Ein Kommentar zur Physik des Aristoteles: Aus der Pariser Artistenfakultät um 1273 [Reprint 2011 ed.] 9783110832198, 9783110032383


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German Pages 155 [160] Year 1968

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Vorwort
EINLEITUNG
1. Die Handschrift
2. Die Abfassungszeit
3. Die Beziehungen zwischen P und bereits bekannten Quellen
4. Der Verfasser
5. Mit P verwandte Quaestionen zur Physik
6. Überblick über den Inhalt des Werkes
TEXT
1. Quaestiones supra primum librum Physicorum
2. De quarto libro Physicorum
3. De octavo libro Physicorum
4. Tituli quaestionum
Verzeichnis der Quellen und Literatur
Namenregister
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Ein Kommentar zur Physik des Aristoteles: Aus der Pariser Artistenfakultät um 1273 [Reprint 2011 ed.]
 9783110832198, 9783110032383

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E I N K O M M E N T A R ZUR P H Y S I K D E S A R I S T O T E L E S

QUELLEN U N D S T U D I E N ZUR GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE HERAUSGEGEBEN VON

PAUL WILPERT +

BAND XI

1968

WALTER

DE

GRUYTER

& CO.

/

BERLIN

VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG . J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG · GEORG REIMER · KARL J. TRÜBNER VEIT & COMP.

EIN KOMMENTAR ZUR PHYSIK DES ARISTOTELES AUS DER PARISER A R T I S T E N F A K U L T Ä T UM 1273

H E R A U S G E G E B E N UND E I N G E L E I T E T VON

ALBERT ZIMMERMANN

1968

WALTER

DE

GRUYTER

& CO.

/

BERLIN

VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG . J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG . GEORG REIMER . KARL J. TRÜBNER · VEIT & COMP.

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Archiv-Nr. 34 96 681

© 1968 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag. Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp., Berlin 30 Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Ubersetzung, der Herstellung von Mikrofilmen und Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten Satz und Druck: Walter Gruyter & Co., Berlin — Printed in Germany

VORWORT

Mit dem vorliegenden Text beschäftigte ich mich zum erstenmal während der Studien für meine Dissertation über die Quaestionen des Siger von Brabant zur Physik des Aristoteles. Dem Plan, ihn zu veröffentlichen, und zwar wegen seiner Bedeutung für die Kenntnis der Pariser Artistenfakultät zur Zeit ihrer großen Blüte, stimmte H. Herr J. J. Duin, welcher als erster dieses Werk ausdrücklich in die Sigerforschung einbezogen hatte, zu. Dafür sei Herrn Duin nochmals gedankt. Trotz langen Suchens stieß ich nicht auf ein weiteres Exemplar dieses Kommentars zur aristotelischen Physik. Der Text stützt sich daher auf nur eine, glücklicherweise recht gute Handschrift. Herzlichen Dank schulde ich Frau Professor Marie-Therese d'Alverny, die mir zunächst einen Mikrofilm der Handschrift besorgte und dann bei der Arbeit in der Bibliotheque Nationale freundlichste Hilfe gewährte. Herrn Professor Bruno Nardi, Rom, danke ich für die Uberlassung seiner wichtigen Arbeiten über Siger von Brabant. Mein Dank gilt ferner den Mitarbeitern des Thomas-Instituts der Universität Köln, vor allem dessen Gründer, meinem Lehrer Prälat Professor D Dr. Josef Koch j, und dem verstorbenen Direktor Professor Dr. Paul Wilpert, der sich bereit fand, die Arbeit in den Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie erscheinen zu lassen. Herr Privatdozent Dr. Karl Bormann und Herr Dr. Heribert Fischer verpflichteten mich durch die überaus wertvolle Hilfe bei der kritischen Durchsicht des Textes. Dem Verlag sei für das Entgegenkommen bei der Drucklegung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Unterstützung gedankt. Wer das Für und Wider der Meinungen bei der Sigerforschung kennt, weiß, welche Bedeutung die Entdeckung eines Fragments von Quaestionen Sigers zur Physik des Aristoteles durch Frau Professor Dr. Anneliese Maier, Rom, hatte. Dieser Fund und die große Hilfe, welche mir die Entdeckerin bei dessen Publikation gewährte, bildeten den Ausgangspunkt auch der vorliegenden Veröffentlichung. Darum sei Frau Professor Maier an dieser Stelle ganz besonders gedankt. Köln, im Juni 1967

Α.

Z.

INHALT Seite

Vorwort EINLEITUNG 1. Die Handschrift 2. Die Abfassungszeit 3. Die Beziehungen zwischen Ρ und bereits bekannten Quellen a. Ρ und der Physikkommentar des Thomas von Aquin b. Ρ und die Werke des Siger von Brabant c. Ρ und die Verurteilung von 1277 d. Zusammenfassung 4. Der Verfasser 5. Mit Ρ verwandte Quaestionen zur Physik 6. Uberblick über den Inhalt des Werkes a. Allgemeiner Überblick und Gliederung b. Die wichtigsten Lehren α. Die Quaestionen zum ersten Buch ß. Die Notizen zum vierten Buch y. Die Notizen zum achten Buch TEXT 1. 2. 3. 4.

Quaestiones supra primum librum Physicorum De quarto libro Physicorum De octavo libro Physicorum Tituli quaestionum a. Liber primus b. Liber quartus c. Liber octavus

Verzeichnis der Quellen und Literatur Namenregister

V IX XI XIII XIV XV XIX XXVII XXIX XXX XXXVII XL XL XLI XLI XLV XLVII 1 3 73 89 99 99 100 100 102 106

EINLEITUNG

XI

Angesichts der großen Zahl noch unveröffentlichter Aristoteleskommentare des 13. und 14. Jahrhunderts muß man sich fragen, nach welchen Gesichtspunkten zu beurteilen ist, ob ein Text die Mühe einer Edition lohnt oder nicht. Das hier vorliegende Fragment, welches Quaestionen zum ersten Buch und Exzerpte aus einer Erklärung des vierten und achten Buches der aristotelischen Physik enthält, dürfte es jedenfalls wert sein, der Forschung vollständig zugänglich gemacht zu werden, um so mehr, als es schon gelegentlich erwähnt wurde und einige Auszüge die Aufmerksamkeit der Fachgelehrten erregten. Der Text wird auf jeden Fall dazu beitragen, neues Licht auf die Pariser Artistenfakultät im 8. Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts zu werfen, also in einem Zeitraum, der zu den bedeutendsten der abendländischen Philosophiegeschichte gehört1.

1. Die Handschrift Das Werk ( = P) befindet sich im Kodex fonds latin 16 297 der Bibliotheque Nationale in Paris. Den bereits veröffentlichten Beschreibungen ist nichts mehr hinzuzufügen2. Es sei nur noch einmal hervorgehoben, daß der Text von einem bekannten Lehrer der damaligen Zeit, Gottfried von Fontaines, geschrieben wurde. Die sehr gute Schrift erleichterte die Transskription beträchtlich. Ρ beginnt f. 117 ra mit einer kurzen Vorrede3. Es folgen bis f. 126 vb 35 allem Anschein nach lückenlos erhaltene Quaestionen zum ersten Buch der Physik des Aristoteles, genauer nur zu einem kleinen Teil dieses Buches, nämlich von textus 1 bis textus 30, also bis Kapitel 3,186 b 36. Die Quaestionen sind in Gruppen zusammengefaßt, zwischen denen sich jeweils ein Einschnitt befindet, in dem der Verfasser die dann folgenden Fragen anhand des Aristotelestextes rechtfertigt. Der Autor muß eine außer1 2

3

E. Gilson, History of Christian Philosophy in the Middle Ages, London 1955, S. 408f. P. Mandonnet, Siger de Brabant et l'Averroisme latin au XIII silcle, 2. Aufl., Les Philosophes Beiges, Löwen 1908—11, Teil 2, S. X I I — X V ; P. Glorieux, Un recueil scolaire de Godefroid de Fontaines, Recherchesde Thiol, anc. et mid, 3,1931, S.37—53; A. Graiff, Siger de Brabant, Questions sur la Mitaphysique, Philosophes Midievaux Band I, Löwen 1948, S. X V I — X X I ; J . Duin, La doctrine de la providence dans les icrits de Siger de Brabant, Philosophes Midiivaux Band I I I , Löwen 1954, S. 130—135. Diese Vorrede wurde veröffentlicht von: Β. Haureau, Notices et extraits de quelques manuscrits latins de la Bibliotheque Nationale, Band V, Paris 1892, S. 102; P. Mandonnet, Siger de Brabant. . . Bd. 1, S. 222 Anm. 3; J . Duin, La doctrine . . . S. 191f. S. auch E. Gilson, History . . . S. 399.

XII

ordentlich gründliche Kommentierung der Physik geplant haben, falls er das ganze Textbuch in derselben Weise hat bearbeiten wollen. Die Quaestionen sind wenigstens einmal nachgesehen worden, wie zahlreiche Verbesserungen und eine Reihe von Ergänzungen zeigen. Einige Male war es nicht leicht, die Ergänzungen an der richtigen Stelle einzuordnen, vor allem in der Quaestio 35, weil sie sich nicht alle auf f. 126 vb unterbringen ließen, während Gottfried anscheinend keinen anderen Platz mehr zur Verfügung hatte. Von f. 127 ra bis 129 rb folgen Exzerpte und Notizen, die aus einer Erklärung des vierten Buches der Physik stammen. Daran schließen sich ebensolche Texte zum achten Buch an, und zwar von f. 129 rb bis 130 vb. Hier handelt es sich wahrscheinlich um eine unmittelbare Vorlesungsnachschrift oder eine Abschrift davon. Es dürften wohl auch hier stellenweise Quaestionen zugrunde gelegen haben, von welchen meistens nur die corpora, manchmal auch andere Teile festgehalten wurden, leider fast immer nur in kurzer Form. Auch dieser Teil der Handschrift ist überarbeitet und weitgehend fehlerfrei. Die Aristotelestexte, auf welche sich die Exzerpte beziehen, sind über beide Bücher verstreut und hängen nicht so zusammen, wie es bei den Quaestionen zum ersten Buch der Fall ist. Man darf annehmen, daß die Exzerpte von f. 127 ra bis 130 vb aus dem Werk oder der Vorlesung eines und desselben Verfassers stammen. Die Handschrift weist keinerlei Einschnitte auf. Gottfried von Fontaines begnügt sich vielmehr mit einer einzigen Kennzeichnung am Rande: „De VIII 0 Physicorum" (f. 129rb). Schwieriger ist dagegen die Frage, ob dieses Stück von demselben Autor herrührt, dem wir die Quaestionen zu Buch 1 verdanken. Sie ist nicht oder noch nicht endgültig zu beantworten. J. Duin macht darauf aufmerksam, daß mit f. 127 r eine neue Lage des Kodex anfängt, was durchaus bedeuten kann, daß die Fortsetzung der Quaestionen zum ersten Buch verlorengegangen ist und die folgenden Teile der Handschrift nichts mit ihnen zu tun haben, sondern von einem anderen Autor stammen4. Verweise finden sich nicht. Stilistische Untersuchungen helfen auch nicht; denn es ist sehr schwer, ausführliche Quaestionen mit Exzerpten zu vergleichen, wenn sie sachlich wenig miteinander zu tun haben. Es bleiben also nur inhaltliche Kriterien. Aber eine ganz überzeugende Basis liefern diese hier auch nicht. Immerhin läßt sich nichts entdekken, das gegen die Annahme eines und desselben Verfassers spricht, 4

J. Duin, La doctrine . . . S. 192 Anm. 55.

XIII

vor allem keinerlei Lehrunterschiede. Man kann vielmehr einige Gründe anführen, die diese Annahme recht plausibel erscheinen lassen. Zunächst einmal ist einwandfrei zu erkennen, daß sowohl die Texte zu Buch 1 wie die Fragmente zu den Büchern 4 und 8 von jemand verfaßt wurden, der seiner ganzen Einstellung nach zum Kreis der radikalen Aristoteliker der Pariser Artistenfakultät gehört, die stark von gewissen Gedanken des arabischen Aristoteleskommentators Averroes beeinflußt waren. Man stößt in den Quaestionen zum ersten Buch und an einer Stelle der Exzerpte über das achte Buch auf Sätze, die am 7. März 1277 von dem Pariser Bischof Stephan Tempier verurteilt wurden 5 . Die Erklärung des Ortes der äußersten Sphäre und der Bewegung im Vakuum aus den Notizen über das vierte Buch und die Gravitationslehre an einer Stelle aus den Notizen über das achte Buch folgen den Theorien des arabischen Denkers 6 . Ebenso klar ist zu erkennen, daß bei der Abfassung aller Teile von f. 117 bis f. 130 der Physikkommentar des Thomas von Aquin bekannt war und daß der Verfasser von Ρ sich auf dieses Werk bezieht. Stellenweise ist es Vorbild bei der Textauslegung, gelegentlich ist die Polemik eindeutig gegen Lehren des Thomas gerichtet. Im einzelnen wird auf diese Beziehungen noch eingegangen7. Führt man sie sich insgesamt vor Augen, dann scheint es durchaus denkbar, daß alle Texte auf denselben Verfasser zurückgehen, von dessen Erklärung der aristotelischen Physik Gottfried von Fontaines eben möglichst viel zu sammeln bestrebt war.

2. Die Abfassungszeit Über die Abfassungszeit von P, die schon untersucht worden ist, läßt sich folgendes ausmachen 8 : Der terminus a quo steht einigermaßen sicher fest; denn der Verfasser hat — wie schon bemerkt — den Physikkommentar des Thomas von Aquin benutzt 9 . Nun wurde dieses Werk nach unseren bisherigen Kenntnissen von Thomas 1269 oder 6 β

7 8 9

S. unten S. X X V I I — X X I X . Dazu Anneliese Maier, Nouvelles Questions de Siger de Brabant sur la Physique d'Aristote, Revue Philosophique de Louvain 44, 1946, S. 497—513; Les commentaires sur la Physique d'Aristote attribuis ä Siger de Brabant, α. α. Ο. 47, 1949, S. 334—350; Α. Zimmermann, Die Quaestionen des Siger von Brabant zur Physik des Aristoteles, Köln 1956, S. 132ff. S. unten S. X V - X I X . P. Glorieux, Un recueil. . ., S. 40—45; A. Graiff, Siger de Brabant. . ., S. X X I I . S. unten S. X V - X I X .

XIV

1270 begonnen und war spätestens 1271 vollendet10. Geht man davon aus, daß es als Ganzes bei der Abfassung von Ρ vorlag, so kann man als terminus a quo 1271 betrachten. Ein Hinweis auf die Richtigkeit dieses Schlusses wird auch durch die folgende Überlegung geliefert: Die mit Abstand längste Quaestio aus P : „Utrum in substantia rei diffinibilis sint multa in actu" befaßt sich mit einer Frage, die vor allem seit dem Jahre 1270 eine erhebliche Rolle bei den philosophischen und theologischen Diskussionen an der damaligen Pariser Universität spielte, nämlich dem Problem der Einzigkeit der Wesensform11. Der Verfasser legt offenbar großen Wert auf eine ganz ausführliche Erörterung. Er entscheidet sich übrigens für die Einzigkeit12. Als terminus ad quem kann mit Sicherheit die Verurteilung vom 7. März 1277 angesehen werden, denn die Sätze, die durch das Dekret des Bischofs Tempier betroffen wurden, dürften eine Zeitlang danach wohl kaum noch öffentlich gelehrt worden sein. Auch die Tatsache, daß es sich bei Ρ um ein Autograph Gottfrieds von Fontaines handelt, welches wahrscheinlich aus dessen Studentenzeit an der Artistenfakultät stammt, bestätigt diesen Schluß. Zugleich gestattet sie eine noch genauere Vermutung hinsichtlich der Abfassungszeit. Aus einem Verzeichnis der Studenten der Sorbonne wissen wir nämlich, daß Gottfried spätestens im Frühjahr 1274 dort eingeschrieben war, also mit dem Studium der Theologie begonnen hat. Glorieux hält sogar Ende 1273 für den spätesten Zeitpunkt, bis zu welchem das Autograph fertiggestellt war13. A. Graiff, der den Metaphysikkommentar des Siger von Brabant aus derselben Handschrift publiziert hat, legt die Abfassungszeit dieses Werkes zwischen 1272 und 127414. Ρ entstand also sicher zwischen 1270 und 1277, mit großer Wahrscheinlichkeit nach 1271 und vor 1274. 3. Die Beziehungen zwischen Ρ und bereits bekannten Quellen Da es sich bei Ρ um ein anonymes Werk handelt, muß natürlich die Frage nach dem Verfasser gestellt werden. Sie soll aber erst aufge10

11

12 13 14

Dazu M. Grabmann, Die Werke des hl. Thomas von Aquin. Eine literarhistorische Untersuchung und Einführung, 3. Aufl., BGPhM X X I I , 1—2, Münster 1949, S. 272ff. Dazu R. Zavalloni, Richard de Mediavilla et la controverse sur la pluralite des formes, Philos. Med. Bd. 2, Löwen 1951, S. 213f.; L. Hödl, Neue Nachrichten über die Pariser Verurteilungen der thomasischen Formlehre, Scholastik X X X I X , 2, S. 178—196. Vgl. S. X X I I I - X X V und S. 62-72. P. Glorieux, Un recueil. . ., S. 46f. A. Graiff, Siger de Brabant. . ., S. X X V I .

XV

griffen werden, wenn eine ausreichende Grundlage für ihre Diskussion bereitsteht. Diese kann nur durch innere Kiiterien geliefert werden. Es ist deshalb wichtig, zunächst einmal zu untersuchen, wie sich Ρ in das Bild einordnen läßt, welches wir uns von Lehre und Schriften der Pariser Universität in jener Zeit anhand bekannter Quellen machen können. Diese Untersuchung führt zu drei Ergebnissen, die für eine Einordnung von Ρ bedeutsam sind: Ρ hat enge Beziehungen zum Physikkommentar des Thomas von Aquin, Ρ hat enge Beziehungen zu den echten Werken des Siger von Brabant und Ρ enthält Thesen, die Gegenstand der Verurteilung von 1277 waren.

a) Ρ und der Physikkommentar des Thomas von Aquin Daß der Physikkommentar des Thomas als eine Art Vorlage bei der Abfassung von Ρ gedient hat, ist am deutlichsten in den Uberblicken zu erkennen, die den einzelnen Quaestionengruppen zum ersten Buch vorausgehen. So entspricht der Einschnitt nach der Quaestio 3 genau dem Einschnitt, den Thomas in der lectio 1, η. 6 des ersten Buches seiner Texterklärung macht15. Dasselbe gilt von dem Einschnitt nach der Quaestio 6, der sein Vorbild im Anfang der lectio 2 des Thomas hat. Hier geht die Entsprechung bis ins einzelne, wie der folgende Text vergleich zeigt. Ρ, I (S. 12, Z. 13—25). „Quia, ut apparet ex praemissis, a principiis universalibus tamquam magis notis est incipiendum, hunc ordinem prosequendo primo determinabimus de principiis universalibus scientiae naturalis, deinde de ipso ente naturaü sive mobili in communi, quod est subiectum scientiae naturalis.

Circa primum primo de principiis ipsius subiecti, scilicet entis 16

Vgl. unten S. 7.

Thomas, In Phys. 1,1. 2, n. 12. „Posito prooemio, in quo ostensum est, quod scientia naturalis debet incipere a principiis universalioribus, hie secundum praedictum ordinem incipit prosequi ea, quae pertinent ad scientiam naturalem. Et dividitur in duas partes, in quarum prima determinat de principiis universalibus scientiae naturalis, in secunda . . . de ente mobili in communi. Prima in duas: in prima determinat de principiis subiecti huius

XVI

mobilis in quantum huiusmodi, secundo de principiis doctrinae, scilicet scientiae naturalis. Circa primum primo secundum opinionem aliorum, secundo secundum veram sententiam, opinionem propriam Aristotelis. Quia vero per ea, quae ponuntur ab aliis, multa quae supponuntur in scientia naturali destruuntur, circa primum quaerendum est primo de his, quae ponuntur ab illis, secundo utrum contra illos debeat physicus disputare, tertio considerandum de his, quae accipiuntur ad disputandum contra illos . . .".

scientiae, idest de principiis entis mobilis in quantum huiusmodi, in secunda de principiis doctrinae... Prima autem in duas: In prima prosequuntur opiniones aliorum de principiis communibus entis mobilis, in secunda inquirit veritatem de eis . . . Circa primum tria facit:

Primo ponit diversas opiniones antiquorum philosophorum... secundo ostendit, quod aliquas earum prosequi non pertinet ad naturalem, tertio prosequitur opiniones improbando earum falsitatem".

Der Einschnitt nach Quaestio 8 ist an einem Text in lectio 2, n. 15 des Kommentars des Thomas orientiert. Hier ist die Entsprechung nicht so deutlich. Dagegen stimmt der Überblick nach Quaestio 11 von Ρ wieder bis in die Einzelheiten mit der Einteilung, die Thomas an den Anfang der lectio 3 stellt, überein. Mit mehr oder weniger starken Abweichungen gilt Analoges von den übrigen Texten, die sich in Ρ zwischen den Quaestionengruppen befinden. Nur ein deutlicher Unterschied fällt auf: Der Autor von Ρ teilt den Text nach Quaestio 13 bis Quaestio 27 etwas anders ein, als Thomas dies mit dem entsprechenden Aristotelestext tut. Ähnlich enge Beziehungen zum Physikkommentar des Thomas lassen sich auch innerhalb der Quaestionen von Ρ nachweisen. Dazu ein Beispiel: Thomas, a. a. Ο. 1. 1, n. 8. Ρ, I, q. 5, c. (S. 9, Z. 30—S. 10, Z. 5). „Quod autem universalia sint „Et ideo cognitio alicuius in universali est cognitio confusa, confusa manifestum est, quia . . . indistincta, imperfecta et quo- continent in se suas species in

XVII

dammodo in potentia. Quamquam enim cognitio animalis secundum quod animal sit cognitio alicuius determinati a non animali et sic quodammodo determinata, non tarnen est cognitio alicuius secundum animalitatem determinatam, immo sic cognoscens adhuc est in potentia ad cognitionem animalis secundum determinatam animalitatem. Cognitio enim sensitiva exit in actum sicut intellectiva, et est in ea ordo cuiusdam generationis. . .".

potentia, et qui seit aliquid in universali, seit illud indistincte, tunc autem distinguitur eius cognitio, quando unumquodque eorum quae continentur potentia in universali, actu cognoscitur; qui enim seit animal, non seit rationale nisi in potentia. Prius autem est scire aliquid in potentia quam in actu. Secundum igitur hunc ordinem addiscendi, quo procedimus de potentia in actum, prius quoad nos est scire animal quam hominem".

a. a. O. ad 3 (S. 10, Z. 18—23). „universalia considerata secundum se et absolute sunt universaliora et notiora diffinito. Sed secundum quod huiusmodi diffiniti diffinientia habent rationem partium et principiorum ad diffinitum et sic sunt minus nota quam diffinitum. Prius enim cognoscitur homo quam quod animal et rationale sint eius diffinientlcl · · · «

a. a. O. n. 10. „Sed dicendum, quod diffinientia secundum se sunt prius nota nobis quam diffinitum; sed prius est notum nobis diffinitum, quam quod talia sint diffinientia ipsius: sicut prius sunt nota nobis animal et rationale quam homo; sed prius est nobis notus homo confuse, quam quod animal et rationale sint diffinientia ipsius . .

Was für die Quaestionen aus Ρ zum ersten Buch gilt, gilt auch — wie schon gesagt — für die Notizen und Exzerpte über das vierte und achte Buch. Verweisungen auf die Parallelen finden sich in den Anmerkungen zum Text, so daß eine Nachprüfung leicht möglich ist. Als Beispiele seien die folgenden Stellen hier angeführt: Ρ, IV, De loco (S. 76, Z.23f.). „Dicere autem aliquid esse in loco per aliquid omnino extrinsecum, ridiculum est".

2

Zimmcrtnann Kommentar

Thomas, In Phys. IV, 1. 7, n. 477. „Cum igitur centrum sit omnino extrinsecum a sphaera ultima, ridiculum videtur dicere, quod sphaera ultima sit in loco per accidens ex hoc quod centrum est in loco".

XVIII

Die Ähnlichkeit der Ausdrucksweise fällt um so mehr auf, als in Ρ die Frage, in welcher Weise der äußersten Sphäre ein Ort zukommt, nicht so beantwortet wird wie von Thomas. Ρ folgt der Ansicht des Averroes, nach der die äußerste Sphäre nur beiläufig einen Ort hat, insofern sie nämlich ihrem Mittelpunkt, der Erde, konstant zugeordnet ist und dieser Mittelpunkt wesenhaft einen Ort besitzt. Ein weiteres Beispiel: Ρ, IV, De vacuo (S. 77, Z. 25—30). „Responsio autem dicens quid est id, quod significat nomen, est principium demonstrationis passionum de illo cuius est quid est, non principium ad sciendum si est. Hoc enim talis ratio praesupponit. Sed ratio dicens quid significat nomen est principium ad sciendum si est. Oportet enim praescire quid est quod dicitur per nomen, si debemus scire si est". Ρ, IV, De tempore (S. 83, Z. 30—33). „Sicut tempus se habet ad motum, sie instans ad illud, quod fertur. Et sicut se habet illud, quod fertur, ad motum, sie nunc ad tempus. Illud autem, quod fertur, est unum subiecto in toto motu, differens autem secundum esse sive secundum rationem".

Thomas, a. a. Ο. 1. 10, n. 507. „Sicut enim, cum dubitatur an aliqua passio insit alicui subiecto, oportet aeeipere pro principio quid, sit res, ita cum dubitatur de aliquo an sit, oportet aeeipere pro medio quid significat nomen. Quaestio enim quid est sequitur quaestionem an est".

Thomas, a. a. Ο. 1. 18, n. 585. „Sed sicut tempus sequitur ad motum, ita ipsum nunc ad id, quod fertur... Sic igitur se habet nunc ad tempus, sicut mobile ad motum. Ergo . . . sicut tempus ad motum, ita et nunc ad mobile. Unde si mobile in toto motu est idem subiecto, sed differt ratione, oportebit ita esse et in nunc, quod sit idem subiecto et aliud et aliud ratione".

Auch die Notizen über das achte Buch verraten, daß der Physikkommentar des Thomas benutzt wurde. Hier ist er nun ganz deutlich Gegenstand der Polemik. Auch dazu ein Beispiel16: M

Vgl. J. Duin, La doctrine . . S . 268, A r n 11.

XIX

Ρ, VIII (S. 91, Ζ. 33 — S. 92, Ζ. 1). „Unde non sufficeret... dicere quod principium temporis fuit, quia non prius fuit tempus, non quod prius non fuerit tempus, ita quod prius non remaneat affirmatum".

Thomas, a. a. Ο. VIII, 1. 2, n. 990. „Vel potest dici, quod cum dicitur principium temporis est ante quod nihil est temporis, ly ante non remanet affirmatum, sed negatur".

Der Verfasser von Ρ kritisiert in der Quaestio 13, in der er das Verhältnis Subjekt—Akzidens untersucht, nachdrücklich eine Lehre, die man in der Summa contra gentiles findet. Er kannte also offensichtlich auch dieses Werk von Thomas. Die Texte sind wiederum eindeutig: Ρ, I, q. 13, ad 3 (S. 25, Z. 13—21). „Non oportet autem, si deus potest facere aliquem effectum mediante eius causa, causa aliqua, quae est illius forma vel materia, quod possit illum effectum facere per se. Tunc enim contingeret, quod exsistentia solius dei exsisterent omnia entia in propriis eorum naturis et secundum eorum proprias rationes. Non oportet etiam, quod illud, quod potest causa primaria efficiens mediante secundaria efficiente, quod illud possit sine secundaria, eo quod effectus non fit sine causa ad effectum illum determinata potius quam ad oppositum. Primaria autem sie per secundarias determinatur".

Thomas, S. c. g. IV, c. 65. „Nec est impossibile quod accidens, virtute divina, subsistere possit sine subiecto. Idem enim est iudicandum de produetione rerum et de conservatione earum in esse. Divina autem virtus potest producere effectus quarumcumque causarum secundarum sine ipsis causis secundis . . .; quod accidit propter infinitatem virtutis eius, et quia omnibus causis secundis largitur virtutem agendi; unde et effectus causarum secundarum conservare potest in esse sine causis secundis".

b) Ρ und die Werke des Siger von Brabant Es gibt einige ganz deutliche Parallelen zwischen Ρ und den anerkannt echten Werken des Siger von Brabant. Diese wurden schon in einer früheren Arbeit aufgezeigt und sollen deshalb an dieser Stelle nur noch einmal angegeben werden17. 17



S. Anneliese Maier, Les commentaires . . ., S. 339ff; A. Zimmermann, Die Quaestionen . . S. 89ff.

XX

Die Quaestio 3 von Ρ stimmt nahezu vollständig mit der Quaes tio 6 des zweiten Buchs von Sigers Metaphysikkommentar überein. Die Erklärung des Begriffs „accidens" in der Quaestio 13 von Ρ entspricht bis in die Einzelheiten derjenigen aus Sigers Metaphysikkommentar, Buch 4, Quaestio 23. Auch in den Notizen zum vierten und achten Buch fallen Parallelen mit Sigers Schriften auf. Das gilt von der Theorie der Bewegung im Vakuum, von der Erklärung des freien Falls, von der Stellungnahme zur Frage einer Entstehung aus dem Nichts, von der Behandlung des Problems eines Anfangs der Zeit und schließlich von der Theorie der Bewegung der Himmelskörper. Als Vergleichsgrundlage dienen hier auch die „Quaestiones naturales", die „Impossibilia" und das Fragment von Quaestionen über das zweite Buch der Physik. Es kann allein aufgrund dieser zahlreichen und meist charakteristischen Parallelen nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß Ρ in engster Beziehung zu Lehre und Werk des Siger von Brabant steht. Dieser Schluß wird durch einen Vergleich zwischen Ρ und den jüngst entdeckten Quaestionen Sigers zu Metaphysik V—VII und zum Liber de causis voll und ganz bestätigt, wie die folgenden Beispiele zeigen18. Ρ, I, q. 13, ad 3 (S. 25, Z. 9—19). „Nec apparet aliqua, quae aliquando sunt in subiecto, aliquando exsistere sine subiecto lumine rationis naturalis, licet per miraculum credendum sit hoc posse fieri . . .". ,,Νοη oportet etiam, quod illud, quod potest causa primaria efficiens mediante secundaria efficiente, quod illud possit sine secundaria . . . " Ρ, IV, De aeternitate (S. 84, Z. 10—19). „Sicut cum intelligitur motus 18

19

Sigeri de Brabantia Quaestiones super librum De causis, q. 219. „Unde sophistice quidam arguunt credentes naturali ratione ostendere et demonstrare, quod causa primaria possit facere, quod accidens exsistat sine subiecto illius accidentis". „Dicendum est, quod causa primaria effectum causae secundariae non potest producere sine causa secundaria . . .".

a. a. O. q. 820. „sicut apprehensione prioris et

A. Dondaine-L. J. Bataillon, Le manuscrit Vindob. lat. 2330 et Siger de Brabant, Archivum Fratrum Praedicatorum XXXVI, 1966, S. 153—261. Den Verfassern sei für die schnelle Ubersendung eines Sonderdrucks dieses beachtenswerten Aufsatzes ausdrücklich gedankt. 20 a. a. O. S. 210f. a. a. O. S. 234.

XXI

secundum prius et posterius ea numerando intelligitur tempus, ita cum intelligitur aliquid ut habens unum esse non numeratum non divisum secundum prius et posterius, intelligitur aeternitas. Sicut enim tempus est mensura semper alio et alio modo se habentis, sic aeternitas est mensura semper eodem modo se habentis. Ex quo patet, quod aeternitas debet carere principio et fine, et etiam debet esse tota simul. Quod enim penitus est immobile et semper eodem modo se habet, caret principio et fine. Incipere enim et desinere non sunt sine motu. Sicut etiam in aeterno non est aliquid prius et aliquid posterius, sic et in aeternitate".

De tempore (S. 83, Z. 80 — S. 84, Z. 8). „Sicut tempus se habet ad motum, sic instans ad illud quod fertur. Et sicut se habet illud quod fertur ad motum, sic nunc ad tempus. Illud autem quod fertur est unum subiecto in toto motu, differens autem secundum esse sive secundum rationem. Cum ergo instans sit mensura mobilis sicut tempus motus, habebit unitatem secundum subiectum in toto tempore et diversitatem secundum esse, sicut et mobile. Si 81

a. a. O. S. 238.

posterioris in motu distinguendo et numerando ea tempus apprehendimus, sic in apprehensione uniformitatis essendi eius, quod est extra motum, aeternitatem apprehendimus. Et consistit ratio aeternitatis in apprehensione uniformitatis se habendi eius, quod est extra motum et omnino immutabile. Et sicut in aeternitate non succedit unum post alterum, ita aeternitas ipsa caret principio et fine, cuius ratio est: Omne enim, quod esse incipit, transmutationem recipit ad eius esse, et similiter quod esse desinit et sic finem habet, habet transmutationem ad eius non esse . . . ex his duobus notificatur nobis aeternitas, quia videlicet intransmutabilis carens termino, videlicet principio et fine, et quia etiam in aeternitate non est aliqua successio, sed tota simul exsistit". a. a. O. q. 11, c.21. „nunc temporis secundum substantiam acceptum in toto tempore unum et idem est substantialiter acceptum manens; nunc autem temporis secundum suum esse acceptum est aliud et aliud, nec permanet. Nunc enim temporis secundum substantiam acceptum est unitas eius quod fertur secundum substantiam suam in toto motu . . .; et sicut si non maneret substantia mobilis sed variaretur et discontinuaretur,

XXII

enim non esset unum instans secundum substantiam in toto tempore, non esset tempus continuum et unum, sicut si non esset in motu mobile unum secundum substantiam, non esset motus continuus et unus. Et si instans in tempore non variaretur secundum diversa esse, non esset tempus, quia nec esset successio, sicut et si mobile non variaretur secundum diversa esse, non esset motus". Ρ, VIII (S. 89, Z. 24ff.). „Sed contra: Exsistente ab aeterno causa, unde debet esse effectus, et habente ab aeterno causatum, unde debet esse causa, videtur quod effectus debeat esse aeternus . . .".

motus etiam esset huiusmodi, ita nisi nunc temporis esset unum in toto tempore, discontinuaretur tempus; unde sicut illud quod fertur continuat motum, ita et nunc continuat tempus. Nunc autem secundum esse consistit in unitate eius quod fertur secundum esse aliquod in spatio, secundum quod esse non dividitur, ita ut in illo esse uno sit prius et posterius esse . . a. a. O. q. 12, arg. 2 in opp.22. ,,procedens a causa agente exsistente ab aeterno in dispositione ilia secundum quam nata est esse causa illius effectus, habens ilia sui causa totum illud ab aeterno secundum quod debet esse illius causa . . . talis inquam effectus procedit ab ilia sui causa sine principio . . .".

Diese Beispiele seien noch durch folgende Hinweise ergänzt: Man vergleiche Ρ, VIII (Text S. 96, Z. 24ff.) mit der Quaestio 13 über De causis23, Ρ, VIII (S. 89—92) mit der Quaestio 12 über De causis24. Auch die neu gefundenen Quaestionen Sigers zu Metaphysik V— VII zeigen auffällige Parallelen zu P25. Vor allem ist eine Bemerkung Sigers wichtig, die sich unmittelbar auf eine Stelle aus Ρ beziehen kann. Siger untersucht in der Quaestio 1 zum fünften Buch der Metaphysik, 22 23 24 25

a. a. O. S. 239. a. a. O. S. 242. a. a. O. S. 2 3 8 - 2 4 1 . Man vergleiche z . B . die folgenden Quaestionentitel: Metaph. V, q. 2: „Utrum individua eiusdem speciei vel partes substantiae quantae differant secundum substantiam vel solo accidente" mit Ρ, I, q. 16; Metaph. V, q. 3: „Utrum nomen accidentis in concreto ut album vel symum significet multa" mit Ρ, I, q. 34. Da die erwähnten Quaestionen aus der Wiener Handschrift noch nicht publiziert sind, ist eine genaue Gegenüberstellung hier nicht möglich. Eine Edition der Wiener Quaestionen ist in Vorbereitung, wie P. Bataillon mitteilte.

XXIII

worin der Grund für die Unterschiedenheit der Individuen einer und derselben Art liege26. Dabei sagt er, er habe früher in der Ausdehnung dieses Prinzip gesehen, insofern die Ausdehnung ja Grund einer jeden Teilung ist. Diese Auffassung glaubt er nun revidieren zu müssen. Genau sie findet man aber in der Quaestio 15 des ersten Buches von P. Hier die Texte: Ρ, I, q. 15, ad 2 (S. 29, Z. 12—18) „non oportet quod illud, unde substantia individuatur, quod per ipsum substantiae ab invicem distinguantur. Nam hoc unum, quod est materia, quod per se individualiter exsistit potentia ens de se, licet non actu, huic lapidi individuationem praestat et alii etiam eiusdemspeciei. Quodautem hoc individuum ab illo differat, facit individualiter exsistens substantiae partibilitas per quantitatem". a. a. 0. q. 17, ad 2 (S. 34, Z. 20ff.) „materia, in quibuscumque exsistit, individualiter exsistit et per se. Distinctio tarnen individuorum est per materiae partibilitatem quantitate".

Sigeri de Brabantia Quaestiones super Metaphysicam V, q. 1, c. 27. „Consuevi alias dicere, quod materia tantum est illud, per quod aliquid est individuum et unum numero . . .". „sed quod aliquid habet exsistere singulariter et individualiter, hoc habet ex materia tantum, quod autem habet esse divisum et distinctum ab aliis individuis suae speciei, hoc habet ex aJio, scilicet ex illo, a quo habet divisionem, vel quod sit divisibile, scilicet a quantitate: Ita consuevi dicere alias".

Die einzige Unstimmigkeit, die sich bei einem Vergleich zwischen Ρ und den echten Werken Sigers zeigt, betrifft das vielumstrittene Problem der Einzigkeit der Wesensform28. In Ρ ist ihm die Ouaestio 35 — die weitaus längste übrigens — gewidmet. Der Verfasser setzt sich mit den Theorien auseinander, welche nur in der Annahme einer Mehrheit von Wesensformen in einem und demselben Seienden eine Erklärung für die Vielfalt der wesentlichen Bestimmungen sehen, die in der Definition zum Ausdruck kommen. Seine Ansicht formuliert er 29

27 28

,,Utrum singulare sit singulare et unum numero et individuum per materiam tantum", a. a. 0. S. 227—232. a. a. O. S. 229. Vgl. die ausführliche Darstellung in R. Zavalloni, Richard de Mediavilla . . .

XXIV

so: „Es ist zu sagen, daß die menschlische Wesensform in Sokrates als eine und einfache alles ist, was von ihm wesenhaft ausgesagt wird"29. Es wird also ausdrücklich festgestellt, daß die Wesensform des Sokrates und damit die eines jeden Menschen einfach ist. Nun wissen wir aber aus einer Reihe von Quellen, daß Siger von Brabant zwar stets die Einheit der menschlischen Wesensform gelehrt hat, daß er aber in der Seele des Menschen eine Zusammensetzung annahm. So heißt es in den „Quaestiones in tertium De anima": „Dicendum . . quod intellectivum non radicatur in eadem anima simplici cum vegetativo et sensitivo, sicut Vegetativum et sensitivum radicantur in eadem simplici ; sed radicatur cum ipsis in eadem anima composita. Unde cum intellectus simplex sit, cum advenit, cum suo adventu unitur vegetativo et sensitivo; et sic ipsa unita non faciunt unam animam simplicem, sed compositam"30. Hier spricht Siger also ganz klar von einer zusammengesetzten Seele des Menschen. Diese Auffassung wird ihm später auch noch häufig zugeschrieben, wie B. Nardi durch mehrere Zeugnisse nachweist31. Der offenbare Gegensatz zwischen den Aussagen: „Die Wesensform des Menschen ist einfach" und: „Die Seele ist zwar eine, aber zusammengesetzt und nicht einfach" erscheint als ein beachtliches Indiz für zwei miteinander unvereinbare Auffassungen, hinter denen nicht gut ein und derselbe Denker stehen kann. Dennoch ist die Folgerung nicht notwendig, und zwar aus zwei Gründen: Erstens verrät gerade die Quaestio 35 von Ρ eine unübersehbare Verwandtschaft mit zwei sicher echten Werken Sigers, nämlich dem Metaphysikkommentar und den Quaestionen über das zweite Buch der Physik32. Vor allem ein Vergleich mit der Quaestio 21 aus dem Fragment über Physik I I ist aufschlußreich. Deren Fragestellung ist genau dieselbe wie die der Quaestio 35 aus P, und auch die Grundzüge der Antworten sind ganz dieselben, was sich bis in die Terminologie hinein zeigt. Das bedeutet 29

80

Text. S. 67, Z. 9f.; vgl. Giles of Rome, Errores Philosophorum, hrsg. von J. Koch, Milwaukee 1944, S. 8, Z. 10—21. Der Text bei B. Nardi, L'anima umana secondo Sigieri, Giornale Critico della Filosofia Italiana 29, 1950, S. 317—325.

81

B. Nardi, Sigieri di Brabante nel pensiero del Rinascimento Italiano, S. 13 ff.

Rom 1945,

32

Vgl. Sigeri . . . Quaestiones in Meiaphysicam I I I , q. 14, ad 2, ed. A. Graiff S. 122, Z. 46 — S. 123, Z. 58; Quaestiones supra secundum librum Physicorum, q. 21, c., ed. A. Zimmermann S. 71 f. Eine Verwandtschaft zwischen diesen Quaestionen und einer der Quaestiones naturales ist auch sehr wahrscheinlich. Dazu Sigeri. . . Quaestiones naturales, ed. P. Mandonnet in Siger de Brabant. . ., Teil 2, S. 98f.

XXV

aber, daß die Quaestio 35 von Ρ keinesfalls schlechter in den Rahmen paßt, der durch die echten Werke Sigers bestimmt ist, als wenigstens ein zweifellos authentischer Sigertext. Im übrigen — und das ist der zweite Grund — ist der Gegensatz möglicherweise gar nicht so groß, wie es auf den ersten Blick erscheint. In Ρ und in den Quaestionen zum zweiten Buch der Physik geht es nämlich um die ganz allgemeine ontologische Frage, wie die Vielheit der Merkmale einer Definition zu erklären ist, genauer gesagt, ob dieser Vielheit nicht wenigstens zwei Formen entsprechen müssen, deren eine die gattungsbestimmende Form ist. Es ist also durchaus nicht gefragt, wie die Verstandestätigkeit des Menschen zu erklären sei. Sicherlich besteht zwischen beiden Fragen letztlich ein Zusammenhang, und es bleibt infolgedessen eine Unstimmigkeit. Diese zu beseitigen oder wenigstens befriedigend zu erklären ist aber in jedem Falle eine Aufgabe der Sigerforschung, ob man nun Ρ in eine solche Untersuchung einbezieht oder nicht33. Die Verwandtschaft von Ρ mit den echten Schriften Sigers zeigt sich auch noch in einem anderen Punkt. Es wurde schon dargelegt, daß der Verfasser von Ρ den Physikkommentar des Thomas ausgiebig benutzt hat, und zwar in einer ganz bestimmten Weise. Nun erkennt man aber bei einer Untersuchung von Sigers Erklärung der aristotelischen Metaphysik, daß bei der Abfassung dieses Werkes der Metaphysikkommentar des Thomas offenbar in derselben Weise benutzt wurde. Schon der Herausgeber, A. Graiff, macht darauf aufmerksam, daß Siger den Kommentar seines großen Zeitgenossen gekannt haben muß34. Er verweist im Apparat dreizehnmal auf Parallelen. Tatsächlich sind die Beziehungen zwischen beiden Werken noch enger, als man es nur aufgrund dieser Verweise annehmen sollte. Besonders fällt auf, daß Siger sich in den Commenta, also den einfachen Texterklärungen zwischen den Quaestionen, stellenweise direkt an den Kommentar des Thomas anschließt, vor allem bei den Einteilungen und der Ana33

Dabei dürfte auch die Quaestio 26 des Kommentars Sigers zum Liber De causis eine beachtliche Rolle spielen. Sie hat den Titel: „Utrum anima humana impressa sit corpori sicut forma et perfectio". Siger bejaht diese Frage und fügt hinzu: „anima intellectiva est corporis perfectio et forma, non sie tarnen sicut vegetativa et sensitiva; anima enim intellectiva sie corpus perficit, quod et per se subsistit, in suo esse non dependens a materia, de potentia materiae non edueta. Vegetativum autem et sensitivum sie sunt materiae perfectiones, quod per se non subsistunt et in suo esse dependent a materia, cum de potentia materiae educantur per generationem compositi. . .". S. A. Dondaine—L. J. Bataillon, Le manuscrit Vindob. lat. 2330 . . ., S. 253.

34

A. Graiff, Siger de Brabant. . ., S. XXII.

XXVI

lyse des Gedankenganges des Aristotelestextes35. Das ist ganz sicher kein Zufall. Auch die Identität des kommentierten Textes, aus der sich zwangsläufig Gemeinsamkeiten ergeben, kann das hohe Maß an Übereinstimmung nicht hinreichend erklären. Ein Vergleich mit zeitlich früheren Kommentaren zur Metaphysik, die möglicherweise für Thomas und Siger Vorbild waren, ergibt ebensowenig eine Erklärung. Die Werke des Roger Bacon, Adam Bocfeld, Galfridus von Aspal und auch Alberts des Großen weichen zu stark von Sigers und Thomas' Texten ab, wovon man sich leicht überzeugen kann. Nun erinnert die Art und Weise, wie in Ρ der Physikkommentar des Thomas benutzt wird, deutlich an Sigers Quaestionen zur Metaphysik. Es sind wiederum die Stücke zwischen den Quaestionen, bei denen die Erläuterungen des Thomas Vorbild sind. In Sigers Metaphysikkommentar sind diese Stücke allerdings länger als in Ρ und teilweise ein regelrechter Literalkommentar. Man muß aber auch berücksichtigen, daß dieses Werk mit Sicherheit nur durch die Nachschrift einer Vorlesung erhalten ist, in welcher ja primär die litera erschlossen werden sollte, während es sich bei den Quaestionen zum ersten Buch der Physik in Ρ um einen sorgfältig redigierten Text handelt, der höchstwahrscheinlich als selbständiges und zur Veröffentlichung bestimmtes Werk gedacht war. Es muß auch ausdrücklich in Erinnerung gerufen werden, daß Siger von Brabant nicht nur in den Quaestionen zur Metaphysik, sondern auch in noch wenigstens zwei anderen schon publizierten Werken starke Anleihen bei Thomas macht. In dem Fragment von Quaestionen zum zweiten Buch der Physik übernimmt er einige Artikel aus der Summa theologiae36. Die Impossibilia verraten eine nahe Verwandtschaft mit der lectio 12 des vierten Buches des Physikkommentars des Thomas37. Ebenso läßt sich in Sigers Quaestionen zum Liber 35

3β 37

Es sei auf folgende Beispiele verwiesen, die sich durchaus vermehren ließen: Man vergleiche A. Graiff, a. a. O. S. 33, Z. 40 — S. 35, Z. 84 mit Thomas von Aquin, In libros Metaphysicorum expositio, II, lectio 3, η. 305—311; Graiff S. 63, Z. 45 — S. 64, Z. 9 mit Thomas, a. a. O. lectio 4, η. 316—320; Graiff S. 73, Z. 98 — S. 74. Z. 39 mit lectio 5, η. 331—333; S. 82, Ζ. 3 — S. 83, Ζ. 43 mit III, lectio 1, η. 338—342; S. 202, Ζ. 55 — S. 203, Ζ. 88 mit IV, lectio 6, η. 597—602; S. 313, Ζ. 1—25 mit V, lectio 1, η. 80&—824; S. 331, Ζ. 45 — S. 334, Ζ. 35 mit V, lectio 6, η. 827—840; S. 336, Ζ. 62—70 mit derselben lectio, η. 841. S. Α. Zimmermann, Die Quaestionen . . ., S. 14 und 17f. Vgl. dazu den Apparat in C. Baeumker, Die Impossibilia des Siger von Brabant. Eine philosophische Streitschrift aus dem XIII. Jahrhundert, BGPhM II, 6, Münster 1898, S. 17 f.

XXVII

De causis der Einfluß des Thomas deutlich nachweisen, und zwar der Expositio des Aquinaten zu De causis, der Summa theologiae und des Kommentars zur Physik 38 . Es ist also absolut sicher, daß Siger sich die Arbeiten des Thomas ganz unvoreingenommen zunutze macht, ohne dabei aber im geringsten seine eigenen Positionen aufzugeben oder mit der Kritik an Thomas zurückzuhalten 39 . Genau denselben Eindruck vermittelt P. Die Übereinstimmung zwischen Ρ und echten Schriften des Siger von Brabant ist also ganz erheblich, und zwar in der Lehre, in Textstücken und in den offenbar typischen Beziehungen zu den Werken des Thomas von Aquin. Ρ paßt ganz genau in das Bild, welches man sich von Sigers Lehre und Arbeitsweise aufgrund unbestritten echter Quellen machen muß. c) Ρ und die Verurteilung von 1277 Diese Schlußfolgerung läßt sich eindrucksvoll bestätigen; denn bei Ρ handelt es sich um eines der Werke, welche dem Bischof Stephan Tempier den Stoff für sein Verurteilungsdekret vom 7. 3. 1277 lieferten. Siger war in den Kampf, der dieser Verurteilung voraufging, eng verwickelt. Schon die Vorrede von Ρ enthält das Programm derjenigen Artisten, die für eine uneingeschränkt selbständige Philosophie eintraten und die darin keinerlei Angriff gegen die Glaubenswahrheiten sahen, gerade weil die natürliche Vernunft und ihr Gegenstandsbereich nicht mit dem Licht der göttlichen Offenbarung und den Wundern, von denen diese handelt, vermischt werden dürfen 40 . Die Philosophie führt auf natürlichem Weg zu Erkenntnissen über das natürliche Verhalten der Dinge, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das natürliche Streben der Vernunft nach Wissen aufzugeben, weil es möglicherweise in Konflikt mit den Lehren des Glaubens gerät, hieße zugleich, dem, was geglaubt werden muß, den Charakter des Wunderbaren zu nehmen, der sich ja erst dann zeigt, wenn Vernunft und Philosophie am Ende sind. Das beeinträchtigt das Glaubensbekenntnis durchaus nicht, 38 39

40

A. Dondaine—L. J. Bataillon, Le- manuscrit Vindob. lat. 2330 . . S. 211. S. dazu A. Zimmermann, Die Quaestionen . . S. 17 f. und 122 und neuerdings A. Dondaine—L. J. Bataillon, a. a. O. S. 210: ,,11 faudra bien admettre une certaine Evolution de Siger vers une intelligence plus moderee du Philosophe. Toutefois que l'on ne s'y trompe pas: il abandonne peu de ses positions anterieures". Dazu E. Gilson, History . . ., S. 398f.

XXVIII

welches ja auch nicht verweigert wird, es gibt ihm vielmehr erst das eigentliche Gewicht. Diese Einstellung führt dazu, daß an den Stellen in P, an welchen die Lehre der Philosophen und die Offenbarung einander gegenübergestellt werden müssen, diese Konfrontierung sich in Sätzen niederschlägt, die das Verurteilungsdekret mehr oder weniger wörtlich enthält. Dazu die wichtigsten Beispiele41: 1. Ρ, I, q. 13, ad 3 (S. 25, Z. 3ff). „deus potest omne, quod habet rationem possibilis simpliciter. Est autem possibile de aliquo solum quod non est contrarium suae rationi".

Verurteilungsliste Satz Nr. 147. „Quod impossibile simpliciter non potest fieri a deo vel ab agente alio. Error, si de impossibili secundum naturam intelligatur".

2. a. a. Ο. (Z. 5ff.). „Cum ergo non esse in subiecto sit contrarium rationi accidentis, non habet rationem possibilis, sed impossibilis contradictionem implicantis".

Satz Nr. 140. „Quod facere accidens sine subiecto, habet rationem impossibilis implicantis contradictionem". Satz Nr. 141. „Quod deus non potest facere accidens esse sine subiecto nec plures dimensiones simul esse".

3. a. a. Ο. (Z. 17 ff.) ,,Νοη o p o r t e t . . . , quod illud, quod potest causa primaria efficiens mediante secundaria efficiente, quod illud possit sine secundaria . . .".

Satz Nr. 63. „Quod deus non potest in effectum causae secundariae sine ipsa causa secundaria".

4. q. 17,c. (S. 32, Z.34 — S.33, Z.4.) „Individua ergo plura eiusdem speciei simul exsistentia dif ferunt sola diversa positione suae materiae, et cum rationes distinctas habeant, ad eorum rationes

Satz Nr. 97. „Quod individua eiusdem speciei differunt sola positione materiae, ut Socrates et Plato, et quod forma humana exsistente in utroque eadem numero non est

41

Die Liste bei P. Mandonnet, Siger de Brabant. . ., Teil 2, S. 176—191. Einige dieser Lehren, die man in Ρ findet, werden auch von Aegidius von Rom unter den Irrtümern der Philosophen aufgezählt. S. dazu Giles of Rome, Errores . . . . S. 2 ff.

XXIX

oportet talia pertinere, ita quod Sor suo nomine dicit formam humanam in materia determinata et distincta positione a materia Piatonis".

mirum, si idem numero est in diver sis locis".

5. Ρ, VIII (S. 90, Ζ. 15ff.) „Unde si dicatur, quod causa prima voluit ab aeterno, quod mundus immediate inciperet, diceret Aristoteles, quod in ista forma voluntatis includuntur opposita . . .".

Satz Nr. 89 „Quod impossibile est solvere rationes Philosophi de aeternitate mundi, nisi dicamus, quod voluntas primi implicat incompossibilia".

6. a. a. O. (S. 92, Z. 5ff.) „De ratione enim motus novi est, quod requirat motum priorem factum vel in motore vel in mobili vel in utroque vel in aliquo alio, vel non dabitur causa illius novitatis".

Satz Nr. 39 „Quod a voluntate antiqua non potest novum procedere absque transmutatione praecedente".

7. a. a. 0. (S. 96, Z.23ff.) „dicendum, quodmotores caelestes sunt intrinseci. . ., sunt enim quaedam virtutes appetentes et intelligentes".

Satz Nr. 48 „Quod deus non potest esse causa novi facti nec potest aliquod de novo producere". Satz Nr. 92 „Quod corpora caelestia moventur a principio intrinseco, quod est anima, et quod moventur per animam et per virtutem appetitivam sicut animal. Sicut enim animal movetur, ita et caelum".

d) Zusammenfassung Faßt man die Feststellungen über die Beziehungen zusammen, die zwischen Ρ und bereits bekannten zeitgenössischen Quellen bestehen, so ergibt sich: 1. Ρ ist stark beeinflußt vom Physikkommentar des Thomas von Aquin, und zwar in zweifacher Hinsicht:

XXX

a) Das Werk des Thomas dient stellenweise als Vorbild sowohl bei der Texteinteilung wie auch bei einigen Lehren. b) Einige Lehren, die Thomas in seinem Physikkommentar vertritt, werden zurückgewiesen. 2. Ρ ist ein Zeuge für die Aristoteleskommentierung in der Pariser Artistenfakultät, welche durch die Verurteilung von 1277 getroffen wurde. 3. Ρ ist aufs engste mit den echten Werken des Siger von Brabant verwandt. Die Parallelen bestehen in a) einigen übereinstimmenden Textpassagen, b) einigen für Siger charakteristischen Lehren, c) der Benutzung von Schriften des Thomas von Aquin.

4. Der Verfasser In seinem Buch „La doctrine de la Providence dans les Berits de Siger de Brabant" stellte J. Duin im Jahre 1954 die These auf, es handele sich bei Ρ um ein Werk des Siger von Brabant42. Die Beweise, die er für diese These anführte, erwiesen sich bei einer näheren Untersuchung teilweise als nicht stichhaltig, teilweise sogar als geeignet, das Gegenteil der These zu begründen43. Die Zuschreibung allerdings ließ sich aufrechterhalten, soweit die oben dargelegten inneren Kriterien ein Urteil zulassen44. Tatsächlich wurde sie bis heute nicht bestritten. Es ist auch ganz ausgeschlossen, daß für irgendeinen anonymen Physikkommentar die Autorschaft Sigers besser begründet werden könnte als für P. Wie vorsichtig man dennoch mit einer endgültigen Zuschreibung sein muß, solange nur innere Kriterien eine Rolle spielen, beweist ein Fund, den Ch. J. Ermatinger gemacht hat und durch den das Problem der Autorschaft von Ρ von neuem aufgeworfen wird46. Die Analyse anonymer Quaestionen zu den acht Büchern der aristotelischen Physik aus den Kodices Vat. lat. 6758 f. 1 ra—43 vb ( = V) und Erfurt Ampi. F 349 f. 75 ra—117 rb ( = E) führte Ermatinger zu dem Schluß, es handele sich hier um zwei Exemplare eines 42 43

44 45

J . Duin, La doctrine . . ., S. 191—195. Anneliese Maier, Les commentaires . . .; A. Zimmermann, Die Quaestionen . . ., S. 97—101. A. Zimmermann, a. a. O. S. 89—97. Ch. J. Ermatinger, Additional Questions on Aristotle's Physics by Siger of Brabant or his school, Didascaliae, Studies in honor of Anselm Β. Albareda, New York 1961, S. 97—120.

XXXI

Werkes, dessen Verfasser entweder Siger von Brabant selbst oder einer seiner Schüler sein müsse. Ein wesentliches Argument ist die sehr enge Verwandtschaft dieser Quaestionen mit den anerkannt echten Schriften Sigers und mit P. Die Vorsicht, mit welcher Ermatinger die Autorfrage behandelt, wird der Unsicherheit, die angesichts der fehlenden äußeren Zeugnisse besteht, in wohltuender Weise gerecht, wenn man an die bisherige Geschichte der Sigerforschung denkt. Dies um so mehr, als die Übereinstimmungen von VE mit echten Werken Sigers, für die er einige Beispiele angibt, außerordentlich groß sind. Die Tatsache, daß VE nun mit Ρ so weitgehend übereinstimmt und zugleich beachtliche Parallelen mit unzweifelhaft echten Texten Sigers auf weist, zwingt dazu, folgende Fragen zu stellen und zu beantworten: 1. Sind Ρ einer- und VE andererseits verschiedene Nachschriften derselben Vorlesung oder desselben Werkes ? 2. Ist VE ein Werk des Siger von Brabant ? 3. Kann die Zuschreibung von Ρ an Siger aufrechterhalten werden ? Zur ersten Frage: Die von Ermatinger behaupteten engen Beziehungen zwischen Ρ und VE bestehen tatsächlich. Beispiele, wie er sie anführt, lassen sich beliebig vermehren. Es liegt also durchaus nahe, Ρ und VE auf dieselbe Quelle zurückzuführen. Dennoch sprechen schwerwiegende Gründe gegen diese Annahme. Ein genauer Vergleich von Ρ mit VE läßt nämlich Unterschiede erkennen, die sich nicht mit ihr vereinbaren lassen. Der auffälligste zeigt sich in den Einleitungstexten beider Werke. Ρ beginnt mit einer Vorrede, die in VE fehlt. VE beginnt mit einer Quaestio, die ihrerseits ganz den Charakter einer eigenständigen Einleitung hat, in welcher der bestimmende Gegenstand der Physik festgelegt wird. Diese Fragestellung wiederum fehlt in P4e. Nun ist Ρ sehr viel sorgfältiger redigiert. Die Vorrede könnte also durchaus bei der endgültigen Abfassung hinzugefügt worden sein. Aber dann ist nicht zu verstehen, warum die Quaestio 1 von VE, die ja ein wichtiges Problem behandelt, in der sorgfältigen Redaktion fehlt. Ein weiterer Unterschied zeigt sich in der Auswahl der Quaestionen. Der Vergleich kann sich hier nur auf den Teil des ersten Buches beziehen, der in Ρ kommentiert wird. Die Entsprechung der Quaestionentitel fällt sicherlich sofort auf. Aber es gibt Lücken. In VE fehlen die folgenden Quaestionen aus P: 3, 7, 13, 14, 17—19, 20, 23, 24, 26, 29, 46

Die einleitende Quaestio von VE erinnert an die Einleitung, die Siger seinen Quaestionen zur Metaphysik vorausschickt und in der dieselbe Frage nach dem Wissenschaftssubjekt erörtert wird. Zweifellos ist das eine Stütze für Ermatingers These.

XXXII

31—35, also immerhin siebzehn Quaestionen. Wichtiger noch als die Zahl ist aber, daß einigen dieser Quaestionen in Ρ eine besondere Bedeutung zukommt. So ist die Quaestio 13: „Utrum accidens sit separabile" dem Verfasser Anlaß, sich über das Verhältnis von Philosophie und Glaube in einer Weise zu äußern, die genau dem Geist der Vorrede entspricht 47 . Die Quaestio 35: „Utrum in substantia rei diffinibilis sint multa in actu" fällt schon durch ihre Länge auf. Ihr Gegenstand ist das Problem der Einzigkeit der Wesensform, an welchem der Verfasser von Ρ also offenbar sehr interessiert war48. VE legt auch nicht den starken Akzent auf die Behandlung naturphilosophischer Probleme, die einen großen Teil von Ρ ausmacht49. Im vergleichbaren Teil von Ρ fehlen zwei Quaestionen aus VE, nämlich Quaestio 1: ,,Quid est suppositum in hac scientia et quid subiectum et ad quem terminum se extendat scientia" (V f. 1 ra, Ε f. 75 ra) und Quaestio 22: „Utrum infinitum secundum quod infinitum sit ignotum vel incertum" (V f. 7 va, Ε f. 81 rb). Auch die Reihenfolge der Quaestionen mit gleichen oder ähnlichen Titeln in Ρ und VE ist häufig nicht dieselbe. Schließlich fehlt in VE die für Ρ charakteristische Gliederung der Quaestionen in Gruppen. Dies wäre an sich durch die sorgfältige Redaktion von Ρ zu erklären. Aber diese Gliederung verrät — wie hinlänglich gezeigt — als Vorlage den Physikkommentar des Thomas von Aquin. In VE ist von einer derartigen Benutzung des Werkes des Thomas nichts zu spüren, obwohl dieser genannt wird und der Autor sich mit ihm auseinandersetzt50. Außer diesen Unterschieden zwischen Ρ und VE zeigt ein Studium beider Texte noch weitere Abweichungen, die im einzelnen nicht angeführt werden können. Die Quaestionen in VE sind meistens länger als die entsprechenden in P. Auch das macht es schwierig, eine gemeinsame Quelle anzunehmen, die sich in Ρ als dem überarbeiteten Text doch jedenfalls deutlicher müßte erkennen lassen. Manchmal weichen die Quaestionen auch in ihrem Aufbau voneinander ab. Zum Schluß sei noch ein Unterschied erwähnt, der vielleicht nicht erheblich ist, der aber gut geeignet ist, den Vergleich abzurunden. Es handelt sich um die Frage, in welchem Sinn man den ersten Beweger 47 48 49 50

S. dazu oben S. XXVIII. S. dazu oben S. X X I I I — X X V . Vgl. Text, qq. 30, 32—34. VE VIII, q. 2: „Utrum philosophus hic intendit loqui de motu in communi vel de motu primo" (F f. 82 vb). Hier heißt es: „Et dicendum, quod quamvis aliqui sibi contrariarentur de hoc, sicut Thomas et Commentator . . .".

XXXIII

ein Unendliches oder Unbegrenztes nennen könne, eine Frage, die in der Quaestio: „Utrum indivisibile possit esse finitum vel infinitum" (Ρ, I, q. 21; VE q. 16, V f. 6 ra, Ε f. 79 va) besprochen wird. Hier zuerst die Texte: VE, q. 16, c. (Vf. 6 ra-b; Ε f. 79 va-b) Ρ, I, q. 21, c. (S. 39 f.) ,,Sed in substantia dicendum, „Indivisibile potest esse infinitum secundum substantiam ex quod indivisibile potest esse infieo quod carens fine, qui est finis nitum secundum substantiam. substantiae, sicut materia de se Unde materia indivisibilis est seinfinitam et indeterminatam ha- cundum se et infinita, quia non bet substantiam, quia in essentia magis determinata est ad hanc eius caret forma, quae est termi- formam nec ad illam nec in sua nus suae substantiae. Forma ratione cadit forma. Item forma, etiam, cum secundum se conside- quae secundum se nata est recipi rata indeterminata sit ad multa in multis, dicitur indeterminata et per materiam determinetur, et infinita. Determinatur autem ita quod efficiatur forma deter- per materia m sub dimensionibus minata huiusmodi rei, ipsa etiam determinatis. secundum se considerata, cum in Hoc modo dicitur primus moeius essentia non sit materia, per tor esse infinitus privative, quia quam determinetur ad hanc rem non est natus recipi in hanc mapotius quam ad aliam, infinitam teriam vel in illam. Sed pro tanto habet substantiam. dicitur infinitus, quia de sui raEt sic motor primus, cum sit tione non est determinatus ad esse purum per se subsistens non hanc materiam vel illam et quia determinatum ad aliquam natu- non est natus participare istam ram vel materiam reeipientem materiam vel illam. Ideo dico, ipsum, infinitum et indetermina- quod est infinitum privative, sicut tum esse habet negative, quia nec dico, quod planta non habet ocunatum determinari. Et hoc in- los. Unde COMMENTATOR: Pritendebat ANAXAGORAS dicens, mus motor omnibus imperat, quod intellectus primus est im- quod non faceret, si esset determixtus, ut universaliter imperet minatum. et omnia moveat. . . Si loquimur de infinitate seInfinitum autem secundum cundum quantitatem, tunc dicenquantitatem dicitur aliquid, quia dum, quod — cum infinitum dicat caret fine quantitatis. Sed hoc privationem — privatum vel pridupliciter, sicut et alia et alia vatio dicitur multipliciter: Uno privata: Uno modo si non habet modo quando aliquid caret aliquo, 3

Zimmermann Kommentar

XXXIV

aliquid natorum haben, quod ipsum etiam non est natum habere, sicut oculis dicitur privari planta. Alio modo si aptum habere non habeat, ut homo caecus dicitur privari visu. Primo modo indivisibile est infinitum secundum quantitatem carens fine quantitatis, qui natus est habere . . . Sed secundo modo indivisibile non est infinitum secundum quantitatem. Ad primum ergo dicendum, quod deus est infinitus secundum substantiam negative sicut visum est, non privative sicut forma materialis de se considerata vel materia. Est etiam infinitus non habens finem quantitatis, sicut et alia indivisibilia negative, non privative".

quod natum est haberi, non tarnen natum est ipsum habere, dicitur illud privatum. Unde cum planta careat oculis, quae nata sunt haberi, non tarnen a planta. Ista privatio est negatio. Et propter hoc nomina privationum ad negationes extendimus. Si hoc modo accipiamus infinitum per privationem finiti, sie indivisibile dicitur infinitum, quia non habet aliquod finiens nec natum est habere, et ista privatio est negatio. Alio modo dicitur privatum aliquo, quod natum est habere, sicut homo privatur oculis. Hoc modo non dicitur indivisibile infinitum, quia non est natum habere finitat em".

Wo liegt der Unterschied zwischen der Lehre von Ρ und der von VE ? In der Sache, um die es in der Quaestio geht, offenbar nicht; denn wenn auch der Verfasser von Ρ immer nur von einer negativen substantiellen Unbegrenztheit des ersten Bewegers spricht, während VE sie eine privative nennt, so ist diese verschiedene Terminologie insofern unerheblich, als VE die gemeinte privatio ausdrücklich auch als negatio bezeichnet. Genau hier erscheint aber jetzt der Unterschied: Für den Verfasser von Ρ ist nämlich privatio offenbar kein Gattungsbegriff, der als eine seiner Arten die negatio enthält. Sonst ist die betont scharfe Trennung von privativer und negativer Unbegrenztheit nicht zu verstehen. Nach Meinung des Autors von VE ist die negatio dagegen eine Art der privatio, so daß auch Negationen durchaus als Privationen bezeichnet werden können. Im übrigen ist Ρ gerade an dieser Stelle allem Anschein nach wieder von Thomas von Aquin beeinflußt, während in VE hier ein solcher Einfluß nicht spürbar ist51. Sicherlich ist das an sich keine sehr vielsagende Differenz. Aber sie bestätigt doch den Eindruck, der sich schon bei den vorher erwähnten 51

Vgl. Text S. 39 Anm. 3.

XXXV

Abweichungen zwischen Ρ und VE einstellt. Es kann sich bei Ρ einerund VE andererseits nicht um Kopien handeln, die unmittelbar auf ein und dieselbe Quelle zurückgehen. Dieser Eindruck wird auf jeden Fall dann zur Gewißheit, wenn man bei der Beurteilung der Verwandtschaft von Ρ mit VE als Maßstab die Übereinstimmung nimmt, die zwischen V und Ε besteht. Zur zweiten Frage: Soweit innere Kriterien einen Schluß zulassen, muß man Ermatinger recht geben, wenn er in VE „ein Werk Sigers von Brabant oder dessen Schule" sieht; denn die von ihm angeführten Parallelen zu sicher echten Werken Sigers halten jeder Kritik stand. Angesichts mancher Zuschreibungen von Texten an Siger auf Grund vermeintlicher oder auch tatsächlicher Übereinstimmungen überrascht — wie schon gesagt — die Vorsicht, mit der Ermatinger sich zur Autorfrage äußert. Jedenfalls kann diese Frage vorerst nicht anders beantwortet werden, als er es tut. Es gibt keinen überzeugenden Grund, Siger als Verfasser auszuschließen, und es gibt eine Menge sehr zuverlässiger inhaltlicher Parallelen, die durch die Annahme, VE gehe auf Siger zurück, erklärt werden. Zudem enthält auch VE Sätze, die von der Verurteilung durch Bischof Tempier betroffen sein können62. Zur dritten Frage: Was soeben über VE gesagt wurde, gilt auch von P, obwohl es sich um voneinander verschiedene Werke handelt. Auch die Parallelen von Ρ mit den echten Werken Sigers sind — wie gezeigt — außerordentlich groß, während sich keine einzige Abweichung findet, die eine Autorschaft Sigers unwahrscheinlich oder sogar unmöglich erscheinen ließe. Ρ und VE sind also, solange man sich auf lehrinhaltliche Kriterien stützt, beide durchaus geeignet, Siger zugeschrieben zu werden. Eine endgültige Entscheidung wird erst durch die weitere Forschung möglich werden. Dabei wird man aber unter allen Umständen im Auge behalten müssen, was inzwischen über die Beziehungen der Werke 62



Ζ. B. in der Quaestio: „Utrum aliquid possit fieri ex non ente", ad 2 ( F f . 7rb-va, Ε f. 81 rb): „Quantumcumque enim sit agens potens, transmutatio semper requirit subiectum. Unde si ipsum non possit aliquid facere per transmutationem ex aliquo, hoc non est propter diminutionem in ipso . . . Ideo dicit Commentator primum non facere illud, quod impossibile est fieri, non est agentis diminutio, immo hoc credere est error et deceptio. Unde nullus concederet, quod primum faceret simul contradictoria". Ferner stößt man bei der Besprechung der Frage nach Anfang oder Anfangslosigkeit der Welt auf ähnliche Äußerungen wie in P. — Übrigens handelt es sich bei V E auch nicht um denselben Physikkommentar, von dem uns unter Sigers Namen ein Fragment zu Buch I und II erhalten ist (ed. A. Zimmermann, Die Quaestionen . . .). Einzelheiten seien hier erspart.

XXXVI

Sigers zu denen des Thomas von Aquin festgestellt wurde. Welches Gewicht diesen Beziehungen bei der Beurteilung der Echtheitsfrage zukommt, ist vorerst allerdings nur Gegenstand von Theorien. Die nun folgende abschließende Überlegung zur Frage, wer der Verfasser von Ρ ist, muß deshalb mit den Vorbehalten angestellt und gewürdigt werden, die sich aus dem Gesagten ergeben. Was kann über den Autor mit Sicherheit gesagt werden ? Zu welcher begründeten Vermutung besteht Anlaß ? Der Verfasser von Ρ stammt mit Sicherheit aus dem Kreis der Lehrer, die zwischen 1271 und 1277 an der Pariser Artistenfakultät tätig waren. Er ist ebenso sicher einer derjenigen, die von der Verurteilung des Jahres 1277 betroffen waren. Nun kennen wir bis jetzt die Namen von vier Magistern, von denen man diese beiden Aussagen machen kann: Siger von Brabant, Boethius von Dacien, Goswin de la Chapelle und Bernard von Nivelles53. Als Verfasser von Ρ scheidet ganz sicher Boethius von Dacien aus. Seine Werke, vor allem der Physikkommentar, heben sich trotz der übereinstimmenden Grundtendenz doch deutlich von Ρ ab. Die Quaestionen des Boethius zur Physik unterscheiden sich von Ρ in der Auswahl der behandelten Fragen, in deren Formulierung und ganz erheblich auch im Stil. Hier ist eine Verwechslung nicht möglich64. Über die Lehrtätigkeit oder Schriften des Goswin de la Chapelle und des Bernard von Nivelles wissen 53

54

Zu Boethius von Dacien s. die nächste Anm. Uber Goswin de la Chapelle und Bernard de Nivelles s. A. Dondaine, Le manuel de Vinquisiteur 1230—1330, Archivum Fratrum Praedicatorum XVII, 1947, S. 186—194; F. Sassen, Een onbekend aanhanger van Siger van Brabant: Gozewijn van de Capelle, Studia Catholica 1955, S. 301 ff.; B. Nardi, Note per una storia dell'Averroismo Latino IV, Sigieri die Brabante e maestro Gosvino de la Chapelle, Rivista di Storia della Filosofia, 1948, II, S. 120—122; F. Van Steenberghen, Nouvelles recherches sur Siger de Brabant et son icole, Revue philosophique de Louvain 54, 1956, S. 130—132. Ein tiefer Einblick in die Lehre des Boethius von Dacien ist der Veröffentlichung seiner Schrift De aeternitate mundi durch G. Sajö zu verdanken. (2. Aufl. in Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie, hrsg. von P. Wilpert, Bd. IV, Berlin 1964). Dieses Werk gestattet es, die Quaestionen zur Physik aus Clm 9559, f. 2 ra—14 rb, einwandfrei dem Boethius zuzuschreiben. S. dazu G. Sajö, Boece de Dacie et les comment aires anonymes inidits de Munich sur la physique et sur la generation attribues ä Siger de Brabant, Archives d'histoire doctrinale et litteraire du moyen age, 1958, S. 21—58. — Ein gründlicher Vergleich dieses Physikkommentars mit Ρ zeigt ganz deutlich die Verschiedenheit beider Werke. Durch die Identifizierung des Verfassers dieser Quaestionen aus dem Münchener Kodex ist auch der letzte Rest an Wahrscheinlichkeit, den die Zuschreibung aller anonymer Aristoteleskommentare des Kodex an Siger besaß, beseitigt. Dazu A. Zimmermann, Dante hatte doch recht, Neue Ergebnisse der Forschung über Siger von Brabant, Philos. Jahrbuch 75, II, 1967, S. 206—217.

XXXVII

wir noch immer gar nichts. Man kann deshalb natürlich nicht ausschließen, daß wir in Ρ das Werk eines dieser Gelehrten vor uns haben. Ebenso ist auch möglich, daß V E von einem der beiden stammt. Allerdings ist es nur einer der vier genannten Pariser Artisten, der sowohl den Aktionen der konservativen Kreise um den Bischof Tempier zum Opfer fiel wie auch schon wenig später in eindrucksvoller Weise mit Thomas von Aquin in engste Beziehungen gebracht wurde: Siger von Brabant. Was Dante, der mehr über die Ereignisse und Personen jener bewegten Jahre wußte, als wir heute wissen, bewog, daß er Thomas und Siger zusammen und in Harmonie in der Göttlichen Komödie auftreten ließ, ist immer noch umstritten 55 . Niemand, der die philosophischen Werke aus der Zeit des Thomas und des Siger studiert, kann jedoch — trotz aller gebotenen Vorsicht — umhin, bei einem Autor, der nachweislich von Thomas gelernt hat und dies auch offen zu erkennen gibt und der zugleich wegen gewisser von ihm offenbar festgehaltenen philosophischen Positionen in den Verdacht der Häresie gelangte, an den berühmten Brabanter Magister zu denken. 5. Mit Ρ verwandte Quaestionen zur aristotelischen Physik Außer dem von Ermatinger entdeckten Werk, das wohl die denkbar engste Verwandtschaft mit Ρ hat, verdienen noch die Quaestionen 65

Dazu E. Gilson, Dante und die Philosophie, Freiburg 1953, S. 300ff; F. Van Steenberghen, Les ceuvres et la doctrine de Siger de Brabant, Brüssel 1938, S. 183. — Wenn Ρ ein Werk Sigers ist, dann stellt sich das Verhältnis zwischen Siger und Thomas von Aquin nicht ganz so dar, wie Van Steenberghen meint. (Les ceuvres . . . S. 78f. und S. 182f.). Richtig ist wohl auf jeden Fall, daß Siger von Thomas gelernt hat und dies offenbar ganz bewußt und ohne den Versuch, es in irgendeiner Weise zu verbergen. Man muß also ohne jeden Zweifel in Siger einen „Bewunderer und Schüler" des Thomas sehen. Es trifft aber nicht zu, daß er in den strittigen Fragen, die das Verhältnis der Philosophie zur Offenbarung betreffen, seine eigenen Positionen aufgegeben hat. Er hält vielmehr an ihnen fest, auch nachdem er die Überlegungen und Argumente des Thomas studiert hat. Er hält an ihnen fest, ohne jemals seinen Glauben als Christ zu verleugnen. Er ist und fühlt sich eben als Christ und Philosoph. Wer hätte ihm, dem um die Erkenntnis der Natur Bemühten, aber eigentlich eine bessere Erklärung der philosophischen Textbücher liefern können, eine Erklärung, die ihm als Philosophen wirklich etwas bedeuten konnte, als Thomas ? Man kann sich in der Tat keinen besseren Zeugen für die philosophiegeschichtliche Bedeutung des Thomas denken. Übrigens gilt das auch, wenn Ρ kein Werk Sigers ist; denn dann hat Thomas einen dem Siger aufs engste verbundenen Zeitgenossen recht wirkungsvoll beeinflußt. Da dieser Einfluß auf Siger selbst, auch wenn man Ρ außer Betracht läßt, ohnehin feststeht, gäbe es einen weiteren 1277 verurteilten Artisten, der ein „Bewunderer und Schüler" des Thomas war. S. auch A. Zimmermann, Dante hatte doch recht. . S . 212ff.

XXXVIII

zur Physik aus fonds latin 14 698 der Bibliotheque Nationale Paris, f. 83 ra—129 A r Erwähnung5®. Die Beziehungen dieser Schrift zu Ρ zeigen sich schon an den Titeln, und ein Vergleich entsprechender Quaestionen verstärkt den ersten Eindruck. Die Abfassungszeit des Werkes läßt sich noch nicht bestimmen. Entweder stammt es aus der Zeit nach der Verurteilung von 1277, oder sein Verfasser war ein Gegner der Kreise, denen die Verurteilung galt. Anders ist die folgende Antwort auf die Quaestio 2 des achten Buches: „Utrum primum principium magis probetur esse ex novitate motus quam ex sempiternitate" nicht zu erklären: „Videbatur autem eis (seil, philosophis), quod ex novitate motus non potuit probari, quia novitas in effectu secundum eos aliquam innovationem arguit in causa. In primo nulla est novitas, quia si sic, non esset primum. Istud tarnen erroneum est" 67 . Immerhin wird auch hier die Lehre der Philosophen ausführlich dargestellt, und es werden auch die Argumente erläutert, mit denen sie der wahren Lehre entgegentreten können. Dasselbe Bild bietet die folgende Quaestio: „Utrum motus sit sempiternus". Nachdem eine Reihe der bekannten Argumente für die Anfangslosigkeit der Bewegung angeführt sind, sagt der Verfasser: „Oppositum firmiter tenendum est. Et infra per aliquas rationes probabitur" 68 . Diese Beweise werden allerdings dann als „declarationes" und „persuasiones" gekennzeichnet. Den Schluß der ganzen Diskussion bildet der folgende Satz: „Verumtamen .(prima causa) potuit velle ab aeterno de novo producere' habet aliquam difficultatem, in qua standum est et ulterius non inquirendum. Non enim voluit semper extrinsecum a se, sed in ipso omnis quaestio propter quid cessat, cum sit omnium prima causa" 59 . Mit Ρ verwandt sind auch die von Ph. Delhaye unter dem Namen des Siger von Brabant herausgegebenen Physikquaestionen aus Clm 9559, f. 18 ra—44 ra, deren Autor möglicherweise Petrus von Alvernia ist 80 . 69

Ein weiteres Exemplar desselben oder eines eng verwandten Werkes befindet sich in Kassel, Landesbibliothek Phys. 2° 11, f. lra—35rb. (Hinweis von P. L.J. Bataillon, Le Saulchoir.)

67

Bibl. Nat. Paris fonds lat. 14 698, f. 126 ra.

" a. a. 0. f. 126 rb. 69

a. a. O. i. 126 vb.

60

Les Philosophes Beiges Bd. XV, Löwen 1941; dazu die Rezension von B. Nardi in Giornale Critico detta Filosofia Italiana 24, 1943, S. 85—89; W. Dunphy, The similarity between certain questions of Peter of Auvergne's Commentary on the Metaphysics and the anonymous Commentary on the Physics attributed to Siger of Brabant, Mediaeval Studies 15, 1953, S. 169—168.

XXXIX

Die Folgerungen, die Duin aus dieser Verwandtschaft gezogen hat, sind allerdings nicht aufrechtzuerhalten61. Beurteilt man die zahlreichen noch vorhandenen Kommentare zur Physik (bis etwa Mitte des 14. Jahrhunderts) nach der Art ihrer Fragestellungen, so wird man bei einigen ebenfalls an Ρ erinnert. Dies trifft bei folgenden Werken zu: Quaestionen des Johannes Wacfeld, Cambridge Gonville and Caius College 344, f. 264 rb—277 vb62; Anonyme Quaestionen aus derselben Bibliothek cod. 509, 3, f. 124 ra—197 va63 und cod. 513, f. 1 ra—83 va64; Anonyme Quaestionen aus Cambridge Peterhouse 192, IV, 2, f. 53 va—96 vb 66 ; Quaestionen des Wilhelm von Chelsham in demselben Kodex, I, f. 2 ra—36 vb, davon ein zweites Exemplar offenbar f. 37 va—119 vb ee . Gelegentlich trifft man hier auch auf Thesen, derentwegen der Verfasser von Ρ in die Pariser Verurteilung verwickelt wurde. So erwidert Johannes Wacfeld in der Quaestio 11 des ersten Buches: „Utrum accidens possit esse sine subiecto" auf einen Einwand: „Ideo videtur esse dicendum secundum philosophiam, quod licet prima causa det esse accidenti per substantiam materialem, tarnen non potest facere accidens esse per se manente ratione accidentis. Quia si sic, faceret incompossibilia, quia de ratione accidentis est messe in alio"67. Ob sich einmal Näheres über die Beziehungen zwischen diesen Werken und Ρ wird ausmachen lassen, bleibt vorerst offen. Eine gründlichere Kenntnis der Aristoteleskommentierung jener Zeit wird sicherlich noch mancherlei Zusammenhänge aufdecken. 61

Dazu Anneliese Maier, Les commentaires . . ., S. 339—346; A. Zimmermann, Die Quaestionen . . ., S. 109—122.

62

M. R. James, A descriptive Catalogue of the manuscripts in the library of Gonville and Caius College Bd. 1, Cambridge 1907, S. 387; dazu A. Little—F. Pelster, Oxford Theology and Theologians ca. A. D. 1282—1302, Oxford 1934, S. 101f.; A. Emden, A biographical Register of the University of Oxford to A. D. 1508, Bd. 3, Oxford 1959, S. 1955 a.

83

M. R. James, a. a. O. Bd. 2, Cambridge 1908, S. 579.

84

a. a. O. S. 584.

βί

Μ. R. James, A descriptive Catalogue . . . of Peterhouse, Cambridge 1899, S. 224.

·· a. a. O. S. 223; A. Emden, A biographical Register . . . Bd. 1, Oxford 1957, S. 403a. — Zu einigen der genannten Handschriften s. A. Zimmermann, Ontologie oder Metaphysik, Die Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert, Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, hrsg. von J. Koch, Bd. VIII, Leiden-Köln 1965, S. 3—5. 67

Gonville and Caius Coli. cod. 344, f. 271 va.

XL

6. Uberblick über den Inhalt des Werkes a) Allgemeiner Überblick und Gliederung Der Inhalt des Werkes ist selbstverständlich durch die Aristotelestexte, welche besprochen und erklärt werden, weitgehend bestimmt. Der Verfasser äußert ja schon in der Vorrede die Absicht, bei der Untersuchung der Natur, der Sittlichkeit und der göttlichen Dinge dem Philosophen in Lehre und Anordnung zu folgen68. Er betont auch, in welchem Geist die Erklärung erfolgen soll: Nur das, was dem Menschen natürlicherweise erkennbar ist, wird Grundlage der Antworten auf die im Anschluß an den Text gestellten Fragen sein. Diese Akzentsetzung führt — wie schon erwähnt — an einigen Stellen zu einer Polemik gegen gewisse Thesen, die nicht philosophisch begründet werden können. Insofern haben wir es bei Ρ nicht nur mit einer reinen Aristotelesinterpretation zu tun. Das Werk ist ein Zeugnis für die Diskussion von Problemen, die Forschung und Lehre der Pariser Artistenfakultät damals tief bewegten. Daneben gibt der Text auch Aufschluß über weniger erregende Schwerpunkte des wissenschaftlichen Interesses seines Verfassers, vorwiegend naturphilosophischer Art69. Ρ enthält eine in engster Anlehnung an den Physikkommentar des Thomas von Aquin entworfene Gliederung. Sie zeigt am besten, was der Verfasser geplant hat und was von der Ausführung erhalten blieb, wenn diese überhaupt jemals vollendet wurde. Diese Gliederung sei deshalb einer stark gerafften Darstellung der wichtigsten Lehren vorausgeschickt. I. E i n l e i t e n d e Fragen. 1. Der Begriff des Wissens (Qq. 1—3). 2. Der Ausgangspunkt des Erkennens (Qq. 4—6). II. H a u p t t e i l des T r a k t a t s . 1. Die allgemeinen Prinzipien der Naturwissenschaft. A) Die Prinzipien des Gegenstandes der Naturwissenschaft, also des beweglichen Seienden. 48

S. Text s. 3. • e Bei dem folgenden Überblick ist nicht beabsichtigt, die Lehren von Ρ problemgeschichtlich einzuordnen. In einigen Punkten ist dies der Sache nach in den Untersuchungen Anneliese Maiers schon geschehen, auf die dann verwiesen wird. Die Edition einer naturphilosophischen Schrift des Mittelalters ist ohne die Hilfe, welche diese Studien an die Hand geben, nicht denkbar, wie die Bearbeitung von Ρ immer wieder gezeigt hat.

XL I

a) Nach der Lehre anderer Philosophen. α) Der Inhalt dieser Lehren (Qq. 7 und 8). ß) Notwendigkeit und Voraussetzungen einer Auseinandersetzung mit diesen Lehren (Qq. 9—11). γ) Die Hauptpunkte der Auseinandersetzung: 1. Mit denen, die nicht naturphilosophisch argumentieren : 10. Mit ihrer These: Das Seiende ist eines und unbeweglich. 101. Hinsichtlich des Subjekts dieser These. Das Seiende als Substanz und Akzidens (Qq. 12 und 13). 102. Hinsichtlich des Prädikats dieser These, des „Einen" (Qq. 14—27). 11. Mit den Begründungen dieser These: 111. Mit der des Melissus (Qq. 28—33). 112. Mit der des Parmenides (Qq. 34 und 35). (Damit bricht der Kommentar zu Buch 1 ab.) 2. Mit denen, die naturphilosophisch argumentieren (fehlt.) b) Nach der Lehre des Aristoteles (fehlt). B) Die Prinzipien der Lehre von der Natur (Buch 2, fehlt). 2. Das bewegliche Seiende im allgemeinen (Buch 3 und folgende). Erhalten sind nur die Fragmente von Buch 4 und 8 70 . b) Die wichtigsten Lehren α) Die Quaestionen zum ersten Buch Der folgende kurze Überblick hält sich an die Einteilung, welche sich aus der angeführten Gliederung des Werkes ergibt. Die Quaestionen 1 bis 3: Wissenschaftliches Erkennen ist Wissen auf Grund eines Beweises. Dies impliziert die Einsicht in Definitionen und beruht letztlich auf unmittelbar einsichtigen Grundsätzen. Der Sache nach handelt es sich beim Wissen um das Erkennen von Ursachen. Je mehr Ursachen bekannt sind, um so vollkommener ist das Wissen. Der Naturphilosoph hat sich mit einem weniger vollkommenen Wissen zu begnügen. Sein Ziel ist es, die Prinzipien und Ursachen des gegebenen natürlichen Seienden zu erforschen. 70

Vgl. die Bemerkungen oben S. XII.

XLII

Die Quaestionen 4 bis 6: Die menschliche Erkenntnis hebt mit den Sinnen an, und darum sind auch die Prinzipien der Naturphilosophie eng mit der unmittelbaren Erfahrung verbunden. Diese liefert das, was uns am bekanntesten und Grundlage weiteren Erkennens ist. Der Verstand erfaßt dabei jedoch die Formen der materiellen Dinge, und auf dieser Erkenntnis, nicht auf der im Bereich der Sinnlichkeit bleibenden Anschauung des je einzelnen ruht das Wissen, um welches es in der Naturphilosophie geht. Es sind also allgemeine Prinzipien, die die Rolle des Bekannteren in der Naturphilosophie spielen. Die Quaestionen 7 und 8: Die Vielheit des Seienden ist ein unmittelbar einsichtiges Erkenntnisprinzip. Schon der Satz: „Nur das Seiende ist" hat einen mehrfachen Sinn, und dasselbe gilt von dem Satz: „Nur das Eine ist". Eine weitere Voraussetzung der Naturphilosophie ist die unvermittelte Erkenntnis der Bewegung einiger oder sogar aller Dinge in der Natur. Nach einer Begründung der Wahrheit dieser Voraussetzung fragen heißt zugeben, daß man zwischen dem an sich selbst Einsichtigen und dem nicht an sich Einsichtigen nicht unterscheiden kann. Die Quaestionen 9 bis 11: Die Sicherung seiner Prinzipien ist dem Naturphilosophen nur zum Teil möglich. Hier müssen Metaphysik und Logik eintreten. Er kann sich vor allem nicht mit unsinnigen, falschen und sophistischen Thesen auseinandersetzen. Die Quaestionen 12 und 13: Substanz und Akzidens sind nicht in demselben Sinn Seiendes, sondern ein Akzidens nur, insofern es wesentlich der Substanz, dem Seienden im eigentlichen Sinn, zugeordnet ist. Daraus folgt, daß ein Akzidens nie von seinem Träger getrennt werden und selbständig sein kann. Das wäre ein Widerspruch, auch wenn man glauben muß, durch ein Wunder könne so etwas bewirkt werden. Der Philosoph muß daran festhalten, daß die erste Ursache keine Wirkung hervorbringen kann ohne die für diese Wirkung wesentlichen Zweitursachen 71 . Die Quaestionen 14 bis 27: Einem Seienden kommt Einheit zu, weil es entweder kontinuierlich oder unteilbar oder dem Begriff nach eines ist. Auch die Teilbarkeit einer materiellen Substanz kann dreifach verstanden werden. Jedenfalls ist der reine Begriff einer Substanz stets der Begriff eines Unteilbaren. Erst durch den Begriff der Quantität wird die Teilbarkeit denkbar. Die Teile einer materiellen und damit ausgedehnten Substanz unterscheiden sich deshalb auch nicht ihrer 71

S. dazu oben S. XXVIII.

XLIII

Substanz (ihrem Wesen) nach, sondern nur im Hinblick auf die Ausdehnung und die verschiedene Lage. Dasselbe gilt für die Individuen einer und derselben Art 72 . Die Individualbegriffe oder Namen bezeichnen stets den bestimmten Stoff, der von dem anderer Individuen derselben Art verschieden ist. Insofern gehört zu einem Individualbegriff immer ein Akzidens, wenigstens das Hier- und Jetztsein. Der Substanz nach kann kein Naturding aus Teilen zusammengesetzt sein, die untereinander der Art nach verschieden sind. Es ist ein Ganzes, womit nicht ausgeschlossen ist, daß es der Möglichkeit nach Teile enthält. Einem kontinuierlichen Körper oder einer kontinuierlichen Quantität kommt die quantitative Einheit wesenhaft zu. Insofern kann die Einheit, die ein Kontinuum besitzt, als Prinzip der Zahl angesehen werden. Etwas Unteilbares kann unbegrenzt sein, wenn man unter Unbegrenztheit die der Substanz versteht. So ist es beim ersten Beweger. Ein der Quantität nach Unteilbares ist nur unendlich, insofern es den Begriff einer Grenze der Ausdehnung ausschließt, nicht aber im eigentlichen (substantiellen) Sinn. Ein Unausgedehntes und Unteilbares kann niemals Träger einer solchen Qualität sein, die ihrerseits wesenhaft Ausdehnung voraussetzt, und das trifft für alle Arten der Qualitätskategorie zu. Wenn auch jedes Seiende Gegenstand eines und desselben Vermögens der Seele ist, nämlich des aufnehmenden Verstandes, so folgt daraus doch nicht die These, das Seiende insgesamt sei wesenhaft eines, so daß alle Seienden ein einsinniges begriffliches Merkmal gemeinsam hätten. Die Einheit des Vermögens ist auch schon durch eine analoge Einheit seines Gegenstandbereiches hinreichend gewährleistet. Auch das materielle Seiende läßt sich in vielfacher Weise einteilen. Die Rolle der Kopula, durch welche jedes Urteil als eine Zusammensetzung von Getrenntem erscheint, erfordert als Möglichkeitsgrund nicht eine der Unterscheidung von Subjekt und Prädikat entsprechende reale Trennung in der Sache. Es genügt eine begriffliche Verschiedenheit von Subjekt und Prädikat. Im übrigen ist jede Vielheit, insofern sie ist, immer auch eine Einheit. Der Begriff des Einen, der mit dem des Seienden untrennbar verbunden ist, teilt mit letzterem auch die Mehrdeutigkeit. Die Quaestionen 28 bis 33: Zunächst muß man verschiedene Bedeutungen des Begriffs „Hervorgebrachtes" unterscheiden73. Er kann 72 73

S. dazu a. a. O. Vgl. unten S. XLVIIf.

XLIV

das Erzeugtwerden durch Veränderung von schon Vorhandenem meinen, er kann auch Entstehen ohne eine Änderung meinen, wobei aber eine Ursache in jedem Fall erforderlich ist, mindestens eine Wirkursache. Die Philosophen nahmen an, ein ohne Veränderung Hervorgebrachtes müsse stets zugleich mit seiner Ursache sein. Jede Veränderung, sei es eine, bei der das Veränderte seinem Wesen nach gleich bleibt, sei es eine substantielle, verläuft notwendig in einer gewissen Zeitdauer, niemals instantan. Wenn auch das Wasser und die Luft kontinuierliche Körper sind, so ist es dennoch möglich, daß sich Teile in ihnen bewegen, ohne daß sie dabei als Ganzes bewegt werden. Dies liegt an der leichten Abtrennbarkeit der einzelnen Teile voneinander. Eine Bewegung, die an einer Stelle angestoßen wird, wird von einem Teil auf den anderen übertragen, so daß der zuerst bewegende Teil nur mittelbare Ursache der Bewegung der nicht benachbarten Teile ist. Dabei nimmt die bewegende Kraft von Teil zu Teil ab, bis sie schließlich nur noch ausreicht, einen Teil (den letzten) zu bewegen, ohne ihm die Kraft zu geben, einen weiteren in Bewegung zu setzen. Der zuerst bewegende Teil bei einem solchen Vorgang ist, wenn seine eigene Bewegung erloschen ist, in gewissem Sinn immer noch Bewegendes, weil es ja seine Bewegung ist, die nun im benachbarten Teil wirkt. In gewissem Sinn muß man jedoch auch sagen, der zuerst bewegende Teil bewege dann nicht mehr; denn wenn er selbst ruht, enthält er nichts mehr, durch das ihm das Prädikat „Beweger" zukommen könnte. Es ist daher erforderlich, im bewegten Teil ein eigenes Prinzip anzunehmen, durch welches er den übertragenen Bewegungszustand gewissermaßen selbständig aufrechterhält. Die Quaesüonen 34 und 35: Der Namen eines Akzidens bezeichnet an sich nicht etwas dem Wesen nach Eines; denn wenn auch die unmittelbare Bedeutung eines solchen Namens die eines Akzidens ist, so wird durch dieses Akzidens doch stets auch die Substanz als Träger mitbezeichnet, und diese Bedeutung ist vom Begriff eines Akzidens nicht zu trennen. Ein Akzidens kann zwar ohne Träger erkannt werden, aber nur in der rein sinnenhaften Erkenntnis, die nicht Erkenntnis des Wesens des Akzidens ist. Die Wesensform eines Individuums ist stets eine, und sie ist einfach. Die verschiedenen Merkmale, die als Bestandteile der Washeit eines Individuums prädiziert werden, beruhen auf begrifflichen Unterscheidungen an einer und derselben Sache. Jeder Versuch, die Bestandteile einer Definition auf entsprechende reale unterschiedene Substan-

XLV

zen oder Formen in einem und demselben Ding zurückzuführen, führt zu Ungereimtheiten 74 .

ß) Die Notizen zum vierten Buch Diese Notizen lassen sich nicht in ähnlicher Weise gliedern wie die Quaestionen zum ersten Buch. Immerhin ist durch die Randbemerkungen Gottfrieds von Fontaines eine Einteilung gegeben, an welche sich der folgende Überblick hält. Über den Ort: Der Ort ist die innere Grenze des umschließenden Körpers. Es sind verschiedene Weisen zu unterscheiden, wieso man von etwas sagen kann, es sei in einem anderen. Ort im strengen Sinn ist die innere Begrenzung des umschließenden Körpers, insofern sie in bestimmter Weise in das Universum eingeordnet ist. Der Ort als solcher kann daher nicht bewegt werden. Die Bestimmung des Ortes als Abstand zwischen den Grenzen des Umschließenden ist also falsch. Eine Vergrößerung des Ortes ist nicht möglich. Die äußerste Sphäre hat nur beiläufig (per accidens) einen Ort, und zwar durch ihr natürliches Zentrum, die Erde, die wesenhaft einen Ort besitzt 75 . Dennoch ist die Himmelssphäre an sich in Bewegung. Daß etwas nicht wesentlich einen Ort hat und sich dennoch an sich und nicht lediglich akzidentell bewegt, ist nur bei einer Kreisbewegung möglich. Bei der Kreisbewegung behält nämlich das Ganze als solches denselben Ort, obwohl die Teile ihren jeweiligen Ort wechseln. Die Welt als ganze ist nicht in einem oder an einem Ort, weil es keinen die Welt umschließenden Körper gibt. Sie hat nur insofern ihren Ort, als man das von jedem ihrer Teile sagen kann. Über das Vakuum: Der Begriff des Vakuums kann nur durch eine Namensdefinition angegeben werden; denn das Vakuum ist ja nicht und hat infolgedessen auch keine Washeit. „Vakuum" heißt „Ort ohne Körper", und da das ein Widerspruch ist, gibt es das Vakuum nicht. Die natürliche Bewegung eines Körpers müßte in einem angenommenen leeren Raum in einem einzigen Augenblick (instantan) 74 75

Vgl. oben S. X X I I I ff. Die von J. Duin, La doctrine . . S. 181 ff. behauptete Parallelität zwischen Ρ und den unter dem Namen des Siger edierten Münchener Physikquaestionen hinsichtlich der Lehre vom Ort der äußersten Sphäre besteht nicht, wie ein Blick auf die Texte sofort zeigt.

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erfolgen. Da das nicht möglich ist, folgt wiederum, daß es ein Vakuum nicht geben kann. Die Sukzession bei einer natürlichen Bewegung kann nicht durch die Verschiedenheit der Orte, die durchlaufen werden, allein hinreichend geklärt werden. Man muß immer auch ein Medium annehmen 76 . Die Unmöglichkeit eines Vakuums läßt auch gewisse Aufwärtsbewegungen des Wassers in einem Gefäß, aus dem die Luft entweicht, verstehen und ebenso das Verharren des Wassers an einem höher gelegenen Ort entgegen seiner natürlichen Tendenz, die es als schwerer Körper hat. Über die Zeit: Da von der Zeit immer nur ein Augenblick real ist, kommt ihr als ganzer und als Kontinuum kein Sein ohne die Seele zu, die vergangene und zukünftige Augenblicke erkennt. Der Augenblick entsteht und vergeht seinem Wesen nach nicht, er ist stets einer. Die Unterscheidung verschiedener Augenblicke gründet in einer Verschiedenheit des einen Augenblicks dem Sein nach. Es gilt hier dasselbe, was auch von einem bewegten Körper gilt, der während eines Bewegungsablaufs der Substanz nach einer ist, während er dem Sein nach variiert, insofern er als bewegter wesenhaft nie an einem und demselben Ort ist. Die Zeit kommt nur der ersten Bewegung als eine Eigentümlichkeit zu, also der Bewegung der obersten Sphäre. Da aber von dieser alle anderen Bewegungen verursacht sind und an ihr gemessen werden können, kann Zeit an jeder beliebigen Bewegung erfaßt werden 77 . Die Zeit ist eher Ursache des Vergehens als des Entstehens und des Guten. Ruhe und Stillstand sind nur beiläufig in der Zeit, und zwar insofern sie Mangel an Bewegung sind, welche ihrerseits wesenhaft zeitlich ist. Im Vergleich zur ruhenden Substanz ist der Stillstand jedoch an sich in der Zeit. Als Folge einer kontinuierlichen Bewegung wird die Zeit durch den Augenblick nur in Gedanken geteilt. Der Zeitpunkt, durch welchen wir Vergangenheit und Zukunft trennen, ist dem Begriff nach nicht einer, da er notwendig als Ende und Anfang gedacht wird, er ist aber dem Subjekt nach, also als wirklicher, einer. 76

77

Vgl. dazu A. Zimmermann, Die Quaestionen . . ., S. 133ff.; Anneliese Maier, An der Grenze von Scholastik und Naturwissenschaft, 2. Aufl., Rom 1952, S. 285, vor allem Anm. 8. Vgl. Anneliese Maier, Metaphysische Hintergründe der scholastischen Naturphilosophie, Rom 1955, S. 94 f. — Die folgenden Thesen stehen in Ρ erst unter der Rubrik De aeternitate. Hier ist also im Überblick die Reihenfolge gegenüber dem Text geändert.

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Nach Aristoteles ist die Zeit nach beiden Richtungen unbegrenzt, weil die erste Bewegung nicht anfangen kann. Die vergangene Zeit ist der Zahl nach eine andere als die zukünftige. Der Art nach ist es aber stets dieselbe, wie das auch von einer kontinuierlichen Bewegung gilt. Sie ist überall. Ohne eine Seele, die das Nacheinander der Bewegung zählt, wäre Zeit nicht wirklich. Die Zählbarkeit der Bewegung genügt nicht; denn auch die Zählbarkeit kann nicht gedacht werden ohne irgendeinen Akt des Zählens, und der erfolgt erst durch die Seele. Ohne die die Zeit erfassende Seele wäre die Zählbarkeit der Bewegung und damit die Zeit nur der Möglichkeit nach. Als Eigentümlichkeit der ersten Bewegung ist die Zeit eine. Sie ist das Maß für die zeitliche Erfassung aller anderen Bewegungen. Über die Ewigkeit: Man erkennt, was Ewigkeit ist, wenn man etwas denkt, das ein nicht gezähltes und nicht nach früher und später geteiltes Sein hat. Die Ewigkeit ist das Maß dessen, was sich stets gleich verhält. Sie muß also ohne Anfang und Ende und als ganze stets zugleich sein. Sie ist also weder Zahl wie die Zeit noch kontinuierlich fließende Einheit wie der Augenblick, sondern stehende stets einförmige Einheit. Sie kann zugleich mit der Zeit sein. Die Dinge, die immer sind, sind ebenso wenig in der Zeit wie das Unmögliche. Das Nichtmehrsein des Vergangenen und das Nochnichtsein des Zukünftigen dagegen werden durch die Zeit gemessen und sind infolgedessen auch in der Zeit. Betrachtet man dieses Nichtsein allerdings als die reine Möglichkeit der ersten Materie, dann fällt es nicht unter die Zeit, denn das Zukünftige war über eine unendliche Zeit hinweg nicht und das Vergangene wird über eine unendliche Zeit hinweg nicht mehr sein. Das Unendliche als solches aber entzieht sich jeglichem Maß. Gemessen werden ist hinwiederum wesentlich für das Sein der Zeit. γ) Die Notizen zum achten Buch Hier fehlen weitere Einteilungen am Rand. Aus dem Inhalt ergeben sich aber die Gliederungspunkte recht deutlich. Über die Ewigkeit der Welt: Nach der Lehre des Aristoteles entsteht etwas Neues nie ohne Bewegung. Da diese aber immer einen Träger voraussetzt, muß es ein allgemeinstes Subjekt geben, die erste Materie, die unmittelbar entstanden ist. Dabei handelt es sich nach Ansicht der Philosophen um die Schöpfung. Sie ist ohne Bewegung und von Ewigkeit her.

XLVIII

Es ist aber nicht möglich, daß die erste Ursache etwas Neues ohne vorgegebenes allgemeinstes Subjekt hervorbringt. Nach Aristoteles erfordert jedes Neugeschaffene einen neuen verursachenden Akt. Der göttliche Wille aber ist ewig und unveränderlich. Die These, Gott könne von Ewigkeit her wollen, daß die Welt einmal anfange, enthält nach den Grundsätzen des Aristoteles einen Widerspruch. Die Annahme eines Anfangs der Welt führt nach Aristoteles zu dem Satz, daß dieser Bewegung eine andere und damit auch Zeit voraufgegangen sein muß. Dadurch ist natürlich ein Hervorbringen von Ewigkeit her nicht ausgeschlossen, bei welchem das Sein des Hervorgebrachten dessen Nichtsein der Sache nach, nicht zeitlich, folgt. Averroes führt den Beweis für die Anfanglosigkeit der Zeit aus dem Begriff des Augenblicks als des Schnitts zweier Zeitstücke. Danach gibt es nämlich keinen ersten Augenblick. Der Einwand, das ,,vor dem ersten Augenblick" sei nur ein eingebildetes und kein wirkliches Früher, trifft die Sache nicht. Jeder Anfang, auch der der Zeit, erfordert eine Änderung, die ihn bewirkt, weil jede neue Bewegung eine andere voraussetzt. Der Wahrheit gemäß ist allerdings zu sagen, daß der ewige göttliche Wille unmittelbar etwas neu hervorbringen kann, also ohne schon vorher Geschaffenes. Die Argumente des Aristoteles gelten nicht für den göttlichen Willen. Über die qualitative Änderung: Es muß eine untere Grenze der Ausdehnung solcher Materieteile geben, die einer qualitativen Änderung fähig sind. Es muß also Teilchen geben, die sich qualitativ als ganze zugleich ändern, auch wenn sie der Ausdehnung nach noch weiter teilbar sind. Eine Kontinuität gibt es bei Qualitäten nur im Hinblick auf die Stärke (Intensität). Auch eine quantitative Änderung ist nicht kontinuierlich teilbar. Darin unterscheidet sie sich von der Ortsbewegung. Die Wirkung einer bewegenden Kraft ist nicht proportional zu deren Intensität und der Einwirkungsdauer zugleich. Es gilt auch nicht allgemein, daß die Hälfte einer bewegenden Kraft auf die Hälfte des Bewegten dieselbe Wirkung ausübt wie die ganze Kraft auf das ganze Bewegte, selbst wenn dabei die Dauer der Einwirkung dieselbe ist. Die Schwerebewegung: Die durch Wurf verursachte Aufwärtsbewegung eines schweren Körpers ist erzwungen und nicht natürlich; denn sie widerstrebt ja dem Wesen des schweren Körpers, der als

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solcher nicht die Potenz zu einer nach oben gerichteten Bewegung besitzt. Diese Bewegung ist nur dann natürlich, wenn aus dem schweren Körper dabei zugleich ein leichter wird, dessen Natur es ja ist, oben zu sein. Das Leichtsein ist nämlich der Möglichkeit nach im schweren Körper enthalten, und die Umwandlung des Schweren in ein Leichtes durch die von einer äußeren Ursache (dem generans levis) sukzessiv bewirkten Akzidentien des Leichten ist daher natürlich. Ein schwerer Körper bewegt sich zwar aus sich nach unten, aber nur dadurch, daß er das Medium bewegt, welches einen augenblicklichen Ortswechsel verhindert (motus ex se per accidens)78. Ist die einen Fall verhindernde Unterlage beseitigt, erfolgt die weitere Bewegung, also der Fall, durch die Natur des schweren Körpers und nicht durch einen äußeren Beweger. Diese Bewegung, deren Prinzip also die eigene Natur des Bewegten ist, ist dennoch keine Selbstbewegung, bei der Beweger und Bewegtes im Hinblick auf die Bewegung identisch wären, sondern sie ist beiläufig, weil es ja für den schweren Körper seiner Natur nach nur zufällig ist, oben zu sein, und der Fall daher nur eine akzidentelle Bewegung ist. Über die Kausalität bei der Bewegung: Der Satz: „Alles, was von einem andern bewegt wird, führt zurück auf einen Beweger, der nicht von außen bewegt wird" gilt nur für wesentlich aufeinander hingeordnete Bewegungsursachen. In dieser Ordnung muß es aber einen ersten Beweger geben, der selbst unbewegt ist. Er enthält die von ihm verursachte Bewegung nicht formal, sondern dem Vermögen nach (virtute). Die Himmelskörper werden von geistigen Bewegern bewegt, die ihnen in einem nichträumlichen Sinn innerlich sind, ohne ihnen das formale Sein zu geben. Hier sind Bewegtes und Beweger nur durch die Bewegung und wegen der Bewegung vereint. Es ist unmöglich, daß sich etwas selbst bewegt, es sei denn nur beiläufig, wie etwa der schwere Körper beim Fall. Wenn auch jedes (teilbare) Bewegte in seiner Bewegung von der Bewegung seiner Teile abhängt, so bedeutet das nicht, es gäbe kein erstes Bewegtes; denn man muß unterscheiden zwischen der Abhängigkeit des Bewegten von der Bewegung seiner Teile und der Abhängigkeit des Bewegten von einem getrennten Beweger. 78

Vgl. Anneliese Maier, Les commentaires . .

4 Zimmermann Kommentar

S. 339—360; An der Grenze . .

S. 154.

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Der bewegende Teil eines sich dem Augenschein nach selbst Bewegenden ist begrifflich und dem Subjekt nach vom bewegten Ganzen verschieden. Es kommt aber vor, daß in einem Ding, welches der Möglichkeit nach eine Form enthält, eine auf diese Form hin bewegende Kraft (impetus) vom Beweger zurückbleibt, der selbst nicht mehr unmittelbar wirkt, und daß dadurch der Anschein einer Selbstbewegung entsteht79. 79

Vgl. Anneliese Maier, Zwei Grundprobleme der scholastischen Naturphilosophie, 2. Aufl. Rom 1951, S. 121 f.

TEXT

Zur Textgestaltung sei bemerkt: 1. Die Schreibweise wurde, ausgenommen bestimmte Eigentümlichkeiten des mittelalterlichen Lateins (ζ. B. diffinitio, intelligere) modernisiert. Interpunktion und Texteinteilungen sind, wo erforderlich, hinzugefügt. 2. Die Zeichen im Text bedeuten: < >: Ergänzung [ ]: Tilgung 3. Abkürzungen: del. = delevit e x . . . corr. = ex . . . correxit exp. = expunxit iter. = iteravit lin. = linea i. m. (inf.; sup.) = in margine (inferiore; superiore) 4. Falsche oder ungenaue Zitate im Text sind dort nicht verbessert.