäten weiter zurück. 1875 hatte die sächsische Baumwollspinnerei ihre zehn Jahre zuvor noch führende Position in Deutschland verloren. Sachsen belegte nun mit 524.178 Spindeln in der Rangfolge der deutschen Bundesstaaten nur noch den vierten Platz hinter dem neuen Reichsland Elsass-Lothringen (1.435.000 Spindeln), Preußen (857.826) und Bayern (753.425).159 Die handelspolitische Wende von 1879 brachte der sächsischen Baumwollspinnerei den lange ersehnten Schutzzoll. Der Tarif der Garnzölle war nun nach dem Feinheitsgrad gestaffelt: Die gröbsten Sorten wurden mit 12 Mark pro Doppelzentner belastet. Dieser Satz steigerte sich bis auf 36 Mark für Garnsorten ab Nummer 80.160 Der Zollschutz dürfte sicherlich dazu beigetragen haben, dass die Gesamtspindelkapazität im Königreich Sachsen im Verlaufe der 157 Vgl. Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 86–95; Jacobs, Textilzölle, S. 50. 158 Vgl. Bein, Industrie 349; Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 97; Jahresbericht HK Plauen 1862/63, S. 185; ebd. 1871, S. 210 f.; ebd. 1872–74, S. 256 f.; Denkschrift Heymann, S. 18. 159 Vgl. Meerwein, Baumwollspinnerei, S. 97; Jahresbericht HK Chemnitz 1875/76, S. 287 f.; Niess, Baumwoll-Spinnerei, S. 58. 160 Vgl. Martin, Aufschwung, S. 14 f.; Maschner, Weberei, S. 147
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1880er Jahren wieder anstieg. Um 1890 hatte sie die Marke von 700.000 Feinspindeln überschritten und damit den Stand von 1860 wieder erreicht.161 An der räumlichen Ballung der Baumwollspinnereien im Chemnitzer Handelskammerbezirk änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Prinzip wenig. Infolge der weiteren Verbreitung der Dampfkraft wurden neue Spinnereien nun eher in der Peripherie der Städte statt wie bislang in den erzgebirgischen Flusstälern angelegt. Dagegen ging die vogtländische Baumwollspinnerei in den 1860er und 70er Jahren weiter zurück. 1881 vermeldete schließlich der Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer Plauen, dass die letzte noch vorhandene Baumwollspinnerei des Bezirks nach dem Tod ihres Inhabers nunmehr ihren Betrieb eingestellt habe. Einige Jahre später lebte jedoch die vogtländische Baumwollspinnerei wieder auf, als eine große Plauener Maschinenweberei einen eigenen Spinnereibetrieb eröffnete. Um 1910 gehörte dieser Betrieb mit seinen rund 50.000 Spindeln zu den größten sächsischen Baumwollspinnereien. Im Plauener Revier hatte sich allerdings seit dem Ende der 1850er Jahre eine eigenständige Zwirnindustrie etabliert, die vor allem die schnell wachsende Maschinenstickerei belieferte. Die vogtländischen Zwirnereien verarbeiteten jedoch häufig importierte englische und schweizerische Rohgarne, so dass sie geschäftlich kaum mit der regionalen Baumwollspinnerei verbunden waren und ihr interessenpolitisch frontal gegenüberstanden.162 Während die vogtländische Baumwollspinnerei von jeher damit zu kämpfen hatte, dass sie gerade in den im heimischen Revier verlangten Garnqualitäten nicht wettbewerbsfähig war, so hätte die südliche Oberlausitz eigentlich bessere Bedingungen für die Ansiedlung von Spinnereibetrieben geboten. In den frühen 1860er Jahren klagte denn auch die Handels- und Gewerbekammer Zittau darüber, dass in ihrem Bezirk keine einzige Baumwollspinnerei existiere, obwohl doch alle Faktoren – Wasserkraft, Kohlen, Arbeitskräfte und Absatz – quasi vor der Tür vorhanden seien. Auch koste rohe Baumwolle in der Oberlausitz nicht mehr als in Chemnitz, so dass eine Spinnerei hier schon einmal um die zwei Prozent besser stehe, um die sich das erzgebirgische Garn beim Transport ins Zittauer Revier verteuere. Die erste oberlausitzische Baumwollspinnerei wurde schließlich 1867 nahe Bernstadt eröffnet. Sie stellte Mule-Garn in niedrigen Nummer her und blieb zunächst der einzige Betrieb dieser Art im Revier. Auch in diesem Falle scheint der Garn-Schutzzoll eine stimulierende Wirkung auf die regionale Garnindustrie gehabt zu haben. 1884/85 wurden in Löbau und Zittau zwei neue, vergleichsweise große Spinnereien in Betrieb genommen. Um 1910 befanden sich unter den elf größten sächsischen Baumwollspinnereien immerhin zwei Oberlausitzer Betriebe.163 Der bei weitem größte Betrieb der Branche siedelte sich jedoch außerhalb des eigentlichen textilin161 Daten nach: Kirchhain, Wachstum, S. 42; 50 Jahre sächsische Volkswirtschaft, S. 41; Niess, Baumwoll-Spinnerei, S. 53. Siehe Tabelle 5 im Anhang. 162 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1881, S. 117; ebd. 1871, S. 211; Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 532 f.; Martin, Aufschwung, S. 36; Benndorf, Beziehungen, S. 112 Anm. 2. Im Chemnitzer Revier waren die Zwirnereien dagegen oft in die Spinnereien integriert (vgl. Gebauer, Volkswirtschaft 2, S. 529). 163 Vgl. Jahresbericht HK Zittau 1862/63, S. 56; ebd. 1883, S. 82 f.; ebd. 1886, S. 92; Gebauer, Volkswirtschaft 2, 523; Benndorf, Beziehungen, S. 112 Anm. 2.
5.3 Die Garnindustrie zwischen Freihandelsära und Schutzzollpolitik
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dustriellen Gürtels an. Es war dies die Leipziger Baumwollspinnerei, die 1884 in Lindenau, einem der Industrievororte der Messestadt, errichtet wurde. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs arbeitete dieses Werk mit 240.000 Spindeln und war damit die größte deutsche Baumwollspinnerei. Die Leipziger Baumwollspinnerei vereinigte nun fast 15 Prozent der Gesamtspindelkapazität des Königreichs Sachsens in ihren Betriebshallen.164 Die sächsischen Baumwollspinner erhofften sich von den 1879 implementierten Garnschutzzöllen zunächst einmal die Ausschaltung der britischen und Schweizer Konkurrenz in den von ihnen bislang besetzten Marktsegmenten. Dies würde zu einer spürbaren Steigerung und Stabilisierung der Verkaufspreise auf dem Binnenmarkt führen. Zum Zweiten sollte sich ihnen nun endlich eine realistische Chance eröffnen, in die Fertigung der feineren Garnqualitäten einsteigen zu können. An den Hoffnungen und Erwartungen der Spinnereifabrikanten machten sich wiederum die Befürchtungen und das Misstrauen der Garn verarbeitenden Unternehmen fest. Durch die Erhöhung der Zölle war eine Steigerung der Materialkosten zu erwarten, die zumindest im Export nicht durch eine entsprechende Erhöhung der Verkaufspreise kompensierbar war. Es war für die Webereien auch keinesfalls ausgemacht, dass es der sächsischen Spinnindustrie tatsächlich gelingen würde, die ausländischen Garne in den höheren Nummern vollwertig zu substituieren.165 Beim ersten Punkt scheinen sich die Hoffnungen der Spinner und die Befürchtungen der Weber bald erfüllt bzw. bestätigt zu haben. Die Lage der heimischen Baumwollspinner habe sich infolge des Schutzzolls wesentlich verbessert, befand der Zittauer Handelskammerbericht für 1881/82. Bei normaler Geschäftslage sei der Import britische Gespinste vor 1879 schon ab Nummer 20 rentabel gewesen. Nun habe sich diese Grenze bis zu einem Feinheitsgrad zwischen 44 und 50 nach oben verschoben.166 In Krisenzeiten waren die sächsischen Spinnereien allerdings immer noch den altbekannten Dumpingpraktiken der britischen Konkurrenz ausgesetzt. Schon 1883 beklagten die Baumwollspinner des Chemnitzer Reviers einen merklichen Absatzrückgang. Ursache sei die Absatzstockung der „Manchestererzeugnisse“ in Ostasien. Ihre Überschüsse würden die britischen Garnhersteller nun in Deutschland zu Schleuderpreisen vermarkten. Für solche Fälle hätten sich die neuen Zölle als gänzlich ungenügend erwiesen. Immerhin konzedierten aber die Chemnitzer Spinner, solange das Geschäft regelmäßig sei, habe man unter der englischen Konkurrenz nicht mehr viel zu leiden.167 Zum Standardrepertoire der sächsischen Schutzzollprotagonisten hatte seit dem Vormärz die Vision eines „Erziehungszolls“ gehört. Durch einen ausreichender Zollschutz würde ein Anreiz geschaffen, in moderne und leistungsfähige Anlagen zu investieren. In absehbarer Zeit würden die heimischen Spinnereien dann auch die 164 Vgl. Benndorf, Beziehungen, S. 112; Kirchhain, Wachstum, S. 42; 50 Jahre sächsische Volkswirtschaft, S. 41; Staatsarchiv Leipzig 20927: Leipziger Baumwollspinnerei AG Nr. 70: Mskr. „Chronik des VEB Leipziger Baumwollspinnerei Teil 1: 1884–1945“, Bl. 15–21. 165 Vgl. Lochmüller, Entwicklung, S. 13 f. 166 Jahresbericht HK Zittau 1881/82, S. 112 f. 167 Ebd. 1883, S. 119; vgl. ebd. 1884, S. 158; ebd. 1885, S. 190; Lochmüller, Entwicklung, S. 6.
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feineren Garnsorten in gleicher Qualität und mindestens genauso preiswert anbieten können wie ihre ausländischen Konkurrenten. Diese Erwartung wurde nach dem Übergang zur Schutzzollpolitik größtenteils enttäuscht. Man habe, so hieß es im Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer Zittau für 1885, bei Einbringung des 1879er Zolltarifs erwartet, dass die deutschen Spinnereien der heimischen Weberei auch die feineren Baumwollgarnnummern würden liefern können. „Diese Hoffnungen und Voraussetzungen haben sich nicht oder nur zum allerkleinsten Theile erfüllt. Heute noch muß die Weberei des diesseitigen Bezirkes die feineren Garne von Nr. 40 an aufwärts, einfach wie doublirt, aus England beziehen, weil deutsche Spinner dieselben entweder überhaupt nicht oder nicht in den für die Rede stehende Weberei passenden Qualitäten zu liefern vermögen.“168
In den folgenden Jahren gab es durchaus Versuche sächsischer Garnfabriken, die Produktion feinerer Baumwollgespinste aufzunehmen. Die Leipziger Baumwollspinnerei rüstete 1887 eine eigene Feinspinnerei mit 60.000 Spindeln aus, die Garn für Nähfäden und Handschuhe in den Nummern 30 bis 120 fertigten. Auch in einigen kleineren Betrieben wurde um 1890 Baumwollgarn über dem Feinheitsgrad 60 gesponnen. Doch insgesamt blieben die sächsischen Spinner auf ihrem angestammten Terrain, der Produktion der gröberen Garne. Noch 1913 gab es keine sächsische Baumwollspinnerei, die im Durchschnitt Gespinst einer höheren Nummer als 45 hergestellt hätte. Bei den allermeisten Spinnereibetrieben lag dieser Durchschnittswert bei weniger als dem Feinheitsgrad 30.169 Der Verbrauch britischer Garne in der sächsischen Baumwollweberei war zwar nach 1879 rückläufig. Allenfalls in den mittleren Stärken wurde dieser Rückgang durch sächsisches Gespinst substituiert. In den feineren Nummern konkurrierten vornehmlich süddeutsche Spinnereien, vor allem aus dem Elsass, mit den Briten und Schweizern. Insgesamt musste auch weiterhin offenbar ein größerer Teil dieser Qualitäten aus dem Ausland bezogen werden.170 Das Absatzgebiet der sächsischen Baumwollspinnereien umfasste auch nach 1879 vornehmlich die heimischen Textilreviere und die unmittelbar benachbarten Gebiete Bayerns, Thüringens und Schlesiens. Der Export ins Böhmische kam nach dem Ablauf des deutsch-österreichischen Handelsvertrags Anfang der 1880er Jahre zum Erliegen.171 Warum gelang es nun den sächsischen Baumwollspinnereien bis 1914 nicht, trotz des Zollschutzes die Importe der feineren Garnqualitäten selbst in den nahe gelegenen Textilrevieren zu substituieren? Zunächst einmal belasteten die deutschen Gewichtszölle trotz ihrer Staffelung der Tarife nach Feinheitsgraden immer noch die schwereren, gröberen Garnsorten im Vergleich zu ihrem Wert deutlich stärker als die leichteren, feineren Qualitäten. Feineres Importgarn wurde in den 1880er Jahren zu etwa sieben Prozent seines Werts verzollt. 1892 kamen die beiden 168 Jahresbericht HK Zittau 1885, S. 38. 169 Vgl. Martin, Aufschwung, S. 42; Benndorf, Beziehungen, S. 115; Jahresbericht HK Chemnitz 1889, S. 239. 170 Vgl. Benndorf, Beziehungen, S. 115; Maschner, Weberei, S. 147; Bericht HK Chemnitz 1881, S. 47; ebd. 1885, S. 190; ebd. 1886, S. 230; allgemein: Lochmüller, Entwicklung, S. 23 f. 171 Jahresbericht HK Chemnitz 1883, S. 119; ebd. 1886, S. 230; ebd. 1889, S. 240
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Hauptherkunftsländer des deutschen Baumwollgarnimports zudem in den Genuss einer spürbaren Zollsenkung. Im Zuge der liberaleren Handelspolitik des Reichskanzlers Caprivi schloss das Reich einen neuen Handelsvertrag mit der Schweiz, durch den der Tarif für eindrähtiges Baumwollgarn über Nr. 60 von 30 bzw. 36 Mark pro Doppelzentner auf 24 Mark ermäßigt wurde. Aufgrund der Meistbegünstigungsklausel galt dieser Satz künftig auch für britisches Garn.172 An den natürlichen Standortvorteilen der britischen Baumwollspinnerei und den entsprechenden Handicaps der sächsischen hatte sich auch im späteren 19. Jahrhundert nichts geändert. Die Nähe der großen britischen Baumwollreviere zum Meer und zum Haupteinfuhrhafen Liverpool verhalf den Spinnern in Lancashire und Lanarkshire zu vergleichsweise günstigen Bedingungen bei der Beschaffung der Rohstoffe. Die große Vielfalt des Angebots in Liverpool ermöglichte es ihnen, ihren Bedarf an Rohbaumwolle jederzeit in beliebiger Quantität zu decken und die Ware innerhalb von ein oder zwei Tagen zu erhalten. Dies erhöhte die Flexibilität unternehmerischer Dispositionen und reduzierte die Lagerkosten. Die Garnfabrikanten aus Manchester und Umgebung mussten sich nicht wie ihre kontinentaleuropäischen Konkurrenten auf die Gewissenhaftigkeit von Agenten verlassen. Sie konnten die Ware vor dem Kauf persönlich in Augenschein nehmen. Mit der Nähe zur See hingen auch die klimatischen Bedingungen zusammen, die vor allem der Fertigung feiner Garne entgegenkamen. Die gleichmäßige hohe Luftfeuchtigkeit der Standorte Manchester und Glasgow musste in den Spinnereien im sächsischen Binnenland unter Aufwand zusätzlicher Kosten künstlich erzeugt werden.173 Agglomerationsvorteile genossen die britischen Baumwollspinner auch in anderer Beziehung. Der riesige Absatzmarkt in der eigenen Region, der Export auf den europäischen Kontinent und die Erschließung neuer großer Exportmärkte in Indien und China erlaubte es den einzelnen Spinnereien sich auf ein überschaubares Spektrum von Qualitäten zu spezialisieren. Gerade auf den neuen asiatischen Märkten wurde nur eine beschränkte Zahl von Garnnummern nachgefragt – in entsprechend riesigen Quantitäten. Die sächsischen Baumwollspinnereien waren dagegen nach wie vor kaum in der Lage, die mit solcher Massenproduktion verbundenen Kostenvorteile in vergleichbarer Weise zu nutzen. Die Spinnbetriebe des Chemnitzer Reviers mussten sich notgedrungen auf einen regional begrenzten Abnehmerkreis beschränken. Die enorme Vielfalt der sächsischen Garn verbrauchenden Industrie hatte wiederum zur Folge, dass die Nachfrage selbst in den gröberen und mittleren Nummern, in denen die heimischen Spinnereien wettbewerbsfähig waren, ebenso diversifiziert war. Es wurden hier viele verschiedene Garnsorten in relativ kleinen Mengen verlangt. Die Leipziger Baumwollspinnerei produzierte etwa um 1890 alle Garnnummern von 4 bis 120. Selbst die kleineren Spinnereien fertigten oft Garne in vielen unterschiedlichen Feinheitsgraden und Qualitäten, sowohl für die Weberei als auch für Strumpfwirkerei. Und auch die Lohnspinnerei erhielt sich in Sachsen bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. 172 Vgl. Martin, Aufschwung, S. 14 f., 42. 173 Vgl. Jannasch, Productionsbedingungen, S. 308 ff.; Benndorf, Beziehungen, S. 115 f., 120; Mass/Lazonick, Cotton Industry, S. 14 f.
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Die betriebswirtschaftlichen Nachteile dieser Art von Diversifizierung lagen auf der Hand: Spinnmaschinen mussten häufig für andere Garnsorten umgerüstet werden. Ihre Laufzeiten waren kürzer. Der Betrieb erforderte mehr Arbeitskräfte. Die Spinnereiarbeiter – in der Mehrzahl angelernte Frauen – hatten bei einem häufigen Wechsel der hergestellten Produkte geringere Möglichkeiten, spezialisiertes Erfahrungswissen und Fertigkeiten zu erwerben wie sie gerade für die feineren Garne notwendig war. Insofern hatten sich die strukturellen Voraussetzungen für die internationale und überregionale Wettbewerbsfähigkeit der sächsischen Baumwollspinnerei gegenüber der ersten Jahrhunderthälfte nicht grundlegend geändert.174 Die direkte Abhängigkeit der Rohstoffversorgung der sächsischen Baumwollspinner vom Umschlagszentrum Liverpool verminderte sich allerdings in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Noch 1861 hatte die Sächsische Industrie-Zeitung auf das Preisgefälle zwischen den Baumwollpreisen in Liverpool und in den deutschen Nordseehäfen hingewiesen. Es komme zwar gelegentlich vor, dass Baumwolle einmal in Hamburg oder Bremen etwas billiger notiere als in Liverpool. Dies seien aber nur „Conjunctur- und Ausnahmefälle“. Normalerweise gehe ein günstigerer Preis auf Kosten der Qualität. 30 Jahre später, am Beginn der 1890er Jahre, konstatierte der Wirtschaftspublizist Rudolf Martin, die Abhängigkeit der deutschen Spinnerei vom Baumwollmarkt Liverpool sei „längst verschwunden“. Es gebe nun keine Baumwollmarke mehr, die man in Liverpool regelmäßig billiger kaufe als anderswo.175 In Deutschland hatte mittlerweile die Hansestadt Bremen den alten Rivalen Hamburg als wichtigsten Handelsplatz für amerikanische Baumwolle abgelöst. 1872 hatten die Bremer Kaufleute eine Baumwollbörse ins Leben gerufen, die seit 1887 als nationale Institution firmierte und an deren Trägerverein sich auch sächsische Baumwollkaufleute und Spinner beteiligten. Allerdings erlangte Bremen als Baumwollmarkt nie auch nur annähernd die Bedeutung Liverpools und New Yorks. Der Preisbildung an diesen Handels- und Börsenplätzen konnte sich auch der deutsche Baumwollhandel nicht entziehen.176 Die rasante Verdichtung des globalen Verkehrs- und Kommunikationsnetzes nach der Mitte des 19. Jahrhunderts ermöglichte es den sächsischen Baumwollspinnereien zudem, ihren Rohstoffbedarf in den Anbauländern selbst zu decken. Schon Mitte der 1870er Jahre vermerkten die Jahresberichte der Chemnitzer Handels- und Gewerbekammer, die Spinnereien würden Baumwolle nun überwiegend direkt aus Amerika und Indien importieren. Die Chemnitzer Baumwollhandelsgeschäfte übernahmen zunehmend Vermittlungsfunktionen als Agenten und Kommissionäre. Selbst in den kleineren Städten Südwestsachsens entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine kommerzielle Infrastruktur, die es den örtlichen Spinnereiunternehmen ermöglichte, ihre Rohbaumwolle direkt aus den über174 Vgl. Benndorf, Beziehungen, S. 116 f.; Martin, Aufschwung, S. 39 ff.; Brown Competition, S. 501. 175 Sächsische Industrie-Zeitung Nr. 31, 2.8.1861, S. 369; Martin, Aufschwung, S. 43 f. 176 Vgl. Benndorf, Beziehungen, S. 106 f. 112; Martin, Aufschwung, S. 16; Jahresbericht HK Chemnitz 1888, S. 260 f.; Schmölder, Bedeutung, S. 51; Lochmüller, Bedeutung, S. 7 f.
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seeischen Anbaugebieten zu beschaffen. So konnten etwa die Crimmitschauer Vigognespinner Baumwolle um 1890 ohne weiteres direkt aus New Orleans beziehen. Sie bedienten sich dazu der Vermittlung eines der vielen am Ort residierenden Agenten von Handelshäusern aus der Hafenstadt an der Mississippimündung.177 Den Kostenvorteil, die der Direktimport unter Ausschaltung des Zwischenhandels den sächsischen Spinnereien einbrachte, war allerdings mit erheblichen Risiken verbunden. Lange Lieferfristen bargen die Gefahr, dass ein zwischenzeitlicher Konjunkturwechsel zu Verlusten führte – wenn nämlich zu teuer oder über den tatsächlichen Bedarf hinaus eingekauft worden war. Die Chemnitzer Handelskammer listete 1888 einen ganzen Katalog Transaktionsrisiken auf, die mit dem Direktimport von Baumwolle aus Übersee für die sächsischen Spinner verbunden waren: Die Käufer hätten keine Gewähr, tatsächlich diejenigen Qualitäten zu bekommen, die sie geordert hatten. Sie seien oft „gezwungen, mit Firmen Geschäfte abzuschließen, welche ihnen nicht die nothwendige Zuverlässigkeit dafür bieten, daß sie auch überhaupt liefern, was sie kontrahirt haben. Solche Firmen gerichtlich in Amerika oder Indien zur Verantwortung zu ziehen, ist erfahrungsgemäß ganz fruchtlos und sehr theuer.“
Zudem würden Direktimporte unverhältnismäßig viel Kapital in Anspruch nehmen, das gewiss viel vorteilhafter verwendet werden könnte. Auch habe man die Erfahrung gemacht, „daß amerikanische Verschiffer in ganz unverantwortlicher Weise mit der gepackten Baumwolle umgehen. Schiffseigner, sowie Versicherungs-Gesellschaften weisen jede Verantwortung für derartige am Lande beschädigte Baumwolle zurück, und der amerikanische Verschiffer versteckt sich gern hinter seinen Charakter als Kommissionär oder sonst einer Ausrede, wenn er es überhaupt für die Mühe werth hält, auf eine Reklamation zu antworten, nachdem er bezahlt ist.“178
Aus dieser Perspektive erscheint der Direkteinkauf der sächsischen Spinnereien in den Anbaugebieten eher als suboptimale, durch den Mangel an Alternativen eingeschlagene Strategie. Insgesamt betrachtet konsolidierte sich die sächsische Baumwollspinnerei nach den Krisen der 1860er und 70er Jahre wieder. Seit Mitte der 1890er Jahre vermehrten sich ihre Produktionskapazitäten im Zuge des allgemeinen Wachstumsbooms in durchaus eindrucksvoller Weise. Noch 1892 lag die Zahl der Baumwollfeinspindeln im Königreich Sachsen bei 725.000 und damit auf einem schon in den frühen 1860er Jahren erreichten Niveau. Sechs Jahre später hatte die Spindelzahl bereits die Millionengrenze überschritten und 1909 war sie auf mehr als 1,5 Millionen angewachsen. Die Anzahl der Spinnereien hatte sich dagegen nur von 42 auf 52 erhöht, so dass auch die durchschnittliche Spindelzahl pro Betrieb deutlich gestiegen war, von 17.243 (1892) auf 29.092 (1909). Im innerdeutschen Vergleich nimmt sich aber das Wachstum der sächsischen Baumwollgarnindustrie weit weniger eindrucksvoll aus. Zwar hatte sich ihre relative Position am Beginn der 90er Jahre 177 Vgl. Martin, Aufschwung, S. 44. 178 Jahresbericht HK Chemnitz 1888, S. 260.
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wieder etwas gehoben. Die Baumwollspinnereien im Königreich Sachsen verfügten 1892 über 15,8 Prozent aller im Deutschen Reich gehenden Spindeln. 1875 waren es nur noch 12,3 Prozent gewesen. Dabei blieb es aber dann auch in den folgenden beiden Jahrzehnten. Die Größenstruktur der sächsischen Baumwollspinnerei lag weiterhin deutlich unter dem Reichsdurchschnitt: 1909 machte diese Kluft ziemlich genau 10.000 Spindeln pro Betrieb aus.179 Die Vigognespinnerei Der relative (und phasenweise absolute) Rückgang der Baumwollspinnerei in Sachsen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts steht in einem erstaunlichen Kontrast zur Erfolgsgeschichte eines anderen, in der Hauptsache Baumwolle verbrauchenden Zweigs der sächsischen Spinnereiindustrie. Um 1850 hatten die Streichgarnspinnereien in den westsächsischen Wollindustriestädten Crimmitschau und Werdau damit begonnen, in verstärktem Maße melierte Garne zu fertigen, die als „Vigogne“ in den Handel kamen. Der Zusatz der vergleichsweise billigen Baumwolle erbrachte für die Spinnereien eine beträchtliche Kostenersparnis. Die Materialeigenschaften der Vigognegarne ähnelte denen weicher, „wolliger“ Streichgarne immerhin soweit, dass sie zu ähnlichen Stoffen wie diese verarbeitet werden konnten. Es wurden zunehmend höhere Anteile an Baumwolle versponnen, schließlich auch rein baumwollenes Gespinst als Vigogne angeboten. 1861 übertrafen die Spindelkapazitäten der Vigognespinnerei in Sachsen bereits die der reinen Streichgarnproduktion: 125 Spinnereibetriebe mit zusammengenommen fast 125.000 Spindeln stellten nur Vigognegarn her gegenüber 122 reinen Streichgarnspinnereien mit etwa 121.500 Spindeln. Dazu kamen noch 46 Spinnmühlen, die beiderlei Garne verspannen.180 Bald löste sich die Crimmitschauer und Werdauer Vigognespinnerei aus ihrem funktionalen und betrieblichen Zusammenhang mit der örtlichen Streichgarnindustrie. Zunächst waren die Vigognegarne in der westsächsischen Wollweberei selbst verwendet worden, etwa für die in den 1850er Jahren stark nachgefragten Cassinets. Letztlich waren sie aber ein Ersatzstoff, der den daraus gefertigten Geweben möglicherweise das äußere Ansehen weicher Wollstoffe gab, nicht aber die Haltbarkeit und Qualität echt wollener Artikel. Für Tuche war das Vigognegarn gar nicht und für die Domäne der Crimmitschauer Wollweberei, die Buckskins, allenfalls bedingt geeignet. Die Vigognespinnerei blieb zwar weiterhin im Raum Werdau-Crimmitschau ansässig und siedelte sich nur vereinzelt anderswo in Sachsen an. Doch sie produzierte bald ganz überwiegend für den Bedarf anderer Reviere. Im gleichen Maße gaben auch die Lohnspinnereien und die Spinnbetriebe, die als Teil eines horizontal integrierten Unternehmens mit einer Weberei verbunden waren, die Herstellung dieser melierten Garne auf. Die Vigognegarnherstellung wurde 179 Vgl. die Angaben in: 50 Jahre sächsische Volkswirtschaft, S. 41; Niess, Baumwoll-Spinnerei, S. 53; Sarfert, Vigognespinnerei, S. 47. Siehe Tabelle 5 im Anhang. 180 Vgl. Sarfert, Vigognespinnerei, S. 8 f., 24 f., 35 f. Richter, Crimmitschau, S. 77.
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zum Geschäft von Betrieben, die auf eigene Rechnung arbeiteten und ihre Erzeugnisse außerhalb ihres unmittelbaren regionalen Umkreises vermarkteten.181 Zu den Abnehmern der Vigognegarne gehörte etwa die sächsische Buntweberei in Glauchau und Meerane, ebenso die erzgebirgische Strumpfwirkerei. In der Oberlausitz wurde reinbaumwollenes Vigognegespinst zu billigen Hosenstoffen verwebt. Auch ins Rheinland und nach Bayern gingen die Mischgarne aus Crimmitschau und Werdau in größeren Mengen. Im Laufe der 1860er Jahre verschob sich der Schwerpunkt des Vigogne-Absatzes aber zum Export ins europäische Ausland. Vor allem nach Großbritannien gingen viele dieser Garne. Phasenweise wurde das Gros der sächsischen Produktion in den englischen Wollwebereirevieren in West Yorkshire verbraucht. Rund zwei Jahrzehnte lang genoss die Crimmitschauer und Werdauer Vigognespinnerei eine weltweite Monopolstellung. Erst in den 1870er Jahren wurde außerhalb Sachsens solches Garn in nennenswerten Mengen hergestellt. Zunächst machten sich die westsächsischen Firmen selbst Konkurrenz, indem sie in Polen und Böhmen Spinnereien gründeten, um die russischen und österreichischen Einfuhrzölle zu umgehen. Seit den 80er Jahren wurde Vigognegarn dann auch im Rheinland, in West Yorkshire, in Belgien und anderen Standorten und Revieren gesponnen.182 Bis mindestens zur Jahrhundertwende behielt die sächsische Vigognespinnerei ihre Marktführerschaft, wenn auch der zunehmende Protektionismus der europäischen Nachbarstaaten den Garnexport erschwerte. In den 1880er und 90er Jahren wurden wohl gut die Hälfte der Crimmitschauer und Werdauer Produktion exportiert, wovon wiederum gewöhnlich der Löwenanteil ins zollfreie England ging. Erst nach der Jahrhundertwende ging der Auslandsabsatz merklich zurück. Der Ausfall konnte aber offenbar auf dem reichsdeutschen Binnenmarkt kompensiert werden. Trotz ihrer räumlichen Beschränkung auf nur zwei benachbarte Städte und deren unmittelbare Umgebung erreichte die sächsische Vigognespinnerei erstaunliche Produktionskapazitäten, die sie zeitweise fast an die Größe der Baumwollspinnerei des Landes heranbrachten. 1892 liefen in Sachsen etwa 575.000 Spindeln auf Vigogne. Bis zum Ende des Jahrzehnts erhöhte sich diese Zahl noch einmal um 200.000 Spindeln, um dann bis 1914 auf diesem Niveau zu bleiben.183 Die Entwicklung der Werdauer und Crimmitschauer Vigognespinnerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirft die Frage auf, warum denn die Unternehmer dieser Branche der Garn erzeugenden Industrie soviel erfolgreicher agieren konnten als die sächsischen Baumwollspinner. Die Vigognegarnhersteller arbeiteten ja überwiegend mit dem gleichen Rohstoff. Und gerade hier schlugen die Transportkosten relativ stark zu Buche, denn die verwendete Baumwolle war im allgemeinen geringwertig. Sie kam offenbar überwiegend aus Indien und legte auf ihrem Weg über Triest oder holländische und belgische Häfen längere Strecken auf der Schiene zurück. Zudem wurde das in Werdau und Crimmitschau gefertigte Vigogne 181 Vgl. Sarfert, Vigognespinnerei, S. 34 f. 182 Vgl. ebd., S. 34,37 ff.; Jahresbericht HK Plauen 1862/63, S. 148; ebd. 1880, S. 189 f.; ebd. 1886, S. 75. 183 Vgl. Sarfert, Vigognespinnerei. S. 39, 47, 67 f.
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– anders als sächsisches Baumwollgarn – ganz überwiegend außerhalb der Region vermarktet. Es gab demnach sicher verkehrstechnisch günstigere Standorte für eine solche Industrie als die beiden westsächsischen Städte. Auch ein Vergleich der mittleren Betriebsgrößen spricht eigentlich nicht unbedingt für eine betriebswirtschaftliche Überlegenheit der Vigognespinnerei. 1892 verfügte ein solcher Betrieb in Sachsen im Durchschnitt über 5.182 Spindeln. Das war weniger als ein Drittel der durchschnittlichen Kapazität einer sächsischen Baumwollspinnerei zum gleichen Zeitpunkt. Hier machte sich allerdings ein wesentlicher betriebstechnischer Unterschied zwischen beiden Branchen geltend. Vigognegarn wurde mit den Methoden und Maschinen der Streichgarnspinnerei erzeugt. Solche Spinnereien benötigten einen wesentlich kleineren Maschinenpark als die Baumwollgarnfabriken, die im späteren 19. Jahrhundert mit Sets von 20 bis 25 hintereinander gekoppelten Vorspinn- und Feinspinnmaschinen arbeiteten. Eine Vigognespinnerei konnte daher schon mit einer viel kleineren Produktionskapazität rentabel betrieben werden als eine Baumwollspinnerei.184 Die Wettbewerbsposition der sächsischen Vigognespinner dürfte zu einem nicht geringen Teil darauf zurückzuführen sein, dass sie diese produkttechnische Innovation hervorbrachten und über einen genügend langen Zeitraum exklusiv nutzen konnten. In gewisser Weise entwickelte sich dadurch eine umgekehrte Konstellation wie in der Baumwollspinnerei. Die Pioniere waren in diesem Falle die sächsischen Garnproduzenten, die jahrzehntelang ihre Erzeugnisse in großen Quantitäten in den englischen Webereibezirken absetzten. Die Vigognespinnereien, die schließlich vor allem in Huddersfield (West Yorkshire) entstanden, mussten einen Rückstand aufzuholen, bevor sie selbst vor der eigenen Haustür wettbewerbsfähig werden konnten. Die Fabrikanten und Arbeiter(innen) der Werdauer und Crimmitschauer Vigognespinnerei hatten nämlich in den zwei bis drei Jahrzehnten ihres Monopols beträchtliches betriebstechnisches Know-How akkumuliert, das anderswo nicht ohne weiteres verfügbar war. Die frühe räumliche Konzentration brachte Agglomerations- und Synergieeffekte hervor. Potenzielle Garnkäufer fanden in Crimmitschau und Werdau die größte Auswahl. Eine auf die Bedürfnisse der Branche zugeschnittene kommerzielle Infrastruktur – spezialisierte Kreditinstitute, zahlreiche am Ort residierende Agenten und Kommissionäre von Zulieferern und Kunden usw. – erleichterte den dort ansässigen Firmen das Geschäft und zog neue Betriebe an. Selbst eine auf die Konstruktion, Herstellung und Reparatur von Vigognespinnmaschinen spezialisierte Maschinenbaubranche hatte sich in Werdau und Crimmitschau entwickelt.185 Die Wollmärkte Für die Wollgewerbe resultierte der Globalisierungsschub nach der Mitte des 19. Jahrhunderts in einen grundlegenden Wandel ihrer Rohstoffversorgung. Bislang war der Grundstoff Schafwolle, den die sächsischen Streich- und Kammgarnspin184 Vgl. ebd., S. 47, 52 f., 97 f. 185 Vgl. ebd., S. 69, 98–102.
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nereien verarbeiteten, vornehmlich in Mitteleuropa, nicht zuletzt in Sachsen selbst, gewonnen worden. Seit den 1820er Jahren waren aber in den gemäßigteren Zonen der südlichen Hemisphäre – in Australien und Neuseeland, in Südafrika, in Argentinien und Uruguay – riesige Weidegebiete für die Schafzucht neu erschlossen worden. Die Verdichtung des Seehandelsverkehrs gab dieser in großem Stil betriebenen Wollproduktion zusätzlichen Auftrieb. Die Zufuhr preiswerter überseeischer Wolle verdrängte die europäischen Rohwollerzeuger zusehends von ihren angestammten Märkten. Am schnellsten vollzog sich dieser Prozess in Großbritannien, wo noch 1840 das bei weitem größte Kontingent importierter Schafwolle aus den deutschen Staaten gekommen war. Schon zehn Jahre später hatte sich der Gesamtwert der aus Deutschland eingeführten Schafwolle auf weniger als die Hälfte vermindert, während sich die Zufuhr australischer Wolle im gleichen Zeitraum vervierfacht hatte. Dieser Prozess spiegelt sich nicht zuletzt in der Entwicklung der sächsischen Merinoschafzucht während des 19. Jahrhunderts. Der um 1800 geschätzte Bestand von zwei Millionen Schafen in Sachsen war schon durch die Gebietsabtrennungen von 1815 und eine Viehseuche in den 1830er Jahren dezimiert worden. 1864 zählte die sächsische Landesstatistik nur noch etwas mehr als 360.000 Schafe. 1873 waren es noch 207.000, im Jahr 1900 weniger als 75.000 Schafe, die nun wohl eher wegen ihres Fleisches als wegen der „Elektorenwolle“ gehalten wurden.186 Die Zufuhr großer Quantitäten überseeischer Schafwolle beseitigte zwar die Versorgungsengpässe in der europäischen Wollspinnerei und ermöglichte eine weitere Expansion der Wollgarn verarbeitenden Gewerbe. Die sächsische Wollspinnerei und indirekt auch Teile der Weberei beraubte diese Entwicklung aber eines Vorteils, den sie gegenüber ihrer britischen und französischen Konkurrenz bislang genossen hatten: die Versorgung mit Rohstoffen aus dem eigenen Land. Das Gros der überseeischen Schafwolle, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Europa gelangte, stammte aus britischen Kolonialgebieten: der Kapprovinz, Australien und Neuseeland. Ihr zentraler Handelsplatz war London. Allerdings erlangte die britische Hauptstadt für den europäischen Wollimport nie den Stellenwert, den Liverpool für die Baumwolle seit dem späten 18. Jahrhundert inne hatte. Schafwolle aus den La-Plata-Staaten wurde überwiegend in kontinentaleuropäischen Hafenstädten gelöscht. Zum wichtigsten Umschlagplatz für südamerikanische Wolle entwickelte sich das belgische Antwerpen.187 Die Attraktion der großen Wollmarktplätze London und Antwerpen lag für die Einkäufer in der großen Auswahl der angebotenen Rohwollen und der Konkurrenz unter den Verkäufern. Vor allem die großen Auktionen nach den Wollschuren gaben die Preise der Saison vor, nach denen sich auch andere, kleinere Marktplätze richten mussten. Bis zur Reichsgründung kauften Wollgroßhändler wie Garnindustrie ihren Bedarf an überseeischen Rohwollen auf den Stapelplätzen London und Antwerpen. Seit den frühen 1870er Jahren wurden aber beträchtliche Mengen an La-Plata-Wollen direkt nach Deutschland, vor allem auf Rechnung Bremer, Hamburger und Ber186 Vgl. Hudson, Limits, S. 332; Jenkins/Ponting, Industry, S. 95; Kiesewetter, Industrialisierung, S. 245; 50 Jahre sächsische Volkswirtschaft, S. 30. 187 Vgl. Senkel, Wollproduktion, S. 65; Centralblatt Textil-Industrie Nr. 43, 1.1.1874, S. 690.
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liner Großhändler eingeführt. Der Einkauf im Erzeugerland lief offenbar relativ problemlos über Wollkommissionsfirmen in Buenos Aires und Montevideo, die schon bisher die französischen und belgischen Importeure bedient hatten. Bald schickten die am La Plata ansässigen Handelshäuser auch ihre Vertreter nach Bremen und Hamburg. Zu Beginn der 1880er Jahre konstatierte die Handels- und Gewerbekammer Plauen, es habe sich „ein so flotter und angenehmer Verkehr herangebildet, dass die Beziehungen zu den Laplatastaaten kaum etwas zu wünschen übrig lassen“. Schwieriger gestaltete sich allerdings der Direktbezug von Schafwolle aus den britischen Kolonien. Es erscheine, so fuhr der Plauener Handelskammerbericht fort, nach den bisherigen Erfahrungen fast unmöglich, sich von den zwischen England und den australischen Kolonien bestehenden engen Verhältnissen zu emanzipieren.188 Die deutschen Importstatistiken deuten aber darauf hin, dass die direkte Einfuhr in den folgenden beiden Jahrzehnten auch aus den britischen Kolonien einfacher geworden ist – obgleich die meiste Rohwolle um die Jahrhundertwende immer noch aus Südamerika kam.189 Die Hansestadt Bremen entwickelte sich seit den 1880er Jahren zum bedeutendsten deutschen Marktplatz für Überseewollen. Allerdings kauften größere Spinnereien und Wollkämmereien schon seit den 1870er Jahren einen Teils ihres Bedarfs direkt in den Erzeugerländern ein. Dies gilt wohl auch für die sächsischen Unternehmen der Wollspinnerei. So notierte der Plauener Handelskammerbericht für 1889, die direkten Bezüge überseeischer Wolle hätten eine ziemliche Zunahme erfahren. Zugleich verwies der Bericht auf die damit für die heimischen Spinnereien, Kämmereien und Wollhandlungen verbundenen Risiken, „hinsichtlich des Ausfalls der lediglich auf Vertrauensauftrag hin gekauften Ware, der während des langen Transportes zu tragenden Konjunkturchancen u. s. w.“190 Die mittleren und kleineren Spinnereifabrikanten deckten ihren Bedarf noch um 1870 auf den nahe gelegenen sächsischen und thüringischen Wollmärkten oder wurden von den im Revier ansässigen Wollhändlern versorgt. Zunehmend gaben aber auch sie ihre Bestellungen bei den immer zahlreicher in Crimmitschau, Reichenbach, Kirchberg und anderswo im sächsischen Textilgürtel auftretenden Agenten der Londoner, Antwerpener oder hansestädtischen Wollhandelshäuser auf. Die heimischen Wollgrossisten gaben nun den „Propre-Handel“ überwiegend auf und beschränkten sich auf Vermittlungsfunktionen. Mitte der 1880er Jahre konstatierte die Plauener Handels- und Gewerbekammer, von einem Wollhandel könne jetzt keine Rede mehr sei. Der Handel sei „zu einem reinen Kommissionsgeschäft herabgesunken“.191
188 Jahresbericht HK Plauen 1882, S. 75 f. 189 Vgl. Senkel, Wollproduktion, S. 77, Tabelle 24. 190 Jahresbericht HK Plauen 1889, S. 116 f. Vgl. ebd, 1881, S. S. 120; Senkel, Wollproduktion, S. 69 f., 83. 191 Jahresbericht HK Plauen 1885, S. 97; vgl. ebd., 1868, S. 155 f.
5.3 Die Garnindustrie zwischen Freihandelsära und Schutzzollpolitik
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Die Streichgarnspinnerei Die Folgen der grundlegenden Verschiebung der Rohstoffbasis lassen sich angesichts der sehr heterogenen Struktur der sächsischen Wollspinnerei letztlich nur in einer differenzierten Betrachtung abschätzen. Gerade die sächsische Streichgarnspinnerei hatte bereits im Vormärz sehr diverse Strukturen entwickelt, sowohl, was ihre räumliche Verbreitung als auch ihre betriebsorganisatorische Ausrichtung betrifft. Ein Teil dieser Spinnereien gehörte zu Betrieben, die eine Reihe weiterer Produktionsstufen integriert hatten und die daher ihre Garne nicht vermarkteten. Es gab in der Streichgarnbranche zudem relativ viele Lohnspinnereien, die an manchen Standorten (wie etwa in Reichenbach) für größere Spinnereien arbeiteten, an anderen (wie in Kirchberg) aber die örtlichen Tuchmachermeister versorgten. Insgesamt war diese Form der Garnproduktion in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts rückläufig, was wohl nicht zuletzt mit dem Niedergang der handwerklichen Tuchmacherei seit den 1870er Jahren zu tun hatte. In Crimmitschau und Werdau entwickelten sich Mischformen zwischen Lohn- und integrierter Spinnerei. Hier teilten sich oft eine größere oder kleinere Anzahl von Webfabrikanten eine gemeinsame Spinnerei. Nur ein kleinerer Teil der sächsischen Streichgarnspinnereien produzierte auf eigene Rechnung für den Markt. Die Standorte solcher Verkaufsspinnereien konzentrierten sich im Ende der 1860er Jahre fast ausschließlich im nördlichen Vogtland und den angrenzenden Gebieten.192 Anders als die kriselnde Baumwollspinnerei konnte die sächsische Streichgarnspinnerei ihren innerdeutschen Rang in den Jahrzehnten nach der Mitte der 19. Jahrhunderts deutlich verbessern. Ihr prozentualer Anteil an der deutschen Gesamtspindelkapazität wuchs zwischen 1847 und 1875 von 13 auf 31 Prozent. Allerdings ging diese bemerkenswerte Steigerung vor allem auf das Konto der Vigognespinner, die in zeitgenössischen Statistiken gewöhnlich der Streichgarnbranche zugeschlagen wurden. In den 1860er Jahren machte die sächsischen Streichgarnspinnerei einen raschen Modernisierungsschub durch. Noch Ende 1863 wurden 52 der 75 Streichgarnspinnereien des Plauener Handelskammerbezirks ausschließlich durch Wasserkraft angetrieben. Dabei waren die Bedingungen zur Anlage von Wasserradund Turbinenanlagen in den südwestsächsischen Wollrevieren vergleichsweise ungünstig. Nur eine der 52 Streichgarnspinnmühlen ohne Dampfkraft lag an der Zwickauer Mulde, die auch im Sommer noch über ausreichend Treibwasser verfügte. Alle anderen waren an kleineren Flussläufen angelegt worden und befanden sich in trockenen Sommern in „einer starken Wasserklemme“. Auch war in den frühen 1860er Jahren noch keine sächsische Streichgarnspinnerei mit Selfaktoren ausgerüstet.193 Beides sollte sich in den folgenden Jahren grundlegend ändern. Bereits 1864 verkündete die Chemnitzer Handels- und Gewerbekammer, die Spinnmaschinenhersteller hätten neuerdings den Bau von Selfaktoren für die Streichgarnspinnerei aufgenommen und schon eine nicht geringe Anzahl von diesen gefer192 Vgl. ebd. 1862/63, S. 149; ebd. 1868, S. 144 f., 156; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 46. 193 Vgl. Blumberg,Textilindustrie, S. 297; Jahresbericht HK Plauen 1862/63, S. 140 f. (Zitat: S. 141); Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 45.
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tigt, „wie überhaupt dessen weitere Verbreitung und Anwendung noch längere Zeit Beschäftigung bieten wird.“ 1868 liefen bereits gut 12 Prozent der Streichgarnspindeln im westsächsischen Revier auf Selfaktor-Spinnmaschinen. Im gleichen Jahr verfügten rund 85 Prozent der Streichgarnspinnereien des Plauener Handelskammerbezirks über Dampfmaschinenantrieb.194 Die sächsischen Streichgarnspinner hielten vergleichsweise lange an ihrer gewohnten Rohmaterialbasis fest, den sächsischen, schlesischen und brandenburgischen Wollen, oft auch kurzfaseriger Abgang der Kammgarnherstellung, sog. „Kämmlinge“. Auch die Wiederaufbereitung von Stoffabfällen zu „Kunstwollgarnen“ besserer oder schlechterer Qualität (Shoddy bzw. Mungo), verbreitete sich zunehmend in der Crimmitschauer, Reichenbacher und Kirchberger Streichgarnspinnerei. Erst nach 1870 gingen die südwestsächsischen Streichgarnspinner allmählich dazu über, die deutsche Rohwolle durch überseeische, vor allem Buenos Aires-Wollen, zu ersetzen.195 Ihren Absatz fanden die Verkaufsspinnereien des vogtländisch-westsächsischen Streichgarnreviers überwiegend in der Region und den angrenzenden böhmischen, bayerischen und thüringischen Nachbargebieten. Ein Teil der Produktion blieb im Revier selbst und fand in den Tuch-, Flanell- und Buckskin-Webereien Verwendung. Auch die Kleiderstoffweberei von Glauchau und Meerane und die Strumpfwirkerei in Chemnitz, Limbach und in Apolda (Thüringen) nahm Streichgarne aus Kirchberg, Lengenfeld oder Reichenbach ab. Konkurrenz machte den südwestsächsischen Streichwollspinnern vornehmlich die belgische Spinnerei, vor allem im Revier um Verviers zwischen Lüttich und Aachen, die in größerem Stil Streichgarne produzierte und diese in andere europäische Reviere exportierte. Die Belgier profitierten nicht zuletzt von der räumlichen Nähe zu den großen Wollumschlagplätzen Antwerpen und Le Havre.196 Besonders drückend machte sich diese Konkurrenz bemerkbar, wenn die belgischen Streichgarnspinnereien in Absatzkrisen ihre überschüssige Produktion auf den normalerweise von den südwestsächsischen Verkaufsspinnereien versorgten regionalen Markt warfen. Nach dem Einsetzen der „Gründerkrise“ reihten sich daher bald auch die sächsischen Streichgarnspinner in den Chor derer ein, die über einen unzureichenden Zollschutz klagten. Die 1879 angehobenen Streichgarnzölle fanden die sächsischen Spinner zunächst viel zu niedrig, um die belgische Konkurrenz wirksam auszuschalten. Die Belgier könnten um 15–20 Pfennig pro Kilo billiger produzieren, während der Zoll nur etwa die Hälfte dieses Betrags ausmache. Zudem werde der Effekt der deutschen Zollerhöhungen größtenteils aufgehoben, da auch Österreich wieder zum verschärften Protektionismus übergegangen und 194 Jahresbericht HK Chemnitz 1864, S. 91; vgl. Jahresbericht HK Plauen 1868, S. 148; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 45. 195 Vgl. Buttler, Textilindustrie, S. 7; Maschner, Weberei, S. 135 f.; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 46 f.; Jahresbericht HK Plauen 1862/63, S. 146; ebd. 1871, S. 243; allgemein: Jenkins/Ponting, Industry, S. 98. 196 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1862/63, S. 142, 148 f.; Jahresbericht HK Chemnitz 1867, S. 26 f.; Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 8, 25.2.1869, S. 71; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 47 f.
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daher der Vertrieb sächsischer Streichgarne über die böhmische Grenze zusammengebrochen sei. Um so mehr würde sich nun Gespinst aus heimischer und belgischer Produktion auf dem dadurch verengten mitteldeutschen Markt drängen. Mit dem Wiederaufleben der Konjunktur in den Garn verarbeitenden Industrien wurden solche Klagen aber wieder leiser.197 Die Kammgarnspinnerei Die Unterschiede zwischen der Streich- und der Kammgarnspinnerei, die sich seit ihrer Maschinisierung im Vormärz ausgeprägt hatten, blieben cum grano salis auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestehen. Zum Einen waren die Kammgarnspinnereien ganz überwiegend unabhängige Unternehmen, die kaum mit weiterverarbeitenden Betrieben verbunden waren. Selbst die der Spinnerei vorgelagerten Produktionsstufen – wie das Kämmen – hatten sie oft ausgelagert. Zum Anderen waren die Kammgarnfabriken im Schnitt deutlich größere Betriebe als die Streichgarnspinnereien. In den 15 Jahren nach 1846 verdoppelte sich die durchschnittliche Spindelkapazität einer sächsischen Kammgarnspinnerei in etwa. Die Zahl der Betriebe nahm in diesem Zeitraum von 39 auf 34 ab, während sich die Gesamtzahl an Feinspindeln von 53.177 auf 104.622 vermehrte. Im Laufe der 1860er und frühen 70er Jahre setzte sich der Aufschwung der sächsischen Kammgarnproduktion in beschleunigter Weise fort. Zunächst profitierte die Branche von der Baumwollkrise während des US-Bürgerkriegs und dem von ihr ausgelösten Boom der Wollweberei, der dann relativ nahtlos in die Hochkonjunktur der Reichsgründungszeit überging. Die günstige Geschäftslage erleichterte es den Spinnereiunternehmen, Kapital für die Modernisierung der Produktionsanlagen aufzubringen. Wie in der Streichgarnspinnerei vollzog sich auch hier der Übergang von der Wasser- zur Dampfkraft als vorherrschender Form des Antriebs. Der Einsatz von Selfaktor-Spinnmaschinen verbreitete sich.198 Noch eine dritte Schlüsselinnovation setzte sich in der Kammgarnspinnerei in den 1850er und 60er Jahren durch: Es standen nun endlich brauchbare Maschinen zum Kämmen der Wolle zur Verfügung. Die Leipziger Kammgarnspinnerei in Pfaffendorf ging 1853 ganz zur maschinellen Wollkämmerei über. In Schedewitz folgte man drei Jahre später, nachdem die Handkämmerei des Unternehmens samt ihres Geräteinventars abgebrannt war. Auch in Reichenbach und Mylau kamen in der ersten Hälfte der 1850er Jahre die neu entwickelten Kämmmaschinen zum Einsatz. 1861 zählte die amtliche Statistik 19 mechanische Kämmereien, die insgesamt 154 Maschinen einsetzten. Im Handelskammerbezirk Plauen, wo sich die meisten säch-
197 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1872–74, S. 249; ebd. 1875, S. 114 f.; ebd. 1876, S. 14; ebd. 1880, S. 191; ebd. 1881, S. 126; ebd. 1883, S. 78 f.; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 48. 198 Vgl. ZSBI 9, 1863, S. 24; Dietel, Kammgarnspinnerei, S. 20, 45; Jahresbericht HK Chemnitz 1865, S. 158.
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sischen Kammgarnfabriken niedergelassen hatten, stellte die letzte Handkämmerei 1865 den Betrieb ein.199 Zwar unterhielten größere Kammgarnspinnereien, wie die in Schedewitz oder das Pfaffendorfer Unternehmen, auch weiterhin eigene Kämmereien. Doch prägte sich in den folgenden Jahren die Wollkämmerei als eigene, von der Spinnerei unabhängige Branche aus, die entweder gegen Lohn oder auf eigene Rechnung arbeitete. Die Kämmereibetriebe sortierten und säuberten die Wolle von Schmutz und Fett, kämmten sie aus und lieferten die „Kammzüge“ an die Spinnereien. Waren die meisten der sächsischen Wollkämmereien kleinere und mittlere Unternehmen, so wurde diese Branche bald von Großbetrieben dominiert, die sich meist in räumlicher Nähe zu den Einfuhrhäfen Antwerpen, Le Havre, Bremen und Hamburg ansiedelten. In diese Kategorie fiel auch die 1872 als Aktiengesellschaft gegründete Leipziger Wollkämmerei, die ihren Betrieb im Vorort Mockau mit 300 Arbeitern aufnahm und ihn bis Anfang der 1890er Jahre auf rund 1700 Beschäftigten ausbaute. 1886 erwarb die Leipziger Wollkämmerei eine große Kämmerei in Hoboken bei Antwerpen und eröffnete 1890 ein weiteres, neu gebautes Zweigwerk in Hamburg.200 Wie die anderen Sparten der sächsischen Spinnerei – mit Ausnahme der Vigognebranche – produzierten auch die Kammgarnspinner ganz überwiegend für den regionalen Markt. In den 1860er und frühen 1870er Jahren wurden die südwestsächsischen Kammgarne in den nahe gelegenen Webereirevieren im Raum Reichenbach/Mylau/Netzschkau und jenseits der thüringischen Grenze in Gera und Greiz verbraucht, ebenso in der Kleiderstoffweberei von Glauchau und Meerane sowie in der Strumpf-, Handschuh- und Trikotagenwirkerei des Chemnitzer Reviers. Zudem nahmen die Webereien in Apolda in Thüringen und in Berlin sächsische Kammgarne ab. Ein kleinerer Teil der Produktion ging ins außerdeutsche Ausland, nach Böhmen und nach Russland. An der Aufteilung des sächsischen Absatzmarktes zwischen der heimischen und der britischen Kammgarnherstellern änderte sich auch nach 1850 zunächst nichts Grundlegendes. Die sächsischen Garnfabriken verspannen nach wie vor kurzstapelige Merinowollen zu „weichen“ Gespinsten, während die Weberei in Glauchau, Meerane, Chemnitz und Zittau immer noch in großen Mengen „harte“ Kammgarne verbrauchte, die ganz überwiegend aus Yorkshire importiert wurden. Der Übergang von den mitteleuropäischen Rohwollen zu der aus Übersee eingeführten Wolle veränderte an dieser Marktkonstellation bemerkenswert wenig. Die in Sachsen verwendete Merinowolle kam nun zunehmend aus Südamerika und Australien. Grundsätzlich hätten die sächsischen Kammgarnspinner nun genauso gut über London oder Antwerpen langstapelige Cross199 Vgl. Wolf, Kammgarnspinnerei, S. 97; 100 Jahre Schedewitz, S. 55 f.: Jahresbericht HK Plauen 1862/63, S. 131; ZSBI 9, 1863, S. 24; Dietel, Kammgarnspinnerei, S. 17. Vgl. auch Honeyman/ Goodman, Integration, S. 44, zur zeitlich parallelen Entwicklung in der nordfranzösischen Kammgarnindustrie. 200 Vgl. Oppel, Textilindustrie, S. 86 ff.; Leipoldt, Reichenbach, S. 233; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 60 f.; Beiträge Betriebsgeschichte Wollkämmerei, S. 5 ff., 15; Dietel, Kammgarnspinnerei, S. 54; Juckenburg, Großindustrie, S. 68–71.
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bred-Wollen beziehen können. Offensichtlich waren sie aber in der Domäne des Bradforder Reviers, den harten, glänzenden Kammgarnen, selbst auf den näheren Absatzmärkten immer noch nicht wettbewerbsfähig.201 Auf ihrem eigenen angestammten Terrain mussten sich die sächsischen Kammgarnhersteller seit Mitte der 1860er Jahre zudem mit wachsender ausländischer Konkurrenz auseinandersetzen. Die Baumwollkrise während des amerikanischen Bürgerkrieges bescherte den Wollspinnereien zwar volle Auftragsbücher. Doch konnten die sächsischen Spinnfabriken die plötzlich gesteigerte Nachfrage bald nicht mehr decken, so dass ihre Abnehmer seit 1863 zunehmend französisches Kammgarn verbrauchten. Nachdem sich mit dem Ende der „Baumwollnot“ die Nachfrage nach Kammgarn wieder auf einen Normalzustand eingependelt hatte, ließen sich die französischen Spinnereien nicht so einfach aus ihren neu gewonnenen Absatzgebieten in Sachsen und Thüringen verdrängen. Zwei günstige Umstände kamen ihnen dabei zustatten. Zum Einen waren die mitteldeutschen Zollvereinsstaaten 1864/65 dem preußisch-französischen Handelsvertrag beigetreten, so dass die deutschen Einfuhrzölle für Garn aus Frankreich gesenkt worden waren. Zum Anderen profitierten die Zentren der französischen Kammgarnspinnerei im Raum Roubaix und Tourcoing von ihrer geographischen Nähe zu den neuen großen Umschlagplätzen für Rohwollen aus Übersee, Le Havre und Antwerpen. Die sächsischen Kammgarnspinnereien selbst bezogen nun ihre Kammzüge oft aus Frankreich, was wiederum auf Kosten der selbständigen heimischen Wollkämmereien ging. Erst die deutschen Schutzzölle sorgten nach 1879 dafür, dass die Importe französischen Kammgarns und Kammzugs zurückgingen.202 Der erhöhte Zollschutz dürfte sicherlich dazu beigetragen haben, dass in Sachsen während der 1880er Jahre eine ganze Reihe groß angelegter Kammgarnspinnereien entstanden. Zwei der bedeutendsten Unternehmen wurden schon 1880 gegründet, beide bemerkenswerterweise an Standorten weit außerhalb der Textilreviere. Franz Dietel, bislang Teilhaber der von seinem Vater gegründeten Kammgarnspinnerei in Wilkau nahe Zwickau, und sein Schwager Felix Schmitt errichteten ihre neue Fabrik in Coßmannsdorf südwestlich von Dresden. Nicht allein die Nachbarschaft der Kohlengruben des „Plauener Grundes“ und das weiche Wasser der Weißeritz dürften Dietel & Schmitt zu ihrer Standortwahl bewogen haben, sondern vor allem auch die unmittelbare Nähe der Hafenanlagen an der Elbe. Überseeische Rohwolle und Kammzug aus den großen Antwerpener, Bremer und Hamburger Kämmereien konnten hier auf dem Wasserweg vergleichsweise kostengünstig herangeschafft werden.203 Im gleichen Jahr wie Dietel und Schmitt gründete Eduard Stöhr in Plagwitz, einem der Industrievororte im Westen Leipzigs, eine neue Kammgarnfabrik. Die verkehrsgünstige Lage, die Nähe zum Warenum201 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1862/63, S. 139; ebd. 1871, S. 224 f.; Viebahn, Statistik, S. 886; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 66 f.; Maschner, Weberei, S. 135, 138 f.; Jenkins/Ponting, Industry, S. 226 f.; Hansemann, Verhältnisse, S. 80. 202 Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1866, S. 151; ebd. 1867, S. 24 ff.; ebd. 1879/80, S. 131; ebd. 1881, S. 49; Dietel, Kammgarnspinnerei, S. 69 ff. 203 Vgl. Wolf, Spinnerei Coßmannsdorf, S. 77–80.
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schlagsplatz und Verkehrsknotenpunkt Leipzig, mag in diesem Fall ebenso eine Rolle bei der Standortwahl gespielt haben wie die Finanzkraft des Handelsbürgertums der Messestadt. Stöhr war zuvor Geschäftsführer einer großen Spinnerei in Eisenach gewesen und hatte in Leipzig „diejenigen Männer gefunden, die für seine weitblickenden Ideen Verständnis hatten“. Es war dies der gleiche Kreis von Investoren, der acht Jahre zuvor die Leipziger Wollkämmerei gegründet hatte und einige Jahre später die Finanzierung der Leipziger Baumwollspinnerei trug.204 Während die Coßmannsdorfer Spinnerei der einzig nennenswerte Betrieb der Branche im Dresdner Raum blieb, entwickelte sich Leipzig zu einem bedeutsamen Zentrum der sächsischen Kammgarnspinnerei. Am Beginn der 1890er Jahre gab es in der Messestadt und ihren Industrievororten vier große Spinnereien, allesamt als Kapitalgesellschaften organisiert.205 Für diese großen Spinnereien lag es angesichts großzügig ausgebauter Produktionskapazitäten nahe, ihren Absatzradius über den bisherigen regionalen Abnehmerkreis hinaus auszudehnen. Um 1900 exportierten die sächsischen Kammgarnspinnereien insgesamt mehr als zehn Prozent ihrer Fertigung ins europäische und selbst ins überseeische Ausland. Die Spinnerei Coßmannsdorf hatte mittlerweile in Ostasien Fuß gefasst und lieferte beträchtliche Mengen an Garn und Kammzug nach Japan. Eduard Stöhrs Interesse richtete sich in besonderem Maße auf den US-Markt. Unter dem Eindruck bevorstehender prohibitiver Zollerhöhungen erwarb Stöhr 1889 in New Jersey eine große Kammgarnspinnerei, die Botany Worsted Mills, und erlangte auf diese Weise ungehinderten Zugang zum ergiebigen amerikanischen Absatzmarkt. 1902 folgte aus dem gleichen Beweggrund der Bau einer Spinnerei in Böhmen. Die Kammgarnspinnerei Stöhr war zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zu einem internationalen Textilkonzern.206 Einige dieser neuen, modern eingerichteten und kapitalstarken Kammgarnspinnereien versuchten ebenso in die Marktdomäne der Briten einzudringen. Die Kammgarnspinnerei Stöhr verarbeitete seit Mitte der 1880er Jahre Crossbred-Wollen zu hartem Kammgarn, und auch zum Sortiment von Dietel & Schmitt gehörten diese Garne. Allerdings zeitigte dieser Vorstoß auf das Terrain der englischen Kammgarnspinnerei offenbar nur mäßigen Erfolg. Als die Coßmannsdorfer Spinnerei nach der Jahrhundertwende auf einen neuen Besitzer überging, wurde die Produktion der „englischen Kammgarne“ eingestellt. Die Erfahrungen hätten ihn gelehrt, so wird der neue Firmenchef in der Unternehmensfestschrift zitiert, dass man „gegen die englischen Fabriken mit ihrer uralten Tradition nicht aufkommen“ könne.207 204 Vgl. Jäger, Lebensbild, S. 3–8 (Zitat: S. 7); Schäfer, Familienunternehmen, S. 54 f.; Beiträge Betriebsgeschichte Wollkämmerei, S. 5; Staatsarchiv Leipzig 20927: Leipziger Baumwollspinnerei AG, Nr. 70: „Chronik des VEB Leipziger Baumwollspinnerei, Teil 1: 1884–1945“, Bl. 1. 205 Neben der Stöhr KGaA und der alten, schon seit dem Vormärz bestehenden Pfaffendorfer Spinnerei waren dies die Sächsische Wollgarnfabrik vormals Tittel & Krüger und die Kammgarnspinnerei Gautzsch (vgl. Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 72). 206 Vgl. Dietel, Kammgarnspinnerei, S. 99, 151 f.; Wolf, Spinnerei Coßmannsdorf, S. 84 f.; Jäger, Lebensbild, S. 12 ff. 207 Wolf, Spinnerei Coßmannsdorf, S. 99; vgl. Jäger, Lebensbild, S. 11 f.; sowie zur wachsenden Konkurrenz deutscher Kammgarnspinnereien um 1900: Jenkins/Ponting, Industry, S. 227.
5.4 Die Weberei nach der handelspolitischen Wende 1879–1890
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5.4 DIE WEBEREI NACH DER HANDELSPOLITISCHEN WENDE 1879–1890 5.4 Die Weberei nach der handelspolitischen Wende 1879–1890 Die Rückkehr des Protektionismus Die mit dem Zusammenbruch des überhitzten Konjunkturbooms der Reichsgründungszeit einsetzende Wirtschaftskrise rief eine Koalition mächtiger Interessengruppen auf den Plan, die eine Abkehr vom Freihandel forderten. In den sächsischen Industrierevieren verspürten die Schutzzollbefürworter seit Mitte der 1870er Jahre Aufwind. Der Zollverein und das Deutsche Reich hatten die Interaktionsbarrieren im grenzübergreifenden Austausch von Wirtschaftsgütern in weitgehendem Maße herab gesenkt oder ganz weggeräumt. So lagen Mitte der 1870er Jahren die Abgaben auf importiertes Garn nach dem deutschen Zolltarif im Durchschnitt noch bei etwa fünf Prozent. Die Einfuhrzölle für Webwaren waren auf unter 20 Prozent ihres Wertes gesunken. Infolge der Meistbegünstigungsklauseln der Handelsverträge galten in den meisten Fällen noch deutlich geringere Sätze oder es wurde überhaupt kein Zoll erhoben. Sinkende Eisenbahntarife und die allgemeine Beschleunigung, Kapazitätenausweitung und Verbilligung des internationalen Gütertransports hatten ebenso dafür gesorgt, dass die Kostenvorteile deutscher Textilproduzenten gegenüber der ausländischen Konkurrenz auf dem Binnenmarkt schwanden.208 Die Baumwollspinner hatten von jeher lautstark nach effektivem staatlichem Schutz vor ausländischer Konkurrenz gerufen. Doch auch außerhalb des Chemnitzer Reviers schwand seit dem Eintritt der „Gründerkrise“ die bisherige Meinungsführerschaft der Freihändler. Bei einer Umfrage des Deutschen Handelstages 1876 bekannte sich nur noch eine knappe Mehrheit der Handels- und Gewerbekammer Plauen (deren Bezirk bis nach Crimmitschau, Zwickau und Aue reichte) „zu dem bisher von der Kammer unverrückt festgehaltenen Freihandelsprincipe“. Neben den Zwickauer Eisenfabrikanten waren es die Kammgarn- und Streichgarnspinnereien, die zu Protokoll gaben, man befürchte, eine unveränderte Fortsetzung des bisherigen Systems würde ihren Industriezweig zugrunde richten. Auch diejenigen Hersteller wollener Webwaren, die ihren Absatz vornehmlich in Deutschland fanden, konnten einer Erhöhung der Einfuhrzölle positive Seiten abgewinnen. Für sie wirkte sich die neue Zollgesetzgebung sehr günstig aus, war doch, wie es im Kammerbericht von 1881 hieß, „die früher bedeutende Konkurrenz von Roubaix fast ganz geschwunden“. Die zahlreichen exportorientierten Textilbranchen des Plauener Kammerbezirks und die in starkem Maße auf den Import ausländischer Baumwollgarne angewiesene vogtländische Weißwarenweberei akzeptierten den neuen handelspolitischen Kurs des Reiches dagegen nur widerwillig.209
208 Vgl. die „Uebersicht der hauptsächlichen Schutzzölle des deutschen Zolltarifs“, in: Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 4, 24.1.1877, S. 31; Walter, Marktintegration, S. 169. 209 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1876, S. 11–14 (Zitat: S. 12); ebd. 1879, S. 19 f.; ebd. 1880, S. 18 ff.; ebd. 1881, S. 149 (Zitat), 152.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Das erste Opfer der handelspolitischen Wende waren aus Sicht der sächsischen Webwarenproduzenten die regen Austauschbeziehungen mit Österreich. 1876 hatte die Handels- und Gewerbekammer Plauen erklärt, der im kommenden Jahr auslaufende deutsch-österreichische Handelsvertrag entspreche „ungleich mehr … als die meisten anderen von Deutschland abgeschlossenen Handelsverträge“ den Interessen der Industrie des Bezirks, „und zwar deshalb, weil er der Anforderung der Gleichbehandlung beider Theile wenigstens annähernd gerecht wird“. Bei Abschluss eines neuen Vertrags solle darauf hingewirkt werden, dass die höheren österreichischen Eingangszölle dem Niveau der deutschen angepasst werden. Auch sollte der grenzübergreifende zollfreie Veredelungsverkehr unbedingt aufrecht erhalten bleiben.210 Diese Stellungnahme erwies sich bald als frommer Wunsch. Der deutsch-österreichische Handelsvertrag wurde mehrmals provisorisch verlängert. Letztlich scheiterten aber die Verhandlungen über einen neuen Vertrag. 1882 folgte schließlich die österreichische Regierung dem deutschen Beispiel und nahm eine massive Erhöhung der Agrar- und Industriezölle vor. Die Zollbefreiung im sächsisch-böhmischen Grenzverkehr wurde ersatzlos gestrichen.211 Russland hatte bereits 1878 damit begonnen, die Zollschranken wieder hochzuziehen. In den folgenden 13 Jahren schraubte das Zarenreich seine Einfuhrabgaben für Industriewaren in exorbitante Höhen. Die meisten anderen europäischen Staaten schlossen sich dem allgemeinen Trend an und hoben ihre Importzölle mehr oder minder kräftig an. Nur Großbritannien und die Niederlande hielten am Freihandel bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs fest. Auch der Zugang zu überseeischen Märkten wurde zusehends durch Zollerhöhungen erschwert. Anders als das Mutterland erhoben etwa Kanada oder Australien Schutzzölle für Industrieprodukte, ebenso viele lateinamerikanische Staaten oder Japan. Die USA schließlich hatten zwar 1872 ihre Zölle auf Woll- und Baumwollwaren wieder etwas gesenkt. Doch eine grundlegende Umorientierung der amerikanischen Handelspolitik war damit nicht verbunden. Bis zum Ende des „langen“ 19. Jahrhunderts schwankte die Höhe der Zolltarife im Wechsel der innenpolitischen Machtverhältnisse. Republikanische Präsidenten und Kongressmehrheiten hoben die Sätze gewöhnlich kräftig an, während die Demokraten sie wieder senkten. Insgesamt blieben die amerikanischen Zölle auf einem Niveau, das deutlich über dem der Zeit vor dem Bürgerkrieg lag. Dass sächsische Textilwaren dennoch in größeren Mengen in die USA exportiert wurden, dafür spricht ein Blick auf die Liste der amerikanischen Handelskonsulate: Um die Jahrhundertwende hatten allein sechs der 16 US-Konsulate im Deutschen Reich ihren Sitz in Sachsen. Zu den Handelsvertretungen in Leipzig und Chemnitz waren in den vorangegangenen Jahrzehnten vier weitere amerikanische Konsulate gekommen, allesamt im Textilgürtel, in Eibenstock, in Glauchau, in Plauen und in Zittau.212 210 Ebd. 1876, S. 16 f. (Zitat: S. 16) 211 Vgl. ebd. 1879, S. 38 ff.; ebd. 1880, S. 21 f.; Torp, Globalisierung, S. 176 f. 212 Vgl. Torp, Globalisierung, S. 173, 176, 333–336; Jaeger, Maßnahmen, S. 65–70; Fremdling, Handelspolitik, S. 44; Jenkins/Ponting, Industry, S. 235; Jahresbericht HK Plauen 1871, S. 19; Clark, Fabrics (Inhaltsverzeichnis).
5.4 Die Weberei nach der handelspolitischen Wende 1879–1890
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Chemnitz-Glauchau-Meerane In der Textilindustrie des Chemnitz-Glauchauer Raums scheint die zollpolitische Wende von 1879 außer bei den Spinnereien allenfalls vereinzelt auf vorbehaltlose Zustimmung gestoßen zu sein. Nach Ablauf von vier Jahren zählte der Chemnitzer Handelskammerbericht allein die Hersteller halbseidener Kleiderstoffe zur Gruppe der vom geltenden Zolltarif zufrieden gestellten Branchen. Sie hatten ihre Erzeugnisse auch vor 1879 nur in geringen Mengen ins Ausland abgesetzt, während auf dem deutschen Markt vor allem die benachbarte nordböhmische Konkurrenz mit „wahren Hungerlöhnen“ die Preise gedrückt hatte. 1883 konnten sie mit Befriedigung feststellen, dass die Einfuhr halbseidener Waren fast ganz aufgehört hatte. Im Allgemeinen standen die Garn verbrauchenden Branchen den Schutzzöllen mit einer ihren Interessen entsprechenden strukturellen Ambivalenz gegenüber. Man wünschte „naturgemäß niedrige oder gar keine Zollsätze auf die Rohstoffe und Halbfabrikate, die man verarbeitet, dagegen möglichst ausgiebige Zölle auf die Einfuhr der selbsterzeugten Ganzfabrikate.“213
Zwar hatten am Ende der 1870er Jahre nicht wenige Chemnitzer, Glauchauer oder Meeraner Webwarenfabrikanten eine Erhöhung der deutschen Importzölle für die von ihnen geführten Artikel gefordert und begrüßt. Als sich aber in den frühen 1880er Jahren die negativen Folgen des neuen Protektionismus bemerkbar machten, wurden die Klagen über die handelspolitische Ausrichtung des Reiches zusehends lauter und allgemeiner. Die unmittelbarste Konsequenz der deutschen Schutzzollpolitik waren für die Garn verarbeitenden Branchen erhöhte Rohstoffkosten. Die Web- und Wirkwarenproduzenten des Chemnitzer Bezirks monierten 1884 eine unangemessene Belastung durch die hohen Garnzölle. Damit werde ihnen ein weiteres Handicap im Wettbewerb um die Auslandsmärkte aufgebürdet, wo doch die britische und französische Konkurrenz bereits durch ihre geographische Lage, durch billige Verfrachtung, ihre überlegene Kapitalkraft und das Vorurteil der Konsumenten ohnehin stark begünstigt seien.214 Durch die mehr oder minder kräftig erhöhten Zölle verteuerten sich einmal die bislang in großen Mengen importierten britischen und schweizerischen Baumwollgarne der höheren Feinheitsgrade, ebenso wie die britischen und französischen „harten“ Kammgarne. Dies erbitterte die Webfabrikanten um so mehr, als diese für sie unverzichtbaren Halbwaren auch noch am Ende der 1880er Jahre nur in sehr begrenztem Maße durch inländisches Gespinst substituiert worden waren. Zumindest aus Sicht der Garnverbraucher hatte sich damit der „Erziehungszoll“ weitgehend als Chimäre erwiesen. Die meisten sächsischen Spinnereien fanden es offenbar profitabler, sich auf dem bereits von ihnen besetzten Terrain gemütlich einzu213 Jahresbericht HK Chemnitz 1883, S. 38; vgl. ebd., S. 126; ebd. 1881, S. 52 f.; sowie Bericht des österreichischen Generalkonsuls in Leipzig, zit. nach: Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 32, 10.8.1881, S. 317 f. 214 Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1884, S. 70 f.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
richten, als auf das nach wie vor umkämpfte Feld der feinen Garne vorzustoßen. Mit dem Wegfall der schweizerischen und britischen Konkurrenz im Spektrum der Baumwollgarne zwischen Nummer 20 und 40, ließen sich hier relativ zufriedenstellende Preise erzielen und halten. Seit Mitte der 1880er Jahre häuften sich denn auch die Klagen der Web- und Wirkwarenfabrikanten über Preisabsprachen und Kartellbildungen der Baumwoll- und Kammgarnspinnereien.215 In den Jahren nach 1879 brachten die westsächsischen Webereiunternehmer des öfteren den altbekannten Vorschlag eines „Rückzolles“ aufs Tapet. Der Fiskus solle ihnen die entrichteten Garnzölle beim Export der daraus gefertigten Gewebe rückvergüten.216 Da die Herkunft der verwendeten Garne in einem Webstück kaum nachzuvollziehen war, wäre eine solche Maßnahme in der Praxis auf eine allgemeine Exportprämie hinausgelaufen. So verwundert es kaum, dass auch diesmal der Vorschlag bei den politischen Entscheidungsträgern auf taube Ohren stieß. Bald wurden daher in den sächsischen Textilrevieren die Rufe nach einer Senkung der Garnzölle lauter. Selbst die Handels- und Gewerbekammer Chemnitz, die wegen des Gewichts der Spinnereiindustrie in ihrem Bezirk normalerweise eher zurückhaltend mit zollpolitischen Festlegungen war, stellte Ende 1884 bei der Dresdner Landesregierung den Antrag, sie möge sich im Bundesrat für die zollfreie Einfuhr feiner Baumwollgarne verwenden. Baumwollene Garne über Nummer 60 würden in Deutschland nicht gesponnen, die heimische Weberei und Wirkerei sei daher auf deren Einfuhr unbedingt angewiesen.217 Noch wesentlich nachhaltiger bekamen die Webwarenproduzenten in Chemnitz, Glauchau und Meerane die indirekten Folgen der handelspolitischen Kehrtwende des Deutschen Reiches zu spüren. Auslaufende Handelsverträge wurden nicht verlängert. Fast überall in Europa wurden die Zollschranken von Neuem hochgezogen, während die USA trotz phasenweiser Milderung an ihrem protektionistischen Kurs in den 1880er Jahren festhielten und ihn seit 1890 sogar noch verschärften. In den letzten Jahren, konstatierte die Handels- und Gewerbekammer Chemnitz 1883, seien „infolge der immer mehr durchgeführten gegenseitigen Absperrung der Culturländer große Absatzgebiete unserer Industrie ganz oder theilweise verloren gegangen“. Die Ausfuhr industrieller Erzeugnisse nach Österreich, Russland, Frankreich, Schweden, Norwegen, Dänemark, Belgien, Italien, Nordamerika habe für einzelne Zweige ganz aufgehört, für andere einen bedeutenden Rückgang erfahren. Zudem stünden die auf den Export angewiesenen Branchen vor der Gefahr, „durch künstlich hochgezogene, aller natürlichen Vorbedingungen entbehrende einheimische Industrien in den betreffenden Ländern aus ihren besten Absatzgebieten über kurz oder lang verdrängt zu werden.“218 Dies sind nun zunächst einmal recht pauschale Feststellungen, die eher den Wandel der Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handels umreißen als dass sie genauere Rückschlüsse auf die tatsächliche Marktposition der Webwarenproduzenten 215 Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1883, S. 127; ebd. 1884, S. 70 f.; 1887, S. 241; ebd. 1888, S. 271 f., 279. 216 Vgl. ebd. 1881, S. 58 f.; ebd. 1883, S. 127; Bericht Enquête-Commission, S. 9. 217 Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1884, S. 71. 218 Ebd. 1883, S. 36 f.
5.4 Die Weberei nach der handelspolitischen Wende 1879–1890
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des Chemnitzer Bezirks nach 1879 zuließen. Es empfiehlt sich daher, den Fokus der Betrachtung auf einzelne Standorte und Branchen zu verengen, um zu ergründen, in welcher Weise und mit welchem Erfolg die betroffenen Wirtschaftsakteure die Herausforderung des neuen Protektionismus zu bewältigen suchten. Die Chemnitzer Möbelstoffweberei musste sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts mit einer merklich vermehrten Konkurrenz auseinandersetzen. Die Fertigung der einfacheren Qualitäten hatte sich zusehends in die kleineren Weberstädte des Reviers verlagert, nach Hohenstein und Lichtenstein, wo die Löhne niedriger als in Chemnitz waren. Auch in Meerane, in Reichenbach und im daran anschließenden Gera-Greizer Revier wurden Möbeldamaste und ähnliche Stoffe fabriziert, ebenso in Barmen und Elberfeld. Die bedeutsamsten ausländischen Konkurrenten kamen aus Frankreich, aus dem Raum Roubaix und aus Paris. Die nordfranzösischen Webereien konnten sich vergleichsweise kostengünstig mit den in der Peripherie der Kanalhäfen Antwerpen und Le Havre gesponnen Woll- und Jutegarne versorgen und sie profitierten im Wettbewerb mit den Chemnitzern z. T. auch von geringeren Lohnkosten.219 Die 1879 erlassenen deutschen Textilzölle verbesserten nun zwar die Position der sächsischen Möbelstofffabrikanten auf dem deutschen Markt, ohne dass es ihnen allerdings gelungen wäre, die französischen Importe ganz zu substituieren. Um so schwieriger gestaltete sich indessen für die Chemnitzer Webereien das Exportgeschäft. Der Kreis der europäischen Abnehmerländer für Chemnitzer Möbel-, Plüsch- und Vorhangstoffe schrumpfte in den 1880er Jahren auf die letzten Bastionen des Freihandels, Großbritannien und die Niederlande, sowie die skandinavischen Staaten. Hierhin drängte natürlich auch die französische Konkurrenz. Die österreichische und russische Kundschaft, bald auch die italienische, ging fast ganz verloren. Der Export in die USA blieb mühsam, nicht allein wegen der hohen Zölle, sondern auch wegen der zusehends wettbewerbsfähigen amerikanischen Möbelstoffwebereien. 1887 wurden aus dem Konsulatsbezirk Chemnitz immerhin noch Möbelstoffe im Wert von zusammengenommen rund 350.000 Mark in die Vereinigten Staaten ausgeführt. Nach 1890 machte der jährliche Export in die USA in solchen Artikeln meist nur noch einen Bruchteil dieser Summe aus.220 Das Schwergewicht des Absatzes der Chemnitzer Möbel- und Vorhangstoffe verlagerte sich seit den 1880er Jahren auf das Inland. Dabei dürfte die wachsende Konsumkraft des deutschen Binnenmarkts den Verlust der Auslandsmärkte zumindest teilweise kompensiert haben. So kam der Chemnitzer Handelskammerbericht für 1886 zu der optimistischen Einschätzung, dass sich die Nachfrage nach Möbelstoffen seit der Reichsgründung „ganz bedeutend verbessert hat, und wie bei Wohlhabenden die häuslichen Einrichtungen an Reichthum und Luxus einen ganz anderen Standpunkt angenommen haben als vor etwa 15 Jahren, so findet man heute Sopha und Gardinen bei minder begüterten Leuten, welche bis vor Kurzem hieran noch nicht denken konnten.“221 219 Vgl. Maschner, Weberei, S. 189. 220 Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1881, S. 53; ebd. 1882, S. 96 f.; ebd. 1886, S. 241; ebd. 1888, S. 269; ebd. 1889, S. 251 f.; ebd. 1891, S. 251; Maschner, Weberei, S. 187 f. 221 Jahresbericht HK Chemnitz 1886, S. 240.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Die Kleiderstoffweberei von Glauchau und Meerane machte in den 1880er Jahren, insgesamt betrachtet, eine recht ähnliche Entwicklung durch wie die Chemnitzer Möbelstofffabrikation. Die Weichenstellungen der internationalen Handelspolitik hatten auch hier den Effekt, dass der Export gegenüber dem Absatz auf dem deutschen Binnenmarkt an Bedeutung verlor. Für die Glauchauer Weberei trat nach der Krise der 1870er Jahre bald eine gewisse Besserung ein. Dies wurde zum einen auf den erhöhten Einfuhrzoll für Webwaren zurückgeführt. Die „Konkurrenz in billigen Artikeln“, mit denen die französische Wollwarenindustrie „früher das Zollvereinsgebiet überschwemmte“, sei seit Einführung des höheren Eingangszolls nicht mehr fühlbar, hieß es 1884.222 Zum Anderen wurden die Glauchauer Kleiderstoffe durch einen Wechsel der Mode begünstigt. Statt einfarbiger Stoffe waren nun wieder die Erzeugnisse der Buntweberei gefragt. Dies kam den Glauchauer Textilunternehmern entgegen, die auf eine eher gebremste Maschinisierung gesetzt und an der Handweberei festgehalten hatten. Noch in den frühen 90er Jahren standen in Glauchau den mittlerweile 1500 Maschinenstühlen 5500 Handwebstühle gegenüber.223 In Meerane hatte man dagegen die Maschinenweberei in den Jahren nach 1879 weiter ausgebaut. Da sich die mechanischen Webstühle nun einmal für die Fabrikation glatter Stoffe am besten eigneten, so war im Bericht der Handels- und Gewerbekammer Chemnitz für 1881 zu lesen, „haben auch Inhaber solcher Fabriken in Meerane sich mehr auf Herstellung einfacher wollener Kammgarngewebe gelegt und teilweise große Opfer für Beschaffung dazu geeigneter neuer Maschinen und Einrichtungen gebracht.“224 Doch schon im folgenden Jahr stellte der Handelskammerbericht fest, die Mode neige wieder zu größeren buntkarierten Mustern, „wodurch in erster Linie Handwebstühle Beschäftigung fanden, da sich die komplizierten Stoffe weniger zur Anfertigung für mechanische Stühle eignen“. Die Zahl der Handwebstühle hatte sich vermehrt und die Stühle waren voll beschäftigt. Die Dualität von Maschinen- und Handweberei erhielt sich auch in Meerane über die 1880er Jahre hinaus. Anfang der 90er Jahre beschäftigten die Webfabriken der Stadt 1300 Arbeiter. Doch arbeiteten gleichzeitig an die 14.000 Handweber für die Meeraner Textilunternehmen, offenbar größtenteils im dezentralen Verlag. In einem weiten Umkreis bis ins Bayerische hinein verteilten Faktoren die Arbeit an einzelne Hausweber und sammelten die gefertigten Gewebe wieder ein.225 Mitte der 1880er Jahre zog auch der Export der Glauchauer und Meeraner Artikel wieder an. Vor allem die USA ließen mehr sächsische Textilien ins Land. Hier hatte der Amtsantritt der ersten demokratischen Administration nach dem Bürgerkrieg für eine gewisse Lockerung der zuvor von den Republikanern vertretenen Hochzollpolitik geführt. Auch in Großbritannien hatte die sächsische Kleiderstofffabrikation Marktnischen gefunden, bei den „hochfeinen Waren“ wie andererseits bei den „ganz billigen baumwollenen karierten Stapelartikeln“. Im allgemei222 223 224 225
Ebd. 1884, S. 167. Vgl. Die Sächsische Textil-Industrie …, S. 23 ff. Vgl. die Angaben in: Die Sächsische Textil-Industrie …, S. 23. Jahresbericht HK Chemnitz 1881, S. 57. Zitat: ebd. 1882, S. 99; vgl. ebd. 1883, S. 133; ebd. 1887, S. 243; Die Sächsische Textil-Industrie…, S. 23.
5.4 Die Weberei nach der handelspolitischen Wende 1879–1890
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nen richtete sich das Exportgeschäft, so berichtete die Bezirkshandelskammer 1888 für Meerane, „meistens nach der daselbst herrschenden Moderichtung, so daß also, wenn gemusterte Stoffe den Vorzug haben, sich nach den genannten Ländern das Geschäft wesentlich belebt.“ Selbst als die USA mit der McKinley Bill 1890 wieder in eine Phase verschärften Protektionismus eintrat, fanden modische, hochpreisige „Nouveauté“-Artikel, wie sie besonders in Glauchau gefertigt wurden, hier immer noch recht guten Absatz.226 Während in den Hauptorten des alten Chemnitz-Glauchauer Baumwollreviers schon seit dem Vormärz vornehmlich Misch- und reinwollene Gewebe gefertigt wurden, hatte sich in vielen der kleineren Weberstädten der Gegend die Baumwollwarenherstellung auch noch im letzten Viertel des 19. Jahrhundert stärker erhalten. Um 1880 wurden etwa in Mittweida vornehmlich baumwollene Hemdenflanelle und Futterstoffe produziert. Aus Hohenstein und Ernstthal kamen speziell Tischund Bettdecken aus Baumwolle. Die Zschopauer Weberei fertigte klassische Baumwollgewebe wie Futterkattune oder Shirtings, daneben Bettdecken. In Frankenberg gehörten dagegen Baumwoll-Mischstoffe wie Cachenez oder Chenille zum bevorzugten Repertoire der örtlichen Weberei. Um 1880 waren auch in Mittweida oder Zschopau die Handweber nicht mehr in der Lage, sich mit der Fertigung baumwollener Futterstoffe, roher Druckkattune oder billiger Hemdenflanelle über Wasser zu halten.227 Es hatte sich zu diesem Zeitpunkt eine typische, wenn auch jeweils von Ort zu Ort spezifische Arbeitsteilung zwischen der alten Hand- und Hausweberei und den Webfabriken herausgebildet. Die Maschinenwebereien stellten überwiegend einfache Baumwollstoffe oder (in Frankenberg) Mischgewebe her. Die Handweber fertigten manchmal ähnliche Gewebe und fungierten für die Fabrikanten als „Konjunkturreserve“: Sie sprangen ein, wenn die Kapazitäten der Fabriken nicht mehr die Marktnachfrage befriedigen konnten. Oft aber fertigten nun auch die kleinstädtischen Weber Artikel, die höhere Anforderungen an Musterung und Verarbeitung stellten. So waren viele Mittweidaer Handweber Mitte der 1880er Jahre dazu übergegangen, halbwollene, wollene und seidenen Waren, Plüsche und Möbelstoffe für Chemnitz, Frankenberg und Hainichen herzustellen. In Hohenstein und Ernstthal hatte sich schon im Vormärz die Jacquardweberei verbreitet. Nun stellten die örtlichen Weber neben den Gartentischdecken und bunten Bettdecken auch zunehmend gemusterte Möbelstoffe, Gobelins mit röhrenden Hirschen und ähnliche technisch anspruchsvolle Gewebe her. In Zschopau wurden auf den noch vorhandenen Handstühlen vor allem gemischte Kleiderstoffe, Cachenez oder Chenille gewebt. In Frankenberg, Lichtenstein und Callnberg verlegten sich die Hausweber auf Stückwaren wie die Chenille-Tücher.228 226 Zitate: Jahresbericht HK Chemnitz 1882, S. 100; ebd. 1888, S. 273; vgl. ebd. 1891, S. 257. Vgl. auch die Aufstellung „Verkäufe in Amerika“ mit Daten für die Jahre 1884 bis 1898, in: Staatsarchiv Chemnitz 31213: Fa. Kratz & Burk, Glauchau, Nr. I/600). 227 Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1883, S. 134; ebd. 1887, S. 243 f., 250; ebd. 1888, S. 274 f.; ebd. 1890, S. 277 228 Vgl. ebd. 1883, S. 134; ebd. 1887, S. 250; ebd. 1890, S. 282; ebd. 1891, S. 260; Die industrielle Bedeutung …, S. 9 f., 24 f.; Lippmann, Geschichte, S. 162.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Das Absatzgebiet der relativ schweren, einfachen, vornehmlich maschinell gewebten Baumwollstoffe beschränkte sich nach 1880 ganz überwiegend auf den deutschen Binnenmarkt. Die deutschen Gewichtszölle, auch wenn sie nun etwas nach Wertkategorien gestaffelt waren, bevorteilten immer noch die schweren und billigen Waren. Die Mittweidaer Fabrikanten etwa mussten sich zwar in den 1880er Jahren mit einer zahlreichen Konkurrenz aus dem Rheinland, dem Elsass und aus Schlesien auseinandersetzen. Doch die ausländischen Kattune, Shirtings, Barchente und Baumwollflanelle waren nun weitgehend vom deutschen Markt verschwunden. Auf der anderen Seite war aber auch an die Ausfuhr solcher Artikel kaum noch zu denken. Die im Vergleich zum Verkaufswert relativ hohen Spesen für Frachtkosten und Zölle machte die Baumwollfabrikate aus Mittweida und ähnlichen Standorten „unfähig zum Export“.229 Einige der Spezialitäten der Maschinen- wie der Handweberei in den kleineren Städten fanden aber auch nach 1879 auf die Auslandsmärkte. Die in Hohenstein-Ernstthal gefertigten Rips-, Piquée- und Waffel-Tischdecken wurden in einigen europäischen Ländern (Holland, Skandinavien, Rumänien) abgesetzt. Versuche, solche Artikel nach Südamerika zu versenden, zeitigten offenbar wenig ermutigende Resultate. Die Frankenberger halbwollenen Artikel, vor allem die Chenille-Tücher, wurden in England und – trotz der hohen Zölle – auch in den USA recht erfolgreich vermarktet. Das Inkrafttreten des McKinley-Tarifs 1891, der den Zoll auf solche Stoffe mit einem Schlag von 35 auf 60 Prozent erhöhte, bewirkte aber dann einen plötzlichen Niedergang des Amerikageschäfts in diesen Frankenberger Spezialitäten.230 Die vogtländische Weißwarenweberei Im Plauener Revier war die Unzufriedenheit mit der Zollgesetzgebung des Reiches nach 1879 besonders ausgeprägt. Einerseits musste sich die Weißwarenweberei mit einer empfindlichen Erhöhung der Garnpreise abfinden. Die Schutzzölle verteuerten die Schweizer und britischen Garne beträchtlich, ohne dass diese von inländischem Gespinst ersetzt worden wären. Die feineren Qualitäten mussten auch in den 1880er Jahren importiert werden. Zudem kam der Zollschutz bei den Garnsorten, die gewöhnlich für die Weißwarenfertigung benötigt wurden, kaum der sächsischen Baumwollspinnerei zugute. Er verhalf vielmehr den Elsässer Spinnereien zu einer marktbeherrschenden Stellung im Plauener Revier. Für die vogtländische Weißwarenweberei bedeutete dies zum einen, dass sie den Löwenanteil ihres Garnbedarfs nach wie vor von weit entfernt gelegenen Produktionsstandorten beziehen mussten und entsprechend höhere Transportspesen als ihre Konkurrenz zu tragen hatten. Zum anderen hatte der handelspolitische Protektionismus die Konkurrenz unter ihren auswärtigen Garnlieferanten weitgehend aufgehoben und es den Elsässer Spinnereien erlaubt, kräftige Preisaufschläge zu verlangen. Während die vogtländischen Baumwollwarenproduzenten auf der einen Seite beklagten, die Garnzölle würden 229 Jahresbericht HK Chemnitz 1883, S. 136; vgl. ebd., S. 135; ebd. 1886, S. 101. 230 Vgl. ebd. 1888, S. 274; ebd. 1889, S. 258, 260; ebd. 1891, S. 260.
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ihre Konkurrenzfähigkeit auf den Exportmärkten untergraben, so ging ihnen auf der anderen Seite der Zollschutz für ihre eigenen Erzeugnisse nicht weit genug. Importierte Weißwaren wurden von den deutschen Gewichtszöllen trotz der Staffelung nach Qualitäten vergleichsweise gering belastet.231 Insgesamt scheint die zollpolitische Wende die schon vor 1879 zu beobachtenden Entwicklungen in der vogtländischen Weißwarenwirtschaft noch verstärkt zu haben. Die Belastung durch Garnzölle, der stärkere Schutz vor ausländischer Konkurrenz wie auch der in Kontinentaleuropa um sich greifende Protektionismus verwiesen die Plauener Baumwollweberei mehr denn je auf den deutschen Binnenmarkt als Absatzgebiet. Am Ende der 1880er Jahre wurde der bei weitem größte Teil der Produktion im Inland abgesetzt. Der Plauener Handelskammerbericht hatte zwar 1886 „mit Genugthung … constatirt, daß es nach vielen Bemühungen gelungen ist, wenigstens einen kleinen Theil der Production im Auslande abzusetzen und das Exportgeschäft trotz der Benachtheiligung der Deutschen Baumwollweberei durch hohe Garnzölle ohne Zollrückvergütung verhältnißmäßig nicht unwesentlich zu erweitern.“
Doch, so fuhr der Berichterstatter gleich fort, handele es sich dabei um solche Spezialitäten, in denen die französische und englische Konkurrenz schon früher zu überwinden gewesen war. Zwei Jahre später war an gleicher Stelle zu lesen, eine erfolgreiche Konkurrenz mit den Briten in Stapelartikeln sei, eben wegen der höheren Garnkosten, auf den Exportmärkten nach wie vor so gut wie ausgeschlossen.232 Eine Folge der neuen Handelspolitik mag man auch im verstärkten Übergang zur Herstellung dichterer und gröberer Gewebe erkennen können. Vor allem in den Maschinenwebereien am Rande des Reviers, etwa in Netzschkau, wurden in den 1880er Jahren vermehrt Futterkattune, stärkere Baumwollstoffe für die Militärverwaltungen, Kattune für Wachstuchdecken und Baumwollflanelle produziert. Das waren Stoffe, die nach außen hin durch hohe Zölle geschützt waren und für die sächsisches Baumwollgarn und ggf. auch Vigogne aus Crimmitschau und Werdau verwendet werden konnten. Allerdings hatte man es hier mit starker innerdeutscher Konkurrenz zu tun, denn dieser Bereich galt als Domäne der großen süddeutschen Baumwollwebereien, die oft auch eigene Spinnereien angegliedert hatten.233 Erfolgreicher war die Einführung eines Gewebetyps, der mehr dem traditionellen Fabrikationsprofil der vogtländischen Baumwollweberei entsprach. Im Laufe der 1880er Jahre verbreitete sich der sog. Kongress-Stoff im Plauener Revier, zu dem relativ grobes Garn genügte. Dieses glatte, gazeartige Weißwarengewebe ließ sich vielseitig verwenden, als Rohmaterial für Gardinen und Rüschen, für Bett- und Tischdecken, für die Wäsche-, Hemden- und Kinderkleiderkonfektion wie auch für Stickböden.234 231 Vgl. Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 2, 8.1.1879, S. 12; Jahresbericht HK Plauen 1880, S. 197; ebd. 1881, S. 132; ebd. 1886, S. 85. 232 Zitate: Jahresbericht HK Plauen 1886, S. 85; ebd. 1888, S. 94; vgl. ebd. 1889, S. 104; ebd. 1881, S. 129. 233 Vgl. ebd. 1881, S. 130; ebd. 1884, S. 95 f.; ebd. 1889, S. 103. 234 Vgl. ebd. 1884, S. 98; ebd. 1886, S. 87; ebd. 1887, S. 99; ebd. 1890, S. 110 f.; Die Sächsische Textil-Industrie …, S. 33
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Ist auch etwa seit Mitte der 1880er Jahre eine Erholung der vogtländischen Weißwarenweberei erkennbar, so gelang es den Fabrikanten und Verlegern des Reviers nicht, der auswärtigen Zufuhr von Rohgeweben für die Plauener Textilveredelungswirtschaft ein Ende zu setzen. Die feineren Rohgewebe wie die Cambrics gelangten nach wie vor in großen Mengen von außerhalb ins Plauener Revier, um hier in den Appreturanstalten und Maschinenstickereien weiterverarbeitet zu werden. Die Schutzzölle kamen in diesem Falle vornehmlich den Elsässer Webereien zugute. Allerdings fanden gegen Ende der 1880er Jahre auch wieder vermehrt britische und Schweizer Rohweißwaren in Plauen Verwendung. Solange solche zur Veredelung bestimmte Stoffe wieder re-exportiert wurden, konnten sie nämlich unverzollt eingeführt werden.235 Die Handweberei befand sich im vogtländischen Weißwarenrevier in den 1880er Jahren auf dem Rückzug. Selbst die feinsten Qualitäten glatter Baumwollgewebe wie Musseline, Mulls u. ä. wurden bereits am Anfang des Jahrzehnts überwiegend maschinell hergestellt. Kongress-Stoff wurde dagegen vor allem an periphereren Standorten wie Falkenstein, Ellefeld und Schöneck noch in größerem Maße auf Handstühlen gewebt. Dort hatte der Niedergang der Gardinenweberei zahlreiche gut qualifizierte Jacquardweber freigesetzt, von denen erwartet werden konnte, dass sie sich ohne große Probleme auf diesen neuen Artikel einstellen würden. Ansonsten konzentrierte sich die Handweberei des Plauener Reviers zunehmend auf das Städtchen Elsterberg, das im Schnittpunkt mehrerer Produktionsnetzwerke lag und wo für Verleger aus dem benachbarten Thüringen (Greiz, Gera, Weida) ebenso gearbeitet wurde wie für Firmen aus Plauen und aus Netzschkau oder Reichenbach. Um 1890 waren aber auch den Elsterberger Handwebern nur noch einzelne Spezialartikel geblieben: seidene und halbseidene Cachenez-Stoffe und Krawatten oder mit Gold- und Silberfäden durchwirkter Mull.236 Für die kriselnde vogtländische Gardinenweberei brachten die Zollgesetze von 1879 kaum Erleichterung, sondern sie trugen – im Gegenteil – indirekt dazu bei, dass sich der Niedergang dieses Produktionszweigs im folgenden Jahrzehnt beschleunigte. Die beträchtliche Verteuerung importierter britischer Tüllgardinen durch die neuen Zölle führte nämlich bald zum Entstehen einer sächsischen Tüllgardinenindustrie. Ironischerweise hatte die britische Konkurrenz nicht unwesentlichen Anteil an dieser Entwicklung. Der Zollsatz für die Einfuhr roher Gardinenstoffe hatte sich 1879 mehr als verdoppelt, was den Veredelungsverkehr zwischen den mittelenglischen Tüllgardinenherstellern und den Plauener Appreturanstalten, der sich im vorhergehenden Jahrzehnt eingespielt hatte, ins Stocken brachte. 1880 sah sich ein Fabrikant aus Nottingham, dem Zentrum der britischen Wirkwarenindustrie, veranlasst, die deutschen Zölle durch den Bau einer Tüllgardinenfabrik in Plauen zu umgehen. Noch im gleichen Jahr folgten einige Fabrikanten in Auerbach 235 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1880, S. 198; ebd. 1886, S. 86 f.; ebd. 1889, S. 105; ebd. 1890, S. 110; Die Sächsische Textil-Industrie …, S. 33. 236 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1880, S. 97; ebd. 1881, S. 131; ebd. 1882, S. 97; ebd. 1887, S. 99 f.; ebd. 1890, S. 110; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 172; Die Sächsische Textil-Industrie … S. 33.
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diesem Beispiel und eröffneten eine gemeinsame, mit britischen Maschinenstühlen ausgerüstete Gardinenwirkerei. Schon Mitte der 1880er Jahre gab es zwölf solcher Fabrikbetriebe im Vogtland, vier davon in Falkenstein, dem Zentrum der alten Gardinenweberei. Auch an anderen sächsischen Standorten entstanden Produktionsbetriebe dieser neuen Textilbranche, in Zwickau, in Dresden, in Zittau und in Leipzig. Außerhalb Sachsens siedelten sich Tüllgardinenfabriken nur in Lichterfelde bei Berlin und im schlesischen Mittelwalde an. 1888 gab es im Vogtland insgesamt 236 mechanische Tüllgardinenstühle; an allen anderen Standorten waren es zusammengenommen 57.237 Die Konzentration der neu entstehenden deutschen Tüllgardinenindustrie im Vogtland kam nicht von ungefähr. Der jahrzehntelange Vorlauf der Gardinenweberei hatte einen Pool von Arbeitskräften geschaffen, die mit solchen Stoffen vertraut waren und schnell die neue Produktionstechnik adaptierten. Für die Endfertigung boten vor allem die in Plauen ansässigen Appreturbetriebe eine anderswo nicht in dieser Form vorhandene Infrastruktur. Zudem hatte der Veredelungsverkehr seit Anfang der 1870er Jahre Plauen zu einem nationalen Vertriebszentrum für solche Artikel werden lassen. Allerdings gelang es den sächsischen Herstellern vorerst nicht, den britischen Tüllgardinenimport ganz zu substituieren. Trotz der Schutzzölle gelangten britische Gardinen weiterhin auf die deutschen Märkte. Auch fuhren die Plauener Appreturanstalten fort, Gardinentüll roh in Nottingham einzukaufen. Um 1890 hatte sich aber die sächsische Wirkgardinenindustrie so weit entwickelt, dass sich der englische Tüllgardinenimport vornehmlich auf Musterneuheiten in den feinsten Qualitäten beschränkte. Dagegen war der Export der sächsischen Tüllgardinen auch zu diesem Zeitpunkt eher unbedeutend. Dies lag nicht allein am Vorsprung einer bereits am Markt eingeführten Konkurrenz, sondern auch an den Gestehungskosten der sächsischen Gardinenwirkerei. Mindestens zwei Drittel des hier verwendeten Baumwollgarns musste aus Großbritannien eingeführt werden und war entsprechend mit Transportspesen und Einfuhrzöllen belastet.238 Die Baumwoll- und Mischweberei der Oberlausitz Die handelspolitische Neuorientierung des Deutschen Reiches stellte die südostsächsische Orleans-Weberei vor das gleiche Problem wie die südwestsächsischen Halbwollwarenhersteller. Sie benötigten für ihre Erzeugnisse „harte“ Kammgarne, die fast vollständig importiert werden mussten. Trotzdem wurde ausländisches Kammgarn unterschiedslos mit hohen Einfuhrzöllen belegt. Schon während der Verhandlungen der Zollvorlage im Reichstag waren, so berichtete die Zittauer Handels- und Gewerbekammer,
237 Vgl. Klett, Tüllgardinen-Industrie, S. 46 f., 59 ff., 66; Luft, Textilregionen, S. 63 f.; Jahresbericht HK Plauen 1881, S. 180 f. 238 Vgl. Klett, Tüllgardinen-Industrie, S. 63 f., 74 f.: Jahresbericht HK Plauen 1882, S. 148; ebd. 1887, S. 157; ebd. 1889, S. 111; ebd. 1890, S. 113 ff.
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5. Industrialisierung und Globalisierung „speciell die Vertreter der Orleansweberei … unermüdlich thätig, um durch persönliche Vorstellungen das Irrationale dieses Beschlusses den Mitgliedern der Tarif-Commission zu beweisen. Trotzdem man darauf hinwies, daß mit der Erhöhung der Zölle auf Wefts ein im Inlande nie zu beschaffendes Material vertheuert, daß etwa der hundertste Theil des Bedarfs im Inlande gesponnen werde; trotz des Hinweises darauf, daß bereits die Vertheuerung der Baumwollgarne, die Concurenz der reinen Wollenstoffe, den Verlust der in den letzten Jahren mit vieler Mühe und großen Kosten erworbenen ausländischen Kundschaft und rapiden Rückgang der Halbwollindustrie befürchten lasse; den wenigen Spinnereien aber, denen man nütze mit ihren Arbeitern, mehrere Hunderte Webereibesitzer mit vielen Tausenden von Arbeitern entgegenstünden: fand man doch kein Gehör …“239
In der Zolltarifkommission des Reichstags war man mehrheitlich der Meinung, eine Minderung oder ein Wegfall der Zölle für harte Kammgarne sei praktisch nicht umsetzbar, da die Zollbeamten die verschiedenen Sorten kaum auseinander halten könnten. Erst 1885 wurden die Zölle für die Einfuhr der harten Worsted-Garne ermäßigt.240 Bis dahin mussten die Orleans-Fabrikanten hohe Aufschläge für ihre aus Bradford bezogenen Kammgarne bezahlen. Gleichzeitig traten ihre Erzeugnisse aber auf den ausländischen Märkten mit gleichwertigen Stoffen aus West Yorkshire in Konkurrenz, die aus Garn gefertigt waren, das aus der Region stammte, also weder durch größere Transportspesen noch durch Zollabgaben belastet war. Die Folge war, dass das sächsische Orleans weitgehend von den außerdeutschen Märkten verschwand. Es sei den Oberlausitzer Orleans-Fabrikanten, so hielt ein Handelskammerbericht vier Jahre nach dem Inkrafttreten der Schutzzölle fest, „nur in äußerst geringem Maße gelungen, die Artikel exportfähig zu machen“.241 Auch auf dem geschützten Binnenmarkt hatte die Orleans-Weberei in den 1880er Jahren mit Absatzschwierigkeiten zu kämpfen, weil ihr Fabrikat langsam aus der Mode gekommen war. Die Zittauer Orleans-Fabrik Gebr. Schmitt, eines der ältesten und größten Unternehmen der Branche, stellte im Frühjahr 1883 den Betrieb ein. Andere Oberlausitzer Halbwoll-Webereien wechselten zu Artikeln, die von der Mode mehr begünstigt waren und deren Rohstoffversorgung weniger problematisch erschien. Statt englischer wurden nun vermehrt deutsche, „weiche“ Kammgarne und Streichgarn verwendet.242 Eine andere Spezialität der oberlausitzischen Weberei, die Fabrikation baumwollener Rock- und Hosenstoffe, profitierte zwar einerseits davon, dass vergleichbare britische und belgische Fabrikate nach 1879 weitgehend vom deutschen Markt verschwanden. Doch hatten sich im Zuge der allgemeinen Maschinisierung der Baumwollweberei die Produktionskapazitäten der inländischen Webwarenhersteller rasch vermehrt. Die Oberlausitzer Rock- und Hosenstofffabrikanten und ihre Branchengenossen aus dem preußischen Rheinland und dem Elsass hatten daher 239 Jahresbericht HK Zittau 1879, S. 5 f. 240 Vgl. ebd., S. 5–8; Jacobs, Textilzölle, S. 106. 241 Jahresbericht HK Zittau 1883, S. 100. Vgl. Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 32, 10.8.1881, S. 318. 242 Vgl. Jahresbericht HK Zittau 1882, S. 52 f.; ebd. 1890, S. 127 f. Die Sächsische Textil-Industrie …, S. 25.
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trotz der Aussperrung der ausländischen Konkurrenz in den 1880er Jahren Mühe, auf dem Binnenmarkt adäquate Preise zu erzielen. Zudem standen die Baumwollstoffe, die für Röcke (im Sinne von Männerjacken) und Hosen verwendet wurden, zunehmend im direkten Wettbewerb mit billigen Wollgeweben. So waren die Rockund Hosenstoffwebereien des Zittauer Reviers auch nach 1879 auf den Export ihrer Erzeugnisse angewiesen. Angesichts der neuen handelspolitischen Konstellationen gestaltete sich der Absatz sächsischer Baumwollwaren in Europa und Übersee aber merklich schwieriger als in den vorangegangenen Jahrzehnten. Zwar hatten die oberlausitzischen Webereien schon vor 1879 vornehmlich Gespinst aus dem Chemnitzer Revier oder dem Elsass verwendet. Auch entwickelte sich nun um Zittau und Löbau selbst eine leistungsfähige Baumwollspinnerei. Doch die Schutzzölle ließen den Preis für das inländische Baumwollgarn steigen, was ja durchaus vom Gesetzgeber gewünscht war.243 Immerhin wurden baumwollene Rock- und Hosenstoffe aus der Oberlausitz auch unter den erschwerten Bedingungen der 1880er Jahre in größerer Quantität exportiert. Zwar war der Absatz in die skandinavischen Länder und nach Italien, wo hohe Zölle und eine relativ leistungsfähige heimische Weberei die Konkurrenz erschwerten, stark rückläufig. Seit den späten 80er Jahren wurden die italienischen Baumwollwarenhersteller sogar zu einer ernst zu nehmende Konkurrenz auf den Exportmärkten. Doch in den Donaufürstentümern Moldau und Wallachei, die nun als Rumänien volle staatliche Unabhängigkeit erreicht hatten, hielten sich die Lausitzer Baumwollwaren am Markt. Auch ins freihändlerische Großbritannien wurden solche Stoffe in größeren Mengen ausgeführt, allerdings wohl meist für den Weitertransport in die Kolonien. Weitere überseeische Märkte fand die Lausitzer Rock- und Hosenstofffabrikation vor allem in Südamerika. Nach Übersee gelangten allerdings anscheinend vornehmlich Spezialitäten, die in Großbritannien und Belgien nicht gefertigt wurden, oder Modeartikel. In den gängigen Massen- und Stapelwaren konnten auch die Niedriglöhne des Zittauer Reviers nicht die Handicaps in der Garnversorgung und in der Verkehrsanbindung kompensieren.244 In der Orleans- wie auch der Rock- und Hosenstofffabrikation war die Maschinisierung schon am Ende der 1870er Jahre verhältnismäßig weit fortgeschritten. Verschwunden war die Handweberei aber auch ein Jahrzehnt später noch nicht. Um 1890 wurden in der Oberlausitz für Rock- und Hosenstoffe etwa 4000 bis 5000 Maschinenstühle eingesetzt; daneben waren noch 3000 bis 4000 Handwebstühle gangbar. Bedeutsamer blieb die Handweberei bei den bunt gemusterten baumwollenen Kleider- und Schürzenstoffen. Hier erhielt der Übergang zum Maschinenwebstuhl einen Schub im Gefolge der Aufhebung des sächsisch-böhmischen Grenzverkehrs 1882. Nachdem den Lausitzer Fabrik- und Verlagsunternehmern die billigeren Arbeitskräfte auf der böhmischen Seite der Grenze nicht mehr zur Verfügung standen, sahen sie sich veranlasst, auch in dieser Sparte zum Maschinenbetrieb überzugehen. Die heimischen Handweber, so behauptete der Jahresbericht der Han243 Vgl. Jahresbericht HK Zittau 1883, S. 91 f.; ebd. 1884, S. 65. 244 Vgl. Jahresbericht HK Zittau 1884, S. 65; ebd. 1886, S. 94 f.; ebd. 1888, S. 191, ebd.1890, S. 131; Gröllich, Baumwollweberei, S. 59 ff.; sowie Benndorf, Beziehungen, S. 140.
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dels- und Gewerbekammer Zittau für 1881/82, hätten sich im allgemeinen, „weder gewillt noch sehr geschickt gezeigt, die bisher in Böhmen gewebten Artikel herzustellen“. In den frühen 1890er Jahren hielten sich in der Buntweberei Hand- und Maschinenwebstühle in etwa die Waage.245 Mangels einer ausgeprägten Tradition zünftig-städtischer „Kunstweberei“ waren den Strategien des Ausweichens in die Nischen der handwerklich anspruchsvolleren gemusterten Stoffe im oberlausitzischen Baumwoll- und Leinenrevier engere Grenzen gesetzt als in Südwestsachsen. Wo es solche Traditionen gab, wie in der Großschönauer Damastmanufaktur, hielt sich die qualifizierte Handweberei länger. Für die älteren Damastweber bot ihr Handwerk wohl auch die folgenden Jahrzehnte eine halbwegs stabile Existenzgrundlage. Noch um 1890 wurden die feineren Sorten ausschließlich auf Handwebstühlen gefertigt. Zudem wurden in Großschönau seit den 1850er Jahren Plüsch- und Frottierwaren aus Baumwolle gewebt, für die ebenfalls zunächst qualifizierte Weber erforderlich waren.246 Die Amtshauptmannschaft Zittau gehörte daher neben der Amtshauptmannschaft Glauchau zu den Verwaltungsbezirken des Königreichs Sachsen, in denen es über die Jahrhundertwende hinaus noch eine nennenswerte Zahl von Handwebern gab. Allerdings lässt sich die Persistenz der Hand- und Heimarbeit im Zittauer Revier nicht allein auf die Damastmanufaktur und die Fertigung ähnlich hochwertiger gemusterter Ware zurückführen. Auf der anderen Seite hielt sich nämlich auf den Dörfern entlang der böhmischen Grenze die klassische ländliche Heimindustrie noch längere Zeit. Hier wurden zu Niedrigstlöhnen vornehmlich einfache Gewebe hergestellt. Dies war eine Arbeit für Frauen, die das Familieneinkommen aufbessern mussten, oder ein saisonaler Nebenerwerb für Männer. Hier scheint denn auch die Traditionslinie der alten Leinenmanufaktur durch. So wurden noch in den 1880er Jahren von solchen Arbeitskräften Creas und Listados, klassische Stapelwaren für den Export nach Südamerika und in die Karibik gefertigt. Mittlerweile wurde allerdings für diese Stoffe meist Baumwolle verwendet. Auch reine oder gemischte Leinenstoffe wurden in der Oberlausitz noch längere Zeit von Hand gewebt. Hier boten die mechanischen gegenüber den Handwebstühlen zumindest in den 1880er Jahren noch kaum einen Produktivitätsgewinn: Leinengarnfäden rissen wesentlich schneller als das elastischere Baumwollgespinst, was dazu führte, dass die Maschinenstühle oft angehalten werden mussten. Noch Anfang der 1890er Jahre standen den 2000 mechanischen Stühlen in der Lausitzer Leinenindustrie die dreifache Zahl an Handwebstühlen gegenüber.247 Auf der anderen Seite hatten sich im späteren 19. Jahrhundert eine Reihe großer Fabrikwebereien angesiedelt. Die Buntweberei Hermann Wünsche beschäftigte 245 Zitat: Jahresbericht HK Zittau 1881/82, S. 127. Vgl. ebd. 1883, S. S. 94 f.; ZSSB 31, 1885, S. 168 f.; Die Sächsische Textil-Industrie …, S. 31; Gröllich, Baumwollweberei, S. 50; zum Wandel der ländlichen Weberhaushalte in der Oberlausitz vgl. Quataert, Combining. 246 Vgl. Jahresbericht HK Zittau 1884, S. 70 f.; ebd. 1888, S. 194; Großschönau. Ortsgeschichtlicher Rückblick, S. 381–398. 247 Vgl. Krebs, Hausgewerbe, S. 313: Quataert, Strategies, S. 166; ZSSB 31, 1885, S. 168; Jahresbericht HK Zittau 1885, 1S. 07; ebd. 1888, S. 194; Die Sächsische Textil-Industrie …, S. 30 f.
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1890 an mehreren Standorten insgesamt 2.600 Arbeiter (plus etwa 600 Heimarbeiter) und war damit das größte Webwarenunternehmen Sachsens. Die Firma Wünsche gehörte zu den ganz wenigen sächsischen Webereien, die den Schritt zur Kapitalgesellschaft machten. Sie fertigte eine breite Palette glatter wie gemusterter Webwaren: bunte Hemdenflanelle, Rockstoffe, Schürzen und Bettzeuge sowohl aus Baumwolle als auch aus Leinen und Mischgarn. Zum Zeitpunkt der Unwandlung in eine Aktiengesellschaft 1888 betrieb das Unternehmen drei Webereien und übernahm auch die gesamte weitere Verarbeitung der Gewebe in firmeneigenen Bleichen, Färbereien und Appreturbetrieben. 1909 gab es in der Oberlausitz zehn Webereien, die über jeweils mehr als 600 Maschinenstühle verfügten und meist in ähnlicher Weise die Fertigung von der Rohgewebeherstellung bis Endfertigung zusammengefasst hatten, manchmal auch eine eigene Spinnerei unterhielten.248 Die Reichenbacher Kamm- und Streichgarnweberei In den Zentren der vogtländischen Kammgarnweberei um Reichenbach, Netzschkau und Mylau, sowie um Oelsnitz wuchsen nach 1880 die Produktionskapazitäten der Maschinenweberei schnell weiter an. Wo zuvor noch teilweise Baumwollmischgewebe gefertigt worden waren (wie in Netzschkau und Oelsnitz) stieg man nun ganz auf reine Wollstoffe um. Der Aufschwung der vogtländischen Kammgarnweberei dürfte auch durch den Umstand gefördert worden sein, dass sie weniger als andere Branchen von den negativen Auswirkungen der deutschen Schutzzollpolitik betroffen war, zumindest soweit sie „weiche“ Kammgarne verwendete. Auf der einen Seite profitierte sie davon, dass die Anhebung der Einfuhrzölle auf ausländische Webwaren es der französischen und belgischen Konkurrenz bedeutend schwerer machte, ihre Erzeugnisse auf den deutschen Märkten abzusetzen. Auf der anderen Seite waren die Hersteller von Thibets, Cachemirs und Merinos nicht auf den Import hochbesteuerter ausländischer Garne angewiesen. Solche weichen Kammgarne aus kurzstapeligen Wollen wurden in allen Güteklassen schon seit mehr als einem halben Jahrhundert in Sachsen maschinell gesponnen und auch die neuen Leipziger und Dresdner Kammgarngroßspinnereien, die nach 1880 gegründet wurden, konzentrierten sich vornehmlich auf diese Produktlinie. Allerdings häuften sich gegen Ende der 80er Jahre die Klagen der Kammgarnwebereien über die sie bedrückende Marktmacht ihrer Zulieferindustrie. Der Schutz vor der ausländischen Konkurrenz und eine zunehmende Unternehmenskonzentration versetzten die Kammgarnspinnereien bald in die Lage, den Binnenmarkt durch Kartellabsprachen in ihrem Sinne zu ordnen. Der Versuch der Kammgarnwebereien, sich den ihnen von den Spinnern oktroyierten Verkaufsbedingungen zu widersetzen, musste 1889 schnell wieder aufgegeben werden.249
248 Vgl. Gebauer, Volkswirtschaft, S. 33 f.; Gröllich, Baumwollweberei, S. 92 f.; Fleißig, Klassenkonstituierung Anhang II, Abt. 8, Bl. 4. 249 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1889, S. 127 f.
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Doch insgesamt erwies sich die Möglichkeit, ihr Garn aus der Region zu beziehen, als großes Plus für die Wettbewerbsfähigkeit der westsächsischen Hersteller weicher Kammgarnstoffe bei der Ausfuhr ihrer Erzeugnisse. Trotz der handelspolitischen Widrigkeiten blieb der Exportanteil der Branche hoch. Es gelang sogar, neue Auslandsmärkte zu erschließen und vor allem der französischen Konkurrenz Marktanteile im Segment der höherwertigen Kammgarnartikel streitig zu machen. Der Export sächsischer Cachemirs, Merinos und Mohair-Stoffe erzielte in den 1880er Jahren nicht allein Zuwächse im freihändlerischen Großbritannien, sondern auch in den zollgeschützten skandinavischen Staaten und selbst im hochprotektionistischen russischen Zarenreich. Der Exportoffensive der sächsischen Kammgarnwarenfabrikanten kam zudem seit Mitte der 1880er Jahre die vorübergehende Lockerung des Protektionismus in den Vereinigten Staaten von Amerika entgegen. Diese Erfolge wurden nicht zuletzt den verstärkten Anstrengungen der größeren mechanischen Webereien zugeschrieben, ihre Qualitätskontrolle zu verbessern und für eine geschmackvollerer Musterung zu sorgen. Auch Rückstände gegenüber den Franzosen bei Färben und Appretur der Gewebe seien aufgeholt worden. Dies habe, so befand der Bericht der Plauener Handels- und Gewerbekammer 1882, „die Herstellung dieser Artikel in einer Eleganz ermöglicht, die man früher nicht gekannt hat“. Die westsächsischen Kammgarnwarenfabrikanten waren nun in der Lage, Artikel von ähnlicher Qualität wie die zuvor längere Zeit marktführende französische Industrie anzubieten, jedoch zu einem wesentlich günstigeren Preis. Die Maschinisierung war in dieser Branche schon am Ausgang der 1870er Jahre vergleichsweise weit fortgeschritten gewesen. Auch weiche Kammgarne ließen sich nun gut maschinell verweben, zumal wenn es sich wie bei den Thibets und Merinos meist um glatte Gewebe handelte.250 Im Reichenbacher Revier überlappte die Kammgarn- mit der Streichgarnweberei. Mitunter wurden sogar in den gleichen Fabrikbetrieben nebeneinander Merinos und Flanelle gefertigt. Auch was Rohstoffversorgung und Absatz anging, wiesen beide Zweige der südwestsächsischen Wollwarenfertigung um 1880 zunächst einmal grundlegende Gemeinsamkeiten auf. Die Reichenbacher Streichgarnweberei konnte ihren Garnbedarf ebenfalls von Spinnereien aus der Region decken, wurde demnach durch die neuen Garnzölle allenfalls indirekt getroffen. Und wie die Kammgarnweberei des Reviers spielten die außerdeutschen Absatzgebiete, sowohl in Europa und Vorderasien als auch in Übersee, für die Reichenbacher Streichgarnwarenhersteller eine relativ gewichtige Rolle. Beide Branchen teilten sich zudem die gleiche Infrastruktur an Färbereien, Textildruckereien und Appreturbetrieben. Dennoch verlief die wirtschaftliche und betriebsorganisatorische Entwicklung in der Reichenbacher Streichgarnweberei während der 1880er Jahre deutlich anders als in der Kammgarnbranche des gleichen Standorts (bzw. Reviers). Zunächst einmal erscheint die Streichgarnweberei in Reichenbach und Umgebung, was ihr Produktprofil angeht, sehr viel volatiler als die hier auf einem wesentlich längeren Traditionsvorlauf ruhende Kammgarnweberei. Die Flanellfabrikation, 250 Zitat: ebd. 1882, S. 111. Vgl. ebd. 1884, S. 116 f.; ebd. 1887, S. 116 f.; ebd. 1889, S. 127 f. Ähnlich auch für Rochlitz: Jahresbericht HK Chemnitz 1882, S. 106 f.
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die sich im Reichenbacher Revier während der Krise der Kammgarnindustrie in den 1860er Jahren ausgebreitet hatte, stand 15 Jahre später vor dem Problem, dass vor allem die einfacheren Sorten wie die Hemdenflanelle zusehends durch billigere Baumwollgewebe vom Markt verdrängt wurden. Die Reichenbacher Wollwebwarenunternehmer gingen nun verstärkt zur Herstellung von karierten und gestreiften Kleiderflanellen über, mit denen sie u. a. der benachbarten Glauchauer Kamm- und Mischwollweberei Konkurrenz machten. Die Vielfalt des Produktprofils der Streichgarnweberei wurde durch solche Strategien noch erhöht. Hinzu kam, dass für verschiedene Absatzgebiete häufig ganz unterschiedliche Artikel gefertigt wurden. Fanden die Kleiderflanelle ihre Abnehmer hauptsächlich auf dem Binnenmarkt, so gingen etwa Tischdecken vornehmlich nach Großbritannien und in die USA.251 Vollends unübersichtlich wurde das Produktspektrum des Reviers im Export in die überseeischen Absatzgebiete. Die Rückkehr des handelspolitischen Protektionismus in Europa veranlasste viele Reichenbacher Streichgarnwarenunternehmer, die noch weniger erschlossenen, aber relativ offenen und potenziell aufnahmefähigen ostasiatischen Märkte in den Blick zu nehmen. Einige von ihnen versuchten ihr Glück Anfang der 1880er Jahre mit sog. Spanish Stripes, einem tuchartig appretierten Gewebe, das auch von der rheinischen und englischen Konkurrenz angeboten wurde. Schon in ihrem Jahresbericht von 1881 vermeldete der Plauener Handelskammerbericht, Spanish Stripes aus Reichenbach, seien in „ganz beträchtlichen Quantitäten“ für den Export nach Indien, China und Japan geliefert worden. Im folgenden Jahr wurden solche Stoffe auch nach Serbien und Rumänien versandt. 1883 waren Lieferungen von Spanish Stripes nach San Francisco und Rio de Janeiro hinzugekommen und eine größere Anzahl weiterer Reichenbacher Fabrikanten und Verleger hatte mit der Fertigung des neuen Artikels begonnen.252 Zwei, drei Jahre später war der Boom der spanisch-gestreiften Wollstoffe für die südwestsächsische Streichgarnweberei schon wieder vorbei. Vor allem der indische Markt war durch Konsignationsgeschäfte, durch Versand auf Kommissionsbasis ohne feste Bestellungen, völlig überschwemmt worden. Der Run der europäischen Textilexporteure auf die vermeintlichen neuen asiatischen Massenmärkte hatte schnell die Grenzen von deren Aufnahmefähigkeit gezeigt. Bereits 1885 zog der Jahresbericht der Plauener Handels- und Gewerbekammer ein ernüchterndes Resümée: „Die Preislage im überseeischen Geschäft ist so, daß der Fabrikant im großen Ganzen von jeglichem Nutzen absehen muß und nur für besondere Genres, die nicht jeder macht, der Selbstkostenpreis oder ein sehr mäßiger Nutzen erreicht werden kann, während für Stapelartikel fast niemals der Selbstkostenpreis zu erlangen ist. Je räumlich entfernter der Absatzmarkt ist, desto schlechter sind die Preise, wie dies namentlich bezüglich Ostindiens und Australiens zu beobachten gewesen ist.“253
Eine ähnliche Entwicklung nahm in der ersten Hälfte der 1880er Jahre der Export von bedruckten Tischdecken nach Großbritannien und die USA, einem bislang wichtigen Standbein der Reichenbacher Streichgarnweberei. Noch 1882 konnte 251 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1881, S. 146: ebd. 1882, S. 108 f., ebd. 1883, S. 98. 252 Vgl. ebd. 1881, S. 146; ebd. 1882, S. 109; ebd. 1883, S. 98. 253 Ebd. 1885, S. 102. Vgl. ebd. 1886, S. 101.
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sich die Branche über ein „höchst lebhaftes“ Geschäft in diesem Artikel freuen. Im folgenden Jahr wurden sogar die US-Einfuhrzölle ermäßigt, so dass eine weitere Steigerung des Tischdeckenexports zu erwarten stand. Doch wurden diese Erwartungen gründlich enttäuscht. Zunächst einmal verloren die Reichenbacher Tischdeckenhersteller im ersten Halbjahr 1883 eine ganze Verkaufssaison, weil die amerikanischen Importeure mit ihren Bestellungen abwarteten, bis die Zollsenkung im Juli in Kraft getreten war. Dann mussten sie feststellen, dass auf dem US-Markt nur noch die billigsten Qualitäten zu den schlechtesten Preisen abzusetzen waren. 1884 hatte der Export nach Amerika in Tischdecken fast ganz aufgehört und in Reichenbach stellte man resigniert fest, der Artikel habe sich wohl überlebt. Im folgenden Jahr brach auch der Absatz in Großbritannien ein. Am Ende der 1880er Jahre war das Geschäft mit den „früher so begehrten“ Streichgarndecken so weit zurückgegangen, dass auch die Textildruckereien in Mylau und Greiz, die sich auf den Bedarf der Reichenbacher Deckenfabrikation eingestellt hatten, nicht mehr befriedigend beschäftigt werden konnten.254 Die Reichenbacher Webwarenunternehmer fanden gewöhnlich bald andere Artikel und neue Absatzmärkte. Doch mehrte dies letztlich nur noch die Volatilität und Zersplitterung von Produktion und Vermarktung. Als 1890 der McKinley-Tarif das US-Geschäft fürs erste lahmgelegt hatte, bemerkte der Plauener Handelskammerbericht, die Reichenbacher Hersteller hätten sich zwar bemüht „in anderen Ländern Ersatz dafür zu finden, so geht es doch erfahrungsgemäß nicht so schnell, ein neues Absatzgebiet zu gewinnen.“ Es folgte eine lange Liste der Beschwerlichkeiten des Streichgarnwarenexports: „In den Südamerikanischen Staaten hemmten die fortwährend auftretenden partiellen politische Unruhen die sehnlichst erwartete stabilere Entwicklung des Geschäfts, außerdem blieb das enorm gestiegene Goldagio in jenen Ländern nicht ohne nachtheiligen Einfluß. Die spärlichen und kleinen Aufträge ließen aber wenigstens noch einigen Nutzen. So viele Anstrengungen auch gemacht wurden, auf dem Australischen Markte festen Fuß zu fassen, so war doch fast kein Erfolg daselbst zu erzielen, wogegen die Reichenbacher Artikel auf den Südseeinseln und in den Deutschen Kolonien Afrikas, deren Konsum allerdings noch sehr gering ist, bereitwillige Aufnahme fanden. In Tunis werden allmälig die Deutschen Waaren den Französischen immer mehr vorgezogen, vorzüglich gilt dies von den aus Streichgarnen gefertigten Casimirs de Laine, aber auch buntgewebte Flanelle finden dort guten Absatz. Dieser letzterwähnte Artikel hat auch für Egypten seine Bedeutung noch nicht verloren … Ostindien ist für den Absatz wegen der dort immer noch vorherrschenden Art des Geschäftes in Konsignationen wenig günstig, nur vereinzelt und auch nur in kleinem Umfange werden feste Aufträge erteilt und zwar kamen für den Absatz dorthin hauptsächlich Spanish Stripes, in geringerem Maße auch Spagnolets sowie ganz leichte bunte Flanelle in Frage. In Japan und China drückte der ganz ungünstige Silberkurs das Geschäft … Persien, die Türkei, Serbien und Rumänien gaben in gewöhnlichen Flanellen, worin der Absatz nach jenen Ländern an sich nicht bedeutend ist, keine Aufträge. In Italien verdrängt die nationale Industrie immermehr die Reichenbacher Fabrikate …“255
Die Vielzahl der hergestellten Stoffe und der belieferten Märkte hatte offensichtlich Folgen für den Industrialisierungsprozess in der Reichenbacher Streichgarnwebe254 Vgl. ebd. 1882, S. 109; ebd. 1883, S. 99; ebd. 1884, S. 114; ebd. 1885, S. 102; ebd. 1889, S. 125. 255 Ebd. 1890, S. 126 f.
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rei. Die Heimarbeit am Handwebstuhl galt im Streichgarnsektor den Reichenbacher Textilunternehmern noch am Ausgang der 1880er Jahre als unentbehrlich. Dies lag nun nicht mehr so sehr an den Materialeigenschaften den Streichgarns – Flanellstoffe konnten um 1880 technisch sehr wohl auf Maschinenwebstühlen fabriziert werden. Es wurden auch Jahr für Jahr in Reichenbach und Umgebung neue Fabrikbetriebe gegründet und die Zahl der mechanischen Stühle in den schon bestehenden Fabrikwebereien nahm stetig zu. Doch waren die jährlichen Zuwächse eher bescheiden. 1884, auf der Höhepunkt des Spanish-Stripes-Booms, kam im Revier nur eine einzige neue Streichgarnweberei mit gerade einmal 20 mechanischen Webstühlen neu hinzu. Im folgenden Jahr waren es immerhin fünf neue Betriebe, die aber jeweils nur zwischen 8 und 20 Stühlen aufgestellt hatten. Noch 1886 spielte die Handweberei bei Fertigung von Flanellen die „vorwiegende Rolle“. Der zögerliche Einstieg in die Maschinenweberei hatte, wie der Handelskammerbericht für 1882 bemerkte, seine Ursache vor allem darin, dass die „große Mannichfaltigkeit der verlangten Muster eine Herstellung derselben in größeren Mengen nicht gestattet“.256 Dabei hatten die Reichenbacher Webwarenunternehmen mit einem zunehmendem Mangel an Arbeitskräften zu kämpfen, da die Zahl der Handweber in der weiteren Umgebung der Stadt „von Jahr zu Jahr“ abnahm. Im Laufe der 1880er Jahre verlagerte sich daher das Produktionszentrum der vogtländischen Flanell-Handweberei zunehmend von Nordwesten nach Südosten. Über Falkenstein und Ellefeld wanderte es in die ländlich-gebirgige Gegend entlang der bayerischen und böhmischen Grenze. Am Ende des Jahrzehnts arbeiteten vor allem die Handweber im Raum zwischen Oelsnitz/Voigtsberg, Eichigt, dem Grenzort Ebmath und Adorf für die Reichenbacher Flanellfabrikanten und das noch verbliebene reine Verlagsunternehmen. Hier hatte die Transformation der Gardinenweberei zur maschinellen Gardinenwirkerei in den Jahren nach 1880 zahlreiche Muster- und Jacquardweber freigesetzt, die einstweilen mit der Fertigung bunter Streichgarngewebe beauftragt werden konnten. In Oelsnitz, Adorf und Ebmath richteten die Geschäftshäuser aus Reichenbach eigene Ausgabestellen ein und/oder beauftragten Faktore mit der Organisation der dezentralen Produktion.257 Allerdings blieb den Reichenbacher Textilfirmen der Zugang zu dem (noch billigeren) Arbeitskräftereservoir in Böhmen und Bayern weitgehend verwehrt. Dem zuvor lebhaften böhmisch-sächsischen Grenzverkehr hatte die neue österreichische Zollgesetzgebung Anfang der 1880er Jahre eine Ende bereitet. Die noch zahlreich vorhandenen Handweber im bayerischen Vogtland hatte die dort ansässige Konkurrenz bereits absorbiert. Dort, im Gebiet zwischen Hof und Helmbrechts, standen die Web-, Färbe- und Appreturlöhne noch niedriger als im sächsischen Vogtland. 1885 klagten die sächsischen Flanellfabrikanten, das überseeische Exportgeschäft, bei dem die „Waare … überhaupt nicht schlecht und billig genug sein“ könne, hätten 256 Zitate ebd. 1886, S. 102; ebd. 1882, S. 110; vgl. ebd. 1881, S. 146 f.; ebd. 1883, S. 99 f.; ebd. 1884, S. 115, ebd. 1885, S. 104; ebd. 1887, S. 114; 1888, S. 113 ff. 257 Vgl. ebd. 1881, S. 147; ebd. 1882, S. 110 f.; ebd. 1883, S. 100; ebd. 1884, S. 115; ebd. 1885, S. 104 f.; ebd.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
mittlerweile Firmen aus Helmbrechts an sich gerissen, „mit denen Reichenbach im allgemeinen nicht concurriren vermag.“258 Angesichts der unbefriedigenden Lage auf den Auslandsmärkten und der absehbaren weiteren Schrumpfung des Arbeitskräftepools in der Heim- und Handweberei mehrten sich seit der Mitte der 1880er Jahre die Anzeichen für eine allmähliche Umorientierung der Reichenbacher Textilunternehmer. Den erfolgversprechendsten Ausweg aus ihrem Dilemma bot der wachsende Bedarf der sich seit der Reichsgründungszeit ausbreitenden Konfektionsindustrie an wollenen Kleiderstoffen. Schon 1883 konstatierte der Jahresbericht der Handels- und Gewerbekammer Plauen die Nachfrage nach solchen Artikel sei so stark gewesen, dass nicht einmal während des Winters die Fabrikation unterbrochen werden musste. Zwei Jahre später zählte die gleiche Quelle geköperte Damenmäntel und -oberkleider für die Konfektion zu den Hauptgegenständen der Reichenbacher Streichgarnwarenindustrie. In den nächsten Jahren weitete sich die Palette der im Revier gefertigten Konfektionsstoffe auf imitierte Kammgarnartikel in (preiswerterem) Streichgarn aus. Auch Vigogne fand als Kettgarn vermehrt Verwendung. Die Vorteile dieser Strategie lagen auf der Hand: Die Abnehmer von Konfektionsstoffen kamen überwiegend aus dem Inland, vor allem aus der neuen Reichshauptstadt Berlin, wo die Bekleidungsindustrie ihren größten Produktionsstandort gefunden hatte. Dies ersparte Zollabgaben und Transportkosten, mit denen nun im Gegenteil die ausländische Konkurrenz belastet wurde. Mehr noch, die Konfektion verlangte nach Stoffen in relativ hoher Auflage. Hier lohnte sich die Anschaffung mechanischer Webstühle eher und erschien weniger risikoreich als im zersplitterten und hochvolatilen Exportgeschäft.259 Die Buckskin- und Tuchfabrikation In der unmittelbaren Nachbarschaft des Reichenbacher Reviers, in den alten Tuchmacherstädten Lengenfeld und Kirchberg wie auch in Crimmitschau und Werdau waren seit jeher Streichgarne verarbeitet worden. Das Produktspektrum war hier weniger breit und die Fabrikanten konnten sich im allgemeinen auf einen soliden Kern von eingeführten Stapelartikeln stützen, für die sie auf dem Binnenmarkt steten Absatz fanden. Crimmitschau hatte sich in den vorausgegangenen Jahrzehnten zum sächsischen Hauptstandort der Buckskin-Weberei entwickelt. Da Buckskins ganz überwiegend zu Herrenoberbekleidung verarbeitet wurden, hielt sich hier die Muster- und Farbenvielfalt in Grenzen. Dies und eine relativ große und verlässliche Binnennachfrage hatten wohl dazu beigetragen, dass der Übergang zur Fabrik seit den 1870er Jahren recht zügig verlief. Und nicht zu vergessen: die Herstellung von Buckskin-Webstühlen war eine Domäne des nahen Chemnitzer Textilmaschinenbaus, genauer gesagt, der „Sächsischen Webstuhlfabrik vorm. Louis Schönherr“.
258 Ebd. 1885, S. 102; vgl. ebd. 1881, S. 146; ebd. 1886, S. 114. 259 Vgl. ebd. 1882, S. 109; ebd. 1883, S. 98 ff.; ebd. 1885, S. 103; ebd. 1886, S. 102; ebd. 1889, S. 124 f.
5.4 Die Weberei nach der handelspolitischen Wende 1879–1890
381
Bereits am Beginn der 1880er Jahre war die Handweberei in Crimmitschau eine nur noch marginale Erscheinung.260 Die zollpolitische Wende von 1879 fand bei den Buckskin-Fabrikanten eine relativ günstige Aufnahme. Schon zuvor war ganz überwiegend für den Binnenmarkt produziert worden, und das Garn stammte meist aus der eigenen Spinnerei. Mit Genugtuung nahm man in Crimmitschau zur Kenntnis, dass die Billigware aus England und Belgien durch die kräftig heraufgesetzten Gewichtszölle nun rasch vom Markt verschwand. Umkämpft waren aber nach wie die höheren Qualitätsund Preissegmente. Zum Einen war in diesem Bereich aufgrund der bekannten Effekte des nach Gewicht erhobenen Zolls die Abgabenbelastung für importierte Stoffe eher vernachlässigbar. Für einen besseren Herrenanzug, so rechnete 1884 der Berichterstatter der Plauener Handelskammer vor, mache der Zoll etwa 3,50 Mark aus, was bei einem Gesamtpreis von 90 oder 95 Mark „für den feinen Mann unwesentlich und unbemerkbar sei“. Zudem haftete gerade den britischen Herrenbekleidungsstoffen in mode- und statusbewussten Verbraucherkreisen ein besonderes Prestige an, gegen das die Crimmitschauer Hersteller nur schwer ankamen, selbst wenn sie ihre Waren preisgünstiger als die Konkurrenz anboten.261 Zum Zweiten überschnitt sich in den gehobenen Qualitäten der Markt für Buckskins zunehmend mit dem der Kammgarngewebe. In der zweiten Hälfte der 1880er Jahre wurden die höherwertigen Streichgarnfabrikate aus Crimmitschau und Werdau von Kammgarnherrenstoffen aus den benachbarten Gera, aus dem Aachener Revier und der preußischen Niederlausitz zusehends vom Markt verdrängt. Einige Crimmitschauer Fabrikanten gingen nun dazu über, selbst Kammgarnstoffe zu fertigen. Dies war jedoch mit erheblichen Problemen verbunden. Da die Streichgarnweberei im Crimmitschau-Werdauer Revier gewöhnlich mit der Spinnerei in einem Betrieb integriert war, kam nach der Umstellung auf Kammgarn, „ein Theil der Streichgarnmaschinen zum Stillstand … und die Rentabilität der Fabriken leidet, für welche in der gezwungenen Ueberführung dieser Maschinen zur Lohnspinnerei von Vigogne selbstverständlich kein genügender Ausgleich zu finden ist.“262
Der hohe Grad betrieblicher Integration erschwerte es der Crimmitschauer Streichgarnweberei, auf Marktveränderungen flexibel zu reagieren. Die Mehrzahl der Buckskin-Webereien verlegte sich aber in verstärktem Maße auf die Fertigung einfacher und billigerer Qualitäten. Wie im benachbarten Reichenbach bot nämlich auch hier die rasch wachsende Nachfrage der Konfektionskleiderhersteller die Möglichkeit, Stapelware zu produzieren und auf dem Binnenmarkt in großen Mengen abzusetzen. Vor allem nach Stettin, wo die für den Export arbeitende Kleiderkonfektion einen Hauptsitz hatte, lieferten die Crimmitschauer Buckskin-Fabriken nun ihre Erzeugnisse. Der Export der Stoffe selbst war dagegen nach wie vor wenig bedeutsam. Nur in die Schweiz, die Niederlande und Skandina260 Vgl. ebd. 1880, S. 208; ebd. 1882, S. 105 ff.; Wetzel, Webstuhlbau, S. 115; Jahresbericht HK Chemnitz 1887, S. 175 f. 261 Zitat: Jahresbericht HK Plauen 1884, S. 111. Vgl. ebd. 1880, S. 209; ebd. 1881, S. 144; ebd. 1882, S. 107. 262 Ebd. 1888, S. 111. Vgl. ebd. 1889, S. 119 f.; ebd. 1890, S. 124.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
vien gingen die westsächsischen Buckskins in nennenswerten Mengen. Zudem exportierten Hamburger Grossisten zumindest zeitweise in Crimmitschau eingekaufte Webwaren in die USA.263 Die Fabrikation halbwollener Cassinets in Werdau erholte sich dagegen nach 1879 nicht wieder. 1884 konstatierte der Berichterstatter der Plauener Handelskammer, die ganze Industriezweig könne als erloschen gelten. Die Werdauer Streichgarnwebereien stellten nun ebenfalls vornehmlich Buckskins her.264 Die rege Nachfrage der Konfektionsindustrie in Berlin und Stettin nach billigen Wollstoffen für Herrenanzüge veranlasste im Laufe der 1880er Jahre auch die Kirchberger Tuchfabrikanten, sich verstärkt der Fertigung von Buckskin-Stoffen zuzuwenden. Sie kompensierten damit das rückläufige Geschäft in den bisher vornehmlich produzierten gedeckten einfarbigen Tuchen.265 Da fiel es auch nicht groß ins Gewicht, dass die bisherigen Auslandsmärkte nach und nach verloren gingen. Noch am Anfang der 1880er Jahre lieferten die Kirchberger Fabriken offenbar ansehnliche Quantitäten ihrer Tuchspezialitäten nach Skandinavien, Italien und in die Levante. Selbst dem „Englischen Fabricat“ habe man, wie es im Handelskammerbericht für 1881 heißt, „erfolgreich die Spitze geboten.“266 Im Laufe des folgenden Jahrzehnts verschlechterte sich aber die Marktposition der Kirchberger Tuch- und Buckskin-Artikel zunehmend. In Dänemark, Norwegen und Schweden, ebenso in Italien stand man im Wettbewerb mit einer einheimischen, durch protektionistische Maßnahmen begünstigten Webindustrie. Im Orient wurden die Kirchberger Fabrikate von der belgischen und der österreichischen Konkurrenz bedrängt. Hier mussten sich sie sich mit dem Handicap auseinandersetzen, dass dort, wo keine Goldwährung wie im Deutschen Reich herrschte, „Rimessen nach Deutschland teurer kommen als beispielsweise nach Oesterreich.“ Zwischenzeitliche Versuche, auf dem chinesischen und indischen Markt Fuß zu fassen, scheiterten an der baldigen Überschwemmung dieser Absatzgebiete mit Konsignationssendungen. 1890 konstatierte der Bericht der Handels- und Gewerbekammer Plauen, der Export von Tuchen und Buckskins aus Kirchberg habe fast ganz aufgehört.267 Den auf eigene Rechnung arbeitenden Kirchberger Tuchmachermeistern hatte die deutsche Zollgesetzgebung zunächst noch einmal einen kleinen Aufschwung beschert. Im Geschäftsjahr 1880/81 verzeichnete die örtliche Innungswalke mit 7.823 Stück verarbeiteter Tuche ein Plus von 14 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Doch zwei Jahre später wies die gleiche Statistik kaum mehr als 6.000 Stück auf, während zur gleichen Zeit von den Maschinenwebereien in Kirchberg und im Vorort Saupersdorf etwa 77.000 Stück auf fast 400 mechanischen Webstühlen gefertigt worden waren. In den folgenden Jahren gaben die noch verbliebenen Tuchmacher, 263 Vgl. ebd. 1882, S. 106; ebd. 1884, S. 110; ebd. 1885, S. 100; Die Sächsische Textil-Industrie …, S. 25 f.; Buttler, Textilindustrie, S. 12, 40 f. 264 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1883, S. 106; ebd. 1884, S. 122. 265 Vgl. ebd. 1881, S. 139; ebd. 1884, S. 105; ebd. 1887, S. 104: ebd. 1889, S. 117. 266 Ebd. 1881, S. 139. 267 ebd. 1890, S. 122; vgl. ebd. 1883, S. 91; ebd. 1884, S. 105; ebd. 1885, S. 96; ebd. 1888, S. 106; ebd. 1889, S. 117.
5.5 Die industrielle Transformation der sächsischen Webwarenwirtschaft
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die überwiegend an ihren gewohnten glatten grauen Tuchen festgehalten hatten, einer nach dem anderen ihr Gewerbe auf.268 In Lengenfeld, dem anderen Hauptort des westsächsischen Tuchmacherreviers, verlief diese Entwicklung deutlich langsamer. 1882 gab es hier erst 65 mechanische Tuchstühle, die sich auf sechs kleine Fabriken am Ort verteilten. In den folgenden Jahren wuchsen zwar auch in Lengenfeld die Produktionskapazitäten der Maschinenweberei. Doch schlugen die Lengenfelder Fabrikanten nicht die in Kirchberg, Crimmitschau und Werdau verfolgte Strategie ein, sich auf Stapelware für die Konfektionsindustrie zu konzentrieren. Statt dessen gingen sie vermehrt dazu über, feinere und teuere Artikel zu fertigen. Ein Teil der Lengenfelder Tuchmachermeister produzierte noch um 1890 auf Handstühlen die gewohnten billigen Sachen und verkaufte sie roh an die größeren Geschäfte. Andere sattelten auf neue Erzeugnisse um und webten etwa in Lohnarbeit Flanelle für die Reichenbacher Verlagsgeschäfte.269 5.5 DIE INDUSTRIELLE TRANSFORMATION DER SÄCHSISCHEN WEBWARENWIRTSCHAFT 5.5 Die industrielle Transformation der sächsischen Webwarenwirtschaft Der fabrikindustrielle Wandel in der sächsischen Weberei Verfolgt man die Industrialisierung der Webwarenproduktion in den verschiedenen Branchen und Revieren des sächsischen Textilgürtels, so lässt sich bei aller Varianz im Einzelnen doch ein recht eindeutiges Fazit ziehen: Die Maschinisierung der sächsischen Weberei vollzog sich im wesentlichen in den 1870er und 1880er Jahren. 1870 überwog der Einsatz kraftgetriebener mechanischer Webstühle in Fabriken die hergebrachte dezentrale Manufaktur nur an wenigen Standorten bei einer recht überschaubaren Liste von Artikeln. 1890 war der Übergang zur Fabrikweberei zwar nicht abgeschlossen, doch in der Mehrzahl der Reviere und Branchen zum Regelfall geworden. 1895 gab es in ganz Sachsen rund 49.000 kraftgetriebene Webstühle, denen noch etwa 14.500 „gangbare“ Stühle ohne Kraftantrieb gegenüberstanden. Nur in der Leinenweberei überstieg die Zahl der Hand- die der Maschinenwebstühle noch.270 Wenn auch genaue Daten fehlen, so kann man daher davon ausgehen, dass die weitaus meisten in Sachsen produzierten Baumwoll-, Woll- und Mischgewebe nun maschinell hergestellt wurden. Der Anteil der „Hausindustrie“ an der Gesamtzahl der Beschäftigten in der Weberei wollener, baumwollener, leinener und gemischter Stoffe schrumpfte ebenfalls, wenn auch natürlich nicht in dem Maße wie ihr Anteil an den Produktionsziffern. Nach der Reichsgewerbezählung von 1882 waren noch fast 60 Prozent aller in der Weberei beschäftigten Personen in
268 Vgl. ebd. 1881, S. 139; ebd. 1882, S. 99; vgl. ebd. 1883, S. 91. 269 Vgl. ebd. 1882, S. 98 f., 110; ebd. 1883, S. 92; ebd. 1888, S. 107, Ebd. 1890, S. 123; Bein, Industrie, S. 444 ff. 270 Daten nach ZSSL 44, 1898, S. 172.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
hausindustriellen Betrieben tätig. Dreizehn Jahre später, 1895, war dieser Anteil auf etwa 35 Prozent gefallen; 1907 betrug er noch rund 20 Prozent.271 Die unterschiedliche Geschwindigkeit, mit der sich der Prozess der Maschinisierung in den einzelnen Revieren, Standorten und Branchen der sächsischen Weberei vollzog, lässt sich zunächst einmal an den bereits mehrfach angesprochenen technischen Faktoren festmachen. Am Ende der 1870er Jahre waren die wichtigsten technologischen und verkehrstechnischen Voraussetzungen des Übergangs zum Fabrikbetrieb – die problemlose Verfügbarkeit adäquater Webmaschinen und kostengünstiger Antriebsenergie – in den Textilrevieren des Königreichs Sachsen flächendeckend vorhanden. Sicherlich waren einige Standorte verkehrsgünstiger gelegen als andere. Die Woll- und Vigognegarne verarbeitenden Betriebe konnten auf Webstuhltechnologie aus der Region zurückgreifen, während die Baumwollwebereien überwiegend auf den kostspieligen Import von Maschinen angewiesen waren. Doch das Tempo der Industrialisierung wurde dadurch, zumindest in den 1870er und 80er Jahren nicht erkennbar beeinflusst. Nach wie vor bedeutsam für den Gang der Entwicklung erscheinen dagegen material- und verarbeitungstechnische Eigentümlichkeiten. Bestimmte Materialien – festes Baumwollgarn, „hartes“ Kammgarn – eigneten sich besser als andere (spröde Streichgarne, Seide, Leinen) für die maschinelle Weberei. Artikel, bei denen es auf die Gleichmäßigkeit der Verarbeitung ankam, konnten nicht nur schneller, sondern auch qualitativ besser mit Maschinen- als mit Handstühlen hergestellt werden. Bei Stoffarten, bei denen die Komplexität der Musterung oder die Reißanfälligkeit des Garns den maschinellen Herstellungsprozess verlangsamte, konnten die Handweber den Produktivitätsvorsprung des Fabrikbetriebs immer noch kompensieren. Ähnliches galt für Artikel, die nur in kleinen Mengen nachgefragt wurden. Hier lohnte sich die Anschaffung oder häufige Umrüstung von mechanischen Webstühlen oft nicht. Der Übergang zum Fabrikbetrieb erscheint in den 1870er und 80er Jahren als eine unternehmerische Entscheidung, die vergleichsweise wenig von spezifischen Standortbedingungen determiniert war. An zahlreichen Orten hielten sich Maschinen- und Handweberei für längere Zeiträume mehr oder minder die Waage. Manche der unternehmerischen Akteure gingen dazu über, ihre bisherigen Produkte maschinell herzustellen; andere wechselten zu neuen Artikeln, die noch auf absehbare Zeit mit Handwebstühlen gefertigt werden konnten. Nicht selten kombinierten die sächsischen Textilfabrikanten auch eine Zeit lang die Maschinen- mit der Handweberei – entweder, indem sie neben den mechanischen auch Handwebstühle in ihren Fabriksälen aufstellten oder indem sie auswärtige Heimweber beauftragten. Das Festhalten an der Handweberei implizierte oft auch eine Entscheidung für bestimmte Marktsegmente und Marktstrategien. Einerseits wurden in der ländlichen Peripherie der Textilreviere auch noch am Ende des 19. Jahrhunderts billige und grobe Gewebe gefertigt, zu Niedrigstlöhnen im bäuerlichen und unterbäuerlichen Nebenerwerb.272 Andererseits verblieben der Handweberei und der dezentralen Manufaktur die Fertigung bestimmter hochwertiger und komplex gemusterter Gewebe, 271 Vgl. Krebs, Hausgewerbe, S. 311. 272 Für die Oberlausitz vgl. Quataert, Strategies, S. 168 f.; sowie Krebs, Hausgewerbe, S. 321.
5.5 Die industrielle Transformation der sächsischen Webwarenwirtschaft
385
von Modewaren in häufig wechselnden Designs und von Spezialartikeln in geringer Auflage. Damit verbunden war tendenziell auch eine größere Orientierung auf den Export. Bei hochwertigen Stoffen schlugen die Zollabgaben auch nach der Wende zum internationalen Protektionismus um 1880 prozentual weniger auf die Verkaufspreise. Nischenartikel fanden möglicherweise auch bei hohen Zöllen Absatz, wenn sie im Exportland selbst nicht hergestellt wurden. Die Volatilität und geringe Berechenbarkeit des Auslandsabsatzes und von Märkten, die den Schwankungen der Mode unterwarfen waren, machte es wiederum für die unternehmerisch disponierenden Wirtschaftsakteure riskant, allzu viel Kapital in Gebäuden und Maschinen fix anzulegen. Aus ihrer Perspektive bot die dezentrale Manufaktur nach wie vor den Vorteil, dass solche Risiken auf die zerstreuten, formal selbständigen Kleinproduzenten verteilt werden konnten. Zumindest konnten sie als disponible Konjunkturreserve dienen oder in den Phasen des saisonalen Hochbetriebs zusätzliche Produktionskapazitäten bereitstellen. Es wurde allerdings für die sächsischen Webwarenverleger und -fabrikanten zunehmend schwieriger, solche Strategien des Outsourcings zu verfolgen. Seit den ausgehenden 1870er Jahren mehrten sich in den Handelskammerberichten die Klagen über den Mangel an qualifizierten Handwebern. Als Lernberuf wurde die Weberei angesichts des offensichtlich unaufhaltsamen Vordringens der mechanischen Webstühle nach 1870 unattraktiv. Zudem bot das industrielle und urbane Wachstum gerade in Sachsen zahlreiche Möglichkeiten besser lohnender Beschäftigung und aussichtsreicherer beruflicher Qualifikation als die Weberei. In einer Übergangsphase konnte der Mangel an qualifiziertem Nachwuchs noch weitgehend kompensiert werden – solange es zahlreiche erwachsene Handweber gab, die im Zuge der fortschreitenden Maschinisierung gezwungen waren, sich nach einer neuen Branche umzusehen. So übernahmen etwa die Reichenbacher Flanellfabrikanten in den 1870er und 80er Jahren zu größeren Teilen das ehemalige Verlagsnetzwerk der Plauener, Falkensteiner und Auerbacher Gardinenweberei im südöstlichen Vogtland. Längerfristig schrumpfte die räumliche Ausdehnung der sächsischen Handund Heimweberei weitgehend auf die ländliche Peripherie der alten Textilreviere, wo das Weben meist billiger, einfacher Stoffe als saisonaler Nebenerwerb der Männer oder zur Aufbesserung des Familieneinkommens von Frauen übernommen wurde. Diese Entwicklung spiegelt sich etwa in einer Feminisierung der hausindustriellen Weberei. Bei den der Woll- und Mischgeweben erhöhte sich der Anteil weiblicher Heimarbeiter zwischen 1882 und 1907 von etwa 17 Prozent auf fast 47 Prozent, in der Leinen- und Baumwollweberei von rund einem Drittel auf über 60 Prozent.273 Man sollte daher auch das Bild einer Industrialisierung in der Weberei, das geprägt ist vom Massenelend der Handweber zumindest im sächsischen Fall nicht überstrapazieren. Selbst für die ältere Generation der Verlagshandwerker und Heimarbeiter gab es in der Periode des Übergangs zur Maschinenweberei noch zahlreiche Alternativen, auch im Textilsektor Beschäftigung zu finden. Zudem ging offenbar der sächsischen Webwarenwirtschaft im späteren 19. Jahrhundert die bislang genos273 Vgl. Krebs, Hausgewerbe, S. 310–313. Siehe Tabelle 6 im Anhang.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
senen Lohnkostenvorteile zunehmend verloren. In angrenzenden bayerischen, österreichischen und preußischen Webereirevieren – im fränkischen Vogtland, im böhmischen Erzgebirge, in der Niederlausitz – ebenso in anderen Regionen des Habsburgerreiches, in Russland, in Italien, ja selbst in Frankreich erwuchs ihr eine Konkurrenz, die auf billigere Arbeitskräfte zurückgreifen konnte. So wird man die Entwicklung des regionalen Arbeitsmarktes – der Mangel an qualifiziertem Nachwuchs und das steigende Lohnniveau in der sich diversifizierenden Industrieregion Sachsen – unter die Push-Faktoren der Maschinisierung der Weberei zählen können. Auf der anderen Seite verlangte der Übergang zur Fabrik nach Marktbedingungen, die einen möglichst kontinuierlichen Betrieb gewährleisteten, und nach einer gewissen Einschränkung des Spektrums der gefertigten Produkte und der Varianz ihrer Muster. Anders ausgedrückt: Der Aufbau industrieller Produktionskapazitäten setzte die realistische Aussicht auf eine relativ große, stabile und halbwegs kalkulierbare Nachfrage für die gefertigten Artikel voraus. Insofern bot das kräftige Wachstum des deutschen Konsumgütermarkts seit der Reichsgründung günstige Voraussetzungen für einen beschleunigten Übergang zur Fabrikweberei. Auch die Entwicklung in den weiterverarbeitenden Gewerben des Textil- und Bekleidungssektors, das Schrumpfen des lokal zerstreuten Schneiderhandwerks und die Ausbreitung einer zentralisierten oder zentral koordinierten Kleiderkonfektion kam den Bedürfnissen der Fabrikweberei nach möglichst großen Aufträgen in standardisierten Artikeln entgegen. Ebenso steigerte sich im Zuge einer merklichen Verbreiterung des Wohlstandes und des allgemeinen Bevölkerungswachstums die Nachfrage nach Textilien für die Zwecke häuslicher Inneneinrichtung wie Möbelstoffen, Vorhängen, Gardinen, Teppichen oder Bettwäsche. Die Chemnitzer Möbelstofffabrikation fand zudem in Großaufträgen zur Polsterung von Sitzen in Eisenbahnwagen Beschäftigung.274 All dies eröffnete den sächsischen Webwarenproduzenten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts potenziell Märkte für Stapel- und Massenartikel in Deutschland selbst. In diesem Sinne kam die Schutzzollpolitik seit 1879 den Interessen der sächsischen Fabrikwebereien entgegen. Sie sicherte einen zunehmend aufnahmefähigeren Binnenmarkt gegen ausländische Konkurrenz ab. Sie minderte die Folgen von Überproduktionskrisen, namentlich die zuvor oft beklagte Überschwemmung des deutschen Marktes durch britische, belgische oder andere ausländische Fabrikwaren zu Schleuderpreisen. Doch insgesamt war die in den ausgehenden 1870er Jahren wieder in Gang gekommene Spirale protektionistischer Absperrung auch für die eher auf den Binnenmarkt orientierten Webwarenfabrikanten eine zweischneidige Angelegenheit. Denn je mehr die eigenen Produktionskapazitäten und die der heimischen Konkurrenten wuchsen, je schärfer der innerdeutsche Wettbewerb wurde, desto wichtiger wurde es für viele der Maschinenwebereien, auch auf den Exportmärkten Fuß zu fassen. Und dieses Unterfangen wurde nicht allein von den Zöllen der Exportländer erschwert, sondern auch durch die direkten Folgen des reichsdeutschen Handelsprotektionismus. Empfindliche Zölle auf importiertes Garn erhöhten die Gestehungskosten der deutschen Weberei und setzten sie auf den Auslands274 Vgl. Maschner, Weberei, S. 170.
5.5 Die industrielle Transformation der sächsischen Webwarenwirtschaft
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märkten ins Hintertreffen gegenüber der britischen und Schweizer Konkurrenz. Vor allem, wenn ein größerer Teil des Garns importiert werden musste, wie im Falle des feineren Baumwollgespinsts und der „harten“ Kammgarne, konnte dieses Handicap die Exportfähigkeit der sächsischen Webwaren schädigen. Die Betriebsstatistik von 1895 weist für die sächsische Weberei insgesamt 609 Hauptbetriebe aus, die über motorische Antriebskraft verfügten. Fast die Hälfte von ihnen (288) stellte Wollgewebe her. Die Baumwollwebereien und die Unternehmen, die vornehmlich gemischte Stoffe produzierten, waren mit zusammengenommen 269 Betrieben vertreten. Der Rest (52 Betriebe) verteilte sich auf die Leinen-, die Seiden- und die Juteweberei, letztere vornehmlich ein Zweig der Chemnitzer Möbeldamastfabrikation.275 Schwieriger ist es, aus den Zahlen der amtlichen Berufs- und Gewerbezählung eine Größenstruktur der sächsischen Fabrikweberei zu erarbeiten. Selbst wenn man die von der Statistik zur „Hausindustrie“ gezählten Produktionseinheiten herausrechnet, bleiben noch fast 3.900 Betriebe, nahezu 80 Prozent von ihnen mit fünf und weniger Beschäftigten. Bezieht man jedoch nur die Betriebe mit mehr als zehn Beschäftigen in die Rechnung ein, so kommt man auf insgesamt 638 solcher Webereien, was sich in etwa mit Zahl der „Motorenbetriebe“ deckt. Auf dieser Basis ergibt sich das folgende Bild: Etwas mehr als die Hälfte dieser 638 Webereibetriebe (330/51,7 %) beschäftigte jeweils zwischen elf und 50 Personen. 222 Betriebe (36,4 %) gehörten zu einer mittleren Größenklasse zwischen 51 und 200 Beschäftigten. In 76 Webereien (12,3 %) arbeiteten jeweils mehr als 200 Arbeiter und Angestellte, in dreien davon mehr als 1000.276 Diese Zahlen deuten darauf hin, dass die sächsische Fabrikweberei am Ende des 19. Jahrhunderts insgesamt von kleineren und mittleren Unternehmen geprägt war. Allerdings lassen sich zwischen den Hauptbranchen merkliche Unterschiede feststellen. Bei den Fabriken, die Baumwoll- und Mischgewebe herstellten, betrug der Anteil der größeren Betriebe jeweils fast 20 Prozent, in der Streich- und Kammgarnweberei waren es nur 5,4 Prozent. Die Mittelbetriebe machten in allen diesen Branchen etwas mehr als ein Drittel aus (zwischen 34,3 und 36,6 %). Kleine Fabriken dominierten vor allem in der Wollgarn verarbeitenden Industrie (57,6 %), während sie in den anderen Branchen 45,5 bzw. 47 Prozent ausmachten. Fast die Hälfte der sächsischen Fabrikweber (29.480/48,1 %) arbeitete 1895 in Großbetrieben mit mehr als 200 Arbeitern und Angestellten. Doch gemessen an den 103.116 Beschäftigten in der Weberei insgesamt machte diese Gruppe immer noch deutlich weniger als ein Drittel aus (28,6 %). Weitere 22,1 Prozent gehörten einem der mittelgroßen Betriebe an, während annähernd die Hälfte der Arbeitskräfte noch Mitte der 1890er Jahre in Klein- und Kleinstbetrieben bzw. in der Hausindustrie beschäftigt war.277 Diese Daten zur Betriebsgrößenstruktur der Weberei im Königreich Sachsen verweisen darauf, dass der fabrikindustrielle Wandel im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit einem Weiterbestehen und einer Neubildung dezentraler Betriebsformen verbunden war. Augenscheinlich etablierte sich bis zur Jahrhundertwende vie275 Vgl. ebd., S. 168–171; ZSSL 44, 1898, S. 169. 276 Vgl. ZSSL 44, 1898, S. 134 f. Siehe Tabelle 8 im Anhang. 277 Vgl. ZSSL 44, 1898, S. 134 f., 160 f. Siehe Tabelle 9 im Anhang.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
lerorts ein Neben- und Miteinander unterschiedlicher Systeme der Produktion in zahlreichen Abstufungen und Übergängen. Auf der einen Seite entstanden in vielen Revieren und Branchen größere Fabrikunternehmen, die den Produktionsprozess der Weberei einschließlich des Bleichens, des Färbens, der verschiedenen Appreturbehandlungen, des Nähens und Säumens der Stoffe im zentralen Betrieb integrierten und ggf. auch eigene Musterzeichnerbüros unterhielten. Die Eingliederung der Spinnerei blieb allerdings außerhalb der Streichgarnbranche auch im späteren 19. Jahrhundert eine seltene Ausnahme. Selbst als sich 1894 die Leipziger Baumwollspinnerei AG entschloss, zur Weiterverarbeitung ihrer aus Abfällen gesponnenen Garne eine Weberei zu erwerben, blieben beide Betriebe räumlich getrennt – die Spinnerei in Leipzig, die Weberei in Wolkenburg bei Penig.278 Auf der anderen Seite lagerten vor allem die kleineren und mittleren Webfabriken zumindest einen Teil der Endfertigungsarbeiten aus. Für das Bleichen, Walken, Färben, Drucken, Scheren, Rauen, Noppen usw. hatten sich zum Teil schon in vor- und protoindustrieller Zeit spezialisierte Handwerke und oft gemeinschaftlich getragene Betriebe herausgebildet. Diese Infrastruktur durchlief im Laufe des 19. Jahrhunderts einen Umgestaltungsprozess. Die zünftigen Handwerksbetriebe der Färber, Tuchscherer und Tuchbereiter, die Innungswalken und -bleichen wurden überwiegend durch privatwirtschaftlich organisierte Einrichtungen ersetzt. Es entstanden größere und kleinere, mehr oder minder modern ausgerüstete „Appreturanstalten“, die auf die spezifischen Bedürfnisse der im Revier oder am Standort ansässigen Textilbranchen ausgerichtet waren. Selbst größere Fabrikwebereien hielten es mitunter für vorteilhafter, die Dienste einer erfahrenen und gut ausgerüsteten örtlichen Appreturanstalt oder Färberei in Anspruch zu nehmen als solche Arbeiten im eigenen Betrieb vorzunehmen. Für die meisten kleineren und mittleren Webereien lohnte es sich mangels ausreichender Auslastung ohnehin nicht, eigene Appreturabteilungen zu unterhalten und die zahlreichen dafür notwendigen Maschinen und Apparaturen anzuschaffen. Einige der größeren Appreturbetriebe arbeiteten sogar auf eigene Rechnung, indem sie Rohgewebe ankauften, veredelten und selbst vermarkteten. Näh- oder Stickarbeiten wurden ebenfalls häufig von den Webereien ausgelagert, meist an Heimarbeiterinnen. In Chemnitz, Glauchau und anderen städtischen Zentren der Buntweberei gab es zudem selbständige „Dessinateure“, die den Webwarenfabrikanten ihre Dienste anboten. In den Zentren der Buntweberei übertrugen sog. Kartenschlägereien die Webmuster auf die Lochkarten der Jacquardvorrichtungen.279 Selbst im Kernbereich des Produktionsprozesses, beim Weben, blieben dezentrale Strukturen partiell erhalten oder bildeten sich neu heraus. Die hausindustrielle Handweberei konzentrierte sich um die Jahrhundertwende vornehmlich in der Peripherie des Glauchauer und Reichenbacher Reviers ebenso in der ländlichen Oberlausitz. In der Amtshauptmannschaft Glauchau wurden noch 1907 rund 7.500 Heimweber und -weberinnen gezählt, die vor allem im Mülsengrund wohnten, wo sich auf einer Strecke von 13 bis 14 Kilometern die Straßendörfer aneinanderreih278 Vgl. Maschner, Weberei, S. 159 f., 176 f.; Staatsarchiv Leipzig 20927: Leipziger Baumwollspinnerei AG Nr. 70: „Chronik des VEB Leipziger Baumwollspinnerei, Teil 1: 1884–1945“, Bl. 20. 279 Vgl. Maschner, Weberei, S. 87 f., 176 f.; Bein, Industrie, S. 458.
5.5 Die industrielle Transformation der sächsischen Webwarenwirtschaft
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ten. Auch in den Amtshauptmannschaften Zittau, Löbau und Kamenz gab es nach der Jahrhundertwende noch einige Tausend solcher in der eigenen Wohnung arbeitenden Baumwoll-, Leinen-, Damast- und Bandweber. In der hausindustriellen Bandweberei um Kamenz, Pulsnitz und Großröhrsdorf verbreiteten sich nach 1900 mechanische Stühle, die meist durch Elektro- oder Benzinmotoren angetrieben wurden.280 Ähnliches passierte auch im Glauchauer Raum. Die Chemnitzer Bezirksbehörde hielt 1907 fest: „Es ist zu beobachten gewesen, daß infolge der raschen Entwicklung der Elektrotechnik und der dadurch geschaffenen Möglichkeit einer Aufstellung von Elektromotoren auch in kleinen Betrieben jetzt vielfach bisherige Handbetriebe in mechanische Betriebe umgewandelt werden. So sind mehrfach Handwebstühle durch elektrisch betriebene Webstühle ersetzt worden. Dies ist geschehen unter Beibehaltung desselben Arbeitsraumes wie bisher.“281
Die Landesregierung bot den hausindustriellen Kleinunternehmern günstige Darlehen an, um Motoren und für den mechanischen Betrieb brauchbare Webstühle anzuschaffen. In Glauchau und Meerane selbst erbrachten solche Versuche allerdings wenig ermutigende Ergebnisse. Die größeren Webwarenfabrikanten zogen es vor, Lohnarbeiten an auswärtige Weber zu geben, die für einen geringeren Tarif arbeiteten. Vor allem in den Dörfern des Mülsengrunds hatten sich seit der Jahrhundertwende zahlreiche Weberwerkstätten zu mechanischen Kleinbetrieben entwickelt, die „immer reichlich mit Arbeit versehen“ waren. Allerdings hätten, so hieß es in einem Memorandum des Glauchauer Stadtrats 1913, „diese kleinen mechanischen Webereien die ganzen Schattenseiten der Heimindustrie an sich. In diesen kleinen Betrieben gibt es keine geregelte Arbeitszeit, keinen Fest- und Sonntag, keinen Kinderschutzparagraphen.“282
In Hohenstein-Ernstthal und Lichtenstein-Callnberg war der Übergang vom Verlagsgeschäft zur Fabrikweberei um 1900 offenbar noch in vollem Gange. Dies gilt vor allem für die Fertigung von Bett- und Tischdecken.283 Eines der führenden örtlichen Unternehmen dieser Branche, die Firma Robert Pfefferkorn, war 1875 vom Sohn eines Ernstthaler Webers und Seidenhändlers als Verlagsgeschäft gegründet worden. Erst 1899 baute Pfefferkorn ein Fabrikgebäude, beschäftigte aber daneben noch fünfzehn Jahre später an die 60 Heimweber. Es hat sich die Reportage eines Besuchs in der Pfefferkornschen Fabrik aus dieser Zeit erhalten, die sich zunächst wie ein vormärzliches Panorama liest: „Es ist Liefertag … Stöße von weißen Waffelbettdecken, dem Hauptprodukt der Handweberei, häufen sich zu wahren Bergen, und nicht mindergroß sind die Posten der bunten, sogenannten altdeutschen Bettdecken, die in nur denkbar möglichen Farbtönungen zur Ablieferung gelangen. Mit peinlicher Sorgfalt sieht man jedes Produkt auf seine Tadellosigkeit geprüft werden 280 Vgl. Krebs, Hausgewerbe, S. 312 ff. 281 Kreisarchiv Glauchau: Stadt Glauchau W. 89. I/A 325, o. Bl.: Kreishauptmannschaft Chemnitz an Stadtrat Glauchau, 31.1. 1907. 282 Ebd.: Memorandum Stadtrat Glauchau, 4.9. 1913; vgl. ebd. Bl. 78: Rundschreiben MdI, 2.8.1913; sowie Demmering, Textil-Industrie, S. 102. 283 Vgl. Staatsarchiv Chemnitz 30045: AHM Glauchau Nr. 385, Bl. 35: Bericht Gewerbe-Inspektion Zwickau, November 1901.
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5. Industrialisierung und Globalisierung … Männer, Frauen, Kinder, wie sie allesamt in ihrer Hausindustrie mitarbeiten, bringen ihre Arbeit zur Löhne“.
Erst danach wendet sich der Bericht den Fabriksälen der mechanische Weberei zu.284 Der Ernstthaler Webermeister Emil Heidel machte sich 1877 mit einem auf eigene Rechnung arbeitenden Handwerksbetrieb selbständig. Er ging bald dazu über, andere Weber in Hohenstein und Ernstthal, in Glauchau und im Mülsengrund zu verlegen, indem er ihnen Garn lieferte, die gefertigten Gewebe entgegen nahm, um sie dann an Glauchauer und Meeraner Großhandelsfirmen weiter zu verkaufen. 1882 baute Heidel im benachbarten Hohenstein ein neues Geschäftsgebäude und schaffte mechanische Webstühle an. Doch war für Heidel mit diesem Schritt nicht der Übergang zum zentralisierten Fabrikbetrieb verbunden. Die Maschinenstühle wurden nämlich in der Fabrikweberei Berghänel aufgestellt, wo sie auf Rechnung der Fa. Heidel betrieben worden. Erst 1911 beendete Emil Heidel dieses merkwürdige Arrangement und transferierte seine 18 mechanischen Webstühle in einen Anbau des eigenen Geschäftsgebäudes. Die Hohenstein-Ernstthaler Deckenweberei C. F. Jäckel schaffte 1897 die ersten mechanischen Webstühle an, brachte sie aber zunächst im Saal eines örtlichen Hotels unter. Dort teilte sie sich eine Dampfmaschinenanlage mit einem weiteren Web- und einem Strumpffabrikanten.285 Zwischenformen von Fabrik- und Heimarbeit prägten sich im späteren 19. Jahrhundert auch in der Kammgarnweberei des nördlichen Vogtlands aus. In Reichenbach vergrößerten in den 1870er Jahren zahlreiche Webermeister und Heimweber ihre Werkstätten. Statt mit zwei oder drei arbeiteten sie nun mit sechs und mehr Webstühlen. Seit den 1880er Jahren ging ein Teil dieser Betriebe sukzessive zur Maschinenweberei über. Daneben entstanden in Zeiten lebhaften Geschäftsgangs zahlreiche ähnliche Kleinfabriken, oft gegründet von ehemaligen technischen oder kaufmännischen „Beamten“ der größeren Fabrikwebereien. Im allgemeinen arbeiteten diese Betriebe auf Lohn, scheuten sich aber nicht, bei Auftragsmangel für eigene Rechnung zu produzieren. Von den 2810 mechanischen Stühlen, die 1883 im nordvogtländischen Revier um Reichenbach, Mylau und Netzschkau gezählt wurden, produzierten 848 (rund 30 Prozent) ganz oder teilweise auf Lohn. Einige dieser Lohnwebereien besaßen offenbar mehr als 50, einzelne sogar an die 200 Maschinenstühle. Die Auftraggeber der auf Lohn arbeitenden Kammgarnwebereien des Reichenbacher Reviers waren gewöhnlich sog. Zimmerfabrikanten, sprich: reine Verlagsunternehmer ohne eigenen Produktionsbetrieb. Sie übergaben den Webereien das benötigte Garn und bezahlten die daraus gefertigte Ware im Stücklohn. Noch in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gab es in Reichenbach, 284 Handschriftliches Manuskript, Bl. 1 f., in: TRM, Sammlungen zur Betriebsgeschichte: Mech. Weberei Robert Pfefferkorn. Hohenstein-Ernstthal. Vgl. auch die betriebsgeschichtliche Aufstellung, ebd.; sowie andere ähnliche Beispiele: Gebr. Himmelreich, Hohenstein-Ernstthal (ebd.), Fa. C. F. Jäckel (ebd.), Chenilleweberei Ebert, Lichtenstein-Callnberg (Lippmann, Geschichte, S. 161 f.). 285 Vgl. 75 Jahre Emil Heidel, S. 10–20; TRM, Karton „Fa. C. F. Jäckel, Chronik“: Mappe „Chronik C. F. Jäckel“: Mskr. „Ansprache des Betriebsführers Johannes Layritz … 21. März 1936“; TRM, Sammlungen zur Betriebsgeschichte: J. G. Böttger, Hohenstein-Ernstthal.
5.5 Die industrielle Transformation der sächsischen Webwarenwirtschaft
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Mylau und Netzschkau etwa 30 solcher Zimmerfabrikanten.286 Die kleinbetriebliche Lohnweberei verschwand im Übrigen selbst nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aus den südwestsächsischen Textilrevieren. Im Kreis Hohenstein-Ernstthal wurde erst 1958 den „volkseigenen“ und halbstaatlichen Betrieben die Beschäftigung von Lohnwebern untersagt. Die Lohnweber selbst wurden gedrängt, sich zu Handwerklichen Produktionsgenossenschaften zusammenzuschließen.287 Vertriebswege In einer verbreiteten Lesart der Industrialisierungsforschung aus unternehmensgeschichtlicher Perspektive standen bei der Genese des modernen Industrieunternehmens Produktion und Vermarktung in einem engen gegenseitigen Wirkungszusammenhang: Der Übergang zu kapitalintensiven Produktionsformen erhöhte demnach den Druck auf die unternehmerischen Akteure, auch die Vertriebsseite stärker in die eigene Hand zu nehmen. Waren erst einmal größere Kapitalien in Maschinenpark und Fabrikanlagen festgelegt, war es kaum noch ohne größeren Schaden für das Unternehmen möglich, die Produktion für längere Zeit zu drosseln oder gar ganz einzustellen. Je mehr die Produktionskapazitäten eines Fabrikbetriebs wuchsen, desto wichtiger wurde es aus der Sicht der Firmenleitung, für einen ausreichenden und kontinuierlichen Absatz der in großen Mengen erzeugten Waren zu sorgen. Dies wiederum legte es industriellen Unternehmen nahe, eigene Vertriebsorganisationen aufzubauen.288 Nun lassen sich solche Tendenzen auch für die sächsische Fabrikweberei schon in ihrer Formierungsphase mit zahlreichen Einzelbefunden empirisch belegen. Viele der neuen Maschinenwebereien, zumal die größeren, gingen offenbar bereits in den 1870er Jahren zu einer aktiven Vermarktung ihrer Produkte über, nicht zuletzt auf Kosten des in den Revieren ansässigen Textilhandels. So konstatierte der Plauener Handelskammerbericht 1879 für die vogtländische Weißwarenbranche: „An dem Gesammtumsatze sind … die einzelnen Webwaarenhandelsgeschäfte des Kammerbezirks in immer geringerem Maße betheiligt, da schon seit einer Reihe von Jahren die Tendenz durchgedrungen ist, daß die großen mechanischen Webereien das Geschäft direct besorgen und zu diesem Zwecke an allen hervorragenden Plätzen ihre Agenten etabliren.“289
Solche Agenten und Handelsvertreter hielten einen regelmäßigen Geschäftsverkehr zwischen dem Fabrikunternehmen und der an solchen Orten ansässigen, vertretenen oder regelmäßig aufzusuchenden Kundschaft aufrecht. Sie nahmen Bestellungen an oder warben sie ein. Manche Agenten unterhielten auch Warenlager, um die
286 Vgl. Beutler, Entwicklung, S. 17 ff.; Leipoldt, Umschichtungen, S. 233 ff.; Jahresbericht HK Plauen 1883, S. 105; ebd. 1884, S. 116; ebd. 1890, S. 132. 287 Vgl. Staatsarchiv Chemnitz 30927: VVB Deko, Plauen, Nr. 379, Bl. 2: Aktennotiz 2.9. 1958. 288 Vgl. allgemein: Pierenkemper, Unternehmensgeschichte, S. 164 f.; Berghoff, Unternehmensgeschichte, S. 65 f.; Chandler, Scale, S. 29 ff. 289 Jahresbericht HK Plauen 1879, S. 216. Vgl. Klett, Tüllgardinen-Industrie, S. 76.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Fabrikwaren direkt am Ort verkaufen zu können.290 Mindestens ebenso verbreitet wie der Vertrieb über Agenten an den wichtigsten deutschen oder auch ausländischen Umschlagplätzen des Webwarenhandels war die Praxis der Auftragsakquise durch Reisende. Die Chemnitzer Möbelstofffabrikanten etwa beschränkten ihre Handelsvertretungen seit in den 1880er Jahren auf einige wenige, für sie besonders wichtige Plätze und ließen statt dessen den deutschen Inlandsmarkt zwei- bis dreimal im Jahr flächendeckend bereisen. Die Handelsreisenden legten der Kundschaft – Großhändlern, Konfektionsfirmen, z. T. auch Detaillisten – Musterkollektionen vor und nahmen Bestellungen auf, die zu einem vereinbarten künftigen Zeitpunkt von der Fabrik zu liefern waren.291 Nun wird man aber bei solchen Vertriebsformen in vielen Fällen nur sehr bedingt von einer Integration der Absatzorganisation in das Unternehmen sprechen können. Bei den an auswärtigen Umschlagplätzen stationierten Agenten handelte es sich nicht um Angestellte der Fabrikunternehmen, sondern um wirtschaftlich selbständige Akteure. Sie vermittelten gewöhnlich Bestellungen und erhielten dafür eine Provision. Ein Teil von ihnen verkaufte wohl auch direkt Fabrikwaren auf Kommission. Selbst die – meist angestellten – Handelsreisenden arbeiteten in der Regel zumindest teilweise auf Provisionsbasis.292 Man kann daher vermuten, dass die sächsischen Webwarenfabrikanten bei einer solchen Absatzorganisation mit gehörigen Principal-Agent-Problemen zu kämpfen hatten. Die Bezahlung auf der Grundlage von Provisionen für vermittelte Geschäftsabschlüsse gab sowohl den Reisenden wie den Agenten ein Interesse, möglichst viele Bestellungen entgegen zu nehmen. Sie taten dies möglicherweise auch zu Bedingungen, die bei ihren Auftraggebern nicht unbedingt auf Begeisterung stießen. Das Provisionssystem setzte für die Agents zudem Anreize, es mit der Bonität und Seriosität der für ihre Principals eingeworbenen Kunden nicht so genau zu nehmen – ganz zu schweigen von den Interessenkonflikten, denen Handelsagenten ausgesetzt waren, die mehrere Textilunternehmen gleichzeitig vertraten. Ein Schlaglicht auf diese Probleme wirft ein Briefwechsel, den die Glauchauer Weberei Kratz & Burk Mitte der 1870er Jahre mit ihren Vertretungen in England führten. Kratz & Burk besaßen offenbar in Manchester eine Niederlassung unter eigener Firma, beauftragten aber für den Vertrieb ihrer Erzeugnisse auch eine Londoner Handelsagentur. 1874 beklagte sich diese Agentur, Macdonald & Co., bei ihrem sächsischen Auftraggeber: „Wir haben Ihre Kleiderstoffe hier sehr schwer eingeführt und finden daß unsere Auslagen nicht gedeckt werden, wenn wir für Provision verkaufen. Die Auslagen sind zu bedeutend und würden wir mit unserm Verdienst dieselben nicht einmal bestreiten können; wir würden Ihnen unsere Geschäftsverbindungen verschaffen und noch Geld dabei verlieren.“
290 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1871, S. 274; Beutler, Reichenbach, S.12; Rösser, Beispiele, S. 181. 291 Vgl. Maschner, Weberei, S. 181. Ähnlich für die vogtländischen Webereien: Bein, Industrie, S. 350 f. 292 Vgl. allgemein: Wölfel, Der Handlungsreisende, S. 89; Kully, Der Handlungsreisende, S. 37 f., 44 f.
5.5 Die industrielle Transformation der sächsischen Webwarenwirtschaft
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Macdonald & Co. schlugen statt dessen vor, „für die Provinz Einiges für u. eigene Rechnung zu verkaufen, um uns so in den Stand zu setzen unsre Reisespesen zu decken.“293 Der Repräsentant von Kratz & Burk in Manchester warnte die Glauchauer Firmeneinleitung allerdings eindringlich, sich auf eines solches Arrangement einzulassen: „Es ist nach meinem Dafürhalten nicht rathsam, Macdonald & Co. unter unserm Namen in den Provinzen Geschäfte machen zu lassen, denn der Agent läuft überall herum, um Commission zu verdienen, mögen die Leute groß oder klein sein und er kümmert sich nicht ein Haar um die Consequenzen. Ich muß aber im Interesse Ihres Geschäfts in England von einem ganz anderen Gesichtspunkt ausgehen. Es ist in England das Prinzip eines jedes Großisten, die Verbindung mit dem Fabrikanten sofort und für alle Zeiten abzubrechen, sowie er erfährt, daß letzterer mit seiner eigenen Kundschaft arbeitet. Ueberlassen wir das Feld Macdonald auf diese Weise, so versichere ich Ihnen, daß wir nach zwei Saisons keinen Großisten in fancy Artikeln mehr haben.“294
Darüber hinaus war der Vertrieb von Webwaren über Reisende und Agenten in den 1870er und 1880er Jahren keineswegs neu. Die Firma Kratz & Burk, 1855 als Verlagsunternehmnen gegründet, etwa hatte zum Zeitpunkt des eben zitierten Briefwechsels den Übergang zur Maschinenweberei gerade erst vollzogen.295 Die Vertriebsorganisation des Unternehmens scheint dieser Schritt aber offenbar kaum berührt zu haben. Dass der Einsatz von Reisenden in der Glauchauer Kleiderstoffweberei eine schon Jahrzehnte zuvor etablierte Praxis darstellte, darauf verweisen einige weitere Fundstücke aus dem unternehmensarchivalischen Bestand von Kratz & Burk. Der Firmengründer Hermann Kratz war nämlich selbst zuvor als Handelsreisender unterwegs gewesen; ein kleiner Briefwechsel zwischen ihm und seinem Auftraggeber, dem Glauchauer Textilunternehmen Hecker & Tank, hat sich in den Akten seines eigenen Unternehmens erhalten. Und auch in dieser Korrespondenz sind Principal-Agent-Konflikte allgegenwärtig. So erhielt Hermann Kratz während einer Reise durch Südwestdeutschland Mitte 1849 ein Schreiben aus Glauchau, das eine lange Reihe von Ermahnungen und Vorhaltungen über seine Geschäftsabschlüsse enthielt: „So erwünscht und angenehm uns der Auftrag von Lehr ist, so führt derselbe doch in seinen verschiedenen Vorschriften für die Einrichtungen unseres Geschäfts so manche Unbequemlichkeit ja sogar Unmöglichkeiten mit sich. Wir wollen unser Möglichstes thun, um den Anforderungen des Herrn Lehr zu entsprechen, doch werden Sie aus nachfolgenden Gründen ersehen, daß uns dieses in mancher Beziehung unmöglich ist. Vor allem die Lieferzeit! Dieselbe ist uns viel zu kurz vorgeschrieben. Wenn wir auch mit allem Eifer dahinter her sind, so können wir doch kaum bis kurz vor Anfang der Messe den Haupttheil liefern. Sie wissen es und auch Herr L. wie wir zu liefern im Stande sind; (…) Die vorliegenden 2 Exemplar-Muster! Wir begreifen nicht, wie Sie solche mit Postwendung fix und fertig zu liefern versprechen können. Sie wissen
293 StaatsAC Nr. 31213: Fa. Kartz & Burk, Glauchau Nr. I/585/6, o. Bl.: Macdonald & Co., London, an Kratz & Burk, 27.5.1874. 294 Ebd.: W. Wolfram, Manchester, an Hermann Kratz, 11.11.1875. 295 Vgl. die Aufzeichnungen Hermann Kratz’ zur Firmengeschichte 1874, in: ebd. Nr. I/600, o. Bl.
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5. Industrialisierung und Globalisierung doch selbst, daß wir bei Beginn der Reisen von unsern neuen Mustern kaum genug vorräthig haben, um die Reisenden gehörig ausrüsten zu können …“ usw. usf.296
Im Übrigen berichtete der erzgebirgische Kreishauptmann schon Anfang der 1820er Jahre der Dresdner Regierung, „fast alle bedeutenden Handelshäußer“ hielten Reisende, „welche mit Musterkarten von den Handlungsartikeln ihrer Committenten versehen, die entferntesten Gegenden zum Theil bereisen und die Waaren bey den dortigen Handelshäußern ausbieten.“297 Besonders wichtig war solche Akquise von Bestellungen für Webwarenproduzenten, die sich auf Modeartikel spezialisiert hatten und daher kaum auf Lager fertigen konnten. Und gerade solche Branchen, wie eben die Glauchauer Kleiderstofffabrikation, hielten im allgemeinen relativ lange an dezentralen Produktionsstrukturen und der Handweberei fest. So mag es zwar für die größeren Fabrikwebereien des ausgehenden 19. Jahrhundert nahegelegen haben, ihre Vertriebsorganisation auszubauen, um einen kontinuierlichen Absatz ihrer Produktion zu gewährleisten. Doch galt Ähnliches im Prinzip auch für Verlagsunternehmen, die gemusterte Kleiderstoffe und andere, den Zyklen der Mode unterworfene Gewebe fertigen ließen. Hier standen also flexible dezentrale Produktionsformen und die Intensivierung des Vertriebs durch den Einsatz von Reisenden in einem durchaus funktionalen Zusammenhang. Das Beispiel des Glauchauer Webwarenverlegers Hermann Kratz, der 1874 eine Maschinenweberei eröffnete, deutet zudem die vertriebsorganisatorischen Kontinuitäten von Verlag und Fabrik an. Letztlich gründeten unternehmerische Strategien, den Vertrieb von Waren durch eine aktive Akquise zu steuern, in Motiven, die zunächst einmal nichts mit dem Übergang zu fabrikindustriellen Produktionsformen zu hatten. Am Ausgangspunkt der Entwicklung, die man bis ins 18. Jahrhunderts zurückverfolgen kann, stand das Bestreben der Manufakturverleger, auf vorherige Bestellung ihrer Kunden zu produzieren (bzw. produzieren zu lassen), anstatt ihre Erzeugnisse auf den Warenmessen oder über den Kommissionshandel zu vermarkten. So ließ sich das Risiko von Über- und Fehlproduktion, von überlangen Zeiten des Warenumschlags oder dem Zwang, Lagerbestände zu jedem Preis verkaufen zu müssen, vermindern. Mit dieser Entwicklung verbunden war der oft konstatierte Bedeutungsverlust der Warenmessen im Laufe des 19. Jahrhunderts. Schon im Vormärz nutzten viele der sächsischen Verlagsunternehmer den Besuch der Messen vornehmlich, um dort in unmittelbaren Kontakt mit ihren Stammkunden zu treten und Bestellungen entgegen zu nehmen. Sie verzichteten auch z. T. darauf, größere Warenlager nach Leipzig oder den anderen von ihnen frequentierten Messen zu bringen. Statt dessen legten sie ihren Kunden Warenmuster vor. Zudem war das Messegeschäft selbst rückläufig, da es inzwischen viele der Kaufleute aus Ost- und Südosteuropa vorzogen, auf direktem Wege einzukaufen statt den mühsamen Weg nach Leipzig auf sich zu nehmen. Für Modeartikel lagen nun die Leipziger Messetermine im Frühjahr und im 296 Vgl. ebd. Nr. I/585/1, o. Bl.: Fa. Hecker & Tank, Glauchau, an Hermann Kratz, 30.6.1849. 297 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 255: Bericht v. Fischer, 13.5.1822.
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Herbst oft zu spät, um noch Geschäfte für die kommende Saison abzuschließen. So konstatierte der Chemnitzer Handelskammerbericht für 1863: „Mit den täglich sich mehrenden Verkehrs- und Transportmitteln, mit der vielfachen Benutzung des Telegraphen, mit dem schnelleren Wechsel der Moden, haben die Messen für einen großen Theil unserer Industriezweige ihre frühere Bedeutung verloren.“298
Dabei beschleunigte zwar die hier angesprochene Verkehrs- und Transportrevolution sicherlich den Bedeutungsverlust der Messen für den Absatz von Textilien. Doch diese Entwicklung hatte, wie gesagt, schon einige Jahrzehnte zuvor eingesetzt. Bereits 1822, lange bevor es Telegraph und Eisenbahn gab, hatte Kreishauptmann von Fischer in dem bereits oben zitierten Schreiben das Überhandnehmen der „Musterreuter“ kritisiert, was das Messegeschäft zunehmend auf den Detailhandel beschränke.299 Um 1860 war der Messeabsatz überwiegend zur Domäne der Kleinproduzenten geworden, für die es mangels Masse nicht infrage kam, ihre Erzeugnisse durch Reisende oder Agenten vermarkten zu lassen. Ihre Abnehmer gehörten überwiegend zur sog. Landkundschaft, Einzelhändlern aus dem Zollvereinsgebiet, die sich hier für das kommende halbe Jahr mit Waren versorgten. Die größeren Verlagsunternehmer und Fabrikanten brachten nun allenfalls noch überschüssige Waren zur Messe – Retouren, stornierte Bestellungen oder ohne Auftrag auf Lager produzierte Artikel –, um sie dort zu verramschen.300 In den folgenden Jahrzehnten fanden es auch die selbständigen Handwerksmeister und Kleinfabrikanten zusehends schwieriger, auf der Leipziger Messe Abnehmer für ihre Stoffe zu finden. Selbst die Landkundschaft zog es nun vor, die benötigten Artikel aus dem Musterkatalog eines Reisenden auszusuchen und sich die Waren bequem ins Haus liefern zu lassen. Diese Entwicklung besiegelte aber keineswegs den Niedergang der selbständigen Kleinproduzenten. Denn parallel zur Ausformung neuer Vertriebssysteme der Textilproduzenten gingen auch von der Abnehmerseite wesentliche Impulse zur Organisation des Marktes aus, die wiederum den kleineren Wirtschaftsakteuren Alternativen zum Messeverkauf eröffneten. Der überregional agierende Textilgroßhandel oder die Berliner und Stettiner Konfektionsfirmen begnügten sich nicht damit, den Besuch der Musterreisenden aus Plauen, Glauchau und Chemnitz abzuwarten. Vielmehr suche, so vermeldete die Deutsche Industrie-Zeitung 1867, ein „Theil der ausländischen und bei weitem die meisten der größeren inländischen Käufer … zur Saison die einzelnen Fabrikdistricte“ auf, um dort einzukaufen oder Bestellungen aufzugeben.301 Das „Platzgeschäft“, das sich seit den 1860er Jahren in den südwest- und südostsächsischen Webereirevieren stark vermehrte, bot wiederum den selbständigen Webermeistern und Kleinfabrikanten die Chance, den Rückgang des Messehandels zu kompensieren. Mehr noch, die vermehrten Möglichkeiten, ihre Erzeugnisse an 298 Jahresbericht HK Chemnitz 1862, S. 10. Vgl. auch Sächsische Industrie-Zeitung Nr. 17, 12.10.1860, S. 208; sowie Maschner, Weberei, S. 180 f.; 299 HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1527 (Loc. 11165/XIII. 2235), Bl. 256: Bericht v. Fischer, 13.5.1822. 300 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1868, S. 175; Gröllich, Baumwollweberei, S. 57. 301 Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 10, 7.3.1867, 92; vgl. Bein, Industrie, S. 351.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
ihrem Wohn- und Arbeitsort oder in dessen unmittelbarer Nähe abzusetzen, ersparte ihnen die Kosten und Risiken, die mit dem Bezug der Leipziger Messe verbunden waren: der hohe Aufwand des Warentransports und der Anmietung von Lagerräumen und Verkaufsständen, der wochenlange persönliche Aufenthalt in der Messestadt und die Abwesenheit vom heimischen Geschäft, der Zwang, die mitgeführte Ware zu jedem Preis am Ende der Messe abzustoßen. Für die Grossisten, Zwischenhändler oder ihre Einkäufer brachte der Einkauf am Platz den Vorteil, die Ware selbst (und nicht nur die Muster) in Augenschein nehmen zu können. So gesehen, erfüllte das Platzgeschäft ähnliche Funktionen wie die Warenmessen. Manche Käufer hofften darauf, zu günstigeren Bedingungen einzukaufen, möglicherweise das ein oder andere „Schnäppchen“ zu ergattern, oder es ging ihnen darum, frühzeitig die neuesten Kollektionen der Kleider- und Möbelstofffabrikanten zu erhalten. Einige der Einkäufer fuhren sogar über die Dörfer, um sich dort bei Heimarbeitern und Faktoren mit billiger Ware zu versorgen. Es scheinen dabei mitunter sogar verlagsähnliche Beziehungen entstanden zu sein. So beschwerten sich die Mylauer und Netzschkauer Textilunternehmer Mitte der 1870er Jahre über das ihre Geschäfte schädigende Verhalten von Berliner und Hamburger Großhändlern, die von den örtlichen Webermeistern und Kleinfabrikanten Shawls roh aufkaufen würden.302 Aber nicht allein das Platzgeschäft relativiert den Stellenwert, der dem aktiven Eigenvertrieb der Fabrikwebereien für den Absatz ihrer Erzeugnisse zukam. Auch der überregional agierende Großhandel setzte in zunehmenden Maße Reisende ein, um seine Abnehmer mit Musterkollektionen zu versorgen. Soweit sie um die gleiche Kundschaft von Detaillisten und Provinzgrossisten konkurrierten, besaßen die Großhandelsunternehmen gegenüber den Webwarenfabriken einen erheblichen Wettbewerbsvorteil. Denn sie konnten eine breite Auswahl an Stoffmustern von verschiedenen Herstellern präsentieren, während die Fabrikunternehmen nur die eigenen Erzeugnisse anboten. In den 1880er Jahren mehrten sich die Klagen der sächsischen Webereien darüber, dass sie genötigt seien, den Groß- und Zwischenhändlern unentgeltlich die Muster der von ihnen produzierten Stoffe zur Verfügung zu stellen. Die Marktmacht der Großhandelsunternehmen, später auch der großen Kaufhausketten schwächte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts offenbar zusehends die Position der Webwarenproduzenten. In der Möbelstoffbranche bestimmte seit den 1880er Jahren ein kleiner Kreis spezialisierter Großhändler aus Berlin und Süddeutschland das Geschehen auf den deutschen Märkten. Diese Unternehmen entfalteten eine intensive Reisetätigkeit mit reichhaltigen Musterkollektionen und diktierten ihren Lieferanten weitgehend die Konditionen. Die Chemnitzer Möbelstoffwebereien mussten zunehmend längere Zahlungsziele hinnehmen bzw. bei sofortiger Bezahlung hohe Skontoabzüge gewähren. Sie wurden genötigt, Aufträge zu akzeptieren, bei denen sie die Ware auf unbestimmte Zeit auf Abruf bereit zu halten hatten. Sie mussten die Verkaufspreise auch bei Nachbestellungen garantieren u. a. m.303 302 Vgl. Jahresbericht HK Plauen 1868, S. 175; ebd. 1872–74, S. 274; 1889, S. 120; Maschner, Weberei, S. 183 303 Vgl. Maschner, Weberei, S. 184.
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Ähnlich erging es den Buckskin-Fabrikanten in Crimmitschau und Werdau, die fast ganz auf den Inlandsabsatz ausgerichtet waren. So hieß es im Handelskammerbericht für 1889: „Der Grossist der heutigen Zeit will für sich selbst kein Risiko mehr tragen, sondern es lediglich auf den Schultern des Fabrikanten lasten lassen; denn er bestellt nicht eher, als bis er, und nur das, was er verkauft hat. Mit den vom Fabrikanten ihm kostenlos im weitesten Umfange zu liefernden Mustern putzt er sich unentgeltlich große Mustersammlungen zusammen, mit denen er paradirt. Dabei wird die Zahlweise immer schlechter. Wird von vornherein schon eine mehrmonatige Frist für die Bezahlung der Rechnungsbeträge verlangt, so sind Zielüberschreitungen um Monate noch die Regel, und wenn dann endlich nach 7–8 Monaten in Drei- bis Viermonatswechseln gezahlt wird, giebt es noch die verschiedensten ungerechtfertigten Abzüge. Der Fabrikant fühlt sich alledem machtlos gegenüber …“304
In einigen Webwarenbranchen versuchten sich die Produzenten der Übermacht des überregionalen Großhandels durch Zusammenschluss zu erwehren. In Chemnitz gründeten etwa 1890 die Möbelstofffabriken eine Konvention, „um gewissen Unsitten, die sich beim Verkaufe der Waaren eingeschlichen hatten, wirksam entgegen zu treten.“ Sie hofften damit, gegenüber ihren Großabnehmern bessere Lieferungsund Zahlungsbedingungen durchzusetzen.305 Angesichts des geringen Konzentrationsgrad der meisten Webereibranchen und ihrer überwiegend klein- und mittelbetrieblichen Größenstruktur, wie auch wegen der Vielfalt der hergestellten Artikel, blieben solche Versuche der Kartellbildung allerdings wenig erfolgversprechend. Ähnlich wie der Absatz im Inland wurde auch der sächsische Webwarenexport sowohl von der Produzenten- als auch von der Konsumentenseite her organisiert. Wichtige Agenten der Absatzvermittlung ins Ausland, vor allem nach Übersee, blieben auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Hamburger und Bremer Kommissionshandelshäuser. Ebenso bedeutsam waren aber für viele Branchen und Absatzgebiete Londoner (vor allem beim Export in die britischen Kolonien) und Pariser Kommissionäre, die gute Beziehungen zu den lateinamerikanischen Märkten aufgebaut hatten. Diese Zwischenhandelsfirmen gewährten ihren Auftraggebern gewöhnlich Vorschüsse auf den zu erwartenden Verkaufserlös. Sie minderten dadurch für die sächsischen Webereien und Verlagsunternehmen den Aufwand an Kapital, der nötig war, um solche Transaktionen durchzuführen. Allerdings warnte etwa die Handels- und Gewerbekammer Zittau noch 1870 die heimischen Fabrikanten davor, bei Überseegeschäften allzu viel Vorschuss in Anspruch zu nehmen. Sie würden sich damit der weiteren Verfügungsrechte über ihre Waren begeben und riskieren, dass der Kommissionär zu ungünstigen Bedingungen verkaufe, um möglichst rasch seine Vorschüsse zu realisieren.306 Mitte der 1880er Jahre pries ein in der Zeitschrift der sächsischen Handelskammern veröffentlichter Artikel die Vermittlung durch ein „großes, solides und renommiertes Kommissionsgeschäft“ als vernünftigste und sicherste Form des Exports 304 Jahresbericht HK Plauen 1889, S. 121. 305 Jahresbericht HK Chemnitz 1890, S. 269. 306 Vgl. Maschner, Weberei, S. 196; Benndorf, Beziehungen, S. 140; Jahresbericht HK Zittau, S. 75 f.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
von Textilien. Der Verfasser warnte dagegen eindringlich davor die „Transaktionen … möglichst billig gestalten“ und deshalb alle vermeintlich unnötigen Vermittler beseitigen zu wollen: „Man hüte sich vor allen Dingen, ohne Vermittelung eines Kommissionärs in einem fremden Lande Geschäfte machen zu wollen. Was man hier an Kommission ersparen will, wird zu hundertfachem Betrage auf andere Weise vergeudet werden.“307
Durch seine Kenntnis der Sprache, der Rechtsverhältnisse und Platzusancen des Absatzlandes, vor allem auch der Zahlungsfähigkeit und des Umfangs der Kundschaft habe der Kommissionär vor dem Kommittenden einen bedeutsamen Wissens- und Erfahrungsvorsprung voraus. Nichts desto weniger waren die größeren sächsischen Verlagsunternehmen und Fabrikwebereien schon in den Jahrzehnten zuvor, dazu übergegangen, an wichtigen europäischen und auch überseeischen Handelsplätzen Agenten mit der Vertretung der Firma zu beauftragen. Zunehmend setzten solche Firmen, zunächst in Europa, bald auch in Nord- und Südamerika Reisende ein. Gerade in Übersee scheinen die sächsischen bzw. deutschen Textilexporteure im ausgehenden 19. Jahrhundert durch solche Methoden flächendeckender Auftragsakquise der oft länger im Lande etablierten britischen Konkurrenz, die sich mit Niederlassungen in den großen Seehandelsstädten begnügte, Marktanteile streitig gemacht zu haben.308 Parallel zu den Vertriebsnetzen der Erzeugerseite verdichtete sich aber auch im überseeischen Textilhandel die Einkaufsorganisation der Abnehmer. Vor allem Einkäufer US-amerikanischer Großhändler suchten regelmäßig die sächsischen Webereidistrikte auf, um vor Ort direkt einzukaufen, Bestellungen aufzugeben und sich mit Musterkollektionen zu versorgen. Üblicher war aber wohl eine Form des Kommissionshandels, der in diesem Falle in der Gegenrichtung verlief. Sog. Einkaufshäuser, die ihren Hauptsitz meist in Hamburg, London und Paris hatten, vermittelten im Auftrag überseeischer Kunden den Export von Textilien. Sie sammelten die Musterkollektionen der Webereien und übermittelten diese an ihre Auftraggeber. Sie leiteten dann die Bestellungen an die Fabrikanten weiter, bezahlten die Waren und übernahmen ihren Versand an den überseeischen Bestimmungsort. Zumindest für die Chemnitzer Möbelstoffwebereien gestaltete sich solche Geschäftsbeziehungen offenbar wesentlich günstiger als der Inlandsabsatz. Die Einkaufshäuser zahlten gewöhnlich nach Erhalt der Ware oder mit kurzem Ziel.309 Die Intensivierung des Vertriebs in den überseeischen Absatzgebieten wurde letztlich ermöglicht durch eine Verkehrs- und Kommunikationsrevolution globalen Ausmaßes, die in den 1860er Jahren einsetzte: die Einrichtung eines regelmäßigen Dampfschifflinienverkehrs zwischen Europa, Amerika und Ostasien, die rasche Verdichtung kontinentaler Eisenbahn- und transozeanischer Telegraphennetzwerke. Damit wurden Reisen in das Innere der außereuropäischen Flächenstaaten und -ko307 Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 5, 4.2.1885, S. 41 f. 308 Vgl. Maschner, Weberei, S. 182 f.; Benndorf, Beziehungen, S. 130; Beutler, Reichenbach, S. 12; Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 8, 20.2.1873, S. 75; Brown, Competition, S. 511 f. 309 Vgl. Maschner, Weberei, S. 183, 196; Benndorf, Beziehungen, S. 130, 142.
5.6 Vom Exportgewerbe zur Exportindustrie: Die Strumpfwirkerei
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lonien erleichtert. Die kommerzielle Kommunikation verdichtete sich, der Zahlungsverkehr vereinfachte und beschleunigte sich. Zahlungstransaktionen, die sich bislang über Monate hingezogen hatten, konnten nun in wenigen Stunden abgewickelt werden. So vermeldete die Deutsche Industrie-Zeitung 1884, im Überseehandel würden sich telegraphische Geldanweisungen schnell einbürgern. „Beabsichtigt ein Kaufmann eine Verschiffung von Waaren nach einem fremden Hafen zu machen, so kann er jetzt in vielen Fällen die ganze Transaktion in wenigen Stunden vollenden, ohne wie früher gegen die Güter Wechsel ziehen und diskontiren zu müssen, welche vielleicht noch drei Monate später in Zirkulation sein mochten.“
Im Handel zwischen Großbritannien und der Kronkolonie Indien werde diese Form des Zahlungsverkehrs schon seit einigen Jahren praktiziert. Auch ein bedeutender Teil des Geschäfts mit den USA und nach südamerikanischen Handelsplätzen wie Rio de Janeiro werde nun auf diese Weise abgewickelt. Der Wechselverkehr wurde so primär zu einer Form des kaufmännischen Kredits.310 5.6 VOM EXPORTGEWERBE ZUR EXPORTINDUSTRIE: DIE STRUMPFWIRKEREI 5.6 Vom Exportgewerbe zur Exportindustrie: Die Strumpfwirkerei Die Anfänge der Maschinenwirkerei Im März 1841 präsentierte Friedrich Georg Wieck im Gewerbeblatt für Sachsen seinen Lesern nichts weniger als die „Zukunft der Strumpfmanufaktur“. Der prominente Unternehmer, Techniker und Publizist beschäftigte sich hier mit der möglicherweise bevorstehenden Maschinisierung der Wirkerei und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für die sächsischen Strumpfhersteller. Die Konstruktion „selbsttätiger“, für einen rotierenden Kraftantrieb geeigneter Wirkmaschinen, so führte Wieck aus, sei ja im Prinzip nichts Neues. In England habe man solchen Maschinen schon vor 25 Jahren gebaut. Doch damit könnten nur sog. Cut-Ups gefertigt werden: Die Strümpfe würden aus dem gewirkten Stoffstück herausgeschnitten und zusammen genäht. Sie seien deshalb wesentlich weniger haltbar als die „regulär geminderte“, auf Handwirkstühlen hergestellte Ware. Nun sei in den vergangenen Jahren diese „in England fast schlafen gegangene Idee“ in Sachsen wieder aufgegriffen worden. Es sei auch gelungen „acht vierfonturige Stühle (d. h. Stühle mit vier Strumpfbreiten) in Umtrieb zu setzen“. Doch die „geschnittene Waare“, die diese Apparaturen lieferten, könne „von den geringsten Arbeitern auf hölzernen Stühlen beispiellos wohlfeil gemacht werden“. Daher werde „den noch mehr komplizirt gebauten eisernen Maschinen, welche genaue Aufsicht, sorgsame Arbeiter und eine Menge anderweitigen Kostenaufwand erforderlich machten, die Konkurrenz schwer und es ist mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß sie nirgends konkurriren können, wo sie mit einer lang eingerichteten und wohlfeilen Handfabrikazion in Konflikt kommen.“311 310 Deutsche Industrie-Zeitung Nr. 6, 6.2.1884, S. 52; Vgl. allgemein hierzu: Denzel, System, S. 371. 311 Gewerbeblatt Nr. 23, 26.3.1841, S. 141. Wieck bezieht sich hier offenbar auf die in Mittweide bei Schwarzenberg angelegte kleine Wirkwarenfabrik von Bauer & Jahn. Siehe oben S. 214.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Die hergebrachte Strumpfmanufaktur in Sachsen hatte demnach von solchen Innovationen wenig zu fürchten. Ernsthaftere Konsequenzen würde es dagegen für die sächsischen Strumpfwirker und ihre Verleger haben, wenn es gelänge, eine Strumpfmaschine für regulär geminderte Strümpfe zu konstruieren, „eine Sache, deren Ausführbarkeit man bis dahin durchaus für unmöglich gehalten hatte, weil das Mindern, wie es mit der Hand geschieht, in viel zu unregelmäßigen Zeiten und Bewegungen vor sich geht. Und auf diese für ausgemacht angenommene Unmöglichkeit stützte sich vornehmlich das Vertrauen der sächsischen Strumpfmanufaktur, die Konkurrenz mit der englischen auf neutralem Markte fernerweit siegreich zu bestehen.“312
Genau dies, die Herstellung einer Wirkmaschine für regulär geminderte Strümpfe, sei nun, so wollte Wieck erfahren haben, einem englischen Konstrukteur geglückt. Zwar werde diese Maschine noch nicht in größerem Maßstab eingesetzt, da ihr Erbauer sein Patent selbst ausnutzen wolle. „Sobald als aber die Benutzung der Maschine für jedermann frei wird, also nach höchstens zehn Jahren, wird die Strumpfmanufaktur eine bedeutende Umgestaltung erleiden, und Handfertigkeit, Fleiß, wohlfeile Löhne und Mäßigkeit nichts mehr wiegen bei unserer Mitbewerbung mit England.“313
Friedrich Georg Wiecks Meldung von der Erfindung einer kommerziell verwertbaren Strumpfmaschine für regulär geminderte Ware erwies sich zwar als etwas voreilig. Doch mit seiner Zukunftsprognose, dass die sächsische Strumpfmanufaktur spätestens zehn Jahre später mit der ernsthaften Herausforderung einer Maschinisierung der Wirkerei konfrontiert sein würde, lag er durchaus nicht daneben. 1845 meldete ein belgischer Konstrukteur eine Wirkmaschine zum Patent an, mit der mehrere schlauchförmige Rohstücke, kreisförmig angeordnet, gleichzeitig gefertigt werden konnten. Solche Rundstühle eigneten sich für den Kraftbetrieb und fanden in den folgenden Jahren vor allem im Strumpfwirkereirevier um Nottingham größere Verbreitung. Ähnlich funktionierten die sog. französischen Rundstühle, die einen einzelnen weiten Schlauch oder Sack herstellten, der zu Trikots, Jacken und Unterwäsche (oder auch zu Cut-Ups) verarbeitet werden konnte. Zwar lieferten diese Wirkmaschinen keine regulär geminderte Ware. Die rohen Schlauchstücke erhielten ihre Form, indem sie bei starker Hitze über Bretter gezogen wurden. Doch gegenüber der „geschnittenen“ Ware brachten die auf den Rundstühlen gefertigten Strümpfe einen bedeutenden Qualitätsfortschritt: Wegen der geschlossenen Schlauchform gab es keine Längsnähte mehr. Die Maschen wurden nicht mehr zerschnitten. Es mussten nur noch Bein-, Fuß- und Fersenstücke zusammengenäht werden. Damit ließen sich die unangenehmsten Eigenschaften maschinell gefertigter Strumpfwaren vermeiden oder doch mildern. Die Cut-Ups neigten nämlich dazu auszufransen; ihre dicken Nähte bildeten unschöne Klumpen, die beim Gehen die Haut aufscheuerten und Blasen hervorriefen.314 312 Ebd. 313 Ebd., S. 142. 314 Vgl. Chapman, Hosiery, S. 118 ff., 130; Hunger, Strumpfindustrie, S. 35 f.; Irmscher, Strumpfindustrie, S. 75 f.
5.6 Vom Exportgewerbe zur Exportindustrie: Die Strumpfwirkerei
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Bald begann die sächsische Strumpfmanufaktur die Auswirkungen dieser Entwicklung auf ihren Absatzmärkten spüren. „Die Sächsische Strumpfweberei hat in diesem Jahre“, warnte der Königlich Sächsische Handelskonsul in Philadelphia Ende 1851, „eine gefährliche Concurrenz in der neu erfundenen Maschinen-Weberei Englands gefunden, deren Producte sich bereits als drohende Nebenbuhler der Sächsischen Handarbeit gezeigt, und welche mit einigen Verbesserungen diese zum großen Theil von unserem Markte zu verdrängen droht.“315 Auch von anderen überseeischen Umschlagplätzen kamen in den 1850er Jahren beunruhigende Nachrichten für den sächsischen Wirkwarenexport. In seinem Bericht für 1856 vermeldete der Konsul Münchmeyer aus Valparaiso in Chile, im Vergleich zu früher sei der Absatz sächsischer Strümpfe sehr zurückgegangen und beschränke sich überwiegend auf die besseren Sorten. „Die gewöhnlichen Waaren liefert England augenblicklich so billig, daß kein anderes Land mit diesem in denselben concurriren kann. (…) Es ist sehr zu wünschen, daß es unseren Fabricanten gelingt, den Engländern bald die Spitze zu bieten, damit es das Ausland wie es in früheren Jahren der Fall war, wieder fast einzig und allein mit diesem so wichtigen Fabricat, wie es Strümpfe sind, zu versorgen im Stande ist.“316
Fünf Jahre später berichtete Münchmeyer, in den besseren Sorten gebe man zwar dem sächsischen Fabrikat den Vorzug. In den ordinären Klassen liefere jedoch England am preiswürdigsten.317 Die Konkurrenz der maschinell erzeugten britischen Schlauchstrümpfe traf die sächsische Wirkwarenbranche auch deshalb so schmerzhaft, weil sich die erzgebirgischen Strumpfwirker mittlerweile in verstärktem Maße der geschnittenen Ware zugewandt hatten. Offenbar hatten die Subsistenzkrisen der 1840er Jahre die Massenkaufkraft so weit herunter gedrückt, dass nur noch die allerbilligsten Strumpfwaren sich in größeren Mengen absetzen ließen. So beklagte das Stollberger Wochenblatt 1847, regulär geminderte Ware gewährten keinen besseren Erwerb mehr als geschnittene. Daher würden die Strumpfwirker, wenn irgend möglich, breitere Stühle anschaffen, und viele Meister, Gesellen und Lehrlinge seien wohl gar nicht mehr in der Lage, geminderte Ware herzustellen.318 Mit den maschinell gefertigten Cut-Ups mochten die geschnittenen Waren der erzgebirgischen Hausindustrie noch konkurrieren können. Doch sobald die mechanischen Rundstühle zu einem ähnlichen oder gar geringeren Preis bessere Qualität lieferten, waren die sächsischen Strümpfe im Billigpreissegment des Marktes kaum noch wettbewerbsfähig. Hinzu kam die Verteuerung der Garnversorgung, nachdem die Zollvereinszölle 1847 um die Hälfte angehoben worden waren.319 Die Bedrohung ihrer Wettbewerbsposition veranlasste die sächsischen Wirkwarenverleger seit den frühen 1850er Jahren verstärkt nach Mitteln und Wegen zu suchen, diese Herausforderung zu bewältigen. Zur Jahreswende 1851/52 stellte 315 316 317 318 319
HStAD 10736: MdI Nr. 01422b, Bl. 92: Bericht Mecke, 31.12.1851. HStAD, 10736: MdI Nr. 06159, Bl. 46: Bericht Münchmeyer, 15.3.1857. Ebd., o. Bl.: Bericht Münchmeyer, Juli 1862. Abgedruckt in: Deutsche Gewerbezeitung 11.6.1847, S. 282 f. Vgl. Bennewitz, Bedeutung, S. 32. Vgl. Deutsche Gewerbezeitung 11.6.1847, S. 283; ebd. 16, 1851, S. 428.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Viktor Falke, Inhaber des alteingesessenen Verlagshandelshauses Gottfried Landgraff in Hohenstein, eine englische Strumpfmaschine zwei Wochen lang öffentlich zur Ansicht aus. Die Resonanz auf diesen Vorstoß fiel allerdings eher zurückhaltend aus. Die Hohensteiner Verlagskaufleute, Faktore und Strumpfwirkermeister kamen überwiegend zu dem Schluss, die englischen Wirkmaschinen seien nur für die ordinärsten Qualitäten tauglich. In Zukunft müsse man sich eben vermehrt der Fertigung „reeller Ware“, sprich: regulär geminderter Strümpfe zuwenden.320 Im benachbarten Chemnitz war man dagegen eher bereit, die Produktionsmethoden der englischen und französischen Konkurrenz zu übernehmen. Im Herbst 1852 erhielt die Fa. Gottlieb Hecker & Söhne eine Konzession zum Betrieb eines „geschlossenen Etablissements“ zur Fabrikation von Strumpfwaren. Es sollten überwiegend Rundstühle aufgestellt werden, vorerst noch handbetrieben, aber mit der Option, künftig auch Dampfkraft einzusetzen.321 Mitte 1854 teilte Carl Hiller, Inhaber eines Chemnitzer Strumpfgeschäfts, dem Rat der Stadt mit, er habe „die Ueberzeugung gewonnen, daß Sachsen in denjenigen Strumpfsorten, welche sich zur Fabrikation auf Rundstühlen eignen, nicht länger mit England concurriren könne, ohne diese Rundstühle ebenfalls anzuwenden. (…) Deshalb beabsichtige ich mich diesem Fabrikzweige zu widmen, und, nachdem ich mich durch meinen Aufenthalt an den betreffenden Fabrikplätzen in England und Frankreich mit dem technischen und geschäftlichen Betriebe dieser Fabrikation vertraut gemacht, auch bereits mehrere dieser Stühle angeschafft habe, wünschte ich … um Concession zu Betreibung dieser Rundstuhl Fabrikation, vermittelst zünftiger und nicht zünftiger Arbeiter, anzusuchen …“
Drei Wochen später erteilte die Zwickauer Kreisdirektion Hiller die beantragte Konzession.322 Eine Reihe weiterer Chemnitzer Wirkwarenunternehmer folgte in den nächsten Jahren diesem Beispiel.323 In Limbach waren es die Brüder Carl Julius und Theodor Esche, Nachfahren des Begründers der sächsischen Strumpfwirkerei, die 1853 den Schritt zur Fabrik wagten. Zwei Jahre später entstand auch in Stollberg die erste Wirkwarenfabrik. Hier wurden offenbar vornehmlich französische Rundstühle eingesetzt. Schließlich engagierte sich sogar die englische Konkurrenz im sächsischen Strumpfwirkerrevier. Die Nottingham Manufacturing Co. Ltd. eröffnete 1860 ein Zweigwerk in Chemnitz.324 1856 gab es in Sachsen 15 Betriebe, die Rundwirkstühle einsetzten. Fünf Jahre später, 1861, hatte sich diese Zahl mehr als verdreifacht. Zwar verfügten nur zwölf dieser insgesamt 46 Betriebe über eine mechanische Kraftquelle zum Antrieb der Wirkmaschinen – acht verwendeten Dampf-, drei Wasserkraft und einer beides. Doch die Mehrzahl der „gangbaren“ Rundstühle besaß schon am Anfang der 1860er Jahre einen Kraftantrieb: Es waren dies 366 englische Rundstühle mit insgesamt 320 Vgl. ebd. 17, 1852, S. 6 f. 321 Vgl. Stadtarchiv Chemnitz, Ratsarchiv Kap. V/III, Nr. 122, Bl. 3: Stadtrat Chemnitz an Kreisdirektion Zwickau, 28.10.1852; ebd. Bl. Bl. 4: Kreisdirektion Zwickau an Stadrat Chemnitz, 3.11.1852. 322 Zitat: ebd. Nr. 142, o. Bl.: Hiller an Stadtrat Chemnitz, 15.7.1854; vgl. ebd.: Kreisdirektion Zwickau an Stadtrat Chemnitz, 7.8.1854. 323 Vgl. ebd. Nr. 175, Nr. 176, Nr. 208; Uhlmann, Unternehmer, S. 95. 324 Vgl. Schöne, Posamentierer, S. 131 f.; Forberger, Revolution 2/1, S. 444.
5.6 Vom Exportgewerbe zur Exportindustrie: Die Strumpfwirkerei
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2.761 „Köpfen“ (einzelnen Wirkvorrichtungen) und 76 französische Rundstühle. Dagegen wurden 61 französische und 175 englische Rundstühle (mit 1.037 Köpfen) von Hand betrieben. Diese Verteilung zeigt an, dass sich die Masse der Rundstühle auf eine überschaubare Zahl von Fabriken verteilte. Die überwiegende Mehrzahl der 46 sächsischen Maschinenwirkereien bestand aber wohl aus kleinen Werkstätten, in denen jeweils einige wenige Hand-Rundstühle betrieben wurden.325 Eine Reihe von sächsischen Wirkwarenunternehmern war demnach nicht ohne weiteres bereit, das Marktsegment der „ordinären“ Massenwaren aufzugeben, und versuchte, zwischenzeitlich verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Anders als der sehr langsame Übergang zur Maschinenweberei vollzog sich die Adaption und Diffusion der mechanischen Wirkstühle in Sachsen bemerkenswert rasch. Nur wenige Jahre nachdem die ersten brauchbaren Wirkmaschinen in England und Frankreich zum Einsatz gekommen waren, begann auch deren Einführung in Sachsen. Ganz wesentlich erscheint dabei, dass die Maschinisierung der Strumpfwirkerei zu einem Zeitpunkt einsetzte, an dem – anders als in den Jahrzehnten zuvor im Falle der Weberei – wesentliche Grundvoraussetzungen für einen solchen Innovationstransfer nach Sachsen gegeben waren. Dem sächsischen Strumpfwarenexport standen vor allem in den USA, nachdem Krise der späten 1830er und 1840er Jahren ausgestanden war, aufnahmefähige Absatzmärkte offen. Die Hemmnisse des Dampfmaschineneinsatzes schwanden im Gefolge des Eisenbahnbaus und der Erschließung der Steinkohleverkommen in der unmittelbaren Nähe des Strumpfwirkerreviers. Auch die Beschaffung der Rundstühle selbst bereitete den angehenden Strumpffabrikanten in Chemnitz, Limbach und Stollberg nun keine Probleme mehr. Schwieriger war es allerdings, diese neuen Wirkmaschinen in der Region nachbauen zu lassen. Die erzgebirgischen Strumpfstuhlbauer taten sich beim Übergang von den hölzernen Handstühlen zu den eisernen Rundstühlen schwer. Einige Fabrikbesitzer sahen sich daher veranlasst, selbst Werkstätten einzurichten, um die mechanischen Wirkstühle von gelernten Schmieden und Schlossern fertigen zu lassen.326 Die Anschaffungskosten eines Rundstuhles französischer Bauart lagen in den frühen 1860er Jahren bei 400 bis 500 Talern. Englische Rundstühle kosteten pro Kopf 30 bis 40 Taler, insgesamt demnach wohl etwa 200 bis 300 Taler. Dies war einerseits ein Mehrfaches dessen, was ein Strumpfwirker für den Kauf eines gewöhnlichen Handkulierstuhls zu bezahlen hatte (etwa 50–80 Taler). Doch kam andererseits auch ein hölzerner Kettenstuhl, wie er seit Jahrzehnten für die Fertigung gemusterter Strümpfe in Gebrauch war, auf 200 bis 250 Taler.327 Daher dürfte die Anschaffung eines Rundstuhls für einen wohlhabenderen Strumpfwirkermeister durchaus im Bereich der finanziellen Möglichkeiten gelegen haben. Die Vermehrung der kleinen Rundstuhlwirkereien in der zweiten Hälfte der 1850er Jahre deutet 325 Vgl. die Daten in: ZSBI 9, 1863, S. 38; sowie Irmscher, Strumpfindustrie, S. 74 f. 326 Vgl. etwa das Gesuch der Firma Eisenstuck in Chemnitz zur Beschäftigung zünftiger Schmiede, Schlosser und Wirkstuhlbauer: Stadtarchiv Chemnitz Ratsarchiv Kap. V, Sektion III, Nr. 176, Bl. 1: Eisenstuck an Stadtrat Chemnitz, 19.11.1857; ebd. Bl. 5: Kreisdirektion Zwickau an Stadtrat Chemnitz, 3.12.1857; sowie allgemein: Irmscher, Strumpfindustrie, S. 82 f. 327 Vgl. die Angaben in: Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 108.
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an, dass einige von ihnen von dieser Möglichkeit tatsächlich auch Gebrauch machten. Um aber Dutzende oder gar Hunderte solcher Maschinen aufzustellen und sie mittels einer Dampfkraftanlage in Betrieb zu setzen, waren Kapitalien notwendig, die zunächst allenfalls die großen Verlagsunternehmen aufbringen konnten und wollten. Solche Wirkwarenfabriken gab es daher noch 1863 nur in den kommerziellen Zentren des erzgebirgischen Strumpfreviers, in Chemnitz, in Limbach und in Stollberg, dort, wo die großen Handels- und Verlagshäuser ihren Sitz hatten.328 Warum es außerhalb der drei genannten Orte zunächst nicht zu Fabrikgründungen kam, hatte möglicherweise noch einen weiteren Grund: Der soziale Druck auf innovationswillige Unternehmer war in den erzgebirgischen Strumpfwirkerdörfern sicherlich mächtiger als in einer Stadt wie Chemnitz, wo nur wenige Wirker wohnten. Als ein Strumpfwirkermeister in Oberlungwitz 1852 versuchte, einen von ihm nachgebauten Rundstuhl aufzustellen, zündeten ihm seine Zunftgenossen sein Haus an. Insgesamt scheint aber der Widerstand gegen die Maschinisierung der Wirkwarenherstellung in den 1850er Jahren nicht so groß gewesen zu sein, dass er die Einführung der neuen mechanischen Stühle entscheidend behindert oder verzögert hätte. Dies lag nicht zuletzt auch daran, dass der sächsische Staat meist recht eindeutig die Position der Fabrikbesitzer einnahm. Konzessionen wurden zügig bewilligt, Einsprüche und Eingaben der Innungen abgewiesen oder ganz ignoriert. So forderte die Chemnitzer Strumpfwirkerinnung 1852 in einer Petition an die Landesregierung den Gebrauch der Rundstühle nur den Innungsmeistern zu gestatten. Sie erhielt aus Dresden die Antwort, man könne die Kostenersparnis der neuen Stühle nicht allein an ihrer verbesserten Konstruktion festmachen. Vielmehr resultiere der Produktivitätsgewinn der neuen Technologie in der Möglichkeit, sie für den „Elementarantrieb“ auszurüsten, der damit verbundenen Konzentration der Produktion in Fabriken und der Verwendung billiger Arbeitskräfte. Wolle man daher die Maschinenwirkerei mit dem Innungszwang verbinden, käme dies faktisch einer Verhinderung ihrer Einführung gleich.329 Die Strumpfwirkerinnungen wiederum stellten sich bei den einzelnen Konzessionierungsverfahren im allgemeinen nicht gegen die Errichtung einer Wirkwarenfabrik. Sie versuchten vielmehr, ihre Zustimmung an bestimmte Bedingungen zu knüpfen, die sich für den Fabrikbetrieb in vermehrten Arbeitskosten niederschlagen konnten. So beschloss die Limbacher Strumpfwirkerinnung, nachdem sie 1853 aufgefordert worden war, sich gutachterlich zum geplanten Fabrikbau der Esche-Brüder zu äußern, „daß die Innung der beabsichtigten Errichtung der gedachten Fabriken zwar ein Hinderniß nicht entgegenstellen wolle, sich aber dabei die Bedingung setze, daß Lehrlinge in den genannten Fabriken nicht aufgenommen, denselben von zünftigen Meistern der Innung als Dirigent vorstehe, auch andere, als mechanische Rundstühle nicht aufgestellt werden dürfen.“330 328 Vgl. die statistische Aufstellung in: ebd. zwischen S. 106 und 107; sowie ZSBI 9, 1863, S. 38. 329 Vgl. Uhlmann, Unternehmer, S. 95; Irmscher, Strumpfindustrie, S. 61 ff.; Kreisarchiv Stollberg: Stadt Auerbach v45/Nr. 719: Familienchronik Kurth. 330 Stadtarchiv Limbach-Oberfrohna: Rat der Stadt Limbach Nr. 2508: Quartalsprotokoll der Strumpfwirkerinnung, 12.12.1853. Vgl. Fritzsching, Strumpfwirker-Innung, S. 28.
5.6 Vom Exportgewerbe zur Exportindustrie: Die Strumpfwirkerei
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Andere Innungen forderten das Verbot von Frauenarbeit in den Strumpffabriken und die ausschließliche Beschäftigung von zünftigen Gesellen und setzten in den einzelnen Fällen auch die ein oder andere Konzession durch. Seit 1862 fielen solche Genehmigungsverfahren weg und die Betreiber von Fabrikunternehmen waren hinsichtlich des Einsatzes von Maschinen und der Beschäftigung von Arbeitskräften nicht mehr an besondere Beschränkungen gebunden.331 Technologische Innovation und Maschinisierung in den 1860er Jahren Insgesamt machten die mechanischen Wirkstühle am Anfang der 1860er Jahren etwa fünf Prozent der Produktionskapazität der sächsischen Strumpf-, Handschuhund Trikotagenwirkerei aus. Eine Zählung im Herbst 1863 weist 303 französische Rundstühle und 4.228 Köpfe englischer Rundstühle aus, denen 26.878 hölzerne Handwirkstühle (plus etwa 1.000 Handstühle verschiedener Art) gegenüberstanden.332 In der gleichen Statistik findet sich ein eher unscheinbarer Eintrag, der aber auf einen bedeutsamen technologischen Sprung verweist. Es sind dort nämlich 21 „mechanische Minderstühle“ verzeichnet. Es war nun tatsächlich das eingetreten, was Friedrich Georg Wieck schon 20 Jahre zuvor erwartet und befürchtet hatte: dass auch regulär geminderte Ware maschinell gefertigt werden konnte. Zwei Jahre zuvor, 1861, war in Großbritannien der mechanische Wirkstuhl des Maschinenbauers Arthur Paget patentiert worden. Mit dem „Pagetstuhl“ konnte ein einzelner Strumpf, später bis zu sechs, auf einmal gefertigt werden. Er konnte an eine Dampfoder Wasserkraftanlage angeschlossen werden, war aber wegen seiner Leichtigkeit und geringen Größe auch für den Handbetrieb geeignet. Im folgenden Jahr präsentierte der Amerikaner Charles Lamb eine Maschine, die auf einer ganz anderen technischen Grundidee als die mechanischen Wirkstühle basierte, aber ein ganz ähnliches Produkt erzeugen konnte. Es war ihm gelungen, das Stricken nahtloser Strümpfe per Hand auf eine Maschine zu übertragen. Auch Lambs Strickmaschine eignete sich für den Kraftbetrieb in der Fabrik, konnte aber genauso gut ohne „Elementarkraft“ in der Meisterwerkstatt und der Heimarbeiterstube verwendet werden. Schließlich meldeten 1868 die englischen Konstrukteure Cotton und Attenborough eine Wirkmaschine zum Patent an, die eine größere Zahl geminderter Strümpfe gleichzeitig herstellen konnte. Die „Cottonmaschine“ konnte wegen ihrer Größe, ihres Gewichts und ihrer Anschaffungskosten nur in einer Fabrik eingesetzt werden. Mechanische Antriebsenergie war hier unbedingt notwendig.333 Der Eintritt des lange befürchteten „Ernstfalls“ verlief für die sächsische Strumpfwirkerei wesentlich undramatischer, als dies Wieck 1841, im Jahr vor dem Fall des britischen Maschinenausfuhrverbots, erwartet hatte. Alle drei Wirkmaschinensysteme waren schon kurz nach ihrer Patentierung in Sachsen bekannt und kamen rasch zum Einsatz. Pagetstuhl und Strickmaschine wurden jeweils spätestens 331 Vgl. Zachmann, Transformation, S. 138 f. 332 Jahresbericht HK Chemnitz 1863, zwischen S. 106 und 107 333 Vgl. ebd. 1890, S. 209; Irmscher, Strumpfindustrie, S. 72, 84 f.; Glassmann, Nadeln, S. 18 f.
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zwei Jahre nach ihrer Erfindung in Sachsen in Lizenz nachgebaut und bald auch in größeren Stückzahlen eingesetzt. Für die Cottonmaschine erwarb der Chemnitzer Strumpffabrikant Hermann Stärker 1869, ein Jahr nach ihrer Patentierung in Großbritannien, die Lizenzrechte für Sachsen und die benachbarten Gebiete und gliederte seiner Fabrikwirkerei eine Maschinenbauabteilung an.334 Doch nicht allein diese spektakulären Innovationen veränderten die technologische Ausstattung der sächsischen Strumpf-, Handschuh- und Trikotagenwirkerei nachhaltig. Schon um 1855 kamen im erzgebirgischen Revier Strumpfnähmaschinen in Gebrauch, zum „Ketteln“ der Strumpfnähte wie zum Zusammennähen von Handschuhteilen. Die ersten Rändermaschinen wurden in den frühen 1860er Jahren aufgestellt. Mit ihnen ließen sich „die elastischen Ränder an Socken, Hosen und Jacken-Aermel produciren, in deren Fabrikation Sachsen bisher gegen England und Frankreich qualitativ sehr bedeutend zurückstand.“335 Im folgenden Jahr vermeldete der Berichterstatter der Bezirkshandelskammer, in Limbach seien für die Handschuhfertigung zahlreiche neue Kettenstühle mit wesentlichen Verbesserungen versehen und auch acht eiserne Modelle für den mechanischen Betrieb aufgestellt worden. Das Bestreben, mit Maschinenkraft zu arbeiten, richte sich nicht mehr allein auf die Herstellung des Stoffes selbst, sondern auch auf andere Arbeitsvorgänge. Es würden nun Maschinen eingesetzt, um den Stoff in gleichmäßige Formen zu schneiden, Nähmaschinen, um Finger an die Handschuhe zu nähen; Steppmaschinen, um Stickereiverzierungen anzubringen. Alle diese Hilfsmaschinen würden von örtlichen Maschinenbauwerkstätten geliefert.336 Die Handelskammerberichte der 1860er Jahre vermitteln den Eindruck, dass Verleger, Fabrikanten, auch einzelne Strumpfwirkermeister und Maschinenbauer im südwestsächsischen Wirkwarenrevier die technologische Entwicklung in Großbritannien, Frankreich und den USA aufmerksam verfolgten. Ausländische Innovationen wurden schnell beschafft, ausprobiert und, wenn sie sich als brauchbar erwiesen und in den Rahmen der Produktions- und Kostenstrukturen gewinnbringend einpassen ließen, auch bald in mehr oder minder großer Zahl eingesetzt. Zudem sollte man nicht übersehen, dass im Revier selbst an den Wirkstühlen und den Hilfsmaschinen permanent gebastelt wurde, um ihre Produktivität zu erhöhen und ihre Bedienung zu erleichtern. Schon in den 1850er Jahren entstanden hier eine ganze Reihe verbesserter Handwirkstuhlmodelle wie etwa der „Patentstuhl“ der Chemnitzer Maschinenbauer Uhle und Heinig von 1853, auf dem man mehrere regulär geminderte Strümpfe gleichzeitig fertigen konnte. Zwischen Ende 1839 und Anfang 1866 wurden im Königreich Sachsen 70 Patente für Wirkereitechnologie erteilt. Einige davon gingen an britische, einzelne auch an französische und amerikanische Erfinder; die große Mehrzahl wurde jedoch an Konstrukteure aus Chemnitz und Umgebung vergeben.337 334 Vgl. Bennewitz, Bedeutung, S. 26; Oppenheim, Wirkwarenindustrie, S. 5, 64; Sieber, Studien, S. 51 f.; Hermann Stärker 1852–1927, S. 17 f. 335 Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 106. 336 Ebd. 1864, S. 121 f.; vgl. Bennewitz, Bedeutung, S. 26 ff. 337 Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1864, S. 93 f.; ebd. 1866, S. 171 f.; Irmscher, Strumpfindustrie, S. 71, 76 f.; Sächsische Industrie-Zeitung 19.4.1861, S. 184; Deutsche Industrie-Zeitung
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Der amerikanische Markt und die Industrialisierung der sächsischen Strumpfwirkerei Der Maschinisierungsschub der sächsischen Wirkerei in den 1860er Jahren stand in einer merkwürdigen Interdependenz zu den Entwicklungen auf dem wichtigsten Absatzmarkt der Branche, den Vereinigten Staaten von Amerika. Er vollzog sich nämlich unter den widrigen Bedingungen des amerikanischen Bürgerkriegs und seinen Folgen. Der Ausbruch des Krieges schlug sofort auf die Konjunktur im Strumpfwirkerrevier am Erzgebirgsrand zurück. Schon Mitte Januar 1861 schrieb der Zschopauer Spinnereibesitzer und Strumpffabrikant Georg Bodemer an seine Tochter: „Die Wirren in den vereinigten Staaten von Amerika machen unseren Fabriken gehörig zu schaffen, auch ist es mit den Strümpfen vorläufig aus…“338 Der US-Bürgerkrieg traf die sächsische Strumpfwirkerei in doppelter Weise. Nicht allein stiegen die Baumwollpreise rapide an, nachdem die abtrünnigen Südstaaten infolge der gegnerischen Seeblockade das wichtigste Erzeugnis ihrer Sklavenwirtschaft nicht mehr über den Atlantik verschiffen konnten. Auch der Export sächsischer Strümpfe und Handschuhe nach Amerika brach zwischen 1861 und 1865 ein. Die Nordstaaten hatten ihre Einfuhrzölle aus fiskalischen Gründen drastisch erhöht, und in den Süden kam allenfalls noch Schmuggelware.339 Der überseeische Absatzeinbruch und die gleichzeitige Verknappung und Verteuerung der amerikanischen Baumwolle hatten zur Folge, dass die südwestsächsische Wirkenwarenproduktion deutlich zurückging. Viele der erzgebirgischen Strumpfwirker, vor allem diejenigen, die dieses Handwerk vornehmlich als saisonales Gewerbe betrieben hatten, suchten sich in den Jahren nach 1861 Beschäftigung in anderen Bereichen und fanden diese auch. Denn anders als in den krisengebeutelten 1840er Jahren war es für sie nun nicht sonderlich schwierig, andere, womöglich besser bezahlte Arbeit zu erhalten. Der Bau der Eisenbahnstrecke zwischen Chemnitz und Annaberg absorbierte wohl einen Teil des infolge der „Baumwollkrise“ frei gewordenen männlichen Arbeitskräftepools. Den Heimarbeiterinnen bot der „flotte Gang“ des Annaberger Posamentengeschäfts, wie der Berichterstatter der Handels- und Gewerbekammer wusste, lohnende Beschäftigung. „Dabei verdienten Frauen und Mädchen oft mehr als Männer, die sich an deren Stelle der Hausarbeit widmen mußten“. Ihre hölzernen Handstühle würden die Strumpfwirker nun oft für wenig Geld verkaufen.340 Mit dem Ende der Kampfhandlungen in Nordamerika setzte eine mächtige Belebung der transatlantischen Nachfrage nach Strümpfen, Handschuhen und Trikotagen ein. Bald klagten die erzgebirgischen Wirkwarenunternehmer über massiven 9.1.1873, S. 12 f. 338 SWA: N 33 Nachlass Bodemer, Mappe 1: Nr. 26: Georg Bodemer an seine Tochter Emilie, 15.1.1861. 339 Vgl. Irmscher, Strumpfwirkerei, S. 78 ff.; Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 102 ff.; ebd. 1864, S. 119. 340 Jahresbericht HK Chemnitz 1864, S. 119. Vgl. ebd. 1863, S. 102 f.; Irmscher, Strumpfwirkerei, S. 83.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Arbeitskräftmangel. Offenbar übte ihr früheres Gewerbe mit seinen notorisch niedrigen Löhnen für viele der abgewanderten ehemaligen Strumpfwirker wenig Attraktivität aus. Trotz Lohnsteigerungen um 75 bis 100 Prozent, so konstatierte der Chemnitzer Handelskammerbericht für das Jahr 1865, seien nicht alle diese Arbeiter bis zum Jahresende zu ihrer Profession zurückgekehrt, weil man sie anderswo, beim Eisenbahnbau, in der Spinnerei usw. brauchte und auch dort die Löhne erhöhte.341 Um die Flut der Bestellungen aus Übersee ausführen zu können, mussten daher die Produktionskapazitäten wohl oder übel auf andere Weise vermehrt werden: „Den Uebergang zur Maschinenfabrikation hat das Jahr 1865 bedeutend gefördert, indem der plötzliche und nicht schnell zu befriedigende Bedarf die Unzulänglichkeit der bisherigen Betriebsweise mit Handstühlen in die Augen fallend documentirte.“342
Die Kombination von Arbeitskräftemangel und plötzlichen Nachfrageboom rief im sächsischen Strumpfwirkerrevier in den Jahren nach 1865 einen kräftigen Industrialisierungsschub hervor. Vor allem die Pagetstühle wurden nun in größerer Zahl in Fabriksälen aufgestellt und an Dampf- oder Wasserkraftanlagen angeschlossen. Zwar zeigte der US-Markt zwischenzeitlich Zeichen einer Überfüllungskrise, doch öffneten sich im Gefolge der europäischen Freihandelsära neue Absatzmärkte für sächsische Wirkwaren, vor allem in Spanien, Frankreich und Großbritannien. Der allgemeine „Gründerboom“ der frühen 1870er Jahren gab der Maschinisierung der Wirkerei weitere kräftige Impulse. 1870 kamen erstmals die großen Cottonmaschinen in Sachsen zum Einsatz, die mit ihren 24 Fonturen das 50fache der Produktionsleistung eines Handkulierstuhls erzielten. „Die Zahl der geschlossenen Etablissements des Bezirks hat sich, durch gesteigerte Production, beträchtlich erweitert“, hieß es im Chemnitzer Handelskammerbericht für 1871/72; „Maschinen und mechanische Stühle von verschiedenen Systemen sind in großer Zahl aufgestellt worden.“ Allerdings liegen genauere Daten für diesen Zeitraum nicht vor. Einen ungefähren Eindruck von der Entwicklung der sächsischen Maschinenwirkerei in den anderthalb Jahrzehnten seit dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs vermitteln die von Reichsgewerbezählung 1882 erhobenen Zahlen. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Sachsen 103 Wirkerei- und Strickereibetriebe, die motorische Kraft einsetzten. 1863 waren es erst acht, nach anderer Quelle zwölf gewesen.343 Die rasche Einführung der Schlüsselinnovationen der Wirkmaschinentechnologie in den 1860er und 70er Jahren trug sicherlich zur Stärkung der Wettbewerbsposition der sächsischen Strumpf-, Handschuh- und Trikotwäschehersteller bei. Anders als noch im Falle der Rundstühle vollzog sich die Diffusion der Paget-, Strickund Cottonmaschinen in Sachsen ohne nennenswerte Verzögerung zu den westeuropäischen Wirkereirevieren. Dass es dem sächsischen Wirkwarenexport gelang, das in den 1850er Jahren an die britische und französische Konkurrenz verlorene 341 Jahresbericht HK Chemnitz 1865, S. 167. 342 Ebd., S. 168. 343 Zitat: ebd. 1871/72, S. 316; Daten nach: 50 Jahre sächsische Volkswirtschaft, S, 45; vgl. Oppenheim, Wirkwarenindustrie, S. 74 f.
5.6 Vom Exportgewerbe zur Exportindustrie: Die Strumpfwirkerei
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Terrain wieder zurückzugewinnen, lag aber nicht zuletzt an den handelspolitischen Weichenstellungen der USA. Nach dem Bürgerkrieg sanken nämlich die US-amerikanischen Zölle auf baumwollene Strumpfwaren, die zur Finanzierung der Kriegsausgaben kräftig angehoben worden waren, nicht wieder auf das relativ gemäßigte Niveau der Zeit vor 1861 herab. Unter dem Schutz hoher Einfuhrzölle entwickelte sich nun in den USA selbst eine Wirkwarenindustrie, die fortan bei den einfachen Qualitäten im eigenen Land das Feld beherrschte. Dies wiederum traf vor allem die Hersteller aus Nottingham und Leicester, die bis 1860 ihre auf Rundstühlen gefertigten Schlauchstrümpfe in großen Massen in die Vereinigten Staaten exportiert hatten. In den mittleren und höheren Qualitäten waren jedoch die amerikanischen Fabrikwirkereien gegenüber der länger etablierten europäischen Konkurrenz trotz der auf den Warenwert erhobenen Zölle vorerst nicht wettbewerbsfähig. Während der 1850er Jahre war aber gerade dieses Marktsegment – die auf Handwirkstühlen gefertigte regulär geminderte Ware – eine Domäne des sächsischen Wirkwarenexports geblieben. Der schnelle Verbreitung der Pagetstühle nach 1865 und der Cottonmaschinen seit 1870 im erzgebirgischen Revier trug wohl wesentlich dazu bei, dass es den englischen Strumpfwarenfabrikanten nicht gelang, die Sachsen aus diesem rasch wachsenden Bereich des Marktes zu verdrängen. Es brach nun für den sächsischen Strumpf- und Handschuhexport eine Periode an, die eine Veröffentlichung der US-Regierung zur mitteleuropäischen Baumwollwarenindustrie später als „The golden years of the Chemnitz knit-goods industry“ kennzeichnete.344 Noch ein weiteres Moment kam der Wettbewerbsposition der sächsischen Wirkwarenbranche seit den 1860er und 70er Jahren entgegen. Strümpfe und Handschuhe wurden in stärkerem Maße als bisher zu Modeartikeln. Bei den Erzeugnissen der sächsischen Handstuhlwirkerei in der ersten Jahrhunderthälfte handelte es sich größtenteils um Stapelwaren, die ohne große Variationen glatt gewirkt, danach gebleicht und gefärbt wurden. Das Gleiche galt im Prinzip auch für die auf englischen Rundstühlen gefertigten Strümpfe. Mit den Verbesserungen der Wirkstuhltechnologie, der hand- wie der kraftbetriebenen, wurde es zunehmend einfacher, gemusterte Ware aus gefärbten Garnen zu produzieren. Geringelte, gestreifte und farbig-karierte Strümpfe zu mäßigen Preisen fanden bei den Verbrauchern rasch großen Anklang. Zuvor waren sorgfältig gearbeitete und gemusterte Strumpfwaren ein Hochpreissegment des Marktes gewesen, das überwiegend von französischen und britischen Herstellern bedient worden war. Dies begann sich nun zu ändern. Symptomatisch dafür war die Entdeckung, dass die New Yorker „Börsenkatastrophe“ vom September 1873 für den sächsischen Wirkwarenexport womöglich auch eine positive Seite hatte. Nun, da die Konsumenten zur Sparsamkeit angehalten waren, bestellten die amerikanischen Strumpfimporteure die bislang „teuer bezahlten Luxus- und Modeartikel“ nicht mehr in England und Frankreich, sondern in Sachsen. Hier war die gemusterte Ware wegen des niedrigeren Lohnniveaus und geringerer Nebenspesen für die Appretur deutlich billiger zu haben. Für den Be-
344 Clark, Fabrics, S. 92. Vgl. Hunger, Strumpfindustrie, S. 41; Jahresbericht HK Chemnitz 1875/76, S. 30.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
richterstatter der Chemnitzer Handels- und Gewerbekammer war damit der Beweis erbracht, „daß die hiesige Fabrikation nicht nur in den großen Stapelartikeln leistungsfähig ist, sondern auch in den Modeartikeln der Wirkwaarenbranche Qualitäten liefert, die … in Amerika einen guten und schnellen Absatz gefunden haben.“345
In gewisser Weise wiederholte sich nun die vormärzliche Entwicklung zur Buntweberei mit einer Verzögerung von mehreren Jahrzehnten im Wirkwarensektor des Chemnitzer Reviers. In der zweiten Hälfte der 1870er und in den 1880er Jahren gingen viele Strumpf- und Handschuhwirker zur Fertigung gemusterter Qualitätsware und modischen „Fancy-Artikeln“ über. 1879/80 vermeldete der Handelskammerbericht sogar einen regelrechten Boom der Handstuhlwirkerei. Für bunte und buntgestreifte Artikel würden „bisher noch nie dagewesene Lohnsätze“ gezahlt. Vor allem in der Handschuhbranche herrsche massiver Arbeitskräftemangel, während glatte Stapelartikel, die Domäne der Maschinenwirkerei, schon seit Jahren unter niedrigen Verkaufspreisen und Überproduktion litten. Neben den mittlerweile verbesserten Handkulierstühlen wurden in der Mode- und Buntwarenwirkerei auch Pagetstühle, zunehmend aber auch leichte Handstrickmaschinen verwendet. Seit den 1880er Jahren kamen vermehrt Jacquardvorrichtungen zum Einsatz, ein Zeichen dafür, dass Strümpfe und Handschuhe in immer komplizierteren und extravaganteren Mustern gefertigt wurden.346 Im Laufe der 1880er Jahre wurde zwar auch die Herstellung buntgewirkter Artikel in zunehmendem Maße maschinisiert. Doch selbst nach der Jahrhundertwende war die Handwirkerei keineswegs verschwunden. Die gewerbliche Betriebsstatistik für das Königreich Sachsen weist noch für 1907 mehr als 10.000 Handwirkstühle und handbetriebene Flachwirkmaschinen (wohl meist Pagetstühle) aus – gegenüber knapp 8.800 kraftgetriebenen Pagetstühlen und Cottonmaschinen. Bei den Flachstrickmaschinen (nach Lamb) besaßen nur 624 von insgesamt 5.055 erfassten Exemplaren einen Kraftantrieb. Dazu kam noch eine größere Anzahl englischer und französischer Rundstühle bzw Rundstrickmaschinen, von denen aber weniger als ein Fünftel ohne mechanische Kraftquelle auskam.347 Die Transformation des Produktionssystems Die Befunde zur Entwicklung der Wirkmaschinentechnologie und ihrer Diffusion in der sächsischen Strumpfwirkerei vermitteln ein ambivalentes Bild des Industrialisierungsprozesses in diesem Sektor. Einerseits verweist die zügige Adaption von Schlüsseltechnologien vor allem seit Mitte der 1860er Jahre auf einen bemerkenswert raschen Übergang zu industriellen Produktionsweisen im erzgebirgischen Revier. Andererseits deuten die eben dargelegten Daten zur Handwirkerei auf eine 345 Jahresbericht HK Chemnitz 1873/74, S. 284 f. Vgl. ebd. 1877/78, S. 399; Irmscher, Strumpfindustrie, S. 131. 346 Zitat: Jahresbericht HK Chemnitz 1879/80, S. 164. Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1875/76, S. 308; ebd. 1877/78, S. 397; ebd. 1881, S. 65 f.; ebd. 1890, S. 209. 347 Vgl. die Zahlen bei: Bennewitz, Bedeutung, S. 37.
5.6 Vom Exportgewerbe zur Exportindustrie: Die Strumpfwirkerei
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erstaunliche Persistenz protoindustrieller Strukturen hin. Größerer Fabrikunternehmen, die den Herstellungsprozess vom Aufspulen des Garns bis zur verkaufsfertigen Ware weitgehend unter dem Dach eines Betriebs integriert hatten, gab es auch am Ende des Jahrhunderts vornehmlich in den städtischen Zentren des Reviers, vor allem in Chemnitz. Für das Jahr 1906 sind im „sächsischen Manchester“ immerhin acht Wirkereibetriebe mit jeweils mehr als 200 Beschäftigten ausgewiesen. Weitere 17 Chemnitzer Strumpf- und Trikotagenfabriken fielen in die Kategorie der Betriebe zwischen 51 und 200 beschäftigten Personen. Zusammengenommen waren das fast die Hälfte der 54 Maschinenwirkereien in der Stadt. Diese größeren Chemnitzer Fabrikunternehmen der Wirkwarenbranche waren offenbar in der Regel aus etablierten Verlags- und Großhandelsgeschäften hervorgegangen. Dazu gehörten etwa die Firmen Hecker & Söhne, Wex & Söhne, Eduard Creutznach, die allesamt bereits im Vormärz, bisweilen auch schon im 18. Jahrhundert, in der Branche kaufmännisch oder verlegerisch aktiv gewesen. Hermann Stärker konnte zwar nicht auf eine solche Generationen übergreifende Verwurzelung in der Chemnitzer Handelsbourgeoisie zurück sehen, als er in den frühen 1870er Jahren seinen vierstöckigen, mit den neuesten Cottonmaschinen ausgestatteten Fabrikbau errichtete. Aber auch er war seit rund 20 Jahren als erfolgreicher Verlagsunternehmer in der Branche aktiv gewesen. Die Limbacher Esche-Brüder wiederum verlegten 1870 ihr 17 Jahre zuvor gegründetes Fabrikunternehmen ebenfalls nach Chemnitz.348 In solchen größeren Fabriken standen in den auf mehrere Stockwerke verteilten Wirksälen nicht selten eine ganze Reihe verschiedener Maschinensysteme, vor allem natürlich die schweren und teuren Cottonmaschinen für regulär geminderte Stapelware. Für die feineren Qualitäten eigneten sich dagegen Pagetstühle besser. In den Fabriken wurden sie gewöhnlich als Set von jeweils fünf Maschinen aufgestellt: drei für die Strumpfschläuche und zwei weitere, die für das Wirken der Spitzen und der Fersen eingerichtet waren. Dazu kamen Rundstühle und später Rundstrickmaschinen, Rändermaschinen u. a. Zudem übernahmen die Wirk- und Strickwarenproduzenten von jeher Fertigungsschritte im Bereich der Konfektion, mit denen sich die Weberei üblicherweise nicht zu befassen hatte. Die geschnittene Ware musste zusammen genäht werden; an regulär geminderte Strümpfen wurden Ferse und Spitze „angekettelt“, an Strümpfe und Handschuhe der „Zwickel“ (die Ziernaht) angebracht. Solche Arbeiten besorgten in Chemnitz häufig weibliche Arbeitskräfte in den Nähsälen der Fabriken selbst, wo kraftgetriebene Spezialnähmaschinen eingesetzt werden konnten. Nur zum Bleichen und Färben verließen die Strümpfe, Handschuhe und Trikotagen die Fabrik, um für abschließende Appreturarbeiten dorthin zurückzukehren.349 In den Kleinstädten und Dörfern des Strumpfwirkerreviers entstammten die Unternehmensgründer wohl meist dem Milieu der eingesessenen Strumpfwirker348 Daten nach: Irmscher, Strumpfindustrie, S. 117. Vgl. ebd., S. 115; Uhlmann, Unternehmer, S. 95; Chemnitz am Ende des XIX. Jahrhunderts …, S. 198–203; Hermann Stärker 1852–1927, S. 15–19. 349 Vgl. Irmscher, Strumpfindustrie, S. 106 f., 120 f.; Greif, Wirkwarenindustrie, S. 35–38; Zachmann, Transformation, S. 143 f.; Chapman, Hosiery, S. 131.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
meister und Faktore. Ohne den Hintergrund einer kapitalkräftigen Kaufmanns- und Verlegerelite entwickelten sich die ländlichen Strumpffabriken typischerweise aus kleinen Anfängen. So machte sich der Thalheimer Strumpfwirkergeselle Louis Walter 1876 mit einem hölzernen Walzenstuhl in eigener Werkstatt selbständig. Fünf Jahre später ersetzte er dieses Gerät durch eine eiserne (Hand-) Wirkmaschine, der in den nächsten Jahren zwei weitere folgten. Erst 1889 erfolgte mit dem Umzug in ein größeres Gebäude und der Einrichtung einer Dampfmaschinenanlage die eigentliche Fabrikgründung. Die Handwirkstühle konnte Walter nun mit einem Pagetmaschinenset und einigen Cottonmaschinen ersetzen.350 Eines der erfolgreichsten erzgebirgischen Strumpfwarenunternehmen ging auf den Oberlungwitzer Wirkermeister Wilhelm Friedrich Bahner zurück. Bahner hatte seinen 1842 gegründeten Handwerksbetrieb sukzessive erweitert und beschäftigte um 1860 neben den eigenen Gesellen an die 60 Heimarbeiter. Mitte der 1870er Jahre gehörten acht (handbetriebene) mechanische Stühle zum Inventar seines Eigenbetriebs. Den Schritt zur Fabrikwirkerei machte Bahner, als er 1882 eine Dampfkraftanlage installierte. Seine drei Söhne, die 1884 zunächst den Betrieb gemeinsam übernommen hatten, lösten ihre Partnerschaft bereits vier Jahre später auf. Der Älteste, Wilhelm, übernahm die väterliche Fabrik und ihren bisherigen Hauptproduktionszweig, die Trikotagenfertigung. Sein Bruder Gustav baute 1889 im benachbarten Lichtenstein ein neues Fabrikgebäude, wo er mit Strickmaschinen zunächst Sporttrikotagen herstellte. Louis Bahner schließlich musste sich mit einem Nebenzweig des väterlichen Geschäfts begnügen, der Strumpfherstellung. Es gelang ihm aber mit seinen Strümpfen, die er unter dem Markenzeichen „elbeo“ (für „Louis Bahner Oberlungwitz“) in den Handel brachte, auf längere Sicht seine Brüder zu überflügeln.351 Die Fabrikwirkereien an den kleinstädtisch-ländlichen Standorten des erzgebirgischen Reviers, auch die größeren, lagerten die Endfertigung gewöhnlich aus. Das Zusammennähen der Strumpf- und Handschuhteile und die Zwickelarbeiten übernahmen meist Heimarbeiterinnen, die ihren Wohnsitz in der näheren und weiteren Umgebung des Produktionsstandorts hatten. Die entfernter wohnenden Näherinnen wurden von sog. Nähfaktoren betreut. Diese neu entstandene Berufsgruppe rekrutierte sich offenbar nicht selten aus den Reihen der ehemaligen Strumpfwirkermeister, die im Zuge des industriellen Wandels ihr Gewerbe aufgegeben hatten. Sie verteilten die halbfertigen Waren an die Heimarbeiterinnen und sammelten sie wieder ein. Wie schon ihre Vorgänger, die Faktore des erzgebirgischen Strumpfwirkereiverlags, arbeiteten sie gewöhnlich auf eigene Rechnung. Sie schlossen mit ihren Auftraggebern, den Fabrikanten, einen Werkvertrag über die zu erledigenden Ar350 Vgl. Geschichte der Strumpfindustrie … S. 64 f. Vgl. zur ähnlichen Entwicklung von weiteren Thalheimer Strumpffabriken: ebd. S. 68 ff., 75 ff.; sowie: Bruno Neukirchner … Festschrift, o. S.; 50 Jahre Görner, o. S.; Oberlungwitzer Beispiele bieten: 50 Jahre Otto Kunze, S. 12–19; Hommel, Chronik, S. 103–111. Zur Genese von Wirkwarenfabriken in kleineren Orten: Die Kreishauptmannschaft Chemnitz …, S. 24 (Steudten, Neukirchen); ebd. S. 30 (Paul Barth, Brünlos); ebd. S. 31 (Heinrich Seidel, Brünlos); ebd. S. 56 (Albin Mauersberger, Drebach); Gornsdorfer Chronik, S. 28–31. 351 Vgl. Glassmann, Wirken. S. 15 ff., 24 f., 51; Hommel, Chronik, S. 103 ff.; Lippmann, Geschichte, S. 162; allgemein: Irmscher, Strumpfindustrie, S. 115, 121.
5.6 Vom Exportgewerbe zur Exportindustrie: Die Strumpfwirkerei
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beiten ab und gaben diese dann zu eigenen Konditionen an die Verlagsarbeiterinnen weiter.352 Diese funktionale Verbindung von Fabrikwirkerei und weiblicher Heimarbeit schlug sich in den berufs- und gewerbestatistischen Erhebungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts markant nieder. 1882 waren im Königreich Sachsen noch mehr als vier Fünftel der Verlagsarbeiter Männer. 25 Jahre später stellten die Frauen mehr als zwei Drittel der Hausgewerbetreibenden der Branche. Die Zahl der männlichen Heimarbeiter hatte sich in diesem Zeitraum von knapp 25.000 auf weniger als 5.000 reduziert, während sich die Zahl der Frauen von etwa 5.541 auf 10.687 nahezu verdoppelte. In diesem Sinne hatten Hausgewerbe und zentralisierte Produktion gewissermaßen ihre Rollen getauscht: Nun wurden die rohen Strümpfe und Handschuhe in zunehmend Maße in der Fabrik statt in den verstreuten Werkstätten der Wirkmeister und Heimarbeiter gefertigt, während sich Näherei und Appretur aus den Räumlichkeiten der Fabrikverleger in die Heimarbeiterstuben verlagerten.353 Es erscheint allerdings fraglich, ob der Kernprozess der Wirkerei bis 1914 tatsächlich so weitgehend im Fabrikbetrieb zentralisiert wurde, wie diese Zahlen suggerieren. Zum einen kann man nicht davon ausgehen, dass die statistisch erfassten Heimarbeiterinnen allesamt mit Nähen, Ketteln und ähnlichen Endfertigungsarbeiten betraut waren. Nach der Aufhebung des Zunftzwanges stand die Arbeit am Wirkstuhl Frauen ohne weiteres offen, und die in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sich stark verbreitenden Handstrickmaschinen galten sogar als ausgesprochen weibliche Domäne.354 Zudem wirft ein Blick auf die Betriebsgrößenstatistik der sächsischen Wirkereiindustrie die Frage auf, wie tiefgreifend der fabrikindustrielle Strukturwandel im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hier tatsächlich war. Auf der einen Seite beschleunigte sich zwar der Übergang zum industriellen Fabrikbetrieb seit den 1880er Jahren in eindrucksvoller Weise. Aus den 103 Wirkereibetrieben, die 1882 kraftgetriebene Maschinen einsetzten waren dreizehn Jahre später 662 geworden. Auf der anderen Seite machten diese Betriebe aber immer noch nur 3,7 Prozent der Gesamtzahl der sächsischen Wirkerei- und Strickereibetriebe aus. Zudem beschäftigten mehr als 82 Prozent der von den Gewerbezählung 1895 erfassten Hauptbetriebe außer dem Inhaber selbst keine weitere bezahlte Arbeitskraft. Fast die Hälfte der 44.103 sächsischen Strumpfwirker arbeitete an der Wende zum 20. Jahrhundert in Allein- oder Kleinstbetrieben mit weniger als sechs Arbeitskräften. Selbst von den „Motorenbetrieben“ beschäftigten weniger als die Hälfte (257) jeweils mehr als zwanzig Arbeitskräfte. Lediglich 33 Fabriken arbeiteten Mitte der 1890er Jahre mit Belegschaften von mehr als 100 Arbeitern und Angestellten.355 352 Vgl. Greif, Wirkwarenindustrie, S. 61–65; Zachmann, Transformation, S. 143 ff.; dies., Strumpfwirkerei, S. 128. 353 So Irmscher, Strumpfindustrie, S. 97 f.; vgl. Zachmann, Strumpfwirkerei, S. 128; Zahlen nach: Krebs, Hausgewerbe, S. 302;. 354 Vgl. Irmscher, Strumpfindustrie, S. 94; Die Industrielle Entwicklung … S. 26. 355 Zahlen nach: ZSSB 44, 1898, S. 134 f.; Bennewitz, Bedeutung, S. 44; 50 Jahre Volkswirtschaft, S. 45.
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Nach den Daten der Reichsgewerbezählung von 1907 hatte sich der Anteil der Fabrikbetriebe mit „elementarer“ Kraftquelle auf 6,3 Prozent erhöht. Es gab nun in Sachsen 1.039 Betriebe der Wirkwarenbranche, die über motorische Kraft zum Antrieb ihrer Maschinen verfügten. Allerdings verließ sich zu diesem letzteren Zeitpunkt nur einer kleinerer Teil dieser Strumpf-, Handschuh- und Trikotagenfabriken auf Dampfmaschinen, nämlich insgesamt 291 (= 26,3 %). 90 Betriebe verwendeten Wasserkraft (= 8,1 %), 164 Gas- oder Benzinmotoren (= 14,8 %). Mehr als die Hälfte der „Motorenbetriebe“ in der sächsischen Wirkerei (560 = 58,8 %) setzte 1907 auf Elektrizität als Antriebskraft. Die statistische Zunahme der „Fabrikbetriebe“ in der Gewerbezählung von 1907 wiederum geht wohl ganz auf das Konto der Betriebe, die Elektromotoren einsetzten. Die Zahl dieser Betriebe hatte sich nämlich innerhalb von zwölf Jahren von vier auf 560 vermehrt, während andererseits die Anzahl der Dampfkraft einsetzenden Fabriken sogar absolut deutlich rückläufig war (von 380 auf 291).356 Diese Entwicklung verweist einerseits auf einen Konzentrationsprozess innerhalb der Wirkwarenindustrie, denn die Zahl der Fabrikbetriebe mit mehr als 200 Arbeitern und Angestellten war im gleichen Zeitraum von neun auf 34 gestiegen. Andererseits nähren die Daten zur sprunghaften Vermehrung der elektrifizierten Betriebe nach den Befunden zur Weberei den Verdacht, dass es sich dabei nicht unbedingt um Fabriken im engeren Sinne handelte. Man sollte hier vielleicht eher von einer Motorisierung des Hausgewerbes sprechen. Womöglich ist der dramatische Rückgang der Zahl der männlichen Heimarbeiter in der sächsischen Strumpfund Handschuhwirkerei zwischen 1895 und 1907 von über 11.000 auf weniger als 5000 auch darauf zurückführen, dass die Aufstellung eines Antriebsaggregats ihre Werkstatt für die amtliche Statistik von einem hausindustriellen Betrieb zur „Fabrik“ machte.357 Die Übergänge zwischen hausgewerblichen und handwerklichen Betrieben und kleinen Fabriken erscheinen demnach bei näherem Hinsehen einigermaßen fließend. Ein Teil der Handwerksmeister und Heimarbeiter ging seit Mitte der 60er Jahre dazu über, ihren Betrieb durch Anschaffung neuer Maschinen und Gerätschaften zu modernisieren. Die alten hölzernen Wirkerstühle wurden ausgetauscht gegen eine neue Generation von eisernen Modellen, die klein und leicht genug waren, um sie in der eigenen Werkstatt oder Heimarbeiterstube aufzustellen und die von Hand bedient werden konnten: Paget- und Rundstühle, die in den 1850er Jahren von den Chemnitzer Mechanikern Heinig und Uhle entwickelten Walzenstühle, Lambs Strickmaschinen u. a. m. Nicht selten konnten ausrangierte Paget- oder Rundstühle von den Fabrikanten preiswert erworben werden. Manchmal streckte der Verleger den Kaufpreis vor oder stellte die Maschine leih- oder pachtweise zur Verfügung. Mit der Genese eines regionalen Wirkmaschinenbaus wurde es auch einfacher, solche Maschinen fabrikneu zu erstehen. Deren Hersteller begnügten 356 Vgl. Bennewitz, Bedeutung, S. 39 f. Die Zahlen decken sich nicht ganz, da einige Betriebe Antriebsaggregate unterschiedlichen Typs gleichzeitig verwendeten. 357 Vgl. Greif, Wirkwarenindustrie, S. 75 f.; Pfütze-Grottewitz, Industriebetriebe, S. 233; Statistik des Deutschen Reiches Bd. 215, S. 236.
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sich oft mit einer geringfügigen Anzahlung und boten ihren Abnehmern eine Abzahlung in kleinen Raten an. Mit der Verbreitung leichter und billiger Elektromotoren in den Jahren nach 1900 verschwamm die Grenze zwischen Fabrik- und Hausindustrie vollends. Schon zuvor hatten findige Unternehmer Arbeitsräume mit Wasserkraftanlagen oder Gasmotoren, z. T. auch dort die aufgestellten Wirkmaschinen an Verlagsarbeiter vermietet.358 In der Regel fertigten die Kleinfabriken und Werkstattbetriebe, wie vor ihnen die zünftigen Strumpfwirkermeister, rohe Ware an. Die halbfertigen Strümpfe und Handschuhe verkauften sie gewöhnlich an die Grossisten in Chemnitz und einigen anderen Städten des Reviers. Oft wechselten die kleinen Wirkwarenfirmen je nach Konjunktur zwischen der Produktion auf eigene Rechnung und der „Lohnarbeit“ für Verleger und größere Fabrikunternehmen hin und her. Die firmengeschichtliche Überlieferung vieler erzgebirgischer Wirkwarenunternehmen zeigt an, dass es manchem Strumpfwirker oder Faktor auf diese Weise auch gelang, selbst zum Fabrikanten aufzusteigen. Für einen ersten Einstieg ins Geschäft mochten zunächst einige wenige Handstühle oder handbetriebene Wirkmaschinen genügen. Bei günstiger Geschäftsentwicklung wurden solche Kleinbetriebe peu a peu erweitert und schließlich mit der Anschaffung einer Kraftanlage zur Fabrik.359 Sobald man also etwas genauer auf die betriebsorganisatorischen Zusammenhänge schaut, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Strumpfwirkerrevier zwischen Limbach, Chemnitz, Hohenstein und Stollberg ausprägten, entfaltet sich ein ziemlich unübersichtliches Mit- und Nebeneinanders verschiedener Akteursgruppen, Betriebsstrukturen und Produktionsabläufe. Es gab Fabriken mit mehreren hundert Beschäftigten, die den Produktionsprozess weitgehend unter dem eigenen Dach integriert hatten. Andere Fabrikwirkereien übergaben ihre Rohwaren zur Endfertigung an Heimarbeiterinnen (meist unter Vermittlung von Zwischenverlegern). Mit solchen Näh-, Kettel- und Zwickelarbeiten konnten aber auch Unternehmen beauftragt werden, die in ihren Fabrikationsräumen eine größere Zahl von Arbeiterinnen an Nähmaschinen beschäftigten, und z. T. ihrerseits einen Teil der Aufträge an Heimarbeiterinnen weitergaben.360 Arbeitsschritte wie das Bleichen, das Färben und bestimmte Appreturarbeiten gingen an Spezialbetriebe, die ebenfalls zunehmend Maschinen einsetzten.361 Dazu gab es nach wie vor reine Verlagsunternehmen, die sich ausschließlich der Dienste externer, formal selbständiger Produktionsbetriebe bedienten.362 Doch auch die Strumpffabriken, selbst die großen Chemnitzer Fabrikwirkereien, ließen vor allem in Hochkonjunkturphasen einen Teil ihre Waren von kleineren Herstellern fertigen oder kauften sie ihnen ab.363 358 Vgl. Zachmann, Transformation, S. 143; Greif, Wirkwarenindustrie, S. 43, 68; Irmscher, Strumpfindustrie, S. 91 f., 122; Hunger, Strumpfindustrie, S. 84; Gornsdorfer Chronik, S. 22. 359 Vgl. Irmscher, Strumpfindustrie, S. 99 f., 154 ff.; Glassmann, Wirken, S. 8 f., 16 f., 31 f.;, 50 Jahre Görner, o. S.; sowie Schäfer, Familienunternehmen, S. 53. 360 Vgl. Hunger, Strumpfindustrie, S. 79 f. 361 Vgl. ebd., S. 78 362 Vgl. Irmscher, Strumpfindustrie, S. 120 363 Vgl. ebd.; Staatsarchiv Chemnitz 31334: Fa. C. & F. Doehner, Lößnitz, Nr. 65, o. Bl.: Firmenhistorischen Manuskript, 1942.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Nicht zuletzt wurde die erzgebirgische Strumpf-, Handschuh- und Trikotagenwirkerei und -strickerei des ausgehenden 19. Jahrhunderts von einer kaum übersehbaren Zahl von Klein- und Kleinstbetrieben geprägt, die irgendwo im Kontinuum zwischen Fabrik und hausindustrieller Werkstatt zu verorten waren, die mit oder ohne Maschinen, auf fremde wie auf eigene Rechnung arbeiteten. Chancen und Zwänge: Vertriebsstrukturen und Marktkonstellationen Lassen sich nun der Industrialisierungsverlauf in der erzgebirgischen Wirkerei und die bemerkenswerte Persistenz und Neuausprägung dezentraler Produktionsstrukturen in einen kausalen Zusammenhang setzen mit den Marktbedingungen, Marktkonstellationen und Vermarktungsstrategien der Wirtschaftsakteure? Die handelspolitische Wende der späten 1870er Jahre stellte einen so ausgeprägt exportorientierten Wirtschaftszweig wie die sächsische Strumpfwirkerei naturgemäß vor besonders große Herausforderungen. Zunächst einmal drohte die Schutzzollpolitik des Reiches die Kosten für den weitaus wichtigsten Rohstoff der Strumpf-, Handschuh- und Trikotagenwirkerei – Baumwolle bzw. Baumwollgarn – zu verteuern. Dies war insbesondere für eine Branche bedeutsam, die ihre Erzeugnisse größtenteils außerhalb des geschützten Binnenmarktes absetzte und deren schärfster ausländischer Konkurrent diesen Faktor nicht in die Gestehungskosten ein zu kalkulieren brauchte. Es sind denn auch in den Chemnitzer Handelskammerberichten der 1880er Jahre recht regelmäßig Klagen darüber zu vernehmen, dass die deutschen Garnzölle die Wettbewerbsbedingungen der heimischen Wirkwarenproduzenten verschlechterten. Allerdings scheint die Strumpfbranche insgesamt weniger von der Garnverteuerung betroffen gewesen zu sein als zahlreiche Zweige der sächsischen Baumwollweberei. Die Strumpfwirker hatten von jeher zum größten Teil sächsisches Garn verwendet und waren nur in geringem Maße vom Import feinerer Qualitäten aus dem Ausland abhängig.364 Schwerer als die Verteuerung des Garns trafen die sächsische Wirkwarenindustrie wohl die verschärften Absperrungsmaßnahmen vieler europäischer und überseeischer Staaten. Die neue Welle des Protektionismus seit dem Ende der 1870er Jahre setzte der Periode des relativ ungehinderten Marktzugangs für die sächsische Wirkwarenindustrie ein Ende. In Europa blieb Großbritannien als zollfreies Absatzgebiet für Strümpfe, Socken, Handschuhe und Trikotagen aus Sachsen offen. Ein Teil der dort eingeführten Wirkwaren wurde in die überseeischen Kolonien und Dominions re-exportiert. Doch seit den 1880er Jahren wuchs die Bedeutung des britischen Home Market für den südwestsächsischen Wirk- und Strickwarenexport. Um die Jahrhundertwende war der Binnenmarkt des bislang schärfsten Konkurrenten der sächsischen Strumpfwirkerei zu ihrem – nach den USA – zweitwichtigsten Exportland geworden.365 Dafür schlossen sich in anderen europäischen Staaten die 364 Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1879/80, S. 166; ebd. 1882, S. 116; ebd. 1883, S. 148. 365 Vgl. ebd. 1871/72, S. 319; Greif, Wirkwarenindustrie, S. 103; Tyson, Industry, S. 103 f.; Irmscher, Strumpfindustrie, S. 196 f.; Clark, Fabrics, S. 91.
5.6 Vom Exportgewerbe zur Exportindustrie: Die Strumpfwirkerei
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Grenzen für die Einfuhr von Wirkwaren aus Sachsen wieder. Russland, Österreich-Ungarn und Frankreich sperrten die sächsischen Strümpfe und Handschuhe durch Schutzzölle fast vollständig aus. Um zumindest den großen russischen Markt nicht ganz aufzugeben, errichteten eine Reihe von sächsischen Fabrikunternehmen seit 1885 in Warschau, Kalisch und Lodz Zweigwerke. Auch im benachbarten Böhmen entstanden solche Handschuhfabriken. In Italien und Spanien entwickelten sich unter dem Schutz der Zölle einheimische Wirkindustrien, deren Erzeugnisse die Importe aus Sachsen zusehends verdrängten. Strümpfe aus Katalonien wurden sogar über das spanische Cuba auf die südamerikanischen Märkte verschickt, wo sie wiederum mit sächsischen Wirkwaren in Konkurrenz traten. Seit der Jahrhundertwende machte die aufstrebende japanische Strumpfindustrie den Sachsen Märkte im Fernen Osten streitig.366 Die Vereinigten Staaten von Amerika waren zwar schon in den 1860er Jahren zu einer Politik der hohen Zölle übergegangen, die im Falle von baumwollenen Strumpfwaren an die 70 Prozent des Warenwerts ausmachen konnten. Aber diese Zölle hatten im allgemeinen für den sächsische Wirkwarenexport keine prohibitive Auswirkung. Im Gegenteil – infolge des zunehmend kontinentaleuropäischen Protektionismus nahm die Bedeutung der USA als Absatzmarkt sächsischer Strümpfe und Handschuhe nach 1879 tendenziell noch zu. Am Ende der 1870er Jahre gingen schätzungsweise 35 Prozent der in Sachsen erzeugten Wirkwaren in die Vereinigten Staaten. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg schätzte ein amerikanischer Beobachter diesen Anteil auf die Hälfte; zwischenzeitlich war er wohl noch höher gewesen. Der im deutschen Inland abgesetzte Teil der erzgebirgischen Strumpfwarenproduktion blieb weiterhin eher marginal. Er lag wohl bei zehn bis 20 Prozent. Lediglich Trikotagen wurden zu einem höheren Anteil auf dem Binnenmarkt verkauft.367 Allerdings machten die häufigen Schwankungen der US-Handelspolitik das amerikanische Exportgeschäft für die Wirkwarenunternehmen in Chemnitz, Limbach und Umgebung phasenweise zu einer riskanten Angelegenheit. Seitdem Mitte der 1880er Jahre erstmals nach dem Bürgerkrieg wieder ein Kandidat der Demokratischen Partei zum Präsidenten gewählt worden war, änderten sich die amerikanischen Zolltarifbestimmungen beinahe mit jedem Wechsel der Administration in Washington. Dies konnte mitunter zu heftigen Fluktuationen im transatlantischen Absatz führen. Schon Monate vor den US-Präsidentschaftswahlen stockten die Geschäfte im erzgebirgischen Strumpfrevier. War die Wahl dann Anfang November entschieden, wurden kurzfristig Bestellungen aufgegeben, die sonst schon im Juli/ August getätigt worden wären. Hatte ein protektionistisch gesinnter Kandidat den Sieg davon getragen, konnten sich die Strumpffabrikanten und Exporthäuser des Chemnitzer Reviers auf eine Flut von Bestellungen mit kurzen Lieferfristen einzustellen. Denn nun galt es, möglichst große Mengen sächsischer Strümpfe, Hand366 Vgl. Irmscher, Strumpfindustrie, S. 196; Gebauer, Volkswirtschaft 3, S. 334 Greif, Wirkwarenindustrie, S. 103; Benndorf, Beziehungen, S. 151; Jahresbericht HK Chemnitz 1883, S. 146, 150. 367 Vgl. Deutsche Industrie-Zeitung 14.5.1879, S. 198; Clark, Fabrics, S. 91; Taussig, History, S. 268.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
schuhe und Trikotagen über den Atlantik zu transportieren, ehe die erwartete Verschärfung der Zollgesetze in Kraft trat. Gab umgekehrt der Wahlausgang in den Vereinigten Staaten Anlass zur Hoffnung auf eine Senkung der Zölle und eine Erleichterung der Einfuhrbestimmungen, so verharrte das Amerikageschäft erst einmal in der Flaute. Alle Beteiligten warteten nun die neuen, günstigeren Zolltarife ab.368 Nicht allein die häufig wechselnden Zolltarife konnten die Ausfuhr in die Vereinigten Staaten zu einem unberechenbaren und volatilen Geschäftsfeld machen. Auch die praktische Umsetzung der Tarifgesetzgebung durch die US-Zollbehörden, rief immer wieder den Unwillen der sächsischen Strumpffabrikanten und Exporteure hervor. Die in die USA eingeführten Wirk- und Strickwaren wurden nicht – wie etwa in Deutschland üblich – nach ihrem Gewicht oder ihrer Stückzahl verzollt, sondern nach ihrem Wert. Da der Wert einer Ware sich aber letztlich erst am Markt bestimmt, blieb bei der Festlegung der abzuführenden Eingangszölle ein gehöriger Ermessensspielraum. Es war eigentlich die Aufgabe des Handelskonsulat in Chemnitz, den Wert der für den Export in die USA bestimmten Strumpfwaren zu überprüfen und zu zertifizieren. Doch in vielen Fällen ignorierten die amerikanischen Zollbehörden diese Zertifikate. Sie setzten eigene Taxatoren ein, die mitunter wohl recht willkürlich die ihnen vorgelegten Deklarationen erhöhten. Damit nicht genug: Waren die Zollbeamten der Meinung, die zur Einfuhr bestimmten Güter seien absichtlich zu niedrig deklariert worden, konnten sie die Importeure mit empfindlichen Geldstrafen belegen oder die betreffenden Waren gleich ganz konfiszieren.369 Die vom Chemnitzer Konsulat erhobenen Daten spiegeln den immensen Stellenwert des Exports in die USA für die sächsische Wirkwarenindustrie ebenso eindrucksvoll wider wie die Kapriolen der amerikanischen Handelspolitik. Rund drei Viertel des Gesamtwarenwerts der im US-Konsularbezirk Chemnitz zertifizierten Exportgüter fiel regelmäßig auf Wirk- und Strickwaren aus Baumwolle, Wolle und Seide. In den 1870er Jahren lag dieser Wert zusammengenommen bei einer Größenordnung von etwa 3–3,5 Millionen US-Dollar jährlich. 1886, in der Mitte der ersten Amtsperiode des demokratischen Präsidenten Grover Cleveland, wurden in Chemnitz Handschuhe, Strümpfe und Trikotagen im Gesamtwert von 7,15 Millionen Dollar für den Export in die USA zertifiziert.370 Seit der Reichsgründungszeit hatten sich die direkten Handelsbeziehungen zwischen dem südwestsächsischen Wirkwarenrevier und den US-amerikanischen Verbrauchermärkten intensiviert und verdichtet. Die in der ersten Jahrhunderthälfte so wichtige Funktion der Hamburger und Bremer Großhandelshäuser und Kommissionäre trat nun zurück. Im Revier selbst ansässige Exporthandelsfirmen, vor allem 368 Vgl. Bennewitz, Bedeutung, S. 122–126; Oppenheim, Wirkwarenindustrie, S. 94 f., 114–121; Sieber, Studien, S. 53 f.; Jahresbericht HK Chemnitz, S. 180. Siehe Tabelle 9 im Anhang. 369 Vgl. Greif, Wirkwarenindustrie, S. 106; Irmscher, Strumpfindustrie, S. 120; allgemein: Torp, Globalisierung, S. 333. 370 Vgl. die Angaben in: Deutsche Industrie-Zeitung 27.11.1873, S. 480; Stadtarchiv Chemnitz Ratsarchiv Kap. V, Sektion II, Nr. 188, o. Bl.: Bescheinigungen des US-Konsulats Chemnitz über den Wert der gemeldeten Exporte für 1877 und 1886; sowie Tabelle 9 im Anhang.
5.6 Vom Exportgewerbe zur Exportindustrie: Die Strumpfwirkerei
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aus Chemnitz, übernahmen ihre Rolle im amerikanischen Wirkwarengeschäft. Sie kauften Strümpfe und Handschuhe von den Fabrikanten und Verlagsunternehmen, sorgten für ihren Transport über den Atlantik und speisten sie in die Netzwerke des amerikanischen Großhandels ein. Wohl seit den 1880er Jahren begannen die größeren sächsischen Fabrikunternehmen, direkte Kontakte nach Nordamerika anzuknüpfen. Einer der ersten Strumpffabrikanten, der diesen Schritt tat, war der Oberlungwitzer Unternehmer Louis Hillig. Dabei war ihm anfangs sein ehemaliger Buchhalter behilflich, der in die USA ausgewandert war und für seinen alten Chef in der neuen Heimat Geschäftskontakte vermittelte. Die Firma C. & F. Doehner ging phasenweise noch einen Schritt weiter. Zwischen 1899 und 1911 unterhielt das Lößnitzer Fabrikunternehmen ein eigenes Verkaufsgeschäft in New York, zunächst gemeinsam mit einer großen Chemnitzer Möbelstoffweberei, später auf alleinige Rechnung.371 Die amerikanischen Strumpfimporteure wiederum waren gewöhnlich durch Einkaufsvertretungen im Industriegebiet präsent. Ihre Agenten und Vertreter suchten die Fabrikanten und Grossisten vor Ort auf, kauften dort Ware ein und gaben Bestellungen auf. 1908 waren 88 amerikanische Importhäuser und Großdetaillisten dauernd in Chemnitz vertreten. Bezahlt wurde gewöhnlich in bar oder per Wechsel auf London – eine Praxis, die sich aus Sicht der Produzenten wohltuend von den überlangen Zahlungszielen des deutschen Textilgroßhandels in der Webwarenbranche unterschied.372 Klagen über windige Konsignationsgeschäfte im US-Export waren seit den 1860er Jahren im Chemnitzer Revier nicht mehr zu hören.373 Der herausragende Stellenwert der Vereinigten Staaten von Amerika als Absatzgebiet für sächsische Wirkerei-Erzeugnisse trug angesichts der wilden Fluktuationen der Nachfrage, die periodisch von der amerikanischen Zollpolitik ausgelöst wurden, nicht unbedingt zur Planungssicherheit der Fabrikanten bei. Wenn etwa um die Jahrhundertwende rund 60 Prozent der in Limbach und Umgebung produzierten Handschuhe in die USA exportiert wurden (und weitere 30 % nach Großbritannien), so konnte ein plötzlicher Einbruch der amerikanischen Nachfrage existenzbedrohende Folgen für die Fabrikunternehmen des Chemnitzer Raums nach sich ziehen. Der Oberlungwitzer Strumpffabrik von Louis Hillig machte der Schock des McKinley-Tarifs den Garaus. Hillig hatte seine früh aufgebauten direkten Geschäftsverbindungen nach Amerika genutzt, um Herrensocken in großer Quantität dorthin auszuführen. 1890 hatte er die von ihm gegründete Fabrik gerade an seinen Sohn weitergegeben und sich in Dresden zur Ruhe gesetzt. Die allzu einseitige Ausrichtung auf das Amerikageschäft brachte das Unternehmen nun in eine äußerst prekäre Situation, eine Herausforderung, der sich der unternehmerisch unerfahrene junge Hillig offenbar nicht gewachsen zeigte.374 371 Vgl. Hunger, Strumpfindustrie, S. 96 f.; Irmscher, Strumpfindustrie, S. 181 f.; Glassmann, Wirken, S. 29; Staatsarchiv Chemnitz 31334: Fa. C. & F. Doehner GmbH, Lößnitz, Nr. 65, o. Bl.: Firmenhistorisches Manuskript, 1942. 372 Vgl. Clark, Fabrics, S. 91; Irmscher, Strumpfindustrie, S. 181 f. 373 Vgl. als zeitlich letztes Beispiel: Jahresbericht HK Chemnitz 1868, S. 251. 374 So die Darstellung bei Glassmann, Wirken, S. 29 f.; vgl. Greif, Wirkwarenindustrie, S. 101.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Anderen Wirkwarenunternehmern gelang es, solche plötzlichen Absatzeinbrüche durch Ausweichen auf andere Märkte zu kompensieren. Der Hohensteiner Trikotagenfabrikant August Clauß zog sich nach 1890 großenteils vom Amerikageschäft zurück und lieferte eine Zeit lang vor allem nach Spanien und Portugal. Als die Exporte auf die iberische Halbinsel durch den Aufbau einer zollgeschützten Wirkerei-Industrie im Raum Barcelona zusehends schwieriger wurden, traten andere europäische Länder – zunächst Frankreich und dann die Türkei – in den Vordergrund der Absatzpolitik der Firma Clauß.375 Die strukturellen Rahmenbedingungen der südwestsächsischen Wirkwarenwirtschaft hatten sich, was die Absatzseite betraf, offensichtlich seit dem Vormärz nicht grundlegend verändert. Auch nach dem Übergang zur Fabrikindustrie hing das Wohl und Wehe der Branche in hohem Maße von einem einzelnen überseeischen Exportmarkt ab. Die Unwägbarkeiten, die von den Fluktuationen des Amerikageschäfts ausgingen, wurden durch einige branchenspezifische Faktoren noch verstärkt. Der Detailabsatz von Handschuhen hing stark von der Witterung ab. Wurden Nordamerika und Europa von einem harten Winter oder einem verregneten Sommer heimgesucht, sahen sich die sächsischen Fabrikanten und Exporthäuser mit einer Flut von Nachbestellungen konfrontiert, die naturgemäß möglichst kurzfristig zu erledigen waren. In milden Wintern türmten sich dagegen im Groß- und Einzelhandel die Lagerbestände und die Bestellungen für die nächste Verkaufssaison fielen entsprechend mager aus. Zudem fertigte die sächsische Strumpf- und Handschuhindustrie seit den 1870er Jahren in zunehmenden Maße Artikel, die den unberechenbaren Zyklen der Mode unterworfen waren. Design und Musterung spielten daher für die Absatzchancen der Produkte oft eine bedeutsame Rolle. Nur die größten sächsischen Wirkwarenfirmen beschäftigten einen eigenen Zeichner. Offenbar gab meist der Fabrikant selbst die Anregungen zur Musterung. Hatte die Firma den aktuellen Modegeschmack der Kundschaft getroffen, konnte sie auf ein gutes Saisongeschäft hoffen. Lag sie daneben, waren empfindliche Geschäftseinbußen zu erwarten. Darüber hinaus war auch die Lagerzeit der modischeren Strümpfe und Handschuhe beschränkt. Waren sie aus der Mode gekommen, blieb Herstellern und Händlern nichts anderes übrig, als sie zu Schleuderpreisen auf den Markt zu werfen.376 Hier deutet sich an, dass die Persistenz und Neuentwicklung dezentraler Produktionsstrukturen in der Wirkwarenindustrie des Chemnitzer Reviers wohl nicht zuletzt mit solchen marktbedingten Risiken und Unsicherheiten zusammenhingen. Die Volatilität des Marktes ließ es auch für die kapitalkräftigeren Unternehmer ratsam erscheinen, die Produktionskapazitäten der eigenen Fabrik nicht allzu sehr auszudehnen. Das fix in Maschinen und Anlagen investierte Kapital konnte durch Outsourcing von Produktionsstufen, wie der Näherei oder der Appretur, in überschaubaren Grenzen gehalten werden. Damit reduzierten sich die Risiken, die für das Unternehmen von unerwarteten Nachfrageeinbrüchen ausgingen. Mehr noch, dürfte es aber auch den größeren Strumpf-, Handschuh- und Trikotagenfabriken entgegen gekommen sein, dass sie in Zeiten boomender Nachfrage auf eine „Kon375 Vgl. Glassmann, Nadeln, S. 17 f. 376 Vgl. Greif, Wirkwarenindustrie, S. 96 ff. Siehe auch Tabelle 9 im Anhang.
5.6 Vom Exportgewerbe zur Exportindustrie: Die Strumpfwirkerei
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junkturreserve“ zurückgreifen konnten. Nicht wenige Fabrikunternehmen hatten auch noch am Ende des 19. Jahrhunderts einen kleineren Teil ihrer Produktion in Form traditioneller Verlagsarbeit ausgelagert. Eine ganz ähnliche Funktion wie die eigentlichen Heimarbeiter erfüllten die zahlreichen Kleinfabrikanten für die substanzielleren Fabrikunternehmen. Überstiegen Bestellungen und Absatzmöglichkeiten in Phasen der Hochkonjunktur oder bei kurzfristigem Nachfrageanstieg die Kapazitäten der Fabriken, konnten die kleinen Wirkereien mit der Herstellung des Mehrbedarfs gegen Lohn beauftragt werden. Die große Anzahl der Klein- und Kleinstbetriebe im Chemnitzer Strumpfwirkerrevier erlaubte den größeren Fabrikunternehmen eine flexible und risikoarme Anpassung an die in der Branche endemischen Marktfluktuationen.377 Die Betriebsstrukturen der erzgebirgischen Wirkwarenindustrie hatten allerdings für die Fabrikunternehmer eine weniger erwünschte Kehrseite, die sie mit schöner Regelmäßigkeit beklagten. In einer zeitgenössischen, 1907 veröffentlichten Studie über die Limbacher Wirkwarenindustrie heißt es etwa: „Bei der geringsten Stagnation geraten die kleinen Fabrikanten, da sie nicht genügend Betriebskapital besitzen, um bessere Geschäftszeiten abwarten zu können, in eine üble Zwangslage, die sie zwingt, ihre Produkte unter allen Umständen loszuschlagen. Dadurch entsteht ein plötzlicher Preissturz, welcher sich über die ganze Branche erstreckt … Damit hat aber der kleine Fabrikant noch nicht genug Schaden angerichtet. Die billigen Preise gefallen ihm selbst nicht und er empfindet sehr wohl, daß sie in kurzer Zeit ihn selbst bankrott machen würden. Er sucht daher trotz des billigen Preises noch einen Gewinn zu realisieren, kann dies aber nur auf Kosten der Qualität der Ware tun. Er verarbeitet daher schlechtere Rohstoffe, nicht bedenkend, daß dies wiederum der erste Anstoß zu einer geringeren Beliebtheit der Ware ist und daß eine sich steigernde Unzufriedenheit der Konsumenten sehr bald eine verminderte Nachfrage hervorbringt.“378
Diese Schilderung erinnert doch stark an die Klagen der Verlagsunternehmer des Vormärz über die Krisenstrategien der Textilhandwerker und Heimarbeiter, Verdiensteinbußen aufgrund sinkender Stücklohneinnahmen durch Mehrproduktion zu kompensieren – auf Kosten der Warenqualität. Die Kleinproduzenten der Jahrhundertwende griffen zudem zu einem weiteren Mittel, mit dem auch schon ihre Vorgänger 50 Jahre zuvor Phasen des Auftrags- und Absatzmangels zu überbrücken suchten: Sie produzierten auf eigene Rechnung und versuchten den Vertrieb der von ihnen gefertigten Waren selbst in die Hand zu nehmen. Sie umgingen die übliche Vermittlung der größeren Strumpfwarenfabrikanten, Verlagsunternehmen oder ansässigen Großhändler und traten in direkte Beziehungen zur Exportkundschaft. Ähnliches passierte während Konjunkturbooms, wenn ambitionierte Kleinfabrikanten die Chance zur Expansion ergriffen und in direkte Geschäftsbeziehungen zum Exportgroßhandel oder Einkäufern aus Übersee zu treten versuchten. 1888 beklagte etwa der Berichterstatter der Chemnitzer Handels- und Gewerbekammer in Bezug auf die Handschuhbranche: 377 Vgl. Zachmann, Transformation, S. 144 f.; Irmscher, Strumpfindustrie, S. 121. 378 Greif, Wirkwarenindustrie, S. 99. Vgl. auch Jahresbericht HK Chemnitz 1871/72, S. 317; ebd. 1887, S. 268 f.; ebd. 1888, S. 309.
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5. Industrialisierung und Globalisierung „Es ist von sehr ungünstigem Einflusse auf die Industrie, daß seit einigen Jahren die kleinen Fabrikanten in der Umgegend, die sogenannten Faktore, nicht mehr bloß mit den Chemnitzer Kaufleuten arbeiten, sondern den ausländischen Käufern direkt offeriren und liefern. Daß die Engländer und Amerikaner aber trefflich verstehen, die Preise zu drücken, und daß sie selbst den kleinen Leuten gegenüber oft sehr leichtes Spiel haben, ist durch Thatsachen bekannt.“379
1897 schlossen sich schließlich die größeren Unternehmen der sächsischen Wirkwarenbranche zu einem „Strumpfexport-Schutzverein“ mit Sitz in Chemnitz zusammen, um solchen Praktiken einen Riegel vorzuschieben. Die Maßnahmen dieses Vereins zielten nicht allein auf die Kleinfabrikanten, sondern auch auf die Versuche der verbliebenen Verlagsarbeiter, Geschäfte auf eigene Rechnung abzuschließen.380 Aus der Perspektive der Kleinproduzenten betrachtet, bot gerade die beiderseitige Verdichtung der kommerziellen Verbindungen im Export in die USA und nach Großbritannien Möglichkeiten, sich auch faktisch eine gewisse Selbständigkeit zu erhalten. Je mehr sich in den Zentren des Reviers, in Chemnitz, Limbach und Hohenstein, ein „Platzgeschäft“ entfaltete, ausländische Abnehmer dort zahlreich vertreten waren und sogar selbst aktiv versuchten, bei den kleineren Produzenten direkt einzukaufen, desto eher konnten sie sich der Abhängigkeit von einzelnen „Arbeitgebern“ entziehen. Den „solideren“ Fabrikanten mochten die Strategien der Hausindustriellen und „Faktore“ irrational und geschäftsschädigend erscheinen. Zahlreiche Strumpfwirker betrachteten aber offenbar die Möglichkeiten, mit den Einkäufern aus Amerika und England ins Geschäft zu kommen, ebenso der ihnen oft freizügig gewährte und in Anspruch genommene Kredit beim Garneinkauf und bei der Anschaffung von Maschinen, als Chance sozialen Aufstiegs. Sie hofften, sich peu á peu als Fabrikunternehmer zu etablieren oder sich doch zumindest eine selbständige, halbwegs einträgliche Existenz zu sichern.381 5.7 „PLAUENER SPITZEN“: GLOBALER MARKTERFOLG UND DEZENTRALE PRODUKTION Die Genese der Handmaschinenstickerei im Vogtland Die vogtländische Stickerei hatte sich seit dem frühen 19. Jahrhundert aus der Weißwarenweberei des Plauener Reviers entwickelt. Sie gehörte zunächst einmal zur Endfertigungsstufe der Musselinmanufaktur, in der die Stoffe einem Veredelungsprozess unterzogen wurden. Auf diese Weise hofften die Webwarenunternehmer nach 1800 der erdrückenden britischen und Schweizer Konkurrenz standhalten 379 Jahresbericht HK Chemnitz 1888, S. 303. Die Verwendung des Ausdrucks „Faktore“ reflektiert einen Wandel des Sprachgebrauchs. Offenbar waren unter den Kleinfabrikanten zahlreiche ehemalige Zwischenverleger vertreten. Vgl. Irmscher, Strumpfindustrie, S. 99. 380 Ebd., S. 100; vgl. auch Hunger, Strumpfindustrie, S. 96 f.; Oppenheim, Wirkwarenindustrie, S. 166 f. 381 Eine lebendige Beschreibung des Strumpfwirkermilieus im Chemnitzer Raum um die Jahrhundertwende bietet: Glassmann, Wirken; ders., Nadeln.
5.7 „Plauener Spitzen“: Globaler Markterfolg und dezentrale Produktion
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zu können. Ein unternehmerischer Zugriff auf die Weißwarenstickerei erfolgte aber bald auch aus anderer Richtung: Geschäftsleute kauften Rohgewebe – einerlei, ob im Revier gefertigt oder aus Thüringen, der Schweiz oder Großbritannien importiert – ließen sie besticken und vertrieben sie auf eigene Rechnung. Es prägten sich dabei während des Vormärz Betriebsstrukturen heraus, die denen der erzgebirgischen Strumpfwirkerei nicht unähnlich waren. Die Verlags- und Handelsunternehmen hatten ihren Sitz gewöhnlich im städtischen Zentrum der Region, in Plauen. Die Mehrzahl der Arbeitskräfte wohnte in den Dörfern und Kleinstädten des südlichen Vogtlands. Zwischenverleger – „Faktore“ – übernahmen häufig auf eigene Rechnung die Aufträge der Plauener Geschäftshäuser und gaben sie an die Heimarbeiter weiter. Allerdings hatte sich hier keine Zunftorganisation herausgebildet, denn die überwiegende Mehrheit der verlegten Arbeitskräfte waren Frauen. Das Arbeitsgerät bestand in der Hauptsache aus Nähnadel und Stickrahmen. Ähnlich wie die Spitzenklöpplerinnen im benachbarten oberen Erzgebirge stellten die vogtländischen Stickerinnen und Sticker vornehmlich Waren für den gehobenen Bedarf einer wohlhabenderen Konsumentenschicht her, hauptsächlich „Putzartikel“ für Frauen.382 Die vogtländischen Stickereiwaren standen auf den Märkten vor allem mit ähnlichen Erzeugnissen aus dem Raum St. Gallen in Wettbewerb. Dort waren um 1840 erste Handstickmaschinen in Gebrauch gekommen, die aber zunächst nur vereinzelt eingesetzt wurden. Mitte der 1850er Jahre breitete sich aber die Maschinenstickerei im Ostschweizer Revier rasch aus. Die Diffusion der Handstickmaschine im St. Gallener Revier wurde nicht zuletzt dadurch angetrieben, dass es den Schweizern gelungen war, mit ihren maschinell gefertigten Stickwaren auf dem US-amerikanischen Markt reißenden Absatz zu finden.383 Diese Entwicklung erregte bald die Aufmerksamkeit der vogtländischen Konkurrenz. Aus den Jahren 1857–59 ist in der behördlichen Überlieferung ein umfangreicher Briefwechsel zur Einführung von Schweizer Stickmaschinen in Sachsen erhalten. Aus diesen Akten ist zu ersehen, dass sowohl einzelne Plauener Stickereiunternehmen als auch die Zwickauer Kreisdirektion Techniker und Musterzeichner mit dem Auftrag in die Schweiz schickten, für das Vogtland geeignete Stickmaschinen zu begutachten und ggf. Konstruktionszeichnungen oder ein Exemplar der Maschine selbst zu besorgen. Diese Missionen waren nicht ganz einfach, denn weder die Schweizer Maschinenbauwerkstätten und schon gar nicht die St. Galler Stickereiunternehmen gaben solche Technologie freiwillig an die Emissäre der sächsischen Konkurrenz weiter.384 Die überlieferte Korrespondenz vermittelt insgesamt den Eindruck, dass die Techniker und der Zwickauer Kreishauptmann wesentlich mehr Begeisterung für den Transfer der schweizerischen, französischen oder britischen Stickmaschinentechnologie nach Sachsen an den Tag legten als die Unternehmer selbst. Der Plauener Stickwarenverleger Georg Friedrich Schmidt teilte im Oktober 1857 der 382 Vgl. Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 5 f.; Bein, Industrie, S. 201. 383 Vgl. Tanner, Schiffchen, S. 104 ff. 384 Vgl. Staatsarchiv Chemnitz 30040: KHM Zwickau, Nr. 1746, Bl. 16: Richter an v. Friesen, 25.6.1857.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Zwickauer Behörde mit, die Versuche seines Dessinateurs, auf einer Reise in die Schweiz, Neues zu entdecken, seien erfolglos gewesen. Die in der Schweiz gebräuchlichen Stickmaschinen „für unsere Gegenden einzuführen, würde viel zu spät sein, indem das Ausland seit Jahren mit guten Nutzen & Massen darin hat anfertigen lassen.“385 Zudem eigneten sich die Schweizer Maschinen kaum für die Stickwarenqualitäten, auf die sich die vogtländische Manufaktur spezialisiert hatte. Schon einige Monate zuvor hatte Schmidt dem Kreishauptmann eröffnet, „dergleichen Maschinen“ seien „nur für gleichmäßig fortlaufende Gegenstände, welche in unserer Branche als Plains, Festons & Entredeux bekannt sind, verwendbar …, keineswegs aber für Façon Gegenstände. Für erstere ist mir bekannt, daß dergleichen Maschinen bereits seit mehreren Jahren existiren, jedoch nur für die größten Etablissements verwendbar sind, wo von einem & demselben Dessin Tausende von Stücken mit einem Male zu verwenden sind. Dergleichen Aufträge kommen jedoch in unseren Gegenden höchst selten vor & verlangt unsere Kundschaft möglichst verschiedene Auswahl des Dessins.“386
Ähnlich skeptisch äußerte sich der Unternehmer Bernhard Haenel-Clauß: Er selbst habe seit längerem mit dem Gedanken gespielt, solche Maschinen für sein Geschäft anzuschaffen. Doch würden deren Leistungen der guten Handarbeit nicht gleichkommen. Er fürchte daher, dass die Einführung von Stickmaschinen nach Schweizer Art den guten Ruf, den sich die vogtländischen Erzeugnisse auf den Märkten erworben hatten,„durch das unstreitig mangelhafte Ansehen der Maschinenwaren“ schädigen könnte. Zudem würde eine Maschinisierung der Stickwarenproduktion im Vogtland vielen der Arbeitskräfte, die mit der Herstellung von „weniger feinen und geringeren Stickereien“ beschäftigt sei, ihre Existenzgrundlage entziehen. Ein „einziges Etablissement“ würde nämlich durch Aufstellung einer entsprechenden Anzahl von Stickmaschinen im Stande sein, so viele Stickwaren zu liefern, „als die Gegenden von Eibenstock, Carlsfeld, Schönheide, Lengefeld, Treuen, Auerbach und das ganze südliche Voigtland gegenwärtig produziren.“387 Im März 1859 kam noch einmal Bewegung in die Angelegenheit, als der Chemnitzer Maschinenfabrikant Richard Hartmann berichtete, ihm sei von einer Maschinenwerkstätte in St. Gallen die Verwertung eines Patents auf eine neu erfundene Stickmaschine angeboten worden, mit der es möglich sei, auch feinere Stickereien mit komplizierten Mustern zu fertigen.388 Der Stickereiexperte C. A. Richter, den Hartmann zu Rate zog, zeigte sich sehr angetan von den Verwertungsmöglichkeiten dieser Maschine: Ihr Einsatz würde Maschinenwaren mindestens um ein Viertel oder ein Drittel billiger machen als handgestickte Waren gleicher Qualität. „Dieser Gewinn ist zu verlockend, als daß er den Ankauf dieser Maschinen nicht begünstigen sollte.“ Sobald das überseeische Geschäft, „für welches derartige Maschinen
385 386 387 388
Ebd. Bl. 29: Schmidt an v. Friesen, 20.10.1857. Ebd. Bl. 19: Schmidt an v. Friesen, 10.7.1857. Ebd. Bl. 12: Haenel-Clauß an v. Friesen, 9.6.1857. Ebd. Bl. 33: Hartmann an Richter, 17.3.1859 (Abschrift).
5.7 „Plauener Spitzen“: Globaler Markterfolg und dezentrale Produktion
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sich vorzüglich eignen“, wieder auflebe, sei daher mit einer raschen Verbreitung der Maschinenstickerei im Vogtland zu rechnen.389 Diese Prognose erwies sich als durchaus zutreffend. Allerdings vollzogen die Plauener Unternehmer den Übergang zur Fabrikstickerei nicht mit der eben beschriebenen famosen neuen Stickmaschine, sondern mit wesentlich unscheinbareren Modellen. In seinem Schreiben an Hartmann vom März 1859 erwähnt Richter nebenbei und etwas abfällig, die Plauener Firma Schnorr & Steinführer habe Stickmaschinen älterer Bauart aus St. Gallen beschafft, die sich nun in voller Tätigkeit befänden.390 Richter verweist hier auf einen Vorgang, der zum erzählerischen Kern des Gründungsmythos der vogtländischen Maschinenstickerei gehört. Im Herbst 1857 nämlich war der Mechaniker Moritz Albert Voigt im Auftrag des Unternehmers Schnorr in die Schweiz gereist und hatte auf verschlungenen Wegen zwei Handstickmaschinen samt einem Schweizer Maschinensticker nach Plauen gebracht. Seit Jahresbeginn 1858 waren diese Maschinen in Betrieb. Allerdings schlug Voigt das Angebot Schnorrs aus, für ihn eine eigene Maschinenbauwerkstatt aufzubauen (um so der vogtländischen Konkurrenz diesen Technologietransfer fürs erste vorzuenthalten). Statt dessen eröffnete Voigt 1860 in Kändler nahe Limbach eine eigene Werkstatt und sorgte so für die schnelle Verbreitung seiner nachgebauten Stickmaschinen in Südwestsachen. Schon zum Jahresende 1861 führte die amtliche Statistik sieben sächsische Betriebe auf, die zusammengenommen 52 Stickmaschinen einsetzten. Bis 1868 erhöhte sich die Zahl der Stickereifabriken in Sachsen auf 47, die Gesamtzahl der Stickmaschinen auf 344. Im Jahr zuvor hatte Moritz Albert Voigt seine Werkstatt aufgegeben und seine Produktion in ein größeres Fabrikgebäude in Kappel bei Chemnitz verlagert.391 Wenn also am Beginn der vogtländischen Maschinenstickerei die Übernahme der erprobten Schweizer Maschinenmodelle stand, so kann man davon ausgehen, dass das Kalkül der Plauener Stickereigeschäfte nicht allein von der Sorge um die künftige Wettbewerbsfähigkeit in ihrem angestammten Marktsegment bestimmt war. Zu diesem Push-Faktor kam sicherlich auch ein Pull-Faktor: die Aussicht, den Schweizern ihre ergiebigen Massenwarenmärkte, vor allem den nordamerikanischen, streitig zu machen. Der US-Bürgerkrieg versetzte dieser Markteroberungsstrategie der Plauener Stickwarenunternehmer in der ersten Hälfte der 1860er Jahre zwar einen gewissen Dämpfer. Doch bald nach dem Ende des Kriegs wurden große Quantitäten sächsischer Weißwaren in die USA exportiert. Es setzte ein Boom ein, der bis in die frühen 1870er Jahre anhielt.392
389 Ebd. Bl. 36: Richter an Hartmann, 28.3.1859 (Abschrift). 390 Ebd. Bl. 37. 391 Vgl. Naumann, Voigt, S. 127 f.; Staatsarchiv Chemnitz 31004: Maschinenfabrik Kappel, Chemnitz: Nr. 160, o. Bl.: Mskr. „Werksgeschichtliche Entwicklung“; Jahresbericht HK Chemnitz 1863, S. 71 f.; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 12 f. Zahlen nach ebd., S. 10; ZSBI 9, 1863, S. 41. 392 Vgl. Jahresbericht HK Plauen
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5. Industrialisierung und Globalisierung
Vom Fabrik- zum Verlagssystem Zunächst kamen die Stickmaschinen, die im Vogtland in Gebrauch waren, allesamt ohne Wasser- oder Dampfkraft aus. Sie wurden mittels einer Handkurbel angetrieben. Nichts desto weniger erhöhten diese mechanischen Apparaturen die Arbeitsproduktivität beträchtlich. Das auf eine Schablone übertragene Muster wurde mittels eines sog. Pantographen auf die Stickerei übertragen, so dass mehrere hundert Nadeln gleichzeitig in Betrieb waren. Diese Maschinen waren zunächst so kostspielig und sperrig, dass sie vorwiegend in Fabriksälen aufgestellt wurden. 1868 kamen auf einen Betrieb im Durchschnitt etwa sieben Stickmaschinen. Am Ende des Jahres 1872 hatte sich zwar die Zahl der in Sachsen vorhandenen Stickmaschinen fast verfünffacht. Doch waren aus den 47 Betrieben von 1868 nun mehr als 500 geworden. Die Zahl der Stickmaschinen pro Betrieb hatte sich demnach innerhalb von nur vier Jahren auf weniger als die Hälfte vermindert. Statt der 7,3 Maschinen pro Produktionseinheit wurden nur noch 3,2 gezählt. In den meisten vogtländischen Stickereibetrieben waren am Beginn der 1870er Jahre nur eine oder zwei Handstickmaschinen vorhanden.393 Bemerkenswerterweise entstand in der vogtländischen Stickerei, die bis zur Jahrhundertmitte ganz überwiegend ein Frauenberuf gewesen war, erst im Laufe der 1860er Jahre ein Stamm männlicher Arbeitskräfte, die zunächst in den Fabriken angelernt worden waren. Der Boom der Stickerei im Plauener Revier ermutigte offenbar viele dieser Fabrikarbeiter, sich mit dem Ankauf einer eigenen Maschine selbständig zu machen. Sie brachten wohl eine ähnliche Wirtschaftsmentalität wie die Limbacher, Chemnitzer und erzgebirgischen Strumpfwirker mit. Sobald die Möglichkeit bestand, sich der ungeliebten Fabrikarbeit zu entziehen, kehrten sie in die eigene kleine Werkstatt oder Heimarbeiterstube zurück. Dieser Schritt wurde ihnen nicht zuletzt durch die rasche Entwicklung des westsächsischen Stickmaschinenbaus erleichtert. Nachdem Moritz Albert Voigt seinen Werkstattbetrieb zum Fabrikunternehmen ausgebaut hatte und auch andere Maschinenbauer zur Fertigung von Stickmaschinen übergegangen waren, hatten sich die Maschinen verbilligt und bald konnte man sie auch gebraucht kaufen. Zudem stellten sich nicht wenige der Stickmaschinenfirmen auf den Bedarf der Kleinproduzenten um und boten ihnen preiswerte und leichte Modelle zu günstigen Zahlungsbedingungen an.394 Der Boom in der Stickerei lockte auch zahlreiche branchenfremde Handwerker ohne fachliche Qualifikation an und bewegte sie zur Anschaffung von Maschinen. Allerdings gaben viele von ihnen offenbar bald wieder auf, weil es ihnen nicht gelang, Waren von angemessener Qualität zu fertigen. Mitte 1872 stockte der Absatz von Stickmaschinen, nachdem die zahlreichen Geschäftsaufgaben das Angebot an billigen gebrauchten Maschinen stark vermehrt hatten.395 Solche Fehlschläge bremsten den Trend zur Dezentralisierung in der Maschinenstickerei höchstens vorübergehend. Es bildete sich in der vogtländischen Stickereiindustrie eine ähnliche 393 Vgl. Zachmann, Ausformung 31; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 6–10. 394 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 9 f. 395 Vgl. Jahresbericht HK Chemnitz 1871/72, S. 279.
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Trias von Fabrikunternehmen, kleinen auf Lohn arbeitenden Betrieben und Verlagsproduzenten heraus wie in der Strumpfwirkerei. Die „protoindustriellen“ Elemente des Produktionsregimes erscheinen hier sogar noch ausgeprägter als im Chemnitzer Wirkwarenrevier. Am Ende des 19. Jahrhunderts produzierte zwar eine Reihe größerer Stickereifirmen ganz oder überwiegend in der eigenen Fabrik. Doch besaß der größere Teil der als „Fabrikanten“ firmierenden vogtländischen Stickereiunternehmer überhaupt keine eigenen Maschinen, sondern ließ ausschließlich auf Lohnmaschinen produzieren. Sie fungierten damit faktisch als Verleger. Die Geschäfte dieser „Fabrikanten“ ohne Fabrik waren oft kaum kapitalkräftiger als die der Maschinensticker. Es genügte zur Eröffnung eines solchen Fabrikverlags die Anmietung eines Kontors und eines Lagerraums und etwas Betriebskapital für die Musterung und die Entlohnung der Heimarbeiterinnen, während die Lohnstickereien, Zeichner und Rohstofflieferanten ohne Weiteres kreditierten. Andere Stickerei-„Fabrikanten“ unterhielten zwar einen eigenen Produktionsbetrieb, hatten aber dort nur einige wenige Maschinen aufgestellt, auf denen Muster gefertigt oder Artikel hergestellt wurden, die man geheim halten wollte. Auch hier übernahmen die Lohnstickereien die Masse der für Rechnung des Unternehmens erzeugten Waren.396 Unter den Lohnstickereien gab es wohl auch Fabrikbetriebe im engeren Sinne, in denen zehn, 20 oder 30 Arbeitskräfte an den dort aufgestellten Maschinen arbeitete. Die große Masse machten aber die Kleinstbetriebe mit bis zu fünf Beschäftigten und einer oder einigen wenigen Stickmaschinen aus. Die Lohnsticker gingen mit ihren Auftraggebern einen Werkvertrag ein. Sie erhielten den zu bestickenden Grundstoff und die Musterschablonen vom Verleger-Fabrikanten, während sie das Stickgarn meist selbst kauften. Neben diesen selbständigen auf Lohn arbeitenden Betrieben entwickelten sich aber noch weitere Formen der dezentralen Produktion in der vogtländischen Maschinenstickerei heraus. Ein Teil der Lohnsticker mietete einen Arbeitsplatz in einem Sammelbetrieb, um die eigene Stickmaschine dort aufzustellen. Andere Sticker besaßen keine eigenen Maschinen, sondern hatten sie gepachtet. Die Anschaffung und Verpachtung von Stickmaschinen war offenbar im vogtländischen Revier eine beliebte Geldanlage für kleine Rentiers, Beamte, Handwerksmeister und ähnliche „mittelständische“ Existenzen. Schließlich gab es auch reine Verlagsarbeiter, die einen Dienstmietvertrag abschlossen und an Stickmaschinen arbeiteten, die ihnen ein Verleger oder Faktor überließ. Aus den Reihen der Verlagsarbeiter rekrutierte sich wiederum ein größerer Teil der selbständigen Lohnsticker. Oft leisteten die Verleger-Fabrikanten Starthilfe, indem sie ihnen das Geld für die Anschaffung einer eigenen Maschine liehen. Bis zur Abbezahlung hatte der Sticker allerdings für seinen Geldgeber zu arbeiten. Die Ausbreitung der männlichen Heimarbeit in der vogtländischen Maschinenstickerei des ausgehenden 19. Jahrhundert schlug sich in einem, im Vergleich zu anderen Textilbranchen markant gegenläufigen Trend nieder: Zwischen 1882 und 1907 wuchs die Zahl der hausindustriellen Betriebe trotz des Schrumpfens der erzgebirgischen Spitzenklöppelei in der Stickerei- und Spitzenbranche von knapp 4.500 auf über 10.000. Die Zahl der 396 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 96; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 45–48.
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Beschäftigten verdreifachte sich fast und der Anteil der Frauen sank von über 70 auf unter 60 Prozent.397 Nicht allein der Kern des Produktionsprozess, die Stickerei mit Maschinen, war zu einem großen Teil in kleinen Betriebseinheiten dezentral organisiert. Auch bei den Endfertigungsarbeiten war Outsourcing weit üblicher als der Eigenbetrieb. Bestimmte Herrichtungsarbeiten, das Zäckeln, zum Teil auch das Ausbessern, das Plätten und Konfektionieren der gestickten Ware, übernahmen Heimarbeiterinnen. Da diese weiblichen Arbeitskräfte ganz überwiegend in der ländlichen Peripherie des südlichen Vogtlands wohnten, spielten auch hier die Faktore als Zwischenverleger eine bedeutsame Rolle. Mit dem Bleichen, Färben und der Appretur wurden in der Regel selbständige Spezialbetriebe betraut.398 Selbst die Musterzeichnerei verselbständigte sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Nur die größeren Unternehmen, die im „Nouveauté“-Geschäft engagiert waren, beschäftigten angestellte Zeichner. Hier war es wichtig, dass die neuen Modemuster bis zur Markteinführung geheim gehalten wurden. Die anderen „Fabrikanten“ nahmen in der Regel die Dienste der zahlreichen Dessinateurbüros in Anspruch, die seit den frühen 1870er Jahren vornehmlich in Plauen entstanden waren. Diese Musterzeichnereien fertigten auf eigene Rechnung Stickdessins an und boten sie den Fabrikanten-Verlegern zum Kauf an. Sie übernahmen gewöhnlich auch den mechanischen Teil der Musterung, die Vergrößerung der Skizze und ihre Übertragung auf eine Schablone, die dem Maschinensticker übergeben werden konnte.399 St. Gallen versus Plauen Seit Albert Voigts klammheimlichem Technologietransfer über den Bodensee trat die sächsische Maschinenstickerei in intensive interregionale Wettbewerbs- und Austauschbeziehungen zur Ostschweizer Stickwarenindustrie. Im Laufe der 1860er Jahre drangen die vogtländischen Hersteller in die zuvor von den Schweizern versorgten Marktsegmente ein. Die Hochkonjunktur der Reichsgründungszeit bot den Stickereiunternehmen beider Regionen auf den Märkten zunächst genügend Platz. Nach 1872 begannen sich jedoch die Geschäftsaussichten in der Branche rasch einzutrüben. Der Gründungsboom der kleinen Lohnstickereien in Sachsen schuf bald beträchtliche Überkapazitäten. Die Zahl der Stickmaschinen im Plauener Revier hatte sich innerhalb von nur vier Jahren von 344 auf 1621 erhöht, demnach beinahe verfünffacht. Die Rückwirkungen dieses rapiden Wachstums ließen nicht lange auf sich warten. Die Märkte wurden geradezu überschwemmt mit Stickwaren, die noch 397 Vgl. Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 10 f., 83 f.; Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 37 f., Wagner, Textilindustrie, S. 48 f.; ähnlich für die Schweiz: Tanner, Schiffchen, S. 108 f. Siehe Tabelle 6 im Anhang. 398 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 40 ff.; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 8 ff.; Zachmann, Ausformung, S. 29 ff. 399 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 36 f., 82 f.; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 13; Jeenel, Produktionsbedingungen, S. 2.
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dazu von oft recht zweifelhafter Qualität waren und schon nach der ersten Wäsche nicht mehr sonderlich ansehnlich wirkten. Der Wirtschaftsabschwung im Gefolge der Gründerkrise tat ein Übriges, um zunächst die sächsische und dann auch die schweizerische Stickereiindustrie in die Krise zu stürzen.400 Die Stockungskrise der Maschinenstickerei hielt, von kurzen Erholungsphasen unterbrochen, bis in die späten 1870er Jahre an. Im Vogtland verschärften die typischen Mechanismen des dezentralen Produktionssystems den Krisenverlauf noch. Die Stickerei-Kleinfabrikanten reagierten nämlich in ganz ähnlicher Weise wie die Verlagshandwerker in anderen Textilbranchen: Sie versuchten, ihre Einnahmeverluste infolge sinkender Stücklöhne durch vermehrte Produktion zu kompensieren. Nicht wenige der Lohnsticker begannen, auf eigene Rechnung zu arbeiten und ihre Erzeugnisse selbst zu vermarkten. Damit drehten sie an der Abwärtsspirale von Überproduktion, Preisverfall und Verschlechterung der Warenqualität. Viele mussten schließlich dann doch ihr Geschäft aufgeben. Ein anderer Teil der vogtländischen Maschinensticker suchte einen Ausweg aus der Misere, indem sie um Lohn für Auftraggeber aus der Schweiz, z. T. sogar für amerikanische Firmen arbeiteten.401 Dies war auch ein deutliches Zeichen dafür, dass die vogtländischen Stickereiunternehmen ihrer Konkurrenz aus St. Gallen unter den Bedingungen schrumpfender Märkte noch nicht gewachsen waren. Als die Schweizer Stickwarenproduzenten Mitte der 1870er Jahre in Nordamerika empfindliche Absatzeinbußen hinnehmen mussten, begannen sie sich in verstärktem Maße dem deutschen Markt zuzuwenden, der infolge der Zollsenkungen des vorangegangenen Jahrzehnts nun relativ einfach zugänglich war. Sie waren damit so erfolgreich, dass selbst größere Fabrik- und Verlagsunternehmen des Plauener Reviers dazu übergingen, für die Schweizer zu arbeiten. Die vogtländische Maschinenstickerei entwickelte sich auf diese Weise zur abhängigen Zuliefer- und Veredelungsbranche für Unternehmen aus der Region St. Gallen. Es prägte sich eine Arbeitsteilung in der Form heraus, dass die südwestsächsischen Maschinenstickereien Billigware auf Rechnung der ehemaligen Schweizer Konkurrenz fertigte. Selbst als sich die nordamerikanische Nachfrage um 1880 neu belebte wurde und die Plauener Fabrikverleger daran denken konnten, wieder Geschäfte auf eigene Rechnung zu machen, lief der Stickwarenexport vornehmlich über die Schweizer Filialen US-amerikanischer Handelshäuser.402 Wenn sich die vogtländische Stickerei im Verlauf der 1880er Jahre aus ihrer Position als Lohngewerbe für ausländische Auftraggeber befreien konnte, so lag dies nicht zuletzt an einer immens erfolgreichen Produktinnovation eines Plauener Unternehmens. Von Stickwaren sprach man gemeinhin, wenn ein fester Grundstoff mit Stickereien ausgeschmückt wurde. Dies war ein wesentliches Definitionsmerkmal, das bestickte Stoffe von den Spitzen unterschied, die auf durchbrochenen Grund aufgetragen wurden. 1881 fertigte die Firma F. A. Mammen & Co. erstmals Stickwaren, die ohne weitere Unterlage auf Tüll, also maschinell hergestelltem 400 Vgl. Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 15 f. 401 Vgl. ebd., S. 16 f.; Loeben, Absatz, S. 112 ff. 402 Vgl. Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 18.
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Spitzengrund, mit Stickmaschinen appliziert worden waren. Diese Technik war von Theodor Bickel, einem Teilhaber der Firma Mammen, entwickelt worden. Die „Tüllspitze“ erwies sich schnell als durchschlagender Verkaufserfolg. Weitere Produktinnovationen folgten in der zweiten Hälfte der 1880er Jahren, etwa die sog. Luft- oder Ätzspitze, bei der der Grundstoff auf chemischem Weg nach dem Besticken weg geätzt wurde. Die neuen Herstellungstechniken verbreiteten sich rasch im Plauener Revier, wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil sie wegen der dezentralen Betriebsstrukturen nicht von einem einzelnen Betrieb monopolisiert werden konnten. Die „Plauener Spitzen“ brachten die amerikanischen, englischen und französischen Einkäufer zurück nach Plauen und die vogtländischen Stickereifirmen zurück auf die Weltmärkte.403 Von der Handstickmaschine zum Stickautomaten Als Theodor Bickel in den frühen 1880er Jahren die erste Tüllspitze präsentierte, unterschied sich die Stickmaschinentechnologie bei allen Verbesserungen im Detail noch nicht grundlegend vom Stand der Zeit um 1860. Noch immer wurde keine der in den vogtländischen Fabriken und Lohnstickerwerkstätten eingesetzten Stickmaschinen durch mechanische Kraftquellen, seien es Wasserräder, Turbinen oder Dampfmaschinen, angetrieben. Erst als 1883 die sog. Schiffchenstickmaschine patentiert wurde, öffnete sich auch in der Stickereibranche der Weg zur maschinellen Produktion im engeren Sinne. Die Funktionsweise dieser neuen „Dampfstickmaschine“ beruhte nicht mehr auf einer Nachahmung des Handstickens, sondern arbeitete nach dem Prinzip von Nähmaschinen. Etwa ein Jahrzehnt lang vollzog sich die Diffusion der Schiffchenstickmaschinen im Plauener Revier eher gemächlich. Um 1888 wurden hier 437 dieser kraftgetriebenen Maschinen gezählt, bei etwa zehnmal so viel Handstickmaschinen. Nachdem die Maschinenfabrik Kappel, das von Albert Moritz Voigt gegründete, mittlerweile zur Aktiengesellschaft umgewandelte Unternehmen, nach 1890 verbesserte Versionen der Schiffchenstickmaschine auf den Markt brachte, deren Einsatz eine deutlich höhere Produktivität versprach, nahm die Zahl der kraftgetriebenen Stickmaschinen rasch zu. 1902 gab es im Vogtland (einschließlich einiger Ortschaften jenseits der Grenzen des Bezirks) 4.423 Schiffchenstickmaschinen, während sich die Zahl der Handstickmaschinen auf 3.279 verringert hatte.404 Die Schiffchenstickmaschine war vornehmlich für den Fabrikbetrieb geeignet. Sie war größer, schwerer und teurer als die gängigen Handstickmaschinenmodelle. Vor allem benötigte sie eine externe Kraftquelle, üblicherweise eine Dampfmaschine. Ihr Einsatz in den Kleinstbetrieben der Lohnsticker war daher zunächst einmal schwer vorstellbar. Mit der Ausbreitung der Dampfstickmaschinen in den 403 Vgl. ebd., S. 18 f., 24; Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 16; Jeenel, Produktionsbedingungen, S. 6; Mammen, Mammen, S. 189 f.; Loeben, Absatz, S. 43. 404 Zahlen nach Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 129; vgl. ebd., S. 20–25; Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 54–75; Jeenel, Produktionsbedingungen, S. 6–10.
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1890er Jahren erhöhte sich denn auch der Anteil der größeren Fabrikbetriebe im vogtländischen Stickereirevier. Es spielte sich nun eine typische Arbeitsteilung zwischen Kraft- und Handbetrieb ein: Die Massenware in einfachen und mittleren Qualitäten wurde im allgemeinen auf Schiffchenstickmaschinen gefertigt. Die Handmaschinensticker übernahmen die Herstellung der komplexeren und hochwertigeren Stickwaren. Insgesamt änderte sich aber an der kleinbetrieblichen und dezentralen Struktur der südwestsächsischen Stickereiindustrie bemerkenswert wenig. Eine ausführliche statistische Erhebung der Branche 1902 brachte zum Vorschein, dass die durchschnittliche Zahl der Stickmaschinen pro Betrieb sich im Vergleich zu den frühen 1870er Jahren noch einmal vermindert hatte. Auf einen Stickereibetrieb kamen nun – statt 3,2 – nur noch 2,4 Maschinen. Selbst in den motorisierten Betrieben liefen im Durchschnitt nur 3,4 Stickmaschinen. Diese extrem niedrigen Zahlen hingen damit zusammen, dass die Schiffchenstickmaschine mittlerweile auch von den auf Lohn arbeitenden, meist in Verlagsstrukturen eingebundenen Betrieben verwendet wurde. Fast 1.200 vogtländische Lohnstickereien (von insgesamt rund 3.000) arbeiteten 1902 mit zusammengenommen etwa 3.200 kraftgetriebenen Stickmaschinen. Auf der anderen Seite hatten im Plauener Revier nur neun der insgesamt 87 Fabrikunternehmen (der auf eigene Rechnung produzierenden Firmen) mehr als 30 Maschinen aufgestellt.405 Die Ausbreitung der Schiffchenstickmaschinen in den verlagsabhängigen Klein- und Kleinstbetrieben hing wohl vor allem mit einem Wechsel der Antriebsaggregate zusammen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert ergaben sich erstmals praktikable Alternativen zu den raumgreifenden Dampfmaschinen-, Wasserrad- und Turbinenanlagen, deren Anschaffung sich erst ab einer gewissen Betriebsgröße rentierte. Um 1890 verbreiteten sich zunächst Gasmotoren. Ein Jahrzehnt später war die Elektrifizierung so weit voran gekommen, dass es für Kleingewerbetreibende zunehmend möglich wurde, kleine und erschwingliche Elektromotoren für ihre Werkstätten anzuschaffen. Um 1905 scheint es in der vogtländischen Lohnstickerei zu einem weiteren Maschinisierungsschub gekommen zu sein. Die sächsische Gewerbestatistik wies nämlich 1906 den rätselhaften Befund aus, dass sich die Zahl der Fabriken im Land binnen zweier Jahre um sage und schreibe 18 Prozent erhöht hatte. Die Erklärung für diesen gewaltigen Sprung lag darin, dass vor allem in der Stickerei, ermutigt durch staatliche Zuschüsse, Elektromotoren angeschafft worden waren, so das alle diese Werkstätten nun als „Fabriken“ gezählt wurden. 1911 standen im Vogtland fast ein Viertel aller Schiffchenstickmaschinen in Kleinstbetrieben, die nur eine einzige Maschine besaßen.406 Auf der anderen Seite kamen im Jahrzehnt vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs vermehrt Maschinen zum Einsatz, die nun wirklich jede Adaption für den Kleinbetrieb ausschlossen. Die neue Stickmaschinengeneration arbeitete automatisch. Es war nun kein qualifizierter Sticker mehr nötig, der am Pantographen das von der 405 Zahlen nach: Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 129–134: Vgl. ebd., S. 27; Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 21 f.; Tanner, Schiffchen, S. 112 f. 406 Vgl. Pfütze-Grottewitz, Industriebetriebe 233; Zachmann, Kraft, S. 526 f.; dies., Ausformung, S. 37 f.
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Schablone vorgegebene Muster auf die Maschine übertrug. Die vogtländische Stickerei konnte sich bei der Einführung dieser Innovation sogar einen Vorsprung vor der Schweizer Konkurrenz verschaffen. Das Stickereiunternehmen „Feldmühle“ in Rorschach am schweizerischen Bodenseeufer hatte 1898 die Patente der ersten brauchbaren automatischen Stickmaschine erworben. Die Rorschacher Stickerei überließ nun die Patentrechte der Plauener Maschinenfabrik Dietrich, mit der Auflage, keine dieser Maschinen an andere Schweizer Unternehmen zu liefern. Sie selbst verpflichtete sich, eine größere Anzahl der in Plauen gefertigten Stickautomaten anzukaufen. Die Firma Feldmühle hoffte offenbar, sich mit diesem Arrangement in der eigenen Region einen massiven Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Erst seit 1909, als das Feldmühle-Patent aufgehoben wurde, konnte sich die Automatenstickerei auch in der Schweiz ungehindert entwickeln.407 Die automatische Stickmaschine und verbesserte Schiffchenstick- und Pantographenmaschinen, die in Größen von neun und 13,5 Meter Länge angeboten wurden, verbreiterten nach der Jahrhundertwende die Produktivitätskluft der Fabrikstickereien zu den kleinen Lohnbetrieben wieder. Diese Maschinen produzierten wesentlich schneller und gleichmäßiger als die in der Lohnstickerei gebräuchlichen Schiffchenstickmaschinen mit standardmäßiger Länge von 4,44 m. Sie sprengten vollends das Raumgefüge eines Lohnstickereischuppens wie auch den verfügbaren Kapitalrahmen der Kleinstfabrikanten. Um die 8000 Mark waren zur Anschaffung einer großen Schiffchenmaschine notwendig; die automatischen Stickmaschinen kosteten rund 12.000 Mark. Produktivitätsgewinne ließen sich zudem durch den Einsatz von Kartenschlagmaschinen erzielen. Solche Maschinen waren für etwa 9000 Mark zu haben, lohnten aber nur, wenn in der Fabrik gleichzeitig mindestens zehn automatische Stickmaschinen vorhanden waren. Das Gewicht der größeren Fabrikunternehmen dürfte daher in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in der sächsischen Stickereiindustrie zugenommen haben. Zwischen 1902 und 1911 erhöhte sich die Zahl der auf eigene Rechnung produzierenden Fabrikunternehmen von 171 auf 308.408 Doch eine grundlegende Änderung des hergebrachten Produktionsregimes war damit offenbar nicht verbunden, nahm doch die Zahl der Lohnstickereien im gleichen Zeitraum von 2.985 auf 6.653 noch wesentlich stärker zu. Es scheint sich vielmehr die altbekannte Arbeitsteilung im Revier neu eingepegelt zu haben: In den Fabriken wurde vornehmlich billige Massenwaren produziert. Dort wo die handwerkliche Qualifikation der Sticker ins Gewicht fiel, bei den hochwertigeren bestickten Stoffen und den Spitzen, waren die kleineren Schiffchenstickmaschinen und die immer noch verbreiteten Handstickmaschinen ebenso oder besser geeignet. Dieser Bereich blieb die Domäne der Kleinbetriebe.409
407 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 77 f.; Tanner, Baumwollindustrie, S. 186 f. 408 Die oben angegebene Zahl von 87 Fabrikunternehmen bezieht sich auf diejenigen Fabriken, die mit Schiffchenstickmaschinen arbeiteten. Daneben gab es 1902 noch 84 solcher Betriebe, die Handstickmaschinen einsetzten. 409 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 39 f., 74–78; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 26; Jeenel, Produktionsbedingungen, S. 10; Hopf, Strukturwandlungen, S. 37.
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Produktionsregime und Marktkonstellationen Die bemerkenswerte Persistenz dezentraler Produktionsstrukturen in der Stickereiindustrie des Vogtlandes lässt sich zunächst einmal an den beruflich-gewerblichen Strategien der Wirtschaftsakteure selbst, sprich: der Lohnsticker, festmachen. Der allmähliche Niedergang der vogtländischen Weberei im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts setzte ein beträchtliches Arbeitskräftereservoir frei. Für viele dieser ehemaligen Weber, Faktore, Verleger und Kleinfabrikanten besaß die Möglichkeit, sich als Lohnsticker eine neue, halbwegs selbständige Existenz zu schaffen, wohl einige Attraktivität. Ein Teil von ihnen war im früheren Beruf einer zumindest formal selbständigen Tätigkeit nachgegangen, und auch die erste Generation der Fabrikweber entstammte noch einem Milieu, das solche Selbständigkeit hoch schätzte. Es war bei ihnen die Bereitschaft vorhanden, erspartes und geliehenes Geld in Maschinen und ggf. in Gebäude zu investieren. Die Zahlungsbedingungen der Maschinenhersteller, die sich auf den Bedarf der kleinen Lohnstickereien eingestellt hatten, waren wiederum darauf ausgerichtet, diesen Kundenstamm zu erhalten und zu vergrößern. Die Chemnitzer und Plauener Stickmaschinenhersteller gewährten den Lohnstickern lange Zahlungsfristen und die Möglichkeit, ihre Schulden in kleinen Raten abzustottern. Da die kraftgetriebene Maschinisierung in größerem Maße erst zu einem Zeitpunkt einsetzte, an dem schon werkstatttaugliche Kleinmotoren in Serie gebaut wurden, blieben die Produktivitätsvorsprünge des Fabrikbetriebs in einem Bereich, der von den Kleinproduzenten kompensiert werden konnte.410 Die kleinen Lohnstickereibesitzer konnten gewöhnlich ein Jahreseinkommen erwarten, das nicht sonderlich über dem eines vollbeschäftigten Fabrikarbeiters lag. Die Konkurrenz unter ihnen war hart und drückte die Gewinne. Nur eine kleine Minderheit trat dem Interessenverband bei, der sie gegenüber den Fabrikanten-Verlegern vertreten sollte. So kamen vor 1914 weder Mindestlöhne noch eine Beschränkung der Arbeitszeit oder ein Tarifvertrag mit den Verlegern zustande, alles Vergünstigungen, die die Gewerkschaft der Fabriksticker längst durchgesetzt hatte. Zudem waren es die Lohnsticker, die als erste die häufigen Stockungs- und Überproduktionskrisen der Branche zu spüren bekamen. Ohne Aufträge brachen ihre Einkommen schlagartig weg. Ihre Kapitaldecke war dünn, sie waren oft verschuldet und konnten einer Absatzkrise nicht lange standhalten. Jeder größere Geschäftseinbruch in der Stickereiindustrie zwang zahlreiche der kleinen Lohnbetriebe zur Aufgabe. Bei jeden Aufschwung der Branche schossen dann wieder neue Lohnstickereien wie Pilze aus dem Boden und übernahmen nicht selten die Werkstätten samt Maschineninventar aus der Konkursmasse ihrer unglücklichen Vorgänger. In diesen Sinne hatten die Verleger und die Fabrikbesitzer, die nebenbei auf Lohn arbeiten ließen, einen größeren Teil des unternehmerischen Risikos auf die Lohnsticker abgewälzt. In Zeiten schwunghafter Nachfrage konnten sie auf beträchtliche Produktionskapazitäten zurückgreifen, die in konjunkturellen Abschwungphasen ohne eigenen Schaden stillgelegt wurden. Zudem boten ihnen die zahlreichen Kleinstbetriebe, in denen nur der Besitzer und seine Familie Hand anlegten, ein 410 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 127 f.; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 93 f.
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Arbeitskräftereservoir, das kaum den Beschränkungen der Fabrikgesetzgebung unterworfen war und für das keine Sozialabgaben anfielen.411 Allerdings hatte dieses Arrangement für die Verleger und Fabrikunternehmer auch seine Schattenseiten. Die Nachteile entsprangen vor allem den bekannten Effekten eines dezentralen Produktionsregimes. In Zeiten des Auftragsmangels gingen auch die vogtländischen Lohnsticker zur Fabrikation auf eigene Rechnung über. Die kommerziell-gewerbliche Infrastruktur, die sich im Plauener Stickereirevier im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entfaltet hatte, machte es ihnen leicht, sich Musterschablonen und Stickböden zu besorgen, die gefertigten Waren „auszurüsten“ und sie zu verkaufen. Die Klagen der Plauener Verleger und Fabrikunternehmer über solche Praktiken unterschieden sich kaum von denen der Chemnitzer Wirkwarenfabrikanten. Ohne die basalsten kaufmännischen Kenntnisse und Erfahrungen seien die Lohnsticker zu einer rationalen betriebswirtschaftlichen Kostenkalkulation außerstande. Sie würden daher ihre Verkaufspreise oft viel zu niedrig ansetzen und so den solideren und erfahreneren Fabrikanten und Verlegern das Geschäft verderben und durch minderwertige Ware das Ansehen der Branche beschädigen.412 Letztlich wogen aber die Vorteile des ausgeprägt dezentralen und kleinbetrieblichen Produktionssystems der Stickerei des Vogtlandes die Nachteile auf. Versuche, die Produktivitätsvorsprünge des Fabrikbetriebs in großem Stil zu nutzen, erbrachten nur mäßige Ergebnisse. Die beiden einzigen Aktiengesellschaften der vogtländischen Stickwarenbranche, die Plauener Spitzenfabrik AG und die Stickereiwerke Plauen AG, blieben offenbar deutlich hinter den Gewinnerwartungen ihrer Aktionäre zurück. Die eigentlichen Fabrikanten beschränkten sich vornehmlich auf das Marktsegment der einfachen Stapelartikel. Die Herstellung und Vermarktung der „Plauener Spitzen“, seit Mitte der 1880er Jahre das eigentliche Kerngeschäft des Reviers, wurde dagegen ganz überwiegend von Unternehmen betrieben, die allenfalls einen kleineren Teil ihrer Waren im eigenen Betrieb fertigten oder sich ganz auf die Dienste der Lohnsticker und Verlagsarbeiter verließen.413 Ein Faktor, der wohl wesentlich die (Neu-) Ausprägung dezentraler Betriebsstrukturen in der vogtländischen Spitzen- und Stickereiwarenbranche förderte, war der saisonale Rhythmus permanenter Produktinnovation. Bei den „Plauener Spitzen“ und zum Teil auch den bestickten Weißwaren handelte es sich um Modeartikel, die wie verderbliche Waren von einem rapiden Wertverlust bedroht waren. Als Elite der Branche im Vogtland galt die überschaubare Zahl der Plauener „Nouveautè“-Firmen. Diese Firmen, nicht selten ihre Besitzer persönlich, machten sich regelmäßig in Paris, Berlin, Wien, ggf. auch in Leipzig über die aktuellen und womöglich kommenden Strömungen der Kleidermode kundig. Sie unterhielten in Plauen eigene Zeichenateliers, die solche Anregungen zu neuen Artikeln und Dess411 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 124–127, 147; Jeenel, Produktionsbedingungen, S. 3 f.; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 100–109. Ähnlich für St. Gallen: Tanner, Baumwollindustrie, S. 187–190. 412 Vgl. Hopf, Strukturwandlungen 36; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 17, 65, 96 ff. 413 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 94 f.
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ins verarbeiteten. Die „Nouveautè“-Unternehmen mussten in dieser Phase der Produktentwicklung auf Geheimhaltung bedacht sein, so dass sie gewöhnlich einige Maschinensticker im eigenen Betrieb zur Fertigung von Mustern beschäftigten. Ihre Neuheiten legten sie den Modehäusern in Paris, Berlin, Wien und London vor, nahmen Bestellungen für die kommende Frühjahrs- oder Herbstsaison entgegen und ließen diese dann von den Lohnstickereien ihres Vertrauens ausführen.414 Die „Nouveautè“-Firmen produzierten Luxusartikel für ein kaufkräftiges Publikum, fungierten aber dabei für die große Masse der übrigen Spitzen- und Stickwarenhersteller auch als Vorbild. Ihre für den gehobenen Geschmack entworfenen Modeneuheiten wurden von den Unternehmen, die auf den Konsum breiterer Schichten ausgerichtet waren, gewissermaßen „popularisiert“ und – mit einem gewissen zeitlichen Abstand – in preiswerteren Versionen auf den Markt gebracht. Zwar waren diese auf den Massengeschmack zugeschnittenen Erzeugnisse nicht so schnell „verderblich“ wie die „Nouveautés“. Doch auch für sie galten cum grano salis die typischen Fluktuationsrhythmen von Modeartikeln, die sich in den ersten Wochen und Monaten gut verkauften, im Laufe der Saison im Preis fielen, bis sie kaum noch verkäuflich waren. Je größere Mengen ein Fabrikant oder Verleger von einzelnen solcher Produkte herstellte oder herstellen ließ, desto größer wurde das Risiko, sie nicht mehr zu angemessenen Preisen auf dem Markt unterbringen zu können. Einer großbetrieblichen Massenproduktion waren daher in diesem, für die vogtländische Stickerei besonders wichtigen Marktsegment gewisse Grenzen gesetzt. Zudem verlieh die Ausrichtung der Produktion auf die jeweilige Frühjahrsund Herbstkollektion der Plauener Spitzenstickerei einen ausgeprägten saisonalen Charakter, ähnlich wie in der Glauchauer Kleiderstoffweberei. Zu bestimmten Zeiten im Jahr mussten die vorhandenen Produktionskapazitäten völlig ausgelastet werden, während es in anderen Perioden monatelang nur wenig zu tun gab. Dies waren keine guten Bedingungen für eine kontinuierliche Auslastung des Maschinenparks einer Fabrik. Es machte daher für die Spitzenfabrikanten unternehmerisch Sinn, die eigenen Produktionskapazitäten zu begrenzen und in den Zeiten starker Nachfrage zusätzlich Aufträge an Lohnsticker zu vergeben.415 Doch nicht allein solche Strategien der Risikobegrenzung dürften zur Dezentralisierung und Auffächerung der vogtländischen Spitzenindustrie in ein Netzwerk selbständiger Produzenten und Dienstleister auf verschiedenen Produktionsstufen beigetragen haben. Die unternehmerischen Hauptakteure der Plauener Stickereiwarenwirtschaft, die „Fabrikanten“ (ob sie nun tatsächlich einen Fabrikbetrieb leiteten oder sich auf Verlegeraufgaben beschränkten), konnten die Möglichkeiten dieses Netzwerkes für eine flexible Steuerung des Produktionsprozesses nutzen. Dies versetzte sie in die Lage, auf einen großen Pool von Musterzeichnern, Lohnstickereien, Appreturbetrieben und Heimarbeiterinnen, die wiederum jeweils auf bestimmte Spezialitäten und Qualitäten ausgerichtet waren, zurückzugreifen. Damit verfügten sie über ungleich 414 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 102 f., 171 f.; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 50–53; Jeenel, Produktionsbedingungen, S. 3. 415 Vgl. Jeenel, Produktionsbedingungen, S. 11; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 57; am Schweizer Beispiel: Tanner, Baumwollindustrie, S. 179–190; allgemein: Cottereau, Fate, S. 89;
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mehr Kombinationsmöglichkeiten als ein noch so ausgedehntes integriertes Fabrikunternehmen. Die ausgeprägte Konkurrenz zwischen den einzelnen selbständigen Produktionseinheiten und ihre räumliche Nähe dürfte die Erhöhung der Transaktionskosten in einem erträglichen Rahmen gehalten haben. Diese „Ad-hoc-Organisation“ erlaubte den vogtländischen Stickereiunternehmen, sich den saisonalen Rhythmen des Spitzengeschäfts anzupassen. Sie half ihnen, die Anforderungen zu bewältigen, die ein vielfältiges, oft rasch wechselndes Warensortiment stellte.416 Je mehr sich die vogtländischen Verleger-Fabrikanten im Produktionsbereich auf Koordinationsaufgaben beschränkten, desto größere Aufmerksamkeit konnten sie dem Vertrieb widmen. Bis in die 1880er Jahre lag der Schwerpunkt der Vermarktung der bestickten Stoffe aus dem Plauener Revier in der Akquise von Bestellungen. Vor allem der Inlandsmarkt wurde durch Reisende, die mit Musterkollektionen den Groß- und Einzelhandel aufsuchten, mehr oder minder flächendeckend betreut. In den wichtigeren Handelszentren übernahmen dort ansässige Agenten, die gegen Provision arbeiteten, diese Aufgabe. Die größeren Stickereiunternehmen ließen auch das europäische Ausland bereisen und waren in Metropolen wie London und Paris durch Agenten, seltener auch durch Zweigniederlassungen vertreten. Einige von ihnen ließen ihre Erzeugnisse durch Reisende mit Musterkollektionen in Nordamerika vertreiben. Für andere vogtländische Fabrikverlagsunternehmen vermittelte wie eh und je der Kommissionshandel der niederländischen und norddeutschen Hafenstädte, vor allem Hamburg, das transatlantische Exportgeschäft. Ein im Vogtland selbst ansässiger Kommissionshandel für Stickereien und Maschinenspitzen bildete sich dagegen nur relativ schwach aus. Um die Jahrhundertwende gab es fünf größere selbständige Kommissionsgeschäfte in Plauen, deren sich vornehmlich die kleineren Fabrikanten und Verleger bedienten.417 Mit dem Übergang zur Tüllspitze vollzog sich auch ein Wandel der vorherrschenden Vertriebsstrukturen des vogtländischen Stickereiwarengeschäfts. Die Abnehmer der Erzeugnisse des Reviers übernahmen fortan eine wesentlich aktivere Rolle. Das Platzgeschäft in Plauen und in Eibenstock, dem Zentrum der Gardinenstickerei, wurde bis zur Jahrhundertwende zum wichtigsten Abzugskanal für die vogtländischen Spitzen und Stickereien. Die wachsende Variationsbreite des Modeartikels „Plauener Spitze“ und die Vielzahl der Anbieter veranlasste die Berliner, Wiener und Pariser Modehäuser oder die auf solche Produkte spezialisierten Großhändler, sich nicht allein auf die Musterkataloge einzelner Unternehmen, die ihnen deren Reisende oder Agenten vorlegten, zu verlassen. Statt dessen gingen sie dazu über, das Produktionsgebiet selbst regelmäßig aufzusuchen, um vor Ort eine Auswahl vorzunehmen und die günstigsten Angebote wahrnehmen zu können. Bald waren die wichtigeren auswärtigen Grossisten dauerhaft in Plauen präsent, indem sie Agenten mit der Beobachtung des Spitzen-Marktes beauftragten. Einige der Großkunden eröffneten schließlich eigene Einkaufsfilialen im Vogtland. Eigenständige Kommissions- und Exportgeschäfte siedelten sich in Plauen an, um auf eigene 416 Vgl. zum Konzept der „Adhocracy“: Cottereau, Fate, S. 84 ff. 417 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 177 ff.; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 11 f., 58 ff.; Illgen, Stickerei-Industrie, S. 14, Loeben, Absatz, S. 41; Benndorf, Beziehungen, S. 162 f.
5.7 „Plauener Spitzen“: Globaler Markterfolg und dezentrale Produktion
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Rechnung oder im Auftrag vor allem überseeischer Grossisten Stickereiwaren im Revier einzukaufen. Schließlich gründeten seit der Jahrhundertwende auch einzelne große Kaufhausunternehmen oder Einkaufsgenossengeschaften der Detaillisten Niederlassungen im Vogtland. Die Ausbreitung des Platzgeschäftes erleichterte den vogtländischen Fabrik- und Verlagsunternehmen den Absatz ihrer Waren und minderte ihr kaufmännisches Risiko. Auch Neueinsteiger in der Branche konnten relativ mühelos einen größeren Kundenkreis erwerben. Doch andererseits wurde es für die Abnehmer einfacher, die Preise zu drücken. Die Zersplitterung der vogtländischen Stickereiindustrie barg für die auf eigene Rechnung agierenden „Fabrikanten“ die Gefahr, in Abhängigkeit von auswärtigen Großabnehmern zu geraten.418 Der immense Erfolg der Produktinnovation der Tüllspitze verschob auch die Relationen von Inlandsabsatz und Export für die vogtländische Stickwarenbranche. In den krisengeschüttelten 1870er Jahren waren die Erzeugnisse der sächsischen Weißwarenstickerei von der Schweizer Konkurrenz zunehmend auf das Refugium des deutschen Binnenmarktes zurück gedrängt worden. Die „Plauener Spitzen“ wurden dagegen bald in großen Mengen auf den europäischen und nordamerikanischen Märkten abgesetzt. Schon 1885 überstieg der Export vogtländischer Stickereiererzeugnisse den deutschen Inlandsverbrauch. Von den 112 Millionen Mark Jahresumsatz, den die Spitzen- und Stickereiindustrie des Vogtlandes 1913 insgesamt erzielte, gingen ziemlich genau zwei Drittel auf den Auslandsabsatz zurück.419 Der globale Markterfolg der „Plauener Spitzen“ erscheint um so bemerkenswerter, als er unter den ungünstigen handelspolitischen Rahmenbedingungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zustande kam. Gerade die hartnäckigsten ausländischen Konkurrenten der vogtländischen Stickwarenhersteller, die Unternehmen des St. Gallener Reviers, genossen im allgemeinen sowohl beim Import wichtiger Rohmaterialien als auch beim Export ihrer Fertigwaren deutliche Kostenvorteile. Die Maschinenstickerei arbeitete gewöhnlich mit zu Zwirn verarbeiteten Baumwollgarnen. Der wachsende Bedarf an Zwirn hatte schon seit 1864 die Gründung von Zwirnfabriken im Vogtland angeregt. Seit den 1870er Jahren waren diese Fabriken durchweg mit Dampfmaschinen ausgestattet und deckten den Verbrauch der regionalen Stickereiindustrie größtenteils ab. Die benötigten feinen Baumwollgarne (Stärkegrade zwischen Nummer 60 und 140) mussten allerdings auch in den folgenden Jahrzehnten zumindest teilweise aus dem Ausland – Großbritannien und der Schweiz – importiert werden. Der Übergang des Deutschen Reiches zum Garn-Schutzzoll 1879 verteuerte dieses Grundstoff beträchtlich, während in der Schweiz nur sehr mäßige Garnzölle erhoben wurden und zudem hier die Feinspinnerei höher entwickelt war als in Deutschland.420 Noch ungünstiger gestalteten sich die Bedingungen der Materialversorgung gegenüber der Schweizer Konkurrenz phasenweise bei einem zweiten wichtigen Halb418 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 179–183; Zeeh, Betriebsverhältnisse, S. 11 f., 22, 57– 60, 90; Jeenel, Produktionsbedingungen, S. 11; Illgen, Stickerei-Industrie, S. 90. 419 Vgl. Zeeh, Betriebsverhältnisse 22; Hopf, Strukturwandlungen, S. 39; Loeben, Absatz, S. 97– 109. 420 Vgl. Bein, Industrie, S. 337 f.; Jeenel, Produktionsbedingungen, S. 12 f.
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5. Industrialisierung und Globalisierung
stoff, der in großen Quantitäten für die Herstellung von Maschinenspitzen benötigt wurde: Baumwolltüll. Um die Jahrhundertwende erhoben die deutschen Zollbehörden für den aus Großbritannien importierten Baumwolltüll 60–80 Mark pro Doppelzentner, während die Schweizer Konkurrenz für die gleiche Menge ganze vier Franken berappen musste. Der Schutz eines hohen Zolls wirkte allerdings im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg als Anreiz die Entstehung einer deutschen Tüllindustrie, die sich ganz überwiegend in Westsachsen ansiedelte, in Schneeberg, im Raum Chemnitz und in Plauen und Umgebung. Es enstanden hier seit 1905 eine Reihe kapitalkräftiger Aktiengesellschaften, die große Produktionsanlagen hochzogen. Auf der Ebene der einfachen Halbstoffe – Zwirn und Tüll – brachte die vogtländische Stickereibranche also durchaus großbetriebliche Strukturen hervor.421 Nachdem sich die vogtländische Maschinenstickerei in den 1880er Jahren von der Rolle als Zuliefer- und Hilfsindustrie der St. Galler emanzipiert hatte, spielte sich bis zu einem gewissen Grad eine Aufteilung der Marktsegmente zwischen beiden Regionen ein. Die Schweizer konzentrierten sich überwiegend auf ihre bisherige Produktpalette im Bereich der Stickereien auf festem Stoffgrund. Die kaum bestrittene Domäne der Sachsen waren fortan die Stickwaren auf durchbrochenem Grund, die „Plauener Spitzen“. Wo die Stickereiwaren beider Regionen auf den globalen Märkten in direkte Konkurrenz traten, kamen die schweizerischen Produkte nicht selten in den Genuss günstigerer Tarife bei den Einfuhrzöllen. Ihre stärker an freihändlerischen Maximen orientierte Handelspolitik ließ der Schweizer Regierung größeren Spielraum zur Aushandlung bilateraler Handelsverträge, die ihre Exportindustrien begünstigten.422 Als sich die vogtländische Maschinenstickerei mit der Innovation der „Plauener Spitze“ daran machte, die Weltmärkte zu erobern, war die Freihandelsära schon an ihr Ende gekommen. Die große Mehrzahl der aufnahmefähigen Absatzgebiete – darunter die USA, Frankreich, Österreich-Ungarn, Spanien, Italien und Russland – belastete die Einfuhr von Stickwaren mit hohen Zollabgaben. In den meisten der genannten Länder erfüllten diese handelspolitischen Schutzmaßnahmen insofern auch ihren Zweck, als dort um die Jahrhundertwende eine mehr oder minder große Zahl an Stickwarenfabriken entstanden waren. Doch kam diese zollgeschützte Konkurrenz im allgemeinen nicht über die Fertigung einfacher Stapelwaren hinaus. Die neue russische, österreichische oder amerikanische Fabrikwirkerei konnte zwar auf die leistungsfähigen Schiffchenstickmachen und – später – Stickautomaten zurückgreifen, die in Chemnitz, Plauen und St. Gallen gebaut wurden. Um aber Erzeugnisse außerhalb des Billigwarensegments anbieten zu können, fehlte ihnen eine entscheidende Standort-Ressource, mit der die vogtländische wie die Ostschweizer Maschinenstickerei in reichlichem Maße gesegnet war: ein Pool erfahrener, gut ausgebildeter und dabei relativ billiger Arbeitskräfte.423 421 Vgl. Jeenel, Produktionsbedingungen, S. 13 f.; Schuster, Plauen, S. 74 f.; Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 49 f. 422 Vgl. Hüttenbach, Maschinenstickerei 157 f. 423 Vgl. Jeenel, Produktionsbedingungen, S. 32 ff.; Benndorf, Beziehungen, S. 162; Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 194.
5.7 „Plauener Spitzen“: Globaler Markterfolg und dezentrale Produktion
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Daher fanden die „Plauener Spitzen“ und andere Artikel der vogtländischen Stickerei selbst auf den stark abgeschotteten russischen und französischen Märkten meist immer noch recht ansehnlichen Absatz. Der weitaus bedeutendste einzelne Exportmarkt blieb bis 1914 die USA, trotz Zöllen, die zwischen 35 bis 60 Prozent des Warenwerts ausmachten. Der Erfolg der Produktinnovation der maschinell gefertigten Spitzen schlug sich 1888 in der Eröffnung eines eigenen amerikanischen Handelskonsulat in Plauen nieder, dem vier Jahr später ein weiteres Konsulat in Eibenstock folgte. Wie in der Strumpf- und Handschuhwirkerei sorgten aber auch hier die häufig wechselnden Zolltarife für große Absatzschwankungen. Die Volatilität der amerikanischen Nachfrage trug sicherlich ebenfalls dazu bei, dass die vogtländischen „Fabrikanten“ zu einem größeren Teil auf eine eigene Fabrik verzichteten. Noch in einem anderen Punkt glichen sich die Grundmuster des Stick- und des Wirkwarenexports seit den 1880er Jahren einander an: Das freihändlerische Großbritannien entwickelte sich zu einem zunehmend wichtigeren, und dabei verhältnismäßig stabilen Absatzmarkt für die Plauener Maschinenstickerei.424
424 Vgl. Loeben, Absatz, S. 72 f.; Hüttenbach, Maschinenstickerei, S. 187–197; Jeenel, Produktionsbedingungen, S. 25–34.
6. EINE ANDERE INDUSTRIALISIERUNG? Wenn man den Erkenntnisgewinn der vorliegenden Studie zur Genese der sächsischen Textilindustrie für die regionale Industrialisierungsforschung bilanziert, so dürfte wohl zunächst einmal eines deutlich geworden sein: Der Transformationsprozess eines protoindustriellen Exportgewerbes zur Industriebranche ist ohne den systematischen Einbezug der Sphäre des Marktes schlichtweg nicht schlüssig zu erfassen. Ebenso basal erschien es, eine akteurszentrierte Perspektive einzunehmen, um die Interdependenzen zwischen Markt- und Produktionssphäre in ihren Auswirkungen für die hier ins Auge gefassten Aspekte industriellen Wandels nachzuvollziehen. Dabei ist noch einmal zu betonen, dass es hier im Kern um wirtschaftliches Handeln gegangen ist – und nicht etwa um Industrialisierungspolitik. Der Blick richtete sich demnach auf Wirtschaftsakteure, die verfügbare Ressourcen einsetzten, um einen Gewinn zu realisieren. In welcher Weise sie ihre Ressourcen kombinierten, welche Strategien sie verfolgten, um Gewinn zu erwirtschaften, welche Risiken sie dabei einzugehen bereit waren – all dies war Gegenstand der empirischen Analyse. Der Handlungsrahmen, der die Bedingungen der Vermarktung sächsischer Textilien vorgab, war zwischen 1790 und 1890/1914 offensichtlich zahlreichen Veränderungen und Fluktuationen unterworfen. Insgesamt kann man aber davon ausgehen, dass die regionalen Wirtschaftsakteure über weite Perioden des Untersuchungszeitraums mit vergleichsweise unvorteilhaften Marktzugangschancen konfrontiert waren. Die sächsische Textilwirtschaft musste naturräumliche Handicaps (kein direkter Zugang zum Meer, weite Wege zu schiffbaren Flüssen) kompensieren. Sie verfügte wegen der geringen Größe des Kurfürstentums bzw. Königreichs Sachsen weder über einen nennenswerten Binnenmarkt noch über Kolonien in Übersee. Das kleine Kursachsen besaß nur eine bescheidene Stimme im Konzert der europäischen Mächte und konnte, auf sich allein gestellt, seinen Unternehmern und Kaufleuten kaum handelspolitische Vergünstigungen verschaffen, geschweige denn aus eigener Kraft die Handelswege jenseits der Landesgrenzen offen halten und schützen. Gegenüber den westeuropäischen Konkurrenten, die als Bürger und Untertanen der See- und Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien agierten und privilegierten oder exklusiven Zugang zu zahlreichen Absatzmärkten genossen, waren die Sachsen offensichtlich im Nachteil. Im Laufe des 19. Jahrhunderts glichen sich zwar im Zuge der deutschen Nationalstaatsbildung und der Verdichtung und Intensivierung des globalen Handelsverkehrs die Konditionen des Marktzugangs zwischen der sächsischen Textilwirtschaft und der britischen und französischen Konkurrenz sukzessive an. Doch gerade, was den Export anging, agierten die Textilhersteller aus Sachsen im ausgehenden 19. Jahrhundert auf einem Feld, das angesichts des wiederauflebenden globalen Protektionismus nach wie vor von Unsicherheit und Volatilität gekennzeichnet war. Wie die Bedingungen des Zugangs zu Rohstoff- und Absatzmärkten jeweils auf den Gang des Industrialisierungsprozesses in den sächsischen Textilrevieren zu-
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rückwirkten, wird vor allem mit Blick auf den Baumwollwarensektor evident. Während der Periode der Kriege, Handelsblockaden und Handelswegskrisen zwischen 1790 und 1815 reagierten die südwestsächsischen Hersteller auf Handicaps bei der Versorgung mit bestimmten Rohstoffen (amerikanische Baumwolle) und Halbwaren (britisches Maschinengarn) mit einer Anpassung ihrer Produktstrategien: Statt feiner, leichter und hochwertiger Waren wurden einfache, schwere und dichte Gewebe gefertigt und die Kapazitäten der Textildruckerei ausgeweitet. Diese Warengattungen konnten auf den zugänglichen, meist relativ nahen Absatzmärkten zumindest phasenweise in größeren Mengen abgesetzt werden. Einer Industrialisierung des Herstellungsprozesses war diese Konstellation eher förderlich. Dies gilt zunächst einmal für die Entstehung einer Baumwollmaschinenspinnerei. Einfache, robuste Garne, auf die sich die regionale Nachfrage im Zuge des eben beschriebenen Wechsels der Produktstrategien zunehmend konzentrierte, konnten auch in Sachsen gut mit Hand- und später mit kraftgetriebenen Maschinen gesponnen werden. Und da der Produktivitätsvorsprung der britischen Maschinenspinnerei vornehmlich beim feineren Gespinst durchschlug, waren die sächsischen Spinnmühlen selbst ohne den Schutz der Kontinentalsperre vergleichsweise wenig von der technologisch fortgeschrittenen Konkurrenz bedroht. Für eine baldige Maschinisierung der Weberei und der Textildruckerei bot das Produktspektrum der sächsischen Baumwollwarenmanufaktur der napoleonischen Zeit zumindest günstige Voraussetzungen. Nach 1814/15 sah es dann tatsächlich eine Zeitlang sah so aus, als ob dieses Potenzial in Sachsen auch realisiert werden könnte. Die Rohstoff- und Halbwarenversorgung hatte sich nach Aufhebung der kriegsbedingten Handelsblockaden normalisiert; die europäischen und überseeischen Märkte hatten sich wieder stärker für sächsische Manufakturwaren geöffnet. Es sind denn auch in den Jahren nach 1815 in Sachsen einige Versuche unternommen worden, einen industriellen Verbund von Baumwollspinnerei, Maschinenweberei und maschinisierter Kattundruckerei zu etablieren. Doch spätestens in den frühen 1820er Jahren schloss sich das Zeitfenster wieder, in dem der sächsischen Webwarenausfuhr die großen Märkte so weit offen standen, wie dies für den Absatz industriell gefertigter Massenerzeugnisse notwendig gewesen wäre. Die unternehmerische Antwort auf diese Konstellationsverschiebung war eine Rekombination der verfügbaren Ressourcen. Dazu gehörte ein neuerlicher Wechsel in der Produktpalette. Mit dem Übergang zur Bunt- und Musterweberei wandten sich die südwestsächsischen Wirtschaftsakteure den höherpreisigen Marktsegmenten zu oder konzentrierten sich auf Nischenprodukte in kleiner Auflage, für die die Zollmauern durchlässiger waren als für in Massen hergestellte billige Textilien. Sie gaben damit aber denjenigen Bereich des Produktspektrums auf, in dem die industrielle Entwicklung in den kommenden Jahrzehnten die größten Fortschritte machte: die Fabrikation glatter dichter Baumwollgewebe. Auch für die sächsische Baumwollspinnerei hatte diese Wendung nachhaltige Folgen, verlagerte sich doch nun die Nachfrage in der Region zunehmend auf Garnsorten, die wesentlich kostengünstiger in Großbritannien hergestellt werden konnten. Es sollte der Spinnerei in Sachsen während des gesamten 19. Jahrhunderts nicht gelingen, diesen Rückstand aufzuholen.
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Natürlich waren die ungünstigen Konstellationen des Marktzugangs nicht der einzige Faktor, der den Industrialisierungsprozess in der sächsischen Baumwollweberei zwischen 1820 und 1850 hemmte. Es klaffte immer noch eine beträchtliche Technologielücke zwischen dem britischen und dem kontinentalen Textilmaschinenbau, die es schwierig machte, in Sachsen adäquate Maschinen zu akzeptablen Anschaffungskosten zu bekommen. Das Problem der Energieversorgung vor der Erschließung der regionalen Kohlenvorkommen und der Verdichtung des Eisenbahnnetzes war sicherlich auch ein Faktor, der einer raschen Ausbreitung der Fabrikweberei entgegen gestanden hätte. Der Umstand, dass Kapital für Industrieanlagen zu weit weniger günstigen Konditionen als etwa in Großbritannien zu mobilisieren war, dürfte ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Auch schreckten die zeitgenössischen Erfahrungen mit Aktiengesellschaften in Branchen, in denen unternehmerische Flexibilität gefragt war, potenzielle Investoren wohl eher ab. Schließlich rief die Aufstellung mechanischer Webstühle auch in Sachsen vielerorts zunächst einmal Widerstände der davon direkt betroffenen Handweber hervor. Alle diese Hemmnisse und Nachteile hätten aber wohl, so scheint es mir, auf die eine oder andere Art überwunden und kompensiert werden können, wenn denn die realistische Aussicht einer gewinnbringenden Vermarktung der maschinell gewebten und walzenbedruckten Kattune bestanden hätte. Ohne diese Aussicht verlor sich jeglicher unternehmerischer Anreiz, teures Kapital in Fabrikanlagen zu investieren, sich mit den vielfältigen technischen Problemen des Betriebs und der Wartung der Maschinen herumzuschlagen, an periphere Standorte zu ziehen, die genügend Wasserkraft boten oder an denen Kohle billig zu haben war, und dabei womöglich noch Angst haben zu müssen, dass eine Horde gewaltbereiter Webergesellen die wertvollen neuen Maschinenstühle in Altmetall verwandeln könnte. Als sich Mitte der 1830er Jahre mit der Gründung des Deutschen Zollvereins ein frei zugänglicher Absatzmarkt öffnete, waren bereits gewisse Pfadabhängigkeiten entstanden, die einen Übergang zur Maschinenweberei in Sachsen problematisch machten. Nachdem die sächsischen Textilunternehmer 15 Jahre lang aus guten Gründen die Fabrikation baumwollener Massenwaren überwiegend der besser situierten auswärtigen Konkurrenz überlassen hatten, war es ein wenig aussichtsreiches Unterfangen, nun mit eben dieser Konkurrenz in Wettbewerb treten zu wollen. Dies gelang den Sachsen offenbar nicht einmal im Zollvereinsgebiet, wo die preußischen Nachbarn etwa in der Walzendruckerei ein bis zwei Jahrzehnte Vorsprung an betriebstechnischem Know-how akkumuliert und sich mit ihren Erzeugnissen auf den Märkten etabliert hatten. An einen erfolgreichen Wettbewerb mit Maschinenware aus Lancashire und Schottland, wo sich die Powerloom-Weberei seit Mitte der 1820er Jahre auf breiter Front durchgesetzt hatte, war nun erst recht nicht mehr zu denken, selbst in Absatzmärkten wie den USA nicht, die zu diesem Zeitpunkt halbwegs zugänglich für den sächsischen Baumwollwarenexport waren. Andererseits verspürten wohl die meisten sächsischen Textilverleger, Manufakturbesitzer und Webermeister auch nach 1834 nicht den Drang, ein Feld zu verlassen, auf dem sie sich mittlerweile recht erfolgreich eingerichtet hatten. Mit den halbwollenen gemusterten Möbel- und Kleiderstoffen aus Chemnitz, Glauchau und Meerane, für deren Fertigung oft kostspielige Jacquardwebstühle angeschafft wor-
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den waren, ließen sich auf absehbare Zeit im In- und Ausland befriedigende Gewinne machen. Erst die sukzessive Maschinisierung der Musterweberei nach der Jahrhundertmitte brachte in dieser Hinsicht einen allmählichen Wandel. Nun vollzog sich aber die Maschinisierung der sächsischen Weberei unter wesentlich günstigeren Bedingungen als im Vormärz. Die Probleme mit der Energieversorgung und der Maschinenbeschaffung waren nun weitgehend gelöst. Auch standen der sächsischen Webwarenwirtschaft nun größere und aufnahmefähigere Absatzmärkte offen als noch in der ersten Jahrhunderthälfte. Die Entwicklung der erzgebirgischen Strumpfwirkerei zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass andere Baumwollwarenbranchen einen deutlich unterschiedlichen Industrialisierungspfad einschlagen konnten, wenn ihnen der Zugang zu einem großen Absatzgebiet offen stand. Hier war es die Sogwirkung des nordamerikanischen Marktes wie auch der Umstand, dass die Maschinisierung der Gewebefertigung in Westeuropa in diesem Bereich noch nicht eingesetzt hatte, der es der sächsischen Wirkerei in den 1820er und 30er Jahren ermöglichte, große Mengen an einfachen Massenwaren abzusetzen und dabei die britische Konkurrenz vom Markt zu verdrängen. Zumindest ansatzweise ist hier zu beobachten, wie an dem Punkt, an dem um 1835 die Produktionskapazitäten des protoindustriellen Systems an ihre Grenzen gerieten, sich Industrialisierungsdruck aufbaute und die ersten mechanischen, kraftgetriebenen Wirkstühle aufgestellt wurden. Da sich aber der Nachfrageboom bald als Folge einer Spekulationsblase erwies, blieb dieser Vorstoß zunächst folgenlos. Erst in den 1850er Jahren setzte ein neuer Industrialisierungsschub in der erzgebirgischen Strumpfwirkerei ein, nun aber überwiegend als Reaktion auf die Herausforderung der britischen und französischen Konkurrenz, die maschinell gefertigte Massenware auf den Markt warf. Auch in diesem Fall scheint der Verlauf des Industrialisierungsprozess in gewisser Weise durch Pfadabhängigkeiten bestimmt worden zu sein: Anders als die südwestsächsische Baumwollweberei waren die Wirkwarenhersteller im Vormärz nicht auf handwerklich anspruchsvollere und hochwertigere Produkte umgestiegen, sondern hatten überwiegend an Waren für breitere Käuferschichten festgehalten. Daher standen sie nun unter einem direkteren Druck, den Herstellungsprozess zu maschinisieren. Durch eine bemerkenswert rasche Adaption und Diffusion der neuen Technologien gelang es der sächsischen Strumpf- und Trikotagenwirkerei in den 1850er, 60er und 70er Jahren, ihre Marktführerschaft zu verteidigen bzw. zurückzugewinnen. Im Vergleich verschiedener Reviere und Branchen der sächsischen Textilwirtschaft deutet sich an, dass es durchaus unterschiedliche Wege und Pfade geben konnte, die Herausforderungen des Industrialisierungsprozesses zu bewältigen. Es deutet sich mit Blick auf den Verlauf der Transformation der protoindustriellen Textilgewerbe zu industriellen Branchen ferner an, dass hier eine möglichst frühzeitige Übernahme industrieller Produktionsformen nicht unbedingt als Königsweg angesehen werden kann. Eine Verzögerung der Industrialisierung, das Ausweichen in Nischen, das Festhalten an hergebrachten Produktionssystemen und „alten“ Technologien sollte man nicht von vornherein als Irrweg oder Holzpfad beurteilen. Unter den gegebenen Rahmenbedingungen und Handlungsspielräumen konnten sol-
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che Strategien vielmehr eine erfolgversprechende unternehmerische Option darstellen – immer vorausgesetzt, Erfolg wird nicht am jeweils erreichten Grad der Industrialisierung gemessen, sondern am wirtschaftlichen Ergebnis. Insgesamt hat die Studie einen Entwicklungspfad freigelegt, der von den gängigen Lesarten der deutschen Industrialisierungsforschung markant abweicht. Der regionale Industrialisierungsprozess in Sachsen wurde offensichtlich wesentlich von exportorientierten Konsumgüterindustrien getragen, die in protoindustriellen Vorläufen wurzelten. Hier verlief die Industrielle Revolution sehr viel langsamer, erstreckte sich über längere Zeiträume und brachte ganz andere Strukturen hervor als der viel beschworene „Take-Off“, den die Trias von Eisenbahnbau, Steinkohlenbergbau und Eisen- und Stahlindustrie in Gang setzte. Durch die Verschiebung der Untersuchungsperspektive auf die wirtschaftlich handelnden Akteure und den systematischen Einbezug der Marktsphäre in das Faktorengerüst des regionalen Industrialisierungsprozesses erscheint auch die Rolle des Staates in einem anderen Licht. Die an den theoretischen Axiomen von Rostow und Gerschenkron orientierte historische Industrialisierungsforschung wie auch z. T. die von der NIÖ inspirierten Studien gehen häufig explizit oder implizit von der Annahme aus, der nationale oder regionale Staat habe es in der Hand gehabt, entscheidenden Einfluss auf Gang und Erfolg der Industrialisierung in seinem Wirkungsbereich zu nehmen. Wenngleich dieses Thema nicht im Fokus der vorliegenden Studie lag, so liefern ihre Befunde doch den ein oder anderen Hinweis, die in künftigen Untersuchungen vertieft werden könnten und sollten. Insgesamt ist der Eindruck geblieben, als seien den Möglichkeiten der sächsischen Regierung, auf den Gang der industriellen Entwicklung im Lande entscheidenden Einfluss zu üben, relativ enge Grenzen gesetzt gewesen. Einmal vollzog sich auch das wirtschaftspolitische Handeln des bürokratischen Obrigkeitsstaats im Spannungsfeld widerstrebender Wirtschaftsinteressen seiner Untertanen-Bürger. Die Landesregierung und Staatsbehörden nahmen hier oft eher eine vermittelnde Position ein. Wenn sich etwa die Dresdner Regierung im Vormärz den Industrialisierungskonzepten der Chemnitzer Fabrikanten verweigerte, so hatte dies wohl nicht allein und nicht primär mit der Willfährigkeit gegenüber der Leipziger Handelsbourgeoisie zu tun. Sie musste vielmehr auch die Interessen der zahlreichen Konsumwarenbranchen im Blick behalten, die um ihre Konkurrenz- und Exportfähigkeit fürchteten. Im Übrigen scheint der Umstand, dass im Königreich Sachsen die vormoderne korporative Wirtschaftverfassung bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus in Kraft blieb, der industriellen Entwicklung letztlich keine schwerwiegenden Hindernisse in den Weg gelegt zu haben. Bereits die Akteure der protoindustriellen Exportgewerbe hatten zahlreiche Arrangements gefunden, um sich in die korporativen Strukturen einzupassen und sich diese nutzbar machen. Dieser institutionelle Rahmen bot in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts offenbar genügend Freiräume und Möglichkeiten, den industriellen Transformationsprozess einzuleiten. Die freizügige staatliche Konzessionspraxis und der gezielte Abbau zünftiger Zugriffsrechte trugen ebenfalls dazu bei, die korporative Gewerbeverfassung zu durchlöchern und ihre Geltung im Textilsektor faktisch weitgehend außer Kraft zu setzen. In wichtigen Bereichen wirtschaftlicher Ordnungspolitik lag es schließlich einfach nicht in
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der Macht des sächsischen Territorialstaates, die Rahmenbedingungen für die regionale Textilwirtschaft zu verändern. Die Regelung des Zugangs auf Absatzmärkte, die außerhalb der Landesgrenzen lagen, entzog sich per se der Verfügungsgewalt der Dresdner Landesregierung. Deren außenpolitische Verhandlungsposition erschien im allgemeinen wenig eindrucksvoll. Inwieweit lässt sich nun der industrielle Transformationsprozess der sächsischen Textilgewerbe mit den Ansätzen und Modellen der Neuen Institutionenökonomik erklären? Zunächst einmal bietet die NIÖ analytische Werkzeuge, die sich auch für die vorliegende Studie als erhellend und anregend erwiesen haben. Der Begriff der „Pfadabhängigkeit“ verweist etwa darauf, dass sich die Industrialisierung in einer frühneuzeitlichen Textilgewerbelandschaft wohl oder übel auf der Grundlage bereits vorhandener Strukturen und akkumulierter Ressourcen vollziehen musste. Ich würde argumentieren, dass dies im sächsischen Fall eher im positiven als im negativen Sinne zu verstehen ist. Um die Herausforderungen des industriellen Transformationdrucks unter vergleichsweise ungünstigen Marktkonstellationen zu bestehen, kam den in längeren protoindustriellen Vorläufen akkumulierten Ressourcen der Region kaum zu unterschätzende Bedeutung zu: eingespielte Marktbeziehungen, ein großer Pool handwerklich qualifizierter Arbeitskräfte, Wirtschaftsakteure mit kaufmännisch-unternehmerischer Erfahrung. Ohne diese bereits vorhandene Basis hätte sich in einer Region, deren wirtschaftsräumliche und handelspolitisch bedingten Standortfaktoren alles andere als günstig erscheinen, wohl kaum eine wettbewerbsfähige Textilindustrie entwickelt. Das Argument, die Abhängigkeit von einem protoindustriellen Entwicklungspfad behindere den Gang der industriellen Modernisierung, erscheint dagegen in diesem Falle weniger schlüssig. Mentale Traditionsüberhänge und habituelle Dispositionen mögen zunächst die Adaption der Arbeitskräfte an den geschlossenen Fabrikbetrieb erschwert haben. Insgesamt scheint dies aber eine Zentralisation der Produktion nicht entscheidend gehemmt oder verzögert zu haben. Es klingt sogar an, dass der Übergang zur Fabrikindustrie durch das Verhalten der Arbeitskräfte beschleunigt werden konnte. Seit den 1860er/70er Jahren häuften sich in den Handelskammerberichten die Klagen über den fehlenden Handwebernachwuchs. Möglicherweise hätten die angehenden Textilfabrikanten bisweilen eine andere Option – die Beschäftigung von Heimwebern – der Fabrikgründung vorgezogen. Auf der anderen Seite reagierten die Arbeitskräfte in den sächsischen Textilrevieren oft bemerkenswert flexibel auf den wirtschaftlichen Wandel. In zahlreichen Fällen wechselten Heimarbeiter und Handwerker von einem Verlagsnetzwerk zum anderen oder wichen auf andere Artikel, Rohmaterialien, Fertigungsweisen aus, wenn ihnen ihre bisherige Tätigkeit nicht mehr einträglich genug erschien. Gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gaben diese Arbeitskräfte dem Transformationsprozess wesentliche Impulse, indem sie eigeninitiativ und unter Einsatz eigener finanzieller Ressourcen neue Arbeitsgeräte anschafften: Wirkmaschinen, Stick- und Strickmaschinen, später Elektromotoren. Sie prägten damit vor allem in den Branchen, in denen sich bis zur Jahrhundertwende eine kleinbetrieblich und dezentral strukturierte Industriewirtschaft herausgebildet hatte, den Transformationsprozess aktiv mit. Gerade hier werden Pfadabhängigkeiten besonders augenfäl-
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lig und sie wirkten – wie unten noch zu zeigen sein wird – keineswegs dysfunktional. Die These, dass einseitig kaufmännische Handlungsdispositionen der alten Verlegereliten die Industrialisierung der Textilgewerbe ungebührlich verzögert hätten, konnte im Rahmen des Untersuchungsdesigns der vorliegenden Arbeit nicht in systematischer Form überprüft werden. Hier wären weitere Studien wünschenswert, die mit prosopographischen Methoden dieser Frage nachgehen. Die Befunde legen aber die Vermutung nahe, dass unter den schwierigen Vermarktungsbedingungen und Marktkonstellationen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kaufmännische Qualifikationen, Erfahrungen und Dispositionen ein durchaus nutzvoll einsetzbares „kulturelles Kapital“ darstellten. Womöglich war es ja gerade die kaufmännische Vorsicht der kapitalkräftigeren Wirtschaftsakteure gegenüber visionären Industrialisierungsprojekten, die das Überleben der sächsischen Textilexportgewerbe bis zu einem Zeitpunkt gewährleistete, an dem die Industrialisierung unter günstigeren Bedingungen einsetzen konnte. Die Nutzanwendung institutionenökonomischer Ansätze hat sich in der Industrialisierungsforschung wesentlich auf das Transaktionskosten-Konzept und die eng damit verbunde Principal-Agent-Beziehung fokussiert. Die methodische Ausrichtung meiner Studie macht es möglich, diese Ansätze anzuwenden bzw. und die aus ihnen abgeleiteten Thesen zu überprüfen. Transaktionskosten- und Principal-Agent-Problemen ist sowohl bei der Vermarktung von Waren in räumlich entfernten Absatzgebieten als auch für die Transformation protoindustrieller Produktionssysteme eine bedeutsame, ja entscheidende Wirkungsmacht zugeordnet worden. In beiden Bereichen besitzen diese Ansätze auch für Genese der sächsischen Textilindustrie durchaus Erklärungswert. Sie lassen sich etwa gut anwenden auf die Probleme des sächsische Textilwarenexports, in überseeischen Absatzgebieten Fuß zu fassen, als bislang gültige institutionelle Arrangements aufgehoben wurden. Nach der Unabhängigkeit der USA in den 1780er Jahren, der Ausschaltung der Handelsdrehscheibe Cádiz während der napoleonischen Zeit oder der Dekolonialisierung Lateinamerikas um 1820 eröffneten sich zwar Wege direkten Zugangs zu überseeischen Märkten, die zuvor verschlossen gewesen waren. Aber ohne Kenntnisse dieser neuen Märkte und ohne Geschäftspartner, in deren Hände man den Vertrieb im Land vertrauensvoll legen konnte, zog die sächsische Textilwirtschaft vorerst wenig Nutzen aus den Möglichkeiten des direkten Exports in diese Gebiete. Ebenso hätten die schweren Verluste der sächsischen Wirkwarenhersteller in den ausgehenden 1830er Jahren und die folgende langwierige Krise der erzgebirgischen Strumpfwirkerei möglicherweise vermieden werden können, wenn man in Sachsen besser über das Marktgeschehen in den USA und die Motive und Praktiken ihrer Abnehmer informiert gewesen wäre. In Ländern wie Russland waren die sächsischen Textilexporteure noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts offenbar mit notorischen Problemen konfrontiert, die Erfüllung von Verträgen durchzusetzen. Im allgemeinen dürften aber die Kosten zur Beschaffung von Marktinformationen und zur Sicherstellung von Property Rights bei der Vermarktung sächsischer Textilwaren im 19. Jahrhundert eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben. Während des Untersuchungszeitraums standen den regionalen Wirtschaftsakteuren
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meist eine ganze Reihe von Optionen für den Vertrieb auf weiter entfernten Märkten zur Verfügung. Sie konnten ihrer Erzeugnisse über die Waren- und später die Mustermessen in überregionale Handelsnetze einschleußen. Sie konnten ihre Anstrengungen auf den allmählichen Aufbau eines auswärtigen Abnehmerkreises richten, von dem regelmäßige Bestellungen zu erwarten waren. Der hanseatische Kommissionshandel bot seine Dienste bei der Versendung von Waren nach Westeuropa und nach Übersee an. Man konnte sich auch auf eher riskante Konsignationsgeschäfte einlassen. In den Zentren der sächsischen Textilreviere war es sogar durchaus möglich, den Abnehmern die Initiative für die Einleitung von Geschäftstransaktionen zu überlassen. Zahlreiche Fabrikanten und Verlagsunternehmer bauten eine eigene Vertriebsorganisation außerhalb der Region auf. Kapitalstärkere Akteure richteten eigene Handelsniederlassungen in wichtigen Auslandsmärkten ein. Viele andere vertrauten auf Agenten an für sie bedeutsamen Umschlagszentren und/oder ließen Handelsreisende routinemäßig Bestellungen akquirieren. Transaktionskostenprobleme standen allerdings auch hier wohl nicht unbedingt im Vordergrund. Gewöhnlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sich neue und unbekannte Märkte in vertrautes, sicheres Terrain verwandelt hatten. War ein Absatzgebiet erst einmal erschlossen, hatte sich durch Wiederholung der Geschäftstransaktionen Vertrauen gebildet, waren institutionelle Arrangements für die Abwicklung des Warentransports, des Zahlungsverkehrs, des Informationsaustauschs gefunden worden, verminderten sich auch die Transaktionsrisiken. Ein im ausgehenden 18. Jahrhundert noch hochriskanter überseeischer Markt wie die USA war seit dem Vormärz zur Domäne zahlreicher sächsischer Textilexport-Branchen geworden. Die Verdichtung und Beschleunigung globaler Handelsbeziehungen im Zuge der Kommunikations- und Verkehrsrevolution nach der Mitte des 19. Jahrhunderts trug sicherlich dazu bei, die Vertragssicherheit und den Informationsfluss im überseeischen Warenabsatz zu verbessern und so Transaktionskosten auf breiter Front zu senken. Doch auch schon in der ersten Jahrhunderthälfte hatten den Textilunternehmern aus Sachsen wohl die meisten der oben genannten Optionen des Warenvertriebs offen gestanden. Welche dieser Optionen genutzt wurde, lag nicht zuletzt auch am individuellen Umgang mit Transaktionsrisiken. Je höher die Risikobereitschaft, desto höhere Gewinne konnten bei erfolgreichem Abschluss des Geschäftes erwartet werden. Schon im 18. Jahrhundert lässt sich bei einigen Akteuren der sächsischen Textilexportwirtschaft der Drang verfolgen, Zwischeninstanzen des überregionalen Warenvertriebs zu umgehen und direkt auf Märkte vorzustoßen, auf denen Waren mit großen Gewinnmargen abgesetzt werden konnten. Damit stiegen auch gewöhnlich die Transaktionskosten. Andere Textilhersteller verzichteten dagegen lieber auf den Absatz in Risikomärkten oder überließen die Sache einem soliden Hamburger Kommissionshaus und begnügten sich mit bescheideneren Erträgen. Letztlich trifft die Problemstellung des Transaktionskosten- bzw. Principal-Agent-Ansatzes nicht den Kern der Herausforderungen, vor die sich der sächsische Web-, Wirk- und Stickwarenexport im Untersuchungszeitraum gestellt sah. Riskante Geschäftstransaktionen und der Vorstoß auf unbekannte Märkte stellten oft eher Notlösungen dar, die sich aus den Problemen des Marktzugangs ergaben. Es bereitete den sächsischen Textilexporteuren im 19. Jahrhundert sicher keine gro-
6. Eine andere Industrialisierung?
449
ßen Mühen und Kosten, sich über die Marktverhältnisse in Österreich oder in Frankreich kundig zu machen. Und es hätten sich wohl auch ohne weiteres vertrauenswürdige Geschäftspartner in diesen Ländern gefunden. Dies nützte aber wenig, wenn die eigenen Waren mit exorbitanten Abgaben belegt wurden oder ihre Einfuhr ganz verboten war. Ebenso wenig war dieses Problem mit dem Aufbau eigener Vertriebseinrichtungen zu lösen. Demnach gibt es kaum Anhaltspunkte dafür, dass die Genese des modernen Unternehmens, das Produktion und Vertrieb integriert, in den sächsischen Textilgewerben in entscheidender Weise von Motivlagen bestimmt war, die auf eine Reduzierung der Transaktionskosten bei der Vermarktung von Waren gezielt hätten. Möglicherweise besitzt aber diese Lesart mehr Erklärungspotenzial in Bezug auf die Produktionssphäre. Legen es also die empirischen Befunde nahe, dass der Übergang zum zentralen Produktionsbetrieb durch übergroße Transaktionskosten verursachende Principal-Agent-Beziehungen vorangetrieben wurde? Veranlassten demnach Defizite der Qualitätskontrolle, der Zwang zu termingenauer Lieferung und betrügerische Praktiken der beauftragten Arbeitskräfte die unternehmerisch aktiven Akteure, die Web- und Wirkwarenfertigung im „geschlossenen Etablissement“ unter ihrer eigenen Aufsicht und Leitung zusammenzufassen? Die Beantwortung dieser Frage wird zunächst einmal durch ein Quellenproblem erschwert, das sich mit dem inhärenten Bias des Principal-Agent-Modells verbindet. In der behördlichen Aktenüberlieferung des ausgehenden 18. und der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Klagen über die Unterschlagung von Garn, Wolle und Baumwolle, über den Missbrauch von Musterzeichnungen, über die Unzuverlässigkeit der Arbeitskräfte, die mangelnde Qualität der gelieferten Web- und Wirkwaren, die Ineffizienz der zünftigen Qualitätskontrolle u. ä. m. Es ist aber oft schwer zu ergründen, welchen Schaden diese Praktiken und Missstände tatsächlich für die Principals verursachten. Häufig wurden solche Stellungnahmen als Antworten auf amtliche Befragungen in wirtschaftlichen Krisenphasen abgegeben. Konkrete Vorstöße zur Behebung der beklagten Missstände verliefen dann allerdings oft im Sande, weil auch die Verlegerkaufleute daran wenig Interesse zeigten, zumal wenn sich in der Zwischenzeit der Gang der Geschäfte wieder gehoben hatte. Die einseitige Konstruktion des Prinicipal-Agent-Problems durch die NIÖ könnte hier den Blick für eine realistische Einschätzung der Beziehungen zwischen den Kontrahenten verstellen. Es lassen sich nun durchaus gewisse Tendenzen zur Integration bestimmter Teile und Stufen der Textilwarenproduktion in unternehmerisch geleiteten Betrieben ausmachen, die auch als Reaktion auf die eben genannten Transaktionskostenprobleme gedeutet werden können. Bei der Fertigung feiner hochwertiger Wollgewebe sowie bei der Herstellung seidener und halbseidener Stoffe ist die Tendenz zum zentralen Manufakturbetrieb schon seit dem 18. Jahrhundert erkennbar. Sie verstärkte sich in der Streichgarnwarenfertigung in den Jahrzehnten nach 1815. In der Baumwoll- und Mischweberei setzte die Verlagerung der Produktion in den geschlossenen Betrieb im Vormärz ein, allerdings wohl in einem eher beschränkten Maße. In allen diesen Fällen kann man annehmen, dass der Übergang auch vom Motiv getragen wurde, die Arbeitskräfte einer effektiveren Kontrolle zu unterwer-
450
6. Eine andere Industrialisierung?
fen. Gewöhnlich legten die Verwendung wertvoller Rohstoffe und/oder die Anschaffung kostspieliger Arbeitsgeräte – Jacquardwebstühle, Schermaschinen o. ä. – eine Beaufsichtigung der Arbeitskräfte nahe. Es handelte sich zudem bei den hier gefertigten Produkten oft um Modewaren, bei denen der Verkaufserfolg in beträchtlichem Maße an spezifischen Dessins und deren periodischem Wechsel hing. Daher kam es darauf an, eine möglichst akribische Umsetzung der Vorgaben des Auftraggebers in punkto Gewebedichte, Musterung und Appretur zu gewährleisten. Zudem bestand die Gefahr, dass Konkurrenten mit Raubkopien neu entwickelter Muster und Dessins das eigene Geschäft beeinträchtigten. Auch die Geheimhaltung von Farbmischungen und Appretur-Verfahren spielte wohl vor allem in der Wollwarenmanufaktur als Motiv für die Produktion im Eigenbetrieb eine bedeutsame Rolle. Doch sollte man auch noch andere, möglicherweise gewichtigere Gründe nicht übersehen, die für eine Zentralisierung der Produktion in diesen Branchen sprachen. Die bestehenden Einrichtungen der lokalen Zunfthandwerke konnten die spezifischen Qualitätsanforderungen für die Verarbeitung neuartiger und hochwertiger Artikel wohl oft nicht adäquat bewältigen. Gerade in den wollverarbeitenden Gewerben, wo die dezentrale Manufaktur zahlreiche, oft räumlich getrennte Produktionsstufen durchlief, brachte eine Konzentration des Betriebs Kostenersparnisse, die ins Gewicht fallen konnten. Sobald dabei Wasser- oder Dampfkraftanlagen für bestimmte Produktionsstufen eingesetzt wurden, ergaben sich hieraus Impulse für eine Eingliederung weiterer Fertigungsschritte. Bemerkenswerterweise blieb in diesen Tuch- und Flanellmanufakturen der Kern des Produktionsproresses, die Weberei, weitgehend ausgeklammert. Webstühle wurden hier oft nur für die Herstellung von Mustern aufgestellt. Demnach waren die Ansätze zur Zentralisierung der Produktion gerade in dem Bereich, in dem Transaktionkostenprobleme besonders augenfällig erscheinen, lange Zeit am schwächsten entwickelt. Ein Zentralisierungsschub in der Gewebeherstellung setzte in den verschiedenen Branchen und Revieren der sächsischen Textilwirtschaft im allgemeinen erst im Gefolge der Maschinisierung der Weberei und Wirkerei ein. In diesem Prozess wiederum kam der Senkung von Transaktionskosten allenfalls untergeordnete Bedeutung bei. Hier stand der Produktivitätsgewinn durch den Einsatz kraftgetriebener Maschinen im Vordergrund bzw. der Umstand, dass eine rentable Nutzung der Kraftanlagen vorerst nur bei einer Mindestanzahl von mechanischen Web- oder Wirkstühlen gegeben war. Die Maschinisierung eröffnete zudem für die Fabrikanten die Möglichkeit, billigere, unqualifizierte Arbeitskräfte zu beschäftigen. Im Übrigen setzte der Übergang zur Fabrik gerade dort am frühesten ein, wo die Qualitätskontrolle, die Unterschlagung kostspieliger Materialien oder die Geheimhaltung von Mustern am wenigstens akut waren – bei der Fertigung ungemusterter Stapelware. Der weitere Industrialisierungsprozess in den sächsischen Textilgewerben brachte schließlich Entwicklungen hervor, die den gängigen Interpretamenten der institutionenökonomisch orientierten Forschung zur Genese des modernen Unternehmens konträr entgegenstehen. Dezentrale Produktionsstrukturen bildeten sich gerade dort immer wieder neu, wo Principal-Agent-Probleme eigentlich besonders ausgeprägt hätten gewesen sein müssen: bei der Herstellung von relativ hochwerti-
6. Eine andere Industrialisierung?
451
gen Modewaren. Gerade in diesem Bereich kam ja der Qualitätskontrolle, der Einhaltung von Lieferfristen, der Geheimhaltung von Mustern und der Verhinderung von Materialunterschlagungen ein großer Stellenwert zu. In der Kleiderstoff-Buntweberei, in der Maschinenstickerei, zunehmend auch in der Strumpf- und Handschuhwirkerei hatte sich am Ende des Untersuchungszeitraums eine weithin typische Arbeitsteilung ausgeprägt: Die Fabrikunternehmen stellten überwiegend Stapelwaren her, während in den Lohnbetrieben und den Werkstätten der Heimarbeiter oft transaktionskostenanfällige Modeartikel gefertigt wurden – und zwar auch dann noch, als es technisch längst möglich war, solche Textilien maschinell zu erzeugen. Es liegt daher der Schluss nahe, dass die Transaktionskosten des dezentralen Produktionssystems nicht so hoch waren, dass sie dessen Vorteile in diesen Branchen aufhoben. Möglicherweise sorgten auch Veränderungen der institutionellen Rahmenbedingungen, etwa ein gesetzlicher Musterschutz seit Mitte der 1870er Jahren, hier für eine Reduzierung von Transaktionsrisiken. Dies würde allerdings auf eine genau umgekehrte Auswirkung der „institutionellen Revolution“ hindeuten: Je mehr formelle und informelle Arrangements die Transaktionskosten in der Produktionssphäre verminderten, desto geringer wurden die Anreize, zum integrierten Unternehmen überzugehen. Wie dem auch sei, die Vorteile eines dezentral organisierten Fertigungsbetriebs lagen für die Principals, allgemein gesprochen, in einem Gewinn an Flexibilität. Einmal eröffnete ihnen die Auswahl unter einer großen Zahl selbständiger Produktionseinheiten, die jeweils auf bestimmte Artikel, Dessins, Appreturverfahren usw. spezialisiert waren, die Möglichkeit, ein breites Warensortiment anzubieten und auf plötzliche Marktveränderungen rasch zu reagieren. Zum Zweiten waren die Märkte für Modewaren von regelmäßigen saisonalen Nachfrageschwankungen geprägt, die wiederum zu einer sehr unregelmäßigen Auslastung der Produktionskapazitäten führten. In manchen Monaten musste mit Hochdruck gearbeitet werden, in anderen Phasen des Jahreszyklus wurden bestenfalls einige Musterstühle beschäftigt. Das Outsourcing entband somit die Fabrikanten und Verleger vom Zwang, eigene Produktionskapazitäten zu unterhalten, die regelmäßig für längere Zeiträume still lagen. Letztlich wälzten sie damit die Risiken und Probleme eines volatilen Marktes auf ihre Agents ab. Ähnliche Vorteile aus einem dezentralen Produktionsregime zogen die unternehmerischen „Prinzipale“ schließlich, drittens, bei der Bewältigung der Unsicherheiten des Marktzugangs. Dies gilt in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vor allem für diejenigen Branchen, die einen größeren Teil ihrer Produktion auf dem nordamerikanischen Markt absetzten. Die Kapriolen der US-Zollpolitik förderten die Ausbildung flexibler Strukturen, die es erlaubten, ggf. rasch auf andere Artikel und Märkte auszuweichen oder auf plötzliche und zeitlich begrenzte Nachfrageschübe adäquat zu reagieren. Die notorischen Fluktuationen des transatlantischen Exports machten den Aufbau großbetrieblicher Produktionskapazitäten in den betroffenen Branchen einigermaßen riskant.
„Königreich Sachsen um 1910“ aus: Rudolf Schmidt, Sächsischer Volks-Schulatlas, Ausgabe B, Verlag von Velhagen & Klasing, Bielefeld, und Leipzig 1913, S. II–III.
7. ANHANG 7.1 TABELLEN Tab. 1: Im Vogtländischen Kreis gefertigte Musseline 1765–1824, Fünfjahresdurchschnitte (in Stück): Quinquennium
Stück
1765/69
33846
1785/89 = 100 20,4
1770/74
45862
27,7
1775/79
54356
32,8
1780/84
101635
61,3
1785/89
165667
100
1790/94
165432
99,9
1795/99
182103
109,9
1800/04
123677
74,7
1805/09
75031
45,3
1810/14
58227
35,1
1815/19
28581
17,3
1820/24
21848
13,2
(Quelle: Bein, Industrie, Anhang: Tabelle IIa) Tab. 2: In Chemnitz 1805/06 bis 1813/14 gefertigte Stoffe (in Stück) 1806/07 1807/08 1808/09 1809/10 1810/11 1811/12 1812/13 1813/14 Piquèes
871
701
feine Kattune etc. 22598 einfache Kattune
60385
388
345
19768
8753
10637
67697
68893
89120
220
105
57
20
11348
11992
10004
7065
93776
69808
62574
56386
(Quellen: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1521 (Loc. 11144, XIII./Nr. 1797), o. Bl. Bericht Dürisch, 6.10.1806: ebd. Nr. 1522 (Loc. 11147/XIII. 1903), Bl. 21: Bericht Dürisch, 26.4.1807: ebd. Bl. 83: Bericht Dürisch, 29.9.1807; ebd. Bl. 161: Bericht Dürisch, 29.9.1807; ebd. o. Bl. : Bericht Dürisch, 9.10.1808; ebd. Nr. 1523 (Loc. 11148/XIII. 1937), Bl. 39: Bericht Dürisch, 29.4.1809; ebd. Bl. 109: Bericht Dürisch, 29.9.1809; ebd. Bl. 170 f.: Bericht Dürisch, 17.5.1810; ebd. Bl. 228: Bericht Dürisch, 28.9.1810; ebd. Nr. 1524 (Loc. 11154/XIII. 2034), Bl. 12: Bericht Dürisch, 22.4.1811; ebd. Bl. 52: Bericht Dürisch, 2.10.1811; ebd. Bl. 90: Bericht Dürisch, 15.4.1812; ebd. Bl. 147: Bericht Dürisch, 30.9.1812; ebd. Bl. 193: Bericht Dürisch, 25.4.1813; ebd. Bl. 211: Bericht Dürisch, 29.4.1814; o. Bl.: Bericht Dürisch, 29.9.1814)
454
7. Anhang Tab. 3: In Chemnitz 1796, 1806 bis 1811 gefertigte Stoffe (in Stück) 1796
1806
1807
1808
1809
1810
1811
feine Piquèes und Wallise
15339
4905
4415
3885
4247
329
188
Cattonate, feine Cattune und Canevase
20212
23863
19067
10717
4755
11737
10991
ordinäre Cattune, bunte Tücher, Barchent
22725
53278
61196
60396
105313,5
128030
85236
Westen und Gilets
610
870
837
5430
1404
1736
halbseidene Tücher (Dutz.)
1054
980
731
620
130
110
(Quellen: HStAD 10078: Kommerziendeputation Nr. 1517 (Loc. 11131/XIII. 1454), Bl. 159: Bericht Dürisch, 6.5.1797; ebd. Nr. 1523 (Loc. 11148/XIII. 1937), Bl. 34 f.: Bericht Dürisch, 29.4.1809; ebd. Bl. 164: Bericht Dürisch, 17.5.1810; ebd. Nr. 1524 (Loc. 11154/XIII. 2034), Bl. 5: Bericht Dürisch, 22.4.1811; ebd. Bl. 87 f.: Bericht Dürisch, 15.4.1812) Tab. 4: Zahl und Ausrüstung der sächsischen Kattundruckereien 1812–1861: Jahr
Betriebe
Drucktische
Druckmaschinen
1812
52
859
–
1818
47
750
–
1825
60
668
?
1831
38
452
?
1837/38
39
997
7
1846
118
690
21
1861
62
1149
28
Die Zahlen für 1846 („Druckereien für Zeuge aller Art“), möglicherweise auch die für 1861 („Zeugdruckereien“) schließen die für Wollzeuge eingerichteten Druckereien mit ein. Unter den 28 Druckmaschinen des Jahres 1861 waren jeweils 14 Walzendruckmachinen und Perrotinen (Quellen: Kurrer, Zeugdruckerei, S. 11 f.; Mittheilungen des Statistischen Vereins 18, 1849, S. 53; ZSBI 1863, S. 29). Tab. 5: Anzahl und Ausstattung der sächsischen Baumwoll-Maschinenspinnereien 1806–1909 1806 Zahl Spindeln Spindeln pro Betrieb
1814
1830
1834
1837
1845
2
118
81
91
130
116
12800
276325
361202
375730
490325
471998
6400
2342
4300
4129
3771
4095
455
7.1 Tabellen
Tab. 5: Anzahl und Ausstattung der sächsischen Baumwoll-Maschinenspinnereien 1806–1909 (Forts.) 1848 Zahl Spindeln
1855
1861
133
133
154
541868
554868
707387
4074
4170
4593
Spindeln pro Betrieb
1875
1892
?
1909
42
52
524178
724217
1512763
?
17243
29092
Angaben für 1806 und 1814 ohne die 300 Spindeln des Thüringischen Kreises (Quellen: Engel, Baumwollenspinnerei, S. 10; Rätzer, Baumwollwarenmanufaktur, S. 96; HStAD 10078: Kommerziendeputation Loc. 11471, o. Bl.: Messrelation, Michaelismesse 1814; ZSBI 1863, S. 24; Niess, Baumwoll-Spinnerei, S. 53; Sarfert, Vigognespinnerei, S. 47) Tab. 6: Hausgewerbliche Betriebe in der sächsischen Textilindustrie 1882–1907 1882
1895
1907
Zahl der Betriebe: Weberei Wirkerei/Strickerei Stickerei/Spitzen
45.140 20.426 4.467
27.813 13.798 6.676
17.259 13.397 10.095
Beschäftigte: Weberei Wirkerei/Strickerei Stickerei/Spitzen
56.328 29.513 6.741
36.307 19.211 13.057
22.879 14.801 19.437
davon weiblich: Weberei Wirkerei/Strickerei Stickerei/Spitzen
14.489 4.541 4.745
(= 25,7 %) (= 15,4 %) (= 70,4)
13.923 8.116 8.686
(= 38,3 %) (= 42,2 %) (= 66,5 %)
12.696 10.087 11.565
(= 55,5 %) (= 68,2 %) (= 59,6 %)
(Quelle: Krebs, Hausgewerbe, S. 310) Tab. 7: Größenstruktur der sächsischen Webereibetriebe nach Branchen 1895 in Prozent (ohne Hausgewerbe bzw. „Alleinbetriebe ohne Motoren“): 5 und weniger Beschäftigte
6–20 Beschäftigte
21–50 Beschäftigte
51–100 Beschäftigte
mehr als 100 Beschäftigte
Wolle
67,5
9,7
11,3
7,2
4,2
Baumwolle
85,3
5,6
2,6
1,5
5
gemischt
70,1
12,4
6
3,8
7,7
Leinen
93,4
3,4
1
1,2
0,9
andere
64,6
8,3
10,4
8,3
8,3
Weberei insg.
79,1
7,6
5,4
3,6
4,3
(Quelle: ZSSL 44, 1898, S. 134 f.)
456
7. Anhang
Tab. 8: Größenstruktur der sächsischen Webereibetriebe mit mehr als 10 Beschäftigten nach Branchen 1895: Betriebe (absolut)
11–50 Beschäftigte
51–200 Beschäftigte
Wolle
295
57,6 %
36,9 %
12,3 %
Baumwolle
121
45,5 %
34,7 %
19,8 %
gemischt
166
47,0 %
34,3 %
19,8 %
Leinen
41
48,8 %
46,3 %
4,9 %
andere
15
46,7 %
33,3 %
20,0 %
638
51,7 %
36,4 %
12,3 %
insg.
über 200 Beschäftigte
(Quelle: ebd.) Tab. 9: Wert des Exports von Wirkwaren aus dem US-Konsulatsbezirk Chemnitz in die USA (in US $): Handschuhe
Strumpfwaren
H : Sa
insgesamt
1877
969.158
2.175.984
31 : 69
3.145.142
46
1886
1.780.205
5.374.463
25 : 75
7.154.668
105
1890
1.538.509
6.969.184
18 : 82
8.507.693
124
1894
532.765
4.367.345
11 : 89
4.900.110
72
1895
1.063.242
5.463.971
16 : 84
6.527.213
95
1899
583.994
3.270.394
15 : 85
3.854.388
56
1907
3.878.732
8.583.276
31 : 69
12.462.008
182
1910
2.170.519
4.668.382
32 : 68
6.838.901
100
1910 = 100
a. Relation Handschuhe : Strumpfwaren (Quellen: Stadtarchiv Chemnitz Ratsarchiv Kap. V, Sektion II, Nr. 188, o. Bl.: Bescheinigungen des US-Konsulats Chemnitz über den Wert der gemeldeten Exporte für 1877 und 1886; 50 Jahre sächsische Volkswirtschaft, S. 47)
7.2 QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS 1. Archivalien
Staatsarchiv Chemnitz Bestand 30040: Kreishauptmannschaft (KHM) Zwickau Bestand 30045: Amtshauptmannschaft (AHM) Glauchau Bestand 30048: Amtshauptmannschaft (AHM) Plauen Bestand 30572: Gesamtregierung Schönburg Bestand 30927: VVB Deko, Plauen Bestand 31004: Maschinenfabrik Kappel, Chemnitz Bestand 31187: Fa. Ferdinand Ehrler KG und Nachf., Crimmitschau Bestand 31213: Fa. Kratz & Burk, Glauchau
7.2 Quellen- und Literaturverzeichnis
457
Bestand 31334: Fa. C. & F. Doehner GmbH, Lößnitz Bestand 31351: Fa. O. Görner jr., Strumpffabrik AG, Thalheim Stadtarchiv Chemnitz Ratsarchiv Kapitel V.: Polizeisachen, Sektion II: Commercial-, Manufactur- und Handels-Angelegenheiten Ratsarchiv Kapitel V.: Polizeisachen, Sektion III: Concessionen und Privilegien Hauptstaatsarchiv Dresden (zit.: HStAD) Bestand 10078: Landes-, Ökonomie-, Manufaktur- und Kommerziendeputation (zit.: „Kommerziendeputation“) Bestand 10736: Ministerium des Innern (zit.: „MdI“) Bestand 11726: August Hoffmann AG, Neugersdorf Bestand 13779: Dispatches from US-Consuls in Leipzig (Mikrofilmkopien aus den National Archives of the United States) Kreisarchiv Glauchau Stadt Glauchau. Akten des Stadtrats Unitätsarchiv Herrnhut Bestand Abraham Dürninger & Co. Stadtarchiv Hohenstein-Ernstthal Stadt Hohenstein, Abteilung IV: Gewerbe-, Markt- und Industriesachen, Abschnitt II: Innungen Textil- und Rennsportmuseum Hohenstein-Ernstthal Sammlungen zur Betriebsgeschichte Karton „Fa. C. F. Jäckel, Chronik“ Staatsarchiv Leipzig Bestand 20927: Leipziger Baumwollspinnerei AG Sächsisches Wirtschaftsarchiv Leipzig Bestand N 33 Nachlass Bodemer Stadtarchiv Limbach-Oberfrohna Rat der Stadt Limbach Stadtarchiv Plauen Bestand Fa. F. L. Böhler, Plauen Geschäfts- und Familienbücher Poeschmann-Schneidenbach Kreisarchiv Stollberg Gemeinde Auerbach: v45/Nr. 719: Familienchronik Kurth Stadtarchiv Zittau Abteilung IV: Gewerbepolizei, Abschnitt Ic: Allgemeine Innungsangelegenheiten betr., Abs. 2 K 3: Kaufmannsocietät
458
7. Anhang
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471
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472
7. Anhang
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7.2 Quellen- und Literaturverzeichnis
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474
7. Anhang
Karin Zachmann, Zur Transformation vorindustrieller Produktionsformen im Maschinisierungsprozess der Wirkwarenbranche, in: Sozialhistorische und Produktionstechnische Probleme der Mechanisierung der Volkswirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Hefte zur Wirtschaftsgeschichte 4/1991, S. 127–150. Bruno Zeeh, Die Betriebsverhältnisse in der sächsischen Maschinenstickerei, Borna, Leipzig 1909. Roland Zeise, Zur Rolle der sächsischen Bourgeoisie im Ringen um die wirtschaftspolitische Vormachtstellung in Deutschland in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Horst Bartel / Ernst Engelberg (Hg.), Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung 1871, Band 1, Berlin 1971, S. 233–270. Michael Peter Zerres, Die Wechselplätze. Eine Untersuchung der Organisation und Technik des integrierten und internationalen Zahlungsverkehrs Deutschlands in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M./Zürich 1977. Michael Zeuske, Deutsche „Hinterländer“ und Amerika. Die sächsischen Mitglieder der „Rheinisch-Westindischen Compagnie“ 1820–1830, in: ders. u. a. (Hg.), Sachsen und Lateinamerika. Begegnungen in vier Jahrhunderten, Frankfurt/M. 1995, S. 164–200. Dieter Ziegler, Die Industrielle Revolution, 2. Aufl., Darmstadt 2009. Wilhelm Zöllner, Geschichte der Fabrik- und Handelsstadt Chemnitz von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart, Chemnitz 1888. Zschopauer Baumwollspinnerei Aktiengesellschaft (vorm. Georg Bodemer). Gedenkschrift anlässlich der 100jährigen Wiederkehr des Tages der Inbetriebnahme der Spinnerei 1819–1919, Zschopau 1919. Zum 50jährigen Bestehen der Firma Gebr. Schüller jetzt: Gebr. Schüller Actiengesellschaft Baumwoll-Spinnereien und Zwirnerei in Venusberg, Gelenau, Weißbach und Griesbach, o. O., [1908] Friedrich Zunkel, Gewerbe- und Industrielandschaften von der Frühindustrialisierung bis 1914: Wolle, in: Hans Pohl (Hg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Stuttgart 1986, S. 254–283. Hartmut Zwahr, Zur Entstehung und Typologie sächsischer Unternehmer in der Zeit des Durchbruchs der Industriewirtschaft, in: Ulrich Hess/Michael Schäfer (Hg.), Unternehmer in Sachsen. Aufstieg – Krise – Untergang – Neubeginn, Leipzig 1998, S. 21–29. Hartmut Zwahr, Zur Klassenkonstituierung der deutschen Bourgeoisie, in: ders., Proletariat und Bourgeoisie in Deutschland. Studien zur Klassendialektik, Köln 1980, S. 86–145. Hartmut Zwahr u. a. (Hg.), Leipzigs Messen 1497–1997, 2 Bände, Köln u. a. 1999.
7.3 ABKÜRZUNGEN AHM AHR AZNI EHR Fs. GG HK HStAD HZ JEEH JEH JWG JRG KHM MCG
= = = = = = = = = = = = = = =
Amtshauptmannschaft American Historical Review Allgemeine Zeitung für Nazional-Industrie Economic History Review Festschrift Geschichte und Gesellschaft Handels- und Gewerbekammer Hauptstaatsarchiv Dresden Historische Zeitschrift Journal of European Economic History Journal of Economic History Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte Jahrbuch für Regionalgeschichte Kreishauptmannschaft Mitteilungen des Chemnitzer Geschichtsvereins
7.4 Glossar zur Textilwirtschaft MdI MF NASG NF NIÖ o. Bl./S. SHB SM SWA TRM VSWG ZfG ZSBI
= = = = = = = = = = = = =
ZSSB ZUG
= =
475
Ministerium des Innern Mikrofilm Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde Neue Folge Neue Institutionen-Ökonomik ohne Blatt-/Seitenangabe Sächsische Heimatblätter Scripta Mercaturae Sächsisches Wirtschaftsarchiv Leipzig Textil- und Rennsportmuseum Hohenstein-Ernstthal Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift des Statistischen Bureaus des Königlich-Sächsischen Ministeriums des Innern Zeitschrift des Königlich-Sächsischen Statistischen Bureaus Zeitschrift für Unternehmensgeschichte
7.4 GLOSSAR ZUR TEXTILWIRTSCHAFT 1. Produktionsverfahren Appretur: Sammelbegriff für die Endfertigung und Zurichtung von Geweben Bleichen: Entfärbung von Geweben Blockdruck: Textildruckverfahren mittels Druckplatten, die von Hand auf den Stoff gepresst werden Dekatieren: Appreturverfahren für Woll- und Wollmischgewebe, um den Glanz zu vermindern und ein späteres Einlaufen zu verhindern Kämmen: Vorbereitung langfaseriger Wolle zum Verspinnen Kartenschlagen: Herstellung von Muster-Lochkarten für Jacquardvorrichtungen Kette: Die in Längsrichtung gespannten Garnfäden Klöppeln: Technik des Stickens mit Hilfe von spindelförmigen Holzklöppeln Krempeln: Teil des Vorspinnprozesses: erste Ausrichtung loser Textilfasern mittels „Karden“/„Kratzen“ zu einem Vlies. Mindern: Technik zur Regulierung der Strumpfbreite Noppen: Anbringen einzeln liegender kleiner Schlingen auf Geweben Rauen: Behandlung von Tuchgeweben nach dem Walken: Mit Karden werden Haare in die Höhe gezogen und glatt gestrichen Scheren (Ketten): Vorbereitungsschritt beim Weben: Anordnen und Anbringen der Kettfäden in einem Gestell („Scherrahmen“) Scheren (Tuche): Bearbeitungsschritt in der Tuchmacherei: Die Deckhaare des aufgerauhten Stoffes werden auf eine gleichmäßige Länge gebracht. Schuss: Die in Querrichtung zur Kette hinzugefügten („eingeschossenen“) Garnfäden. Spinnen: Herstellung von Garnfäden aus roher Wolle, Baumwolle usw. Spulen: Garn auf eine Spule bringen Sticken: Erzeugung von Mustern auf Geweben mittels Zwirnfäden Stricken: Herstellung von Geweben mit langen Nadeln durch Bildung von Maschen Walken: Behandlung von Wollstoffen, um eine verfilzte Oberfläche zu erzeugen und die Rohgewebe von Tierfett und Ölen zu reinigen. Weben: Herstellung eines Textilstoffes durch regelmäßige Verschlingung von Fäden. Wirken: Herstellung elastischer Gewebe mittels Bildung von Maschen Zäckeln: Einnähen elastischer Bänder (in Strümpfe, Handschuhe usw.)
476
7. Anhang
2. Werkzeuge und Maschinen Cottonmaschine: Flachwirkmaschine zur Herstellung regulär geminderter Strümpfe Fliegender Schütze: Vorrichtung zur Betätigung des Weberschiffchen an breiten Webstühlen Handkulierstuhl: klassischer im 16. Jahrhundert erfundener Strumpfwirkerstuhl Jacquardvorrichtung: Lochkartensystem zur automatischen Übertragung von Webmustern Kettenstuhl: Strumpfwirkstuhl zur Fertigung gemusterter Ware Krempelmaschine: Vorspinnmaschine, die aus Rohwolle ein Vlies fertigt Mule: von Samuel Compton 1779 entwickelte Spinnmaschine, zunächst hand-, später kraftbetrieben Pagetstuhl: Wirkmaschine zur Herstellung regulär geminderter Strümpfe Pantograph: Instrument zur Übertragung von Mustern auf Stickmaschinen Perrotine: Textildruckmaschine, bei der Druckplatten verwendet werden Rändermaschine: Maschine zur Anbringung elastischer Bänder in Wirkwaren Rundstuhl: Wirkmaschine zur Herstellung von schlauchförmigen Gewirken Schaftstuhl: Handwebstuhl, bei dem das Heben und Senken der Kettfäden über Schäfte gesteuert wird Schiffchenstickmaschine: kraftgetriebene Stickmaschine Schlagmaschine: Maschine zur Auflockerung der Rohbaumwolle Selfaktor: automatisch arbeitende Spinnmaschine Spinning Jenny: von James Hargreaves 1764 erfundene Handspinnmaschine Streckmaschine: Vorrichtung, um Fasern vor dem Spinnen parallel anzuordnen Walzendruckmaschine: kraftgetriebene Textildruckmaschine, bei der Stoff über rotierende Kupferwalzen läuft. Water Frame: von Richard Arkwright 1769 entwickelte kraftbetriebene Spinnmaschine
3. Produkte und Artikel Barchent: Mischgewebe aus Leinenkette und Baumwollschuss Beryll: Bedruckter Wollstoff Bobinet: maschinengefertigtes Tüllgewebe Bombassin: dichter, weicher Kammgarnstoff Buckskin: gewalkter, gerauhter Anzugstoff aus Streichgarn Cachemir: feiner Kammgarn-Kleiderstoff Cachenez: feines transparentes Misch-Gewebe (Chiffon) Calico: buntbedrucktes Kattun Cambray/Cambrick: leichtes Baumwoll- oder Baumwoll-Leinengewebe mit farbigem Schuss (meist kariert oder gestreift) Camlot/Camelot: feiner Kammgarnstoff Canevas: Leinen- Halbleinen- oder Baumwollstoff in verschiedenen Feinheitsgraden Casimir: feines Streichgarn- oder mit Kammgarn gemischtes Gewebe Cassinet: Buckskin-Gewebe aus Baumwollzwirnkette und Streichgarnschuss Chenille: Gewebe mit samtartiger Oberfläche hergestellt aus raupenartigen Garnfädem Circassien: Kleiderstoff aus Streichgarn, auch Mischgewebe Cottonade: Buntgestreifter Baumwollstoff Crea: dichter Leinenstoff; später auch Baumwollstoff Crepe Rachel: Baumwoll-Kammgarn-Mischgewebe Cut-Ups: ausgeschnittene und zusammengenähte Wirkwaren. Damast: gemustertes, aus hochwertigen und glänzenden Materialien hergestelltes Gewebe für Tischdecken, Servietten, Möbelbezüge u. ä. Flanell: melierte, gerauhte Streichgarngewebe mit weicher Haardecke, auch als Baumwollflanell produziert
7.4 Glossar zur Textilwirtschaft
477
Futterkattun, Futtermusselin: Baumwollene Gewebe, die als Schutzschicht zwischen Oberstoff und Leibwäsche dienen. Geschnittene Ware: siehe „Cut-Ups“ Gingham: aus gefärbtem Baumwollgarn hergestellter, karierter oder gestreifter Stoff. Golga: bedruckter Flanellstoff Jaconet: leichte glatte Futterstoffe aus Baumwolle Kammerstoff: siehe „Cambray“ Kammgarn: aus langen gekämmten Wollfasern erzeugtes Gespinst Kammzug: für die Kammgarnspinnerei vorbereites Wollfaser-Band, Endprodukt der Wollkämmerei Kattun: glatter, dichter Baumwollstoff, gefärbt oder bedruckt. Kongress-Stoff: starkfädiger Vorhang- und Stickereigrundstoff aus Baumwolle Lama: Kammgarn- oder Kammgarn-Mischstoff Merino: weiches Kammgarngewebe aus Merinowolle Mohair: glänzender Kammgarnstoff Moleskin: kräftiger einfarbiger Baumwollstoff Molton: gerauter Streichgarnstoff Mousselines de Laines: leichter Kammgarnstoff Mull: dünnes, durchsichtiges Baumwollgewebe Mungo: aus Wollabfällen gefertigtes Garn geringer Qualität Musselin: dünner, leichter Baumwollstoff Nanking: einfacher, gefärbter oder bedruckter Baumwollstoff Nansoc: glatter, leichter, weißer Baumwollstoff Napolitaine: feines Kammgarngewebe Orleans: Gewebe aus Baumwollkette und Kammgarnschuss Petinet: leichtes, durchsichtiges, gazeartig gewirktes Gewebe Piquèe: Baumwollgewebe mit musterbildender, straff gespannter Steppkette und Füllschuss. Plaid: feiner, bunter Kammgarnstoff Platilla: weiß gebleichter Leinenstoff Poil de Chèvre: feines Baumwoll-Kammgarn-Mischgewebe, z. T. mit eingewirkter Seide Pure Lain: feiner Kammgarnstoff Rips: geripptes Gewebe Rollbook: steif appretierter Baumwollfutterstoff für Damenhüte Shirting: einfacher Baumwoll-Hemden- und Futterstoff Shoddy: aus Wollabfällen hergestelltes Garn besserer Qualität Spanish Stripes: tuchartiges appretiertes Streichgarngewebe Spitze: durchbrochenes, geklöppeltes oder gesticktes Gewebe Stickboden: Grundgewebe für die Stickerei Streichgarn: aus ungekämmten, kurzen gekräuselten Wollfasern hergestelltes Garn Tarlatan: leichter transparenter Baumwollstoff Thibet: feines weiches Kammgarngewebe aus Merinowolle Tuch: gewalkter Wollstoff aus Streichgarn Tüll: netzartiges halbdurchsichtiges Gewebe für Gardinen, Schleier u. ä. Tüllspitze: auf durchbrochenen Spitzengrund applizierte Maschinenstickerei Vigogne: mit Baumwolle meliertes oder ganz aus Baumwolle hergestelltes Streichgarn Weißwaren: Sammelbegriff für ungefärbte, gebleichte Baumwoll- und Leinengewebe Worsted: englisch für „Kammgarn“ Zeug: leichter Wollstoff, der nicht oder nur wenig gewalkt wird Zwirn: aus zwei oder mehr Fäden zusammengedrehtes, relativ reißfestes Garn (Quellen: entsprechende Stichworte in: Krünitz, Encyclopädie; http//www.wikipedia.org; http//www. stofflexikon.com)
Nikolaus Olaf Siemaszko
Das oberschlesische Eisenhüttenwesen 1741–1860 Ein regionaler Wachstumssektor
regionale inDustrialisierung – BanD 6 Der autor Studium der Slavischen Philologie, der Mittleren und Neueren Geschichte und der Westslavischen Philologie an der Universität zu Köln. Promotionsstudium der Volkswirtschaftslehre an der Universität zu Köln. Langjährige Mitarbeit am Seminar für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität zu Köln, später Redakteur und Sales Manager in der Printmedienbranche.
Die Industrialisierung hat wie kaum ein anderes Ereignis die Lebensweise der Menschen verändert. Angesiedelt an einem Schnittpunkt zwischen Volkswirtschaftslehre, Geschichtswissenschaft und Geografie, leistet diese Arbeit einen neuartigen Beitrag zur Erforschung dieses Phänomens im 18. und 19. Jahrhundert. Nikolaus Olaf Siemaszko beleuchtet die Industrialisierung aus einer regionalen Perspektive und analysiert bisher weitgehend unbekannte Quellen. Im Zentrum steht dabei die Region Oberschlesien, einer der wichtigsten Wachstumsmotoren der deutschen Wirtschaft, sowie das Eisenhüttenwesen, der wichtigste Wirtschaftszweig dieser Region. Vor allem eine epochemachende technische Innovation nimmt der Autor in den Blick: die Nutzung des fossilen Energieträgers Steinkohle für die industrielle Produktion. Kritisch hinterfragt wird die Bedeutung des preußischen Staates als Modernisierungsträger.
410 Seiten mit 2 Abbildungen und 54 Tabellen sowie CD-ROM 978-3-515-09880-9 kartoniert
Hier bestellen: www.steiner-verlag.de
Hubert Kiesewetter
Die Industrialisierung Sachsens Ein regional-vergleichendes Erklärungsmodell
regionale inDustrialisierung – banD 5 Der autor Studium der Ökonomie, Philosophie, Geschichte und Wissenschaftslehre in Frankfurt a. M., Kiel, London und Heidelberg. 1973 Promotion zum Dr. phil. in Heidelberg, 1985 Habilitation an der FU Berlin. 1987/88 Konrad-AdenauerProfessor an der Geogetown Universität in Washington, D.C. Ab 1990 Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, seit 2004 im Ruhestand. Forschungsschwerpunkte: Deutsche, europäische und internationale Industrialisierung, Regionalanalyse, Wissenschaftstheorie und Philosophie.
Das Kgr. Sachsen war nach der Industrialisierung Englands der erste deutsche Staat, in dem nach den Napoleonischen Kriegen eine wirtschaftliche Entwicklung in Gang gesetzt wurde, die die ökonomischen Grundlagen völlig veränderte. Sachsen wurde zur Pionierregion der deutschen Industrialisierung. Das Buch behandelt die Ursprünge der Faktoren, die diesem ökonomischen Wachstumsprozeß zugrunde lagen, und die Wirkungen, die ihm im 19. Jahrhundert folgten. Aufgrund eines reichen Archivbestandes aus dem Sächsischen Staatsarchiv Dresden, das überwiegend erstmals ausgewertet wurde, und einem Faktorenmodell der (regionalen) Industrialisierung vergleicht der Band die wichtigsten Komponenten mit etwa 30 anderen deutschen Regionen ähnlicher Größe. So zeigt sich, welche Industrialisierungsfaktoren zu welchem Zeitpunkt unverzichtbar waren und welche im Laufe des 19. Jahrhunderts an Bedeutung verloren.
630 Seiten mit 65 Tabellen und 10 Schaubildern 978-3-515-08582-3 gebunDen
Hier bestellen: www.steiner-verlag.de
Ralf Banken
Die Industrialisierung der Saarregion 1815–1914 Band 2: Take-Off-Phase und Hochindustrialisierung 1850–1914
regionale industrialisierung – band 4 Anschließend an den ersten Band über die Frühindustrialisierung wird im vorliegenden Buch mit dem Konzept der regionalen Industrialisierung die Entstehung und der langfristige Strukturwandel der Saarindustrie für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dargestellt, wobei die marktwirtschaftliche und technologische Entwicklung der einzelnen Industriebranchen und Unternehmen im Vordergrund der Untersuchung steht. Nach 1850 setzte in der Region bis etwa 1870 ein extrem hohes Wachstum ein, das aufgrund der optimalen Standortbedingungen bis in die frühen 1870er Jahre anhielt und zu einer nie wieder erreichten Ausdehnung des Absatzraumes sowie der Marktanteile führte. In der folgenden Zeit bis zum Ersten Weltkrieg konnte die Saarindustrie ihre Marktstellung als eines der vier großen Montanreviere des Deutschen Reiches trotz stagnierender oder leicht sinkender Marktanteile mit einem weiterhin beachtlichen Wachstum behaupten, wobei die Eisenindustrie den Steinkohlenbergbau, der bis in die siebziger Jahre eindeutig den regionalen Führungssektor gebildet hatte, nach 1890 als Wachstumsmotor in der Region ablöste. „…Bankens Arbeit ist eine echte Pionierarbeit und zugleich eine der bedeutendsten wirtschaftshistorischen Veröffentlichungen der vergangenen Jahre, die für lange Zeit das Standardwerk zur Saarindustrie sein wird.“ Zeitschrift für Unternehmensgeschichte „… eine mustergültige Wirtschaftsgeschichte…“ Das HistorischPolitische Buch 653 Seiten mit 127 Abbildungen und Tabellen sowie 2 CD-ROM mit umfangreichem Datenanhang 978-3-515-07828-3 gebunden
„… ein Standardwerk“ Rheinische Vierteljahresblätter
Hier bestellen: www.steiner-verlag.de
Sachsen zählt zu den bedeutendsten deutschen Industrieregionen, der industrielle Wandel kam hier schon sehr frühzeitig in Gang. Die Industrialisierung in Sachsen verlief jedoch keineswegs als plötzliche „Revolution“. Sie gründete vielmehr in den jahrhundertelangen Vorläufen einer Gewerbelandschaft, in der vor allem Textilien erzeugt und in alle Welt exportiert wurden. Die Transformation der sächsischen Textilexportgewerbe seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts öffnet daher den Blick für das Szenario einer „anderen“ Industrialisierung: Industrielle Strukturen bildeten sich erst allmählich
über längere Zeiträume aus, große Fabrikunternehmen waren noch am Ende des 19. Jahrhunderts die Ausnahme, dezentrale Betriebsformen blieben erhalten oder prägten sich neu aus. Anders als die meisten Studien zur Industrialisierung beschränkt sich Michael Schäfer nicht auf den Bereich der Produktion, sondern nimmt zugleich die Sphäre des Marktes systematisch in den Blick. Er kann damit zeigen, wie der Zugang zu Rohstoff- und Absatzmärkten und die Konstellationen des Wettbewerbs auf diesen Märkten den Industrialisierungsprozess in den sächsischen Textilrevieren beeinflussten.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-11318-2
9
7835 1 5 1 1 3 182