Ecocriticism: Eine Einführung 9783412502393, 9783412501655


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Ecocriticism: Eine Einführung
 9783412502393, 9783412501655

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Gabriele Dürbeck, Urte Stobbe (Hg.)

Ecocriticism Eine Einführung

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN 2015

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http ://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung : APA-Auftragsgrafik/picturedesk.com Foto: Jason deCaires Taylor: The Gardener (2009). © Jason deCaires Taylor. All rights reserved/VG Bild-Kunst, Bonn 2015

© 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Korrektorat : Rebecca Wache, Castrop-Rauxel Herstellung und Satz : Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung : BALTO print, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Europe ISBN 978-3-412-50165-5



Inhalt

1 Einleitung Gabriele Dürbeck und Urte Stobbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Teil 1: Theoretische Perspektiven

2 Ökokosmopolitismus Ursula K. Heise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 3 Biosemiotik Winfried Nöth und Kalevi Kull . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 4 Ökofeminismus und Material Turn Christa Grewe-Volpp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .44 5 New Materialism Heather I. Sullivan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 6 Cultural Animal Studies Roland Borgards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .68 7 Postkolonialer Ecocriticism Gesa Mackenthun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 8 Environmental Humanities Sabine Wilke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .94 9 Das Anthropozän in geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive Gabriele Dürbeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

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Inhalt

Teil 2: Ansätze im deutschen Kontext

10 Ökologisch orientierte Literaturwissenschaft in Deutschland Axel Goodbody . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 11 Natur- und Umweltschutzbewegung in Deutschland Jens Ivo Engels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 12 Literatur und Umweltgeschichte/Environmental Studies Urte Stobbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 13 Kritische Theorie und Ecocriticism Timo Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 14 Kulturökologie und Literatur Hubert Zapf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Teil 3: Zum ökologischen Potenzial von Literatur, Film und Kunst

15 Bukolik, Idylle und Utopie aus Sicht des Ecocriticism Evi Zemanek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 16 Lyrische Dichtung im Horizont des Ecocriticism Heinrich Detering . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 17 Umweltthematik in Drama und Theater Christina Caupert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 18 Klimawandelroman Sylvia Mayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 19 Ökothriller Gabriele Dürbeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

I nhalt

20 Ökologie in der Kinder- und Jugendliteratur Berbeli Wanning und Anna Stemmann . . . . . . . . . . . . . . . . 258 21 Grüne Filmstudien Alexa Weik von Mossner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 22 Die Herausforderung der Eco-Art für die Kunstgeschichte Linda Weintraub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

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1 Einleitung Gabriele Dürbeck und Urte Stobbe

Ziel dieser ersten deutschsprachigen Einführung in den Ecocriticism ist es, das mittlerweile stark ausdifferenzierte, interdisziplinäre und internationale Forschungsfeld mit den wichtigsten theoretischen Ansätzen, den spezifischen Ausprägungen eines deutschen Ecocritisicm und repräsentativen literarischen und künstlerischen Anwendungsfeldern in komparatistischer Perspektive vorzustellen. Seit den späten 1990er-Jahren sind bereits einige deutschsprachige Monographien und Sammelbände zum Verhältnis von Literatur und Ökologie (z.B. Goodbody 1998; Morris-Keitel/Niedermeier 2000; Gersdorf/Mayer­ 2005; ­Hofer 2007) sowie zur Kulturökologie (Zapf 2002 u. 2008) erschienen, die ­ökologische Zusammenhänge aus geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive untersuchen. Auch der Naturdarstellung bzw. der literarischen Repräsentation ökologischer Transformationen sind mehrere Sammelbände gewidmet (z.B. Gersdorf/Mayer 2006; Goodbody 2007; Ermisch/Kruse/Stobbe 2010; Paulsen/Sandberg 2013). Dass an diesen Studien häufig Amerikanisten, Anglisten und anglophone Germanisten mitgewirkt haben, ist keinesfalls Zufall. Denn in der angelsächsischen Literaturwissenschaft hat sich schon seit Beginn der 1990er-Jahre jene Forschungsrichtung entwickelt, die unter der Bezeichnung Ecocriticism Ansätze vereint, die sich zunächst in einem sehr allgemeinen Verständnis „the study of the relationship between literature and the physical environment“ (Glotfelty 1996, XVIII) widmen. Entsprechend existieren dort bereits diverse Reader und Einführungen (z.B. Glotfelty/Fromm 1996; Coupe 2000; Branch/Slovic 2003; Garrard 2012). 2014 sind das Oxford Handbook of Ecocriticism (Garrard 2014) und The Cambridge Companion to Literature and the Environment (Westling 2014) erschienen; demnächst kommt das Handbook of Ecocriticism and Cultural Ecology heraus (Zapf 2016). Die Zahl der Sammelbände im anglophonen Bereich ist seit 1990 bis 2015 rapide gestiegen (vgl. Garrard 2014, IX f.). Auch liegen englischsprachige Bände zum Ecocriticism im Bereich der Lehre vor (z.B. Garrard 2012; Bartosch/Grimm 2014), welche die unterschiedlichen Zusammenhänge zwischen rhetorischen Formen, Epochen, Genres und verschiedenen Medien sowie übergreifenden Themen wie Postkolo-

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1 Einleitung

nialismus und Globalisierung oder Animal Studies an exemplarischen Beispielen aufzeigen. Demgegenüber fehlt bislang eine deutschsprachige Einführung, die Lehrende wie Studierende mit den verschiedenen Ansätzen und Forschungsschwerpunkten des Ecocriticism vertraut macht. Der vorliegende Band schließt diese Lücke, indem namhafte Forschende aus Amerikanistik, Germanistik, Komparatistik, Kunst-, Film- und Kulturwissenschaft sowie Geschichte die zentralen Konzepte vorstellen und das ökologische Potenzial vor allem von Literatur, aber auch von Film und Kunst, an exemplarischen Beispielen verdeutlichen. Damit reagiert diese Einführung auch auf ein zunehmendes Interesse an umweltbezogenen und ökologischen Fragestellungen in geistes- und kulturwissenschaft­ lichen Studiengängen an deutschsprachigen Universitäten. Der Ecocriticism hat sich als Forschungsansatz seit Anfang der 1990er-Jahre zunächst in den USA und Großbritannien, bald darauf auch in Australien etabliert. Zwei Jahre nach Gründung der US-amerikanischen Association for the Study of Literature and Environment (ASLE) im Jahr 1991 ist die Zeitschrift Interdisciplinary Studies in Literature and Environment (ISLE) ins Leben gerufen worden, gefolgt von der Gründung der britischen ASLE-UKI (1999) und der Zeitschrift ecozon@. European Journal of Literature, Culture and Environment (2010); die in Australien beheimatete Zeitschrift Environmental Humanities erscheint seit 2012. Weitere thematisch verwandte Zeitschriften und Netzwerke im Bereich der Environmental Humanities sind in den letzten Jahren entstanden; sie nehmen den Ecocriticism in sich auf und stellen ihn in einen breiteren interdisziplinären Rahmen (vgl. dazu Kap. 8). Die Entstehungsgeschichte des Ecocriticism folgt einer Entwicklung in Phasen, wie sie bei der internationalen Ausbreitung, Etablierung und Institutionalisierung neuer theoretischer Ansätze häufig zu beobachten ist. Nach einer Reihe von Vordenkern in den 1960er- bis 1980er-Jahren hat sich gemäß der Einschätzung von Lawrence Buell der nordamerikanische und parallel dazu der britische Ecocriticism sehr dynamisch in ‚zwei Wellen‘ entwickelt (Buell 2005, 13–17), die sich jedoch weniger ablösen, sondern wie Schichten in einem „Palimpsest“ (17) überlagern: Die erste, durch die Umweltbewegung und tiefenökologische Ansätze stark politisierte Welle ist durch Studien zur Neubewertung der Romantik, zu ‚Nature Writing‘ und unberührter ‚Wildnis‘ geprägt (vgl. Johnson 2009, 8). Bei der zweiten Welle stehen ein neues Interesse an urbaner und suburbaner

1 Einleitung

Erfahrung sowie Fragen der Nachhaltigkeit und Umweltgerechtigkeit im Vordergrund; zudem bilden theoretische Ansatzpunkte von der Phänomenologie über Ökofeminismus bis zu postkolonialen und Queer Studies einen erweiterten Referenzrahmen. Gemäß Slovic (2010) hat sich seit 2000 eine ‚dritte Welle‘ herausgebildet. Über die US-amerikanische Sicht hinaus werden nun globale Konzepte in Auseinandersetzung mit regionalen, lokalen und ethnischen Erfahrungen in transkultureller und ökokosmopolitischer Perspektive (z.B. Heise 2008) oder postkolonialer Hinsicht (z.B. DeLoughrey u.a. 2005; Huggan/ Tiffin 2010) diskutiert. Ökofeministische Ansätze erfahren zudem durch die Frage nach der agenziellen Kraft von Lebewesen (New Materialism) eine Erweiterung, wie auch die komparatistische Ausprägung des Forschungsfeldes insgesamt zunimmt. Allerdings sollten solche Phaseneinteilungen, so nützlich ihre Heuristik sein mag, nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Forschungsfeld des Ecocriticism sehr vielfältig und vital ist und sich in den einzelnen Ländern durchaus unterschiedlich weiterentwickelt hat (Bergthaller 2014, 13). Dass die Literatur- und Kulturwissenschaften in Deutschland bis vor wenigen Jahren noch relativ verhalten auf ökokritische Ansätze reagiert haben und bis dato auch keine deutschsprachige Einführung in das im anglophonen Bereich wohl etablierte Feld vorliegt, dürfte v.a. an den unterschiedlichen geistesund kulturgeschichtlichen Traditionen liegen. So ist etwa die Strömung des ‚Nature Writing‘ als Spezifikum der nordamerikanischen Literatur (vgl. Starre 2010, 22–24; kritisch Heise 2013, 225) nur bedingt auf den deutschsprachigen Kontext übertragbar. Im deutschen Kontext gibt es dagegen eine breite Tradition von der Phänomenologie (Heidegger) über die Kritische Theorie (Benjamin, Adorno), Gesellschaftstheorie und Verantwortungsethik (z.B. Erich Fromm, Hans Jonas) bis zur Naturästhetik (Gernot und Hartmut Böhme, Martin Seel), in der die Verbindung von Philosophie, Kunst und Literatur zur Natur/Ökologie eine zentrale Rolle spielt. Der Beitrag zur ökologisch orientierten Literaturwissenschaft in Deutschland von Axel Goodbody in diesem Band (Kap. 10) zeichnet diese vielgestaltigen Traditionslinien eines spezifisch deutschen Ecocriticism nach und zeigt, dass sie sich in weiterem Sinn diesem Forschungsfeld zuordnen lassen, auch wenn sie bislang nicht unter dieser Bezeichnung firmieren. Dass das Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie in seiner 2. Auflage erstmals ein Lemma zu Ecocriticism bzw. Ökokritik enthält (Heise 2001), belegt, dass dieser Forschungsansatz zur Jahrtausendwende auch in der deutsch-

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1 Einleitung

sprachigen Forschungslandschaft angekommen ist. Ökokritische Ansätze, so die mittlerweile etablierte, aber keineswegs unmissverständliche Übersetzung von Ecocriticism, finden vereinzelt Berücksichtigung in deutschsprachigen Einführungswerken der Kulturwissenschaft, wobei es sich allerdings meist nur um themenverwandte Ansätze handelt. So widmet die Einführung Orientierung Kulturwissenschaft ein Kapitel der „Kulturgeschichte der Natur“ (Böhme/ Matussek/Müller 2002, 118–130); Peter Finke (2008) plädiert in seinem Beitrag zur „Kulturökologie“ in der Einführung in die Kulturwissenschaften (Nünning/ Nünning 2008) für eine Übertragung von Begriffen aus der Ökologie auf den kulturellen Bereich und geht in diesem Zusammenhang auch auf künstlerische Ausdrucksformen ein, ohne jedoch Hinweise auf eine spezifisch ökologische Interpretation von Kunstprodukten zu geben. In Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften (Leggewie u.a. 2012) findet sich eine Sektion zur „Natur des Menschen“, in der auch Texte zu ökologischen Themen vorgestellt werden. Auffällig ist dennoch, dass Ansätze des Ecocriticism in anderen kulturwissenschaftlichen Einführungen bislang kaum bzw. keinen Niederschlag finden (vgl. z.B. Schößler 2006; Assmann 2011; Fauser 2011; Moebius 2012). Offenbar ist ‚Natur‘ für weite Teile der Kulturwissenschaften immer noch das ‚Andere‘ der ‚Kultur‘, auch wenn der Natur-Kultur-Gegensatz immer wieder dezidiert als Konstrukt thematisiert wird. In der ökokritischen Debatte beginnt sich dagegen die Rede von einer posthumanistischen Auffassung von „NaturKultur“ (Haraway 2003, 2) durchzusetzen. Über kulturwissenschaftliche Einführungswerke hinaus ist im deutschsprachigen Bereich derzeit ein thematischer Trend hin zur Untersuchung von Wetterereignissen und Naturelementen zu beobachten. So beschäftigt sich der Sammelband von Axel Goodbody und Berbeli Wanning mit Wasser – Kultur – Ökologie (2008) und zeichnet „Konstanten und Wandel in der sozialen und kulturellen Bedeutung des flüssigen Elements“ nach. Mit Phänomenen der Atmosphäre befasst sich der Sammelband Wind und Wetter. Kultur – Wissen – Ästhetik von Wolfgang Braungart und Urs Büttner (2015). Zudem gelangt die Frage nach dem Stellenwert der literarischen Figurendarstellung in den Blick, wenn in literarischen Texten auch der Natur eine agenzielle oder intentionale Kraft zugeschrieben wird (Dürbeck/Stobbe 2015), wobei in diesem bislang vernachlässigten Bereich der narratologischen Reflexion des Ecocriticism noch viel grundlegende Arbeit zu leisten ist. In dem Themenheft Ecocriticism und Kom-

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paratistik (Bergthaller 2014) steht neben der komparatistischen Ausrichtung die Vielfalt der Darstellungsmedien im Zentrum. Außerdem zeigt sich die Untersuchung ökologischer Genres (Zemanek 2016) als ein wichtiges Forschungsgebiet. Den Spuren ökologischen Denkens in der deutschen Literatur, Kultur, Philosophie und Ästhetik geht ein im Entstehen befindlicher Sammelband nach (Dürbeck u.a. 2016). Darüber hinaus befasst sich der aus einer Ringvorlesung hervorgegangene Band Ökologie und die Künste (Fischer-Lichte/Hahn 2015) mit den Strategien und Formen, mit denen ökologische Themen künstlerisch aufgegriffen, verhandelt und in Szene gesetzt werden. Insgesamt erweist sich der Ecocriticism als ein vielgestaltiger und überaus fruchtbarer Forschungsansatz, in dem Fragen nach theoretischen Grundlagen ebenso wichtig sind wie nach narrativen Verfahren und Schreibweisen, nach unterschiedlichen, z.T. neu entstehenden Genres und verschiedenen künstlerischen Ausprägungen. Die vorliegende Einführung stellt die zentralen Ansätze des Ecocriticism in einer repräsentativen Auswahl vor. Im ersten Teil werden die derzeit einflussreichsten theoretischen Perspektiven entfaltet. Am Anfang steht Ursula Heises Ansatz des Ökokosmopolitismus, der den Zusammenhang zwischen Lokalem und Globalem in Verbindung mit den Konzepten des Anthropozäns und des Posthumanismus aufzeigt, um schließlich eine Weiterentwicklung des Ökokosmopolitismus zum Multispecies-Justice-Konzept vorzustellen (Kap. 2). Danach stellen Winfried Nöth und Kalevi Kull die Grundlagen und Anwendungsfelder des interdisziplinären Forschungsfelds der Biosemiotik vor, die sich mit Zeichenprozessen zwischen und im Inneren von Lebewesen befasst (Kap. 3). Die viel diskutierten Perspektiven des Ökofeminismus und seine posthumanistische Erweiterung führt Christa Grewe-Volpp mit Blick auf aktuelle neo-materialistische und biomedizinische Fragen am Beispiel von Bacigalupis Roman The ­Windup Girl aus (Kap. 4). Der Beitrag Heather Sullivans gibt einen Überblick über die unterschiedlichen theoretischen Ansätze des New Materialism und konkretisiert sie am Beispiel von Goethes Faust (Kap. 5). In das mittlerweile weit ausdifferenzierte Forschungsfeld der Cultural (und Critical) Animal Studies, die u.a. auf Theorien des New Materialism fußen, führt der Beitrag von Roland Borgards ein (Kap. 6). Gesa Mackenthun zeigt die vielfachen Verbindungsmomente, aber auch die trennenden Perspektiven zwischen dem Ecocriticism und den Postkolonialen Studien mit Bezug auf literarische Beispiele auf (Kap. 7). Der Beitrag von Sabine Wilke umreißt den inter- und transdisziplinären Ansatz der

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1 Einleitung

Environmental Humanities, die in den letzten Jahren im anglophonen Bereich einen starken Institutionalisierungsschub erfahren haben (Kap. 8). Der Beitrag von Gabriele Dürbeck schließlich lotet die aktuelle Diskussion zum Anthropozän als Begriff eines neuen Erdzeitalters mit dem Menschen als geophysikalischer Kraft für die Literatur- und Kulturwissenschaften aus (Kap. 9). Im zweiten Teil der vorliegenden Einführung werden wichtige deutsche Traditionen des Ecocriticism nachgezeichnet, wobei der bereits genannte Überblicksartikel von Axel Goodbody das gesamte Feld vorstellt (Kap. 10). Der Beitrag von Ivo Engels zeichnet die Entwicklung und Geschichte der Natur- und Umweltschutzbewegung in Deutschland nach (Kap. 11). Daran anschließend fragt Urte Stobbe nach dem Aussagewert von Literatur für die Umweltgeschichte bzw. Environmental Studies mit dem Fokus einer engeren interdisziplinären Zusammenarbeit (Kap. 12). Für den deutschen Kontext ist die Kritische Theorie von wesentlicher Bedeutung, die Timo Müller anhand ihrer beiden wichtigsten Vertreter, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno, unter den Aspekten ökologische Ästhetik, Umweltethik und konstruktivistischer Ecocriticism rekonstruiert (Kap. 13). Abschließend führt Hubert Zapf das von ihm entwickelte und breit rezipierte triadische Funktionsmodell der Kulturökologie anhand von exemplarischen Beispielen aus (Kap. 14). Der dritte Teil der Einführung widmet sich dem ökologischen Potenzial von Literatur, Film und Kunst und gibt einen Überblick über unterschiedliche Genres und verschiedene Kunstformen, in denen das Mensch-Natur-Verhältnis, ökologische Fragen sowie anthropogener Klimawandel und mögliche Lösungen der Krise dargestellt werden. Evi Zemanek befragt Texte der Bukolik, Pastoral- und Idyllendichtung nach ihrer Darstellung und Reflexion des Mensch-Natur-Verhältnisses; zudem zeichnet sie Naturstaat- oder Naturstandsutopien sowie Agrar­ utopien und deren Spuren in Ökotopien der Moderne mir ihren umweltethischen Aspekten nach (Kap. 15). Der Beitrag von Heinrich Detering führt aus, wie die Aufnahme des Ecocriticism über die Kategorie der Naturlyrik hinaus den Blick auf lyrische Dichtung insgesamt verändert, und verdeutlicht dies anhand von naturbezogenen Themen, Motiven und formsemantischen Aspekten (Kap. 16). Christina Caupert stellt ökokritische Perspektiven im Bereich Drama und Theater vor, indem sie sich auf die Aspekte Raum, Landschaft, Nukleartechnologie, Klimawandel und Mensch-Tier-Verhältnisse konzentriert (Kap. 17).

1.1 Literaturverzeichnis

Anhaltende Klimakrise und Risikobewusstsein haben auch neue Genres hervorgebracht. In ihrem Beitrag zum Klimawandelroman untersucht Sylvia Mayer dieses seit den 1990er-Jahren neu entstandene Genre als ‚Experimentierfeld‘ für die Auseinandersetzung mit den realen und möglichen zukünftigen Auswirkungen der anthropogenen Klimakrise (Kap. 18). Der Beitrag von Gabriele Dürbeck konzentriert sich auf das neue Genre des Ökothrillers und zeigt, dass die einerseits auf Spannung, andererseits auf Wissenspopularisierung angelegte Handlung durch die genrebedingte Lust an der Katastrophe nur bedingt als Warnliteratur fungieren kann (Kap. 19). Berbeli Wanning und Anna Stemmann verweisen mit Blick auf die Gestaltung von Naturräumen auf die lange Tradition ökologischer Themen in der Kinder- und Jugendliteratur und entwickeln ein Modell zur Bestimmung der narrativen Funktion ökologischer Bezüge (Kap. 20). Der Beitrag von Alexa Weik von Mossner gibt einen Überblick über die grüne Filmwissenschaft und erläutert, was unter dem ebenfalls noch jungen Genre Ecocinema zu verstehen ist (Kap. 21). Linda Weintraub schließlich widmet sich den Entwicklungsbedingungen von Eco-Art und zeigt, inwiefern diese neuen Kunstformen auf gesellschaftspolitische Veränderungen angelegt sind und damit eine Herausforderung für die Kunstwissenschaft darstellen (Kap. 22). Damit bündelt der vorliegende Band Ecocriticism. Eine Einführung im Überblick den aktuellen Forschungsstand des deutschsprachigen Ecocriticism und versteht sich sowohl als Handreichung zum Einsatz in der Lehre als auch als Impulsgeber für die künftige Forschung.

1.1 Literaturverzeichnis

Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen. 3., neu bearb. Aufl. Berlin 2011. Bartosch, Roman/Grimm, Sieglinde (Hg.): Teaching Environments. Ecocritical Encounters. Frankfurt a.M. u.a. 2014. Bergthaller, Hannes: Einleitung: Ecocriticism und Komparatistik. In: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (2013), S. 11–17. Böhme, Hartmut/Matussek, Peter/Müller, Lothar: Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2002.

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1 Einleitung

Branch, Michael P./Slovic, Scott: The ISLE Reader: Ecocriticism, 1993–2003. A Tenth Anniversary Anthology. Athens/GA u.a. 2003. Braungart, Georg/Büttner, Urs (Hg.): Wind und Wetter: Kultur – Wissen – Ästhetik. München 2015. Buell, Lawrence: The Environmental Imagination. Thoreau, Nature Writing, and the Formation of American Culture. Cambridge/MA 1995. Buell, Lawrence: The Future of Environmental Criticism. Environmental Crisis and Literary Imagination. Malden/MA u.a. 2005. Coupe, Laurence (Hg.): The Green Studies Reader. From Romanticism to Ecocriticism. London, New York 2000. DeLoughrey, Elizabeth M./Gosson, Renée K./Handley, George B. (Hg.): Caribbean Literature and the Environment. Charlottesville, London 2005. Dürbeck, Gabriele/Stobbe, Urte (Hg.): Themenheft: Helden, Antihelden und nichtmenschliche Agenzien. Zur Figurendarstellung in umweltbezogener Literatur. In: Komparatistik Online (2015). www.komparatistik-online.de Dürbeck, Gabriele/Stobbe, Urte/Zapf, Hubert/Zemanek Evi (Hg.): Ecological Thought in German Literature and Culture [erscheint bei Lexington Books 2016]. Ermisch, Maren/Kruse, Ulrike/Stobbe, Urte (Hg.): Ökologische Transformationen und literarische Repräsentationen. Göttingen 2010. Fauser, Markus: Einführung in die Kulturwissenschaft. 5. Aufl. Darmstadt 2011. Finke, Peter: Kulturökologie. In: Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart, Weimar 2008, S. 248–279. Fischer-Lichte, Erika/Hahn, Daniel (Hg.): Ökologie und die Künste [München 2015]. Garrard, Greg: Ecocriticism. 2. Aufl. London u.a. 2012. Garrard, Greg (Hg.): Teaching Ecocriticism and Green Cultural Studies. New York 2012. Garrard, Greg (Hg.): The Oxford Handbook of Ecocriticism. Oxford, New York 2014. Gersdorf, Catrin/Mayer, Sylvia (Hg.): Natur – Kultur – Text: Beiträge zur Ökologie und Literaturwissenschaft. Heidelberg 2005. Gersdorf, Catrin/Mayer, Sylvia (Hg.): Nature in literary and cultural studies. Transatlantic conversations on ecocriticism. Amsterdam 2006. Glotfelty, Cheryll: Introduction. In: dies./Harold Fromm (Hg.): The Ecocriticism Reader. Landmarks in Literary Ecology. Athens/GA 1996, S. XV–XXXVII. Goodbody, Axel (Hg.): Literatur und Ökologie. Amsterdam 1998. Goodbody, Axel (Hg.): Nature, Technology and Cultural Change in Twentieth-century German Literature. The Challenge of Ecocriticism. Basingstoke 2007. Goodbody, Axel: German Ecocriticism: An Overview. In: Garrard, Greg (Hg.): The Oxford Handbook of Ecocriticism. Oxford, New York 2014, S. 547–559

1.1 Literaturverzeichnis

Goodbody, Axel/Rigby, Kate: Ecocritical Theory. New European Approaches. Charlottesville 2011. Goodbody, Axel/Wanning, Berbeli (Hg.): Wasser – Kultur – Ökologie: Konstanten und Wandel in der sozialen und kulturellen Bedeutung des flüssigen Elements. Göttingen 2008. Haraway, Donna: The Companion Species Manifesto. Chicago 2003. Heise, Ursula K.: Ecocriticism/Ökokritik. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. 2., überarb. u. erw. Aufl., Stuttgart, Weimar 2001, S. 128–129. Heise, Ursula K.: Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global. Oxford, New York 2008. Heise, Ursula K.: Ecocriticism. In: Borgards, Roland u.a. (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart u.a. 2013, S. 223–228. Hofer, Stefan: Die Ökologie der Literatur. Eine systemtheoretische Annäherung. Mit einer Studie zu Werken Peter Handkes. Bielefeld 2007. Huggan, Graham/Tiffin, Helen: Postcolonial Ecocriticism. Literature, Animals, Environment. London 2010. Johnson, Loretta: Greening the Library: The Fundamentals and Future of Ecocriticism. In: CHOICE (Dez. 2009), S. 7–13. Leggewie, Claus u.a. (Hg.): Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften. Bielefeld 2012. Moebius, Stephan (Hg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung. Bielefeld 2012. Morris-Keitel, Peter/Niedermeier, Michael (Hg.): Ökologie und Literatur. New York 2000. Paulsen, Adam/Sandberg, Anna (Hg.): Natur und Moderne um 1900. Räume, Repräsentationen, Medien. Bielefeld 2013. Schößler, Franziska: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Eine Einführung. Tübingen, Basel 2006. Slovic, Scott: The Third Wave of Ecocriticism: North American Reflections on the Current Phase of the Discipline. In: Ecozon@. European Journal of Literature, Culture and Environment 1.1 (2010), S. 4–10. Starre, Alexander: Always already green. Zur Entwicklung und den literaturtheoretischen Prämissen des amerikanischen Ecocriticism. In: Ermisch, Maren/Kruse, Ulrike/Stobbe, Urte (Hg.): Ökologische Transformationen und literarische Repräsentationen. Göttingen 2010, S. 13–34. Westling, Louise (Hg.): The Cambridge Companion to Literature and the Environment. Cambridge 2014.

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1 Einleitung

Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie: Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen 2002. Zapf, Hubert (Hg.): Handbook of Ecocriticism and Cultural Ecology [erscheint voraussichtl. Berlin, New York 2016]. Zapf, Hubert (Hg.): Kulturökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft. Heidelberg 2008. Zemanek, Evi (Hg.): Ökologische Genres und Schreibweisen [erscheint voraussichtl. München 2016].

2 Ökokosmopolitismus Ursula K. Heise 2.1 Lokalismus und Globalismus

Das Konzept des Ökokosmopolitismus entstand als Resultat und Reaktion auf das erste ‚ökokritische‘ Jahrzehnt. Nachdem 1993 während einer Tagung der Western Literature Association in Nevada die erste berufliche Organisation des sich herausbildenden Ecocriticism gegründet worden war (ASLE), konzentrierte sich die umweltorientierte Literaturwissenschaft zunächst auf die amerikanische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts – besonders die naturorientierte essayistische Literatur in der Nachfolge Henry David Thoreaus, die Naturlyrik und die indianische Literatur – und auf die englische Naturlyrik der Romantik. Während der Ecocriticism rasch auch in anderen Ländern aufgenommen wurde, geschah dies meist durch außerhalb der Vereinigten Staaten lehrende Amerikanisten: So wurde z.B. die erste japanische Organisation für Ecocriticism bereits 1995 begründet, aber nicht von Japanologen, sondern von japanischen Amerikanisten. Bis um die Jahrtausendwende war die umweltorientierte Literaturwissenschaft daher vorwiegend von nordamerikanischen Naturvorstellungen, kulturellen Präferenzen und literarischen Genres geprägt: vom Interesse an von Menschen unberührter Natur, an der individuellen Begegnung mit der Wildnis und an autobiographisch ausgerichteten Essays und Erzählungen. Nach der Jahrtausendwende, als der Ecocriticism wuchs und sich theoretisch diversifizierte, wurden solche Annahmen zunehmend kritisiert. Der Umwelthistoriker William Cronon hatte bereits 1995 mit seinem Artikel „The Trouble with Wilderness; or, Getting Back to the Wrong Nature“ die Faszination mit Wildnisidealen kritisch beleuchtet, die systematisch die indianischen Ureinwohner des nordamerikanischen Kontinents und deren Eingriffe in die Natur ignorierte und Naturschutzgebiete entstehen ließ, die freilich erst nach der Vertreibung der dort ansässigen Stämme zur unberührten ‚Wilderness‘ erklärt worden waren. Diese Vernachlässigung der Geschichte und Politik nordamerikanischer Naturideologien wurde später auch von postkolonialen Literaturkritikern aufgegriffen. Susie O’Brien (2001), Graham Huggan (2004) und Rob Nixon (2005) riefen in bahnbrechenden Essays zu einer neuen Integration von postkolonialen

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2 Ökokosmopolitismus

und umweltorientierten Ansätzen in der Literatur- und Kulturwissenschaft auf. Dabei zeigten sie, wie einerseits postkoloniale Theoretiker oft die Umweltaspekte der Kolonisierung außer Acht gelassen hatten, die zunehmend von der Environmental-Justice-Bewegung betont wurden, und wie sich andererseits die unterschiedlichen Grundlagen und Perspektiven von Ecocriticism und Postkolonialismus zusammendenken ließen (vgl. Kap. 7): die Vernachlässigung der Geschichte im Ecocriticism und ihre zentrale Bedeutung für die postkoloniale Kritik; die Betonung der Wildnis einerseits und der Metropolen andererseits; das Interesse an der lokalen Verwurzelung einerseits, an Grenzüberschreitung und Hybridität andererseits; die Betonung der Beziehungen zwischen verschiedenen biologischen Arten in der umweltorientierten Literaturwissenschaft und zwischen geopolitisch und wirtschaftlich unterschiedlich gestellten Klassen im Postkolonialismus; sowie auch, etwas spezifischer, das Interesse an einer engen Verbindung zwischen literarischem Wort und extraliterarischer Welt im Ecocriticism, die in postkolonialen Perspektiven oft kritisch infrage gestellt und dekonstruiert wird. Huggan, Nixon und O’Brien suchen auf verschiedene Weise die amerikanische Orientierung des Ecocriticism auf transnationale Horizonte zu erweitern. Laut Nixon betonen sie gleichermaßen the need for us to recuperate, imaginatively and politically, experiences of hybridity, displacement, and transnational memory for any viable spatial ethic. Postcolonialism can help diversify our thinking beyond the dominant paradigms of wilderness and Jeffersonian agrarianism in ways that render ecocriticism more accommodating of […] a transnational ethics of place (Nixon 2011, 243).

Wie dieses Zitat bereits andeutet, spielen kulturell und politisch spezifische Raumvorstellungen eine zentrale Rolle in der Spannung zwischen umweltorientierter und postkolonialer Literaturwissenschaft. Die nordamerikanische Umweltbewegung hat seit Langem eine besondere Betonung auf die Kultivierung oder Restaurierung des ‚Sense of Place‘ gelegt – ein Begriff, der sich nicht ohne weiteres in andere europäische Sprachen übersetzen lässt, ins Deutsche aber etwa als ‚Heimatbewusstsein‘ oder ‚Lokalismus‘ übertragen werden könnte. Damit ist gemeint, dass eine effektive Umweltethik sich nur in der detaillierten Kenntnis und liebevollen Sorge für den Heimatort begründen lässt, und dass Umweltschäden und -krisen letztlich aus der Vernachlässigung des Lokalen, aus

2.1 Lokalismus und Globalismus

zu viel Mobilität und Medienkonsum anstelle des direkten Umgangs mit der Natur resultieren. Klassische nordamerikanische Umweltschriftsteller wie Henry David Thoreau, Aldo Leopold, Wendell Berry und Gary Snyder haben so für den Umweltschutz argumentiert (oder sind retrospektiv so interpretiert worden). Die Bioregionalismusbewegung, eine Variante der nordamerikanischen Umweltbewegung, hat seit den 1970er- und 1980er-Jahren auf dieser Grundlage argumentiert, dass es umweltpolitisch sinnvoll sei, verwaltungstechnische und politische Einheiten wie Staaten oder Gemeinden aufgrund natürlicher Grenzen – z.B. Wassereinzugsgebiete oder Vegetationszonen – umzugestalten. In der nordamerikanischen Umweltrhetorik geht es beim ‚Sense of Place‘ als philosophischer und ethischer Grundlage des Umweltschutzes um die Entdeckung, Pflege und Wiederherstellung unmittelbarer Naturbeobachtungen und -erfahrungen, um die kognitive, affektive und letztlich ethische Verwurzelung an einem Ort, der so lange wie möglich bewohnt werden sollte. Diese Grundlage scheint nicht nur aus postkolonialen Perspektiven fragwürdig, die das Lokale nicht außerhalb der materiellen und symbolischen Beziehungen zwischen Kolonialmacht und Kolonie denken können und denen oft Erfahrungen von Verbannung, Verschleppung, Exil, Diaspora und Hybridität zugrunde liegen. Sie mutet auch aus anderen ‚westlichen‘ Perspektiven fremd an. In der Geschichte der deutschen Umweltbewegung und in der deutschen Umweltgesetzgebung seit dem 19. Jahrhundert spielt z.B. der Begriff der ‚Landschaft‘ eine bedeutende Rolle. Doch meint ‚Landschaft‘ fast nie ‚Wilderness‘ bzw. ‚Wildnis‘ im nordamerikanischen Sinn, sondern Ökosysteme, die seit Jahrhunderten von Menschen genutzt und umgestaltet worden sind und bei deren Bewahrung es oft auch um den Schutz von Kulturgütern und -traditionen geht. Die Rhetorik des Heimatbewusstseins und der Verwurzelung im angestammten Boden konnte bei der Entstehung der modernen deutschen Umweltbewegung in den 1970ern auch deshalb nicht greifen, weil sie schon vorab vom Nationalsozialismus ideologisch besetzt worden war: Der Dienst am Heimatland, die Verbindung zu ‚Blut und Boden‘ und Symbole wie der deutsche Wald und die deutsche Eiche waren ideologisch so vorbelastet, dass sie für eine ab den 1980er-Jahren vorwiegend linksorientierte politische Bewegung aus historischen Gründen rhetorisch ausgeschlossen waren. Dass die deutsche Umweltbewegung trotzdem eine Partei („Die Grünen“) gründen konnte und bis heute Umweltpolitik betreibt und auf kommunaler, Landes- und Bundesebene an der Regierung

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teilnimmt – in vieler Hinsicht also erfolgreicher ist als ihr Äquivalent in den Vereinigten Staaten –, zeigt, dass der Lokalismus als umweltphilosophische und -ethische Grundlage nicht so unabdingbar ist, wie er in der amerikanischen Umweltliteratur oft dargestellt wird. Der Begriff des Ökokosmopolitismus entstand aus dem Vergleich der USA mit anderen Nationen und Regionen und basiert auf der Einsicht, dass alle Erfahrungen und Werteinschätzungen der Natur in solchen kulturspezifischen Kontexten stattfinden, die sich oft grundsätzlich voneinander unterscheiden. Für ein kulturtheoretisches Verständnis der vielfältigen Spielarten des Umweltdenkens wie auch für eine pragmatische und effiziente Umweltpolitik ist daher die Kenntnis und Anteilnahme an anderen historischen, kulturellen und sprachlichen Verortungen von ‚Natur‘ und ihrer Bedeutung ebenso wichtig – in den meisten Fällen sogar erheblich wichtiger – wie die enge kognitive und affektive Verbindung mit dem Lokalen. Das soll nicht heißen, dass Kenntnis und Schutz der unmittelbaren naturräumlichen bzw. physischen Umgebung nicht bedeutsam sein können; es heißt aber, dass Umweltdenken, Umweltpolitik und umweltorientierte Literatur- und Kulturwissenschaft sich im Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung nicht auf unmittelbare Naturerfahrungen im lokalen Bereich beschränken können, sondern im Gegenteil das Wissen über unvertraute, manchmal weit entfernte und oft durch Technologien und Medien vermittelte Ökosysteme, Geschichten, Kulturen und Sprachen fördern muss. Darin liegt der Kern eines umweltorientierten Kosmopolitismus. 2.2 Ökokosmopolitismus, Anthropozän und Posthumanismus

Der Ökokosmopolitismus versteht sich intellektuell als Zusammenfluss von zwei Denktraditionen: einerseits des Umweltdenkens und der Umweltpolitik, andererseits der kulturtheoretischen Forschung, die seit den 1980er-Jahren Begriffe wie Exil, Diaspora, Nomadismus, Migration, Postkolonialismus, Hybridität, ‚Mestizaje‘, ‚Border Cultures‘ und Deterritorialisierung in den Vordergrund gestellt hat (Heise 2008, Heise 2013). Das Wiederaufleben des Kosmopolitismus als wesentlicher Aspekt dieser Forschung über grenzüberschreitende Raum- und Identitätserfahrungen ist ein teils deskriptives und teils präskriptives Projekt. Einerseits suchen Kosmopolitismustheorien empirisch neue Raumerfahrungen und Identitäten im Rahmen einer zunehmend globalen und medienvermittel-

2.2 Ökokosmopolitismus, Anthropozän und Posthumanismus

ten Welt zu erfassen, vom Flüchtling und Gastarbeiter bis hin zum Touristen und weltreisenden Aktivisten oder Manager. Andererseits suchen sie oft nach neuen kulturellen Perspektiven, politischen Prinzipien und ethischen Modellen, die in diesem weltweiten Rahmen größere Demokratie und Gerechtigkeit fördern können. Theoretiker wie Martha C. Nussbaum (1996), Pheng Cheah und Bruce Robbins (1998), Kwame Anthony Appiah (2006) und viele andere sind sich dabei der geschichtlichen Belastung des Kosmopolitismusbegriffs durchaus bewusst. Obwohl der Kosmopolitismus eine lange Geschichte bis zu Kant und zurück zu den Stoikern hat, war er im frühen 20. Jahrhundert oft mit dem kolonial geprägten Elitismus europäischer weißer und männlicher Reisender verbunden. Seit den 1980er-Jahren haben deshalb Philosophen, Anthropologen und Kulturtheoretiker versucht, den Kosmopolitismusbegriff gegenüber diesem geschichtlichen Erbe zu rehabilitieren und in sinnvoller Weise neu einzusetzen: Dabei wurden zur Unterscheidung von älteren Bedeutungsschichten Begriffe wie ‚Critical Cosmopolitanism‘ (Delanty 2006) und ‚Vernacular Cosmopolitanism‘ (Werbner 2008) eingesetzt. Der Ökokosmopolitismus versteht sich als Teil dieser Neuperspektivierung, postuliert aber als grundlegende Komponente des Kosmopolitismus ein Verständnis je kulturell verschiedener Zugriffe auf das Verhältnis von Mensch und Umwelt. Solche kulturellen Unterschiede sind gerade in den letzten zehn Jahren in Umweltdebatten nur selten ins Blickfeld gerückt. Seit die Wissenschaftler Paul Crutzen und Eugene Stoermer im Jahre 2000 die Hypothese vorschlugen, dass die Menschheit nicht mehr im Holozän der letzten 12.000 Jahre lebt, sondern in einem neuen, vom Menschen geprägten geologischen Zeitalter, hat das Konzept des Anthropozäns immer mehr das Umweltdenken beeinflusst (vgl. Kap. 9). Mit der ‚Menschenzeit‘ meinen Crutzen und Stoermer ein Zeitalter, in dem Menschen die planetarischen Ökosysteme nicht nur biologisch, sondern auch meteorologisch und geologisch umformen, und dessen Spuren in den geologischen Strata für zukünftige Beobachter sichtbar sein werden. Die Geologen selbst werden erst 2016 entscheiden, ob diese Namensänderung wissenschaftlich gerechtfertigt ist, doch hat das Konzept des Anthropozäns in der Zwischenzeit ein kulturelles Eigenleben entwickelt. Einerseits dient es oft als Zusammenfassung aller Umweltkrisen, die die Menschheit auf dem Planeten Erde ausgelöst hat, andererseits ist es zum Ausgangspunkt eines neuen Umweltdenkens geworden, das nicht mehr nostalgisch auf die Ökosysteme der Vergangenheit zurück-

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2 Ökokosmopolitismus

blickt und das Eingreifen des Menschen als hauptsächlich destruktiv versteht, sondern zukunftsträchtige Umweltperspektiven unter Einbeziehung menschlicher Eingriffe zu entwickeln sucht. Während Crutzen und Stoermer (2000) das Anthropozän hauptsächlich im ersten Sinn interpretieren, findet sich die optimistischere Variante bei Schwägerl (2010), Marris/Kareiva/Mascaro/Ellis (2011), Revkin (2011) und Ackerman (2014). Aus der verstärkten Betonung auf menschlichen Transformationen der Natur in beiden Varianten kann sich nun ein neuer Anthropozentrismus ergeben, der im Spannungsverhältnis mit den älteren Formen des Umweltdenkens steht, die gerade über den Menschen hinaus die „more-than-human world“ (David Abrams) in den Mittelpunkt stellen wollten. Dieser Anthropozentrismus läuft auch in gewissem Sinne den umweltorientierten Geisteswissenschaften entgegen, die gerade die Zentralität nichtmenschlicher Aktanten hervorheben. Darüber hinaus haben sich in den letzten drei Jahrzehnten in den Geisteswissenschaften verschiedene Spielarten des Posthumanismus entwickelt, dem mit dem Ecocriticism auch die Systemtheorie (Luhmann), Actor-Network-Theory (Latour, Callon, Law), New Materialisms (Alaimo, Barad, Iovino, Oppermann), New Vitalism (Bennett), objektorientierte Ontologie (Harman, Meilloux, Morton), Critical Animal Studies (Haraway, Wolfe) und Critical Plant Studies (Hall, Kohn) angehören. So unterschiedlich und sogar widersprüchlich diese Varianten des Posthumanismus auch sein mögen, sind sie doch alle darauf angelegt, das konventionell verstandene humanistische Subjekt der Aufklärung und die Sonderstellung des Menschen in der Natur- und Sachwelt infrage zu stellen. Interessanterweise sind es also in diesem Zusammenhang die Geisteswissenschaften, die die Zentralität des Menschlichen skeptisch hinterfragen, während das aus den Naturwissenschaften abgeleitete Konzept des Anthropozäns die ökologische Zentralität des Homo sapiens in den Vordergrund stellt. Diese Betonung des Menschen als biologische Art und globale geophysikalische Macht setzt voraus, dass das Menschliche jenseits aller politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Differenzierungen bereits definiert ist. Diese Voraussetzung wird im Allgemeinen von Naturwissenschaftlern ohne weiteres akzeptiert. Dagegen erscheint ‚der Mensch‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – v.a. in der Anthropologie, Geschichte, Kunstgeschichte, Linguistik und der vergleichenden Literaturwissenschaft – als eine Abstraktion oder, vielleicht präziser gesagt, als eine Assemblage, die nur nach detaillierter Analyse

2.3 Ökokosmopolitismus und die Artenfrage

historischer, linguistischer und kultureller Unterschiede unternommen werden kann. ‚Der Mensch‘ oder ‚die Menschheit‘ des Anthropozäns ist aus dieser Perspektive keine vorgegebene Einheit, kein argumentativer Ausgangspunkt, sondern ein konzeptueller Endpunkt, der erst durch die Forschung erreicht werden muss. Der Ökokosmopolitismus – im Unterschied zu anderen Varianten des Kosmopolitismus – versteht sich als Teil dieser posthumanistischen Neu­ perspektivierung des Menschlichen als Kategorie, die nicht gegeben ist, sondern als zukünftige Assemblage angestrebt werden muss. 2.3 Ökokosmopolitismus und die Artenfrage

In den letzten Jahren hat gerade die Anthropologie neue Anstöße dafür gegeben, wie das Menschliche als Assemblage über konventionelle biologische oder sozialwissenschaftliche Definitionen hinaus gedacht werden kann. 2010 schlugen die Anthropologen Eben Kirksey und Stefan Helmreich im nordamerikanischen Bereich dafür den Begriff der Multispecies Ethnography vor, eine Form von Ethnographie also, die menschliche Gesellschaften als Kombination verschiedener biologischer Arten sieht (Kirksey/Helmreich 2010; vgl. Kirksey/Schuetze/Helmreich 2014): z.B. Menschen; Pflanzen und Tiere, von denen sie sich ernähren (und die, wenn man dem Journalisten Michael Pollan (2002) Glauben schenken will, auch die Menschen benützen, um sich evolutionäre Vorteile zu verschaffen); Tiere, die sie als Haustiere halten oder denen sie religiöse Bedeutung zuschreiben; Arten, die für Menschen lebensnotwendige ökologische Dienstleistungen erbringen; Mikroorganismen, die menschliche Körper bewohnen; Bakterien und Viren, die sie als Krankheitserreger in Gefahr bringen oder sie gegen Krankheiten schützen. Donna Haraways Arbeiten über Companion Species hatten bereits einen Teil dieses Ansatzes antizipiert. In Belgien, Frankreich und Italien haben Vinciane Despret (2006), François Lestel, ­Florence Brunois und Florence Gaunet (2006), Roberto Marchesini (2006) sowie Marchesini und Sabrina Tonutti (2007) ähnliche Perspektiven unter den Begriffen „anthropo-éthologie“, „étho-ethnologie“, „ethno-éthologie“ und „zooantropologia“ vorgeschlagen. In Australien haben Deborah Bird Rose und Thom van Dooren (2012) eng verwandte, von Philosophie und Anthropologie beeinflusste Analysen vorgelegt; Rose analysiert etwa das Zusammentreffen von Menschen, Haushunden und Dingos in sozial verschiedenen Kontexten (Rose

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2 Ökokosmopolitismus

2011), oder Pinguine und Fledermäuse im Stadtraum Sydneys. Grob skizziert geht es bei allen diesen Ansätzen darum, ein neues Verständnis des Menschlichen aus der Analyse der Artenkombinationen zu entwickeln, ohne die weder der individuelle menschliche Körper noch menschliche Gemeinschaften denkbar sind. Für den Ökokosmopolitismus ergibt sich aus solchen Multispecies-Ansätzen, die Anthropologie und Ethologie kombinieren, die Herausforderung, Ökologie nicht nur von verschiedenen Sozial- und Kulturhorizonten, sondern auch von verschiedenen Artenhorizonten her zu denken. Das heißt, dass nicht nur die Geschichten, Kulturen und Rechte von Menschen in unterschiedlichen geopolitischen Räumen und Sozialstellungen sichtbar werden sollen, sondern auch, dass nichtmenschliche Arten Anspruch auf moralische und politische Berücksichtigung haben (Environmental Justice). In der Umweltpraxis laufen diese beiden Dimensionen oft parallel: Viele Formen der Wasser- und Luftverschmutzung, der Waldabholzung oder der Müllablagerung, die für Menschen gefährlich sind, schaden auch anderen Arten. Aber die Risiken liegen nicht immer parallel. Die Environmental-Justice-Bewegung entstand in den 1980er-Jahren aus der Einsicht, dass sozial unterprivilegierte Gemeinden, Länder und Regionen nicht nur größere Umweltlasten tragen, sondern dass auch in vielen Fällen Nationalparks, Naturschutzgebiete und Tierreservate von europäischen und nordamerikanischen Umweltorganisationen auf Kosten lokal angesiedelter Bevölkerungen in Afrika, Asien und Lateinamerika eingerichtet wurden. In solchen Fällen stehen das Leben, die Gesundheit und die Sicherheit einerseits menschlicher und andererseits nichtmenschlicher Bevölkerungen manchmal in direktem Konflikt, und in etwas breiterem Rahmen haben Aktivisten in Entwicklungsländern oft den Verdacht laut werden lassen, dass der Einsatz von europäischen und nordamerikanischen Umweltorganisationen für die Natur in der Dritten Welt – aber nicht immer für die Menschen, die in ihr leben – einer neuen, grünen Form des Imperialismus gleichkomme. Der bengalische Schriftsteller Amitav Ghosh hat solche Konflikte im Detail in seinem Roman The Hungry Tide (Hunger der Gezeiten, 2005) dargestellt. Einerseits vergleicht die Handlung, die in den Sundarbans, einem riesigen Mangrovenwald im Deltagebiet des Ganges, stattfindet, unterschiedliche Wahrnehmungen des Bengalischen Tigers: eine vom Aussterben bedrohte Art in den Augen einer indisch-amerikanischen Biologin auf Forschungsreise, aber gleich-

2.3 Ökokosmopolitismus und die Artenfrage

zeitig eine Art, die für die Einwohner der Sundarbans oft zur tödlichen Gefahr wird. Andererseits greift Hunger der Gezeiten auf einen historischen Zwischenfall im Jahre 1979 zurück, in dem die indische Regierung Flüchtlinge vertrieb, die sich in einem Wald- und Tigerschutzgebiet in den Sundarbans angesiedelt hatten. Angesichts solcher Situationen, in denen Menschen und Tiere füreinander gefährlich sind und in denen der Schutz des Tieres zum Risiko für den Menschen wird, hat es Sinn, den Ökokosmopolitismus als ‚Multispecies Justice‘ weiterzudenken, also als Versuch, die Rechte verschiedener menschlicher Bevölkerungen sowie auch die Rechte anderer Arten sichtbar werden zu lassen. Das bedeutet natürlich nicht, dass alle diese Rechte in jedem Fall gleichgestellt werden können oder sollen, oder dass sich daraus einfache Lösungen für Konfliktsituationen wie die von Ghosh dargestellten ergeben. Es heißt aber, dass die Suche nach Lösungen sowohl die Rechte und Ansprüche ungleicher Menschengruppen wie auch die nichtmenschlicher Arten berücksichtigen muss. Während der Ökokosmopolitismus in seiner ersten Formulierung die Einsichten komparativer Kulturtheorien in das Umweltdenken einzubringen suchte, sodass sozial und kulturell verschiedene Verständnisse des Mensch-Natur-Verhältnisses in den Vordergrund traten, zielt das Konzept der ‚Multispecies Justice‘ darauf ab, diesen vergleichenden Horizont über die Artengrenze hinweg zu erweitern. In dieser Horizontverschiebung spielen Literatur und Film potenziell eine entscheidende Rolle. Im 20. Jahrhundert haben Schriftsteller und Drehbuchautoren immer wieder versucht, Ereignisse aus der Perspektive eines Tieres oder sogar einer Pflanze zu schildern. So werden die Romane The Call of the Wild (Ruf der Wildnis, 1903) und White Fang (Wolfsblut, 1906) des amerikanischen Autors Jack London vom Blickpunkt eines Hundes oder Wolfs erzählt, die Trilogie Les fourmis (1991), Le jour des fourmis (1992) und La révolution des fourmis (1996) des französischen Schriftstellers Bernard Werber abwechselnd aus Ameisen- und Menschenperspektive, seine Kurzgeschichte L’ami silencieux (2001) vom Standpunkt eines Baums. Nichtmenschliche Erzähler tauchen auch in Ursula K. Le Guins Kurzgeschichten immer wieder auf: eine Ratte in Mazes (1971), ein Baum in The Direction of the Road (1974) und eine Wölfin in The Wife’s Story (1979). The White Bone (1999), ein Roman der Kanadierin Barbara­Gowdy, nimmt die Perspektive einer Herde Elefanten als Ausgangspunkt, und im Horrorfilm Wolfen (1981) von Michael Wadleigh werden die Ereignisse zum Teil mit Spezialeffekten aus der Perspektive eines Wolfs dargestellt. Der Zeichentrickfilm ist in seiner Ent-

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2 Ökokosmopolitismus

wicklungsgeschichte immer wieder von Tierperspektiven ausgegangen, wie z.B. Walt Disneys Bambi (1942), Isao Takahatas Pom Poko (1994) oder Finding Nemo (Findet Nemo, 2003) von Pixar Animation Studios. Ebenso hat sich die Science-Fiction-Literatur nicht nur mit Perspektiven von Extraterrestrischen auseinandergesetzt, die manchmal als Metaphern für nichtmenschliche irdische Arten funktionieren – vor allem in Orson Scott Cards Ender-­Romanserie –, sondern auch explizit mit der Sicht von Tieren selbst, so in Jonathan Lethems Gun, With Occasional Music (Knarre mit Begleitmusik, 1994), Sheri Teppers The Family Tree (1997) und, am experimentellsten und letzten Endes jenseits der Arten, wie sie die Biologie heute versteht, Dietmar Daths Die Abschaffung der Arten (2008). In all diesen Werken werden die Zentralität und Einzigartigkeit des menschlichen Zugriffs auf Natur und Gesellschaft implizit oder explizit relativiert und infrage gestellt, und in Werken wie Cards Speaker for the Dead (Sprecher für die Toten, 1986) und Xenocide (Xenozid, 1991) und Teppers Family Tree steht die Entwicklung einer Nichtmenschen einschließenden Sozial- und Rechtsordnung im Mittelpunkt. Literatur und Film nehmen hier beispielhaft im Bereich der Ästhetik die Horizontverschiebung vor, die im Bereich des Umweltdenkens der Ökokosmopolitismus und die ‚Multispecies Justice‘ anstreben. 2.4 Literaturverzeichnis

Ackerman, Diane: The Human Age. The World Shaped by Us. New York 2014. Appiah, Kwame Anthony: Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers. New York 2006. Cheah, Pheng/Robbins, Bruce (Hg.): Cosmopolitics. Thinking and Feeling Beyond the Nation. Minneapolis 1998. Cronon, William: The Trouble with Wilderness; or, Getting Back to the Wrong Nature. In: Cronon, William (Hg.): Uncommon Ground. Rethinking the Human Place in Nature. New York 1995, S. 69–90. Crutzen, Paul J./Stoermer, Eugene F.: The ‘Anthropocene’. In: Global Change Newsletter 41 (2000), S. 17–18. Delanty, Gerard: The Cosmopolitan Imagination. Critical Cosmopolitanism and Social Theory. In: The British Journal of Sociology 57.1 (2006), S. 25–47. Despret, Vinciane: Anthropo-éthologie des non-humains politiques. In: Information sur les Sciences Sociales/Social Science Information 45.2 (2006), S. 209–226.

2.4 Literaturverzeichnis

Heise, Ursula K.: Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global. Oxford, New York 2008. Heise, Ursula K.: Globality, Difference, and the International Turn in Ecocriticism. In: Publications of the Modern Language Association 128.3 (2013), S. 636–643. Huggan, Graham: ‘Greening’ Postcolonialism: Ecocritical Perspectives. In: Modern Fiction Studies 50.3 (2004), S. 701–733. Kirksey, S. Eben/Helmreich, Stefan: The Emergence of Multispecies Ethnography. In: Cultural Anthropology 25 (2010), S. 545–576. Kirksey, S. Eben/Schuetze, Craig/Helmreich, Stefan: Introduction: Tactics of Multispecies Ethnography. In: Kirksey, S. Eben (Hg.): The Multispecies Salon. Durham 2014, S. 1–24. Lestel, Dominique/Brunois, Florence/Gaunet, Florence: Etho-ethnology and Ethnoethology. In: Social Science Information 45.2 (2006), S. 155–177. Marchesini, Roberto: Fondamenti di zooantropologia. Zooantropologia applicata. Bologna 2006. Marchesini, Roberto/Tonutti, Sabrina: Manuale di zooantropologia. Rom 2007. Marris, Emma/Kareiva, Peter/Mascaro, Joseph/Ellis, Erle C.: Hope in the Age of Man. In: New York Times (7. Dezember 2011), http://www.nytimes.com/2011/12/08/opinion/the-age-of-man-is-not-a-disaster.html?_r=0 (zuletzt 18.05.2015). Nixon, Rob: Environmentalism and Postcolonialism. In: Loomba, Ania u.a. (Hg.): Postcolonial Studies and Beyond. Durham/NC 2005, S. 233–251 [Wiederabdruck in: Nixon, Rob: Slow Violence and the Environmentalism of the Poor. Cambridge/ MA 2011, S. 233–262]. Nussbaum, Martha C./Cohen, Joshua (Hg.). For Love of Country. Debating the Limits of Patriotism. Boston 1996. O’Brien, Susie: Articulating a World of Difference. Ecocriticism, Postcolonialism and Globalization. In: Canadian Literature 170–171 (2001), S. 140–158. Pollan, Michael: The Botany of Desire: A Plant’s-Eye View of the World. New York 2002. Revkin, Andrew C.: Embracing the Anthropocene. In: New York Times (20. Mai 2011), http://dotearth.blogs.nytimes.com/2011/05/20/embracing-the-anthropocene/ (zuletzt 18.05.2015). Rose, Deborah Bird: Wild Dog Dreaming. Love and Extinction. Charlottesville 2011. Schwägerl, Christian: Menschenzeit: Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten. München 2010. Van Dooren, Thom/Rose, Deborah Bird: Storied-Places in a Multispecies City. In: Humanimalia 3.2 (2012), S. 1–27. Werbner, Pnina: Anthropology and the New Cosmopolitanism. Rooted, Feminist and Vernacular Perspectives. Oxford 2008.

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3 Biosemiotik Winfried Nöth und Kalevi Kull

Die Semiotik ist die Wissenschaft von den Zeichen, Zeichensystemen und Zeichenprozessen (Semiose). Die Biosemiotik ist einer ihrer Zweige. Sie umfasst ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das die Biologie mit der Semiotik verbindet und von den Zeichenprozessen zwischen und im Inneren von Lebewesen handelt (vgl. Schult 2004; Emmeche/Kull 2011). 3.1 Das Forschungsfeld der Biosemiotik

In einem programmatischen Manifest umreißt die Internationale Gesellschaft für Biosemiotik dieses Forschungsgebiet wie folgt: „Die Biosemiotik ist ein internationales Projekt mit dem Ziel der Erforschung der zahllosen Formen von Kommunikation und Signifikation zwischen und in Lebewesen. Sie untersucht also Themen wie Bedeutung, Sinn oder Repräsentation, biologische Implikationen von Codes und Zeichenprozessen, genetische Codesequenzen sowie interzelluläre Zeichen- und Kommunikationsprozesse bis hin zu den in der Vergleichenden Verhaltensforschung untersuchten Zeichen von Tieren, semiotische Artefakte der Menschen einschließlich von Sprache und abstraktem symbolischen Denken“ (http://www.biosemiotics.org/, zuletzt 18.05.15). Die so umschriebene Disziplin kennzeichnet die Biosemiotik im weitesten Sinn als eine Wissenschaft von den Zeichenprozessen bei Lebewesen überhaupt. Etliche Autoren begreifen die Biosemiotik jedoch als eine speziellere semiotische Disziplin neben anderen (vgl. Sebeok 1991, 91–95; Hoffmeyer 2008). Die dabei aus der Biosemiotik im weiteren Sinn ausgegliederten spezifischeren Disziplinen sind etwa die Zoosemiotik (Maran/Martinelli/Turovski 2011) und die Phytosemiotik (Krampen 1981). Erstere ist die Wissenschaft von den Zeichen und der Kommunikation bei Tieren. Letztere untersucht Semioseprozesse in der Vegetation. Weitere von der Biosemiotik im weitesten Sinn abgegrenzte Forschungsfelder sind die Ökosemiotik (Nöth 2000, 250–253), die medizinische Semiotik (Sebeok 2001, 44–58), die Neurosemiotik (Ivanov 1983) und die Endosemiotik, deren Gebiet die Zeichenprozesse innerhalb von Organismen sind (Uexküll/Geigges/Herrmann 1993). In der Schnittfläche zwischen Bio­

3.1 Das Forschungsfeld der Biosemiotik

semiotik und Kultursemiotik findet sich die auf den Zeichengebrauch bei Menschen beschränkte Anthroposemiotik einschließlich der Evolutionären Kultursemiotik (Koch 1986). Sowohl die Biosemiotik als auch die Biolinguistik haben evolutionsbiologische, molekulargenetische, neurowissenschaftliche und phylogenetische Aspekte der Sprache thematisiert. Wenig Zustimmung dürfte dagegen die oben zitierte Auffassung finden, dass auch „semiotische Artefakte der Menschen einschließlich von Sprache und abstraktem symbolischen Denken“ zum eigentlichen Forschungsfeld der Biosemiotik gehören. Die auf diese oder andere Weise eingegrenzte Biosemiotik beschränkt sich im Wesentlichen auf die Semioseprozesse von der Molekular- bis zur Zellbiologie einschließlich der semiotischen Aspekte der Genetik und der Immunologie. Rothschild (1968, 163) definiert die Biosemiotik in diesem Sinn als die Wissenschaft von dem „psychophysischen Beziehungsgeflecht im zentralen Nervensystem und in anderen Strukturen mit psychophysischer Funktion im Inneren von Organismen“. Einführungen in die Biosemiotik in diesem engeren Sinn geben Hoffmeyer (1996) und Barbieri (2007). Einen Reader mit Schlüsseltexten aus der Biosemiotik hat Favareau (2010) zusammengestellt. Die Biosemiotik ist eine interdisziplinäre Grundlagenwissenschaft, die von der Annahme ausgeht, dass biologische Prozesse Zeichenprozesse oder, wie es nach Peirce, dem Begründer der modernen Semiotik, heißt, Semioseprozesse sind. Hoffmeyer (1996, 61) begründet diese Annahme so: „Die Sphäre des Lebens ist von Zeichenprozessen (Semiosen) durchdrungen. Was auch immer ein Organismus empfindet, hat für ihn Bedeutung – Nahrung, Flucht- und Rettungswege, sexuelle Reproduktion u.a.m. Alle Organismen sind in eine Semiosphäre hineingeboren, das heißt, in eine Welt von Bedeutung und Kommunikation: Laute, Gerüche, Bewegung, Farben, elektrische Felder, Wellen jeglicher Art, chemische und taktile Signale u.a.m. Die Semiosphäre setzt den Arten und Populationen Grenzbedingungen, denn diese sind gezwungen, in bestimmten Nischen zu wohnen. Das heißt, dass sie eine bestimmte Menge an Zeichen visuellen, akustischen, olfaktorischen, taktilen und chemischen Ursprungs beherrschen müssen, um zu überleben. Es ist durchaus möglich, dass diese semiotischen Anforderungen an die Populationen eine entscheidende Herausforderung für erfolgreiches Überleben bedeuten. Wahrscheinlich zeigt sich die Evolution der Organismen vor allem in der Entwicklung zu immer raffinierteren Überlebensstrategien in der Semiosphäre. Denn das charakteristischste Merkmal der

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3 Biosemiotik

organischen Evolution ist nicht die Entstehung einer Vielfalt von erstaunlichen morphologischen Formen, sondern die allgemeine Ausdehnung von ‚semiotischen Freiheiten‘, d.h., der zunehmenden Tiefe und Reichtums an Bedeutungen, die kommuniziert werden können.“ 3.2 Zeichen, Leben, die Biosphäre und die Semiosphäre

Mit dem Begriff der Semiosphäre erweitert Lotman (1990) die von Vernadsky geprägte Unterscheidung zwischen der Biosphäre und der Noosphäre. Für Vernadsky (1998) findet in der Biosphäre die Umstrukturierung von Materie durch Leben allgemein statt, während in der Noosphäre die Umstrukturierung der Materie durch den menschlichen Geist erfolgt. Die Semiosphäre ist die Sphäre der Zeichen. Sie ist „der semiotische Raum, welcher die Voraussetzung für die Existenz und für das Funktionieren von Sprachen ist“, ein Raum, welcher „vor den Sprachen existiert und in ständiger Interaktion mit ihnen steht“ (Lotman 1990, 123 u. 125). Die heutige Biosemiotik begrenzt das Forschungsfeld der Semiotik nicht auf das Gebiet der Kultur. Vielmehr betrachtet sie auch biologische Prozesse als Zeichen- oder Semioseprozesse. Die Semiosphäre, die Sphäre aller Zeichenphänomene und -prozesse, ist danach weitgehend koextensiv mit der Biosphäre (vgl. Kotov/Kull 2011), aber es können Stufen der Zeichenhaftigkeit von einfachsten bis zu komplexesten Prozessen der Semiose in der lebenden Natur unterschieden werden (vgl. Kull 2009). Semiose beginnt bei den Einzellern (vgl. Kull u.a. 2009). Codierung, Transkription, Kopieren und Kommunikation (als Vermittlung zwischen ihrer Innen- und Außenwelt) zählen zu den semiotischen Begriffen, die sowohl ihr Leben beschreiben als auch Erkennen und ein rudimentäres Gedächtnis involvieren. Bei der Interaktion zwischen Zellen kann bereits mit größerer Berechtigung von Kommunikation gesprochen werden, wobei vegetative Semiose weitgehend auf Prozesse der Wiedererkennung beschränkt ist. Orientierung im Raum jedoch ist auf der Ebene der vegetativen Semiose noch sehr rudimentär. Der Übergang von pflanzlichen zu tierischen Organismen bedeutet eine hohe semiotische Schwelle. Während Pflanzen nur zur Wiedererkennung fähig sind, verfügen Tiere auch über die Fähigkeit zu assoziativen Gedächtnis- und Lernleistungen. Die einzelne Zelle kann nun mit vielen anderen in Verbindung

3.2 Zeichen, Leben, die Biosphäre und die Semiosphäre

treten und die entstehenden Relationen neu ordnen. Hier liegen die Ursprünge für die Orientierung im Raum. Die dritte semiotische Schwelle führt zu den Symbolen der menschlichen Sprache. Werden in der Umwelt der Pflanzen weder Zeit noch Raum repräsentiert und ist die Umwelt der Tiere zwar eine räumliche, aber noch atemporale und ohne narrative Strukturen ausgestattete, werden erst durch die menschliche Sprache und die Symbole Zeit und Raum semiotisch ganz erfasst. Leben bedeutet aus semiotischer Sicht ein durch Zeichen vermitteltes In-Beziehung-Setzen. Zeichen stellen Bezüge zu den abwesenden Objekten her, auf die sie sich beziehen. Für Peirce liegt die Schwelle von der physikalischen zur semiotischen Welt im Übergang von bloß dyadischen Beziehungen (Ursache/ Wirkung, Stimulus/Response) zu triadischen Prozessen, in denen ein Erstes, das Zeichen, und ein Zweites, sein Objekt, durch die Vermittlung eines Dritten, des sog. Interpretanten, in Beziehung gesetzt und interpretiert werden. Organismen treten demnach mit den Objekten ihrer Umwelt in triadischer Weise in Beziehung, wenn sie auf Stimuli nicht lediglich mechanisch reagieren, sondern in ihrer Interaktion mit ihnen von semiotischen Zielen bestimmt sind, welche nicht in den Stimuli selbst liegen (vgl. Santaella 1999). Jeder Organismus selegiert und interpretiert Umweltstimuli im Hinblick darauf, ob sie für den Zweck des eigenen Überlebens geeignet sind oder nicht. Peirce postulierte schon auf dieser allerniedrigsten Stufe der biologischen Semiose die Wirkung von Geist (mind): „Der Forscher schaut in sein Mikroskop und stellt fest, ob die Bewegungen einer kleinen Kreatur einen Zweck verfolgen. Wenn ja, so gibt es dort Geist […]. Von einem Ziel oder einem anderen finalen Grund bestimmt zu sein, ist das eigentliche Wesen psychischer Phänomene überhaupt“ (Peirce, Bd. 1, § 269). Jeder Organismus muss das eigene Selbst in seiner Differenz zu seiner Umwelt erkennen können, denn nur so kann er zu einem ‚Individuum‘ werden, das zwischen sich selbst und dem Anderen unterscheiden kann. Erfolgreiche Selbstreferenz ist ebenso wichtig für das Überleben eines Organismus wie die Fähigkeit zur Fremdreferenz, denn ein Organismus, der das eigene Selbst nicht erkennt, läuft Gefahr, sich selbst zu schädigen oder gar zu vernichten. Neben der Fähigkeit zur Selbst- und Fremdreferenz zählen zu den weiteren semiotischen Kennzeichen aller Formen von Leben das Vorhandensein von Gedächtnis sowie die Fähigkeiten zum Wiedererkennen, zur Innen-Außen-Differenzierung, zum autonomen Handeln und zur Kontrolle (Kull 2009, 9).

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3 Biosemiotik

Auch die Identität der biologischen Arten hat eine semiotische Grundlage. Eine Art ist eine Gruppe von Lebewesen, die sich gegenseitig in ihrem sexuellen Verhalten interpretieren. Das Wesen einer Art liegt nicht etwa in den Merkmalen, in denen sich die Arten voneinander unterscheiden, sondern in den kommunikativen Beziehungen, die zwischen den Mitgliedern der Art bestehen und die die Voraussetzung für die Reproduktion der Art sind. In diesem Sinne sind Arten als semiotische Kategorien bestimmt. 3.3 Grundlagen in Uexkülls Bedeutungslehre

In seiner Bedeutungslehre hat der Biologe Jakob von Uexküll (1940) ein Modell der Interaktion zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt entworfen, das ihn zu einem Klassiker der Semiotik des 20. Jahrhunderts werden ließ. Ernst Cassirer fasst die Hauptgedanken von Uexkülls Umwelttheorie zusammen: „Jeder Organismus hat seine besondere Umwelt und seine besondere Innenwelt – seine eigene Art und Weise des äußeren und inneren Lebens. […] Die anatomische Struktur eines Lebewesens gibt uns den Schlüssel für seine inneren und äußeren Erfahrungen. Tiere, die sehr unterschiedlicher Art sind, leben nicht in derselben Realität. […] Es gibt folglich keine gemeinsame Welt der Objekte, die für Menschen und alle Tierarten die gleiche wäre. ‚In der Welt der Fliegen‘, sagt Uexküll, ‚finden wir nur Fliegendinge; in der Welt des Seeigels nur Seeigeldinge‘“ (Cassirer 1979, 168). Die Umwelt eines Organismus besteht mithin nicht etwa aus ‚objektiv‘ gegebenen physikalischen, chemischen oder biologischen Tatsachen, sondern sie ist von der Struktur der Innenwelt des Organismus geprägt. Im Einzelnen unterscheidet Uexküll nur zwei derartige Innenwelten. Die eine ist die Merkwelt. Sie bestimmt das spezifische Wahrnehmungsfeld eines Organismus. Die andere ist seine Wirkwelt. In ihr realisieren sich die praktischen Operationen bzw. die Interaktionen des Organismus mit seiner Umwelt. Nur diejenigen perzeptuellen und operativen Faktoren im Umkreis des Organismus, die für ihn bedeutsam sind, konstituieren seine spezifische Umwelt. Infolge der artspezifischen Unterschiede zwischen den Organismen, ihren verschiedenen Bedürfnissen und individuellen Perspektiven der Welt gibt es Uexküll zufolge ebenso viele Umwelten wie Organismen, denn von den Strukturen der ‚objektiven Welt‘ kann das Individuum bzw. die jeweilige Art nur das wahrnehmen, was infolge des biologischen

3.3 Grundlagen in Uexkülls Bedeutungslehre

Bauplans der Rezeptoren und des Standortes des wahrnehmenden Organismus rezipierbar ist. Uexküll antizipiert in diesem Zusammenhang eine Position des späteren radikalen Konstruktivismus, wenn er schreibt: „Welches Subjekt wir auch aus der Tierreihe herausgreifen wollen, stets finden wir um dieses eine andere Umwelt erbaut, die in allen Punkten die Züge des Subjektes an sich trägt. Denn jedes Subjekt ist der Erbauer seiner Umwelt“ (Uexküll 1980, 335). Ein Organismus erkennt die Dinge in seiner Umwelt also nicht als ‚Dinge an sich‘, sondern verarbeitet vielmehr selektiv gewisse Zeichen dieser Dinge. Diese Zeichen sind nach einem genetisch erinnerten Bauplan beschaffen und werden – wie wir heute sagen würden – nach mentalen Modellen des Organismus interpretiert. Da der Organismus seine Umwelt nicht ohne Bezug auf seine Innenwelt erkennen kann, weist die Innen-/Umwelt-Relation das semiotische Merkmal der Selbstbezüglichkeit auf. Das semiotische Modell für die Interaktion zwischen Organismen und ihrer Umwelt ist nach Uexküll (1928, 158; 1940, 8) der Funktionskreis. Es stellt einen biologischen Organismus als ein Subjekt oder ‚Bedeutungsempfänger‘ dar. In der Umwelt dieses Organismus befindet sich ein Objekt, das ein ‚Gegengefüge‘ des Subjektes darstellt. Für das Subjekt ist dieses Objekt ein Bedeutungsträger. Der Organismus und sein Objekt sind perzeptuell und operational miteinander verbunden. Das Subjekt nimmt das Objekt mit Rezeptoren (z.B. dem Auge) wahr und verarbeitet die auf diesem Wege erhaltenen Sinnesdaten, die Wirkzeichen, neurologisch durch sein inneres Merkorgan. Dieses Organ ist mit dem ebenfalls inneren Wirkorgan des Lebewesens verbunden, einem neurologischen Netzwerk, welches die Muskeln der Effektoren des Subjektes (z.B. Hände, Klauen oder Kauwerkzeuge) steuert. Durch diese Effektoren interagiert das Lebewesen praktisch handelnd mit seiner Wirkwelt. Das Objekt ist insofern zweifach ein ‚Bedeutungsträger‘, als es dem Subjekt sowohl perzeptuelle als auch operationale Botschaften übermittelt. Als ‚Wirkmalträger‘ beeinflusst das Objekt das Subjekt, indem es sein operationales oder motorisches Verhalten bestimmt. Als ein ‚Merkmalträger‘ steuert es die Wahrnehmung des Subjektes. Mit der Einwirkung des Lebewesens auf das Objekt verschwindet zugleich das Wirkmal, denn das perzeptuelle Signal erlischt durch die Operation des Organismus (z.B. im Verlauf der Nahrungsaufnahme). Die Bedeutungen und Zeichen der Umwelt werden also nicht etwa unidirektional (oder gar kausal) von außen nach innen übermittelt, sondern zwischen

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Umwelt und Innenwelt besteht eine Beziehung der Komplementarität. Umwelt und Innenwelt bilden einen ökologischen und kognitiven Zirkel, denn die Innenwelt enthält bereits – wie wir heute sagen würden – ein kognitives Modell der subjektiven Umwelt, und diese wird vom Individuum ja nicht nur ‚rezipiert‘, sondern auch selbst ‚konstruiert‘. 3.4 Codierung und Semiose als Übersetzungsprozesse

Aus Zeichen entstehen Codes, die ihrerseits die Zeichen bestimmen oder gar erzeugen. Codes sind das Gedächtnis der Zeichen. Kultursemiotisch definiert, ist ein Code „eine semiotische Ressource, ein Bedeutungspotential, das die Erzeugung bestimmter Bedeutungen (in Sprache, Kleidung, Essriten, visuellen Medien etc.) erlaubt, während er andere Einheiten ausschließt“ (Thibault 1998, 126). Codes basieren auf Korrespondenzen, nicht auf physikalischen Gesetzmäßigkeiten. Sie verlangen ferner nach permanenter Erneuerung in Zeichenprozessen, denn ohne diese können Codes nicht überleben. Sie überleben dadurch, dass die von ihnen generierten Zeichen gelesen werden, genauer: Diese Zeichen müssen im Sinne Uexkülls zu „Merk-“ und „Wirkzeichen“ werden. An semiotischen Prozessen ist stets eine Pluralität an Codes beteiligt. Auf der molekularbiologischen Ebene haben Hoffmeyer und Emmeche (1991) das Prinzip der Codedualität postuliert, wonach der digitale Code des Genotyps neben dem analogen Code des Phänotyps steht. Demnach ist die DNA die digital codierte Seite eines Organismus, während die Ontogenese das analog codierte Resultat der Entwicklung des Organismus ist. Darüber hinaus muss aber von einer Polycodiertheit der Zeichen ausgegangen werden. Es gibt nicht nur den genetischen Code, sondern auch den epigenetischen, die intra- und die interzellularen und die immunologischen Codes etc. Das Prinzip der Codepluralität impliziert eine Kommunikation zwischen vielen Sendern, die von einer Vielzahl an Codes bestimmt ist. Dabei bedeutet Codierung und Decodierung Übersetzung von einem in ein anderes Zeichensystem. Auch der genetische Code hat die Aufgabe, komplexe Übersetzungsprozesse zu steuern. Codierung und Übersetzung sind in der Molekularbiologie keine bloßen Metaphern, denn aus biosemiotischer Sicht sind die Korrespondenzen, die im genetischen Code zwischen den Codonen und den Aminosäuren bestehen, von der gleichen Art wie diejenigen, welche

3.4 Codierung und Semiose als Übersetzungsprozesse

im Zeichensystem der Sprache die Beziehung zwischen den Wörtern und Phonemen als Type (als Einheit des Systems) und deren konkretes Vorkommen als Token ausmachen. Die biosemiotische Betrachtung des genetischen Codes lädt dazu ein, Parallelen zum Code des Sprachsystems zu untersuchen. Beide Codes weisen das Merkmal der zweifachen Gliederung auf: Es gibt eine Ebene von bloß distinktiven und eine Ebene der bedeutungstragenden Einheiten. Beim Sprachcode sind die bloß distinktiven Elemente die Phoneme bzw. Buchstaben (oder Grapheme). Diese Strukturebene heißt ‚zweite Gliederungsebene‘. Auch beim genetischen Code gibt es eine derartige Ebene bloß distinktiver Einheiten. Dabei handelt es sich um die 64 Triplets oder Codone. 61 von ihnen sind ‚Buchstaben‘ mit eigenen Bedeutungen. Einige davon sind aufgrund von Redundanzen im Code Synonyme. Den drei restlichen Triplets kommt eine bloß ‚syntaktische Funktion‘ zu, denn sie markieren jeweils das Ende einer genetischen Botschaft (als Leerzeichen im Text). Genetische Botschaften bestehen demnach aus Sequenzen von Wörtern, den Genen, die auf den Chromosomen angeordnet sind. Den Prozess der Proteinsynthese beschreiben auch Biologen, die dem biosemiotischen Paradigma fernstehen, in semiotischen Kategorien, wenn sie Begriffe wie ‚lesen‘, ‚erkennen‘ oder ‚interpretieren‘ verwenden. Bei diesem Prozess geht es um das Folgende: Zuerst ereignet sich eine Trennung eines Doppelstrangs von komplementären Nukleotiden. Es verbinden sich dann andere komplementäre Nukleotide mit den getrennten Strängen, um zwei neue Doppelstränge zu bilden, die mit dem ursprünglichen identisch sind. Dieser Prozess der Verknüpfung molekularer Basen mit ihren komplementären Gegenstücken bedeutet eine bloße chemische Reaktion des Kopierens. Es folgt dann in der Proteinsynthese ein semiotischer Prozess des gegenseitig codierten Erkennens zwischen Codonen und Aminosäuren, an dem RNAs als Vermittler beteiligt sind. Der Molekularbiologe Giorgio Prodi beschreibt diesen Prozess der Semiose wie folgt: „Das sich gegenseitige Finden ist somit ein Lesen oder Interpretieren der Realität, an dem A und B nach ihrer modularen Konstitution beteiligt sind. Für A und B besteht das Lesen darin, dass sie uninteressante Objekte sichten und ablehnen, aber bedeutungsvolle Objekte auswählen. Bei seinen Erkundungen, deren Ziel der Kontakt mit B ist, fällt A Urteile über die Realität, denn A sieht sich erst zu einer Veränderung veranlasst, wenn es etwas in seiner Realität findet, das Komplementarität bedeutet. Hierin liegt As Interpretation

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seiner Umwelt: selbst durch B zu einer Veränderung veranlasst zu werden. Die materielle Gegenwart von B entdeckt A also wie folgt: es ruft auf Grund seiner Komplementarität eine Veränderung hervor. Wir sagen, dass A die Realität ‚liest‘ und B ‚kennt‘. Es kann B nur auf Grund seiner eigenen Struktur erkennen, die A zugleich das zurückweisen lässt, was in seiner Gegenwart uninteressant erscheint“ (Prodi 1988, 194 f.). Ein wesentliches Ereignis bei der Weitergabe genetischer Information ist auch, ganz ähnlich wie bei der Weitergabe kultureller Texte, die Produktion neuer Botschaften. Sie geschieht entweder durch stochastische Substitution, durch Hinzufügung (Insertion) oder Löschung (Deletion) einer DNA-Base, wobei das Ergebnis eine Mutation ist (vgl. Margulis 1982, 12), oder durch die Rekombination genetischen Materials männlicher und weiblicher Gene bei der sexuellen Reproduktion. Echte Innovation findet jedoch nur durch selektive Genexpression im Genom statt. Das genetische Potenzial für derartige Innovationen stellt sicher, dass biologische Reproduktion nicht immer nur die Reproduktion des Gleichen zur Folge hat. „Wenn nämlich das Kopieren immer originalgetreu wäre, wären die neuen Zellen immer ganz genaue Duplikate der Zellen ihrer Eltern. Wenn sich dann aber die Umweltbedingungen ändern würden, so dass das genetische Muster der Eltern nicht mehr die Aufgabe erfüllen kann, sich zu bewähren, würde das sich selbst replizierende lebende System aussterben“ (11). Vor der Gefahr der Stagnation der Evolution schützt sich diese durch ihr Potenzial für Innovationen, das Vielfalt und Veränderung zur Folge hat. 3.5 Immunologische Semiose

Immunologische Prozesse finden zwischen immunologisch aktiven körpereigenen Zellen und schädlichen fremden Substanzen statt, deren Ausbreitung im Körper durch das eigene Immunsystem verhindert werden soll (vgl. Uexküll/ Geigges/Herrmann 1993). Das Eigene und das Fremde treffen dabei in einer Weise aufeinander, in welcher das Immunsystem das Fremde nach Maßgabe seiner Bedeutung für das Überleben des eigenen Körpers ‚beurteilt‘. Das Immunsystem interpretiert das Fremde als ein Zeichen, dessen Bedeutung entweder positiv oder negativ, dem Organismus nützlich oder schädlich ist. Nach Uexkülls Interpretation der immunologischen Semiose leistet das Immunsystem

3.6 Biosemiotik und Kultursemiotik

ein Erkennen oder gar ‚Wiedererkennen‘ des Fremden im eigentlichen Sinn des Wortes, denn jedes Immunsystem hat eine umfassende Kenntnis fast aller Proteinsubstanzen (und Polysaccharide), die in seiner Umwelt vorkommen können. Die Fähigkeit zum Erkennen der Eigenschaften dieser Substanzen, der sog. Epitope, ist bereits im Voraus in den Lymphozyten des Immunsystems in Form eines mächtigen Codes gespeichert. Mithilfe dieses Codes ‚lesen‘ und ‚erkennen‘ die Lymphozyten die Epitope von Millionen von Proteinsubstanzen, die im Körper von anderen Organismen, von Viren bis zu Säugetieren, vorkommen und sich zu Tausenden von den eigenen Proteinen unterscheiden (19 u. 37). Die Sender immunologischer Botschaften im Blut von Wirbeltieren sind die Antigene, d.h. Moleküle fremder Substanzen wie etwa Bakterien oder Viren. Die Empfänger dieser Botschaften sind die B- und die T-Lymphozyten, die auf den Kontakt ihrer Rezeptoren mit den Epitopen der Antigene reagieren. Wegen der großen Komplexität an immunologischen Botschaften vergleicht Niels K. Jerne das Zeichenrepertoire des Immunsystems mit einem „Lexikon von Sätzen, das in der Lage ist, auf jeden Satz aus der riesigen Menge an möglichen Mitteilungen der Antigene, welchen das Immunsystem je begegnen kann, eine Antwort zu geben“ (Jerne 1985, 446). Dabei stehen Antigene und Antikörper in einer komplementären Beziehung, die derjenigen eines Bildes im Vergleich zu seinem Spiegelbild entspricht: „Die Immunantwort auf den Satz, den ein eindringendes Proteinmolekül mitteilt, besteht allein darin, aus seinem riesigen vorgegebenen Repertoire an Antikörpern ein geeignetes Spiegelbild eines Teiles dieses antigenischen Satzes auszuwählen. […] Die Sätze, die diese Antikörper repräsentieren, enthalten Teile von Spiegelbildern antigenischer Sätze. Diese Antikörper sind keine bloßen Echos des eindringenden Antigens, sondern sie standen dem Lebewesen bereits in seinem Repertoire an B-Zellen zur Verfügung, bevor das Antigen in Erscheinung trat“ (447 f.). 3.6 Biosemiotik und Kultursemiotik

Die Relevanz der Biosemiotik für die Kulturwissenschaft im Allgemeinen und den Ecocriticism im Besonderen wird in mehreren interdisziplinären Forschungsfeldern deutlich, für die die Biologie und die Biosemiotik grundlegend sind. Auf sie kann an dieser Stelle nur stichpunktartig eingegangen werden. Erwähnenswert sind vor allem die Evolutionäre Kultursemiotik (Koch 1986),

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die Ökosemiotik (Nöth 2000; Maran 2010; Maran/Kull 2014), die Biorhetorik (Kull 2001), die Biopoetik (Cooke 1999; Koch 1993; Eibl 2004), die Bionarratologie (Storey 1996; Boyd 1998), die Bioästhetik (Aiken 1998), die Biomusikologie (Wallin 1991) und die Biolinguistik (Koch 2008; Nöth 2015). 3.7 Literaturverzeichnis

Aiken, Nancy E.: The Biological Origins of Art. Westport 1998. Barbieri, Marcello (Hg.): Introduction to Biosemiotics. Heidelberg 2007. Boyd, Brian: Jane, Meet Charles: Literature, Evolution, and Human Nature. Philosophy and Literature 22.1 (1998), 1–30. Cassirer, Ernst: Symbol, Myth, and Culture: Essays and Lectures, 1935–1945. New Haven 1979. Cooke, Brett/Turner, Frederick (Hg.): Biopoetics: Evolutionary Explorations in the Arts. Lexington 1999. Eibl, Karl: Animal Poeta: Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Paderborn 2004. Emmeche, Claus/Kull, Kalevi (Hg.): Towards a Semiotic Biology. Life is the Action of Signs. London 2011. Favareau, Donald (Hg.): Essential Readings in Biosemiotics. Dordrecht 2010. Hoffmeyer, Jesper: Signs of Meaning in the Universe. Bloomington 1996. Hoffmeyer, Jesper: Biosemiotics: An Examination into the Signs of Life and the Life of Signs. Scranton 2008. Hoffmeyer, Jesper/Emmeche, Claus: Code-Duality and the Semiotics of Nature. In: Anderson, Myrdene/Merrell, Floyd (Hg.): On Semiotic Modeling. Berlin 1991, S. 117– 166. Ivanov, Vjačeslav V.: Gerade und Ungerade. Die Asymmetrie des Gehirns und der Zeichensysteme. Stuttgart 1983. Jerne, Niels K.: The Generative Grammar of the Immune System. In: Bioscience Reports 5 (1985), S. 439–451. Koch, Walter A.: Evolutionäre Kultursemiotik. Bochum 1986. Koch, Walter A.: The Biology of Literature. Bochum 1993. Koch, Walter A.: The Iconic Roots of Language. Norderstedt 2008. Kotov, Kaie/Kull, Kalevi: Semiosphere is the Relational Biosphere. In: Emmeche, Claus/ Kull, Kalevi (Hg.): Towards a Semiotic Biology. Life is the Action of Signs. London 2011, S. 179–194. Krampen, Martin: Phytosemiotics. In: Semiotica 36 (1981), S. 187–209. Kull, Kalevi: A note on Biorhetorics. In: Sign Systems Studies 29.2 (2001), S. 693–704.

3.7 Literaturverzeichnis

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4 Ökofeminismus und Material Turn

4 Ökofeminismus und Material Turn Christa Grewe-Volpp

Der Ökofeminismus ist sowohl eine soziale Bewegung als auch ein akademischer Diskurs, dessen Ursprung in alternativen politischen Gruppierungen wie der Friedensbewegung, Umweltschutzgruppen oder Kernkraftgegnern in den USA liegt. Der Skandal um die mit toxischen Substanzen verseuchten Wohngebiete in der Nähe des Love Canal im Staat New York 1976 und der Unfall im Kernkraftwerk Three Mile Island im Jahr 1979 gelten als Auslöser für Proteste v.a. auch von Frauen, die ökologische Themen als wichtigen Bestandteil der Frauenpolitik betrachteten. Mit dem Begriff Ökofeminismus verbindet sich eine politische Haltung, die Feminismus, Umweltschutz, Antirassismus, Tierschutz, Antikolonialismus, Antimilitarismus und nicht zuletzt traditionellen Spiritualismus zusammenführt (vgl. Sturgeon 1997, 24–28). In den 1980er-Jahren entstand ein feministisch-wissenschaftlicher Diskurs, der die breit gestreuten gesellschaftspolitischen Anliegen der Aktivistinnen theoretisch zu fassen versuchte. Angesichts der Vielzahl sehr diverser ökofeministisch orientierter Gruppierungen hat sich jedoch nie eine einheitliche Plattform etablieren können: „Just as there is not one feminism, there is not one ecofeminism or one ecofeminist philosophy“ (Warren 1997, 4). Diese Vielseitigkeit im Ökofeminismus hat sich gerade im theoretischen Bereich stark ausdifferenziert. Es gibt Ansätze aus dem Poststrukturalismus, Bachtins Dialogismus, der feministischen Standpunktheorie, Queer Theory, Postkolonialismus, Rassismustheorien und Critical Animal Studies (vgl. Kap. 6), um nur einige wichtige zu nennen. Trotz der zum Teil widersprüchlichen Positionen haben alle eines gemeinsam: Sie gehen davon aus, dass es eine strukturelle Verbindung zwischen der Unterdrückung von Frauen und der Ausbeutung der natürlichen Umwelt in der westlichen Welt gibt, die auch in anderen Machtverhältnissen virulent ist. Die Grundannahme im Ökofeminismus lautet daher, „that the ideology which authorizes oppressions such as those based on race, class, gender, sexuality, physical abilities, and species is the same ideology which sanctions the oppression of nature“ (Gaard 1993, 1). Das gemeinsame Ziel ist folglich die Aufdeckung und Abschaffung aller Formen der Unterdrückung. Unterschiede ergeben sich vor allem hinsichtlich der Frage, wie die As-

4.1 Ökofeminismen

soziation von Frau und Natur – man denke an Begriffe wie „Mutter Erde“ – bewertet wird (vgl. ausführlicher Grewe-Volpp 2004). 4.1 Ökofeminismen

Kulturelle Ökofeministinnen befürworten die Assoziation von Frau und Natur und sehen in ihr ein zu begrüßendes soziokulturelles Entwicklungspotenzial. Sie fordern eine frauenzentrierte Kultur, die dem destruktiven Patriarchat positive, d.h. nährende und schützende Ideale entgegenzusetzen vermag. Mary Daly etwa versteht in Gyn/Ecology (1978) das potenzielle Wohlergehen von Frauen, der Natur und letztlich der Welt als Resultat frauenspezifischen Denkens. Susan Griffin analysiert, wie der niedrigere gesellschaftliche Status von Frauen der oft gewaltsamen und militarisierten männlich beherrschten sozialen Ordnung entspringt (vgl. Gaard 2011, 28). Sie und andere Feministinnen sind der Überzeugung, dass auch Männer weibliche Werte übernehmen sollten und dass dadurch die Gesellschaft transformiert werden könnte. Weibliche Kreativität und Mütterlichkeit werden glorifiziert und zelebriert. Einzuwenden dagegen ist allerdings, dass solche Ansichten von universalen Formen des Weiblichen ausgehen, die historische, kulturelle, ökonomische und andere Differenzen unter Frauen ignorieren. Auch lassen sich gewiss nicht alle sozialen Ungerechtigkeiten auf Geschlechterdifferenzen reduzieren. Viele kulturelle Ökofeministinnen praktizieren einen spezifisch naturverbundenen Spiritualismus. Sie verehren die Erde als immanente Gottheit oder auch Göttin und lehnen einen transzendenten männlichen Gott ab. Manche sehen sich in der Tradition vorchristlicher, gynozentrischer Kulturen und bezeichnen sich sogar, wie Starhawk, als Hexe, andere, wie Charlene Spretnak, feiern die Kreativität der Erde und die Immanenz der Göttin in unser aller Leben. Ein spiritueller Naturmystizismus mag einigen Frauen persönlich liegen, ist als soziales oder wissenschaftliches Analyseinstrumentarium jedoch ungeeignet. Der kulturelle Ökofeminismus und der Naturmystizismus, die spätestens seit den 1990er-Jahren nur eine unbedeutende Rolle spielen, haben die ökofeministische Bewegung insgesamt jedoch in Misskredit gebracht. Allgemein wird der Ökofeminismus auf diese Richtung reduziert und belächelt, sodass selbst Feministinnen in den 1990er-Jahren aufhörten, sich mit dem Präfix „öko“ zu kennzeichnen. Wie Greta Gaard 2011 detailliert und überzeugend aufgezeigt hat, nutzen

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4 Ökofeminismus und Material Turn

Feministinnen aus „fear of contamination-by-association“ lieber Begriffe wie „ecological feminism“ oder „feminist environmentalism“, um nicht als „essentialist, ethnocentric, anti-intellectual goddess-worshippers“ verunglimpft zu werden (Gaard 2011, 27 u. 32); oder sie sprechen wie Gaard, Estok und Oppermann von „feminist ecocriticism“ (2013). Soziale Ökofeministinnen vertreten eine ganz andere politische Richtung als die kulturellen Ökofeministinnen. Sie behaupten, dass die Unterdrückung von Frauen und der Natur eine materielle (ökonomische) Basis hat, da diese im Kapitalismus als marktwirtschaftliche Ressourcen von Bedeutung sind. Eine Befreiung aus den Strukturen dieses Systems kann ihrer Meinung nach nur über gesellschaftliche Reformen oder gar eine Revolution erfolgen, nicht mithilfe einer frauenzentrierten Kultur. Carolyn Merchant und Ynestra King zum Beispiel analysieren die Beziehung zwischen Produktion und Reproduktion sowie die spezifische Arbeit von Frauen, um Unterdrückungsmechanismen offenzulegen. Merchant zeigt in The Death of Nature (1980) auf, wie im 16. Jahrhundert der Übergang von einem organischen zu einem mechanistischen Naturverständnis erlaubte, die Erde als bloße Maschine auszubeuten, und wie der Sieg des in­ strumentalen Bewusstseins sich auf die Position des als natürlich verstandenen Weiblichen auswirkte. Karen Warren und Val Plumwood identifizieren ebenfalls Dominanzstrukturen im patriarchalen Kapitalismus. Auch wenn ihre Studien durchaus heterogen sind, so betonen sie doch alle die soziale Konstruktion von Natur und Geschlecht als Ergebnis spezifischer, ideologisch geprägter Machtin­ strumentarien. Diesem Konnex setzen sie eine egalitäre, antihierarchische, auf eine „ethics of care“ begründete Philosophie entgegen, die nicht nur gesellschaftlich marginalisierte Gruppen miteinbezieht, sondern auch die natürliche Umwelt. Eine Sonderstellung nehmen Ökofeministinnen ein, die vor allem Tiere als unterdrückte Kreaturen betrachten und ihre Misshandlung zu einem feministischen Thema machen. So hat etwa Carol J. Adams in The Sexual Politics of Meat (1990) strukturelle Parallelen zwischen der Fleischindustrie und der Ausbeutung von Frauen aufgedeckt und für eine vegane Lebensweise plädiert. Greta Gaard hat gleich mehrere Aufsätze zum Verhältnis von Frauen und Tieren in ihrem Sammelband Ecofeminism: Women, Animals, Nature (1993) veröffentlicht. Vegetarische und vegane Ökofeministinnen kritisieren die Jagd (als soziale Konstruktion von Maskulinität) oder die industrialisierte Fleisch- und Milchproduktion, um nur zwei Beispiele zu nennen. Allerdings sind sie selbst, wie Gaard

4.1 Ökofeminismen

bedauert, häufig von anderen Feministinnen als „essentialist and ethnocentric“ kritisiert worden (Gaard 2011, 37), ohne dass ihre logische Argumentation im Sinne von Plumwoods ,Master Model‘ anerkannt worden wäre. Dieses ‚Master Model‘ beruht auf dem hierarchischen Dualismus, dessen Mechanismen und Wirkweise Val Plumwood in Feminism and the Mastery of Nature (1993) detailliert aufgezeigt hat. Kennzeichen eines solchen Dualismus ist die strikte Einteilung von oppositionellen Kategorien in eine Werteskala, bei der die eine Kategorie der anderen überlegen ist, etwa wenn Kultur der Natur, Geist der Materie, das Männliche dem Weiblichen oder die weiße Rasse der schwarzen als überlegen definiert werden. Die überlegene Kategorie wird in kategorialer Abgrenzung zur unterlegenen legitimiert, wodurch das als untergeordnet Betrachtete instrumentalisiert wird. Ökofeministinnen geht es um die Aufdeckung solcher Strukturen und um die Etablierung eines neuen Bewusstseins, in dem oppositionelles Denken keinen Platz mehr hat und in dem das Andere zu einem Teil eines komplexen Netzes von Beziehungen erklärt wird. Wie dies im Einzelnen aussieht und welche Schwerpunkte gesetzt werden, ist Anlass zahlreicher Debatten und interner wie auch externer Kritik. So haben zum Beispiel afroamerikanische Frauen und Native Americans aufgezeigt, wie das Verhältnis des Menschen zur Natur mit den Kategorien Rasse und Ethnie anders und weniger ideologisiert zu verstehen ist als im sog. weißen (Öko-)Feminismus; postkolonialistische Theoretiker und Frauen aus nichtwestlichen Ländern haben darauf hingewiesen, dass in ihren Kulturen andere Bedingungen herrschen, die im westlich geprägten ökologischen oder ökofeministischen Diskurs übersehen werden. Vandana Shiva (1993) zum Beispiel hat mehrfach erklärt, welche Auswirkungen Entwicklungspolitik auf die Arbeits- und Existenzbedingungen von indischen Frauen hat, die in der Landwirtschaft tätig sind. Auch wurde gezeigt, dass gut gemeinte Naturschutzprojekte zum Teil an den berechtigten Existenzsorgen der armen Bevölkerung vorbeigehen oder die Romantisierung indianischer Lebens- und Glaubensformen die kulturellen Besonderheiten indigener Stämme missachtet. Heute ist man sich in der Regel bewusst (oder sollte es sein), dass die im Ökofeminismus analysierte Verbindung des Weiblichen mit der Natur von jeweils sehr spezifischen Bedingungen abhängt, die im Einzelnen genau zu untersuchen sind. Die hier skizzierte Einteilung in verschiedene Strömungen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ökofeministische Debatte weitaus differenzierter

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4 Ökofeminismus und Material Turn

ist und sich in der Praxis häufig Positionen überschneiden. Cate Sandilands, die selbst Studien zu Ökofeminismus und Demokratie sowie zu Queer Ecofeminism veröffentlicht hat, warnt vor einer Reduktion auf bestimmte Etikettierungen, die zu Ausschließung und internen Grabenkämpfen führen: „it’s far more important, intellectually and politically, for ecofeminists to include than to specialize“ (Sandilands im Gespräch mit Gaard 2011, 45). Schließlich ist das allen gemeinsame Ziel bis heute die Überwindung von Machtstrukturen, die auf einem hierarchischen Dualismus mit der inhärenten Diffamierung sog. Anderer beruhen. 4.2 Der Material Turn im Ökofeminismus

Seit den 1990er-Jahren hat sich in den ökofeministischen Theoriedebatten zunehmend eine postmoderne Position durchgesetzt, die zwischen Natur und Kultur keinen kategorialen Unterschied mehr macht, die Natur als sozial konstruiert versteht und sie darüber hinaus als wirkmächtigen Handlungsträger betrachtet. Vor allem die Studien von Donna Haraway haben die Grenzen zwischen den patriarchalisch determinierten Kategorien aufgebrochen, die Naturalisierung kultureller Phänomene als ideologisches Instrumentarium entlarvt und mit dem Cyborg eine hybride Denkfigur entworfen, die die Interdependenz von Natur und Kultur, von Körper und Technologie, von Mensch und Tier in einem dynamischen Entwicklungsprozess betont (Haraway 1990). Auch Val Plumwood (1986, 1993) hat mit ihrer Kritik des hierarchischen Dualismus den Cartesischen Graben zwischen Natur und Kultur überbrückt und damit die Logik von herrschenden Dominanzstrukturen ad absurdum geführt. Haraway ist nur eine von vielen, die Materie wieder in den Mittelpunkt ihrer Forschung gestellt haben, sodass man inzwischen vom Material Turn in den Kulturwissenschaften spricht. Der Material Turn ist eine kritische Reaktion auf den Poststrukturalismus, für den Sprache bzw. Diskurs das Verständnis von Welt definiert. Wenn New Materialists Materie wieder stärker beachten, dann weder wie in früheren marxistisch-materialistischen Philosophien als bloße Basis ökonomischer Prozesse und somit getrennt von geistigen oder diskursiven Kräften noch als eine kulturell zu überschreibende Konstante. Vielmehr ist Materie so konzipiert, dass sie aktiv und untrennbar in kulturelle Prozesse eingebunden ist. New Materialists schätzen viele Aspekte des Linguistic Turn, v.a.

4.2 Der Material Turn im Ökofeminismus

seine Kritik an Machtstrukturen, die in der Naturalisierung von gesellschaftlichen Kategorien eingeschrieben sind. Doch sie bedauern die Vernachlässigung der Eigenschaften von Materie, die bei genauer Betrachtung wertvolle, bislang vernachlässigte Einsichten in die Beziehung von Natur und Kultur und v.a. in die Position des Menschen in seiner natürlichen Umwelt erlauben. Besonderen Einfluss auf den Material Turn haben Bruno Latours Actor-Network Theory und Karen Barads Modell einer aktiven Materie. Latour spricht nicht nur Menschen, sondern auch anderen Phänomenen Handlungsfähigkeit zu. Sie sind für ihn „Aktanten“, „something that acts or to which activity is granted by others“ (Latour 1996, 373), wobei dieses „something“ sogar ein Ereignis sein kann. Andere Einflüsse auf den Material Turn stammen aus der modernen Physik, v.a. der Chaos- und der Komplexitätstheorie, aber auch der molekularen Biologie, der Biotechnologie und der Genetik (vgl. Coole/Frost 2010). Karen Barad stützt sich auf Nils Bohrs Quantenmechanik in ihrer Definition von Materie, die sie als intraaktiv versteht, als ein Aufeinandertreffen von materiellen Phänomenen und diskursiven Prozessen, die erst im Moment der Begegnung ihre spezifische Eigenschaft entfalten: „Discursive practices and material phenomena do not stand in a relationship of externality to one another; rather, the material and the discursive are mutually implicated in the dynamics of intra-activity“ (Barad 2008, 140). Materie ist für sie folglich „not a thing, but a doing, a congealing of agency“ (139 u. 146). Gemäß Jane Bennett ist Materie vital, lebendig und agenziell: „[b]y ‘vitality’ I mean the capacity of things – ­edibles, commodities, storms, metals – […] to act as quasi agents or forces with trajectories, propensities, or tendencies of their own“ (Bennett 2010, viii). Diese Agenzien oder Kräfte sind eine immanente Eigenschaft der Materie, sie besitzt „its own modes of self-transformation, self-organization, and directness“ (10). Haraway untersucht in ihren Studien vor allem auch den materiellen Körper, dem eine andere Bedeutung zukommt als in der humanistischen Philosophie Descartes’scher Prägung. Körper sind keine bloßen, Maschinen ähnliche Objekte, die von rationalen Menschen (meist weißen Männern) definiert werden, sondern sie sind selbst aktiv an der Produktion von Bedeutung beteiligt. Körper sind für sie sowohl biologische Phänomene als auch das Resultat diskursiver Prozesse: „bodies as objects of knowledge are material-semiotic generative nodes“ (Haraway 1992, 298). Das heißt, die Grenzen zwischen Mensch und Tier oder Mensch und Dingen entstehen erst in ihrer materiellen wie sozialen

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4 Ökofeminismus und Material Turn

Interaktion, während derer sie sich gegenseitig bedingen und formen. Natur und Kultur sind in Haraways Konzeption auf komplexe Weise miteinander verwoben, was sie in dem Begriff „Natureculture“ zu verdeutlichen sucht (Haraway 2003, 2). In der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts hat Haraway (2003) diese Ideen anhand der Beziehung des Menschen zum Hund verdeutlicht, die aber auch auf andere Beziehungen zutreffen. Ihrer Anschauung nach hat es nie einen reinen Ursprung einzelner Spezies gegeben, sondern alle Lebensformen sind das Resultat eines gemeinsamen langen Entwicklungsprozesses, der sowohl materiell als auch diskursiv ist: „Through their reaching into each other, through their ‘prehensions’ or graspings, beings constitute each other and themselves. Beings do not preexist their relatings“ (Haraway 2003, 6). Das Leben auf der Erde ist ein „multidirectional gene flow – multidirectional flows of bodies and values“ (9). Binäres Denken und ihm inhärentes Machtgebaren spielt in solchen vernetzten Strukturen keine Rolle, vielmehr geht es um die durchgreifende Wechselbezüglichkeit von materiellen und diskursiven Prozessen. Diese im Material Turn formulierten Eigenschaften der Materie, die die im hierarchischen Dualismus postulierte strikte Trennung oppositioneller Kategorien als unhaltbar zurückweist, dienen auch dem Ökofeminismus mit seiner Grundforderung, Machtstrukturen zu überwinden und Interdependenzen verschiedener Lebensformen zu beachten. Auch das Verständnis des biologischmateriell und diskursiv geprägten Körpers entspricht ökofeministischen Theorien, die gegen essentialistische Vorstellungen von Weiblichkeit argumentieren. Der Material Turn geht sogar über die im Feminismus lange angenommene Trennung von Sex und Gender hinaus, die zwischen Biologie (oder Materie) und Diskurs und somit zwischen Natur und Kultur unterschied. Weibliche Körper sind weder passive Objekte, die kulturell überschrieben werden, noch determinieren sie aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit die Lebensweise von Frauen weltweit. Stacy Alaimos Konzept der Trans-Corporeality, das im Material Turn verankert ist, versteht den Körper dagegen mit Haraway und Barad als das Produkt materieller und diskursiver Prozesse. Körper sind buchstäblich Teil der natürlichen Umwelt, deren Substanzen wir aufnehmen und die weiter in uns wirken, ohne dass wir sie jedoch kontrollieren könnten: „a recognition of trans-corporeality entails a rather disconcerting sense of being immersed within incalculable, interconnected material agencies that erode even our most sophisticated modes of understanding“ (Alaimo 2010, 17). Dies wird

4.2 Der Material Turn im Ökofeminismus

auf beunruhigende Weise deutlich bei toxischen Substanzen oder bei Krankheitserregern, gegen die die Medizin kein Heilmittel hat. Zugleich bestimmen historische, ökonomische, kulturelle und andere Bedingungen unser leibliches Wohlergehen. Der menschliche Körper, so Alaimo, „[is] something that always bears the trace of history, social position, region, and the uneven distribution of risk“ (261). Es kommt folglich nicht nur auf die genetische Disposition an, sondern auch darauf, welchen äußeren Bedingungen ein Mensch aufgrund seiner Rasse, seiner Klasse oder seines Geschlechts ausgesetzt ist und welche Möglichkeiten ihm offenstehen, z.B. Umweltverschmutzung oder tödlichen Viren zu entkommen oder Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben. Ein solches Gedankenmodell verweist nicht nur auf unsere soziale Konstruiertheit, sondern auch darauf, dass unsere Körper materiell verstrickt sind mit einer Vielzahl von Elementen der natürlichen Umwelt. Diese Erkenntnis sollte idealerweise zu einem verantwortungsvollen Umgang mit unserer natürlichen wie sozialen Umwelt führen, die alle Spieler eines intraaktiven Weltmodells miteinbezieht, sodass wir gegebenenfalls korrigierend in Entwicklungsprozesse eingreifen können. Wie genau dies zu geschehen hat und wie Differenzen zu beurteilen sind, bleibt relativ vage und somit, wie Hannes Bergthaller gezeigt hat, eine Schwachstelle des Material Turn (vgl. Bergthaller 2014). Auf keinen Fall jedoch sollte sich der Mensch noch als außerhalb natürlicher Prozesse oder als der Natur überlegen verstehen. Die Neubewertung der Materie resultiert deshalb in einem veränderten Menschenbild, das Serpil Oppermann als ein posthumanistisches versteht, da ein epistemischer Wandel die Beziehung zwischen dem Menschlichen und dem ‚Mehr-als-Menschlichen‘ ethisch, ontologisch und epistemologisch neu definiert. Das Konzept einer vitalen und agenziellen Materie zeige, „how to adopt the cultural mind to its material and ecological body, which points to the emergence of a new posthuman form of humanism“ (Oppermann 2013, 25), eine Form, die Serenella Iovino (2010, 29) als „non-anthropocentric humanism“ bezeichnet. Oppermann scheut den Begriff Ökofeminismus und zieht die Bezeichnung Feminist Ecocriticism vor, um die hier skizzierten Aspekte des Material Turn auszuformulieren und als plausibles Modell einer neuen feministischen Theorie zu postulieren (vgl. Oppermann 2013, 30 u. 31).

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4 Ökofeminismus und Material Turn

4.3 Paolo Bacigalupis The Windup Girl (2009)

Der preisgekrönte Science-Fiction-Roman The Windup Girl von Paolo Bacigalupi fiktionalisiert wesentliche Aspekte des (öko-)feministischen Material Turn auf fantasievolle und innovative Weise. Es geht nämlich ganz zentral um die materielle Beschaffenheit und Handlungsfähigkeit diverser Körper: geophysischer, pflanzlicher, tierischer, maschineller und menschlicher, und zwar in einer in die Zukunft projizierten Welt Bangkoks, die von den verheerenden Auswirkungen der globalen Erderwärmung, dem Versiegen der Ölquellen und den technologischen Errungenschaften weltweit operierender Genforschungslabore geprägt ist. Genmanipulierte Pflanzen und Tiere, v.a. aber das titelgebende Windup Girl rücken die Bedeutung einer agenziellen Materie sowie die damit verbundene Stellung des Menschen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. In der von Bacigalupi entworfenen Welt wird Haraways Konzept von Natureculture überdeutlich. Die Autorin zeigt, wie sehr Biologie und Materie, aber auch Kultur, Politik, Technologie und andere Diskurse an der Entstehung von Körpern beteiligt sind, sodass sie nicht mehr als eine der Kultur diametral entgegenstehende Entität betrachtet werden können. So ist die dargestellte Pflanzenwelt Thailands im ausgehenden 22. Jahrhundert vollkommen genmanipuliert. Selbst sog. ursprüngliche Arten sind Rückzüchtungen und somit Produkte von Naturwissenschaft und Technik, die darüber hinaus längst der Kontrolle der Lebensmittelingenieure entglitten sind und mutieren, sodass immer wieder neue genetische Verbindungen entstehen, die Krankheit und Tod verursachen. Diese Entwicklungsprozesse mit desaströsen Folgen sind das Ergebnis materieller, aber auch historischer, technologischer, ökonomischer und anderer Bedingungen, die alle an der Entstehung und Verbreitung von Viren und Bakterien beteiligt sind. Diese greifen in der Folge aktiv in den Prozess anderer Lebensformen ein, die wiederum ihrerseits das soziale, ökonomische und kulturelle Leben der Menschen beeinflussen. Die dargestellten Prozesse verdeutlichen die Sinnlosigkeit artifiziell gezogener Grenzen oder die Propagierung ökologisch ‚reiner‘ Nischen. Es gibt kein Zurück zu einem Ursprungszustand. Materie befindet sich vielmehr in einem ständigen Prozess des Werdens und der Veränderbarkeit durch menschliche Eingriffe. Noch deutlicher wird Haraways Konzept von Natureculture bzw. Alaimos Trans-Corporeality in den sog. Windups, in Japan aus menschlicher DNA her-

4.3 Paolo Bacigalupis The Windup Girl (2009)

gestellte roboterartige Wesen, die für das Militär töten, für Arbeitsprozesse eingesetzt werden oder, wie Emiko, das Windup Girl des Titels, ihrem Besitzer bedingungslos dienen. Mit Emikos weiblichem Körper und ihrer gesellschaftlichen Stellung werden am ehesten feministische Themen aufgeworfen, v.a. die Frage, inwiefern ihre ‚Natur‘ ihr Wesen und ihren gesellschaftlichen Status bestimmt. Emiko ist dem asiatischen Schönheitsideal entsprechend im Labor konstruiert: Ihr Körper hat eine makellose, porenfreie, weiße Haut, die nie altern wird, sie ist resistent gegen Krankheiten und sie ist darauf programmiert, sich zu unterwerfen und zu gefallen. Ein japanischer Geschäftsmann hat Emiko verbotenerweise mit nach Thailand gebracht und sie aus Kostengründen zurückgelassen, obwohl er wusste, dass Windups dort streng verboten sind und als Abfall zerschreddert und zu Kompost verarbeitet werden. Sie kann nur überleben, weil sie von einem Bordellbesitzer aufgegriffen wird, der sie jeden Abend in einer Art Freakshow auf brutalste Weise misshandeln lässt und so an ihr verdient. Ganz auf ihren angeblich animalischen und seelenlosen Körper reduziert, verweist ihr rechtloser Objektstatus auf das Schicksal vieler Frauen in patriarchalen Gesellschaften. Gleichzeitig wirft ihr Körper die Frage nach ihrem ontologischen Status auf. Ab wann ist ein Wesen aus menschlicher DNA tatsächlich ein Mensch? Wo liegt die Grenze zwischen Mensch und Nicht-Mensch? Und ab wann verdient ein künstlich hergestelltes Wesen unter ethischen Gesichtspunkten behandelt zu werden? Im Laufe des Romans wird deutlich, dass Emiko nicht nur ein technologisch produzierter Körper ist, sondern dass sie auch Gefühle hat. Sie fühlt sich gedemütigt, schämt sich und ist verzweifelt. Ihre materiellen und ihre nichtmateriellen Elemente lassen sich nicht sauber voneinander trennen. Auch gehorcht ihr materieller Körper nicht immer seiner technologisch und kulturell determinierten Bestimmung. Als ihre Situation unerträglich wird, beginnt Emiko zu rebellieren und tötet ihre Peiniger. Dadurch wird deutlich, dass Materie nie isoliert zu betrachten ist, sondern dass sie je nach sozialem Kontext auf ganz unterschiedliche Weise wirksam werden kann. In The Windup Girl zeigt Bacigalupi, dass das Konzept der reinen Natur obsolet geworden ist, genauso wie das Konzept des humanistisch verstandenen Menschen, dem allein eine Subjektposition zugestanden wird. Zum einen lässt sich am Roman die Grundidee des Material Turn ablesen, nämlich die unentrinnbare Verwicklung des Menschen in biologische und technologische Prozesse, zum anderen lässt er durch handelnde und fühlende Wesen wie Emiko die

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Idee der reinen Menschlichkeit, die zu schützen wäre, nicht gelten. Die intrikate Verwobenheit von Materie und Diskurs, etwa in der Biotechnologie und der Ökonomie, von materiell-semiotischen Körpern, von Natur und Kultur unterläuft Vorstellungen vom Sonderstatus des Menschen, von ökologischen Nischen oder einer essentialistischen Natur. Vorstellungen einer essentialistischen Weiblichkeit erweisen sich ebenfalls als unhaltbar. Emikos ‚natürliche‘ Unterwürfigkeit ist zwar Teil ihrer genetischen Programmierung, doch kommt diese erst in der Intra-Aktion mit anderen Spielern zum Tragen, und zwar durch ein rigoroses Training und eine ihr wohlgesonnene soziale Umgebung. Unter widrigen Umständen und besonderen sozialen Bedingungen verhält sich Emiko jedoch anders, eine sog. materielle Determiniertheit ist eine Illusion. Dies wirft die Frage nach der moralischen Verantwortung auf, ohne dass sie im Roman beantwortet würde. Müssen wir uns von dem Begriff der Menschheit verabschieden und neue Daseinsformen begrüßen? Sollten wir die Freiheit willkommen heißen, perfektere Leben zu gestalten? Die Figur Gibbons’, ein genialer Genmanipulator, verspricht Emiko am Ende des Romans, Windups fortpflanzungsfähig zu machen. Damit greift er zwar die Forderung vieler Feministinnen auf, Frauen sollten Reproduktionsfragen nicht der männlich dominierten Medizin überlassen, sondern selbst verhandeln. Gibbons jedoch wird als der ultimative männliche Wissenschaftler dargestellt, eine Art Frankenstein, der eine gottähnliche Funktion übernimmt, allein über Lebensformen bestimmt und somit die im Ökofeminismus kritisierten hierarchischen Dominanzstrukturen achtlos perpetuiert. Ich verstehe The Windup Girl wie die meiste Science-Fiction als Warnung für zeitgenössische Leser, da dieser Roman die negativen Konsequenzen von ökonomischer Gier und der Hybris von Genmanipulationen eindrucksvoll veranschaulicht. Materie erweist sich bei Bacigalupi letztendlich als unkontrollierbar, insbesondere in Verbindung mit moralfreien Machtstrukturen. Wie Feministinnen des Material Turn betonen, ist es daher wichtig, genau zu beachten, in welchen diskursiven Strukturen spezifische materielle Phänomene ineinandergreifen, welche Auswirkungen neue Verbindungen potenziell haben und welche Verantwortung damit auf uns übertragen wird. Eine hieraus resultierende Ethik ist situationsgebunden und muss immer wieder neu überprüft werden oder, wie Alaimo und Hekman behaupten: „A material ethics entails […] that we can compare the very real material consequences of ethical positions and

4.4 Literaturverzeichnis

draw conclusions from those comparisons“ (Alaimo/Hekman 2008, 7). Im Unterschied zu bloß diskursiven Ansätzen liegt der Fokus hier auf der Praxis bzw. auf materiellen Realitäten, die eine aktive Rolle in Entwicklungsprozessen spielen. Vor diesem Hintergrund zielen Feministinnen darauf, konkrete Lebensbedingungen von Frauen in sehr unterschiedlichen Kulturen zu berücksichtigen. Der Roman jedenfalls sensibilisiert die Leserschaft, über die Konsequenzen von Genmanipulation konkret und im Einzelfall nachzudenken. Eine Gebrauchsanleitung gibt es dafür wohlweislich nicht, auch nicht in The Windup Girl. Die dystopische Welt des Romans fungiert als imaginative Projektionsfläche zeitgenössischer technologischer, ökonomischer, materieller, umweltspezifischer und anderer Bedingungen und stößt eine kritische Diskussion solcher Problemstellungen an. 4.4 Literaturverzeichnis

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5 New Materialism Heather I. Sullivan 5.1 Einführung: Material Ecocriticism

Als eine umweltbezogene, literarische Perspektive hat sich der Ecocriticism zunächst für die ‚Natur‘ und die menschliche Kultur als Teil der Natur interessiert. Doch der Naturbegriff hat sich in den letzten Jahrhunderten mehrfach geändert, nicht nur nach der Industriellen Revolution, sondern erst recht seit dem begonnenen Klimawandel und der von Elizabeth Kolbert (2014) beschriebenen ‚sechsten Welle des Aussterbens‘ auf der Erde. Um einem Verständnis der ‚Natur‘ in der heutigen Zeit gerecht zu werden, ist es daher wichtig, nicht nur die sogenannten ‚wilden‘ Orte, sondern auch die anscheinend menschenleeren Flächen, die aber doch von der menschlichen Industrie, Landwirtschaft und Urbanisation beeinflusst wurden, und letztlich auch die Städte selbst miteinzubeziehen. Indem die Menschheit seit der zunehmenden Ausbeutung der fossilen Brennstoffe einen immer stärkeren Einfluss auf die materielle oder physische Umwelt nimmt, wird die Natur heutzutage eher als ‚Natur-Kultur‘ (vgl. Kap. 4) verstanden; deshalb spricht man mittlerweile auch von unserem Zeitalter als dem Anthropozän oder der ‚Menschenzeit‘ (vgl. Kap. 9). Wir stehen also auf der einen Seite vor einer neuen Phase des menschlichen Einflusses auf die Erde, auf der anderen Seite befinden wir uns aber bereits in einer stark veränderten Welt, die zumindest teilweise aus unbeabsichtigten Nebenfolgen menschlicher Handlungen entstanden ist. Gleichzeitig lernen wir immer konkreter durch die Ökologie und die sogenannten Neuen Materialismen, dass die Natur auch schon immer selbst kreativ und agenziell bzw. als Agent zu denken ist (was eigentlich keine neue Idee ist). Deswegen verstehen wir die ‚Natur-Kultur‘ als die Summe der autopoetischen Wechselwirkungen der biologischen und kulturellen Zyklen aller tätigen Lebewesen und der sonstigen materiellen Welt, wie z.B. auch, aber nicht nur, die Menschen, die die Umwelt herstellen und zugleich ausmachen. Genau dieser ökologische Zusammenhang der Wechselwirkungen und die Gleichzeitigkeit von Bewirken, Schaffen und Deuten – ein Zusammenhang voller aktiver Agenzien – ist der Ausgangspunkt für den materiellen Ecocriticism.

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5 New Materialism

Serenella Iovino und Serpil Oppermann definieren diese Forschungsperspektive wie folgt: „Material ecocriticism […] is the study of the way material forms – bodies, things, elements, toxic substances, chemical, organic and inorganic matter, landscapes, and biological entities – intra-act with each other and with the human dimension, producing configurations of meanings and discourses that we can interpret as stories“ (Iovino/Oppermann 2014, 7). Material Ecocriticism ist also der Bereich des Ecocriticism, der sich sowohl für die materielle Umwelt – Natur, Land, Wildnis – interessiert als auch für die Art und Weise, wie die Beziehungen zwischen den Energien, Stoffen, Lebewesen und Informationen ablaufen und gedeutet werden. Diese Beziehungen und Wechselwirkungen geschehen als kreativer Austausch der anorganischen und organischen Stoffe, und diese werden in der modernen industrialisierten Zeit, im Anthropozän, umso mehr durch menschliche Handlungen beeinflusst und hervorgebracht. Diese Spuren findet man nicht nur in der äußeren Natur, den (Kultur-)Landschaften, sondern auch in den Körpern der Menschen, Tieren und Pflanzen sowie in den kleinsten Molekülen; sie befinden sich im Wasser, in der Luft und auf der Erde. Aber diese Spuren bewegen sich auch selber weiter und bewirken entweder nützliche oder toxische Wirkungen, die dann ihrerseits weiter agieren. Die sog. Natur ist ein aktiver Raum der Wechselwirkungen der Stoffe, aber auch des Austauschs von Informationen. Der Material Ecocriticism bietet also eine Denkstruktur an, um zu ergründen, wie man diese veränderten und sich verändernden materiellen Schichten und Formen der physischen Welt als eine aktive ‚Erzählung‘ begreifen kann, als eine aktive, sich erweiternde und kreative Erzählung, die nicht nur die Menschen, sondern auch die ‚Elemente‘ oder die Formen der Materie schaffen. „Storied Matter“ nennen das Iovino und Oppermann in ihrem Sammelband Material Ecocriticism (Iovino/Oppermann 2014, 1). Das Ziel ist, die Informationen oder ‚Erzählungen‘ der materiellen Welt mit den Erzählungen und Texten der menschlichen Autoren zusammenzudenken, um zu sehen, wie die Kreativität der allgemeinen biosemiotischen Wechselwirkungen Form annimmt und zum Ausdruck kommt.

5.2 Die Neuen Materialismen

5.2 Die Neuen Materialismen

Der Deutungsaspekt des Material Ecocriticism ist fundiert in den allgemeineren Ideen der ‚Neuen Materialismen‘, die sich in den letzten Jahren als Forschungsbereich entwickelt haben. Dazu zählen z.B. die Theorien von Andrew Pickerings The Mangle of Practice (1995), Karen Barads Studie Meeting the Universe Halfway (2007), der Sammelband Material Feminisms von Stacy Alaimo und Susan Hekman (2008), Jane Bennett in Vibrant Matter (2010), Stacy Alaimo in Bodily Natures (2010), der Sammelband New Materialisms (2010) von Diana Coole und Samantha Frost sowie David Abrams Becoming Animal (2010). Wesentliche Beiträge der Neuen Materialismen kommen vom Ökofeminismus (vgl. Kap. 4); hier sind Alaimo, Barad und Hekman hervorzuheben, wie auch die beiden Hauptvertreterinnen des Material Ecocriticism Iovino und Oppermann, die eine körperliche Teilnahme an der Welt betonen und die wissenschaftliche Tradition, die Natur als etwas passiv Weibliches zu verstehen, kritisieren. Alle diese oben genannten Autoren beschreiben auf verschiedene Art und Weise, wie die menschlichen Kulturen Teil vieler anderer materieller ‚Kulturen‘ in der Welt sind, z.B. der Elektronen, der Bakterien, der Pflanzen und anderer Lebewesen. Außerdem werden die Wirkungen von Wasser, Kohlenstoff oder Wetter und die Einflüsse von ‚aktiven Stoffen‘ als maßgeblich für die Deutung von Materie einbezogen, seien diese nun radioaktiv, toxisch oder einfach ein Teil der Nahrungskette. Die neuen Materialisten bieten zwei Hauptthesen an, die sie mit dem Material Ecocriticism gemein haben: erstens, dass wir nicht von der sonstigen Welt getrennt sind, sondern daran wie alles Wirkende auf der Erde teilhaben; zweitens behaupten die neuen Materialisten, dass das Ineinander-Gewebe (entanglement) des Materiellen Formen des Kommunizierens und Interpretierens hervorbringt. Kommunizieren ist in dem Sinne die Möglichkeit, Informationen zu vermitteln, was der Biosemiotik zufolge (vgl. Kap. 3) die gesamte biologische Welt einschließt und damit nicht nur auf die menschliche Sprache beschränkt ist. Diese These ist insofern ökologisch zu denken, als man anerkennt, dass die Menschheit von den verschiedenartigen materiellen Systemen abhängig ist. Die Umweltphilosophin Val Plumwood nennt diese Systeme unsere „enabling conditions – the body, ecology and non-human nature“ (Plumwood 2006, 17).

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Der Material Ecocriticism betont die Wirkungskraft (Agency) sowohl des Menschlichen als auch des Nichtmenschlichen. Wenn traditionelle geisteswissenschaftliche Theorien des ‚Subjekts‘ die Wechselwirkungen der Welt beschreiben, werden menschliche Tätigkeiten meistens als das Aktive, Handelnde verstanden, während der Rest der nichtmenschlichen Welt als passiver Stoff gesehen wird. Im Vergleich dazu behaupten die neuen Materialisten und der Material Ecocriticism, dass es ein Spektrum der ‚Agencies‘, des Agenziellen gibt, das sowohl auf die physische Welt als auch die informationelle Welt wirkt. So stellen Iovino und Oppermann die Frage: „Are we really in control of the many worlds – the worlds of electricity, toxins, fungi, climate patterns – inhabiting our world, when even the simple use of an antibiotic can exert a long-term interference on the complex balances of our microbiome and therefore on our health?“ (Iovino/Oppermann 2014, 3). Diese Behauptung ändert die Grundlage der Subjekt-Objekt-Dichotomie: Anstelle des Gegensatzes zwischen passivem Stoff und handelndem Menschen hat man Co-Agencies und Mitwirkende in einem breiten Spektrum von menschlichen und nichtmenschlichen Wirkungen. Iovino und Oppermann behaupten sogar: „Agency, therefore, is not to be necessarily and exclusively associated with human beings and with human intentionality, but it is a pervasive and inbuilt property of matter, as part and parcel of its generative dynamism“ (3). 5.3 Agency/Wirkungskraft und ihre Bedeutung für die fiktionale Literatur (Goethes Faust)

Die Theorie des New Materialism lässt sich fruchtbar auf die fiktionale Literatur anwenden, in der die Natur und ihre wirkenden Kräfte seit Langem ein zentrale Rolle spielen, aber bislang nicht unter diesem Begriff einer agenziellen Natur untersucht worden sind. Insbesondere in der deutschen Literatur des Sturm und Drang, der Empfindsamkeit und Romantik wurde die Auseinandersetzung des nach Freiheit strebenden Individuums mit beengenden, niederdrückenden gesellschaftlichen Verhältnissen thematisiert. In vielen Texten von Autoren wie Herder, Goethe, J. M. R. Lenz, Moritz, Tieck oder Novalis dient die Darstellung der sich verändernden, agenziellen Kräfte der Natur sowohl zur Figurencharakterisierung als auch der inhärenten Verbindung der inneren Natur des Menschen mit der äußeren. Zur Veranschaulichung einzelner theoretischer Per-

5.3 Agency/Wirkungskraft und ihre Bedeutung für die fiktionale Literatur (Goethes Faust)

spektiven soll daher im Folgenden auf Goethes Faust I und II Bezug genommen werden. Denn Goethe lässt seine Hauptfigur im Zusammenhang mit starken agenziellen Kräften handeln: So wird Faust nach dem Tode Helenes von Wolken hochgetragen: außerdem wird er vom Wasser überwältigt, dessen Kraft er durch den Deich eindämmen will, der von grabenden Lemuren gebaut wird. Am Ende bleibt doch ein „fauler Sumpf“. Es ist nicht neu zu sagen, dass wir aktive Kräfte in der physischen Welt finden, wie etwa Elemente, Schwerkraft, Radioaktivität, Wetter, Luftdruck usw. Zu behaupten aber, dass die Welt auch sonst aus aktiven, selbst-organisierenden Stoffen besteht, ist etwas anderes. Bennetts Studie Vibrant Matter dokumentiert, wie die Welt aus verschiedenen „Agencies“ besteht, sodass die Rede von der traditionellen Subjekt-Objekt-Dichotomie unterminiert wird. Agency, oder unsere Wirkungskraft, funktioniert als gemeinsame Tätigkeit; gemäß Bennett ist sie „distributed“ oder „verteilt“: „Agentic capacity is now seen as differentially distributed across a wider range of ontological types“ (Bennett 2010, 9). In diesem Sinne steht weder das Individuum noch das menschliche Kollektiv im Zentrum sondern ein allgemeineres ontologisch-heterogenes „Public“. „If human culture is inextricably enmeshed with vibrant, nonhuman agencies, and if human intentionality can be agentic only if accompanied by a vast entourage of nonhumans, then it seems that the appropriate unit of analysis for democratic theory is neither the individual human nor an exclusively human collective but the (ontologically heterogeneous) ,public‘ coalescing around a problem“ (108). Das Agenzielle wird als ‚Teilnehmerperspektive‘ aufgefasst, sodass sowohl die Umgebung als auch Menschen gleichzeitig und zusammen gedacht werden müssen. So wie ein Fisch nicht ohne Wasser zu denken ist, ist der Mensch – wie Goethe schon behauptete – nicht ohne Luft zu denken: Goethes „Physikalische Vorträge schematisiert, 1805–1806“ beschreiben die Menschen als „Völker des Luftmeeres“ (Goethe 1989, 165). Bennett schreibt: „[I]t is easy to acknowledge that humans are composed of various material parts […]. But is it more challenging to conceive of these materials as lively and self-organizing, rather than as passive or mechanical means under the direction of something nonmaterial, that is, an active soul or mind“ (Bennett 2010, 10). Am einfachsten ist es vielleicht zu verstehen, wenn man versucht, langfristig zu denken. Elemente und Stoffe wie Wasser, Nahrung und Luft werden von den Körpern aufgenommen und verlassen diese wieder in veränderter Form; wenn wir diesen Austauschprozess schnell

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vorspulen wie einen Film, sehen wir, wie individuelle Körper sich ständig ändern, wachsen, zunehmen oder abnehmen. Wir Menschen bestehen natürlich nicht nur aus Materie, aber unsere Knochen und deren erhaltenden Mineralien z.B. sind ja immer Werdende, die sich verbinden, formen und wieder auflösen. Bennett betont, dass die Menschheit nicht etwas ganz Unterschiedliches vom sonstigen Stoff der Welt ist, sondern „a particularly rich and complex material system“ (11). Weiterhin zeigt Bennett, dass die Agency ein kreativer Prozess oder eine Fähigkeit sei, etwas Neues erscheinen oder geschehen zu lassen. Agency eignet vielen Wesen, sie ist aber hauptsächlich ‚verteilt‘ und ausgebreitet, ein „swarm of vitalities“ (32). Eines ihrer Beispiele ist die Tatsache, dass unser Körper tausende verschiedene Bakterien enthält, die unser alltägliches Leben, die Verdauung usw. ständig beeinflussen. Ein anderes Beispiel ist der Strom, der von der Westküste der USA an die Ostküste geschickt wurde und der im Jahre 2003 plötzlich, nachdem die Linien den Lake Erie entlang geschlossen wurden, die Richtung von selbst umkehrte und an einen anderen Ort floss: „,[T]he power that had been flowing along that path‘ dramatically and surprisingly changed its behavior: it ‚immediately reversed direction and began flowing in a giant loop counterclockwise from Pennsylvania to New York to Ontario and into Michigan‘“ (27 f.). Der Strom, schreibt Bennett, „sometimes goes where we send it, and sometimes it chooses its path on the spot, in response to other bodies it encounters and the surprising opportunities for actions and interactions that they afford“ (28). Es sei hinzugefügt, dass die Richtung des Stroms auch von politischen Entscheidungen beeinflusst wird, hier wird aber die Selbsttätigkeit der Materie herausgestellt, die sich nicht notwendig technischen Eingriffen fügt. Wenn wir also ‚verteilte Wirkungskräfte‘ in der Welt sehen, gleichzeitig aber auch vom Anthropozän sprechen, also von der Epoche der menschlichen Wirkung auf die ganze Erde, haben wir nun doch eine Art Paradox vor uns: Auf der einen Seite haben die Menschen also mehr Agency als je zuvor; auf der anderen bedeutet Teilnehmer (und nicht Gestalter oder Meister) zu sein auch, weniger Agency zu haben, als es die traditionelle Subjektidee voraussetzt, denn die Menschen gelten hier nicht als das einzige Wirkende. Ob diese Annahme positiv oder negativ zu deuten ist, kommt darauf an. Denn es stellt sich die Frage, ob wir die Gelegenheit haben die Welt zu gestalten oder ob wir sie, teils willentlich, teils unbeabsichtigt, verschmutzt und beschädigt haben. Zudem wird die anthropogene Umweltzerstörung vielfach durch nicht intendierte, aber trotzdem

5.3 Agency/Wirkungskraft und ihre Bedeutung für die fiktionale Literatur (Goethes Faust)

weltändernde Wirkungen verursacht. Agency bedeutet also keine einfache, lineare Wirkung. Stacy Alaimo bietet dem Material Ecocriticism ein gutes Denkmodell für die neue Auffassung von verteilten Wirkungskräften mit ihrer Erklärung, dass der menschliche Körper, wie der Körper aller Lebewesen, ein offenes System ist, und dass die ‚Ströme der Welt‘ durch ihn durchfließen: Wasser, Luft, Nahrung und Gifte. Dieses poröse Gewebe nennt sie „trans-corporeality“: „Imagining human corporeality as trans-corporeality, in which the human is always intermeshed with the more-than-human world, underlines the extent to which the substance of the human is ultimately inseparable from ,the environment‘“ (Alaimo 2010, 2). Dana Phillips und Heather Sullivan schreiben zu diesem Thema: „Material Ecocriticism insists that human beings are ,actors‘ operating within material processes that include multitudes of other ,actors‘, the majority of which are not human or, for that matter, conscious“ (Phillips/Sullivan 2012, 446). Man könnte sogar sagen, dass unsere Agency und Macht als Spezies eigentlich hauptsächlich darin besteht, dass wir Menschen eine immer größere Bevölkerungsgruppe bilden und ziemlich adaptiv und mobil sind, wenn auch nicht deshalb, weil wir über die besten Technologien verfügen. Unsere Tätigkeiten und unsere Körper sind dabei mit den Wirkungen von vielen anderen Lebewesen und Dingen zusammen zu denken, denn unsere Körper nehmen an vielen kleinen und großen Nischen teil. Alaimo merkt an: „[A] recognition of trans-corporeality entails a rather disconcerting sense of being immersed within incalculable, interconnected material agencies that erode even our most sophisticated modes of understanding“ (Alaimo 2010, 17). Material Ecocriticism betont die materielle Seite des Menschen, zugleich bietet er aber auch eine semiotische Deutung der sonstigen Welt. Um literarisch damit umzugehen, d.h. den Material Ecocriticism praktisch auszuüben, lässt sich wieder ein Bezug zu Goethes Faust I und II herstellen. Obwohl Faust lange als der moderne Weltstreber interpretiert worden ist, der Handelnde, das Subjekt der europäischen Geschichte, soll der Leser auch merken, wie viele andere Subjekte in der Tragödie seine Entscheidungen beeinflussen oder sogar bestimmen, vor allem dann, wenn Faust schläft oder sonst nicht bewusst tätig ist. Die anderen Wirkenden sind zuallererst Mephistopheles, aber auch die Hexenküche, mit der sein ganzes Abenteuer beginnt; der Erdgeist, der ihn zuerst abweist; das Wasser und die anderen Elemente, gegen die und mit

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5 New Materialism

denen die Figuren im Drama ständig kämpfen; der Homunkulus, der ins Meer fliegt, um die Elemente mystisch zu mischen; die Lemuren, die den Deich bauen sowie der Wasserzyklus der Wolken, die Fausts materiellen Reste am Ende­ des Stückes hinaufbringen, als ob er nun direkt im Wetter mitfließt. Faust ist nur einer von vielen Wirkungskräften, wie der Tragödie Zweiter Teil immer wieder betont, besonders wenn er am Anfang von Akt I schläft, statt zu handeln; auf ähnliche Weise schläft er auch während der Reise in die klassische Walpurgisnacht. Folglich lässt sich argumentieren, dass Goethes Faust eine (wenn auch sehr starke) von vielen Wirkungskräften ist und nicht nur das handelnde Subjekt (Sullivan 2010). 5.4 Wissenschaftliche Einflüsse des Material Ecocriticisms

Mit Barads Studie zur Quantenphysik haben wir eine wissenschaftliche Grundlage für die allgemeine materielle Agency. In ihrer oben genannten Studie beschreibt sie, wie die Materie auf dem kleinsten Niveau ständig aktiv mit der Umgebung reagiert oder, genauer gesagt, sogar die Umgebung eigentlich dadurch hervorbringt. Der Stoff gilt demnach nicht als passive, ‚tote‘ Materie, sondern eher als etwas Aktives, sich Änderndes und sogar als etwas Performatives. In ihrer Studie über die kreativen Wirkungen der Elektronen und kleinsten Partikel betont Barad die Dynamik der Materie, „matter’s dynamism“ (Barad 2007, 135). „Matter is neither fixed and given nor the mere end result of different processes. Matter is produced and productive, generated and generative. Matter is agen­ tive, not a fixed essence or property of things“ (37). Außerdem sind die Teilchen oder Körper (klein und groß) nicht nur Objekte im Raum, sondern „engag[ed] in an ongoing reconfiguration of the world“ (170). Material Ecocriticism verbindet also die Natur mit dem Menschen und umgekehrt und legt das Augenmerk auf ihre Wechselwirkungen. Damit will Barad herausstellen, dass wir an die Umwelt nicht nur moralisch oder ausbeutend denken sollten, sondern eher als etwas, was uns auch ausmacht. Barads Begriff der „Intra-Action“ ist wesentlich für die neuen Materialisten und besonders für den Material Ecocriticism. Damit meint sie, dass die „Beziehungen“ zwischen den Dingen oder Körpern das sind, was zuerst existiert, und nicht die Dinge selbst, die aufeinander bezogen werden. „The neologism ,intraaction‘ signifies the mutual constitution of entangled agencies. That is, in contrast

5.5 Storied Matter

to the usual ,interaction,‘ which assumes that there are separate individual agencies that precede their interaction, the notion of intra-action recognizes that distinct agencies do not precede, but rather emerge through, their intra-action“ (33, Hervorh. im Original). Hier kann man auch an die neue „Ding-Theorie“ denken. Nicht als individuelle Wesen, sondern als ineinander und aufeinander bezogene Wesen existieren alle Agenzien in Barads Welt der Kleinstpartikel, aber sie zieht dabei auch die Umwelt und deren Lebewesen in Betracht. Als Grundlage ihrer These vergleicht sie Ansichten Werner Heisenbergs mit denen von Niels Bohr und behauptet, dass Bohr der Realität der physischen Welt viel näher komme, weil er grundsätzlich die Idee infrage stellt, dass die weltlichen Objekte aus klaren Grenzen bestehen (wie Newton festgestellt hat). Bohr unterminiert damit viel radikaler als Heisenbergs Unbestimmtheitsprinzip diese Grenzen, indem er den Repräsentionalismus gänzlich ausschließt. Bohr hatte, wie Barad ausführt, die Einsicht, „that concepts are defined by the circumstances required for their measurement“ (109, Hervorh. im Original). Deshalb treten nicht einzelne Dinge auf, sondern vielmehr zuerst die Zusammenhänge und deren Verbindungen. „Phenomena are not mere human contrivances manufactured in laboratories. Phenomena are constitutive of reality. Parts of the world are always intra-acting with other parts of the world“ (338). Demgemäß bilden sich die Dinge und Lebewesen aus den Verbindungen und Beziehungen heraus. Dies zu begreifen, bringt die Wissenschaft der literarischen Deutung besonders nah: Kontexte, Prozesse und Beziehungen werden als performativ und bedeutungsvoll betrachtet. ‚Natur-Kultur‘ besteht damit sowohl aus der als agenziell gedachten Welt als auch aus dem handelnden Menschen. Die Art und Weise, wie wir Literatur studieren und Texte lesen, verändert sich grundlegend, wenn wir die anderen Agenzien in Betracht ziehen bzw. wenn wir die ‚NaturKultur‘ als eine „Ecology of Selves“ um uns sehen (Adamson 2014, 257). Diese Selves, oder Individuen, ergänzen das sogenannte „Ich“, das nun nicht allein in der Welt steht und sie nicht allein deutet. 5.5 Storied Matter

Das Ich ist im Material Ecocriticism nicht ein isoliertes Selbst, sondern ein Teil der vielen Mitwirkenden, die auch als aktive Erzählungselemente betrachtet werden und die verschiedenen Deutungen und Wissensformen hervorbringen.

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5 New Materialism

Iovino schreibt: „In other words, knowledge comes from the give-and-take between bodies and the world. It materializes the porous exchange of inside and outside, the progressive becoming-together of bodies and the world, their intraaction“ (Iovino 2014, 103). Für sie besteht Wissen in „a set of embodied practices“ (102) und ist weder von der Welt zu trennen noch einfach eine rein objektive oder ideale Idee, sondern etwas Verkörpertes und Aktives. Oppermann erklärt: „Promising a premise about agentic materiality generating meanings and stories in which both microscopic and macroscopic and even cosmic bodies display eloquence, material ecocriticism enhances the postmodern concept of reenchantment“ (Oppermann 2014, 28, Hervorh. im Original). Postmodern, aber zugleich sehr alt, ist diese Idee einer animierten materiellen Welt. Sie wird aber neu gedacht, wenn man nun vom Anthropozän spricht und insofern die ‚Natur-Kultur‘ anders betrachten muss. Material Ecocriticism markiert sozusagen ‚eine materielle Wende‘, die die linguistische Wende des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus ergänzt. Die literarische Konzentration des Ecocriticism auf Umweltthemen wird mit der biosemiotischen Interpretation der Bedeutungen der stofflichen Information, ob von Tieren, Pflanzen oder einfachen Stoffen, durch den Material Ecocriticism erweitert. Materie und Meaning (Bedeutung) sind gleichursprünglich. Etwas zu bewirken, ist eine Art und Weise, Informationen zu produzieren und darauf zu reagieren – oder sogar von ihnen beeinflusst zu sein –, und in diesem Sinne eine Art aktives ‚Deuten‘. Um mit Goethes Faust zu schließen: Was wir wissen, ist das, was wir, zusammen mit den vielen anderen wirkenden Wesen, hervorbringen; wie wir dabei die Bedeutungen gewinnen, kommt auf die Interpretation unserer wechselseitigen Beziehungen mit den Wolken, dem Wasser, den Lemuren und anderen ‚Geistern‘, dem Deich und dem Regenbogen an. 5.6 Literaturverzeichnis

Abram, David: Becoming Animal. An Earthly Cosmology. New York 2010. Adamson, Joni: Source of Life. Avatar, Amazonio, and an Ecology of Selves. In: Iovino, Serenella/Oppermann, Serpil (Hg.): Material Ecocriticism. Bloomington 2014, S. 253–268. Alaimo, Stacy: Bodily Natures. Science, Environment, and the Material Self. Bloomington 2010.

5.6 Literaturverzeichnis

Alaimo, Stacy/Hekman, Susan (Hg.): Material Feminisms. Bloomington 2008. Barad, Karen: Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham 2007. Bennett, Jane: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham 2010. Coole, Diana/Frost, Samantha (Hg.): New Materialisms. Ontology, Agency, and Politics. Durham 2010. Goethe, Johann Wolfgang: Physikalische Vorträge schematisiert, 1805–1806. In: ders.: Schriften Zur Allgemeinen Naturlehre, Geologie und Mineralogie. Frankfurter Ausgabe, Bd. 25. Hg. von Wolf von Engelhardt und Manfred Wenzel. Frankfurt a.M. 1989. Iovino, Serenella: Bodies of Naples. Stories, Matter, and the Landscapes of Porosity. In: Iovino, Serenella/Oppermann, Serpil (Hg.): Material Ecocriticism. Bloomington 2014, S. 97–113. Iovino, Serenella/Oppermann, Serpil (Hg.): Material Ecocriticism. Bloomington 2014. Kolbert, Elizabeth: The Sixth Extinction. An Unnatural History. New York 2014. Oppermann, Serpil: From Ecological Postmodernism to Material Ecocriticism. Creative Materiality and Narrative Agency. In: Iovino, Serenella/Oppermann, Serpil (Hg.): Material Ecocriticism. Bloomington 2014, S. 21–36. Phillips, Dana/Sullivan, Heather: Material Ecocriticism. Dirt, Waste, Bodies, Food, and Other Matter. In: Interdisciplinary Studies in Literature and the Environment 19.3 (2012), S. 445–447. Pickering, Andrew: The Mangle of Practice. Time, Agency, and Science. Chicago 1995. Plumwood, Val: Environmental Culture. The Ecological Crisis of Reason. London 2006. Sullivan, Heather: Ecocriticism, the Elements, and the Ascent/Descent into Weather in Goethe’s Faust. In: Goethe Yearbook 17 (2010), S. 55–72. Sullivan, Heather: Material Ecocriticism. Goethe as Case Study. In: Literatur für Leser 12.3 (2012), S. 147–160.

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6 Cultural Animal Studies Roland Borgards 6.1 Was sind Animal Studies?

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Tieren war lange Zeit, insbesondere im positivistisch-technologisch geprägten 19. und 20. Jahrhundert, den Naturwissenschaften vorbehalten. Tiere waren v.a. Gegenstand der Zoologie mit ihrer Ausrichtung auf die Physiologie, also die körperliche Beschaffenheit der Tiere, auf die Ethologie, also das Verhalten der Tiere, und auf die Ökologie, also die Lebensbedingungen der Tiere. Tiermedizin und Agrarwissenschaften dienten dabei in erster Linie der pragmatischen Durchführung einer immer mehr ins Massenhafte wachsenden Haus- und Nutztierhaltung. In den Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften hingegen wurden die Tiere bis ins späte 20. Jahrhundert nur in randständigen Einzelfällen untersucht; eine systematische und methodisch fundierte Auseinandersetzung mit den Tieren fand nicht statt. Diese Lage hat sich in den letzten 30 Jahren gründlich geändert. Auch wenn gesamtgesellschaftlich der naturwissenschaftliche Zugriff auf die Tiere weiterhin dominant geblieben ist, hat sich mit den Animal Studies eine theoretische Perspektive für die Erforschung der Tiere etabliert, die eine Alternative zu den traditionellen Naturwissenschaften zu bieten hat. Das Gewicht dieser Bewegung zeigt sich in Institutionen wie dem Animals and Society Institute, in Studiengängen wie dem Interdisciplinary Master in Human-Animal Interactions des Wiener Messerli-Instituts und in Zeitschriften wie Humanimalia oder Tierstudien. Ihren energetischen Gründungsimpuls haben die Animal Studies aus den Ökologiebewegungen der 1970er-Jahre erhalten, also aus der Erkenntnis, dass die technische Vernunft nicht nur bisweilen für den Menschen nützlich, sondern auch oft für die Welt gefährlich ist. Wie gegenüber der Natur im Allgemeinen, so galt es auch gegenüber den Tieren im Besonderen eine neue praktische, aber auch eine neue wissenschaftliche Haltung zu gewinnen. Ihren theoretischen Grundgedanken haben die Animal Studies in der Einsicht, dass es sich in keiner Weise von selbst versteht, was ein Tier ist und wer überhaupt wissen kann, was ein Tier ist. Die Animal Studies ziehen aus die-

6.1 Was sind Animal Studies?

ser methodisch gewollten und nützlichen Unsicherheit hinsichtlich ihres Forschungsgegenstands die Konsequenz, sich den Tieren in einem weitgreifenden disziplinären Pluralismus zu nähern. Die klassischen Tierwissenschaften werden dabei explizit nicht aus-, sondern eingeschlossen; es wird ihnen allerdings keine selbstverständliche Leit- und Orientierungsmacht mehr zugesprochen. So verbinden sich in den Animal Studies unterschiedliche Fakultäten, v.a. die Geistes-, Kultur-, Natur-, Sozial-, Rechts- und Agrarwissenschaften. Involviert ist damit eine Vielzahl an unterschiedlichen Disziplinen: Philosophie, Soziologie, Politologie, Ethnologie, Theologie, Psychologie, Zoologie, Physiologie, Ethologie, Ökologie, Archäologie, Geographie, Klimatologie, Botanik, Jurisprudenz, Linguistik, Medizin, Physik und Informatik, des weiteren Geschichts-, Altertums-, Literatur-, Musik-, Theater-, Tanz-, Kunst-, Medien-, Film- und Bildwissenschaften. In dieser disziplinären Weite bilden die Animal Studies kein homogenes, sondern ein grundlegend heterogenes Forschungsdesign. Das ist einerseits nötig und gewollt, führt andererseits aber auch an die Grenzen des forschungspraktisch Realisierbaren. Deshalb haben sich einige Spielarten der Animal Studies etabliert, die den Fliehkräften einer offenen Interdisziplinarität ein fokussierendes Zentrum zu geben versuchen, insbesondere die Critical Animal Studies, die Human-Animal Studies und die Cultural Animal Studies. Die Critical Animal Studies (vgl. z.B. Taylor/Twine 2014) zielen auf eine Kritik des menschlichen Umgangs mit den Tieren. Diese Kritik setzt auf mehreren Ebenen an. Es handelt sich erstens um eine philosophische Analyse insbesondere der abendländischen Denktradition, die in ihrer Grundhaltung als tierfeindlich ausgewiesen wird, etwa Aristoteles’ Anthropozentrismus, Descartes’ Dualismus, Kants Idealismus oder Heideggers Humanismus. Zweitens geht es um eine historische und soziologische Rekonstruktion des an den Tieren begangenen Unrechts, auch hier insbesondere mit Blick auf die westliche Welt, von frühgeschichtlichen Jagd- und Zuchttechniken bis hin zur globalisierten, aus der abendländischen Tradition hervorgegangenen Massentierhaltung der Gegenwart und dem Aussterben bzw. der Ausrottung von Arten. Drittens schließlich münden die Critical Animal Studies – und hier liegt erklärtermaßen ihr Schwerpunkt – in ein praktisches Handeln angesichts der philosophisch, historisch und gegenwartsdiagnostisch konstatierten Missstände. Dieses praktische Handeln verbindet den aktiven Kampf gegen den menschlichen Missbrauch

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6 Cultural Animal Studies

der Tiere, z.B. in Tierschutzvereinen und der Tierrechtsbewegung, mit der Erprobung alternativer, tierfreundlicher Lebensstile, z.B. dem Vegetarismus oder dem Veganismus. Die Human-Animal Studies (vgl. z.B. Marvin/McHugh 2014; Chimaira 2011) setzen als basale Analyseeinheit nicht die Tiere selbst, sondern die Beziehung zwischen Tieren und Menschen. Dies hat einen epistemologischen, also erkenntnistheoretischen, und einen pragmatischen Grund. Epistemologisch lässt sich argumentieren, dass es keine ausschließlich aus der Sicht der Tiere betriebenen Animal Studies gibt, sondern vielmehr immer Menschen mit im Spiel sind, zumeist sogar als tätige Subjekte der Erkenntnis. Das Tier an sich bleibt dem Menschen in seiner Eigenheit unzugänglich. Analysierbar hingegen ist das Verhältnis, das die Menschen zu den Tieren einnehmen, sei es in den Taxonomien der Zoologen (z.B. bei Schmetterlingen), den Labors der Pharmaunternehmen (z.B. bei Ratten), den Käfigen des Zoos (z.B. bei Bonobos), den Praktiken der Züchtung (z.B. bei Kühen) oder den Spielarten der Freundschaft (z.B. bei Hunden). Dieser epistemologischen Grundhaltung entspricht eine pragmatische Konsequenz: Wenn es etwas zu ändern gilt, dann nicht die Tiere selbst und auch nicht einfach den Menschen, sondern eben das Verhältnis, das die Menschen zu den Tieren einnehmen. Im politischen Willen zum praktischen Eingriff in die bestehenden Verhältnisse treffen sich die Human-Animal Studies oft mit den Critical Animal Studies. Die Cultural Animal Studies (vgl. z.B. Borgards 2015) betreiben kulturwissenschaftlich orientierte Tierforschung. Sie teilen die zwei epistemologischen Basisannahmen aller Kulturwissenschaften, dass erstens jedes Wissen kulturell geformt ist und dass zweitens jeder Gegenstand, auf den sich die Menschen beziehen, schon allein durch diesen Bezug zu einem Kulturgegenstand wird. ‚Kultur‘ ist damit kein umgrenztes Untersuchungsfeld, sondern vielmehr die Weise, in der die Welt dem Menschen – praktisch wie wissenschaftlich – zugänglich ist. ‚Cultural Animals‘ sind dementsprechend nicht allein die Nutz- und Haustiere in Abgrenzung zu den Wildtieren, sondern vielmehr schlichtweg alle Tiere in ihrer jeweiligen Relation zur menschlichen Kultur. Ob diese Relation so dicht ist wie im Falle des Hundes oder so schlicht wie im Falle der erst 2012 entdeckten augenlosen Webspinnenart Sinopeda scurion aus der laotischen Provinz Khammuan, macht keinen grundsätzlichen Unterschied: Freundschaft und Unentdecktheit sind gleichermaßen Verhältnisbestimmungen. Doch auch

6.1 Was sind Animal Studies?

wenn die Cultural Animal Studies ihre Grundannahmen mit den Kulturwissenschaften teilen, sehen sie in den Tieren doch eine besondere Herausforderung für die eigene methodische Selbstverortung. Diese Herausforderung besteht darin, dass anlässlich der Tiere der implizite Anthropozentrismus kulturalistischer Ansätze deutlich werden kann, insbesondere dort, wo Tiere lediglich als Projektionsflächen menschlicher Kulturarbeit betrachtet werden. Die Spannung zwischen dem impliziten Anthropozentrismus der Cultural Studies und der offensiven Dezentrierung des Menschen in den Animal Studies wird in den Cultural Animal Studies nicht ignoriert, sondern methodisch fruchtbar gemacht, zum einen in der Unterscheidung (vgl. Tyler 2012) zwischen einem unvermeidbaren epistemologischen Anthropozentrismus (der Mensch als Ausgangspunkt der Erkenntnis) und einem unhaltbaren ontologischen Anthropozentrismus (der Mensch als Zielpunkt des Universums), zum anderen in Theorien des New Materialism (s.u.). Die drei hier genannten Spielarten der Animal Studies sind keineswegs klar voneinander getrennt. Vielmehr gibt es sowohl in den Methoden als auch in den Personen der Forscher/-innen vielfältige Überschneidungen, Übereinstimmungen und Vermischungen. Forschungsgeschichtlich lässt sich – aber auch dies nur vage – eine Abfolge nachzeichnen: Zunächst haben sich, ausgehend v.a. von Neuseeland und Kanada, die Critical Animal Studies etabliert, sodann, mit Zentren in Amerika und England, die Human-Animal Studies, und schließlich, auf der Basis der europäischen Theoriebildung des Poststrukturalismus und des New Materialism, die Cultural Animal Studies. Bei aller Nähe zwischen den Positionen finden sich im Detail aber auch erhebliche Differenzen, die sich bisweilen in scharfen Polemiken entladen. So wird aus der Perspektive der Critical Animal Studies den Cultural Animal Studies zum Vorwurf gemacht, mit ihrer analytischen Distanz dem Leid der Tiere gegenüber kalt zu bleiben und damit den schlechten gesellschaftlichen Status quo nur zu bestätigen (vgl. z.B. Best 2009). Umgekehrt wird aus der Perspektive der Cultural Animal Studies den Critical Animal Studies vorgehalten, die Anthropozentrik ihrer eigenen Position nicht zu reflektieren und auf diese Weise die Machtverhältnisse, die sie zu bekämpfen versuchen, nur zu verdoppeln und zu verstärken (vgl. z.B. Plumwood 2012).

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6 Cultural Animal Studies

6.2 Theorien und Methoden der Cultural Animal Studies

Wie die Animal Studies im Allgemeinen sind auch die Cultural Animal Studies im Besonderen methodisch ein in sich heterogenes Forschungsparadigma mit einer Vielzahl tiertheoretischer Positionen (vgl. Borgards u.a. 2015). Sechs Bezugspunkte sind in der gegenwärtigen Diskussion besonders präsent: Michel Foucaults historische Diskursanalyse, Giorgio Agambens Konzept der Anthropologischen Maschine, Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Paradigma des TierWerdens, Jacques Derridas Animot/Tierwort, Donna Haraways Companion Species und Bruno Latours politische Ökologie. In Foucaults historischer Diskursanalyse haben die Tiere zwar keinerlei herausgehobene Stellung; sie sind allenfalls ein möglicher Analysegegenstand unter vielen. Dennoch hat sich Foucaults Werk für die Cultural Animal Studies aus methodischen und inhaltlichen Gründen als äußerst fruchtbar erwiesen. Methodisch geht es Foucault v.a. um die Analyse der triangulären und produktiven Beziehung zwischen Macht, Wissen und Subjekt. Damit sind sofort drei zentrale Themen der Animal Studies im Spiel: Das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren ist ein Machtverhältnis; das Wissen von den Tieren ist historisch und kulturell durchformt; das menschliche Subjekt konturiert sich in der ausgrenzenden und/oder vereinnahmenden Auseinandersetzung mit den Tieren. Inhaltlich hat Foucault den Begriff der Bio-Macht bzw. Biopolitik geprägt, der zum einen auf einer wissenschaftsgeschichtlichen These zur historischen, auf die Jahrzehnte um 1800 zu datierenden Transformation von der klassischen Naturgeschichte zur modernen Biologie beruht (vgl. Foucault 1974) und der zum anderen den Menschen selbst als Tier adressiert: „Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht“ (Foucault 1983, 171). In Weiterführung dieser methodischen und inhaltlichen Impulse hat sich mittlerweile, insbesondere unter den Stichworten der Wissensgeschichte und der Politischen Zoologie (vgl. z.B. Heiden/Vogl 2007), ein kompakter und zugleich weitgreifender Forschungszusammenhang entfaltet. Agamben greift mit seinem Konzept der Anthropologischen Maschine Foucaults These von der Biopolitik auf, sieht diese aber nicht als ein spezifisch modernes Phänomen, sondern als zeitlos bestimmendes Element des Politischen (vgl. Agamben 2003). Der Akt des Unterscheidens zwischen Mensch und Tier erscheint als politische Grund- und Gründungsgeste, die in der theoreti-

6.2 Theorien und Methoden der Cultural Animal Studies

schen wie praktischen Anordnung der Anthropologischen Maschine vollzogen wird. Klar wird damit, dass die Grenze zwischen Mensch und Tier niemals gegeben ist, sondern immer hergestellt werden muss, und dass sie als Gemachte immer ein Moment der Unbestimmtheit in sich trägt: Zwischen Mensch und Tier verläuft keine scharfe Linie, sondern findet sich eine ‚Schwelle‘ bzw. ‚Zone‘. Zwar konzentriert sich Agamben in seiner kritischen Analyse der Anthropologischen Maschine ganz auf deren Auswirkungen auf den Menschen; die Effekte, die die Tiere zu tragen haben, interessieren ihn kaum. Dennoch bietet er eine dezidierte und in den Animal Studies breit rezipierte Tiertheorie, der zufolge das Tier genau dort Kontur gewinnt, wo es der Bestimmung des Menschen dient. Im Anschluss daran sind in den Cultural Animal Studies historisch unterschiedliche Versionen der Anthropologischen Maschine untersucht worden und insbesondere die kulturelle Gemachtheit und systematische Unschärfe der Mensch-Tier-Grenze an unzähligen Beispielen herausgearbeitet worden. Deleuze und Guattari beschreiben mit dem Tier-Werden affirmativ ein Verfahren, das sich spiegelbildlich zu der von Agamben kritisierten Anthropologischen Maschine verhält: Während die Anthropologische Maschine als Mechanismus zu verstehen ist, mittels dessen die Differenz zwischen Mensch und Tier, und damit die Identität des Menschen, stabilisiert wird, zielt das Tier-Werden umgekehrt auf die Verunsicherung der anthropologischen Differenz und die Auflösung von Identität (vgl. Deleuze/Guattari 2005, 318–339). Das ist von Deleuze und Guattari äußerst konzeptionell gedacht und in keiner Weise mimetisch: Tier-Werden heißt, einer verbreiteten Fehlrezeption zum Trotz, keineswegs, als Mensch einem Tier ähnlich zu werden oder das Tierliche in sich selbst hervorzukehren; es heißt auch nicht, in eine freundliche oder empathische Beziehung zu einem Tier zu treten. Das Tier-Werden ist vielmehr als eine allgemeine Subversion des abendländischen bzw. neuzeitlichen Subjekts angelegt. Zwar konzentrieren sich Deleuze und Guattari ausschließlich auf die Bedeutung des Tier-Werdens für den Menschen; was dies für die Tiere heißen könnte, ist nicht von Interesse. Das Tier-Werden bei Deleuze und Guattari ist Element einer poststrukturalistischen Subjekttheorie, nicht einer Tiertheorie. Dennoch ist das Konzept in den Cultural Animal Studies breit rezipiert worden, einerseits um Annäherungsprozesse der Menschen an die Tiere zu beschreiben, andererseits aber auch, um gerade die Aporien und Unmöglichkeiten einer solchen Annäherung schärfer herauszuarbeiten.

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Während Foucault, Agamben sowie Deleuze und Guattari von der Frage ausgehen, was die Menschen mit den Tieren machen, lässt Derrida das Denken mit der Frage beginnen, was die Tiere mit den Menschen machen, genauer: was der Blick seiner Katze mit ihm selbst als nackt im Badezimmer stehenden Philosophen anzustellen in der Lage ist (vgl. Derrida 2010). Um das Denken auf diese Weise zu beginnen, ist es zunächst einmal nötig, den tierlichen Blick überhaupt wahrzunehmen und anzuerkennen. Wird dies verweigert, bewegt sich das Denken und Handeln mit Tieren in den traditionellen Gewaltbahnen der klassischen Metaphysik. Gelingt hingegen die Wahrnehmung und Anerkennung des Blicks, dann öffnet sich der Raum einer ethisch-politischen Neufassung des Mensch-Tier-Verhältnisses. Zentral für diese Neufassung ist es, die Tiere als Plural zu begreifen: Es gibt nicht das Tier, sondern nur die Tiere. Angesichts dieses entschiedenen Plurals bestimmt Derrida das Verhältnis zwischen den Menschen und den Tieren als ein limitrophes, also grenzwucherndes: Zwischen den Menschen und den Tieren gibt es weder genau eine Grenze noch gar keine Grenze, sondern nur eine Vielzahl von unterschiedlichsten Grenzen. Das Konzept der Limitrophie und insbesondere die Aufmerksamkeit für die Pluralität der Tiere avancieren in den Cultural Animal Studies derzeit zu zentralen Bezugspunkten der Forschung. Für Haraway geht Derridas Anerkennung des Blickes nicht weit genug bzw. zeitigt unzulängliche Konsequenzen (vgl. Haraway 2008). Anstatt diesen Blick als Anlass zu nehmen, an den eigenen Schreibtisch zurückzukehren und über die Tiervergessenheit der abendländischen Philosophie nachzudenken, gelte es, ihn als Aufforderung für ein gemeinsames Handeln ernst zu nehmen. Dieses gemeinsame Handeln beschreibt Haraway in kritischer Absetzung zu Deleuze/ Guattari als ein ‚becoming with‘, ein Gemeinsam-Werden. Tiere sind in dieser Perspektive nicht Objekte menschlichen Handelns, sondern Begleiter des Menschen: ‚Companion Species‘. Haraways Konzept der Companion Species dient einerseits als Beschreibungskategorie für die faktische Verflochtenheit menschlichen und tierlichen Lebens, andererseits als utopischer Vorentwurf einer Welt, in der diese Verflochtenheit auch theoretisch anerkannt und praktisch umgesetzt wird. In den Cultural Animal Studies sind beide Tendenzen aufgegriffen worden. Von zentraler Bedeutung ist dabei Haraways Aufwertung der Materialität der Mensch-Tier-Beziehungen. Tiere sind, anders als dies die diskursund textorientierten Ansätze von Foucault bis Derrida nahelegen, auch für die

6.2 Theorien und Methoden der Cultural Animal Studies

Cultural Animal Studies nicht allein als semiotische, also bedeutungstragende Gegenstände, sondern zugleich auch als körperliche, materielle Wesen für die Forschung zugänglich. Tiere sind, als ‚materiell-semiotische Knoten‘, paradigmatische Objekte eines New Materialism. Die in den Cultural Animal Studies derzeit am lebhaftesten rezipierte Version dieses New Materialism ist zweifelsohne die von Latour mitbegründete AkteurNetzwerk-Theorie (ANT, vgl. Latour 2007). Zwar haben Tiere, ähnlich wie bei Foucault, hier keinerlei herausragende Position; sie sind lediglich ein gleichberechtigter Untersuchungsgegenstand unter vielen. Denn die ANT zielt nicht auf die einfache Umkehrung traditioneller Hierarchien wie derjenigen zwischen Natur und Kultur, zwischen Wissenschaft und Politik oder eben auch zwischen Mensch und Tier, sondern versucht lediglich, diese gängigen Unterscheidungen gar nicht erst zum Zuge kommen zu lassen. Dennoch oder gerade deshalb bietet die ANT den Tierstudien eine produktive methodisch-theoretische Basis. Denn in den mit Latour beschreibbaren Netzwerken erscheinen die Tiere neben Menschen, Dingen, Geräten, Begriffen, Texten als gleichberechtigte bzw. gleich wirksame Akteure. Die Tiere sind aktive Mitspieler einer politischen Ökologie. Wie Haraways Begriff der Companion Species changiert auch Latours Konzept der politischen Ökologie (vgl. Latour 2001) zwischen Beschreibungskategorie und utopischem Entwurf; und auch hier sind beide Tendenzen in den Cultural Animal Studies aufgenommen worden. So lassen sich etwa Institutionen wie der Zoo, das Labor, die Zucht deskriptiv als Netzwerke erfassen, an deren Konstitution tierliche Akteure aktiv beteiligt sind; und es lässt sich die Anerkennung des Akteurstatus für Tiere als Eröffnungsspielzug einer erweiterten politischen Ökologie einfordern. Es gibt in den Cultural Animal Studies kaum Forschungen, die sich ausschließlich auf einen dieser theoretischen Aspekte beziehen. Üblich ist es vielmehr, die verschiedenen Aspekte miteinander zu verbinden und dabei auch noch weitere theoretische Optionen zu berücksichtigen, etwa die Kritische Theorie (Horkheimer/Adorno 1994), die Alteritätstheorie (Levinas 2006), die Ethnographie (Descola 2011) oder Bergers kanonisch gewordenen Essay Why look at Animals (Berger 2003).

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6.3 Arbeitsfelder und Zukunftsfragen der Cultural Animal Studies

Auf der Basis dieser Theorien und Methoden formulieren die Cultural Animal Studies einen universalistischen Erkenntnisanspruch: Weil es nichts gibt, in das Tiere nicht irgendwie involviert sind, gibt es auch nichts, was nicht Gegenstand der Cultural Animal Studies werden könnte. Den Tieren kommt dabei oft ein diagnostischer Wert zu: An ihnen lässt sich nachzeichnen, wie eine bestimmte Institution (z.B. die Wissenschaft) funktioniert oder eine spezifische Epoche (z.B. die Aufklärung), eine spezifische Gesellschaftsform (z.B. der Totemismus der Aborigines) oder eine spezifische Weltanschauung (z.B. das westliche Denken). Umgekehrt kann es aber auch darum gehen, was das jeweils für die Tiere heißt und mit den Tieren macht: eingebunden zu sein in die Wissenschaft, die Aufklärung, den Totemismus, das westliche Denken usw. Die Cultural Animal Studies wollen beides: mittels Tierstudien etwas über Kulturen sagen und mittels Kulturstudien etwas über Tiere sagen. Und sie wollen dies bei jedweder Gelegenheit. Folgt man diesem universalistischen Erkenntnisanspruch, dann sind die Cultural Animal Studies für alle geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen von gleicher Bedeutung. Entsprechend findet sich mittlerweile eine beachtliche Anzahl an Publikationen aus den Bereichen der Film-, Medien- und Bildwissenschaften (vgl. z.B. Nessel/Pauleit 2012; Aloi 2011, Bühler/Rieger 2006). Ein Blick auf die Forschungen der letzten Jahre zeigt jedoch, dass die Cultural Animal Studies sich bisher v.a. in drei vielfältig miteinander verknüpften Arbeitsbereichen etabliert haben: der Philosophie, der Geschichte und den Literaturund Kulturwissenschaften. Die Philosophie (vgl. einführend Wild 2008) kann dabei auf die längste Tradition einer Auseinandersetzung mit den Fragen der Tiere zurückblicken, insbesondere in den drei wichtigsten tierphilosophischen Problembereichen, der Tierethik, der anthropologischen Differenz und dem Geist der Tiere: Welche Normen sollen das menschliche Handeln gegenüber Tieren leiten? Wie unterscheiden sich Mensch und Tier bzw. unterscheiden sie sich überhaupt? Können Tiere vernünftig denken oder sich nur reflexartig verhalten? Diese Fragen sind zwar so alt wie die Philosophie selbst, werden aber seit den 1980er-Jahren in neuer Intensität und im Zuge der aktuellen Theoriebildung mit neuen Argumenten verhandelt.

6.3 Arbeitsfelder und Zukunftsfragen der Cultural Animal Studies

In den Geschichtswissenschaften (vgl. einführend Krüger/Steinbrecher/Wischermann 2014) hat die systematische Auseinandersetzung mit den Tieren erst im Zuge der Animal Studies und insbesondere der Cultural Animal Studies begonnen. Thematisch geht es zunächst einmal um die klassischen Institutionen des menschlichen Umgangs mit den Tieren: Jagd, Nutz- und Haustiere, Zoologie, Tierversuch, Tierschutz, Zoos, Zirkus usw. Entscheidend ist dabei aber, dass sich die Geschichtswissenschaften nicht nur einen bisher eher vernachlässigten Gegenstandsbereich erschlossen, sondern zugleich auch ihre eigene Methodik erweitert haben. Es geht nun nicht mehr allein um die Frage, wo sich Tiere in der Geschichte finden lassen, sondern auch darum, wie sich historische Prozesse aus einer tiersensitiven Perspektive beschreiben lassen. Ein Paradebeispiel hierfür ist die Geschichte des europäischen Imperialismus und Kolonialismus, die derzeit in tierhistorischer Perspektive neu durchdacht wird. Auch die Literaturwissenschaften (vgl. einführend Borgards 2012) haben erst in den letzten Jahren mit einer breiten und methodisch reflektierten Erforschung des literarischen Tierbestandes begonnen. Gegenstand sind dabei zunächst einmal einzelne Werke, die ein Tier in ihr Zentrum stellen, etwa Hoffmanns Kater Murr oder Melvilles Moby-Dick, des weiteren Autoren, in deren Gesamtwerk die Tiere ganz offensichtlich eine herausragende Rolle spielen, z.B. Kafka oder Coetzee, oder Autoren, die über zoologisch-naturwissenschaftliche Kompetenzen verfügen, wie sich dies etwa für Büchner oder Goethe nachzeichnen lässt. Ihren Eigenwert erhalten diese Cultural and Literary Animal Studies (CLAS) indes erst dort, wo grundsätzlicher nach dem Status der Tiere in der Literatur gefragt wird. Dies kann auf unterschiedlichen Ebenen geschehen. Zunächst einmal lassen sich Texte, die hinsichtlich der Tiere weniger auffällig sind, dennoch von den Tieren her lesen (z.B. Stifters Nachsommer). Sodann kann es auch darum gehen, die gängigen literaturwissenschaftlichen Kategorien (Autor, Epoche, Erzähler, Gattung, Fabel, Novelle usw.) von der Tierfrage her neu zu fassen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, literarische Texte als Darstellungs- und Reflexionsmedien historischer und gegenwärtiger Tiersituationen zu lesen, als historische bzw. soziologische Dokumente. Und schließlich lässt sich die Literatur ihrerseits als Teil der tierlichen Lebenswelt beschreiben, als eine der tierlichen Existenzbedingungen, oder, mit Latour formuliert, als ein Element der politischen Ökologien, in denen die Tiere leben.

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In den Geschichts- und Literaturwissenschaften wird besonders deutlich, dass die Tiere nicht nur einen neuen Gegenstandsbereich ausmachen, sondern auch eine grundlegende Reflexion über die eigenen wissenschaftlichen Methoden und Theorien auslösen können. Wo dies der Fall ist, vollzieht sich der Animal Turn (vgl. Weil 2010) der Geistes- und Kulturwissenschaften auf zwei Ebenen zugleich: Er ist eine Hinwendung zu den Tieren als bisher vernachlässigten Forschungsgegenständen; und er ist eine Umwendung der Forschungsperspektive, die nun schlechthin alles von den Tieren her in den Blick zu nehmen versucht. Ganz ähnliche Wendungen haben die Kulturwissenschaften schon mit den Gender Studies und den Postcolonial Studies erfahren. Zu diesen beiden Methoden unterhalten die Animal Studies eine Reihe personeller und konzeptioneller Verbindungen, etwa in der Analogie der Begriffe von Sexismus, Rassismus und Speziesismus, also der Diskriminierung aufgrund von Geschlechts-, Rassen- oder Artzugehörigkeit. Anders aber als bei den Gender Studies und den Postcolonial Studies ist über den Status der Animal Studies als vollwertigem und dauerhaftem theoretischen Ansatz, der einen selbstverständlichen Platz unter den kulturwissenschaftlichen Standardverfahren für sich beanspruchen kann, noch nicht entschieden. Gleichfalls offen ist bisher noch das Verhältnis zwischen den Environmental Humanities und den Cultural Animal Studies. Einerseits ließen sich die Cultural Animal Studies als ein Teilbereich der Environmental Humanities verstehen, als der Teilbereich, in dem es nicht um das Klima oder die Pflanzen, sondern eben um Tier-Mensch-Verhältnisse geht. Andererseits besteht zwischen der Fokussierung auf das individuelle Tier in den Animal Studies und der Konzentration auf den ökologischen Gesamtzusammenhang in den Environmental Humanities ein irreduzibler Widerstreit (vgl. z.B. Plumwood 2012). Ein Ziel der zukünftigen Forschungen könnte es sein, diesen Widerstreit nicht aufzulösen, sondern in konkreten Analysen spezifischer Phänomene produktiv werden zu lassen. 6.4 Literaturverzeichnis

Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Aus dem Italienischen von Davide Giuriato. Frankfurt a.M. 2003 [ital. Orig. 2002]. Aloi, Giovanni: Art and Animals. London 2011. Berger, John: Warum sehen wir Tiere an? In: ders.: Das Leben der Bilder oder die Kunst

6.4 Literaturverzeichnis

des Sehens. Aus dem Englischen von Stephen Tree. Berlin 2003, S. 12–35 [engl. Orig. 1980]. Best, Steven: The Rise of Critical Animal Studies. Putting Theory into Action and Animal Liberation into Higher Education. In: Journal for Critical Animal Studies 7.1 (2009), S. 9–52. Borgards, Roland: Tiere in der Literatur. Eine methodische Standortbestimmung. In: Grimm, Herwig/Otterstedt, Carola (Hg.): Das Tier an sich. Disziplinenübergreifende Perspektiven für neue Wege im wissenschaftsbasierten Tierschutz. Göttingen 2012, S. 87–118. Borgards, Roland (Hg.): Tiere. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart 2015. Borgards, Roland/Kling, Alexander/Köhring, Esther: Texte zur Tiertheorie. Stuttgart 2015. Bühler, Benjamin/Rieger, Stefan: Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens. Frankfurt a.M. 2006. Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen. Bielefeld 2011. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Aus dem Französischen übs. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 2005 [franz. Orig. 1980]. Derrida, Jacques: Das Tier, das ich also bin. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. Wien 2010 [franz. Orig. 2006]. Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur. Berlin 2011 [franz. Orig. 2005]. Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Übs. von Ulrich Raulff und Walter Seitter. Frankfurt a.M. 1983. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt a.M. 1974 [franz. Orig. 1966]. Haraway, Donna: When Species Meet. Posthumanities. Minnesota 2008. Heiden, Anne von/Vogl, Joseph (Hg.): Politische Zoologie. Zürich, Berlin 2007. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Mensch und Tier. In: dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Gesammelte Schriften. Bd. 3. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1984 [Typoskript 1944, Erstpublikation 1947]. Krüger, Gesine/Steinbrecher, Aline/Wischermann, Clemens (Hg.): Tiere und Geschichte. Konturen einer Animate History. Stuttgart 2014. Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt a.M. 2001 [franz. Orig. 1999]. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a.M. 2007 [engl. Orig. 2005].

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Latour, Bruno: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Frankfurt a.M. 2010. Levinas, Emmanuel: Nom d’un chien oder das Naturrecht. Übs. von Frank Miething. In: Miething, Frank/Wolzogen, Christoph von (Hg.): Après vous. Denkbuch für Emmanuel Levinas 1906–1995. Frankfurt a.M. 2006, S. 55–59 [franz. Orig. 1963]. Marvin, Gary/McHugh, Susan: Routledge Handbook of Human-Animal Studies. London 2014. Nessel, Sabine/Pauleit, Winfried (Hg.): Der Film und das Tier. Klassifizierungen, Cinephilien, Philosophien. Berlin 2012. Plumwood, Val: Animals and ecology. Towards a better integration. In: dies.: The Eye of the Crocodile. Canberra 2012, S. 77–90. Taylor, Nuk/Twine, Richard (Hg.): The Rise of Critical Animal Studies. From the Margins to the Centre. London 2014. Tyler, Tom: Ciferae. A Bestiary in Five Fingers. Plymouth 2012. Weil, Kari: A Report on the Animal Turn. In: differences 2 (2010), S. 1–23. Wild, Markus: Tierphilosophie zur Einführung. Hamburg 2008.

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7 Postkolonialer Ecocriticism Gesa Mackenthun 7.1 Ursprung des Postkolonialen Ecocriticism: Postkolonialität und Ökologie

Das Forschungsfeld des Postkolonialen Ecocriticism entstand in den letzten zehn Jahren durch die Konvergenz zweier bis dahin unabhängig voneinander existierender Wissenschaftsdiskurse, des Ecocriticism und der Postcolonial Studies. Die Semantik des Begriffs ‚postcolonial‘ wurde im anglophonen Bereich in den 1990er-Jahren heftig diskutiert. Weitgehender Konsens ist, dass es sich nicht um einen zeitlichen Begriff handelt (‚post‘ als ‚nach‘ dem Zeitalter des Kolonialismus), sondern um die Markierung einer kritischen Position, die auf der Erkenntnis basiert, dass sich die westliche Welt seit ca. 1500 (und bis heute) in einem Zustand vielfältiger und komplexer kolonialer Zusammenhänge befindet. Seit den 1980er-Jahren fand im politischen Feld eine verstärkte Interessenverschränkung ökologischer Initiativen und Initiativen zum Schutz indigener Rechte statt. Wer diesen Prozess beobachtet hat, dem mag es seltsam erscheinen, dass die wissenschaftlichen Bereiche Ecocriticism und Postcolonial Criticism erst seit ca. 2000 zu einem intensiveren Gedankenaustausch gefunden haben. Das erwachende Interesse an den ökologischen Rechten indigener und ethnischer Gruppen traf auf ein bereits seit Längerem existierendes literarisches und literaturwissenschaftliches Interesse an dem Verhältnis von kolonialen Kulturen zur Natur und zu vermeintlichen Naturvölkern. Zu unterscheiden ist also (1) zwischen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit gesellschaftlichen Phänomenen – wie Initiativen gegen Umweltzerstörung und für Naturschutz einerseits und für die territorialen und politischen Selbstbestimmungsrechte indigener Gruppen und ethnischer Minderheiten andererseits – und (2) der literarischen und literaturwissenschaftlichen Reflexion ökologischer Phänomene, insbesondere in Form der kolonialen Pastoralästhetik, die deutlich älter ist als die Grassroots-Bewegung der 1970er- und 1980er-Jahre. Ein weiterer Vorläufer ist (3) die historische Erforschung der ökologischen Konsequenzen der westlichen Expansion. Schließlich wirken sich (4) seit Ende der 1980er-Jahre die Postcolonial Studies auf die wissenschaftlichen Fragestellungen zu (Post-)Kolonialität und Ökologie aus.

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(1)  Ecological Justice Movement: Ein erster Impetus hinter der Herausbildung des Postkolonialen Ecocriticism ist die Ecological Justice-Bewegung (oder Green Justice-Bewegung), die sich in den 1980er-Jahren von den USA ausgehend schnell durch das Wirken verschiedener NGOs global ausbreitete und mit dem Climate March anlässlich des Klimagipfels der United Nations in New York City am 21.9.2014 einen ihrer Höhepunkte erreichte. Ausgehend von der Tatsache, dass in den USA sowie in anderen (post-)kolonialen Nationen der militärische und zivile Nuklearkreislauf auf indianischen Reservationen oder auf Vertragsland stattfindet (vgl. Nietschman 1987), prägten sich die Begriffe „radioactive colonialism“ und „environmental racism“ aus (vgl. Churchill 1993; Kuletz 1998). Eine zentrale Einsicht der Ecological Justice-Bewegung ist, dass ökologische Rechte nicht von Menschenrechten zu trennen sind und dass die Herstellung kommunaler Umweltbedingungen zwingend mit einer Herstellung bzw. Aufrechterhaltung ziviler Rechte einhergehen muss (vgl. Sachs 1995, 12). Giovanna di Chiro erkennt eine fundamentale Differenz zwischen den Zielen von Initiativen zur Errichtung von Naturschutz- und Wildnisgebieten einerseits und zivilbürgerlichen Initiativen zur Einrichtung einer gesunden urbanen Umwelt andererseits: Geht es der ersten Gruppe darum, die Natur möglichst in einem (nie erreichbaren) ‚Naturzustand‘ zu erhalten oder in ihn zurückzuversetzen (wilderness areas, rewilding), so bemüht sich die zweite Gruppe um die Herstellung gesunder Lebensbedingungen in urbanen Gebieten, also dort, wo Menschen „leben“, „arbeiten“ und „spielen“ (di Chiro 1995, 301). Der zentrale Unterschied besteht in dem Verhältnis von Natur und Mensch: Während die erste Gruppe im Extremfall als Bedingung für den Erhalt der Natur den Ausschluss des Menschen von den zu erhaltenden Gebieten verlangt, steht bei der zweiten der Mensch im Zentrum. Ökologisch gefährliche Lebensbedingungen finden sich vor allem in solchen urbanen Gebieten, die von Angehörigen ethnischer und sozialer Minderheiten bewohnt werden (vgl. Bullard 1990). Das Bemühen um die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen kann als ein Teil einer breiteren postkolonialen Bewegung für Gerechtigkeit zwischen den Kulturen in globalen Kontexten gewertet werden. Diesen Gegensatz der Positionen, so di Chiro (1995, 312), gilt es zu überwinden. (2) Koloniale Pastoralästhetik: Di Chiro fragt sich, ob es sich bei der Idealisierung einer ursprünglichen Natur nicht um einen Teil einer kolonialen Ideologie handelt, um ein ideologisches „tool of oppression“ (311). Die Ästhetik des Pas-

7.1 Ursprung des Postkolonialen Ecocriticism: Postkolonialität und Ökologie

toralen, so auch Lawrence Buell, „has underwritten myths of conquest abroad as well as of squirearchy at home“ (Buell 1995, 62). Buell, der die mythischen Konstruktionen zu kolonisierender Länder und Menschen mit dem Begriff „literary naturism“ bezeichnet (53), beschreibt, wie sich im literarischen Diskurs über Amerika (und analog über andere Siedlungskolonien in Australien und Afrika) eine Ästhetik des Pastoralen herausbildete, die einerseits die koloniale Politik ideologisch untermalte (Klage über die ‚unvermeidbare‘ Zerstörung der Natur und ihrer Einwohner), aber sie andererseits gelegentlich auch kritisierte. Buell fragt sich z.B. im Hinblick auf Thomas Coles romantische Naturgemälde aus den 1830ern, ob sie an einer expansionistischen Rhetorik partizipieren oder vielmehr als proto-ökokritische Stellungnahme zur territorialen Ausbreitung gelesen werden können (54). Die amerikanische nationale Identität ist signifikant geprägt von einer romantischen Idealisierung der Natur. Die Figur der pastoralen Landschaft steht jedoch in einem antithetischen Spannungsverhältnis zur Figur der Wüste und des leeren Landes (vacuum domicilium): Diese mythische Doppelformation exkludierte die Präsenz indigener Bewohner und eignete sich dadurch als koloniale Legitimationsmetapher (vgl. auch Huggan/Tiffin 2010, 85). Die moderne Ökopoetik, so Buell, muss sich bis heute mit diesem kolonialen Erbe auseinandersetzen und tut dies durch eine radikale Sprachkritik und die Produktion von „intertextual salad“ (73–74; siehe auch Huggan/Tiffin 2010, 97 ff. zum südafrikanischen „counter-pastoral“). (3)  Ökologischer Kolonialismus in den Geschichtswissenschaften: Die europäische Expansion geschah in erster Linie zur Erschließung neuer Territorien und Rohstoffe; sie war also grundsätzlich ein Eingriff nicht nur in die territorialen Rechte anderer Völker, sondern auch in andere Ökosysteme. Diese waren kein „virgin land“ (Smith 1950), sondern waren bereits in vorkolonialer Zeit durch die Agenz indigener Bevölkerungen verändert worden (vgl. Cronon 1983, 11). Die britischen und US-amerikanischen Science and Empire Studies sowie Teile der Kolonialgeschichte untersuchen seit den 1980ern die Zusammenhänge zwischen kolonialer Eroberung und den dadurch ausgelösten Veränderungen in Fauna und Flora. In Ecological Imperialism (1980) hat Alfred Crosby gezeigt, dass es eigentlich unmöglich ist, die Geschichte des Imperialismus zu verstehen, ohne seine ökologischen Faktoren zu beachten: Hierzu zählen klimatische Faktoren genauso wie die Ausbreitung von Seuchen, die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen und der geplante Transport von Pflanzen und Tieren zwischen

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den Kolonien und den Mutterländern sowie zwischen den Kolonien (Crosby 1980). Einige nennen Umweltfaktoren als ausschlaggebend für den Verlauf der Überseegeschichte (vgl. Beinart/Hughes 2007, 11); andere betonen, dass die imperiale Inbesitznahme der Erde im Namen von Fortschritt und Entwicklung zentral über die Kontrolle von Land, Landwirtschaft und Ressourcenausbeutung geschah (Drayton 2000). Gleichwohl gab es seit Ende des 18. Jahrhunderts Bestrebungen, die kolonisierte Natur für zukünftige Erträge zu erhalten (vgl. Beinhart/Hughes 2007, 3). (4)  Postcolonial Studies: Die postkoloniale Literaturwissenschaft wird meistens auf das Erscheinungsjahr von Edward W. Saids (1978) einflussreicher Kritik europäischer Diskurse über den Orient datiert. Postcolonial Studies betreiben eine Neulektüre, insbesondere der englischsprachigen Weltliteratur, aus einer kolonialismuskritischen Perspektive (vgl. Ashcroft/Griffiths/Tiffin 1989; Chrisman 1994; Loomba 1998; Döring 2008). Aufgrund des signifikanten Einflusses poststrukturalistischer Theorien stehen in den Postcolonial Studies Konzepte wie die Aporien und Unbestimmbarkeit textueller Repräsentationen, Identität und Hybridität, die Repräsentierbarkeit der Kolonisierten, postkoloniale Perspektiven auf die Repräsentation von race, class, und gender sowie Migration und Transkulturation im Mittelpunkt. Erst in neuerer Zeit werden auch Versuche unternommen, in kolonialen Repräsentationen nach Spuren alternativer Epistemologien zu suchen. Mit wenigen Ausnahmen spielen ökokritische Erwägungen in der postkolonialen Literatur und Literaturwissenschaft eine untergeordnete Rolle, da in der literarischen Darstellung Migration und räumliche Mobilität sowie urbane Räume als Setting dominieren. Anders verhält es sich mit den Literaturen indigener Künstler in den Siedlungskolonien (USA, Kanada, Australien, Neuseeland), deren Gesellschaften, anders als die Gesellschaften der Karibik, Afrikas oder Indiens, keinen Prozess der Dekolonisierung erfahren und bis heute eine starke territoriale Bindung haben. In letzter Zeit wenden sich auch andere postkoloniale AutorInnen den Schicksalen der ‚Daheimgebliebenen‘ zu, wodurch ökokritische Aspekte in postkolonialen Texten an Terrain gewinnen. Sowohl Rob Nixon als auch Elizabeth DeLoughrey und George Handley konstatieren vier Gründe für die späte Konvergenz des Ecocriticism und der Postcolonial Studies: - Aufgrund ihres poststrukturalistischen Erbes verschmähen die Postcoloni-

7.1 Ursprung des Postkolonialen Ecocriticism: Postkolonialität und Ökologie

al Studies essentialistische Konzepte von Ursprünglichkeit, des Bewahrens, der Unveränderbarkeit und des Schutzes natürlicher Gebiete, die in vielen ökokritischen Studien implizit oder explizit zur theoretischen Grundausrüstung gehören. Stattdessen favorisieren die Postcolonial Studies eine Ästhetik der Hybridität und der „cross-culturation“ (Nixon 2005, 235; DeLoughrey/Handley 2011, 23). - Die Postcolonial Studies verfügen traditionell über einen anderen Zugang zu Raum als der Ecocriticism. Sie sind mehr an Mobilität und Diaspora interessiert als an Konzepten wie ‚Ort‘ und ‚Heimat‘. Der Ecocriticism ist daher eher gegenüber der Literatur von und über indigene Kulturen aufgeschlossen als die Postcolonial Studies. Zwar behauptet Nixon, die Postcolonial Studies seien im Gegensatz zum Ecocriticism an dem Phänomen territorialer Enteignung und Vertreibung („displacement“) interessiert (Nixon 2005, 235), jedoch hat dieses Konzept in beiden Schulen bisher keine große Rolle gespielt. - Die Postcolonial Studies definieren sich als ‚urban-metropolitan‘ und als kosmopolitisch, während sich der frühere Ecocriticism auf ländliche Gebiete und die ‚Wildnis‘ konzentriert. Beim US-amerikanischen Ecocriticism ist außerdem eine starke Affinität zum nationalen bzw. westlichen Literaturkanon festzustellen (Nixon 2005, 233–35; Buell 2005, 91; DeLoughrey/Handley 2011, 20). Nixon spricht in diesem Kontext von einem amerikanischen „econationalism“ (Nixon 2005, 238) und sieht in ihm einen Grund für die gegenseitige epistemologische Blindheit. - Hinsichtlich der Repräsentation von Geschichte bemühen sich die Postcolonial Studies um eine Lektüre der Kolonialgeschichte ‚gegen den Strich‘ und graben in den Lücken der offiziellen Überlieferung nach unterdrückten Resten einer Überlieferung der Kolonisierten, während der Ecocriticism weitgehend ahistorisch arbeitet. Er reduziert Geschichte oft, so Nixon, auf „the pursuit of timeless, solitary moments of communion with nature“ (Nixon 2005, 235). Dies sei ein Erbe der kolonialen Pastoralästhetik. Auch Pablo Mukherjee (2010) verweist auf die Widersprüchlichkeit dieser Logik, indem er die komplexe Wechselbeziehung von Umweltbedingungen und sozialen, historischen und kulturellen Kategorien betont.

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7.2 Thematische Schwerpunkte und Fragestellungen des Postkolonialen Ecocriticism

Der Postkoloniale Ecocriticism verbindet existierende Theorien und Methoden zu neuen analytischen Ansätzen. Sein wichtigster theoretischer Beitrag ist wohl die nicht-dichotome Perspektive, die er auf das Verhältnis von Mensch und Natur wirft, indem er indigene, relationale Verständnisse von der Eingebundenheit des Menschen in die Natur kritisch beleuchtet. Diese Erkenntnis hat längst in die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit Ökologie Eingang gefunden. Ihr Einzug in die Literatur- und Kulturwissenschaft war jedoch durch die Dominanz mächtiger Ideologeme (das pastorale Ideal, die Metaphern von Wildnis und jungfräulichem Land) erschwert. Eine weitere, bereits erwähnte theoretische Erkenntnis ist die Einsicht, dass ökologische Fragestellungen nicht von sozialen getrennt werden können – weder in der Untersuchung von ländlichen noch in der von urbanen Räumen und deren kulturellen Darstellungen. Des Weiteren bietet der Postkoloniale Ecocriticism aufgrund seiner stark literarischen Tradition eine stärkere Beachtung von formalästhetischen, insbesondere literarischen Diskursen als die eher thematisch ausgerichteten postkolonialen Analysen (vgl. DeLoughrey/Handley 2011, 28; Buell 2001, 2). Eine stärkere Betonung von literarischen Aspekten schärft den Blick für die vielen postkolonialen Texten inhärente semantische Ambivalenz und Dialogizität, wie sie z.B. Louis Owens für literarische Texte von Native Americans feststellte (vgl. Owens 1992, 12–15). Im Folgenden werden vier thematische Schwerpunkte des Postkolonialen Ecocriticism anhand von Beispielen dargestellt. (1)  Bezüge zwischen ökologischen und sozialen Interessen in postkolonialen Settings: Diese Thematik betrifft vor allem solche Texte, deren Handlung im sog. Globalen Süden stattfindet. Obwohl sich der Begriff ‚Global South‘ im kritischen Diskurs durchgesetzt hat, ist der aus den 1970er-Jahren stammende Begriff der ‚Vierten Welt‘ insofern von Vorteil, als er die von andauernden kolonialen Machtverhältnissen betroffenen Enklaven in der ‚ersten‘ und ‚zweiten‘ Welt einbezieht. Bei diesen Bezügen kann es sich um Konflikte handeln, z.B. angesichts von Naturschutzgebieten, deren Einrichtung den menschlichen Bewohnern die Lebensgrundlage raubt. In seinem Roman Hungry Tide (2005) zum Beispiel erzählt Amitav Ghosh von der auf realen Ereignissen basierenden (vgl. Huggan/ Tiffin 2010, 186) Vertreibung der Bevölkerung eines Ortes im Tidengebiet der

7.2 Thematische Schwerpunkte und Fragestellungen des Postkolonialen Ecocriticism

Sundarbans (zwischen Indien und Bangladesch). Die Menschen werden aufgrund einer Regierungsverfügung vertrieben, damit ein Naturpark zum Schutz der Pflanzen und Tiere in diesem einmaligen Ökotop errichtet werden kann. Die Profiteure dieser Praxis sind nicht in erster Linie die lokalen Bewohner, sondern Menschen aus anderen Ländern. Die globale Dimension des Problems wirkt sich jedoch nicht in Form einer kosmopolitischen Verantwortungsethik auf das Leben der lokalen Bewohner aus, sondern sie sind von der internationalen Übereinkunft zum Schutz des globalen Naturerbes ausgeschlossen. Andere Texte repräsentieren soziale und ökologische Probleme nicht als unvereinbare Gegensätze, sondern als sich gegenseitig verstärkende Faktoren. Die Gemeinschaft in Indra Sinhas Roman Animal’s People (2007) ist von der Chemiekatastrophe in Khaufpur traumatisiert. Eine Heilung ist vor allem deshalb schwierig, weil die Menschen weiterhin im verseuchten Gebiet leben müssen: Die Fabrik der „Kampani“, in der der verheerende Chemieunfall stattfand (basierend auf den Ereignissen in Bhopal 1984), ist eben kein Naturschutzgebiet, sondern genau das Gegenteil davon: ein toxisches Territorium, das für Menschen unbewohnbar geworden ist. (2) Postcolonial Human Animal Studies: Sinhas Roman spielt in seinem Titel und in der Figur des Protagonisten, Animal, auf das relativ neue Forschungsfeld der Human Animal Studies an (vgl. Kap. 6) und ergänzt es aus postkolonialer Perspektive. Der Ich-Erzähler des Romans, den der Chemieunfall zum Krüppel machte, stellt für sich die Speziesgrenze zwischen Mensch und Tier infrage – mit dem Ergebnis, dass der Leser erst recht seine Menschlichkeit erkennt und seinen Überlebenswillen bewundert, jedoch auch ein Gespür dafür bekommt, dass auch Tiere zu den Opfern fahrlässigen menschlichen Handelns gehören. Der globale Tierschutzdiskurs neigt dazu, das Überleben von seltenen Tierarten höher zu bewerten als das Überleben oder das Wohlergehen von Menschen – ein schwieriger moralischer Konflikt, der in postkolonialen Romanen immer wieder angesprochen wird. Nicht-westlichen indigenen Kulturen ist die Logik der kategorialen Trennung zwischen Spezies eher fremd. Während der koloniale, von rassistischen Theorien gesättigte Diskurs die Unterschiede zwischen Menschen mit dunkler Hautfarbe und Tieren verwischt (vgl. Huggan/ Tiffin 134–184), stehen Mensch und Tier im postkolonialen Diskurs oftmals in Konkurrenz zueinander, obwohl sie faktisch beide Opfer einer globalen Ausbeutungs- und Zerstörungsindustrie sind.

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In ihrem Roman Power (1999) präsentiert Linda Hogan z.B. ein Dilemma zwischen einer indianischen und einer amerikanischen Form der Rechtspraxis bei der Bestrafung einer jungen Indianerin, die angeblich ein streng geschütztes Tier, einen Florida-Panther, getötet hat. Während das weiße Gericht den Prozess aus Mangel an Beweisen einstellt, entscheidet das Stammesgericht, sie aus der Gemeinschaft auszuschließen. Keines dieser Urteile erscheint gerecht; vielmehr zeigt der Roman das unlösbare moralische Dilemma des Individuums zwischen zwei Kulturen, die auf komplexe Art miteinander verflochten sind und sich beide in einem Prozess des kulturellen Zerfalls befinden (vgl. Buell 2001, 238 f.). Hogan konstruiert sprachlich eine große Ähnlichkeit zwischen dem Zustand des gefährdeten Tiers und demjenigen der Protagonistin. Die Tötung des Panthers entspricht einer Tötung ihrer selbst, analog zu der Überzeugung, dass Mensch und Tier eine tiefe emotionale Einheit verbindet. In den Texten indianischer AutorInnen (wie auch anderer AutorInnen aus Siedlungskolonien – Maoris in Neuseeland, Aborigines in Australien, AutorInnen von den Pazifischen Inseln) sind die Grenzen zwischen Mensch und Tier oft fließend. Wie selbstverständlich werden ihre literarischen Texte von allerlei Mensch-Tier-Mischwesen und Tricksterfiguren (wie Bear oder Coyote) bevölkert. Dies entspricht der imaginativen Welt der mündlichen Traditionen von Stammesvölkern, in denen die ursprüngliche Verbundenheit von Menschen und Tieren eine zentrale Rolle spielt; es entspricht dem erheblichen Wissen von Indigenen über natürliche Zusammenhänge, das westliche Wissenschaftler oft erst nach jahrhundertelangem Studium erreichten (vgl. Feit 2007). Nichtsdestotrotz versucht ein revisionistischer Wissenschaftsdiskurs in den USA seit einigen Jahren, die indigenen Bewohner als die eigentlichen Feinde der Tiere darzustellen. Die Behauptung, dass die Indianer weitgehend selbst für die extreme Dezimierung von Bibern, Büffeln und sogar Mammuts verantwortlich gewesen seien, reaktiviert den kolonialen Mythos des „savage Indian“ und blendet die desaströsen Auswirkungen des kapitalistischen Marktes aus (vgl. kritisch dazu Schweninger 2008, 36–56). (3) Territorialität: Wie erwähnt, widmen sich literarische Texte, die dem Postkolonialen Ecocriticism zuzuordnen sind, weniger dem ansonsten in der postkolonialen Literatur vorherrschenden Thema der (Eliten-)Migration, sondern den Themen Territorialität, Zwangsumsiedlung und illegitime Landnahme. In The Condition of Postmodernity beschreibt David Harvey den räumlichen Pers-

7.2 Thematische Schwerpunkte und Fragestellungen des Postkolonialen Ecocriticism

pektivwandel, der mit der Entstehung der Moderne einherging. Mathematisch präzise Landkarten verloren demnach graduell die Spuren eines vormodernen, auf taktiler und praktischer Erfahrung basierenden Blicks auf das Land (vgl. Harvey 1990, 245 u. 253). Die durch die kartesianische Wende ausgelöste Emanzipation des Menschen als eines ‚freien‘ und aktiven Individuums hatte ein neues Verhältnis zur Natur und zu territorialer Ordnung zur Bedingung (249). Ein Vergleich zwischen einem westlichen und einem nicht-westlichen Verhältnis zum Land kann von dieser historischen Erkenntnis profitieren, denn wie in der europäischen Vormoderne artikuliert sich das Verhältnis zum Land bei indigenen Kulturen über die taktile Erfahrbarkeit und die praktische Vertrautheit mit dem Land. So beschreibt die Laguna-Autorin Leslie Marmon Silko die Wüste aus westlicher Sicht als ein ‚leeres‘, aber vielfach belebtes Land: The bare vastness of the Hopi landscape emphasizes the visual impact of every plant, every rock, every arroyo. Nothing is overlooked or taken for granted. Each ant, each lizard, each lark is imbued with great value simply because the creature is there, simply because the creature is alive in a place where any life at all is precious. […] One look and you know that simply to survive is a great triumph, that every possible resource is needed, every possible ally – even the most humble insect or reptile. You realize you will be speaking with all of them if you intend to last out the year (Silko 1999, 42).

Silko stellt die Kenntnis des Landes und seiner nicht-menschlichen Bewohner als Voraussetzung für das Überleben dar. In der indianischen Erzähltradition zeugt die Kategorie der sog. Landmark Legends von der intimen Beziehung der Menschen zu dem Land, das sie bewohnen. Das Verhältnis ändert sich unter dem Einfluss von gewaltsamer Landnahme und Vertreibung. Durch Kolonisierung und Globalisierung entsteht auch in den Plots indigener AutorInnen ein neues Verhältnis zu Territorialität. Berichtet wird von Migrationsschicksalen zwischen Reservation und urbanen Zentren, aber auch von transnationalen Migrationen indigener ProtagonistInnen zwischen dem Land ihrer Geburt und anderen Weltgegenden – z.B. zum Frankreich des 19. Jahrhunderts in James Welchs The Heartsong of Charging Elk (2001), zu England in Silkos Gardens in the Dunes (1999) oder den Schützengräben des Ersten Weltkriegs in Joseph Boydens Three Day Road (2005). (4) Toxizität in (neo-)kolonialen Topographien: Eng im Zusammenhang mit Territorialität steht das Thema der Landzerstörung zur Gewinnung von Roh-

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stoffen und Entsorgung oft toxischen Industriemülls. Die zunächst als wertlos erscheinenden kargen Gebiete, in denen die Überlebenden kolonialer Genozide angesiedelt wurden, entpuppten sich im 20. Jahrhundert als Goldgruben für den Energiehunger des Industriezeitalters und wurden zu sog. „National Sacrifice Areas“ erklärt. Toxische Topographien werden zum Beispiel in Silkos Ceremony (1977) thematisiert, dessen teilweise mythische Handlung vor dem Hintergrund der Bedrohung durch Uranabbau stattfindet; Thomas Kings Truth and Bright Water (1999) thematisiert u.a. ein toxisches Abfalllager auf Indianerland zwischen den USA und Kanada. Auch die Romane anderer ‚Daheimgebliebener‘ stellen die Umweltprobleme dar, die im ‚Globalen Süden‘ bzw. in der ‚Vierten Welt‘ durch den Energiehunger, die Verantwortungslosigkeit und die Obsoleszenz der Industrieländer entsteht: Animal’s People beschreibt das Überleben der Menschen in den zerstörten Ruinen des globalen Kapitalismus – Menschen, die nicht privilegiert genug sind, ihr zerstörtes Land zu verlassen. Der diasporische Protagonist ist hier nicht die nach Identität suchende Migrantin, sondern die US-amerikanische „Kampani“, die die Katastrophe verursachte und dann das Land verließ, sowie die von Altruismus getriebene amerikanische Ärztin, die den skeptischen Opfern in Khaufpur helfen will. Dennoch erscheint die verseuchte Stadtlandschaft seltsam pastoral: Mother Nature’s trying to take back the land. Wild sandalwood trees have arrived, who knows how, must be their seeds were shat be overflying birds. That herb scent, it’s ajwain, you catch it drifting in gusts, at such moments the forest is beautiful, you forget it’s poisoned and haunted (Sinha 2007, 31).

Sinhas ‚toxic pastoral‘ erinnert an fiktionale Reflexionen über die nukleare Verseuchung der pazifischen Inseln (vgl. DeLoughrey 2011). Ein afrikanischer Beitrag zum literarischen Diskurs der toxischen Topographien ist Helon Habilas Roman Oil on Water (2011), der den Kampf zweier Journalisten um die Aufklärung eines Verbrechens und um die Bewahrung menschlicher Würde in der von der Erdölindustrie zerstörten Umwelt des Nigerdeltas beschreibt. Ihre Reise führt sie durch eine apokalyptische Landschaft mit brennenden und explodierenden Ölquellen. Das Thema der toxischen Topographien in neokolonialen Settings wird sicher auch in den nächsten Jahren die literarische Produktion inspirieren (vgl. Stoler 2013).

7.3 Zukünftige Forschungsfragen

7.3 Zukünftige Forschungsfragen

Ein weiterhin großes Innovationspotenzial liegt in der strategischen Verbindung von soziologischen und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen aus dem Bereich der Ecological Justice-Forschung mit literaturwissenschaftlichen Analyseverfahren aus dem Bereich des Ecocriticism. Insbesondere die zunehmende Literaturproduktion an Orten außerhalb der westlichen Metropolen und das wachsende Wissen über die Zusammenhänge zwischen dem Luxus in der Ersten Welt und dem Elend in der Dritten und Vierten Welt könnte die ökologischen Ursachen für Armutsmigration im Blickfeld behalten. Die oben diagnostizierte Lücke zwischen ökokritischen und postkolonialen Perspektiven und Analyseverfahren wird sich unter dem Einfluss dieser Literatur hoffentlich weiter schließen. An die Stelle literarisch produzierter Oppositionen wie ländlich vs. urban, indigen vs. nicht-indigen, Natur vs. Kultur, Tier vs. Mensch wird eine komplexe Beziehungspoetik treten, wie sich bereits für die Karibik feststellen lässt (vgl. DeLoughrey/Handley 2011, 27 f.). Die Literaturwissenschaft mag dies als Aufforderung betrachten, auch in älteren Texten stärker auf die Darstellung von ‚glokalen‘, d.h. gleichermaßen lokalen wie globalen, ökopolitischen Verflechtungen zu achten. Eine solche Perspektive könnte kulturelle Texte allgemein, besonders jedoch wissenschaftliche Texte in ihre Analysen mit einbeziehen, denn die Wanderschaft von Narremen und Metaphern zwischen ästhetischen und wissenschaftlichen Texten hat einen großen Einfluss auf die Art und Weise, wie wir die ökologischen Probleme der globalisierten Welt verstehen und zu beheben versuchen. Auch die Trennung von wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Denken ist letztlich eine Erfindung des kartesianischen Zeitalters, die es zu überwinden gilt. Es ist zu hoffen, dass das momentan zu beobachtende Interesse an alternativen, z.B. indigenen Epistemologien zu einer translokalen Neuperspektivierung unter Einbeziehung indigener Wissensbestände beitragen wird. Postkolonialer Ecocriticism wird die Komplexität globaler ökologischer Wissensbestände, Traditionen und historischer Erfahrungen erkennen und seinen Erkenntnisort jenseits falscher Alternativen finden müssen – jenseits von Opferdiskursen auf der einen Seite und Modernisierungsdiskursen auf der anderen (vgl. DeLoughrey/Handley 2011, 19). Die Einbindung des Erkenntnisbeitrags der Akteure im ‚Globalen Süden‘ in Versuche, den gewaltigen ökologischen Herausforde-

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rungen der Zukunft zu begegnen, mag entscheidend für das globale Überleben sein. 7.4 Literaturverzeichnis

Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/ Tiffin, Helen: The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-Colonial Literatures. London, New York 1989. Beinart, William/Hughes, Lotte: Environment and Empire. New York 2007. Buell, Lawrence: The Environmental Imagination. Cambridge/MA, London 1995. Buell, Lawrence: Writing for an Endangered World. Literature, Culture, and Environment in the U.S. and Beyond. Cambridge/MA 2001. Buell, Lawrence: The Future of Environmental Criticism. Malden, MA 2005. Bullard, Robert D: Dumping in Dixie. Race, Class, and Environmental Quality. Boulder, CO 1990. Chrisman, Laura/Williams, Patrick (Hg.): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. A Reader. New York 1994. Cronon, William: Changes in the Land. Indians, Colonists, and the Ecology of New England. New York 1983. Crosby, Alfred W: Ecological Imperialism. The Biological Expansion of Europe, 900– 1900. Cambridge 2004. DeLoughrey, Elizabeth: Heliotropes. Solar Ecologies and Pacific Radiations. In: DeLoughrey, Elizabeth/Handley, George B. (Hg.): Postcolonial Ecologies. Literatures of the Environment. New York 2011, S. 235–253. DeLoughrey, Elizabeth/Handley, George B. (Hg.): Postcolonial Ecologies. Literatures of the Environment. New York 2011. Di Chiro, Giovanna: Nature as Community. The Convergence of Environment and Social Justice. In: Cronon, William (Hg.): Uncommon Ground. Rethinking the Human Place in Nature. New York 1996, S. 298–320. Döring, Tobias: Postcolonial Literatures in English. Stuttgart 2008. Drayton, Richard: Nature’s Government. Science, Imperial Britain, and the ‘Improvement’ of the World. New Delhi 2000. Feit, Harvey: Myths of the Ecological Whitemen. Histories, Science, and Rights in North American – Native American Relations. In: Harkin, Michael E./Lewis, David Rich (Hg.): Native Americans and the Environment. Lincoln 2007, S. 52–92. Harvey, David: The Condition of Postmodernity. Cambridge 1990. Huggan, Graham, and Helen Tiffin: Postcolonial Ecocriticism. Literature, Animals, Environment. London, New York 2010. Hunt, Lynn: Measuring Time, Making History. Budapest, New York 2008.

7.4 Literaturverzeichnis

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8 Environmental Humanities Sabine Wilke 8.1 Anfänge und Institutionalisierung der Environmental Humanities

Der Begriff der Environmental Humanities hat sich in der englischsprachigen Forschung seit einigen Jahren als Dachbegriff für eine transdisziplinäre, den geisteswissenschaftlichen Interpretationsmethoden verpflichtete Herangehensweise an die Diskussion von Umweltfragen durchgesetzt mit dem Ziel, Brücken zu den umweltbezogenen Sozial- und Naturwissenschaften zu schlagen. Dieser Beitrag beschreibt die Situation aus einer Perspektive, die der Herkunft der Environmental Humanities aus der anglophonen Forschung Rechnung trägt, aber auch die Beiträge deutschsprachiger Wissenschaftler in diesem Kontext verortet. Die Environmental Humanities sind entstanden als Pendant zu den Environmental Sciences, die seit Jahren an vielen europäischen und anglo-amerikanischen Universitäten als integrierter Studiengang etabliert sind. Der Begriff der Environmental Humanities bezeichnet eine Reihe von geisteswissenschaftlichen Fächern (u.a. Geschichte, Philosophie, Theologie, Literaturwissenschaft, Medien­ wissenschaft, Kunstgeschichte, Religionswissenschaft, Kulturwissenschaft), die gemeinsam über ihre Fächergrenzen hinaus an der Lösung von Umweltproblemen arbeiten wollen – ein hochgestecktes Ziel mit vielen offenen Fragen. In der Geschichte und in der Philosophie sind Umweltfragen bereits seit einigen Jahrzehnten Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen (vgl. Birnbacher 2006; Brüggemeier 2014; Cronon 1996; Radkau 2000). Das schlägt sich in der zunehmenden Institutionalisierung der Umweltgeschichte und Umwelt­ ethik in Form von Lehrstühlen, Forschergruppen, Forschungszentren und Publikationsorganen nieder. Demgegenüber ist die Perspektive der Environmental Humanities und damit der Anspruch von transdisziplinärer Zusammenarbeit und Problemorientierung in den Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften ein relativ neues Phänomen (vgl. Emmet/Zelko 2014). Zudem bringen die Environmental Humanities eine ganz andere Form von Kritik und Selbstreflexion in die Diskussion von Umweltphänomenen ein. Geisteswissenschaftler arbeiten vorwiegend hermeneutisch und in der Regel als EinzelforscherInnen; sie verstehen sich von daher nicht als Teil von Problemlösungsteams. Diese unterschied-

8.1 Anfänge und Institutionalisierung der Environmental Humanities

lichen Fächerkulturen sollen in den Environmental Humanities zusammengeführt werden und zu einer produktiven Auseinandersetzung mit angrenzenden Fächern wie z.B. der Geographie oder der Ethnologie führen. Die Environmental Humanities entstehen von daher typischerweise in Form von pragmatischen Zusammenschlüssen, v.a. in Form von Forschernetzwerken, Forschungszentren, integrierten Studienprogrammen und Nachwuchsprogrammen. Seit 2012 gibt es eine in Australien beheimatete und aus der EcologicalHumanities-Sektion der Zeitschrift Australian Humanities Review hervorgegangene Zeitschrift, die dem Open-Access-Konzept verpflichtet ist und die sich Environmental Humanities nennt. Sie versteht sich als Forum interdisziplinärer Forschung, die geisteswissenschaftliche Fächer miteinander ins Gespräch bringt und sich mit den Sozial- und Naturwissenschaften vernetzt, um gemeinsam wichtige Umweltprobleme zu diskutieren (vgl. Robin 2013, Rose u.a. 2012). Andere wissenschaftliche Zeitschriften aus dem Gebiet der Environmental Humanities sind – und hier kann nur eine unvollständige und vorläufige Liste erstellt werden – Ecozon@, Environmental Communication, Environmental Ethics, Environmental History, Environment and History, Environmental Values, The Goose, Humanimalia, Interdisciplinary Studies in Literature and the Environment, Journal for Critical Animal Studies und The Trumpeter. An der US-amerikanischen Stanford University hat sich das Environmental Humanities Project als institutionsinternes Diskussionsforum für interdisziplinäre geisteswissenschaftliche Umweltforschung gebildet, das sich an der öffentlichen Debatte um ökologische Krisen beteiligt. 2013 zum ersten Mal in Erscheinung getreten ist Environmental Humanities Now, eine Allianz, die sich als Experiment öffentlicher Forschung (Public Scholarship) versteht: Durch digitale Netzwerke sollen nicht nur Wissenschaftler, sondern auch die breite Öffentlichkeit in die Erforschung von Umweltproblemen eingebunden und weltweit eine Gruppe von interessierten Mitstreitern geschaffen werden. Das Princeton Environmental Institute lädt seit 2003 jährlich Geisteswissenschaftler ein, die in einer Reihe von Vorträgen und Seminaren Studierenden die zentrale Rolle der Geistes- und Kultur­ wissenschaften bei der Lösung von Umweltproblemen nahebringen sollen. An der University of California, Davis, hat sich 2008 ein sog. Supercluster Environmental Humanities gebildet, das nicht nur Forschung und Lehre koordiniert, sondern auch als Forum für den Austausch mit der Öffentlichkeit fungiert. An der Oregon State University gibt es seit ein paar Jahren eine Environmental Arts

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and Humanities Initiative, die Wissenschaftler aus den Environmental Sciences und den Environmental Humanities zusammenbringt. Sie versteht sich als Allianz zur Entwicklung neuer Formen der intellektuellen Auseinandersetzung mit ökologischen Systemen und Umweltproblemen. An einigen Instituten in Nordamerika kann man mittlerweile ein Diplom in den Environmental Humanities erlangen (z.B. an der Arizona State University) oder ein entsprechendes Magisterstudium wählen (z.B. an der University of Utah). In der Bundesrepublik gibt es ein Nachwuchsforschernetzwerk Literary and Cultural Animal Studies (CLAS) an der Universität Würzburg, das für drei Jahre (2012–2014) eine Summer School zum Themengebiet angeboten hat. Weiterhin ist eine Forschungsstelle für Nachhaltige Umweltentwicklung an der Universität Hamburg eingerichtet und ein Nachhaltigkeitsschwerpunkt innerhalb des deutsch-französischen Verbundprojekts Saisir L’Europe/Europa als Herausforderung an der Goethe-Universität Frankfurt gegründet worden. Eine entscheidende Rolle bei der Institutionalisierung von Forschung in den Environmental Humanities geht derzeit vom Rachel Carson Center for Environment and Society an der LMU München aus, das durch seine verschiedenen Programme Forscher vernetzt, in die Öffentlichkeit wirkt und in seinen Publika­ tionsorganen die Ergebnisse geisteswissenschaftlicher Umweltstudien verbreitet. Andere Zentren und Netzwerke mit weltweitem Einfluss sind gegenwärtig das Nordic Network for Interdisciplinary Environmental Studies und das KTH Environmental Humanities Laboratory in Stockholm. Weitere Zentren sind im Aufbau begriffen. Allen diesen Initiativen gemeinsam ist der Wille, eine Fürsprecherrolle für Natur und Umwelt einzunehmen und durch Forschung wissenschaftlich zu begründen (vgl. Plumwood 2009, 113–115). 8.2 Forschungsüberblick

Die Grundlagen für die Forschung in den Environmental Humanities sind bereits in den 1990er-Jahren gelegt worden, und zwar für die Literaturwissenschaft von dem Amerikanisten Lawrence Buell, für die Umweltgeschichte von den Historikern David Blackbourne, Marc Cioc, William Cronon, Richard White und Donald Worster in der angloamerikanischen Forschung sowie in Deutschland von Franz-Josef Brüggemeier und Joachim Radkau, des Weiteren für die Umweltethik von Dieter Birnbacher, Gernot Böhme und Ludger Honnefelder

8.2 Forschungsüberblick

im deutschsprachigen Kontext und Stephen Gardiner in der angelsächsischen Debatte. Buell ging es um den Begriff der umweltbezogenen Imagination in einem fachlichen Kontext, der von der Postmoderne, dem Poststrukturalismus und einer dekonstruktiv angelegten Lektüre literarischer Texte geprägt war. Statt einer theoretisch fundierten rhetorischen Analyse von literarischen Texten hat Buell darauf bestanden, dass unhinterfragte Annahmen über die Funktionsweise von Texten und deren referenziellen Rahmen überprüft werden müssen. Am Beispiel der amerikanischen Literaturgeschichte zeigt Buell, wie sehr die nicht-menschliche Umwelt den literarischen Text beeinflusst, und beanstandet, dass die damals geltenden literaturtheoretischen Standards diese Perspektive verdecken (vgl. Buell 1995, 25 f.). Die amerikanische Literaturgeschichte ist für Buell kein Spiegel der europäischen Entwicklung, sondern er versteht sie als genuine Auseinandersetzung mit einer ganz anderen Natur, in der die Umwelt eine aktiv formende Rolle spielt. In seinen späteren Forschungen hat sich ­Buell (2003) dann verstärkt mit globalen Themen und anderen Arten von Umwelt – Städten, verschmutzten Gebieten u.a. – auseinandergesetzt und damit den Environmental Humanities entscheidende Impulse für eine Öffnung der Fragestellung einer umweltbezogenen Literaturwissenschaft auf übergreifende Kontexte gegeben, die über das Fach Amerikanistik hinausweisen und mittlerweile von anderen Literaturwissenschaftlern weiterentwickelt worden sind (vgl. Heise 2008; Nixon 2011). Donald Worster ist ein Pionier in der Umweltgeschichte, dessen Forschungen den Gedanken der globalen und radikalen Vernetzung in die Betrachtung der Menschheitsgeschichte eingeführt haben. Worster hat aufgezeigt, wie Linnés Systema Naturae sich als Paradigma der menschlichen Dominanz über die Natur und damit über die Auffassung vom Menschen als der Kraft, die der Natur eine rationale Ordnung verleiht, durchgesetzt hat (vgl. Worster 1977, 17 f.). Eine solch rationale Vorstellung von Natur wurde erst mit romantischen Vorstellungen von Natur als einem relationalen, interdependenten, holistischen System abgelöst. Worster hat zudem zeigen können, wie die Forschungen von Alexander von Humboldt, besonders die Ergebnisse der vergleichenden Klimaforschung, in diesem Umdenkungsprozess ganz zentral gewirkt haben. Als zweiter Impulsgeber ist William Cronon zu nennen, der 1994 eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe zum Thema „Reinventing Nature“ an dem Humanities Research Institute der University of California, Irvine, versammelt und deren Arbeits-

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ergebnisse in dem Sammelband Uncommon Ground (1996) veröffentlicht hat. Schon zuvor ging es ihm um eine Neukonzeption des Begriffs ‚Wildnis‘ und eine kritische Reflexion der Rolle von Narrativen in der Umweltgeschichte (vgl. Cronon 1992). Diese transdisziplinäre Fragestellung, die das Fach Geschichte an die Textphilologien und deren Themen anbindet, untersucht die Schnittstelle von Natur, Umwelt und Rhetorik multiperspektivisch, indem auch Fragen von sozialer Gerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit aufgenommen werden. Die Debatte um das ‚Problem mit der Wildnis‘, die Uncommon Ground angestoßen hat, schließt daher an die Ansätze aus den Subaltern Studies an, die dem Projekt der Expansion Europas kritisch gegenüberstehen und den Prozess der Dekolonisierung von Umweltwissen (Environmental Knowledge) eingeleitet haben (vgl. Crosby 1986; Grove 1995). Im Gegensatz zum Poststrukturalismus, mit dem Buell gearbeitet hat, hat die Umweltgeschichte auch in den 1990er-Jahren die Empirie nicht vollkommen aus den Augen verloren. An den neuesten Tagungsprogrammen der einschlägigen wissenschaftlichen Verbände lässt sich der Trend ablesen, Umweltgeschichte eher an empirische Fächer wie Geographie und Ethnologie anzubinden als an die geisteswissenschaftlich orientierten Textund Medienwissenschaften. Im deutschsprachigen Kontext haben die Forschungen von Franz-Josef Brüggemeier zur Umwelt im Ruhrgebiet wesentlich zu einer Sensibilisierung des Faches Geschichte gegenüber Umweltthemen beigetragen. In seiner 2014 erschienenen Monographie Schranken der Natur diskutiert Brüggemeier das Thema von Verschmutzung und die Rolle von technologischen Experimenten auf globalisierter Ebene und geht damit über lokale Fallstudien hinaus. Joachim Radkaus Studien zu Verschmutzung und Technikgeschichte haben die Grundlagen für die Entwicklung der Diskussion von Umweltthemen in urbanen Gebieten in Deutschland wie auch aus globaler Perspektive gelegt (vgl. Radkau 1989, 2000, 2011). Ein charakteristisches Merkmal der Umweltgeschichte in Deutschland ist ein Fokus auf die Themen von Landschaft und Heimat (vgl. Cioc 2002; Blackbourne 2006). Der Philosoph Dieter Birnbacher hat sich seit den späten 1990er-Jahren mit Naturethik auseinandergesetzt und Themen wie die menschliche Verantwortung für Natur und Landschaft, ökologische Ethik, Rechte von Natur, Artenschutz, Tierversuche, Natürlichkeit, Nachhaltigkeit und Klimaverantwortung aus philosophisch-ethischer Perspektive behandelt. Dabei geht es in erster Li-

8.2 Forschungsüberblick

nie um die Kritik an der angeblichen Sonderstellung des Menschen auf der Erde, eine Auffassung, welche der Tradition des westlichen Abendlandes zugrunde liegt und systematisch zur Zerstörung von Natur und Umwelt geführt hat. Birnbacher (2006) hinterfragt, ob es überhaupt überzeugende Gründe gebe, eine solche menschliche Vorrangstellung zu behaupten, ob medizinische Tierversuche gerechtfertigt seien und inwiefern utilitaristische Begründungen von Landschaftszerstörung greifen. Ludger Honnefelder (1993) hat bereits in den frühen 1990er-Jahren die Frage aufgeworfen, welche Natur wir denn schützen sollen. Gernot Böhme hat in seinen Beiträgen zur Phänomenologie der Natur und der Wahrnehmung der Natur das Thema aus ethischen und ästhetischen Perspektiven in der Nachfolge der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule diskutiert (vgl. exemplarisch G. Böhme 1992). In der neuesten englischsprachigen Forschung zur Umweltethik ist besonders der Klimawandel in den Blick gerückt (vgl. Gardiner 2011). Die Environmental Humanities bauen auf diesen Grundlagen auf und setzen neue Akzente in einer Zeit, in der der Klimawandel, das Artensterben und das Konzept des Anthropozäns zu einem radikalen Umdenken über das Verhältnis von Mensch und Natur herausfordern. Der Historiker Dipesh Chakrabarty, der mit seinen postkolonialen Forschungen bekannt wurde, hat zu einer Öffnung der Geschichte für die globale Dimension von Natur- und Erdgeschichte aufgerufen, indem er die Skala des Horizonts von historischer Forschung radikal erweitert und den Menschen als Handlungsträger von geologischen Veränderungen ins Licht rückt. Jenseits von Aufklärung und Moderne fasst Chakrabarty (2009) den Menschen als Gattung, deren Handlungen neue Narrative benötigen, wobei er dafür plädiert, weiterhin an der Kritik am abendländischen Imperialismus festzuhalten und die aufklärerische Tradition mit dem Gedanken von Freiheit und Gerechtigkeit weiterzuführen. An dieser Schnittstelle zu einer neuen Sichtweise von Geschichte, die zwischen Gattungsgeschichte und modernen Vorstellungen von Emanzipation und Freiheit vermittelt, befindet sich eine der zentralen Aufgaben der Environmental Humanities. Welche Aspekte des traditionellen Narrativs von Menschheitsgeschichte, das die Kritik am Imperialismus mit dem Gedanken der Aufklärung verbindet, können in einer geologisch-historischen Perspektive jenseits von Moderne überhaupt noch geltend gemacht werden? Was wären die zentralen Fragen einer speziell postkolonialen Ausrichtung der Environmental Humanities? Und welche Rolle spielen dabei

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literarische Texte, künstlerische und kulturelle Dokumente, Visualisierungen und deren Analyse und Interpretation (vgl. Miles 2010, 119 f.)? An diese Fragen schließt sich der Komplex eines neuen Nachdenkens über die Kategorie des Humanen an, das dem Gebiet der Critical Animal Studies (vgl. Kap. 6.1) entstammt und radikalen Überlegungen zu einem New Materialism (vgl. Kap. 5) anhaftet. Dieser Impuls ist von den Kulturwissenschaften ausgegangen, hat in der Philosophie Fuß gefasst, stößt aber in der Umweltgeschichte noch auf Skepsis. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Cary Wolfe spricht, an den späten Derrida und dessen Begriff vom Animot erinnernd, vom Posthumanismus (vgl. Wolfe 2013, 565; Wheeler/Williams 2013, 5–7). In Nach der Natur weist Ursula Heise auf einen Zustand hin, der an Kants Kosmopolitismus anknüpft, sich aber von der Krisenrhetorik der modernen Kultur verabschiedet und nach Bill McKibbens viel diskutierter Studie The End of Nature (1990) auf kreative Umgangsweisen mit dem Ende der Natur hinweist (vgl. Heise 2010, 17 ff.). Die Vorstellung vom ‚posthumanen Menschentier‘ begreift den Menschen als Teil eines ökologischen Systems, indem die Sonderstellung des Menschen radikal hinterfragt wird und der Gedanke der Vernetzung aller Lebewesen und Lebensformen ins Zentrum rückt. Das ‚posthumane Menschentier‘ schließt damit an Donna Haraways Begriff vom ‚Cyborg‘ und Karen Barads Vorstellung vom agenziellen Realismus und der Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken an, wonach natürlichen Lebensformen eine dynamische Kraft zugewiesen wird (vgl. Haraway 2003; Barad 2012). In diesem Kontext entsteht eine posthumanistische Auffassung materieller Kräfte, die einzelne Phänomene als Produkte einer ontologischen Verschränkung interagierender Handlungsträger konzipiert. Timothy Mortons ‚Hyperobjekte‘ sind ebenfalls jenseits einer Grenze zwischen einzelnen Subjekten und Objekten angesiedelt, wonach auch Objekten Intentionen und eine handelnde Kraft zugesprochen wird (vgl. Morton 2007, 195 ff.). Morton bündelt den Gedanken der Durchlässigkeit von Grenzen zwischen einzelnen Lebensformen in dem Begriff ‚Mesh‘, der eine vielschichtige Vernetzung verschiedener Lebensformen bezeichnet. Auch für Historiker sind solche Themen nicht neu, nur ihre abstrakt-theoretische Konzeption stößt nicht immer auf Akzeptanz, sodass sich auch innerhalb der Environmental Humanities manchmal Gräben auftun, die schwer zu überspringen sind und tiefe epistemologische Differenzen andeuten.

8.3 Zentrale Fragestellungen der Environmental Humanities

Mortons Vorstellung von Ökologie ohne Natur ist jenseits von Kapitalismus angesiedelt und widerspricht damit einer ‚Fetischisierung des Selbstinteresses‘. Sein Konzept verabschiedet unser traditionelles Verständnis von Natur als trans­zendental. Aber nicht alle Forscher in den Environmental Humanities üben eine solch radikale Kapitalismus- und Imperialismuskritik. Der schwedische Kulturanthropologe Alf Hornborg (2015) etwa zeigt, wie der Kapitalismus als Kultur von Austauschbeziehungen im Anthropozän weiter besteht. Auch der australische Kulturwissenschaftler Ben Dibley entwickelt in seinen Thesen zum Anthropozän eine ökonomische Perspektive, die Mortons impliziten Gedanken eines ‚grünen‘ Kapitalismus entgegenhält, dass die tatsächliche Überschneidung von Ökologie und Ökonomie zu einer Ausweitung der Schere zwischen Reich und Arm führen kann und daher gerade der Aspekt der Imperialismuskritik sowie die Perspektive von Freiheit und Gerechtigkeit wieder in die Diskussion eingeführt werden müssen (vgl. Dibley 2012, 12). Diese grundlegenden Diskussionen finden Eingang in dem ganz neuen Feld der Anthropozänforschung (vgl. Kap. 9), die diese Impulse und Gedankenstränge vereint.

8.3 Zentrale Fragestellungen der Environmental Humanities

Die gemeinsame Frage, die alle Überlegungen zu den Environmental Humanities verknüpft, ist die kulturelle Dimension von Umweltproblemen. Die Enviromental Humanities interpretieren kulturelle Dokumente als bedeutungstragende Artefakte, wobei sie bei der Frage des Lebens in der Natur von einer radikalen Verschränkung von Natur und Kultur ausgehen. Weiterhin untersuchen die Environmental Humanities unsere Annahmen über Umweltverhältnisse und ergänzen damit die Fragestellungen der traditionellen Geisteswissenschaften um eine Dimension, die dieser radikalen Verschränkung gerecht werden will. Wie können wir breiter und tiefer über die Rolle von Natur und Umwelt in der Interpretation von Texten nachdenken, wobei die Spannbreite von Textsorten und ihren Kontexten nicht auf fiktionale Texte eingegrenzt ist? Neben der radikalen Verschränkung von Natur und Kultur, die den Ideen des Anthropozäns und dem New Materialism zugrunde liegt, betreffen weitere zentrale Fragestellungen die künstlerische, historische und philosophische Reflexion über die Ethik und Semiotik von Natur und Umwelt, dann die Verhandlung

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von regionalen und globalen Perspektiven, weiterhin das Denken in anderen Zeitdimensionen und nicht zuletzt die Reflexion der Rolle der Geologie im Zusammenhang mit Geschichte und Kultur. Die Environmental Humanities verleihen der Diskussion um diese Fragen konzeptuelle Schärfe, moralisches Gewicht und eine historische Tiefendimension. Darüber hinaus vermitteln sie ein Verständnis von ästhetischen Mustern und rhetorischen Strategien und deren Funktionsweise. Damit gehen die Environmental Humanities über die traditionellen geisteswissenschaftlichen Fächer, die selten naturwissenschaftliche Forschung und Technik im Blickwinkel haben, hinaus und weisen auf Forschungslücken in der Reflexion auf epistemologische Probleme in den Environmental Sciences hin. Sie suchen zudem das Gespräch mit der breiten Öffentlichkeit. Nur eine transdisziplinäre Allianz von unterschiedlichen Forschungsagenden, die die Ergebnisse der Geisteswissenschaften miteinbezieht, wird in der Lage sein, eine breite Öffentlichkeit für Umweltprobleme zu sensibilisieren und zu mobilisieren. Ob diese Allianz gelingt, hängt davon ab, wie der tiefgehende und unhinterfragte Glaube an bestimmte anthropologische und (geo)biologische Konstanten in den Environmental Sciences mit der radikalen Infragestellung solcher Annahmen in den Environmental Humanities diskutiert wird. 8.4 Anknüpfungspunkte und künftige Entwicklungen

Die Environmental Humanities sind der ideale Ort für eine Öffnung der Geisteswissenschaften für gesellschaftlich relevante Fragen, wenn es gelingt, die Brücke zu den neuesten Entwicklungen in den Geisteswissenschaften selbst und zu den Sozial- und Naturwissenschaften zu schlagen. Einige solcher neueren und neuesten Entwicklungen sind u.a. der Spatial Turn in den Kulturwissenschaften, die Gender Studies, die Auseinandersetzung mit den Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie das Aufkommen der Digital Humanities. Ein zentraler Anknüpfungspunkt für zukünftige Entwicklungen ist dabei die Analyse der Visualisierung von Daten, die in den Sozial- und Naturwissenschaften oft unhinterfragt als Werkzeug der Beweisführung eingesetzt werden, so als wäre das Zusammenfügen von Forschungsergebnissen in einer wissenschaftlichen Graphik wertfrei und nicht einer ganz bestimmten Auffassung oder gar Ideologie desjenigen, was Welt konstituiert, verpflichtet (vgl. Schneider/Nocke 2014).

8.4 Anknüpfungspunkte und künftige Entwicklungen

Hierbei können Kunstgeschichte und eine kulturwissenschaftliche Analyse von Bilddokumenten zentrale Beiträge leisten. Die Environmental Humanities sind andererseits nicht in erster Linie dazu da, den Naturwissenschaften oder der Technik ein besseres Verständnis für den geisteswissenschaftlichen Kontext bestimmter Probleme zu geben, sondern sie analysieren die kulturellen Beweggründe für ganz bestimmte Einstellungen und Verhaltensweisen von Menschen gegenüber Natur und Umwelt. Wenn es darum gehen soll, diese zu verändern, müssen die Environmental Humanities eine Führungsrolle in der Diskussion von Umweltproblemen übernehmen. Weiterhin können die Environmental Humanities grundlegende Fragen aufwerfen in der Diskussion über die Notwendigkeit von neuen Narrativen über das Verhältnis von Mensch und Natur jenseits der abendländischen Tradition und der dort verankerten Trennung von Natur und Kultur. Durch eine zentralere Profilierung gerade auch der Fremdsprachenphilologien innerhalb der Environmental Humanities eröffnet sich die Möglichkeit, die Diskussion von Umweltproblemen international – und das heißt v.a. auch mehrsprachig, multikulturell und vielschichtig – zu gestalten und damit inklusiv zu bleiben. Eine grundsätzliche Frage, die in der Zukunft gestellt werden muss, ist die pragmatische Problemorientierung der Environmental Humanities und mit welchen Interpretationsmethoden eine solche anwendungsorientierte Geisteswissenschaft arbeitet. Durch die Transdisziplinarität des Ansatzes der Environmental Humanities müssen zentrale Überzeugungen, die den geisteswissenschaftlichen Einzelfächern zugrunde liegen, überprüft und gegebenenfalls neu überdacht werden. Z.B. muss eine offene Debatte geführt werden über die Frage, was überhaupt ein ‚Fakt‘ (von Natur und Umwelt) ist und was darüber hinaus eine adäquate Beweisführung über diesen ‚Fakt‘ konstituiert, die nicht die geistesund kulturwissenschaftlichen Fächer marginalisiert dadurch, dass sog. quantitative Daten und deren Analyse als unproblematisch eingeschätzt werden. Die Zukunft der Environmental Humanities wird geprägt von der Frage, wie sich die Geisteswissenschaften in einer Forschungslandschaft situieren können, die immer mehr von Empirie und fächerübergreifender Zusammenarbeit in Netzwerken geprägt ist, ohne dass ihr originärer Beitrag der kritischen Interpretation kultureller Artefakte an den Rand gedrängt wird. Der Trend geht in Richtung einer Parallelentwicklung von einer Allianz der kritischen, oft hermeneutisch arbeitenden Wissenschaften einerseits – möglicherweise die zukünftige Konfi-

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8 Environmental Humanities

guration der Environmental Humanities – und einer stärkeren Orientierung der Umweltgeschichte an die empirischen Sozial- und Naturwissenschaften andererseits. Auf jeden Fall kann geisteswissenschaftliche Forschung innerhalb einer solchen Allianz von Environmental Humanities nur gewinnen und zu einem zentralen Mitspieler einer transdisziplinär zu verankernden umfassenden Umweltforschung werden. 8.5 Literaturverzeichnis

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8 Environmental Humanities

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9 Das Anthropozän in geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive Gabriele Dürbeck 9.1 Das Anthropozän als inter- und transdisziplinäres Konzept

Der Atmosphärenchemiker Paul Crutzen und der Biologe Eugene Stoermer haben im Jahr 2000 den Begriff ‚Anthropozän‘ in die geologische und umweltwissenschaftliche Forschung eingeführt. Das Anthropozän bezeichnet den dominanten Einfluss des Menschen auf die geologischen und physikalischen Systeme im planetaren Maßstab und soll das Holozän, die Bezeichnung für die seit ca. 11.700 Jahren andauernde Warmzeit, ablösen. In der letzten Dekade hat das Anthropozän als interdisziplinärer Forschungsgegenstand eine Karriere in verschiedenen Wissenschaftsbereichen von der Geographie und Stratigraphie über die Sozialökonomie bis zur Umweltpolitik angetreten. Auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften wird das Anthropozän vermehrt diskutiert, indem sie es zum einen als Brückenkonzept und Querschnittsaufgabe behandeln, das eine Kooperation verschiedener Wissenschaften verlangt; zum anderen nutzen sie es als Reflexionsbegriff, um die durch die neue geowissenschaftliche Perspektive aufgeworfenen komplexen ethischen, sozialen und kulturellen Fragen anzugehen, nach einer posthumanen Selbstbestimmung des Menschen zu suchen und die ästhetischen und kreativen Möglichkeiten im Umgang mit dem Anthropozän auszuloten. Die wenig greifbare Idee eines neuen Erdzeitalters, die auf theoretischen Modellierungen beruht, wird durch die Medien und popularisierende Wissenschaftskommunikation (Leinfelder 2015) an eine breitere Öffentlichkeit vermittelt. So fand etwa 2013–14 im Haus der Kulturen der Welt in Berlin unter der Schirmherrschaft Paul Crutzens ein groß angelegtes internationales und transdisziplinäres „Anthropozän-Projekt“ mit Vorlesungsreihen, Konferenzen, Kunstausstellungen und Videoinstallationen statt. Am 26.05.2011 titelte die britische Wochenzeitschrift The Economist „Welcome to the Anthropocene“ und betont, dass „die Menschen den Planeten verändert haben und von nun an ihre Form, über ihn zu denken, ändern müssen“ (http://www.economist.com/node/18744401, zuletzt 18.05.15). Mit demselben Titel wirbt die im Oktober 2014

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9 Das Anthropozän in geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive

eröffnete Sonderausstellung „Willkommen im Anthropozän“ im Deutschen Museum München (bis 2016) und stellt mit dem programmatischen Untertitel „Unsere Verantwortung für die Zukunft der Erde“ in fast optimistischer Weise das Handeln eines globalen Kollektivsubjekts in den Mittelpunkt. 9.2 Anthropozänbegriff, Datierung und Problemlösungsansätze

Der von Crutzen und Stoermer (2000) eingeführte Neologismus ‚Anthropozän‘ bündelt tiefgreifende anthropogene Veränderungen des Planeten wie die Zunahme von CO2-Gasen und die Klimakrise, chemische Verschmutzung und Plastikmüllteppiche in den Weltmeeren, den Verlust an Biodiversität oder die globale Ausbreitung von Pflanzen und Tieren. 2008 wurde von der Stratigraphischen Kommission der Geologischen Gesellschaft London der Nutzen des Begriffs für die Bezeichnung einer neuen geologischen Zeitskala herausgestellt (Zalasiewicz u.a. 2010). Gemäß dem Umweltgeographen Erle Ellis sind mindestens 75 % der eisfreien Landoberfläche bereits durch den Eingriff des Menschen in Kulturlandschaften transformiert, wofür er den Begriff der „anthropogenen Biome“ bzw. „Anthrome“ eingeführt hat (Ellis/Ramankutty 2008, 439). Ob sich der Begriff des Anthropozäns tatsächlich langfristig als deskriptive Bezeichnung für eine neue erdgeschichtliche Epoche halten lässt, wird von der International Commission on Stratigraphy (ICS) erforscht. Es bedarf, so der Paläobiologie Jan Zalasiewicz (2011), noch weiterer Forschungen, um die gegenwärtigen geophysikalischen Änderungen auch in Sedimentationsschichten nachweisen zu können. Der Anthropozändiskurs ist durch v.a. drei Merkmale gekennzeichnet: (a) eine planetarische Perspektive auf die globale Umweltkrise, (b) eine großskalige Zeitdimension und (c) den Fokus auf eine enge Wechselbeziehung zwischen Natur und Kultur. Ein wichtiger Diskussionspunkt ist die zeitliche Bestimmung und Periodisierung des Anthropozäns. Während einzelne Geowissenschaftler das neue Erdzeitalter bereits im Neolithikum beginnen lassen, da schon in dieser Zeit anthropogene Eingriffe in die geologische Substanz der Erde nachweisbar sind, bestimmt Crutzen (2002) den Beginn und die erste Phase mit der Erfindung der Dampfmaschine 1784 und der dadurch ausgelösten industriellen Revolution und großen Transformation. Die zweite Phase des Anthropozäns wird auf die Zeit seit den 1940er-Jahren datiert, als die ersten Atombombentests

9.2 Anthropozänbegriff, Datierung und Problemlösungsansätze

radioaktive Isotope auf der Erde hinterließen und durch die technologische Hochindustralisierung (‚Great Acceleration‘) anthropogene Prozesse auf intensive Weise global wirksam wurden (Steffen u.a. 2011, 614–617). Im Anthropozändiskurs lassen sich grundlegend eine pessimistische und eine optimistische Perspektive auf die Zukunft unterscheiden. Gemäß der ersten steht das Anthropozän für die „Summe der ökologischen Frevel“ (vgl. Leinfelder u.a. 2012, 15), der Mensch gilt als Zerstörer, als ‚Parasit‘ unseres Planeten, der sich in Zukunft beschränken müsse, um die Gattung zu erhalten. Gemäß der optimistischen Perspektive betont das Anthropozän die technisch-inventive und gestaltende Kraft des Menschen (Schwägerl 2010), die in den letzten 250 Jahren die Erde transformiert und verbessert hat und wonach die Menschheit ihr Schicksal nun selbst in der Hand hat. Gleichwohl gibt es bei der Betonung der Gestaltungskraft des Menschen divergierende Auffassungen über die Eindämmung bereits eingetretener Umweltschäden und die Verhinderung weiterer Zerstörung des so verwundbaren blauen Planeten. Drei Positionen lassen sich voneinander abheben: (1) ein Business-as-usual-­ Ansatz, der u.a. das vorhergesagte Ausmaß des Klimawandels für nicht er­wiesen erklärt und technologische Anpassungen an veränderte Bedingungen bei fortgesetzter Wachstumsideologie für ausreichend hält (Steffen u.a. 2011, 862). ­Allerdings sagen Kritiker, dass die zugrunde gelegten Berechnungen der Erderwärmung durch den fünften Bericht des Intergovernmental Panel on ­Climate Change (IPCC) bereits mehrfach rapide nach oben korrigiert werden mussten­ und dieser Ansatz deshalb nicht zukunftsfähig ist. (2) Nach dem zweiten und am stärksten verbreiteten Ansatz gelten die anthropogenen Ver­änderungen des Erdsystems als so schwerwiegend, dass sogar die Überlebensfähigkeit der heutigen Zivilgesellschaften infrage gestellt ist (862). Daher sei ein Mix aus der „Ver­minderung“ der Ursachen der Umweltzerstörung (Mitigation) und „Maß­­ nahmen der vernünftigen Anpassung an die unvermeidlichen Verändungen“ durch bessere Technologien und höhere Umwelteffizienz notwendig (Mastrandrea/Schneider 2011, 17 f., 46; Steffen u.a. 2007, 619). Das heißt, gemäß dem Vorsorgeprinzip soll mit möglichst effizienten und weitsichtigen Strategien die Schadensanfälligkeit und Verletzbarkeit einer sich rapide verändernden Umwelt minimiert und zugleich die Funktionsfähigkeit der sozialökologischen Systeme stabilisiert werden. Ziel ist „a responsible stewardship of the Earth System“ (Crutzen/Steffen 2003, 256), was den sorgsamen Umgang mit

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9 Das Anthropozän in geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive

den Ressourcen, nachhaltige Bewirtschaftung und Naturschutz einschließt. Crutzen und Schwägerl (2011) ermutigen mit dem Slogan: „[T]he Earth provides enough to satisfy every man’s needs, but not every man’s greed.“ Neben der Rede vom verantwortungsvollen Verwalter des Erdsystems ist auch das Bild des Gärtners (Marris 2011; Schwägerl 2012, 57) bzw. des „Weltgärtners“ in den Diskurs eingeführt worden, der die Umwelt in eine „Uns-Welt“ umwandle (Leinfelder 2013). (3) Eine mit stärkerer Eingriffsintensität verbundene Option schließlich besteht im Geo-Engineering, der großskaligen Manipulation der Atmosphäre und der Biosphäre, etwa die Stimulierung des Planktonwachstums durch Einbringen von Eisensulfat in die Ozeane oder die Verminderung des Erwärmungseffekts durch Emission von Schwefelsulfat in die Atmosphäre oder gar in die Stratosphäre. Wegen möglicher nicht-intendierter Nebenwirkungen ist das Geo-Engineering allerdings umstritten (Steffen u.a. 2007, 620). Allen drei Positionen ist eine auf Problemlösungen ausgerichtete Management­perspektive gemeinsam, auch wenn der Grad und die Art und Weise des menschlichen Eingriffs durchaus unterschiedlich ist. Das Anthropozänkonzept hat mittlerweile aus verschiedenen Richtungen Kritik erfahren. 9.3 Kritik des Anthropozändiskurses

Mit der Betonung der Managementperspektive und seinen optimistischen, meist technologisch ausgerichteten Problemlösungsstrategien der Menschheit als ‚Gestalter‘ wird das Anthropozän als Fortsetzung des bisherigen Anthropozentrismus kritisiert, lassen sich doch die jetzigen globalen Umweltschäden von der Klimakrise über die Vergiftung der Weltmeere bis zum Artensterben als ‚nicht-intendierte Nebenwirkungen‘ unseres wissenschaftlichen, technologischen und ökonomischen Handelns betrachten (Heise 2015, 40). Etliche sehen v.a. im Geo-Engineering einen neoprometheischen Umgang mit der Natur und die Gefahr einer fortgesetzten destruktiven Auswirkung auf die ökonomischen, sozialen und ökologischen Systeme (Rose u.a. 2012, 2–5). Wenn die ‚Anthropozäniker‘, wie sich einige Vertreter selbst bezeichnen, sich zur Aufgabe machen, auch solche nicht-intendierten Nebenwirkungen in den Griff zu bekommen, wäre zu fragen, ob es nicht zu einer grundsätzlich veränderten wissenschaftlichen Herangehensweise im Umgang mit der Umwelt auf Basis eines vernetzten, statt eines technologisch geprägten Naturbegriffs kommen müsste.

9.3 Kritik des Anthropozändiskurses

Der Philosoph Jürgen Manemann (2014) sieht in seiner z.T. polemisch vorgetragenen Kritik das Hauptproblem darin, dass die Anthropozäniker vorgeben zu verstehen, „nach welchen Gesetzmäßigkeiten [die Erde] überhaupt funktioniert“ (36), auf „forciertes (natur)wissenschaftliches Wissen“ (42) setzen und als fortschrittsoptimistische „Problemlöser“ auftreten, dabei aber einen „unterkomplexen Zusammenhang zwischen Handeln und Wissen“ unterstellen (43). Um ein individuelles und politisches Verantwortungsgefühl für die Umwelt zu entwickeln, müssten aber auch ‚unbewusstes Nicht-Wissen‘, nicht-kognitive Kriterien, Unkalkulierbares und die Einsicht in die unerwünschten Nebenfolgen konkurrierender Rationalitätsansprüche berücksichtigt werden (37–44), wie sie der Soziologe Ulrich Beck als Kennzeichen für die ‚reflexive Moderne‘ analysiert hat. Zudem weist Manemann auf die Gefahr hin, dass die Rede vom ‚Weltgärtner‘ eine künstlich geschaffene Ordnung favorisiert und das kreative Potenzial auch für eine transhumanistische, z.B. genmanipulative Erweiterung menschlicher Fähigkeiten oder die Entwicklung neuer Technologien zur Kontrolle des organischen Lebens eingesetzt werden soll. Auch kritisiert er den Kollektivsingular und meint, die Menschheit könne „kein handelnder Akteur“ sein (35). Alternativ zum Anthropozänbegriff plädiert er für eine ‚neue Humanökologie‘, die angesichts der bereits eingetretenen Umweltkatastrophe sowohl eine neue Resilienzfähigkeit (60 f.) als auch eine neue „Leidempfindlichkeit“ (127) des Menschen ausbildet. Auch der Philosoph Bernd M. Scherer (2015), der als Intendant des Hauses der Kulturen der Welt das eingangs erwähnte „Anthropozän-Projekt“ vorangetrieben hat, äußert nun seine Skepsis gegenüber der mit der Anthropozänthese verbundenen, aber „alles andere als beruhigend[en]“ Vorstellung vom Menschen als „Schöpfer einer neuen Erde“ und fragt sich, wie das „durchaus utopische Projekt […] derart entgleisen“ konnte (106). Nach seiner Analyse ist es ebenfalls die fehlende Einsicht in die nicht-intendierten Nebenfolgen unserer Handlungen, die dem aufklärerischen Wissenschafts- und Fortschrittsparadigma einer „Befreiung von den Zwängen der Natur“ (106) durch Technik entspringen und dem sie auch heute noch verpflichtet seien. Demgegenüber macht er darauf aufmerksam, dass der Mensch durch „Partikularität und Endlichkeit“ gekennzeichnet sei und deshalb an Natur- und Gesellschaftszusammenhänge gebunden bleibe, für die eine „neue Sensibilität“ entwickelt werden müsse (106 f.). Sein Vorschlag ist die Beschränkung auf „überschaubare Einhei-

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ten“, eine „Deskalierung“ auf menschliches Maß (107), ein Handeln in kleinen Gruppen statt auf der Ebene der Spezies. Aus politikwissenschaftlicher Richtung kommt eine anders ausgerichtete Kritik, die wiederum bei der problematischen These von der Menschheit als kollektivem Akteur ansetzt: Die Herausforderungen des Anthropozäns seien nicht universell, sondern entstünden aus unterschiedlichen soziokulturellen Bedingungen und verlangten daher auch unterschiedliche Antworten, um den vielfältigen, sich wandelnden Möglichkeiten unterschiedlicher Gesellschaften und Ökonomien gerecht zu werden (Lövbrand u.a. 2014, 7). Demnach würde das Anthropozänkonzept die soziokulturellen Konsequenzen übergeneralisieren, es sei rein wirtschaftlich-technologisch ausgerichtet, vereinige sich mit dem neoliberalen ökonomischen System und sei daher letztlich unpolitisch, da es zu wenig die Pluralität der konfligierenden Interessenlagen der ‚Great Acceleration‘ seit den 1950er-Jahren und die unterschiedlichen sozialpolitischen Dynamiken berücksichtige (7 u. 9). Auch der Kulturwissenschafter Ben Dibley (2010, Kap. IV) kritisiert, dass das Anthropozänkonzept den „technischökonomischen Apparat“ zur Verbesserung der globalen Infrastruktur bestärke. Um das kritische Potenzial des Anthropozäns auszuschöpfen, wird von Lövbrand u.a. (2014, 14) vorgeschlagen, das Konzept zu repolitisieren, also ‚den‘ Menschen wieder als soziales und politisches Subjekt in heterogenen Gruppen zu denken, von realen Menschen an realen Orten auszugehen und die sozialen Ungleichheiten, kulturellen Differenzen und Machtverhältnisse einzubeziehen. Grundlage dafür sei eine „kritisch-pluralistische Perspektive“ (15), die lokale und kontextgebundene Sinnproduktion und Offenheit für vielfältige Wissensformen und Seinsweisen in der Welt aufnehme. Diese Kritik ist nur teilweise berechtigt, da bei einer „Bottom-up-Einschätzung der Vulnerabilität“ (Mas­ trandrea/Schneider 2011, 52 f.) auch die jeweils lokal spezifischen Bedingungen einbezogen werden. Wenn aber trotzdem eine globale Agenda verfolgt wird, besteht das Problem, dass Nationen und Regionen weltweit für die nächsten 50 Jahre gemeinsam planen müssten, was jedoch die meisten Gesellschaften wegen ihrer kurzfristig ausgerichteten Politiken nicht imstande sind umzusetzen (vgl. Maslin 2004, 147). Hinzugefügt sei, dass der Anthropozändiskurs deutlicher in aktuelle Debatten um „planetary boundaries“ (Rockström 2009) einzubetten wäre, welche die Diskussion der durch den Club of Rome formulierten „limits of growth“ wei-

9.4 Das Anthropozän als geistes- und kulturwissenschaftlicher Reflexionsbegriff

tergeführt haben, sowie in die Debatten um die Forschung zur Nachhaltigkeit des Future Earth Transition Team (2013) und die für 2016 geplante Einrichtung weltweiter Nachhaltigkeitsziele der UN (Sustainable Development Goals). Über die politikwissenschaftliche Kritik hinaus ist auffallend, dass in der Anthropozändebatte im Vergleich zum Umweltdiskurs die Perspektive der Deep Ecology fehlt. Hier wäre zu fragen, ob eine solche durch die epistemologische Annahme eines globalen Akteurs nicht artikuliert werden kann. Insofern hat der Anthropozändiskurs auch eine exkludierende Funktion gegenüber in der Umwelt­ debatte erreichten Positionen. Bei der Frage, wie die Kluft zwischen der universellen Perspektive des Anthropozäns und nur lokal, ethnisch, gruppenbezogen und situationsbedingt differenziert zu denkenden verantwortlichen Handlungsweisen überwunden werden kann, spielen nicht nur epistemologische und sozialpolitisch-strukturelle Widersprüche eine wichtige Rolle, sondern auch normativ-ethologische, da in tradierten kulturellen, sozialen und religiösen Vorstellungen, Werten und Verhaltensmustern ökologisch relevantes Wissen noch kein fester Bestandteil ist (vgl. Sörlin 2012, 788). Deshalb sei die Auseinandersetzung mit dem Anthropozän auf eine Zusammenarbeit der Natur- mit den Sozial- sowie Geistes- und Kulturwissenschaften auszuweiten (Palsson 2013). 9.4 Das Anthropozän als geistes- und kulturwissenschaftlicher Reflexionsbegriff

Die planetarische Perspektive auf die globale Umweltkrise, die Annahme einer großskaligen Zeitdimension oder Tiefenzeit und der Fokus auf eine enge Wechselbeziehung zwischen Natur und Kultur stellen auch die Geistes- und Kulturwissenschaften vor neue Herausforderungen. Sie sehen das Anthropozänkonzept als Chance, die Bestimmung des ‚Anthropos‘ und seine Stellung auf der Erde in Wechselbeziehung mit anderen ebenfalls als agenziell konzipierten ­Lebensformen neu zu denken (Szerszynski 2012). Damit dient das Anthropozän für die Geistes- und Kulturwissenschaften als Reflexionsbegriff. Es kann dazu beitragen, die narrativen, historischen, philosophischen und ästhetischen ­Dimensionen dieser neuen Idee „sichtbar, spürbar und moralisch anspornend zu machen“ (Garrard u.a. 2014, 150). Drei Aspekte seien im Folgenden herausgestellt.

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(1) Humangeschichte/Erdgeschichte: Der Historiker Dispesh Chakrabarty diskutiert in seinem viel zitierten Essay Four Theses (2009), welche Konsequenzen die Vorstellung einer kollektiv gedachten Menschheit als geophysikalischen Kraft und Verursacher der gegenwärtigen Klimakrise für die Konzeption von Vergangenheit und Zukunft hat. Er weist also die im Anthropozänkonzept beinhaltete universalistische These nicht zurück, sondern sieht das Anthropozän vielmehr als Abbild des Universellen, „das aus einem geteilten Sinn der Katastrophe entsteht“ (222). Er diagnostiziert folgende Konsequenzen: (a) den Zusammenbruch der seit dem 17. Jahrhundert gezogenen Trennung von Naturund Menschheitsgeschichte; (b) die Infragestellung der Errungenschaften von Freiheit als Ergebnis von kultureller und historischer Vielfalt seit der Aufklärung; (c) eine notwendige Koppelung der Speziesgeschichte, welche den Menschen in der Tiefenzeit verortet, mit der bestehenden kapitalistisch geprägten Fortschrittsgeschichte, wodurch (d) historisches Verstehen überhaupt an seine Grenzen geführt wird. Die Menschheit lasse sich demnach nicht mehr als eine aufgrund von rationalen Entscheidungen und historischen Veränderungen handelnde Allgemeinheit im hegelschen Sinn konzipieren, sondern sie erscheint vielmehr als ein Kollektiv, das zwar Dinge bewirkt, jedoch ohne die Unkalkulierbarkeit und das Ausmaß des Schreckens der unvorhergesehenen geologischen Kraft des Menschen erfassen zu können. Für die Ausweitung der historischen Narrative auf erdgeschichtliche Dimensionen verwendet Chakrabarty den Begriff der „negativen Universalgeschichte“ (222). Auch in seinem Essay Brute Force (2010) hebt er zwei Gründe hervor, warum die bekannten Narrative der europäischen Geschichte nicht mehr ausreichend sind: (a) Da Natur in großem Maßstab anthropogene Natur ist, kann auch die von (Paläo-)Klimatologen erforschte Naturgeschichte nicht mehr von menschlichen Eingriffen getrennt werden. Dadurch wird (b) das Verständnis von menschlicher Geschichte ausgeweitet auf großskalige Maßstäbe von erdgeschichtlichen Epochen, die vorher nur Geologen verwendet haben. Geschichte sei daher mehrgleisig zu entwerfen, indem das Narrativ von der menschlichen Verantwortung für Umweltgerechtigkeit neben die Geschichte von Agenzien tritt, welche nicht vorhersehbar als ‚rohe‘ materielle Kraft wirksam sind. (2)  Posthumanismus und NaturKultur-Konzept: In Anknüpfung an die Diskussion zum Posthumanismus sieht die Literaturwissenschaftlerin Ursula Heise (2015, 40) das Anthropozänkonzept als Chance, „den Menschen neu [zu]

9.4 Das Anthropozän als geistes- und kulturwissenschaftlicher Reflexionsbegriff

denken“. Die Rede vom Menschen als geophysikalischer Kraft unterminiert die bisherige Subjekt-Objekt-Dichotomie. Die nicht erst seit der neuzeitlichen Wissenschaft etablierte Gegenüberstellung von Natur und Kultur ist in philosophischen und wissenschaftstheoretischen Debatten seit den frühen 1990erJahren problematisiert worden. Zu nennen sind hier die wichtigen Impulse, die v.a. von Donna Haraway, Bruno Latour und Rosi Braidotti ausgegangen sind. Bei ihnen ist Natur nicht mehr als das Andere, als das Objekt wissenschaftlicher oder ästhetischer Anschauung konzipiert. Stattdessen gehen sie von einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis von Mensch und Natur aus, ja sogar von einer Quasi-Interaktivität. Der Mensch ist demnach nicht mehr als getrennt von anderen Spezies zu denken, sondern als Teil eines Netzwerkes im Austausch mit anderen Agenzien. In eine ähnliche Richtung weist Timothy Mortons Idee der „Hyperobjekte“ (2013) als vom Menschen nicht unterscheidbare Entitäten, deren genuine Verbundenheit mit anderen Dingen in einem umfassenden Netzwerk (‚mesh‘) vorausgesetzt wird (83). Dabei wird dem Materiellen eine Eigengesetzlichkeit (‚agency of matter‘) zuerkannt, die unter dem Stichwort des New Materialism erforscht wird (vgl. Kap. 5). Als literarische Beispiele nennt Heise (2015) zeitgenössische Science-Fiction-Romane wie Ursula K. Le Guins Dispossessed (1974), Orson Scott Cards Ender-Tetralogie (1985–96) oder Kim Stanley Robinsons Mars-Trilogie (1993–96), in denen die Sonderstellung des Menschen als Herrscher über die Natur aufgekündigt ist, wenn dargestellt wird, wie die „veränderten Naturräume dem menschlichen Geist und Körper widerstehen und ihrerseits den Menschen verwandeln“ (42). (3) Erzählen des/vom Anthropozän(s): Auch gemäß Kate Marshall und Tobias Boes, Herausgeber des Themenheftes Writing the Anthropocene, steht das neue Erdzeitalter für „the epoch of our becoming posthuman“ (Boes/Marshall 2014, 63). Ihr Ziel ist aber nicht primär eine posthumane philosophische Selbstverortung des Menschen, sondern sie sehen die Aufgabe der Humanities v.a. darin, die sprachlich-rhetorischen Mittel und Medien der Selbstbeschreibung des Menschen als geophysikalischer Kraft, wie sie die Künste und Theorien des Anthropozäns aufzeichnen und registriert haben, zu untersuchen. Dabei geht es um Fragen, wie sich das Anthropozän gewissermaßen selbst erzählt, indem es sich durch seine technischen Medien und deren Ablagerungen in die Erde einschreibt, wie diese großskaligen Prozesse gelesen werden können und welche neuen poetischen Formen entstehen. Zentral ist für sie der Begriff des ‚Archivs‘

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als Summe von textuellen und medialen Quellen zur Dokumentation historischer Entwicklungen (68), die z.B. auch die von Geologen gesammelten Eisbohrkerne umfasst. Die Rede von geologischer Zeit bzw. Tiefenzeit wird hier nicht nur als Metapher betrachtet, sondern die geologischen Schichten gelten selbst als Medien. Damit ergeben sich nicht nur neue literatur- und kulturtheoretische, sondern auch medienarchäologische und -ökologische Fragen nach technischen und medialen Ablagerungen (65 f.). Die bisherige Medienarchäologie wird damit um eine erdgeschichtliche Perspektive erweitert. In literaturwissenschaftlicher Hinsicht ist die Personifikation als zentrale Trope von Anthropozäntexten auffallend. Wenn die Natur spricht, wird zugleich ironisch deutlich, dass wir für die Natur sprechen (69), wie das z.B. in Ilija Trojanows EisTau (2011) der Fall ist (Dürbeck 2014). Radikaler noch ist Dale Pendells Dystopie The Great Bay. Chronicles oft the Collapse (2010), in der eine Reise von 16.000 Jahren in die Zukunft der Menschheit aus der Perspektive der durch die Klimakrise und Überschwemmungen zu einem großen See verwandelten Bucht von San Francisco selbst erzählt wird. Die bisherige Zivilisation wird für obsolet erklärt. Pendells Roman, der die als desaströs betrachteten Auswirkungen des Anthropozäns in einer zeitlich und räumlich großskaligen Perspektive darstellt (Weik von Mossner 2015, 214), lässt sich auch dem neuen Genre des Klimawandelromans zuordnen (vgl. Kap. 18). Dieser Roman wirft die systematische Frage auf, wie nach einem globalen Kollaps überhaupt noch erzählt werden kann, und ob eine Natur, die sich selbst erzählt, noch vom Menschen erzählt. In allgemeinerer Hinsicht betont Sabine Wilke (2013, 72), dass besonders literarische Texte geeignet seien, eine emotionale Stimme über die Naturzerstörung und die Trauer darüber zu artikulieren. Insofern können kulturelle Produktionen als vielgestaltiges und kritisches Reflexionsmedium des Anthropozäns auftreten. Sie können aber das Anthropozän auch als Projekt kreativ weiterdenken und die Möglichkeiten menschlichen Handelns in posthumanistisch erweiterter Perspektive zur Darstellung bringen. Darüber hinaus versuchen die Geistes- und Kulturwissenschaften Antworten auf die vielfältige kulturelle Resonanz des Anthropozänkonzepts zu geben, indem sie die neu entstandenen kulturellen Narrative mit ihren künstlerischen, medialen, literarischen und rhetorischen Darstellungsweisen als eigene Formen des Wissens und der Kreativität erforschen und damit das abgründige, widerständige und keineswegs für die Gestaltung der Zukunft siegesgewisse Poten-

9.5 Literaturverzeichnis

zial des Anthropozänkonzepts ausloten. Auffallend ist, das in den letzten Jahren eine Vielzahl literarischer Texte erschienen ist, die sich zum einen mit der Tiefenzeit und Evolutionsgeschichte, zum anderen mit meist ins Dystopische gewendeten Phantasien genetischer Experimente befassen und damit ein vielversprechendes Material für eine weitergehende Analyse ökokritischer Aspekte des Anthropozäns bereithalten. 9.5 Literaturverzeichnis

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9 Das Anthropozän in geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive

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10 Ökologisch orientierte Literaturwissenschaft in Deutschland Axel Goodbody 10.1 Anfänge eines deutschen Ecocriticism

Der Kontrast zwischen der anscheinend enthusiastischen Aufnahme des Ecocriticism in der englischsprachigen akademischen Welt und ihrer relativen Unsichtbarkeit im deutschsprachigen Bereich ist auf den ersten Blick überraschend. Wie kann es sein, dass der Ecocriticism als ein Gebiet der Literaturwissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz noch nicht stärker anerkannt ist, obwohl Natur eine wichtige Rolle innerhalb der Philosophie und in den kulturellen Traditionen dieser Länder spielt und obwohl ökologische Themen regelmäßig oben auf der politischen Agenda stehen? Ein Grund dafür könnte sein, dass deutsche Naturwissenschaftler, Philosophen, politische Denker und Gesellschaftstheoretiker bereits seit Alexander von Humboldt und Ernst Haeckel­ Pioniere der Humanökologie gewesen sind und vor allem Sachbücher das Hauptmedium in der öffentlichen Debatte von Umweltaspekten in Deutschland darstellten. Bereits im 20. Jahrhundert gibt es eine große Breite von ökologischem Denken, das in der Phänomenologie (von Martin Heidegger bis zu Gernot Böhme), im klassischen Humanismus (von Erich Fromm zu Hans Jonas und Klaus Michael Meyer-Abich) und der Gesellschaftstheorie (von der Frankfurter Schule zu Ulrich Beck) fußt. Seit Goethe hatte die deutsche Literatur jedoch einen scheinbar geringen Einfluss auf den ökologischen Diskurs und die öffentliche Meinung. Die Mehrzahl der namhaften Schriftsteller der letzten 40 Jahre (inkl. Christa Wolf, Hans Magnus Enzensberger und den drei Nobelpreisträgern Günter Grass, Herta Müller und Elfriede Jelinek) hat sich im Laufe der Zeit mit der Umweltthematik befasst, allerdings haben nur relativ wenige wichtige Romane (v.a. in den frühen und mittleren 1980er-Jahren) Umweltthemen in den Vordergrund gestellt. Dies steht im Kontrast zu der Situation in den Vereinigten Staaten, Kanada und zum Teil auch in Großbritannien, wo die Beschäftigung mit den Werken kanonischer Schriftsteller wie Henry David Thoreau und John Muir, William Wordsworth und Thomas Hardy sowie auch der Romanliteratur von bekannten zeitgenössischen Autorinnen und Autoren wie

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10 Ökologisch orientierte Literaturwissenschaft in Deutschland

Margaret Atwood, Barbara Kingsolver und Ian McEwan zweifellos zur Verbreitung des Ecocriticism, auch in der universitären Lehre, beigetragen hat. Ein weiterer Grund für die zögerliche Aufnahme einer ökologisch orientierten Literaturinterpretation innerhalb der deutschen Literaturwissenschaft war das belastete Erbe eines durch die Blut- und Bodenideologie besetzten Naturgefühls in der Zeit des Nationalsozialismus. Über die 1980er-Jahre hinaus war es üblich, dass sich Literaturwissenschaftler vom völkischen Denken distanzierten und der andernorts auffindbaren Verbindung von Natur und nationaler Identität misstrauten. Manche meinten sogar, dass das rassistisch beeinflusste ideologische Naturverständnis, gespeist von prominenten Literaturwissenschaftlern der 1930er-Jahre, in manchen Themenschwerpunkten der gegenwärtigen Vertreter des Ecocriticism wie etwa Naturschutz und Heimatverbundenheit wiedererkennbar sei. Als in den frühen 1970er-Jahren die Umweltbewegung in Deutschland aufkam, sahen skeptische Akademiker die Mischung von zum Teil simplifizierten rationalen Argumenten, einem emotional aufgeladenen Widerstand gegen materialistische Werte und gegen als hoch riskant eingestufte Technologien sowie v.a. die schrille apokalyptische Rhetorik als einen gefährlichen Rückschritt zum Antimodernismus der Romantik und der Jahrhundertwende an. Seit den 1980er-Jahren hat sich in Deutschland die umwelthistorische Forschung ausgebreitet, indem Wissenschaftler wie Franz-Josef Brüggemeier, Christoph Mauch, Joachim Radkau und Frank Uekötter die sich wandelnden Einstellungen zur Natur und Vorstellungen eines angemessenen Umweltmanagements in den deutschsprachigen Ländern ausführlich erforscht haben. Es ist ein Forschungsfeld entstanden, das Elemente der Ideen- und Kulturgeschichte neben der politischen und der Sozialgeschichte aufgreift und in dem auch Technikgeschichte und Kulturgeographie Berücksichtigung finden. Diese Entwicklung schlägt sich in der Arbeit des 2009 gegründeten, interdisziplinär ausgerichteten Rachel Carson Center for Environment and Society (RCC) in München nieder. Zur gleichen Zeit leistete auch die deutsche Philosophie wichtige Arbeit, indem sie das sich wandelnde Verständnis der Natur ebenso wie auch eine ökologische Ethik und Ästhetik erforschte (z.B. Kirchhoff/Trepl 2009). Außerdem haben Medienwissenschaftler, Diskursanalytiker, Soziologen, Ethnologen und Politikwissenschaftler wichtige Beiträge zum Gebiet des Ecocriticism geleistet.

10.1 Anfänge eines deutschen Ecocriticism

Der Unterschied zwischen dieser hohen Anzahl an ökokritischen Studien im weiten Sinne und der relativ geringen Zahl germanistischer Beiträge, die sich bis vor Kurzem mit Umweltthemen beschäftigt haben, ist auffällig. Auslandsgermanisten (z.B. Jost Hermand in den USA, Axel Goodbody in Großbritan­nien, Kate Rigby in Australien) haben Pionierarbeit geleistet, sowie auch deutschsprachige Amerikanisten (z.B. Hannes Bergthaller, Catrin Gersdorf, Christa GreweVolpp, Sylvia Mayer, Alexa Weik von Mossner und Hubert Zapf ). Der Ecocriticism hat sich in Deutschland eher als ein Bereich der Kulturwissenschaften entwickelt statt als rein literaturwissenschaftliches Forschungsgebiet. Zugegeben, Natur und Umwelt waren in der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts wichtige Themen, angefangen von der Künstlerkolonie Worpswede und dem Expressionismus am Anfang des 20. Jahrhunderts bis hin zu Joseph Beuys und Friedensreich Hundertwasser, wie auch im Film, wenn man die Rezeption der deutschen Bergfilme, des Heimatfilms, der Filme von Werner Herzog und der vielen Naturdokumentarberichte und regionalen Landschaftsfilme im Fernsehen der letzten Jahren berücksichtigt. Gleichwohl können germanistische Institute in Deutschland einen wichtigen Beitrag zur ökologisch orientierten Literaturwissenschaft leisten, indem sie anglophone Theorien durch Erkenntnisse ergänzen, die sie aus Studien deutschsprachiger Literatur, wissenschaftlichen Diskursen und der diese informierenden Philosophie und den damit verbundenen Forschungsfragen und -begrifflichkeiten ziehen. Die deutsche Kulturtradition zeichnet sich zudem durch europäische Erfahrungen mit dem Umweltwandel aus, was zu signifikanten Unterschieden zur anglophonen Tradition hinsichtlich bestimmter Themen und Gattungen führt. So kommen in der deutschen im Unterschied zur amerikanischen Literatur z.B. Darstellungen der Wildnis seltener vor und weichen Darstellungen von (kultivierter) Landschaft; auch das ‚Nature Writing‘ spielt eine weniger bedeutende Rolle. Die Tatsache, dass Ansgar Nünnings einflussreiches Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie seit der zweiten Auflage einen Eintrag zum ‚Ecocriticism‘ enthält (vgl. Heise 2001), deutet auf die allmählich erreichte Akzeptanz des Ansatzes hin. Zur gleichen Zeit haben deutsche Schriftsteller und Literaturwissenschaftler begonnen, auch stärker internationale Anerkennung zu finden. Timothy Clarks Einführung zur Umweltliteratur (2011) behandelt zum ersten Mal in einer englischsprachigen Studie einen deutschen Text zum Thema Umwelt und zitiert deutsche Ökokritiker. Clark (2011, 96–98) stellt Wilhelm Raabes Novelle

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Pfisters Mühle (1884) als Pionierarbeit des Umweltrechts dar, zudem untersucht er Heideggers Kritik der modernen Technologie (56–60), Gernot Böhmes Ästhetik der Natur (81 f.) und den kulturökologischen Ansatz, den Hubert Zapf in der Literaturwissenschaft eingeführt hat (153–155). 10.2 Wissenschaftliche Literatur im Überblick

Deutsche Literaturwissenschaftler haben schon seit Langem das ergiebige Feld deutscher literarischer, künstlerischer und kultureller Darstellung unserer Beziehung zur natürlichen Umwelt erforscht, ohne sich jedoch als Ökokritiker zu bezeichnen. Sie haben untersucht, welchen Beitrag Schriftsteller, Essayisten, Dramatiker und Lyriker zur Neukonzeption dieser Beziehung geleistet und welche Alternativen sie in ihrer produktiven Adaption kultureller Traditionen entworfen haben. Zu nennen sind Aufsätze und Bücher aus den 1960er- und 1970er-Jahren zu den Themen der Idylle im Barock (Garber 1974), der Physikotheologie und ihrer Verarbeitung in Naturgedichten des 18. Jahrhunderts (Ketelsen 1974), zu Goethes Vorstellung von der Natur (Zimmermann 1969), zur romantischen Naturmetaphorik (von Bormann 1968) oder zu modernen Naturgedichten (Schäfer 1969). Als in den späten 1970er-Jahren die ersten Anthologien umweltbezogener deutscher Lyrik und Prosa zusammengestellt wurden, erschienen gleichzeitig vereinzelte Aufsätze, die kanonische Texte vom Umweltstandpunkt aus analysierten: Leo Kreutzer (1978) forderte eine neue Auslegung von Goethes Naturgedichten und Horst Denkler (1980) zeigte die Bedeutung von Pfisters Mühle als frühes Beispiel einer Betrachtung der sozialen und kulturellen Konsequenzen industrieller Verschmutzung (zu Raabe siehe auch Kaiser 1991; Detering 1992; Wanning 2005). Seit den 1980er-Jahren folgte eine Reihe von Studien, so Herles’ (1982) Abhandlung über das Mensch-­ Natur-Verhältnis in Romanen seit 1945, Haupts (1982) Studie deutscher Naturgedichte des 20. Jahrhunderts und Knabes (1985) Aufsatz über die Darstellung der Auswirkung der Industrialisierung in Romanen der DDR. In den späten 1980er-und 1990er-Jahren folgten programmatische Aufrufe zur Untersuchung literarischer Darstellungen der natürlichen Umwelt (vgl. H. Böhme 1994; Hermand 1997). Inzwischen können ungefähr ein Dutzend Monographien und etwa die gleiche Zahl an Sammelbänden als wichtige ökokritische Beiträge zur deutschspra-

10.2 Wissenschaftliche Literatur im Überblick

chigen Literatur bzw. Literaturwissenschaft eingestuft werden. Als erster Titel dieser Art lässt sich der Sammelband Natur und Natürlichkeit. Stationen des Grünen in der deutschen Literatur (Grimm/Hermand 1981) anführen. Hermand veröffentlichte danach gleich zwei weitere wegweisende Monographien: Grüne Utopien in Deutschland und Im Wettlauf mit der Zeit: Anstöße zu einer ökologiebewussten Ästhetik (beide 1991). Die erste gibt einen historischen Überblick über grünes Denken in Deutschland seit Rousseau aus ökosozialistischer Perspektive. Neben vielen in Vergessenheit geratenen Schriftstellern und kanonischen Prosatexten sowie Gedichten werden darin auch Aufsätze und politische Manifeste untersucht, wodurch Hermand die Reichhaltigkeit der intellektuellen Tradition aufzeigt, auf die zeitgenössische mit der Umweltbewegung verbundene Schriftsteller zurückgreifen konnten. Demgegenüber enthält das zweite Buch Hermands ausführlichere Analysen einzelner literarischer Texte. Der erste in Deutschland arbeitende Germanist, der eine Monographie ausschließlich zum Thema Literatur aus ökokritischer Perspektive publiziert hat, war Gerhard Kaiser. Kaisers Mutter Natur und die Dampfmaschine (1991) untersucht die Idealisierung der Natur, welche die wissenschaftliche Objektivierung und zunehmende technologische Beherrschung der natürlichen Welt im frühen 19. Jahrhundert begleitete, und argumentiert, dass literarische Texte (z.B. von Goethe, Keller und Raabe) eine bedeutende Rolle für die Durchsetzung der einflussreichen Figur der ‚Mutter Natur‘ spielten. Britische Germanisten veröffentlichten in den späten 1990ern zwei Sammelbände: Green Thought in German Culture (Riordan 1997) verbindet einen ideengeschichtlichen Überblick mit Beiträgen zur Umweltbewegung im frühen 20. Jahrhundert und zu ökologischen Dimensionen der Kritischen Theorie, des New Age und des Rechtsradikalismus mit Aufsätzen zur ost- und westdeutschen Literatur, zur schweizerischen Literatur, zur Kunst und zum Film. Der Sammelband Literatur und Ökologie (Goodbody 1998) beschränkt sich auf Gegenwartsliteratur: Er umfasst Aufsätze zu ost- und westdeutschen, österreichischen und schweizerischen umweltbezogenen Gedichten, Romanen, Theaterstücken und Essays seit den 1970er-Jahren. Die australische Germanistin und Komparatistin Kate Rigby hat mit Topographies of the Sacred (2004) eine wichtige komparatistische Studie zum Verständnis der Stellung der Menschheit innerhalb der Natur bei Autoren der deutschen und englischen Klassik und Romantik vorgelegt. Rigby zeigt, dass

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Goethe, Novalis, Tieck und Eichendorff die doppelte Verarmung der Menschheit beobachten, die aus dem Zwang erfolgte, Imagination und Mitleidsfähigkeit für die natürliche Umwelt auszulöschen und die körperliche Seite des Selbst zur bloß mechanischen Natur zu degradieren. Ausgehend von Jonathan Bates The Song of the Earth (2000) und geprägt von Post-Heidegger-Lektüren bestätigt Rigby die Wichtigkeit von Konzeptionen von Wohnen (i. S. v. sich in der Welt ansiedeln, einen Ort bewohnen) für den Ecocriticism. Heather Sullivan (2003 u. 2010) hat weitere innovative ökokritische Arbeiten zu Goethe und den Romantikern veröffentlicht (zu Goethe s. auch Nassar/Fischer 2015). In den Jahren 2005 und 2006 erschienen zwei Sammelbände, einer auf Englisch, einer auf Deutsch: Natur – Kultur – Text (Gersdorf/Mayer 2005) und Nature in Literary and Cultural Studies (Gersdorf/Mayer 2006), die Forschungen zu ökokritischer Theorie und Literatur enthielten. Der deutschsprachige Titel enthält eine Einleitung zur ökokritischen Theorie für deutschsprachige Leser und Aufsätze zur Kulturtheorie, Umweltkommunikation sowie zu deutschen Schriftstellern seit Kleist. Der englischsprachige Band beginnt mit einer Einleitung zum Ecocriticism, in der die (deutsche) Theorie der Kulturökologie ausländischen Lesern vorgestellt wird. Die darauffolgenden Aufsätze beziehen sich hauptsächlich auf amerikanische Literatur, während die Beiträge von Riordan, Meacher, Griffiths und Goodbody deutsche Texte behandeln. Stefan Hofers Dissertation (2007) greift auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns zurück, um ein theoretisches Fundament der gesellschaftlichen Funktion von Literatur zu entwickeln, das bislang im Bereich des Ecocriticism fehlte. Goodbodys Studie Nature, Technology and Cultural Change in 20th-Century German Literature (2007) beginnt mit einer Einleitung zu Natur und Umwelt in der deutschen Kultur sowie zu amerikanischen, britischen und deutschen ökokritischen Ansätzen, an die ein Kapitel zu Goethes Erbe anschließt. Zudem lotet das Buch die Veränderungen der Einstellungen zur Umwelt während des 20. Jahrhunderts in komparatistischen Studien zu literarischen Werken zu den vier Themenkomplexen Technikkatastrophen, Wohnen, Jagd und Stadt aus. Schließlich enthält der Sammelband Ökologische Transformationen und literarische Repräsentationen (Ermisch/Kruse/Stobbe 2010) weitere Aufsätze eines interdisziplinären Symposiums von Germanisten und Umwelthistorikern an der Universität Göttingen. Die Wichtigkeit der ökologisch orientierten Literaturwissenschaft ist neuerdings von der DFG durch die Verleihung von Förderungs-

10.3 Thematische Schwerpunkte

geldern für zwei ökokritisch orientierte Netzwerke anerkannt worden: „Ethik und Ästhetik in literarischen Repräsentationen ökologischer Transformationen“, geleitet von Evi Zemanek, hat Nachwuchsforscher der germanistischen, anglistischen und komparatistischen Literaturwissenschaft durch eine Reihe von Konferenzen 2013–15 zusammengebracht. Timo Müller wird von 2015 bis 2017 ein interdisziplinäres Team leiten, um unter dem Titel „Environmental Crisis and the Transnational Imagination“ kulturelle Narrative zu erforschen. 10.3 Thematische Schwerpunkte

Schreibmodi und Themen waren oft der Fokus des deutschen Ecocriticism. Hier und an anderer Stelle haben die Pastorale und die Apokalypse als zentrale Modi der kulturellen Produktion in Repräsentationen der Umwelt gedient. Im Kontext der Umweltbewegung der 1970er-Jahre wurde Heimat neu definiert und regionale Zugehörigkeit rehabilitiert. Romane und Filme wie Edgar Reitz’ Heimat (der sich seit der ersten Serie 1984 zu einem 53-stündigen Epos entwickelt hat und das Landleben in einem Dorf im Hunsrück von 1919 bis 2000 verfolgt) spiegeln diesen Prozess wider. Studien zu Heimat und ihrer literarischen und visuellen Darstellung enthalten zunehmend auch Betrachtungen zur Rolle der Ortszugehörigkeit für das Streben nach einem ökologisch nachhaltigen ­Leben (vgl. Goodbody 2013a). Auch zur schweizerischen Literaturtradition, in der Alpenlandschaften zur Reflexion nicht nur des Erhabenen, sondern auch des einfachen Lebens und der schädlichen Folgen der Modernisierung dienen, liegen Studien vor (vgl. Liston 2011; Ireton/Schaumann 2012). Untersuchungen zur apokalyptischen Literatur seit den 1980er-Jahren haben zunehmend den Fokus auf die Repräsentation von Umweltkatastrophen (z.B. Lilienthal 1996; Detering 2008; Dürbeck 2012; Utz 2013; Horn 2014) und Risikonarrative (z.B. Heise 2008; Zemanek 2013; Mayer/Weik von Mossner 2014) gerichtet. Öffentliche Auseinandersetzungen mit dem Klimawandel haben in den letzten Jahren ein wachsendes Interesse an seiner literarischen Darstellung eingeleitet (vgl. Goodbody 2013b). Das Environmental Humanities Transatlantic Research Network hat 2013 zusammen mit dem Rachel Carson Center in München eine Konferenz zu dem Thema „Culture and the Anthropocene“ organisiert (vgl. Garrard u.a. 2014; Wilke 2016). Darstellungen von Naturkatastrophen, Verwüstungen durch die Menschheit und natürliche Prozesse des Ver-

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falles durchziehen seit dem Zweiten Weltkrieg die deutsche Literatur von Arno Schmidt bis W. G. Sebald. Mit Sebalds Werk (besonders seinem Langgedicht Nach der Natur und seiner Beschreibung einer Wandertour in Sussex, Die Ringe des Saturn) haben sich nicht nur Ökokritiker, sondern auch Forscher aus den Bereichen des kulturellen Gedächtnisses, der Reiseliteratur und der Holocaustliteratur beschäftigt (z.B. Fuchs 2007; Malkmus 2011). Zwei weitere Sammelbände enthalten Aufsätze zu den Themen ‚Umweltethik‘ und ‚Wahrnehmung von Umweltrisiken‘ in der Literatur. Sie können als letztes Anzeichen für die Lebendigkeit des gegenwärtigen deutschen Ecocriticism gewertet werden. Der erste Band, Literature, Ecology, Ethics – Recent Trends in Ecocriticism (Müller/Sauter 2012), reflektiert die zunehmende theoretische und methodologische Selbstbespiegelung des Fachgebietes und erweitert die Reihe literarischer Analysen über kanonische, thematische und nationale Grenzen hinaus. Der zweite Band, The Anticipation of Catastrophe. Environmental Risk in North American Literature and Culture (Mayer/Weik von Mossner 2014), zeigt durch die Analyse von literarischen und audiovisuellen Texten, wie Gesellschaft, Politik und Kultur der Spätmoderne durch ein allumfassendes Umweltrisikobewusstsein geprägt sind. 10.4 Ökokritische Theorie

Ein Überblick dieser Art wäre unvollständig, fänden die Entwicklungen im Bereich der ökokritischen Theorie in Deutschland nicht wenigstens kurz Erwähnung. Deutsche theoretische Diskussionen der 1970er- und 1980er-Jahre gingen weniger von Postmodernismus und Poststrukturalismus aus als von einer auf Gadamer basierenden Hermeneutik, von der Frankfurter Schule neomarxistischer Theorien, die auf Adorno und Benjamin zurückgehen, und von der Kulturanthropologie (insbesondere Wolfgang Isers Rezeptionstheorie und Jan und Aleida Assmanns Beiträge zum kulturellen Gedächtnis). Auch der deutsche Ecocriticism ist von diesen Denkströmungen beeinflusst. Laut Timo Müller (2011) haben die beiden Hauptströmungen des heutigen deutschen Ecocriticism ihre Wurzeln in der literarischen Anthropologie. Wolfgang Iser hat in den 1980er-Jahren ein Konzept entwickelt, das die Funktion von Literatur in ihrem Potenzial sieht, alltägliche Erfahrungen mit möglichen fiktiven Alternativen zu kontrastieren, sodass die Leser durch den Prozess ima-

10.4 Ökokritische Theorie

ginärer Grenzüberschreitungen ihr Selbstverständnis entwickeln und modifizieren können. Danach haben Hartmut Böhme (1988) und Gernot Böhme (1989) die ökologischen Konsequenzen dieses Ansatzes untersucht. Ihre ‚Ästhetik der Natur‘ fußt in der Phänomenologie sowie einem traditionellen liberalen Humanismus und vertritt die Idee einer besonderen Sensibilität des Menschen, die es ihm erlaubt, sich der Natur wieder anzunähern. In einer Zeit der Umweltzerstörung ist das kulturelle Archiv literarischer Texte eine Ressource, deren Potenzial im Rahmen von Renaturierungsstrategien nicht übersehen werden sollte. Literatur dokumentiert und speichert Informationen über die Stellung, die eine nationale Gemeinschaft gegenüber der Natur einnimmt, und verleiht Elementen der Kultur eine Stimme, die sonst ausgeschlossen und zum Schweigen gebracht werden, wie z.B. die Stimme von Frauen, ‚unzivilisierten‘ Völkern und der materiellen Welt. Hartmut Böhme verbindet diese Rolle der Literatur, Kunst und Ästhetik, menschliches Überleben zu ermöglichen, mit einem Konzept von Natur als „kulturelles Projekt“ (Böhme u.a. 2000, 118–131): Wir müssen die Verantwortung für ihre Gestaltung übernehmen, in dem Bewusstsein, dass unsere Kontrolle über sie nicht unbegrenzt ist. Der zweite bedeutende deutsche Beitrag zur ökokritischen Theorie, Hubert Zapfs Verbindung von Kulturökologie und Textanalyse, betrachtet literarische Texte in Bezug auf ihre Fähigkeit, das Kultursystem zu revitalisieren, indem sie Elemente des öffentlichen Diskurses zu Knotenpunkten wie z.B. Symbolen und Metaphern kondensieren und transformieren. Zapf unterscheidet in seinem Modell von Literatur als Medium der Kulturökologie drei gleich wichtige diskursive Funktionen von Literatur: eine kulturkritische, eine imaginative und eine reintegrative Funktion (vgl. Zapf 2002, 33–39). Zunächst lenkt Literatur die Aufmerksamkeit auf die gewaltsamen Strukturen des Kultursystems. Zweitens gibt sie dem, was durch diese Strukturen unterdrückt wird, eine Stimme und schafft ein handlungsentlastetes Terrain für alternative Formen kultureller Organisation. Letztlich hat sie eine genuine Fähigkeit, die Person als Ganzes anzusprechen und Grenzen zwischen sonst gespaltenen Gesellschaftssystemen und -diskursen zu überschreiten (vgl. auch Kap. 14). Andere Strömungen der deutschen Literaturtheorie, wie etwa Marxismus und Psychoanalyse, könnten in diesem Kontext genannt werden. Doch sind deren ökokritische Implikationen noch unentwickelt, auch gibt es im deutschen Kontext einen auffallenden Mangel an ökofeministischen Beiträgen. Der deut-

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10 Ökologisch orientierte Literaturwissenschaft in Deutschland

sche Ecocriticism hat ein breites Korpus kulturellen Denkens untersucht, das zwar vielfach mit amerikanischer und britischer Kultur verbunden ist, sich aber trotzdem in bedeutender Weise davon unterscheidet. Dadurch hat der deutsche Ecocriticism zu der Vielfalt an Perspektiven und Methoden beigetragen, die der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft in den ökologisch orientierten Literaturwissenschaften zur Verfügung stehen. 10.5 Literaturverzeichnis

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10 Ökologisch orientierte Literaturwissenschaft in Deutschland

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11 Natur- und Umweltschutzbewegung in Deutschland Jens Ivo Engels

Deutschland begreift sich gern als grün. Umweltschutz als erstrangiges politisches Ziel, hohes Umweltbewusstsein im Alltag und Liebe zur Natur, so beschreibt sich die bundesdeutsche Gesellschaft selbst. Im internationalen Vergleich waren die Umweltdebatten in Deutschland oft besonders intensiv, die Ausschläge der Erregung besonders groß. Dazu gehörte die Diskussion über die „Grenzen des Wachstums“ in den frühen 1970er-Jahren, die Kontroverse über das Waldsterben im zweiten Drittel der 1980er-Jahre, die ab den späten 1970erJahren geführte Diskussion über die Gefahren der Atomkraft. 1986 kam es zu einer besonders heftigen Reaktion auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und 1995 auf die drohende Versenkung der Ölplattform Brent Spar in der Nordsee. Die Warnungen über Gefahren des Klimawandels fanden in Deutschland schon frühzeitig Gehör. Auch in der Politik zeigt sich die große Bedeutung der Umweltfrage, etwa im zweifach verkündeten Ausstieg aus der Kernenergie mit begleitender Energiewende und Förderung erneuerbarer Energien oder im diplomatischen Engagement mehrerer Bundesregierungen seit den 1990er-Jahren für internationale Klimaschutzabkommen. Nicht zuletzt sind es die wichtige Rolle der Grünen Partei in der (west-)deutschen Politik seit den frühen 1980er-Jahren, der große Einfluss und die Mitgliederstärke von nichtstaatlichen Umweltorganisationen wie Greenpeace, Nabu und BUND sowie die breiten und schlagkräftigen Natur-, Umwelt- und Antiatomkraftbewegungen mit Höhepunkten der Mobilisierung in den 1970er- und 1980er-Jahren (vgl. Uekötter 2014b), die ebenfalls an diesen Entwicklungen aktiv teilhatten. In (fast) allen Gesamtdarstellungen zur Umweltgeschichte finden sich ausgedehnte Abschnitte über die Naturschutz- und Umweltbewegung (vgl. Brüggemeier 2014; Radkau 2001). 11.1 Die lange Tradition des bürgerlichen Natur- und Heimatschutzes

Mit der Umweltbewegung hat sich die Geschichtswissenschaft ein Feld erschlossen, das bereits in der Politik- und Sozialwissenschaft sehr früh aufgegriffen worden war. Die einschlägigen Studien sind oftmals von einer sehr

11.1 Die lange Tradition des bürgerlichen Natur- und Heimatschutzes

positiven, gelegentlich gar apologetischen Haltung getragen und heben die Neuartigkeit der politischen Bewegungen und der sie tragenden „postmateriellen Werte“ hervor (z.B. Rucht 1994). Die historische Forschung hat dagegen die langen Traditionslinien des Umweltschutzes herausgearbeitet. Die Umweltbewegung, ihr Erfolg, aber auch ihre Themen und Ideen, ihre sozialen Träger und ihre politische Bedeutung sind nicht zu verstehen ohne ihre Vorgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert. Eine Reihe von Studien hat die Ziele, Gedankenwelt, Methoden und Organisationsformen des frühen Natur-, Heimat- und Artenschutzes umfassend dargestellt (vgl. Rollins 1997). Dabei wurde vor allem deutlich, dass der Naturschutzgedanke eng verbunden mit bürgerlicher Modernekritik, bürgerlichem Antikapitalismus, Technikskepsis und Agrarromantik war (vgl. Schmoll 2004) und eine Projektionsfläche für den Nationalismus darstellte (vgl. Lekan 2004). Neben dem zunächst konservierend-bewahrenden Ansatz des Naturdenkmalschutzes entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg ein gestalterischer Zugang, der die Landschaft mit den Mitteln der Raumplanung ‚gesünder‘ gestalten wollte. Dieser Ansatz verband sich zunehmend mit völkischen Vorstellungen und erreichte im Rahmen der sogenannten Ostraumplanung im Zweiten Weltkrieg ihren – von Verbrechen gegen die Bevölkerung in Ostmitteleuropa geprägten – Höhepunkt (vgl. Oberkrome 2004). Dies und die politischen Erfolge des Naturschutzes im „Dritten Reich“ gaben Anlass für eine Diskussion darüber, wie nah der Natur- und Heimatschutz dem Nationalsozialismus ideologisch und politisch stand. Tatsächlich war der Naturschutz weder vom NS distanziert, noch waren die Nazis ‚grün‘. Vielmehr gab es eine Reihe ideologischer Berührungspunkte, teilweise politische Protektion durch die Nationalsozialisten und eine nicht unbeachtliche Anzahl von Profiteuren im Natur- und Landschaftsschutz. Letztlich ordneten die Machthaber den Naturschutz aber anderen politischen Zielen unter (vgl. Radkau/ Uekötter 2003; Brüggemeier u.a. 2005; Uekötter 2006). Der Heimat- und Naturschutz war ideell und personell durch enorme Kontinuitäten bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts – und darüber hinaus – geprägt. Eine große Zahl privater Verbände überdauerte die Zeiten bis heute, wie der Verein Naturschutzpark, der Bund für Vogelschutz (heute Nabu), der Bund Naturschutz in Bayern und viele andere regionale Gruppen (vgl. Dominick 1992; Markham 2008). Prägend waren auch Wander- und Mittelgebirgsvereine. Gemeinsam mit dem Verein Naturschutzpark dokumentieren sie, dass viele Men-

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11 Natur- und Umweltschutzbewegung in Deutschland

schen mindestens bis in die 1960er-Jahre den Natur- und Landschaftsschutz mit dem Thema Freizeit und Erholung in Verbindung brachten (vgl. Chaney 2008). Neben diesen bürgerlich geprägten Verbänden existierte auch eine proletarische Tradition des Naturschutzes, v.a. in Gestalt des Touristenvereins Die Naturfreunde (vgl. Wendt 2004; Hasenöhrl 2011). Ein besonderes Augenmerk gilt der Rolle von Staat und Verwaltung. Im frühen 20. Jahrhundert etablierten sich eigentümliche Strukturen von staatlichem, halbamtlichem/ehrenamtlichem und privat organisiertem Naturschutz. Die große Nähe zum Staat blieb entgegen aller Legendenbildung auch nach 1970 ein Merkmal des Umweltschutzes und erklärt zu einem großen Teil seinen Erfolg (vgl. Frohn/Schmoll 2006; Engels 2006a). 11.2 Die ökologische Wende und die moderne Umweltbewegung

Weil die mehrheitlich konservativ-nationalistische Konnotation des Natur- und Heimatschutzes über die Epochengrenzen von 1933 und 1945 erhalten blieb, ist unter umwelthistorischen Gesichtspunkten eine andere Zäsur viel interessanter. Die Zeit um 1970 gilt allgemein als Beginn des ökologischen Zeitalters, in dem sich nach der Club-of-Rome-Studie The Limits to Growth (1972) weltweit die Erkenntnis durchsetzte, dass die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen durch sein eigenes Tun gefährdet seien. Umweltschutz kam in einem breiten Spektrum zwischen Öko-Utopie und pragmatischer Problemlösung auf die gesellschaftliche Agenda (vgl. Kupper 2003b; Radkau 2011). Seit diesem Einschnitt wird das Engagement für Umweltschutz eher im linken Teil des politischen Spektrums angesiedelt. Folglich haben sich viele Studien der Frage gewidmet, was sich zu diesem Zeitpunkt änderte – und was nicht (vgl. Engels 2006a; Uekötter 2014). Letztlich kreist die gesamte Forschung zum Natur- und Umweltschutz in Deutschland immer wieder um dieses Problem. Unbestreitbar vollzog sich nach 1970 eine Art Neukonfiguration des Einsatzes für die Natur in der Erweiterung als umfassender Umweltschutz. Letzterer bildet eines der wichtigsten Politikfelder in Deutschland, was dem Natur- und Heimatschutz zuvor trotz erheblicher Anstrengungen nie geglückt war. Nicht zuletzt angeregt durch das „Umweltprogramm der Bundesregierung“ von 1971 ‚fusionierten‘ Vorstellungen von bewahrendem Natur- und Artenschutz nach 1970 mit dem sogenannten ‚technischen Umweltschutz‘, in dessen Mit-

11.2 Die ökologische Wende und die moderne Umweltbewegung

telpunkt die zuvor gesundheitspolitisch motivierte Reduktion von Schadstoffen und Emissionen stand. Zunächst speiste sich die Umweltpolitik noch aus einem von Machbarkeit und technischen Lösungen geprägten Denken – mit einem optimistischen Blick in die Zukunft. Dieser wurde freilich binnen Kurzem durch die Entdeckung angeblich drohender Ressourcenknappheit und Überbevölkerung nachhaltig verdunkelt (vgl. Hünemörder 2004). Was die Umweltpolitiker zunächst als positiv besetztes Konsensthema betrachteten, wurde auf Betreiben der Naturschutzverbände und durch den Einfluss einer Reihe von Publizisten mit dem kulturkritischen Deutungsarsenal des ‚alten‘ Naturschutzes verbunden. Dessen moderne- und zivilisationskritischen Argumente fielen in der gesellschaftlichen Krise nach 1968 auf fruchtbaren Boden. Heraus kam aber eine neue, brisante Mischung, in der die Kapitalismus- und Konsumkritik nicht mehr konservativ-bürgerlich, sondern alternativ wirkte. Proteste und konkreter Widerstand von Bürgern bestimmten bald das öffentliche Bild des Umweltschutzes – wobei freilich die Forschung festgestellt hat, dass Proteste mit vergleichbaren Argumenten bereits in den Jahrzehnten nach 1950 vorkamen, freilich ohne dass sie ähnliche Aufmerksamkeit erfahren hätten. Die Motive für die Beteiligung an Umweltprotesten und die Rahmenbedingungen für Erfolg oder Misserfolg änderten sich wenig – entscheidend war stets eine Koalition aus lokalen Kräften, für die neben dem Schutz der Natur v.a. handfeste ökonomische Interessen zählten. Dazu gehörte es auch, neben einer freundlichen Presse Unterstützung bei kommunalen oder staatlichen Stellen zu haben (vgl. Engels 2006a). Dennoch sind um 1970 massive Veränderungen im Auftreten des Natur- bzw. Umweltschutzes zu bemerken. Politisch hatten die traditionellen Verbände stets auf Kooperation mit staatlichen Stellen und intern verhandelte Kompromisse gesetzt, während die neuen Kräfte auf offensive Konfrontation vor öffentlicher Kulisse vertrauten. Es dominierten zunehmend Akteure, die sich unkonventionell kleideten, Autoritäten infrage stellten, Protest als ironisch-lustvolle Erfahrung zelebrierten und damit den Umweltprotest als ein Anliegen widerständiger, antiautoritärer und alternativer Kreise inszenierten. Zu dem ambivalenten Bild gehört aber auch, dass der Staat selbst hier unverzichtbar blieb, und zwar nicht nur als Gegner, sondern vielfach als Finanzier und Gründungshelfer selbst bei Gruppen wie dem Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz. Dass die Umweltbewegung (neben der Friedens-, Frauen- und Drittweltbewegung) zu den großen sozialen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jah-

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11 Natur- und Umweltschutzbewegung in Deutschland

re zählt, ist unbestritten. Allerdings sind ihre Konturen häufig nicht klar; eine Abgrenzung zu anderen Bewegungen ist schwierig. Um 1980 etwa wandelte sich der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz stillschweigend in ein Flaggschiff der Friedensbewegung und stellte Umweltbelange zeitweilig hintan. Letztlich rekrutierten alle Bewegungen ihre Klientel aus den gleichen sozialen Schichten – dem gebildeten Mittelstand der jüngeren Generation – und unterstützten ihre Anliegen gegenseitig. Derzeit steckt die Forschung zur Beziehung der Bewegungen untereinander, zu ihrer internen Abgrenzung, aber auch zu den neuen ökologischen Lebensstilen zwischen Bioladen und ökologischer Landkommune noch in den Kinderschuhen. 11.3 Waldsterbensdebatte und Antiatomkraftbewegung

Erst kürzlich sind die 1980er-Jahre ins Interesse der Umweltgeschichte gerückt, vor allem das Phänomen „Waldsterben“. Dabei wurde festgestellt, dass das forstwissenschaftliche Wissen um die Schädigung von Bäumen durch Abgase bis zur Jahrhundertwende um 1900 zurückreicht (vgl. Bemmann 2012). Bemerkenswert ist die Rolle der Forstwissenschaftler, die 1981 die Bereitschaft der Medien zur Umweltberichterstattung nutzten, um dramatisierende Darstellungen des Waldzustands zu lancieren – offenbar auch mit dem strategischen Ziel, öffentliche Forschungsgelder einzuwerben (vgl. Schäfer 2012). Es gab eine intensive Debatte, an der auch die Umweltverbände großen Anteil hatten. Doch räumten die Historiker mit der Legende auf, Staat und Regierung hätten nur zögerlich reagiert. Denn die Umweltpolitik der 1970er-Jahre hatte in Staat und Verwaltung vielfältige Bearbeitungskapazitäten geschaffen, sodass die Problematik sofort und auf allen Ebenen des Gemeinwesens aufgegriffen wurde. In rascher Folge entstanden mehrere Regelungen zur Luftreinhaltung (vgl. Metzger 2014). Ein Blick auf die europäische Ebene zeigt, wie die Brüsseler Behörden das Waldsterben bereitwillig aufgriffen, um ihre supranationalen Kompetenzen auszubauen (vgl. Schmit 2012). Im Nachhinein kaum mehr zu entscheiden ist die Frage, ob die Waldsterbensdebatte letztlich gegenstandslos war, denn zu großflächigen Waldschädigungen kam es nicht, oder ob die genannten Maßnahmen Schlimmeres verhindert haben. Ein zweites Thema, das die westdeutsche Umweltdebatte der 1980er-Jahre bestimmte, war das Reaktorunglück in Tschernobyl 1986 (vgl. Brüggemei-

11.3 Waldsterbensdebatte und Antiatomkraftbewegung

er 1998). In dessen Folge erlebte die Antiatomkraftbewegung ihren absoluten Höhepunkt. Nach dem erfolgreichen und friedlichen Protest gegen das Kernkraftwerk im südbadischen Wyhl 1975 erlebten die Auseinandersetzungen um die Atomkraft in den späten 1970er-Jahren eine heftige, zum Teil durch Gewalt geprägte Phase. In dieser Kontroverse kollidierte der politische Wille aller Parteien, billige Energie zu produzieren, mit der Skepsis der Umweltbewegung gegenüber großen Lösungen und gefährlichen Technologien. Die Antiatomkraftbewegung mobilisierte die Bevölkerung in hohem Maß, auch weil es stets um Bauvorhaben an konkreten Orten ging. Hier bildeten sich Kerne lokalen Widerstands, der auf bundesweite Solidarität zählen konnte. Am Beispiel Wyhl (vgl. Eith 2012; Milder 2014) lässt sich paradigmatisch zeigen, wie zuvor eher unpolitische Gruppen zunächst für den Protest gegen ein konkretes Projekt gewonnen wurden und sich in der Folge immer breiter umweltpolitisch interessierten – ein typisches Politisierungsmuster der gesamten Umweltbewegung. Ebenfalls an diesem Beispiel lässt sich der Aufbau alternativer wissenschaftlicher Expertise nachvollziehen, die als Gegengewicht gegen die Deutungshoheit der etablierten Wissenschaft gedacht war. Ein Beispiel wäre die Gründung des Öko-Instituts in Freiburg, das heute einer der größten einschlägigen Thinktanks ist. Mobilisierend gegen Atomkraftwerke wirkte in den ersten Jahren auch die Möglichkeit, ‚linke‘ Themen wie die angebliche Hörigkeit der Politik gegenüber der Industrie zu thematisieren. Zudem stand für viele Beobachter der Staat im Verdacht, die Atomkraft mit Polizeistaatsmethoden durchsetzen zu wollen. Binnen eines Jahrzehnts wendete sich die Stimmung: War zu Beginn der 1970er-Jahre die Mehrheit der Bevölkerung gegenüber der Nutzung der Kernkraft positiv eingestellt, gibt es seit den frühen 1980er-Jahren in Deutschland keine Mehrheit mehr dafür. Folglich wurden seit dieser Zeit auch keine neuen Kraftwerke mehr geplant. Daneben konnte die Antiatomkraftbewegung einen weiteren Erfolg verbuchen, als 1989 das Aus für eine seit Langem im oberpfälzischen Wackersdorf geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage kam. Danach schwelte nur noch der Konflikt um das im Wendland bei Gorleben geplante Endlager für abgebrannte Brennstäbe. Seit 2013 wird die Suche nach einem Endlager auf andere Regionen in Deutschland ausgedehnt. Zur Antiatomkraftbewegung gibt es bislang hauptsächlich Einzelstudien (z.B. Kupper 2003a; Tiggemann 2004), eine umfassende Darstellung steht

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11 Natur- und Umweltschutzbewegung in Deutschland

noch aus. Freilich hat das wissenschaftliche Interesse an der Geschichte der Kernkraft seit dem zweiten Ausstiegsbeschluss der Bundesregierung von 2011 enorm zugenommen, inklusive einiger Arbeiten zur Reaktion auf die Katastrophe von Tschernobyl (vgl. Arndt 2011; Kalmbach 2014; Kirchhof/Meyer 2014). 11.4 Aktuelle Forschungsthemen und Desiderate

Ihren politischen Erfolg verdankte die Partei Die Grünen nicht zuletzt der Tatsache, dass sie zu Beginn der 1980er-Jahre die einzige politische Kraft war, welche sich konsequent gegen die Kernkraft wandte. Die Grüne Partei wurzelte u.a. in der Umweltbewegung und einer Vielzahl von Bürgerinitiativen, darunter auch rechtskonservativen Kräften, die freilich nach wenigen Jahren aus der Partei ausgeschlossen wurden. So waren die Grünen nicht in erster Linie eine ‚linke‘ Kraft als vielmehr eine Partei, die neue Formen der politischen Artikulation und des politischen Stils nutzte. Auch wenn die Grünen bis heute hauptsächlich als Umweltpartei wahrgenommen werden, vertraten sie schon immer ein breites Spektrum von Themen, darunter gesellschaftspolitische (Frauenrechte), außen- und sicherheitspolitische (Abrüstung) sowie sozialpolitische. Die historische Forschung zu den Grünen steht trotz einer ersten umfassenden Studie zum Gründungsprozess noch in ihren Anfängen (vgl. Mende 2011). Der Aufstieg der Grünen Partei bis in die Bundesregierung 1998, aber auch die Karriere von einstmals alternativen Nichtregierungsorganisationen wie etwa von Greenpeace oder des Öko-Instituts, sind beredte Zeichen dafür, dass die Anliegen, zum Teil aber auch die Verhaltensweisen der Umweltbewegung spätestens im Laufe der 1990er-Jahre im gesellschaftlichen Mainstream angekommen sind und in vielen Fällen Teil des politischen Konsens in Deutschland wurden (vgl. Engels 2008). Diese Prozesse auch anhand von Medienentwicklung und Organisationsgeschichte zu analysieren, bleibt eine Aufgabe der Umweltgeschichtsschreibung. Die Geschichte der Umweltbewegung wurde bislang hauptsächlich als eine Geschichte Westdeutschlands erzählt. Doch auch in Ostdeutschland ist die Tradition des staatlichen Naturschutzes, durchaus mit Restbeständen bürgerlichen Selbstverständnisses, nach dem Zweiten Weltkrieg fortgeführt worden. In den 1980er-Jahren bildete die Umweltbewegung einen Freiraum, der zunehmend politische Opposition ermöglichte. Zwar gibt es einige Studien zur DDR, doch

11.4 Aktuelle Forschungsthemen und Desiderate

sind sie noch nicht zahlreich und umfangreich genug, um der westdeutschen Perspektive ein gleichwertiges Pendant entgegenzusetzen (vgl. Behrens 2007; Dix 2002; Huff 2013). In den letzten Jahren hat sich der Blick auf die (deutsche) Natur- und Umweltschutzbewegung geweitet. Seitdem werden internationale Verflechtungen und Zusammenhänge betont, beispielsweise das Feld der Umweltdiplomatie seit dem frühen 20. Jahrhundert (vgl. Wöbse 2012) und die Anfänge europäischer, internationaler und zunehmend transnationaler Umweltpolitik seit der ökologischen Wende (Schulz-Walden 2013). Hinzu kommt das wachsende Bewusstsein dafür, dass die zivilgesellschaftlichen Akteure schon sehr früh international vernetzt waren (vgl. Kirchhof/Meyer 2014). Auch die koloniale Dimension des Naturschutzes wurde in den letzten Jahren entdeckt: Schutzkonzepte und die Repräsentation von Natur wurden in hohem Maß durch Erfahrungen mit sogenannten Schutzgebieten in den deutschen Kolonien geprägt (vgl. Gißibl 2014). Zu den Forschungsdesideraten gehört ein genauerer Blick auf geschlechtsspezifisches Engagement und Verhaltensmuster (vgl. Ahr 2013). Zudem sollten nationale und internationale Netzwerke der Natur- und Umweltschützer verstärkt untersucht werden, um Techniken der Einflussnahme, aber auch die Zirkulation von Ideen und Zielen besser zu verstehen (vgl. Hünemörder 2003; Engels 2006b). Die enorme Bedeutung der Kirchen für die frühe Umweltbewegung rückt erst langsam ins Augenmerk (vgl. Schüring 2012). Auch die mediale Darstellung von Umweltthemen, insbesondere die visuelle Geschichte des Umweltschutzes, birgt noch viel Potenzial (vgl. Wöbse 2005). Allerdings sind bereits wichtige Schritte in diese Richtung getan worden, etwa zu einzelnen Journalisten oder Publizisten, im deutschen Fall vor allem zu Bernhard Grzimek (vgl. Engels 2003, Paulmann 2008). Zudem gibt es Arbeiten über Umweltskandale, falsche Ökoalarme und ökologische Erinnerungsorte – allesamt zentrale Bausteine für eine künftige Geschichte der Repräsentation von Umweltproblemen im 20. Jahrhundert (vgl. Uekötter/Hohensee 2004, Uekötter 2014a). Weitere Zukunftsaufgaben der Forschung liegen darin, die besonderen Bedingungen von Umweltengagement in Städten und im kommunalpolitischen Umfeld zu explorieren. Auch der Blick auf die Gegenseite, also jene Akteure, die dem Natur- und Umweltschutz skeptisch gegenüberstanden, wurde häufig vernachlässigt (vgl. Uekötter 2004).

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11 Natur- und Umweltschutzbewegung in Deutschland

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12 Literatur und Umweltgeschichte/Environmental Studies Urte Stobbe 12.1 Umweltgeschichte/Environmental Studies als interdisziplinäres Forschungsfeld

Umweltgeschichte stellt kein eigenes Fach oder eine eigene Disziplin dar, sondern bezeichnet ein Forschungsfeld, das sich der Erforschung der naturalen Umwelt unter Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven und Wissensbestände widmet. Während Umweltgeschichte an eine Teildisziplin der Geschichtswissenschaft denken lässt, erweist sich die anglophone Bezeichnung Environmental Studies als die umfassendere und damit geeignetere. Im Untersuchungsfokus stehen nicht nur die verschiedenen sozialen Umweltbewegungen und die daraus resultierenden Bemühungen um den Schutz und Erhalt von ‚Natur‘ (vgl. Kap. 11), sondern auch die regional unterschiedlichen Landnutzungssysteme und ihre Auswirkungen auf die Umwelt, auf technik-, agrar-, forst- und klimageschichtliche Aspekte, die Entwicklung von Handel, Transport und Verkehr sowie Urbanisierungs- und Migrationsprozesse. Dabei geraten auch Pflanzen und Krankheitserreger in den Blick, die den Verlauf der Geschichte gravierend verändert haben. Um Umweltbedingungen der Vergangenheit zu rekonstruieren, reicht das Methodenspektrum von der Isotopenbestimmung und Dendrochronologie über archäologische Ausgrabungen bis hin zur Auswertung historischer Karten, Urkunden und Akten. Im Idealfall setzt die Erforschung von Umweltbedingungen und deren Wandel Synergien zwischen den einzelnen Wissensgebieten und Wissenschaftsfeldern frei und ermöglicht einen fächerübergreifenden Zugriff. Die Forschungen im Bereich Umweltgeschichte bzw. Environmental Studies haben sich in den letzten Jahren stark ausdifferenziert und zahlreiche thematische Ausweitungen erfahren. Die verschiedenen Erklärungsmodelle zum Mensch-Natur-Verhältnis und die unterschiedlichen Konzepte bzw. Narrative zur Darstellung historischen Umweltwandels werden kritisch reflektiert (vgl. z.B. Winiwarter/Knoll 2007, 115–146); dabei finden auch die national differierenden Sonderentwicklungen Berücksichtigung (vgl. 30–70). So ist für den deutschen Kontext spezifisch, dass v.a. Medien wie das Wochenmagazin

12.2 Zum spezifischen Aussagewert von Literatur für umwelthistorische Fragestellungen

Der Spiegel in den 1980er-Jahren das Waldsterben, die Vergiftung von Lebensmitteln und die Verschmutzung der Meere auf den Titelblättern als politisch und gesellschaftlich brisante Umweltthemen lancierten. War Ökologie zuvor ein Thema, dem sich hauptsächlich die Naturwissenschaften, v.a. die Biologie, widmeten, nehmen sich seit einigen Jahren auch die Geschichtswissenschaften dieses Themas intensiv an (z.B. Brüggemeier 1996; Uekötter 2007; Blackbourn 2008; Radkau 2012; Trepl 2012). Umweltgeschichte beschäftigt sich jedoch nicht nur „mit der Rekonstruktion von Umweltbedingungen in der Vergangenheit“, sondern auch „mit der Rekonstruktion von deren Wahrnehmung und Interpretation durch die damals lebenden Menschen“ (Winiwarter/Knoll 2007, 14 f.). In diesem Zusammenhang spielen (literarische) Texte eine zentrale Rolle, legen sie doch Zeugnis ab von den Wünschen, Hoffnungen und Bedürfnissen der Menschen in Auseinandersetzung mit ihrer physischen Umwelt. Schon parallel zur Etablierung umwelthistorischer Forschungsthemen gab es kulturgeschichtlich ausgerichtete Studien zu Fragen der Naturästhetik (z.B. Böhme 1989), der Naturwahrnehmung (z.B. Groh/Groh 1991), der Ökologie (z.B. Hermand 1993) sowie der Elemente (z.B. Böhme/Böhme 1996). Literarische Texte werden in diesem Zusammenhang zu „kulturhistorische[n] Dokumente[n] der Auseinandersetzung mit Naturgewalten“ (Böhme/Böhme 1996, 276). 12.2 Zum spezifischen Aussagewert von Literatur für umwelthistorische Fragestellungen

Literatur hat in den bisherigen umweltgeschichtlichen Forschungen allenfalls am Rande eine Rolle gespielt. Im Folgenden soll für eine stärkere Berücksichtigung plädiert werden. Festhalten lässt sich zunächst, dass sich das Literaturverständnis in den letzten drei Jahrzehnten signifikant verändert hat. Wurde die Beziehung eines Textes zur Wirklichkeit zunächst als bloßes VordergrundHintergrund-Verhältnis aufgefasst, werden Texte mittlerweile im Sinne Moritz Baßlers als Teil des kulturellen Archivs gelesen, wobei von einem weiten Literaturbegriff ausgegangen wird. Zudem haben sich nicht nur die Themen in der Literatur verändert, sondern auch die Schwerpunkte der Erforschung historischer Umweltbedingungen und des Mensch-Natur-Verhältnisses. Zwar gibt es erste literaturgeschichtliche Ansätze zu einem Epochenüberblick mit ökolo-

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12 Literatur und Umweltgeschichte/Environmental Studies

gisch orientierter Perspektive (Krüger 2001; Liston 2011), doch ist der Grad der Erforschung derzeit noch nicht hinreichend für gesicherte Aussagen. Insbesondere im Bereich der germanistischen Literaturwissenschaft lässt sich, abgesehen von einzelnen grundlegenden Studien (z.B. Goodbody 1984; Wanning 2005) und Sammelbänden (z.B. Goodbody 1998; Morris-Keitel/Niedermeier 2000; Goodbody 2007; Ermisch/Kruse/Stobbe 2010), erst in den letzten Jahren ein steigendes Interesse an ökologischen Fragestellungen beobachten. Axel Goodbody hat indes mit seinem Umwelt-Lesebuch (1997) schon relativ früh Beispiele der deutschsprachigen Literatur zusammengestellt, die sich zur Beantwortung umwelthistorisch relevanter Fragestellungen anbieten. Literarischen Texten lässt sich ein jeweils unterschiedlicher Aussagewert für die Erforschung des Mensch-Natur-Verhältnisses und damit einhergehenden umweltbezogenen Themen zusprechen. Die Anschlussfähigkeit zwischen Umweltgeschichte und Literatur(-wissenschaft) basiert auf einem Literaturverständnis, das in Literatur entweder schwerpunktmäßig (1) einen Speicher historischer Umweltnutzung und -wahrnehmung, (2) ein Reflexionsmedium von Natur- und Technikkatastrophen, (3) ein Archiv von teils gegendiskursivem Wissen über das Mensch-Natur-Verhältnis sieht, oder (4) ihr eine potenziell wirklichkeitspräfigurierende Funktion zuspricht – mit allen denkbaren Kombinations- und Überschneidungsmöglichkeiten. Diese Unterteilung ist an das kulturökologische Modell Hubert Zapfs (2008) angelehnt, das nach dem jeweiligen kreativen Potenzial literarischer Texte fragt (vgl. Kap. 14), aber sie unterscheidet sich durch die stärkere Fokussierung auf umwelthistorische Forschungsfragen. Zapfs Rede vom ‚kreativen Potenzial‘ von Literatur ist deshalb so fruchtbar, weil sie von der prinzipiellen Deutungsoffenheit von Kunst einschließlich der Literatur ausgeht. Wenn also im Folgenden Beispieltexte angeführt werden, soll damit nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um genuin ökologische Texte handelt, sondern dass sich diese Texte potenziell für ökologisch bzw. umwelthistorisch orientierte Lesarten anbieten. (1) Literatur als Speicher historischer Umweltnutzung und -wahrnehmung: Diese in den 1980er- und 1990er-Jahren präferierte Betrachtungsweise spricht Kunsterzeugnissen eine illustrierende Funktion bei der Technikfolgenabschätzung zu, als die sich umwelthistorische Forschung zu dieser Zeit zumindest teilweise verstand. So werden in der Studie von Bernhard Buderath und Henry Makowski (1986) einzelne Gemälde nebeneinander aus zwei Perspektiven analysiert:

12.2 Zum spezifischen Aussagewert von Literatur für umwelthistorische Fragestellungen

einer kunsthistorischen und einer umweltgeschichtlichen. Behandelt werden aus dieser Doppelperspektive verschiedene landschaftliche Erscheinungsformen samt ihren Nutzungs- und Bewirtschaftungsformen, wie sie in der Landschaftsmalerei sujethaft vergegenwärtigt sind: Park und Garten, Landwirtschaft in Feld und Flur, Jagd und Wald, Wasser, Heide und Sand, Moor, Meer sowie das Gebirge. In dieser Studie manifestiert sich eine Herangehensweise, die in Landschaftsgemälden einen Speicher historischer Nutzungs- und Wahrnehmungsformen von Natur sieht, die sich auch auf die Betrachtung von Literatur übertragen lässt. Entsprechend vereint auch die Anthologie Quellentexte zur Geschichte der Umwelt von der Antike bis heute (Bayerl/Troitzsch 1998) literarische und nichtliterarische Texte aus unterschiedlichen Jahrhunderten, denen ein Quellenwert für die Untersuchung historischer Umweltbedingungen zugesprochen wird. Der für die Umweltgeschichte zentrale Begriff Ökologie geht auf Ernst Haeckel zurück und steht in engem Zusammenhang mit der Vorstellung einer sich im Gleichgewicht befindlichen Natur. Ausgehend von diesem Ökologieverständnis werden sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch vereinzelt in der Literaturwissenschaft Aspekte der Technikkritik und Umweltverschmutzung untersucht (z.B. Sieferle 1984; Segeberg 1987; Cella 1990). Wilhelm Raabes Pfisters Mühle (1884) gilt diesbezüglich als zentraler deutschsprachiger Text, thematisiert er doch die Wechselseitigkeit der anthropogenen Verschmutzung von Flüssen und die damit einhergehenden Folgen für den Menschen (vgl. Kaiser 1991, 81–110; Wanning 2005, 347–420). W. G. Sebalds literarischer Reisebericht Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt (1995) hingegen schildert zahlreiche Begegnungen mit geschundenen Orten, Menschen und Tieren. Ob die einst florierenden Orte der Heringsfischerei oder der Seidenraupenzucht – ganze Landstriche Großbritanniens befinden sich in der Wahrnehmung des reisenden Ich-Erzählers in einem Zustand des menschengemachten Zerfalls und erinnern an die zweifelhafte Nutzbarmachung der Natur durch den Menschen. (2) Literatur als Reflexionsmedium von Natur- und Technikkatastrophen: ­Literarische Texte können von Natur- und Technikkatastrophen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft handeln. G. Böhme und H. Böhme (1996) unterscheiden diesbezüglich drei Modi der Auseinandersetzung des Menschen mit den Naturgewalten: eine mythisch-religiöse, eine emotional-moralische und eine technische, wobei sie bei der zeitlichen Abfolge von einem Nacheinander ausgehen, das zunehmend in ein Nebeneinander übergeht (297). Dass

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12 Literatur und Umweltgeschichte/Environmental Studies

­ ata­s­trophen immer auch auf spezifische Weise (z.B. politisch oder religiK ös) ­gedeutet werden, zeigt der Sammelband Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs des 18. Jahrhunderts (Lauer/Unger 2008) sowie Gabriele Dürbecks Untersuchung der verschiedenen Semantiken von literarischen ­Katastrophendarstellungen (2012); Peter Utz (2013) zeigt die Relevanz von Katastrophen für die Bildung und Stärkung des nationalen Selbstverständnisses in der Schweizer Literatur vom 19. bis 21. Jahrhundert. Eine warnende und reflektierende Funktion bei der literarischen Darstellung von Natur- und Technikkatastrophen zeigt sich besonders in den 1980er-Jahren. So thematisiert die Ich-Erzählerin in Christa Wolfs Erzählung Störfall. Nachrichten eines Tages (1987) nicht nur die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl, sondern geht auch den Verdrängungsmechanismen unserer Kultur nach, die zur Entwicklung selbstzerstörerischer Techniken führen. Günter Grass verbildlicht in Totes Holz (1990) das Waldsterben und greift in seinem Nachwort auch das Robbensterben, Tschernobyl und das Ozonloch auf, wobei er das Verhalten großer Teile der Bevölkerung kritisiert, nach Katastrophenmeldungen rasch wieder zur Tagesordnung überzugehen. Wie die Welt kurz vor bzw. kurz nach einer globalen Katastrophe aussehen könnte, imaginieren Wolfgang Hildesheimers Hörspiel Sphärenklänge (1988) und Herbert Rosendorfers Roman Großes Solo für Anton (1981) auf eindringliche Weise. Andere Texte wie z.B. I Promessi Sposi (1840–42) von Alessandro Manzoni, Theodor Storms Der Schimmelreiter (1888) oder John Steinbecks The Grapes of Wrath (1939) handeln vordergründig von der Pest, einer Sturmflut und einer großen Dürre. Überlagert, wenn nicht verstärkt, werden diese existenzbedrohenden Szenarien zugleich von unterschiedlich gelagerten sozialen Konflikten, die um Fragen der Macht und Deutungshoheit kreisen. Bei Manzoni wird die Krankheitsbekämpfung durch Machtinteressen seitens der Kirche verhindert, indem sie das bereits vorhandene Wissen um eine wirksame Begrenzung der Epidemie unterdrückt; im Schimmelreiter findet das Wissen um die richtige Art des Deichbaus, für das der Deichgraf Hauke Haien eintritt, keine Anerkennung und kann sich nicht durchsetzen, sodass der alte Deich den Wasserfluten nicht standhalten kann; Steinbeck lässt große Teile der Bevölkerung westwärts nach Kalifornien ziehen, da in ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet die klimatischen Veränderungen ein Leben von ihren eigenen Erzeugnissen nicht mehr möglich machen, woraufhin sie als Klimaflüchtlinge dem ausbeuterischen Sys-

12.2 Zum spezifischen Aussagewert von Literatur für umwelthistorische Fragestellungen

tem der Orangenplantagenbesitzer ausgeliefert sind. Zugleich lassen sich Störfall, Der Schimmelreiter und I Promessi Sposi als Beispiele für die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und ökologischem Wissen begreifen. (3) Literatur als Archiv von teils gegendiskursivem Wissen über das MenschNatur-Verhältnis: Das Handbuch Literatur und Wissen (Borgards u.a. 2013) beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Literatur und Wissen und fragt: „Reagiert Literatur auf Wissen? Beinhaltet Literatur Wissen? Ist Literatur Wissen? Was unterscheidet das Wissen von der Wissenschaft?“ (1, Hervorh. im Original). Betrachtet man vor diesem Hintergrund z.B. Max Frischs Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän (1979), zeigt sich darin ein Wissen über evolutionäre Prozesse und die Stellung des Menschen in der Natur, das sich auch als Gegenposition zur dominanten Vorstellung der beständigen Weiter- und Höherentwicklung des Menschen lesen lässt (Stobbe 2014). Literatur vermag indes auch den Willen zur Zerstörung von Natur zu thematisieren, wie etwa Alfred Döblins Die Ermordung einer Butterblume (1912). Die Erzählung handelt von einem Kaufmann namens Michael Fischer, den während einer Wanderung die Lust übermannt, eine Butterblume mit seinem Wanderstab abzuschlagen. Beschrieben wird nicht nur der Hergang der Tat selbst, sondern auch die wechselnden Gefühle seitens des Protagonisten in der Zeit danach, die von Reue über den Willen zum Vergessen bis hin zur Schuldkompensation reichen, bis diese erneut in Mordlust umschlägt. Ein ähnlich gelagertes Phänomen beschreibt Marie Luise Kaschnitz in Der alte Garten (postum 1975). Ein Junge und seine kleine Schwester dringen in diesem Märchen aus Eroberungs- und Zerstörungslust in einen alten Garten ein und verletzen bzw. töten dort wehrlose Pflanzen und Tiere, bis der Rat aller Lebewesen und Naturgeister zusammentritt, um sie zu bestrafen. Der Wunsch, den Kindern gleiches Leid zuzufügen, wird aus Mitleid abgemildert und die Kinder werden auf eine Reise durch das gesamte Naturreich geschickt, von der sie schließlich geläutert zurückkehren. In latenter Form wird insbesondere in romantischen Kunstmärchen das Bestreben kritisiert, alles genau ergründen und beschreiben zu wollen, um es auf diese Weise indirekt zu vernichten. Die Figur des Magisters Tinte in E. T. A. Hoffmanns Das fremde Kind (1817) ist dafür prototypisch. Zudem teilt sich das Geheimnis von einem stets bedrohten, verletzbaren Gleichgewicht in der Natur nur wenigen Auserwählten mit. Dabei zerstört insbesondere die Gier nach Gold bzw. Reichtum die vormalige Harmonie zwischen Mensch

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12 Literatur und Umweltgeschichte/Environmental Studies

bzw. Kind und Natur, wie es beispielsweise in Ludwig Tiecks Der blonde Eckbert (1797), Der Runenberg (1804) und Die Elfen (1811), in abgewandelter Form auch noch in Wilhelm Hauffs Das kalte Herz (1827), thematisiert wird. Literarische Texte vermitteln also nicht zwingend naturwissenschaftliches Wissen, sondern sie geben Auskunft über unterschiedliche Verhaltensweisen des Menschen im Umgang mit Natur. Genau jene konkurrierenden kulturellen Deutungsmuster hinsichtlich des Mensch-Natur-Verhältnisses sind es, die Zapf meint, wenn er in Anlehnung an Ottmar Ette konstatiert: „Literatur ist in dieser Sicht nicht einfach die Illustration der Erkenntnisse anderer Disziplinen und eine deren ‚eigentlichem‘ Wissen nachgeordnete Form bloß abgeleiteter Wissensvermittlung. Sie ist vielmehr eine eigenständige Form der Erkenntnis“ (Zapf 2008, 17). Die Stärke von Literatur liege gerade in ihrer „semantischen Unbestimmtheit“ und der „metaphorischen, narrativen und ästhetischen Form der Erfahrungsverarbeitung“ (21). Andrew Liston sieht ähnlich wie Zapf in Literatur einen Raum, in dem Gedanken über die Zukunft frei von der Verpflichtung eines wissenschaftlichen Nachweises formuliert werden können: „Literature, unlike science, offers an alternative discourse, a realm for discussion and imaginative speculation on this unknown future“ (Liston 2001, 24). (4) Zur potenziell wirklichkeitspräfigurierenden Funktion von Literatur: Literarische Texte können wirkmächtige Bilder einer angenommenen Realität entwerfen, die mittelfristig den Umgang des Menschen mit der nicht-menschlichen Umwelt verändern können. Es ist keine neue Erkenntnis, dass unsere Vorstellungen von schöner Natur, unser Verhältnis zur Natur sowie insgesamt unser Selbstverständnis als Teil der Natur auch durch Texte produziert werden. Literatur komme, so Goodbody (1998, 25), die Funktion zu, unsere Wahrnehmung von Natur und Umwelt nicht nur zu repräsentieren, sondern auch zu präfigurieren, denn die Vorstellungen und Repräsentationen von Natur sind es, die unsere Art des Umgangs mit der nicht-menschlichen Umwelt und den natürlichen Ressourcen beeinflussen können. Die Literaturgeschichte kennt viele Beispiele für Gegenwartskritik im historischen oder phantastischen Gewand, indem aktuelle Konflikte und denkbare Lösungs- und Verstrickungspotenziale in Form von Utopien und Dystopien in eine zeitlich und räumlich (meist) ferne Welt verlagert werden. Die fiktionalen Welten können also indirekt ­eine Aussage über die Umweltbedingungen zur Entstehungszeit eines Werks enthalten; zugleich ist aber auch das Entwerfen künftiger Handlungsoptionen in

12.3 Perspektiven einer interdisziplinären Zusammenarbeit

Auseinandersetzung mit vermeintlich vergangenen Konflikten möglich. Insbesondere während der 1980er-Jahre sahen sich zahlreiche Autoren in der Rolle des Mahners und machten die damals aktuellen Gefahren für Mensch und Umwelt zum Gegenstand ihrer Werke. Mittlerweile haben sich zwar viele der damaligen Befürchtungen als „falsche Ökoalarme“ erwiesen, doch waren sie an der Entstehung des Vorsorgeprinzips und zahlreichen gesetzlichen Regelungen vorbereitend beteiligt, wie die Herausgeber des gleichnamigen Sammelbandes betonen (Uekötter/Hohensee 2004, 11). In welchem Maße literarische Texte an diesen Prozessen direkt oder indirekt Anteil hatten und haben, dazu stehen noch Untersuchungen aus. 12.3 Perspektiven einer interdisziplinären Zusammenarbeit

Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive betrachtet, beziehen sich die bisherigen Ausführungen auf den Erkenntnisgewinn von Literatur aus der ersten (der des Autors bzw. der Erzählinstanz in literarischen Texten) und der zweiten Beobachterperspektive (der des Interpreten bzw. Literaturwissenschaftlers). Die jeweils präferierte Lesart ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig, die sowohl innerhalb des Textes (z.B. der Erzählperspektive, der autor- und/oder epochenspezifischen Bildsprache und insgesamt den literarischen Darstellungskonventionen) als auch außerhalb des Textes (auf der Basis einer Kontextualisierung gemäß dem jeweiligen Interpretationsansatz) zu suchen sind. Außertextuelle Referenzen wie z.B. die Frage, ob es sich bei der Beschreibung eines Waldes um die eines Gebietes mit einer regional spezifischen Flora und Fauna handelt, wurden lange Zeit mit dem Argument ausgespart, dass ausschließlich der Text zähle und nur die im Text konstruierte Welt relevant für die Interpretation sei. Im Zuge des Material Turn zeichnen sich indes diesbezüglich Veränderungen ab. Indem den materiell greifbaren Objekten (wieder) mehr Gewicht beigemessen wird, öffnen sich Möglichkeiten für eine stärkere Berücksichtigung außertextueller Realien bei einer ökologisch orientierten Literaturinterpretation. Aus der dritten Beobachterperspektive kommt die Selbstverortung der einzelnen Forschenden in den entsprechenden Wissens- und Wissenschaftsfeldern in den Blick. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Literaturwissenschaft und anderen Disziplinen lässt sich zwischen zwei Polen aufspannen: a) Bei der Literaturinterpretation wird der außertextuelle Kontext um um-

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12 Literatur und Umweltgeschichte/Environmental Studies

welthistorisch relevante Aspekte additiv erweitert. Im oben skizzierten Beispiel würde das z.B. eine Berücksichtigung forstgeschichtlicher Studien bzw. nichtliterarischer Quellen bedeuten, die Auskunft über die damaligen Wald- und Waldbewirtschaftungsformen geben, um auf dieser Basis zu entscheiden, ob etwas vom Untergang Bedrohtes oder bereits Verlorenes im Medium der Literatur sentimentalisch wieder auflebt oder ob die Beschreibung des Waldes auf die alltägliche Lebenswelt rekurriert. Dies ist die schwächste Form von Interdisziplinarität. b) Themen wie z.B. der Klimawandel bieten die Möglichkeit einer Begegnung der Geistes-/Kultur- mit den Natur- und Sozialwissenschaften, da sich bestimmte Risikonarrative in literarischen wie nicht-literarischen Medien gegenseitig beeinflussen und verstärken können. Verstehen sich also die ökologisch orientierten Literaturwissenschaften als Teil der breiter aufgestellten Environmental Studies, ließe sich dies als stärkste Form der Interdisziplinarität beschreiben. Ansätze des Ecocriticism könnten bei diesem Prozess die Funktion eines Bindeglieds oder eines Scharniers einnehmen. Wie eng im anglophonen Bereich der Ecocriticism mit umwelthistorischen Fragestellungen zusammengedacht wird, zeigt die Einführung von Greg Garrard zum Ecocriticism (2012). Die darin behandelten Themen wie Verschmutzung, Wildnis, Apokalypse, Wohn- und Lebensformen (‚Dwelling‘), Tiere und die Erde als Ganzheit decken sich mit denen umwelthistorischer Studien. Ursula Heise indes knüpft in ihrem zentralen Artikel zum Ecocriticism im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie an die Forschungstradition der Stoff- und Motivgeschichte bzw. die Untersuchungen zu literarischen Repräsentationsformen von Natur an. Erst diese Forschungen machen ökologisch orientierte Interpretationsansätze anschlussfähig sowohl für texthermeneutische als auch für kulturwissenschaftlich ausgerichtete Analyseverfahren. Denn im Ecocriticism wird nicht nur nach „Konzepte[n] und Repräsentationen der Natur [gefragt], wie sie sich in verschiedenen historischen Momenten in bestimmten Kulturgemeinschaften entwickelt haben“, sondern auch, „wie das Natürliche definiert und der Zusammenhang zwischen Menschen und Umwelt charakterisiert wird und welche Wertvorstellungen und kulturellen Funktionen der Natur zugeordnet werden“ (Heise 2008, 146). Fünf Jahre später warnt Ursula Heise diesbezüglich jedoch vor einem „populärökologische[n] Naturbegriff“, der „die Natur seit der Romantik sentimentalisiert, feminisiert und sie nach dem Entstehen der modernen Gesellschaft als stetig im Abbau begriffen darstell[t]“ (Heise 2013, 225).

12.4 Literaturverzeichnis

Im Zuge der ökologisch orientierten Relektüren teils kanonischer Texte rücken vermehrt philosophische Fragen hinsichtlich des Mensch-Natur-Verhältnisses in den Vordergrund. Menschen sind demnach nicht als Gegenpart zur Natur aufzufassen, sondern als Teil der Natur und damit als ein Wesen, das ebenso evolutionsbiologischen und erdgeschichtlichen Prozessen unterworfen ist wie Tiere und Pflanzen (Zapf 2008, 26). Mehr noch: Aussagen über Natur enthalten laut Lothar Schäfer immer auch Aussagen über den Menschen selbst. Die unterschiedlichen Naturvorstellungen und -begriffe – sei es „Natur als harmonische Ordnung, als perfektes Uhrwerk, als Gesamtorganismus, als durchgängige Zweckmäßigkeit oder als kontingente Konstellation von Atomen“ – basieren weniger auf einer „wie immer gearteten Erkenntnis der Natur“ als vielmehr auf „jeweils anderen Selbstentwürfen des Menschen“ (Schäfer 1997, 9 u. 11). Philosophisch betrachtet gibt es also kein Reden und Schreiben über Natur ohne anthropozentrische Perspektive. Mit Lorraine Daston und Peter Galison (2007) ließe sich aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive hinzufügen: auch kein vermeintlich objektives Wissen über Natur. Bleibt am Ende festzuhalten, dass ökologisch bzw. umwelthistorisch orientierte Textinterpretationen das Potenzial haben, einen relevanten Beitrag für die Erforschung historischer und gegenwärtiger Repräsentations- und Imaginationsformen von ‚Natur‘ zu liefern. Denn Literatur vermag in besonderem Maße kulturelle Deutungsmuster zu transportieren und zu entwickeln, die die Selbstverortung des Menschen in und den Umgang mit der Natur verstehen helfen. Literarische Texte bleiben (oder sollten es zumindest) also auch bei einem ökologisch orientierten Forschungsinteresse weiterhin Gegenstand literaturwissenschaftlicher Studien. Neuere umwelthistorische Themen, wie z.B. die Erforschung aquatischer Räume, die Verschmutzung durch Lärm und Licht wie insgesamt die Untersuchung von Geräuschen, von Ressourcen- bzw. Stoff- und Konsumgeschichte oder das Verhältnis des Menschen zu anderen Spezies, bieten sich ebenfalls für literaturwissenschaftliche Expertise an. Im Idealfall können alle an den Environmental Studies beteiligten Disziplinen von einer gemeinsamen Erforschung umwelthistorischer Fragestellungen gleichermaßen profitieren. 12.4 Literaturverzeichnis

Bayerl, Günter/Troitzsch, Ulrich: Quellentexte zur Geschichte der Umwelt von der Antike bis heute. Göttingen 1998.

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12 Literatur und Umweltgeschichte/Environmental Studies

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12.4 Literaturverzeichnis

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13 Kritische Theorie und Ecocriticism Timo Müller

Im Zuge seiner theoretischen Selbstreflexion ist sich der Ecocriticism im Laufe der Zeit einiger Gemeinsamkeiten mit der Kritischen Theorie bewusst geworden. Zu ihnen gehört die grundlegende Diagnose der Naturentfremdung und die daraus resultierende Skepsis gegenüber der modernen Industriegesellschaft, aber auch die Ablehnung der subjektzentrierten Erkenntnislehre, wie sie von Kant bis hin zum Poststrukturalismus das westliche Denken gekennzeichnet hat. Die Kritische Theorie wurde also in mehrfacher Hinsicht zu einer wichtigen Vorläuferbewegung sowohl des deutschen als auch des internationalen Ecocriticism. Sie bildete eine konzeptuelle Brücke von der vorkantianischen zu jener Naturphilosophie, die in Deutschland im Zuge der Umweltbewegung der 1980er-Jahre entstand und deren wichtigste Repräsentanten, die Brüder Gernot und Hartmut Böhme, als frühe Vertreter eines deutschen Ecocriticism gesehen werden können. In derselben Traditionslinie hat sich in Deutschland ein kultur­ ökologischer Ansatz herausgebildet, der einen international wahrgenommenen Beitrag zur ökokritischen Theoriebildung darstellt (vgl. Zapf 2002 u. 2008). Im englischsprachigen Ecocriticism, in dem sich die Forschungsdiskussion von jeher zu einem großen Teil abspielt, ist die Kritische Theorie dagegen vorwiegend als theoretische Überbrückung des Gegensatzes von biologistischen und konstruktivistischen Ansätzen rezipiert worden, der ab etwa der Jahrtausendwende zunehmend kontrovers diskutiert wurde (vgl. Morton 2007; Wilke 2009). Anhand der beiden wirkmächtigsten Vertreter der Kritischen Theorie, Walter Benjamin und Theodor Adorno, sollen diese Entwicklungslinien im Folgenden genauer aufgezeigt werden. Zunächst werden Benjamins Überlegungen zur Natursprache und Adornos Naturästhetik überblickshaft referiert und auf ihre epistemologischen Implikationen hin befragt. Im Anschluss wird ihr Einfluss in drei Spielarten des Ecocriticism untersucht, die sich seit den 1980er-Jahren in dieser Reihenfolge herausgebildet haben: der ökologischen Ästhetik, der Umweltethik und dem konstruktivistischen Ecocriticism.

13.1 Walter Benjamins Überlegungen zur Natursprache

13.1 Walter Benjamins Überlegungen zur Natursprache

Die zentrale Rolle der Sprache in Benjamins Philosophie ist in der Forschung wiederholt herausgestellt worden (vgl. Bolz/van Reijen 1991, 41). Der frühe Essay Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen (1916) kann nicht nur als grundlegend für das Gesamtwerk gesehen werden, sondern begründet auch Benjamins Einfluss auf den deutschen Ecocriticism. Während Benjamins weitere Texte erst seit Kurzem auf ihre ökologischen Implikationen hin untersucht werden (vgl. Sandilands 2011; Gersdorf 2013), haben auf seine Sprachenlehre und die damit verbundene Epistemologie sowohl die ökologische Ästhetik als auch verschiedene konstruktivistische und kulturökologische Ansätze zurückgegriffen. Dies gilt insbesondere für Benjamins Grundannahme, dass nicht nur der Mensch eine Sprache besitzt, sondern auch die „Dinge“, also die materielle Welt. Der Unterschied, so Benjamin, bestehe lediglich darin, dass die Sprache des Menschen eine „benennende“ sei, die Sprache der Dinge dagegen eine lautlose, in welcher Kommunikation „durch eine mehr oder minder stoffliche Gemeinschaft“ erfolge (Benjamin 1916, 143 u. 147). Benjamin begründet dies metaphysisch: Das „Wesen“ der Dinge liege in ihrer Mitteilung, und diese Mitteilung sei auf den Menschen hin gerichtet. Der Mensch wiederum habe die benennende Sprache als göttliche Gabe empfangen, um diese Mitteilung aufzunehmen; in der Namensgebung drücke er sein eigenes Wesen aus und teile sich Gott mit (Benjamin 1916, 143–148). Aus ökologischer Sicht handelt es sich hierbei letztlich um ein anthropozentrisches Modell, das die Natur dem Menschen unterstellt und funktional auf ihn bezieht. In der westlichen philosophischen Tradition nimmt sie zur subjektzentrierten Erkenntnislehre jedoch eine Gegenposition ein. Ihr Leitgedanke, dass die materielle Welt sich aktiv dem Menschen mitteilt, statt von ihm im Erkennen erst konstituiert zu werden, bildete nicht nur eine wichtige Grundlage für die ökologische Ästhetik, sondern nahm auch naturphilosophische Konzepte wie die Biophiliehypothese vorweg, die im frühen Ecocriticism eine bedeutende Rolle spielte (vgl. Kellert/ Wilson 1993). Für die literarische Ökokritik hält Benjamins Sprachenlehre ebenfalls Anregungen bereit. So begreift sie die Mitteilung der Dinge an den Menschen als „Übersetzung“ von Ding- in Menschensprache und führt damit ein Konzept ein, dem Benjamin einige Jahre später den Essay Die Aufgabe des Über-

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13 Kritische Theorie und Ecocriticism

setzers (1921) widmen sollte. In beiden Texten betont Benjamin die Bedeutung formaler Aspekte für den Übersetzungsprozess. Auch die Sprache der Natur sei dem Menschen nämlich nicht durch „abstrakte“, d.h. nachvollziehbare „Gleichheits- und Ähnlichkeitsbezirke“ zugänglich, sondern durch „Kontinua der Verwandlung“ (Benjamin 1916, 151). In diesem Sinne, so Benjamin, könnten auch die Sprachen der Kunst als Übersetzungen der Natursprache begriffen werden, insbesondere die der dinglichen Künste, also der Plastik und Malerei. Die Poesie dagegen sei zumindest teilweise in der Namensprache des Menschen „fundiert“ (156). Einige dieser Überlegungen finden sich, teils in kritischer Reflexion, im Werk Adornos wieder, der mit den anderen Vertretern der Frankfurter Schule zu den ersten Rezipienten Benjamins gehörte (vgl. van Reijen 1984, 75). Überhaupt wird Natur bei Adorno zu einem zentralen Konzept, das sich durch sein gesamtes Werk zieht und auf seine gesellschaftstheoretischen, epistemologischen und ästhetischen Implikationen hin befragt wird. 13.2 Theodor W. Adornos Naturästhetik

In der Dialektik der Aufklärung (1944) identifizieren Adorno und Horkheimer die Entfremdung von der Natur als Grundproblem der modernen Gesellschaft. Unter Natur verstehen sie dabei sowohl die ‚äußere‘ Natur, also die Umwelt, die dem Menschen in seinem Selbsterhaltungstrieb als Gefahrenquelle erscheint, als auch die ‚innere‘ Natur der instinktiven Triebe, insbesondere der Angst vor diesen Gefahren (vgl. Horkheimer/Adorno 1944, 12 f. u. 208; Cook 2011, 59). Um diese Angst zu unterdrücken, so Adorno und Horkheimer, entwickelte der Mensch eine strikt zweckgebundene, rationale Denkweise, die instrumentelle Vernunft. Sie macht den Unterschied aus zwischen unmittelbarer und mittelbarer Naturerfahrung, zwischen dem Leben in der Natur und der Herrschaft über die Natur. Die natürliche Umwelt, in der wir leben, ist also eine kulturell überformte – Adorno spricht später von „zweiter Natur“ (Adorno 1982, 348 f.). Während Benjamin die Naturentfremdung auf die Technologisierung der modernen Gesellschaft zurückführt, die das gesamte Verhältnis von Mensch und Natur beherrsche (vgl. Bolz/van Reijen 1991, 15), setzt Adorno also weit vorher an und sieht schon im Akt der Bewusstwerdung, in dem der Mensch sich als ein der Natur entgegengesetztes Subjekt begreift, den Verlust der unmittelbaren Naturerfahrung.

13.3 Ökologische Ästhetik

Wie Benjamin behält er aber die Hoffnung auf Rückkehr zur Unmittelbarkeit bei und sieht die Natur als potenziellen Ausgangspunkt grundlegender gesellschaftlicher Veränderung. Dem Ziel der totalen Identität von Sein und Denken, von dem die instrumentelle Vernunft geleitet ist, widersetzt sich die Natur permanent. Sie ist unauslöschliches Residuum und wirkmächtige Manifestation von „Nichtidentität“, destabilisiert damit nicht nur die instrumentelle Vernunft, sondern sämtliche auf ihr beruhenden Herrschaftsstrukturen. Diese Rolle füllt die Natur umso zuverlässiger aus, als sie in Adornos materialistischer Weltsicht der subjektiven Wahrnehmung vorausgeht und damit von ihr unabhängig ist (vgl. Cook 2011, 2 f.). Durch die Herrschaft der instrumentellen Vernunft ist uns die Naturerfahrung allerdings weitgehend unmöglich gemacht, sodass wir allenfalls in Ausnahmesituationen, insbesondere in der Kunst, eine „Spur des Nichtidentischen an den Dingen im Bann universaler Identität“ wahrnehmen können (Adorno 1970, 114). Dieser kurze Überblick deutet schon darauf hin, dass Adornos Gesellschaftsund Erkenntnistheorie Anknüpfungspunkte für ganz unterschiedliche Strömungen des Ecocriticism bietet. Dies gilt zunächst natürlich für den Topos der Entfremdung des Menschen von der Natur und insbesondere der Klage über diesen Zustand, wie sie für die erste „Welle“ des Ecocriticism charakteristisch ist (vgl. Buell 2005, 17–30). Entfremdung bedeutet bei Adorno allerdings immer auch kulturelle Vermitteltheit, da sie nicht etwa mit der Technisierung oder der industriellen Gesellschaft beginnt, sondern schon mit unserer Bewusstwerdung als Subjekt, in der wir Natur als das uns entgegengesetzte Andere definieren. Hier bieten sich Anknüpfungspunkte für einen konstruktivistischen Ecocriticism, die jedoch ebenfalls ambivalent bleiben, da Adorno am Vorrang des Materiellen festhält. Gerade aufgrund dieser konzeptuellen Vielschichtigkeit ist Adornos Werk, wie oben erwähnt, in den letzten Jahren insbesondere für diejenigen Vertreter interessant geworden, die sich der Spaltung des Ecocriticism in ein biologistisches und ein konstruktivistisches Lager widersetzen. Dies soll im Folgenden anhand von drei wichtigen Spielarten des Ecocriticism aufgezeigt werden. 13.3 Ökologische Ästhetik

Für die ökologische Ästhetik war die Kritische Theorie alleine deshalb von großer Bedeutung, weil sie sich der Marginalisierung der Naturphilosophie

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13 Kritische Theorie und Ecocriticism

im Zeitalter der industriellen Moderne widersetzt hat. Neben der vorkantianischen Naturmystik (Paracelsus, Jakob Böhme) waren Benjamin und Adorno die wichtigsten Vorläufer dieser Denkrichtung. Ihnen sind hierzulande insbesondere die Brüder Gernot und Hartmut Böhme gefolgt, die wiederum auf den internationalen Ecocriticism eingewirkt haben (vgl. Rigby 2011). Wie Benjamin und Adorno gehen die Böhmes von der Entfremdung zwischen „Natur und Subjekt“ als Grunderfahrung der industriellen Moderne aus und suchen nach Wegen ihrer Überwindung (vgl. H. Böhme 1988). Mit den erkenntnistheoretischen Bedingungen dieser Überwindung hat sich insbesondere Gernot Böhme wiederholt auseinandergesetzt. Seine Überlegungen beziehen sich vor allem auf Fragen der Ästhetik, worunter er nicht bloße Kunstkritik versteht, sondern im ursprünglichen Wortsinn die „Lehre von der sinnlichen Erkenntnis“, die er hinter die Subjekt-Objekt-Spaltung der modernen Erkenntnistheorie zurückzuführen versucht (G. Böhme 2001, 7; G. Böhme 1989). Im Mittelpunkt dieser ökologischen Ästhetik steht das Konzept der Atmosphäre, verstanden als ­Wahrnehmungsraum, der weder mit dem wahrnehmenden Ich zusammenfällt, noch von ihm geschieden ist. Das Spüren einer Atmosphäre, wie es etwa in dem Satz „Mir ist kalt“ zum Ausdruck kommt, geht für Gernot Böhme der S­ ubjekt-Objekt-Spaltung voraus und weist diese als gedachte Setzung auf (G. Böhme 2001, 45 u. 56). Für die ökologische Ästhetik, und später für den Ecocriticism, belegen atmosphärische Erfahrungen die aktive Rolle der natürlichen Umwelt im subjektiven Wahrnehmungsprozess und implizieren damit auch eine neue Theorie der Kunst. Die Kunst ist nämlich auch bei Gernot Böhme ein bevorzugtes Beispiel für die Evokation von Atmosphären. Sie kann das Atmosphärische an den Dingen darstellen, die Dinge also als „Äußerungsformen oder Aktualitätsformen von Natur“ erfahrbar machen – eine Vermittlungsleistung, die Böhme im Gegensatz zu Benjamin vor allem in den lautlichen Künsten, der Musik und der Lyrik, gegeben sieht (G. Böhme 2001, 63–65). Der Begriff der „Äußerungsform“ betont das aktive Einwirken der Natur auf die Kunst wie auf menschliche Wahrnehmung im Allgemeinen. Hartmut Böhme spürt diesem Einwirken insbesondere in der Literatur nach. So weist er auf die vielen „naturbezogenen Ausdrücke in der Sprache der Gefühle“ hin, die er nicht bloß als Metaphern sieht, sondern als Manifestationen des „Hineinragens“ der Natur in die Sprache (H. Böhme 1991, 30 f.). Er bezeichnet solche Phänomene als „Ekstasen“ (28), in denen Natur und

13.4 Umweltethik

Subjekt jeweils aus sich heraustreten und dadurch in einen momenthaften Zustand unmittelbarer Kommunikation gelangen. Hier schließen die Böhmes an eine materialistische Epistemologie an, deren vorkantianische Tradition sie lediglich in der Kritischen Theorie wieder aufgegriffen finden. Auch Adorno sieht in der Kunst nämlich eine Art ekstatischer Bewegung am Werk, die er allerdings in typischer Manier dialektisiert. In der Darstellung natürlicher Räume tritt nicht die Natur in die Kunst heraus, so Adorno; vielmehr ist es das Kunstwerk, das im Streben nach reiner Künstlichkeit dennoch „den Drang verspürt, aus sich herauszutreten“ und „Zuspruch von der ersten Natur“ zu suchen (Adorno 1970, 100). Das Heraustreten der Natur allerdings erfolgt erst dann, wenn das Kunstwerk alles Intentionale, alle Rationalität abgelegt hat. Wie Benjamin fasst Adorno das Heraustreten der Natur mit dem Bild der „stummen“ Natursprache, die der Mensch spüren, aber nicht erklären kann. Dieser Sprache kann das Kunstwerk Ausdruck verleihen, sobald es, „vom dinghaft Störenden“ befreit, seine reine Form erreicht (Adorno 1970, 121). Auch Adorno scheint dabei vor allem an die Lautkunst zu denken – sein Beispiel ist der „reine Ton“ Anton Weberns (121) – und schlägt damit die Brücke zu einer ökologischen Ästhetik der Literatur. Hartmut Böhme greift explizit auf die Kritische Theorie und ihr Konzept der Natursprache zurück, um in Auseinandersetzung mit der poststrukturalistischen Vorstellung von der Welt als menschlich vermitteltem Zeichensystem darauf hinzuweisen, dass auch die Natur sich über „Zeichen­austauschprozesse“ reguliert (H. Böhme 1988, 58). Die Natur teile sich also mit, und es sei eine ebenso prekäre wie legitime Hoffnung, so Böhme, dass „der Mensch dafür nicht nur ein Sensorium, sondern in seiner Wortsprache ein Medium habe, das in seinen poetischen Möglichkeiten der Natur zum physiognomischen Ausdruck verhelfen könne“ (25). Die „Aufgabe der Literaturwissenschaft“ bestünde folglich darin, diesen sprachlichen Ausdruck der Natur zu „dolmetschen“ (H. Böhme 1991, 30). 13.4 Umweltethik

Auch auf die Umweltethik hat die Kritische Theorie einen gewissen Einfluss ausgeübt, der zwar eher punktuell blieb, dafür aber schon in der Frühphase des internationalen Ecocriticism nachweisbar ist. So weist der amerikanische Politologe Romand Coles bereits 1993 auf die zahlreichen ethischen Begriffe

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13 Kritische Theorie und Ecocriticism

in ­Adornos Werk hin und hebt besonders das Konzept der Nichtidentität heraus, das sich für die Umweltethik als besonders fruchtbar erweisen könne, da es einen dialogischen Umgang mit der Natur verlange (vgl. Coles 1993, 230 u. 238). Die Natur in ihrer Nichtidentität wahrzunehmen, so argumentiert Coles mit Adorno, heißt, ihrer Individualität nachzuspüren anstatt sie unter die Allgemeinbegriffe menschlichen Denkens zu subsumieren; heißt, die kapitalistische Logik des Tauschwerts und die Herrschaft der instrumentellen Vernunft zu brechen; heißt, die Natur als zwar Anderes wahrzunehmen, mit dem man sich aber frei von Hierarchien und Distanzierungen austauschen und vor allem versöhnen kann (230–236). Dieser letzte Punkt deutet eine nicht zu unterschätzende pragmatische Funktion der Kritischen Theorie im frühen ökokritischen Diskurs an: Aus ihr lässt sich eine materialistisch geprägte Umweltethik ableiten, die sich nicht nur von der subjektzentrierten Epistemologie des Poststrukturalismus absetzt, sondern auch von der auf Bachtin zurückgehenden Konzeption der Natur als Subjekt, das dem Menschen als gleichberechtigter Dialogpartner gegenübertritt. Diese Konzeption ist nicht nur in ökologischer, sondern auch in ethischer Hinsicht problematisch, da sie die Natur explizit in menschlichen Schemata begreift und damit letztlich dem Menschen subsumiert. Dennoch war sie im frühen Ecocriticism recht populär und wurde in teils dogmatischer Form als Überwindung des Anthropozentrismus begrüßt (vgl. Murphy 1994). Dagegen betont Coles, auch hier auf Adorno zurückgreifend, gerade die Andersartigkeit der Natur als Voraussetzung für ein genuin dialogisches Verhältnis zu ihr und weist auch die Idee einer unproblematisch verstehbaren Sprache der Natur zurück (vgl. Coles 1993, 230). Problematisch bleibt bei Coles die Tendenz zu epistemologischer Vereinfachung, etwa in seinen Beschreibungen des Nichtidentischen als etwas in der Natur positiv Gegebenes (232 u. 247). Damit fällt Coles nicht nur hinter Adorno und die Kritische Theorie zurück, sondern steht symptomatisch für eine theoretische Blindstelle des frühen Ecocriticism, die zu scharfen Angriffen von konstruktivistischer Seite führte. In Reaktion auf diese Angriffe bezog die ökokritische Diskussion ab der Jahrtausendwende zunehmend konstruktivistische Erkenntnisse ein.

13.5 Der konstruktivistische Ecocriticism

13.5 Der konstruktivistische Ecocriticism

Der konstruktivistische Ecocriticism nimmt eine epistemologische Zwischenstellung ein. Als konstruktivistischer Ansatz stellt er zentrale Konzepte des Ecocriticism infrage, angefangen mit dem oft unreflektiert verwendeten Naturbegriff; als ökokritischer Ansatz kritisiert er dagegen die Anthropozentrik des radikalen Konstruktivismus. Die Kritische Theorie nimmt, wie wir gesehen haben, eine ähnliche Zwischenstellung ein und ist dadurch für den konstruktivistischen Ecocriticism zu einem wichtigen Bezugspunkt geworden. Insbesondere Adorno hat sich in vielerlei Hinsicht als anschlussfähig erwiesen, was auch daran liegen mag, dass sich seine Naturkonzeption im Laufe des Werkes von einer eher essentialistischen, Benjamin und Horkheimer verpflichteten zu einer eher konstruktivistischen wandelt, wie sie der Ästhetischen Theorie und der Negativen Dialektik zugrunde liegt (vgl. Vogel 1996, 71; Cook 2011, 17). Dadurch konnte das Gesamtwerk als theoretisches Scharnier für übergreifende Ansätze wie den des konstruktivistischen Ecocriticism dienen. Das oben skizzierte Naturkonzept der Dialektik der Aufklärung beispielsweise wurde aus konstruktivistischer Sicht mit einigem Recht als bloße Setzung bezeichnet, die aus der Logik der von ­Adorno und Horkheimer entworfenen Sozialphilosophie nicht erklärbar sei (vgl. Vogel 1996, 69–88). Vom konstruktivistischen Ecocriticism aber, der sich um einen positiven Zugriff auf Natur bemüht, wurde eben dieses Konzept später reaktiviert: „Nature, if it is anything at all, is what is immediately given, which at its simplest is pain“ (Morton 2007, 182). Adornos dringende Forderung nach kritischer Reflexion über unseren Umgang mit der Natur ist ebenfalls in beide Richtungen anschlussfähig. Sie bedient das konstruktivistische Argument, dass unser Verständnis von Natur gesellschaftlich ausgehandelt werden muss, setzt aber gleichzeitig „Natur“ als einen von solchen Aushandlungsprozessen unabhängig existierenden, objektiv fassbaren Raum voraus. Diesen Verbindungslinien hat insbesondere der amerikanische Literaturwissenschaftler Timothy Morton nachgespürt, dessen Ecology Without Nature­ (2007) zu einer der meistzitierten ökokritischen Publikationen der jüngeren Vergangenheit avancierte. Wie ihr Titel bereits andeutet, versucht die Studie den Naturbegriff zu problematisieren, ohne dabei ökologische Probleme aus dem Blick zu verlieren. Unter Rückgriff auf Adorno argumentiert Morton, dass der Naturbegriff zu einer Bastion des Identitätsdenkens geworden sei und be-

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13 Kritische Theorie und Ecocriticism

stehende konzeptuelle Hierarchien stärke, anstatt sie infrage zu stellen. Paradigmatisch sieht Morton diese Fehlentwicklung im klassischen Nature Writing, der Lieblingslektüre des frühen US-amerikanischen Ecocriticism, am Werk. Dieses sei zum „most potent rhetorical device for establishing a sense of nature“ aufgestiegen, indem es Natur als stabile Wirklichkeit postuliert habe, die vom Menschen unabhängig existiere und für ihn vollständig greifbar sei (Morton 2007, 77 f. u. 151). Solcherlei Identitätsdenken, argumentiert Morton mit Adorno, stelle sich mittlerweile nicht nur als irreführend, sondern als gefährlich heraus, weil es die vollständige Assimilation der natürlichen Umwelt in das kapitalistische System unterstütze. Vor diesem Hintergrund habe der klassische Ecocriticism ausgedient, da er diese Assimilation in seinem illusorischen Streben nach Überwindung des Mensch-Natur-Dualismus sogar noch fördere (142). Morton fordert stattdessen unter explizitem Bezug auf die Kritische Theorie eine „ecocritique“, die auf eine gesellschaftliche Ordnung hinwirkt, in welcher der Mensch-Natur-Dualismus als materielle und epistemologische Gegebenheit erkannt und kritisch in soziale, politische und kulturelle Überlegungen einbezogen wird (13 u. 205). Methodologisch schließt Morton damit an Adornos dialektischen Ansatz an, was sich auch in vielen Einzelargumentationen zeigt. So weist er darauf hin, dass die „Wildnis“ der verbleibenden Naturlandschaften kapitalistischer Ausbeutung zwar entzogen ist, durch ihre Kategorisierung als Wildnis aber dennoch in das kapitalistische System assimiliert wird und Ausbeutung indirekt, nämlich andernorts, legitimiere (Morton 2007, 113). Ebenfalls von Adorno übernimmt Morton die materialistische Lehre vom Vorrang des Objekts, die ihm als Korrektiv zum reinen Konstruktivismus der Poststrukturalisten dient (83–89). Von besonderer Bedeutung für den konstruktivistischen Ecocriticism ist jedoch die Naturästhetik der Kritischen Theorie, da sie eine theoretisch reflektierte und dennoch nichtanthropozentrische Philosophie der Naturerfahrung bietet. Ausgehend von Adornos Argument, dass das Kunstwerk einen Zugang zum Nichtidentischen ermögliche, entwickelt Morton das Konzept der Ambience, mit dem er den engen Umweltbegriff des klassischen Ecocriticism ausweiten und die dialektische Wechselseitigkeit jeder Umwelterfahrung betonen will (71 u. 34). Eine Ästhetik der Ambience, so Morton, erschöpfe sich also nicht darin, das Kunstwerk in seiner Beziehung zu einer idealisierten, nichtentfremdeten Natur zu verorten, sondern untersuche seine Wechselbeziehungen mit der

13.6 Literaturverzeichnis

natürlichen wie kulturellen Umwelt. Diese dialektischen Beziehungen spielen sich auf verschiedenen Ebenen ab, von konkreten Sinneseindrücken bis zur Verhandlung epistemologischer Kategorien wie Subjekt/Objekt oder allgemein/ besonders (142–145). Gegen Ende seiner Ausführungen bringt Morton sogar Benjamin wieder ins Spiel, aber nicht mit der wenig konstruktivistischen Natursprachenlehre, sondern mit dem Begriff der Aura des Kunstwerks, die Morton als eine mögliche Manifestationsform der Ambience betrachtet. In einer Art Schlussplädoyer, das als repräsentativ für den konstruktivistischen Ecocriticism gelten kann, schlägt Morton die Vertreter der Kritischen Theorie als Identifikationsfiguren einer politisch progressiven Ökokritik vor, da ihr materialistischer Ansatz und ihre Vision überwundener Entfremdung auch Vertreter des theoriefernen, „konservativen“ Lagers gewinnen könne (161 f.). Während die ökologische Ästhetik, die Umweltethik und der konstruktivistische Ecocriticism sich am ausführlichsten mit der Kritischen Theorie befasst haben, finden sich gelegentliche Verweise und Einflüsse in zahlreichen weiteren Vertretern und Strömungen des heutigen Ecocriticism. Die prozessuale, individualistische Epistemologie, die Adorno etwa in seinem Aufsatz Die Idee der Naturgeschichte (1932) vertritt, gehört zu den verbreitetsten Überzeugungen des Ecocriticism und findet sich in konstruktivistischen Studien ebenso wie in der radikal materialistischen Deep Ecology (vgl. Cook 2011, 121–154). Benjamins Betonung des Geistigen an der Natur und des Körperlich-Materiellen am Menschen weist auf die zentrale Einsicht des Material Ecocriticism voraus, dass die Subjekt-Objekt-Grenze weder auf epistemologischer noch auf physischer Ebene klar definiert werden kann (vgl. Kap. 5). Die in Deutschland verbreitete kultur­ ökologische Variante des Ecocriticism greift die Dialektik von Selbst- und Naturentfremdung auf und befragt verschiedenste kulturelle Narrative daraufhin, inwiefern sie diese Dialektik weitertragen oder durchbrechen (vgl. Zapf 2002, 31). Für diese Spielarten des Ecocriticism, aber auch für viele andere, bietet die Kritische Theorie einen großen, längst nicht erschöpften Fundus konzeptueller Grundlagen und weiterführender Ideen. 13.6 Literaturverzeichnis

Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt a.M. 1970. Adorno, Theodor W.: Die Idee der Naturgeschichte [1932]. In: Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1973, S. 345–365.

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13 Kritische Theorie und Ecocriticism

Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1982. Alaimo, Stacey: Bodily Natures. Science, Environment, and the Material Self. Bloomington/IN 2010. Benjamin, Walter: Über Sprache überhaupt und die Sprache des Menschen [1916]. In: Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. 2.1. Frankfurt a.M. 1977, S. 140–157. Benjamin, Walter: Die Aufgabe des Übersetzers [1921]. In: Rexroth, Tillman (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. 4.1. Frankfurt a.M. 1977, S. 9–21. Böhme, Gernot: Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt a.M. 1989. Böhme, Gernot: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001. Böhme, Hartmut: Natur und Subjekt. Frankfurt a.M. 1988. Böhme, Hartmut: Aussichten einer ästhetischen Theorie der Natur. In: Haberl, Horst Gerhard/Krause, Werner/Strasser, Peter (Hg.): Entdecken Verdecken. Eine Nomadologie der Neunziger. Graz 1991, S. 15–34. Bolz, Norbert/van Reijen, Willem: Walter Benjamin. Frankfurt a.M. 1991. Buell, Lawrence: The Future of Environmental Criticism. Malden/MA 2005. Coles, Romand: Ecotones and Environmental Ethics. Adorno and Lopez. In: Bennett, Jane/Chaloupka, William (Hg.): In the Nature of Things. Language, Politics, and the Environment. Minneapolis 1993, S. 226–249. Cook, Deborah: Adorno on Nature. Durham/NC 2011. Gersdorf, Catrin: Flânerie as Ecocritical Practice. Thoreau, Benjamin, Sandilands. In: Hornung, Alfred/Zhao, Baisheng (Hg.): Ecology and Life Writing. Heidelberg 2013, S. 27–53. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung [1944]. Frankfurt a.M. 1971. Kellert, Stephen R./Wilson, Edward O. (Hg.): The Biophilia Hypothesis. Washington/ DC 1993. Morton, Timothy: Ecology Without Nature. Rethinking Environmental Aesthetics. Cambridge/MA 2007. Murphy, Patrick D.: Voicing Another Nature. In: Hohne, Karen/Wussow, Helen (Hg.): A Dialogue of Voices. Feminist Literary Theory and Bakhtin. Minneapolis 1994, S. 59–82. Rigby, Kate: Gernot Böhme’s Ecological Aesthetics of Atmosphere. In: Goodbody, Axel/ Rigby, Kate (Hg.): Ecocritical Theory. New European Approaches. Charlottesville/ VA 2011, S. 139–152. Sandilands, Catriona: Green Things in the Garbage. Ecocritical Gleaning in Walter

13.6 Literaturverzeichnis

Benjamin’s Arcades. In: Goodbody, Axel/Rigby, Kate (Hg.): Ecocritical Theory. New European Approaches. Charlottesville/VA 2011, S. 30–42. Van Reijen, Willem: Philosophie als Kritik. Einführung in die kritische Theorie. Königstein 1984. Vogel, Steven: Against Nature. The Concept of Nature in Critical Theory. Albany 1996. Wilke, Sabine: “The Sound of a Robin after a Rain Shower”. The Role of Aesthetic Experience in Dialectical Conceptions of Nature. In: Interdisciplinary Studies in Literature and Environment 16.1 (2009), S. 91–117. Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen 2002. Zapf, Hubert: Literary Ecology and the Ethics of Texts. In: New Literary History 39.4 (2008), S. 847–868.

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14 Kulturökologie und Literatur Hubert Zapf

Eine ökologisch orientierte Literaturwissenschaft hatte es nicht nur hierzulande zu Beginn nicht einfach, weil sie auf einen Fachdiskurs traf, der seinerseits nicht allzu lange Zeit vorher an internationale Entwicklungen im Bereich von New Historicism, Poststrukturalismus, Dekonstruktivismus, Gender Studies oder Postkolonialismus angeknüpft und sich gegenüber der zuvor vorherrschenden Praxis der werkimmanenten Interpretation als kulturwissenschaftlich erweiterte Literaturwissenschaft positioniert hatte. Das Bedürfnis, einen wie auch immer gearteten Bezug der Texte auf ‚Natur‘ und ‚Ökologie‘ zu postulieren, traf auf das eben erst etablierte Forschungsparadigma einer diskursanalytischen Postmoderne, die gerade die Unmöglichkeit solcher außertextuellen Realitätsbezüge und die unhintergehbare soziale Konstruiertheit der Natur ins Zentrum ihrer revisionistischen Neubetrachtung von Kultur und Literatur gestellt hatte. Dieser Widerstand gegen eine ökologische Literatur- und Kulturwissenschaft beruhte allerdings, wie sich inzwischen immer deutlicher zeigt, nicht allein auf inhaltlichen Gegensätzen, sondern zumindest teilweise auf wechselseitigen Missverständnissen, die auch in den USA den Beginn des dortigen Ecocriticism in den 1990er-Jahren kennzeichneten, die aber in neueren Entwicklungen zunehmend zugunsten einer produktiven, wenn auch zweifellos nicht immer spannungsfreien wechselseitigen Beeinflussung und Verbindung in Theorie und Praxis geführt haben. Der Ansatz einer Kulturökologie erscheint in diesem Zusammenhang nicht nur in besonderer Weise geeignet, die beiden Pole dieser Debatte, Kultur und Natur, in einer angemessen komplexen und nichtreduktionistischen Weise aufeinander zu beziehen, sondern sie auch für die Beziehung von Literatur und Ökologie in systematischer wie funktionsgeschichtlicher Hinsicht fruchtbar zu machen. Die Beiträge zu diesem Band zeigen, dass eine breitere Auseinandersetzung mit der Thematik, die mit dem Aufstieg des Ecocriticism und der Environmental Humanities verbunden ist, auch im deutschsprachigen Bereich bereits begonnen hat. Sie lassen einen fortgeschrittenen und diversifizierten Stand der Debatte erkennen, was freilich insofern nicht verwundert, als solche Debatten derzeit zunehmend in einem international und global vernetzten Rahmen ab-

14.1 Kulturökologie der Literatur im Kontext des Ecocriticism

laufen. Dennoch gibt es unterschiedliche, eigendynamische Entwicklungstendenzen nationaler und regionaler Wissenskulturen, die gerade im Bereich des Ecocriticism Beachtung verdienen. Besonders interessant dürfte hierbei die Frage sein, inwieweit in der Fundierung des Ecocriticism der Literatur eine Schlüsselrolle in der Repräsentation und Transformation ökologischer Prozesse zugewiesen wird (http://portal.uni-freiburg.de/ndl/forschung/dfg_netzwerk, zuletzt 18.05.2015). Das Potenzial imaginativer Literatur für eine ökologische Selbstreflexion der Kultur wurde bisher im Ecocriticism noch nicht voll ausgeschöpft, auch wenn die neuere Entwicklung in dieser Hinsicht durchaus ermutigend verläuft. In diesem Zusammenhang werde ich im Folgenden versuchen, den von mir vorgeschlagenen Ansatz einer Kulturökologie der Literatur im Kontext der gegenwärtigen Debatte im Bereich des angloamerikanischen Ecocriticism zu positionieren. 14.1 Kulturökologie der Literatur im Kontext des Ecocriticism

Der Ecocriticism hat sich innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte zu einem der am schnellsten wachsenden Gebiete der Kultur- und Literaturwissenschaften entwickelt. Aus der auf die 1960er- und 70er-Jahre zurückgehenden, ökologi­ schen Bewegung formierte sich im Umkreis der Western Literature Association und mit der Wiederentdeckung amerikanischer Traditionen des Nature ­Writing in den 1990er-Jahren die American Society for the Study of Literature and the Environment, die sich bis heute als führende Fachgesellschaft im Bereich des Ecocriticism etabliert hat. In seinen Anfängen war der Ecocriticism sehr stark von einer realistischen Epistemologie und Textauffassung geprägt, die in dieser Sicht allein die authentische Repräsentation der natürlichen Umwelt in Texten gewährleisten konnte. Nonfictional Nature Writing, Wilderness Narratives und Romantic Nature Poetry waren die Genres, auf die man sich bezog. Ziel der Neubewertung solcher Formen des Nature Writing war die historisch-kulturelle Rekonstruktion einer alternativen Tradition ökologischen Denkens in den USA und eine damit verbundene Reorientierung der Werte vom Ego-Consciousness zu einem Eco-Consciousness, vom radikalen Individualismus des American Dream zu einer ethisch verantwortlichen Beziehung zur nichtmenschlichen Natur. Zum neuen ökokritischen Kanon gehörten unter anderem Texte wie Henry David Thoreaus Walden (1854), Aldo Leopolds A Sand County Almanac (1949),

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14 Kulturökologie und Literatur

Rachel Carsons Silent Spring (1962) oder Barry Lopez’ Arctic Dreams (1986). Im Mit- und Ineinander von romantischen und naturwissenschaftlichen, imaginativen und deskriptiven, persönlichen und ökosystemischen, spirituellen und materiellen Formen ökologischen Denkens nehmen diese Texte bereits interne Differenzierungen der späteren Entwicklung vorweg. Einige charakteristische Aspekte dieser Entwicklung sind die Ausweitung des Ecocriticism auf die verschiedensten Gebiete der Cultural Studies wie etwa die Gender Studies, zu denen im deutschsprachigen Bereich u.a. Christa Grewe-Volpp (2004) beigetragen hat und die mittlerweile auch die Queer Studies einbeziehen (vgl. Sandilands/Erikson 2010); dann auch im Bereich der African American Studies, die hierzulande nicht zuletzt von Sylvia Mayer (2003) auf die Agenda des Ecocriticism gesetzt wurden; die Postcolonial Studies, die vor allem das Thema der Environmental Justice stark machen und die globale Vernetztheit ökologischer Probleme in den Vordergrund stellen (vgl. Huggan/Tiffin 2010); ferner und neuerdings verstärkt die Science Studies, die das Postulat der Vernetzung des Wissens über Fächergrenzen hinweg ernstnehmen und, wie etwa im Material Ecocriticism, neue Entwicklungen in den Naturwissenschaften für die Kulturwissenschaften fruchtbar machen wie in Evolutionsbiologie, Biosemiotik, Komplexitätsforschung oder Quantenphysik (vgl. Alaimo 2010; Barad 2007; Iovino/Oppermann 2014). Dieser Dialog löste erhebliche Veränderungen in der Epistemologie und Forschungspraxis der Literatur- und Kulturwissenschaften aus, die derzeit in vollem Gang sind: Aufseiten des Ecocriticism machte er es erforderlich, frühere Vorbehalte gegenüber Theorie und Ästhetik zu überwinden, ohne den Bezug auf die realitätsbezogenen Herausforderungen ökologischen Denkens aus den Augen zu verlieren; aufseiten der Kulturwissenschaften wurde das lange Zeit vorherrschende Paradigma eines radikalen linguistischen und sozialen Konstruktivismus infrage gestellt, ohne die kritische Reflexion der kulturellen und sprachlich-textuellen Bedingungen des ökologischen Diskurses aufzugeben. Kaum irgendwo zeigt sich diese Tendenz so deutlich wie darin, dass nahezu alle führenden Vertreter der Critical Theory, die lange Zeit als Kronzeugen eines kulturellen Konstruktivismus, einer historisch-materialistischen Kritik der Gesellschaft und einer rhetorisch-ideologischen Austreibung der Natur aus dem Diskurs der Geisteswissenschaften dienten, inzwischen als frühe Vertreter oder mindestens Vorläufer ökologischen Denkens neu gelesen werden – und

14.1 Kulturökologie der Literatur im Kontext des Ecocriticism

dies durchaus mit gutem Recht (vgl. Kap. 13). Von Nietzsche bis Heidegger, von Husserl bis Adorno, von Bachtin bis Lyotard, von Raymond Williams zu Jacques Derrida, von Levinas bis Deleuze reicht die Liste der neu für den Ecocriticism entdeckten Theoretiker. Es ist interessant zu sehen, dass sich in nahezu jeder dieser Positionen in der Tat Denkansätze rekonstruieren lassen, die nicht nur in eine ökologische Richtung weisen, sondern auch eine Affinität ökologischen Denkens mit der Literatur herstellen, die also in gewisser Weise eine Kulturökologie der Literatur antizipieren. So wird Adornos Ästhetische Theorie in ihrem als notwendig postulierten und doch konzeptuell unverfügbaren Naturbezug zentral etwa von Kate Soper (2011) herangezogen und für eine dialektische Rehabilitierung der romantischen Naturpoetik reklamiert. Walter Benjamin wird neu gelesen als Vorläufer einer ­Urban Ecology, in der Stadtlandschaften Orte der Isolation und Verdinglichung darstellen, aber auch neue Erfahrungen eines fluiden Selbst im paradoxen Einswerden von Ich und Kollektiv, Natur und Technologie ermöglichen, die in der Figur des Flaneurs personifiziert sind (vgl. Gersdorf 2013). Prominente Vertreter von Postmoderne und Poststrukturalismus sind ebenfalls aus ökologischer Perspektive neu beleuchtet worden wie vor allem Jacques Derrida, an den etwa Timothy Morton (2010) in seinem Konzept einer Dark Ecology anknüpft. Als Folge der radikalen Dekonstruktion aller Binarismen schlägt Morton die Abschaffung des Begriffs ‚Natur‘ selbst vor als Nullpunkt eines Neubeginns im ökologischen Diskurs, um ideologische Besetzungen des Naturbegriffs zugunsten eines untrennbaren Ineinanderwirkens von Kultur und Natur zu überwinden – ein allerdings nicht wirklich hilfreicher Vorschlag, weil damit die vielen verschiedenen Verwendungen des Begriffs ‚Natur‘ in Geschichte und Gegenwart und in unterschiedlichen, keineswegs nur westlichen Kulturkreisen dem Diskurs und einer kritischen Reflexion entzogen wären. Dies würde die rückwirkende Eliminierung eines Konzepts bedeuten, das Selbstdefinitionen menschlicher Kultur seit jeher geprägt hat und das in Mortons eigenen Texten, gegen den Versuch seines rhetorischen Exorzismus, hartnäckig wiederkehrt. Ferner sind Gilles Deleuze und Felix Guattari wichtige Bezugsfiguren des Ecocriticism geworden mit Konzepten wie dem „Rhizom“ oder der „Assemblage“, die dichotomisch-hierarchische Systeme in offene, horizontale Prozesse umdeuten und das diskrete Selbst in Cluster multipler Beziehungen einbinden (vgl. Berressem 2009; Herzogenrath 2009).

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14 Kulturökologie und Literatur

In einem ähnlichen Kontext ist das Projekt eines Material Ecocriticism einzuordnen, das dem Versuch entspringt, die Kluft zwischen Postmoderne und Ecocriticism sowie zwischen materiellen und kulturellen Formen der Ökologie zu überwinden (vgl. Kap. 5). In seiner Absicht, die Dichotomie zwischen Geist und Materie, Kultur und Natur in einem ökokritischen Dialog zwischen Kulturwissenschaften und Science Studies zu überbrücken, hat dieses Projekt zweifellos besondere Affinitäten zum Ansatz einer Kulturökologie. 14.2 Literatur als kulturelle Ökologie

Im Folgenden seien zunächst kurz die Prämissen einer Kulturökologie der Literatur vergegenwärtigt. Sie geht davon aus, dass die Wechselbeziehung von Kultur und Natur als Grundbedingung kultureller Evolution eine spezifische Bedeutung für die Produktivität und Kreativität literarischer Texte hat, und dass Literatur diese ökologische Dimension des Diskurses gerade aufgrund der spezifischen Art und Weise zu generieren vermag, in der sie kulturelles Wissen und kulturelle Erfahrung kodiert und kommuniziert, d.h. aufgrund ihrer Entpragmatisierung und imaginativen Transformation des Realen, ihrer semantischen Offenheit und ästhetischen Restrukturierung von Wissen und Erfahrung (vgl. Zapf 2002 u. 2008). Diese Merkmale wurden seit jeher der Literatur zugeschrieben, sie galten aber sowohl einer politisierten Kulturwissenschaft wie einem naturalistischen Ecocriticism als eher hinderlich für ihre jeweiligen Erkenntnisziele. In kulturökologischer Sicht ist aber gerade die eigendynamische Evolution der Literatur und ihrer Formen und Funktionen innerhalb der Gesamtkultur ein wesentliches Erkenntnisinteresse. In diesem Sinn kann Literatur selbst als Medium einer besonders produktiven und nachhaltig wirksamen Form kultureller Ökologie beschrieben werden. In Weiterführung von Wolfgang Isers literarischer Anthropologie wird Isers Modell einer Wechselbeziehung zwischen Realem, Fiktivem und Imaginärem (vgl. Iser 1991) in ökosystemischer Hinsicht erweitert, indem das Spannungsfeld zwischen kulturellem Ausgangssystem und imaginativem Gegenentwurf, das sich in der Literatur entfaltet, nicht nur unrealisierte Anteile eines anthropologischen Imaginären, sondern auch verdrängte Dimensionen eines ökologischen Imaginären zum Ausdruck bringt. Dabei wird verdeutlicht, dass das ökologisch Imaginäre in den dominanten Diskurssystemen einer Kultur zu Unrecht marginalisiert oder ausgegrenzt wird, da es in der

14.3 Triadisches Funktionsmodell

Literatur in stets neuer Weise als lebens- und überlebensnotwendige Dimension menschlicher Kultur aktiviert wird. In dieser funktionsgeschichtlich-evolutionären Sicht ist Literatur doppelt kodiert – als tief verankertes, transhistorisch wirksames Merkmal der menschlichen Evolution, das sich über die Grenzen von Epochen und Kulturen hinweg von archaischen bis zu modernen Zivilisationen manifestiert hat; und als historischspezifisches Phänomen, das sich in den jeweiligen Kulturen unterschiedlich ausgeprägt hat und in der Moderne insbesondere mit der funktionalen Differenzierung und Spezialisierung gesellschaftlicher Subsysteme seit dem 18. Jahrhundert eine zunehmende, wenn auch stets nur relative Autonomie gegenüber anderen gesellschaftlichen Teilsystemen gewonnen hat. Literatur als ökologische Kraft innerhalb der Kultur zehrt dabei von dieser doppelten Kodierung. Sie bilanziert kritisch historische Prozesse einer einseitig technisch-ökonomischen Modernisierung und sie reaktiviert in immer neuen Szenarien das kulturell Verdrängte, das, was Wendy Wheeler (2006) das „biosemiotische“ Gedächtnis nennt und was Literatur in jeweils neuer Weise ins kulturelle Gedächtnis und Selbstverständnis des Menschen zurückholt. Literatur fungiert in dieser Sicht als kritisches Sensorium für verborgene Konflikte, Widersprüche, Traumata und Pathologien einer einseitig technisch-ökonomischen Zivilisation, und zugleich als Ort einer ständigen, kreativen Selbsterneuerung von Sprache, Wahrnehmung, Imagination und Kommunikation. 14.3 Triadisches Funktionsmodell

Diese kulturökologische Funktion des literarischen Diskurses innerhalb der Gesamtkultur lässt sich in einem triadischen Funktionsmodell näher beschreiben, das in verschiedenen Richtungen anwendbar scheint (vgl. Gersdorf/Mayer 2005; Gymnich/Nünning 2005). Dieses Modell differenziert die kulturökologische Funktion der Literatur in die folgenden drei Teilfunktionen, die zugleich charakteristische metaphorische Ausgangsbedingungen literarischer Inszenierungen der Kultur-Natur-Beziehung markieren: 1. Eine kritische Funktion der Literatur als kulturkritischer Metadiskurs. In dieser Hinsicht fungiert Literatur als Sensorium und symbolische Bilanzierungsinstanz für kulturelle Fehlentwicklungen, Erstarrungssymptome und Pathologien, deren Repräsentation sich charakteristischerweise mit Bildern des

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14 Kulturökologie und Literatur

Gefangenseins, der Isolation, der Vitalitätslähmung, des Wastelands und des Death-in-Life verbindet. Im Fokus dieser kritischen Diskursfunktion stehen vor allem kulturbestimmende Machtstrukturen und Ideologien, die auf hierarchisch-binäre Deutungssysteme wie Eigenes vs. Anderes, Geist vs. Körper, Kultur vs. Natur aufgebaut sind. Sie unterdrücken die vielgestaltige Komplexität und ‚biophile‘ Offenheit menschlicher Lebensbezüge zugunsten zivilisatorischer Kontrolle, Uniformität und Konventionalität, was zur Bedrohung der Individualität bis hin zur Entmündigung und Traumatisierung der Figuren führt (vgl. Zapf 2002 u. 2008). Auf Textbeispiele kann hier nur kurz und exemplarisch verwiesen werden, und ich beschränke mich als Amerikanist auf Beispiele aus der amerikanischen Literatur. So inszenieren die beiden wichtigsten Romane der klassischen amerikanischen Literatur, Nathaniel Hawthornes Scarlet Letter (1850) und Melvilles Moby-Dick (1851), trotz aller Unterschiedlichkeit dennoch vergleichbare Problemstrukturen: Hawthorne im Zusammenhang mit der puritanischen Gesellschaftsordnung des frühen Amerikas, die im Bild eines lebensfeindlichen Prisonhouse of Culture eingeführt wird, Melville im Kontext eines expansiven ökonomisch-technologischen Systems, das an der global operierenden Walfangindustrie exemplifiziert wird und die Mission der Pequod zum Symbol eines selbstzerstörerischen Projekts vollständiger zivilisatorischer Naturbeherrschung werden lässt. Auch in maßgeblichen Romanen der neueren amerikanischen Literatur sind solche kultur- und diskursbedingten Erstarrungszustände und Death-in-Life-Situationen charakteristischerweise der Ausgangspunkt und Gegenstand ihrer kulturkritischen Energie – etwa das Kriegstrauma in Scott Momadays House Made of Dawn (1968), der Teufelskreis imperialer technologischer Gewalt in Leslie Marmon Silkos Ceremony (1977), die traumatisierenden Folgen der Sklaverei in Toni Morrisons Beloved (1987), oder der Kalte Krieg als erstarrte kollektive Bewusstseinsformation in Don DeLillos Underworld (1997). 2. Eine gegendiskursive Funktion als imaginativer Gegendiskurs, mit der Literatur das kulturell Ausgegrenzte ins Zentrum rückt und oppositionelle Wertansprüche zur Geltung bringt. Hier stehen insbesondere Szenarien und Bilder im Mittelpunkt, die mit Natur, Unbewusstem, Körperlichkeit, Leidenschaft, Wandel, Bewegung, Magie, Energie, Vielfalt, Kommunikation und Selbstartikulation zusammenhängen. Der Text als Entfaltungsraum des Imaginären wird zum Experimentierfeld kultureller Vielfalt und Generierung möglicher Alter-

14.3 Triadisches Funktionsmodell

nativen und Variationen. Das im zivilisatorischen Realitätssystem Ausgegrenzte wird hier mit besonderer semiotischer Intensität zur Geltung gebracht und trägt zugleich entscheidend zur ästhetischen Produktivität der Texte bei. So wird bei Hawthorne der scharlachrote Buchstabe A von einem Zeichen kultureller Ausgrenzung zum vieldeutigen Zeichen unterdrückter Lebensenergien, mit denen gerade die kulturell verdrängten Bereiche von Natur, Eros und Kommunikation gegenüber ihrer puritanischen Kontrolle in den Mittelpunkt rücken. In Melvilles Moby-Dick stellt die magische Vieldeutigkeit des weißen Wals einen semiotischen Gegendiskurs zu Ahabs dogmatisch vereinseitigtem Weltbild dar, und die narrative Haltung des biophilen Respekts gegenüber Moby-Dick, die der Erzähler Ishmael aus dem Wissen um die Zugehörigkeit des Menschen zu einem größeren Lebenszusammenhang, seiner „Siamese connexion with a plurality of other mortals“ (Melville 2002, 254), ableitet, erscheint als ethisches Gegenprinzip zu Ahabs biophobem Vernichtungswillen. In anderer Weise, aber in der gegendiskursiven Funktion vergleichbar, gilt dies für die imaginative Rekonstruktion einer Welt naturnaher archaischer Erinnerungen und kommunaler Rituale als Gegenwelt zur traumatisierend erfahrenen Zivilisation in Momadays House Made of Dawn oder Silkos Ceremony; für die Aktivierung des kulturell Verdrängten als Prinzip eines gegendiskursiven Story-Tellings in Toni Morrisons Beloved; oder für die ästhetische Aufwertung der lebendigen Alltagssprache als Gegenpol zum Uniformitätsdruck der binären Ideologie des Kalten Kriegs und einer technisch-ökonomischen Globalisierung in Don DeLillos Underworld. 3. Eine vernetzend-integrierende Funktion der Literatur als reintegrativer Interdiskurs, d.h. die Funktion der Literatur als Ort der Zusammenführung von Spezialdiskursen, der komplexen Interrelation des Heterogenen und vielgestaltigen Wechselwirkungen des kulturell Getrennten. Als Medium komplex vernetzten Wissens und Kreuzungspunkt verschiedener Diskurse führt Literatur unterschiedliche Formen des Wissens und der Erfahrung zusammen, die anderweitig getrennt bleiben. Da diese Akte der Reintegration nicht rein intellektuell ablaufen, sondern ganzheitlich erlebt und imaginiert werden, lösen sie höchst konfliktträchtige Grenzzustände und Turbulenzen aus, für die spannungsreiche Verbindungen gegensätzlicher Zustände und Bilder charakteristisch sind wie Angst/Befreiung, Katastrophe/Katharsis, Paralyse/kreative Erneuerung, Zerstörung/Regeneration, Tod/Wiedergeburt. Dabei wird der anfängliche Death-

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14 Kulturökologie und Literatur

in-Life-Zustand in Prozessen individueller oder kollektiver Erfahrung aufgebrochen und eine Affirmation des beschädigten Lebens wenigstens angedeutet, selbst wenn die zwischenzeitliche Öffnung am Ende in Zustände neuer Entfremdung und Stasis zurückführt. Wenn also die erste Funktion vor allem die kritische Bilanzierung der Defizite des zivilisatorischen Systems und die zweite Funktion vor allem die gegendiskursive Inszenierung des vom System Ausgegrenzten betrifft, so bezieht sich diese dritte Funktion auf die spannungsreiche Zusammenführung des Systems mit dem Ausgegrenzten. Diese Funktion lässt sich ihrerseits noch einmal in drei Subfunktionen unterscheiden. (1) Die Funktion der Reintegration unterschiedlicher kultureller Diskurse und Wissensformen, die im gesellschaftlichen System arbeitsteilig oder ideologisch getrennt sind und die im literarischen Text in neuer Weise zusammengeführt werden, womit Literatur der fortschreitenden Spezialisierung und Vereinseitigung kulturellen Wissens entgegenwirkt. Literarische Texte weisen diese vernetzendreintegrierende Dimension auf, indem sie verschiedenste Bereiche des Wissens – philosophische, religiöse, politische, historische, naturwissenschaftliche oder literarische – zusammenfließen lassen und daraus ihre komplexen interdiskursiven Deutungsmodelle gewinnen (vgl. Link 2008, 236 f.). So sind in Nathaniel Hawthornes Scarlet Letter verschiedene kulturprägende Diskurse zusammengebracht: der religiös-spirituelle Diskurs in der Figur des Pastors Dimmesdale, der naturwissenschaftlich-intellektuelle Diskurs in dem Arzt Chillingsworth, der philosophische Emanzipationsdiskurs in der kulturellen Außenseiterin Hester Prynne, und der magisch-romantische Diskurs in deren Tochter Pearl. In Melvilles Moby-Dick sind Intertextualität und Interdiskursivität in einem bis dahin nicht gekannten Maß gesteigert, indem von Calvinismus bis zur Romantik, von der Bibel zu den Transzendentalisten, von Naturwissenschaft zu Metaphysik, von westlichen zu außerwestlichen Kulturen, von archaischer Ikonizität zu moderner Zeichensymbolik eine Vielfalt heterogener Wissensformen zusammengebracht werden. In verändertem historisch-ästhetischen Kontext gilt diese hochgradige Interdiskursivität ebenso sehr für die mehrperspektivische und multidiskursive Konzeption der Texte von Momaday, Morrison oder DeLillo, und sie lässt sich zweifellos als ein Hauptmerkmal postmoderner und postkolonialer fiktionaler Texte generell bezeichnen. (2) Eine gestaltbildend-strukturierende, konnektiv-musterbildende Funktion, mit der Literatur im Sinn von Gregory Batesons ‚patterns which connect‘ (1972)

14.3 Triadisches Funktionsmodell

strukturelle Analogien zwischen Lebensprozessen und kulturell-ästhetischen Prozessen herstellt. Dies äußert sich etwa in den zahlreichen Analogien und Strukturmustern, die Hawthornes Scarlet Letter im Grenzbereich zwischen Kultur und Natur kennzeichnen, beispielsweise in der Gestalt von Pearl, Hesters und Dimmesdales illegitimer Tochter, die sowohl dem kulturellen Schriftzeichen des scharlachroten Buchstabens als auch einem anarchisch-vorzivilisatorischen Naturgeschöpf ähnelt; in Melvilles Moby-Dick in den vielfältigen Parallelen zwischen Natur und Mensch, Meer und Unbewusstem, äußerer und innerer Welt und, besonders ausgeprägt, zwischen Wal und Text, die den Roman durchziehen und ihn in fundamentaler Weise strukturieren; oder bei Morrison in der Entsprechung der inneren Befreiung und Therapie der Figuren zum Wachstumszyklus der Natur (der Bäume, der Jahreszeiten, des Wassers), eine Korrelation, die in jeweils anderen Kontexten auch bei Momaday oder Silko erkennbar ist. (3) Eine regenerative Funktion, in der Literatur zum Medium der Verarbeitung kollektiver und individueller Traumata und der Revitalisierung von Deathin-Life-Zuständen wird. Hier kommt der doppelten, spannungsvoll miteinander verbundenen Bildlichkeit von Stasis und Bewegung, von Werden und Vergehen, von Tod und Wiedergeburt, von Erstarrung und kultureller Selbsterneuerung eine zentrale Rolle zu, die – komplementär zum Motiv der Unterweltreise und zum Death-in-Life-Motiv – in erstaunlich vielen literarischen Texten wiederkehrt und in der linear-progressive mit zyklisch-regenerativen Zeit- und Erfahrungsmodellen überblendet werden. Wie Dieter Schulz (2008) herausstellt, ist es ein besonderes Merkmal literarischer Texte, dass sie aus dem kulturell und psychologisch Abgestorbenen immer neue Anfänge inszenieren, Anfänge aus dem Rückgang auf das Vorgängige, aus dem Recycling und der neuen Kontextualisierung vergessenen Wissens, aus der Verarbeitung unbewältigter Traumata der kollektiven Geschichte oder persönlichen Biographie. Der wiederhergestellte Zusammenhang zwischen Kultur und Natur, Geist und Körper, Sinn und „Sinnenbewusstsein“ (Böhme 1989, 15), der erst durch die literarischen ‚Unterweltreisen‘ durch die bedrohlichen Landschaften menschlicher Selbstentfremdung möglich wird, eröffnet mindestens momenthaft einen neuen Blick auf die vielgestaltige Komplexität menschlichen Lebens und erneuert damit gleichzeitig die kulturelle und literarische Kreativität. Nicht nur bei Hawthorne oder Melville, sondern bis in die neuere Literaturgeschichte hinein

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14 Kulturökologie und Literatur

lässt sich zeigen, in welch erstaunlichem Maß diese regenerative Funktion der Literatur auf der thematischen wie auf der formalen Ebene trotz der existentiellen, epistemologischen, ästhetischen und ethischen Brüche der Moderne und Postmoderne wirksam bleibt. Aus der Dynamik und Wechselwirkung der genannten unterschiedlichen Diskursfunktionen – die alle in einem Gegen- und Zwischenraum des kulturellen Diskurssystems angesiedelt sind – scheint sich die spezifische Kreativität der Literatur zu entfalten, die sich zwischen den Polen von Dekonstruktion und Regeneration, Kulturkritik und kultureller Selbsterneuerung bewegt. 14.4 Literaturverzeichnis

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15 Bukolik, Idylle und Utopie aus Sicht des Ecocriticism Evi Zemanek 15.1 Antike Bukolik

Sucht man nach Imaginationen eines positiven oder gar symbiotischen MenschNatur-Verhältnisses in der älteren Literatur, denkt man sogleich an Arkadien und damit an die lange europäische Tradition der Hirten- und Schäfer- sowie der Landlebendichtung in ihren verschiedenen formalen Ausprägungen, die je nach Usus in den diversen Philologien als Bukolik und Georgik, Pastoral- oder auch Idyllendichtung bezeichnet werden. Gemeinsam ist den diesen Traditionen zugeordneten, lyrischen, narrativen und dramatischen Werken eine ländliche Szenerie, die als positives Gegenbild zur negativ konnotierten Stadt einen Rückzugsort für ein einfaches und friedvolles Leben in der Natur bietet. Da sie alle ein ideales Verhältnis zwischen Mensch und Natur schildern – worin ihr utopisches Moment besteht –, bilden sie einen höchst relevanten Gegenstand für ökokritische Untersuchungen, ohne dass sie selbst notwendig ‚ökologische‘ Ideen gemäß modernem Verständnis artikulieren müssen. Maßgeblich für die europäische Tradition der Hirten- und Schäferdichtung waren Theokrits Idyllen und Vergils Eklogen. Unter den 30 überlieferten, meist in Hexameterversen verfassten, aber thematisch heterogenen theokritischen und pseudotheokritischen Idyllen aus dem Korpus der Eidyllia (entst. zw. 280–250 v. Chr.) ist dasjenige Drittel motivisch und konzeptuell prägend für die weitere Entwicklung der Hirtendichtung, in dem verschiedene Rinder-, Schaf- und Ziegenhirten in friedlicher Naturkulisse ihren Liebesliedern freien Lauf lassen oder im Sängerwettstreit gegeneinander antreten (vgl. Theokrit, bes. Id. 1, 3–7, 10, 11). Wie Hirten und Natur zueinander stehen, zeigt sich am dichtesten in der ersten Idylle in der Beschreibung von Daphnis’ Tod. Unter den zehn Eklogen Vergils sind für vorliegendes Interesse v.a. die erste, vierte und fünfte relevant. In den genannten Texten tritt die Natur dem Leser in der Formation des locus amoenus vor Augen, der zentraler Topos der europäischen Pastoraldichtung wird. Diese Ideallandschaft besteht aus einer Reihe fester Grundbestandteile (v.a. weiches Gras, schattenspendende Bäume, erfrischendes Wasser) und

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15 Bukolik, Idylle und Utopie aus Sicht des Ecocriticism

einigen regionalspezifischen Variablen (Pflanzen- u. Tierarten). Trägt man sämtliche Elemente der in Theokrits Idyllen beschriebenen ‚lieblichen Orte‘ zusammen (vgl. Garber 1974, 90 f.), so staunt man über den beachtlichen Artenreichtum, den Vergil reduziert, weil er die Natur zur Chiffre für das gute (Hirten-) Leben im idealen Raum macht, den er in Arkadien situiert (96). Nur auf den ersten Blick ist die Landschaft der Idyllen und der Eklogen bloße Kulisse für die Lieder, vielmehr kommunizieren die Hirten mit ihr und sie ist stets Bezugspunkt, mit dem menschliches Handeln verglichen und aus dem es erklärt wird. Grundsätzlich ist zu beobachten, dass sich die Natur dem Menschen großzügig darbietet und er sich ihrer ganz selbstverständlich bedient, aber intuitiv tut er dies in Maßen. Mensch und Tier koexistieren hier friedlich in einem gemeinsamen Lebensraum. Gerade dem unglücklich verliebten Hirten ist allerdings bewusst, dass er sich von den Ziegen durch seine Einsamkeit unterscheidet (vgl. Theokrit, Id. I, v. 87 f.). Darin sieht er sich gegenüber der Natur im Nachteil, im ästhetischen Vergleich ihrer Lieder mit der Natur sprechen die Sänger einander jedoch den Sieg zu (vgl. Id. I, v. 7: „Süßer, o Schafhirt, strömt Dein Gesang als das Plätschern des Wassers“; Vergil, Ekl. V, v. 82–84). Zwar ist die Natur schön, doch noch schöner ist die Kunst des Menschen, die sich aber wohlgemerkt nur in einer schönen Natur entfalten kann. Wie maßgeblich die Natur als Vorbild ist, zeigt sich auch, wenn Naturgesetze angeführt werden, um die Kontinuität eines bestimmten menschlichen Verhaltens zu garantieren, etwa das Andenken an den hochgeschätzten Hirten und Sänger Daphnis (vgl. Vergil, Ekl. V, v. 76 f.). Zugleich wird die Umkehr der ansonsten so verlässlichen Naturgesetze (mundus inversus) heraufbeschworen, um den emotionalen Effekt eines einschneidenden Ereignisses und implizit auch den Zusammenhang aller menschlichen und natürlichen Ereignisse auszudrücken (vgl. Theokrit, Id. I, v. 132–136). Dass Daphnis in engem Verhältnis zur Natur steht, zeigt er selbst, indem er sich vor seinem Tod per direkter Anrede von den wilden Tieren sowie von den Flüssen und ihren Naturgeistern oder Nymphen verabschiedet (Id. I, v. 115–118). Besonderes Kennzeichen der Bukolik und Pastoraldichtung ist die Wechselseitigkeit der Mensch-Natur-Beziehung. Die Frage danach, wie sich umgekehrt die Natur dem Menschen gegenüber verhält, lässt sich mit dem Konzept der ‚sympathetischen Natur‘ beantworten. Pflanzen und Tiere nehmen die Gemütslagen der Hirten wahr und passen sich an, sie partizipieren durch Bewegung

15.1 Antike Bukolik

und Geräusch an Lied und Flötenspiel (z.B. Vergil Ekl. VI, v. 27 f.: „[D]a aber konntest Du sehn, wie im Takt das Wild und die Faune/ tanzten und knorrige Eichen die Wipfel regten zum Tanze.“); Pflanzen stimmen empathisch in Jubel und Klage ein, Tiere werden friedfertig (vgl. Ekl. V, v. 58–64) oder verkümmern wie die Pflanzen aus Trauer um den toten Hirten (vgl. Theokrit Id. 1, 71 f.; Vergil, Ekl. V, v. 25 ff., 34 ff.). Nicht nur Tiere, auch Pflanzen und sogar Steine empfinden Mitleid (vgl. Theokrit, Id. 7, v. 74; Vergil Ekl. X, v. 15: „Klippen beweinten ihn, der da lag“). Solche Anthropomorphisierungen kann man, wie Garrad (2004, 36), als „pathetic fallacy“ bezeichnen, ist man überzeugt, dass die Natur zu keinerlei Emotionen fähig sei. Der New Materialism, der von einer lebendigen und dynamischen Materie ausgeht (vgl. Kap. 5), vertritt diesbezüglich jedoch eine andere Position. In jedem Fall darf bei der Deutung der sympathetischen Natur einerseits nicht ihre Funktion übersehen werden, das Lied des menschlichen Sängers zu unterstreichen. Andererseits bezeugt eine solche Belebung der Natur, dass hier Menschen, Tiere und Pflanzen in einer pastoralen Lebensgemeinschaft gesehen werden. Dass man es in der Bukolik jedoch nicht mit einer vollkommen isolierten, utopischen heilen Welt zu tun hat, machen Vergils Eklogen von Anfang an klar, wenn schon die erste vor dem realen Zeithintergrund der römischen Bürgerkriege eine komplexe Problemlage skizziert. Hier stehen sich zwei konträre Schicksale gegenüber, für welche die Landenteignung und -umverteilung im Nachspiel der Schlacht von Philippi (42–41 v. Chr.) verantwortlich sind: Tityrus darf dank gnädiger Schenkung an einem vom römischen Bürgerkrieg verschonten Ort ein idyllisches Hirtenleben in Muße führen, Meliboeus hingegen muss als Enteigneter sein Land verlassen und antizipiert sein Heimweh, woran sich eine Verbindung von Naturliebe und Heimatverbundenheit zeigt. Da Meli­boeus mit seinem Land zugleich das Singen aufgibt und seine Kreativität einbüßt, kann man die Landenteignung als kulturökologische Katastrophe ansehen. Den größten Kontrast zu diesem düsteren Auftakt bildet die vierte Ekloge, die ein künftiges Friedensreich imaginiert und sich damit als ‚Utopie‘ präsentiert. Der Natur kommt hier eine untergeordnete Funktion zu: Zum einen soll sie dem Hoffnungsträger Oktavian Ehre erweisen und den Menschen beschenken, weshalb giftige Tiere und Pflanzen aussterben müssen (vgl. Ekl. IV, v. 19–25 u. 28–30), zum anderen soll sie im Motiv des Tierfriedens als Vorbild für ein angstloses Zusammenleben dienen. Mit Blick auf diese beiden repräsentativen

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Eklogen erklärt sich, dass in der Forschung zwei Grundansichten konkurrieren: Die einen sehen vor allem die Bedrohung der bukolischen Welt und unterstellen Vergil Pessimismus, die anderen betonen das positive, utopische Moment und interpretieren das Werk als optimistisch oder gar eskapistisch (vgl. Volk 2008, 1–15). Jedenfalls ist Vergils Hirtenwelt nicht etwa ein „statisches Tableau“, wie oft für idyllische Dichtung behauptet wird, sondern diese ist „gefährdet, relativiert, vielleicht gar in Frage gestellt“, wie Garber (2009, 39 u. 41 f.) meint, der in Vergils Eklogen aufgrund ihrer verschlüsselten Kritik an den politischen Zuständen und des Entwurfs eines idealen Gegenbilds den „Beginn der pastoralen wie der arkadischen Utopie“ sieht. Dennoch ist Vorsicht geboten, wenn der heutige Leser einzelne Details kontextentbunden als Indizien für proto-ökologisches Denken interpretieren will: Im Kontext einer Beschreibung, wie die ganze Natur anlässlich der Apotheose des Daphnis in das Freudenlied des Menalcas einstimmt, ist im Lateinischen einmal von „intonsi montes“ („ungeschorenen Bergen“) die Rede (vgl. Ekl. V, v. 62–64). Man bewegt sich auf unsicherem Boden, wenn man dies mit Greg Garrard (2004, 36) als kritische Anspielung auf die Waldrodungen der Römer und damit gar auf Umweltprobleme liest, ohne die Deutung durch andere Stellen zu stützen, zumal sich die meisten Übersetzungen zu Recht für ‚waldige Berge‘ entscheiden. Dass man die Eklogen in ganz anderer Perspektive als ‚ökologischen‘ Text lesen und damit einen kanonischen Text reinterpretieren kann, zeigt Timothy Saunders (2008, 4), dessen Konzept einer ‚literarischen Ökologie‘, unter Berufung auf Haeckels Verständnis der Ökologie als Erforschung komplexer Interrelationen, den Text als lebendigen Organismus und das Textkorpus als Ökosystem ansieht. In der Überzeugung, die Eklogen analogisierten selbst das physikalische und das literarische Universum, setzt er das ökologische System ein für das ‚Universum der Texte‘, wie aus der Intertextualitätstheorie bekannt. Auch fokussiert er die Darstellung von Natur, betrachtet dabei aber eine große Bandbreite von Phänomenen, vom Aufbau des Alls bis zum Atom als kleinstem Baustein der physischen wie der poetischen Welt. Die Wechselseitigkeit der engen Beziehung zwischen Text und Natur zeige sich z.B. darin, dass die Lieder danach streben, den Kosmos zu formen, während dieser gleichzeitig die Lieder formt, zumal bestimmte topografische Gegebenheiten diese überhaupt erst ermöglichen (50, 79 ff.). Saunders widerspricht der Forschungsmeinung,

15.1 Antike Bukolik

man habe es in den Eklogen v.a. mit wildwüchsiger Natur zu tun. Er verweist darauf, dass dieser schon im ersten Gesang die beackerte, kultivierte Natur zur Seite gestellt wird, die er mit dem literarischen Text korreliert, der selbst auch höchst kunstfertig sei (94). So wurde auch das Land, das Meliboeus zurücklassen muss, von ihm selbst kultiviert und es ist ihm deshalb so lieb (vgl. Vergil, Ekl. I, v. 72 f.; Saunders 2008, 95 f.). Ein Grundprinzip der Eklogen besteht im „bucolic exchange“, der auf textinterner Ebene im Sängerwettstreit in Erscheinung tritt und bei dem oft ein Gebrauchsgegenstand oder ein Tier für ein Lied getauscht werden. Aber eben auch die Landenteignungen und -zuweisungen könne man als Teil dieser Austauschprozesse verstehen (92). Auch Saunders widerlegt also die vermeintliche Statik der Idylle und verweist auf ihre Dynamik. Obwohl die Hauptelemente des locus amoenus in der europäischen Pastoraldichtung jahrhundertelang konstant bleiben, lässt sich schon kurz nach ihrer Wiederbelebung in der Renaissance bzw. im Barock feststellen, dass die Landschaften, etwa in der Schäferdichtung des Nürnberger Pegnesischen Blumenordens, erkennbar individueller und damit ‚realistischer‘ werden (vgl. Garber 1974, 127 f.). Wer insgesamt etwas mehr Realismus fordert und wie Garrard eine Gefahr des Pastoralen in deren starker Idealisierung des Landlebens und der Ausblendung der alltäglichen Mühsal ländlicher Arbeit beklagt (vgl. Garrard 2004, 35), übersieht, dass dafür nicht die Schäfer-, sondern eigentlich die Landlebendichtung zuständig wäre. Letztere geht zurück auf Vergils Georgica oder die zweite Epode des Horaz, in der dem Stadtleben ein vollends glückliches Landleben entgegengesetzt wird, in konzentrierter Form in den berühmten Eingangsversen: „Beatus ille qui procul negotiis,/ ut prisca gens mortalium,/ paterna rura bobus exercet suis […]“ (Horaz, Ep. 2, v. 1–3; dt: „Glücklich! wer fern von Geschäften,/ wie das erste Geschlecht der Sterblichen,/ die väterlichen Felder mit eigenen Rindern pflügt […]“). Diese Verse wurden in Europa seit Beginn der Renaissance mit unterschiedlicher gesellschaftskritischer Stoßrichtung vielfach aufgegriffen, etwa um das lasterhafte Hofleben anzuprangern, wie in Martin Opitz’ Lob des Feldtlebens (1623), oder, um die Frühform des wirtschaftlichen Kapitalismus anzugreifen, wie in Johann Fischarts satirischem Text Fürtreffliches artliches Lob deß Landlustes Mayersmutes und lustigen Feldbaumans leben (1579), wo das Elend der Bauern zur Sprache kommt (vgl. Garber 1974, 80 f.). Hier zeigt sich der Unterschied zwischen Schäfer- und Landlebendichtung: Letztere richtet das Augenmerk auf den Arbeitsalltag der Landleute, Erst-

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15 Bukolik, Idylle und Utopie aus Sicht des Ecocriticism

genannte rückt verklärend die Muße, das Dichten und Musizieren ins Zentrum; Schäfer und Hirten können ihre Zeit in der Natur deutlich genussvoller verbringen als die Bauern, die von und in der Natur genügsam und vorbildlichtugendhaft leben (203–207). Aus der Perspektive einer heutigen ökologischen Ethik hat wohl eher das geschilderte Bauernleben mit seiner Mäßigung, Autarkie und seinem an die Natur angepassten Rhythmus einen gewissen Vorbildcharakter. Gleichwohl gilt auch in der Schäfer- und Hirtenwelt nicht: „Erlaubt ist, was gefällt“, sondern es herrschen – spätestens seit der Aufklärung – die Gebote von Tugend und Vernunft (76). 15.2 Idylle im 18. Jahrhundert

Als Höhe- und Endpunkt der deutschsprachigen pastoralen Dichtung gelten die 1756 erschienenen Idyllen des Schweizers Salomon Gessner, der mit diesem enormen Verkaufserfolg dem Terminus Idylle neue Geltung verschafft. Aufschlussreicher als so manche der thematisch stark an Theokrit orientierten, aber in Prosa verfassten Idyllen ist Gessners Vorwort „An den Leser“. Hier geriert sich der Dichter als frustrierter Städter und Naturfreund: „Oft reiß ich mich aus der Stadt los, und fliehe in einsame Gegenden, dann entreißt die Schönheit der Natur mein Gemüth allem dem Ekel und allen den wiedrigen Eindrüken, die mich aus der Stadt verfolgt haben; ganz entzükt, ganz Empfindung über ihre Schönheit, bin ich dann glüklich wie ein Hirt im goldnen Weltalter“ (Gessner 1970, 15). ­Ausführlich imaginiert er das ersehnte Landleben in der letzten Idylle der Sammlung von 1756 mit dem Titel „Der Wunsch“. Im Unterschied zu den Antiken kennt er schon die ‚verdorbene Natur‘, schafft er doch – mit seiner „EinbildungsKraft“ – „Scenen […] aus der unverdorbenen Natur“ (15). Auch idealisiert er das Leben der Hirten und Landbewohner im Bewusstsein eigener „unglü[c]kliche[r] Entfernung von der Natur“ (15), also fortgeschrittener Kultiviertheit. Um seiner Dichtung mehr Wahrscheinlichkeit zu verleihen, versetze er die Szenen „in ein entferntes Weltalter“, „weil sie für unsre Zeiten nicht passen, wo der Landmann mit saurer Arbeit unterthänig seinem Fürsten und den Städten den Überfluß liefern muß, und Unterdrückung und Armuth ihn ungesittet und schlau und niederträchtig gemacht haben“ (16). Das utopische Moment des Werkes besteht wiederum nicht nur in der ostentativen Idealität des vorgestellten Lebens, sondern auch in der unterschwelligen Kritik an den gegenwärtigen Verhältnissen.

15.2 Idylle im 18. Jahrhundert

Entsprechend zelebrieren seine empfindsamen Hirten in ungekanntem Maß den Genuss der lieblichen Natur, die meist Ort der Liebesbegegnung ist. Ein Schlüsselwort für das Naturverhältnis bei Gessner ist das „Entzü[c]ken“, das sowohl Liebe wie Naturerlebnis immer wieder auslösen – ja, nicht nur die Menschen, auch die Tiere sind entzückt von allgegenwärtiger Schönheit (vgl. Die Nacht. 1753, 9; Idas. Mycon, 23; Damon. Daphne, 33; Palemon, 41; Tityrus. Menalkas, 51 f.; Die Erfindung des Saitenspiels und des Gesanges, 53 f.). Neu ist außerdem, dass die Notwendigkeit der Kultivierung eines Locus amoenus bei Gessner reflektiert wird (vgl. Heller 2016). Die Zeichen der Naturkultivierung nehmen zu, ablesbar im Anlegen von Gärten und in liebevoller Pflege aller Pflanzen (vgl. z.B. Idas. Mycon, 23; Lycas und Milon, 29). Gleichzeitig hält hier die Idee von Naturschutz Einzug, am offenkundigsten in der Idylle „Amyntas“: Als dem nach Torquato Tassos berühmtem Hirtenspiel Aminta (1573) benannten Hirten zufällig eine Eiche ins Auge fällt, die von einem wilden Fluss entwurzelt zu werden droht, setzt er das eben geschlagene, für den eigenen Zaun vorgesehene Holz spontan für den Bau eines Dammes ein, um den Baum zu retten. Als dem hilfsbereiten Amyntas daraufhin von einer Dryade, Nymphe der Eichen, zum Dank die Erfüllung eines Wunsches versprochen wird, wünscht der Selbstlose die Genesung eines kranken Nachbarn. Gleichwohl wird der vorbildhafte Naturfreund von den Göttern mit Reichtum belohnt (vgl. Gessner 1973, 31). Es ist die ihrerseits gütige Natur selbst, die Gessners Hirten zu empathischem, fürsorglichem Verhalten anleitet, sodass er durch den Umgang mit ihr zum guten Menschen wird. Im Umkehrschluss fehlt es den Städtern zugleich an Natur und an Moral, ihre Naturentfremdung ist immer auch Selbstentfremdung. Diese kulturkritische Komponente wurde in der bisherigen Forschung weniger wahrgenommen als das empfindsame Moment und die liebliche Ästhetik. Die einflussreichsten und für das Mensch-Natur-Verhältnis aufschlussreichsten Äußerungen über die Idylle finden sich in Friedrich Schillers Abhandlung Ueber naive und sentimentalische Dichtung (1795). Vorwegzuschicken ist, dass Schiller, spricht er von Natur, einmal bloß alle Naturphänomene meint, ein anderes Mal zugleich die Natur des Menschen, seinen vorkulturellen Zustand der Naivität. Da Letzterer verloren ist, sei der moderne Mensch durch die Sehnsucht nach der Natur gekennzeichnet: „Mit schmerzlichem Verlangen sehnen wir uns dahin zurück, sobald wir angefangen haben, die Drangsale der Kultur zu erfahren […]“ (Schiller 1962, 427). Zuvor heißt es: „Solange wir bloße

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Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen“ (427 f.), d.h. ein „harmonirendes Ganze[s]“, in dem die Sinne und Vernunft noch nicht getrennt oder gar im Widerstreit waren (436 f.). In den Einzelphänomenen der Natur (sei es Blume, Stein, Quelle oder das Summen der Bienen) lieben die Modernen „das stille schaffende Leben, das ruhige Wirken aus sich selbst, das Daseyn nach eigenen Gesetzen, die innere Notwendigkeit, die ewige Einheit mit sich selbst“ (414). Proto-ökologisches Denken kann man aus Schillers Rat an den Kulturmenschen herauslesen: „[S]trebe nach Einheit, aber suche sie nicht in der Einförmigkeit; strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillstand deiner Thätigkeit“ (428). Den Werken der Griechen entnimmt Schiller den Eindruck, sie haben vertrauter „mit der freyen Natur“ gelebt, weshalb sie nicht mit demselben „sentimentalischen Interesse“ daran hingen wie die Modernen (429). Daher unterscheidet er die alten und modernen Dichter als naive und sentimentalische: Die ersteren bewahren die Natur in der bloßen Nachahmung, die anderen rächen das Verlorene, indem sie ein Ideal erschaffen (432; 438 ff.). Während sich dem naiven Dichter die Natur noch als ungeteilte Einheit, als selbstständiges und vollendetes Ganzes zeigte, müsse der sentimentalische diese Einheit selbst wiederherstellen (473). Schiller differenziert weiter zwischen zwei Modi des Sentimentalischen: der ‚satyrischen‘ Dichtung, in der die Wirklichkeit „ein nothwendiges Objekt der Abneigung“ (442) ist, wie bei Rousseau und Haller, und der ‚elegischen‘ Darstellung, in der das Ideal die Wirklichkeit und die Natur die Kunst dominieren (448). Beide können in ernstem oder scherzhaftem bzw. trauerndem oder freudvollem Ton realisiert sein. Ist die Natur als freudebringend dargestellt, könne man von „Idylle in weitester Bedeutung“ (449) sprechen. Dass er die Idylle trotzdem zur elegischen Dichtung zählt, obwohl sie eine „poetische Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschen“ (467) sei, begründet Schiller damit, dass solche Texte elegisch wirken, weil sie das Gefühl des Verlustes evozierten (449). Zweck der Idylle sei es, „den Menschen im Stand der Unschuld, d.h. in einem Zustand der Harmonie und des Friedens“ (467) darzustellen, um den Modernen ein Vorbild zu geben. Schiller sieht wie schon Gessner die Notwendigkeit, angesichts der negativen Gegenwart die ideale Welt in den einfachen Hirtenstand und in ein goldenes Zeitalter zu verlegen, erkennt darin aber auch das Problem der modernen Idyllen, die das Naive reintegrieren wollen: „Sie sind gerade so weit ideal, daß die Darstellung dadurch an individu-

15.3 Naturstaatutopie

eller Wahrheit verliert, und sind wieder gerade um so viel individuell, daß der idealische Gehalt darunter leidet“ (470). Dieser Kritik entzieht sich die andere Variante sentimentalischer Dichtung: die satyrische. Schiller nennt keine Beispiele für diesen Modus, man findet ihn aber zum Beispiel in der Naturstaatoder Naturstandsutopie. Nach Gessner und damit in Zeiten umfassender Modernisierung wird das Ende der Idylle als eigene Gattung konstatiert. Definiert man die Idylle gemäß der bukolischen Tradition als Hirten- oder Schäfergedicht oder nach erweitertem Verständnis als Naturgedicht, die Utopie hingegen als Zukunftsvision, vermittelt in einem Hybrid von Reisebericht und dialogischem Traktat, so berühren sich die Gattungsgeschichten von Idylle und Utopie bis Mitte des 18. Jahrhunderts wenig. Man könnte Idylle und Utopie als regressives vs. progressives Modell und somit gar als Gegensatz ansehen. Begreift man sie hingegen als thematisch bestimmte Denkbilder, so kennzeichnet die meisten Idyllen ein utopisches Moment, und die meisten Utopien enthalten idyllische Räume. Letztere werden spätestens seit Beginn des Industriezeitalters nicht nur von außen bedroht, sondern als Glücksquelle aufgrund der mit ihnen verbundenen Isolation, Geschlossenheit, Ruhe und Stasis mit dem Tod assoziiert – Böschenstein (1986, 29) spricht von der Mortifikation der ‚Idylle‘. Diese negative Konnotation kann jedoch durch eine Fusion des Idyllischen mit der Sozialutopie, die den Stillstand durch Reformen aufbricht, relativiert werden. 15.3 Naturstaatutopie

Die mitunter stark an Rousseaus êtat de nature orientierte Naturstaat- oder ­Naturstandsutopie (alternativ auch Naturutopie und status naturalis-Utopie) tritt in Westeuropa im 17. und 18. Jahrhundert meist in Prosa in Erscheinung und ist thematisch-motivisch mit der Bukolik und Idyllendichtung verwandt, denn sie greift vielfach auf das Konzept des Goldenen Zeitalters und den Motivbestand des idealen Arkadien zurück. Verglichen mit anderen literarischen Utopien in der Nachfolge von Thomas Morus’ Utopia basiert ihre moralisch absolut vollkommene Gesellschaft dezidiert auf der Vorstellung „naturgemäßer menschlicher Unschuld“ (Baudach 1993, 143). Die Mehrzahl dieser Utopien fokussiert die Natur des Menschen, ohne dass die äußere Natur dabei per se viel Beachtung erfährt, der Mensch lebt hier jedoch selbstverständlich in einem

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Harmoniezustand nicht nur mit seinen Mitmenschen, sondern auch mit seiner idealschönen Umwelt. Während ein Teil solcher Naturstandsutopien auf einem christlichen Verständnis des Status naturalis als einem Zustand der Unschuld vor dem Sündenfall basiert, gründet der andere Teil auf dem säkular geprägten Konzept eines vorzivilisatorischen Urzustands, wie er in der ‚Naturvölkerutopie‘ geschildert wird (vgl. 46–138). Letztere Subgattung, die im 18. Jahrhundert im Verbund mit dem Bild des ‚edlen Wilden‘ zutage tritt, findet sich im deutschsprachigen Raum am prominentesten bei Christoph Martin Wieland. Dieser erprobte über zwei Jahrzehnte hinweg diverse Utopiemodelle, bis er in der Binnenerzählung von den „Kindern der Natur“, die im Roman Der Goldne Spiegel (1772) dargeboten und zugleich diskutiert wird, schließlich einen „ästhetisch veredelten Naturzustand[]“ entwarf, der, angesichts der Unmöglichkeit einer Rückkehr in den präkulturellen Urzustand, als ‚realistischer‘ Kompromiss eine Aussöhnung von Natur und Kultur in Aussicht stellt (vgl. Baudach 2001, 812). Wie in Morus’ Gattungsprototyp schildert ein Reisender innerhalb der genannten Binnenerzählung – in diesem Fall ein Emir, der bisher ausschweifend gelebt und dafür seine Gesundheit eingebüßt hat, – eine orientalisch gefärbte Enklave glücklicher Menschen in einem paradiesischen Tal, das diese von der Zivilisation abschirmt. Ihre Glückseligkeit wurzelt in dem Gelübde, „der Natur gemäß zu leben“ (Wieland 2008, 56), gemeint ist damit ein Leben bestehend aus „Arbeit, Vergnügen und Ruhe, jedes in kleinem Maaße“ (53). Im Unterschied zu Morus, der seinen Utopiern auch schon ein naturgemäßes Leben vorschrieb, in dem nur natürliche Bedürfnisse befriedigt werden dürfen, wobei hier ‚natürlich‘ mit ‚vernünftig‘ gleichgesetzt ist, dürfen sich Wielands „Kinder der Natur“ auch der (natürlichen) Wollust hingeben, solange sie dabei ein gewisses Maß bewahren, denn Ziel des Lebens ist es, froh zu sein. Folglich lernt der Emir von den Talbewohnern die Mäßigung als Weg zur Zufriedenheit. Ein Mittelweg wird auch im Bereich der Bildung gewählt: Die Kinder werden zunächst der „Erziehung der Natur“ überlassen, danach werden sie gerade so viel geschult, bis sie ausreichend Wertschätzung und Verständnis für die Verfassung des Kleinstaats haben (64); weder Wissenschaften noch Künste sind dafür notwendig. Die Natur ist ethisches und auch ästhetisches Vorbild, der Mensch selbst aber sei ihr Meisterstück (60). Die anthropozentrische Perspektive bleibt also erhalten, auch wenn Vieles schon auf eine moderne ökologische Utopie vorausdeutet, so auch ein Kernsatz der proklamierten Sittenlehre: „[L]iebet alles […]! Liebet ei-

15.4 Agrarutopie

nen jeden“ (61). Der hierin auch anklingenden Behauptung, die kleine Nation „lebt in einer vollkommenen Gleichheit“ (65), widerspricht allerdings, dass man sich dort zum Vergnügen ‚freiwillige‘ Sklaven hält, die man aus Beduinen rekrutiert. Ansonsten ist das Tal wirtschaftlich autark: Die Jugendlichen arbeiten als Hirten, die Erwachsenen als Bauern und die Alten als Gärtner, während die Frauen für Kleidung und Haushalt zuständig sind. Die Talbewohner wissen allerdings, dass dies nur funktioniert, solange sie ein kleines Volk bleiben; deshalb schicken sie die Abenteuerlustigen in die Welt hinaus, sie können jedoch im Alter heimkehren, in die „einzige[] Freytstätte, welche die schöne Natur vielleicht auf dem ganzen Erdboden hat“ (64). Diese Ortsbeschreibung deutet auf ein günstiges Klima hin, denn Naturstaat­ utopien sind notwendig in milden Klimazonen situiert, in denen sich die Natur dem Menschen in ‚ewigem Frühling‘ großzügig darbietet. Folglich werden sie gern in der Südsee angesiedelt, so etwa die Tahiti-Utopie in Adolph Freiherr Knigges „Manuskript des Herrn Brick“ als Teil seines Romans Geschichte Peter Clausens (1783–85). Im besagten „Manuskript“ konkurrieren mehrere Utopien miteinander: eine säkulare und eine christliche Naturstaatutopie, aus denen der Reisende Brick jeweils wieder vertrieben wird, weil er nicht mehr hinter seinen Kulturstand zurück kann, sowie ein auf Gütergemeinschaft, Egalität und auch Vegetarismus gründender Idealstaat, der als Kulturgemeinschaft mit relativer Nähe zum Naturzustand einen Kompromiss darstellt – wie die meisten späteren Ökotopien. Ähnlich gibt auch Wielands in der Rahmenhandlung angesiedelter Erzähler im Wissen, dass die ideale kleinstaatliche Lebensweise in einem Millionenstaat nicht umsetzbar ist, den Mächtigen den ‚realistischen‘ Rat, die Landbevölkerung zu stärken, weil sie dem glücklichen Zustand am nächsten sei. 15.4 Agrarutopie

Die Propagierung und Idealisierung einer bäuerlichen Lebensweise kennzeichnet auch die Agrarutopien, die im 19. Jahrhundert als Reaktion auf den sich langsam durchsetzenden Agrarkapitalismus erschienen und Elemente des Idyllischen und der Landlebendichtung enthalten. Sie entstanden eigenständig in Form von Traktaten ebenso wie als Romane – der seit dem 18. Jahrhundert beliebtesten Form der Utopie –, können aber auch im Lehrgedicht realisiert sein, wie Albrecht von Hallers Die Alpen (1729). In abgeschwächtem, ‚realistischen‘

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Modus manifestiert sich der Topos des guten Landlebens auch in den zahlreichen Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts, z.B. von Berthold Auerbach, und realistischen Romanen, v.a. von Wilhelm Raabe, Adalbert Stifter und Gottfried Keller – ein großes Korpus, das hier zugunsten der Utopie ausgeblendet wird. Die rege, heute aber großenteils vergessene Utopieproduktion zur Zeit der Industrialisierung, welche eine Lösung damaliger Probleme nicht nur in sozialen Reformen und technischem Fortschritt, sondern oft auch in der Rückkehr zu vorindustrieller Lebensweise sucht, hat Jost Hermand inventarisiert. Er attestiert den meisten Autoren jener Zeit „bereits ein deutlich ausgeprägtes Ökologiebewusstsein“ (Hermand 1981, 24), fragen sie doch, „welche Wirkung die zunehmende Industrialisierung nicht nur im Hinblick auf das menschliche Wohlergehen, sondern auch auf die Zukunft der Natur, der Städte, der Landwirtschaft, der Pflanzen und Tiere haben wird“ (24). In den von ihm vorgestellten Utopien werden viele Verbesserungsmaßnahmen geschildert, die in der Summe die ‚grüne Utopie‘ ausmachen: die Aufhebung des Privatbesitzes, die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land, die Separierung von Industriezonen und Wohngegenden sowie die Verbesserung der Lebensqualität durch Begrünung, die Deurbanisierung und die (Wieder)Aufforstung, die Verbesserung der Massenverkehrsmittel zur Reduktion von Umweltverschmutzung, die Kontrolle des Bevölkerungswachstums, der Tierschutz und der Vegetarismus (vgl. 25 ff.). Wie schon in Morus’ Utopia wird als ein reales Hauptproblem das Privateigentum von Grund und Boden angesehen, das in der Fiktion jedoch durch Bodenreformen überwunden wird. Für einen Agrarsozialismus wirbt zum Beispiel der österreichische Autor Theodor Hertzka in zwei Texten: in der reportage­ artigen Schrift Freiland. Ein soziales Zukunftsbild (1889), das realiter die Freilandbewegung initiierte, und in dem romanhaften Reisebericht Eine Reise nach Freiland (1891); beide situieren den Idealstaat in Kenia. Bemerkenswerterweise ist in diesen wie ähnlichen Utopien die Rückkehr zu einer Agrargesellschaft nicht an den Verzicht auf Maschinen gekoppelt, im Gegenteil, diese müssen verbessert werden, um die Landarbeit zu erleichtern. Überhaupt schienen den damaligen Autoren – im Unterschied zu den Rousseauisten des 18. Jahrhunderts – ein naturnahes, gesundes Leben und technischer Fortschritt gut vereinbar, wie dies auch in Hertzkas Science-Fiction-Roman Entrückt in die Zukunft (1895) realisiert ist, der im Jahr 2093 im klimatisch angenehmen Sizilien

15.5 Ökotopie

spielt und eine Gesellschaft imaginiert, welche nicht nur die Landwirtschaft perfektioniert, sondern auch Erfindungen vorzuweisen hat, die man heute der Bionik zurechnen würde, z.B. Fluggeräte, die Maschine und Körper ideal miteinander interagieren lassen und mithilfe des Erdmagnetismus angetrieben werden. Visionen sauberer Energiegewinnung finden sich häufiger in den Utopien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, doch ist gerade dies nicht neu, denn schon Francis Bacon stellt in New Atlantis (1627) zukunftsfähige Verfahren zur Energiegewinnung aus Wasser, Wind, Sonne und Erdwärme vor. Diese und andere Innovationen in den Bereichen Bodenmelioration und Pflanzenzucht sind in jener Technik- und Wissenschaftsutopie jedoch noch nicht ökologisch motiviert, sondern erfolgen im Zeichen der Eroberung, Ausbeutung und Überbietung der Natur. Das Beispiel verweist auf die Problematik der Klassifizierung einer Zukunftsvision als ‚ökologische‘ Utopie. 15.5 Ökotopie

Der Politologe Marius de Geus, Autor der Studie „Ecological Utopias“, die auf einem weiten, inhaltsbezogenen, die literaturwissenschaftliche Gattungsdiskussion ausblendenden Utopiebegriff basiert, unterscheidet zwischen „utopias of abundance“, zu denen er Bacons New Atlantis zählt, und „utopias of sufficiency“ wie den Utopien von Morus, Morris und Callenbach (de Geus 1999, 20 f.): Die ersteren definieren Zufriedenheit durch materiellen Luxus und Überfluss, die letzteren verlangen ein gewisses Maß an Selbstbeschränkung und Genügsamkeit. Diese Differenzierung erweist sich jedoch nur bedingt als hilfreich. Auch wenn die letztgenannten Kennzeichen auf Morus’ Utopia zutreffen und man hier weitere, für Ökotopien wesentliche Merkmale findet – die Leitideen von Humanität und Harmonie (allerdings auf das menschliche Zusammenleben beschränkt) sowie die Autarkie ihrer eigenen stabilen, nachhaltigen Kreisläufe –, spricht ebenso viel dagegen, den Text als ‚ökologische Utopie‘ anzusehen: von Einzelheiten wie dem Bekenntnis zur effizienten Massentierzucht bis zum Gesamtkonzept als autoritäres, auf strikte Regulierung, Kontrolle und Bestrafung gründendes System. Auch geht de Geus zu weit mit dem Urteil, die Utopier zeigten durchweg Respekt für die Natur, die in ihren Augen Schutz um ihrer selbst willen verdiene (67 f.). Es ist verfänglich, das Mensch-NaturVerhältnis vormoderner Utopien ausgehend vom heutigen Naturbegriff (im

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Sinne biotischer und abiotischer Umweltfaktoren) zu beurteilen. Das aktuell populäre Verständnis von ‚ökologischem Handeln‘ als Rücksichtnahme auf die Eigendynamik der Natur suggeriert, dass Mensch und Natur zwei voneinander unabhängige Größen seien, wobei sich der Mensch als das zumeist aktive Subjekt verschiedentlich zum Objekt Natur verhalten kann. Bei älteren Texten, in denen Mensch und Natur einander aber nicht derart unabhängig gegenüberstehen, muss die Beurteilung unter anderen Prämissen erfolgen, und es wären, wenn überhaupt, andersartige ‚proto-ökologische‘ Denkmuster zu erwarten als in der modernen Ökotopie. Solche findet man bei Morus in der Offenbarung komplexer Interdependenzen zwischen verschiedenen Negativphänomenen, etwa wenn er im ersten Buch schildert, wie die Ausbreitung der Schafzucht, verbunden mit der Einhegung von Weideland, der Umfunktionalisierung von Ackerland und der Vertreibung von Bauern, zu Arbeitslosigkeit und Kriminalität führt, weshalb er für die Rückkehr zum Ackerbau wirbt. Schließt man in ‚ökologisches‘ Denken und Handeln die Verabschiedung des menschlichen Herrschaftsanspruchs und den Schutz der Pflanzen- und Tierwelt mit ein, so macht es Sinn, die Genese der Ökotopie erst im Indus­ triezeitalter zu verorten, wie dies Jan Hollm vorschlägt. Er definiert die Subgattung als fiktiven Entwurf einer „Gegenkultur zur Industriekultur“, die „auf eine harmonische Einbettung der (menschlichen) Gesellschaft in ökologische Kreisläufe ausgerichtet ist“ (Hollm 1998, 10). Seine Kernthese lautet: „Während die traditionelle Utopie sich darum bemüht, die Natur den Bedürfnissen des Menschen anzupassen, versucht die Ökotopie eine Neubestimmung der menschlichen Position innerhalb der Schöpfung vorzunehmen. Eine solchermaßen ökologische Verortung impliziert die Aufhebung einer dualistischen Sicht von Mensch und Natur“ (10 f.). Diese konsensfähige These erweitert er mit dem Zusatz, dass eine „umfassende Liebe zu allem Lebenden im Zentrum der ökotopischen Weltsicht“ (11) stehe – im Unterschied zur klassischen Utopie, in der Emotionen eine geringere Rolle spielen. Der Auffassung, dass also Natur- und (romantischer) Liebesdiskurs gleichermaßen gattungskonstitutiv seien, mag man nur bedingt zustimmen; überzeugender ist es, die Genese der Subgattung auf die realen Negativerfahrungen fortschreitender Industrialisierung zurückzuführen. Demnach identifiziert der Amerikanist als erste Ökotopie William Morris’ News from Nowhere or An Epoch of Rest (1890), dessen Obertitel an Morus’ Utopia anknüpft, dessen Zusatz eine nicht mehr nach Fortschritt, sondern

15.5 Ökotopie

nach Stabilität strebende Gesellschaft ausruft und dessen Untertitel (Being some Chapters of a Utopian Romance) darauf verweist, dass die soziopolitische Bekehrung des Zeitreisenden zu einer besseren Lebensweise mit einer amourösen verbunden ist. Anders als die bereits angesprochenen Agrarutopien, mit denen Morris’ Utopie Deindustrialisierung und Deurbanisierung verbindet, verabschiedet Morris’ höchst idyllischer Zukunftsentwurf dezidiert das ‚Maschinenzeitalter‘ und läutet ein neues ‚Zeitalter des (Kunst-)Handwerks‘ ein, d.h. die industrielle Massenproduktion wird durch die Rückkehr zur individuellen manuellen Fertigung abgelöst. Ziel ist nicht nur die Aufhebung der Entfremdung, sondern die Verschönerung aller Dinge und Tätigkeiten, um die Lebensfreude zu steigern; hervorstechendes Merkmal dieser Utopie ist die umfassende Ästhetisierung aller Lebensaspekte. Da zur Gestaltung eines schönen Lebensraums auch der Kampf gegen Umweltverschmutzung gehört, werden hier explizit Maßnahmen zum Naturschutz getroffen. Das zentrale Anliegen ist jedoch die Erneuerung der Gesellschaft durch die Förderung von Kreativität, die ‚kulturelle Energie‘ erzeugt (vgl. Zemanek 2015) – ein Konzept, das kulturökologischen Prinzipien entspricht (vgl. Zapf 2008, 28 f.). Die Ausübung verschiedener Künste und das Ausleben von Emotionalität werden aus ähnlichen kulturökologischen Erwägungen auch in Callenbachs Ecotopia gefördert, um Natur und Kultur sowie Körper und Geist im Menschen zu versöhnen und damit die Grundvoraussetzung für ein zufriedenes und friedliches Zusammenleben zu schaffen. Ernest Callenbachs Ecotopia (1975/2011), von dem sich der Ökotopiebegriff ableitet, gilt als Musterbeispiel aus der Blütezeit der Subgattung, entstanden vor der Negativfolie der USA in den 1970er-Jahren. Im Vergleich zu Morris, auf den Callenbach vielfach rekurriert, sind die unzähligen, übersichtlich dargelegten Reformen und Innovationen stärker ökologisch-funktional motiviert und von Theorien wie Arne Naess’ Tiefenökologie und Barry Commoners vier ökologischen Gesetzen geprägt. Das fiktive Ecotopia entstand als autonomer Staat im Nordwesten der USA infolge von Revolution und Sezession. Seine Gesellschaft, angeleitet durch eine reformierte, feminisierte, grüne Politik, gründet auf Renaturierung und Dezentralisierung menschlicher Lebensräume, entwickelt innovative Technik, aber nur im Zeichen besserer Umweltverträglichkeit, reduziert den Konsum, praktiziert Recycling in allen Lebensbereichen, denkt systemisch und nachhaltig. Das soziale Miteinander ist aber keineswegs diszipliniert, es

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werden im Gegenteil gar archaische Verhaltensmuster wiederbelebt. Die Crux liegt freilich in der Frage, wie sich der Staat, in dem Steuern und Arbeitszeit stark reduziert sind, mitsamt seiner aufwendigen Energieforschung finanziert. Erklärtes Ziel ist ein ‚stabiles Gleichgewicht‘ in einem autarken, geschlossenen System, das sogar einen Bevölkerungsrückgang vorsieht. Callenbachs Menschen wollen nun einen bescheidenen Platz im Netz lebender Organismen einnehmen und diesen Haushalt so wenig wie möglich stören. Abschließend stellt Callenbach jedoch selbstkritisch und im Namen aller Ökotopien die Frage, wie sinnvoll ein einzelnes isoliertes ökologisches System in globaler Perspektive ist, und weist damit zukünftigen Ökotopien den Weg ins globale Narrativ – eine Herausforderung, die bisher kaum bewältigt wurde. Erschwerend käme als Ideal der Ökotopie die literarisch schwer zu gestaltende Ablösung des anthropozentrischen Weltbilds durch ein biozentrisches hinzu. Resümierend lässt sich festhalten, dass sämtliche hier besprochenen Textgattungen von der antiken Bukolik/Pastoraldichtung bis zur gegenwärtigen Ökotopie das erste der von Lawrence Buell genannten Merkmale ‚ökologischer Texte‘ (vgl. Buell 1995, 7 f.) besitzen, nämlich die Natur nicht nur als Kulisse darzustellen, sondern Mensch und Natur in einem Zusammenhang zu sehen, auch wenn in den vormodernen Texten, besonders in der neuzeitlichen Idyllendichtung und in den Naturstaatutopien, das Interesse nicht primär der Natur selbst, sondern ihrer Bedeutung für den Menschen gilt. Vor dem Hintergrund fortschreitender Industrialisierung weisen dann manche Agrarutopien und frühe Ökotopien schon ein weiteres Merkmal auf, indem sie eine Ethik der Verantwortung für die Umwelt suggerieren, die man teilweise natürlich auch bereits in der Fürsorge der Schäfer für ihre Tiere findet. Allein Buells letztes Kriterium, die Wahrnehmung der Natur/Umwelt als etwas sich stetig Veränderndes, lässt sich schwer nachweisen. Dennoch erfüllen alle behandelten Texte trotz ihrer sehr unterschiedlichen Poetiken die drei zentralen kulturökologischen Funktionen von Literatur (vgl. Zapf 2008, 33–35), denn sie registrieren und kritisieren kulturelle Fehlentwicklungen, verschaffen kulturell Ausgegrenztem neue Aufmerksamkeit und führen heterogene Spezialdiskurse zusammen.

15.6 Literaturverzeichnis

15.6 Literaturverzeichnis

Baudach, Frank: Planeten der Unschuld – Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 1993. Baudach, Frank: Die Idee des friedlichen Naturstaats in literarischen Utopien des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Garber, Klaus/Held, Jutta (Hg.): Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision. Bd. 1: Erfahrung und Deutung von Krieg und Frieden. München 2001, S. 801–815. Böschenstein, Renate: Idyllischer Todesraum und agrarische Utopie: Zwei Gestaltungsformen des Idyllischen in der erzählenden Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Seeber, Hans-Ulrich/Klussmann, Paul Gerhard (Hg.): Idylle und Modernisierung in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Bonn 1986, S. 25–40. Buell, Lawrence: The Environmental Imagination: Thoreau, Nature Writing and the Formation of American Culture. Cambridge/MA 1995. Callenbach, Ernest: Ecotopia. The Notebooks and Reports of William Weston. Hg. v. Klaus Degering. Stuttgart 2011 (Amerikan. Orig. 1975). De Geus, Marius: Ecological Utopias. Envisioning the Sustainable Society. Utrecht 1999. Garber, Klaus: Der locus amoenus und der locus terribilis. Bild und Funktion der Natur in der deutschen Schäfer- und Landlebendichtung des 17. Jahrhunderts. Köln/ Wien 1974. Garber, Klaus: Arkadien. Ein Wunschbild der europäischen Literatur. München 2009. Garrard, Greg: Pastoral. In: Ecocriticism. London/New York 2004, S. 33–58. Gessner, Salomon: Idyllen. Kritische Ausgabe. Hg. v. E. Theodor Voss. Stuttgart 1973. Heller, Jakob: „Im stillen Schatten fruchtbarer Bäume“. Die Idylle als ökologisches Genre? In: Zemanek, Evi (Hg.): Ökologische Genres und Schreibweisen [erscheint voraussichtl. München 2016]. Hermand, Jost: Ganze Tage unter Bäumen. Ökologisches Bewusstsein in den Utopien des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In: ders.: Orte. Irgendwo. Formen utopischen Denkens. Königstein/Ts. 1981, S. 21–45. Hollm, Jan: Die angloamerikanische Ökotopie. Literarische Entwürfe einer grünen Welt. Frankfurt a.M. 1998. More, Thomas: Utopia, lat.-engl. In: The Complete Works of St. Thomas More, Bd. 4. Hg. v. Edward Surtz, S. J. u. J. H. Hexter (The Yale Edition of the Complete Works of St. Thomas More). New Haven u.a. 1974. Morris, William: News from Nowhere, or, An Epoch of Rest, Being Some Chapters from a Utopian Romance. Hg. v. David Leopold. Oxford 2003.

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15 Bukolik, Idylle und Utopie aus Sicht des Ecocriticism

Saunders, Timothy: Bucolic Ecology. Virgil’s Eclogues and the Environmental Literary Tradition. London 2008. Schiller, Friedrich: Ueber naive und sentimentalische Dichtung. In: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften, Erster Teil. Unter Mitw. v. Helmut Koopmann hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 413–503. Theokrit: Gedichte, gr.-dt. Hg. v. F. P. Fritz. München 1970. Vergilius Maro, Publius: Landleben. Bucolica, Georgica, Catalepton, lat.-dt. Hg. v. Johannes u. Maria Götte. München 1970. Volk, Katharina (Hg.): Vergil’s Eclogues. Oxford 2008. Wieland, Christoph Martin: Der Goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian. In: Wielands Werke. Histor.-krit. Ausgabe. Hg. v. Klaus Manger u. Jan Philipp Reemtsma, Bd. 10.1. Bearb. v. Hans-Peter Nowitzki u. Tina Hartmann. Berlin, New York 2008, S. 1–358. Zapf, Hubert: Kulturökologie und Literatur. Ein transdisziplinäres Paradigma der Literaturwissenschaft. In: ders. (Hg.): Kulturökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft. Heidelberg 2008, S. 14–44. Zemanek, Evi: Die Kunst der Ökotopie. Zur Ästhetik des Genres und der fiktionsinternen Funktion der Künste (Morus, Morris, Callenbach). In: Fischer-Lichte, Erika/ Hahn, Daniela (Hg.): Ökologie und die Künste. München 2015, S. 251–268.

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16 Lyrische Dichtung im Horizont des Ecocriticism Heinrich Detering 16.1 Naturdichtung und ‚Ökolyrik‘

Im Horizont des Ecocriticism sind zwar immer wieder auch Gedichte untersucht worden, sie sind aber kaum systematisch auf Ausdrucksmöglichkeiten hin befragt worden, die spezifisch sein könnten für die Beschäftigung mit einer in ökologischer Perspektive wahrgenommenen Natur. Die folgenden Überlegungen haben darum durchaus vorläufigen und vorschlagenden Charakter. Im deutschen Sprachraum wird eine literaturtheoretisch-systematische Erörterung von Formen und Möglichkeiten einer ökologisch sensibilisierten Lyrik zusätzlich dadurch erschwert, dass die deutsche Entsprechung des angelsächsischen Begriffs einer Ecopoetry, „Ökolyrik“, hier seit den 1970er-Jahren eine em­phatisch politische Bedeutung im Kontext literarischer Bewegungen wie der Neuen Subjektivität besaß (vgl. Egyptien 1990; Wiesmüller 1990; Kopisch 2012) und eben deshalb zuweilen pejorativ verwendet worden ist: als Bezeichnung einer meinungsstarken, ästhetisch anspruchslosen Variante politisch-agitatorischen Schreibens. Wenn Helen Moore einen literaturtheoretischen Essay überschreibt „What Is Ecopoetry?“ (2012), dann stellt schon diese Frage die deutsche Übersetzung vor Schwierigkeiten. Der Ecocriticism stellt demgegenüber neue Fragen an den weiten, ausschließlich inhaltlich bestimmten Bereich der ‚Naturdichtung‘. Dabei verliert der Begriff die Konnotationen des Un- oder Antipolitischen, die er nicht nur im deutschen Sprachraum v.a. im Kontext der spät- und postromantischen Literatur gewonnen hat. Der Endpunkt der Opposition von Natur- und engagierter Dichtung ist in der deutschsprachigen Lyrik bei Brecht erreicht. In seinem Gedicht Schlechte Zeit für Lyrik kontrastiert er im Exil die „Begeisterung über den blühenden Apfelbaum“ mit dem „Entsetzen über die Reden des ­Anstreichers“, also Hitlers, und folgert: „Aber nur das zweite / Drängt mich zum Schreibtisch“ (Brecht 1993, 432). Und der Appell An die Nachgeborenen fragt: „Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!“ (Brecht 1988, 85). Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der diese rhetorische Frage gestellt ist, hat das

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16 Lyrische Dichtung im Horizont des Ecocriticism

„Gespräch über Bäume“ in der ökologisch engagierten Lyrik der Bundesrepublik zu einer Art Leitmotiv werden lassen: In Zeiten großflächiger technischindustrieller Vernichtung von Naturräumen, so proklamierten Bände wie Die Erde will ein freies Geleit (Bormann 1984), müsse auch der blühende Apfelbaum den politisch engagierten Dichter zum Schreibtisch drängen. Eine Generation später blickt eine Anthologie auf eine nicht mehr der alten Dichotomie folgende Naturpoesie – unter dem Titel Gespräch über Bäume (Gnüg 2013). Folgt man der Blickrichtung, die solche Sammlungen und die mit ihnen verbundenen literaturkritischen Debatten eröffnen, und reformuliert Helen Moores Frage zu: „Was ist ökologisch relevante Poesie?“, dann lassen sich unterschiedliche Darstellungs- und Wahrnehmungsmodi systematisch unterscheiden. Grundsätzlich kommen für eine an ökologischen Zusammenhängen systematisch oder historisch interessierte Lektüre alle Gedichte in Betracht, die sich in relevantem Umfang mit ‚Natur‘ befassen; die Probleme der Opposition oder Integration von ‚Kultur‘ und ‚Natur‘ müssen dabei nicht von vornherein geklärt, sondern können ihrerseits Gegenstand historischer Untersuchungen werden (vgl. Zapf 2006; Meyer-Abich 2007). Ein Naturgedicht wäre danach ein Text in Versen (im weiten Sinne von ‚Gedicht‘ oder, im engeren Sinne, ein ‚lyrischer‘ Text in Versen), dessen dominierender Gegenstand im Verständnis seiner Produzenten und Adressaten Phänomene von ‚Natur‘ sind. Alle Naturdichtung kann in diesem Sinne als historisches Dokument für eine ökologisch interessierte Untersuchung relevant werden. Selbst die stereotypen Naturszenerien der hochmittelalterlichen Minnelyrik können für eine an der Geschichte der Naturwahrnehmungen und der Relationierungen von Mensch und Natur interessierte Lektüre durchaus relevant sein – etwa wenn man die lyrischen Natureingänge von Liedern Walthers von der Vogelweide mit Sangspruchdichtungen vergleicht, die sich auf konkrete Naturerfahrungen beziehen (Uns hat der winter geschât uber all). Die neuere Umweltgeschichte (vgl. exemplarisch Ermisch/Kruse/Stobbe 2010; Küster 2012) hat zahlreiche Beispiele für eine solche mentalitäts-, kultur-, diskursgeschichtliche Lesbarkeit auch nebensächlich erscheinender Züge von Naturdarstellungen in historischen Bild- und Textdokumenten erarbeitet. Die Frage danach, was lyrische Dichtungen als sprachliche Kunstwerke beitragen zum menschlichen Verständnis von ‚Natur‘ und zur Positionierung des Menschen im Verhältnis zu ihr, kann sich auf unterschiedliche Konstituenten der Texte beziehen:

16.2 Themen, Motive: Naturdichtung und Naturphilosophie

(1) auf Themen und Motive aus dem Bereich der Natur, ihre Darstellung, ihre Deutung, ihr affektives Erleben und dessen Vermittlung an Leser etc.; (2) auf die mit diesen Themen und Motiven verbundenen Genreregeln und -traditionen etwa der reflexiven und didaktischen Poesie, der lyrischen ‚Erlebnisdichtung‘ im goethezeitlichen Sinne oder der politisch engagierten Lyrik zu ökologischen Problemen; (3) auf rhetorische, stilistische und namentlich metrische Eigenschaften von Gedichten als Verstexten. Die unter (1) zusammengefassten motivgeschichtlichen Forschungsbereiche unterscheiden sich in Erkenntnisinteresse und Methoden nicht von anderen literarischen Gegenständen des Ecocriticism, von den unter (3) genannten Eigenschaften beziehen sich rhetorische und stilistische ebenfalls auf lyrische wie auf Texte anderer Gattungen. So gewiss alle genannten Bereiche relevante Gegenstände eines lyrikbezogenen Ecocriticism werden können, so offenkundig sind hier v.a. solche Texte von Interesse, in denen über eine thematische Ausrichtung hinaus auch die besonderen Ausdrucksmöglichkeiten des Gedichts eine wesentliche Rolle spielen, also (2) und (3) in ihren Beziehungen zu (1). 16.2 Themen, Motive: Naturdichtung und Naturphilosophie

Zu differenzieren ist der unübersehbar weite Bereich der Naturdichtung, wie in anderen Gattungen, so auch in der Lyrik nach den jeweiligen Konzeptualisierungen von ‚Natur‘. Die einfachste und für den Ecocriticism wichtigste dieser Unterscheidungen ist diejenige zwischen (1) Darstellungen von und Reflexionen zu einzelnen, isoliert wahrgenommenen Naturphänomenen; (2) Darstellungen von und Reflexionen zu ‚Natur‘ in einem umfassenderen wissenschaftlichen, theologischen, philosophischen, mythologischen oder ähnlichen Sinn; (3) Darstellungen von und Reflexionen zu ‚Natur‘ als einem offenen und dynamischen Wirkungszusammenhang (sei es mit oder ohne Beteiligung menschlicher Akteure), also im wissenschaftsgeschichtlich engeren Sinne einer ökologischen Naturauffassung. (Diese Kategorisierung entspricht teilweise derjenigen in Häntzschel 2000, geht jedoch im dritten Punkt über die dort betonte „Sub-

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jektivität“, S. 691, hinaus; historisch und systematisch weiter gefasst ist „Naturlyrik“ in Braungart 2011.) So zweckmäßig diese Unterscheidung für eine Klärung des jeweiligen ‚Natur‘-Bezugs ist – in einzelnen Dichtungen sind die Grenzen zwischen diesen Bereichen doch keineswegs immer trennscharf auszumachen. Gerade in ästhetisch komplexen Gebilden ist ihre Bestimmung, wenig überraschend, stets interpretationsabhängig. Das gilt schon für den ersten Komplex, also für dem Anschein nach isolierte Themen und Motive. So offenkundig der Gegenstand von Mörikes Die schöne Buche (1842) nur ein einzelner Baum ist, so naheliegend sind Deutungen, denen zufolge die lyrische Schilderung dieses Baumes eine spezifische Auffassung von der Ordnung der Natur insgesamt und darüber hinaus womöglich auch von einem dieser Ordnung entsprechenden menschlichen Leben impliziert (vgl. Braungart 2004). Entsprechendes lässt sich über Keats’ poetologisches Naturgedicht Ode to a Nightingale (1819) oder Lamartines Le Lac (1820) sagen, aber auch schon über frühaufklärerische Texte wie Hallers Lehrgedicht Die Alpen (1729), das aus der panoramatischen Schilderung eines harmonischen Miteinanders von menschlicher Ökonomie und natürlichen Gegebenheiten in den Schweizer Alpen ein Modell ‚naturgemäßen‘ Lebens und Wirtschaftens ableitet. Erst recht die Landschaftsdarstellungen frühneuzeitlicher Naturdichtung (vgl. Riedel 1996) sind zumeist auch dort, wo sie einer unbefangenen Lektüre individuelle Naturszenerien zu präsentieren scheinen, aus bereits vorgeprägten Bedeutungseinheiten synthetisiert. Die eindringlich bildhafte Schilderung einer Waldeswildnis in Gryphius’ Sonett Einsamkeit (1663) erweist sich in der Analyse seiner Bildlichkeit als Mosaik emblematischer Einzelbilder, die im Gedicht gleichsam zu einem Meta-Emblem kondensiert werden (vgl. Mauser 1982). Darin erscheint die wilde Natur als Locus horribilis, als sinnfälliger Ausdruck einer vom Schöpfer abgefallenen Schöpfung (vgl. Garber 1974). Wenn dann in Dichtungen der Empfindsamkeit wie Klopstocks Ode Der Zürchersee (1750) der Blick auf die Wildnis gerade den eröffnenden Satz beglaubigen soll: „Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht“, dann dokumentiert dieser Text nicht nur eine grundlegend gewandelte Naturauffassung, sondern verbindet in einem durchaus ähnlichen (nur im Ergebnis umgekehrten) Verfahren Darstellung und Deutung, indem er das Landschaftsbild als naturphilosophisches Argument inszeniert. Erst recht das Maifest des jungen Goethe (1775),

16.2 Themen, Motive: Naturdichtung und Naturphilosophie

den von ihm selbst initiierten Deutungsmustern zufolge spontaner Ausdruck unmittelbar-sinnlichen Erlebens, ist in seinen rhetorischen Figuren und seiner Bild- und Affektregie nicht weniger philosophisch semantisiert als die Emblemdichtung des Barock (vgl. Wünsch 1996). Seit der Frühromantik werden experimentierfreudige Varianten einer Naturdichtung erprobt, die theoretische – explizit philosophische und religiöse oder implizit symbolische oder allegorische – Reflexionen und Deutungen von ‚Natur‘ mit deren anschaulicher Darstellung verbindet. Dabei gewinnt ihre zunächst in der Geologie, dann in der Biologie durchgeführte Historisierung eine zunehmende Bedeutung, sodass Natur- und Geschichtsdichtung zur Deckung kommen können (vgl. Braungart 2009). Arnims Ballade Des ersten Bergmanns ewige Jugend (etwa 1810), Fortschreibung von und Antwort auf das Bergmannslied in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen, entfaltet eine anekdotische Begebenheit in solcher Weise, dass auf einem konkreten Naturschauplatz ein ökologisches Geschichtsmodell inszeniert wird: Bergmann und mythische Bergkönigin erscheinen als Personifikationen von menschlicher Ökonomie und natürlichen Ressourcen, ihre Lebensalter und Beziehungsphasen als Allegorisierung historischer Epochen (vgl. Detering 2013). Die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein besonders wirkungsmächtigen Naturgedichte der Annette von Droste-Hülshoff, die auf individuelle Naturräume bezogen sind, gehen überhaupt erst aus den allegorischen, dabei auf barocke Emblematik zurückgreifenden Bildern einer christlich-pessimistisch gedeuteten Sündenwelt hervor, die zunächst in den religiösen Gedichten des Zyklus Das geistliche Jahr entworfen worden sind (vgl. Detering 2007). Im Gebet sieht sich das Ich in der Natur als einer von der Sünde verheerten Schöpfung, erfüllt vom „Seufzen der Kreatur“ (Droste-Hülshoff 1980, 7). In realistischen Naturgedichten wie den Haidebildern (1842) werden diese metaphysischen Allegorien so konkretisiert, dass die religiöse Deutung aus ihnen hervorzugehen scheint; die zunächst gleichnishaft evozierten Moore, Gruben, Heidefelder nehmen hier die Gestalt individueller Landschaften an. Umgekehrt können ‚Natur‘-Motive auch in Zusammenhängen, in denen sie durch symbolische Deutungen überhöht oder abstrahiert erscheinen, ihre biologische Bedeutung behaupten. Das wird besonders deutlich in der Naturdichtung des Poetischen Realismus in Deutschland, der viktorianischen Lyrik in Großbritannien (besonders bei Gerard Manley Hopkins) und anderen Strö-

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16 Lyrische Dichtung im Horizont des Ecocriticism

mungen, die gegen spätromantische Tendenzen zu einer abstrahierenden Stilisierung der Naturdarstellungen (vgl. Alewyn 1957) auf der sinnlichen Wahrnehmung des Einzelnen insistiert. So deutlich Storms vier zu einem Gedicht zusammengefügten Frauen-Ritornelle (1852) im Bild der angerufenen Pflanzen vier Lebensalter als Phasen eines ‚natürlichen‘ Prozesses symbolisch repräsentieren, so wesentlich sind für die Wirkungsmöglichkeiten des Gedichts die sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Pflanzen als biologischer Gebilde und ihre überlieferten kulturellen Semantisierungen – entsprechend der Genregeschichte des Ritornells, das als Begleittext zu Blumengeschenken entstand. Auch Storms Landschaftsgedicht Meeresstrand exemplifiziert die ‚moderne‘ Entfremdung von beobachtendem Subjekt und Natur in einer detailrealistisch vergegenwärtigten Szene an einem geographisch lokalisierbaren Schauplatz. Diese produktive und heikle Balance von konkreter Naturanschauung und Naturdeutung bestimmt weite Teile auch der Naturlyrik des 20. Jahrhunderts – in Deutschland von den „naturmagischen“ Gedichten Oskar Loerkes (Der Wald der Welt, 1936, vgl. Heukenkamp 2003) und den ihnen folgenden Arbeiten Wilhelm Lehmanns (und ihren eigenwilligen Amalgamierungen biologischer Objekte mit mythologischen Figuren, Der grüne Gott, 1942, vgl. Goodbody 1985), Johannes Bobrowskis und Günter Eichs bis zu den Gedichten Sarah Kirschs, Günter Kunerts und Wulf Kirstens (vgl. Pörksen 2012; Kaspar 1990; Ertl 1990). Bemerkenswert erscheint im Horizont des Ecocriticism auch die in programmatischer Emphase gegen neuromantisch auftretende, gleichwohl selbst dem Vitalismus verpflichtete Naturdichtung gerichtete Poesie (vgl. Halse 2013). Derselbe Benn, der die „Bewisperer von Nüssen und Gräsern“ verspottet (vgl. Kopisch 2012, 31–96), hat im frühen Zyklus Morgue (1912) ein antiromantisches Konzept von ‚Natur‘ formuliert, in dem der Mensch zwar noch wie in Goethes Metamorphose als Teil physiologischer Kreisläufe erscheint, nun aber reduziert auf die Materialität des Körpers. In Kleine Aster oder Schöne Jugend figurieren menschliche Leichname als Gefäße für Pflanzen und Tiere. In der Hauspostille (1927) von Benns Antipoden Brecht finden sich ähnliche Bilder (Vom ertrunkenen Mädchen); beide Autoren stehen dabei unter dem Eindruck von Baudelaires Sonett Une charogne (in Les Fleurs du Mal, 1857), das einen Tierkadaver provozierend in einem klassischen Sonett als ‚schönen‘ Gegenstand schildert. In der Lyrik dieser historischen Entwicklungslinie, die sich bis zu den Gedichten Durs Grünbeins fortsetzt, wird zwar ein dezidiert anderes, ‚materialistisch‘

16.3 Formsemantische Aspekte

akzentuiertes Konzept von ‚Natur‘ vermittelt als in der an die Romantik anschließenden Tradition; sie ist für eine ökokritische Analyse aber nicht weniger aufschlussreich und relevant als diese. 16.3 Formsemantische Aspekte

Die Möglichkeit einer dichten Semantisierung der sprachlichen Form, also das, was der russische Formalist Viktor Šklovskij in seinem Essay Die Kunst als Verfahren 1916 den „Kunstgriff“ als das Wesen des Sprachkunstwerks nennt, ist im Gedicht, vom einfachen Abzählvers bis zum kunstvollen lyrischen Gebilde, am deutlichsten fassbar (vgl. Detering 2011). Solche Poetizität ist dem lyrischen Gedicht keineswegs ausschließlich zu eigen, tritt in ihm aber besonders deutlich hervor; im Russischen Formalismus hat Juri Nikolajewitsch Tynjanow diesen Zusammenhang in seinem Buch Das Problem der Verssprache 1924 wohl als erster systematisch in den Blick genommen. Die Frage nach spezifischen Leistungen des Gedichts im Blick auf den Ecocriticism richtet sich darum sinnvollerweise zuerst nicht auf das, was Gedichte mit anderen Textsorten gemeinsam haben, sondern auf die Verknüpfungen von ökologisch relevanten Themen, Motiven, Aussageabsichten mit formalen Eigenschaften der lyrischen Rede und die sich daraus ergebenden Merkmale unterschiedlicher poetischer Genres. Da die möglichen Formen historisch entwickelt worden sind, kann diese systematische Frage am besten anhand historischer Beispiele beantwortet werden. Als Gründungsdokument einer die empirische Natur in den Blick nehmenden Naturdichtung ist, zumindest für die deutsche Literatur, oft Barthold Hinrich Brockes’ monumentales Lebenswerk Irdisches Vergnügen in Gott (1721–1748) gewürdigt worden (kommentierte Neuausg. Rathje 2012). Zu seinem Programm gehört der letztlich unerfüllbare Anspruch, die gesamte wahrnehmbare Natur vom kleinsten Pflänzchen bis zum Sternenhimmel als Werk des göttlichen Schöpfers kontemplativ zu betrachten, präzise zu beschreiben und in frommer Liebe zu preisen. Zum Programm gehört über diesen physikotheologischen Deutungsanspruch hinaus auch der Versuch, in Schönheit und Mannigfaltigkeit der Vers- und Gedichtformen ein sprachliches, gleichermaßen kognitiv und affektiv wirkendes Äquivalent zu Schönheit und Mannigfaltigkeit der gezeigten Schöpfung zu erzeugen: Der Reichtum der lyrischen Formensprache reflektiert im Wortsinn die in dieser Sprache artikulierte Naturauffassung.

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In vergleichbarer Weise nutzt Goethe in seinem an antiken (Lukrez) und neueren (Pope) Vorbildern orientierten Lehrgedicht Die Metamorphose der Pflanzen die metrische Form der reflektierenden Elegie als formsemantisches Analogon des im Gedicht erörterten metamorphotischen Prozesses; die Verkettung von Hexameter und Pentameter in den elegischen Distichen vermittelt sinnlich einen Grundzug des Gedankens einer „great chain of being“ (Lovejoy 1964). Insofern gibt das Gedicht, im Unterschied zu Goethes früheren Naturgedichten, ein geradezu ideales Beispiel einer in Gedankengang und Formsemantik ‚ökologischen‘ Poesie. Hinzu kommt die von Dichtern wie Pope (der Texte wie den Essay on Man nicht in Prosa, sondern in Versen abfasste) übernommene Überzeugung, dass metrisch, stilistisch und rhetorisch ‚gehobene‘ Rede der Dignität des Gegenstandes entspreche. Bei Brockes wie bei Goethe affizieren die aus solchen Aussageabsichten generierten lyrischen Formen auch die gattungspoetischen Grenzen, hier des Lehrgedichts. Wie es schon bei Brockes zum Konzept der Texte gehört, dass die Subjektivität des betrachtenden Ich nachdrücklich zur Geltung kommt, so verbindet auch Goethe das Lehrgedicht mit der – nun ‚klassisch‘ gedämpften – Emotionalität einer Erlebnisdichtung. Zudem weitet er die thematische Entwicklungsgeschichte der Pflanzen überraschend in eine rahmende erotische Situation aus: Das von Linné übernommene Sexualitätsprinzip ermöglicht ihm nicht nur eine schrittweise Gliederung des botanischen Entwicklungsprozesses, sondern findet seine Fortsetzung im Verhalten des Menschen als eines Teils derselben Naturzusammenhänge; das Gedicht ist an die Geliebte adressiert, ­Liebeserklärung und Explikation einer ‚ökologisch‘ fundierten Anthropologie zugleich. Auch in maßgeblichen Naturdichtungen des späten 19. und des 20. Jahrhunderts lassen sich solche formsemantischen Experimente beobachten. Wenn Walt Whitman, inspiriert von Goethes Naturdichtung wie von Ralph Waldo Emersons Naturphilosophie, die ungebändigt freie Natur Amerikas und die Möglichkeit intellektuell, sozial, leiblich frei sich entfaltender Menschen in einem umfassenden Konzept von ‚Natur‘ emphatisch preist, dann tut er das in freien Langversen, deren prosanahe, aber rhythmisch gestaltete Rede sich keinen traditionellen metrischen Regeln mehr unterwirft; der Titel Leaves of Grass (1855– 1892) bezieht sich auf die Landschaften, die in ihnen lebenden Menschen und die beides evozierend vermittelnden Verse gleichermaßen. Die literarische Wir-

16.3 Formsemantische Aspekte

kung dieser Verschmelzung von vitalistischer Naturdeutung und Anthropologie mit den Ausdrucksmitteln freirhythmischer Versrede in der Naturdichtung von Beat Poets wie Gary Snyder oder Allen Ginsberg im 20. Jahrhundert ist unübersehbar. Die Analogisierung von handelndem Umgang mit der Natur und reflektierendem Schreibprozess hat im 20. Jahrhundert ihre konsequenteste Formulierung in Seamus Heaneys Gedicht Digging gefunden (in Death of a Naturalist, 1966). Die erinnerte Landarbeit des im Erdreich grabenden Vaters setzt sich verwandelt im eigenen Schreiben fort (vgl. Heany 1990, 1). In der gegenwärtigen Weltpoesie hat vielleicht kein Lyriker die Traditionen der romantischen und modernen Naturlyrik so umfassend und facettenreich aufgenommen wie der Australier Les Murray. Schon die Titel seiner fast immer „To the Glory of God“ gewidmeten Bände (etwa Poems Against Economics, 1972; Translations from the Natural World, 1992) deuten an, wie sprachkritisch er alltäglich mögliche ­Naturerfahrungen mit dem Zerstörungspotenzial der technischen Kultur kontrastiert: „Ecopoetry“ im anspruchsvollsten Sinne. Eine bemerkenswerte Vielfalt neuer Ausdrucksformen in der lyrischen Auseinandersetzung der Moderne mit ‚Natur‘ ergibt sich aus Rückgriffen auf überlieferte Vers- und Gedichtformen, darunter auch mit neu entdeckten Traditionen asiatischer Dichtung – so in Adaptationen der Haikudichtung, die mit Meistern wie Matsuo Bashō ein poetisches Äquivalent für die meditative Naturbetrachtung des Zen-Buddhismus entwickelt hatte und die in Texten wie Tomas Tranströmers Den store gåtan/Das große Rätsel (2004) in den Kontext westlich-modernistischer Poesie einbezogen wird; so auch in Brechts Versuch, metrische Entsprechungen zur Naturphilosophie des Daoismus zu finden (vgl. Detering 2008). Ein nicht nur formal instruktives Gegenbeispiel zur modernen Tradition freier Versdichtung gibt Inger Christensens im Sinne der „Systempoesie“ streng geregeltes Großgedicht alfabet (1981), zu dessen Kompositionsprinzipien sowohl die für elementaree Naturprozesse wie etwa das Wachstum maßgebliche mathematische Fibonaccireihe als auch die Ordnung der Schriftzeichen, eben das Alphabet, gehören: Die Entwicklung des Gedichts, dessen Verszahl von einem der (nach den jeweiligen Schlüsselworten von A bis N gegliederten) Abschnitte zum nächsten entsprechend der Fibonaccireihe zunimmt, führt im Medium der Sprache eine kosmologische Expansion vor, die vom ersten Wort

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‚abrikostræerne‘ an (Aprikosenbäume) als Wachstum einer Naturwelt erscheint und mit dem Abbruch beim Buchstaben N – jenseits dessen undarstellbare Größenordnungen erreicht würden – gleichsam ins mathematische Zeichen der Unendlichkeit mündet. Zugleich aber wird vom zweiten Abschnitt an, beginnend mit dem Wort ‚brintbomben‘ (Wasserstoffbombe), wie eine Gegenstimme die Linie einer anthropogenen Gefährdung dieser Schöpfungsordnung gezogen, an deren Ende das N als Chiffre der Vernichtung lesbar wird (vgl. Depenbrock 1993). Die jüngste deutsche Naturlyrik im Werk von Dichtern wie Silke Scheuermann, Nico Bleutge oder Jan Wagner hat, in einer umfassenden Auseinandersetzung mit lyrischen Traditionen vom Barock bis zu Les Murray, neue und gegenüber der engagierten „Ökolyrik“ ungleich subtilere Formen eines zugleich ökologisch sensiblen und selbstreflexiven Schreibens entwickelt. Themen wie Artenschwund oder industrielle Naturzerstörung werden hier nicht mehr einsinnig-appellativ formuliert, sondern in unterschiedlichsten (gleichsam artenreichsten) Kunstformen von der Ode bis zum Poéme-en-Prose vermittelt – etwa in Scheuermanns individualisierenden Anrufungen ausgerotteter Tierarten, in denen die Menschheit als die ‚invasive Art‘ erkennbar wird. Und wenn Jan Wagner eine Qualle schildert, dann erscheint das Tier zugleich als anschaulich porträtiertes Individuum, als poetologische Metapher und als Gleichnis eines gelungenen In-der-Welt-Seins (vgl. Wagner 2010, 95). Auch in weniger ambitionierten Texten einer engagierten Ökolyrik können vom Ecocriticism inspirierte formsemantische Analysen produktive Beziehungen zwischen Themen und Textverfahren sichtbar machen. Wolfgang Hildesheimers kleines Gedicht Antwort etwa nimmt eine der in politischen Debatten um globale ökologische Katastrophen meistgebrauchten Redensarten beim Wort, entautomatisiert sie durch unerwartete Zeilenbrüche und macht so das Sprachmaterial politisch-ökologischer Diskurse selbst zum Thema, als MetaÖkolyrik: „Ganz recht, ich sagte, / es sei nicht fünf vor / zwölf, es sei vielmehr halb / drei. Das war um halb / drei. Inzwischen ist es vier. Nur / merkt ihr es nicht. Ihr lest ein Buch / über Kassandra, aber ihre Schreie / habt ihr nicht gehört. Das war / um fünf vor zwölf. Bald ist es / fünf, und wenn ihr Schreie hört, / sind es die euren“ (Hildesheimer 1991, 556). In einigen für den Ecocriticism besonders aufschlussreichen Naturdichtungen wird das hypothetische Durchspielen ökologischer Wirkungskreisläufe zum

16.3 Formsemantische Aspekte

Gegenstand von Gedankenexperimenten, die im Umgang mit und in Analogie zu Argumentationsweisen der Naturwissenschaften unternommen werden. Hier ist noch einmal an Langgedichte wie Christensens alfabet zu erinnern, deren Verflechtung mathematischer und semiotischer Schemata mit traditionellen Gegenständen von Naturgedichten ja nicht nur poetologisch ‚experimentell‘ verfährt, sondern auch in der Verschränkung von kulturellen und biologischen Prozessen. Ökologische Experimentalgedichte in einem sehr wörtlichen Sinne entwirft aber bereits Brockes in einigen Texten des Irdischen Vergnügens in Gott. Ähnlich wie Lichtenberg in seinen (späteren) konjunktivischen Gedankenexperimenten macht er darin das Gedicht zum Reagenzglas von Versuchen über kontrafaktische Hypothesen. Erweitert er das vorherrschende Bild vom statischen „Weltgebäude“ zu demjenigen eines zwar „unverrückt“ in sich zurücklaufenden, aber dynamischen „Wechselzirkels“ (Brockes 1748, S. 226 in „Das Thierreich“), so wird in einzelnen Gedichten die neue Dynamik der empirischen und experimentellen Naturwissenschaften zum Thema – und sie ergreift zugleich das Textverfahren. In einem Gedicht über das von Newton kurz zuvor formulierte Gravitationsgesetz fragt Brockes 1731, welche Veränderungen sich ergäben, wenn eine fundamentale globale Veränderung einträte und etwa die Schwerkraft plötzlich außer Kraft gesetzt würde. Die nun nach naturwissenschaftlichen Regeln präzise imaginierende Vorstellungskraft ergibt das folgende Gedankenexperiment: „Wenn die Theilchen in der Lufft einmahl ausgedehnet wären, / Und sie von der obern Lufft Last und Schwehrde nicht gedrückt, / Und in sich getrieben würden; müste, was da lebt, erstickt, / Unvermeidlich untergehn: alle Fische müsten sterben, / Und, weil sie kein Wasser deckte, an der dünnen Lufft verderben“, weiterhin würden „weder Thau noch Regen / Jemahls wieder fallen können: sondern alles wär’ verbrannt“ (Brockes 1745, 501). Die Vorstellung eines Hitzetodes der Erde, der infolge von Veränderungen im dynamischen Gefüge des kosmischen Regelkreislaufs eintreten müsste, ergibt sich hier folgerichtig aus der hypothetischen Prämisse. Brockes’ Experimentalpoesie wird so zu einem der frühesten literarischen Beispiele einer fiktionalen Modellbildung, die ökologische Zusammenhänge im globalen Maßstab durchspielt.

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16 Lyrische Dichtung im Horizont des Ecocriticism

16.4 Literaturverzeichnis

Alewyn, Richard: Eine Landschaft Eichendorffs. In: Euphorion 51 (1957), S. 42–60. Braungart, Georg: Naturlyrik. In: Wild, Reiner/Wild, Inge (Hg.): Mörike-Handbuch. Stuttgart, Weimar 2004. Braungart, Georg: Poetik der Natur. Literatur und Geologie. In: Anz, Thomas (Hg.): Natur – Kultur. Zur Anthropologie von Sprache und Literatur. Paderborn 2009, S. 55–78. Braungart, Georg: Naturlyrik. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch Lyrik. Stuttgart, Weimar 2011, S. 132–139. Bormann, Alexander von: Die Erde will ein freies Geleit. Deutsche Naturlyrik aus sechs Jahrhunderten. Frankfurt a.M. 1984. Brecht, Bertolt: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 14: Gedichte 4. Hg. v. Jan Knopf und Werner Hecht. Darmstadt 1998. Brockes, Bartold Heinrich: Irdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten, Vierter Theil. 3. Aufl. Hamburg 1745. Brockes, Bartold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Nebst seinen übrigen nachgelassenen Gedichten als des Irdischen Vergnügens in Gott Neunter und letzter Theil. Hamburg, Leipzig 1748. Brockes, Barthold Heinrich: Irdisches Vergnügen in Gott. Naturlyrik und Lehrdichtung. Ausgewählt und hg. v. Hans-Georg Kemper. Stuttgart 1999. Brockes, Barthold Heinrich: Werke. Hg. v. Jürgen Rathje. Göttingen 2012. Depenbrock, Heike: Reflexive Verfahren in Inger Christensens „Alfabet“. In: Glienke, Bernhard/Marold, Edith (Hg.): Arbeiten zur Skandinavistik. Berlin u.a. 1993, S. 246– 253. Detering, Heinrich: Metaphysische Landschaften in der Lyrik Annette von Droste-Hülshoffs. In: Jahrbuch der Droste-Hülshoff-Gesellschaft 2007/2008, S. 41–67. Detering, Heinrich: Bertolt Brecht und Laotse. Göttingen 2008. Detering, Heinrich: Rhetorik und Semantik lyrischer Formen. In: Lamping, Dieter (Hg.): Handbuch Lyrik. Stuttgart, Weimar 2011, S. 69–80. Detering, Heinrich: Das Geschichtsgedicht als romantische Selbstreflexion. In: Detering, Heinrich/Trilcke, Peer (Hg.): Geschichtslyrik. Ein Kompendium. Göttingen 2013, S. 646–666. Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. IV,1: Geistliche Dichtung. Hg. v. Winfried Woesler. Tübingen 1980. Egyptien, Jürgen: Die Naturlyrik im Zeichen der Krise. In: Goodbody, Axel (Hg.): Literatur und Ökologie. Amsterdam/Atlanta 1990, S. 41–68.

16.4 Literaturverzeichnis

Ermisch, Maren/Kruse, Ulrike/Stobbe, Urte (Hg.): Ökologische Transformationen und literarische Transformationen. Göttingen 2010. Ertl, Wolfgang: „brandflecke im teppich der natur“. Zur ökologischen Problematik in Wulf Kirstens lyrischem Werk. In: Goodbody, Axel (Hg.): Literatur und Ökologie. Amsterdam, Atlanta 1990, S. 123–138. Garber, Klaus: Der locus amoenus und der locus horribilis. Köln, Wien 1974. Gnüg, Hiltrud (Hg.): Gespräch über Bäume. Moderne deutsche Naturlyrik. Stuttgart 2013. Goodbody, Axel: Natursprache. Ein dichtungstheoretisches Konzept der Romantik und seine Wiederaufnahme in der modernen Naturlyrik. Neumünster 1985. Häntzschel, Günter: Naturlyrik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 2. Hg. v. Harald Fricke. Berlin, New York 2000, S. 691–693. Halse, Sven: Zyklischer Vitalismus. Die Dialektik von Tod und Leben in der deutschen Lyrik 1890–1905. In: Paulsen, Adam/Sandberg, Anna (Hg.): Natur und Moderne um 1900. Bielefeld 2013, S. 203–218. Heaney, Seamus: New Selected Poems 1966–1987. London 1990. Heukenkamp, Ute (Hg.): Der magische Weg. Deutsche Naturlyrik des 20. Jahrhunderts. Leipzig 2003. Hildesheimer, Wolfgang: Gesammelte Werke. Hg. v. Christiaan Lucas Hart Nibbing u. Volker Jehle. Bd. 7: Vermischte Schriften. Frankfurt a.M. 1991. Kaspar, Elke: „Morgen ist über alledem Ruh“. Ökologische Aspekte in der Lyrik Günter Kunerts. In: Goodbody, Axel (Hg.): Literatur und Ökologie. Amsterdam, Atlanta 1990, S. 85–100. Kopisch, Wendy Anne: Naturlyrik im Zeichen der ökologischen Krise. Kassel 2012. Küster, Hansjörg: Die Entdeckung der Landschaft. Einführung in eine neue Wissenschaft. München 2012. Lovejoy, Arthur Oncken: The great chain of being. A study of the history of an idea. Cambridge 1964. Mauser, Wolfram: Andreas Gryphius’ „Einsamkeit“. Meditation, Melancholie und Vanitas. In: Meid, Volker (Hg.): Gedichte und Interpretationen. Bd. 1: Renaissance und Barock. Stuttgart 1982, S. 231–244. Meyer-Abich, Klaus Michael: Umwelt oder Mitwelt – Wie gehören wir in die Natur?. In: Busch, Bernd (Hg.): Jetzt ist die Landschaft ein Katalog voller Wörter. Beiträge zur Sprache der Ökologie. Göttingen 2007, S. 17–23. Moore, Helen: What is Ecopoetry, International Times 12. April 2012, http://internationaltimes.it/what-is-ecopoetry (zuletzt 18.05.2015). Pörksen, Uwe: Einleitung. In: Pörksen, Uwe/Menzel, Wolfgang (Hg.): Oskar Loerke. Sämtliche Gedichte in zwei Bänden. Göttingen 2010, S. 1004–1022.

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16 Lyrische Dichtung im Horizont des Ecocriticism

Riedel, Wolfgang: Natur/Landschaft. In: Fischer Lexikon Literatur, Bd. 3. Hg. v. Ulfert Ricklefs. Frankfurt a.M. 1996, S. 1417–1433. Wagner, Jan: Australien. Gedichte. Berlin 2010. Wiesmüller, Wolfgang: „ich bin zu der natur gegangen“. In: Goodbody, Axel (Hg.): Literatur und Ökologie. Amsterdam, Atlanta 1990, S. 139–160. Wünsch, Marianne: „Maifest“ im literatur- und denkgeschichtlichen Kontext der frühen Lyrik Goethes. In: Sauder, Gerhard (Hg.): Goethe-Gedichte. Zweiunddreißig Interpretationen. München, Wien 1996, S. 13–24 Zapf, Hubert: The state of ecocriticism and the function of literature as cultural ecology. In: Gersdorf, Catrin/Mayer, Sylvia (Hg.): Nature in Literal and Cultural Studies. Amsterdam/New York 2006, S. 49–69.

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17 Umweltthematik in Drama und Theater Christina Caupert

Auf dem Gebiet der Dramenforschung ebenso wie in den Theaterwissenschaften hat sich der Ecocriticism bislang nicht in gleichem Maße etabliert wie in anderen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungszweigen. Gerade in jüngster Zeit lassen aber eine Reihe einschlägiger Veröffentlichungen zu Theater und Drama auch hier auf wachsendes Interesse an ökokritischen Herangehensweisen schließen, was zum einen auf die langjährigen theoretischen und praktischen Bemühungen einiger Wegbereiter des Felds, zum anderen aber auch auf die beachtliche Zahl neu entstandener Bühnenstücke zurückzuführen sein dürfte, die sich mit ökologischen und umweltrelevanten Fragestellungen aus­ einandersetzen. 17.1 Anfänge der Forschung

Erste Formulierungen einer explizit an Umweltthemen ausgerichteten Dramen- und Theaterforschung stammen aus den USA. Einen Zusammenhang zwischen Ökologie und den dramatischen Urformen der Komödie bzw. Tragödie postuliert bereits Joseph Meeker in seiner Studie The Comedy of Sur­ vival (1972), in der er den Modus des Komischen mit seiner Fokussierung auf das Körperliche und der Inszenierung des ‚Überlebens‘ durch Anpassung und die Akzeptanz naturgegebener Begrenztheit zum Fundament einer ökologischen Lebensweise erklärt und der vermeintlich für das Tragische typischen Selbstüberhöhung des Menschen gegenüberstellt. Von der Formierung einer ökologisch orientierten Dramen- und Theaterforschung kann im engeren Sinn aber erst ab den 1990er-Jahren gesprochen werden. Una Chaudhuri (1994) analysiert in einem grundlegenden Aufsatz das Theater, insbesondere in seinen realistischen und naturalistischen Traditionen, als einen Ort der Ausgrenzung und Unterwerfung der Natur, die zwar im Hintergrund als Vehikel soziokultureller Zusammenhänge permanent aufgerufen, durch diese Reduktion zum bloßen Symbol jedoch letztlich umso gründlicher zum Verschwinden gebracht werde. Nur durch die Überwindung solcher anthropozentrischen Mechanismen könne das Theater angesichts der Umweltkrise seinem Anspruch auf soziale und

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17 Umweltthematik in Drama und Theater

politische Relevanz gerecht werden und Impulse für überfällige ökologische Wertediskussionen liefern. Mit ihrer Position, die nicht nur die Metaphorisierung der außermenschlichen Natur, sondern auch die des Ökologiebegriffs selbst ablehnt, grenzt Chaudhuri sich ab von einem Ansatz, den Bonnie Marranca bereits seit den 1980er-Jahren verfolgt und in dem Band Ecologies of Theater (1996) dargelegt hat. Marranca besteht bei ihren Untersuchungen zum Avantgarde-Theater auf der Verschränkung physisch-materieller und ästhetisch-symbolischer Erfahrungsund Bedeutungsdimensionen. Theatrale und andere künstlerische Formationen beschreibt sie als Organismen innerhalb eines kulturellen Ökosystems, denen durch die zunehmende Dominanz utilitaristischer und politisch-ideologischer Strömungen immer mehr die Lebensgrundlage entzogen werde (vgl. Marranca 1996, xiii–xix). Ökokritisch arbeitende Theaterwissenschaftler haben ihren Entwurf überwiegend als Verflachung des Ökologiebegriffs rezipiert (vgl. Chaudhuri 1994; May 2007); zu kulturökologischen Ansätzen bietet Marranca jedoch produktive Anschlussmöglichkeiten. Ein wiederkehrender Leitgedanke des ökokritischen Dramen- und Theaterdiskurses ist die Verstrickung dominanter westlicher Theatertraditionen in die mentalitätsgeschichtlichen Ursachen der Umweltkrise. Chaudhuri (1994, 24) etwa bezeichnet das traditionelle ‚humanistische‘ Theater als „programmat­ ically anti-ecological“. Baz Kershaw, der bekannteste britische Vertreter des Forschungsfelds, kommt mit Blick auf die Abneigung konventioneller Inszenierungen gegen spontan-unkontrollierte Ereignisse oder auch auf die Versetzung des Publikums in einen Zustand künstlicher Passivität jenseits einer fiktiven vierten Wand zu dem Schluss, „this theatre abhors the natural“ (2007, 59). Theresa May (2005) und Downing Cless (2010) haben sich für eine Differenzierung dieses allzu fundamentalen Urteils ausgesprochen und eine Revision erstarrter Rezeptionshaltungen angeregt, doch auch für sie speist sich die ökologische Bedeutung des Theaters in erster Linie von dessen experimentellen Rändern her. Dies gilt für die explizite Auseinandersetzung mit Umweltfragen auf der thematischen Ebene ebenso wie für formale und aufführungsbezogene Aspekte. So bleibt Richard Schechners (1994) bereits ab den 1960er-Jahren entwickeltes Konzept des Environmental Theater aus einem ökokritischen Blickwinkel insoweit aktuell, als dieser für eine Reform des Verhältnisses von Bühne und Zuschauern plädiert, die zu uneingeschränkter Mobilität im Raum und frei-

17.2 Raum und Landschaft in Drama und Theater

er Interaktion mit den Darstellern motiviert werden sollen. Auch seine Impulse zur theatralen Erkundung von ‚found spaces‘ machen Schechner zu einem wichtigen Vordenker eines ökologisch ausgerichteten Theaters, obwohl sein Umweltbegriff nicht von vorneherein ökologisch intendiert war. Generell sind Theorie und Praxis im Spannungsfeld von Drama, Theater und Ökologie eng verzahnt, wie z.B. Mays (2014) lokalspezifische Theaterprojekte oder Chaudhuris Research Theatre zeigen (vgl. Chaudhuri/Enelow 2014). 17.2 Raum und Landschaft in Drama und Theater

Bis ins 21. Jahrhundert hinein blieb die ökologisch orientierte Dramen- und Theaterforschung auf vereinzelte Wortmeldungen beschränkt. Zu den ökokritisch relevantesten Arbeiten der Anfangszeit zählt daher eine Reihe von Untersuchungen, die sich nicht explizit als Studien zum Ecocriticism, sondern zum Spatial Turn in Drama und Theater ausweisen. Dazu gehören Chaudhuris ­Staging Place (1995) und der von Chaudhuri und Elinor Fuchs herausgegebene Sammelband Land/Scape/Theater (2002). Die Idee vom Theaterstück als Landschaft geht zurück auf die amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein, die in ihren Dramen auf die Schaffung poetischer, Natur und Kunst sprachlich wie konzeptionell fließend ineinander transformierender ‚Theaterlandschaften‘ abzielte: The landscape has its formation and as after all a play has to have its formation and be in relation […], the trees to the hills the hills to the fields the trees to each other any piece of it to any sky and then any detail to any other detail, the story is only of importance if you like to tell or hear a story but the relation is there anyway (Stein 1935/1957, 125).

Theaterökologisch relevant wird ein so verstandener Landschaftsbegriff in erster Linie durch seine Akzentuierung von Relationalität; zugleich führt er aber auch vor Augen, dass ‚Landschaften‘, ebenso wie das Konzept der ‚Natur‘ selbst, erst aus dem Zusammenspiel von Naturgegebenem mit dessen (ausschnitthafter) Wahrnehmung durch den Menschen zustande kommen. Als ökologische Grundkategorien stehen Räume und Topologien nach wie vor im Fokus ökokritischer Betrachtungen. Jüngere Forschungsbeiträge problematisieren allerdings die Tendenz des Landschaftsbegriffs, den Menschen

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17 Umweltthematik in Drama und Theater

als separierten Betrachter der Umwelt gegenüberzustellen. Sie betonen zudem gegenüber einem eher statisch-passiven, kulissenhaften Bild von Natur, das der Begriff der Landschaft üblicherweise transportiert, verstärkt die aktive Handlungsmacht (‚agency‘) der belebten und unbelebten Natur. Dieses neue Verständnis von ‚Landschaft‘ schlägt sich seinerseits in aktuellen ökologisch orientierten Theatertexten und -produktionen nieder. Shonni Enelows Klimawandelstück Carla and Lewis (2011) etwa sieht die Verkörperung von ‚land­scape‘ durch einen Schauspieler vor, sodass diese unübersehbar zu einem eigenen Handlungsträger wird. Ähnliche Akzente setzt auch eine Reihe zeitgenössischer indigener D ­ ramatiker (vgl. Däwes/Maufort 2014). 17.3 Beispiele ökokritischer Dramenanalysen

Auch wenn die Konzentration auf Dramenskripte und Plots allein dem Phänomen Theater nicht gerecht wird, stellen Sprache und Diskursivität doch in der Regel zentrale Komponenten der Theaterkunst dar. In der folgenden Zusammenschau ökologisch relevanter Dramen aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum erfolgt die Auswahl der Stücke daher primär nach inhaltlichthematischen Gesichtspunkten, wobei sich durchaus darüber diskutieren lässt, welche Themen als Umweltthemen einzustufen sind. Gemessen an der Zahl einschlägiger Forschungsbeiträge muss sicherlich Shakespeare als ‚grünster‘ aller Dramatiker gelten (vgl. Egan 2006), ungezählte Publikationen untersuchen Shakespeares Stücke mit Blick auf ‚Natur‘ im Allgemeinen und Topographien, Wetterphänomene, Körper, Tierdarstellungen oder Pflanzen im Besonderen. In seinem Buch Ecocriticism and Shakespeare bescheinigt Simon C. Estok (2011, 10–12) vielen dieser Untersuchungen allerdings einen Mangel an ökotheoretischer Fundiertheit. Seine Kritik fällt unnötig polemisch und präskriptiv aus, aber er konstatiert zu Recht, dass Ecocriticism sich nicht mit reinen Motivstudien begnügen kann. Unter den deutschsprachigen Dramatikern nimmt Goethe die Position des ökokritisch meistbeachteten Autors ein. Wie im Fall Shakespeares ist die enorme Bedeutung der Natur auch für Goethes Schaffen nicht erst durch den Ecocriticism entdeckt worden, sodass die Forschung auf eine langjährige Tradition thematisch verwandter Studien zurückgreifen kann (vgl. zu Goethes Faust Kap. 5 sowie Sullivan 2011).

17.3 Beispiele ökokritischer Dramenanalysen

Wie die Beispiele Shakespeares und Goethes zeigen, müssen sich Texte nicht zwingend mit klar ökologisch konnotierten Themen wie Umweltverschmutzung oder Artensterben befassen, um sich für eine ökokritische Lektüre zu eignen. Konzentriert man sich aber auf solche eindeutig ökologischen Dramen, lassen sich einige auffällige Schwerpunktfelder erkennen, die besonders häufig in dramatisch-theatraler Form bearbeitet worden sind. Drei zentrale Felder werden hier herausgegriffen: (1) Nukleartechnologie, (2) Klimawandel und (3) Mensch-Tier-Verhältnis. (1) Schwerpunkt Nukleartechnologie: Mit der Kernspaltung hat der Mensch ambivalente Kräfte von beispielloser Tragweite entfesselt, aber nicht zu beherrschen gelernt. Diese Erkenntnis resultierte bald im kulturellen Bewusstsein einer neuen Epoche, dem Atomzeitalter, und regte die Entstehung einer Reihe von Theaterstücken an. In diesem Zusammenhang stellt Hans Henny Jahnns Der staubige Regenbogen (1959) insofern eine Besonderheit dar, als das Drama wissenschaftsethische und humanistische Aspekte um eine bioethische Dimension erweitert. Der Protagonist des Stücks, ein Atomphysiker, erkennt im Verlauf des dystopischen Stücks die Verstrickung seiner im Namen zivilisatorischer Emanzipation betriebenen Forschungen mit unerbittlich verfolgten politisch-ökonomischen Machtinteressen, die Tod und Verstümmelung als Kollateralschäden in Kauf nehmen. Wie die Experimente des Biologen Lambacher zeigen, der durch die Züchtung riesiger, gefräßiger Libellen mit vermutlich verheerenden Folgen in bestehende Ökosysteme eingreift, zerstört dieser unbedingte, systemische Machtwille nicht allein menschliches Leben. Dass Lambacher seinen Forschungserfolg mittels Analogien zu den Riesenwesen des Karbonzeitalters feiert, stellt das von ihm repräsentierte Fortschrittskonzept, dessen Hoffnungsversprechen sich wie der titelgebende Regenbogen verdunkelt hat, deutlich infrage. Über eine rein anthropozentrische Perspektive geht auch Harald Muellers grotesk-satirische Endzeitvision Totenfloß (1984) hinaus, in der sich ein zusammengewürfelter Haufen kontaminierter, verstümmelter Todeskandidaten auf den Weg durch chemisch und atomar verwüstete Landstriche zu ihrem Sehnsuchtsort Xanten macht. In ihrem Überlebenskampf werden sie von einer letzten – irrigen – Hoffnung angetrieben, dass Xanten ‚clean‘, ein zukunftsfähiger Lebensraum sei. Muellers Stück demonstriert die unauflös­liche Wechselbeziehung des Menschen mit seiner Umwelt, deren Zerstörung mit Selbstvernichtung und auch kulturellem Verfall gleichzusetzen ist.

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Während Muellers Totenfloß bereits im Orwell-Jahr 1984 entstand, aber erst nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986 zu einem viel beachteten Bühnenerfolg wurde, stellt Elfriede Jelineks Kein Licht (2011) eine Reaktion auf die Katastrophe von Fukushima dar. Jelineks Zeitstück eröffnet zahlreiche ökokritisch interessante Perspektiven. Der postdramatische Text verzichtet auf eine konventionelle Handlung ebenso wie auf subjekthafte Figuren. Stattdessen präsentiert er zwei Textträger – die erste und die zweite Geige –, die radioaktiv verstrahlt und wohl tot durchs Meer treiben und trotz krampfhafter Anstrengung mit ihrem Geigenspiel keine Musik hervorbringen. Handlungsfähigkeit kommt in dieser Situation nicht mehr den Menschen zu, sondern zum einen ihren sich verselbstständigenden Diskursen (so in proliferierenden Wortassoziationen, die z.B. von den Geigern zu Geigerzählern und Arschgeigen oder vom Klang zum Abklingbecken führen) und zum anderen den Kräften der Natur, bei der die beiden Geiger die Schuld für ihre Misere sehen. Auf semantischer wie formaler Ebene erweist sich damit die Vorstellung vom Menschen als souveränem, umsichtig und verantwortlich handelndem Subjekt als illusionär. An die Stelle traditioneller Dialoge auf der Bühne tritt, bekräftigt durch einen geradezu brechtschen Schluss („Ihr Urteil bitte!“), ein verstärkter Dialog zwischen Bühne und Publikum, Kunst und Leben. Statt also Subjektfunktionen insgesamt zu verwerfen, fordert das Stück deren Wahrnehmung im Sinne eines interaktionalen, verteilten Handelns (‚distributed agency‘, Peter Taylor) ausdrücklich heraus. Dieses ökokritisch relevante Konzept besitzt eine generelle Affinität zu den ästhetischen Grundprinzipien des Theaters, das auf der Kopräsenz von Darstellern und Zuschauern beruht. (2) Schwerpunkt Klimawandel: Nuklear- und Klimawandeldiskurs stehen in einem seltsamen Spannungsverhältnis. Beide sind einerseits mit der Notwendigkeit konfrontiert, über gewohnte Wahrnehmungs- und Ordnungsmuster in einem zeitlichen und räumlichen Maß hinauszudenken, das die Reichweite einzelner Nationen oder gar Individuen bei weitem übersteigt. Andererseits hat die Dringlichkeit der vom Klimawandel ausgehenden Gefahren manche Umweltaktivisten wie z.B. James Lovelock veranlasst, sich für den Ausbau der vermeintlich klimaschonenden nuklearen Energieerzeugung einzusetzen. So ist für einige der anthropogene Klimawandel zum alles überstrahlenden Megadiskurs geworden, wohingegen er für andere – die sog. Klimaskeptiker – gar nicht erst stattfindet oder keine ernsthafte Bedrohung darstellt. In der politischen und

17.3 Beispiele ökokritischer Dramenanalysen

persönlichen Praxis zeigt sich allerdings, dass auch die grundsätzliche Akzeptanz des Klimawandels als eines menschenverursachten Missstands keineswegs zwingend mit tiefgreifenden Verhaltensänderungen einhergeht. Der Wissenschaftsphilosoph und Soziologe Bruno Latour hat diese Diskrepanz mit dem Fehlen eines ökologischen Empfindungsvermögens in Verbindung gebracht, wonach ein emotionaler Zugang zu Prozessen in der Größenordnung des Klimawandels schwer zu erlangen sei. Den Ort zur Erprobung der gebotenen ökologischen ‚Herzensbildung‘ sieht Latour in der Kunst, insbesondere im öffent­lichen ­Experimentierraum des Theaters. Mit seinem Theaterprojekt Gaia Global Circus versucht er dem diagnostizierten Problemkomplex abzuhelfen. Mit diesem Unternehmen steht Latour nicht allein; die Zahl deutschsprachiger Theaterproduktionen zum Klimawandel ist allerdings bisher noch gering. Peter Kapp lässt in Nimskys Taube (2009) seine Figuren nach einem Ausweg aus der Überflutung suchen, die sie in einem Hochhaus an der Ostsee festgesetzt hat, und konfrontiert dabei einen technologisch-rationalistischen Machbarkeitsglauben mit einer intuitiven Hoffnung auf die spirituell-naturmagisch konnotierten Kräfte des Inkommensurablen. Ulrich Grebs Futur II (2013) – wie Nimskys Taube bislang nicht als Skript erschienen – inszeniert unter Rückgriff auf reale Zitate eine Fernsehdebatte zwischen Wissenschaftlern, Wirtschaftsvertretern und Umweltaktivisten. Während der Streit der Gesprächsteilnehmer über die Faktizität des Klimawandels eskaliert, füllt sich die Bühne kniehoch mit Wasser, das schließlich auch in den Zuschauerraum vordringt und das Publikum unmittelbar persönlich tangiert. Der Titel des Stücks verweist auf die drängende Gegenwärtigkeit des Geschehens, indem er warnend auf die Zukunft verweist, für die wichtige Chancen bereits unwiderruflich vertan sind. Das Stück Welt-Klimakonferenz (2014) der Projektgruppe Rimini Protokoll schließlich macht die Besucher in einem Rollenspiel zu Delegierten unterschiedlichster Staaten und Institutionen, die unter wissenschaftlicher Begleitung aktiv Informationen sammeln, taktische Positionen einnehmen, Argumente formulieren und in Abstimmungen Entscheidungen treffen. Im englischen Sprachraum hingegen ist in den letzten Jahren eine größere Zahl an Klimawandeldramen entstanden, von denen sich viele mithilfe ähnlicher Motive und Strategien an ihr sperriges Thema annähern. Steve Waters’ Zweiteiler The Contingency Plan (2009) führt die Thematik im klassischen Dramenmotiv des Generationenkonflikts ein. Vor dem Hintergrund einer herauf-

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ziehenden Sturmflut wird hier der Bruch zwischen einem politisch engagierten jungen Glaziologen und seinem verbitterten Vater in Szene gesetzt, dessen eigene frühe Hinweise auf beunruhigende Gletschermessungen als unsinnig verworfen wurden und ihn neben der Karriere auch den Seelenfrieden gekostet haben. Stellt so der erste Teil des Stücks Zeitparadigmen (Vater/Sohn), Regionen (England/Antarktis) und Psychologien (resignierter Zynismus/verzweifelter Tatendrang) in Alter-Ego-Beziehungen einander gegenüber, erweitert der zweite Teil diesen Rahmen um den Zusammenprall höchst unterschiedlicher, aber doch unaufhebbar aufeinander angewiesener diskursiver Praktiken. Bei Waters sind dies v.a. Wissenschaft, Politik und Kunst. In anderen Dramen treten häufig Wirtschaft und Popkultur hinzu, so z.B. in Mike Bartletts Earthquakes in London (2010). Wie viele weitere Klimawandelstücke weist Bartletts gallige Tragikomödie in ihrer Inhaltsstruktur deutliche Parallelen zu Waters’ Drama auf, obwohl sie dessen starke Dialoglastigkeit zugunsten überbordender Sinnenfülle vermeidet. Das Stück handelt von den drei Töchtern eines Physikers, die auf je verschiedene Art versuchen, das menschliche Versagen ihres Vaters und die klimabedingt düsteren Zukunftsaussichten zu bewältigen, worüber eine von ihnen den Tod findet. Dass die ungeborene Tochter der Toten, deren Lebensrecht der Großvater verneint, im Epilog unerwartet zur Hoffnungsträgerin wird, demonstriert die Möglichkeit solchen Zukunftglaubens nur noch als Coda außerhalb der eingespielten Handlungslogik und hält doch an ihm fest. In Form fragmentierter, formelhaft komprimierter Versatzstücke schreibt sich auch die Gemeinschaftsproduktion Greenland (2011) von Moira Buffini, Matt Charman, Penelope Skinner und Jack Thorne in das skizzierte Muster ein, verfällt dabei aber zuweilen in eine allzu belehrende Attitüde. Richard Beans von der sog. Climategate-Affäre inspirierte Slapstick-Komödie The Heretic (2011) bestätigt wiederum das besagte Muster, indem sie es auf den Kopf stellt. Hier hält eine unverwüstliche Geophysikerin gegen den Anpassungsdruck opportunistischer Kollegen und einer idealistischen, aber lebensuntüchtigen Jugendgeneration an ihren klimaskeptischen Überzeugungen fest und bahnt damit den Weg für ein skurriles Happy End. Die Funktion der in allen diesen Texten durch Forscherfiguren repräsentierten Naturwissenschaften geht über schmückendes Beiwerk weit hinaus. Die Stücke bemühen sich erkennbar um wissenschaftliche Fundiertheit und dienen auf mehr oder minder subtile Weise auch zur Information der Zuschauer. Häufig kommen Grafiken, Modelle und Computerpräsentatio-

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nen zum Einsatz, die zur Veranschaulichung hochkomplexer Sachverhalte beitragen. Darüber hinaus verweisen diese medialen Verständnishilfen aber auch auf die Doppelstruktur des Klimawandels als Phänomen und Konstrukt, dem nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden allein beizukommen ist. „[C]limate-change plays as a group […] ,are ground-breaking in their use of science but rather mainstream in their theatricality‘“, stellt Julie Hudson (2012, 270) fest. Wie Enelow mit ihren gestalterischen Experimenten zeigt, gibt es zu diesem verbreiteten Schema allerdings auch Ausnahmen: In ihrem Stück Carla and Lewis (2011) gerät das Leben einer wohlmeinenden New Yorker Kunstkuratorin aus den Fugen, die aus ihrer privilegierten Position heraus auf das vermeintlich weit entfernte Leid von Flutopfern und Klimaflüchtlingen in Bangladesch aufmerksam machen will. Unter dem Einfluss der Titelfiguren – zweier Künstlerinnen – und ihres lebendige Kraft annehmenden Gemäldes, das auf der Bühne nicht allein bildnerisch, sondern auch von Darstellern und einem Erzähler vorgestellt wird, bricht eine Schlammlawine aus den Wänden und begräbt mit dem Wohnzimmer der Kuratorin das typische Setting realistischer Dramen. Traditionelle Handlungs- und Figurenkonzepte werden im Verlauf des Stücks zunehmend von subversiven Gegenentwürfen konterkariert: Dem planvoll handelnden Individuum tritt ein anarchisch-chaotisches Symbiontengespann gegenüber, Distanzen in Raum und Zeit kollabieren, Trennungen zwischen Subjekt und Objekt, Person und Bildnis, Mensch und Umwelt, innen und außen stellen sich als unhaltbar heraus. Das Stück versucht so, seiner Thematik auch ästhetisch gerecht zu werden. (3) Schwerpunkt Mensch-Tier-Verhältnis: In der Mehrzahl der besprochenen Klimawandel- und Nukleardramen spielen nichtmenschliche Tiere keine oder kaum eine Rolle. Auch hier stellt Carla and Lewis in gewisser Hinsicht eine Ausnahme dar, insofern die beiden als „punk butterflies“ eingeführten schrillbunten Titelfiguren die Trennung von Menschen und (anderen) Tieren radikal infrage stellen. Mit farbenfrohem Nagellack, Federn in den Haaren und Allzweckklebeband auf der Nase sind sie Manifestationen einer nicht in getrennte Sphären auflösbaren NaturKultur (Donna Haraway). Die Präsenz lebender Körper auf der Theaterbühne hat Dramatiker auch in früheren Zeiten zur Hinterfragung der vermeintlich einzigartigen Sonderstellung des Menschen angeregt. Schon in Shakespeares A Midsummer Night’s Dream (ca. 1595) führt eine Theaterprobe in den zivilisationsfernen Spiel-Raum des Waldes, wo der übermütige

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Trickster Puck, Inbegriff von Sinnlichkeit und Metamorphose, den Kopf eines Darstellers in den eines Esels verwandelt. Das Sinnbild rationalen Denkens, das Descartes ein halbes Jahrhundert später zur Grundbedingung der menschlichen Existenz erklären sollte, erweist sich im Theater als wenig verlässlich. Hat die Infragestellung der Opposition von Mensch und Tier somit eine lange dramatische Tradition, hat diese dennoch erst in den letzten Jahren im Zuge der entstehenden Animal Studies (vgl. Kap. 6) systematische Aufmerksamkeit erfahren. Zu den Grundgedanken dieses Forschungsfelds gehört die von Jacques Derrida auf den Punkt gebrachte Einsicht, dass ‚das Tier‘ (im Singular) eine Erfindung des Menschen ist, mittels derer er sich selbst von allen anderen Tieren abgrenzt und die unendliche Vielfalt nichtmenschlichen Lebens zu einer bewältigbaren Größe erklärt. In den Bereich der Dramen- und Theaterforschung hat erneut v.a. Chaudhuri die Animal Studies eingeführt. Sie erkennt die größte Hürde für eine produktive theatrale Auseinandersetzung mit nichtmenschlichen Tieren in deren permanenter Metaphorisierung, die ihre unbedingte Eigenwertigkeit und Eigengesetzlichkeit verdecke: As pets, as performers, and as literary symbols, animals are forced to perform us – our fantasies and fears, our questions and quarrels, our hopes and horrors. Refusing the animal its radical otherness by ceaselessly troping it and rendering it a metaphor for humanity, modernity erases the animal even as it makes it discursively ubiquitous (Chaudhuri 2005, 105).

Vor diesem Hintergrund weist sie dem Ecocriticism die Aufgabe zu, kulturelle Tier- bzw. Tierheitsdiskurse kritisch zu beleuchten, dem Nachhall realer tierischer Existenzen in ihnen nachzuspüren und zu einer erhöhten Wahrnehmung und Wertschätzung der nichtmenschlichen Arten beizutragen. Diesen Prozess bezeichnet sie als ‚Zooësis‘. Ein nicht nur von Chaudhuri herangezogenes Beispiel für ‚zooëtisches‘ Drama ist Edward Albees The Goat, or Who Is Sylvia? (2002), ein Stück über die Affäre des glücklich verheirateten Architekten Martin mit einer Ziege, dessen Ehe an der Aufdeckung dieser Liebesbeziehung zerbricht. Seine eindringlichen Versicherungen, dass er sie beide – Frau und Ziege – gleichermaßen liebe und begehre, erlebt Martins Ehefrau Stevie als ungeheuerliche und tief kränkende Herabsetzung. Wie sehr Stevies Wahrnehmung dabei von wirkmächtigen ­anthropozentrischen Diskursen geprägt ist, zeigt sich u.a. an ihrer Zurückwei-

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sung des Personenstatus performierenden Pronomens ‚who‘, ja sogar des Weiblichkeitsindikators ‚she‘ für die Ziege. Martins Tabubruch zwingt sie, nach rational einsichtigen Belegen für die fundamentalen Unterschiede zwischen sich und dem Tier zu suchen, um die Validität dieser zuvor als selbstevident gesetzten Grundannahme zu verteidigen. Dieser Impuls wird letztlich an das Publikum weitergegeben, denn trotz ihres sonstigen Esprits bleiben die von Stevie im Stück angeführten Argumente kläglich inadäquat. Ihre Rationalisierungsversuche werden zudem von den ‚animalischen‘, zutiefst physischen Eruptionen ihrer emotionalen Aufwühlung unterlaufen. Demgegenüber nimmt Martin die Ziege als Agens wahr und schildert wiederholt, wie ihm in einem innigen, epiphanischen Blickkontakt ihre beiderseitigen Gefühle gewahr geworden seien. Seine potenziell produktive Ahnung verfestigt sich jedoch umgehend zu einer subjektiv gesicherten Gewissheit. Indem Martin seine Sensibilisierung für das Mehrals-Menschliche (David Abrams) in den Anspruch auf dessen totales Begreifen überführt, macht er es erneut zum Objekt der eigenen Selbstermächtigung. Bedarf es für eine akzeptable Beziehung des Menschen zur nichtmenschlichen Welt also einerseits seiner Einsicht in die Durchlässigkeit und Beweglichkeit der Grenzen zwischen ihnen, so ist andererseits auch Respekt für Differenz und ­Alterität unverzichtbar. Mensch-Tier-Beziehungen wurden in den letzten Jahren mehrfach provokativ anhand hybrider erotischer Konstellationen auf die Bühne gebracht, so in Wallace Shawns anarchisch-psychedelischem Grasses of a Thousand Colors (2009) oder Eric Cobles My Barking Dog (2011), in dem ein Mann von einem Kojoten geschwängert wird und die Verbindung zur Queer Ecology mit ihrer Kritik an binär-hierarchischen Normlogiken besonders deutlich hervortritt. Die Stücke werden Chaudhuris Forderung nach der Sichtbarmachung von Tieren als Tieren gerecht und demonstrieren doch zugleich, dass ein solcher ökologisch orientierter Zugang metaphorisch-symbolische Bedeutungen nicht ausschließt. Auf diese Vielschichtigkeit dramatischer Tierfiguren machen zeitgenössische Theatertexte auch im deutschen Sprachraum verstärkt aufmerksam. So verfolgt Roland Schimmelpfennigs Trilogie der Tiere (2007) das Leben zweier Halbgeschwister, deren Wege von den verschiedensten Kreaturen gekreuzt und auf hintergründige Weise beeinflusst werden. Im mittleren Teil Das Reich der Tiere z.B. arbeiten beide Geschwister am Theater und spielen seit Jahren die Rolle eines Löwen bzw. einer Ginsterkatze. Doch Spiel und Leben, Mensch und Tier lassen

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sich nicht trennen. Ebenso wie die Tierrollen der Schauspieler auf ihre Verhaltensweisen jenseits der Bühne rückzuwirken scheinen, stehen die Darsteller in einer physisch-materiellen Austauschbeziehung zu den dargestellten Tieren, mit denen sie in ihrer immer wieder hervorgehobenen Körperlichkeit und ihrem Charisma verschmelzen, bis beide Seiten kaum mehr ohne einander denkbar sind. Auch in Fritz Katers we are blood (2010) stehen Beziehungen zwischen lebenden Kreaturen im Mittelpunkt, seien sie Menschen oder (andere) Tiere: Die im Bild des Blutes symbolisierte, elementare und doch Ehrfurcht gebietende Lebens- und Leidensfähigkeit durchwirkt sie alle. Der Dramentext, der ökologische und psychologische, medizinische und soziale, politische und ökonomische Diskurse zusammenführt, hält dem Leser durch seine visuelle Sperrigkeit – die Abwesenheit von Satzzeichen, die Kleinschreibung aller Wörter, gedicht­artige Zeilenumbrüche – stets bewusst, dass er kein neutral-transparentes Abbild einer ihm vorausgehenden Realität liefert. Dennoch erschöpft sich die dargestellte Wirklichkeit nicht in ihrer Diskursivität. Vielmehr macht der Text deutlich, dass Realität aus der kontinuierlichen Interaktion sprachlicher, vorsprachlicher und außersprachlicher Kräfte erwächst; sie ist somit ein nie stillstehender performativer Entwicklungsprozess. Für die Figur des Mediziners Zwerenz äußert sich dies am eindringlichsten in der lebenslangen Transformation der Hirnstrukturen durch Erfahrungen. Beziehungen zu anderen Lebewesen sind in diesem Prozess von fundamentaler Bedeutung. Entsprechend sind Tiere im Menschen nicht nur evolutionär-genetisch präsent, sie bleiben kontinuierlich an der fortwährenden Erschaffung der Menschen beteiligt, etwa wenn Vogelgesang unmerklich und doch nachhaltig auf die neuronalen Netze der Figuren im Stück – und des Publikums im Theater – einwirkt. Wie das Stück hervorhebt, verliert der Mensch ohne solche Kontakte auch einen unersetzlichen Teil seiner selbst. Im Bild des Kranichs, den das Drama ebenso als bedrängte biologische Spezies vergegenwärtigt wie als mythisches Symbol, verknüpft we are blood gerade diesen Teil des Menschen nachdrücklich mit seinen ‚humansten‘ Fähigkeiten – mit Empathie, emotionaler Tiefe, Kreativität.

17.4 Fazit

17.4 Fazit

Obwohl, wie oben dargelegt, Ökologie und Theater bzw. Drama wiederholt als wenig kompatibel bezeichnet worden sind, bestehen vielfältige produktive Anschlussmöglichkeiten. Eine immer größere Zahl künstlerischer Texte und Produktionen liefert ökologische Impulse, die sich in den letzten Jahren zunehmend auch in der Forschung niederschlagen. In den anglophonen Ländern ist diese Entwicklung bislang reger verlaufen als im deutschsprachigen Raum. Insgesamt gilt bezüglich Drama und Theater jedoch weiterhin die Feststellung, „the lack of research that engages directly with the relationship between theatre and environmentalism is far more striking than a lack of [artistic] activity itself – which in fact appears to be increasingly lively“ (Heddon/Mackey 2012, 187). 17.5 Literaturverzeichnis

Chaudhuri, Una: Animal Geographies. Zooësis and the Space of Modern Drama [2003]. In: Giannachi, Gabriella/Stewart, Nigel (Hg.): Performing Nature. Explorations in Ecology and the Arts. Bern 2005, S. 103–118. Chaudhuri, Una/Enelow, Shonni: Research Theatre, Climate Change, and the Ecocide Project. A Casebook. New York 2014. Chaudhuri, Una: Staging Place. The Geography of Modern Drama. Ann Arbor 1995. Chaudhuri, Una: „There Must Be a Lot of Fish in That Lake“. Toward an Ecological Theater. In: Theate 25.1 (1994) (= Sonderheft Theater and Ecology), S. 23–31. Cless, Downing: Ecology and Environment in European Drama. New York, Abingdon 2010. Däwes, Birgit/Maufort, Marc (Hg.): Enacting Nature. Ecocritical Perspectives on In­ digenous Performance. Brüssel 2014. Egan, Gabriel: Green Shakespeare. From Ecopolitics to Ecocriticism. London, New York 2006. Estok, Simon C.: Ecocriticism and Shakespeare. Reading Ecophobia. New York 2011. Fuchs, Elinor/Chaudhuri, Una (Hg.): Land/Scape/Theater. Ann Arbor 2002. Heddon, Deirdre/Mackey, Sally: Environmentalism, Performance and Applications. Uncertainties and Emancipations. In: Research in Drama Education 17.2 (2012) (= Sonderheft Environmentalism), S. 163–192. Hudson, Julie: „If You Want to Be Green Hold Your Breath“. Climate Change in British Theatre. In: New Theatre Quarterly 28.3 (2012), S. 260–271.

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17 Umweltthematik in Drama und Theater

Kershaw, Baz: Theatre Ecology. Environments and Performance Events. Cambridge u.a. 2007. Marranca, Bonnie: Ecologies of Theater. Baltimore, London 1996. May, Theresa J.: Greening the Theatre. Taking Ecocriticism from Page to Stage. In: Interdisciplinary Literary Studies 7.1 (2005), S. 84–103. May, Theresa J.: Beyond Bambi. Toward a Dangerous Ecocriticism in Theatre. In: The­ atre Topics 17.2 (2007), S. 95–110. May, Theresa J.: Salmon Is Everything. Community-Based Theatre in the Klamath Watershed. Corvallis 2014. Meeker, Joseph: The Comedy of Survival. Studies in Literary Ecology. New York 1972. Schechner, Richard: Environmental Theater [1973]. New York, London 1994. Sullivan, Heather I.: Affinity Studies and Open Systems. A Nonequilibrium, Ecocritical Reading of Goethe’s Faust. In: Goodbody, Axel/Rigby, Kate (Hg.): Ecocritical Theory. New European Approaches. Charlottesville, London 2011, S. 243–255. Stein, Gertrude: Plays. In: Lectures in America (1935). Boston 1957, S. 91–131.

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18 Klimawandelroman Sylvia Mayer

Seit Ende des 20. Jahrhunderts mehren sich die Stimmen, die den heutigen anthropogenen Klimawandel nicht länger auf meteorologisch messbare Sachverhalte, klimatologische Analysen und sozioökonomisch relevante Zukunftsszenarien reduzieren, sondern ihn als das wahrnehmen und beschreiben, was er ist: ein globales, höchst komplexes, in seiner räumlichen Reichweite sehr unterschiedlich ausgeprägtes und in seiner Entwicklung vielfach unberechenbares Phänomen ökologisch-kultureller Transformationen. Der für die Gegenwart konstatierte Klimawandel geht einher mit der Entwicklung eines neuen kulturellen Imaginären, mit der Entstehung und Kommunikation von Ideen, Konzeptionen und Werten, die ebenso die Folge der massiv erhöhten Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre sind wie deren vielfältige ökologische, sozioökonomische und politische Auswirkungen. Die unterschiedlichen Manifestationen des Klimawandels in unserem Zeitalter fossiler Energieträger markieren die Untrennbarkeit von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ und fordern so das gesamte Spektrum der Natur-, Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften heraus, sich damit zu beschäftigen. Der Klimawandel ist nicht nur das Resultat ökonomischer Praktiken, sozialer und politischer Organisationsformen sowie der Werte und Normen, die diesen zugrunde liegen, sondern stellt angesichts der vielfältigen, damit einhergehenden Bedrohungen diese Praktiken, Organisationsformen, Werte und Normen auch umfassend infrage. Dadurch markiert er ein Umweltproblem mit globaler, ja, planetarischer Dimension und fordert ein neues Verständnis von Welt ein (Chakrabarty 2009, 200) – ein Weltverständnis, das in dem von Paul J. Crutzen und Eugene F. Stoermer (2000) formulierten Konzept des Anthropozäns gefasst werden kann. Dieses postuliert ein neues, durch den Menschen geprägtes geologisches Zeitalter, in dem der Mensch nicht mehr nur als sozialer, politischer, ökonomischer, kultureller oder auch biologischer Akteur angesehen, sondern kollektiv als eine geologische Kraft begriffen wird. Zu den Stimmen, die die ökologisch-kulturelle Komplexität des Klimawandels erkennbar werden lassen, gehört zunehmend auch die Stimme der Literatur. „Klimawandelliteratur“, und hier insbesondere das Genre des „Klimawandelro-

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18 Klimawandelroman

mans“, nutzt das Experimentierfeld der Fiktion, um sich mit der konkreten Erfahrung des anthropogenen Klimawandels, seinen Ursachen und seinen bereits realen wie in der Zukunft möglichen Auswirkungen auseinanderzusetzen. In der Entwicklung seiner fiktiven Welten nutzt der Klimawandelroman unterschiedlichste Arten kulturellen Wissens und kann durch seine inhaltliche wie formale Gestaltung das Lesepublikum nicht nur intellektuell, sondern auch emotional-affektiv erreichen. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag zum globalen Klimawandel-Diskurs, der bisher von Szenarien und Narrativen dominiert war, die in einer naturwissenschaftlichen Perspektive gründen, aus Statistiken und Klimamodellen hergeleitet werden und daher wichtige Dimensionen der Klimawandelerfahrung ausblenden bzw. ausblenden müssen. Um das Phänomen Klimawandel umfassend zu begreifen und konkret fassbar zu machen, gilt es, der bestehenden „Matrix“ von Klimawandel-Narrativen (Daniels/Endfield 2009, 222) solche hinzuzufügen, die sich auf die Repräsentation seiner vielfältigen, oft äußerst diversen sozialen, ökonomischen, politischen, psychologischen und ethisch-moralischen Erfahrungsdimensionen konzentrieren. 18.1 Der Roman und die Problematik der Wahrnehmung des Klimawandels

Im anglophonen Raum wird der Klimawandelroman derzeit als Emerging Genre, als eine im Entstehen begriffene Gattung bezeichnet, die zunächst einmal thematisch definiert ist. Er befasst sich mit dem anthropogenen Klimawandel der Gegenwart, der sich anders als die vielen früheren Klimaveränderungen, die die Erdgeschichte prägten, substanziell durch den Einfluss des Menschen definiert. Nachdem bereits der vierte Sachstandsbericht des Weltklimarats im Jahr 2007 zu dem Schluss gekommen war, dass die Erderwärmung maßgeblich durch den Ausstoß von Treibhausgasen seit Beginn der Industrialisierung verursacht wurde, stellte der 2013 veröffentlichte fünfte Bericht fest, dass es „extrem wahrscheinlich“ sei, „dass der menschliche Einfluss die Hauptursache der Erwärmung seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts ist“ (Bundesministerium 2013, 3). Klima im Klimawandelroman markiert darum nicht nur den Hintergrund für das ‚eigentlich‘ bedeutsame menschliche Drama eines Handlungsverlaufs, sondern rückt in unterschiedlichsten Konkretisierungen – als Wetterphänomen genauso wie als soziales, ökonomisches, psychisches oder moralisches Problem – als Akteur ins Zentrum des Geschehens.

18.1 Der Roman und die Problematik der Wahrnehmung des Klimawandels

Die ebenfalls erst im Entstehen begriffene literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Klimawandelroman hebt hervor, dass es sich bei der literarischen Auseinandersetzung mit dem Klimawandel um einen zunächst nur zögerlich einsetzenden Prozess gehandelt habe. Nachdem die vom Menschen verursachte globale Erderwärmung, und damit die potenziellen Folgen eines globalen Klimawandels, Ende der 1970er-, Anfang der 1980er-Jahre zum Gegenstand nationaler wie internationaler öffentlicher Diskurse geworden war, setzte die Romanproduktion zum Thema später und nur langsam ein. Für den anglophonen Raum, der bisher die größte Anzahl an Klimawandelromanen aufweisen kann, gilt, dass – abgesehen von Vorläuferromanen wie Arthur Herzogs Heat (1977) oder George Turners The Sea and Summer (1987) – eine signifikante Anzahl von Klimawandelromanen erst seit Beginn der 1990er-Jahre zu verzeichnen ist, wobei die Publikationszahlen nach dem Jahr 2000 noch einmal deutlich angestiegen sind (vgl. Trexler/Johns-Putra 2011, 186–188). Die Gründe für das verzögerte Auftreten des Klimawandelromans liegen nicht zuletzt darin, dass sich das Phänomen Klimawandel der direkten Wahrnehmung in hohem Maße zu entziehen scheint (vgl. Heise 2008, 205–206; Schneider 2010). Menschen nehmen das Wetter, nicht jedoch das Klima wahr. Dieses stellt, so Birgit Schneider, „ein statistisch erzeugtes, abstraktes Forschungsobjekt in Langzeitperspektive“ dar, „das sich neben Statistiken etwa in Modellen überhaupt erst konstituiert“ (Schneider 2000, 82). Zudem sind Treibhausgase für das Auge unsichtbar und ihre schädigenden Auswirkungen nicht sofort erkennbar. Einzelne Wetteranomalien können darüber hinaus nicht zweifelsfrei auf den Klimawandel zurückgeführt werden, da das Wetter immer Schwankungen unterliegt. Der Klimawandel ist somit ein räumlich wie zeitlich entgrenztes Phänomen, das eine globale Reichweite aufweist und sich über sehr lange Zeiträume hinweg entwickelt; er übersteigt nicht nur die Lebensspanne des einzelnen Menschen, sondern auch die mehrerer Generationen. Erschwerend kommt hinzu, dass dem Klimawandel als globalem Risiko immer der Faktor Unsicherheit eingeschrieben ist. Klimamodelle stellen Zukunftsszenarien dar, sie kalkulieren und antizipieren mögliche bzw. wahrscheinliche Folgen menschlichen Entscheidungshandelns in Bezug auf das Klima, sind jedoch nicht in der Lage, präzise, unumstößliche Voraussagen zu machen. Dieser Unsicherheitsfaktor, der sich auch in der Existenz unterschiedlicher Klimamodelle niederschlägt, hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder politische wie gesellschaftliche Kontroversen

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provoziert und ein hohes Maß an Unsicherheit in der Wahrnehmung und Einschätzung der Klimawandelproblematik erzeugt. Bis heute reicht das weltweite Spektrum der Reaktionen auf die Berichte des Weltklimarats von der Akzeptanz seiner Schlussfolgerungen bis hin zu deren Leugnung, und dies trotz weitgehender Übereinstimmung innerhalb der Scientific Community, dass heutige Klimaveränderungen maßgeblich menschengemacht sind. In diesem von Abstraktheit, Entgrenzung, Unsicherheit und Kontroversen geprägten Diskurs siedelt sich nun der Klimawandelroman an. Parallel zu den Szenarien der Naturwissenschaften und unter Rückgriff auf das von ihnen erarbeitete Wissen schafft er fiktionale Szenarien, die vor allem jene Erfahrungsdimensionen in den Blick nehmen, die erstere ausblenden (müssen): Szenarien, die sich auf die Konkretheit individueller Erfahrungen des Klimawandels konzentrieren und dabei die Aufmerksamkeit auf die Vielfalt und Diversität je spezifischer ökologischer wie sozioökonomischer, psychologischer oder auch moralisch-ethischer Gegebenheiten und Transformationsprozesse lenken. Damit präsentiert sich der Klimwandelroman gleichzeitig als ein Medium, das eben jenen von Abstraktheit, Entgrenzung, Unsicherheit und Kontroversen geprägten Diskurs kritisch reflektiert und somit einen wichtigen und genuinen Beitrag zum globalen Klimawandeldiskurs liefert. Mit der oben skizzierten Wahrnehmungsproblematik geht für den Klimawandelroman, ähnlich wie für jegliche nichtfiktionale Kommunikation der Klimawandelthematik (vgl. Moser 2010), eine Darstellungsproblematik einher. Wie lassen sich, heruntergebrochen auf die individuelle Erfahrung einzelner Figuren, die systemischen Ursachen des Klimawandels, seine lokal so unterschiedlich ausgeprägte, letztlich aber globale Reichweite und schließlich seine zeitlich latente Wirkung narrativ gestalten? Welche literarischen Gattungskonventionen, Gestaltungsmodi und weiteren stilistischen Elemente bieten sich an, um eine vom Klimawandelrisiko geprägte Gegenwart sowie durch den Klimawandel hervorgerufene mögliche Zukunftsszenarien narrativ zu entwerfen? Wie sieht eine Ästhetik des Klimawandel­ romans aus, die in der Lage ist, die Neuartigkeit dieses ökologisch-kulturellen Problems adäquat zu repräsentieren? Im Folgenden werden erste Ergebnisse der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen Fragen zusammengefasst, ehe an drei Romanbeispielen aufgezeigt wird, wie in ihnen die angesprochene Darstellungsproblematik im Einzelnen gelöst wird.

18.2 Klimawandelromanforschung: erste Trends

18.2 Klimawandelromanforschung: erste Trends

Ein Schwerpunkt der Untersuchungen liegt auf dem Bemühen, den Klimawandelroman als neue Gattung zu etablieren, um damit seine thematische wie ästhetische Innovationskraft aufzuzeigen. In ihrem Überblicksartikel zum anglophonen Klimawandelroman heben Trexler und Johns-Putra zunächst den Einfluss populärer Genres, v.a. der Science Fiction und des Thrillers hervor (vgl. Trexler/Johns-Putra 2011, 186–188). In Science-Fiction-Romanen erkennen sie die Vorläufer des Klimawandelromans, da diese Zukunftsszenarien entwerfen, in denen Umweltveränderungen eine wichtige Rolle spielen. Allerdings werden diese hier noch auf natürliche Ursachen zurückgeführt, und als Schauplatz der Handlung dienen oft andere Planeten. In den Fällen, in denen der entstehende Klimawandelroman ebenfalls Zukunftsszenarien entwirft, greift er weiterhin auf Science-Fiction-Elemente zurück. Prominente Beispiele dafür sind Margaret Atwoods MaddAddam-Trilogie (2003, 2009, 2013), Kim Stanley Robinsons Trilogie Science in the Capital (2004, 2005, 2007) (vgl. Johns-Putra 2010) oder Dirk C. Flecks Maeva! (2011) (vgl. Mehnert 2012). Mit Blick auf das Genre des Thrillers betonen Trexler/Johns-Putra (2011), dass sich die von Unsicherheit und Kontroversen geprägte Klimawandelproblematik bestens für Narrative eignet, für die die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen politischen Themen sowie die Erzeugung von Spannung und das Arbeiten mit Gut-Böse-Schemata in der Figurenzeichnung zentrale Definitionskriterien darstellen. Im deutschsprachigen Raum ist in diesem Zusammenhang die Rede vom Ökothriller (vgl. Dürbeck/ Feindt 2010). Beispiele für Klimawandelromane, die dem Thrillergenre zugeordnet werden können, sind Michael Crichtons notorischer, da die Existenz des anthropogenen Klimawandels letztlich leugnender, Roman State of Fear (2004), Frank Schätzings Der Schwarm (2004) und Matthew Glass’ Ultimatum (2011). Versuche der Verortung des Klimawandelromans im Gattungssystem stellen auch Studien dar, die den Klimawandelroman als Risikonarrativ definieren (vgl. Heise 2008; Zemanek 2012, 2013; Mayer 2013, 2014; Weik von Mossner 2013; Mehnert 2014, 114–144). Damit tragen sie maßgeblich zur ebenfalls im Entstehen begriffenen Forschung zu Risikonarrativen im Allgemeinen bei (vgl. die Beiträge in Schmitz-Emans 2013). Der Klimawandel als paradigmatisches globales Risiko unserer Zeit reflektiert auf die diversen Erfahrungsdimensionen der „Weltrisikogesellschaft“ (Ulrich Beck), die sich als Folge von technologisch-

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kulturellen Modernisierungsprozessen in der Spätmoderne herausgebildet hat und durch die Antizipation unkalkulierbar-bedrohlicher Folgen menschlichen Entscheidungshandelns in der Zukunft – etwa des globalen Klimakollapses – gekennzeichnet ist. Wie Studien zu einzelnen Klimawandelromanen zeigen, entziehen sich diese jedoch oft der klaren Einordnung in ein einziges Gattungsmuster und lassen stattdessen Anleihen bei verschiedenen Gattungen erkennen. Ein Roman wie z.B. Barbara Kingsolvers Flight Behavior (2012) weist deutliche Züge des Bildungsromans, der Domestic Novel und des Konversionsnarrativs auf (vgl. Goodbody 2014; Mayer 2014). Ähnliches gilt für die bereits erwähnten sechs Romane von Atwood und Robinson, die nicht nur der Science-Fiction zugeordnet werden können, sondern darüber hinaus ebenfalls Elemente des Bildungsromans und der Domestic Novel sowie des pikarischen Romans und des Thrillers enthalten. Diese Vielfalt möglicher Gattungszuordnungen deutet an, dass der Klimawandelroman nicht vom Gestaltungsmodus der Apokalypse dominiert wird, vom Entwurf von Klimakatastrophenszenarien, wie sie vor allem die fiktionale filmische Auseinandersetzung mit dem Klimawandel prägt. Ein weiterer Schwerpunkt bisheriger Arbeiten zu Klimawandelromanen besteht in der Frage nach der Narrativierung der globalen Reichweite des Klimawandels, die mit Blick auf lokale Ausprägungen jedoch z.T. äußerst divers ausfallen kann. Diese erfordert, wie Ursula Heise (2008) eindrücklich nachweist, die Herausbildung eines planetarischen Bewusstseins, das das Verständnis des Lokalen fundamental verändert. Der lokale Raum muss als deterritorialisierter gedacht werden, als Raum, der von globalen und transnationalen ökologischen Kräften und Zusammenhängen entscheidend mitdefiniert ist. Erst ein solches Raumverständnis ermöglicht die Entstehung eines „ecocosmopolitanism“, eines umweltethischen Kosmopolitismus, der in der Lage ist, die räumliche Spezifik des Klimawandels zu erkennen und auf seine bedrohlichen Auswirkungen geographisch wie kulturell je spezifisch zu reagieren. Dürbeck und Feindt sprechen in diesem Zusammenhang von „einer Logik der Multiskalarität“ (Dürbeck/Feindt 2010, 215), die das Lokale und das Globale miteinander verknüpft. Mit Blick auf die Narrativierung eines derartig konzeptualisierten Raumverständnisses geht der Klimawandelroman darum über das grundlegende Mittel der Nutzung ökologisch wie kulturell relativ statisch gedachter Schauplätze, die über die ganze Erde verteilt sind, hinaus: Er dramatisiert stattdessen die deterri-

18.3 Der internationale Klimawandelroman: exemplarische Lektüren

torialisierte Raum- bzw. Umwelterfahrung der Figuren an solchen Orten. Eine besonders innovative Form der Narrativierung sieht Heise in der Verwendung von Montage- und Collagetechniken, die sich an den Visualisierungsmöglichkeiten der zeitgenössischen digitalen Kultur orientieren, eine Strategie, die z.B. in David Brins Earth (1990) zum Tragen kommt (Heise 2008, 80–85). 18.3 Der internationale Klimawandelroman: exemplarische Lektüren

Im Folgenden soll nun am Beispiel dreier Romane, Barbara Kingsolvers Flight Behavior (2012), Ian McEwans Solar (2010) und Ilija Trojanows EisTau (2011), skizziert werden, wie die konkreten, diversen und auch kontroversen Erfahrungen des Klimawandels thematisiert und einige Schwierigkeiten der zuvor konstatierten Darstellungsproblematik überwunden werden können. Flight Behavior erzählt die Geschichte von Dellarobia Turnbow, einer 28-jährigen Farmersfrau und zweifachen Mutter im ländlichen Tennessee. Die Handlung des Romans setzt ein mit ihrem Versuch, ein von Armut und erstickender Eintönigkeit geprägtes Leben, und damit auch ihre Familie, hinter sich zu lassen. Auf dem Weg zu dem jungen Mann, mit dem sie davonlaufen will, stößt sie plötzlich auf ein Meer von Schmetterlingen, auf Millionen von Monarchfaltern, die aufgrund eines veränderten Klimas ihre Migrationsroute geändert haben – eine gefährliche Entwicklung, da die klimatischen Gegebenheiten in Tennessee das Überleben der Schmetterlinge bedrohen. Diese Begegnung, die für Dellarobia zunächst religiöse Züge trägt, ehe sie lernt, das Phänomen naturwissenschaftlich als Zeichen für den Klimawandel zu deuten, stellt für sie eine neue Situation her. Sie kehrt zurück und wird, als klar wird, welche ökologischbiologische Besonderheit sich hier vollzieht, Teil des Teams eines renommierten Entomologen, der das Auftauchen der Schmetterlinge untersucht. Die Arbeit in der Gruppe der Wissenschaftler, aber auch die Begegnung mit Umweltschützern, Naturliebhabern und Medienvertretern aus der ganzen Welt, die anreisen, um die Tiere zu sehen, erweitern Dellarobias Horizont maßgeblich. Sie lernt die ökonomischen, politischen wie weltanschaulichen Ursachen des Klimawandels zu verstehen. Letztlich eröffnet diese Erfahrung ihr wie ihren Kindern neue Perspektiven für ein eigenständig gestaltetes Leben. Der Roman nutzt seine Protagonistin, um zum einen die Klimawandelerfahrung konkret fassbar zu machen und zum andern im Stile des Bildungsromans

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eine Persönlichkeitsentwicklung im Zeichen des Klimawandels zu gestalten. Dellarobia ist alleinige Fokalisierungsinstanz des Romans, d.h. alle Informationen werden durch ihre Perspektive gefiltert. In ihren Gedanken, Gefühlen, aber auch in ihren Gesprächen mit Familienmitgliedern, Nachbarn, den Wissenschaftlern und Vertretern der Medien wird der Klimawandel als kontroverse Realität sichtbar, als ein Phänomen, das konfligierende, z.B. religiöse oder naturwissenschaftliche, Deutungen erlaubt, die wiederum Rückschlüsse auf unterschiedliche Interessenlagen und sozioökonomische Gegebenheiten erlauben. Kritisch reflektiert wird in Flight Behavior auch die Thematik des Klima­ skeptizismus. Wie Axel Goodbody (2014) aufgezeigt hat, macht der Roman deutlich, dass es sich dabei aus psychologischer Sicht nicht um das Ignorieren verfügbarer Informationen aus reiner Bequemlichkeit handelt, sondern um den Versuch, eine existenziell bedrohliche Situation aktiv durch das Festhalten an etablierten Ordnungen zu bewältigen. Zudem lernt Dellarobia im Laufe der Zeit, den Ort, an dem sie lebt, als deterritorialisierten Ort zu begreifen, der durch das Auftauchen der Schmetterlinge ganz offensichtlich dem Einfluss überregionaler und letztlich globaler ökologischer Kräfte unterliegt – ein Einfluss, der auch das ungewöhnliche Wetter der letzten Monate erklärt, ein Übermaß an Regen, das für die örtliche Gemeinschaft gravierende ökonomische Probleme mit sich bringt und dem Roman eine konkrete dystopische Qualität verleiht. Der Roman bringt damit eine Subjektivität in der Weltrisikogesellschaft zum Ausdruck, die das Gefahrenpotenzial des Klimawandels zu begreifen sucht und ein planetarisches, „ökokosmopolitisches“ Bewusstsein zu entwickeln beginnt. Kingsolvers Roman liefert ein Beispiel dafür, dass zum Kernfigurenrepertoire von Klimawandelromanen die Figur des Naturwissenschaftlers gehört, da durch sie wesentliches Klimawissen vermittelt werden kann. Auch Ian McEwans Solar und Ilija Trojanows EisTau nutzen einen Wissenschaftler als Hauptfigur, um die Erfahrung des Klimawandels – allerdings in ganz anderer thematischer Akzentuierung – zu konkretisieren und in einen Kontext der Kontroverse einzubetten. Während Kingsolver über die Entwicklung ihrer Protagonistin den Glauben an die Lernfähigkeit des Menschen ins Zentrum rückt, setzen sich Solar und Eis­ Tau über ihre Protagonisten mit der Rolle von Indifferenz und Pessimismus im Klimawandeldiskurs auseinander. Beide Romane verwenden die Gestaltungsmittel von Komik und Satire, bei Trojanow gesellt sich darüber hinaus ein elegischer Ton hinzu.

18.3 Der internationale Klimawandelroman: exemplarische Lektüren

Protagonist, und erneut einzige Fokalisierungsinstanz, von Solar ist der Physiker Michael Beard, der in jungen Jahren den Nobelpreis erhielt, danach aber keine weiteren maßgeblichen Forschungsarbeiten mehr vorlegte. Beard ist eine extrem selbstbezogene Figur, einzig auf die Befriedigung seiner Wünsche und Bedürfnisse konzentriert, und schreckt im Laufe der Handlung auch vor kriminellen Handlungen nicht zurück. Seine der Klimawandelproblematik gegenüber völlig indifferente Haltung gibt er erst auf, als er mit gestohlenen Forschungsergebnissen zur künstlichen Photosynthese und damit der Erzeugung von Sonnenenergie seinen Ruf wie sein Portemonnaie aufbessern kann. Er gründet eine Firma und geriert sich als Retter der Umwelt wie der Menschheit, ohne jedoch die Bedrohung des Klimawandels je wirklich ernst zu nehmen. Evi Zemanek (2012) liest Solar als Satire und als Risikonarrativ, das das Klimawandelrisiko allegorisch durch die Figur Michael Beard inszeniert. Beard verkörpert in seiner Selbstbezogenheit, seiner Gier, seinem Hyperkonsumverhalten und seinem Unwillen, sich differenziert mit den systemischen Ursachen des Klimawandels zu befassen, das Verhalten des ökonomisch privilegierten Teils der Welt, das zur globalen Erderwärmung geführt hat. Darüber hinaus verweisen etliche Episoden seines Privatlebens, in denen er verschiedene persönliche Risiken eingeht, metaphorisch auf das globale Risiko des Klimawandels. Solar ist ein Klimawandelroman, der ohne apokalyptisches Klimakatastrophenszenario auskommt; die dystopischen Folgen des Klimawandels werden, satirisch gebrochen, lediglich in einigen Reden und in den Gedanken Beards anzitiert und damit als thematischer Horizont in den Roman integriert. Zeno Hintermeier, der Protagonist von EisTau, ist Glaziologe und befindet sich mit Einsetzen der Romanhandlung als wissenschaftlicher Reisebegleiter auf einem Antarktiskreuzfahrtschiff. Er bereist somit jenen Teil der Welt, der – wie schon der Titel des Romans – auf eine zentrale Bedrohung durch den Klimawandel verweist, auf das Abschmelzen der Polkappen. In krassem Gegensatz zu McEwans Protagonisten dramatisiert Trojanow in seiner Wissenschaftlerfigur Zeno eine Erfahrung des Klimawandels, die nur zu genau um die sozioökonomischen wie politischen Zusammenhänge der globalen Erderwärmung weiß, die mit einer ausgeprägten globalen umweltethischen Haltung ausgestattet ist und die mühelos Orte wie die Antarktis als deterritorialisierte erkennt und beschreiben kann – eine Erfahrung, die Zeno Hintermeier in seinen Aktionen radikalisiert, ihn jedoch letztlich völlig verzweifeln lässt. Während sich Flight Be-

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havior mit der Problematik eines Mangels an Klimawissen auseinandersetzt und Solar den gleichgültig-eigennützigen Umgang mit vorhandenem Klimawissen kritisch beleuchtet, reflektiert EisTau den Alarmismus und das Moralisieren, die das Denken und Handeln nicht nur einzelner Klimaschutzaktivisten, sondern großer Teile der Umweltbewegung seit den 1970er-Jahren häufig kennzeichnen. Die Gesellschaftskritik, die darin zum Ausdruck kommt, wird auch über die alternierende Kapitelstruktur des Romans transportiert. Tagebucheinträge Zenos wechseln sich mit Kapiteln ab, die fragmentarische Satzfetzen, z.B. aus Schiffsmeldungen, Nachrichtensendungen oder Werbespots, aneinanderreihen. Damit werden individuelle und gesellschaftliche Perspektiven kontrastiert und miteinander in Verbindung gebracht. Im Tagebuch liefert Zeno Rückblenden auf sein Leben, auf seine lebenslange Liebe für Gletscher genauso wie auf seine Beziehungen zu anderen Menschen. In diesen Einträgen entsteht das Bild eines Pessimisten, der mehr und mehr an seiner Welt verzweifelt, der im Rest der Menschheit, inklusive seiner wohlhabenden Kreuzfahrtkundschaft, nur noch Ignoranz, Gier und Gleichgültigkeit zu erkennen vermag – auch dann, wenn diese sich selbst als umweltbewegt begreift. In den anderen Kapiteln konkretisiert sich ein Bild einer Medienlandschaft, die längst nicht mehr präzise informiert, sondern zum undifferenzierten, trivialisierenden medialen Geplätscher verkommen ist. Auch in diesen oft satirisch gestalteten Kapiteln äußert sich beißende Kritik: nicht einfach an den Medien, die ihrer Aufgabe, zu informieren, nicht mehr nachkommen, sondern vor allem an einer Gesellschaft, die diese nötige Information nicht einfordert. Die Kontrastierung von alarmistisch-moralisierendem Erzählen mit schneidender Satire markiert dabei in besonderer Weise eine weitere mögliche Gattungszuordnung des Klimawandelromans, die Zuordnung zu einer „littérature engagée“ (Goodbody 2013, 100). Flight Behavior, Solar und EisTau stellen eine Gruppe von Klimawandel­ romanen dar, die nicht auf Konventionen der Science-Fiction oder des (Öko-) Thrillers zurückgreifen, sondern eher als Risikonarrative angesehen werden können. Die in ihnen entworfenen fiktiven Welten sind in der Gegenwart angesiedelt, in der erste Anzeichen des Klimawandels erkennbar geworden sind, die jedoch einen umfassenderen globalen Klimakollaps für die Zukunft lediglich antizipiert. Der Klimawandel erscheint damit als ein Phänomen, das von Kontroversen und Unsicherheiten gekennzeichnet ist. Die Romane deuten an, dass die Ästhetik des Klimawandelromans schon jetzt von einem hohen Grad an

18.4 Literaturverzeichnis

Vielfalt geprägt ist, vom Rückgriff auf unterschiedliche Gattungskonventionen, Gestaltungsmodi und stilistische Elemente, und dass seine kulturellen Funktionen von der Information über die Aufklärung bis hin zur Provokation reichen. 18.4 Literaturverzeichnis

Chakrabarty, Dipesh: The Climate of History. Four Theses. In: Critical Inquiry 35 (2009), S. 197–222. Crutzen, Paul J./Stoermer, Eugene F.: The ‘Anthropocene’. In: Global Change Newsletter 41 (2000), S. 17–18. Daniels, Stephen/Endfield, Georgina H.: Narratives of Climate Change. Introduction. In: Journal of Historical Geography 35 (2009), S. 215–222. Dürbeck, Gabriele/Feindt, Peter H.: Der Schwarm und das Netzwerk im multiskalaren Raum. Umweltdiskurse und Naturkonzepte in Schätzings Ökothriller. In: Ermisch, Maren/Kruse, Ulrike/Stobbe, Urte (Hg.): Ökologische Transformationen und literarische Repräsentationen. Göttingen 2010, S. 213–230. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit: Fünfter Sachstandsbericht des IPCC. Teilbericht 1 (Wissenschaftliche Grundlagen), http://www. umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/376/dokumente/kernbotschaften_ des_fuenften_sachstandsberichts_des_ipcc.pdf (zuletzt 18.05.2015). Goodbody, Axel: Melting Ice and the Paradoxes of Zeno. Didactic Impulses and Aesthetic Distanciation in German Climate Change Fiction. In: Ecozon@. European Journal of Literature, Culture and Environment 4.1 (2013), S. 92–102. Goodbody, Axel: Risk, Denial and Narrative Form in Climate Change Fiction: Barbara Kingsolver’s Flight Behavior and Ilija Trojanow’s Melting Ice. In: Mayer, Sylvia/ Weik von Mossner, Alexa (Hg.): The Anticipation of Catastrophe. Environmental Risk in North American Literature and Culture. Heidelberg 2014, S. 39–58. Heise, Ursula K.: Sense of Place and Sense of Planet. The Environmental Imagination of the Global. Oxford, New York 2008. Johns-Putra, Adeline: Ecocriticism, Genre, and Climate Change: Reading the Utopian Vision of Kim Stanley Robinson’s Science in the Capital Trilogy. In: English Studies 91 (2010), S. 744–760. Kingsolver, Barbara: Flight Behavior. New York 2012. Mayer, Sylvia: ‘Dwelling in Crisis’ – Terrorist and Environmental Risk Scenarios in the Post-9/11 Novel: Jonathan Raban’s Surveillance and Carolyn See’s There Will Never Be Another You. In: Kloeckner, Christian/Knewitz, Simone/Silke, Sabine (Hg.): Be­ yond 9/11. Transdisciplinary Perspectives on Twenty-First Century U.S. American Culture. Frankfurt a.M. 2013, S. 77–92.

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18 Klimawandelroman

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19 Ökothriller Gabriele Dürbeck

Seit den 1990er-Jahren und in zunehmendem Maß seit 2000 hat die literarische Verarbeitung der anhaltenden globalen Umweltkrise neue Genres wie beispielsweise Klimawandelliteratur, Ökocomics oder Ökothriller hervorgebracht. Sie bieten eine Auseinandersetzung mit drängenden Problemen der Gegenwart, befördern auf anschauliche Weise die Einsicht in komplexe Zusammenhänge der Umwelt- und Klimawissenschaften und versuchen im Rahmen einer wachsenden Zukunftsungewissheit alternative Handlungsspielräume zu erkunden. Auch mehr als 40 Jahre nach dem Bericht des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums (1972) sind die Fragen der Umweltkrise keineswegs gelöst. Durch die interdisziplinäre Diskussion zum Anthropozän als einem neuen Erdzeitalter mit dem Menschen als geophysikalischer Kraft (vgl. Kap. 9) hat die Umwelt- und Klimadebatte eine neue Qualität erreicht. Nachdem der fünfte Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC) von 2013 es für sehr wahrscheinlich erklärt hat, dass der derzeitige rapide Klimawandel vom Menschen verursacht ist, stehen die ethische Verantwortung für die Zukunft und globale Nachhaltigkeitsziele umso drängender auf der politischen und medialen Agenda einer breiten Öffentlichkeit. Auch der Ökothriller nimmt sich dieser oft schwer greifbaren Probleme an und versucht zu einem besseren Verständnis der Umwelt- und Klimakrise in fiktionaler Form beizutragen. In der Regel präsentiert er eine lokale oder globale Umweltkatastrophe, die oft die ganze Menschheit auszulöschen droht, die aber durch gemeinschaftliches, nicht selten heroisches Handeln in letzter Minute noch abgewendet werden kann. Dabei wird die Umwelt- und Klimakrise meist als Folge von anthropozentrischer Naturbeherrschung, rationalistisch geprägter Fortschrittsideologie und technologisch-ökonomischer Ausbeutung natürlicher Ressourcen dargestellt. Indem der Ökothriller die Hintergründe für die Krise veranschaulicht und mögliche Alternativen aufzeigt, nutzt er wissenspopularisierende und kritisch-reflektierende Darstellungsstrategien und bettet diese in eine spannende Story ein. Dabei bewegt sich das Genre des Ökothrillers in einem Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Unterhaltung.

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19 Ökothriller

19.1 Zum Genre des Ökothrillers (Science-Fiction, Thriller und DokuFiktion)

Wie der Klimawandelroman (vgl. Kap. 18) ist das junge Genre des Ökothrillers durch eine Mischung verschiedener Genre-Elemente charakterisiert. Zu nennen sind v.a. (1) Science-Fiction, (2) Thriller und (3) DokuFiktion, wobei auch weitere vom Ökothriller aufgenommene literarische Formen berücksichtigt werden. (1) Elemente der Science-Fiction (SF) im Ökothriller: Die Science-Fiction ist im späten 19. Jahrhundert aus unterschiedlichen Formelementen der Utopie und des Märchens, der phantastischen Reise- und Abenteuerliteratur sowie des Schauer-, Kriminal-, Kriegs- und Liebesromans entstanden. Die SF hat die Gestaltung von Zukunftsvisionen, vom Leben auf anderen Planeten, der Ankunft von Außerirdischen sowie die (oft kritische) Darstellung wissenschaftlicher Entwicklungen und neuer Technologien zum Gegenstand. Bereits seit den 1960erJahren findet sich in der SF auch die Auseinandersetzung mit der Umweltkrise, Biotechnologien und ökologischen Fragen wie etwa in Ursula K. Le Guins The Dispossessed. An Ambiguous Utopia (1974; dt.: Die Enteigneten), Kim Stanley Robinsons Mars-Trilogy (1993, 1994, 1995) oder Margaret Atwoods Madd Addam-Trilogie (2003, 2009, 2013), wobei die Romane als entweder utopisch oder dystopisch ausgerichtete Warnliteratur angelegt sind (Murphy 2001) und transformierend auf unser Umweltverhalten wirken können (Murphy 2009a, 377; Otto 2012a). Auffallend für die zeitgenössische SF ist, dass an die Stelle der Ausgestaltung weit entfernter, zukunftsoffener Zeiträume nunmehr die Darstellung einer sehr nahen Zukunft oder einer bereits, wenn auch unvollständig, eingetretenen Zukunft tritt, welche die Überholtheit der Gegenwart spürbar macht (Heise 2012, 5). Diese Sichtweise findet sich auch in der Rede von der „Zukunft als Katastrophe“ (Horn 2014). Die Darstellung der nahen oder bereits zur Gegenwart gewordenen Zukunft eignet sich dafür, ein Engagement für den ökologischen Wandel zu mobilisieren, indem die dystopisch dargestellte Zukunft von Klimakrise und Klimakriegen, Ressourcenverlust und Artenschwund als unmittelbare Folgen des ungebremsten ökonomischen Fortschrittsdenkens bewusst wird. Im Unterschied zu früheren Beispielen ist die zeitgenössische SF, welche die Umweltkrise verarbeitet, tendenziell pessimistisch ausgerichtet, durch „Alarmismus“ gekennzeichnet und stellt die „ökologische Katastrophe“ meist nicht nur als drohend, sondern bereits als „unumkehrbar“ dar (Stableford 2006, 140 f.).

19.1 Zum Genre des Ökothrillers (Science-Fiction, Thriller und DokuFiktion)

Durch die Konzentration auf Klimakrise, Ökozid und apokalyptische Darstellungsmuster übernimmt der Ökothriller wesentliche Elemente der Katastrophenliteratur (Dürbeck 2012), der Dystopie (Zeißler 2008) wie auch der Umweltliteratur mit der Leitmetapher der Apokalypse (Buell 1995, 285; Garrard 2004, 85-107). Das apokalyptische Narrativ dient der Warnung. Demgemäß wird in der Rezeption von Ökothrillern ihr kritischer Gehalt gelobt, da sie durch die dramatisierende Darstellung von Umweltkatastrophen großen Ausmaßes die Leserschaft zum Nachdenken anregen, für einen nachhaltigen, schonenden Umgang mit der Umwelt eintreten oder sogar zu „Intervention und Handeln“ (Murphy 2009b, 57; vgl. Kerridge 2000, 248) aufrufen können. Wesentlicher Faktor für das mögliche Umdenken ist dabei die dargestellte Angst vor der Katastrophe. Wenn die ökologische Katastrophe oder das Endzeit­ szenario jedoch in letzter Minute durch heroisches Handeln abgewendet werden kann, bleibt durchaus fraglich, ob die warnende Botschaft die Leserschaft erreicht. Denn gleichermaßen kann die Einsicht, doch noch davongekommen zu sein, Anlass zu Beruhigung geben. Außerdem ist die Schilderung von ökologischen und anderen Katastrophenszenarien zugleich eine Quelle ästhetischer Lust (vgl. Kerridge 2000, 245 f.), einer Angstlust, die genossen werden kann, wenn keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben droht. So ist dem Genre auch vorgeworfen worden, dass es das Umweltthema nur zur dramatischen Handlungsführung ausbeute (Otto 2012b, 108). (2) Zum Thrillerelement des Ökothrillers: Sowohl hinsichtlich der Spannungsdramaturgie als auch zur Unterhaltung des Publikums nutzt der Ökothriller spannungserzeugende Elemente. Man unterscheidet zwischen Suspense-Spannung und Geheimnis- oder Rätselspannung: Die Suspense-Spannung bezieht sich auf die Antizipation künftiger bedrohlicher Ereignisse mit einem langen Spannungsbogen, während sich die v.a. in Kriminalroman und Detektivgeschichte verwendete Rätselspannung analeptisch auf in der histoire bereits geschehene Ereignisse richtet, deren verwickelten Umstände aber erst nach und nach aufgedeckt werden. Ein wesentliches Kennzeichen ökologischer Krisen ist, dass die desaströsen Folgen gegenwärtigen Handelns nicht unmittelbar sichtbar und deshalb für viele nicht konkret vorstellbar sind und so leicht in eine unbestimmte Zukunft verschoben werden. Demgegenüber rückt der Ökothriller z.T. durch zeitliche Raffung des Geschehens, Suspense und die Tendenz zum Explosiven die drohende Katastrophe aus dem Stadium der Potenzialität in das der

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19 Ökothriller

Aktualität und bringt die Katastrophe antizipatorisch zur Anschauung (Kerridge 2000, 244). Dadurch ermöglicht der Ökothriller dem Publikum, ein „voyeuristischer Zuschauer“ des Unglücks zu sein (ebd.), wobei die Katastrophe viele Menschen trifft und den Überlebenden meist deutlich wird, dass eindeutige Vorzeichen ignoriert worden sind. Die ökologische Katastrophe wird dabei in der Regel als Folge kapitalistischer, technologischer oder menschlicher Hy­ bris dargestellt (245). (3) DokuFiktion und Wissenspopularisierung: Im Ökothriller ist die Vermittlung von Wissen so ausgeprägt, dass sie über die für das Genre der SF charakteristische Darstellung von (natur-)wissenschaftlichen Kenntnissen hinausgeht und den Charakter einer „Doku Fiktion“ (Oels u.a. 2006) trägt. Diese neue Textform, die sich vermehrt seit 2000 beobachten lässt, bewegt sich im Grenzbereich zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen. Von der Dokumentarliteratur unterscheidet sich DokuFiktion v.a. durch den Sachbuchcharakter in Romanform; zum Teil wird sie durch eine „Cross-Over-Vermarktung zum Bestseller“ (107 f.). Frank Schätzings von DokuFiktion geprägter Ökothriller Der Schwarm (2004) beispielsweise ist durch die begleitende Veröffentlichung nicht verwendeten Materials in seinem ebenso umfänglichen Sachbuch Nachrichten aus einem unbekannten Universum (2006), vom ZDF als Dreiteiler „Terra X – Universum der Ozeane“ (2010) verfilmt, zu einem doppelten Verkaufserfolg geworden. Wichtig für die DokuFiktion ist die wissensvermittelnde Funktion. Demgemäß erheben auch aktuelle Thriller, die genuin auf Spannung ausgerichtet sind, einen Anspruch auf Faktizität wie etwa Michael Crichtons Prey (2002) oder Andreas Eschbachs Ausgebrannt (2007). Die Wahl von Protagonisten mit deutlichem Bezug auf real existierende Personen, die Auswertung und Zitation von wissenschaftlichen Artikeln, Büchern oder Webseiten, ein Apparat von Fußnoten, Quellenangaben im Anhang oder ein Glossar sind gängige Mittel, Auskunft und Rechenschaft über das im literarischen Text verarbeitete Wissen zu geben (Hahnemann 2006, 143); es kann aufgrund der Angaben nachrecherchiert werden. DokuFiktion kommt demnach einem Bedürfnis nach Erkenntnisgewinn und Erkenntnisvermittlung in einer Wissensgesellschaft nach (146). Allerdings wird die damit angestrebte „Anschlusskommunikation“ bislang nur teilweise von Literaturwissenschaftlern geführt, sondern verlagert sich häufig auf Naturwissenschaftler, Wissenschaftsjournalisten, Politiker und Medienvertreter (ebd., 148), sodass erkenntnisvermittelnde

19.1 Zum Genre des Ökothrillers (Science-Fiction, Thriller und DokuFiktion)

und unterhaltende Funktion von DokuFiktion auch im Rezipientenkreis auseinandertreten können. Die Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen auf dem aktuellen Stand der Forschung, verpackt in eine fiktive, spannende Handlung, findet sich in vielen Beispielen des Ökothrillers wie etwa in Bernhard Kegels Der Rote (2007), Ulrich Hefners Die dritte Ebene (2009) oder den weiter unten ausgeführten Beispielen. Dabei ist das Verhältnis von Dokumentarischem und Fiktionalem nicht immer ausgewogen. Für die Qualität des Ökothrillers ist deshalb nicht nur entscheidend, wie der Anspruch auf Wissensvermittlung und Spannung/Unterhaltung austariert wird, sondern auch, inwieweit das vermittelte Wissen stichhaltig und überzeugend dargeboten ist. Auch wenn fiktionale Texte nicht an den faktualen Wahrheitsgehalt gebunden sind, was in der Autonomie der Kunst liegt, ist die bewusste Verfälschung oder deutlich tendenziöse Darstellung von Fakten wie etwa in Crichtons State of Fear (2004; dt. Welt in Angst, 2005), worin die anthropogenen Ursachen der Umwelt- und Klimakrise bezweifelt und die Umweltund Klimawissenschaft als Verschwörung dargestellt werden, unbefriedigend und wird in der Forschung als Problemfall diskutiert. Wenn der Ecocriticism bei der Umweltliteratur im Allgemeinen untersucht, inwieweit sie „kohärente und brauchbare Antworten auf die Umweltkrise“ (Kerridge/Sammells 1998, 5) liefert, gilt dies gleichermaßen für den Ökothriller und den Klimawandelroman. Neben dem dargelegten Genremix von SF, Thriller und DokuFiktion sind weitere Merkmale für den populär ausgerichteten Ökothriller charakteristisch (vgl. Dürbeck 2010, 214). Wie erwähnt geht es in der Regel um eine globale Umweltkatastrophe, die die ganze Menschheit auszulöschen droht. Die Handlung spielt an vielen verschiedenen, oft wechselnden Schauplätzen, welche die Globalität der Umweltkrise und die Interdependenz der Ereignisse sinnlich erlebbar machen. Die Handlungsfolge ist auf den Plot zentriert (Otto 2012b, 107) und durch konventionelle Darstellungsmuster geprägt. Die Figureninformationen beschränken sich häufig auf typisierte Figurenmodelle (Flat Characters) mit einem schmalen Satz von Merkmalen in Beruf, Habitus und sozialen Zuordnungen. Im Zentrum vieler Ökothriller stehen Wissenschaftler und (Wissenschafts-)Journalisten beiderlei Geschlechts. Die (heldenhaften) Protagonisten agieren meist im Rahmen von Gut-Böse-Schemata mit Geheimdienst-, Verschwörungs-, Spionage- oder Kalter-Krieg-Narrativen und werden durch skrupellose Vertreter wirtschaftlicher, technologischer oder militärischer Interessen

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einer oder mehrerer (oft westlicher) Nationen auch persönlich in Lebensgefahr gebracht. Doch finden sie durch die Unterstützung von plötzlich auftretenden Sympathisanten oder mit ihnen sympathisierenden Gruppen, die sich zur Bekämpfung von Umweltzerstörung gebildet haben, einen Weg, die drohende Auslöschung der Menschheit abzuwenden oder die Gefahr zu verringern. In der Regel wird die dargestellte ökologische Erneuerung durch die Anknüpfung an vormodernes Wissen oder einen mythisch-spirituellen Diskurs bestimmt, wenn etwa das Wissen von indischen Schamanen, nordamerikanischen Ureinwohnern oder kanadischen Inuit herangezogen wird (zu Beispielen s.u.). Bei der Entfaltung des Grundkonflikts wird eine oft schematisierte Gegenüberstellung von anthropozentrischen und biozentrisch-systemischen Vorstellungen genutzt, um die unterschiedlichen Positionen zu markieren. Im Folgenden sollen an exemplarischen, viel rezipierten Beispielen unterschiedliche Spielarten des Ökothrillers etwas detaillierter aufgezeigt werden, und zwar an Frank Schätzings Der Schwarm und den Ökothrillern von Dirk C. Fleck. 19.2 Frank Schätzings Ökothriller Der Schwarm (2004) als apokalyptische Warnliteratur

Frank Schätzings millionenfach verkaufter und in viele Sprachen übersetzter Bestseller Der Schwarm, die lange geplante Verfilmung soll 2015 in die Kinos kommen, ist ein Paradebeispiel eines Ökothrillers. Der fast 1000 Seiten starke Roman verbindet Elemente der SF (hier gewendet auf das unbekannte Universum der Tiefsee), des Thrillers, der DokuFiktion wie auch des Kriminalromans mit zahlreichen Anspielungen auf Hollywood-Action- und SF-Filme. Die rasante Handlung mit einer Tendenz zum Explosiven wird vom proleptischen Motiv des Untergangs der Menschheit und einer ausgeprägten Rätselspannung vorangetrieben. Im Zentrum steht eine fremde, nicht-menschliche Schwarmintelligenz (ein Konglomerat aus Einzellern), die sich als biologisch ältere und sich überlegen erweisende Spezies gegen die Menschheit richtet, um Rache für die schonungslose Verschmutzung und Ausbeutung der Meere zu nehmen. Viele kleine Katastrophen – Attacken von Walen gegen den Menschen, verseuchte Hummer in einem französischen Feinschmeckerrestaurant, Tiefseewürmer, welche die Methanhydratschicht im Meeresboden destabilisieren u. v. m. – gipfeln

19.2 Frank Schätzings Ökothriller Der Schwarm (2004) als apokalyptische Warnliteratur

schließlich in der Großkatastrophe, als der Kontinentalschelf vor der norwegischen Küste einstürzt und in der dadurch ausgelösten Flutwelle „Hunderttausende“ Nordeuropäer den Tod finden (Schätzing 2005, 435). Als die Angriffe auf ein bislang unbekanntes Agens in der Tiefsee zurückgeführt werden können, wird eine Task Force aus Wissenschaftlern, Wissenschaftsjournalisten, Umweltschützern, Politikern und Geheimdienstagenten zur Bekämpfung des maritimen Superorganismus gebildet. Genremäßig splittet sich diese nach dem Gut-Böse-Schema in zwei Parteien mit stark typisierten Charakteren auf, wonach die US-Amerikaner die bedrohliche Spezies mit einer Geheimwaffe auslöschen wollen und dabei untergehen, während das international besetzte Team der Kontrahenten, die für deren Erhalt eintreten, überleben oder wenigstens im heroischen Zweikampf sterben. Damit stehen sich auch zwei verschiedene Mensch-Natur-Verhältnisse gegenüber, ein anthropozentrisches, das die Überlegenheit der Menschheit verteidigt, und ein biosystemisches, wonach die nichtmenschliche Intelligenz als Teil des gesamten Ökosystems und als gleichberechtigtes Agens respektiert wird: „Wir können und müssen die Yrr nicht verstehen. Aber wir müssen dem, was wir nicht verstehen, Platz einräumen“ (775). Als Grundlage für die Einsicht dienen vormoderne Naturvorstellungen von nordamerikanischen Indianern und von Inuit, welche Natur „als Bestandteil der beseelten Welt“ (627) betrachten. Die ‚naturspiritualistisch‘ (Horn 2009, 120) aufgeladene Begegnung einer Protagonistin mit der ‚Königin‘ des Schwarms trägt Züge von Erhabenheit und Unterwerfung zugleich. In der Gestaltung der maritimen Schwarmintelligenz sind Ideen von globaler Vernetztheit und biologischer Selbst­organisation (121) sowie die Gaia-Hypothese mit der Vorstellung der gesamten Biosphäre als Superorganismus (Dürbeck/Feindt 2010, 225) gegenwärtig. Darüber hinaus verarbeitet der Roman Wissen aus Tiefseeforschung, Mikrobiologie, Verhaltensforschung, Geo- und Umweltwissenschaften sowie Schwarm- und Vernetzungstheorien. Zur Aufklärung der weit verstreuten Anomalien wird zudem ein lokales, ethnisch spezifiziertes Wissen von Inuit und nordamerikanischen Indianern herangezogen, sodass für die Unterfütterung eines biosystemischen Denkens ganz unterschiedliche Wissens- und Wissenschaftsdiskurse miteinander vermittelt werden. Dieses Wissen wird mit den gängigen wissenspopularisierenden Schreibstrategien und Darstellungstechniken vermittelt (Niederhauser 1998).

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Die Wissensvermittlung ist eingebettet in eine apokalyptische Rhetorik. Dem ersten Teil steht ein Motto aus der Johannes-Offenbarung voran. An Stelle der Schilderung konkreter Auswirkungen der Großkatastrophe in Nordeuropa rücken einzelne Begriffe wie „erzürnter Gott“ (Schätzing 2005, 397), „Desaster“ oder „Mahlstrom“ (398). Obwohl es ausdrücklich heißt: „Es war die Apokalypse“ (425), bleibt die kathartische Wirkung des verheerenden Tsunamis aus. Eher ließe sich in der Darstellung eine Lust am Apokalyptischen erkennen. Dies gilt nicht nur für den ersten, sondern auch für das Ende des vierten Teils, wo der Flugzeugträger USS Independence, von wo aus der martime Superorganismus bekämpft werden soll, in einem dramatischen Showdown untergeht. Zugleich lässt sich von einer sowohl tragischen als auch komischen Rahmung der Apokalypse (vgl. Garrard 2004, 87) sprechen. Während die tragische Apokalypse das Böse als schuldhafte Verstrickung auffasst, wird bei der komischen von einem Fehler oder Irrtum ausgegangen, der durch Erkenntnis getilgt werden kann. Die Auslöschung eines Großteils der Menschen erweist sich als tragische Apokalypse: Naturausbeutung, Fortschrittsoptimismus und linear-westliches Denken führen in den Abgrund. Das Überleben weniger, die für eine „hierarchiefreie“ Kommunikation und „Akzeptanz des Anderen“ (Heibach 2014, 347) eingetreten sind, trägt hingegen Züge einer komischen Apokalypse, wenn es im Epilog heißt, es gebe „erste Anzeichen für ein Umdenken, welche Rolle wir auf unserem Planeten spielen“ (Schätzing 2005, 986). Dies kann auch als genremäßige „Heilsgewißheit“ (Wanning 2008, 357) gesehen werden. Eine warnende Funktion käme dem Schluss insofern zu, als das Unterbleiben der Angriffe des maritimen Agens nur „ausgesetzt“ (Schätzing 2005, 983) wird, um der Menschheit eine zweite Chance bei freilich offenem Ausgang einzuräumen. 19.3 Dirk C. Flecks Ökothriller zwischen Ökodiktatur und Ökosophie

Der Journalist und Beststellerautor Dirk C. Fleck gilt als Mitbegründer des Genres des Ökothrillers durch seinen dystopischen Roman GO! Die Ökodiktatur (1993), der 1994 den Deutschen Science-Fiction-Preis gewann. Mit dem Wahlspruch „Erst die Erde, dann der Mensch“, so der Untertitel, entfaltet das Buch eine düstere Vision von einer Welt kurz vor dem ökologischen Kollaps im Jahr 2040, die nur noch durch totalitäre und inhumane Mittel zu retten ist. Bereits hier sind die oben angeführten Elemente aus SF, Thriller und DokuFik-

19.3 Dirk C. Flecks Ökothriller zwischen Ökodiktatur und Ökosophie

tion mit einem konventionell ausgestatteten Setting, typisierten Charakteren, Gut-Böse-Schema und spirituellem Touch vereint. Zur Handlung: Der Global Observer (GO), ein Staatenbund aus ehemaligen Industrienationen, erzwingt den ökologischen Umbau der Gesellschaft durch alle Arten von Repressionen (Reise- und Rauchverbot, Verbot von Fleischkonsum, Geburtenkontrolle), durch radikale Entindividualisierung, Indoktrination und drakonische Strafen. Militärisch fremdgesteuerte Grünhelmsoldaten setzen die dem Staat zugrunde gelegten zwölf ökologischen Grundgesetze auf gewaltsame Art durch. Ökoverbrecher werden zusammen mit Aidskranken und Strahlenverseuchten in sog. anarchistischen Stadtlagern ghettoisiert. Erlaubt ist das Leben in autarken Meditationskommunen unter der Unterweisung von Hopi-Indianern, das zu einer spirituellen Erneuerung des Menschen im Einklang mit der Natur führen soll. Nur einzelne Waldmenschen entziehen sich dem totalitären Regime. Diese radiklae Dystopie verfehlte in der Rezeption jedoch ihr Ziel einer Schärfung des Bewusstseins für eine rechtzeitige ökologische Wende, da sich etliche Kritiker von Flecks „Plädoyer für ein Ökodiktatur“ im Anhang der Neuausgabe des Romans von 2006 distanzierten. Einen utopischen Gegenentwurf stellt Flecks zweiter Ökothriller Das TahitiProjekt (2007) dar, der 2009 ebenfalls mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet wurde und mittlerweile ins Englische, Französische und Spanische übersetzt ist. Die Handlung spielt 2022 in der nahen Zukunft und ist als Ökotopie in der Nachfolge von Ernest Callenbachs Ecotopia (1975) (vgl. Kap. 15) angelegt. Der sozialökologische Modellstaat Tahiti, mittlerweile unabhängig von Frankreich, ist durch den heimlichen Abbau von Manganknollen im Südpazifik von multinationalen Energiekonzernen bedroht. Durch die internetgestützte Mobilisierung einer westlich dominierten Weltöffentlichkeit vermögen es die unbescholtenen Tahitianer, die skrupellosen kapitalistischen Machenschaften aufzudecken und sich gegen die neokolonialistische Ausbeutung auf gewaltlose Weise erfolgreich zur Wehr zu setzen. Der Modellstaat auf Tahiti wird einer nur umrisshaft gezeichneten Dystopie von der westlichen Welt mit Überbevölkerung, Epidemien, Hungerkrisen, Atomunfällen, Verteilungskämpfen um die letzten natürlichen Ressourcen, Klimakatastrophen, Bürgerkriegen und Massenmigrationen gegenübergestellt. Zusammengehalten wird der mäßig spannende Thriller mit locker eingeflochtenen Spionageelementen von einer exotischen Liebesgeschichte zwischen einem deutschen Katastrophenjour-

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nalisten mit Burnout-Syndrom und der Schwester des Präsidenten von Tahiti, Maeva, einer Südseeschönheit, die zugleich als Vermittlerin der nachhaltigen, auf der Insel eingeführten Technologien auftritt. Der Utopie liegen die Gesetze des Equilibrismus (Freystedt/Bihl 2005) zugrunde. Dieser strebt durch ökologische Technologien, nachhaltige Wirtschaftsordnung, Dezentralisierung, ein Grundgehalt für jeden Bürger und ein neues Geld- und Steuersystem nach einem „Ausgleich zwischen Ökologie, Ökonomie, Politik, Sozialem und Kulturellem“ (www.equilibrismus.org). Fleck selbst betont, dass alle im Roman dargestellten nachhaltigen Technologien bereits heute umsetzbar sind. Gemäß der DokuFiktion werden diese in einem ausführlichen Glossar im Anhang erläutert. Die regenerativen Technologien umfassen die Nutzung von Naturmaterialien wie gepresster Reiskleie oder Pandanusblättern in Straßenbau und Architektur, Elektrofahrzeuge und Biosprit für Flugzeuge sowie Biogasanlagen, Wind- und Solarenergie. Der radikal ökologische Umbau wird durch Rückbau und Renaturalisierung von zerstörten Landschaften begleitet, wobei die Wiederaneignung des Orts durch die ursprünglichen Bewohner Umweltgerechtigkeit herstellen soll. In diesem biosystemischen Modell, das gemäß dem „Wissen der Ureinwohner“ (Fleck 2010, 318) eingerichtet ist, sei der Dualismus zwischen Mensch und Natur zugunsten einer wechselseitigen Verbundenheit aufgehoben, wofür die Naturphilosophie von Novalis Pate stehen muss (85 u. 131). Die Utopie wird als „Zusammenspiel von moderner Technik und Tradition“ (152) angepriesen, die allerdings auf die Insel Tahiti beschränkt bleibt, auch wenn sie „eine Art Labor für die gesamte Welt“ (270) darstellen soll. Unverkennbar ist das Tahiti-Projekt in ein exotistisches Setting eingebettet. Weder die Liebesgeschichte, die auch von der Literaturkritik als klischeehaft gerügt worden ist, noch die anachronistische Schilderung von Kriegstänzen und Tänzen barbusiger Frauen, von traditionellen Festessen oder der Tätowierung des deutschen Protagonisten tragen um Verständnis der einheimischen Kultur bei, sondern dienen lediglich als exotisches Kolorit (vgl. Dürbeck 2015). Auch wenn die narrative Strategie des Exotismus zweifellos die ökologische Botschaft befördern soll, trägt dieser eher dazu bei, den Entwurf der sozialökologischen Lösungsansätze zu marginalisieren, indem das Setting Assoziationen zu Urlaubs­phantasien weckt und individuellen Aussteigerphantasien Vorschub leistet, die sich für ein Umdenken im globalem Maßstab nur bedingt eignen. Im Jahr 2011 erschien die Fortsetzung des Tahiti-Projekts zunächst unter dem

19.4 Literaturverzeichnis

Titel Maeva!. Zwei Jahre später erhielt der Roman in der Taschenbuchausgabe dann den sprechenderen Titel Das Südsee-Virus, denn genau mit diesem „Virus“ soll nun die ganze Welt angesteckt werden. Die Handlung setzt in der nahen Zukunft um 2028 ein. Die bereits bekannte Protagonistin Maeva wird als Nachfolgerin ihres Bruders Omai zur Präsidentin der ökologisch orientierten United Regions of Planet (URP) gewählt und verfolgt nun das Ziel, die equilibristischen Ideen, d. h. das ‚Tahiti-Virus‘, weltweit zu verbreiten. Aufgrund von Widersachern, auch aus den ehemals eigenen Reihen, die Maeva verraten und sie auf eine andere südpazifische Insel verbannen, wird sie zur einsam kämpfenden Ökokriegerin, zu einer ‚Jeanne d’Arc der Südsee‘, die aber trotzdem an ihrer Botschaft festhält. Ihr Kampf ist als „ökokosmopolitisches Manifest“ (Mehnert 2012, 34) gewürdigt worden, das eine „kreative Handreichung für eine kritische Intervention“ (31) in globalem Maßstab bereithalte und das Lese­publikum zur Reflexion auf die eigene Lebensweise anregen könne. Allerdings ist ihre Rolle als „Kassandra“, als „Mahnerin, Warnerin“ und Heilsbringerin mit deutlichen Geschlechterstereotypen ausgestattet (vgl. SchneiderÖzbek 2015), die auch in anderen Ökothrillern wie etwa bei der Protagonistin Mavie in Sven Böttchers Prophezeiung (2011) zu finden sind. Zu fragen bleibt deshalb, ob Wissensvermittlung und Warnung durch die krasse Häufung von ethnischen und geschlechtsspezifischen Stereotypen nicht eher eingeschränkt als befördert werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Ökothriller ein themenzentriertes Genre ist, das sich mit der Darstellung einer drohenden, aber abzuwendenden ökologischen Katastrophe beschäftigt und z.T. heldenhaft agierende Protagonisten aufbietet, die zur Identifikation mit der ökologischen Sache einladen. Dabei bewegt er sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Wissenspopularisierung und Unterhaltung. Sein Publikum vermag er nur zu fesseln, solange die Spannung nicht abreißt, und wird es nur dann für ein ökologisches Umdenken einnehmen und sensibilisieren, wenn er die wissenschaftlichen Fakten und Zusammenhänge verständlich, anschaulich und überzeugend darbietet. 19.4 Literaturverzeichnis

Buell, Lawrence: The Environmental Imagination. Thoreau, Nature Writing, and the Formation of American Culture. London 1995. Dürbeck, Gabriele: Writing Catastrophes: Interdisciplinary Perspectives on the Seman-

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20 Ökologie in der Kinder- und Jugendliteratur Berbeli Wanning und Anna Stemmann

Wie kaum eine andere Literaturform hat die Kinder- und Jugendliteratur (KJL) das Thema Ökologie intensiv aufgegriffen und damit eine zentrale Rolle in der ästhetischen Umsetzung gesellschaftlicher Innovationsprozesse übernommen. Neu ist auch, dass heutige Kinder und Jugendliche als primäre Zielgruppe dieser Literatur die langfristig Betroffenen der Umweltkrise(n) sind. Zugleich hat die Mensch-, Natur- und Umweltthematik die KJL inhaltlich und poetologisch verändert, sodass tradierte Genre- und Erzählgrenzen sich aufzulösen beginnen. Seit dem Paradigmenwechsel der 1970er-Jahre richtet die KJL die Beziehungen von Kindheit und Umwelt problemorientiert aus (vgl. Weinkauff/Glasenapp 2010, 74–93). Parallel und teilweise vorgreifend zur gesellschaftlichen Entwicklung, durch die die politische Bedeutung der Umweltproblematik rasch zunahm (vgl. Wanning 2014), integriert die KJL ökologische Themen der außerliterarischen Realität wie z.B. Energie, Technisierung, Umweltverschmutzung, Klimawandel, Artenschutz, Mobilität und Globalisierung in ihr Symbolsystem. Diese Entwicklung stärkt das narratologische, imaginative und literarische Potenzial der KJL und hebt das Thema Ökologie noch deutlicher hervor. Der Trend geht aktuell zu genreübergreifenden Hybridisierungen, die die dualen Darstellungskanäle von Bild und Schrift nutzen. Die medialen Grenzen verschwimmen, indem Comics und Bilderbücher, Film und Musik wie selbstverständlich hinzutreten und das Thema im Medienverbund repräsentieren. 20.1 Kulturökologie in der (Kinder- und Jugend-)Literaturwissenschaft

Der von Ernst Haeckel geprägte Begriff ‚Ökologie‘ wird unter der Perspektive der Kulturökologie zu einer neuen literaturwissenschaftlichen Untersuchungskategorie. Dieser interdisziplinäre Ansatz beleuchtet das Spannungsfeld von Mensch und Natur in verschiedenen literarischen Codierungen. Gefragt wird nach fiktionalisierten Konstruktionen von Natur und nach den verschiedenen kulturellen Repräsentationen in diachroner Perspektive (vgl. Heise 2008, 399–401) sowie nach der Vorstellung, inwiefern die Welt „als Ensemble integ-

20.1 Kulturökologie in der (Kinder- und Jugend-)Literaturwissenschaft

rierter Systeme und Ganzheit, in der alles voneinander abhängig ist“, funktioniert (Goodbody 1998, 17; Zapf 2002, 24 f.). Der dauerhafte Eingriff des Menschen in die Natur mittels der rasanten Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik hat das Anthropozän als Bezeichnung für ein neues Erdzeitalter begründet. Die KJL verhandelte diese Problematik bereits, bevor 2002 Paul Crutzen und E. F. Stoermer mit diesem Begriff eine große Debatte ins Rollen gebracht haben (vgl. Kap. 9). Dazu nutzte sie aktiv das symbol- und modellbildende Potenzial der Literatur, von dem schon die Naturlyrik des 18. Jahrhunderts profitierte, welche jetzt als Ursprung einer ökologischen Literatur gelesen werden kann (vgl. Brandmeyer 2007, 535 f.). Kindheit und Natur sind seit dem Ende des 18. Jahrhunderts miteinander verknüpfte literarische Topoi, was sich nachdrücklich in der Darstellung der Topographie zeigt: Einerseits wird Natur zum spezifisch konstruierten Kindheitsraum, andererseits sind Kinderfiguren in Naturräumen verortet, sodass das „reine kindliche Wesen“ mit einer „heilen Natur“ verschmolzen wird (Ewers 2013, 1–12). In dieser Zeit entwickeln sich zwei Kindheitsbilder, die bis in die Gegenwart fortwirken: Die von Rousseau beeinflusste, aufklärerische Position betont die pädagogisch-didaktische Funktion von Literatur. (1) Die wilde Natur des Kindes muss nach diesem Verständnis erst durch Erziehung gebändigt werden, damit sich die Vernunft entfalten kann. (2) Die Romantik entwirft das Gegenbild, sie idealisiert das Kind mit seinem „göttlichen Kern“, das im Unterschied zum Erwachsenen eins ist mit der Natur und damit ganz bei sich selbst (Ewers 2008, 101). Die Zähmung und Kultivierung der inneren und äußeren Natur ist seitdem ein etabliertes Thema der KJL, das im Laufe der Jahrhunderte in verschiedener Art und Weise ausgestaltet wurde. Aber erst seit dem Paradigmenwechsel der 1970er-Jahre widmet sich die KJL ökologischen Themen im engeren Sinne, wie z.B. der Naturzerstörung, und fragt explizit nach der Verantwortung des Menschen in diesem Gefüge. In der Literaturdidaktik spielt die kulturökologische und nachhaltige Bildung eine zunehmend wichtige Rolle. Hollerweger (2012), Wanning (2013) und Hollerweger und Stemmann (2014) haben auf das literaturdidaktische Potenzial hingewiesen. Während die naturwissenschaftliche Sicht auf Ökologie vor allem nach den biologischen Prozessen zwischen verschiedenen Organismen fragt, schafft das imaginative Potenzial literarischer Texte einen didaktischen Mehrwert, der durch die ästhetische Sensibilisierung ein vertieftes ökologisches

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Bewusstsein hervorbringt und dem sog. „Environmental Doublethink“ vorbeugt (Buell 1995, 4). Mit diesem Ausdruck beschreibt Lawrence Buell das Phänomen, dass man sich zwar der Faktenlage über mögliche Umweltgefährdung bewusst ist, diesem Wissen jedoch keine veränderten Denk- und Handlungsabläufe entspringen. Durch die Welterfahrung, die Literatur bietet, kann alternatives Denken auf neue Weise affektiv codiert werden. Dies ist Voraussetzung, um die Motivation für tief greifende Veränderungen zu schaffen. Der kulturökologische Forschungsansatz steckt im Bereich der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft noch in den Anfängen, obgleich die ersten Studien zu diesem Thema bereits in den 1990er-Jahren erschienen sind. Ein früher Sammelband widmet sich dem Komplex von Naturkind, Landkind, Stadtkind (Nassen 1995) und analysiert verschiedene kinderliterarische Konzepte von Lebensräumen, die das Spannungsfeld von Natur und Zivilisation in der Kindheit darstellen. Dagmar Lindenpütz erforscht erstmals Das Kinderbuch als Medium ökologischer Bildung (1999) und entwickelt in der Folge ein dreiteiliges Analysemodell zur Kategorisierung des heterogenen Textkorpus: (1) „Texte zur ökologischen Aufklärung“, (2) „Texte zur ethischen Fundierung umweltschonenden Verhaltens“ und (3) „Radikal skeptische Texte, die das Scheitern der bisherigen Lösungsversuche bereits kritisch mitreflektieren“ (Lindenpütz 2000, 732). Diesem Modell liegt ein Verständnis von Ökologie im engeren Sinne zugrunde, d.h., darunter werden Texte erfasst, die sich nur mit explizit ökokritischen Themen wie Umweltverschmutzung, Artensterben oder Atomkraft auseinandersetzen. Unter Ökologie im weiteren Sinne können hingegen auch Texte erfasst werden, die das generelle Wechselverhältnis von Mensch und Natur reflektieren. Die bisherige Forschung bleibt meist motivgeschichtlich ausgerichtet und widmet sich spezifischen Themen, wobei oft noch nicht die literarischen Verfahren als integraler Bestandteil der ökologischen Bewusstseinsbildung erfasst werden. Will man Natur und Umwelt aber als eigene analytische Kategorie etablieren (vgl. Hoffmann 2010), die die kulturelle Konstruktion von Natur kritisch reflektiert, bedarf es einer geöffneten Perspektive. Texte können unter einem erweiterten Ökologiebegriff untersucht werden und ermöglichen so eine symbolisch codierte Lesart, wie es Andrea Weinmann (2013) für Astrid Lindgrens Klassiker Ferien auf Saltkrokan (1965) anhand von umweltethischen ­Aspekten beispielhaft zeigt.

20.2 Naturräume in der Kinder- und Jugendliteratur

Jana Mikota (2012a; 2012b; 2013) macht auf die Figur des kindlichen Umweltschützers in deren verschiedenen medialen Umsetzungen aufmerksam. Hans-Heino Ewers (2013, 3–7) nimmt sich der Figur des kindlichen Naturforschers an und betont die Parallelen zur aufgeklärten und naturkundlichen Kinderliteratur des späten 18. Jahrhunderts. Der jüngst erschienene Band Lesen für die Umwelt (Ewers u.a. 2013) versammelt vor allem Beiträge mit solchen motivgeschichtlichen Schwerpunkten. Der auf literarische Verfahren erweiterte Blick findet sich ansatzweise in den Beiträgen von v. Glasenapp, Weinmann und Richter sowie darüber hinaus bei Knobloch (2009) und im Themenhaft „Umwelt“ der Zeitschrift interjuli (1/2012). 20.2 Naturräume in der Kinder- und Jugendliteratur

Von Anfang an beschäftigt sich KJL mit dem Verhältnis von Natur und Kindheit, indem sie verschiedene Naturschauplätze mit der häuslichen Welt kontrastiert – eine Dualität, die bis heute ihre symbolische Aufladung und Wirkmächtigkeit bewahrt hat. Der Kontrastbogen vom Kind in natürlicher Umgebung gegenüber dem erwachsenen Menschen im zivilisierten Raum entfaltet sich zu einem bedeutsamen Narrativ der KJL. Das Wechselspiel von Natur und Kultur zeigt sich besonders deutlich im narrativen Handlungsraum Wald. In E. T. A. Hoffmanns Das fremde Kind (1817) etwa wird dieser zum kindlichen Spielort und verbindet unberührte Natur und kindliche Unschuld. Das fremde Kind wird über sein äußeres Erscheinungsbild konsequent mit dem Waldraum verschmolzen, denn sein Kleid funkelt „in hellem goldenen Grün wie Frühlingslaub im Sonnenschein“. Im Spiel spricht das Kind „so zierlich und gescheut mit den Bäumen, Gebüschen, Blumen, mit dem Waldbach“ (Hoffmann 2001, 589 u. 590), weil ein Kind in seiner Unschuld die Natursprache noch unmittelbar vernimmt. Wer, wie der böse Magister Tinte, diese Kommunikation jedoch weder versteht noch respektiert, kann nur zum Zerstörer der Natur werden (vgl. Hoffmann 2001, 595–599). Die Idylle, die vom Eingriff des Erwachsenen bedroht wird, ist ein wiederkehrendes Motiv der KJL. Ein weiteres Sinnbild dafür zeigt sich in Johanna Spyris Heidi (1880). Die kindliche Protagonistin erkrankt schwer, als sie von ihrer heimatlichen Alm nach Frankfurt geschickt wird, und der Text stellt dem ‚natürlichen‘ Kindheitsraum deutlich den urbanen und krankmachenden Schauplatz gegenüber.

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Knapp ein halbes Jahrhundert später vollzieht sich ein sichtbarer Wandel, und in der Literatur der Weimarer Republik wird die Großstadt zum durchaus positiv besetzten Handlungsort, sodass auch die Kinderfiguren aus den vormaligen Naturräumen heraustreten. Sie bewegen sich selbstbewusst in dem rasanten urbanen Gefüge und bedienen sich der technischen Fortschritte geschickter als die erwachsenen Figuren, ganz so, wie es aktuell von der Gegenwart eingeholt wird (vgl. Serres 2013). Wolf Durian spielt dieses Narrativ in Kai aus der Kiste (1926) entlang der Erlebnisse von Kai und seinen Freunden in der Metropole Berlin durch und kritisiert dabei deutlich die mit der Modernisierung einhergehenden sozialen und politischen Schieflagen. Der Nationalsozialismus bricht mit diesen modernen kinderliterarischen Erzählformen auf eine so radikale Weise, dass dieser Bruch erst in den 1950er- und 1960er-Jahren allmählich überwunden werden kann. Wegbereiterin für die neue Idee einer Kindheitsautonomie ist Astrid Lindgren, die mit dem Kinderbuch Wir Kinder aus Bullerbü (1955, schwed. Orig. 1947) eine getrennte Kinderwelt ohne handlungsrelevante Erwachsenenfiguren entwirft. Aus heutiger Sicht gilt sie damit als Begründerin der Kinderumweltgeschichten, die eine idyllische Kinderwelt in der heilen Natur installieren (vgl. Weinkauff/Glasenapp 2010, 82). Neben dem Märchen und der Kinderbandengeschichte ist die Robinsonade ein weiteres tradiertes Genre der KJL, das ausgehend von Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) zahlreiche Adaptionen erfahren hat. Johann Heinrich Campes Robinson der Jüngere (1779) entwirft eine „pädagogische Provinz“ in isolierter Insellage, die für die Erziehung der Protagonisten funktionalisiert wird (vgl. Weinkauff/Glasenapp 2010, 31). Wichtiges Element jeder Robinsonade ist die bedrohliche Färbung, die einen alternativen Weltentwurf in einem abgeschiedenen Naturraum realisiert. Auf der Insel als hermetisch abgeschlossenem Setting entfaltet sich das Verhältnis von Kind und Umwelt, indem das Gefahrenpotenzial eines hilflosen Ausgeliefertseins an die Naturgewalten einer fast schon paradiesischen Überhöhung der Natur gegenübergestellt wird. Die gestrandeten Robinsonfiguren müssen die unberührte Natur erst erobern und bewohnbar machen, sodass die Insel zu einem kindlichen Erfahrungs- und Entwicklungsraum wird. Es werden Wälder gerodet, Tiere erlegt, Äcker angelegt und Pflanzen zerstört (vgl. Glasenapp 2013, 74). In diesem Verhalten der Kinder zeigt sich das Erbe der Aufklärung, wonach Vernunft und Nützlichkeitsdenken dominieren.

20.2 Naturräume in der Kinder- und Jugendliteratur

Ökologische Probleme im modernen Sinne finden, wie bereits erwähnt, erst ab den 1970er-Jahren Eingang in die KJL. Gesellschaftliche Diskurse über Umweltzerstörung etc. gehen in die erzählte Welt ein und übernehmen dort appellative und warnende Funktionen für junge Leser. Gudrun Pausewangs Roman Die Wolke (1987), entstanden als Reflex auf die Katastrophe von Tschernobyl, beschreibt die Folgen eines fiktiven Reaktorstörfalls in Deutschland und ist heute ein Klassiker der ökokritischen KJL. Anja Stürzers Zukunftsroman Somniavero (2011) zeigt die Folgen einer Umweltzerstörung ohne explizite Großkatastrophe und repräsentiert damit die Umweltkrise des 21. Jahrhunderts, in der v.a. die schleichende, durch den Menschen verursachte Veränderung der Natur zentral ist. Im Jahr 2031, der fiktiven Gegenwart des Protagonisten, ist die Umwelt weitestgehend zerstört und jedes Naturerlebnis wird zum künstlichen Event, nur erreichbar über eine Zeitreise in die Vergangenheit. Aus den frühen ökologischen Bilderbüchern (z.B. Theodor Seuss Geisel: Der Lorax, 1971) werden mittlerweile komplexe Bilderzählungen, die mit einer offenen Adressierung arbeiten (wie in Alexandra Klobouks Polymeer, 2012) und sich den Sehgewohnheiten heutiger Kinder anpassen. So erzählt in Thelonius große Reise (2012) von Susan Schade ein Streifenhörnchen von der Welt nach dem umweltbedingten Verschwinden der Menschheit in einer Weise, die an Günter Grass’ Roman Die Rättin (1986) erinnert. Geschickt überlagern sich Bild- und Textebene, die mit Anleihen aus dem Comic spielen (vgl. Stemmann 2014, 12). Exemplarisch wird ein posthumaner Weltentwurf erprobt: Eine Kolonie von Bären baut ein stabiles Mikrosystem auf; sie ernähren sich vegetarisch, treten in Austausch mit anderen Arten und beziehen Strom aus Sonnenkollektoren. Damit leben sie eine Lösung vor, welche die Menschheit vor ihrem Aussterben hätte bewahren können (die Thelonius-Reihe wird fortgesetzt und lässt die Verschärfung des Konfliktes erwarten). Auch genuine Comics bereiten kulturökologische Prozesse differenziert auf (z.B. Alexandra Hamann: Die große Transformation, 2013; Émile Bravo: Pauls fantastische Abenteuer – Sprung in die Zukunft, 2014). Viele Kinderbücher verbinden ökologische Themen zu einer fiktionalisierten Geschichte mit faktualen Passagen (Andreas Ernstberger: Anna, Felix, das Haus und die Energie, 2013), oder es werden Bildzitate des aktuellen Zeitgeschehens spannungsvoll eingebaut (vgl. Yuko Ichimura: 3/11 Tagebuch nach Fukushima, 2012). Parallel dazu bietet der Buchmarkt ein umfassendes Angebot an Kinder-Ökosachliteratur, das mit fiktionalisierten Rahmen- und Er-

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zählhandlungen spielt (vgl. Tino Richter: Klima. Von der Eiszeit zum Treibhauseffekt, 2013; Bernd Schuh: Wasser. Der wichtigste Rohstoff der Erde, 2012; Felix Homan: Erneuerbare Energien, 2012). Die Hybridisierung von fiktionaler Erzählform und Faktenaufbereitung ist derart häufig in der Auseinandersetzung mit ökologischen Themen der KJL, dass sich hier die Genese einer neuen (Sub-) Gattung abzeichnet, in der im Kontext ökologischer Inhalte neue ästhetische Verfahren entstehen. Der aktuelle Jugendroman wendet sich dystopischen Endzeitszenarien zu, die oft nur noch synthetische Lebensräume in einer technisierten Zeit nach der Naturzerstörung kennen. Suzanne Collins Trilogie Die Tribute von Panem (2008–2010) entwirft eine hierarchische Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der bisherigen Weltordnung, indem die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen in einer extremen Weise dargestellt wird. Der als gefährlich tabuisierte Wald ist zugleich der archaische Rückzugsort der jugendlichen Protagonistin und bewahrt damit seine ambivalente kulturelle Codierung. In Breathe – Gefangen unter Glas (2013) spielt Sarah Crossan einen Zukunftsentwurf nach dem „Switch“ durch, der die Folgen der zerstörten Umwelt in aller Drastik zeigt und dabei vor allem auf eine gesellschaftliche Spaltung fokussiert. Die wenigen Überlebenden sind unter einer großen Kuppel beheimatet. Sauerstoff ist in dieser Dystopie nur noch eingeschränkt verfügbar, der Zugang zur Atemluft ist vom Vermögensstand des Einzelnen abhängig. Parallelen zu realen negativen Zukunftsszenarien mit Klimaflüchtlingen bis hin zum „Klima­ krieg“ (Welzer 2010) sind unübersehbar. Die KJL beschränkt sich aber nicht nur darauf, von der Zerstörung der äußeren Natur zu erzählen. Auch der menschliche Körper bzw. dessen technische Modifikation (z.B. Kevin Brooks: iBoy, 2011), das Klonen und die durch Replikationsverfahren bedrohte Einzigartigkeit der eigenen Identität (z.B. Sangu Mandana: Lost Girl. Im Schatten der Anderen, 2012) sind zentrale Fragestellungen des aktuellen Jugendromans, die sowohl die kritischen Dimensionen des Heranwachsens als auch die diversifizierten gesellschaftlichen Prozesse in der Auseinandersetzung mit der Umwelt in allen Facetten thematisieren.

20.3 Kategorien ökologisch-narrativer Bezüge in der Kinder- und Jugendliteratur

20.3 Kategorien ökologisch-narrativer Bezüge in der Kinder- und Jugendliteratur

Der historische Überblick über die verschiedenen Formen des Kind-Natur-Verhältnisses in der KJL hat die Vielfalt der ökologischen Bezüge in ihrer stofflichen Differenziertheit aufgezeigt und die damit einhergehende poetologische Veränderung nachgezeichnet. Bisher konzentriert sich die Forschung auf die thematischen Aspekte, die Ebene der histoire steht dabei im Vordergrund, während die Form der Texte (discours) in einer narratologischen Perspektive kaum beachtet wird. Wie oben ausgeführt resultieren jedoch veränderte literarische Verfahren aus der Öffnung der KJL für kulturökologische Inhalte. Diese lassen sich, ihren narrativen Funktionen gemäß, folgendermaßen kategorisieren: Ökologischer Bezug Konkret Symbolisch Ergänzend

Narrative Funktion Zentral, eigenständig Exemplarisch, subtextuell Eco-Mainstreaming

Die Kategorie des konkreten ökologischen Bezugs umfasst Texte seit den 1970erJahren, die Themen wie Naturschutz, Klimawandel, Energie etc. als zentralen Aspekt aufgreifen. Handlungsauslösendes und -leitendes Element ist immer eine explizit kritische Umweltsituation. Gudrun Pausewangs Die letzten Kinder von Schewenborn (1983) entwickelt beispielsweise ein Szenario, in dem Deutschland mit Atomwaffen beschossen wird, und zeigt die verheerenden Folgen auf. In Carl Hiaasens Eulen (2003) wird ein Junge als Umweltschützer aktiv, um eine bedrohte Eulenart zu retten. Auch die dystopischen Endzeitszenarien von Saci Lloyd (Euer schönes Leben kotzt mich an, 2009) und Susan Beth Pfeffer (Die Welt, wie wir sie kannten, 2010; Das Leben, das uns bleibt, 2012), die die massiven Auswirkungen des Klimawandels bzw. die Weltordnung nach Umweltkatastrophen zeigen, fallen in diese Kategorie. Der symbolische ökologische Bezug, der das Verhältnis von Mensch und Natur codiert oder repräsentiert, bildet die zweite Kategorie. So können Klassiker der KJL durch ‚grüne‘ Relektüre neu entdeckt und für die kulturökologische Vermittlung erschlossen werden. Sichtbar wird in dieser Kategorie die doppelte Lesart der Erzähltexte, die die Funktionsweisen ökologischer Mikrosysteme

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spiegeln. Darunter fallen neben dem bereits erwähnten Das fremde Kind von E. T. A. Hoffmann Werke wie Otfried Preußlers Der kleine Wassermann (1956), der für einen kritischen Umgang mit dem Thema Wasser sensibilisiert; Astrid Lindgrens Karlsson vom Dach (1955), der einen Prototypen für alternative Energie- und Fortbewegungsmittel verkörpert; oder J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe (1954/55), der eine industriekritische Perspektive eröffnet, wenn das idyllische Auenland von technischem Fortschritt durch eine äußere Macht zerstört wird. Die dritte Kategorie subsumiert alle Texte, in denen ökologische Diskurse und Probleme ergänzend im Nebengeschehen angeschnitten werden, ohne eine erzähllogische Notwendigkeit für das eigentliche Geschehen darzustellen. Hier werden relevante gesellschaftliche Debatten mitverhandelt, die aber nicht im Zentrum der Texthandlung stehen. Trotzdem werden diese als wichtige Themen des Zeitgeschehens aufgegriffen, die auch Kinder und Jugendliche betreffen. Die unaufdringliche und wie selbstverständliche Präsenz des ökologischen Bezugs im Hintergrund der Ereignisse beeinflusst Lebensgefühl und Habitus der Figuren und führt beim Lesepublikum zum Eco-Mainstreaming: Das ökologische Thema gehört heute einfach dazu und lässt sich nicht mehr aussparen. Dies lässt sich in unterschiedlichen Genres und Ausformungen der KJL beobachten. So erzählt Wolfgang Herrndorfs Erfolgsroman tschick (2010) von der Freundschaft zwischen Maik und Tschick auf ihrem Roadtrip mit einem gestohlenen Lada, die Nebenhandlung bindet ökologische Streitfragen ein ohne zentrale Handlungsfunktion. Aber eines Tages wurden auf der Wiese drei ausgestorbene Insekten, ein Frosch und ein seltener Grashalm entdeckt, und seitdem prozessieren die Naturschützer gegen die Baufirmen und die Baufirmen gegen die Naturschützer, und das Land liegt brach. Die Prozesse laufen seit zehn Jahren, und wenn man meinem Vater glauben darf, werden sie auch noch zehn Jahre laufen, weil gegen diese Ökofaschisten kein Kraut gewachsen ist (vgl. Herrndorf 2010, 65).

Der ökologische Bezug als ergänzendes Narrativ, obwohl ein solches inhaltlich variabel und prinzipiell beliebig austauschbar ist, darf in der modernen KJL kaum noch fehlen. Als weiteres Beispiel gelten Rick Riordans Abenteuer um die gleichnamige Titelfigur Percy Jackson (2005–2009), die klassische Heldensagen

20.4 Ausblick

in modernem Fantasygewand als eine hybride populärkulturelle Mischung darstellen und zugleich mit ironischem Unterton immer wieder ökologische Fragen streifen. Die Regenbogengöttin Iris tritt als Nachrichtenbotschafterin auf, leitet in ihrer Freizeit aber einen Laden, der die Helden mit laktosefreien Muffins und Müsliriegeln versorgt und sich gleichzeitig als alternatives Geschäftsmodell erweist: „R. Ö. K. L. – Regenbogen – Ökokost und Lifestyle […], eine Kooperative zur Verbreitung eines gesunden alternativen Lebensstils, die sich im Besitz der Belegschaft befindet“ (Riordan 2013, 253–255). Darüber hinaus sind technischer Wandel und landschaftliche Veränderungen Eckpunkte der erzählten Welt in der KJL. Das Bilderbuch Hase und Maulwurf (2014) von Hans de Beer gestaltet die Geschichte um die Freundschaft der beiden ungleichen Tiere und deren Versuch, die Autobahn zu untertunneln. Im Hintergrund der Landschaftszeichnungen stehen Windräder als selbstverständlicher Bestandteil der heutigen Umwelt. Windenergie und deren kritische Diskussion finden auch Eingang in die Comicadaption von Miguel Cervantes Don Quijote, die der Zeichner Flix 2012 vorgelegt hat. Die Eröffnungssequenz des Comics ist in dem Örtchen Tobosow angesiedelt und greift verschiedene virulente Diskurse auf. So findet sich der Hinweis auf das ökologisch und politisch umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart 21, wenn im Hintergrund gegen „Tobosow 21“ (Flix 2012, 16) demonstriert wird, oder die Anspielung auf die Energiewende, wenn der im kulturellen Gedächtnis fest verankerte Slogan der Antiatomkraftbewegung abgewandelt wird in „Windkraft? Nein Danke“ (Flix 2012, 15). Der Kampf von Alonso Quijano gegen Windmühlen wird ironisch gebrochen und umgedeutet zum Kampf gegen die „Verspargelung unserer schönen Heimat“ (Flix 2012, 16). Die ausgewählten Beispiele zeigen, dass die Facetten von Mensch, Natur und Umwelt kinder- und jugendliterarisch vielfältig aufgegriffen und reflektiert werden. Das vorgestellte kategoriale Modell erfasst das breite Spektrum an ökologischen Texten in verschiedenen historischen Epochen und Gattungen und unterstreicht die akute Relevanz der Kategorie Natur/Umwelt für eine zeitgemäße Analyse der KJL. 20.4 Ausblick

Der Blick auf die literarischen Verfahren der KJL aus der Perspektive der Kulturökologie und deren Funktionen verspricht vielfältige Ergebnisse, die bisher

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20 Ökologie in der Kinder- und Jugendliteratur

noch kaum vorliegen und deshalb ein wichtiges Forschungsdesiderat darstellen. Die Analysen sollten sich verstärkt den spezifischen Erzählmitteln der Texte zuwenden, um die komplexen und hybriden erzählerischen Konstruktionen zu zeigen, die gleichfalls (neben dem motivisch-inhaltlichen Schwerpunkt) ökologisches Bewusstsein generieren. Unter der Perspektive der Animal Studies könnte beispielsweise herausgearbeitet werden, wie das Verhältnis von Tier und Umwelt in der KJL thematisiert und funktionalisiert wird, markiert doch die Tiererzählung eine wichtige Sparte der Kinderliteratur, die gesellschaftliche Prozesse aufgreift und codiert (vgl. Dettmar 2013). Das Symbolsystem der KJL erweist sich in einer kulturökologischen Perspektive als vielfältig und differenziert. Nicht nur auf der Handlungsebene werden verschiedene Lesarten angeboten, sondern auch auf einer Darstellungsebene lassen sich innovative Tendenzen ausmachen. Die zunehmende Vermischung von faktualen und fiktionalen Elementen, die vielfältigen Bild-Text-Interdependenzen und die Auflösung und Verschmelzung von Gattungs- und Altersgrenzen markieren den Beginn eines Wandels, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. 20.5 Literaturverzeichnis

Brandmeyer, Rudolf: Naturlyrik. In: Burdorf, Dieter u.a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Stuttgart 2007, S. 535–536. Buell, Lawrence: The Environmental Imagination. Cambridge/MA, London 1995. Dettmar, Ute: Natural Born Killers. In: Tomkowiak, Ingrid u.a. (Hg.): An allen Fronten. Kriege und politische Konflikte in Kinder- und Jugendmedien. Zürich 2013, S. 105–126. Ewers, Hans-Heino: Romantik. In: Wild, Reiner (Hg.): Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. 3., vollst. überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart u.a. 2008, S. 96– 130. Ewers, Hans-Heino/Glasenapp, Gabriele von/Pecher, Claudia Maria (Hg.): Lesen für die Umwelt. Natur, Umwelt und Umweltschutz in der Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler 2013. Ewers, Hans-Heino: Kinder und Natur, Kinder der Natur. In: ders./Glasenapp, Gabriele von/Pecher, Claudia Maria (Hg.): Lesen für die Umwelt. Natur, Umwelt und Umweltschutz in der Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler 2013, S. 1–12. Flix: Don Quijote. Hamburg 2012. Glasenapp, Gabriele von: Apokalypse now! Formen und Funktionen von Utopien und Dystopien in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Ewers, Hans-Heino/dies./Pecher,

20.5 Literaturverzeichnis

Claudia Maria (Hg.): Lesen für die Umwelt. Natur, Umwelt und Umweltschutz in der Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler 2013, S. 67–86. Goodbody, Axel: Literatur und Ökologie: Zur Einführung. In: ders. (Hg.): Literatur und Ökologie. Amsterdam 1998, S. 11–40. Heise, Ursula K.: Ecocriticism/Ökokritik. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 4., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart, Weimar 2008, S. 146– 147. Herrndorf, Wolfgang: tschick. Berlin 2010. Hollerweger, Elisabeth: Nachhaltig Lesen! Gestaltungskompetenz durch fiktionale Spiegelungen. In: Interjuli 01 (2012), S. 97–108. Hollerweger, Elisabeth/Stemmann, Anna: Wenn möglich, bitte wenden. Klimawandel als Makrothema einer Bildung für nachhaltige Entwicklung im medienintegrativen Deutschunterricht am Beispiel des Comics Die große Transformation. In: kjl&m ex­ tra 2014, S. 169–177. Hoffmann, E. T. A: Das fremde Kind (1817). In: E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke. Bd. 4. Hg v. Segebrecht, Wulf. Frankfurt a.M. 2001, S. 570–616. Hoffmann, Julia: Blumenkinder. Kinder- und Jugendliteratur ökokritisch betrachtet. In: Ermisch, Maren/Kruse, Ulrike/Stobbe, Urte (Hg.): Ökologische Transformationen und literarische Repräsentationen. Göttingen 2010, S. 35–58. Knobloch, Jörg (Hg.): Die angekündigte Katastrophe oder: KJL und Umweltschutz. kjl&m 4 (2009). Lindenpütz, Dagmar: Natur und Umwelt als Thema der Kinder- und Jugendliteratur. In: Lange, Günter (Hg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. Baltmannsweiler 2000, S. 727–745. Lindenpütz, Dagmar: Das Kinderbuch als Medium ökologischer Bildung. Essen 1999. Mikota, Jana: „This Land is Your Land“. Kindliche und jugendliche Umweltschützer in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Interjuli 1 (2012a), S. 6–26. Mikota, Jana: Umweltschutz im Kinderfilm oder wie Kinder die Natur retten. In: Exner, Christian/Kümmerling-Meibauer, Bettina (Hg.): Von wilden Kerlen und wilden Hühnern. Perspektiven des modernen Kinderfilms. Marburg 2012b, S. 171–199. Mikota, Jana: Vom Hippie zum Ökoterroristen. Umweltschützer in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Ewers, Hans-Heino/Glasenapp, Gabriele von/Pecher, Claudia Maria (Hg.): Lesen für die Umwelt. Natur, Umwelt und Umweltschutz in der Kinderund Jugendliteratur. Baltmannsweiler 2013, S. 113–130. Nassen, Ulrich (Hg.): Naturkind, Landkind, Stadtkind. München 1995. Riordan, Rick: Helden des Olymp: Der Sohn des Neptun. Hamburg 2012. Serres, Michel: Erfindet euch neu! Berlin 2013. Stemmann, Anna: „Mit den unzulänglichen Möglichkeiten unserer Sprache kaum zu be-

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20 Ökologie in der Kinder- und Jugendliteratur

schreiben“. Intermediales Erzählen und narratologische Hybridisierungsprozesse. In: interjuli 2 (2014), S. 6–23. Wanning, Berbeli: Nachhaltigkeit lehren. Die Forschungsstelle für Kulturökologie und Literaturdidaktik. In: kjl&m 04 (2013), S. 62–68. Wanning, Berbeli (Hg.): Die Umweltchronologie. In: Deutschunterricht 2 (2014) [CDRom-Beilage]. Weinkauff, Gina/Glasenapp, Gabriele von: Kinder- und Jugendliteratur. Paderborn 2010. Weinmann, Andrea: Umweltethische Aspekte in der erzählenden Kinderliteratur – Astrid Lindgrens Ferien auf Saltkrokan (1965). In: Ewers, Hans-Heino/Glasenapp, Gabriele von/Pecher, Claudia Maria (Hg.): Lesen für die Umwelt. Baltmannsweiler 2013, S. 131–150. Welzer, Harald: Klimakriege. Frankfurt a.M. 2010. Zapf, Hubert: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte am Beispiel des amerikanischen Romans. Tübingen 2002.

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21 Grüne Filmstudien Alexa Weik von Mossner

Ecocriticism ist auf den Film gekommen. In dem Maß, in dem sich dieses genuin interdisziplinäre Forschungsfeld ausdifferenziert und weiterentwickelt, beginnt Ecocriticism sich von seinem ursprünglichen Schwerpunkt Literaturwissenschaft in verwandte Disziplinen auszuweiten. Dies ist besonders deutlich sichtbar im Bereich Filmstudien, wo vor allem im englischsprachigen Raum in den vergangenen 15 Jahren eine ganze Reihe einschlägiger Arbeiten veröffentlicht wurde, die sowohl thematisch als auch methodisch eine bemerkenswerte Bandbreite abdecken. Es finden sowohl Dokumentarfilme als auch Spielfilme und darüber hinaus Experimentalfilme Beachtung. Zu den bearbeiteten Themenfeldern gehören neben der Naturdarstellung auch die filmische Repräsentation von Umweltrisiken, Ethik- und Gerechtigkeitsfragen sowie andere wichtige Aspekte von Mensch-Umwelt-Beziehungen. Nicht nur Filme mit einem explizit und intentional ‚grünen‘ Inhalt, wie z.B. Davis Guggenheims An Inconvenient Truth (2006), werden dabei einer kritischen Betrachtung unterzogen, sondern gerade auch Filmproduktionen, bei denen der Umweltbezug weniger offensichtlich ist oder gar völlig fehlt und daher gerade durch seine demonstrative Absenz bemerkenswert ist. Zentrale Fragestellungen innerhalb der Grünen Filmstudien betreffen die konstituierenden Eigenschaften von „Ecocinema“ sowie die Relevanz von Form und Inhalt für die politische oder pädagogische Wirkkraft eines Umweltfilmes. In jüngster Zeit ist zudem auch ein produktiver Diskurs über theoretische Zugänge entstanden, auf den im zweiten Teil des Beitrags eingegangen wird. Zuvor soll eine Übersicht über die Entwicklung der Grünen Filmstudien einen Einblick in dieses noch relativ junge Forschungsfeld geben, das sich in den letzten Jahren rasant entwickelt hat und gerade innerhalb des angloamerikanischen Ecocriticism erheblich an Bedeutung gewinnt. 21.1 Die Filmwissenschaft wird grüner

Die ersten Anfänge der Grünen Filmstudien lassen sich zurückverfolgen bis in die 1970er-Jahre, als mit Raymond Lees Not So Dumb: The Life and Times of the

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21 Grüne Filmstudien

Animal Actors (1970) eine Betrachtung der Darstellung von Tieren im Goldenen Zeitalter des Hollywoodfilms veröffentlicht wurde. Explizit ökokritisch und umwelthistorisch ausgerichtete Studien finden sich jedoch erst um die Jahrtausendwende, wobei sich auch hier ein Großteil mit der filmischen Darstellung von Tieren auseinandersetzt. Gregg Mitmans Reel Nature (1999/2009), Derek Bousés Wildlife Films (2000) und Cynthia Chris’ Watching Wildlife (2006) erkunden medial vermittelte Erfahrungen mit der Tierwelt und gehen der Frage nach, wie Naturdokumentationen die Wahrnehmung der Natur beeinflussen und einengen. Darüber hinaus zeigen sie auf, wie es nicht zuletzt kommerzielle Interessen sind, die das hervorgebracht haben, was Mitman das Genre der „sugar-coated educational nature films“ (Mitman 2009, 3) nennt. Dieser von Walt Disney in den späten 1940er-Jahren entwickelte Typus von Dokumentarfilmen verbindet spektakuläre Naturaufnahmen mit anrührenden Tiergeschichten, die den Film für den Zuschauer zu einem zutiefst emotionalen Erlebnis machen. Großes Gefühlsdrama, so schreibt Mitman, ist eine zwingend notwendige Komponente solcher Filme, mit dem Ergebnis, dass die tatsächlichen Verhaltensweisen von ‚charismatischer Megafauna‘ wie z.B. Löwen oder anderen Großkatzen bestenfalls romantisiert und schlimmstenfalls völlig verzerrt dargestellt werden. Dasselbe trifft auch auf viele fiktionale Formate zu, die wilde Tiere oder andere Elemente einer ‚ungezähmten Wildnis‘ in den Mittelpunkt stellen. In den letzten Jahren wurden mit David Whitleys The Idea of Nature in Disney Animation (2012) und Robin Murrays und Joseph Heumanns “That’s All Folks”? Ecocritical Readings of American Animated Features (2011) zwei Studien veröffentlicht, die gezielt dem Genre des Animationsfilms gewidmet sind. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage: Wecken romantisierende und anthropomorphisierende Tierdarstellungen beim Zuschauer Mitgefühl und Interesse für die tatsächlichen Lebenszusammenhänge der dargestellten Tierart oder wirken sie der Entwicklung eines kritischen Bewusstseins eher entgegen, wie oft behauptet wird? Disneys Zeichentrickklassiker Bambi (1942) und The Lion King (1994) sind typische Beispiele für Filme, die die Lebens- und Gefühlswelten von wilden Tieren so wiedergeben, dass die Zuschauer sich problemlos mit ihnen identifizieren können und stark emotional reagieren, wenn die Tiere selbst oder ihre Lebenswelten bedroht sind. Die Tatsache, dass diese Darstellungen mit der Realität tatsächlicher Rehe und Löwen relativ wenig zu tun haben, spielt für die emotionale

21.1 Die Filmwissenschaft wird grüner

Reaktion der Zuschauer kaum eine Rolle. Was für sie zählt, ist ein Protagonist, der zur Identifikation einlädt, und eine spannende Story. Wie Andrew Stantons WALL-E (2008) zeigt, kann selbst eine Maschine die Herzen der Zuschauer erobern, wenn sie von den Filmemachern entsprechend anthropomorphisiert und mit deutlich erkennbaren Gefühlen, Sehnsüchten und Zielen ausgestattet ist. Die Tatsache, dass WALL-E sich einsam fühlt, erlaubt Zuschauern, Sympathie für den letzten Arbeitsroboter auf einer hoffnungslos vermüllten, menschenentleerten Erde zu empfinden. Dieses Mitgefühl wird weiter verstärkt durch WALL-Es Freundschaft mit einer unzerstörbaren Kakerlake und sein rührend tollpatschiges Umwerben von EVE, die nicht nur mit deutlich weiblichen Attributen ausgestattet ist, sondern ihm als Roboter der neusten Generation auch technisch weit überlegen ist. Für Cineasten mag die Tatsache bedeutend sein, dass WALL-E bewusst an die gekonnten pantomimischen Stunts von Harold Lloyd und anderen Stars der Stummfilmära erinnert. Viele Jugendliche finden aber einen viel direkteren emotionalen Zugang zu dieser klassischen Boy-meetsGirl-Story, die nebenbei auch vor den drastischen ökologischen Folgen menschlichen Handelns warnt. Bedeutet dieses Spiel mit der romantischen Liebe und anderen menschlichen Idealen nun automatisch, dass populäre Animationsfilme generell als unpolitisch und eskapistisch einzustufen sind? Sowohl Murray und Heumann (2009) als auch Whitley (2012) kommen zu dem Ergebnis, dass es keine einfachen Antworten auf diese Frage gibt. Whitley betrachtet solche Formate als ‚kulturelle Arena‘, innerhalb derer überhöhte Gefühle und Humor nicht unbedingt ein Hindernis für kritisches Engagement darstellen müssen. Vielmehr ermöglichen sie dem Zuschauer, an einem relativ sicheren Ort wichtige ökologische Fragestellungen emotional zu erfahren und zu einem gewissen Grad auch auszuloten (vgl. Whitley 2012, 2 f.). Solch kritische Auseinandersetzungen mit umweltbezogenen Inhalten populärer fiktionaler Formate gehen zurück auf David Ingrams Green Screen (2000), einer der ersten ökokritischen Monographien zum Hollywoodfilm. In seiner breit angelegten Studie interessiert sich Ingram besonders für das komplexe Zusammenspiel verschiedener Umweltideologien in populären Formaten und prägt den Terminus Environmental Film für jene Filmproduktionen, die eine Bandbreite widersprüchlicher Diskurse über Umweltthemen evozieren, dabei jedoch größtenteils eine romantische Haltung zur Natur propagieren (vgl.

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Ingram 2000, 10). Dazu zählen Sydney Pollacks Out of Africa (1985) ebenso wie Michael Apteds Gorillas in the Mist (1988) oder Robert Redfords A River Runs through It (1992). Zu den Umweltideologien, die in solchen Hollywoodproduktionen thematisiert und instrumentalisiert ausgeschlachtet werden, gehören neben klassischem, konservativ ausgerichtetem Naturschutz auch radikalere Formen wie z.B. Deep Ecology und Ökofeminismus oder das problematische Klischee des ‚edlen Wilden‘. Am Ende, so Ingram, geht es in diesen Filmen weniger um die Natur, als vielmehr um zwischenmenschliche Beziehungen. Auseinandersetzungen mit der natürlichen Umwelt verkommen zum reinen Plottreiber und sind daher nur wenig geeignet, beim Zuschauer kritisches Bewusstsein für Umweltfragen zu wecken (vgl. Ingram 2000, 10). Ingram steht populären Formaten insgesamt deutlich pessimistischer gegen­ über als die Autoren jüngerer Veröffentlichungen zum Hollywoodfilm, die diesem bei aller Ideologiekritik auch gesellschaftsverändernde Impulse zusprechen. Pat Brereton geht in Hollywood Utopia (2005) davon aus, dass populäres Kino aufgrund seiner Massenattraktivität in besonderer Weise dazu geeignet ist, gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen, und spricht dem Hollywoodfilm sogar utopisches Potenzial zu. In den aufregenden Luftaufnahmen eines typischen Katastrophenfilms wie Jan de Bonts Twister (1996) findet Brereton eine ästhetisch reflexive und provokative Qualität (vgl. Brereton 2005, 66). Steven Spielberg bezeichnet er als ‚eco-auteur‘, weil Blockbuster wie Jaws (1973) und Jurassic Park (1993) einen einzigartigen Zugang zur Natur verschaffen, auch wenn sie, wie Brereton (2005, 67) zugibt, nicht immer „ökologische Praxis“ fördern. Sean Cubitts Analyse in EcoMedia (2005) ist deutlich nuancierter, wobei auch hier der Film zum verbindenden Medium zwischen Mensch und nichtmenschlicher Umwelt wird, indem er Zuschauern Dimensionen der Natur eröffnet, die ihnen andernfalls verschlossen blieben. Bei aller Distanz, die durch mediale Vermittlung unweigerlich geschaffen wird, hilft das Medium Film also, eine andere Form von Distanz zu überbrücken, nämlich die zwischen unserer alltäglichen Lebenswelt und anderen Lebensformen, mit denen wir ohne diese mediale Vermittlung gar nicht erst in Kontakt kämen. Robin Murrays und Joseph Heumanns Ecology and Popular Film (2009) untersucht ebenfalls diese vermittelnde Funktion von populären Formaten und zeigt am Beispiel von Eight Legged Freaks (2002), dass auch die Eco-Comedy durchaus eine politische Seite haben kann. Mit den Mitteln der Parodie und Satire können tragische Si-

21.1 Die Filmwissenschaft wird grüner

tuationen mit einer gewissen Leichtigkeit behandelt werden, die sie für ein Massenpublikum leichter verdaulich macht und dabei trotzdem ökologische und gesellschaftliche Missstände verdeutlichen kann (vgl. Murray/Heumann 2009, 111–115). Murray und Heumann haben in den letzten Jahren ihre Arbeiten zum Hollywood-Umweltfilm ausgeweitet und vertieft. Neben dem bereits erwähnten “That’s All Folks”? haben die beiden Filmwissenschaftler mit Gunfight at the Eco-Corral: Western Cinema and the Environment (2012) und Film and Everyday Eco-Disasters (2014) zwei weitere Studien veröffentlicht, die sich mit den ökokritischen Dimensionen spezifischer Filmgenres beschäftigen. Gunfight at the Eco-Corral beleuchtet z.B. die zentrale Bedeutung von Landschaften und Natur-Mensch-Beziehungen im klassische Hollywoodwestern und führt damit die wichtige ökokritische Bearbeitung dieses Genres fort, die Deborah Carmichaels mit ihrem 2006 erschienenen Sammelband The Landscape of Hollywood Westerns begonnen hatte. Film and Everyday Eco-disasters legt den Fokus bewusst nicht auf spektakuläre Szenarien, wie wir sie aus dem Science-Fictionund Katastrophenfilm kennen, sondern auf die filmische Darstellung ‚alltäg­ licher‘ Desaster, wie z.B. Minenunglücke, Atomunfälle, Ölverseuchungen oder Lebensmittelskandale, die wir alle aus den Medien und vielleicht auch aus dem eigenen Umfeld kennen. Die Repräsentation solcher „everyday eco-disaster“ im Dokumentar- oder Spielfilm, argumentieren Murray und Heumann, kann Zuschauern einen neuen Zugang zu scheinbar bekannten Vorgängen ermöglichen, indem Hintergründe ausgeleuchtet und alternative Blickpunkte präsentiert werden. Auch wenn sich bis dato ein Großteil der Veröffentlichungen innerhalb der Grünen Filmstudien mit Naturdokumentation und populären Formaten beschäftigt hat, gibt es doch auch bemerkenswerte Ausnahmen. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang Scott McDonalds The Garden in the Machine: A Field Guide to Independent Films about Place (2001), eine umfassende ökokritische Betrachtung des amerikanischen Avantgarde- und Experimentalfilms. MacDonald stellt Dutzende von größtenteils unbekannten 16-mmFilmen vor, die seiner Ansicht nach Natur gerade dadurch erfahrbar machen, dass sie mit Darstellungstechniken experimentieren, um die Wahrnehmungsgewohnheiten des Zuschauers herauszufordern. Ein gutes Beispiel ist der zweieinhalbminütige Kurzfilm The Garden of Earthly Delights (1981) des Amerikaners

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Stan Brakhage. Brakhage ist dafür bekannt, dass er sein Filmmaterial nicht nur belichtet, sondern auch physisch bearbeitet, in diesem Fall, indem er Blätter, Blüten und Samen aus seiner Heimat Colorado direkt auf den 35-mm-Filmstreifen legt und diese mit dem Celluloid verbindet. Das Resultat ist ein Kurzfilm, der nicht nur ein fotografisches Abbild der Natur zeigt, sondern auch ihre Materialität als dunkel flackerndes Gestaltungselement einbezieht. Ebenso wie solche Experimente mit natürlichen Materialien gehören auch extrem lange Einstellungen, langsame Schnittfolgen und außergewöhnliche Sound- und Montagetechniken zu den Stilmitteln von Regisseuren, die ihren Zuschauern einen anderen und mitunter auch bewusst verstörenden Zugang zur Natur eröffnen wollen. Auch wenn solche Formate selten eine vergleichbare Massenwirkung haben wie der populäre Hollywoodfilm, sollte ihre Wirkkraft auf ein Publikum nicht unterschätzt werden, das sich auf solche ästhetischen Herausforderungen einlassen kann. Ein Großteil der Arbeiten innerhalb der Grünen Filmstudien stammt, wie eingangs erwähnt, aus dem angloamerikanischen Bereich und das Gleiche gilt auch für die Filmtraditionen, mit denen sich diese Arbeiten beschäftigen. In jüngster Zeit ist jedoch ein Trend hin zu transnational und interkulturell angelegten Studien zu beobachten. So ist z.B. mit Sheldon Lus und Jiayan Mis Chinese Ecocinema in the Age of Environmental Challenge (2009) der erste Sammelband zum chinesischen Umweltfilm herausgekommen, der faszinierende Einblicke in eine Filmlandschaft bietet, der ein ökologischer Bezug von Laien ungerechtfertigterweise oft völlig abgesprochen wird. Die skandinavischen Filmwissenschaftler Tommy Gustafsson und Pietari Kääpä haben den Sammelband Transnational Ecocinema: Film Culture in an Era of Ecological Transformation (2013) herausgebracht, der ganz bewusst sowohl bei den Beiträgern als auch bei den behandelten Filmen auf Diversität und Transnationalität setzt. Der Leser erhält so eine ganze Reihe divergierender Perspektiven auf die filmische Repräsentation von globalen Umweltproblemen, die den thematischen Schwerpunkt des Bandes bildet. Diesen inhaltlichen Erweiterungen und Vertiefungen im Bereich der Grünen Filmstudien steht gerade in jüngster Zeit eine zunehmend theoretisch ausgerichtete Grundsatz- und Methodendiskussion gegenüber, die kritisch hinterfragt, was unter Ecocinema zu verstehen ist.

21.2 Was ist Ecocinema? Grundsatzfragen, Theorien und Produktionszusammenhänge

21.2 Was ist Ecocinema? Grundsatzfragen, Theorien und Produktionszusammenhänge

Ecocinema ist eine innerhalb der Grünen Filmstudien häufig verwendete Bezeichnung für Filme mit mehr oder weniger explizit umweltbezogenem Inhalt. Das soll aber nicht heißen, dass der Begriff unumstritten oder klar bestimmt wäre. Eine der frühesten Definitionen stammt von Scott MacDonald, der „the retraining of perception“ als die zentrale Aufgabe des Genres versteht (MacDonald 2004, 109) und damit die starke Fokussierung auf den Experimentalfilm weiterführt, die auch The Garden in the Machine prägt. Umweltfilme sollen hier in erster Linie neue Erfahrungen ermöglichen und etablierte Sehgewohnheiten infrage stellen, um Zuschauern einen Zugang zur Natur zu eröffnen. In ihrem Beitrag zu Framing the World: Explorations in Ecocriticism and Film (2010) entwickelt Paula Willoquet-Maricondi eine andere, aber ebenfalls recht eng gefasste Definition, die Ecocinema als „consciousness-raising and activist“ versteht (Willoquet-Maricondi 2010, 45) und damit die politischen Ziele eines Filme­machers ins Zentrum stellt. Nur wer Zuschauer bewusst zu einer umweltbewussteren und nachhaltigeren Lebenseinstellung bewegen will, produziert nach ihrem Verständnis Ecocinema. Ähnlich wie bei MacDonalds Definition des Begriffs sind aber auch hier populäre Formate, wie z.B. Emmerichs The Day After Tomorrow (2004) oder auch Steven Soderberghs oscargekröntes Biopic Erin Brockovich (2008), größtenteils ausgeschlossen, weil ihnen, ebenso wie den populären Animationsfilmen von Disney und Pixar, die transformative Wirkkraft und ihren Machern die authentische Motivation abgesprochen wird. The Day After Tomorrow verbindet die spektakulären Bilder eines größtenteils unwissenschaftlich dargestellten Klimawandelszenarios mit einer melodramatischen Familiengeschichte und war damit an den Kinokassen überaus erfolgreich. Erin Brockovich bietet eine in vielerlei Hinsicht nuancierter erzählte Geschichte, die zudem auf wahren Begebenheiten beruht, und zwar die langjährige Verseuchung des Grundwassers in Hinkley/Kalifornien durch die nahegelegene Firma Pacific Gas and Electric, die zu massiven Gesundheitsschäden der Bevölkerung und nach der Aufdeckung des Verursachers 1996 zur enormen Schadenersatzzahlung von 333 Mio. Dollar geführt hat. Aber auch dieser Film ist am Ende ein massentaugliches Melodrama, das den Zuschauer einlädt, sich mit der von Julia Roberts dargestellten Erin Brockovich und ihrem Engagement für die Op-

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fer von Umweltverbrechen zu identifizieren und Mitleid mit diesen zu empfinden. Für solche Formate übernimmt Willoquet-Maricondi den von Ingram geprägten Begriff des Environmental Film, den sie dem politisch engagierten Ecocinema demonstrativ gegenüberstellt. Auch sie lokalisiert wahres Ecocinema letztendlich vor allem im Bereich des Experimental- und Dokumentarfilms, was angesichts des großen Publikums- und Forschungsinteresses gerade an populären Umweltfilmen zu restriktiv und unbefriedigend erscheint. Einen anderen Weg geht der von Stephen Rust, Salma Monani und Sean Cubitt herausgegebene Sammelband Ecocinema Theory and Practice (2012), der die theoretischen Grundlagen der Grünen Filmstudien auslotet und dabei auch den titelgebenden Begriff Ecocinema kritisch hinterfragt. In ihrer Einführung plädieren die drei Filmwissenschaftler für eine möglichst offene Definition von Ecocinema, die es erlaubt, über Genregrenzen hinweg eine große Bandbreite von Filmen aus einer ökokritischen Perspektive zu analysieren, und zwar selbst dann, wenn diese Filme gar nicht vordergründig mit Umweltthemen befasst sind. Inhaltliche oder formale Eingrenzungen, wie sie MacDonald und Willoquet-Maricondi vorgeschlagen haben, werden als kontraproduktiv betrachtet. Am Ende, wie Andrew Hagemann in seinem Beitrag zum Band anhand der Beispiele dreier höchst unterschiedlicher Filme über den Wasserkrieg in der bolivianischen Stadt Cochabamba zeigt, lassen sich in jedem Film ideologische Widersprüche finden, Widersprüche, die auch in unseren eigenen Lebenswelten existieren und die unsere Fähigkeit, ökologisch zu denken und zu handeln, einschränken. Eine Festlegung auf bestimmte formale oder inhaltliche Kriterien ist daher weder notwendig noch sinnvoll. Der amerikanische Filmwissenschaftler Chris Tong folgt dieser weitgefassten Definition von Ecocinema und unterscheidet zwischen vier verschiedenen ästhetisch-narrativen Modi: politisch engagiert (activist), allegorisch (allegorical), evokativ (evocative) und realistisch (realist) (vgl. Tong 2013, 113). Ob eine solche Differenzierung am Ende wirklich notwendig ist, sei dahingestellt. Sie entspricht jedenfalls dem derzeitigen Trend, sich zunehmend auch genreübergreifend auf theoretischer Ebene mit Ecocinema auseinanderzusetzen und Film dabei als eine komplexe Praxis zu begreifen, die in vielerlei Hinsicht in unsere Lebenswelt eingebettet ist. Adrian Ivakhivs Ecologies of the Moving Image (2013) ist der bislang wohl ambitionierteste Versuch, eine umfassende ökologische Filmtheorie zu entwerfen. Aufbauend auf den philosophischen Erkenntnissen von Martin Heidegger,

21.2 Was ist Ecocinema? Grundsatzfragen, Theorien und Produktionszusammenhänge

­ iorgio Agamben, Charles Sanders Peirce, Gilles Deleuze und Felix Guattari G entwickelt Ivakhiv seine „process-relational theory of cinema“ (Ivakhiv 2013, 1). Er begreift Film als eine ‚Maschine‘, die uns durch affektive, narrative und semiotische Prozesse bewegt und dabei in ständiger Interaktion steht mit den „drei Ökologien“ der materiellen, sozialen und perzeptiven Welt (Ivakhiv 2013, 3). Ivakhivs komplexe Ökologie der bewegten Bilder ist auch deswegen hervorzuheben, weil sie neben den sozialen auch die affektiven und materiellen Dimensionen von Ecocinema in den Vordergrund rückt. Die sog. Affect Studies haben ebenso wie Emotionstheorien aus der kognitiven Filmwissenschaft bislang relativ wenig Beachtung innerhalb der Grünen Filmstudien gefunden, was angesichts des großen Interesses an der Wirkung von Umweltfilmen erstaunlich ist. Der von mir herausgegebene Sammelband Moving Environments: Affect, Emotion, Ecology and Film (2014) ist eine Reaktion auf dieses Defizit, die dazu anregen soll, unserer emotionalen Interaktion mit Umweltfilmen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Auch hier ermöglicht ein offenes Verständnis von Ecocinema die Analyse der affektiven Dimensionen einer großen Bandbreite von Filmen, die von Stan Brakhages sperrigem Experimentalfilm Dog Star Man (1961–63) bis hin zu Mike Nichols ironischer Satire Idiocracy (2006) reicht. Was bei einem Fokus auf die Interaktion zwischen Film und Zuschauer aber zwangsläufig zu kurz kommt, ist eine Betrachtung des materiellen Prozesses, der hinter jedem dieser Filme steckt. Ein Vorwurf, der immer wieder zu hören ist, lautet, dass kein Umweltfilm jemals wirklich ‚grün‘ sein kann, weil der dafür notwendige Produktionsaufwand jeglichen ökologischen Anspruch ad absurdum führt. Ivakhiv bezieht die materiellen Aspekte der Filmproduktion und Distribution daher auch bewusst in seine ,Ökologie der bewegten Bilder‘ ein. In den letzten Jahren wurden zudem zwei weitere Studien veröffentlicht, die sich gezielt mit der ,dunklen‘ Seite von Umweltfilmen beschäftigen. Nadia Bozak weitet in dieser Hinsicht mit ihrer Studie The Cinematic Footprint: Lights, Camera, Natural Resources (2012) den Blick, indem sie auf eindrückliche Weise aufzeigt, wie ressourcenintensiv das Medium Film tatsächlich ist. Denn auch hinter jedem Umweltfilm stehen unweigerlich Produktions-, Distributions- und Rezeptionsprozesse, die verschwenderisch mit Ressourcen umgehen oder zumindest nicht nachhaltig sind. Natürlich gibt es heute Filme, die durch Kompensation ,Co₂-neutral‘ produziert werden, wie z.B. die Klimawandeldokumentationen An Inconvenient Truth (2006) und The Age of Stupid (2009).

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Bozaks Studie zeigt aber, dass solche lobenswerten Maßnahmen nur wenig daran ändern, dass Film ein extrem energie- und materialaufwendiges Medium ist. Richard Maxwell und Toby Miller gehen in Greening the Media (2012) noch einen Schritt weiter und breiten eine ganze Palette von Formen ökologischen und sozialen Raubbaus aus, auf denen audiovisuelle Kommunikation heute basiert. Gleichzeitig zeigen sie aber auch auf, was nicht nur Hersteller sondern auch Konsumenten tun können, damit Filme sozial gerechter und ökologisch nachhaltiger hergestellt werden – ein wichtiger und vielleicht sogar unumgänglicher Schritt in der Entwicklung eines Ecocinemas, das sich bewusst für eine nachhaltigere Welt einsetzt. Der Forschungsbereich der Grünen Filmstudien wird sich in den kommenden Jahren sicherlich rasant weiterentwickeln. Die Abfolge der Publikationen erhöht sich von Jahr zu Jahr und diese Steigerung der Quantität ist mit einer zunehmenden inhaltlichen Diversifizierung und Weiterentwicklung verbunden. Inzwischen gibt es auch die ersten thematisch fokussierten Veröffentlichungen in deutscher Sprache, wie zum Beispiel Joan Kristin Bleichers Aufsatz „Klimawandel als Apokalypse: Ein Streifzug durch populäre Kinofilme und TV-Movies“ (2012), und es steht zu hoffen, dass auch hierzulande bald mehr Publikationen zum Thema erscheinen werden. Wenn auch die Grünen Filmstudien nur einen Teilbereich des Ecocriticism darstellen, so können sie doch wichtige Erkenntnisse beitragen, die andere Bereiche ergänzen und befruchten. 21.3 Literaturverzeichnis

Bleicher, Joan Kristin: Klimawandel als Apokalypse. Ein Streifzug durch populäre Kinofilme und TV-Movies. In: Neverla, Irene/Schäfer, Mike S. (Hg.): Das Medien-Klima. Fragen und Befunde der kommunikationswissenschaftlichen Klimaforschung. Wiesbaden 2012, S. 197–213. Bousé, Derek: Wildlife Films. Philadelphia 2000. Bozak, Nadia: The Cinematic Footprint. Lights, Camera, Natural Resources. New Brunswick 2012. Brereton, Pat: Hollywood Utopia. Ecology in Contemporary American Cinema. Bristol u.a. 2005. Carmichael, Deborah A. (Hg.): The Landscape of Hollywood Westerns. Ecocriticism in an American Film Genre. Salt Lake City 2006. Cubitt, Sean: EcoMedia. Amsterdam 2005.

21.3 Literaturverzeichnis

Gustafsson, Tommy/Kääpä, Pietari (Hg.): Transnational Ecocinema. Film Culture in an Era of Ecological Transformation. Bristol u.a. 2013. Hageman, Andrew: Ecocinema and Ideology. Do Ecocritics Dream of a Clockwork Green? In: Rust, Stephen/Monani, Salma/Cubitt, Sean (Hg.): Ecocinema. Theory and Practice. AFI Filmreaders. London u.a. 2013, S. 63–86. Hughes, Helen: Green Documentary. Environmental Documentary in the 21st Century. Bristol u.a. 2014. Ingram, David: Green Screen. Environmentalism and Hollywood Cinema. Exeter 2000. Ivakhiv, Adrian: Ecologies of the Moving Image. Cinema, Affect, Nature. Waterloo 2013. Lee, Raymond: Not So Dumb. The Life and Times of the Animal Actors. South Brunswick 1970. Lu, Sheldon/Mi, Jiayan (Hg.): Chinese Ecocinema. In the Age of Environmental Challenge. Hong Kong 2009. MacDonald, Scott: The Garden in the Machine. A Field Guide to Independent Films about Place. Berkeley 2001. MacDonald, Scott: Toward an Eco-cinema. In: Interdisciplinary Studies in Literature and Environment 11.2 (2004), S. 107–132. Maxwell, Richard/Miller, Toby: Greening the Media. Oxford u.a. 2012. Mitman, Gregg: Reel Nature. America’s Romance with Wildlife on Film. Seattle 1999. Murray, Robin L./Heumann, Joseph K.: Ecology and Popular Film. Cinema on the Edge. Albany 2009. Murray, Robin L./Heumann, Joseph K.: Gunfight at the Eco-Corral. Western Cinema and the Environment. Norman 2012. Murray, Robin L./Heumann, Joseph K.: “That’s All Folks”? Ecocritical Readings of American Animated Features. Lincoln 2011. Murray, Robin L./Heumann, Joseph K.: Film and Everyday Eco-Disasters. Lincoln 2014. Rust, Stephen/Monani, Salma/Cubitt, Sean (Hg.): Ecocinema Theory and Practice. AFI Filmreaders. London u.a. 2013. Tong, Chris: Ecocinema for All. Reassembling the Audience. In: Interactions. Studies in Communication & Culture 4.2 (2013), S. 113–128. Whitley, David: The Idea of Nature in Disney Animation. 2. Aufl. Farnham 2012. Weik von Mossner, Alexa (Hg.): Moving Environments. Affect, Emotion, Ecology and Film. Waterloo 2014. Willoquet-Maricondi, Paula (Hg.): Framing the World. Explorations in Ecocriticism and Film. Charlottesville 2010.

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22 Die Herausforderung der Eco-Art für die Kunstgeschichte Linda Weintraub 22.1 Beschleunigungen in Kunst, Gesellschaft und Umweltschutzbewegung

Ökologisch orientierte Kunst – im Folgenden: Eco-Art – verbreitet sich inzwischen weltweit. Nach ihren vielversprechenden Anfängen in den 1970er-Jahren folgte eine Zeit der Ruhe, aus der sie aber nun erneuert, widerstandskräftig und mit einer großen Ausstrahlungskraft hervorgegangen ist. So scheint die Eco-Art der Gegenwart mit Recht den Anspruch zu erheben, als repräsentativ für unsere Zeit ihren Platz in der künftigen Kunstgeschichtsschreibung einzunehmen, ist sie doch der Ort in unserer Kultur, an dem sich gegenwärtig die zeitgemäßen Formen künstlerischer Innovation konzentrieren. Bereits eine kleine Auswahl an Buchveröffentlichungen zur Eco-Art zeigt vielseitige Perspektiven und Ansätze dieses mittlerweile weitgefächerten Gebiets. So legen einige Studien den Schwerpunkt auf Illustrationen, wie z.B. in dem Sammelband Art in Action: Nature, Creativity, and Our Collective ­Future (2007) oder Art & Ecology Now (Brown 2014). Dem stehen theoretisch orientierte Texte gegenüber wie die von Jeffrey Kastner herausgegebenen Bände ­Nature (2012) und Ecological Aesthetics: Art in Environmental Design. Theory and Practice­ (2004). Von künstlerischer Seite wiederum stammt der Sammelband Art Nature Dialogues: Interviews with Environmental Artists (2004), während Sue Spaid und Amy Lipton (2002) die Kunst von Ökoaktivisten untersuchen. Meine eigenen Bücher wie Avant-Guardians: Textlets in Art and Ecology (2006– 2007) und TO LIFE! Eco-Art in Pursuit of a Sustainable Planet (2012) legen den Schwerpunkt auf Fragen der Pädagogik in Verbindung mit Eco-Art. Die heutigen ökologisch orientierten Künstler sind noch immer stark von der sogenannten ‚Great Acceleration‘ (‚Großen Beschleunigung‘) der letzten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusst. Dieser Begriff bezeichnet einen gleichzeitigen akuten Anstieg der menschlichen Bevölkerung, von ökonomischer Aktivität und Nutzung von Ressourcen, des globalen Transports, der Kommunikation sowie von wissenschaftlichen Entdeckungen, kulturellen Innovationen

22.2 Kunst zwischen Kultur und Gegenkultur

und technologischen Erfindungen. Diese Motoren des Fortschritts wurden v.a. durch vermeintlich kostengünstige Energiequellen sowie eine liberale Wirtschaftspolitik vorangetrieben und führten zu einem bisher in der Geschichte der menschlichen Zivilisation beispiellosen Wirtschaftsboom, aber auch einem nicht gekannten Ausmaß an Folgeschäden (vgl. Robin 2008; Steffen u.a. 2004). Infolge dieser Veränderungen nahmen die unübersehbaren Anzeichen für langfristige Umweltschäden und -zerstörungen zu. Es entstanden Umweltbewegungen mit dem Ziel, diese Prozesse zu bremsen. Eine zweite ‚große Beschleunigung‘ fand dadurch statt, dass sich in den 1970er-Jahren sowohl in Nordamerika als auch in Europa zwei Lager bildeten: Die einen feierten die rapide zunehmende Kontrolle der Menschheit über den Planeten. ‚Kultur‘ wird durch Industrie, Technologie, Investment und multinationale Konzerne repräsentiert, die nach Macht und Kontrolle streben. In diese ‚Kultur‘ reihten sich auch Individuen ein, die ihre Lebensszenarien nach dem Genuss von Sicherheit und Wohlstand ausrichteten, und deren Wertesystem gemeinhin als ‚Mainstream‘ bezeichnet werden kann. Die Vertreter der zweiten Auffassung beklagten die gravierenden Auswirkungen der Industrialisierung auf die Erde und setzten das langfristige Wohlergehen von nicht-menschlichen Lebensformen auf die Agenda. Diese ‚Gegenkultur‘ setzte sich aus verschiedenen oppositionellen Ansichten zusammen und richtete sich gegen die Konzentration von Autorität(en). Die weiße Gesellschaft wurde von der Bürgerrechtsbewegung angegriffen, der Kommerz von einer neuen Spiritualität, die Universitäten von studentischen Demonstranten, wie auch die Rationalität durch psychedelische Drogen, das Patriarchat von feministischen Bewegungen und sexuelle Zurückhaltung durch die Verfügbarkeit der Antibabypille unterhöhlt wurden. 22.2 Kunst zwischen Kultur und Gegenkultur

Auch die bildenden Künste spalteten sich in zwei Lager auf – auf der einen Seite die Befürworter der kulturellen Werte des Mainstreams, auf der anderen Seite ihre Gegner. Diese Debatte wiederum führte zu einer dritten ‚großen Beschleunigung‘. So haben sich beispielsweise Pop-Art-Künstler, obwohl sie ja von traditionellen künstlerischen Konventionen abwichen, dennoch Formen des Mainstreams zugewandt und sich damit ausgerechnet ebenjener Symbole, Strategien und Werte bedient, die gemeinhin mit Kommerz, Materialismus, Automatisie-

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22 Die Herausforderung der Eco-Art für die Kunstgeschichte

rung und Massenmedien verbunden sind. Insbesondere Andy Warhol (1928– 1987) kann durch sein geradezu ‚maschinelles‘ Auftreten und der Umbenennung seines Studios in „The Factory“ als dessen Inbegriff angesehen werden. Auch seine Kunstwerke gehen auf diese Prinzipien zurück, etwa wenn Warhol automatisierte Formen künstlerischer Kreativität auf Massenware wie die Campbell-­ Tomatensuppe, massenvermarktete Persönlichkeiten wie Marilyn Monroe oder die Massenpresse und ihre Berichterstattung über das Kennedy-Attentat anwandte. In ähnlicher Weise verletzten auch die Künstler des Minimalismus etablierte künstlerische Konventionen, unterstützten aber gleichzeitig die Werte von ‚Kultur‘ im weiteren Sinne, indem sie etwa die eher kühle Distanziertheit von Industrielandschaften nachahmten. Ein Beispiel für diese ­Ästhetik ist das Werk Untitled (1966) von Robert Morris (*1931): Es besteht aus einer einfachen Sperrholzplatte, in reinem Mattweiß gestrichen, deren Maße (ca. 2,4 m x 2,4 m x 1,2 m) zur bewussten Verweigerung von Ausdruck und Repräsentation beitragen. Die Kiste ist zu klein, um als Unterstand zu dienen, zu groß, um darauf zu sitzen oder sie als Tisch zu verwenden, zu neutral, um die Persönlichkeit des Künstlers auszudrücken, und zu perfekt, um ein von Hand hergestelltes Produkt zu sein, da eine so korrekte Geometrie nur durch Materialien und Techniken der industriellen Produktion erreicht werden kann. Auf ähnliche Weise wich auch die ‚Earth Art‘ von der skulpturalen Tradition ab, um Mainstream-Technologien zu verkörpern. Michael Heizer (*1944) brachte die pionierhafte Kühnheit dieser Zeit auf den Punkt: „As long as you’re going to make a sculpture, why not make one that competes with a 747, or the Empire State Building, or the Golden Gate Bridge?“ Ein klassisches Werk dieser Earth Art ist sein Projekt Double Negative (1969) im Moapa Valley, Nevada: Es besteht aus einem gewaltigen Graben, der ca. 9 m tief und 457 m lang ist, der dadurch entstand, dass der Künstler schwere Baumaschinen und Dynamit als formende Werkzeuge einsetzte. Der natürliche Canyon, der diesen Graben durchbricht, wurde zu einer Ablagestelle für die 244.000 Tonnen Felsgestein und Erdaushub, die zur Schaffung des Grabens umgeschichtet wurden und dadurch gleichzeitig die Landschaft einschneidend veränderten. Dieses Werk verkörpert somit die gleiche instrumentelle Einstellung zur Natur wie das Bohren nach Öl, das Aufstauen von Flüssen und das Roden von Wäldern. Der gegenkulturelle Beitrag zur dritten ‚großen Beschleunigung‘ kam von Künstlern im Randbereich des Mainstreams. Nachrichten von Ölverschmut-

22.2 Kunst zwischen Kultur und Gegenkultur

zungen, toten Seen und dem Ozonloch wurden als Belege dafür gewertet, dass die betroffenen Ökosysteme samt ihrer Populationen dringend auf Hilfe bzw. Rettung angewiesen sind. Die Künstler, die sich daraufhin zusammentaten, um die Verletzbarkeit des Planeten zu thematisieren, werden inzwischen als Ökokünstler (Eco-Artists) bezeichnet. Der vorliegende Beitrag untersucht die radikalen Innovationen der Gegenkultur, die man unter Eco-Art subsumiert. Die kurze Geschichte dieser Bewegung beginnt in den 1970er-Jahren bei denjenigen Künstlern, die nicht nur konservative Kunstkonventionen und die fabrikmäßigen Produktionsweisen der Pop-Art ablehnten, sondern ebenso die industrielle Genauigkeit der minimalistischen Kunst sowie die Nutzbarmachung von Naturkräften in der LandArt verwarfen. Dieses nun entstehende Kunstkonzept hatte seinen Ursprung wiederum in der Systems-Art und den Happenings. Systems-Art: In den 1970er-Jahren verstärkten Computertechnologien die ökologischen Bedenken, ermöglichte doch erst die Rechenkapazität dieser neuen Geräte den Forschern, komplexe Rückkopplungsprozesse auf der Erde zu beobachten und zu erfassen. Ökologen entwickelten dadurch ein neues Verständnis der Erde als einer Myriade von zusammengesetzten Systemen, die sich simultan entwickeln und auflösen. Die Aufmerksamkeit galt jetzt weniger Substantiven (Materialien, Objekten und Zuständen), sondern vielmehr Verben (Prozessen, Ereignissen und Transformationen). Künstler schlossen sich dieser Neubewertung des Planeten an, indem sie sich frei entfaltende Echtzeitsysteme schufen, in denen Energien fließen und Materialien unter tatsächlichen Bedingungen miteinander korrespondieren konnten. Hans Haacke (*1936) war einer der ersten Künstler, der die Prinzipien von Systemen auf die Kunst anwandte. Inspiriert wurde er dabei von den Theorien des österreichischen Biologen Ludwig von Bertalanffy (1901–1972), in dessen Allgemeiner Systemtheorie einzelne Systeme als eine Menge voneinander abhängiger Komponenten in Zeit und Raum koexistieren. Haacke stützte sich auch auf die Schriften des US-amerikanischen Mathematikers und Begründers der Kybernetik, Norbert Wiener (1894–1964), der kybernetische Rückkopplungen auf verschiedene Bereiche wie Maschinenbau, Informatik, Biologie, Philosophie und das Sozialverhalten von Tieren anwandte. Die Grundsätze dieser SystemsArt finden sich in Haackes manifestartiger Erklärung Untitled Statement (1965):

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22 Die Herausforderung der Eco-Art für die Kunstgeschichte

… make something which experiences, reacts to its environment, changes, is non stable … … make something indeterminate, which always looks different, the shape of which cannot be predicted precisely … (Haacke 2004, 100).

Um diese Auswirkungen planetarischer Einflüsse darzustellen, wählte Haacke Materialien aus, die nicht über den Künstlerbedarf zu beziehen sind, wie z.B. lebende Entitäten, die kontinuierlich Umweltreize wahrnehmen und deren Einflüssen ausgesetzt sind, so in: Grass Grows (1967–1969), Ant Co-op (1969), Chickens Hatching (1969), Ten Turtles Set Free (1970). Auch die Fähigkeit des Wassers, seinen Aggregatzustand zu verändern, nutzte Haacke, um dynamische Systeme aufzuzeigen. So bestand sein Projekt Ice Stick (1966) aus einem ca. 1,80 Meter hohen Kupferelement eines Kühlschranks, das bei Kontakt mit der Umgebungsfeuchtigkeit Eis bildete und sich solange vergrößerte, bis die ­Kühl­einheit nicht mehr zur Oberfläche durchdringen konnte. Dann schmolz das Eis, bis es klein genug war, dass sich wieder neues Eis bilden konnte. ­Haacke erklärt: „From the beginning, the concept of change has been the ideological basis of my work“ (Haacke 1971/2006, 253). Haackes Renommee in der Eco-Art fußt jedoch auch auf seiner Installa­ tion, die Systeme aktiv dazu benutzte, um Schmutzstoffe aus dem verunreinigten Rhein zu entfernen. Rhinewater Purification Plant (1972) im Museum Haus Lange in Krefeld ist Umweltsanierung und wegweisendes Kunstprojekt zugleich, vereint aber v.a. ein physikalisches System (Abwasser und Schlamm aus dem Auslauf der Krefelder Kläranlage), ein biologisches System (Goldfische, die in einem Teich schwimmen, der mit gefiltertem Flusswasser gefüllt ist), und ein soziales System (Besucher und Mitarbeiter des Museums, Angestellte der Kläranlage). Das Kunstwerk als ein sich frei entfaltendes Echtzeitsystem scheint dem Ideal­ zu widersprechen, das Ergebnis künstlerischer Inspiration und Kreativität eines Schöpfers zu sein. Dieser Verstoß rüttelte die Kunstwelt auf, denn plötzlich standen Kritiker, Kuratoren und die Öffentlichkeit sich ständig verändernden und unberechenbaren Kunstwerken gegenüber, die aus der Interaktion eines Materials mit Prozessen und Bedingungen des Planeten Erde heraus entstanden. Nun waren es nicht mehr der Künstler, sein handwerkliches Können oder das Resultat seiner Vorstellung, sondern vielmehr Wind, Wasser, Schwerkraft,

22.2 Kunst zwischen Kultur und Gegenkultur

pflanzliches Wachstum und andere autonome Kräfte des Planeten, die gewissermaßen künstlerisch tätig wurden. Die ästhetischen oder kunstgeschichtlichen Kenntnisse kamen für eine kritische Analyse der Systems-Art an ihre Grenzen. Happenings: Zur gleichen Zeit wie die Systems-Art entwickelte sich das Kunstkonzept der Happenings. Der Betrachter wird dabei selbst aktiv zum Erzeuger von Kunst, indem er improvisiert und den nur vagen Anleitungen eines Künstlers folgt. Ein zentraler Vertreter dieser Aktionskunst war Allan Kaprow (1927–2006), der wiederum – das geht aus handschriftlichen Notizen in einer Ausgabe von Art as Experience in seiner Bibliothek hervor – stark von John Dewey (1859–1952) beeinflusst war. In Deweys zentraler Schrift Art as Experience (1934) wird die Vorstellung einer Metaphysik der Natur entwickelt, die aus einem Beziehungsgeflecht von Wachstumsvorgängen, mechanischen Verfahren und geistigen Prozessen besteht (vgl. Colwell 1985). Menschliche Verhaltensweisen waren wesentlich für die Funktion nicht-menschlicher planetarer Systeme.

Abb. 1: Hans Haacke: Rhinewater Purification Plant (1972) Künstler: Hans Haacke; Entstehungsjahr: 1972; Ort: Museum Haus Lange in Krefeld; Materialien: Abwasser, Wasseraufbereitungsanlage, Goldfische; Courtesy: Paula Cooper Gallery © Hans Haacke; Artists Rights Society (ARS), New York; ©VG Bild-Kunst, Bonn

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In Easy (1972) gab Kaprow einer Gruppe von Studierenden, die sich in einem zur Landgewinnung ausgetrockneten Flussbett versammelt hatten, die Instruktionen: (dry stream bed) wetting a stone carrying it downstream until dry dropping it choosing another stone there wetting it carrying it upstream until drydropping it. (http://imoralist.blogspot.com/2008/03/documentation-of-alan-kaprowhappening.html, zuletzt 18.05.15) Indem Handlungen gefordert wurden, die vom Wetter und der Tageszeit abhängig waren, offenbart Easy die Reaktionsbereitschaft der Umweltschützer auf die jeweilige Ökologie der Landschaft. Ein Beispiel: Als die Teilnehmer wie gefordert zu Fuß gingen, bis die Steine trocken waren, wurden die vom Menschen geschaffenen Maßeinheiten wie Stunden und Minuten durch Einheiten ersetzt, die in direkter Verbindung zur materiellen Beschaffenheit der Steine, der Umgebungstemperatur und der Windgeschwindigkeit standen. Hinzu kommt, dass die Mitwirkenden durch selbstentwickelte Strategien der Anfeuchtung der Steine die vorschnelle Entscheidung zur Trockenlegung des Flusses rückgängig machten: Sie führten einen symbolischen Akt der Habitats-Rehabilitation aus, indem sie das nicht mehr vorhandene Flusswasser mit körpereigenem Speichel, Schweiß und Urin ersetzten. Damit hat Easy auf verschiedene Weise und mittels ökosystemischer Dynamiken Gegenseitigkeit und Kooperation erzeugt – Verhaltensweisen, die den kulturellen Werten des Mainstreams fremd sind. Happenings unterscheiden sich so stark von konventioneller Kunst, dass Kaprow sie immer wieder als eine regelrechte Nicht-Kunst, „unart“, bezeichnete. Er erklärt: „It means casting our values (our habits) over the edge of great heights, smiling as we hear them clatter to pieces down below like so much crockery – because now we must get up and invent something again“ (Kaprow 1967, 5). Diese Nicht-Kunst begrüßt damit gerade die Unvorhersagbarkeit des normalen Lebens, das lange Zeit aus der Kunst verbannt gewesen war. Ebenso verschwanden mit „art-ifice“ und „art-ificiality“ zwei Komponenten aus der Kunst, wobei Teilnehmer auf vielen Sinnen beruhende Interaktionen mit der materiellen Welt

22.3 Die neuen deskriptiven Adjektive der (Öko-)Kunstkritik

ausführten. Konventionelle Kriterien der Kunstkritik waren auch hier nutzlos geworden, da die Kunst weder Maß und Form noch Struktur hatte. 22.3 Die neuen deskriptiven Adjektive der (Öko-)Kunstkritik

Eine vierte ‚große Beschleunigung‘ hat bisher noch nicht stattgefunden und dürfte wohl noch auf den Einzug der Eco-Art von der kulturellen Peripherie ins Zentrum einer umweltbewussten Gesellschaft warten. Ein solcher Aufstieg hängt nicht von den Künstlern ab – sie haben seit den 1970er-Jahren beeindruckende ökologisch orientierte Innovationen vorgelegt, ohne dafür entsprechende Beachtung erfahren zu haben –, sondern von den Kunstwissenschaftlern und -kritikern. Dieser Schritt bedarf einer nachhaltigen Abkehr vom Prinzip eines L’art pour l’art, d.h. der Vorstellung einer Reinheit der Kunst, wie sie seit dem 19. Jahrhundert als ästhetische Leitmaxime galt. Denn sie schließt all diejenigen Eco-Artists aus, die mit progressiven Politikern, Ingenieuren, Wissenschaftlern, Pädagogen und Philosophen zusammenarbeiten, die in ihre Projekte nicht genuin zur Kunst gehörige Praktiken und Prinzipien einbeziehen oder Umweltverschmutzung und ökologische Gleichgültigkeit aufdecken und umkehren wollen. Vier Themen und Strategien sind in letzter Zeit dem Repertoire der gegenwärtigen Eco-Art hinzugefügt worden. (1) Funktional: Künstler, deren Werk eine pragmatische Funktion darstellt, wählen eine Nichtübereinstimmung mit Normen und populären Erwartungen gegenüber der Kunst als zentraler Vorgehensweise. Gegner hiervon sind der Meinung, dass Kunst, die sich mit Alltagsproblemen beschäftigt, den Bezug zum Göttlichen, Utopischen, Schönen etc. verliert. Ihre Verteidiger jedoch glauben, dass gerade funktionale Kunst das Potenzial künstlerischer Innova­ tion von zeitgeschichtlicher Relevanz bereithält. So geht z.B. die künstlerische Darstellung der Kubisten unmittelbar auf das gerade von Physikern gewonnene Verständnis einer aus Atomen bestehenden Welt zurück. Und auf ähnliche Weise beziehen sich Gegenwartskünstler, die auf Umweltprobleme hinweisen, auf tatsächliche ökologische Probleme. Funktionale Eco-Artists sanieren Böden, engagieren sich für Habitatserhaltung, recyceln Müll, bauen Lebensmittel an, produzieren Energie usw. Daher muss es die Aufgabe ökokritischer Kunsthistoriker sein, zunächst diese Verfahren als Kunst zu akzeptieren und dann deren Effektivität zu beurteilen.

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Abb. 2: SUPERFLEX: SUPERGAS, Kambodscha (2001) Künstler: SUPERFLEX, Rasmus Nielsen, Jakob Fenger und Bjørnstjerne Christiansen mit Jan Mallan; Projekt: SUPERGAS (seit 1996 bis heute); Installationsfoto von „The Land“ in Chaing Mai, Thailand; Materialien: Biogassystem gespeist mit organischen Materialien; Größe: unterschiedlich; Foto: SUPERFLEX, Courtesy: SUPERFLEX und Peter Blum Gallery, New York.

Das dänische Künstlerkollektiv SUPERFLEX, gegründet 1993, legte mit SUPERGAS (seit 1996, noch laufend) ein Kunstwerk an, das die Funktionen eines Brennofens, Öltanks, einer Abwassergrube, Kläranlage und eines Generators übernimmt. Dieses öffentliche Kunstprojekt verwendet biologische Abfallprodukte zur Erzeugung elektrischer Energie für arme ländliche Gemeinden, die nicht an das Stromnetz angeschlossen sind. Hier wird L’art pour l’art zum L’art pour le service – Kunst als Dienstleistung. Das Projekt ist eine Zusammenarbeit dänischer und afrikanischer Ingenieure, die gemeinsam einfache Biogasanlagen entwickelten, die auf drei erneuerbaren und umweltfreundlichen Energiequellen beruhen: Tierdung, menschlichem Abfall und Sonnenlicht. SUPERGAS versorgt Haushalte nicht nur mit Energie zum Kochen und zur Beleuchtung,

22.3 Die neuen deskriptiven Adjektive der (Öko-)Kunstkritik

sondern hilft effektiv, Erosionen zu vermeiden (Bäume müssen nicht mehr als Feuerholz gefällt werden), Wasserverschmutzung zu vermindern (durch die Verwertung von Müll und Fäkalien), die Lebensmittelproduktion zu erhöhen (Kompost entsteht als Nebenprodukt der Biogasanlage) und die Gesundheit der Menschen zu verbessern, da nun beim Kochen in den Häusern kein Rauch mehr entsteht. Inzwischen hat SUPERFLEX sogar ein Unternehmen gegründet und vertreibt die Anlagen für Bewohner abgelegener Dörfer zu erschwinglichen Preisen. Die dänischen Künstler entschieden sich nicht zufällig dafür, diese eigentlich eher glanzlosen Anlagen in blendendem Orange zu streichen, um ihnen den Reiz von Luxusgütern, die sogar als Statussymbol im Vorgarten installiert werden können, zu verleihen. (2) Didaktisch: Die Environmental Health Clinic (http://www.nyu.edu/projects/xdesign/, zuletzt 18.05.2015) ist ein permanentes Kunstprojekt von Natalie Jeremijenko (*1966) an der New York University, die auch Professorin an der dortigen „Steinhardt School of Culture, Education, and Human Development“ ist. Statt ein materielles Objekt herzustellen, verbreitet das Projekt vielmehr Informationen: Jeder, der eine Behandlung für umweltbedingte Beschwerden sucht, kann in dieser Klinik einen Termin bekommen. Der ‚Arzt‘ verteilt ‚Rezepte‘ zur Behandlung von Problemen wie Smog, Ölverschmutzung, Unterwasserlärm usw. Klinikbesucher werden als „impatients“ bezeichnet, da sie nicht bereit sind, darauf zu warten, dass der Gesetzgeber diese Probleme löst. Der Internetauftritt des Projekts empfiehlt dezidiert ein persönliches Engagement gegen diese Leiden: „You bear the costs and benefits of changing environmental health” (http://www.environmentalhealthclinic.net/environmental-health-clinic, zuletzt 18.05.2015). Der ‚EHC-Mediziner‘ stellt auch ‚Überweisungen‘ an Umweltorganisationen, Regierungseinrichtungen und unabhängige Interessenverbände aus, die in der Lage sind, die von der Klinik empfohlenen Verbesserungen durchzuführen, wobei ‚Kontrolltermine‘ in der EHC freiwillig sind. Jeremijenkos umfangreiche Qualifikationen zur Diagnose und Behandlung der Umwelt gehen selbst auf ein weiterführendes Studium in Biochemie, Physik, Neurologie und Präzisionstechnik zurück. Somit ist „health“ im Kunstwerk und im Namen der Klinik keineswegs nur eine Metapher, um ein Bewusstsein für Umweltschäden zu wecken, vielmehr informiert die EHC auch über beunruhigende Zusammenhänge zwischen Umweltverschmutzungen und Asthma, bakteriellen und viralen Erkrankungen, Entwicklungsstörungen, Krebs, Fettleibigkeit usw.

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Funktionale Lösungen bleiben solange hypothetisch, bis Gründe vorliegen, die sie rechtfertigen. Didaktisch arbeitende Künstler erreichen dieses Ziel durch die Übermittlung von Informationen. Sie dokumentieren das Ausmaß der Umweltprobleme, stellen die Täter der Umweltkriminalität bloß und verbreiten Strategien zur Problemlösung. Sie stellen eine Herausforderung für Kunstwissenschaftler und -kritiker dar, da ihre Werke nicht aus materiellen Objekten, sondern aus statistischen Beweisen, strategischen Plänen und taktischen Interventionen bestehen. Zudem wird der kreative Prozess neu formuliert: Harte Fakten und unabhängige Forschung ersetzen nun spontane Ausdruckskraft und geistige Reflexion. (3) Ethisch: Die finnische Künstlerin Terike Haapoja (*1974) testet das demokratische Ideal der Gleichheit aus, indem sie sorgfältig durchkonstruierte ethnographische Museumsinstallationen schafft, die vergangene Ereignisse aus einer nicht-menschlichen Perspektive durchspielen. Das erste Projekt der geplanten Serie widmet sich der Geschichte einer der ältesten domestizierten Tierarten der Menschheit, den Rindern. Im Museum of the History of Cattle (2013) verlieren historische Ereignisse wie die Entwicklung der Evolutionstheorie, der Beginn der industriellen Revolution und die Ausweitung der Urbanisierung ihre Bedeutung als große Meilensteine menschlichen Fortschritts. Vielmehr stellen sie – aus der Sicht der Rinder – ein trauriges Muster dauernder Unterdrückung dar. Haapoja erklärt: „Seeing cattle as instruments that produce meat, milk and leather was a consequence of the production structure in which the individual’s body, characteristics and entire life span from insemination to death was dissected and synchronized to the requirements of industrial efficiency“ (http://www.historyofothers.org/how-towrite-a-history-according-to-cattle/, zuletzt 18.05.2015). Diese schuldbeladene Geschichtsschreibung wird um eine Dokumentation ergänzt, die das ganze Leben des Rindes in Ketten zeigt; zugleich beschreibt ein Text das trauernde Muhen einer Kuh, die gerade ihr Kalb an die Milchviehhaltung verloren hat. Die rasche Zunahme von Umweltgesetzen und -verträgen, die den menschlichen Eroberungszug durch die Biosphäre einschränken sollen, geht inzwischen mit einem wachsenden Gefühl von Schuld und Reue über die bereits angerichteten Schäden einher. Längst ist auch die Ethik als psychologischer Zustand wie auch formelle Disziplin ein Bestandteil des Umweltdiskurses geworden. Eine neue Bürgerrechtsbewegung hat sich etabliert und fordert Rechte und Schutz

22.3 Die neuen deskriptiven Adjektive der (Öko-)Kunstkritik

für Flüsse, Berge, Bäume und Tiere. Aktivisten für die Rechte der Natur hoffen, die geschichtliche Befreiung von Frauen und Sklaven wiederholen zu können, die über lange Zeit nur als ökonomischer Wertgegenstand behandelt schließlich doch die ihnen zustehenden Rechte und Privilegien erhalten haben. Das Rindermuseum kommt dieser Ethik insofern nach, als die Bedeutung künstlerischer Repräsentation ausgeweitet wird. Haapoja erklärt: „There is another aspect built into the idea of representation, which is to speak for another. This aspect connects humans with nature, not as an epistemological crossing but in a political power structure“ (http://www.historyofothers.org/how-to-write-ahistory-according-to-cattle/). (4) Technologisch: Das Tissue Culture and Art Project (TC&A), 1996 von Oron Catts (*1967) und Ionat Zurr (*1970) gegründet, ist eng mit aktueller HighTech-Forschung verknüpft. Das Forschungs- und Kunstprojekt des Paares verwendet lebende Zellen und Gewebe als Medien für ihre Kunst. Ihre Skulpturen werden durch biologisch abbaubare Polymerstrukturen geschaffen, die in die gewünschte Form geschnitten und mit lebenden Zellen bestrichen werden und dann in einen Inkubator kommen, der Nährstoffe und die optimalen Bedingungen zur Vermehrung bereithält – ein Verfahren, das sie am „Tissue Engineering & Organ Fabrication Laboratory am Massachusetts General Hospital“ der Harvard Medical School lernten. Gentechnologie, Klonen, Gewebezüchtungen, Organtransplantationen usw. stellen das Frühstadium einer neuen technologischen Revolution dar, über deren Auswirkungen intensiv diskutiert wird. Während die einen überzeugt sind, dass solche Biotechnologien das Überleben im 21. Jahrhundert sichern, befürchten andere, dass Spielereien mit diesen elementaren Formen des Lebens zu unserem Untergang führen würden. Um eine öffentliche Diskussion dieser Kontroversen hervorzurufen, haben TC&A das Kunstwerk The Semi-Living Worry Dolls (2000) erschaffen. Inspiriert wurde das Projekt von kleinen Sorgenpuppen aus buntem Garn, die an Kinder in Guatemala verteilt werden. Ihnen wird gesagt, dass die Puppe, wenn sie ihr ihre Ängste und Sorgen vor dem Schlafengehen zuflüstern und sie unter ihr Kopfkissen legen, diese Probleme über Nacht lösen werde. Die von TC&A geschaffene Version entstand mithilfe von biologisch abbaubaren Polymeren und chirurgischen Nähten, die mit lebenden Zellen besäht wurden und in einen Mikroschwerkraft-Bioreaktor kamen, der wie ein Ersatzuterus funktioniert. Als die Zellen wuchsen, ersetzten sie Stück für Stück das Polymer und

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nahmen die Form einer zugegeben etwas unförmigen Sorgenpuppe an. Die Künstler selbst bezeichnen sie aber nur als halb-lebendig, da sie völlig auf Pflege angewiesen sind, und erklären: „These semi-living dolls represent the current stage of cultural limbo, characterized by childlike innocence and a mixture of wonder and fear of technology. This work invites you to whisper your worries to the worry dolls – will they take your concerns away?“ (https://www.dublin.sciencegallery.com/visceral/semi-living-worry-dolls/, zuletzt 18.05.2015).

Abb. 3: TC&A: The Semi-Living Worry Dolls (2000) Künstler: Tissue Culture & Art, Ionat Zurr and Oron Catts; Entstehungsjahr: 2000; Materialien: Biologisch abbaubares Polymer (PGA und P4HB), chirurgische Nähte, lebende Zellen, Mikroschwerkraft-Reaktor; Größe: unterschiedlich; Courtesy: Ionat Zurr and Tissue Culture & Art.

Zu den großen Meilensteinen biologischer Innovation gehören die Veröffentlichung von Charles Darwins Evolutionstheorie vor gut 150 Jahren sowie die Entdeckung der DNA vor etwa 50 Jahren; beide lösten die Grenzen zwischen den Spezies auf. Vielleicht stehen wir gerade am Beginn einer vergleichbaren biologischen Revolution, schließlich katapultiert die Herstellung von lebenden Mischformen den Menschen in seiner Beschäftigung mit biologischen Prozessen vom Entdecker zum Schöpfer. Heute imitieren, modifizieren, kontrollieren, ersetzen und verstärken Biotechniker die chemischen und mechanischen Prozesse lebender Systeme – ihre Manipulationen schaffen bizarre Abweichungen

22.4 „(P)(RE)Views“: Die Herausforderung der Eco-Art an die Kunstkritik

von der evolutionären Norm. Kunst, die sich diesen Laborprozessen annimmt, konfrontiert die Betrachter und Kritiker gleichermaßen mit bioethischen Dilemmata hinsichtlich der Erzeugung und Entwicklung neuen Lebens: Sind die künstlich geschaffenen Entitäten Monster oder Wunder menschlicher Erfindungsgabe? Sollten der Imagination und dem menschlichen Können Grenzen gesetzt werden? Zählt die Arbeit der Züchter als Pflege oder als Kunst? Sind solche Projekte Aufzucht oder Ausbeutung? Sollte das herbeigeführte Lebens­ ende der halb-lebendigen Puppen als Mord bestraft werden? Spielt Ästhetik eine Rolle für biologische Kunst? Diese Fragen bilden den Kern der neuen bioethischen Probleme, die sich grundlegend von denen der letzten zwei Dekaden unterscheiden. 22.4 „(P)(RE)Views“: Die Herausforderung der Eco-Art an die Kunstkritik

Obwohl noch keine Studien, Umfragen oder Modelle die Entwicklung der Eco-Art erfassen, zeigen die bisherigen Beobachtungen: (1) Die Probleme und Fragestellungen, mit denen sich die Begründer der Eco-Art konfrontiert sahen, beschäftigen noch immer die kreative Imagination der Künstler. (2) Die von ihnen entwickelten Projekte irritieren bis heute Kunsthistoriker und -kritiker. (3) Die von ihnen zum Ausdruck gebrachten Prinzipien sind bislang nicht in eine kritische Kunstanalyse integriert worden. (4) Ihre Werke gelten weiterhin als Gegenkultur – selbst wenn sie fest etablierte technische Neuerungen in ihre Kunstprojekte einbeziehen. Der Anthropozentrismus war über 400 Jahre lang Treibstoff für Künstler und Kunstkritiker – ihm wird die Inspirationsgrundlage für berühmte Meisterwerke im Lauf der Geschichte zugeschrieben. Diese Tradition könnte seit ihrem Höhepunkt in den 1970er-Jahren rückläufig sein, als die Suche nach alternativen Energiequellen begann. Manche von ihnen sollten die Wirtschaft antreiben. Andere befeuerten künstlerische Beiträge. Unter ihnen sind solche, die das anthropozentrische Prinzip der menschlichen Herrschaft über die Erde ablehnten; sie nahmen eine ökozentrische Weltsicht an und wurden Eco-Artists. Trotz eines wachsenden Bewusstseins für den Zustand der Umwelt sind Ökozentrismus und die Eco-Art noch immer partikuläre Initiativen, die auf den Einsatz von Einzelnen zurückgehen. Vermutlich wird der Ökozentrismus auch weiter ein Teil der Gegenkultur bleiben, bis der Zugang zu Ressourcen und Erfindungen

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nicht länger auf Menschen beschränkt bleibt, sondern auch auf alle Lebensformen übergeht und ein Konsens erreicht ist, dass die Themen, Prozesse und Medien der ökozentrischen Kunst eine kulturell bedeutungsvolle Kunst darstellen. Für diesen Prozess bedarf es überzeugender Vermittler zwischen den Künstlern und der Öffentlichkeit, die sich zu den künstlerischen Ausdrucksformen bekennen und deren Bedeutung erklären. In diesem Sinne ist die Etablierung von Eco-Art eine Aufgabe der Kunstkritik und -wissenschaft, die sich für folgende Merkmale der Eco-Art stark machen sollten: Die Materialien (das Medium, die Werkzeuge, der Energieverbrauch sowie Darstellung, Lagerung, Transport, Verpackung usw.) sind so zu wählen, dass jeglicher negative Einfluss auf Funktionen des Ökosystems minimiert wird. Positiv ist zu bewerten, wenn die Herstellung von Kunst zu einer Vitalisierung, Wiederherstellung oder Sanierung eines Zustandes oder einer Entität führt. Die nichtmateriellen Komponenten (Ausdrucksmittel, Thematik, Einstellung usw.) zeigen die Absicht des Künstlers, die langfristige Widerstandskraft der Umweltbedingungen zu fördern, indem das Bestreben der Menschheit, aus der ökologischen Nische auszubrechen, aufgehalten wird. Kurz: Eco-Art leistet einen Beitrag zur Lösung der Probleme, indem sie diese anspricht, die als relevant erachteten Informationen vermittelt, die zu lösenden ethischen Dilemmata benennt und nicht zuletzt soziale Wechselwirkungen und die Verwendung von als fortschrittlich eingestuften Technologien fördert.

22.5 Literaturverzeichnis

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22.5 Literaturverzeichnis

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Personenregister Abrams, David 26, 59, 229 Adorno, Theodor W. 11, 14, 75, 130, 160, 162–169, 175 Agamben, Giorgio 72–74, 279 Albee, Edward 228 Aristoteles 69 Assmann, Aleida 12, 130 Assmann, Jan 130 Atwood, Margaret 124, 237f., 246 Bachtin, Michail 44, 166, 175 Bacigalupi, Paolo 13, 52–54 Bacon, Francis 199 Bartlett, Mike 226 Bashō, Matsuo 213 Bate, Jonathan 128 Bateson, Gregory 180 Baudelaire, Charles 210 Bean, Richard 226 Beck, Ulrich 111, 123, 237 Benjamin, Walter 11, 14, 79, 130, 160–165, 167, 169, 175 Benn, Gottfried 210 Berry, Wendell 23 Bertalanffy, Ludwig von 285 Beuys, Joseph 125 Bleutge, Nico 214 Bobrowski, Johannes 210 Böhme, Jakob 164 Bohr, Niels 49, 65 Bousé, Derek 272 Boyden, Joseph 89 Bozak, Nadia 279f. Braidotti, Rosi 115 Brecht, Bertolt 205, 210, 213

Brin, David 239 Brockes, Barthold Hinrich 211f., 215 Büchner, Georg 77 Callenbach, Ernest 199, 201f., 253 Callon, Michel 26 Card, Orson Scott 30, 115 Carson, Rachel 96, 124, 129, 174 Cassirer, Ernst von 36 Catts, Oron 293f. Christensen, Inger 213, 215f. Coetzee, John Maxwell 77 Collins, Suzanne 264 Commoner, Barry 201 Crichton, Michael 237, 248f. Crossan, Sarah 264 Darwin, Charles 294 Dath, Dietmar 30 Defoe, Daniel 262 Deleuze, Gilles 72–74, 175, 279 Derrida, Jacques 72, 74, 100, 175, 228 Descartes, René 49, 69, 228 Dewey, John 287 Disney, Walt 30, 272, 277 Döblin, Alfred 153 Droste-Hülshoff, Annette von 209 Durian, Wolf 262 Eich, Günter 210 Eichendorff, Joseph von 128 Emerson, Ralph Waldo 212 Enzensberger, Hans Magnus 123 Eschbach, Andreas 248

Personenregister

Fischart, Johann 191 Fleck, Dirk C. 237, 250, 252–254 Flix 267 Foucault, Michel 72, 74f. Frisch, Max 153 Fromm, Erich 11, 123 Gadamer, Hans-Georg 130 Gessner, Salomon 192–195 Ghosh, Amitav 28f., 86 Ginsberg, Allen 213 Glass, Matthew 237 Goethe, Johann Wolfgang von 13, 60f., 63f., 66, 77, 123, 126–128, 208, 210, 212, 222f. Gowdy, Barbara 29 Grass, Günter 123, 152, 263 Greb, Ulrich 225 Grünbein, Durs 210 Gryphius, Andreas 208 Grzimek, Bernhard 143 Guattari, Felix 72–74, 175, 279 Haacke, Hans 285–287 Haapoja, Terike 292f. Habila, Helon 90 Haeckel, Ernst 123, 151, 190, 258 Hall, Matthew 26 Haller, Albrecht von 194, 197, 208 Hardy, Thomas 123 Hauff, Wilhelm 154 Heaney, Seamus 213 Hefner, Ulrich 249 Heidegger, Martin 11, 69, 123, 126, 128, 175, 278 Heizer, Michael 284 Herder, Johann Gottfried 60 Herrndorf, Wolfgang 266

299

Hertzka, Theodor 198 Herzog, Arthur 235 Herzog, Werner 125 Hiaasen, Carl 265 Hildesheimer, Wolfgang 152, 214 Hoffmann, E.T.A. 77, 153, 260f., 266 Hogan, Linda 88 Hopkins, Gerard Manley 209 Horkheimer, Max 75, 162, 167 Humboldt, Alexander von 97, 123 Hundertwasser, Friedensreich 125 Husserl, Edmund 175 Iser, Wolfgang 130, 176 Jahnn, Hans Henny 223 Jelinek, Elfriede 123, 224 Jeremijenko, Natalie 291 Jonas, Hans 11, 123 Kafka, Franz 77 Kant, Immanuel 25, 69, 100, 160 Kapp, Peter 225 Kaprow, Allan 287f. Kaschnitz, Marie Luise 153 Kater, Fritz 230 Keats, John 208 King, Thomas 90 King, Ynestra 46 Kingsolver, Barbara 124, 238–240 Kirsch, Sarah 210 Kirsten, Wulf 210 Klopstock, Friedrich Gottlieb 208 Kohn, Eduardo 26 Kunert, Günter 210 Lamartine, Alphonse de 208 Latour, Bruno 26, 49, 72, 75, 77, 115, 225

300

Personenregister

Law, John 26 Le Guin, Ursula K. 29, 115, 246 Lehmann, Wilhelm 210 Lenz, Jakob Michael Reinhold 60 Leopold, Aldo 23, 173 Lethem, Jonathan 30 Levinas, Emmanuel 75, 175 Lichtenberg, Georg Christoph 215 Lindgren, Astrid 260, 262, 266 Linné, Karl von 97, 212 Lloyd, Saci 265 Loerke, Oskar 210 London, Jack 29 Lotman, Juri 34 Lovelock, James 224 Luhmann, Niklas 26, 128 Lukrez 212 Lyotard, Jean-François 175 Manzoni, Alessandro 152 McEwan, Ian 124, 239–241 Melville, Herman 77, 178–181 Meyer-Abich, Klaus Michael 123 Mörike, Eduard 208 Moritz, Karl Philipp 60 Morris, Robert 284 Morris, William 199–201 Morrison, Toni 178f., 181 Morus, Thomas 195, 198–200 Mueller, Harald 223f. Müller, Herta 123 Muir, John 123 Murray, Les (i.e. Leslie Allan Murray) 213f. Naess, Arne 201 Nietzsche, Friedrich 175 Novalis (i.e. Friedrich von Hardenberg) 60, 128, 209, 254

Opitz, Martin 191 Paracelsus 164 Pausewang, Gudrun 263, 265 Peirce, Charles Sanders 33, 35, 279 Pendell, Dale 116 Pfeffer, Susan Beth 265 Pixar Animation Studios 30, 277 Pope, Alexander 212 Preußler, Otfried 266 Raabe, Wilhelm 125–127, 151, 198 Reitz, Edgar 129 Robinson, Kim Stanley 115, 237f., 246 Rosendorfer, Herbert 152 Rousseau, Jean-Jacques 127, 194f., 198, 259 Schätzing, Frank 237, 248, 250–252 Scheuermann, Silke 214 Schiller, Friedrich 193–195 Schimmelpfennig, Roland 229 Schmidt, Arno 130 Sebald, W. G. 130, 151 Shakespeare, William 222f., 227 Silko, Leslie Marmon 89f., 178f., 181 Sinha, Indra 87, 90 Šklovskij, Viktor 211 Snyder, Gary 23, 213 Spretnak, Charlene 45 Spyri, Johanna 261 Starhawk (i.e. Miriam Simos) 45 Stein, Gertrude 221 Steinbeck, John 152 Stifter, Adalbert 77, 198 Stoiker 25 Storm, Theodor 152, 210 Stürzer, Anja 263 SUPERFLEX 290f.

Personenregister

301

Takahata, Isao 30 Tasso, Torquato 193 Tepper, Sheri 30 Theokrit 187–189, 192 Thoreau, Henry David 21, 23, 123, 173 Tieck, Ludwig 60, 128, 154 Tolkien, J.R.R. 266 Tranströmer, Tomas 213 Trojanow, Ilija 116, 239–241 Turner, George 235 Tynjanow, Juri Nikolajewitsch 211

Warhol, Andy 284 Waters, Steve 225f. Webern, Anton 165 Welch, James 89 Werber, Bernard 29 Whitman, Walt 212 Wieland, Christoph Martin 196f. Wiener, Norbert 285 Williams, Raymond 175 Wolf, Christa 123, 152 Wordsworth, William 123

Uexküll, Jakob von 36–38, 40, 43

Zurr, Ionat 293f.

Vergil (i.e Publius Vergilius Maro) 187– 191 Vernadsky, Vladimir J. 34 Wadleigh, Michael 29 Wagner, Jan 214, 218 Walther von der Vogelweide 206

302

Sachregister Adaptation, s. Anpassung Actor-Network-Theory 26 Affekt, affektiv 23, 24, 207, 209, 211, 234, 260, 279 Agency, agenziell, Handlungsmacht 11f., 26, 48f., 51f., 57, 60–65, 100, 113–115, 222, 224 Agrar-, agrar-, Landwirtschaft 14, 22, 47, 57, 68f., 84, 137, 148, 151, 179, 197–199, 201f. Aktanten 26, 49 Akteur 75, 91, 111–113, 139, 143, 207, 233f. Alarmismus 242, 246 Alteritätstheorie 75 alternative Energie 266 Ambience 168f. Animal Studies 10, 13, 26, 44, 68–78, 87, 95f., 100, 228, 268 Animals and Society Institute 68 Animal Turn 78 Animationsfilm 272f., 277 Animot 72, 100 Anpassung 109, 219, 226 anthropogen 14f., 62, 108f., 114, 151, 214, 224, 233f., 237, 249 anthropo-éthologie 27 Anthropologie, anthropologisch 26–28, 72f., 76, 102, 130, 176, 212f. Anthropologische Differenz 76 Anthropomorphisierung 189 Anthroposemiotik 33 Anthropozän, Anthropozäniker 13f., 24–27, 57f., 62, 66, 99, 101, 107–117 Anthropozentrismus, anthropozentrisch

26, 69, 71, 110, 116, 157, 161, 166f., 196, 202, 219, 223, 228, 245, 250f., 295 Antiatomkraftbewegung 136, 140f., 267 Antimodernismus 124 Antizipation 238, 247 Apokalypse, apokalyptisch 90, 124, 129, 156, 238, 241, 247, 250, 252, 280 Archäologie 69 Archiv 115, 131, 149f., 153 Arkadien 187f., 195 Armutsmigration 91 Arten, Arten-, s. auch Spezies 22, 27–30, 33, 36, 52, 69, 87, 98f., 110, 228, 137f., 188, 246, 214, 223, 228, 246, 258, 260, 263, 292 Assemblage 26f., 175 Ästhetik, Ästhetisierung, ästhetisch 13f., 30, 85f., 91, 99, 102, 107, 113, 115, 124, 129, 131, 154, 162, 164, 167f., 174–176, 179–182, 188, 193, 196, 201, 205, 208, 220, 224, 227, 236f., 242, 258f., 264, 274, 276, 278, 284, 287, 289, 295 ASLE, Association for the Study of Literature and Environment 10, 21 ASLE-UKI 10 Atmosphäre 12, 107, 110, 164, 233 Aufklärung 26, 76, 90, 99, 114, 192, 243, 245, 251, 260, 262 Aura 169 Ausrottung, Aussterben von Arten 28, 40, 57, 69, 189, 263 Autarkie 192, 199 Autor als Mahner, s. Warnliteratur Avantgarde 220, 275

Sachregister

Barock 126, 191, 209, 214 Bedeutungsempfänger 37 Bedeutungsträger 37 Berge (Alpen) 129, 190, 197, 208, 293 Bergfilm 125 Beziehungspoetik 91 Bhopal 87 Bilderbücher, ökologische 258, 263 Bildungsroman 238f. Bioästhetik 42 Biologie 30, 32, 33, 38, 41, 49f., 52, 72, 108, 149, 174, 209, 251, 285 Biolinguistik 33, 42 Biome 60, 108 Bionik 199 Biophilie 169 Biopolitik 72 Bioregionalismus 23 Biosemiotik 13, 32–42, 59, 174 Biosphäre 34, 110, 251, 292 biosystemisch 251, 254 biozentrisch, s. auch nicht-anthropozentrisch 157, 202, 250 Blut- und Bodenideologie 23, 124 Border Cultures 24 Botanik 69 Bukolik 14, 187–189, 195, 202 BUND 136 Bund Naturschutz in Bayern 137 Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz 139f. Bürgerrechtsbewegung 283, 292 Code 32, 38f., 41 Codierung 34, 38f., 258, 260, 264f., 268 Comic 245, 258, 263, 267 Companion Species 27, 72, 74f. Critical Animal Studies, s. Animal Studies

303

Critical Cosmopolitanism, s. Kosmopolitismus Critical Plant Studies 26 Cultural and Literary Animal Studies, s. Animal Studies Cultural Animal Studies, s. Animal Studies Cyborg 48, 100 Dark Ecology 175 Deep Ecology 113, 169, 274 Dekolonisierung 84, 98 Dekonstruktion 79, 175, 182 Dekonstruktivismus 66, 172 deterritorialisiert 24, 238f., 240f. Deurbanisierung 198, 201 Diaspora 23f., 85 Die Grünen (Partei), s. Grünen Digitalisierung, digital 24, 38, 95, 102, 239 Diskurs, diskursiv, Diskursivität 44, 47– 50, 52, 54f., 72, 74, 81, 83f., 86–88, 90f., 100, 108–110, 112f., 123–125, 131, 166, 172, 174–180, 182, 200, 202, 206, 214, 220, 222, 224, 226, 228, 230, 234–236, 240, 250f., 263, 266f., 271, 273, 292 DokuFiktion 246, 248–250, 254 Dokumentarfilm 271f., 278 Domestic Novel 238 Dorfgeschichte 198 Dualismus 47f., 50, 69, 168, 254 Dwelling, Wohn- und Lebensformen 128, 156 Dystopie, dystopisch 55, 116f., 154, 223, 240f., 246f., 252f., 264f. Earth-Art 284 Eco-Art, ökologisch orientierte Kunst 15, 282, 285f., 289, 295f.

304

Sachregister

Eco-Artists, Ökokünstler 285, 289, 295 Eco-Cinema 271, 276–280 Eco-Comedy 274 Eco-Cosmopolitanism, s. Ökokosmopolitismus Ecocriticism, s. auch ökologisch orientierte Literaturwissenschaft 9–15, 21f., 26, 41, 46, 51, 57–60, 63–66, 81f., 84–86, 88, 91, 123–125, 128–130, 132, 156, 160f., 163–169, 172–176, 205, 207, 210f., 214, 219, 221f., 228, 249, 271, 277, 280 Ecocritique 168 Eco-Disaster, s. Umweltkatastrophe Ecological Justice 82, 91 Eco-Mainstreaming 265f. Econationalism 85 Ecopoetry 205, 213 Ekstase 164 Elegie, elegisch 194, 212, 240 Elemente 12, 39, 51, 53, 58, 61, 63–65, 124, 131, 149, 188, 191, 197, 236–238, 243, 246f., 250, 252f., 268, 272 Elitismus 25 Emblematik, emblematisch 208f. Emotion, emotional 88, 116, 124, 151, 188f., 200f., 212, 225, 229f., 234, 272f., 279 Energie, Energiegewinnung 58, 90, 136, 141, 178f., 199, 201f., 224, 233, 241, 253f., 258, 265–267, 280, 283, 285, 289f., 295f. engagierte Dichtung, engagierter Film, s. auch Warnliteratur 205–207, 214, 242, 246, 277f. Entfremdung, Naturentfremdung, 160, 162–164, 169, 193, 201, 210 Environmental Film 273, 278 Environmental Humanities 10, 14, 78, 94–97, 99–104, 129, 172

Environmental Justice, s. Umweltgerechtigkeit Environmental Racism 82 Environmental Studies, s. Umweltgeschichte Environmental Theater 220 Epoche 9, 62, 76f., 108, 114f., 138, 149, 155, 177, 209, 223, 267 Equilibrismus 254 Erde, Planet 25, 45f., 50, 57–59, 62, 84, 99, 107–113, 115, 128, 156, 206, 215, 233, 237f., 239, 240, 246, 252, 255, 264, 273, 282, 283, 285–287, 295 Erderwärmung 52, 109, 234f., 241 Erdgeschichte, erdgeschichtlich 99, 108, 114, 116, 157, 234, Erkenntnis 51, 68, 70f., 76, 81, 86, 89, 91, 125, 138, 154f., 157, 160–164, 166, 176, 207, 223, 248, 252, 278, 280 Erlebnisdichtung 207, 212 Erzählen 89, 115f., 239, 242, 248, 262, 264, 266, 277 Erzähler, Erzählinstanz 29, 77, 87, 151f., 155, 179, 197, 227 erzählerisch, narrativ 13, 15, 35, 113, 154, 179, 187, 236, 238f., 254, 261, 265, 268, 278f. Erzählung 58, 65, 152f., 196, 263, 265–268 Ethik, ethisch 11, 14, 22–25, 46, 51, 53f., 74, 76, 87, 94, 96, 98f., 101, 107, 124, 129f., 160, 165f., 169, 173, 179, 182, 192, 196, 202, 223, 234, 236, 238, 241, 245, 260, 271, 292f., 295f. ethno-éthologie 27 Ethnographie 27, 75 Ethnologie 27, 69, 95, 98 étho-ethnologie 27 Ethologie 27f., 68f. Evolution(-stheorie), evolutionsbiolo-

Sachregister

gisch 27, 33f., 40f., 117, 153, 157, 176f., 230, 292, 294f. Exil 23f., 205 Exotismus 254 Experimentalfilm 271, 278 Expressionismus 125 Feminist Ecocriticism 46, 51 Film, Verfilmung 10, 14, 29f., 62, 125, 127, 129, 238, 248, 250, 258, 271–280 Filmwissenschaft 10, 15, 69, 76, 271, 275f., 279 formsemantisch 14, 211f., 214 Forst, Forstgeschichte 140, 148, 156, 198 Fortschritt, Fortschritts-, fortschrittlich 111, 114, 198, 200, 223, 245f., 252, 262, 266, 283, 292, 296, Frankfurter Schule 99, 123, 130, 162 Fremdreferenz 35 Friedensbewegung 44, 140 Funktionskreis 37 Gaia-Hypthese 251 Gattung (biologisch) 99, 109 Gattung (literaturwissenschaftlich) 77, 125, 195f., 199–202, 207, 212, 234, 236–238, 242f., 264, 267f. Gedächtnis, -speicher 34f., 38, 41, 130f., 150f., 177, 267 Gegendiskurs, gegendiskursiv 150, 153, 178-180 Gegenkultur 200, 283–285, 295 Gegenwart, gegenwärtig 40, 69, 72, 77, 96, 108, 114, 124, 130, 151, 157, 173, 175, 202, 213, 225, 233f., 236, 242, 245–247, 251, 259, 262f., 282, 289 Gegenwartskritik 154, 192, 194

305

Gegenwartskunst, Gegenwartskünstler 289 Gegenwartsliteratur 127 Geistes- und Kulturwissenschaften 68, 78, 95, 107, 113, 116, 233 Geisteswissenschaften, geisteswissenschaftlich 26, 60, 94–96, 98, 101–104, 174 Gender 44, 50, 84 Gender Studies 78, 102, 172, 174 genetischer Code 32, 38–40 Genotyp 38 Genre 9, 13-15, 21, 116, 173, 207, 210f., 233f., 237, 245–249, 251f., 255, 258, 262, 266, 272, 275, 277f. Geo-Engineering 110 Geographie 69, 95, 98, 107 Geologie, Geowissenschaften 102, 209 geophysikalisch 14, 26, 108, 114f., 226, 245 Georgik 187 Geschichte, historisch 63, 76f., 85, 94, 98f., 102, 114, 137, 142f., 148, 154, 175, 181, 283, 285, 292, 295 Geschichtsdichtung 209 Geschichtswissenschaft 77, 83, 136, 148f., 151 Geschlechterstereotype 255 Gleichgewicht 151, 153, 194, 202 global, Globalität 11, 13, 21, 24, 26, 52, 82, 87, 90–92, 97–99, 102, 108–110, 112f., 116, 152, 172, 174, 178, 202, 214f., 233–238, 240–242, 245, 249, 251, 254f., 276, 282 Globalisierung, globalisiert 10, 24, 69, 89, 91, 98, 179, 258 Globaler Süden 86, 90f. glokal 91 Goldenes Zeitalter 194f., 272

306

Sachregister

Gorleben 141 Great Acceleration, Große Beschleunigung 109, 112, 282–284, 289 Great Chain of Being 212 Greenpeace 136, 142 Grenzen des Wachstums, Limits to Growth 112, 136, 138, 245 Große Beschleunigung, s. Great Acceleration großskalig 108, 110, 113–116 Grüne Filmstudien 271, 275–280 Grünen, Die (Partei) 23, 136, 142 Gut-Böse-Schema 237, 249, 251, 253 Haikudichtung 213 Handel, s. Ökonomie Happening 285, 287f. Harmonie, harmonisch 153, 157, 194, 196, 199f., 208 Haustiere 27, 70, 77 Heimat, heimatlich 22f., 85, 98, 124, 129, 189, 261, 267, 276 Heimatfilm 125 Heimatschutz(-bewegung) 136–138 Hermeneutik, hermeneutisch 94, 103, 130, 156 Historische Diskursanalyse 72 Hollywoodfilm 250, 272–276 Holocaustliteratur 130 Homunkulus 64 Human-Animal Studies 69–71 Humangeschichte 114 Humanimalia 68, 95 Humanismus 26, 49, 51, 53, 69, 123, 131, 220, 223 Humanökologie 111, 123 Hybridisierung, Hybridität 22–24, 84f., 258, 264

Hyperobjekt 100, 115 Idealismus 69 Identität 24, 36, 73, 83f., 90, 124, 163, 166–168, 264 Idylle 14, 126, 187f., 191–195, 202, 261 Immunologie 33 Imperialismus 28, 77, 83, 99, 101 Indianische Ureinwohner Nordamerikas 21, 250, 254 indigen 21, 47, 81, 83–89, 91, 222, 250, 253, 254 indigene Rechte 81 Indigenes Theater 222 Industrialisierung, Industrie-, industriell 46, 57f., 87, 90, 108, 126, 141, 160, 163f., 178, 195, 198, 200–202, 206, 214, 234, 253, 266, 283–285, 292 Informatik 69, 285 Innenwelt 36–38 instrumentelle Vernunft 162f., 166, 284 Interaktion, Interaktivität 34–37, 50, 115, 221, 224, 230, 279, 286, 288 Interdisziplinarität, interdisziplinär 9f., 13f., 32f., 41, 69, 95, 97, 107, 124, 128f., 148, 155f., 245, 258, 271 Interrelation, s. Wechselbezüglichkeit Jagd 46, 69, 77, 128, 151 Jurisprudenz 69 Kapitalismus 46, 90, 101, 139, 191, 197 Katastrophe 15, 87, 90, 114, 142, 51f., 179, 189, 224, 238, 241, 245–253, 255, 263, 265, 274f. Katastrophenliteratur 247 Klima, klimatisch 78, 82f., 98, 136, 148, 152, 197f., 226, 233–236, 239–242, 245

Sachregister

Klimadebatte, Klimawandeldiskurs 224, 234, 245 Klimaflüchtlinge 152, 227, 264 Klimakatastrophe, s. Klimawandel Klimakrieg 246, 264 Klimaskeptizismus 224, 226, 240 Klimaforschung, Klimawissenschaft 69, 97, 114, 233, 245, 249 Klimawandel, -krise, -katastrophe, -kollaps 14f., 57, 99, 108–110, 114, 116, 129, 136, 152, 156, 223–225, 227, 233–242, 245–247, 249, 253, 258, 265, 277 Klimawandelliteratur, -roman, -drama 15, 116, 222, 225–227, 233–242, 245f., 249, 279 Kolonialgeschichte 83, 85 Kolonialismus, (neo-)kolonial 23, 25, 77, 81–89, 143, 253 kolonialismuskritisch, Antikolonialismus 44, 84 Kommunikation, Kommunikations- 32– 34, 38, 102, 107, 128, 161, 165, 177–179, 233, 236, 248, 252, 261, 280, 282 Komödie 219, 226 Konstruktivismus, konstruktivistisch 14, 37, 160f., 163, 166–169, 174 Konsumgeschichte 157 Konversionsnarrativ 238 Körper, körperlich 27f., 40f., 48–54, 58f., 61–64, 68, 75, 115, 128, 169, 178, 181, 199, 201, 210, 219, 222, 227, 230, 264, 288 Kosmopolitismus 24f., 27, 100 Krankheitserreger 27, 51, 148 Krisenrhetorik 100 Kritische Theorie 11, 14, 75, 160, 163, 165–169 Kultivierung, Kultiviertheit 22, 192f., 259 Kultur, kulturell 12f., 21f., 23–29, 34, 40,

307

45–55, 57–59, 70–73, 75f., 81f., 85–89, 91, 100–103, 107f., 111–116, 123, 124, 125f., 128–132, 152, 154, 156f., 162f., 168f., 172–182, 193f., 196f., 200–202, 206, 210, 213, 215, 220, 223, 226, 228, 233f., 236, 238f., 243, 254, 258, 260f., 264, 267, 273, 276, 282–284, 288f., 296 Kulturelles Gedächtnis, kulturelles Archiv 130, 131, 149, 177 Kulturgeographie 124 Kulturgeschichte, kulturgeschichtlich 11f., 124, 149, 206 Kulturkritik, kulturkritisch 131, 139, 177f., 182, 193 Kulturlandschaft, kultivierte Landschaft 108, 125, 191 Kulturökologie 9, 12, 14, 126, 131, 150, 160f., 172f., 175–177, 189, 201f., 220, 258–260, 263, 265, 267f. Kultursemiotik 33, 38, 41 Kulturtheorie, kulturtheoretisch 24f., 29, 116, 128 Kulturwissenschaft, kulturwissenschaftlich 9–12, 14, 22, 24, 41, 48, 68–71, 76, 78, 86, 91, 94f., 100–103, 107, 112f., 116, 125, 156, 172, 174, 176, 219, 233 Kunst, Künste, künstlerisch 9–15, 100f., 107, 115f., 125–127, 131, 150, 162–165, 188, 191, 194, 196, 201, 211, 214, 220– 222, 224–227, 231, 249, 282–290, 293, 295f. Kunstgeschichte, Kunst-/Bildwissenschaft 10, 15, 26, 69, 76, 94, 103, 151, 282, 287, 289, 292, 295f. Kunstkritik 164, 289, 295f. Kunstmärchen 153 Kunstwerk, Kunstprojekt 12, 150, 165, 168f., 206, 211, 284, 286, 290f., 295

308

Sachregister

Künstler/-in 84, 227, 282–287, 289–292, 294–296 künstlich, Künstlichkeit, artifiziell 52f., 111, 165, 241, 263, 295 L’art pour l’art 289f. L’art pour le service, Kunst als Dienstleistung 290 Labor 52f., 65, 70, 75, 96, 254, 293, 295 Land Art 285 Landleben 129, 191f., 198 Landlebendichtung 187, 191, 197 Landmark Legends 89 Landnahme 88f. Landnutzungssysteme 148 Landschaft, landschaftlich 14, 23, 58, 83, 98f., 108, 125, 129, 137f., 151, 168, 181, 187f., 191, 208–210, 212, 221f., 254, 267, 275f., 284, 288 Landwirtschaft, s. AgrarLeben, lebendig, Leben- 27f., 33–36, 40, 45–47, 49f., 52, 54f., 62, 68, 70, 72, 74, 77, 82, 86f., 100f., 111, 113, 129f., 138, 140, 149, 152, 156, 162, 177–181, 187– 192, 194, 196–202, 208–210, 212, 219f., 223f., 226–230, 235, 239, 241f., 246f., 250, 253, 255, 260, 263f., 266f., 272, 274, 277f., 283, 286, 288f., 291–296 Lehrgedicht 197, 208, 212 Limits to Growth, s. Grenzen des Wachstums Linguistik 26, 69 Literaturdidaktik, Kunstdidaktik 259, 291f. Literaturgeschichte 97, 154, 181 Literaturwissenschaft, literaturwissenschaftlich 9, 11, 14, 21f., 24, 26, 69, 76–78, 81,

84, 86, 91, 94, 96f., 100, 114, 116, 123–129, 132, 150f., 155–157, 165, 167, 172–174, 199, 219, 235f., 248, 258, 260, 271 locus amoenus 187, 191, 193 Lokalismus 11, 21f., 24, 112f., 238, 245, 251 Lyrik 14, 126, 162, 164, 187, 205–215 Macht 46, 50, 72, 152, 197, 223, 266, 283 Machtverhältnisse, -strukturen 44, 48–50, 54, 71f., 86, 112, 178 Mainstream 142, 227, 265f., 283f., 288 Malerei 151, 162 Massentierhaltung 69 Material Ecocriticism 57–60, 63–66, 169, 174, 176 Material Ethics 54 Material Turn 48–54, 155 Materialismus, materialistisch 13, 48, 124, 163, 165f., 168f., 174, 210, 283 Materie, Materialität, materiell 23, 34, 40, 47–55, 57–59, 62–64, 66, 74f., 100, 114f., 131, 155, 161, 163, 168f., 176, 189, 210, 220, 230, 276, 279, 288, 291f. Medien 9, 13, 23f., 38, 77, 107, 115f., 140, 142, 148, 156, 239f., 242, 248, 258, 275, 284, 293, 296 Medienwissenschaft 69, 76, 94, 98, 102, 124 Medizin, medizinisch 13, 32, 51, 54, 68f., 99, 230, 291 Mensch, Menschheit, menschlich 12, 14, 25–30, 32–36, 47–54, 57–65, 68–78, 82f., 86–91, 97–100, 103, 107–112, 114–116, 127–129, 131, 138, 149, 151, 153, 154–157, 161–166, 168f., 175, 177–179, 181, 188f., 193–202, 206–210, 212, 214, 219, 221, 223–230, 233–236, 238,

Sachregister

240–242, 245, 248–254, 258f., 261, 263– 265, 267, 273f., 282f., 287f., 290–292, 294–296 Menschentier 100 Menschenzeit, s. Anthropozän Menschheitsgeschichte 97, 99, 114 Mensch-Natur-Verhältnis 14, 21, 23, 25, 29, 47f., 57, 82, 86, 89, 99, 103, 109–111, 115, 126, 131, 148–150, 153f., 157, 162– 164, 166, 168, 181, 187f., 193, 199–202, 206f., 212, 251, 260, 265, 271, 273, 275 Mensch-Tier-Verhältnis 14, 48–50, 69f., 72–78, 87f., 91, 153, 157, 188f., 214, 223, 227–229 Merkmalträger 37 Merkorgan 37 Mestizaje 24 Metaphysik 74, 180, 287 Methoden 71f., 76, 78, 86, 94, 103, 132, 137, 141, 148, 207, 227, 276 Migration, -prozesse 24, 84, 88f., 91, 148, 239, 253 minimalistische Kunst 285 Mitigation, s. Verminderung Moderne, Modernisierung, modern 14, 23, 33, 49, 58, 63, 72, 83, 89, 99f., 111, 126, 228, 238, 254, 263., 266f. Modernisierung 91, 129, 177, 195, 262 Molekularbiologie 38 Moral, moralisch 28, 54, 64, 87f., 102, 113, 151, 193, 195, 234, 236, 242 Multispecies Ethnography 27 Multispecies Justice 13, 29f. Musik, Musikwissenschaft 42, 69, 164, 224, 258 Mutation 40

309

Nabu (Naturschutzbund Deutschland e.V.) 136f. Nachahmung 194 Nachhaltigkeit 11, 96, 98, 113, 245 Naivität 193 Narrativ(e) 98f., 103, 114, 116, 129, 148, 156, 169, 202, 234, 237f., 241f., 247, 249, 261f., 266 Narratologie, narratologisch 12, 42, 258, 265 National Sacrifice Areas 90 Nationalsozialismus 23, 124, 137, 262 Natur, natürlich 11f., 15, 21, 23, 26, 30, 34, 46, 48f., 51, 54, 57f., 60, 64, 68, 75, 81– 86, 88, 91, 96–101, 103, 108, 111, 113–116, 123–129, 131, 136, 138f., 148, 153f., 156, 161–169, 172–181, 187–189, 192–194, 196, 199f., 206, 208f., 210–214, 221f., 237, 245, 253f., 258–261, 263, 267, 273, 276f., 284 Naturästhetik 11, 126, 131, 149, 160, 162f., 168 Natur als kulturelles Projekt 131 Natur als Metapher, als Chiffre 126, 188, 220 naturalistisch 176, 219 Naturbeherrschung, -unterwerfung, -ausbeutung 44, 46, 115, 127, 151, 153, 162, 168, 178, 199f., 219, 245, 284 Naturbilder, Naturdarstellung 9, 125f., 143, 154, 156f., 165, 173, 190, 192, 194, 196, 202, 206–210, 213, 222, 258f., 261f., 271, 275f. Naturdichtung, Naturlyrik 14, 21, 205–214, 259 Naturdokumentation 125, 272, 275 Naturentfremdung, s. Entfremdung Naturerfahrung, Naturerlebnis, Natur-

310

Sachregister

wahrnehmung 21, 23f., 99, 149, 162f., 168, 193, 202, 206f., 209, 213, 221, 263, 272 Naturethik, ökologische Ethik 98, 101, 124, 160, 192 Nature Writing 10f., 125, 168, 173 Naturgedicht 126, 195, 206, 208f., 211, 215 Naturgefühl 124 Naturgeister 153, 188 Naturgeschichte 72, 99, 114 Naturgewalt, Naturkräfte 60, 149, 151f., 224, 262 285, 287 Naturkatastrophe 129, 150–152 Naturkinder, Kind(heit) und Natur 154, 194, 196, 259, 261, 265 NaturKultur, Natureculture 12, 48, 50, 52, 57, 65f., 114, 227 Naturliebe 138, 189, 192f., 239 Naturlyrik, s. Naturdichtung naturmagisch 210, 225 Naturmystik, Naturmystizismus 45, 164 Naturphilosophie 160f., 163, 207f., 212f., 254 Naturschutz(-bewegung), Naturschutzgebiete 14, 21, 28, 47, 81f., 85–87, 110, 124, 136–139, 142f., 148, 193, 201, 265f., 274 Naturspiritualismus Natursprache 160–162, 165f., 169, 261 Naturstaatutopie, Naturstandsutopie 14, 195–197, 202 Naturvölkerutopie 196 Naturvorstellung, -begriff, -konzept 21, 24, 45–47, 57, 59, 83, 97, 99, 110, 124, 126f., 131, 138, 149, 151, 153f., 156f., 161f., 166–168, 172, 175, 187f., 192–194, 196, 199f., 202, 206–208, 210–212, 221, 251, 253, 259f., 262, 287 Naturwissenschaft 26, 52, 68f., 86, 77,

94f., 102–104, 111, 113, 123, 149, 154, 156, 174, 180, 215, 226f., 233f., 236, 239f., 248, 259 Naturzerstörung 99, 109, 116, 153, 214, 259, 264, 280 Nebenfolgen (unbeabsichtigte) 57, 111 Netzwerk 37, 75, 115 Neurosemiotik 32 New Age 127, New Materialism 11, 13, 26, 44, 48–55, 57–66, 71, 75, 100f., 155, 174, 176, 189 New Vitalism 26 nichtanthropozentrisch 51, 168 Nomadismus 24 Noosphäre 34 Novelle 77, 125 Nukleartechnologie 14, 223 Nutztiere 70, 77 Ökoalarm 143, 155 Ökodiktatur 253 Ökofeminismus 11, 13, 44f., 47f., 50f., 54, 59, 274 Öko-Institut 141f. Ökokatastrophe, s. Umweltkatastrophe Ökokosmopolitismus 11, 13, 21, 24f., 27–30, 240, 255 Ökokrise, s. Umweltkrise Ökokritik, s. Ecocriticism Ökologie, ökologisch 57, 59, 68f., 72, 75, 77, 78, 81–83, 86f., 91, 96, 100f., 113, 116, 123, 138, 140, 143, 149–151, 153, 157, 161, 167, 172–176, 187, 190, 196, 198– 202, 205–207, 209, 211f., 214f., 219f., 223, 230f., 233, 236, 238–240, 246, 250, 253–255, 258–260, 263–268, 273–276, 278f., 285, 288f. Ökologisch orientierte Literaturwis-

Sachregister

senschaft, s. auch Ecocriticism 11, 123–125, 128, 132, 150, 155–157, 172f., 219, 221f., 229 ökologische Ästhetik 160f., 163–165, 169 ökologische Ethik, s. Umweltethik Ökologischer Kolonialismus, s. Kolonialismus Ökolyrik 205f., 212, 214f. Ökonomie, Handel 54, 101, 110, 112, 148, 166, 208f., 254 Ökosemiotik 32, 42 Ökosophie 252 Ökosystem 23–25, 83, 174, 176, 190, 220, 223, 251, 285, 288, 296 Ökothriller 15, 237, 245–250, 252f., 255 Ökotopie 14, 197, 199–202, 253 Ökozentrismus 295 Ökozid, s. Umweltkatastrophe Organismus 32–38, 40, 157, 190, 202, 220, 251f., 259 Paradies, paradiesisch 196, 262 Pastoralästhetik 81–83, 85 Pastorale 83, 86, 129, 189–192 Pegnesischer Blumenorden 191 performativ 64f., 230 Pflanzen 27, 29, 34f., 52, 58f., 66, 78, 83, 87, 108, 148, 153, 157, 188f., 193, 198– 200, 210, 212, 222, 262 Phänomenologie 11, 99, 123, 131 Phänotyp 38 Philosophie 11, 13, 23, 25, 27, 44, 46, 48f., 69, 74, 76, 94, 98, 100f., 111, 113, 115, 123–125, 157, 161, 168, 180, 207, 209, 278, 285, 289 Physik 35f., 38, 49, 61, 69, 107, 190, 223, 226, 241, 286, 289, 291 Physikotheologie 126, 211

311

Physiologie 68f., 210 Phytosemiotik 32 Pikaresker Roman 238 Planet, planetarisch, s. Erde Plastik 108, 162 Politik, politisch 10, 15, 21–26, 28, 44, 46–48, 52, 62, 70, 72, 74f., 81, 83, 91, 107, 111–113, 123f., 127, 130, 136–143, 149, 152, 168f., 176, 180, 190, 201, 205– 207, 214, 220, 223f., 226, 230, 233–235, 237, 239, 241, 245, 248, 251, 254, 258, 262, 267, 271, 274, 277f., 283, 289, 293 politische Ökologie 72, 75, 77 politische Zoologie, s. Zoologie Politikwissenschaft 69, 112f., 124, 136, 165, 199 Pop-Art 283, 285 Positivismus 68 Postcolonial Studies 11, 13, 21–24, 44, 47, 82, 84, 87, 99, 172, 180 Postdramatisches Theater 224 Posthumanismus, posthuman 12f., 24–27, 51, 100, 107, 114–116, 263 Postkolonialer Ecocriticism 81–92, 99 Postkolonialismus, s. Postcolonial Studies Postmoderne, postmodern 48, 66, 97, 130, 172, 175f., 180, 182 Poststrukturalismus 44, 48, 66, 71, 73, 84, 97f., 130, 160, 165f., 168, 172, 175 Protest 44, 139, 141 proto-ökologisch 83, 190, 194, 200 Quantenphysik 64, 174 Queer Ecology 48, 229 Queer Studies 11, 44, 174 Rachel Carson Center for Environment and Society (RCC) 96, 124, 129

312

Sachregister

Radioactive Colonialism 82 Rassismus 78, 87, 124 Raum 14, 22, 24, 28, 34f., 58, 64, 84–86, 88, 116, 137, 157, 188, 195, 201, 220f., 223, 228, 238f., 260f., 264 rechtsradikale Ökologie 127 Reisebericht, Reiseliteratur 130, 151, 195, 198, 246 Relationalität, s. Wechselbezüglichkeit Renaturierung 131, 201 Resilienz 111 Ressourcen (natürliche) 83f., 110, 139, 154, 157, 209, 253–255, 279, 282, 295 Risikonarrativ 129, 156, 235–237, 241f. Risikowahrnehmung 15, 130 Robinsonade 262 Romantik 10, 21, 60, 83, 97, 124, 126–128, 153, 156, 173, 175, 180, 200, 209–211, 213, 259, 273 Russischer Formalismus 211 Satire, satirisch 240–242, 274, 279 schweizerische Literatur 127, 129 Science Fiction, Science-Fiction-Literatur 30, 52, 54, 115, 198, 237f., 242, 246–248, 252f., 275 Selbstorganisation 251 Semiose 32 Semiosphäre 33–35 Sense of Place 22f. Sensibilisierung, Sensibilität 55, 98, 102, 111, 131, 205, 229, 255, 259, 266 sentimentalisch 156, 193–195 Sexismus 78 Sozialwissenschaften 26f., 69, 77, 91, 111, 124, 136, 156, 225 Spätmoderne 130, 238 Spannung 15, 237, 247–250, 255

Spezies 50, 63, 87, 112, 114f., 157, 230, 250f., 294 Speziesismus 78 Spiritualismus, spirituell 44f., 174, 180, 225, 250f., 253, 283 Stadt, Stadtraum 28, 57, 84–87, 89–91, 97f., 128, 143, 175, 187, 191–193, 198, 253, 260–262, 278 status naturalis 195f. Stoff- und Motivgeschichte der Natur 156, 207f., 260f. Stratigraphie 107f. Subjekt 26, 37f., 53, 60, 62–64, 70, 72f., 108, 112, 162f., 165f., 224 Subjekt-Objekt-Verhältnis 60f., 100, 115, 164, 169, 200, 210, 227 Subjektivität 205, 212, 240 Subjekttheorie 73, 160f. Sundarbans 28f., 87 Suspense, s. Spannung Symbol 23, 35, 126, 131, 178, 209f., 219, 228–230, 258–261, 265, 268, 283, 288 sympatethische Natur 188f. Systempoesie 213 Systemtheorie 26, 128, 285 Systems Art 285–287 Taxonomie 70 Technikgeschichte 98, 124, 148, 150 Technikkatastrophe 87, 111, 128, 136, 140, 142, 150–152, 224, 263 Technikkritik, Technikskepsis 137, 151 Technologie, technologisch 24, 48, 52, 55, 63, 68, 98, 109–112, 124, 126f., 141, 162, 175, 178, 225, 237, 245f., 248f., 254, 283f. 293, 296 Territorialität, territorial 81, 83–85, 88–90 Theaterwissenschaft 14, 69, 219–221, 228

Sachregister

Theologie 69, 94 Thriller 237f., 242, 246–250, 252f. Tiefenzeit 113f., 116f. Tiere 27, 30, 32, 34–36, 41, 46, 48, 52, 58, 66, 68–78, 83, 87f., 108, 151, 153, 156f., 188f., 193, 198, 202, 210, 214, 222, 227– 230, 239, 262, 267f., 272, 285, 292f. Tierfilm 272 Tierfrieden 189 Tiermedizin 68 Tierrecht 70 Tierschutz 28f., 44, 70, 76f., 87, 198, 200 Tierstudien, s. Animal Studies Tiertheorie 73 Tierversuche 77, 98f. Tier-Werden 72f. Tierwort, s. Animot Totemismus 76 Toxic Pastoral 90 Toxische Topographien 89f. Toxizität, toxisch 44, 51, 58–60, 87 Tragödie 63f., 219 Traktat 195, 197 Trans-Corporality 50, 52, 63 Transdisziplinarität, transdisziplinär 13, 94, 98, 102–104, 107 Transformationsprozesse, ökologische 9, 129, 173, 233, 236 Transkulturation 84 Transport 83, 148, 282, 296 Treibhausgase 108, 139, 233–235, 264 Tschernobyl 136, 140, 142, 152, 224, 263 Überleben 33, 35, 38, 40, 53, 87, 89f., 92, 109, 131, 177, 219, 223, 239, 248, 251f., 264, 293 Umwelt 22, 25, 35–38, 40f., 44, 46, 49–51, 55, 57f., 64f., 82, 84, 94, 96–101, 103,

313

109f., 125f., 128f., 148f., 154–156, 162, 164, 168f., 173, 196, 202, 222, 227, 241, 247, 258, 260, 262, 264, 267f., 271, 274, 291, 295 Umweltbedingungen 40, 82, 85, 148f., 151, 154, 200, 296 Umweltbegriff 168, 221 Umweltbewegung 10, 14, 22f., 124, 127, 136–145, 148, 160, 242, 282f. Umweltbewusstsein 15, 47, 130, 136, 198, 238, 240, 253, 260, 268, 291 umweltbezogen 10, 21f., 24, 26, 57, 94, 97, 126f., 219, 271, 273, 277 Umweltdebatte 25, 94, 113, 123, 136, 140, 245, 292 Umweltdenken 24–26, 29f. Umwelterfahrung, s. Umweltwahrnehmung Umweltethik 14, 22, 94, 96, 99, 130, 160, 165f., 169, 238, 241, 260 Umweltfilm 271–280 Umweltforschung, Umweltwissenschaften 95f., 104, 107, 245, 249, 251 Umweltgerechtigkeit, Environmental Justice, ökologische Rechte 11, 22, 28, 81f., 98, 114, 174, 254, 271, 293 Umweltgeschichte, umwelthistorisch, Environmental Studies 14, 94, 96– 98, 100, 104, 124, 136, 138, 140, 142, 148–157, 206, 262, 272 Umweltgesetzgebung 23, 292 Umweltkatastrophe, Ökokatastrophe 111, 129, 214, 245–249, 252, 255, 265 Umweltkrise 25, 95, 108, 113, 219f., 245–247, 249, 258, 263 Umweltliteratur 23f., 125, 247, 249 Umweltmanagement 109f., 124

314

Sachregister

Umweltorganisation 28, 136, 140, 291 Umweltphilosophie 24, 59, Umweltpolitik 23f., 107, 139–143 Umweltrisiken 130, 260, 271 Umweltschäden, -zerstörung, s. auch Naturzerstörung 28, 62, 81, 90, 94f., 101–103, 109f., 131, 143, 190, 233, 250, 263–265, 276, 283, 289, 291f. Umweltschutz(-bewegung), s. auch Naturschutz 23, 44, 96, 136–147, 201, 260, 282 Umweltschützer 224f., 239, 251, 261, 265, 288, 290 Umweltskandal 143, 148 Umweltthema 64, 94, 98, 123, 125, 136, 143, 149f., 219–221, 247, 258, 273f., 278 Umweltwahrnehmung, s. auch Naturwahrnehmung 130, 149f., 154, 164, 168, 202, 239 Umweltwandel 109, 125, 237 Umweltverschmutzung 28, 51, 98, 108, 126, 149, 151, 156f., 198, 201, 223, 250, 258, 260, 289, 291 Umweltzerstörung, s. Umweltschäden Unsicherheit 69, 235–237, 242 Urban Ecology 175 Urbanisierung 10, 57, 82, 148, 292 Utopie 127, 138, 154, 187, 189f., 195–201 vacuum domicilium 83 Veganismus 46, 70 Vegetarismus 46, 70, 197f., 263 Verein Naturschutzpark 137 Vergiftung, s. Toxizität Verkehr 148, 198 Verletzbarkeit/Vulnerabilität 109, 112, 153, 285

Verminderung/Mitigation 109f., 291 Vernetzung(-stheorie) 61, 63, 97, 100, 115, 251 Virgin Land 83 Vitalismus 210, 213 Vormoderne, vormodern 89, 199, 202, 250f. Wackersdorf 141 Waldsterben 136, 140f., 149, 152 Warnliteratur 15, 54, 152, 155, 225, 242, 246f., 250, 252, 255, 263, 273 Wechselseitigkeit, Wechselbezüglichkeit 50, 66, 168, 179, 188, 190, 254 Weltgärtner 110f. Weltklimarat (IPCC) 109, 234, 236, 245 Weltrisikogesellschaft 237, 240 Wetteranomalie 235, 240 Wetterphänomene 12, 59, 61, 64, 222, 234, 288 Why look at Animals 75 Wildnis, Wilderness 10, 21–23, 29, 58, 82, 85f., 98, 125, 156, 168, 191, 208, 227 Wildtiere 70 Wirkmal, Wirkmalträger 37 Wirkorgan 37 Wirkwelt 36f. Wirkzeichen 37f. Wissenspopularisierung 15, 107, 245, 248, 255 Wohn- u. Lebensformen, s. Dwelling Worpswede (Künstlerkolonie) 125 Wyhl 141 Zeichen 13, 32–34, 37f., 40, 165, 179–181, 213f.

Sachregister

Zeichenprozesse, Zeichensystem 32–35, 38f., 165 Zirkus 77 Zoo 75 zooantropologia 27 Zooësis 228 Zoologie 68f., 72, 77 Zoosemiotik 32

315

Zucht, Züchtung 52, 69, 75, 151, 199f., 223, 293, 295 Zukunft, zukünftig 15, 25–27, 52, 76, 78, 84, 91f., 102f., 108f., 114, 116, 139, 143, 151, 154, 195, 198f., 202, 223, 225f., 234, 238, 242, 245–247, 253, 255, 263f. Zukunftsszenarien 201, 233, 235–237

GOT TFRIED WILLEMS

GESCHICHTE DER DEUTSCHEN LITER ATUR

Die Literaturwissenschaft wirkt heute oft wie ein Flickenteppich von Spezialgebieten, der nur in seltenen Fällen zu einem Gesamtbild der geschichtlichen Entwicklung zusammenwächst. Diese fünf bändige deutsche Literaturgeschichte will Studierenden einen Leitfaden an die Hand geben, mit dem sie sich ein Gesamtbild vom 16. Jahrhundert bis zur Klassischen Moderne im Zusammenhang erarbeiten können. Jeder Band ist dabei auch einzeln für sich verständlich und kann als Einführung in die Literatur der jeweiligen Großepoche dienen. BAND 1

BAND 3

BAND 5

HUMANISMUS UND

GOETHEZEIT

MODERNE

BAROCK

(UTB 3734 M)

2015. CA. 352 S.

(UTB 3653 M)

2013. 384 S.

BR. 150 X 215 MM.

2012. 399 S.

BR. 150 X 215 MM.

ISBN 978-3-8252-4249-7

BR. 150 X 215 MM.

ISBN 978-3-8252-3734-9

ERSCHEINT IM HERBST 2015

ISBN 978-3-8252-3653-3 BAND 4 BAND 2

VORMÄRZ UND

AUFKLÄRUNG

REALISMUS

(UTB 3654 M)

(UTB 3874 M)

2012. 313 S.

2014. 392 S.

BR. 150 X 215 MM.

BR. 150 X 215 MM.

ISBN 978-3-8252-3654-0

ISBN 978-3-8252-3874-2

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