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German Pages [288] Year 2002
dtv-Atlas zur Baukunst Tafeln und Texte
Allgemeiner Teil Baugeschichte von Mesopotamien bis Byzanz
Band"!
Über dieses Buch
Das Bedürfnis des Menschen, seine Behausung standfest, dauerhaft und unabhängig vom Zufall zu gestalten, ist uralt. So entdeckt er Baumaterialien, mechanische und statische Gesetze und findet in der Natur die Vorbilder für schmückende Ornamente. Sehr früh schon zeigen vor allem Repräsentations- und Sakralbauten durchdacht konstruierte und ästhetisch verfeinerte »Baukunst«. Vorwiegend von politisch-religiösen Gegebenheiten bestimmt, ist die Stilgeschichte zugleich Kulturgeschichte und Spiegel der allgemeinen Historie. Der erste Band des >dtv-Atlas zur BaukunsU ist gegliedert in: Allgemeiner Teil/Baugeschichte. Die Baugeschichte des europäischvorderasiatischen Raums reicht im ersten Teil von den Hochkulturen des Zweistromlandes bis zur frühchristlichen Architektur. Geographische Übersichtskarten und Zeittafeln leiten die einzelnen Kapitel ein. Der allgemeine Teil zeigt die vielfachen Möglichkeiten zur Gestaltung einzelner Bauelemente (z. B. Dach, Fenster, Treppe), deren Grundformen sich durch alle Stilepochen hindurch bis in unsere Tage erhalten haben. Der zweite Band wird die Baugeschichte von der Romanik bis zur Gegenwart umfassen.
Werner Müller/Günther Vogel: dtv-Atlas zur Baukunst Tafeln und Texte Graphiker: Inge und Istvän Szäsz Bandl Allgemeiner Teil Baugeschichte von Mesopotamien bis Byzanz Mit 130 farbigen Abbildungsseiten
Deutscher Taschenbuch Verlag
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Originalausgabe 1. Auflage September 1974 3. Auflage März 1979: 46. bis 60. Tausend ) 1974 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Gesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Offsetreproduktionen; Amann & Co., München Printed in Germany - ISBN 3-423-03020-8
Vorwort Der dtv-Atlas zur Baukunst soll den Leser In Wesen, Aufgaben und Geschichte der Baukunst einführen und ihm das tiefere Eindringen in dieses komplexe Teilgebiet der Kunstgeschichte erleichtern. Diese Absicht war ausschlaggebend für Gestalt und Aufbau des Buches. Der erste Teil des vorliegenden Bandes informiert über die in der Architektur zu allen Zeiten ähnlichen technischen und künstlerischen Probleme und die verfügbaren Mittel (Bauelemente) zu ihrer Bewältigung. Diese Einführung soll dazu beitragen, Bauwerke als große, künstliche Organismen, d. h. als logische Zusammenfügung ihrer Einzelelemente zum künstlerisch beherrschten Ganzen, zu verstehen. Die ausgewählten Beispiele stehen zum zweiten Hauptabschnitt in Bezug, der den größten Teil des ersten Bandes und den ganzen zweiten Band ausfüllt. Er umfaßt in chronologischer Reihenfolge wichtige Epochen der Baugeschichte. Jede ist auf gleiche Weise in eine Darstellung der Bauformen (Stilkunde) und eine Typologie der wichtigen Gebäudearten in Gesamt- und Einzeldarstellungen gegliedert. Der Atlas bietet vergleichsweise eine Art räumliches Koordinatensystem : der Leser kann sich darin sowohl über den Gesamtablauf der Baugeschichte (»vertikal«), als auch über Einzelepochen (»horizontal«) informieren. Im Übergang zu vergleichender Stilkritik oder Typenkunde können Einzelpunkte dieses Systems beliebig miteinander verknüpft werden. Es soll dazu anregen, durch weitere, ergänzende Lektüre und eigene Beobachtung die Lücken zwischen den Punkten zu füllen. Mit dem »Mut zur Lücke« mußte dieses Buch konzipiert werden, denn der vorgegebene Rahmen des Taschenbuches läßt von vornherein Vollständigkeit nicht zu. Die Autoren bitten dafür um Verständnis. Sie sind für Hinweise, Kritik und Korrektur empfänglich. Sie danken an dieser Stelle allen, die durch Hilfe und Mitarbeit ihre Arbeit unterstützt haben. Bielefeld und Titisee-Neustadt/Schw., im Frühjahr 1974
Inhalt Vorwort
S
Verzeichnis der Abkürzungen und Fachausdrücke Einleitung
8 11
Architektur als autonomer ProzeB Architektur: Abhängigkeit und Autonomie 14 - Ordnung des Lebensraumes 16 — als Korper 18 - als umbauter Raum 20 - als Körper und Raum l 22 — als Körper und Raum 2 24 - als Gleichgewicht der Kräfte 26 Bauelemente
Bauelemente I/Wand l
28
-
30 32 34 36 38 40
H/Wand 2 HI/Wand 3 IV/Stülzen I V/Stützen 2 VI/Dach l VIl/Dach 2
- VIII/Dach 3
42
-
44 46 48 50 52 54 56
IX/Gewölbe I X/Gewölbe 2 XI/Gewölbe 3 XI I/Flache n trag werke XIU/Treppen l XIV/Treppen 2 XV/Treppen 3
Das Bauwerk als Organismus Das Bauwerk als Organismus I/ Ackerbürger haus in Niedersachsen - II/Der Aphaia-Tempel auf Aigina - III/Die Hagia Sophia in Konstantinopel - IV/Die Kalhedrale von Arniens - V/Die kleine Olympia-Sporthalle in Tokio
58 60 62 64 66
Architektur als geschichtsbedingte Form 71 Zeittafel: Von der Steinzeit bis zur Gegenwart 74 Zeittafel: Frühe Hochkulturen und Antike 76 Hochkulturen/Grundlagen der Zivilisation 78 Mesopotamien Mesopotamien/Beginn der Architektur - /Hochkulturen (Karte) - /Zeittafel — /Bauformen: Grundelemente der Gliederung - /Typologie I: Wohnformen der Frühzeit - /Typologie II: Städtebau I - /Typologie III: Städtebau 2
79 80 81 82 84 86 88
- /Typologie IV: Palast l
90
- /Typologie V: Palast 2 - /Typologie VI: Tempel l
92 94
- /Typologie VII: Tempel 2
96
- /Typologie VIII: Zikkurat 98 - /Der Charakter der Architektur in den HochkulUiren 100 Ägypten Ägypten/Grundlagen der Kultur 101 - /Zur Zeit der Pharaonen (Karte) 102 - /Zeittafel 103 - /Bauformen I 104 - /Bauformen II 106 - /Typologie I: Städtebau 108 — /Typologie II: Wohnhaus und Siedlung 110 - /Typologie III: Paläste 112 — /Typologie IV: Heiligtümer 114 - /Typologie V: Tempel 116 — /Typologie VI: Tempel und Palast 118 — /Typologie VII: Felsengrab und Totentempel 120 - /Typologie VIII: Mastaba und Pyramide 122 - /Typologie IX: Pyramiden 124 — /Religiöse Grundlagen der Architektur 126
Ägäis Ägäis/Die ersten europäischen Hocbkulturen 127 /Frühzeit (Karle) 128 /Zeittafel 129 /Baiiformen I 130 /Bauformen H 132 /Typologie I: Labyrinth und Megaron 134 - /Typologie II: Städtebau auf der Insel Krela 136 — /Typologie III: Wohnhäuser auf Kreta 138 - /Typologie IV: Minoischer Palast l 140 - /Typologie V: Minoischer Palast 2 142 - /Typoiogie VI: Burgstädte des Fesrlandes 144 - /Typologie VII: Mykenische Burgen 146 - /Typologie VIII: Kuppelgräber 148 — /Die erste europäische Architektur 150
-
Hellas Hellas/Politische und kulturelle Struk- •tur 151 - /Hauptlandschaflen der griechischen Antike (Karte) 152 - /Zeittafel 153 - /Bauformen I: Dorische Ordnung l 154 - /Bauformen II: Dorische Ordnung 2 156 - /Bauformen III: Dorische Ordnung 3 158 - /Bauformen IV: Jonische Ordnung l 160 - /Bauformen V: Jonische Ordnung 2 162 - /Typologie I: Städtebau l 164 - /Typologie II: Städtebau 2 166 - /Typologie III: Städtebau 3 168 - /Typologie IV: Städtebau 4 170 - /Typologie V: Städtebau 5 172
- /Tyoplogie VI: Wohnhäuser
174
— /Typologie VII: Kommunalbauten l !76 — /Typologie VIII: Kommunal bauten 2 178
Inhalt 7
- /Typolog e IX: Heiligtümer 1
180 182 184
- /Typolog e X : Heiligtümer 2 /Typolog e XI: Tempel 1 — - /Typolog e XII: Tempel 2 186 - /Typolog e XIII: Tempel 3 188 - /Typolog e XIV: Tempel 4 190 - /Typolog e XV: Tempel 5 192 - /Typolog e XVI: Tempel 6 194 - /Typolog e XVII: Propylon 196 - /Typolog e XVIII: Altäre 198 /Typolog e XIX; Theater 200 — - /Wandlungen und Wirkungen der 202 griech. Architektur Rom
Rora/Machtpolitik, Organisation, Zivilisation - /Das römische Weltreich (Karte) /Zeittafel — /Bau forme n I — - /Bauformen II - /Bauformen III /Typologie I: Städtebau 1 — _ - /Typologie II: Städtebau 2 /Typologie III: Städtebau 3 - /Typologie IV: Städtebau 4 /Typologie V: Städtebau 5 — - /Typologie VI: Wohnhaus 1 /Typologie VII: Wohnhaus 2 — _ /Typologie VIII: Villa und Palast 1 /Typologie IX: Palast 2 - /Typologie X: Basilika 1
203 204 205 206 208 210 212 214 216 218 220 222 224 226 228 230
— -
/Typologie XI: Basilika 2 /Typologie XII: Thermen 1 /Typologie XIII: Thermen 2 /Typologie X I V : Theater /Typologie XV : Amphitheater /Typologie XVI: Gebäude für Handel und Gewerbe /Typologie XVII: Ingenieurbauten /Typologie XVIII: Heiligtümer /Typologie XIX: Tempel /Typologie XX : Zentralbau 1 /Typologie XXI: Zentralbau 2
Frühes Christentum Frühes Christentum/Das oströmische Reich unter Justinian (Karie) - /Spätantike und frühes Christentum - /Bauformen - /Typologie I: Frühfornien christlicher Bauten - /Typologie II: Heiligtümer - /Typologie III: Basilika 1 - /Typologie IV: Basilika 2 - /Typologie V: Zentralbau 1 — /Typologie VI: Zentralbau 2 - /Typologie VII: Kuppelbasilika
232 234 236 238 240 242 244 246 248 250 252
254 255 256 258 260 262 264 266 268 270
Rom und Byzanz/Neuorientierung der antiken Kunst 272 Literatur- und Quellenverzeichnis Register
274 278
Verzeichnis der Abkürzungen und Fachausdrücke Abakus Aedicula, Ädikula Adylon Agora Akanihusblätter Akropolis Ala AUis Ambo Amphiprostylos Aniefix Anten Anlhemion Anuli Apodyterium Apsis Aquädukt, Aquaeducl Architrav Archivolte Arena Arkade Astragal Atrium Altika Aula Baldachin Baptisierium Basilika Basis Bastion Bf. Buleuterion Caldarium Canabae Capitol, Kapilol Cardo Castra, Casirum Cavea Cella Compluvium Cubiculum Decumanus D Jen sie Dipteros Displuvium Dom us Dromos Echinus Empore Enfilade Epistylion Euthynterie Exedra Forum Frigidarium Geison
Deckplatte bei Kapitellen (Tempelchen) aus Säulen, Giebel u.a. bestehende Umrahmung von Nischen, Portalen, Denkmälern unzugänglicher Raum im Tempel, oft das All erheiligste Markt- und Versammlungsplatz griech. Städte Dekorationselement nach Blätlern der Dislelart Bärenklau hochgelegene Burg Gebäudeflügel, bes. Seitenflügel des Atriums heiliger Hain, heiliger Bezirk kauzelartige Lesebühne Tempel mil freistehender Säulenhalle an beiden Giebelseiten vorgesetzte Schmuck platte, Stirnziege! vorgezogene Seiten wände verzierter Fries aus Ranken und Palmetten Ringe am dorischen Kapitell Auskleideraum in röm. Thermen an einen Hauptraum angebaute, meist halbkreisförmige Nische für Tribuna, Thron oder Altar Wasserleitung waagerechter, auf Stützen ruhender, den Oberbau tragender Hauptbalken von der Mauer abgesetzte Einfassung eines Rundbogens mit Sand bestreuter Kampfplatz im Amphitheater Folge von Mauerbögen auf Säulen oder Pfeilern Pertstab; ein ornamenlierter Profilslab Haupiraum des röm. Wohnhauses, später Vorhof altchristl. Kirchen Mauerst reife n über dem Hauptgesims (oft mit Inschriften, Plastiken u. ä.l Hof, großer Versammlungsraum, Palast Prunkhimmel, Traghimmel, Schutz- und Prunkdach über Allären, Nischen, Statuen Taufkirclie antike Halle, später Kirchentyp Fuß einer Säule, eines Pfeilers, einer Statue; Standfläche eines Gebäudes aus der Stadtmauer vorspringendes Verteidigungswerk Bauformen Rathaus griech. Städte Warmbaderaum in röm. Thermen Baracken, Buden, zivile Siedlung außerhalb eines röm. Militärlagers Ha up l lern pel bezirk (nach dem röm. Hügel gleichen Namens) Nord-Süd-Achse des röm. Castrum röm. Militärlager (Höhle) Zuschauerraum im antiken Theater zentraler Raum im Tempel (meisl mit Kultbild) röm. Airium mit nach innen geneigtem Dach Schlafzimmer im röm. Haus Ost-West-Achse des röm. Casirum Gotik: Innenwänden oder Pfeilern vorgelegte, dünne Säulen, die Gewölbe oder Bogen tragen Tempel mit umlaufenden doppelten Säulenhallen röm. Atrium mit nach außen geneigtem Dach Haus zu einem Hügelgrab (Tholos) führender Gang (Seeigel) Polster oder Wulst an Kapitellen in einen Raum eingebautes oder zu ihm sich öffnendes Obergeschoß, Galerie oder Tribüne Zimmerflucht, bei der die Türen in einer Achse liegen waagerechtes Gebälk am griech. Tempel oberste Schicht des Fundaments, unterhalb der Krepis des griech. Tempels meist halbkreisförmiger, angebauter Sitzplatz Markt- und VersammlungspJatz röm. Städte Kaltbad in röm. Thermen Kranzgesims am antiken Tempel
Verzeichnis der Abkürzungen und Fachausdriicke Gespärre Gurtbogen Gymnasion Hekatompedos Heroon Hexastylos Horreum, Horrea Hypokausten Hyposlyl Insulae isodom Jh. Jt. Kämpfer Kampanile Kanneluren Kapitell Kasematte Kassette Konsole Krepis Krypta Kubus Kyma, Kymation Lisene Loggia Martyrium Maßwerk Mastaba Mausoleum Megalithbau Megaron Mernoria Metope Monopteros Naos Narthex Naiatio Nekropole NN Nymphaeum Oktogon Opaion, Opäum Opisthodom Orchestra Orthostaten Palaistra, Palästra Pastophorien Pendentif Peripieros Peristyl Pilaster Piscina PHnthe Podium polygonal Porlicus Praetorium Presbyterium Pronaos
9
Sparrenwerk eines Daches Verstärkungsbogen, quer zur G e wölbe ach se Schule mi! Sport- und Badeanlagen Tempel mit hundert Fuß langer Tempelcelia KulIsiäHe eines Heros (Halbgottes) Tempel mit sechs Säulen an der Stirnseite Scheune, Speicher, Warenmagazin Fußbodenheizung mit Warm'uflkanälen Raum, dessen Decke von Säulen getragen wird. von Straßen umgebener Häuserblock, röm. Miethaus von gleicher Schichthöhe Jahrhundert Jahrtausend Zone oder Bauglied, das den Ansatz eines Gewölbes oder Bogens aufnimmt G locken l u rm senkrechte runde Rillen in Säulen oder Pfeilern der zwischen Stütze und Lasi vermittelnde Kopflei] einer Säule oder eines Pfeilers schußsicherer Raum in Festungen vertieftes, oft verziertes Feld einer Decke vorspringendes Bauglied, zur Aufnahme von Balken, Gesimsen, Gewölben, Plastiken u. ä. oberirdischer Stufen unterbau eines Tempels unterirdischer Gang, Grabstätte, Unterkirche Würfel, Block Ornamentleiste mit Blattwellen schmales und flaches, senkrechtes Mauerband zur Flächengliederung gewölbte Laube oder Säulenhalle Gedächtniskirche über einem Märlyrergrab got. geornetr., oft ornamentales Stabwerk zur Teilung von Fenstern und Baugliedern ägypt. Bankgrab monumentaler Grabbau Steinbau aus großen Blöcken Hauptraum mit Herd, frühe Form des Hallenhauses Gedächtniskirche für einen Märtyrer oder Heiligen Feld zwischen den Triglyphen des dor. Tempels, meist mit Plastiken oder Malerei geschmückt Tempel mit ringsum laufender, einfacher Säulenhalle ohne Cella (meist Rundbau) Tempel bzw. Kernbau des griech. Tempels Vorhalle zur frühchristl. Basilika Schwimmbecken in röm. Thermen Gräberstadt Höhe über Normalnull (Meereshöhe) Kultstätte der Nymphen und Quellheiligtum, Brunnenhaus Achteck »Auge«, Lichtöffnung im Dach oder in einer Kuppe) hintere Halle des Kernbaues im griech. Tempel Platz für Chor und Tanz im antiken Theater senkrecht stehende Steinblöcke oder -platten, die Mauersockel bilden Ringerschule Seitenräume neben dem Chor frühchristl. Basiliken (Sakristei, Umkleideräume) sphär. Dreieck, das vom Grundquadrat zur Kuppel überleitet Tempel mit allseitig umlaufender Säulenreihe von Säulenhallen umgebener Hof Wandpfeiler mil Basis und Kapitell Schwimmbassin; Taufbecken Fußplatte einer Säulen- oder Pfeilerbasis erhöhter Unterbau vieleckig Säulenvorhalle Amtssitz des Statthalters (Prälors), Feldherrnzelt Chor, um einige Stufen erhöhter Priesterraum der altchristl. Basilika Vorhalle des Kernbaues im griech. Tempel
10 Verzeichnis der Abkürzungen und Fachausdrücke Propylon, Propyläen Proskenion, Proszenium Proslylos Prytaneion Pylon Raster Risalit Rotunde Sanctuarium Schildbogen Segmentbogen Sima Skene, Scena Spira Stereobai Stoa Sturz Stylobat Substruktion Sudalorium Taberna Tablinum Taenia Teraenos Tetrastylos Thermen Tholos Torus Transennen Tribunal Triforium Triglyphe Trikonchos Triumphbogen Tumulus Tympanon Typ. Vierung Volule Ziborium Zikkurat Zingel Zisterne
Torbau ägäischer Paläste u. griech. Heiligtümer erhöhte Bühne im antiken Theater Tempel mit einseitiger Säulenvorhalle Magistratsgebäude in griech. Städten ägypt. Torbau, Pfeilerturm rechtwinkliges Liniennetz über die ganze Höhe eines Gebäudes vorspringender Bauteil Rundbau Allerheiligstes, Raum mit Kultbild oder Altar Bogen an Wand- oder Fensterseile eines Gewölbes Flachbogen, meist Kreisbogenausschnitt Traufe am griech. Tempel Bühnenhaus im antiken Theater zylindrisches Standglied der jon. Säulenbasis unterirdisches Fundament des griech. Tempels griech. Säulenhalle gerade Überdeckung einer Tür- oder Fensteröffnung oberste Stufe des Tempel Unterbaues (der Krepis) am griech. Tempel Unterbau, vor allem zur Herstellung einer Fläche in unebenem Gelände Schwitzraum, Dampfbad in röm. Thermen Laden, Werkstatt, Kneipe in röm. Städten Hauptraum des altröm. Hauses vorspringende Leiste am Architrav heiliger Bezirk Tempel mit vier Säulen an der Stirnseite Badeanlagen der Antike Kuppelgrab, Rundbau, Rundtempel Wulst am Säulenfuß (jonische Basis) »Fenstern aus durchbrochenen Stein- oder Holzplatten erhöhtes Podium (für den Tribunen) Laufgang zwischen Arkaden und Fenstern in got. Kirchen Platte mit drei senkrechten Rillen im Gebälk der dorischen Ordnung kleeblattform ige Anlage mil drei Apsiden (Konchen) Ehrenbogen für eine Person oder ein Ereignis, Bogen zwischen Chor und Mittelschiff der altchristl. Basilika runder Grabhügel Giebelfeld Typologie der Raurateil einer Kirche, in dem sich Lang- und Querhaus kreuzen Spiral- oder schneckenförmig eingerolltes Bauelement Altarbai dach i n; Tabernakel mesopotam. Hochtempel, Slufenturm Ringmauer mesopotam. Heiligtümer Sammelbecken für Regenwasser (meist unterirdisch)
Einleitung: Baukunst und Baugeschichte 11 »Architektur« und »Baukunst« sind häufig umstrittene Begriffe. Das Übermaß der Bauproduktion, das Zerbrechen der handwerklich-künstlerischen Traditionen, die um die Jahrhundertwende einsetzenden, ideologisch aufgeladenen Richtungskämpfe der Arciiiiekturschulen um Funktion, Stil und Formen haben Verwirrung hinterlassen. In diesem Buch werden Architektur und Baukunst als synonyme Begriffe einander gleichgesetzt, das Bauen als der ihnen zugeordnete Prozeß der Realisierung betrachtet. Architeklur ist schon im ursprünglichen antiken Wortsinn ein umfassender und vielschichtiger Begriff. Von seinen zwei altgriechischen Wort würze In bezeichnet die eine (arch-) das Anfangen, Anführen und Unternehmen, die andere (tekton) das Erfinden, Hervorbringen, Verfestigen, Bilden und Bauen (speziell das Zimmern. das'Bauen mit Holz). Im Beruf des Architekten vereinigen sich alle diese Tätigkeitsfelder. Architektur ist eine Summe schöpferischer Tätigkeiten. Seit der industriellen Revolution mit dem sprunghaften Wachstum von Bevölkerung und Prociukfion sind alle Dimensionen gewachsen. Die Expansion der Städte und Industrierevicre führt zur Überbauung und Zersiede l u n g ganzer Landschaften. Der früher unermeßlich scheinende Raum auf der Erde und seine Rohstoffreserven sind fühlbar begrenzt geworden. Architektur: Planen und Bauen ist eines der Mittel, um den menschlichen Lebcnsraum vom einzelnen Wohnhaus bis zu ganzen Regionen im Wechselspiel mit der freien Natur y.u ordnen, sinnvoll zu begrenzen und zu gestalten. Diese Aufgabe ist von Einzelnen nicht zu leisten. An ihrer Erfüllung müssen viele Gruppen von Planern, Architekten, Behörden und Industrien arbeiten. Zur Erkenntnis der Ziele gehört die Bestimmung des heutigen Standortes und die Besinnung auf die Grundlagen des Buuens. Sie führt zur Bestandsaufnahme und zur fruchtbaren Auseinandersetzung mit der Tradition. Die gegenwärtige Phase der Architektur, so umwälzend und neuartig sie erscheint, ist ohne lange Geschichte ebensowenig denkbar, wie die Entwicklung von Wissenschuft und Technik, Sie baut auf den Leistungen von Jahrtausenden auf. Bauwerke gehören zu den dauerhaften Zeugnissen der Geschichte. Sie geben nach Jahrhunderten und Jahrtausenden noch zuverlässige Auskunft über die gestaltenden Kräfte ihrer Entstehungs^eil. Mit ihnen beschäftigt sich die historische Forschung, Sie setzt auf breiter Basis erst im 19. Jh. ein, parallel zu den ersten großen Restaurationen histor. Bauwerke, dem erstarkenden Nationalismus und — paradoxerweise — dem Entstehen einer neuen Balltechnik, die mart zumeist historisierend einkleidet. Gegen diese Imitationen und Adaptionen richten sich gegen Ende des Jahrhunderts
verschiedene Bewegungen, die im 20. Jh. zur Ausbildung der modernen Architektur führen. Sie steht in natürlicher Gegnerschaft zu jedem Historismus. Indem sie sich aber immer mehr - und zwar wellweit - durchsetzt, befreit sie auch die historischen Architekturen und ihre Erforschung aus der fatalen Rolle als Reservoir und Zubringer von Stilformen zur beliebigen Anwendung. Die B:mgeschie!ite gehört seitdem als eigene IJisziplin zur Grand lagen t'orschung in der Architektur. Sie erstreckt sich nun auch auf die bereits historischen ersten Phasen der modernen Architektur. Das Bild der gesamten historischen Baukunst wird infolge der weltweiten Forschungen genauer und differenzierter und t r i t t aus dem verhängnisvollen nationalen Rahmen heraus. Gleich/eilig, d. h. seit der Mitte des 20. Jhs„ fallen - ähnlich wie zu Beginn des 19. Jhs. — die noch erhaltenen Bestände historischer Architektur, ungeachtet der Kriegs Verluste, dem fast hemmungslosen Wachstum der Scädte, Produktions-, Versorgungs- und Verkehrsanlagen zum Opfer. Darunter befinden sich auch wichtige Bauten der jüngsten Vergangenheit. Die Darstellung historischer Epochen der Baukunst und die Rekonstruktion einzelner Gebäude ist um so mehr mit Unsicherheiten belastet, je tiefer die Spuren in die Vergangenheit zurückführen. Nur wenige der noch erhaltenen Bestände historischer Bauten (Städte oder einzelne Bauwerke) haben ihre Ursprungsgestalt bewahren können; zumeist sind sie Ergebnisse langdauernder Verwandlungsprozesse. Aus ihrer Endgesfall sucht die Forschung die Ursprungsgestalt und ihre Verwandlungsphasen zu rekonstruieren. Das geschieht durch Freilegen alter Bauteile, Grabungen, vergleichende Forschungen urid Auswertung schriftlicher Quellen. Nur in Ausnahmefällen gibt es authentische Beschreibungen, noch seltener ursprüngliche Plan Zeichnungen. Bei Botienfunden sucht die archäologische Forschung mit nahezu kriminalistischen Methoden die Gestalt früher Architekturen aus spärlichen Indizien zu gewinnen. Die mühsame und langwierige Arbeit der Spurensicherung, Aufzeichnung und Ausxvertung und die oft geringen finanziellen Mitle! erklären die jähre- und jahrzehntelangen Pausen bis zum Erseheinen neuer, wissen schuf l lieh abgesicherter Rekonstruktionen, die oft hypothetischen Charakter haben. Der Stand der forschenden Wissenschaft ist im Detaii wesentlich weiter fortgeschritten als eine zusammen fassende Darstellung vermitteln kann. Im ganzen hat sich der historische Horizont geweitet. Die Leistungen der Vergangenheit stehen heule deutlicher als je zuvor vor unseren Augen. Wir wissen, daß jede Archilektur an ihre Zeit gebunden und unwiederholbar ist. Zugleich wächst die Erkenntnis der Kontinuität, in der Gegenwart und Vergangenheit miteinander verbunden sind.
Architektur als autonomer Prozeß
14 Architektur: Abhängigkeit und Autonomie
Naturl, Beding u ngen bzw. Vorgussel Bungen
Wichtige Funkt innen
Naturwissenschaft Mathematik Physik: Mechanik Staf* Festig kertsletire
Voraussetzungen, Zusammen hänge. Wirkungskrüfle in der Archileklur
Soao-kullureHe Bedingungen bzw Voraussetzungen
Architektur: Abhängigkeit und Autonomie »Die Architektur ist eine reine Kunst der Erfindung, denn für ihre Formen gibt es keine fertigen Prototypen in der Natur, sie sind freie Schöpfungen der menschlichen Phantasie und Vernunft. Mit Rücksicht hierauf könnte man sie für die freieste aller Künste der Darstellung ansehen, wenn sie nicht von den allgemeinen Naturgesetzen und den mechanischen Gesetzen des Materials im einzelnen durchaus abhängig wäre: Denn welchen Gegenstand der architektonischen Kunst wir auch betrachten mögen, die er.ste and ursprüngliche Konzeption derselben wird immer aus der Befriedigung irgendeines materiellen Bcdürfnisses, vornehmlich desjenigen des Obdaches urnl des Schutzes gegen die Unbilden des Klimas und der Elemente oder andere feindliche Mächte, erstanden sein; und da wir solchen Schutz nur durch feste V e r b i n d u n pcn von Materialien, die uns die Natur hiecet, erhalten können, so sind wir bei derartigen Konstruktionen genötigt, die stattscheu und mechanischen Gesetze streng zu berücksichligen. Diese materielle Abhängigkeil von natürlichen Gesetzen und Bedingangen, welche überall und zu allen Zeilen dieselben bleiben, gibt den Werken der Architektur einen gewissen Charakter der Notwendigkeit und läßt sie bis zu einem gewisscn Grade als Werke der Natur selbst erscheinen, jedoch als solche, welche die N a t u r durch das Medium von vernunftbegabten und willensfreien Wesen erschafft.K GOTTFRIED SEMPER (1854) Die primäre Funktion der Architektur isl beinahe biologischer A r t : Schutz gegen das Wetter und andere Kräfte der Umwelt, ein Mittel der Menschen, um sich im Existen?.kämpf durchzusetzen. M i l d e r Ausbildung einer arbeitsteiligen GeSeilschaft fallen dem Bauen, bei Bestehenbleiben der Primärfunklion sekundäre Funktionen in steigender Zahl zu. Die sich differentierende Gesellschaft stellt der Architekt u r vielfältige Aufgaben. Sie reichen vom Welterschutz über die ganzen privaten und öflentl. Bedürfnisse der Geselhchaft bis ?u ihrer repräsentativen Selbstdarstellung und zum Symbol. Im Programm werden Zweck und Umfang der Aufgabe definiert, wenn nich! beide durch Gewohnheit und Erfahrung von vornherein feststehen. In den hisior. Epochen verändern sich die Lebe n s um s tan de, WirtSchafts- und Gesellschaftsformen relativ wenig. Für die meisten, immer wiederkehrenden Aufgaben gibt es typische Lösungen, Iniiividuelle Programme oder neuartige Lösungeri entstehen meist aus neuen oder differenzierten Bedürfnissen: z. B. in der röm. Kaiserzeil Miet- und Geschäftshauser, Kaiserpaläste, Theater und Thermen (S. 224 ff.). Seit Beginn des Industriezeitalters kommt es zu einer immer s eh neueren Änderung von Programmen, so daß die Forderung nach einer »flexiblen Architektur" erhoben wird (Bd. II).
15
Ursprünglich isl das Bauen eine Arbeit der gesamten jeweiligen Gemeinschaft. In der arbeitsteiligen Gesellschaft bildet sich das Bauwesen als selbständiger Bereich des wirtschaftl. Lebeos aus. Hier konzentriert sich jahrhundertelang die Mehrzahl der techntschen Berufe. Die großen Bauten der hisior. Epochen bilden die künsiler. uni! lechn. Pionierleislungen ihrer Zeit. Unter Teilnahme der Öffentlichkeil entwickelt sich die Architektur als ein vielschichtiger autonomer Prozeß. Die Autonomie isl immer begrenzt: einerseits hängt sie von den Bedingungen des Programm?, der öffcntl. Meinung, der gesamten geschieh 11. Situation ab, andererseits unterlieg! sie den Naturgesetzen, vor allem der Schwerkraft der Erde und den Bctlingungen des Baumaterials, Der Ausführung geht als vorbereitende Phase die Planung voran: der Entwurf einer Ordnung von Räumen und Bauelementen für das gestellte Programm. Seine Förderungen müssen mit den techn. Möglichkeilen, den finanziellen Mitteln und der Situation des Bauplaties abgestimmt und in eine B-iugestalt umgesetzt werden. Zwei parallel laufende Prozesse wirken auf die Planung ein: Die Imagination, die Verwandlung des Prograrnmes in Raum und Körper als sinnlich wahrnehmbare Gestall. Ihre geisiige Vorwegnähme ist gebunden an die Konstruktion, die Entwicklung einer zweckentsprechenden Bauweise unier Auswahl der zur Verfiisjung stehenden BauStoffe und ihrer Anwendung auf der Grundläge der Naturgesetze. Anstelle der empiristhen Kenntnisse der handwerkl. Tradition ermöglicht die Statik als Wissenschaft vom Gleichgewicht der Kräfte genaue oder weitgehend angenäherte Voraussagen über das Verhallen der Konstruktion unter dem Einwirken aller möglichen Kräfte, Die Durchdringung von Konstruktion und Imagination in der Planung stellt die eigen!lieh schöpferische Leistung in der Architektur dar. Aus ihr geht das Bauwerk als Organismus hervor, Als letzte Phase folgt das Bauen, die praktische Verwirklichung der entworfenen Pläne. In einer umfassenden Organisation muß die Vielzahl spezieller Arbeiten in ihren verschiedenen Phasen aufeinander abgestimmt und zu einem regulärer? Ablauf zus a m me n gefaßt werden. Bei den großen Bauten der tiistor. Zeit isl die Planungszeit meist kurz, die Ausführungszeit lang: Jahre, Jahrzehnte, manchmal Jahrhunderte. Heule nimmt die Planung ofi mehr Zeit in Anspruch als die Ausführung, obwohi an dieser jetzt meist mehr spezialisierte Gruppen arbeiten als je zuvor. In vielen Epochen bietet die Architektur den bildenden Künsten ein weites Tätigkeitsfeld. Alle technischen und künstlerischen Leistungen verschmelzen in den großen Bauwerken zur komplexen Einheit.
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Architektur: Ordnung des Lebensraumes
Planung als Grundlage von Architektur und Städtebau
Architektur: Ordnung des Lebensraumes
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Planen und Bauen sind Phasen des Prozesses, der zur Architektur führt (S. 14). Das Planen geht dem Bauen voraus und erstreckt sich in der Hauptsache auf den Entwurf einer Ordnung, in der 1. die Forderungen des Bauprogrammes in einen Organisator, und räumlichen Zusammenhang gebracht werden, 2. der räuml. Zusammenhang durch eine zweckentsprechende Konstruktion dauerhaft hergestellt wird, 3. die aus Baiiprogramm und Konstruktion entwickelte Architektur in Beziehung zu den anderen Ordnungen der menschl. Gesellschaft und ihrer Umwelt (z. B. Stadt, Industrie, Verkehr, Landschaft) gesetzt wird. Maßstäbliche Zeichnungen bilden die Grundlagen zur Ausführung der Entwürfe. Als wichtigste gilt seit jeher der Grundriß. »Die archilekton. Idee verfestigt sich im Grundriß, dem eine besondere Bedeutung zukommt. Aus dem Grundriß entwickelt sich der Raum nach qualitativen, also nicht nach maximalen Maßen. Solche Maße sind nicht unabhängig: sie sind das Ergebnis differenzierter Untersuchungen am Bestehenden, überprüft und in Beziehung gebracht zu den raumerfassenden Fähigkeiten des Menschen.« O. E. SCHWEIZER (1935)
Stadtplanung. Sie richtet sich zunächst auf den engeren Bereich der Städte. Im 20.Jh. weitet sie sich bei zunehmender Verstädterung zur Regional- und Landesplanung aus. Die Situation hat sich gegenüber dem histor. Ausgangspunkt grundlegend geändert. Im Anfang dient das Bauen dem Schutz der Menschen gegen die Natur. Tm 20Jh. bedeutet Planen den Schutz der Menschen und der Natur vor der von den Menschen bewirkten Zersiedelung und der von ihrer Industrie verursachten Zerstörung alter Kulturlandschaften in den Ballungsgebieten. Der Verantwortungsund Aktionsbereich der Planung erstreckt sich heute auf große Teile der Erdoberfläche und erfordert internationale Zusammenarbeit. Planungsmodelle sehen g roß räumige Strukturen vor, um l.eine sinnvolle Koordination der großstädtischen Lebensbereiche nach den zusammengehörigen Funktionen zu ermöglichen, 2. das gestörte Gleichgewicht zwischen Stadt und Land, d. h. zwischen künstl. gemachter und natürl. gewachsener Struktur wiederherzustellen bzw. dauerhaft zu sichern.
Der Grundriß für ein erhaltenes SamuraiTypenhaus in OTSU bei K.YOTO aus dem 17.Jh. beruht — weitergehend als in anderen Ländern - auf Typen, Maßordnungen und Normen, die nicht nur im Wohnhausbau, sondern auch bei der Stadtanlage Geltung haben. Die Grundlagen der Konstruktion bilden die Kiwari-ho, die Regeln zur Teilung des Holzes. Als Modul dient das größte gemeinsame Maß, das Keil, anfangs mit 8 zuletzt mit 6 Fuß zu je 30,3 cm. Es tritt als Achsrnaß der Fachwerkwände deutlich in der Pfostenstellung in Erscheinung und bestimmt die weitere Einteilung des ganzen Hauses: Fensterformate, Breite der FuBbodendielen und Fußbodenmatten (Tatami). Die Dachkonstruktion benötigt nur wenige Innenstützen. Leichte, teilweise verschiebbare Trennwände übernehmen die Einteilung der Räume. Architektur erscheint hier als die geplante und gebaute Ordnung für das private Dasein: eine auf das Wesentliche gerichtete geistige Ordnung der Materie mit dein Mittel der homogenen Konstruktion. Typisierung und gesetzl. festgelegter Standard lassen infolge handwerkl. Einzelanfertigung Spielraum zur persÖnl. Differenzierung. Im Gegensatz dazu erstrebt die industrielle Normung des 20.Jhs. eine völlige ModeHgleichheit großer Serien maschinell gefertigter Produkte (neuer Qualitätsbegriff). Architektur umfaßt alle durch die gesellschafil. Differenzierung entstandenen Lebens- und Arbeitsbereiche. Für ihre Ordnung innerhalb eines funktionsfähigen Ganzen entsteht als koordinierende Disziplin die
Zu den bedeutenden Versuchen dieser Art gehört der Plan zur Überbauung der Bucht von Tokio, 1960 von einer Planungsgruppe unter Führung von KENZO TANGE entworfen. Das bisherige sprunghafte Wachstum der Stadtregion seit 1880 auf ca. 10 Mio. Einwohner im kreisförmigen Wachstum um das histor. Zentrum endete im Chaos der nicht mehr übersehbaren Flächenstadt. Die neue Planung rechnet mit einem Wachstum um weitere 5 Mio. in 20 Jahren und entwickelt dafür eine Linearstruktur. Eine städt. Achse in Form eines mehrfach verflochtenen Verkehrsbandes von 2,5 km Breite und 40 km Länge soll ca. 10 km innerhalb der alten Flächenstadt verlaufen und dann, wie eine Brückenkonstruktion, die Bucht von Tokio in 9 Teilstücken von je 3 km frei überqueren und in einer Anschlullschleife von 1,5 km auf dem anderen Ufer enden. Nah- und Fernverkehr erreichen auf verschiedenen Ebenen die Bauflächen innerhalb des Bandes. Hier sollen neuartige Großbaukonstruktionen die regionalen und überregionalen Verwaltungen, Behörden, Öffentl. Dienste der Hauptstadt aufnehmen. Jenseits des neuen Hafens .beginnt die Wohnstadt. Ein System von Parallelbändern greift rechtwinklig zum Hauptband 5-10 km beiderseits in die Bucht aus. An diese Bänder sind die Wohnquartiere angehängt: unterschied!, große, selbständige Strukturen mit Terrassen für Wohnbauten jeder Art und Größe einschl. der Folgeeinrichtungen für einen selbständigen Stadtteil. KENZO TANGE versteht sein Projekt als Herausforderung an die moderne, in Interessengruppen zerspaltene Industriegesellschaft, durch Planung eine umfassende Ordnung für Leben und Umweh zu schaffen.
18 Architektur als Körper
Giseh: Pyramiden
Ravenna: San Apollmare in Classe
Reihenhäuser
Einfache und zusammengesetzte Baukörper
Architektur als Körper »Architektur ist das kunstreiche, genaue und wundervolle Spiel der Körper, die unter dem Licht vereinigt werden. Unsere Augen sind dazu da, um die Formen im Licht zu sehen; Dunkel und Hell wecken die Formen ; die Kuben, die Kegel, die Kugeln, die Zylinder oder die Pyramiden - dies sind die großen primären Formen, welche das Lichi erstehen läßt. Ihre Erscheinung isl für uns rein und. faßbar ohne Zweideutigkeil. Deswegen sind es schöne Formen, die schönsten Formen. Jedermann ist sich darüber einig, das Kind, der Wilde, der Melaphysiker.n LE CORBUSIER Der Baukörper ist der eine Hauptaspekt der Architektur. Es gibt Architektur, die nur Körper, ebenso solche, die nur Raum ist. Zwischen diesen extremen Möglichkeiten liegt ihr weiter Spielraum. Der Baukörper wird bestimmt durch seine Begrenzungen: Flächen und Teilkörper, die zum Ganzen zusammentreten, Additionen und Durchdringungen von Körpern und Flächen, einfache und zusammengesetzte, glatte und plast., geschlossene und geöffnete Körper. Die Pyramiden von Giseh sind vollkommene Architektur im Sinne Corbusiers. Eine Gruppe von 3 großen und mehreren kleineren, völlig gleich aufgebauten und gerichteten geometr. Körpern, auf ebenen Flächen nebeneinander stehend, mit scharfen Kanten und klar begrenzten Flachen, mit denen das Tageslicht sein Wechselspiel treibt (S. 124). Von den drei Nebenpyrarniden zur Mykerinos-Pyramide sind nach Abbau der Mantelschicht nur die gestuften PyramidenKerne erhalten. Sie entsprechen ungefähr der älteren Form der Stufenpyramide. Durch, den gestaffelten Aufbau verliert sie die zeichenhafle Klarheit. Die reine geomelr. Form als Ergebnis fortschreitender Abstraktion steht am Ende, nicht am Anfang des Formprozesses. Über den gestuften, plast. bewegten Aufbau siegt die Dynamik der reinen Fläche. Der »Poseidon-Tempel« in Paestum ist ein Gliederbau, eine in tragende und lastende Bauteile aufgeteilte Masse. Seinen Kern, ein Haus (Megaron) für das Götterbild, umgibt die Ringhalle mit einem dichten Mantel aus plast. voluminösen Säulen. Er wirkt trotz der Zerlegung in vertikal tragende und horizontal getragene Teile als einheill. Baukörper. Im Gegensalz zur ägypt. Fläche n Spannung steht bei ihm die Spannung zwischen den Einzelgliedern. Volumen und Abstand, der Stützen stehen in einem genau abgestimmten Verhälinis. Jede Säule ist, obwohl gereihtes Element, ein selbständiger Körper. Er beherrscht mit seiner Energie - wie jede Plastik irn griech. Sinn - den Raum um sich. Deshalb wirken die Ruinen griech. Tempel immer körperhaft. Beim intakten Gebäude treten die Säulen zu einer fast undurchdringlich wirkenden »Oberfläche« zusarnrnen (vgl. S. 36). Die Verwandtschaft von Tempel und Pyramide besteht in der Konzeption als plast.
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Volumen, der Unterschied in der Auffassung des plast. Körpers: in Ägypten als krisinllin-abslrakter Ausdruck kosm.-mathemat. Gesetze, in Hellas als belebte, geometr. organ. Körperlichkeit im Sinn der mensch], Gestalt. Die Basilika San Apollinare in Classe bei Ravenna ist in ganz anderem Sinn Baukörper: Außenseite der Ra umhülle, geformt vom Innenraum mit seinem wechselnden Volumen. Er ist additiv zusammengesetzt, Seine Einheit besteht im gleichen kastenartigen und flächigen Charakter der Teilkörper mit ihrem Wechsel stehender und schräg liegender Flächen, der klaren Staffelung und der Unterordnung unter den einfachen Hauptkörper des Langhauses. Der flächenhafte Charakter wird selbst dort betont, wo von innen herein rundplast. Volumen zu erwarten wäre: bei den Apsiden, Der später erbaute G locken türm (Campanile) steht zu den ausgedehnten Flächen in wirkungsvollem Kontrast: ein eindeutig vertikales Volumen mit starker räum], Verdichtung, ebenfalls ein Raummantel, durch die Rundung weicher, aber dabei ganz flächig bleibend, klarer Gegensatz zum »heidnischen« antiken Körpergefühl. Aus dem Nebeneinander von Wandfläche und Turmkörper entsteht eine räuml. Spannung, die über beide hinauswirki. Die Beziehung zwischen gegensälzl, Volumen erhält besondere Bedeutung im kÖrperlich-räumliehen Gefüge des Städtebaues (S. 24). Die Staffelung der Baumasse, bei der frühChristi. Basilika sich unmittelbar aus dem Raum Querschnitt ergebend, ist eines der seit Anfang der Architektur immer wieder angewandten Mitte], große Bauvolumen in überschaubare Abschnitte zu gliedern, ohne die Masse selbst aufzulösen und ihren Gesä rat ei nd ruck zu schwächen (S. 82, 90, 98, 106). Die Reihenhäuser in Berlin-Dablcm, 1925 von den BRÜDERN LDCKHARDT erbaut, bestehen aus Gruppen zu je sechs Hauseinheiten. Jede Gruppe bildet einen horizontal und vertikal gestaffelten Großkörper. Hier isl das gleiche Prinzip wirksam wie in S. Apollinare in Classe: Grundriß und Raumquerschnitt, d. h. die innere Raumfolge, formen den Baukörper als Raumhülle. Die einzelnen Hauseinheiten sind von der Mhte nach beiden Seifen jeweils um die Tiefe der Veranden im Erdgeschoß bzw. der Balkone im Obergeschoß gegeneinander versetzt. Aus den entstehenden Winkeln mit den scharfen vertikalen Kanten treten die Veranden als eingeschossige kubische Blöcke heraus, Die Architekten vermeiden durch den gestaffelten Aufbau die im Reihenhausbau oft herrschende Monotonie (S. l 10, 168). Die Gebäudegruppe erhält durch Staffelung der Haupt- und Nebenkörper, den Versatz der Fensterflächen, den Wechsel vertikaler Kanten und horizontaler Fensterbänder einen spannungsreichen Rhythmus. Züsätzl. Gliederungen sind unnötig. Die Beziehung von Raumform und Körperform wird unmittelbar deutlich.
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Architektur als umbauter Raum
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Raum eines dänischen Wohnhaus
Italienische Westalpe Einraumhaus
Cataniaj Halle i Kastell Ursino Schaffhausen: Klosterkirche
Raum, Raumgrenze, Raumfolge
Architektur als umbauter Raum »Das Hauptausdrucksmitte] der Architektur jenseits aller technischen Belange ist der Raum.« WALTB-R GROPIUS Der Naturraum - besonders der prähistorische (Eiszeit) - ist zumeist nach mehreren Richtungen otTen, selten klar begrenzt, oft unübersehbar und scheinbar grenzenlos (Wald, Steppe, Wasser). Das Raumgefühl der vorgeschichtl. Jäger und Sammler orientiert sich noch nicht an kirnst). Grenzen und Richtungen. Die ursprüngliche Aufgabe des Bauens besteht darin, aus diesem nalürliehen, offenen, ungeordneten und ungeschützten Raum einen künstlichen, endliehen, geordneten und geschützten Raum auszusontlern. Er wird bestimmt durch Form und Struktur seiner Begrenzung. Schon vor 30000 Jahren bauen menschl. Gruppen Häuser und Zelte, meisl auf dem Kreis als Grundriß (Stangenzelt, Pfahlkegelhaus/. Diese auf geomelr. Urformen aufgebauten Räume sind allseitig begrenzt und auf die Mitte, bzw. den über ihr liegenden Scheitelpunkt geordnet. Die Beziehung zum Naturraurn ist entsprechend radial ausstrahlend. Der Eingang stellt die erste Markierung einer Richtung dar. Der schrittweise Übergang über ovale und halbrunde Grundrisse zum Rechteck fällt noch in die vorgeschichtl. Zeit (S. 84). Damit verändert sich die Beziehung von Mensch und Raum, von Innen- und Außenräum grundsätzlich. Wenige Beispiele einfacher Räume auf rechlwinkl. Grundriß lassen die Vielzahl der mögl. Raumbildungen und Wechselbeziehungen zwischen Jnnen- und Außenraum erkennen. Den Raum eines dänischen Wohnhauses bestimmt die volle Öffnung einer Seite als Fenslerwand. Von innen nach auüen entstehen vier Raumzoneo. Quer vor dem Innenraum verläuft als streifenförmige Übergangszone eine Galerie, unten und oben durch die auskragenden Flächen von Fußboden und Dachplatte begrenzt. Der über der Zimmerwand liegende, nach außen vorsloßende Deckenbalken (UtUerzug) stellt schon die opt. Verbindung zum Garten her. Seine Grenzmauer wirkl als seitl. versetzte Weiterführujig der Innenwand, der Garten infolgedessen als erweiterter Innenraum. Ihm folgt als letzte Zone die offene Landschaft. Das völlige Gegenteil dieser Raumkonzeption bildet ein Einraumhaus in den Italien. Westalpen in ROLATE CAMASCO (nach SoDER). Die Balkendecke teilt das Innere in zwei Geschosse mit gleichem quadrat. Grundriß. Den Dachboden beherrschen die schrägen Dachflächen, der First gibt ihm eine eindeutige Richtung, das Giebeldreieck macht die Proportion unmittelbar anschaulieh. Der Herdraum im Erdgeschoß erhält durch die Winde eine klare Begrenzung, aber keine Richtung. Die Beziehung zum Außenraum konzentriert sich auf das kleine Fensterloch in der Giebelwand. Es betont die Stärke der Mauern und den scharfen Gegensatz zwischen außen und innen. (Ge-
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dankenexperiment: Bei Wegnahme der Decke würde ein Raum von monumentaler Einfachheit entstehen, keine Addition, sondern eine Potenzierung der Raumeindrücke durch das Zusammenwirken senkrecht stehender und schräg zur Höhe strebender Flächen.) Im Kastell Ursiuo in Calanin bestimmt die Dynamik der schweren Gewölberippen den Raumeindruck der Eingangshalle. Er zieht sich in aktive, anscheinend aufsteigende Kraftlinien zusammen. Die Flächen der Wände und Gewölbekappen erscheinen als Füllungen des Raumgerüstes. Es ist bei jedem Gewölbejoch - wie bei einem urtüml. Stangenzelt - auf den Schnittpunkt der Diagonalrippen gerichtet. Bei der Reihung soleher Gcwölbejoche betonen die Kreuzungspunkte im G e wo l beseheilel die Tiefenachse (S. 46, 64, Schlußsteine). Das Mittelschiff der Klosterkirche in Schaffhausen (nach O. GRUBH»), ein eindeulig defengerichteter Innenraum, besteht aus einer Folge von Raumabschnitten. Die letzten drei, Vierung, Normaljoch und Chorjoch, unterscheiden sich bei einheitl. Gesamtcharakter durch die begrenzenden Kanten und Flächen. Hohe Bogenstellungen bestimmen die nach vier Seiten offene Vierung. Die vier Eckpfeiler sind durch regelmäßige Natursteinquadern deutlich vom Mauerwerk der Wände abgesetzt. Das folgende Normaljoch mit seitl. begrenzenden und tragenden Wandflächen ölTnet sich im unteren Bereich durch Arkaden nur wenig zu den Seitenschiffen, zum Chor und zur Vierung bleibt es ganz offen. Das Chorjoch, von begrenzenden Wänden kastenförmig geschlossen, bildet den fast turmartig hohen, absoluten Raumschluß am Ende des Weges, ohne Beziehung zu Nebenräumen oder Außenraum. Nur aus den hoch liegenden kleinen Rundbogenfenslern fällt Tageslicht ein. Der Charakter des Gesamtraumes würde sich kaum ändern, wenn die leichte Holzdecke über den Jochen wegfiele. Die Raumfolge, von den hohen, ruhig stehenden Bogen stell unge n gegliedert, bliebe -in ihrem klaren Fortschreiten von Joch zu Joch erhalten. Reihung, Tiefendynamik und Verbindung von Teilräumen zu einem Raumbild anderer Art kennzeichnet die RaumCblge einer röm. Peristyl-Villa. Das Atrium, den Ursprung!, Zentralraum des allröm. Hauses (S. 222), bestimmen die großen klaren Flächen von Wand und Dach. Die Öffnung zum Himmel durch das I/npluvium wirkt zentrierend und zusammenschließend trotz der achsialen Anlage. Im Gegensalz dazu steht der Charakter des angebauten heilenist. Peristyls, eines von Säulenhallen zugleich begrenzlen und erweiterten Gartenhofes. Die volle öffnung der Rückwand des Tablinums zum Garten verbindet die beiden gegensälzl. Raumgruppen zu einem spannungsreichen Ganzen mit einem Wechsel von Achsen, Wandflächen und plast. Säulen als Raumgrenzen ganz verschiedener Art.
22 Architektur als Körper und Raum l
Toronto; Rathaus Formung des Raumes durch begrenzende Körper
Architektur als Körper und Raum l 23 »Alle vom Menschen künstlich gestalteten Räume sind durch Körper abgegrenzt. Ohne geformte Körper kein geformter Raum.« WILHELM FINDER Architektur kann als ein jeweils bestimmtes Verhältnis von Körper und Raum aufgefaßt werden. Zwischen den beiden Grenzfällen: dem reinen Körper (Pyramide S. 18) und dem reinen Raum (Atreus-Grab S. 148) gibt es fast unendlich viele Möglichkeiten, Räume mit Hilfe von Körpern aus dem freien Raum auszugrenzen: Innenräume oder Raumfolgen im Inneren von Gebäuden, Außenräume um oder zwischen Gebäuden, Gebäudeteilen, Gebäudegruppen, in Siedlungen und Städten, ferner zahlreiche Zwischenstufen zwischen Innen- und Außenräumen bis zum Übergang in die freie Landschaft. Entscheidend für Raumform und Raumgestalt sind die Grenzen (S. 20). Sie bestehen zumeist aus festen Körpern: tekton. Elementen wie Wänden, Decken, Stützen, Balken, Dächern, Bogen, Gewölben (S. 28-48), beim Außenraum oft aus Gebäuden oder Gebäudeteilen, bei Plätzen aucn aus ganzen Gebäudegruppen. Versuche, die Raumgrenzen zu entmaterialisieren, bzw. ganz oder teilweise aufzuheben, treten in der Geschichte häufiger auf (Gotik, 20Jh.), führen aber in letzter Konsequenz zur Formlosigkeit, zum Raum als mathemat. Formel oder als Übergang in den Naturraum. Andererseits gibt es Bestrebungen, Architektur körperlich zu verdichten oder als Volumen plast. durchzuformen: Übertritt der Architektur in die Plastik (Ägypten, Griechenland, 19. u. 20.Jh.). Schon aus der Verbindung einfacher vertikaler und horizontaler Elemente ergibt sich eine Fülle von Beziehungen zwischen dem Raum und den ihn begrenzenden Körpern, wie z. B. in der Osthalle des Hephaisteion in Athen. Dorische Tempel sind als Baukörper ganz von der Ringhalle bestimmt. Ihre Stützen treten zu einem von außen gleichmäßigen Mantel zusammen (S. 18, 36). Die räuml. Spannungen im Inneren entstehen durch die verschiedenen Richtungen der Innenräume und ihre Beziehung zum freien Außenraum. Sie überschneiden sich in der Vorhalle. Die Osthalle im HephaistosTempel zeichnet sich durch das sehr überlegte gegenseitige Verhältnis der begrenzenden Elemente aus. Die Säulen, gereihte vertikale Einzelkörper, bestimmen durch Volumen und Abstand das Verhältnis von Offenheit zum Außenraum und Geschlossenheit des Innenraumes der Ringhalle. Der innere Baukörper der Cella verdrängt diesen Raum; aus der Vorhalle gesehen fließt er als schmale Passage längs der Außenmauer vorbei und erweitert die Vorhalle optisch in den vom Auge nicht mehr erfaßbaren Umgang. Die pfeilerartige Mauerstirn (Ante) der Cellamauer bildet den entscheidenden Grenzpunkt. Hier be-
ginnt mit dem dreiseitig geschlossenen Vorraum zur Cella (Pronaos) der Kernbau als neuer Baukörper innerhalb der Ringhalle. Die geringe, aber deutliche Erhöhung des Plattenbodens als inneres Fundament hebt ihn von der Ringhalle ab. Die obere Grenze bildet der Architrav mit dem aufliegenden Fries. Er umläuft normalerweise die Cella analog zur Fundamentschwelle, auf den Cellawänden aufliegend. Beim Hephaisteion stoßen aber Architrav und Fries bis zum äußeren Gebälk der Ringhalle durch und fassen den Ostteil der Ringhalle zu einer räuml. geschlossenen Vorhalle vor dem Pronaos zusammen, anstatt ihn mit dem Umgang seitl. verfließen zu lassen. Von dem Gleichgewicht vertikaler und horizontaler Körper in dieser Architektur unterscheidet sich grundsätzl. die in karoling. Zeit errichtete Kapelle von Germignydes-Pres. Sie ist ganz vom Innenraum her geplant. Massive Mauern schließen den Außenraum aus. Die Teilräume des Innern sind durch kantige Mauerpfeiler hart begrenzt, die von ihnen ausgehenden Mauerbögen bilden einzelne Joche, die - für sich selbständig — additiv zusammengefügt sind. Die Wiederholung gleicher Elemente hat nichts Verbindendes. Der Raum ist eng, die begrenzenden Körper schwer und steil. Fast schachtartig begrenzen — trotz der auflokkernden Dreierarkaden - gemauerte Wände den Zentralraum über den Mauerbögen. Mauermasse und Vertikale bestimmen diese frühmittelalterliche Architektur. Das Rathaus von Toronto, 1956-66 von dem Architekten Viljo Revell erbaut, stellt einen Versuch dar, das in den Städten des 20. Jhs. übliche sterile Nebeneinander von Verwaltungshochhäusern durch eine charakterist, räuml. Zuordnung von Baukörpern zu durchbrechen. Auf der Plattform eines Sockelgeschosses erheben sich zwei schalenartig gebogene Hochhäuser von 78 und 100 m Höhe. Sie umfassen in weit ausholenden Kurven den kreisrunden, mit einer flachen Betonkuppel gedeckten Ratssaal die symbol. Mitte für Stadt und Region TORONTO. Über der Kuppel entsteht ein von den gekrümmten Flächen etwa zu 2/3 umschlossener Raum. Er öffnet sich einladend zum vorgelagerten Stadtplatz, in der Gegenrichtung gewährt er nur einen schmalen Durchblick. Je nach Standpunkt des Betrachters wechselt die Perspektive, der Raum schließt und öffnet sich. Die Hochhäuser sind zu diesem von ihnen gebildeten Binnenraum fast ganz in Fensterbänder aufgelöst, zur Außenseite dagegen völlig geschlossen, also ganz auf den Binnenraum orientiert. Er wirkt von innen her als Erweiterung des umbauten Raumes, je nach Standpunkt und Blickrichtung mit wechselnden Perspektiven. Die Baugruppe stellt innerhalb der Stadt ein unabhängiges, aber auf die Stadt bezogenes räuml. Volumen dar, das zu anderen Großbauten in Beziehung treten kann.
24 Architektur als Körper und Raum 2
Rom: Forum Romanum (s. Rom, Typ. V)
Die Stadt als Gefüge von Körpern und Räumen
Architektur als Körper und Raum 2 Städte sind Konzentrationen von Menschen, Funktionen, Gebäuden. Die histor. Städte schließen sich unter dem Zwang zur Verteidigung in einen Befestigungsgürtel ein, dessen Form entweder vom Gelände oder von einer geometr. Grundfigur bestimmt wird. Die eingeschlossene Fläche wird nach den zu erfüllenden Funktionen aufgeteilt. Es entsteht ein Gefüge von Körpern und Räumen, in dem das Recht der einzelnen Bürger auf den eigenen Raum und die private Sphäre mit dem Anspruch der gesamten städt. Gesellschaft auf gemeinsame Räume zum Ausgleich kommen muß. Seit dem 19.Jh. haben die großen Städte in einer die histor. Maßstäbe verlassenden Expansion die von außen bestimmte Umrißform gesprengt. Aber auch unter den veränderten Verhältnissen beruht der architekton. Rang einer Stadt vor allem auf dem Zusammenspiel der Körper und Räume. Städt. Räume sind in erster Linie Straßen und Plätze. Straßen dienen der Aufteilung und Erschließung der Stadtviertel, dem Durchgang, dem Verkehr, der Bewegung. Sie verlaufen ihrer Natur nach linear. Plätze dienen dem Auffangen der Bewegung, der Sammlung und Versammlung. Sie sind ihrer Natur nach flächig. Beide erhalten ihren spezif. räuml. Charakter aus dem Verhältnis der Grundfläche zu den begrenzenden Flächen oder Baukörpern. Zwischen der zumeist zweiseitig begrenzten, linear geführten Verkehrsader und dem allseitig begrenzten Platz gibt es zahlreiche Möglichkeiten zur Ausbildung von Freiräumen und ihrer Einordnung in die Struktur der Städte. Das Forum Romanum, einer der wenigen histor. gewachsenen röm. Plätze, folgt im Gegensatz zu den benachbarten Kaiserforen und den sonstigen Plätzen röm. Städte nicht dem sonst im röm. Städtebau übl. Forum-Schema (S. 218, 220). Es entspricht aber in seinem endgültigen Zustand der allgemeinen röm. ital. Auffassung vom städt. Platz als geschlossenem Raum. Von den Straßen der Stadt tritt keine mit ihrer Einmündung deutlich in Erscheinung, der Platz schließt sich gegen die umliegenden Viertel ab, ähnlich wie das röm. Atriumhaus gegen seine Nachbarn. Die großen kubisehen Baukörper an seinen Rändern wirken vom Platz her nicht so sehr als freistehende Volumen, sondern mit ihren Fassaden als Platzwände. Der Abschließung des Gebäudeinneren entspricht die Frontalität und Fassadenbildung nach außen. Die Außenflächen des Baukörpers wirken als Grenzflächen des städt. Freiraumes: plast. durchgeformte Wände eines öffentl. Raumes unter freiem Himmel für polit. und zeremonielle Schauspiele und das Leben der Großstadt. Durch die an den Schmalseiten errichteten Podientempel und die langen Seitenfronten der Basiliken erhält der Platz eine klare Richtung, die querstehende Masse des Toblinums am Abhang des Kapitals bildet die wuchtige Dominante.
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Ober- und Untermarkt in Görlitz sind städt. Plätze ganz anderer Art trotz ähnlicher Funktionen. Freiräume verschiedener Form und Größe werden zu einer Raumfolge vereinigt und bilden die Hauptachse der Stadt, Eine über die Neiße-Brücke in die Stadt führende Fernstraße mündet seitl. in den etwa quadrat. Unteren Markt, durchläuft als Straßenpassage einige Häuser-Blöcke und erweitert sich zum langgestreckten Oberen Markt. In GÖRLITZ, wie in den meisten Städten Mittel- und Nordeuropas, treten die Bürgerhäuser selbst zu Platzwänden zusammen, Die Stadt und ihre Bewohner sind also in anderer Art mit dem offentl. Leben verbunden als im Süden. Sie entspricht der anderen Art des Wohnens und einem anderen Typ des Hauses. Die kleinteilige Struktur der Wohnviertel beruht auf dem Prinzip des gereihten Einzelhauses. Die in sich selbständig durchgeformten Hausfronten schließen sich zu Straßenwänden aneinander, Die Fortsetzung ihrer Struktur an den Platzwänden, verbunden mit dem Wechsel von Enge und Weite, verleiht der Raumfolge trotz bescheidener Dimensionen ihre Tiefendynamik. Sie wird gesteigert durch die Ausnutzung des um ca. 10 m steigenden Terrains und vertikale Dominanten: Drei Türme, schlanke, stufenweise sich verjüngende, prismatische Baukörper mit spitzen Helmen, markieren die wichtigen Übergänge von einem Freiraum zum anderen. Sie formen den Luftraum über den Dächern, bringen das räuml. Gefüge innerhalb der Stadt zur Geltung, wirken als Markierungspunkte im Straßennetz und bestimmen die Silhouette der mittelalterlichen Stadt für die Fernsicht, Das Forum Romanum repräsentiert den mediterranen Typ röm. antiker Tradition: eine selbständige Einheit innerhalb der Stadt, durch die Ausbildung seiner Ränder aus dem andersartigen Gefüge der Wohnviertel ausgegrenzt, bestimmt durch lagernde Baumassen, großflächige Baukörper, Betonung der Mittelachse, Ausrichtung auf eine Dominante. Ein introvertierter Raum mit monumentalem Maßstab. Ober- und Untermarkt in Görlitz sind eine typ. Platzfolge mittel- und nordeuropäischen Typs in der mittelalterlichen Tradition: von der Stadtstruktur unmittelbar geformter offen 11. Raum, durch die gleichartige Ausbildung seiner Ränder mit den Wohnvierteln verbunden. Platzwände aus kleinen, differenzierten Einheiten additiv zusammengesetzt, erweiterte Fortsetzung des Straßensystems, weniger geometrisch als organisch eingefügt, vertikale Einzelakzente, keine ausgeprägte Achse. Dynamischer Raum, normaler Maßstab. Die beiden Plätzen zugrundeliegenden Prinzipien durchdringen sich im Lauf der Geschichte häufig. Das noch ältere Prinzip der freien Gruppierung von Baukörpern, dem die griechische Architektur folgte, tritt hinzu.
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Architektur als Gleichgewicht der Kräfte
Druckkräfte Zügkräfte Resultierende
Rom: Ponte Fabricio
1
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1
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i
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I
i
1
1
1 Troja: Säulenhaus
a Querschnitt b Strebebogen mit Kräfteparallelo-
Algeciras: Markthalle
Die Wirkung der Schwerkraft und die Gesetze der Statik
Architektur als Gleichgewicht der Kräfte Das erste Ziel eder Konstruktion ist die Standsicherheit. Jedes Gebäude besteht aus Materie, die dauernd unter dem Einfluß der Schwerkraft steht. Sie wirkt als Druck in Richtung zur Erdoberfläche und muß durch Gegenkräfte ausgeglichen werden. Gebäude, Bauteile und Konstruktionen, die sich nicht im Gleichgewicht befinden, stürzen zusammen. Erst in der 2. Hälfte des 18.Jh. beginnt die Berechnung von Konstruktionen auf mathemat. Grundlage. Statik und Festigkeitslehre bilden die wissenschaftl. Grundlagen der Bautechnik. Die Festigkeitslehre ermittelt durch experimentelle Prüfungen die Festigkeit der Baustoffe und ihr Verhalten bei verschiedenen Belastungsfällen. Die Statik versucht, die auftretenden Kräfte und ihren Verlauf in der gewählten Konstruktion vorauszubestimmen und diese entsprechend zu dimensionieren. Die wichtigsten in Bauwerken auftretenden Kräfte sind: Das Eigengewicht der Konstruktionselemente, die Verkehrslasten und Einzellasten durch die Benutzung des Gebäudes (Menschen, Einrichtungen, Maschinen, Lagergut), ferner die von außen einwirkenden Kräfte, z. B. Schneelasten, Windkräfte (Sturm), dynam, Schwingungen (Maschinen, Straßenverkehr, Erdbeben). Eine Kraft ist definiert durch Größe, Angriffspunkt und Richtung. Im Gebäude wirken Kräfte aus verschiedenen Richtungen, vor allem als Druck- und Schubkräfte, aber auch als Zugkräfte (z. B. zum Ausgleich von Schub und Druck), als Torsionskräfte bei Verdrehungen, als Scherkräfte bei dem Angriff von Kräften in gleicher Ebene, aber gegensätzlicher Richtung. Ein wichtiger stat. Begriff, z. B. bei der Berechnung der Durchbiegung, ist das Moment, das Produkt aus Größe und Kraft und ihrer Entfernung zum Auflager- oder Drehpunkt (Hebelarm). Gleichgewicht herrscht, wenn die Summen aller Kräfte und Momente gleich Null sind, d. h. Kräfte und Gegenkräfte sich aufheben. Jede Kraft wird durch eine Gegenkraft gleicher Größe in Gegenrichtung aufgehoben, zwei aus verschiedenen Richtungen angreifende Kräfte durch eine dritte, die Resultierende. Das Kräfteverhältnis läßt sich durch ein Dreieck (Krafteck) darstellen. Darin bilden die an einem Punkt unter bestimmten Winkeln angreifenden Kräfte, die »Komponenten«, in einem ihrer Größe entsprechenden Maßstab aufgezeichnet, zwei Seiten. Die dritte Seite stellt die Resultierende dar. Aus der Verdoppelung des Kraftecks entsteht als graph. Figur das Parallelogramm der Kräfte. Jedes Bauwerk bildet ein statisches System, bzw. eine Verbindung von Bauteilen mit gleichen oder verschiedenen stat. Systemen. Bei dem Säulenhaus in Troja VI ca. 1350 v. Chr. (S. 144) überträgt ein Längsbalken (Unterzug, Durch lauf träge r) die Last der quergespannten Deckenbalken (Träger auf drei Stützen) auf einige Mittelstützen (S. 34).
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Der Zunahme der vertikalen Druckkräfte entspricht die konische Form der Stützen und die stufenweise Verstärkung der Außenmauern. Am Fundament, wo der Druck und das evtl. Kippmoment am größten sind, steht die größte Auf lagerfiäche zur Verfügung. Der Poiite Fabricio in Rom, ca. 62 v. Chr. erbaut, ist, wie auch andere frühe röm. Brücken, aus vollen Kreisbögen gebildet. Sie sollen den Druck der Fahrbahn auf den Strompfeiler und die Widerlager am Ufer verteilen. Je 1/3 der Bögen läuft als sogenannter Erdbogen unter dem im Brückenbereich sorgfältig ausgemauerten Flußbett weiter. Die Römer waren der Meinung, der geschlossene, aus Keilsteinen gefügte Kreisbogen sei die stabilste Konstruktion, die von sich aus jedem Druck, auch dem seitl., gewachsen sei. Für eine dauerhafte Verspannung genügen aber die fest im Ufer liegenden seitl. Widerlager (vgl. S. 244). Die Römer folgen hier den opt. geometr. Spekulationen der Kreisgeometrie. Ihre Leitideen bestimmen auch weitgehend die mittelalterlichen Architektursysteme. Bei der seit 1220 erbauten Kathedrale von Amiens ist die Masse ganz in eine Gliederarchitektur aufgelöst (S. 64). Die Kreuzrippengewölbe (S. 46) verteilen den Druck auf wenige Punkte des Gebäudes. Die Gewölberippen üben als schräg von oben angreifende Kräfte einen starken Horizontalschub (H) auf die Hochschiffwand aus. Ihm wirken von außen die parallelen Strebebögen entgegen. Sie leiten den Druck auf die turmartig über die Seitenschiffe hochgeführten Strebepfeiler weiter. Ihr Eigengewicht, die aufgesetzten Fialen und die Auflast des Dachstuhls kompensieren als Vertikalkräfte (V) die Schrägkräfte. Die Neigung der Strebebögen entspricht ungefähr der Richtung einer Resultierenden im entsprechenden Parallelogramm der Kräfte. Der Gewölbedruck der Seitenschiffe wird durch die Summe der Vertikallasten in Arkaden- und Strebepfeilern kompensiert. Die 1933 von EDUARDO TORROJA berechnete Markthalle von Algeciras besteht aus einer am Scheitel nur 8,5 cm dünnen Kuppel-Schale aus Eisenbeton. Sie überspannt auf 8 Stützen ein Oktogon von 47,62 m 0 (vgl. Pantheon, S. 252). Die Druckkräfte wirken radial nach außen. Um sie aufzunehmen, ist der Rand (Kämpfer) auf 44 cm verstärkt. Außen angesetzte, kurze und flache Zylinderschalen versteifen ihn, indem sie die Kuppel durchdringen. In dieser Kämpferzone bildet sich aus den verschiedenen Druckkräften eine einzige Druckkraft als Resultierende parallel zum Rand. Sie greift die Stützenköpfe schräg von oben an. Ein starker Zugring wirkt ihr als horizontale Komponente entgegen. Die Stützen nehmen nur noch die vertikale Last auf. Hinter der einfachen Form verbirgt sich ein hochgezüchtetes stat. System, das Ergebnis eines vom Auge nicht mehr nachvollziehbaren mathemat. Prozesses.
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Bauelemente I/Wand l
Schwarzwald: alemannisches »Heidenhaus«, Gebäudeecke
Funktion und Konstruktion
Chicago: 1.1. T. Bibliothek, Gebäudeecke
Bauelemente I/Wand l Wände sind aufrecht stehende, gerade oder gekrümmt verlaufende, flächige Körper, die Räume und Baukörper begrenzen oder unterteilen. Bei den vorgeschichtl. Bauten - Stangenzelten, Kragkuppeln, Dachhäusern — dienen die vom Boden schräg oder gewölbt aufsteigenden Grenzflächen zugleich als Dach und Wand- Erst im Lauf der Entwicklung erhalten Dach, Decke und Wand ihre speziellen Funktionen als gesonderte Flächen. Die Differenzierung nach Zweck, Baustoff und Konstruktion führt zur Ausbildung verschiedener Wandtypen. Vom Zweck her lassen sich unterscheiden: 1. zugleich tragende und schließende Wände, 2. schließende nicht tragende Wände, die a) feststehend b) versetzbar c) verschiebbar ausgebildet werden können. Durch die Konstruktion unterscheiden sich 1. massive Wände, d. h. homogene Körper aus Mauerwerk (S. 30), Beton oder Holzbalken (Blockbau), 2. Skelett-Konstruktionen, aus tragenden Stützen und Balken, deren Zwischenräume mit leichtem Material geschlossen werden, z. B. Fachwerkwände. Der Charakter eines Gebäudes wird wesentlich von der Struktur der tragenden Elemente, besonders der Wände bestimmt. Bei dem 1935 erbauten Ferienhaus am Ozean in LES MATHES (Saintonge) bringen LE CORBUSIER und PIERRE JEANNERET die Funktionen der Wände demonstrativ zum Ausdruck. Die Umfassungswände aus Bruchsteinmauerwerk begrenzen und tragen. Sie sind in der Höhe von zwei Geschossen als geschlossene Scheiben hochgeführt und zu windsteifen Winkeln verbunden. Sie begrenzen zwei Raumkörper, deren Größe zueinander etwa im Verhältnis l : 2 steht. Sie öffnen sich jeweils nach entgegengesetzter Richtung auf einer Seite in voller Länge und Höhe. An den drei anderen Seiten bleiben sie fast völlig geschlossen. Damit ist die Form des Baukörpers bestimmt. Sie wird von einem tragenden Holzskelett aus Pfosten, Deckenbalken und Dachbindern ausgefüllt, das an den Mauern verankert wird. Es entstehen zwei Geschosse mit je einer gedeckten Terrasse, Laubengang, Wohn- und Schlafräumen. Das wechselweise öffnen und Schließen betont die verschiedene Funktion der beiden Hausteile und die konstruktive Selbständigkeit der ummauerten Bereiche. Es wird demonstriert, daß bereits zwei rechtwinklig verbundene Mauerscheiben sich gegenseitig stützen und aussteifen. Die wichtige Eckverbindung wird in der Verzahnung sorgfältig ausgesuchter Steinquadern an den Hausecken deutlich gemacht. Das Sehwarzwälder »Heidenhaus« - ein alemannischer Bauernhaustyp des Mittelalters - ist ein reiner Fachwerkbau aus Holz. Die Wände bestehen aus einer Ständer/Bohlen-Konstruktion (vgl. Fachwerkhaus, S. 58). Ihr konstruktives Gefüge aus
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tragenden senkrechten Stützen (Ständern) und horizontalen Balken (Rahmen) und den füllenden Bohlen, Brettern und Fenstern (Fächer) läßt sich am besten an einer Hausecke erkennen. Die auf der Grundmauer liegende Querschwelle schiebt sich mit einem doppelten Zapfen durch zwei entsprechende Aussparungen in der Längsschweife. Holznägel halten beide unverschiebbar fest. Nuten und Zapfen verbinden die zwei Geschosse hohe Eckstütze (Bundwandsäule) fest mit der Längsschwelle und dem oberen horizontalen Rahmenbalken (Stockpfette oder Stockrähm), dem Auflager für die Deckenbalken. In halber Höhe teilt ein weiterer horizontaler Balken (Geschoßpfette oder Wandrähm) die Wandfelder zwischen den Ständern in zwei übereinanderliegende geschoßhohe Felder. Senkrechte Zwischenstützen (Felderwandsäulen) gliedern sie in einzelne Fächer. In allen diesen Kanthölzern nehmen längsverlaufende Nuten die verschiedenen Bohlen, Bretter und Fensterrahmen auf, die zusammen die Ausfachung bilden. Ihre leichten Vor- und Rücksprünge machen die Stärke des tragenden Skeletts deutlich und geben der Wand das wechselnde Relief. Bei der 1944 entworfenen Bibliothek des Illinois Institute of Technology in CHICAGO versucht MIES VAN DER ROHE, die Gestalt des Gebäudes in ähnlicher Weise wie beim Schwarzwaldhaus aus der Sichtbarmachung der tektonischen Struktur mit den Mitteln des modernen Stahlbaues zu gewinnen. Das Traggerüst der drei schiffigen Halle, eine Stahlbinder-Konstruktion auf vier Stützen, tritt an der Stirnseite des Gebäudes mit dem hohen Vollwandträger unter der Dachplatte und der Eckstütze hervor. Das Binderfeld an dieser Seite ist mit einer nur sich selbst tragenden Ziegelwand ausgefacht, die zugleich zur Aussteifung des Gebäudes beiträgt (anstelle eines Windverbandes). An der Längsseite sind die aus Stahlprofilen geschweißten Fensterrahmen, statisch unabhängig von der gemauerten Brüstung, als Vorhangwand (curtain wall) vor das Traggerüst gehängt. Zwei Fensterachsen entsprechen dem Abstand der Hallenbinder. Die tekton. Struktur gewinnt den Charakter von Haut und Knochen (skin + skeleton). In der konstruktiven und ästhetischen Lösung der Ecken, d. h. der Durchdringung der begrenzenden Wände, tritt der spezif. Charakter einer Architektur bzw. des Architekten besonders deutlich hervor. Die Mauerecke LE CORBUSIERS unterscheidet sich in der Technik nicht von jahrtausendealter Tradition trotz der avantgardist. Konzeption des Ferienhauses. Die Wandstruktur der Bibliothek in Chicago steht zur Massivwand in äußerstem Gegensatz, folgt aber ähnlichen Gesetzmäßigkeiten wie ein mittelalterlicher Holzbau.
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Bauelemente II/Wand 2
Rom: Bossenmauerwerk von der Aqua Marcia
Alatri: altitalisches Polygonmauerwerk
Uruk: Ziegelmauerwerk
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El Käb: Quadermauerwerk vom Tempel Amenophis' III.
Gotischer Mauerverband
Köln: Ziegelwerk vom Römerturm
Technik und Ästhetik des Mauerbaus
Athen: Cellamauer des Parthenon
Konstantinopel: Landmauer
Bauelemente H/Wand 2 31 Mauern sind Wände aus natürl. oder künstl. Steinen. Der Steinbau wird erst in den städt. Hochkulturen systemat. entwikkelt, etwa gleichzeitig als Naturstein- und als Ziegelbau. Der Mauerverband dient der Herstellung eines dichten Gefüges, um die auftretenden Druckkräfte möglichst gleichmäßig zu verteilen. Ihre Übertragung von einem Stein zum anderen findet an den Fugen statt. Am besten gelingt sie bei ebenen Auflagerflächen und dünnen Fugen. Große und schwere Steine liegen ohne Verbindung durch Klammern, Dübel oder Mörtel fest im Verband, auch wenn sie nur an wenigen Punkten aufliegen. Kleinteiliges Mauerwerk bedarf möglichst glatter Auflagerflächen und einer zusätzl. Verbindung durch Mörtel. Seine Zähigkeit und Festigkeit sind ebenso wichtig wie die Druckfestigkeit der Steine. Der Mörtelbau entwickelt sich besonders zusammen mit dem Ziegelbau. Der mörtellose Verband ist ein Kennzeichen des Natursteinbaues. Technik und Ästhetik des Mauerbaues bedingen einander. Die Bearbeitung des Natursteins ist von der Qualität des Werkzeuges und vom Zeitaufwand abhängig. Mauerverbände mit gleichmäßigen Quadern erfordern einen höheren techn. Standard und mehr Zeit als Mauern aus ungleichen Formaten. Bei dem sogenannten Zyklopenmauerwerk werden unregelmäßige Blöcke über- und nebeneinander geschichtet, störende Vorsprünge abgeschlagen oder durch kleinere Blöcke ausgeglichen, Löcher und breite Fugen mit Erde und Lehmmörtel geschlossen oder mit kleinen Steinen »ausgezwickt«. Eine techn. und ästhet. Steigerung dieser Technik zeigen die Polygonmauern altital. Städte. Bei der Stadtmauer von Alatri z. B. werden die vieleckigen Blöcke nach Größe und Form ausgesucht, ihre Flächen einander angeglichen. In dem insgesamt horizontal aufgebauten Verband wechseln Schichten mit Quadern gleicher Höhe und den gewohnten schrägen Stoßfugen mit einer bogenförmigen Anordnung polygoner Steine um zentrale Blöcke. Sie sichert durch eine Verspannung nach Art großer Entlastungsbögen dem Verband ein hohes Maß von Festigkeit (vgl. den spätmyken. Großsteinbau S. 130, 148). Die horizontale Schichtung großer Blöcke mit haardünnen Fugen kennzeichnet den ägypt. Steinbau. Am Tempel Amenophis' III. in El Käb wird das archaische Prinzip des Ineinanderpassens und Verklammerns von Blöcken mit natürl. Unebenheiten gesteigert durch die exakte Ausarbeitung der verspringenden Lagerfugen. Hier durchdringen sich die Prinzipien des Regelmäßigen mit dem Zufälligen. Vollkommenes Kegelmaß des Verbandes erfordert den höchsten Aufwand an Technik und Arbeitszeit. Als Ideal gelten haardünne Fugen ohne Mörtel. Metallklammern sichern die Blöcke gegen seitl. Verschiebungen. Oft wird die Lagerfläche der Blöcke
leicht ausgehöhlt und an den Kanten geschliffen, um das feine Netzwerk der Haarfugen zu erreichen. Dieses Verfahren, die Anathyrose (Antike, Mittelalter), beschränkt aber die kraftübertragende Fläche auf die Ränder, die eine erhöhte Kantenpressung aushallen müssen (Bruchgefahr). Regelmäßigkeit herrscht von Anfang an im Ziegelbau. Sie ergibt sich aus der künstl. Herstellung des Ziegels als erstes genormtes Bauelement. Bei dem geringen Eigengewicht und der großen Zahl der Fugen kommt dem exakten Mauerverband höchste konstrukt. Bedeutung zu. Der schichtweise Wechsel der Steinlagen mit Läufern und Bindern und der Versatz der Stoßfugen findet sich bei den Ziegelbauten der mesopotam. Hochkulturen, z. B. in Uruk, ebenso wie im röm. Ziegelbau (S. 256) oder in der Gotik. Die Behandlung der Sichtflächen ist neben dem Fugenbild entscheidend für die ästhet. Wirkung. Bei der Aqua Marcia in Rom bleibt die naturrauhe Oberfläche des Quaders als Bosse stehen und wird nur längs der Fugen durch den Randschlag geglättet. Bewußt wird neben der Arbeitsersparnis der Ausdruck robuster Kraft angestrebt. Er bleibt ein Charakteristikum von Wehrbauten oder sich wehrhaft gebender Epochen. Das Cellamauerwerk des Parthenons bringt mit der femgeschliffenen Oberfläche die Struktur des Marmors und das absolute Ebenmaß des isodomen Verbandes (S. 60) zur Geltung, das dem künstlichen Charakter der Architektur und dem hohen Rang des Sakralbaues angemessen erscheint. Mehrfarbigkeit erhöht die repräsentative Wirkung und belebt große Flächen durch Ausnutzung meist kleinteiliger Mauerverbände. Ornamental und symbolisch geschieht dies bei dem wahrscheinl. von einem fränkischen Bautrupp erbauten Römerturm in Köln. Dort haben die Schmuckformen keinen Bezug zur Konstruktion, wie sonst bei röm. Mauerwerk (S. 256). Der Mauerverband wird weniger als konstrukt. Gefüge, sondern mehr als zu ornamentierende Fläche behandelt. In ähnlicher Weise haben die mesopotam. Hochkulturen Textilmuster, Pflanzenmotive und herald. Tiere Symbol, auf Stadtmauern, Tore und Paläste übertragen (S. 82). Bei der Laodmauer von Konstantinopei folgen die Byzantiner der typ. spätröm. Technik, die verschiedenes, am gleichen Ort vorhandenes bzw. produziertes Material in Verbundkonstruktionen vereinigt. Bänder aus Ziegeln gliedern die hellen Mauerflächen aus Naturstein. Die Entlastungsbögen aus Doppelreihen schmaler Ziegelplatten sind in ausdrucksvoller Weise mit allen Öffnungen der Mauer von der Schießscharte bis zum Monumentaltor verbunden. Die Gesetzmäßigkeiten des reinen Mauerwerkbaues bleiben in allen Jahrtausenden unverändert an das Material gebunden.
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Bauelemente HI/Wand 3
Gekuppeltes romanisches Fenster Montpellier: mittelalterliches Wohnhaus
Gotisches Steinbalkenfenster Mykene: Palast, Fenster zum Hof
feM Alfeld a . d . L . : Fagus-Werk
Wand und Öffnung
Bauelemente HI/Wand 3 33 Der Charakter der Räume und Baukörper wird entscheidend mitbestimmt durch das Verhältnis von Wand und Öffnung. Art und Größe der Öffnungen hängen vor allem von zwei Faktoren, Klima und Bautechnik, ab. Das Klima bestimmt das Bedürfnis nach Licht und Schatten, Wärme und Kühlung. Die heißen Klimazonen mit intensivem Sonnenlicht und hohen gleichbleibenden Temperaturen erzeugen den Wunsch nach kühlendem und das Licht dämpfendem Schatten. Ihm entsprechen Gebäudetypen mit fast völlig geschlossenen Außenwänden, wenigen kleinen und meist hochliegenden Fenstern, Innenhöfen und Säulenhallen. Die gemäßigten und kühlen Zonen mit gedämpftem Sonnenlicht, Wechsel der Temperaturen und Jahreszeiten, kurzen Sommern und kalten Wintern, erzeugen den Wunsch nach viel Wärme und Licht. Ihm entsprechen vom Lichtbedarf her Gebäude mit großen Fenstern, vom Wärmebedarf her mit dichten, wärmespendenden Wänden. Die Bautechnik hat also - besonders in den kühlen Zonen - widersprüchliche Forderungen zu erfüllen. Die Ausbildung großflächiger Lichtöffnungen bleibt in histor. Zeit auf Europa und Ostasien (Japan, S. 16) beschränkt. In Europa konstruieren zuerst die Römer Fenster (fenestra) mit Rahmen und Glasfüllung (S. 256). Sie versehen ihre Räume zugleich mit Fußbodenheizung. Erst viele Jahrhunderte später beginnt in Mitteleuropa die Entwicklung erneut. Sie führt im Industriezeitalter zur Klimatechnik, zur Herstellung von Tafelglas in Großformaten und zur Auflösung der Wand (vgl. S. 28, 36). Das Fenster entwickelt sich vom »Loch in der Wand« (S. 20) zum »Glasvorhang« in geschieht!, und räuml. getrennten Kulturen. In den frühen Hochkulturen bleiben die Lichtöffnungen klein. In Ägypten werden sie zumeist als Oberlichter hoch unter der Raumdecke eingebaut (Fassade, S. 112). Ein Lichtelement im Tempel von Deir el Medina besteht aus einem gekuppelten Fenster mit einer gedrungenen Mittelsäule unter dem Sturz. Über seinen beiden seitl. Auflagen sind kleine Mauerlöcher ausgespart (Sonnenschutz?), vom .Abschlußgesims des Gebäudes überdeckt. Das differenzierte Element wird in einfacher Weise aus den Bedingungen des Mauerverbandes entwickelt. Ein gekuppeltes Fenster der roman. Zeit zeigt ca. 2000 Jahre später ein ähnl. Prinzip in der schlankeren Proportion, die dem kleinteiligen Mauerverband und der vertikalen Tendenz entspricht. Sturzsteine mit kleinen Rundbögen überdecken die schmalen Öffnungen; sie bilden mit den seitl. Fenstergewänden und den Fensterbänken einen Rahmen innerhalb der Mauerffäche. Das Fenster beginnt, sich als selbständiges Element aus dem Mauerverband zu lösen, Bei dem gotischen Steinbalkenfenster sind alle Einzelheiten von der Rahmenfunktion bestimmt. Ein Steinkreuz aus schmalen
Profilen stützt den zweiteiligen Sturz und unterteilt die große Öffnung. Die hölzernen Fensterflügel werden an den Pfosten und den gleichartig profilierten Gewänden »angeschlagen«. Diese Fensterform und die von ihr abgeleiteten Varianten bleiben von der Spätgotik bis zum Beginn des 20.Jhs. mitteleuropäische Standardtypen für den Profanbau. Sie erreichen, in Stein, Holz und Eisen ausgeführt, beträchtl. Größen. Das Material wird bis zum äußersten beansprucht, die Profile bleiben so dünn wie möglich, um einen hohen Lichteinfall zu erzielen. Die Ausbildung von Rahmenelementen wird besonders vom Fach werkbau begünstigt (S. 28, 58). Schon in den Hochkulturen der Ägäis wird eine die Mauern verstärkende Balkenkonstruktion bei der Anlage der für das mediterrane Klima relativ großen Lichtöffnungen konstruktiv und formal genutzt. Beim Palast von Mykene gliedern die Balkeneinlagen - wie bei den minoischen Palästen und Wohnhäusern (S. 132, 136) - als horizontale Bänder die Fassaden. Die Fenster bestehen aus schweren Holzrahmen, die den Eindruck der Architektur wesentlich bestimmen. Das Zusammenspiel von Wand und Öffnung kann zu völlig gegensätzlichen Ergebnissen führen. Das mittelalterliche Wohnhaus in Montpellier, ein Stadtpalast südeuropäischer Prägung (vgl. Renaissance Bd. II), wird ganz von der Masse des Mauerwerks beherrscht. Im Untergeschoß sind die Einzelformen nach röm. Tradition aus dem Mauerverband mit seinen schweren Quadern entwickelt. Die scheitrechten Stürze, der mächtige Rundbogen aus Keilsteinen, die schweren Gewände sind im Verhältnis zu den Öffnungen fast zu kräftig und verstärken den wehrhaften und monumentalen Charakter des Gebäudes. In den oberen Geschossen ist das Mauerwerk kleinteiliger (Deponderation), sind die gekuppelten Fenster schlank, die Fenster unter dem Dach lochartig klein. Das umgekehrte Verhältnis von Wand und Fenster beherrscht das 1912 von WALTER GROPIUS erbaute Fagus-Werk in Alfeld a. d. Leine. Von der gemauerten Wand sind nur schmale Ziegelpfeiler in großen Abständen übrig geblieben. Fast die gesamte Außenfläche des Fabrikations- und Verwaltungsgebäudes besteht aus Fensterwänden. Sie treten vor die Flucht der tragenden Pfeiler und werden als Vorhangwände (curtain walls) frei vor den Geschoßdecken in die Höhe und seitl. um die Gebäudeecken herumgeführt. Das tragende Gerüst des Gebäudes trennt sich funktional von den nur schließenden Flächen, noch mehr, als es im Fachwerkbau (S. 58) und in den got. Kathedralen (S. 64) geschieht. Der ehemals feste Baukörper wird durchsichtig und abstrakt, das Fenster wird zur Wand.
34 Bauelemente IV/Stiitzen l
Troja VI: Säulenhaus
Funktion und Form von Stützen
Schwäbisch Hall: Wohnhaus
Nes: Stabkirche
Bauelemente IV/ Stützen l 35 Stützen sind meist senkrecht stehende, selten schräg geführte Bauelemente zur punktweisen Aufnahme von Lasten. Die Formen der Stützen ergeben sich aus dem Material, dem Zusammenhang mit der Konstruktion, die die Lasten auf die Stützen überträgt, und dem künstler. Formwillen. Jahrtausendelang stehen als Baustoffe nur Stein oder Holz zur Verfügung. Holz eignet sich wegen seiner gewachsenen Faserstruktur, relativ hohen Festigkeit, Elastizität und leichten Bearbeitbarkek für weitgespannte Bauteile und konstruktive Verbindungen aller Art. In holzreichen Ländern herrschen Holzbauweisen, z. B. der Blockbau oder der Skelettbau (S. 58) vor. Bei einem Wohnhaus in Schwäbisch Hall sind die Stützen ganz in das Gefüge der Fachwerkwand einbezogen. Zwei Paar sich überkreuzender Streben, die Kopfbänder und Fußbänder bilden mit dem bis zur Grundmauer durchgehenden Ständer das als »wilder Mann« bekannte Element des alemann, und schwäb. Fachwerks. Es dient der Entlastung der Rahmenbalken und der Verspannung sämtlicher Balken zu einem unverschiebbaren Verband. Die Funktion der Stütze als selbständig tragendes Element, ihr punkt- und stabförmiger Charakter, kommt unmittelbar zur Geltung in den Säulen. Ihre vielgestaltige Formenfamilie geht auf das aus dem Baumstamm gewonnene Rundholz zurück. In der mittelalterlichen Stabkirche von Nes steht der tragende Mast in der Mitte des Raumes und ist ähnlich wie die Stämme beim alten Firstsäulenhaus mit dem Hausgerüst verbunden. Das Balkenkreuz über dem Erdgeschoß - später mit einer Zwischendecke überdeckt - ruht auf vier halbkreisförmig ausgeschnittenen Kopfbändern, den »Knaggen«. Für sie wird möglichst krummgewachsenes Holz verwendet, um die natürl. Faserrichtung des Holzes zu nutzen. Sie greifen in die im Mast ausgesparten langen Nuten ein. Die gleiche Verbindung der Elemente wiederholt sich an den Säulen der Außenwand. Sie hindert die Stützen am seit!. Ausweichen und versteift den gesamten Baukörper. Die pfeilerartigen Säulen im Säulenhaus von Troja VI, datiert auf etwa 1350 v. Chr. (S. 26), sind formal selbständige Elemente. Sie nehmen in der Mittelachse des Hauses den aus mehreren Stücken bestehenden Hauptbalken auf, der als Unterzug die Dekkenhölzer trägt. Am Stützenkopf dient eine flache, wenig auskragende Holzplatte als Auflager für die stumpfgestoßenen Unterzugbohlen. Die aus einzelnen Trommeln aufgemauerte Stütze verbreitert sich ihrer stat. Funktion gemäß nach unten, um den durch das Eigengewicht wachsenden Druck besser aufzunehmen, die Bodenpressung zu verteilen und die Kippsicherheit zu erhöhen. Sie nimmt den Typ der dorischen Säule vorweg, die ca. 500 Jahre später aus der frühen griech. Holzarchitektur entsteht. Die
schlanke, stabförmige Holzstütze weicht auch dort dem gedrungenen, konischen Steinkörper (S. 154 ff). Dem vor allem von den Römern konsequent entwickelten Steinbau mit Bogen und Gewölben entsprechen als Stützenformen die Pfeiler. Die Zusammenführung der Bögen benötigt eine große Fläche, d. h. entweder einen Stützenkörper von entsprechendem Querschnitt, oder, wie bei der Säule, eine Kopfplatte. Die Ausbildung immer neuer Pfeiler- und Kapitellformen wird u. a. zu einem zentralen Thema der mittelalter]. Architektur. Bei der im experimentellen Stadium der roman. Epoche entstandenen Abteikirche von Lons-le-Saunier (Franz. Jura) wechseln die Pfeilerformen; neben runden und achteckigen stehen quadratische mit abgeschrägten Kanten und leicht auskragenden Platten. Man versucht, dem gemauerten Stützenkörper die Härte zu nehmen, ihn schlanker zu machen und einen organischen Übergang zum Bogen zu finden. Seit dem 19. und 20.Jh. ermöglichen Eisenbeton und Stahlbau Konstruktionen mit großen Spannweiten und wenigen Stützen. Bei der neuen Nationalgalerie in Berlin, 1968 von MIES VAN DER ROHE erbaut, tragen nur acht Stützen ein als verwindungssteifer Trägerrost ausgebildetes flaches Dach von 65/65 m. Die Übertragung der Dachlast auf die kreuzförmige Stütze erfolgt nicht mit der übl. Kopfplatte, sondern - absolut punktförmig - über ein Gelenk aus hochfestem Stahl. Der Gegensatz von Stütze und Last, dargestellt durch Horizontale und Vertikale, erhält eine neue Interpretation: Die schwere Dachplatte scheint über den Stützen zu schweben (vgl. S. 36). Einem ganz anderen Prinzip folgt die Konstruktion des Palazzo di Lavoro in Turin, einer 1960/61 von PIER LUIGI NERVI erbauten Ausstellungshalle. 16 Deckenfelder von 38 m Seitenlänge überdecken eine Flache von ca. 25000 qm. Sie bilden, als Kragplatten konstruiert, mit den in ihrer Mitte angeordneten Stützen eine konstruktive Einheit, einen »Pilz«. NERVI verbindet mit einer im Grundriß kreuzförmigen, aber abgekanteten und konisch zulaufenden Stütze aus Eisenbeton einen sternförmigen stählernen Stützenkopf, der mit den Bewehrungseisen der Stütze verschweißt ist. Mit ihm sind die radial auskragenden Stahlträger verschraubt. Ein umlaufender Rahmen schließt jedes Deckenfeld ab. Die abschließende Dachplatte liegt auf dieser Konstruktion. Die schmalen Zwischenräume wirken statisch als Bewegungsfugen, optisch als Lichtschlitze. Durchsichtige Kunststoffprofile decken sie ab und betonen demonstrativ die Selbständigkeit der einzelnen Deckenfelder. Die Stützen sind fest in die Fundamente eingespannt und tragen das Hallendach wie große Bäume. Ihre Form macht nicht nur den Kräfteverlauf anschaulich, sie rückt in die Nachbarschaft des organisch Gewachsenen.
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Bauelemente V/Stützen 2
Athen: Parthenon
Mexico: Verwaltungsgebäude
Bordeaux: St. Seurin, Krypta
Neandria: Tempel
Herrschaft der Stütze am Bau und im Raum
Bauelemente V/ Stützen 2 37 Stützen nehmen wichtige Positionen im konstrukt. Gefüge ein. Schon früh versucht man, sie nicht nur nach techn., sondern auch nach ästhet. Gesichtspunkten zu formen und in das Bauwerk einzuordnen. In der ägypt. Architektur bringen sie meist neben ihrer tekton. Funktion symbol. Gehalte zum Ausdruck (S. 104). In der griech. Architektur tritt der Gegensatz zwischen Stütze und Last klar hervor. Die Übertragung der Ursprung]. Holzkonstruktion in den Steinbau führt zwar techn. zu Komplikationen, in vorbildlicher Weise werden aber die Funktionen der tragenden und getragenen Elemente »sichtbar« gemacht und, von jedem ökonomischen Zweck befreit, zu einer Idealarchitektur verdichtet (S. 154 ff.)Eine Ecke vom Parthenon in Athen läßt erkennen, in welchem Ausmaß die Stützen den griech. Sakralbau beherrschen. Stütze und Last stehen dabei in vollkommenem Gleichgewicht. Die Säulen, als selbständige Körper durchgebildet, verlieren auch in der Reihe oder als Gruppe nicht ihre plast. Qualität. Der Zwischenraum wird von ihrer Ausstrahlung beherrscht. Auf ihr beruht der Eindruck körperl. Dichte der Ringhalle nach außen (S. 18). Durch die ausgewogenen Proportionen und die knappe Formgebung erhält der von Natur aus schwere Steinbau Straffheit und Elastizität. Die griech. Lösung bleibt in ihrer formalen Logik Vorbild, solange sich die techn. Grundlagen nicht ändern, d. h. solange es nur die Alternative zwischen Gewölbe- und Architrav-Bau gibt. Im 19. Jh. machen Stahlbau und Eisenbeton den Weg zu neuen Lösungen frei (S. 34). Die Architektur erhält mit den gewalzten Stahlprofilen ein Material, das in gleichbleibender Form und techn. Qualität in beliebiger Menge zur Verfügung steht. Im 20.Jh. wird es als ein für die Epoche repräsentatives Element zur Geltung gebracht. Bei dem 1961 von MIES VAN DER ROHE erbauten Bacardi-Verwaltungsgebäude bei MEXICO CITY tragen vier Reihen von je sechs Stützen aus handelsübl. Profilen das Obergeschoß mit den Verwaltungsräumen. Das Erdgeschoß besteht nur aus einer weit hinter die Gebäudeflucht zurückgesetzten gläsernen Empfangshalle und einem offenen Umgang. Die äußeren Stützenreihen treten an den Längsseiten vor die Flucht des Obergeschosses und sind seitl. fest mit dem selbsttragenden Gehäuserahmen verbunden. Die Stützenform entspricht dieser Art der Lastübertragung: das Walzprofil ist fest im Fundament eingespannt und benötigt weder Basis noch Kapitell (vgl. dagegen S. 34). Die Fensterstützen des ganz in Glas aufgelösten Obergeschosses wiederholen das Motiv der Hauptstützen und ergänzen deren Rhythmus durch ihren geringeren Abstand. Der Charakter schwebender Leichtigkeit, verbunden mit großer Präzision und Festig-
keit, wird besonders deutlich an der frei auskragenden Gebäudeecke. An die Stelle traditioneller Vorstellungen von Stütze und Last und vom fest auf der Erde stehenden Baukörper tritt hier das Spiel fließender Räume und schwebender Flächen. Entscheidende Wirkungen haben Stützen im Innenraum. Die Funktion des Tragens zu erfüllen, ohne zu teilen, ist stets dort ein Problem, wo die Technik nicht ausreicht oder zu unwirtschaftl. wird, um einen Raum stützenfrei zu überdecken. In dem durch die äußeren Grenzen bereits beschränkten und geformten Innenraum macht sich die Körperlichkeit der Stützen besonders stark bemerkbar. Raum und raumverdrängende Stützen stehen in einem den Raumcharakter bestimmenden Spannungsverhältnis zueinander. In dem in das 6.Jh. v. Chr. datierten Tempel von Neandria (NW-Kleinasien) kann die Halle noch nicht stützenfrei überspannt werden. Die Reihe der Stützen teilt den Raum in zwei »Schiffe« und bringt ihn damit um die einheitl. Wirkung, die von den umschließenden Wänden ausgeht. Die schlanken Säulen stehen noch in der Tradition des Holzbaues (vgl. S. 34 NES). Die äolischen Kapitelle, mehr dekorativ als tektonisch, verleihen dem leichten Gehäuse eine festliche und heitere Note. Diese Art der Raumteilung läßt sich in archaischer Zeit auch für andere Tempel und für Profanbauten nachweisen. Als ökonomisches Prinzip setzt sie sich bezeichnenderweise auch im Profanbau des Mittelalters durch (Refektorien, Spitäler). Im Sakralbau geht man allgemein in fast allen Epochen zur dreischiffigen Einteilung über. In den horizontal-vertikalen Stütze/LastSystemen (Architravbau) sind Raumhöhe und Stützenstellung relativ frei wählbar, solange sie innerhalb der zulässigen Spannweite bleibt. Im Gewölbebau müssen die Stützen genau an den Punkten im Gesamtsystem stehen, die durch die Spannweite des Gewölbes festgelegt werden. Die Krypta von St. Seurin in Bordeaux, ein kleiner unterird. Sakralraum des roman. Mittelalters, ist ganz von dieser konstrukt.räumlichen Einheit bestimmt. Sie wird in der Form und Stellung der Stützen und dem Übergang zum Gewölbe unmittelbar sichtbar. Die mittelhohen Säulen münden in Trapezkapitelle mit einer auskragenden Kämpferplatte. Auf ihr treffen die breiten Joch- und Arkadenbögen zusammen. Den'Stützen fehlt die antike Körperlichkeit mit ihrer ausstrahlenden Spannung. Sie würde eine Integration in das räuml. System verhindern. Die Herrschaft des Raumes prägt den Charakter der Stützen im Gegensatz zur Antike. Während des Mittelalters verwandeln sich die Stützen in Bündel von Kraftlinien, aus denen der Raum aufzusteigen scheint (S. 64). In der Krypta von St. Seurin steht diese Entwicklung noch am Anfang.
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Bauelemente VI/Dach
2 Ovalhaus bei Benevent
1 Rasthaus bei Benevent
8 Pyramidendach (Abruzzen)
9 Stadt. Reihenhaus (Apulien)
Baukörper und Dachform (nach SÖDER: Urformen der abendländ. Baukunst)
Bauelemente VI/Dach l 39 Dachhäuser gehören zu den ältesten Bauwerken. Um Raum zu gewähren, muß das Dach steil oder über einer Wohngrube angelegt sein. Nach der Aufrichtung von Wänden sind Dach und Raum nicht mehr unbedingt miteinander identisch, ihre Funktionen beginnen sich zu trennen. Aus den Beziehungen von Grundfläche, Dach und Wand entsteht eine Vielzahl von Haustypen und Dachformen. In regenreichem Klima leiten geneigte Dächer das Regenwasser schnell zum Boden, in heißem, trockenem Klima sammeln es flache Dächer mit aufgebogenen Kanten und leiten es in Zisternen. Die tragenden Konstruktionen hängen vom Baumaterial ab. Für den Steinbau sind Gewölbe, für den Lehmbau Balkendecken mit gestampfter Lehmschicht, für den Holzbau Bohlendächer (S. 42) oder verzimmerte Dachstühle charakteristisch. In der Landwirtschaft bringen hohe Dächer als Speicher Nutzen, in der Raumenge der Städte dienen flache Dächer oft als Wohnund Schlafterrassen, besonders im heißen Orient. Solche Differenzierungen nach Klima, Zweck und Material vollziehen sich z. T. schon in der Frühgeschichte und begründen feste Traditionen. Herkömmliche Dachformen bleiben oft unverändert, auch wenn sich die Umstände, die sie einst hervorgebracht haben, grundsätzlich ändern. Sie werden auf andere Länder, Wirtschafts- und Wohnweisen, anderes Klima und Material übertragen. In Italien, wo seit Jahrtausenden immer erneut eingewanderte Volksgruppen nebeneinander siedeln, findet sich noch heute eine kaum übersehbare Vielzahl histor. Dachund Hausformen nebeneinander. Die Truüi Apuliens entstehen aus der Gruppe der Kragkuppeln (S. 84), bei denen Dach und Wand ursprüngl. eine einheitl. Fläche bilden. Der heutige Typ besteht aus einem quadrat. Raum unter einer Kuppel mit Kreisgrundriß. Ihre Innenschale ist parabol. gekrümmt, eine kegelförmige Außenschale leitet den Regen ab. Beim Zusammenschluß mehrerer Trulli bleibt die Einzelform erhalten. Sie bilden eine charakterist. Gruppe, keine neue Gesamtform. Der Übergang zum Rechteckhaus vollzieht sich in der variantenreichen Gruppe der Ovalhäuser. Bei ihnen bleibt die Dachform noch eng an den Grundriß gebunden, fast zwangsläufig entsteht ein Dach mit halbrunden Waltnen und kurzem First. Über rechteckigen Grundrissen entstehen die noch heute üblichen Standardformen, z. B. Satteldächer verschiedener Neigung, Walmdächer, Pult-, Pyramiden- und Zeltdächer mit ihren Varianten und Verbindungen. Bei dem noch in die Antike datierten Rasthaus bei Benevent schließen sich unter dem knappen, röm. flachen Satteldach Vorlaube, großer Torbogen und lange geschlossene Mauerffäche zu einem ruhig lagernden Baukörper zusammen, der röm. Form des mediterranen Megarons (S. 134).
Welchen Einfluß das Verhältnis von Dach und Wand ausübt, zeigt der Vergleich mit einer Scheune mit apsidialem Anbau nahe dem COMERSEE. Steiles seit!, überstehendes Dach und kurzes Haus vereinigen sich zu einem aufrecht stehenden Baukörper. Das gleiche Material für Dach und Wand ergibt keinen die Form klärenden Kontrast. In dem Anbau eines Stalles lebt die Form des Rundhauses weiter, ein Beispiel dafür, daß Dach- und Hausformen sich oft an bestimmte Zwecke binden und als Typen nebeneinander stehen, z. B. Herdhaus und Schlafhaus, Scheune und Stall. Bei dem Herdhaus mit Spiegelgewölbe im Raum POMPEJE/SALERNO bestimmt der Raumkubus eindeutig die Hausform. Das Spiegelgewölbe tritt ohne weitere Schutzdeckung nur als flache Schale aus dem Würfel heraus und nimmt ihm durch den weichen Übergang etwas von der Härte der Form (vgl. S. 44, 46). Im schroffen Gegensatz dazu stehen die Häuser mit Pultdächern. Das einseitig schräge Dach und die dadurch bedingte Form des Baukörpers bieten ein Bild formaler Härte. Je nach Blickpunkt dominiert die Wand- oder die Dachfläche. Hier wird eine der Urformen des Daches sichtbar: der Windschirm, gegen die herrschende Windrichtung gestellt, gegen eine Felswand gelehnt, mit Streben abgestützt oder von einem Pfostengestell getragen. Seine Tradition erhält sich besonders im Gebirge mit steilen Hängen und dem oft einseitigen Windangriff. Die meist versetzte Anordnung der Geschosse (Fenster!) entspricht der Hangneigung. Bei größeren Häusern oder steilem Gefalle erlaubt das zweistufige Pultdach eine bessere Anpassung und verhindert, daß die Baumasse zu hoch über den Hang emporwächst. Bei zwei und mehr Geschossen verschiebt sich das Verhältnis von Wand und Dach. Das Dach wird hoch vom Boden abgehoben, die Wände wachsen zu steil aufgerichteten Flächen. Beim Zusammenschluß zur Häuserreihe bilden sich Straßen- und Platzwände. Eine flache Dachneigung begünstigt das Zusammenwachsen der Häuser und steigert die Frontalität und Raumwirkung. In den Städten Apuliens bilden zweigeschossige giebelständige Häuser den Straßenraum. Die röm. flachen Giebel vermitteln durch ihre Asymmetrie die Anpassung an das Gefalle der Straße. Bei dem isolierten Haus auf quadrat. Grundriß betont das Pyramidendach den fast turmartigen Charakter, die G leichwertigkeit aller Seiten, die kristallhafte Härte des Baukörpers, wie er bei den frühen roman. Kirchtürmen zur Regel wird. Beim Verhältnis von Baukörper und Dach ist die Dachform ein entscheidender Faktor. Gleiche Baukörper erhalten durch Variation der Dachform ganz verschiedenen Charakter. Dächer individualisieren den Baukörper.
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Bauelemente VII/Dach 2
Orbetello: Flugzeughalle, La m eilentrag werk
Landskrona: Sporthalle, Stahlgitterdach
Dachstühle und Tragwerke
Bauelemente VII/ Dach 2 41 Dachkonstruktionen verbergen sich unter der Oberfläche der Dachformen wie ein Skelett im Körper. Ihre Zahl ist weit größer als die der Formen. Z. B. können Satteldächer von freitragenden Dachstühlen, von Sparrenreihen, Firstgestellen und anderen Konstruktionen einschl. der Tonnengewölbe getragen werden. Die Differenzierung der Konstruktionen beginnt schon in der Vorgeschichte. Als grundsätzliche Lösungen entstehen 1. flache Dächer aus einem tragenden Balkenrost mit Füllung und wasserdichter Oberschicht, besonders im Vord. Orient und östl. Mittelmeer; 2. Gewölbe-Dächer, besonders Tonnen- (S, 44) und Spiegelgewölbe (S. 38), offen oder verkleidet, hauptsächlich im Mittelmeerraum (Italien, Ägäis); 3. geneigte Dächer mit verschiedenen Konstruktionen. Formen und Neigungen, mit konstrukt. Trennung von Dachgerüst und Dachdeckung in fast allen Ländern. In den verschiedenen Siedlungsräumen verfestigen sich die handwerkl. Konstruktionsmethoden zu Traditionen. In abgelegenen Landschaften Italiens bestehen sie noch heute oft unvermittelt nebeneinander. Deutlich unterscheiden sich Einraumhäuser röm. und german. Tradition. Rofendächer mit Firstbalkcn sind typisch für die bäuerlichen Herdhäuser röm. Herkunft. Sie bestehen aus wenigen einfachen, gegensätzl. Elementen: umschließende und tragende Wände aus Stein, Dachgerüst aus Holz, Dachdeckung aus dem verfügbaren Material: Schilf, Stroh, Steinplatten, Ziegel. Der Firstbalken, ein massiver Baumstamm, spannt sich frei von Giebel zu Giebel. Die Rofen, schwere Rund- oder Kanthölzer, liegen in flacher Neigung und großen Abständen auf Firstbalken und Außenmauer, darüber ein Stangenrost für die Dachdekkung. Diese einfachen Häuser sind Endglieder einer langen Entwicklung. Sie beginnt bei ellipt. Häusern mit Flechtwerkwänden und Walmdächern auf Firstgestellen. Ihre störenden Mittelstützen verschwinden allmählich. Aus ellipt. Häusern entstehen auch die Sparrendächer german. Tradition. Ihr tragendes Element vom Dachhaus her ist der Sparren, meist über Pfosten wänden mit Stroh- oder Schilfmantel. Von H. SODER aufgenommene Fischerhäuser in der Lagune von Grado, noch im 19.Jh. von den Fischern selbst erbaut, zeigen ein typ. Baugefüge langobard. Tradition mit einem Sparrendach auf Pfostenringgestell. Die Sparren steigen als freitragende Kanthölzer vom Schwellenkranz zum First auf, wo sie paarweise miteinander verbunden sind. In halber Hohe versteifen Spannriegel das Gespärre zu einem festen Dreiecksverband (Vorstufe zum Kehlbaikendach). Die Gespärre beschränken sich auf den mittl. Teil des Daches unter dem First. Die beiden Walme bestehen aus radial angeordneten Rundhölzern, die am Firstpunkt mit dem
jeweils letzten Sparrenpaar verbunden sind. Das Pfostenringgestell entspricht in seiner Stützenanordnung genau der Dachkonstruktion. Die vorgewölbte Eingangsseite mit der erhöhten Tür erinnert noch an die Herkunft von der Ellipse. Die Pfosten und die Diagonalstreben sind tief eingegraben. Leichte horizontale Stangenhölzer tragen die Dachhaut aus Schilf. Röm. Rofendach und german. Sparrendach bilden feste Bautraditionen bis in das 19.JH. hinein. Die Dimensionen werden durch eine weiterentwickelte Zimmermannstechnik bedeutend gesteigert. Seit dem 19.Jh. führen mathemat. Berechnung und neue Baustoffe zu neuen Konstruktionen für die neuen Aufgaben des Verkehrs, der Industrie, der Massenveranstaltungen. Dachkonstruktion und -form können für den speziellen Zweck frei gewählt werden. Die Flugzeughalle von Orbetello, 1939-41 von PIER LUIGI NERVI gebaut, entspricht in Größe und Form den Forderungen des Flugbetriebes. Nur sechs Stützen tragen das 40/100 m weit gespannte Dach, ein flach gewölbtes Tragwerk aus vorgefertigten Betonlamellen, die sich gegenseitig verspannen. Der Dachrand ist als versteifender Gitterträger ausgebildet. Der in der Dachebene liegende Teil nimmt die Druckkräfte auf und verteilt bei freien Spannweiten von 50 m die Dachlast auf die Stützen. Der horizontale Untergurt dient als Führung für die Rolltore und als Windverband. Die Stützen entsprechen in ihrer schrägen Stellung und charakterist. Form dem Kräfte verlauf. Sie übernehmen in Art eines Strebewerks (S. 26) die Funktion von Stütze und Widerlager. Die Sporthalle von Landskrona, 1962 von ARNE JACOBSEN entworfen, stellt eine im Prinzip verwandte Lösung einer ähnlichen Aufgabe dar: die stützenfreie Überdachung einer Spielfläche nach den international festgelegten Maßen für Wettkämpfe (Hallenhandball, Tennis). Das 52/94 m große Dach besteht aus einem Gitter-Rost von 2 m hohen Fachwerkbindern, aus einer Vielzahl gleichartiger Elemente zusammengesetzt. An jeder Längsseite tragen fünf Doppelstützen diese Gitterplatte. Sie stehen am Rand des in den Boden eingelassenen Spielfeldes. Über ihm beträgt die freie Spannweite ca. 38 m. Die Auskragung an jeder Seite überdeckt einen Streifen von ca. 7 m. Den Umgang um das Spielfeld schließt eine Glaswand in der vollen Höhe von 4 m ab. Das Gittertragwerk trägt an der Oberseite die Dachdeckung, an der Unterseite eine Rasierdecke und an den Stirnseiten Metallbleche. Es nimmt die Beleuchtungs- und Klimaanlage der Halle auf. Beide Gebäude entsprechen vollkommen einem Bauideal des 20.Jhs.: dem durch ein sich selbst tragendes Dach stützenlos überspannten Großraum mit beweglichen oder durchsichtigen Wänden. Die Architektur besteht - wie in der Vorzeit - nur noch aus dem Dach (vgl. S. 50).
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Bauelemente Vin/Dach 3
Römische Tonziegel
Sima am griechischen Tempel
Gotische Wasserspeier a seitlich am Giebel, b an der Traufe
Dachdeckung und Regenrinne
Bauelemente VIII/Dach 3 Die Dachdeckung muß als obere Haut des Daches viele, teilweise einander widersprechende Forderungen erfüllen. Sie soll z. B. wind- und regendicht, atmungsaktiv, frostbeständig, stabil, leicht und anpassungsfähig sein. Die moderne Industrie produziert für jeden Zweck geeignetes Material. In histor. Zeit sind die Baustoffe auf natürl. Vorkommen beschränkt und müssen dem Klima entsprechend angewandt werden. Jahrhundertelange Erfahrungen bilden handwerkl.-techn. Traditionen aus. Zwei grundsätzl. verschiedene Hauptgruppen lassen sich unterscheiden. 1. Abdichtende Deckungen: z. B. Schichten aus verdichtetem Lehm, u. U. mit Deckschichten aus Asphalt oder Bitumen, vor allem im Vord. Orient und im mediterranen Küstenbereich. Auch Wölbdächer aus Gußbeton mit wasserabweisenden vulkan. Baustoffen an der kampan. Küste Italiens und in der Ägäis (S. 38, 44). In neuer Zeit Dachbahnen aus bituminierten Pappen, KunststofF- oder Metallfolien für horizontale Flächen in jedem K-lima. 2. Ableitende Deckungen, bei denen mehr oder weniger wasseraufnehmendes Material mit einem entsprechenden Gefalle angeordnet wird. Das Wasser läuft ab, bevor es die Deckung durchdringen kann. Es gibt sie in allen Kulturen von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart. flächenrelief Schilf- und Strohdächer, in der Frühzeit und in ländl. Gegenden besonders häufig, bestehen aus mehreren sich überdeckenden Schichten. Der dichte Mantel, in dem jeder einzelne Halm die Wärme- und Kältespannungen aufnimmt, läßt den Regen schnell abfließen. Der hohe Luftgehalt bewirkt eine sehr gute Atmungsaktivität und Wärmedämmung. Bohlen- und Balkendächer, in holzreichen Ländern meist im Zusammenhang mit dem Blockbau. Dach und Wand sind aus dem gleichen Baustoff einheitl. gefügt. Bei dem Beispiel bilden von der Traufe zum Giebel verlegte gesägte Bohlen auf einem Tragrost aus leichten Rundhölzern eine geschlossene Dachfläche, abgedeckt mit einer dichten Lage von Holzschindeln. Ein Rundbalken deckt die Fuge im First und das Hirnholz der Bohlen ab. Eine Lage starker Rundhölzer dient als obere Ableitungsschicht und Sturmsicherung, beschwert durch große Steine, die von einem parallel zur Traufe liegenden Balken festgehalten werden. Solche Dächer werden oft mit Lehm verstrichen und mit Grassoden gedeckt. Das grasbewachsene Dach gehört noch heute zum Bilde der Dörfer im N und NO Europas. - Bohlen-, Erd- und Grasdächer, Stroh- und Schilfdächer bilden feste, homogene Flächen. Im Gegensatz dazu stehen bewegliche Dachdeckungen. Sie bestehen aus kleinteiligen Elementen gleicher Größe, z. B. Holzschindeln, Steinplatten, Ziegeln aus gebranntem Ton oder Metalltafeln. Sie werden zumeist in einem schuppenartigen Verband angeordnet, in
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dem 1. die durch Temperaturwechsel bedingten Spannungen durch Fugen aufgenommen, die Bewegungen also auf das Einzelelement beschränkt werden, 2. die Fugen durch eine versetzte Anordnung der E!emente abgedeckt werden, um den Regen zuverlässig abzuleiten. Die Art des Verbandes und das angewandte Material geben der Dachfläche die jeweils charakterist. Struktu r, Dieses Prinzip erhält seine klarste Ausformung im Ziegeldach. Es ist in seinem heute noch gültigen Aufbau wahrscheinlich schon im 8.—7.Jh. in Griechenland entstanden. Es besteht dort in seinen verschiedenen Varianten aus zwei Grundelementen: der flachen, in gleichmäßigem Verband verlegten Deckplatte und dem Deckziegel, der die Längsfugen überdeckt. Die Querfugen sind durch gegenseitige Überdeckung gesichert, die Ziegel haben entsprechende Falze. UnterKonstruktion und Ziegeldeckung stehen in enger Beziehung. Beim griech. Tempeldach wird die aus der Funktion entstandene Zweckform wie alle anderen Architekturelemente durch Ausnutzung der Gegensätze (Dachplatte/ Deckziegel), sorgfältige Gliederung, Proportion und Materialwahl (z. B. Marmor) zur Idealform durchgebildet und mit den übrigen Elementen in genaue Beziehung gesetzt (S. 60, 158). Das klassische Oberantiker Ziegeldächer dient bis zur Gegenwart als formales Vorbild für industrielle Ziegeltypen. Die Traufe trägt durch sachgemäße Durchbildung entscheidend dazu bei, das von den Dachflächen ablaufende Regenwasser so abzuleiten, daß es auch bei starkem Wind nicht in die Fuge zwischen Wand und Dach eindringen kann. Die einfachste Lösung ist ein weiter Dachüberstand, von dem das Wasser zu Boden tropft, die Alternative dazu eine Regenrinne. Sie sammelt das vom Dach ablaufende Wasser und führt es an den vorgesehenen Stellen über einen Wasserspeier ab. Beim griech. Tempeldach finden wir beide Lösungen. Bei vielen Tempeln (vor allem im Mutterland) läuft das Wasser über die als Kranzgesims (Geisern) ausgebildete Traufe zwischen den Deckziegeln ab. Bei anderen (besonders in Großgriechenland und Jonien) wird der Dachrand zur Rinne (Sima) hochgebogen und mit einer Reihe von Wasserspeiern versehen, die ornamental oder plastisch, z. B. als Löwenköpfe, ausgeschmückt werden (S. 158). Wasserspeier, in Form von Tieren und Dämonen, bilden ein beliebtes Motiv im Mittelalter, besonders an den Kathedralen mit ihrem Strebewerk und den riesigen Dachflächen. Wegen der großen Höhe der Gebäude und des meist knappen DachÜberstandes ragen sie seitl. des Giebels oder quer zur Traufe weit über die Hausflucht hinaus, um ihre Güsse möglichst weit auf die Straße zu speien. Diese bizarre Gestaltenwelt verschwindet mit der Einführung senkrechter Fallrohre.
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Bauelemente IX/Gewölbe l
Dur-Scharmkin: assyrischer Kanal
Dachhaus aus Bogenrippen
Oviedo: Sta. Maria di Naranco
Chicago: Weltausstellung 1893 Die Tonne, Zweckform und Monumentalform
Bauelemente IX/Gewölbe l Gewölbe sind gekrümmte Raumdecken oder Deckenteile, die sich gegenseitig oder zwischen Widerlagern verspannen. In engerem Sinn bezeichnet man, analog zur Bogenkonstruktion (S. 206), als »echte Gewölbe« nur solche, die mit keilförmigen Steinen und radialen Fugen gemauert sind. Sie werden aber nur in wenigen Epochen ausschließlich angewandt. In den Hochkulturen herrschen Kraggewölbe, bei den Römern Gußbeton, bei den modernen Schalen (S. 50) Stahlbeton und Holz vor. Hinter der wechselnden Gewölbetechnik stehen die gleichen, sehr alten Raumvorstellungen, Tonnengewölbe gehören zu den ältesten und einfachsten Gewölbeformen. Auf vorgeschichtl. Dachhäuser in Tonnenform gehen wahrscheinl. die heute noch in Mesopotamien gebräuchlichen Srefen (S. 84) zurück, ebenso die in Italien von H. SÖDER aufgenommenen Tonnenhäuser, wahrscheinl. aus der Parabelkuppel entstanden. Eine Zwischenstufe hat sich in einem apsidialea Dachhaus nahe BENEVENT erhalten. Ein Strohmantel liegt auf parabol. Bogenrippen, drei hölzerne Mittenstützen durchstoßen den First, eine Entlehnung aus dem Firstständerhaus oder ein Relikt vom Kreiskuppelhaus mit Mittelpfosten. Massive Steingewölbe treten in den Hochkulturen nur bei einigen techn. Bauten und Grabanlagen auf. Mit einer speziellen Wölbtechnik versucht man durch SchrägStellung der Gewölberinge eine bessere Verspannung in der Längsrichtung zu erzielen, z. B. in Dur-Scharrukin (Chorsabad). Dort überdecken segmentförmige Ziegelplatten, in Halbkreisen hochkant angeordnet, einen ca. 720 v. Chr. erbauten Kanal. Ähnliche Schräggewölbe wenden die Ägypter z. B. bei den Magazinen des Rainesseums ca. 1300 v. Chr. und später die SASSANIDEN in Persien bei der riesigen Palasthalle in Ktesiphon im 3.Jh. n. Chr. an. Tonnengewölbe aus radialen Ziegelschichten tragen den als Weltwunder der Antike geltenden Terrassengarten am Palast Nebukadnezars ca. 600 v. Chr. in BABYLON. Sie bleiben mit einer Spannweite von nur 3 m weit unter den Dimensionen der Kraggewölbe, die längst in monumentaler Größe gebaut werden. Etruskische Grabgewölbe werden z. T. als Tonnen in sorgfältiger Keilsteintechnik ausgeführt. Im Ingenieurbau, bei Substruktionen und Befestigungen erreichen röm. und heilenist. Baumeister eine immer präzisere Technik und größere Spannweiten. Tonnengewölbte Wohnhäuser finden sich an der. kampan. Küste Italiens und in der Ägäis. Die leichten Gewölbe aus wasserabweisendem Gußbeton mit vulkan. Baustoffen treten unverkleidet aus dem Baukörper heraus. Dieser Tonnenhaus-Typ dient als räumliche und konstruktive Zelle bei Großbauten der röm. Kaiserzeit, z. B. den Wohnund Geschäftshäusern in ROM und OSTIA (Insulae, S. 224) und beim Trajansmarkt in
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ROM (S. 242). Die Tonnen wirken dort ähnlich aussteifend wie in den hohen Querräumen der Maxentius-Basilika (S. 232). Räume unter Tonnengewölben sind längsgerichtet, wie es diesem Gewölbetyp entspricht, bei dem die Lasten seitwärts auf die Widerlager, den Boden oder die tragenden Mauern abgegeben werden. Die Anordnung von Tonnen in Reihen hintereinander quer zur Raumachse hat sich nur in begrenztem Umfang durchgesetzt. Monumentale Tonnen überwölben große Säle der röm. Kaiserpaläste, z. B. die Basilika in der Domus Augustana (S. 228) und schließlich auch Innenräume im röm. Sakralbau, z. B. die Cella im Tempel in Baalbek und im Tempel der Venus und Roma in ROM. Die Baukunst des Mittelalters nimmt diese Tradition auf, besonders in den früh romanisierten Teilen Westeuropas. Die heutige Kirche Sta. Maria di Naranco bei OVIEDO, ursprüngl. eine westgotische Königshalle, zeigt trotz bescheidener Dimensionen die monumentale Wirkung. Verstärkende Gurtbögen gliedern die lange Tonne, die auf einem ein Gesims andeutenden Rundstab endet. Rundbogenblenden an den Umfassungswänden nehmen das Motiv der Gurtbögen auf. Die vom Gewölbedruck freie Stirnseite ist von drei Durchgängen durchbrochen. Die Halle wirkt wie ein Modell: ein bescheidener Nachfolger der röm., ein Vorläufer der roman.-mittelaltör]. Sakral- und Repräsentationsräume, die in den tonnengewölbten Abtei- und Wallfahrtskirchen Frankreichs und Spaniens ihre erste Vollendung erreichen. Danach tritt die Tonne als herrschende Form bis zum Barock zurück (II Gesü in Rom). Im I9.Jh. bemächtigt sich der Eisenund Stahlbau dieser Form. Sie erscheint in verändertem konstrukt. Gefüge und riesenhaften Dimensionen bei den Ausstellungsund Bahnhofshallen. Skelettkonstruktionen lösen das massive Gewölbe ab. Die Halle für die Weltausstellung in Chicago von 1893 besteht aus einer Folge von Dreigelenkbögen. Die linke und die rechte Hälfte der Fachwerkbögen sind im Scheitelpunkt nur durch Gelenke miteinander verbunden und am Fußpunkt ebenfalls in Gelenken gelagert. Zugstangen unter dem Hallenboden gleichen den Seitenschub aus, horizontale Reihen von Gitterträgern und die gewölbte Stirnseite der Halle übernehmen die Aussteifung in der Längsrichtung. Diesen eisernen Großkonstruktionen entsprechen ähnliche aus Eisenbeton, z. B. einige Großmarkthallen oder die berühmte, von FREYSSINET erbaute Luftschiffhalle in Orty, eine Rippenkonstruktion von parabolischem Querschnitt. In diesen Hallen kann sich die vereinheitlichende und raumbildende Kraft großer Tonnen ganz entfalten. Ihr monumentaler Charakter verbindet sich mit der zweckhaften Welt von Industrie, Technik und Verkehr.
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l l Pergamon: hellenistisches Tonnengewölbe
Gewölbejoch mit Kreuzrippengewölbe chemat. Darstellung)
1 2 3 4
Gurtbogen Schildbogen Diagonalbogen Arkadenpfeiler
Reims: St. Remi, Chorumgang
Gratgewölbe, Rippengewölbe, Gewölbefeld
Bauelemente X/Gewölbe 2 47 Kreuzgewölbe entstehen aus der rechtwinkligen Durchdringung von zwei Tonnengewölben. Die Durchdringungskurven zeichnen sich an der Unterseite als Grate, an der Oberseite als Kehlen ab. Sie entsprechen dem Verlauf der Resultante aus den Druckkräften beider Tonnen. Sie greift am unteren Ende der Kurve, beim Übergang in die Vertikale (Kämpferpunkt) das Auflager schräg von oben an. Widerlager oder andere Gegenkräfte, z. B. Zugbänder oder besonders dicke Mauern, müssen den vom Gewölbe ausgehenden Horizontalschub ausgleichen; das Auflager (Stützen, Mauern) soll möglichst nur senkrechte Lasten aufnehmen (S. 26). Dem Kreuzgewölbe geht wahrscheinlich die Anordnung seitl. Stichtonnen quer zur Längstonne voraus. Bei dem dargestellten heilenist. Tonnengewölbe in Pergamon ergibt sich daraus eine kreuzgewölbe-ähnliche Verschneidung der Gewölbefiächen, sobald beide Scheitel gleiche Höhe erreichen. Dieser Vorgang wiederholt sich oft in der röm., der frühchristl. und der roman. Architektur. Instruktiv ist - im Vergleich zu dem auf S. 44 dargestellten einzelligen Herdhaus mit Tonnengewölbe - ein von H. SÖDER aufgenommenes zweistöckiges Wohnhaus bei Amalfi. Die Differenzierung des Grundrisses führt zu Konsequenzen für die Raumdecke. Über einem zweizeiligen Grundriß im Obergeschoß entstehen aus der Durchdringung der ursprüngi. Längstonne mit kreuzenden Quertonnen zwei Kreuzgewölbe. Der Gewölbedruck lastet bei der Tonne auf der gesamten Längswand, hier konzentriert er sich auf wenige Punkte. Die Verbindung der Raumzellen untereinander, ihre Orientierung zu den verschiedenen Seiten, die Anordnung von Fenstern in den entlasteten Wänden bieten keine konstrukt. Probleme. Die mit vulkan. Baustoffen gemauerten oder gegossenen Gewölbe sind leicht, fest und nahezu wasserdicht. Wie bei anderen Häusern der kampan. Küste (S. 38, 44) bilden sie zugleich das Dach. Der Gußbeton ist eine Erfindung der röm. Bautechnik und gehört zu den Voraussetzungen für den großen Aufschwung im röm. Gewölbebau. Seine Verwendung, z. T. mit verstärkten Ziegelrippen, ermöglicht eine gleichmäßige Druckverteilung und große Spannweiten. Weitgespannte Kreuzgratgewölbe beherrschen vor allem die Hallen öffentl. Gebäude, z. B. der Kaiserthermen (S. 236) und der Maxentius-BasiUka (S. 232). Die Verteilung des Gewölbedruckes auf wenige Punkte gestattet die Durchbrechung der Wände. In der Verbindung weitgespannter Gewölbejoche mit hohen Bogenstellungen auf allen Seiten und großflächigen Fenstern in den vom Auflagerdruck befreiten Wänden erreicht die auf den Innenraum bezogene röm. Architektur einen Höhepunkt. Der Einsatz von Kreuzgewölben sichert ihr einerseits Dispositionsfreiheit für die
Verbindung von Einzelräumen zu großen, zusammenhängenden Baukomplexen. Er schafft andererseits ein von den Säulenordnungen der griech. Antike unabhängiges neues konstruktives Ordnungssystem auf der Grundlage des Quadrates, an dessen Eckpunkten jeweils der Druck durch Einzelpfeiler, Wände oder Bogenstellungen aufgenommen werden muß. Aus der Verbindung von Bogen und Quadrat ergibt sich der den roman. Gewölbebau des Mittelalters teilweise bestimmende quadrat. Schematismus. Die sich aus der punktweisen Ableitung der Druckkräfte ergebende Folgerung, eine Zerlegung der Gewölbe in tragende und füllende Elemente, führt in der gotischen Architektur zum System der Kreuzrippengewölbe. Die Gewölbegrate mit den wirksamen resultierenden Kräften werden zunächst durch unterlegte Rippen verstärkt, dann als selbständige Rippen konstruiert. Gurtbögen, Schildbögen und die sich diagonal überkreuzenden Rippen bilden das tragende Gerüst, die Kappen die Füllung. Damit sie sich zwischen den Rippen verspannen, erhalten sie zumeist eine leichte Überhöhung (Busung). Die Verwendung spitzer Bogen anstelle der Rundbögen ermöglicht eine weitgehend freie Disposition bei der Folge und Abstimmung der Gewölbefelder (Joche). Sie werden jetzt frei vom quadrat. Schematismus, denn bei spitzbogiger Führung können Rippen und Bögen unterschied!. Spannweite von einem gleichhohen Kämpferpunkt ausgehen und sich in einem gemeinsamen Scheitelpunkt schneiden. Die Gewölbejoche können rechteckigen oder trapezförmigen Grundriß annehmen. Die sich ergebende relativ freie Disposition der konstrukt. Knotenpunkte ermöglicht u. a. die im Grundriß bogenförmige Anlage der Umgangschöre in den (französ.) Klosterkirchen und Kathedralen. Die um das Chorpolygon geführten Umgänge werden in trapezförmige Gewölbejoche gegliedert. Die Scheitelpunkte der Gewölbe (Schlußsteine) verlaufen in konzentrischem Kreis um den Mittelpunkt der Chorrundung. Bei dem frühgot. Chorumgang von St. Remi in Reims entspringen alle Gewölberippen auf den Deckplatten der Kapitelle. Bei den Langhauswänden der hochgot. Kathedralen laufen sie z. T. als Dienste bis zum Fußpunkt der Pfeiler hinab. Das Gewölbe wird in Pfeiler und Wand vorbereitet (S. 64). Das im Kreuzgewölbe wirksame Prinzip der Zerlegung in tragende Rippen und füllende Kappen wird im Mittelalter konsequent weitergeführt und bringt eine Fülle weiterer Gewölbeformen, z. B. die Stern-, Fächer-, Netz- und Zellengewölbe, hervor. Immer mehr werden die einzelnen Gewölbejoche zu einem Gesamtgewölbe verschmolzen. Es beruht nicht, wie das Tonnengewölbe auf Starrheit der Form, sondern auf Anpassungsfähigkeit und Beweglichkeit.
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Bauelemente XI/Gewölbc 3
Ostasiatische Jurte
Römische Kreiskuppel (Pantheon-Typ)
1 Laterne 2 (oberer) Druckring 3 Rippe 4 Zuganker 5 innere Schale 6 äußere Schale 7 innerer Umgang 8 Widerlager 9 Treppe
a b c d
Stutzkuppel Kuppel über Pendentifs Kuppel mit Tambour Klostergewölbe auf Trompen
Kuppel über Kreis und Quadrat
Rom: St. Peter, Kuppelkonstruktion
Bauelemente XI/Gewölbe 3 49 Kuppeln, Gewölbe mit regelmäßigen Krümmungen, werden meist über einem Kreis, seltener über einer Ellipse errichtet. Ihre Idealform ist die Halbkugel. Sie wird erst spät verwirklicht. Frühe Gebrauchsformen erscheinen unter den Urformen der Wohnhäuser, z. B. Parabelkuppeln mit Kragwölbung um 5000 v. Chr. in Vorderasien (S. 84), um 3500 in Zypern und noch im 20.Jh. in den Trulli Apuliens (S. 38). Noch in der Gegenwart leben afrikan, Stämme in kuppelartigen RundHütten, Eskimos in gewölbten Schneehäusern (Tglus). Die Nomaden in Ost- und Zentralasien (Mongolei) errichten ihre Jurten, kuppelartige Stangenzelte bis zu ca. 8 m 0 in einer elast. Bauweise, die im Prinzip techn. Lösungen des 20Jhs. vergleichbar ist. Die in solchen urtüml. Häusern realisierten Raumvorstellungen werden nach dem Übergang zum Rechteckhaus jahrhundertelang fast völlig in die meist unterirdische Grabarchitektur verdrängt (S. 148). Erst in der röm. Architektur bricht wieder die Tendenz zum überwölbten Zentralraum durch. In neuen Bautypen am Beginn der Kaiserzeit, z. B. den Thermen und den Kaiserpalästen (Domus Aurea) zeigt sich der Wille zu einer über den zugrundeliegenden Zweck hinausgehenden Monumentalform. Sie bezieht sich in Rom, im Gegensatz zu Hellas, immer auf den Raum. Sie wird in der Verbindung von Kreiszylinder und Kreiskuppel in reiner Form im Pantheon verwirklicht (S. 252). Die zahlreichen röm. und frühchristl. Varianten halten an der Halbkugel fest, während der Unterbau als Kreiszylinder, Acht- oder Zehneck ausgeführt wird. Im röm.-griech. Osten beginnt eine neue Idee den Zentralraum zu beherrschen: die Verbindung von Kuppel und Quadrat, d. h. von Würfel und Halbkugel. Für das Problem, die Kuppel mit ihrem ganzen Gewicht und Seitenschub ohne Stützen frei zu wölben und in den Raumkubus einzufügen, bietet sich als Lösung die Stutzkuppel an. Das Grundquadrat wird mit dem Grundkreis umschrieben, die darüber konstruierte Halbkugel längs der Seiten des Quadrats beschnitten. So entsteht eine Kalotte über vier sphärischen Dreiecken, den Pendentifs. Die halbkreisförmigen Seitenflächen werden von den Schildmauern geschlossen oder von den Schildbögen überspannt. Die frühe byzantin. Baukunst erweitert dieses Prinzip. Die Stutzkuppel wird über den Pendentifs horizontal abgeschnitten und über dem entstandenen Kreis eine neue Kreiskuppel errichtet, die hoch über den Schildwänden den Raum beherrscht. Dieses Prinzip der Pendentifkuppel gilt als die vollkommene techn. und formale Lösung für die Verbindung von Kuppel und Raunikubus. Sie wird bei den großen byzantin. Kuppelkirchen, vor allem der Hagia Sophia (S. 62) angewandt. Eine techn. einfachere Methode bietet die
Kuppel über Trompen, trichterförmigen horizontalen Gewölbenischen über den Ecken des Quadrats. Sie formen es zu einem Oktogon um, über dem der Grundkreis der Kuppel aufgemauert wird. Bei beiden Lösungen wird die Kuppel relativ unabhängig vom Mauerzylinder als Unterbau; sie kann auf Eckpfeiler, Schildbögen oder massive Wände gelagert und mit verschiedenen Gebäudetypen als zentrales oder gereihtes Element verbunden werden (S. 270). Oft hebt ein Tambour, ein Mauerzylinder unter dem Kuppelfuß, die Kuppel über den Unterbau hinaus und ermöglicht die Anordnung von Fensterkränzen unabhängig von der Kuppelschale oberhalb der jeweiligen Dachkonstruktion. Der Lichtzuführung durch den Kuppelscheitel dient anstelle des antiken Opeion die Laterne, ein mit Fenstern versehener Aufsatz, in dem sich oft das Motiv der Kuppel noch einmal wiederholt, besonders bei den Kuppeln der Renaissance und des Barock. In dieser Zeit setzt sich als techn. Prinzip die mehrschalige Rippenkuppel durch, in großem Maßstab zuerst unter BRUNELLESCHI am Dom zu Florenz, in Form eines achtseitigen Klostergewölbes. Ihm folgt nach anderen Projekten seit ca. 1561 die Kuppel von St. Peter in Rom, zunächst unter Leitung MICHELANGELOS. Die Rippen bilden das konstruktive Gerüst, das alle Druckkräfte der Kuppel auf den Tambour verteilt, der sie über die Schildbögen auf die vier Hauptpfeiler ableitet (Prinzip wie Zeichnung b). Im Kuppelscheitel nimmt ein Druckring die Rippen und die Laterne auf. Eiserne Zugringe kompensieren den Kuppelschub. Die Zerlegung der Segmente zwischen den Rippen in eine äußere und eine innere Schale verringert das Gewicht der Kuppel, macht sie von innen her kontrollierbar und ermöglicht die unabhängige Ausbildung der Schalen für ihre verschiedenen Funktionen. Die äußere dient dem Wetterschutz, die innere der Raumgestaltung. Die innere wölbt sich als Kugelschale über dem Innenraum, die äußere steigert durch eine leichte Überhöhung zur Parabel die Wirkung der Kuppel als Baukörper. Die röm.-mediterrane Tradition, ganz auf den Raum konzentriert, ignoriert die plast. körperliche Außenform der Kuppel. Beim Pantheon-Typ z. B. versinkt sie im Mauermantel der Rotunde und den Stufenringen an der Oberseite (S. 250). Erst in BYZANZ kommt sie wieder zur Geltung. Bei der Hagia Sophia und den großen Moscheen des Islam ruht sie auf der nach antiker Tradition gelagerten Baumasse. Die Renaissance aktiviert die Kuppel für den Außenbau mit Hilfe des Tambours, der Sichtbarmachung der Rippen als aufsteigende Linien, der parabol. Überhöhung und der Krönung durch die Laterne. Die Kuppel bildet nun als gestraffte Masse die Dominante im Stadtbild.
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Bauelemente XII/Flächentragwerke
P. L. Nervi: Unesco-Gebäude Paris, Sitzungssaal
Alvarez u. Candela-. Restaurant in Xochimüco
E. Saarinen: Hockey-Stadion der Yale-Universität
F. Otto: Zelt für die Gartenschau 1957 in Köln
Freie Spannweite, Vielfalt von Form und Konstruktion
Bauelemente XII/Flächentragwerke Industrie, Verkehr, Massenveranstaltungen, Großmärkte erfordern immer häufiger die stützenfreie Überdachung großer Flächen. Neue Baustoffe, Vorausberechnung und Experimente führen zu neuen Konstruktionen. Nach dem Stahlbau im 19.Jh. gewinnt der Eisenbeton im 20.Jh. zunehmend an Bedeutung. Ihm folgen neue Holzbauweisen und Seilnetze. An die Stelle der Skelettkonstruktionen und räumlicher Tragwerke (S. 40, 44) treten immer mehr Flachentragwerke, bei denen die Flächen selbst Träger der Lasten und Kräfte sind. Eine charakterist, und vielseitige Formenfamilie bilden die Schalen, dünnwandige, gekrümmte Flächen, die — im Gegensatz zu Gewölben — außer Druckkräften auch Zugkräfte aufnehmen. Statisch unterscheiden sich einfach gekrümmte Schalen (z. B. Tonnen, Kreuzgewölbe) von doppelt gekrümmten (z. B. Kuppeln, hyperbol. Paraboloide = sogenannte HP-Schalen). Die Schalen bieten viele Möglichkeiten, für spezielle Anlagen entsprechende Dachformen zu wählen. Alltägliche Aufgaben sind z. B. Fabrikhallen mit gleichmäßiger Beleuchtung für parallel laufende Produktionsstraßen. Die typ. Dachform dafür ist das Sheddach mit seiner sägeartigen Kontur. An die Stelle der früher üblichen Stahlkonstruktionen treten zunehmend Schalen. Bei einem Versuchsbau für Fabrikhallen in San Bartolo (Mexiko) entwirft FELIX CANDELA 1950 eine Shedbogen-Halle aus 3 cm dünnen (!) Konoid-Schalen, mit 15 m freier Bogenspannweite und 6 m Achsabstand. Leichte Zugstangen nehmen den Horizontalschub auf, Verstärkungen an den gebogenen Rändern dienen als Anschlag für die Fensterbänder, die über den Stützen angeordneten Regenrinnen als Längsversteifung. Der geringe konstrukt. Aufwand verbindet sich mit der Leichtigkeit und Eleganz der Form. Bei dem Restaurant in Xochimilco von ALVAREZ und CANDELA besteht das Dach aus acht HP-Schalen von 4 cm Dicke. Sie Öffnen sich nach außen in 10,23 m hoch aufsteigenden Hyperbelbögen. Die zwischen ihnen verlaufenden Kehlen sind als versteifende parabolisch gekrümmte Rippen ausgebildet. Sie leiten die Druckkräfte der Schalen in die acht Fußpunkte ab, auf denen das Dach steht. Längs der Ränder sind sie mit Zugbändern verspannt. Die freie Spannweite zwischen ihnen beträgt in den Diagonalen 32,47 m. Faltwerke nutzen die versteifende Wirkung einer gefalteten Fläche aus. Sie gleicht einer Schar von Rippen, die sich natürlich weit weniger durchbiegen als eine ebene Fläche. Bei dem Konferenz-Gebäude der Unesco in Paris, 1953 von P. L. NERVI, M. BREUER und B- ZEHRFUSS entworfen, bestehen Stirnseiten und Dach aus einem rahmenartigen Faltwerk, das nur in der Mitte auf einer Stützenreihe ruht. Eine horizontale Platte durchdringt zur Stabilisierung die Auffal-
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tung des Daches. Es überspannt frei die Gebäudehälfte mit dem Plenarsaal, 35 m in der Längs- und bis 49 m in der Querachse. Die ausdrucksvolle Faltstruktur macht den Kräfteverlauf unmittelbar deutlich und bleibt außen und innen unverkleidet. Im Gegensatz dazu sind die nur schließenden und aussteifenden Seitenwände bewußt flächig gehalten. Die gute Schallzerstreuung bewirkt vorzügliche akust. Verhältnisse. Ein belastender Faktor bei weitgespannten Konstruktionen ist immer das Eigengewicht. Ziel der Konstrukteure sind deshalb leichte Flachentragwerke. Bei der Suchenach geeigneten Systemen und Baustoffen entdecken sie die Möglichkeit, weitgespannte Flächen als Seilnetze auszuführen. Seile werden, im Gegensatz zu anderen Bauteilen, nur durch Zugkräfte beansprucht. In zwei Richtungen gespannte Netze bilden ein vorgespanntes System von geringem Eigengewicht, großer Stabilität und Tragfähigkeit. Das Hockey-Stadion der Yale-Universität, entworfen 1957 von EERO SAARINEN, berechnet von SEVERUD, ELSTAD und KRUEGER, besteht aus einem Netz zwischen drei Druckbögen. Der mittlere gleicht dem Kiel eines umgekehrten Schiffes und gibt dem Dach die charakterist. Sattelform. Seine freie Spannweite über dem Spielfeld beträgt 85 m (!), die Scheitelhöhe 23 m. Parallel zu den Bögen sind die neun Hauptkabel, quer dazu die Menge der Tragkabel gespannt. Auf ihnen liegen Holzbohlen als Träger der hölzernen Dachhaut. In allen Teilen der Welt folgen weitere große Hängedächer nach ähnlichem Prinzip, z. B. die von KENZO TANGE für die Olymp. Spiele 1964 errichteten Sporthallen in Tokio (S. 66). SAARINENS Hockey-Halle ist ein Tragwerk mit steifen Rändern, hier aus Beton. In der Folge entstehen Seilnetze mit freien Rändern, die aus Kabeln bestehen und von Masten oder Spannseilen gehalten werden. Punktgestützte Hängedächer dieser Art haben ihre Vorläufer in den transportablen Zirkus- und Ausstellungszelten, die mehrere tausend Besucher fassen können. Die neuen Membrankonstruktionen erreichen eine immer größere Spannweite und freiere Formen. Das Beispiel einer symmetr. Form bietet ein relativ kleines Zeltdach für die Gartenschau 1957 in Köln nach dem Prinzip der »Welle« (STROMEYER) von. FREI OTTO entworfen. Das sternförmige Zelt wird von sechs mit Seilen abgespannten Masten gehalten. Ihre Fußpunkte sind 24 m, ihre Spitzen 31,50m voneinander entfernt. Die Mittelöffnung hat 6,10m 0. Das Zelt wird in jedem Sommer neu montiert. Weit über diese Maße hinaus wachsen die Zeltdächer für den deutschen Pavillon in MONTREAL 1967 und die Olymp. Spiele 1972 in MÜNCHEN. Mit diesen frei gespannten Großkonstruktionen scheinen die Möglichkeiten zu wachsen, Freiräume in Stadt und Landschaft zu überdachen.
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Bauelemente XIII/Treppcn :
Grundformen
Bauelemente XJII/Treppen l Treppen und Rampen verbinden Ebenen verschiedener Höhe miteinander. Rampen überwinden den Höhenunterschied durch schräge Flächen von begrenzter Breite und Neigungen bis ca. 15° ohne Stufen. Treppen bestehen aus einer oder mehreren Reihen von Stufen, den Treppe «laufen. Ihre Länge und ihr Neigungswinkel hängen vom Steigungsverhältnis ab, d. h. dem Verhältnis von Stufenhöhe zu Auftrittsbreite. Es beruht auf der Schrittmaßregel. Nach Statist. Untersuchungen der individuell verschiedenen Schrittlängen betragen die mittleren Schrittmaße 60-65 cm. Bei ansteigendem Weg verkürzt sich die Schrittlänge um jeweils das Doppelte des Steigungsmaßes. Bei einer Steigung von 31 cm ist die Schrittlänge praktisch auf Ocm gesunken: die Treppe ist zur Leiter, die Stufe zur Sprosse geworden. Diese Zusammenhänge waren schon in histor. Zeit aus langer Erfahrung bekannt. Hinter der Vielzahl ausgeführter Treppen mit ihrer von Baumaterial, Technik und jeweiligem Stil bestimmten Einzeldurchbildung stehen wenige Grundtypen. Sie werden im einzelnen Bauwerk der jeweiligen Aufgabe und Situation angepaßt. Dabei kommt es zu zahlreichen Variationen. Rampen dienen vor allem dem Fahrverkehr oder als Verbindungswege bei großräumigen Freianlagen. Im Inneren von Gebäuden bleiben sie wegen ihrer großen Länge und flachen Steigung auf spezielle Aufgaben beschränkt (z. B. Autorampen). Eine ägypt. Treppenrampe, um 1950 v. Chr. am Pavillon Sesostris' I. in Karnak erbaut (S. 114), dient kult. Zwecken. Bei Prozessionen wird die heilige Barke mit dem Götterbild in solchen Pavillons abgesetzt (vgl. S. 106). Die Trägerkolonne trägt das sakrale Gefährt zu beiden Seiten der Rampe über flache Stufen, die, für je zwei Schritte berechnet, dem langsamen Schrittempo angepaßt und mit einer leichten Neigung verlegt sind. Die schützenden Geländerwangen bilden mit dem keilförmigen Unterbau eine Einheit. Die Verbindung von Rampe und Treppe verwischt nicht ihre verschiedenen Funktionen und stellt einen Übergang zur einläufigen Treppe dar. Die Leiter ist das der Rampe entgegengesetzte Prinzip. Sie dient Einzelpersonen zum Steigen und wird überall dort angewandt, wo auf möglichst kleinem Raum eine große Höhendifferenz mit geringem Aufwand an Material überwunden werden soll. Steigbäume stellen altertümliche Verbindungen von Leiter und Treppe dar. Sie vereinigen den Vorteil der Leiter, die steile Neigung, mit dem Vorteil der Treppe, dem sicheren Stand des Fußes auf einer Stufe. Sie werden aus dem vollen Holz des Baumstammes oder eines dicken Balkens gehauen. In EUROPA finden sich nur noch wenige histor. Relikte, in AFRIKA z. B. sind sie noch weit verbreitet. Das gezeigte Beispiel aus SKANDINAVIEN dient als Zugang zu einem auf Pfählen stehenden Speicher.
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Massives Holz dient auch als Material für die Bohlentreppe eines finnischen Speichers aus dem 18.Jh. Halbierte Baumstämme sind auf passende Längen geschnitten. Paarweise längs und quer übereinander gelegt, bilden sie einen stabilen, durchlüfteten Verband, der die Tragfähigkeit und das Eigengewicht der Stämme voll ausnutzt. Die Einheit von Konstruktion und Form ist mit einfachen Mitteln erreicht und entspricht im Stil der Blockbautechnik des Speichers. Der einfache Grundtyp der meisten Geschoßtreppen ist die einläufige Treppe mit geradem Lauf. Das Beispiel einer barocken Freitreppe zeigt sie im Stil des 18.Jhs. Seinen Tendenzen kommt das Motiv der schrägen Bewegung durch den Raum, das die Treppe auszeichnet, entgegen. Das kontinuierliche Profilband über der Wangenmauer zeichnet z. B. das schrittweise Ansteigen der aufgelegten Stufen nach. Die leichte Verschiebung der beiden Abtreppungen erzeugt den Eindruck gesteigerter Bewegung (Phasenverschiebung in simultaner Darstellung). Sie wirkt auch in der Schweifung der Baluster. Die das Geländer nach oben abschließende schwere Deckplatte faßt die verschiedenen Bewegungsmotive energisch zusammen. Die reiche Behandlung der Formen beeinträchtigt nicht den klaren Gesamtaufbau. Den Gegensatz zu den einläufigen, geraden Treppen stellen die Wendeltreppen mit kontinuierlich gebogenem Lauf dar. Ihre konzentrierte und komprimierte Form sind die Spindeltreppen. Sie bilden, auf den Grundriß bezogen, eine vertikale Verbindung auf fast punktförmiger Basis zwischen den Geschossen im Gegensatz zur linearen, schrägen der geraden Treppen. Sie werden besonders dort eingebaut, wo nur eine geringe Grundfläche zur Verfügung steht, z. B. in Türmen. Bei geschlossenen Spindeltreppen winden sich keilförmige Stufen um einen runden Schaft schraubenartig in die Höhe. Anfangs nur ein dienendes Element, werden sie immer mehr mit Phantasie gestaltet und sichtbar in die Architektur einbezogen. Die gotische Spindeltreppe im Dom zu Mainz besteht aus vorgefertigten Teilen: Keilstufen mit angeformtem Spindelglied. Die untere Drehung ist untermauert, dann trägt ein Säulengitter die Stufen und dient zugleich als Schutzgeländer: die Treppe trägt sich selbst. In Spätgotik und Renaissance werden virtuos gebaute Wendeltreppen mit offener Spindel zu Prunkstücken bedeutender Profanbauten, vor allem der Rathäuser und Fü rste n seh l össer. Zahllose Variationen und Kombinationen der Grundformen füllen den Spielraum zwischen Rampe und Leiter, zwischen geradem Lauf und kreisender Spindel mit einer kaum übersehbaren Fülle individueller Lösungen.
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Baulemcnte XIV/Treppen 2
Aufzug, Rolltreppe Treppe Gänge
Frankfurt/M: Versandhaus Neckermann freistehendes Treppenhaus a Ansicht, b Grundriß
Treppenhäuser
Bauelemente XIV/Treppen 2 Gute Erschließung sichert die Funktionsfähigkeit der Gebäude. Treppen dienen der vertikalen Erschließung, sie werden mögliehst so angeordnet, daß alle horizontalen Wege unmittelbar anschließen. Treppen müssen wegen der besonderen konstrukt. Voraussetzungen sorgfältig in den Organismus eines Gebäudes eingeordnet werden. Sie benötigen große Durchbrüche in den Geschoßdecken, die Treppenläufe und Podeste müssen abgestützt, die DeckenÖffnungen durch Geländer gesichert werden. Treppenhäuser als selbständige Gebäudeteile werden den konstruktiven Sonderbedingungen am besten gerecht. Die einfachste Lösung ist die Führung der Treppe in einem geschlossenen Schacht, dessen Mauern die auf verschiedenen Höhen liegenden Treppenläufe, Podeste und Geschoßdecken tragen. Diese Treppenschächte bilden oft besonders gut ausgesteifte Gebäudeteile und verstärken die Stabilität des Bauwerkes. Andererseits durchschneiden sie die Geschoßflächen und riegeln sie gegeneinander ab. Diese Wirkung ist erwünscht, wenn verschiedene Teile des Gebäudes getrennt, ungünstig, wenn die Flächen unzerteilt genutzt werden sollen. Der Wunsch, die Treppe mit ihrer Schrägführung als belebendes Element sichtbar zu machen oder dem Benutzer beim Steigen den Wechsel der räuml. Bilder zu erschließen, führt zur Konstruktion offener Treppenhäuser. Bei ihnen ersetzen meist Stützen oder Bogenstellungen die Schachtwände. Lage und Durchbildung der Treppenhäuser ist abhängig vom Zweck des Gebäudes und der ihm darin zufallenden Funktion (S. 56). Das Treppenhaus im Palast von Mykenai verbindet eine dem Palast im SW vorgelagerte Terrasse mit einer Raumgruppe am ca. 5 m höher liegenden inneren Patasthof. Es führt zum Nebenraum eines kleinen Thronsaales seitl. des Haupteinganges gegenüber dem Hauptmegaron. Es hat offenbar im Zeremoniell des Fürstenhofes eine offizielle Funktion. Die Treppe überwindet den Niveauunterschied mit 2 Läufen und einem Zwischenpodest. Sie sind zwischen geschlossen hochgeführte Wände eingespannt. Die Mittelwand zwischen den Läufen ist am Anfang und Ende der Läufe als Brüstung ausgebildet. Minoische Säulen (S. 130) markieren Anfangs- und Wendepunkte. Sie verleihen, zusammen mit der Ausmalung, dem Treppenhaus eine repräsentative Note nach dem Vorbild der minoischen Paläste auf Kreta. Die Treppenhäuser im Palast zu Knossos sind aber als Knotenpunkte viel unmittelbarer in das Geflecht der Gänge und Raumgruppen einbezogen. Je nach ihrer öffentl. repräsentativen oder privaten und betriebstechn. Funktion sind sie verschieden durchgebildet (S. 142). Sie folgen zumeist dem Prinzip der inneren Erschließung. Die Treppen führen in das Innere oder steigen im Inneren des Gebäudes auf. Die Räume oder Raumgruppen sind von den Podesten erreichbar. Die
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Treppe muß in die Gesamtkonstruktion eingefügt werden. Jede normale Wohnhaustreppe folgt diesem Prinzip, Beim Prinzip der äußeren Erschließung verläuft die Treppe am Rand oder außerhalb des Gebäudes und seiner Konstruktion, Die Geschoßflächen werden nicht durchbrechen, erhalten aber oft nur einen punktartigen Anschluß. Oft wird ein äußeres Treppenhaus mit Gängen oder Galerien verbunden, die außen am Gebäude die horizontale Erschließung übernehmen. Treppenturm und Laubengang sind schon im Mittelalter beliebt. Industriebauten, Waren- und Bürohäuser, Ausstellungs- und Mehrzweckgebäude benötigen große Flächen zur freien Disposition ohne störende Unterbrechungen. Für sie eignet sich vor allem ein System der punktweisen vertikalen Erschließung. Treppen, Aufzüge, Leitungsschächte, ferner Sanitär- und Versorgungseinrichtungen werden zu räuml. und konstrukt. Einheiten zusammengefaßt. Auf die Verteilung solcher Festpunkte haben nicht nur die jeweiligen Zwecke, sondern auch Sicherheitsvorschriften Einfluß. In den turmartigen Hochhäusern bilden die Festpunkte meist die Kernzone des Gebäudes, der neben der Erschließung und Versorgung auch konstruktiv wichtige Funktionen zufallen. Bei den horizontal ausgedehnten Großverwaltungen und Fertigungsbetrieben bietet die äußere Erschließung Vorteile. Ein in Disposition und Gestaltung individuelles Beispiel bietet das Versandhaus Neckermann in Frankfurt am Main, I960 von EGON EIERMANN erbaut. Vier Festpunkte in Form rechteckiger Türme stehen frei vor dem Versandhaus, einer Verbindüng von Lagerhaus und Großbüro. Es bedeckt eine Fläche von 16 700 qm, bei sechs Geschossen eine Gesamtnutzfläche von ca. 100000 qm, auf der ca. 3000 Menschen arbeiten. Jeder Treppenturm erschließt 25000 qm (!). Die Türme stehen mit der Längsseite parallel zur Front des Gebäudes, nur durch zwei brückenartige Passagen in jedem Geschoß mit ihm verbunden. Eine von ihnen führt zu den Sanitärräumen, die andere in das Treppenhaus mit einer zweiläufigen Treppe. Ihr gegenüber ist der Aufzug eingebaut. Die verglasten Passagen sind in das System der Fluchtgalerien einbezogen, die das ganze Gebäude umgeben und gleichzeitig als Reinigungsbühnen für die Fassade und als Sonnenschutz dienen. Zwei Türme sind mit einem rechtwinklig zur Fassade stehenden zweiten Turm ergänzt. Er enthält Rolltreppen für den Stoßbetrieb zu den Büros, Die Treppentürme überragen das sechsgeschossige Gebäude um etwa eine Geschoßhöhe, bedingt durch die Aufzugsmaschine. Sie erfüllen nicht nur ihre Funktion als Festpunkt, sondern geben der horizontalen Baumasse kräftige vertikale Akzente und zusammen mit den schrägen Nottreppen den individuellen Charakter.
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Bauelemente XV/Treppcn 3
|
| Geschoßflächen, Gange
|
| Treppen
Kolosseum A 1.1
Q 3 r Geschoß D 4. ? l getrennte ° J Zugänge 1 Außenfront 2 Spielfläche
Pommersfelden A Erdgeschoß B Obergeschoß 1 2 3 4 5 6 7
vom Ehrenhof zum Gartensaal rechter Arm linker Arm Zentralpodest Umgang zum Fests;
Rom: Kolosseum (s. Rom. Typ. XV), Treppenführung
Pommersfelden: Schloß WeiBenstein, Treppenhaus
Dienende und herrschende Funktion
Bauelemente XV/Treppen 3 57 Die Eingliederung von Treppen in den Organismus eines Gebäudes hängt vom Umfang ihrer Funktion und dem Rang ab, den sie als Bauelement gewinnen. In manchen Gebäuden erfüllen sie nur Hilfsfunktionen, in anderen beherrschen sie sichtbar oder unsichtbar das ganze Bauwerk. Sakralbauten bleiben fast zu allen Zeiten meist eingeschossig. Treppen haben nur Nebenfunktionen und kaum eine Beziehung zum Raum. Das gilt z. B. für die Tempel Mesopotamiens, Ägyptens und Griechenlands (S. 94, 116, 188 ff.) und großenteils auch für die christl. Kirchen. Treppen dienen zum Besteigen von Dächern, Türmen, Umgängen und Emporen. Meist bleiben sie in Wandnischen, Treppentürmen und Seitenflügeln verborgen. In den Profanbauten verbinden die Treppen sich meist eng mit dem Gebäude und seinen Zwecken, aber oft ganz gegensätzlich. Als dienendes Element in reiner Zweckform in die Gebäudestruktur eingebaut, dienen sie nur der schnellen Abwicklung des inneren Verkehrs. Die rom. Architektur, in der zum ersten Mal in großem Umfang mehrgeschossige Gebäudekomplexe entstehen, bietet instruktive Beispiele in den Mietund Geschäftshäusern (S. 224), den Speichern, aber auch den Repräsentationsgebäuden. Besonders wichtig sind Treppen in den Theatern und Amphitheatern (S. 238). Im Kolosseum in Rom ruht der riesige Zuschauerraum für ca. 50000 Besucher auf einem Gerüst von mehreren hundert Pfeilern und Bögen (S. 240). Zwischen ihnen führen radial angeordnete Treppen zu den Verteilerringen in den Geschossen, die gleichzeitig als Podeste dienen. Von den ca. 80 Eingängen im äußeren, unteren Ring führen jeweils 3 nebeneinanderliegende (a, b, c) zu verschiedenen Treppen und Verteilerringen. Jeder dritte Aufgang mündet auf gleicher Höhe. Im oberen Rang mit den Stehplätzen laufen die Treppen nicht mehr radial sondern parallel zur Außenmauer. Die radialen Treppenhäuser dienen nicht nur der Erschließung, sie verspannen durch ihre Laufplatten auf schräg ansteigenden Tonnengewölben den Baukörper und tragen die Ränge der Cavea. Die Funktion dieses Gebäudes ist völlig an die Treppen gebunden, es ist eine Art einziges Treppenhaus, ganz dem Durchgang zum offenen Innenraum dienend, zugleich ein Gerüst, das diesen Raum trägt. Im Kolosseum beherrschen die Treppen den ganzen Bau nahezu »unsichtbar«, sie treten im Raum (Cavea) und am Baukörper (Außenfront) nicht in Erscheinung. Im Gegensatz dazu kann das Verbinden verschiedener Ebenen, in der auf- und absteigenden Führung der Treppenläufe sichtbar, über den Vorgang des reinen Treppensteigens hinaus repräsentativ gesteigert werden. Als herrschendes Element in monumentaler Form erscheint die Treppe in den großen Freitreppenanlagen der Hochkulturen, z. B. an den mesopotam. Zikkurats (S. 98) oder am Palast in Persepolis (S. 92). In den röm.
Heiligtümern dienen aufsteigende Rampen und Freitreppen zur Heraushebung des sakralen Forums oder des Tempels als Dominante (S. 246). Die stärkste Entfaltung der in der Treppe wirksamen Bewegungsenergien im Innenraum und ihr Übergreifen auf die gesamte Anlage großer Baukomplexe vollzieht sich nach Vorbereitung in der Renaissance im Barock. Das Treppenhaus im Schloß Weißenstein zu Pommersfelden, wahrscheinlich nach Ideen LUKAS VON HILDEBRANDTS um 1715 unter JOHANN DIENTZENHOFER erbaut, hat großen Einfluß auf diese Entwicklung. Es nimmt etwa 2/a des Mittelpavillons in der vollen Höhe von drei Geschossen ein. Auf allen Seiten wird es von Galerien und Scheingalerien umzogen und von einem Spiegelgewölbe überspannt, dessen allegorische Ausmalung den Raum in den Himmel zu öffnen scheint. Alle Hauptachsen des Schlosses und der Gesamtanlage schneiden sich hier: Die Längsachse vom Ehrenhof durch das Erdgeschoß zum Gartenparterre, die Querachse durch die Seitenflügel mit den gereihten Appartements (Enfiladen) und die Vertikalachse, durch die drei-geschoßhohe Aufrichtung des Treppenhauses zur Geltung gebracht. Die zweiarmige, in je dreifach gebrochenen Läufen aufsteigende Treppe steht fast wie eine Freitreppe in dem hohen Raum, von Galerien wie von Laubengängen eines Schloßhofes umzogen. Dieser überdachte Freiraum vereinigt die Funktionen von Vestibül, Treppe und Empfangssaal, ist Zentrum und Exposition des Gebäudes: alle wichtigen Bezüge zwischen den Innenund Außenräumen werden hier sichtbar. Schon am Eingang erfaßt das Auge die verschiedenen im Raum möglichen Bewegungen: geradeaus zwischen den Treppenläufen hindurch zum Gartensaal oder links und rechts auf der Treppe in dreimal wechselnder Richtung zum zentralen Podest. Den Raum in seinen ständigen Verwandlungen erlebt der Besucher, indem er die Bewegung selbst nachvollzieht: vom Eingang kommend, zwischen den beiden Treppenarmen durch die Schattenzone unter dem Podest zum Gartensaal in die Weite des Gartenparterres oder auf der Treppe in wiederholten Wendungen aufsteigend mit ständig sich verschiebender Blickrichtung. Oben vereinigen sich beide Arme der Treppe auf dem elliptisch erweiterten Podest. Der Besucher erfaßt zunächst durch die Fensterfront des Treppenhauses die Weite des Ehrenhofes und der Landschaft, dann betritt er mit einer letzten Wendung den Festsaal mit der Fensterflucht zum Garten, die wiederum den Bück ins Land freigibt. In dieser Konzentration der Achsen, und der Beherrschung des Raumes in allen Dimensionen Hegt - über den Rahmen des festlichen Zeremoniells hinaus - der Sinn dieser Räume, in denen sich das Emporsteigen auf einer Treppe zur Apotheose der Architektur verwandelt.
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Das Bauwerk als Organismus I/Äckerbürgerhaus in Nicdcrsachsen
Längsschnitt
1 Schwelle 2 Ständer 3 Rahmen 4 Balken 5 Fußband 6 Kopfband 7 Riegel 8 Sparren 9 Kehlbalken 10 Windrispe 11 Knagge
Rekonstruktion (nach Phleps)
Ökonomie und Logik des Fachwerkbaues
12 Balkenkopf 13 Füllbretter 14 Fensterläden
Das Bauwerk als Organismus I/Ackerbürgerhaus in Niedersachsen Die Definition von Bauwerken als Organismus kann sich nicht auf formale Ähnlichkeiten mit Erscheinungen des organ. Lebens gründen, sondern auf einige wesensverwandte Prinzipien, besonders das der Einheit von Funktion, Konstruktion und Gestalt. Form und Gestalt werden als Erfüllung einer Aufgabe mit Hilfe der Konstruktion erfaßt, als sinnvolle Verbindung der Einzelelemente zu einem Ganzen. Nahezu selbstverständlich wirkt diese Verbindung im Beispiel eines um 1550-70 erbauten Fachwerkhauses in Nienburg an der Weser. Dieser Typ des Ackerbürgerhauses bildet sich im Mittelalter im Siedlungsraum an der oberen WESER aus. Er stellt eine Variante des niederdeutschen Hallenhauses dar, in dem Menschen, Vieh und Vorräte unter einem Dach untergebracht sind. Die Bewohner der kleinen Städte betreiben neben ihren »bürgerlichen« Berufen eine reduzierte Landwirtschaft. Auf der knappen Grundfläche innerhalb der Städte wachsen die Häuser in die Höhe. Das ebenerdige Bauernhaus mit dem großen Dachboden weicht dem Stockwerksbau. Die Außenmaße des Nienburger Hauses betragen nur 6,26/9,61 m. Das ursprüngl. dreischiffige Hallenhaus mit Längsdiele und begleitenden Seitenräumen ist hier auf die Diele reduziert. Ihr hoher Raum nimmt die vorderen 2 / 3 des Erdgeschosses ein, ein Stall von halber Höhe für Rinder und Schweine das hintere 1}3. Darüber bleibt Raum für ein bühnenartig erhöhtes Halbgeschoß mit einem Fenster an der Rückseite als Wohn- und Schlafbereich. Die Diele bleibt auch im Stadthaus lange Zeit der große Mehrzweckraum. Seine linke Hälfte nehmen die Herdstelle und ein Arbeitsplatz am Fenster zur Straßenseite ein. Die rechte Hälfte hinter dem aus der Mittelachse seitwärts verschobenen Tor dient als Einfahrtsdiele (Erntewagen) und allgemeiner Arbeitsplatz. Er erhält Tageslicht aus den Lichtluken über dem Tor. Oberstock und Dachboden dienen als Speicher. Sie sind nur über Leitern erreichbar und zur Straße mit Klappläden und einer Ladeluke zu öffnen. Die Auskragung der oberen Geschosse vergrößert die Nutzfläche und ermöglicht ein leichtes Aufziehen der Lasten, die nicht von der Diele aus transportiert werden. Das einfache Raumgefüge des Hallenhauses umschließt alle Lebensbereiche. Es bildet die Grundlage und den auf das Notwendige beschränkten Rahmen für die Existenz der kleinen Handwerker und Ackerbürger. Der Stockwerksbau ermöglicht die künftige Differenzierung des Raumprogrammes beim Übergang vom Ackerbürgerhaus zum städt. Kaufmannshaus. Er vollzieht sich ailmählieh ohne Schwierigkeiten innerhalb der anpassungsfähigen und zweckmäßigen FachWerkkonstruktion. Sie beruht auf der Trennung des tragenden Skeletts von den füllenden Teilen bei Wänden, Decken und Dach. Erd- und
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Obergeschoß sind gleich aufgebaut. Die senkrechten Ständer gehen in voller Geschoßhöhe durch und nehmen alle Lasten vom Dach und von den Geschoßdecken auf. Der Dreiecksverband des Kehlbalkendache s (vgl. S. 40) und die Deckenbalken stehen in senkrechten Ebenen, den Binderachsen, quer zur Hausachse. Die dazwisehen verbleibenden senkrechten Felder sind geschoßweise durch horizontal durchgehende Rahmenbalken und eingeschobene kurze Riegel ausgesteift. So entsteht das charakterist. »Fachwerk«. Die einzelnen Fächer können mit Füllungen aus Holz, Flechtwerk mit Lehmbewurf, Mauerwerk oder Fenstern »ausgefacht« werden, Das Nienburger Beispiel zeigt noch die ursprüngl. vollständige Ausfachung aus Holz (wie bei dem alemann. Schwarzwaldhaus, S. 28). Die Dachdeckung besteht aus Stroh, dem eigenen Rohstoff, später meist aus Ziegeln (Hohlpfannen), in einigen Städten an der Oberweser aus Sandsteinplatten. Die Gestalt des Hauses stimmt ebenso wie seine Einzelformen völlig mit der Konstruktion überein. Alle Räume bleiben stützenfrei. In der reduzierten Form des Nienburger Hauses stehen die Ständer in der Außenwand. Der umbaute Raum steht ganz zur Verfügung, Tragkonstruktion und Raumhülle sind identisch. Jedes einzelne Teil ist in diesem Organismus an der konstruktiv richtigen Stelle eingesetzt. Beispiele sind die Verstärkung und Aussteifung der Gebäudeecken durch Verdopr pelung des horizontalen Balkens in den jeweils letzten Fächern und die Anordnung schräger Fuß- und Kopfbänder zur Verstrebung in der Längsrichtung. Der gesamte Aufbau wird neben der konstruktiven Logik von der Ökonomie der Mittel geprägt. Alle Elemente sind ausreichend dimensioniert, aber keines erscheint überflüssig. Im Fachwerkhaus ist die Homogenität des Gefüges vollkommen erreicht. Das Balkengerüst bleibt innen und außen sichtbar. Die ursprüngl. Ausfachung mit Holzbohlen, Geschoßdecken, Trennwänden, Treppen, Fenstern, Türen, Klappläden besteht aus dem gleichen Material in der jeweils nötigen Stärke. Auch die wenigen Schmuckmotive, wie ornamentierte oder geschnitzte Balkenköpfe, Knaggen und Füllbretter sind wie selbstverständlich aus der Konstruktion hervorgewachsen. Das im Fachwerkhaus herrschende Prinzip ermöglicht trotz der streng gebundenen Konstruktion Anpassungsfähigkeit und Variantenreichtum, dazu die Steigerung zur Monumentalität. Kleine und große Häuser, zusätzliche Wirtschaftsgebäude, kommunale Speicher, Rathäuser zeigen das gleiche Gefüge und schaffen über das einzelne Haus hinaus eine Homogenität des Ortsbildes und ganzer Landschaften, in die auch der repräsentative Einzelbau eingeschlossen ist. Wie in der organ. Natur schließt der Typus das Individuelle als Bereicherung ein, ohne die Harmonie zu zerstören.
g D
1 Euthynterie 2 Ktepis 3 Stylobat
4 Sockel 5 Cellawand 6 Orthostaten 7 isodomes Mauerwerk 8 Vorhalle 9 Säulen in antis 10 Gebälk 11 Cella 12 innere Säulenstellung 13 Balkendecke 14 Dachstuhl 15 Dachdeckung
Ringhalle
16 Säulen 17 Gebälk 18 Architrav 19 Triglyphen 20 Metopen 21 Kranzgesims 22 Giebelfeld 23 Giebelgesims
Ausgleich von Stütze und Last
Das Bauwerk als Organismus II/Der Aphaia-Tempel auf Aigina Der dorische Tempel ist eine Idealarchitektur ohne Bindung an ökonomische Zwecke. Sie geht aus dem Profanbau hervor, besonders dem Typ des ägäischen Megarons (S. 134), dem Kernbau des späteren Tempels. Die profanen Gebäude verändern sich und passen sich an. Der einfache und monumentale Baukörper des Megarons wird zu einer von der Tradition geheiligten Form. Der Sakralbau rückt in eine ideale Sphäre, in der nicht Anpassung und Veränderung gilt, sondern Vollkommenheit. Die Funktionen liegen ganz im ideellen Bereich. Das Bild der Gottheit (nicht die Gottheit selbst) erhält ein Haus, das selber zum Sinnbild wird, zur Verkörperung einer Idee von Ordnung, Maß, Proportion und Gleichgewicht. Die Verwirklichung dieser Idee vollzieht sich in großen und kleinen Schritten. Einer ist vor allem entscheidend: zum Haus aus Lehmziegeln tritt ein Umgang, eine Reihe hölzerner Stützen unter einem weit auskragenden Dach. Daraus entwickelt sich eine allseitig gleichmäßige Gliederarchitektur, der Ringhallentempel f Peripteros) mit doppelseitiger Giebelfront und flachgeneigtem Dach, einer gleichmäßig umlaufenden Säulenhalle (Peristasis) auf einem Unterbau (Krepis) und einem Megaron (Naos) mit Vor- und Rückhalle als Kernbau. Die formale Vervollkommnung wird erreicht 1. durch Übertragung der hölzernen Ringhalle und des Lehmziegelhauses in den Natursteinbau, 2. durch Ausgleich der Gegensätze zwischen Kernbau und Ringhalle. Die Umformung zum Steinbau führt zur Auseinandersetzung mit der vom Holzbau überlieferten Struktur, deren charakterist, geformte Elemente erhalten bleiben müssen. Sie sind, wie in den älteren Hochkulturen zu Sinnbildern geworden, allerdings nicht mit transzendierender Symbolik wie in Ägypten und im Orient. Der griech. Rationalität entsprechend soll der Tempel nichts anderes sein als ideale Architektur mit vollkommener Proportion, Reduzierung auf die wesentl. Elemente und einer strengen Maßordnung. Die griech. Architekten geben den totalen konstrukt. Zusammenhang zwischen Ringhalle und Kernbau auf, weil er die freie Ausbildung der Einzelelemente und des Formenkanons hindert. An seine Stelle tritt das Gleichgewicht in einem Gesamtorganismus, das auf der Spannung zwischen selbständigen Einheiten beruht. An der Rekonstruktion des Aphaia-Tempels in Aigina (nach ERNST FIECHTER) werden Selbständigkeit und Zusammenwirken der Elemente deutlich. Der Naos ist als Haus vollständig für sich durchgebildet. Er steht, wie die frühen ringhaflenlosen Tempel auf ihrem Fundament, auf einer eigenen, flachen Basis, dem Toichobat, in der Ringhalle. Das aufgehende Mauerwerk beginnt, wie schon in Kreta
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(S. 130) mit einer Orthostatenreihe als Sockel. Der isodome Verband aus gleichmäßigen Kalksteinblöcken (S. 30) ist mit dem innen und außen gleichen Fugenschnitt auf Länge und Breite der Cella abgestimmt. An den offenen Frontseiten tragen die verbreiterten Mauerstirnen der Zungenmauern (Anten) und zwei Säulen das Frontgebälk, das dem Ringhallengebälk entspricht. Das eigene Gebälk betont die Eigenständigkeit, die Wiederholung der Ringhallenarchitektur den Zusammenhang, der hier in der Hauptachse hergestellt werden soll. Dem Inneren der Cella geben zweigeschossige Säulenstellungen, ohne neue Elemente einzuführen, den gewünschten intimeren Maßstab, in dem sich das Kultbild behaupten kann. Die hölzernen Deckenbalken laufen über Cella und Ringhalle hinweg bis zum äußeren Gebälk. Das Dach bildet die übergreifende formale und konstruktive Einheit. Die Ringhalle umschließt mit einem Mantel von Säulen den Kernbau von allen Seiten. Säulen und Gebälk sind in ihren Dimensionen ganz dem Steinbau angepaßt (Einzelheiten, S. 154-58). Ein typ. Beispiel ist die Zerlegung des großen Hauptbaikens (Architrav) in Teilstücke von Säulenachse zu Säulenachse und die kräftige Ausladung des Stützenkopfes für die Aufnahme der breiten Steinbalken. Die Leichtigkeit des Holzbaues ist überall der kraftvollen Monumentalität des Steines gewichen, ohne massig zu werden (Ägypten, Orient). Auch die Ordnung der Ringhalle beginnt im Fundament, das konstruktiv unabhängig vom Naos-Fundament ist. Der Fugenschnitt der oberen sichtbaren Kante, der Euthynterie, ist auf die drei Stufen der Krepis abgestimmt, ihre obere, der Stylobat, wiederum genau auf die Säulenstellung. Z. B. »spiegelt« sich die Erweiterung des Mittel Joches und die Eckkontraktion (S. 154) genau im breiteren oder schmaleren Zuschnitt der Bodenplatten zwischen den Säulen. Diese Fugenkonkorrianz wird in AIGINA noch mit einer gewissen Unbefangenheit durchgeführt, die Einteilung der Bodenplatten in Ringhalle und Cella entspricht aber genau dem vertikalen Aufbau (vgl. Zeustempel S. 188). Die Vollkommenheit des dor. Tempels hat zwei wesentl. Ursachen: Ausgleich der Gegensätze zwischen geschlossenem Kernbau und offener Ringhalle, Richtungsbau und allseitiger Gleichmäßigkeit, Horizontale und Vertikale, Stütze und Last. Logik der Form im einzelnen wie im ganzen. Jedes konstrukt. oder schmückende Element ist für sich durchgeformt; seine Proportionen stimmen sowohl absolut wie im Zusammenhang. Alle Teile stehen in genauen Maßbeziehungen, sind aber auch in einer für das Auge unmittelbar erfaßbaren Logik geformt und zusammengefügt, fast selbstverständlich, wie in der Natur.
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Das Bauwerk als Organismus HI/Die Hagia Sophia in Konstantinopel
Uj Kuppelsystem ^^| Stützbogensystem !
| Widerlager ' Stützpfeiler
1 2 3 4
Hauptkuppe Pendentifs Halbkuppeln Nebenkuppeln
Stützsystem 5 Stützbogen 6 Hauptpfeiler 7 Strebepfeiler 8 Widerlagerblöcke
Zentralraum, K u p p e l und Stützsystem
Das Bauwerk als Organismus HI/Die Hagia Sophia in Kons tan tinopel 63 Die Hagia Sophia wurde am 27. Dezember 537 von JUSTINIAN I. nach fünfeinhalbjähriger Bauzeit eingeweiht. Der überlieferte Selbstvergleich des Kaisers mit Salomo enthält einen authentischen Hinweis auf die Funktion der neuen Kirche. Sie soll in Byzanz, dem neuen Jerusalem und neuen Rom, als höchster sakraler Repräsentationsbau den Glanz der christl. Religion und des von göttl. Weisheit geleiteten Kaisertums verherrlichen und die unlösbare Verbindung von polit. und geistiger Führung demonstrieren. Als große Staatskirche dient sie dem ausgedehnten, prachtvollen Zeremoniell der Festgottesdienste. Die Raumkonzeption stellt eine Zusammenfassung und Steigerung sämtlicher Ideen dar, die im christl. Sakralbau bisher Gestalt gewonnen haben (S. 262-68). Die einander anscheinend ausschließenden Systeme von Basilika und Zentralkuppel durchdringen sich in BYZANZ zum komplizierten Typ der Kuppelbasilika. Bei den Kirchen vom Typ der Apostelkirche (EPHESOS, S. 270) kommt noch die Längsrichtung der Basilika zur Geltung; die Kuppeln beherrschen einzeln, additiv hintereinander, die großen Bogenjoche. In der Hagia Sophia gelingt die Verschmelzung zu einem im Gleichgewicht verharrenden Längsraum unter einer zentralen Kuppel. Die isolierte oder gereihte Kuppel wird durch ein einheitl. aufgebautes Kuppelsystem ersetzt. In der Längsachse steigt räumlich eine Kuppel über dem Scheitel der anderen auf, die Hauptkuppel dominiert in der Vertikalachse (Schnitt auf S. 270). Sie ist nach dem Prinzip der Pendentifkuppel über einem Grundquadrat aus 4 Schildbögen und 4 Hauptpfeilern errichtet (S. 48 b). In der Längsachse der Kirche öffnen sich die Schildbögen in Halbkuppeln vom gleichen Durchmesser. Sie münden in ihrem unteren Drittel in seitlich ansetzende kleinere Halb' kuppeln über Halbrundnischen oder in Tonnenstutzen (bei Haupteingang und Apsis). An den beiden Längswänden öffnen sich die Schildwände in zweigeschossigen Arkaden zu den Seitenräumen und in 2 Fensterreihen zum Außenraum. Hier tritt das basilikale System hervor. Der Aufbau entspricht dem einer dreischiffigen Emporenbasilika (S. 264), mit Seitenschiffen und Emporen parallel zum Mittelraum. Bei der Kuppelbasilika ziehen sich die Hauptpfeiler für die Kuppeln senkrecht durch dieses horizontale Neben- und Übereinander gleichgerichteter Längsräume. Bei der HAGIA SOPHIA schieben sie sich als umfangreiches System von Pfeilergruppen mit Durchgängen, Treppen und äußeren Stützpfeilern als Querriegel in die Seitenräume und gliedern sie in eine Gruppe zweigeschossiger Hallen. Die mittleren mit je zwei Gewölbejochen sind nun eindeutig quer zum Mittelraum ausgerichtet, die äußeren bleiben relativ selbständig. Alle übernehmen besondere liturg. Funktionen.
Aus der Durchdringung beider Systeme entsteht also ein komplizierter Organismus mit einem zentralisierten Längsraum in der Mitte und einem seitl. Raummantel. Das statische System ist untrennbar mit dieser Raumgliederung verbunden. Gewicht und Schubkraft der Zentralkuppel wirken über die Schildbögen und Pendentifs auf die Hauptpfeiler. Bögen und Pfeiler werden in Längsrichtung durch die Halbkuppeln und deren Nebenkuppeln gestützt (Stützkuppelsystem). In der Querrichtung übernehmen 4 Strebepfeilergruppen die Abstützung der Hauptpfeiler. Dieses Hauptsystem wird ergänzt durch die zweckentsprechende Anlage der Nebenräume (s. o.), deren verschiedene Gewölbeformen sich gegenseitig verspannen und insgesamt die Elemente des Hauptsystems abstützen und aussteifen. Für den gesamten konstrukt. Aufbau ist die Zerlegung der Masse kennzeichnend. An die Stelle massiver Mauern tritt ein Gefüge von Räumen: überwölbten Hallen, Galerien, Bogengängen und Treppen, das sich als Raummantel um den Mittelraum legt. Die großzügige Raumkonzeption des Mittelraumes ist an den komplizierten Aufbau des Raummantels gebunden, in den das Stützsystem der großen Kuppel eingekleidet ist. Die Kuppel ist als einschalige Rippenkuppel konstruiert. 40 gemauerte Rippen stützen sich auf einen Kranz von Widerlagerblökken, die oben deutlich aus dem Raumkubus heraustreten. Leichte Kappenstreifen füllen die Zwischenräume der Rippenkonstruktion. Diese Aufteilung in belastete und unbelastete Elemente ermöglicht die Anlage eines Fensterkranzes mit 40 Rundbogenfenstern im Wechsel mit den Widerlagern, der von innen her die Kuppel fast schwebend erscheinen läßt. Die äußere Gestalt ist in wenige große Linien und Elemente eines fast kubisch klaren Baukörpers zusammengezogen. Der zentrale Raumwürfel erhebt sich über dem äußeren Kubus der Mantelräume. In den Fenstergruppen wird die Raumeinteilung sichtbar. Die vier Hauptpfeiler treten an den Ecken des Zentralkörpers als kleine Treppenhäuser plastisch hervor, vor ihnen wachsen aus dem Block der Seitenräume die mächtigen Körper der Strebepfeiler (ebenfalls von Treppen durchzogen). Zwischen ihnen wird unter dem Schildbogen die Schildwand mit ihren Fenstergruppen sichtbar. Im Gegensatz zu diesen schroff aufsteigenden Flächen und Körpern durchdringt die Gewölbestruktur der Nebenräume und Nebenkuppeln die Dachoberfläche in weichen Wellenkonturen. Nur die große Kuppel ruht frei über dem zentralen Block. Die HAGIA SOPHIA bedeutet das Ende des antiken Gliederbaues. In dem großen und reichen Organismus gibt es keine selbständigen Einzelformen mehr. Jedes Element ist auf ein anderes und auf das Ganze bezogen.
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Das Bauwerk als Organismus IV/Die Kathedrale von Amiens
A Mittelschiff B Seitenschiff Statisches Gerüst innen 1 2 3 4 5 6
Arkadenpfeiler Hauptarkade Dienstbündel Gurtbogen Schildbogen Kreuzrippen
Ausfachung 7 Gewölbekappen 8 Fensterzone 9 Triforium Statisches Gerüst außen 10 Strebepfeiler 11 Strebebogen 12 Fiale Erschließung 13 Triforiumsgalerie 14 äußerer Umgang
15 Seitenschiffdach 16 Regenrinne 1 7 Wasserspeier
Gotischer Gliederbau, Raum und Rauirigerüst
Das Bauwerk als Organismus IV / Die Kathedrale von Amiens 65 Der Antrieb zur Ausbildung architekton. Systeme geht in histor. Zeit meist vom Sakralbau aus. Im europ. Mittelalter entfaltet die christl. Kirche als geistige, zivilisator. und polit. Macht eine umfangreiche Bautätigkeit, die in großen Kirchenbauten ihre Höhepunkte findet. Gotische Kathedralen sind die Verwirklichungen mittelalterl. Raumideen. Sie tauchen in ersten Andeutungen im 11.Jh. auf, verdichten sich im !2.Jh. und erreichen am Anfang des 13.Jhs. in den klassischen Kathedralen Frankreichs ihre größte Ausdruckskraft. Sie stellen späte Verwandlungsstufen der frühchrisü. Basilika dar (S. 262). Ihr relativ leichtes und nüchternes Gefüge verwandelt sich im roman. Mittelalter in eine oft wuchtige Architektur mit massigen Pfeilern, Bögen und Gewölben. Die Gotik erstrebt die Auflösung der Masse, ihre Aktivierung und Zusammenziehung in einen Gliederbau, mit einer Vertikalisierung verbunden, in der der Gegensatz von Stütze und Last aufgehoben scheint. Alle Formen steigen auf, wie es die got. Raumphantasie will. Anstelle massiver Mauern mit hart eingeschnittenen einzelnen Fensteröffnungen spannen sich selbstleuchtende, durchscheinende Flächen aus farbigem Glas zwischen stabförmige Profile verschiedener Stärke. Sie bilden ein zusammenhängendes Gliederungssystem für Wände und Decken, Sein differenziertes Netz und das gleichmäßige farbige Licht schließen den Raum zu einer Einheit zusammen. Der gotische Gliederbau geht — im Gegensatz zum antiken - vom Raum aus. Er bildet sein unentbehrliches Gerüst. Die Grundrisse got. Kirchen bestehen nur aus einem System von Knotenpunkten. Die konstruktive Grundeinheit ist das rechteckige Gewölbejoch des Mittelschiffes. An seinen Ecken stehen die Arkadenstützen, die Träger der Hoc h schiffwand und der wichtigen vertikalen Gliederungen bis zum Gewölbescheite]. Zu beiden Seiten schließt sich je ein Seitenschiffsjoch von etwa halber Höhe an, außen von der Fensterwand begrenzt. Dieses Grundriß-Aufrißsystem entfaltet sich innerhalb des Querschnitts einer Basilika. Das innere statische Gerüst nimmt die konstrukt. Zerlegung der Gewölbedecke durch Kreuzrippengewölbe (S. 46) auf. Ihre Gurtbögen, Schildbögen und Diagonalrippen vereinigen sich in einem hochliegenden Kampferpunkt und laufen als Dienstbündel die Hochschiffwand hinab, teils bis zur Deckplatte des Kapitells über den Arkadenpfeilern, teils bis zu ihren Fußpunkten. Die Wandzone vor dem Pultdach des Seitenschiffes, das Triforium, ist zweischalig als Laufgang ausgebildet. Es umzieht in etwa halber Höhe den ganzen Raum. Über ihm füllen farbige Glasfenster fast die ganze Wandfläche aus. Ihr steinernes Maßwerk wiederholt, ebenso wie die Arkatur des Tiiforiums, in kleinerem Maßstab die Profile der Rippen und Dienste und schließt sich mit ihnen zu einem statisch und
visuell wirksamen Liniennetz zusammen, dessen Bündelung und Differenzierung der Hochschiffwand das charakterist. Relief gibt. Aufbau und Gliederung der Seitenschiffswände entsprechen dem System der Hochschiffwand. Die Innenräume got. Kathedralen sind sehr hoch (AMIENS 42 m). Ihr steinernes Gerüst steht nicht nur unter den senkrechten Lasten seines Eigengewichtes, der Gewölbe, des großen Dachstuhles und der gemauerten Wandteile, es ist auch der seitl. wirkenden Schubkraft der Gewölbe ausgesetzt. Ihrem Ausgleich dient das äußere statische Gerüst (S. 26). Der Horizontalschub der Mittelschiffsgewölbe greift die Hochschiffwand in Höhe des Schildbogens an, wo die große Fensterzone keinerlei Widerstand bietet. Als Widerlager dient das freistehende Strebewerk an der Außenseite. In jeder Pfeilerachse erhebt sich an der Außenwand des Seitenschiffes ein Strebepfeiler. Schräg geführte Strebebögen fangen den Gewölbeschub auf. In AMIENS steigen die Strebepfeiler turmartig hoch über die Dächer der Seitenschiffe auf. Je zwei Bögen spannen sich parallel übereinander wie leichte Brücken gegen die H ochse h i ff wand. Der Strebepfeiler verstärkt sich abschnittsweise nach unten und entspricht damit der Zunahme der Belastungen und dem Kräfte verlauf. Seine Gliederung durch Gesimse und Wasserschläge nimmt genauen Bezug auf die Hauptgliederungen des Baukörpers. Die durchlaufenden Horizontalgesimse werden ganz um den Pfeiler herumgeführt und dieser damit fest in die Außenwand eingebunden. Die bekrönende Fiale erfüllt zwei Funktionen: sie dient als kompensierende Vertikallast und führt die Aufwärtsbewegung des Pfeilers zuende. Sie gliedert den Strebepfeiler harmonisch in die Gesamtgestalt der Kathedrale ein. Unauffällig fügen sich die bei der Erbauung und für die Kontrolle und Reparatur des riesigen Gebäudes nötigen Umgänge in seine Struktur ein, z. B. die äußeren Umgänge am Fuß der Dächer oder der Laufgang hinter dem Triforium. Die klassischen Kathedralen, unter ihnen die 1220 begonnene Kathedrale von Amiens, zeichnen sich durch gewaltige Dimensionen und großen Formenreichtum aus, vor allem aber durch die bezwingende Logik, mit der bei ihnen die konstruktiven Notwendigkeiten in kühne Formen umgesetzt werden. Weil man den schwerelos aufsteigenden Raum als die zeitgemäße Form des Sakralbaues will, nimmt man das konstruktive Gerüst nicht nur als notwendiges Übel hin, sondern macht es mit formaler und technischer Meisterschaft zum Träger der architekton. Ideen. Im großen wie im kleinen bilden Konstruktion und Form eine organische, d. h. eine auseinander hervorgehende Einheit. In der kompromißlosen technischen und formalen Kühnheit der Gotik erscheint schon ein Hinweis aufkommende Strukturen.
66 Das Bauwerk als Organismus V/Die kleine Olympia-Sporthalle in Tokio
Isometrie und Kräfteverlauf
1 2 3 4
Sportarena Zuschauerränge Pylon Widerlagerblock
Beherrschung der Statik, Dynamik der freien Form
5 Hauptkabel 6 Hängeträger 7 Widerlager 8 oberer Bogenträger 9 u n t e r e r Bogenträger I 0 Haupteingang I1 Promenadenbrücke
Das Bauwerk als Organismus V/ Die kleine Olympia-Sporthalle in Tokio Im Gegensatz zu den meisten histor. Epochen stehen im 20.Jh. zur Lösung einer Aufgabe oft grundsätzl. verschiedene konstruktive Systeme zur Verfügung. Die Bautechnik erweitert den Spielraum der Architektur und befreit sie von den bisherigen engen Bindungen an wenige natürl. Baustoffe, an die ausschließl. handwerld. Arbeit und kanonische Typen und Formen. Mehr als früher können Gebäude durch eine zweckentsprechend gewählte Konstruktion eine dem besonderen Zweck und der jeweiligen Situation genau entsprechende Baugestalt erhalten. Die kleine Sporthalle für die Olympischen Spiele 1964 in Tokio kann als Modellfall für eine individuelle Architektur von großer Kühnheit und überzeugender Gestalt gelten. Sie wurde von einer Gruppe von Architekten und Ingenieuren unter Führung von KENZO TANGE als Architekt (vgl. S. 46) und Y. TSUBOI als berechnendem Ingenieur als Teil einer Gesamtanlage der nationalen Sporthallen gebaut. Diese umfaßt die kleine und die große Sporthalle, Verbindungsund Nebengebäude, Zufahrten, Parkplätze, Freitreppen, Plätze und Gartenanlagen, alle in Funktionen und Formen sorgfältig aufeinander abgestimmt, ein Stück gebauter Landschaft, von den Gestalten der beiden Hallen beherrscht. Die kleine Halle dient sportl. Wettkämpfen verschiedener Art. Sie bietet bei Ballspielen (Basketball) Platz für ein rechteckiges Spielfeld, 3400 feste und 540 bewegliche Sitzplätze, bei Boxkämpfen für ca. 1400 bewegliche Plätze mehr. Räume für MannSchäften, techn. und Organisator. Leitung, Versorgung und Berichterstattung treten hinzu. Im Grundriß ist dem äußeren Kreis des Zuschauerraumes (2) der innere Kreis der Arena (1) exzentrisch einbeschrieben. Daraus ergibt sich die Muschelform der Zuschauerränge mit der dynamisch ansteigenden Kurve der Sitzstufen gegenüber dem Eingang. Der außen umlaufende Verteilerring ist wiederum leicht in der Gegenrichtung verschoben und wird zum Eingang hin allmählich breiter. Dort weitet er sich infolge der tangentialen Weiterführung des äußeren Widerlagerringes (8, 9, 10) zu dem großen Widerlagerblock (4) wie die Öffnung eines Schneckenhauses aus. Die Führung der verschiedenen Kreise in dieser Grundrißfigur entspricht der Bewegung des Publikums beim Ein- und Ausströmen und seiner Verteilung im Zuschauerraum. Das Prinzip, die Form aus der Funktion zu entwickeln, setzt sich im Aufriß und der Konstruktion des Gebäudes fort, ebenso bei der Einfügung in das Gelände. Die Muschel des Zuschauerraumes besteht aus einer Betonkonstruktion. Sie ist an einen flachen Hang herangeschoben und nutzt das Gefalle zur Erschließung mit einer unteren Ebene für den Sportbetrieb und einer oberen Ebene für das Publikum.
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Der Haupteingang mit den Kassen (10) liegt auf gleicher Höhe mit dem Vorplatz an der oberen Hangseite. Man erreicht ihn über eine Freitreppe von den Parkplätzen oder über die Promenadenbrücke (11), die das ganze Areal in der Mittelachse erschließt. Die Zuschauerränge liegen in Ausnutzung des Gefälles vertieft, der äußere Verteilerring steigt, der zunehmenden Zahl der Stufenringe entsprechend, mit einer leichten Gegenbewegung an und erreicht gegenüber dem Eingang seinen höchsten Punkt. Die Betonkonstruktion kragt an der unteren Hangseite weit über den Unterbau vor. Dieser Aufbau entspricht im allgemeinen dem eines kleinen, am Hang erbauten Stadions. Seine einmalige Gestalt erhält es durch das Dach. Es ist als Flächentragwerk nach einem dem Seilnetz verwandten Prinzip mit festem Rand konstruiert (vgl. S. 50). Der Rand besteht aus einem Widerlagerring am äußeren Rand des Zuschauerraumes, geteilt in einen oberen (8) und einen unteren Bogenträger (9), punktweise verbunden durch einzelne Widerlager (7). Eine Schar von Hängeträgern (6) bildet anstelle der ursprünglich vorgesehenen Stahlseile das Tragwerk, eingespannt zwischen die EinzelWiderlager des äußeren Ringes und ein spiralförmig geschwungenes Stahlrohr (5). Es spannt sich - anstelle des Hauptkabels als First des Hängedaches von dem großen Wider'agerblock (4) am äußeren Ende des Haupteingangs in einer zunächst flachen, dann steil aufsteigenden Kurve zu dem hohen Pylon (3), der unter der Erde mit dem Widerlagerblock durch eine Betonmauer verbunden ist. Quer zwischen die Hängeträger spannen sich in gleichmäßigen Abständen Stahlanker, auf denen die Dachhaut aus 4—5 mm dünnen Stahlplatten liegt. Das statische Verhalten einer solchen Konstruktion ähnelt einer Schale (S. 50). Der Organismus dieser Halle dient dem Ablauf sportl. Spiele. Sie erhalten eine besondere Note durch die individuelle Gestalt der Halle (vgl. das Hallendach von Landskrona, S. 40). Der Pylon ragt genau an der Stelle des Haupteinganges auf und bildet eine nicht zu übersehende Orientierungsmarke auf dem Sportfeld. Das schräg zu seiner Spitze hinaufgezogene Dach verleiht der Halle die charakterist. Note und dem Haupteingang vom Vorplatz her eine fast suggestiv hineinziehende Wirkung, Die Gestalt überzeugt durch die Einheit von Konstruktion und Form. Die Idee zu dieser Form entspringt der sehr starken gestaltenden Phantasie des Architekten. Sie wurzelt in der genauen Kenntnis der konstruktiven Möglichkeiten (Einheit von Logik und Phantasie). Die Konstruktion ordnet sich in die Idee ein, sie wird für die Gestalt entwickelt und bildet mit ihr eine organische Einheit, die wiederum von der größeren Einheit der gebauten Landschaft umschlossen wird.
Baugeschichte Von den frühen Hochkulturen bis zum Ende der Antike
Architektur als geschieh* s bedingte Form »Es muß begriffen werden, daß jede Architektur ihrer eigenen Zeit verbunden und verpflichtet ist, daß sie sich nur in lebendigen Aufgaben und mit den Mitteln ihrer Epoche manifestieren kann. In keinem Zeitalter ist das anders gewesen.« MIES VAN DER ROHE, 1924 Architektur ist eine für die Gesellschaft repräsentative Kunst, ihre tatsächliche und Symbol. Selbstdarstellung. Sie entsteht bei der Planung und Ausführung von Bauaufträgen, die von Einzelpersonen, Gruppen, gesellschaftl. und staatl. Institutionen an Architekten und Baugewerbe vergeben werden. Dieser Vorgang spielt sich in den zeitbedingten Formen innerhalb der jeweiligen Gesellschaft ab. Bauen ist immer eine Sache der Partnerschaft. Die Partner verfolgen dabei ihre eigenen Ziele, teils sachlich-materieller, teils künstlerisch-ideeller An. Was sie miteinander verbindet ist die gleiche Zeit und der gleiche Ort: die geschieht!. Situation. Architektur ist verwirklichter Auftrag, ihr liegt immer ein Bauprogramm zugrunde, el, h. eine vom Zweck des Gebäudes und von den Vorstellungen des Auftraggebers bestimmte Zahl und Art von Räumen und Raumverbindungen für bestimmte Vorgange. Insofern ist jedes Gebäude ein »Z weckbau«. Die Funktionalität eines Gebäudes besteht in erster Linie in seiner Zweckerfüllung. Sie kann ebenso reine Gebrauchsfunktion (Speicher) wie Symbolfunktion (Pyramide) sein. Am Bauprogramm wirken als wichtige Faktoren u. a. mit: der Auftraggeber mit seinen persönl. Forderungen und Vorstellungen; bestehende Vorbilder mit allgemein anerkannten Lösungen; der Architekt mit seiner theoret. Schulung und prakt. Erfahrung; die allgemeine Bautechnik, deren Stand oder Fortschritt die Grenzen des Realisierbaren bestimmt. Die Programme werden sowohl in der Geschichte insgesamt, wie auch innerhalb einzelner Epochen vielfältiger. Dieser Prozeß beginnt mit dem Ackerbau und dem Entstehen der Städte in den früheren Hochkulturen (S. 78). Städtebau und Architektur stehen in enger Wechselwirkung. Der Bildung von Lebens- und Arbeitsbereichen mit speziellen Funktionen, d. h. mit der Erfüllung sich ständig wiederholender gleieher Aufgaben entspricht die Architektur mit der Ausbildung von Typen. Ein Erfahrungsprozeß führt zu allgemein anerkannten oder sogar optimalen Lösungen, die als Grundtypen (z. B. Tempel, Theater, Basilika) lange Zeit bestehen und örtl. oder regional variiert werden. Gleiche Zwecke bringen in verschiedenen geschichtl. Epochen und geograph. Räumen ähnl. Typen hervor. Was sie trennt, ist der verschiedene Stil. Dagegen verbindet die verschiedenen Typen einer Epoche der gleiche Stil, eine die Ge-
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bäudetypen und -formen übergreifende Gleichartigkeit der konstruktiven und künstler. Mittel. Stil erscheint in der Perspektive des Historikers oft als Einheit, als zielstrebige Bewegung zur Verwirk lichung einer Idee (Entelechie), als Kontinuum. Stil ist das Gemeinsame. In der Sicht des Zeitgenossen erscheint Stil oft als das Besondere eines einzelnen Bauwerkes oder als persönl. »Handschrift« des Architekten. Der Zeitgenosse lebt innerhalb der Gesamtheit der Zeit und der Region und ihres Zeit- oder Regionalstils, der für ihn selbstverständlich ist. Ihn interessiert das Neue, das Einmalige, das Persönliche: Stil ist hier Sonderung, Individualität. Beide Gesichtspunkte bestehen zu Recht: Große Bauwerke repräsentieren sowohl den allgemeinen Geist und Stil einer ganzen Epoche oder Gruppe, wie auch den persönl. Stil und Kunstwillen ihrer Erbauer, Beide sind voneinander abhängig. Individuen schaffen den Stil, der Stil trägt das Individuelle. Der Zeitstil ist generationsbedingten Wandlungen ausgesetzt. Er stellt eine Summe aus differenzierten Einzelwerten dar. Zwei oder drei Generationen leben mit entsprechenden zeitl. Verschiebungen nebeneinander. Jede von ihnen arbeitet mit dem Erfahrungsschatz der älteren Generation, nimmt aber neue Impulse aus den wechselnden geistigen Strömungen der Zeit auf. Die Erneuerungsfähigkeit sichert die Langlebigkeit der großen Zeitstile. Ihre oft expansive Kraft beruht meist auf der konstruktiven und formalen Logik der Hauptelemente und ihrer Verbindung am Bauwerk (S. 58-66). Die großen Stile sind keine willkürl. Dekorationen. Dekoration und Ornament können zum Stil hinzutreten, ihn einkleiden oder als spielerischer Überfluß aus ihm hervortreten. Aber Stile ohne konstruktive Idee und Grundstruktur erschöpfen sich schnell. Die Kraft des Stils hält an, solange er die in seiner Zeit wirksamen Kräfte verkörpert, bzw. solange produktive Kräfte die Zeit bestimmen, Schon eine flüchtige Analyse zeigt die Abhängigkeit der Architektur von den allgemeinen geschicbtl. Voraussetzungen. Eine umfangreiche und langdauernde Bautätigkeit benötigt ein solides, wirtschaftliches Fundament, das zumeist nur in polit. sicheren oder aktiven Epochen gegeben ist. Große Leistungen in der Architektur beruhen auf einem hohen Stand von Theorie und Praxis in Handwerk, Technik und Kunst. Jahrtausende hindurch steht die Architektur an der Spitze der Technik und gilt als die »Mutter der Künste«. In dieser Rolle wird sie im 19.Jh. abgelöst. An der Entwicklung der auf den Naturwissenschaften beruhenden industriellen Technik hat sie seitdem kaum Anteil und gerät in eine andauernde Krise. Viele bedeutende Einzelwerke des 20.Jhs. lassen eine Neuorientierung auf die Kräfte der Zeit erkennen.
72 Architektur als geschichtsbedingte Form/Stil
Gaucher H de Reims 1244-62
Stilbildung am Beispiel der Kathedrale von Reims
|~ Erzbischof l Juhel de Mathefelon I. 1245-1250
Architektur als geschichtsbedingte Form/Stil Das Wort Stil (stilus) bezeichnet im Lateinischen Schreibgriffel, aber auch Hand-
schrift,
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Blüte der Wissenschaften (Scholastik), der Literatur (höf. Roman), der Musik
Ausdrucksweise. Erst seit dem
(Schule v. Notre-Dame), der bildenden
18.Jh. erscheint es als Begriff in der KunstWissenschaft und im 19.JH. als Ziel der Künstler. Produktion (Neogotik, Jugendstil, de Stijl). Dem ursprünglichen Sinn am nächsten steht der Individualstil (Personalstil) als Kennzeichen der an den Architekten oder die ausführende Gruppe gebundenen Gestaltung von Bauwerken. Sie steht in Beziehung zum Zeitstil (Epochenstil), der Einheit aller konstruktiven und formalen Mittel und Ziele. Sie ist der architekton. Ausdruck der allgemeinen geistigen Strömungen der Zeit und als gemeinsame Formensprache allen an der Architektur Mitwirkenden geläufig. Innerhalb des Epochenstils bildet sich oft ein Generationsstil. Die Avantgarde stößt mit ihren Experimenten über die Erkenntnisse ihrer Lehrer zu neuen FormvorstelJungen vor. Einzelne oder Gruppen leiten bewußt oder unbewußt - eine neue Phase innerhalb der bestehenden Tradition ein oder lösen diese auf und bilden eine neue. Den Regional- oder Nationalstil bestimmen Traditionen einer Bevölkerungsgruppe oder eines ganzen Volkes: landschaftl. oder stammesbedingte Absonderung, Klima, Lebensgewohnheiten, Religion, spezielle nationale Begabungen. Beim Materialstil prägt die vom Baustoff bedingte Technik und Ästhetik den Charakter der Architektur. Stil ist das Ergebnis vielschichtiger Prozesse. Fast immer durchdringen sich meh-
Kunst (Kathedralplastik, Glasmalerei). In diesem geistigen Spannungsfeld entsteht das neue mittelalterl. Architektursystem, später »Gotik« genannt. Die Kathedrale von Reims bietet ein klassisches Beispiel für die Vielfalt gestalterischer Kräfte innerhalb eines als Einheit erscheinenden großen Bauwerkes; das Verhältnis der Generationen während einer langen Bauzeit; die Ergänzung individueller, regionaler und nationaler Stile und die Bildung und Entwicklung eines großen europäischen Zeitstilcs. Unter bedeutenden Architekten arbeiten mehrere Generationen mit wechselnden Formvorstellungen an diesem Bau, ohne seine Kontinuität zu gefährden. Die Bauhütte nimmt ständig neue Einflüsse auf, sendet eigene Impulse aus und formt den klassischen Stil der Hochgotik wesentl. mit. Die Planung von 1210 fällt in eine Zeit der Neuorientierung. Ihr Leitbild wird die 1194 begonnene Kathedrale von Chartres, deren erster Meister die Traditionen der Frühgotik verläßt. Der entwerfende Architekt für Reims, JEAN D'ORBAIS, vereinigt in seinem Entwurf die allgemeine Tradition der frühgot. Bauhütten, die spezielle Tradition der regionalen Bauschule der Champagne, das Bauideal der vieltürmigen Kathedrale nach dem Vorbild von LAON und CHART-
rere Stilarten im Bauwerk. Sie sind nach-
RES,
trägliche Definitionen, Arbeits- und Begriffshilfen für den Historiker. Stilanalyse führt zur Erkenntnis der Zusammenhänge, denen ein Bauwerk seine geschichtsbedingte Form verdankt. Sie ermöglicht oft als einzige Methode die EinOrdnung in den geschieht!. Zusammenhang und die Zuweisung an Architekten, Bauhütten und Bauschulen, die längst in der Anonymität der Geschichte untergetaucht sind. Das Beispiel eines Epochenstils von weiter räuml. und zeitl. Ausdehnung, großer Prägnanz einerseits und vielfältiger Differenzierung andererseits bietet die Gotik. Sie breitet sich von einem regional begrenzten Zentrum fast über ganz Europa aus und verkörpert in ihren verschiedenen Phasen die Idealvorstellungen des abendländ. Sakralbaues im hohen und späten Mittelalter. Geschichtl. Voraussetzung für ihr Entstehen ist der polit., Wirtschaft!, und geistige Aufstieg Frankreichs, d. h. der Landschaften um die ILE DE FRANCE, im 12. und I3.Jh. Seine Merkmale sind u. a. Machtzuwacns des Königtums, unterstützt vom hohen Klerus und dem aufstrebenden städt. Bürgertum; religiöse Begeisterung, Kreuzzüge, Reform der Mönchsorden (Zisterzienser);
die Errungenschaften der Avantgarde, besonders das System von Chartres, eigene neu entworfene Bauelemente und Gliederungen, darunter das klassische gotische Maßwerkfenster. SeineJMäne bestimmen bei der Ausführung den Gesamtcharakter des Innenraumes mit Hochschiffwand und Fensterarchitektur und wesentl. Teile des Außenbaues. Um 1228 kommt es unter JEAN LE LOUP in Konkurrenz zu der Kathedrale von AMIENS zu Änderungen in der Ausführung: Neue Westfassade und neues Strebewerk, stärkere Vertikalisierung, Aufgabe des Vieltürme-Planes. GALJCHER DE REIMS führt das Werk der Vorgänger mit großer Virtuosität und eigenen Gedanken weiter. Unter BERNARD DE SOISSONS nimmt der Westbau endgültige Form an. Der von Paris ausgehende »style rayonnant« wird in die Reimser Formenwelt eingeschmolzen. 1287 kommen die Arbeiten am Langhaus zum Abschluß. Am Außenbau gehen sie unter ROBERT DE COUCY und anderen Meistern im 14,Jh. weiter und enden 1480 mit dem Ausbau der Türme. Im Reimser Kathedralstil bleiben Kontinuität und Erneuerung im Einklang. Die Kathedrale stellt im Endzustand eine architekton. »Summe« dar, die den wissenschaftl, Summen der Scholastik vergleichbar ist.
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Von der Steinzeit bis zur Gegenwart
3000
4000 —
Synopsis der Epochen
Industriegesellschaft Neuzeit II, Nationalstaaten Neuzeit I Christliches Mittelalter Islamisches Mittelalter Fernöstliches Mittelalter Völkerwanderung Rom und sein Imperium Hellas, Hellenismus Frühe Hochkulturen Neolith. Ackerbaukulturen Darstellungsbereich Atlas zur Baukunst
Von der Steinzeit bis zur Gegenwart 75 Afrika
Asien
Ägypten
Vord. MesoOrient potamien
Iran
Indien
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China
Japan
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17 Synopsis der Epochen
1 Präkolumb. Hochkulturen 2 Ägäische Hochkulturen 3 Hellas/Hellenismus 4 Urnenfelderkultur 5 Etrusker 6 Rom/Imp.Rom. 7 Illyrer, Kelten, Germanen 8 Kimmerier, Skythen 9 Slawen 10 Germanen 1 1 Byzantin. Reich 12 Westeurop. Staaten 13 Osteurop. Staaten 14 Altes Reich 15 Mittl. Reich 1 6 Neues Reich 17 Jericho und Katal Hüyük, seit 7. Jts. 18 Kleinasiat, u. paläst. Hochkult. 19 Frühe sumer. u. semit. Hochkult. 20 Mittl. sumer. u. semit. Hochkult. 21 Assyr. u. babylon. Weltreich 22 Fers. Weltreich 23 Parther, Sassaniden 24 Frühe islam. Dynastien 25 Osmanenreich 26 Indus-Kulturen 27 Vedische Kulturen 28 Buddhist, u. hinduist. Teilreiche 29 Gupta-Reich 30 Hinduist, u. islam. Teilreiche 31 Sultanat v. Delhi 32 Mogul-Reich 33 Frühe Dynastien 34 Mittl. Dynastien 35 Späte Dynastien 36 Yamato-Reich 37 BeamtenstaatKaiserreich 38 Shogunate
76 Frühe Hochkulturen und Antike MESOPOTAMIEN
500-
ÄGYPTEN
ÄGÄIS
Islam 622 Sassaniden Parther
Römische Provinz
0-
Ptolemäer-Reich Hellenismus
Seleukiden-Reich Hellenismus
Römische PH>¥inz Attaliden-Reich HeUenteBSS
Felsisches Weltreich
500-
Spätzeit
Neulwbylon. Reich
siehe Hellas
Neuassyrisches Reich 1000Mittelbabylon. Reich Mittelassyr, Reich Mitanni
Späte Bronzezeit Neues Reich - _ f,_
Karten
1500-
ft Milderes Reich 2000Heusamer. Reich Akkad-Zeit 2500-
Fr ühdyaastische Zeit
Altes Reich
Spätminoikum = jüngere Palastzeit Mittiere Broazezeit Mittelanatolikum •= Troja VI Mittelminoikum = «(«Byalastzeit Frühe Bronzezeit Frühanatolikum = Troja H Frühkykladikum Frühminoikum Subneolithikum Tiojal
UrBk-*Zeit --
Die zwei Reiche Neolithikum
ElObed-Zeit
: Neolithikum
Hassuna-Zeit Neolithikum
4000seit ca. 5000 Synopsis der Epochen
Frühe Hochkulturen und Antike 77 HELLAS
ITALIEN. ROM Langobarden Goten
FRÜH. CHRISTENTUM Staatskirche -'-';'•
- 500
Im Aufstieg Kaiserreich Römische Provinz Autigoniden Hellenismus
Im Untergrund 0
Republik
Klassische Zeit , . — -'f.~f. :':":• Geometrische Zeit Protogeometr, Zeit Submykenische Zeit Späte Bronzezeit Mykenische Zeit = Späthelladikum
Mittelhelladikum
- 500
Etrusk, Stadtstaat Rom £trusker Villanova-Kultur
- 1000
Terramate-Kuttur Ausbreitung der italischen Stämme Einwanderung 4er ital. Stämme -2000
Frühhelladikum Neolithikum
- 2500
Dimmi-Kuttur -3000 Sesklo-Kultur Neolithikum - 3500
-4000 Synopsis der Epochen
78 Hochkulturen/Grundlagen der Zivilisation Die Menschen der urgeschichtl. Zeit lebe'a als verschwindende Minderheit in weiten Landschaftsräumen, dem harten Klima der Eiszeit ausgesetzt, physisch den instinktsicheren, kräftigen und »spezialisierten« Großtieren unterlegen. Ihr Verstand ersinnt künstl. Mittel, um sich im Existenzkampf zu behaupten. Das Bauen als planmäßige, konstruktive Tätigkeit macht die Menschen vom zufälligen natürl. Obdach, z. B. Höhlen und Felsdächern, unabhängig. Schon in der späten Altsteinzeit (ca. 28000 v.Chr.) entwickeln Jäger- und Sammlergruppen spezif. Bauweisen: für Winter- oder Standlager errichten sie z. B. an zentralen Plätzen je nach verfügbarem Material in den Erdboden eingelassene Dachhäuser mit rundem oder ovalem Grundriß oder große Stangenzelte, teilweise mit Innen- und Außenzelt. Für kürzere Zwischenstationen bei der Wildbeuterund Sammeltätigkeit genügen ihnen leichtere Schutzhütten, transportable Zelte und Windschirme. Die Anlage der Lagerplätze und Wohnstätten zeugt von einer jahrtausendelangen Erfahrung in der Organisation des Zusammenlebens in kleinen Gruppen. Sie verdichtet sich zu allgemeinen Planungsgrundsätzen und Konstruktionsmethoden. Der einschneidende Klima-Wechse! am Ende der Eiszeit verändert alle Lebensbedingungen. Neue Gruppen gehen in den gemäßigten und warmen Zonen teilweise von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaftsform über. Sie bereiten die völlige Umschichtung der Lebensweise vor, die sich in der Jungsteinzeit als »Neolithische Revolution« vollzieht. Aus der Verbindung von Ackerbau und Viehzucht auf der Basis der Dauersiedlung entstehen regional begrenzte bäuerliche Kulturen. Die intensive Nutzung einzelner Vegetations- und Landschaftsräume fördert dea organisatorischen Zusammenschluß benachbarter Gruppen zu Stammesverbänden. Bevölkerungszuwachs, Überschußproduktion, Bedarf an Gebrauchsgütern führen zur Arbeitsteilung und sozialen Differenzierung von Gruppen und Individuen. Als neues soziales Gebilde entsteht die Stadt. In ihr konzentrieren sich Funktionen und Energien, die über den dörfl. Rahmen hinausgehen: Spezialisierte Gewerbe, Handel, zentrale Kulte. Die Städte gewinnen schnell Wohlstand, Wirtschaft l. und polit. Macht. Bevölkerungswachstum, Landwirtschaft, soziale Differenzierung und städt. Konzentration bilden die Voraussetzungen bzw. die Begleiterscheinungen beim Entstehen der Hochkulturen. Ihre Träger sind größere Stämme oder Völker, die am Ende der vorgeschichtl. Zeit große Flächen in den Flußoasen des trop. und subtrop. Vegetationsgürtels besetzen und unter zentraler Leitung bewirtschaften. Die Schwerpunkte mit großen, volkreichen Kulturen bilden sich mit deutl. zeitl. Verschiebungen seit ca.
3200 v.Chr. in MESOPOTAMIEN (Sumerer, Akkader, Assyrer, Babylonier); 2900 in ÄGYPTEN (Altes, Mittleres und Neues Reich); 2500 in INDIEN (Induskulturen, Vedische Kulturen); 1800 in CHINA (Hsia, Shang, Chou, Ch'in, Han- und Ming-Dyn.); 800 n.Chr. in MITTEL- und SÜDAMERIKA (Tolteken, Mayas, Azteken, Inkas). Außerdem entstehen regional selbständige Hochkulturen an den Gebirgs- und Küstenrändern und den Hochebenen zwischen den Flußoasen, z. B. in NORDMESOPOTAMIEN: Churriter und Mitanni; KLEINASIEN: Hethiter, Phryger und Lyder; PALÄSTINA; Philister, Phöniker und Juden; IRAN. HOCHLAND: Meder und Perser; OSTASIEN: Japan. Die Entwicklung Europas erhält die entscheidenden Impulse von den mediterranen Hochkulturen der Bronzezeit: 260O-1600 TBOJA II-VI an der Küste Kleinasiens (Früh- und Mittelanatolikum); 2000-1400 die MINOISCHE KULTUR in Kreta (Mittel- und Spätminoikum); 1600-1150 die MYKENISCHE KULTUR in Griechenland; 900-ca. 200 ETRUSKER in Italien (schon Eisenzeit). Ihr Erbe treten die beiden Hauptmächte der Antike, HELLAS und ROM, an. In ihrer zeitl. Folge setzt sich das Kulturgefälle von O nach W bis in die Antike fort. Auf den Leistungen der Hochkulturen beruht die Entwicklung der Zivilisation. Die Menschen treten zum ersten Mal in großen, geschlossenen Verbänden in das Licht der Geschichte. Entstehung, polit. und kulturelle Beziehungen der Hauptgruppen sind in vielen Einzelheiten noch ungeklärt. Neben grundsätzlichen Übereinstimmungen bestehen charakterist. Unterschiede. Allgemeine Kennzeichen sind: Wirtschaft!., kult. und polit. Zentralisierung in Städten; Landwirtschaft, oft mit weiträumig angelegten Bewässerungssystemen; Überschußproduktion; Differenzierung der Gewerbe; Handel mit landwirtschaftl. und gewerbi. Erzeugnissen. Damit verbunden: Ausbildung von zentralen Verwaltungen; Beamtenkaste (Schreiber) und Priesterhierarchie; später oft zentralisierte Großstaaten. Erste Schrift- und Zahlensysteme; Kalenderberechnung, Astronomie. Techn. Erfindungen: Rad und Wagen, Pflug, Töpferscheibe, Ziegel, Stein- und Metallbearbeitung. Geplanter Städtebau. Die Architektur bildet Formen für die versch. Aufgaben der sich differenzierenden Gesellschaft aus. Sie repräsentiert in Typen und Stilen den Charakter der einzelnen Kulturen und ihrer Entwicklungsphasen. Architektur wird zur geschichtsbedingten und Geschichte dokumentierenden Form.
Mesopotamien/Beginn der Architektur
79
Der historische Raum Mesopotamiens dehnt assyrische und das Neuassyrische Reich. Der sich weit über das eigentliche Zweistromland »patriarchalische Absolutismus« der Frühaus und erstreckt sich zwischen den Randzeit geht über in die absolute Gewaltherrgebirgen des Iran und der arabischen Wüste schaft eines theokratisch regierten Militärvom Persischen Golf im SO bis zum armeStaates. Eine Reihe überragender Herrscher nischen Hochland im NW. Nordmesopowie ASSURNASIRPAL II., SARGON II. und tamien ist ein ausgedehntes Hügelland mit ASSURBANIPAL dehnen den Machtbereich eingeschnittenen Flußtälern und Streifen des assyrischen Weltreiches bis Ägypten aus. von Wüste und Steppe. Mittel- und SüdDie Residenzen der Herrscher sind abwechmesopotamien ist Schwemmland der großen selnd ASSUR, NINIVE, KALACH und DURStrörne über der alten Ebene, ausgefüllt mit SCHARRUKIN. Schilfsümpfen, Lehmbänken und MarschDas Perserreich der Achaimeniden wird zum boden. Zum Persischen Golf hin endet MeZerstörer und Nachfolger beider Reiche in sopotamien in einer Lagune, die in Jahrder Weltherrschaft. Die assyrischen Städte lausenden allmählich verlandet. gehen zugrunde, Babylon überlebt und geDie ersten bäuerlichen Kulturen bilden sich winnt wieder Bedeutung. Alexander d. Gr. in Nordmesopotamien noch während des kann seinen Plan nicht mehr verwirklichen, Mesolithikums. Ihre Standorte sind über das hier das Zentrum seines Hellenist. WeltHügelland am Fuße der Gebirge und die . reiches zu errichten. Randterrassen der Flußtäler verstreut. Hier ist eine Zone mäßiger Fruchtbarkeit zwiDie baugeschichtlichen Epochen stehen zwar sehen den Steinlandschaften des Hochim Zusammenhang mit den politischen, reilandes und den Überschwemmungsflächen chen aber oft weit über diese hinaus, der Flüsse. In den Siedlungsschichten der Bauprogramme, Gebäudetypen und Bauforzahlreichen Teils finden sich die Zeugnisse men beruhen auf den Bedingungen des des kulturellen Fortschrittes über das NeoLandes: lithikum zum Chalkolithikum: einfache dem Klima, dem Baumaterial, der WirtBauernhäuser, Viehhaltung, Getreideanbau, Schaftsstruktur und den Vorstellungen von Steinschliff, Keramik in ständig verbesserter Religion, Staat und Gesellschaft. Diese hier Technik. Allmählich beginnt auch in Südüber Jahrtausende gleichbleibenden Vormesopotamien die Kultivierung des Marschaussetzungen begünstigen die Ausbildung landes. Die ersten Städte entstehen. fester Siedlungsgewohnheiten, Bautypen Die Sumerer schaffen im Süden die älteste und Formelemente. Hochkultur. Mit ihrer Einwanderung beSakralbau, Palast und Stadtmauer bestimginnt die wechselvolle Geschichte des Vormen als die drei führenden Bauaufgaben die deren Orients, die über Jahrtausende beEntwicklung der mesopotamischen Archistimmt wird von der ständigen Rivalität der tektur. Schon für das 7.Jt. ist in JERICHO Städte und Reiche untereinander. eine massive Stadtbefestigung nachgewiesen. Wichtige Zentren der sumer. Stadtstaaten In Mesopotamien gilt die Stadtmauer von sind URUK, UR, ERIDU, NIPPUR, KISCH und Uruk als älteste. Sie wird dem sagenhaften LAGASCH. Staatsform ist ein religiös beKönig GILGAMESCH zugeschrieben. Der stimmter »Staatssozialismus» mit PriesterMauerbau gehört zur königl. Bautätigkeit, königen und Tempelwirtschaft. Unter dem von ihm hängt die Bewahrung der in den Druck der semitischen Einwanderung verStädten konzentrierten Macht entscheidend lagert sich die Macht auf das politische Köab. Die größte Steigerung wird im 6. Jh. mit nigtum, das unter den Akkadern zur Regiedem fünffachen Mauerring am Palast NEBUrungsform des Despotismus übergeht. Unter KADNEZARS in Babylon erreicht. der Idee des Weltherrschertums ist ihr Reich Der Palast entwickelt sich aus den Anfängen als zentralist. Großstaat aufgebaut. Restauin der frühdynast. Zeit zur Größe eines rative Tendenzen halten diese Entwicklung selbständigen Stadtteiles unter den Weltnicht auf. Das vereinigte Reich von Sumer herrschern. Sein Grundelement bildet das und A k kaderlebt seine letzte Blüte unter den mesopotam. Hofhaus. Dessen Prototyp ist 3. Dynastien von UR und LAGASCH. Dann um 2500 in UR gültig ausgeprägt und bleibt verlagern sich die polit. Zentren in die Mitte Muster für das Wohnen im Orient. Die Paund den Norden des Landes. Die weitere laste erscheinen als Addition und KombiGeschichte Mesopotamiens steht im Zeichen nation des Hofhauses und seine monumender sich steigernden Rivalität zwischen tale Steigerung durch Formen des SakralAssyrern und Babyloniern, deren Machtbaues. Perioden miteinander abwechseln. EinTempel sind als Bauaufgabe älter als Mauer brüche von Fremdvölkern wie KASSITEN, und Palast. Nach ersten Vorläufern entsteht CHURRITER, HETHITER, MITANNI bringen schon im 4.Jt. in den Tempelstädten der längere oder kürzere Unterbrechungen. Uruk-Zeit die erste durchgeformte MonuBabylon hat seine Blütezeiten im Akbabylomental-Architektur der Geschichte, nischen Reich unter HAMMURABI und im Der Sakralbau findet seine höchste SteigeNeubabylonischen Reich unter NEBUKADrung in den Hochterrassen und TempeltürNEZAR. Die relig. und polit. Traditionen des men, den Zikkurats. Ihre klass. Form erReiches von Sumer und Akkad bleiben bereichen sie im Neusumerischen Reich unter stimmend für Kultur und Staatsform. der 3. Dyn. in UR, ihre größte Höhe und Die Assyrer erleben drei Glanzzeiten ihrer glänzendste Ausstattung im Stufenturm von Machtpolitik: das Altassyrische, das MittelBABYLON, dem legendären Turm zu Babel.
80 Mesopotamien zur Zeit der Hochkulturen
Assur Babylon Sumer Elam vermutlicher Küstenverlauf im 3. Jahrtausend v. Chr.
Kulturelle und politische Kernzonen im Zweistromland
Mesopotamien zur Zeit der Hochkulturen / Zeittafel 81 Vorzeit Hassuna-Zeit ca. 5000-3500 El Obed-Zeit ca. 3500-3200
Ackerbau, Dorfgemeinschaften, Bewässerung Tempelwirtschaft
Uruk-Zeit ca. 3200-2800 Dschemdet-NasrZeit ca. 2800-2600
Einwanderung der Sumerer, polit. Konzentration, Stadtstaaten
Frühdynast. Zeit ca. 2800-2400 Mesilim-Zcit Ur I-Zeit .
Rundhäuser, dort]. Siedlungen Lehmziegel, rechteck. Gehöfte, erste Kultbauten arch. Langcellentempel Städtebau Tempelterrassen, Großtempel, Stiftmosaik
Feuersteingeräte handgef. Keramik, Kupferzeit, Töpferscheibe, Idole
Königsherrschaft 1 . Dyn. von Ur und Lagasch Vordringen der Semiten
Stadtmauern, erste Paläste
Königsfriedhof Ur Kupferplastik Geierstele Anfang der Keilschrift
Akkad-Zeit ca. 2400-2230
Großreich der Akkader (Sargon)
WeltherrscherPaläste, quadratische Gesamtanlagen
Gutäer-Zeit ca. 2230-2130
Fremdherrschaft
Porträtplastik Siegesstele des Naramsin kultureller Zusammenbrach
Neusumerisches Reich (Ur HI) ca. 2130-2015
3. Dyn. von Ur und Lagasch, Restauration des Reiches von Surner und Akkad
Große Sakral- und Palastbauten, Zikkurats, BreitcellenTempel, Hofhäuser
Hochblüte der Literatur, Porträtplastik, Relief, Urnammu-Steie
Isin-Larsa-Zeit ca. 2015-1560
rival. semit. Königreiche
Große Paläste in Larsa und Mari
(Gilgamesch-Epos)
Altbabylon. Reich
Großstaat unter Hammurabi [1728 bis 1686] Patriarch. Absolutismus, Großreich
1. Stadtmauer von Babylon
Mathematik Gesetzeskodex
Kassiten-Zeit ca. 1560-1150
Fremdherrschaft
Adaption alter Bauformen
Mitanni-Reich ca. 153&-1350
Fremdherrschaft
Mittelassyr. (Mittelbabylon.) Reich ca. 1350-1035
zentralist. Militärstaat, Eroberungskriege, Rivalität mit Babylon
Ausbildung eigener Bautypen und -formen : Doppeltempel, Tempeltürme, Weltherrscher-Palast
Befreiung von der Mitanni-Kultur Neue Stilelemente Wandmalerei
Neuassyr. Reich ca. 900-612
Expansion. Aufstieg zur Weltmacht totale Zerstörung
regelhafter Städtebau, Palastneubauten, Tempelanlagen, Zikkurats
Hochentwickelte Reliefkunst Bibliothek des Assurbanipal
Neubabylon. Reich 625-539
Sieg über die Assyrer, gigant. Bautätigkeit: Städtebau, Paläste, Weltreich (Nebukadnezar) Tempel, Zikkurats (Südburg.Häng. Gärten, Babyl. Turm)
Wissenschaften Monumentalkunst Ziegelreliefs Restaurationen
Perser-Reich 559-330
Weltreich der Achaimeniden
neuer Dekorationsstil
Altassyr. Reich
ab 330 Beginn des Hellenis(Alexander d. Gr.) mus
Hoftempel, Ovaltempel
Alabaster-Vasen, Jagdstele, Frauenkopf. Adoranten, Rollsiegel, erste Schriftzeichen
Mehrfach-Tempelanlagen Palastbau
Paläste in Susa, Ekbatana, Persepolts
82 Mesopotamien/ Bauformeii
Assur: die Stadt von Nordosten (Rekonstruktion)
Illl Wandgliederung (Schema)
Borsippa
Tempel-Ecke
o
o
o
o
Assur: 1 Rosette mit Ziegelknauf 2 Zinnen der Stadtmauer
Gliederung der Monumentalbauten
Babylon: Ischtar-Tor
fii
Mesopotamien/Bauformen Prototypen sakraler und profaner Bauten finden sich schon in den frühen Siedlungsschichten Mesopotamiens. Spezi f. Bauformen bilden sich hauptsächlich am Sakralbau aus. Sie gewinnen allgemeine Gültigkeit und werden bis zum Ende der Hochkulturen zwar variiert, aber nicht grundsätzlich verändert. Diese Konstanz im architekton. Charakter entspricht der Konstanz der geograph., Wirtschaft!, und weltanschaulichen Voraussetzungen. Das Schwemmland zwischen den Strömen liefert an Bausioffen nur Schilf, Lehm und Sand. Holz und Naturstein müssen importiert werden. Auf Holz kann die Bautechnik nicht verzichten, den Naturstein ersetzt sie durch Lehmziege], zunächst luftgetrocknet, später auch gebrannt. Die mesopotam. Bautechnik beruht auf dem Mauer-Massenbau. Die Dimensionen der Räume sind abhängig von der Lange der Dachbalken, die das große Gewicht der Terrassendächer tragen müssen. Weitgespannte Gewölbedecken gibt es nicht. Gewölbe werden als Tonnen oder Bogen nur bei Toren, Substruktionen und Ingenieurbauten verwandt (S. 44). Bautechnik und Klima fördern Bautypen mit dicken, fensterlosen Mauern, Innenhöfen und Dachterrassen. Dem entspricht die Ausbildung kubischer Baukörper und die horizontale Übereinander-Schichtung der Volumen. Der Kubus beherrscht in vielfacher Staffelung das Bild der Städte im großen wie im kleinen. Die Durchformung der Flächen mit plast. Gliederungen oder farbigen Dekorationen gehört zu den Hauptaufgaben der mesopotam. Architektur. Beide Möglichkeiten werden von Anfang an wahrgenommen. Die plastische Gliederung der \Vande durch vortretende Pfeiler oder einspringende Nischen haben schon die Tempel der UrukZeit (S. 94X Die Oberfläche erhält durch Abstimmung von Nischentiefe, Pfeilerbreite und -abstand das gewünschte Relief. Der mit den Tages- und Jahreszeiten wechselnde Schattenschlag erzeugt auf diesem tektonischen Gerüst eine Reihe von Variationen, die von glatter Flächigkeit bis zu scharfer Profilierung reichen. Diese einfachen Mittel genügen, um die kubischen Baukörper für die Ferne wie für die Nähe wirkungsvoll zu strukturieren. Für die Gebäude-Ecken entwickeln sich 2 Lösungen aus der Stellung des ersten Pfeilers. Bildet der Pfeiler die Ecke, entsteht eine »harte K a n t e « vom Fußpunkt bis zum oberen Gesimsabschluß, die in Licht und Schatten eindeutig fixiert ist. Tritt eine Nische an die Hcke, entsteht durch Brechung der Kante eine »weiche Ecke«. Sie ist unter der harten Gesimskante je nach Lichteinfall mehrdeutig. Dieses Gliederungssystem erwächst nicht allein aus dem Ziegelbau mit seinen aus der Mauer hervortretenden, statisch bedingten, Verstärkungspfeilern. Hier wirken vorgeschichtl. Bautechniken nach. Die frühen Bauten aus Stampflehm oder Lehmbatzen
83
benötigen Holzschalungen oder Verkleidungen mit Versteifungshölzern. Die daraus entstehenden Profilierungen leben im ausgereiften Ziegefbau weiter. Die Formen erhalten einen Eigenwert unabhängig von der lechn. Notwendigkeit. Bei den Sakralbauten gewinnen sie selbst sakralen Rang und werden als verbindlicher Kanon in die jeweils zeitbedingte Technik transponiert. In Mesopotamien erlauben die Möglichkeiten des Mauerverbandes aus kleinen genormten Ziegeln die Übernahme des Formkanons, ohne Konflikt mit den Gesetzen der Ziegeltechnik. In der archaischen Vruk-Zeit sind die Profilierungen tiefer, feingliedriger und abwechslungsreicher als in den späteren Epochen. Farben werden frühzeitig innen und außen zur Gliederung und Dekoration der Wandflächen angewandt. Pfeiler, Nischen und Gesimse werden durch Bemalung voneinander abgesetzt oder imitiert. Dabei werden Holz- und Flechtwerkmuster von der Verkleidung früher Lehmbauten übernommen. In der Uruk-Zeit folgen Versuche mit Mosaik aus farbigen Stein- und Tonstiften. Die dauerhafte Dekoration großer Flächen wird in gesteigertem Maß durch die Erfindung farbiger Glasuren und die Massenherstellung glasierter Ziegel möglich. ASSYRER und BABYLONIER verblenden ganze Gebäude und Teile der Stadtmauern mit monumentalen Dekorationen und Wandbildern. Dabei führen sie die sumer. Traditionen weiter. Die Dekoration folgt nicht tektonischen Gesichtspunkten, sondern übersetzt die Muster textiler Wandbehänge in die Verblendtechnik. Charakterist. Details weisen noch in der Spätzeit auf die Ursprünge hin. Am Tschtar-Tor in BABYLON und an der Stadtmauer in ASSUR tauchen z. B. gleichartige Rosetten auf. [n ASSUR sind in ihrer Mitte plastisch ausgeformte Tonknäufe in Form einsteckbarer Pflöcke eingelassen. Das charakterisiert die Rosetten als prunkvoll aufgemachte »Knopflöcher«. Unter jeder Zinne der Stadtmauer steckt ein solcher Knopf. Über der Knopfreihe zieht sich als Abschluß des symbol. Behanges eine Schmuckborte entlang. Die Grundfarbe der Ziegelwände ist ockergelb oder weiß, die von der Textilstruktur her wichtigen Teile werden mit leuchtenden Farben hervorgehoben. Bei einigen Bauten wird der abgestufte Aufbau durch eine gestufte Farbgebung ergänzt, wie es z. B. von der Zikkurat in BABYLON (S. 98) überliefert wird (schwarz, weiß, blau etc.). Der Motivreichtum und die Symbolik der Großbilder wird ständig erweitert und monumentalisiert. Den Höhepunkt bilden die prunkvollen Dekorationen von Ischtar-Tor, Prozessionsstraße und Palast des NEBUKADNEZAR in BABYLON mit ihren Löwenfriesen, Lebensbäunien und anderen Ewigkeitssymbolen. Die Behandlung der Oberflächen macht klar, daß man nicht den konstruktiven Aufbau der massiven Architektur betonen will, sondern ihren symbolischen Charakter.
84
Mesopotamien/Typologie I: Wohnformcn der Frühzeit
Bau einer arabischen Srefe
Tepe Gaura: Mauerring eines Hauses
Arpadschije: Bienenkorbhäuser 1 Grundriß 2 Schnitt 3 Varianten des Grundtyps
Tel! Hassuna: Gehöft 1 Grundriß 2 Rekonstruktion
äuerliche Häuser der vorgeschichtlichen Zeit
Mesopotamien/Typologie I: Wohnformen der Frühzeit Krste Unterkünfte der Jäger- und Sammlergruppen sind bis in das Mesolithikum Höhlen und Wohngruben, Zelte und Windschirme, Schilf- und Reisighütten. Der häufige Standortwechsel gestattet nur provisor. Konstruktionen aus dem jeweils vorhandenen Material. Im Neolithikum vollzieht sich der revolutionierende Übergang zur Landwirtschaft. Ein Teil der Urbevölkerung wird seßhaft und braucht stabile Unterkünfte für Menschen, Tiere und Vorräte. Die primitiven Bautechniken werden allmählich verbessert, die ersten halbfesten und festen Häuser entstehen. Urformen des Wohnhauses »Eine Urform des Hauses ist der allereinfachste Bau, in dem die Strukturmerkmale und Entwicklungsmöglichkeiten einer Gruppe von konstrukt. miteinander verwandten Hausformen veranlagt sind.« H. SÖDER Schilfhütten, sog. Srefen, werden im arab. Zweistromland noch irn 20.Jh. in der uralten Bauweise errichtet. Geschnürte Schilfbündel werden in gleichen Abständen paarweise einander gegenüber eingegraben und zu Rippen zusammengebogen. Ein Längsverband aus Schilf- oder Holzstangen verbindet sie zu einem Tonnengerüst, das mit Schüfmatten und Lehm gedeckt wird. Diese mesopotam. Variante des Dachhauses vereinigt bereits wichtige konstruktive Elemente wie Bogen, Rippe. Dachverband, Dachhaut zu einer »Urform« des Tonnengewölbes (S. 44). Rundhäuser entstehen aus dem Kreis um das Herdfeuer oder dem Nomadenzelt im Steinring mit 3 oder 4 Stangen, Sie gelten als älteste Form des Hauses. Die verschiedenen Typen finden sich vom Alpenrand bis zur Mongolei und werden noch heute gebaut. Im Umkreis Mesopotamiens werden die provisorischen Leichtbauweisen schon früh durch die Techniken des Lehm- und Steinbaues ersetzt. Die ältesten Spuren solcher Häuser sind ergraben und datiert für 6500 JERICHO aus Ziegeln (!) 5000 TEPE G AURA aus Stampflehm 4000 ARPADSCHIJE und TELL HALAF aus Feldsteinen 3500 ZYPERN aus Feldsteinen. Die Grundrißdurchmesser erreichen in TEPE GAURA 5 m, in ARPADSCHIJF, 10 m. Diese Rundbauten gehören zum Typ der Bienenkorbhäuser, teilweise kombiniert mit Vorbauten in Form kleiner Rechteckhäuser. In ZYPERN, einem Vorposten mesopotam. Kultur im Mittelmeer, ist in ca. 2,30 m Höhe ein Zwischengeschoß eingeschoben, das die halbe Kreisfläche überdeckt. Diese Einteilung übernehmen später die Inselgriechen in ihre Rechteckhäuser. Die Bautechnik entwickelt aus dem verfügbaren Baumaterial schon früh gültige Konstruktionen. Die Lehm wände in TEPE GAURA zeigen knotige Verstärkungen, sogar einen »Strebepfeiler« in Halbrundform. Die Häuser in ARPADSCHIJE sind einschalige Kragkuppeln. Dieses Konstruktionsprinzip wird später in den Kuppelgräbern der Ägäis
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zu monumentaler Größe gesteigert (S. 148). Aus Vorformen - wie dem Dachhaus - bildet sich am Ende der vorgeschichtl. Zeit das Rechteckhaus mit senkrechten Wänden. Seine Typen setzen sich im Wettbewerb mit den Rundbauten als die zweckmäßigeren Formen durch. Das Rechteck als Grundfigur läßt sich besser konstruieren, einteilen, erweitern und kombinieren; es erleichtert materialgerechte Konstruktionen (Holzverbindungen, Ziegelverband). Ein Bauprogramm ist durch eine Verbindung rechteckiger Räume verschiedener Größe besser »unter Dach und Fach« zu bringen als durch eine Kette von Rundhäusern. Der Kreis entzieht sich einer zweckmäßigen Einteilung ebenso wie einer beliebigen Vergrößerung. Er behält eine Sonderstellung als zweckfreie Idealform in der Monumentalarchitektur (Atreus-Grab S. 148, Pantheon S. 252). Die frühesten Datierungen für Rechteckhäuser sind bisher
6000 JERICHO und KATAL HÜYÜK 5000 QALAAT DSCHARMO 4750 TELL HASSUNA In JERICHO finden sich bei den Häusern der sog. »Polierbodenleute« verputztes Ziegelmauerwerk und gefärbter Estrich. Die Dächer waren wahrscheinlich flach. Die Gruppe von KATAL HÜYÜK in Anatolien bestand aus etwa 40 gut eingerichteten Häusern mit Zugang über das flache Dach. JERICHO und KATAL HÜYÜK sind bereits stadtähnliche Siedjungen. Mesopotamien ist in der Frühzeit vor allem bestimmt durch die Ausbreitung und Organisation der Landwirtschaft. Dem entspricht die Differenzierung im Raum program m der Bauernhäuser. Ein Gehöft in Teil Hassuna zeigt ein klares System von rechtwinklig sich kreuzenden Mauerzügen. Kern der Anlage ist ein rechteckiges Langhaus. Mit dem Zugang auf der Langseite folgt es dem Prinzip der QuerErschließung (im Gegensatz zum MegaronHaus S. 134). Der Hauptraum geht durch die ganze Hausbreite, vier kleinere Räume liegen paarweise zu beiden Seiten. Dem Haupthaus ist im rechten Winkel ein Seitenflügel angebaut, vermutlich als Stall und Gerätehaus. Beide Hausflügel haben senkrechtes Mauerwerk in Erdgeschoß-Höhe. Strebepfeiler verstärken den Giebel. Als Dachkonstruktion nimmt man ein mit Rohr gedecktes Satteldach an. Eine Gruppe ummauerter Höfe dient den landwirtschaftl. Zwecken und dem Handwerk der Bewohner. Die Mauern sind auch hier mit Pfeilern verstärkt. In den Erdboden sind Mauerringe als Silos oder Zisternen eingelassen. Dieses Gehöft von Teil, Hassuna bildet mit einer Gruppe ähnlicher Anlagen ein Dorf, das für die frühen bäuerlichen Siedlungen typisch sein dürfte. Die dort gefundene Keramik ist kennzeichnend für die ganze Periode. Das offenbar nach überlegtem Plan angelegte Gehöft kann als Prototyp des landwirtschaftl. Betriebes am Ende des Neolithikums gelten.
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Mesopotamien/Typologie II: Städtebau
Assur: nördlicher Teil der Stadt (Rekonstruktion 0
500
0
250m
[^__~~j politisch-religiöse Zentren |
j "^
Wohngebiete Hauptstraßen, Plätze Flüsse, Kanäle, Häfen
OOm Babylon
Großstädte im Zweistromland
| B Wälle, Stadtmauern
Mesopotamien/Typologie II: Städtebau l 87 Hochkulturen und Städtebau bedingen einander. Inmitten der Agrarlandschaft wird die Stadt zum Kristallisationspunkt für die Organisation der arbeitsteiligen Gesellschaft. Sie ist Kultplatz, Verwaltungssitz, Handelsmarkt, Verkehrsknotenpunkt und Produktionsstätte. Eine Funktion zieht die andere nach sich. Gegen die wachsenden Gefahren schützen sie sich durch Stadtmauern. Vorläufer dieser Entwicklung sind um 6500 Jericho in Palästina und Katal Hüyiik in Anatolien. Der Städtebau Mesopotamiens konzentriert sich in 3 Schwerpunkten, die sich mit den zentralen Siedlungsgebieten der politisch und kulturell führenden Völker decken. Die Südgruppe umfaßt mit UR, ERIDU, URUK, NIPPUR, LAGASCH und LARSA die ältesten Städte, alte Kultplätze, die ab 3800 von den Sumerern zu Zentren ihrer Stadtstaaten ausgebaut werden. Die Mittelgruppe mit KISCH, SIPPAR, AKKAD, MARI, BORSIPPA und BABYLON bildet das Kernland der Akkader und Babylonicr. Die Nordgruppe am oberen Tigris liegt im Siedlungsraum der Assyrer. Hauptstädte sind ASSUR, KALACH, NINTVE und DUR-SCHARRUKIN.
Der »sumerische Typ« der Tempelstadt scheint sehr alte Traditionen zu bewahren. Der Umriß bildet meist ein breites Oval, von einer turmbewehrten Mauer und Wasserläufen umschlossen. Gewundene Straßen und enge Passagen durchziehen ohne klares System die Stadtviertel (S. 88). Der NO mit seiner Lage »am guten Wind« scheint das bevorzugte Wohngebiet zu sein. Die Stadtmitte wird von den Gruppen der Sakral- und Palastbauten gebildet, die durch ihre rechteckige Anlage im Gegensatz zum Stadtumriß stehen. Die Hauptgebäude sind gleichartig nach den Himmelsrichtungen ausgerichtet, aber nicht in festen Achsen zueinander geordnet. Dieses additive Prinzip erleichtert Ergänzungen, verzichtet aber auf perspektivische Steigerungen mit Hauptund Tiefenachsen. Zur Dominante der ganzen Stadt werden die Stufentürme der Zikkurats (S. 98). Ur, unter der 3. Dyn. Hauptstadt des Neusumer. Reiches, ist ein solches Stadtoval. Die Lage im Mündungsgebiet der Flüsse macht es zur bedeutenden Handelsstadt. Ein mauergekrönter Stadtwall wird umflossen vom Euphrat und seinen Kanälen. Nordund Westhafen (6, 7) richten sich in ihrer Lage nach dem Außen- und Binnenhandel. Zwischen den geschachtelten Wohnvierteln (5) steht die klar geordnete Gruppe der Repräsentationsbauten (1). Im übrigen Stadtgebiet stehen nur wenige Großbauten: auf dem Wall am Ostufer der Enki-Tempel (3) und ein Bollwerk (4), am Nordhafen der spätbabylon. Palast (2). Der Städtebau der Assyrer strebt eine strengere Gesetzmäßigkeit an. Er beruht auf der Praxis des Militärstaates. Die älteren Städte folgen zumeist den besonderen Gegeben-
heilen des Geländes. Die Staatsgebäude liegen oft als aufgetürmte Gruppe am Stadtrand in Verbindung mit Stadtmauer und Wasserstraße. Besonders eindrucksvoll ist die immer wieder überbaute Palast- und Tempelgruppe am nördl. Hochufer von Assur (auch S. 82), das in seiner Gesamtstruktur aber noch altertümliche Züge aufweist. Beim Neubau von Dur-Scharrukin versucht SARGON II. einen Idealplan für eine Weltherrscher-Residenz zu verwirklichen. Ein Rechteck von ! 700/1800 m Seitenlänge ist die Grundfigur. Die Lage der Stadttore deutet auf ein rechtwinkliges Netz von Hauptstraßen (nach EGLI). Zwei kompakte Gebäudegruppen bilden die exzentrischen Schwerpunkte. Am NO-Rand liegt die eigentliche Sargonsburg (S. 92) mit Palästen, Tempeln und Zikkurat (1). Sie springt mit dem stark befestigten Kernstück als Bastion über die turmbewehrte Stadtmauer vor. Ein kleineres Gegenstück (2) wird als Palast des Thronfolgers oder als Arsenal gedeutet. Diese beiden strateg. Festpunkte beherrschen Stadt und Umland; dazwischen sollen in das Straßennetz die Stadtquartiere und der Markt (3) eingespannt werden. Die Einführung der Straße als Ordnungsprinzip schafft die Voraussetzung der vorausschauenden Stadtplanung. Der babylonische Städtebau vereinigt sumer.akkad. Traditionen mit üen Prinzipien der Assyrer. Kennzeichen sind geometrische Gesamtordnung, zentrische Lage des Hauptheiligtums, exzentrische Lage der Palastgruppe, die bollwerkartig mit Stadtmauer und Wasserweg verklammert wird. Die Hauptstraßen folgen einem geometr. Netz, während die einzelnen Stadtviertel kein Plansystem haben. Neben der Musteranlage von Borsippa zeigt auch der Neubau von Babylon unter NEBUKADNEZAR II. diese Grundzüge. Im Zentrum der Stadt, zwischen Alt- und Neustadt liegt am Euphratufer das Hauptheiligtum Babyioniens, der Marduktempel (3) mit der großen Zikkurat (S. 98); einzelne Tempel wie der berühmte Ischtar-Tempe! (4) liegen verteilt in der Stadt. Die Hauptachse der großen Prozessions-Straße ist die erste Prachtstraße der Alten Welt mit einem bewußt gestalteten und auf monumentale Wirkung berechneten Straßenraum (5). Die Palastgruppe (!) an der N-Seite ist festungsartig mit der hier fünffach gestaffelten Stadtmauer und den Bastionen seitwärts des monument. Ischtar-Tores (2) verklammert. Das Mauersystem der inneren Stadt vereinigt alle Erfahrungen des assyr.-babylon. Festungsbaues. Eine weitere Mauer in Form eines Dreieckes umschließt die Vororte mit dem Sommerpalast (6) im N und dem Neujahrstempel (8). Mit ca. 300 qkm ist BABYLON die größte ummauerte Stadtfläche der Antike. Seine Vororte dehnen sich bis KISCH und BORSIPPA aus, mit denen es eine zusammenhängende Stadtlandschaft bildet.
Mesopotamien/Typologie III: Städtebau 2
Ur: Wohnhaus a Grundriß b Schnitt Ur: Wohnviertel (siehe Typologie II, Ur/5)
öS 0» Babylon: Wohnviertel 1 Marduk-Bezirk 2 Ischtar-Tempel 3 Prozessions-Straße 4 großes Wohnhaus Babylon: großes Wohnhaus
Tempel
i n
Wohnräume i :
I Wohnviertel, Wirtschaflsräume
|
| Straßen, Plätze, Höfe
Lagasch: Wohnhaus
Städtische Wohnviertel und Wohnhäuser
Mesopotamien/Typologie III: Städtebau 2 Die Wohnviertel in den Städten Mesopotamiens bleiben jahrtausendelang ohne festes Ordnungsprinzip. Erst die Assyrer versueben ein System von Hauptstraßen einzuführen (S. 86). Die Binnenstruktur der Viertel beruht auf den privaten Besitzverhältnissen, wie sie sich durch Erwerb und Vererbung zufällig bilden und verändern. Der willkürliche Verlauf und die wechselnde Breite der Straßen mit Anschluß zahlreicher Stichstraßen (»Suchgassen«), ist im Orient noch heute typisch für die Stadtquartiere der Handwerker und Händler. Das Straßenbild wird durch die fensterlosen Mauern der ein- und zweigeschossigen Hofhäuser geprägt, die sich nur mit einer schmalen Tür zur Straße öffnen. Die Straßen sind eng, für den Wagenverkehr nicht geeignet, nur selten dauerhaft befestigt und mit einer primitiven Kanalisation (Straßengraben) versehen. Ein Vergleich zwischen ausgegrabenen Stadtvierteln in Ur und Babylon zeigt den allmählichen Fortschritt zu einer rationaleren Erschließung. Das »Abraham«-Viertel in Ur wird in die ISIN-LARSA-ZEIT um 2000 v. Chr. datiert. Der Verlauf der krummen Gassen erinnert an Dorfstraßen. Ihm entspricht der Zuschnitt der Hausparzellen. In verwirrender Schachtelung schieben sich Grundstücke unterschiedlicher Größe neben- und hintereinander. Wohnparzellen haben den Zuschnitt mehr oder weniger breiter Rechtecke. Die streifenartigen Grundstücke der Läden und Werkstätten sind gelegentlich zu einer basarartigen Passage gereiht. An den Straßenecken liegen kleine Tempel oder Kapellen für Opfer und Gebete an die zahlreichen »kleinen« Götter. Ein besonderes Merkmal dieses Viertels sind die aus Rücksicht auf den Verkehr abgerundeten Hausecken. Babylon wurde um 600 von den Chaldäerkönigen zum letzten Mal zur ReichshauptStadt ausgebaut. Aus dieser Zeit stammt das sog. »Merkes-Viertel«. In der Führung seiner Straßen und dem Zuschnitt der Grundstücke erscheint es als das bereinigte und rationalisierte Muster von UR. Das Viertel liegt zentral, östl. der Prozessionsstraße, nahe zum MARDUK-Heiligtum und Palast (S. 86, 92, 98). Die Baublöcke in Form unregelmäßiger Insuiae gruppieren sich um den Ischtar-Tempel. Seine strenge Bauform und die lange Gerade der Prozessionsstraße bewirken vermutlich die rechtwinklige Straßenführung und den relativ klaren Parzellenzuschnitt. Mit dem Abstand zur Hauptstraße n i m m t aber offensichtlich die Ordnung ab. In den weiter abliegenden Quartieren herrschen wohl ähnliche Verhältnisse wie in UR. Das Hofhaus als Standardtyp Mehr noch als in UR fällt in BABYLON die unterschiedliche Größe der Hausparzellen auf. Es gibt einige große Häuser und ein sehr großes mit mehreren Höfen und vielen Räumen. Mit ihnen sind kleine Häuser
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Mauer an Mauer in unregelmäßigen Baublocken zusammengeschlossen. Ähnlich verhält es sich in den assyrischen Städten. Das läßt auf ein Abhängigkeitsverhältnis zum Besitzer des Großhauses bzw. eine große Zahl von Sklaven für Haushalt und Gewerbe schließen. In den wenig gegliederten Stadtvierteln ist das Hofhaus ein wesentl. und gleichbleibendes Element. Die U m w a n d l u n g ländlicher Gehöfttypen (S. 84) zum städt. Wohnhaus scheint um 2000 v. Chr. abgeschlössen. Der voll ausgebildete Prototyp findet sich in UR im Stadtviertel der Larsa-Zeit. Das Haus schließt sich gegen die Straße völlig ab, alle Räume sind auf den Innenhof ausgerichtet und von dort erreichbar. Das Licnt fällt nur durch den Hof ein; er ist der Arbeitsplatz für Haushalt und Gewerbe. Oft ist er sorgfältig gepflastert und unterirdisch entwässert. Den flachen Häusern wird später häufig ein Obergeschoß aufgesetzt, das von einer den Hof umlaufenden Galerie zugänglich ist. Damit wird das Erschließungssystem des Untergeschosses (Innenhof) in die zweite Ebene übernommen (Laubengang), Die vorwiegend langen, rechteckigen Räume sind meist in der Mitte der langen Seite geöffnet. Fast alle Gebäudetypen des Vorderen Orients übernehmen dieses Prinzip des Breitraumes. Im Erdgeschoß liegen: der schleusenartige Raum des Türhüters, die Wirtschaftsräume mit Küche und Vorratskammer, das Bad, Nebenräume und, gegenüber dem Eingang, der H a u p t r a u m des Hauses. Er ist meist nach dem »guten Wind • geöffnet (in UR nach SW) und dient dem Empfang der Gäste, den gemeinsamen Mahlzeiten, geschäftlichen Verhandlungen und Familienfesten. Die Wohn- und Schlafräume der Familie befinden sich meist im Obergeschoß. Dieses Grundschema läßt eine direkte ErWeiterung nur begrenzt zu. Denn Räume hinter den am Hof liegenden bleiben ohne Tageslicht. Eine geschickte Kombination von Haupt- und Nebenräumen ist entscheidend. Die Grundrißbeispiele von Lagasch und Babylon zeigen Möglichkeiten der Ausweitung. Hier ist ein Obergeschoß nicht nachweisbar. Das Grundelement des umbauten Hofes bestimmt die zellenartige Struktur der mesopotamischen Gebäude. Größere Häuser, Villen und Paläste, aber auch viele Sakralbauten sind meist Kombinationen verschiedener Höfe. Das System des Hofhauses wird zum allgemeingültigen Organisationsprinzip. Die großen Paläste (S. 90, 92) sind überzeugende Beispiele für die Möglichkeiten der Steigerung. Das Hofhaus als Grundform der Wohnung hat sich im Orient bis heute erhalten, Sein überlegenes System findet über das Mittelmeer Verbreitung bis Nordeuropa. (Atrium, Peristyl, Kreuzgang, Arkadenhof).
90 Mesopotamien/Typologie IV: Palast l
Mari: Palast J Repräsentation, Kult
Frühe Paläste
(
]
Wohnpalast
j
| Verwaltung, Magazine
|
j Höfe
Mesopotamien/Typologie IV: Palast l Der Palast, Wohnsitz des Herrschers und Zentrum der politischen Macht, ist ursprünglich ein repräsentatives Wohnhaus für den Stadtältesten oder Oberpriester. Mit zunehmender Konzentration der Macht auf einzelne Dynasten fallen diesem Wohnsitz neue Funktionen zu. Er wird staatl. Repräsentationsbau, Verwaltungszentrale, Gerichtsgebäude, Festung. Eine ständige Erweiterung und Differenzierung des Raumprogrammes ist die Folge. Die Urzelle, das städtische Hofhaus (S. 88), bleibt das Hauptelement der Planung. Die Grundriß-Disposition beruht auf der Kombination von Hofsystemen. Sie werden in Gruppen aneinandergebaut und als Ganzes mit einer Wehrmauer umgeben. Jeder Bereichkann seiner Funktion gemäß ausgebildet werden. Durch verschiedene Dimension und architekton. Durchbildung der Höfe und Innenräume wird ein intimer, sachlicher oder repräsentativer Charakter erreicht. Dabei lassen sich verschiedene Höfe zu einer Kette von Raumgruppen zusammenschließen und in ihrer Wirkung nach Wunsch steigern. Dieses Planungssystem bietet auch militärische Vorteile. Die festungsartige Geschlossenheit der Baumasse nach außen und die Möglichkeit der stückweisen Abriegelung von Hof zu Hof ermöglichen eine hinhaltende Verteidigung. Bauform Die Gliederung der Außenfronten durch Türme und Zinnenkranz entspricht dem Bild der gleichzeitig entstehenden Wehrbauten (Stadtmauern und -tore). Für die Repräsentationsräume, vor allem die Thronund Audienzsäle, werden Raumformen und Dekorationsmanier des Sakralbaues übernommen. (Das Königtum selbst hat sakralen Charakter.) Höfe und Säle bieten Platz für Wandmalereien mit ornamentalen und zeremoniellen Darstellungen. Geschichte Der Palastbau beginnt mit dem Aufkommen örtl. Dynastien zur Zeit der semit. Einwanderung. Aus den verschiedenen Epochen der sumer.-akkad. Geschichte sind bisher als wichtige Bauten ergraben und datiert: 2800 Mesilim-Zeit Kisch, Palast A 2300 Akkad-Zeit Teil Brak und Assur, »Alter Palast« 2100 Neusumer. Zeit Ur, »Echursag« 1800 Altassyr. Zeit AJalach, Assur, Teil Asmar 1800 Altbabyl. Zeit Larsa (Fragmente) 1800 Isin-Larsa-Zeit Mari Der Palast A in Kisch wurde in 2 Bauabschnitten errichtet. Der ältere Nordteil besteht (soweit freigelegt) aus 3 Raumgruppen. Im O schließen sich an die monumentale Toranlage die Räume für die Palasttruppe an. In der Mitte dient eine Gruppe unterschiedl. Räume wahrscheinlich der Staatsverwaltung und Repräsentation. Im W liegt die Wohnung des Herrschers, in der Art eines Wohnhauses um den geräumigen Hof zusammengefaßt. Wohnpalast und Verwaltung sind von einem gemeinsamen
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Mauerring umschlossen, hinter dem ein Außengang den Wohnbezirk gesondert umläuft. Bei dem jüngeren südl. Palastflügel lassen Art und Anlage der Räume erkennen, daß es sich hier um den eigentlichen Staats- und Repräsentationsbau handelt. Den Schwerpunkt bilden 2 sehr große, lange Säle im W, von denen einer durch eine mittlere Säulenstellung auffallt. Für beide Bauteile ist die vielfachgebrochene Führungslinie charakteristisch. Es gibt keine durchgehenden Achsen, fast keine gegenüberliegenden Türen. Das ist typisch für altorientalische Anlagen. Der »Echursag« in Ur, entstanden in der 3. Dyn. als Regierungsgebäude, folgt wie die älteren Paläste von TELL BRAK und ASSUR der akkadischen Konzeption des Weltherrscher-Palastes . Die Grundfläche ist ein Quadrat, dessen Ecken nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet sind: Symbol für das »Reich der vier Weltteile«. 2 Raumgruppen stehen parallel nebeneinander. Die nordwestl, bedeckt mit Vorhof, Haupthof und Repräsentationsräumen 2 /3 der Gesamtfläche. Sie ist durch fast völlige Symmetrie ausgezeichnet. Die schmalere, südöstl. besteht aus einer engeren Kombination verschieden großer Räume, in denen man den Amtssitz der Staatsverwaltung vermutet. Wohnräume scheint dieser Palast nicht zu enthalten. Der Palast von Mari ist die Zentrale eines mit BABYLON und ASSUR rivalisierenden Staates. Der Umfang der Anlage und die Vielfalt der Grundrißkombinationen zeigen, daß alle wichtigen Staatsfunktionen hier konzentriert sind. Der unregelmäßige Komplex ist das Ergebnis verschiedener Bauepochen. Der älteste Teil im S des großen Hofes (A) ist in der Schachtelung der Raumgruppen typisch für ein zufälliges Wachstum nach zeitl. und örtl. Gegebenheiten. Aus dem Gewirr der Wirtschaftsräume (15) heben sich der Audienzsaal (3) und ein Hof mit Repräsentationsräumen (l 1) und Tempel (12) heraus. Der jüngere Bereich im W beruht auf bewußter Planung. Sein Kernstück, der quadrat. Hof (B) mit der Raumgruppe von Thronsaal (4) und Festsaal (5) ist die glanzvollste Raumfolge des altmesopotam. Palastbaues. Ihr sind die Hofsysteme der Verwaltung (14) mit Schreiberschule (13) und Magazinen (15) seitlich angegliedert. Im NW schließt sich die königl. Wohnung mit Haupthof (6), Nebenhof (7) und Hauskapelle (8) an. Der zugehörige Wirtschaftshof (9) hat Verbindung zum Eingangsareal. Dort wird der gesamte Verkehr von und zum Palast kontrolliert. Seitl. ist ein Flügel für Palastwache und Gäste (10) angebaut. Turmbewehrte Torhalle (1), Torhof und Verbindungshalle (2) sind Anfangs- und Endglieder in der Kette von Raumfolgen, deren überlegene Disposition den Palast von MARI bei den Zeitgenossen ebenso berühmt macht, wie die ausgedehnten Wandmalereien.
92 Mesopotamien/Typologie V: Palast 2
Babylon: Palastanlage
0
100m
1 Torbau 2 Große Audienzhall« (Apadaria) 3 Thronsaal 4 Tripylon 5 Palast des Darms 6 Palast des Xerxes 7 Harem des Xerxes 8 Schatzhaus 9 Palast-Truppe
Persepolis: Palast der Achaimeniden | Repräsentation gfi| Wohnpalast
Paläste der Weltherrscher
Verwaltung, Magazine
[
| Höfe
Mesopotamien/Typologie V: Palast 2 93 Die Idee des Weltherrscher-Palastes übernehmen ASSYRER und BABYLONIER aus dem Reich von Sumer und Akkad. Bei ihren Planungen folgen sie eigenen Vorstellungen. Assyrische Paläste sind aus beiden Großmacht-Perioden überliefert und teilweise ergraben. Als Hauptwerke gelten: 13. Jh. ASSUR Palast Adadniraris II. um 870 KALACH - Assurnasirpals II. Fort Salmanassars II. um 710 DUR-SCHARRUKIN Palast Sargons II. ab 701 NINIVE Südpalast Sanheribs Nordpalast Assurbanipals Assyrien ist ein absolut regierter Militärstaat. Die Paläste liegen meist in strategisch günstiger Lage am Rand der jeweiligen Residenzstadt mit der Stadtmauer verbunden und zitadellenartig befestigt. . Schwerpunkte jeder Anlage sind in der Regel 2 Haupthöfe. Der Torhof (Babänu) dient mit seinen Raumgruppen der Repräsentation und den Staatsgeschäften. Um den Palasthof (Bitänu) liegen die Wohnungen von König und Königin und ein Repräsentationsflügel in rechten Winkeln zueinander. Torhof und Palasthof sind im Grundriß gegeneinander versetzt, der große Thronsaal liegt als Bindeglied zwischen beiden. Beide Hofsysteme werden durch Gruppen von Nebenhöfen ergänzt. Die Anlagen sind ohne starren Schematismus nach dem Prinzip der umbauten Höfe zusammengefügt. Oft sind sie mit Sakralbauten zu einem Gesamtkomplex verbunden. Die Bauformen bleiben in der mesopotam. Tradition. Malereien, glasierte Ziegel und die charakterist. Reliefs mit Jagd- und Kriegsszenen schmücken die Wände. Der Palast von Dur-Scharrukin ist als Neubau einheitl. mit der ganzen Stadt geplant (S. 86). Er steht am Stadtrand auf einer hohen Terrasse, die als stark befestigte Bastion über die Stadtmauer vorspringt. Seitlich ist ein Sakralbezirk (S. 96) angebaut, dessen Zikkurat (S. 99) Palast und Stadt als Dominante überragt. Zur Stadt hin ist ein weites, mit Türmen und Mauer umwehrtes Areal vorgelagert. Dort liegen die zum Palast gehörigen Gebäude für Truppen, Kanzleien und Würdenträger. Sie sind verkleinerte Varianten des PalastSchemas. Die ganze Anlage hat einen ausgeprägt militärischen Charakter. Das babylonische Weltreich der Chaldäer übernimmt im Palastbau von den AKKADERN die Vorliebe für geometrisch klare Außenform, Axialität und Symmetrie, von den Assyrern die festungsartige Verklammerung mit der Stadtmauer an strategisch günstiger Stelle. Baureste sind fast nur aus der Spätzeit in einigen Städten erhalten: 625 BABYLON Palast Nabopolassars bis u. Nebukadnezars II. 539 BORSIPPA Palast 539 UR Palast Nabonids Die Südburg in Babylon baut NEBUKADNEZAR II. zur Zentrale des Weitreiches aus.
Sie ist der Hauptbau einer kolossal befestigten Gesamtanlage zu beiden Seiten des Ischtartores (S. 82, 86). Der Baublock des eigentl. Palastes ist ein Trapez von 200 und 310m Seitenlänge zwischen Euphrat und Prozessionsstraße. Fünf platzartige Haupthöfe bilden auf der Ost-West-Achse eine Kette monumentaler Freiräume. Sie sind durch Torhallen miteinander verbunden und die Zentren je eines Segmentes. Jedes Segment besteht aus dem Haupthof und je einer Gruppe von Hofsystemen im N und S. Der größte Hof in der Mitte gehört zum großen Thronsaal. Er dient mit den beiden seitl. Haupthöfen der Repräsentation des Königtums und den hohen Staatsfunktionen. Der östl. Hof an der Prozessionsstraße ist Auffang- und Verteilungsfläche für den einströmenden Verkehr an Personen und Waren. Der westl. Hof mit den ältesten Bauteilen dient ganz dem Wohnen und der königlichen Hofhaltung. An der NO-Ecke im Winkel zwischen Stadtmauer und Prozessionsstraße erbaut Nebukadnezar den berühmten Terrassengarten, der unter dem Fabelnamen »DIE HÄNGENDEN GÄRTEN DER SEMIRAMIS« als eines der 7 Weltwunder der Antike gilt. Die Mauerflächen sind innen und außen durch Wandbilder aus Glasurziegeln geschmückt. 539 erobert der Perserkönig Kyros II. Babylon . Die Länder Mesopotamiens werden Provinzen des Perserreiches. Dessen Residenzen liegen im iranischen Hochland. Die Paläste der Achaimeaiden folgen in ihrer Planung anderen Grundsätzen als die massigen Architekturen Mesopotamiens. Traditionen des altiranischen Holzbaues und nomadischer Zeltarchitekturen verbinden sich mit Techniken und Formen der eroberten Länder. Meist werden einzelne rechteckige Baukörper ähnlicher Struktur auf einer frei zugänglichen Terrasse am Fuße eines Berges gruppiert. Es sind vielseitige Saalbauten, nach mehreren Seiten mit Vorhallen geöffnet. Die drei großen Residenzen PASARGADAI, SUSA und PERSEPOLIS sind nach ähnlichem Programm gebaut. Persepolis, begonnen unter Dareios I., ist die glanzvollste dieser Anlagen, bestimmt zur repräsentativen Selbstdarstellung des pers. Großkönigtums. Die Anordnung der Gebäude, Freitreppen und Prunktore entspricht dem Zeremoniell der nationalen Feste. Zwei parallel angeordnete Baugruppen mit gleichartigen Hauptgebäuden erstrecken sich von N nach S. Der bedeutendste Einzelbau in der Ostgruppe ist der hundertsäulige Thronsaal, in der Westgruppe die alles überragende Audienzhalle, das »APADANA«. Trotz langer Bauzeit unter mehreren Königen erscheint die Anlage als geplante Einheit. Architektur und Dekoration versuchen durch sorgfältigen Eklektizismus aus den Traditionen der im Weltreich vereinigten Völker einen großpersischen Nationalstil zu schaffen.
94 Mesopotamien/Typologie VI: Tempel l
Kernzone [
|
r
allgemeine Kulträume
BBI
Profan räume
|
Höfe
|
Assur: Ischtar-Tempel
Tempel der Frühzeit
Teil Agreb: Sara-Tempel
Mesopotamien/Typologie VI: Tempel l Tempel als Orte der Gottesverehrung entstehen am Ende eines langen religiösen Prozesses. Die ersten Heiligtümer sind geweihte Bezirke in der Landschaft. Mit der dichteren Besiedlung erhalten auch die Götter ihre Häuser. Am Anfang stehen Kultschreine von geringer Große. Die kleinen Räume für Opfer und Gebet deuten auf einen einfachen Ritus, vielleicht noch ohne vermittelnden Priester. Die Formung des Innenraumes ist die wichtigste Aufgabe der nächsten Entwicklung. Sie führt am Ende der vorgeschichtl. Zeit zur Ausbildung eines archaischen Tempeltyps. Er besteht aus einer LangceHa mit seitl. Nebenräumen und dem Eingang von der Langseite wie beim Bauernhaus (QuerErschließung S. 84 f.). Bei weiterer räumlicher Differenzierung entsteht eine betonte Kopfpartie mit abgetrenntem Sanctuarium. Der Kultus steht jetzt unter der Aufsicht einer fest etablierten Priesterschaft, die zur polit.-religiös. Führungsschicht aufsteigt. Die Baugruppen der größer werdenden Tempel mit den angeschlossenen Wohnhäusern, Speichern und Werkstätten bilden die Zentren der sumerischen Tempelstädte. Kultbauten aus vorgeschichtl. Zeit sind an verschiedenen Orten in vielen Schichten freigelegt und datiert, u. a. 5. Jtsd. Kultschreine in ERIDU XVI und TEPE GAURA XVIII 3500 »Akropolis« von TEPE GAURA XIII 3000 Tempel in ERIDU VII, Kalksteintempel und Tempel D in URUK IV, bemalter Tempel in TELL UQUAIR 2600 Weißer Tempel in URUK In Eridu findet sich in Schicht XVI des ENKi-Heiligtums einer der ältesten Kultschreine. Der kleine Bau enthält keimzellenartig einige Haupteiemente für die Sakralbauten späterer Jahrtausende: rechteckiger Raum mit rechteckiger Apsis, Gliederung durch Strebepfeiler-artige Mauerzungen, die zugleich statische Funktion haben, ein Altar in der Apsis, ein Opfertisch in der Raummitte. Tepe Gaura ist eine bescheidene ländliche Kultstätte. Die Baugruppe der sog. »AKROPOLIS« ist charakteristisch für die frühe Stufe der Tempel Wirtschaft. Drei Tempel stehen in Hufeisenform um einen Hof, Profanbauten auf tieferem Niveau schließen den Bezirk ab. Der Hof ist auf eine tiefe Kultnische im NO ausgerichtet. Der hinter ihr liegende sog. »Purpurtempel« und der Schrein im S sind Langcellen. Der Tempel im NW zeigt zum ersten Mal den für die Vruk-Zeit gültigen Grundriß mit kapellenartigen Seitenräumen neben der Cella. Dieser Typ findet seine monumentale Steigerung in Uruk, dem religiös, und polit. Zentrum der Frühzeit. Dort steht im EANNA-Heiligtum in einer Gruppe repräsentativer Sakralbauten der Tempel D, der größte Alt-Mesopotamiens. Hier wird die
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Kopfpartie zu einem '»Querschiff« ausgeweitet, das der Langcella vorgelagert ist. In seiner Mitte, genau in der Längsachse des Tempels, betont eine gegliederte Nische den Zugang zum abgetrennten Sanctuarium. Eine Kette von Nebenräumen umschließt die Cella. Der dicke Mauermantel ist außen stark plastisch gegliedert und nimmt außer 6 tiefen Nischen die Treppen zum flachen Dach auf. Axialität und Symmetrie bestimmen den Bau. Nach der Uruk-Zeit bricht diese Entwickl u n g ab. Die Vorrangstellung der Tempel schwindet. Die neuen Sakralbauten sind bescheiden. Meist nehmen sie das Prinzip des städtischen Hofhauses (S. 88) auf. Einfache Schreine und einige Nebenräume gruppieren sich - zunächst ohne feste Regel - um einen Innenhof. Diese Schreine sind ungegliederte Langcellen mit einem »knickachsig« angelegten seitl. Eingang. Erstmalig sind am Kopf der Cella Podeste für Götterbilder nachweisbar. Die Tendenz zur Absonderung des Heiligen vefstärkt sich. Außen wird dem Bau ein »Kisu«. vorgelegt, ein heiliger Zingel in Form einer Sockelmauer. Innen wird die Abtrennung des Sanctuariums zur Regel: das Götterbild wird hinter Raumschranken entrückt, nur der Priester hat Zutritt. Am Ende dieser Epoche stehen große, exakt geplante Gesamtkomplexe. Daneben bildet sich der Knickachsen-Tempel auch als freistehender Typ aus. Als bekannte Beispiele frühdynastischer Tempel wurden in mehreren Entwicklungsstadien ergraben und datiert zwischen
2700 und
CHAFADSCHI Sin-Tempel TELL ASMAR Abu-Tempel TELL AGREB Sara-Tempel
2300 ASSUR Ischtar-Tempel Der Abu-Tempel in Teil Asmar ist ein primitiver Hoftempel. 3 kleine Schreine, Priesterwohnraum und Nebenräume legen sich um einen Hof, nicht viel größer als bei den umliegenden Wohnhäusern. Im Sara-Tempel in Teil Agreb ist dieser Typ zu einem streng geordneten heiligen Bezirk von klosterähnlicher Geschlossenheit ausgebaut. Das sorgfältig gegliederte Mauergeviert umschließt eine Folge von mehreren Höfen mit Kulträumen, Priesterwohnungen und Nebenräumen. Die Anlage weist viele Parallelen zum gleichzeitigen akkad. Palastbau (S. 90) auf. Nach dem gleichen Prinzip werden später auch in Ur Kloster und Tempel der NINGAL errichtet. Der Ischtar-Tempel in Assur besteht aus den gleichen Elementen wie die Schreine der Hoftempel. Einer großen Langcella mit abgeschnürtem Sanctuarium am Kopfende sind 3 Nebenräume angefügt. Der knickachsig angelegte Eingang ist durch eine Freitreppe und eine Nische zwischen turmartigen Mauerpfeilern betont. Die Tempel von ASSUR und TELL AGREB bezeichnen die Richtung, in der der Sakralbau Mesopotamiens fortschreiten wird.
96 Mesopotamien/Typologie VII: Tempel 2
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10
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Dur-Scharrukin: Tempelbezirk Sargons l
Das klassische Tempelschema
Sumerische und semitische Kultur schaffen in gegenseitiger Durchdringung die großen nationalen und religiösen Traditionen Mesopotamiens. Ihre tragenden Institutionen sind absolutes Königtum und StaatsrelJgion. Monumentale Tempelbauten geben dem Götterkult den repräsentativen Rahmen. Grundregeln für den Sakralbau seit der Frühzeit sind: Abgeschlossenheit gegen die Außenwelt, Innenhöfe, betonte Eingangspartie, Wandgliederung durch Pfeiler und Nischen. In Süd- und Mittelmesopotamien setzt sich die sumer.-akkad. Überlieferung in der babylonisch-chaldäischen fort. Aus den Tempelformen der frühdynast. Zeit entsteht im Neusumer. Reich der Typ des Breitcellen-Tempels. Sein Kernstück ist die quer zur Hauptachse stehende Cella als Sanctuarium mit einer gleichartigen Vorcella. Die Eingänge führen auf der Hauptachse zum Götterbild in einer Nische an der Cella-Rückwand. Den CellaKern umläuft in der Regel ein Gang oder eine Raumflucht. Das Allerheiligste wird durch sie symbolisch und tatsächlich dreifach von der Außenwelt isoliert: durch Kisu (S. 95), Umfassungsmauer und Raumschicht. Den Tempelhof vor der Cella umschließt die übliche Kette von Nebenräumen (Raumzingel). Die Folge von Hof, Vorcella und Cella wird auch in den Palastbau für die Raumgruppe um den Thronsaal übernommen: ein Zeichen für gleichartige hierarchische Vorstellungen (S. 90 ff.). Der Enki-Tempel in Ur ist eines der frühesten Beispiele des Breitcellentyps. Der relativ kleine Tempel des Wassergottes wurde um 2050 unter der 3. Dyn. auf dem Stadtwall im SO der Stadt erbaut (S. 86).
Mesopotamien/Typologie VIII: Zikkurat
Chafadschi: Oval-Tempel 1 Grundriß 2 Rekonstruktion
| Babylon: Zikkurat Etemenanki
| Zikkurat. Hochtempel Kult- und Nebenräume Profangebäude Höfe
Die Steigerung des Hochtempels zum Tempelturm
Mesopotamien/Typologie VIII: Zikkurat 99 Zikkurats sind Hochterrassen oder gestufte Tempeltürme. Ihre hochragenden Baumassen werden zu Dominanten der Städte und Landschaften Mesopotamiens. Vorläufer sind Tempelterrassen, die durch den stetigen Neubau von Kultanlagen auf den Resten älterer Bauten über die Umgebung aufwachsen, mit Stützmauern gesichert und über Rampen und Treppen erschlossen. Das bekannteste Beispiel der Frühzeit ist der »WEISSE TEMPEL« auf der ANU-Terrasse in URUK. Seit der frühdynast. Zeit betont die Theologie den Gegensatz des Göttlichen zum Irdischen. Die Götter werden ferner gerückt, die Heiligtümer von der Umgebung abgesondert. Der Oval-Tempel von Chafadschi, ein Neubau um 2700, zeigt neben der bedeutsamen Oval-Anlage einen neuen Prototyp der Hochterrasse. Ein ovaler äußerer Zingel umschließt einen gleichartigen inneren. In diesen ist eine ringsum laufende Flucht von Räumen (Raumzinxel) eingebaut, die auf höherem Niveau einen rechteckigen Hof bilden. In seiner hinteren Hälfte steht eine 6 m hohe Terrasse, die übereck nach den Himmelsrichtungen orientiert ist. Eine Rampentreppe führt seit!, der Mitte auf diese Plattform, genau in der Achse der Tempeltür. Ein ähnlicher Hochtempel mit ovalem Zingel ist in EL OBED freigelegt worden. Der Gegensatz von ovaler Außenform und rechteckigem Zentrum findet sich auch im sumer. Städtebau (S. 86). Die künftigen Anlagen werden eindeutig vom Rechteck bestimmt. Der auf ihn als Grundlage aufgebaute Kern des Tempels von CHAFADSCHI enthält alle Grundelemente der weiteren Entwicklung. Die Zikkurat von Ur, unter der 3. Dyn. um 2000 über Vorgängerbauten errichtet, ist die erste klassische Zikkurat. Sie erscheint als Systematisierung und Steigerung der in CHAFADSCHI erkennbaren Tendenzen. Die untere Terrasse, ein Rechteck von 52/56 m Seitenlänge und 15 m Höhe, ist übereck zu den Himmelsrichtungen (den vier Winden) ausgerichtet (Parallele: Ägypten, S. 124). Auf ihr liegen 2 kleinere und flachere Terrassen mit den Ecken jeweils auf den Diagonalen der unteren. Auf der 3. Terrasse steht in der Höhe von 21,33 m eine Breitcella als Tempel für den Stadtgott von UR, den Mondgott NANNA. Auf den Eingang in seiner Mitte ist eine monumentale Freitreppen-Anlage ausgerichtet. Ihre 3 Läufe treffen sich unter einem Torbau in der Mitte der unteren Terrasse. Von dort steigt der Mittellauf geradeaus weiter bis zur oberen Plattform. Zur Abstützung der langen Treppenrampen sind in den Winkeln bastionsartige Vorterrassen angebaut. Die Zikkurat steht in einem weiten rechteckigen Hof, dem noch ein Vorhof vorgelegt ist. An den nordwestl. Arm der Freitreppe schließt sich ein Gebäude an, das offenbar für den Kultdienst auf der Zikkurat bestimmt ist.
Der Bau dieser Zikkurat wird sofort zum Vorbild gleicher Unternehmungen in den anderen sumer. Städten ERIDU, EL OBED, URUK und NIPPUR. Trotz relativ geringer Höhe wirken die gedrungenen Bauten in der tischflachen Ebene als weithin sichtbare Dominanten. Besonders eindrucksvoll beherrschen ihre Trümmerhügel noch heute das Städtedreieck von UR, EL OBED und ERIDU mit seiner ehemals dicht besiedelten Kulturlandschaft. Für alle Städte in Mesopotamien wird es eine Prestigefrage, eine möglichst hohe Zikkurat zu besitzen. Bisher sind in 23 Städten 33 Zikkurats festgestellt. Dem klassisch-sumerischen Typ folgen allmählich steilere und höhere Anlagen. Die gestaffelte Hochterrasse wird zum Stufenturm. Dieser Typ beherrscht die Städte der KASSITEN, ASSYRER und BABYLONIER. Die besterhaltenen stehen in AQAR QUF und TSCHOGA ZEMBIL, der berühmteste ist der Tempelturm »Etemenanki« in Babylon, um 600 von NEBUKADNEZAR II. über den oft zerstörten Vorgängern als letzter erbaut (Genesis 11). Sein Name bedeutet: »Tempel des Grundsteins von Himmel und Erde«. Der Turm steht in der Stadtmitte (S. 86) im Heiligtum des MARDUK {ESAGILA) in einem Hof von ca. 400 m Seltenlänge. Auf einem Grundquadrat von 90/90 m ragt er wesentlich steiler auf als das Vorbild von UR. Überliefert sind 7 Abstufungen über der Erde als Symbol der babyl. Weltvorstellung. Die Gesamthöhe wird bis zum Tempeldach mit 90 m angegeben. Die Außenflächen sind mit farbigen Glasurziegeln bekleidet. Der Tempel auf der obersten Plattform hat blaue Wände und ein Metalldach (Gold?). Der Aufbau der großen Türme beruht auf einer besonderen Technik. Die Terrassen bestehen aus Hunderten von Lehmziegelschichten . Dazwischen werden zum Ausgleich Schilfmatten in einer Sandbettung verlegt. Armdicke Schilfseile durchziehen überkreuz den Bau als »Bewehrung«. Der relativ weiche Kern ist von einer dicken Schale aus hartgebrannten Ziegeln umgeben. Diesem Mauermantel verdanken die Zikkurats ihre oft lange Lebensdauer. Die theologische Bedeutung der Zikkurats ist nicht völlig geklärt. Die großen Treppenrampen stellen eher symbolische als praktische Verbindungen zum Himmel dar (Jakobs Traum). Der Tempel auf der Plattform scheint neben dem Opferkult auch dem Ritus der »Heiligen Hochzeit« zu dienen, der symbol. Vermählung der höchsten Götter (HERODOT 1/181). Bei der Zikkurat wird zum ersten Mal eine gewaltige Baumasse entscheidend durch die Vertikale bestimmt. Dabei geht es nicht um den Bau eines Raumes, sondern um ein tektonisches Zeichen, das weithin den Landschaftsraum beherrschen und die Verbindung zum Göttlichen herstellen soll (vgl. Pyramiden, S. 122).
100 Mesopotamien/Der Charakter der Architektur in den Hochkulturen Die Kulturen der Vorzeit haben schon eine bildende Kunst (Höhlenmalerei, Felsbilder, Kleinplastik, Ornament), aber keine Architektur. Dem Unbestimmten, Richtungslosen, Ziehenden in der Lebensweise entspricht das Fehlen von festen Raumkonzeptionen und Ordnungssystemen. Sie entstehen erst mit der Seßhaft werdung. Die heute selbstverständlichen Voraussetzungen zum Planen und Bauen sind primäre Leistungen der Hochkulturen. Zu ihnen zählen die »Entdeckung« der Vertikalen und des rechten Winkels. Der Kreis als riehtungslose »Urform« scheidet aus dem Formvorrat der Architektur nicht aus, wird aber in der Praxis vom richtungsbestimmten Rechteck verdrängt. Auf ihm als Grundlage entstehen die meisten konstruktiven Verbindungen und räumlichen Planungen bis zur Gegenwart. Die enge Verbindung von Geometrie und Architektur ist alt. Die Architektur in den frühen Hochkulturen hat bei gleichen Grundlagen (S. 78) viele gemeinsame Charakteristika. Sie ist u. a. massiv repräsentativ monumental symbolisch konservativ formalistisch Die Massivität beruht technisch auf dem Mauer-Massenbau. Man ersetzt leichte Bauweisen der Vorzeit durch Mauern aus gestampftem Lehm oder Lehmziegeln. Am Anfang steht die Durchformung der Innenräume und eine möglichst ökonomische Bauweise. Der Wille zur Dauerhaftigkeit und Monumentalität führt aber bald zur Verstärkung der Mauern und zur Ausbildung massiver Volumen. Sie sind einerseits nötig, um bei größeren Dimensionen die Standsicherheit zu gewährleisten, anderseits wird aber der Eindruck des Voluminösen bewußt gewollt und gesteigert. Der Massenbau garantiert den gewünschten repräsentativen und monumentalen Charakter der offiziellen Architektur. Die Macht und Bedeutung einer Stadt, eines Herrschers, eines Gottes dokumentieren sich in undurchdringlich erscheinenden Mauern und aufragenden Baukörpern. Diesem optisehen Eindruck entspricht die fortschreitende Distanz zwischen Untertanen und Herrscher im weltlichen und Gläubigen und Gott im religiösen Bereich. Die Architektur gewinnt Symbolcharakter. Realer Zweck und symbolische Bedeutung einzelner Formen wie ganzer Bauten durchdringen sich. Oft überwiegt der Symbolgehalt weit den praktischen Nutzwert. Die zunehmende Vertikalisierung, die Ausrichtung nach den Himmelsrichtungen (»den vier Winden«), die abgestimmte Farbigkeit mit Farben verschiedenen Ranges sind bezeichnende Merkmale. Typen, Formen und Farben gewinnen als »Bedeutungsträger« (nach BANDMANN) sakralen Eigenwert. Sie werden tradiert und kanonisiert zu einer architektonischen Zeichensprache. Auf diesen religiös determinierten, symbolischen Charakter der frühen Architektur gründet sich der zähe TraditionaHsmus, die
Kontinuität, die den häufigen Wechsel der politischen Konstellationen überdauert. Königtum und Priesterschaft, die einzigen großen Auftraggeber sind institutionell den Traditionen verhaftet, denen sie — selbst im Falle einer Usurpation — ihre überragende, halb mythische Stellung verdanken. Das Bauen gehört zu den königlichen Tätigkeiten und Vorrechten. Das Festhalten an überlieferten Formen führt auf die Dauer zu einem sterilen Formalismus, der die Bildung neuer Formen und Typen verhindert und die Entwicklung der Bautechnik verzögert. Die Formen bleiben selbst dann bestehen, wenn eine andere Bauweise von sich aus neue Formen hervorbringen könnte. Am Ende der Hochkulturen stehen oft rein restaurative Tendenzen, die in innere Leere und schablonenhaften Schematismus ausmünden. In den verschiedenen Hochkulturen ergeben sich aus diesen gleichartigen Bedingungen ähnliche geschieht!. Abläufe, deren Phasen sich aber um Jahrhunderte gegeneinander verschieben (z. B. Mesopotamien/Ägypten), Zu den gemeinsamen Merkmalen der Architektur tritt in den einzelnen Kulturen der jeweils eigene stilbildende Charakter. Er beruht auf den spezifischen Voraussetzungen der Kulturen: geographische Situation mit Klima, Bodenverhältnissen, Baumaterial, natürliehen Grenzen; ethnologische Situation mit Rassen- und Stammesgrenzen, Weltanschauungen und Religionen; historische Situation mit früher oder später, rascher oder langsamer, gestörter oder ungestörter Entwicklung. Typen und Formen entstehen, die für die einzelnen Hochkulturen charakteristisch sind. Die Bauten Mesopotamiens sind exemplarisch sowohl in ihren allgemeinen wie auch in den spezifischen Merkmalen. Die ergrabenen Reste bestätigen die frühe Ausbildüng rechteckiger Grundrisse, den Übergang zum repräsentativen Massenbau, den zunehmenden Vertikalismus, das Traditionsbewußtsein und die Symbolhaftigkeit. Die Ausbildung einer typisch mesopotamisehen Baukunst beginnt schon auf den ffübesten Stufen. Vorbilder gibt es nicht; das sumerische Mesopotamien ist den nächstjüngeren Hochkulturen (z. B. Ägypten) um Jahrhunderte voraus. Die unter den SUMERERN gefundenen Typen und Formen bleiben trotz aller Transformationen bis zum Hellenismus bestimmend. Im Lauf der Geschichte werden zwar Einflüsse aufgenommen, aber die Ausstrahlungen überwiegen, Besonders wichtig werden die Strömungen, die über SYRIEN und PALÄSTINA in das frühe Ägypten und in das östl. Mittelmeer vordringen, wo sie sich mit Einflüssen aus Nordafrika, Anatolien und dem Balkan überlagern. Die zivilisatorische Überlegenheit Alt-Mesopotamiens hat weitreichende Wirkungen.
Ägypten/ Grundlagen der Kultur 101 Ägypten wird vom Nil bestimmt. Auf einer Länge von mehr als 1000 km durchfließt er das Land vom 2. KATARAKT im S bis zum DELTA (S. 102). Sein Tal ist als schmale Fruchtzone (schwarze Erde) in die Wüstentafel Nordafrikas (rote Erde) eingegraben; erst im Delta weitet sich das Land. Längs seines Laufes schafft der Strom für das ganze Land die gleichen Lebensbedingungen. Politik und Geschichte werden von zwei Hauptfaktoren bestimmt: der fast völligen Isolierung nach außen und dem Gegensatz zwischen Ober- und Unterägypten im Inneren. Das Südland Oberägypten (mit Mittelägypten) besteht aus dem langen Nilgraben, 2-20 km breit, mit wenigen Städten und lockerer Besiedlung, Sein Schwerpunkt liegt im Nilbogen bei THEBEN. Das Nordland UNTERÄGYPTEN umfaßt das fächerförmige DELTA mit dichter Besiedlung und volkreichen Städten, von denen MEMPHIS und TANIS (Auaris, Ramsesstadt) die bedeutendsten sind. Zum geographischen Gegensatz kommt die Verschiedenheit der Bevölkerung nach Rasse, kulturellen und religiösen Traditionen. Der vielfach spürbare Dualismus der ägypt. Kultur hat hier viele seiner Wurzeln ebenso wie die stets latente politische Rivalität, die die Reichseinheit immer wieder bedroht. Dank seiner Isolierung durch die Wüstengürtel erlebt aber Ägypten lange Perioden ungestörter Entwicklung. Die Wirtschaft ist vor allem Landwirtschaft. Ägypten ist eine der Kornkammern der Alten Welt. Die Produktion ist abhängig vom Sommerhochwasser (l. und 2. NILSCHWELLE) und dessen organisierter Verteilung. Schwerpunkte der Erzeugung sind die großen Güter des Staates, der Tempel und des Adels, auf denen sich auch ein weiterverarbeitendes Handwerk im begrenzten Rahmen entwickelt. Bergwerke, Steinbrüche, Werften und Papiermühlen sind Staatsbetriebe. An den großen Baustellen der Pyramiden, Tempel und Paläste konzentrieren sich Spezialwerkstätten. Die innerägyptische Handelsstraße ist der Nil, privater Handel entwickelt sich aber nur im bescheidenen Rahmen. Ein Außenhandel unter staatlicher Regie beginnt erst im Mittl. Reich und entfaltet sich mit der polit. Expansion im Neuen Reich. Exportiert werden besonders Getreide, Kupfer und Gold als Rohmetall oder Fertigware, und Papier. Importiert werden vor allem Holz (Libanonzedern) und Luxus-Güter (Gewürze, Weihrauch etc.). Der Hauptumschlagplatz ist Byblos in Phönizien. Die Vormachtstellung im östl. Mittelmeer beruht auf der Kupferproduktion. .Der Beginn der Eisenzeit bedeutet für Ägypten einen polit. Wendepunkt. Die soziale Struktur, der »patriarchalische Staatssozialismus«, ist streng hierarchisch. Auf der breiten Masse der Kleinbauern baut sich eine umfangreiche Beamtenschaft (Schreiber) und ein kleiner Handwerker-
stand auf. Die Führungsschicht der Großgrundbesitzer, hohen Staatsbeamten und Priester betreibt eine erfolgreiche Vetternwirtschaft und Ämterkumulation. Die politische Initiative Hegt im Palast des Königs (Pharao = Hohes Haus), der an der Spitze der hierarchischen Pyramide göttl. Verehrung und Vollmacht genießt. Vor despot. Mißbrauch schützt die moralische Bindung an den Gerechtigkeitsbegriff (Ma-at). Die Religion verschmilzt in einem langdauernden Prozeß die verschiedenen UrReligionen zu einem undogmatischen, optimistischen Polytheismus, dessen Götter in vielen Erscheinungsformen verehrt werden. Sie gelten als Schöpfer und Erhalter der Welt und sind gegenwärtig in deren sichtbaren Erscheinungen (Jahreszeiten, Naturkräfte, Gestirne, Lebewelt). Der König lenkt als Sohn der Götter, solange er lebt, die Geschicke des Landes und steigt nach seinem Tod vom zeitl. zum ewigen Gott auf. Dem Umfang des Götterhimmels entspricht ein ausgedehnter Kult mit Opfern, Festen, Prozessionen und vielen Kultbauten. Die Architektur ist, wie in anderen Hochkulturen, Staatsangelegenheit. Das Bauen großen Stils gehört zu den königl. Aufgaben. Ein großer Teil der Wirtschaftskraft des Reiches wird ständig für die Staatsbauten verbraucht. Beim Profanbau liegt das Schwergewicht auf dem Bau der weiträumigen Paläste in den verschiedenen Residenzen. Daneben werden Zweckbauten für den Staatsbedarf (Magazine, Verwaltungen) und wenige Festungen errichtet. Der Sakralbau umfaßt neben den Tempeln für die Götterfamilien auch die Grabbauten und Totentempel für die vergöttlichten Könige. Sakral- und Profanbau sind nicht nur vom Programm und der Typologie her verschieden, sondern auch vom Baumaterial, dessen Anwendung symbolisch und religiös bestimmt ist. Im Profanbau werden auch die repräsentativen Palastanlagen überwiegend aus Lehmziegeln und Holz errichtet. Sie dienen der Zeit. Tempel und Grabanlagen sind aus Naturstein gebaut. Das ist ein Symbol für ihre ewige Dauer, ebenso wie die Lage der Nekropolen auf dem Wüstenplateau, das den Fluten des Nils und ihren Veränderungen entzogen ist. Diese für Zeit und Ewigkeit verschieden getroffenen Maßnahmen bewähren sich bis heute: von den Heiligtümern und TotenStädten stehen noch umfangreiche Ruinenkomplexe aufrecht, während Städte und Paläste im Nilschlamm versunken oder zu Schutthügeln zerfallen sind. Der Profanbau des Alten und Mittleren Reiches kann nur aus Nachbildungen an den Königsgräbern erschlossen werden. Aus dem Neuen Reich sind nur wenige Ruinenstätten ergraben. Zeugen der Baugeschichte sind in erster Linie die Grab- und Sakralbauten: Mastabas und Pyramiden im Alten Reich, Totentempel im Mittl. und die großen Göttertempel im Neuen Reich.
102 Ägypten zur Zeit der Pharaonen Pyramiden bezirke: 1 Abu Roasch 2 Giseh 3 Zawijet el Arjan 4 Abu Gurab, Sonnen-T.
5 Abusir 6 Sakkara- Nord 7 Sakkara- Süd 8 Dahschur
1 Ojedef Re
Pepi l. Djedkare 7lbi Schepseskaf Chendjer
OBER ÄGYPTEN
^^^ 'heben LusRKarnak EareJ Hierakonp
" Sesöstris ilf."~ (Schwarze P.) Snofru A 8 (Rote P.) Snofru (Knick-P.) Amenemhet III. (Schwarze P.) '"8 4km' Dahschui
Die Pyramiden von Abu Roasch bis Dahschur Libysche Wüste 1 Medinet Habu 2 Deir el Bahari 3 Tal der Könige
» AIIIP
Semne
Ägypten längs des Nils
4 Deir el Medina 5 Karnak 6 Luxor
»Rill
Sl Sethost A] Amenophts I. M+H Mentuhotep und Hatschepsut THIII Thutmoäst«. Rtt Ramesseum AIIIT Amenophis Tempel Rill Ramses III. ANIP Amenophis lll„ Palast
Theben und seine Nekropole
Ägypten zar Zeit der Pharaonen/ Zeittafel 103 Vorzeit ca. 5000-2900
Ackerbau, Dorfgemeinschaften
Schilf hütten, Getreidesilos, einfache Gräber
Neolithikum Chalkolithikum
Bildung der »Zwei Länder« Ober- und Unterägypten
Übergang zum Lehm- Kleinplastik, ziegelbau Gesteinsbohrer, erste rechteckige GrundHieroglyphen risse
Altes Reich Thinitenzeit 2900-2690 1.— 2. Dynastie Pyranädenzeit ca. 2630-2130 3.-6, Dynastie
Kulturelle und wirtschaftl. Autonomie Kampf um die Reichseinheit Zentralismus Gottkönigtum Beamtenschaft Re-Kult
Große Mastabas aus Lehmziegeln Obergang zum Steinbau bei Sakralbauten Djoser-Komplex, Pyramiden von Medurn, Dahschur und Giseh Sonnentempel von Abu Gu rab
Großplasük und "l versenktes Relief Wand- und Deckenmalerei Beginn der Literatur Mathematik
1. Zwischenzeit ca. 213O-2040
Soziale Spannungen, Anarchie Reichszerfall Gaufürstentum
Felsengräber der Gaufürsten
Literatur und Skeptizismus
Mittleres Reich ea,204*M65Ö 12, Dynamic ca. 1991-1785
Reichseinheit durch Mentuhotep I. Amun-Kult Aolstieg zur Großmacht Kultivierung des Faijum Bürgertum
Totentempel des Mentukotejj Tempelbauten, besonders in Karnak Festungsbau (Buhen)
Bedeutende Leistungen in Großplastik und Relief Würfelhocker Verfeinerung der Kultur Höhepunkt der Literatur
2. Zwischenzeit ca. 1650-1551
Fremdherrschaft der Hyksos
Felsengräber
Einführung des Rades Pferd und Wagen
Neues Reich ea, I55I-IÖ75 18. Dynastie ca. 1551-1306
Expansion, Aufstieg zur Weltmacht Feldzüge (Thutmosis Hl,) Amama-Beriode
Höhepunkt der Wandmalerei Naturalismus der Amarna-Zeit
W. und 20i Dynastie ca. 1306-1075
Kriege der Ramessiden gegen Hethiter und Seevölker Innere Unordnung Niedergang
Totentempel der Hatschepsut Königsgräber ausgedehnte Bautätigkeit besonders in Thebea (Luxor und Karnak) Städtebau, Kolossaltempel {Karnak, Luxor, Ramesseum, Medinet Habu, Abu Sirnbel)
3. Zwischenzeit ca. 1075-715
Äthiopier, Saiten letzter Aufschwung
Fortdauer der Traditionen
Spätzeit ca. 715-332 332-30
Assyrer, Perser
Weiterführung der Bautätigkeit an den großen Tempeln Gründung von Alexandria Neubau der Tempel von Edfu, Köm Ombo, Dendera
30-625 n. Chr.
Römer, Byzantiner
christl. Basiliken, erste Klöster
Anfang des Mönchtums (Antonius)
Alexander d, Gr. Ptolemäer
Idole, Keramik Rechen, Pflug
Kolossal-Plastik Papyros-Malerei
Epigonentum Hellenismus
104
Ägypten/Bauformen T
A
Pyramide und Obelisk
Lotos und Papyros
Tektonische Stützen
Frühes Papyros-und Palmenkapitell
Tempelgesims
AlAA
[~""| tektonisch l
Organische Stützen (Papyros-Bündelsäulen)
Einzelformen
l organisch
Ägypten/Bauformen l 105 Die Formen der ägypt. Architektur erscheinen teils als Abstraktion und Geometrisierung von Vorbildern der anorganischen Welt (Felsformationen, Megaüthformen), teils als Stilisierung von Pflanzen formen (Papyros, Lotos, Palme), teils als Reminiszenz an urtümliche Bautechniken (Holz-, Schilf- und Lehmbau). Der Dualismus tektonischer und organischer Formen ist eines der konstanten Merkmale. Der Charakter der Bauwerke wird je nach Zeitstil und Programm durch das Dominieren der einen oder den Grad des Zusammenspiels beider Komponenten bestimmt, das bis zur völligen Durchdringung gehen kann. Besonders ausgeprägt zeigt sich dieser Dualismus bei den Stützen. Die rein tekton. Stützenformen bringen das konstruktivstatische Verhältnis von Stütze und Last sinnfällig zum Ausdruck, doch ist für den Ägypter der Charakter des Monolithen, Harten, Ewig-Beständigen wesentlicher. Der rechteckige Granitpfeiler im Taltempel der Chephren-Pyramide (links) und die prismatisch gekanteten oder kannelierten Säulen aus Totentempeln des Mittl. Reiches (rechts) gehören der Grab-Architektur an, wo Ernst und ewige Dauer demonstriert werden sollen. Tekton. Stützen sind relativ selten. Beliebt sind in allen Epochen Säulen mit Attributen aus der Pflanzenwelt. Dabei werden die Wappenpflanzen von Ober- und Unterägypten, Lotos und Papyros, bevorzugt, Pflanzen, die nur symbol.-dekorative Funktionen übernehmen können. Die ältesten erhaltenen Steinkapitelle gehören zu Papyrossäulen am Nordbau im DJOSER-KOMPLEX (S. 122 f.). Es sind monumentale Stilisierungen des dreikantigen Schaftes und der glockenförmigen Blüte von starkem Naturalismus. Auch die Lotosblüte brachte eine eigene Kapitellform hervor, die im Mittl. und Neuen Reich häufig mit dem Papyroskapitell verschmolz. Bevorzugt sind die Bündelsäulen, Stilisierungen früher Dekorationsstützen aus gebündelten Schilf- und Papyrosstengeln. Die Kapitelle sind Varianten zweier Grundtypen, des offenen und des geschlossenen. Die anfängt. Straffheit wird im Neuen Reich durch voluminöse, walzenförmige Säulenschäfte abgelöst. Sie tragen oft umfangreiche Bilddarstellungen und verkörpern deutlich die Tendenz zum Kolossalen, die seit der 18. Dyn. um sich greift. Palmenkapitelle gehen zurück auf Holzsäulen mit krönenden Palmwedeln. Ihre Übertragung in den Stein führt zur Stilisierung der wesentlichen Elemente: Säulenschaft, Seilschnümng und Palmwedel, wie sie ein Beispiel aus der 5. Dyn. zeigt. Auch das Hohlkehlen-Gesims ist eine stilisierende Reminiszenz an frühen Pflanzenschmuck. Der an den Gebäude-Ecken umlaufende Rundstab entsteht aus den Rundhölzern, die zur Befestigung und Überdekkung von Schilfverkleidungen an Dekorationsgerüsten oder Lehmpylonen verschnürt werden.
Die Grundformen sind von großer Beständigkeit. Sie reichen teilweise bis in das Paläolithikum zurück und erhalten sich im Wechsel der Zeitstile bis in die Spätzeit. Auf diese Konstanz gründet sich der über Jahrtausende hin gleiche spezifische Charakter der Architektur. Die Fähigkeit der Ägypter, die Formen immer neu mit Bedeutungen aufzuladen, macht eine Erfindung neuer Formen unnötig. Alle Bauformen sind für die Ägypter Träger einer komplexen Symbolik. Zweck und Symbolgehalt eines Gebäudes oder einer Form sind kaum voneinander zu trennen. Die Symbolhaftigkeit der Formen ist eine ihrer Hauptfunktionen, oft sogar ihr einziger Zweck. Eine einzige Form kann Symbol für eine Mehrzahl von Erscheinungen, Kräften und Traditionen sein. Der Dualismus von Tektonik und Organik verbindet sich mit der Traditionalität und Symbolhaftigkeit zu einer unauflöslichen Durchdringung von physischer und metaphysischer Erscheinung, die für die Weltanschauung der Ägypter (»mytho-poetisches Denken«) in allen Bereichen kennzeichnend ist, etwa für die Theologie und die Hieroglyphenschrift. Die Schrift ist z. B. eine Kombination von Bildzeichen, Lautzeichen und Deutzeichen (WiLSON). Dieses Rebusprinzip gilt ähnlich für die Architektur, besonders für Formen, die trotz ihrer Größe keine Gebäude oder Bauglieder, sondern »tektonische Zeichen« sind wie Pyramide und Obelisk. Beide sind zugleich Einzel- und Gesamtform, sind absolute Formen. Hinter ihrer geometrischen Klarheit verbirgt sich aber eine vielfältige Symbolik. Die klassische Form der Pyramide ist das Ergebnis eines langen Abstraktionsprozesses (S. 122 ff.), der eng verbunden ist mit dem Pharaonenkult und der Religion des Sonnengottes RE von HELIOPOLIS. Dem gleichen Formenkreis gehört auch die Ausbildung des Obelisken an. Als seine Urform gilt der BEN-BEN, der heilige Stein in Form eines aufrechten unregelmäßigen konischen Monolithen (Menhir). Er zeigt zur Spitze hin einen Knick, der beim Obelisken (und bei der Knickpyramide S. 124 f.) geometrisiert wird. Aus Trümmern und Hieroglyphen-Zeichen können verschiedene Formstufen erschlossen werden. Besonders wichtig ist die Monumentalform auf konischem Sockel in den Sonnentempeln der 5. Dyn. bei ABU GURAB. Am Ende erscheint die klassische Nadelform, die seit dem Mittl. Reich unverändert bleibt. Die Spitze, ein Pyramidion, wird oft mit einer Mischung aus Gold und Silber (Elektron) überzogen. Die Seitenflächen tragen Inschriften. Ein Pyramidion ist auch die Spitze jeder großen Pyramide (S. 124 f.), ein Werkstück aus härtestem Stein. Erhalten ist es nur von der Pyramide AMENEMHETS III. Seine Symbolik wird durch Schmuck und Inschriften bestätigt.
106 Agypten/Bauformen II
Sakkara: Djoser-Komplex
Karnak: Pavillon Amenophis I. Medinet Madi: Kapelle
Edfu: Horus-Tempel
Karnak: Großes Hypostyl
G esa m t fo rme n
I
Ägypten/Bauformen II Ägypt. Bauwerke zeigen während aller Epochen eine Art von »Familienähnlichkeit«. Ihre Grundzüge bilden sich schon in der experimentellen Frühphase zu Beginn des Alten Reiches aus und kommen in der Pyramidenzeit zur vollen Geltung. Der Aufbau der Baumassen zeigt bei vielen Bauten eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit den Großformen der Landschaft längs des engen Niltales. Ob hier eine bewußte Angleichung erstrebt wird oder nicht, Beziehungen zur ägyptischen Vorstellung von Monumentalität bestehen sicher. Wichtig ist aber vor allem der Wille zur Vereinfachung, dem die Fähigkeit zu Abstraktion und zur Reduktion auf einfache geometrische Formen entspricht. Die ägyptische Architektur bevorzugt beim einzelnen Baukörper ruhig lagernde oder stehende, geschlossene Volumen. Selbst bei den hoch aufragenden Pylonen an den Fronten der Tempel wird die Vertikalbewegung durch den betont horizontalen oberen Abschluß aufgefangen. Die Großanlagen bestehen meist aus einer Folge gleichartig aufgebauter Volumen verschiedener Höhe, nach außen zusammengefaßt durch die großzügige Horizontale der Umfassungsmauer (Zingel). Beim Durchschreiten werden sie als Folge von Hellund Dunkelzonen mit aufragenden Wänden, engen Toren, offenen Höfen und dunklen Säulensälen erlebt. Die Außenwirkung beruht primär auf der Formung der Silhouette durch große, ungebrochene Flächen. Zu Beginn des Alten Reiches stehen neben den großflächigen Elementen noch plastisch gegliederte Wände wie bei den Mastabas und der Mauer um den DJOSER-KOMPLEX (S. 122 f.). Hier erscheinen Einflüsse aus Mesopotamien (S. 82 f.) verbunden mit Elementen des hölzernen Skelettbaues (S. 112 f.). Auch DJOSERS Stufenpyramide zeigt die gleiche Vorliebe für plastisch bewegte Konturen. Mit den Pyramiden der 4. Dyn. (S. 124) wird die reine ungebrochene Fläche beherrschend. Sie formt seitdem, horizontal lagernd oder ruhig stehend, die Konturen der Baukörper. Durch Verzicht auf plastische Gliederung und durch höchste Vereinfachung entstehen aber nicht nur eindrucksvoll klare Silhouetten; die glatten Flächen eignen sich vorzüglich, eine der eigenständigsten Kunstübungen der Ägypter, das versenkte Relief, zur Geltung zu bringen (S. 105, Pyramidion). Die Verschmelzung der bildenden Kunst mit der Architektur erreicht in der ägypt. Flächenkunst eine höchste Stufe. Der ägypt. Massenstil entsteht durch bewußte Reduzierung anfänglicher Formenvielfalt auf wenige Grundelemente. Die Rahmung der Gebäudekanten durch Rundstäbe, der Horizontal-Abschluß durch das Hohlkehlengesims, organische und tektonische Stützenformen kehren als Einzelformen (S. 104) ständig wieder. Ähnlich verhält es sich mit den Groß- und Gesamtformen: Pylon, Säulenhof, Hypostyl, flaches
107
Dach, lange Außenmauer, Pavillons für die Götterbarken, Sphinxalleen sind bewährte Konstanten eines Kanons von Großformen, die jahrhundertelang unermüdlich variiert werden. Der Pylon ist ein besonders markantes Element. Fast immer markiert seine Zwillingsform den Eingang zu den Heiligtümern. Aus Vorstufen der Früharchitektur in Lehm, Schilf und Holz entwickelt sich über Zwischenformen, wie sie an den Felsengräbern des Mittl. Reiches (S. 120 f.) auftreten, die Standardform des Doppelturmes mit langrechteckigem Grundriß und steil geböschten Wänden. Darstellungen über den hohen Eingangstoren weisen auf die Symbolik der Form, die Darstellung des »gor//. Horizontes« hin, der in Ägypten durch die Felsterrassen zu beiden Seiten des Niltales bestimmt wird, über dem sich die Sonne erhebt. Auch der Schutz des Heiligtums vor bösen Mächten findet in der Turmgruppe symbol. Ausdruck. In schlitzartigen Aussparungen der Vorderseite sind Fahnenmasten befestigt, die hoch über die Pylonendächer hinausragen und mit Wimpeln geschmückt sind: monumentalisierte Fetische der Vorzeit, die zu Attributen des Göttlichen wurden. Bei großen Anlagen wie MEDINET HABU (S. 118) und KARNAK (S. 114) wird der Weg zum Tempel durch mehrfachen Wechsel von Pylonen und Höfen rhythmisiert. Das Hypostyl, der Säulensaal, ist in einfacher Form ein Hauptelement des ägypt. Wohnhauses (Herrenhaus, S. 110 f.). Von dort wird es sowohl in den Palastbau wie in die Sakralarchitektur übernommen. Seine Monumentalform findet es in den Großtempeln des Neuen Reiches als Durchgangshalle vom Säulenhof zum Tempelinneren (S. U 6 ff,). Dabei wird meist die mittlere Säulenstellung erweitert, um in dem mit walzenförmigen Säulen vollgestellten Raum die zentrale Achse zum Sanctuarium zu betonen. Dem gleichen Zweck dient auch die Erhöhung der mittleren Säulenreihen. Durch sie entsteht eine erhöhte Mittelpartie, deren hochliegende Seitenfenster den Mittelgang wie eine Schneise im Säulenwald beleuchten (basilikaler Querschnitt). Besonders ausgeprägt ist diese Anlage in dem großen Hypostyl von Karnak, findet sich aber auch im dortigen Festsaal THUTMOSIS' III. und in der zentralen Halle des Palastes von MALKATA (S. 112). Hohes Seitenlicht ist ein Element des altägypf. Palastbaues (S. 112 f.) und aus den Bedingungen des Klimas entstanden. Symmetrie und Aufbau in der Längsachse gehören zu den wichtigsten Prinzipien der ägyptischen Architektur. In ihnen drückt sich der Sinn der Ägypter für Gleichmaß, Harmonie und Regeihaftigkeit besonders klar aus (S. 126). Die durch die Axialsymmetrie bedingte spiegelbildliche Verdoppelung der Formen bestimmt entscheidend den ausgewogen statischen Charakter der ägyptischen Baukunst.
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Ägypten/Typologie I: Städtebau
Kahun: schematischer Stadtplan
1 sogenannte »Akropolis« 2 Tempel 3 Marktviertel 4 Beamtenviertel (s. Typ. II) 5 »Mittel stand s viertel« 6 Arbeiterghetto
Theben: Stadtplan {schematischer Rekonstruktionsversuch nach EgIJ) Nekropole Achse Karnak-Deir el Bahari 1 Tempel von Luxor 2 Tempel von Karnak 3 vermuteter Königspalast 4 Wohnviertel 5 Stadtmauer 6Malkata(s. Typ. III) npel, Paläste
l
1 politisch-religiöse Repräsentation Villen, Wohnpalast
l |
| Flüsse, Kanäle | Straßen, Plätze
Wohnviertel, Werkstätten, Verwaltung
Amarna: Stadtzentrum 1 Königsstraße 2 großer Aton-Tempel 3 kleiner Aton-Tempel 4 großer Pfeilersaal 5 Palastareal 6 Brücke 7 Königsvüla 8 Magazine 9 Polizei 10 Militär 11 Büros und Werkstätten
Groß- und Kleinstadt der Pharaonenzeit
Ägypten/Typologie I: Städtebau 109 Nach antiken Maßstäben ist Ägypten ein dicht besiedeltes Land. Im Gegensatz zu den menschenleeren Wüsten Nordafrikas drängt sich im Niltal die Bevölkerung. Die Konzentration in Städten ist die natürliche Folge. Von diesen Städten sind bisher nur wenige Fragmente ergraben. Antike Historiker wie HERODOT und DIODOR vermitteln zwar ein Bild von der Lebensfülle und Bedeutung der großen Städte, geben aber keinen Aufschluß über die Stadtpläne. Anfänge, Entwicklung und Systeme des Städtebaues sind noch fast unbekannt. Die Städte der Fruhzeit entstehen als befestigte Plätze im Überschwemmungsgebiet als Märkte oder Residenzen der Territorialfürsten. Im weltoffenen Delta führt der Handel zu rascherem Wachstum und Ansätzen einer städtisch-bürgerlichen Gesellschaft. Die Residenzstädte in Mittel- und Oberägypten behalten ihre hierarchische Prägung bei. Tragende Ideen und planerische Konzepte bringt erst die politische Konsolidierung in einem Einheitsstaat, dessen erste Hauptstadt Memphis wird. Ihre Gründung und der Bau der Stadtmauer (MEMPHIS = »WEISSE MAUER«) wird dem sagenhaften König MENES zugeschrieben, fällt aber wahrscheinlich in die Regierungszeit des Djoser. Unter Mitwirkung der Priesterschaft des Gottes PTAH leitet sein Kanzler und Oberarchitekt Imhotep gleichzeitig die große Epoche der Architektur des Alten Reiches ein (Djoser-Komplex, S. 122). MEMPHIS wird die erste Großstadt der Alten Welt. Ob die spätere Planung für THEBEN sich an der Anlage von MEMPHIS orientiert, ist noch ungeklärt. Für den ägyptischen Städtebau lassen sich aus den bisher gewonnenen Anhaltspunkten einige Leitideen erschließen. 1. Orientierung nach Himmelsrichtungen, wenn die Topographie es gestattet. Die N-S-Richtung ist dabei als »NaturAchse« für ganz Ägypten vorgegeben. Für Heiligtümer setzt sich dagegen die O-WOrientierung durch (Sonnenlauf). 2. Regelmäßigkeit in Umriß und Straßennetz. Stadtflächen als regelmäßige Rechtecke mit klarer Mauerbegrenzung gegen das Umland. Rechtwinkliges Straßennetz mit regelmäßigem Zuschnitt der Stadtviertel. 3. Zentrale Lage der Heiligtümer und Paläste, vor allem bei den großen Residenzstädten. Klare Schwerpunktbildung in der Stadtmitte. 4. Wasser im Stadtbild in Form von Kanälen, Teichen und Spiegelseen, verbunden mit Gartenanlagen. Wohltuende Wirkung für das Stadtklima. Geräuschloser und praktischer Verkehrsweg. 5. Soziologischer Aufbau analog zur hierarchischen Gliederung der Gesellschaft. Getrennte Wohnviertel, verschiedener Zuschnitt von Straßen und Grundstücken. Ein klares Beispiel für die Verwirklichung solcher Regeln ist der Stadtplan von Kahun, einer Kleinstadt in der Nähe der
Pyramide SESOSTRIS' III. Sie dient als Wohnund Verwaltungsstadt wahrend der Kultivierung des FAIJUM im Mittl. Reich. Deutlich spiegelt der Stadtplan Zweck und soziale Struktur. Innerhalb der rechteckigen Stadtmauer ist im W, am »schlechten Wind«, ein Arbeiterghetto (S. 110 f.) mit schmalen Reihenhaus-Zeilen abgetrennt. Im N, »am guten Wind«, liegen die Villengrundstücke mit Großhäusern für die königl. Beamten (S. 110). An diese schließen sich im S und SO Viertel für den »Mittelstand« der Handwerker, kleinen Beamten und Händler mit Werkstätten und Markt an. Ein Bezirk für die polit. und religiöse Repräsentation, die »Akropolis«, ist aus dem Straßennetz ausgespart. Er bildet zwar nicht die genaue Mitte, aber den ideellen Schwerpunkt, um den die Viertel geordnet sind. Dieser Stadtplan mit der übersichtlichen Ordnung der Funktionen kann als frühes Beispiel einer Art »Kolonialstadt« (Griechenland, Mittelalter) gelten. Theben ist im Mittl. und Neuen Reich jahrhundertelang Hauptstadt und bis zur Spätzeit Sitz des »Reichsgottes« AMUN (KARNAK, S. 114). Es steigt von einer kleinen Provinzstadt zur weltberühmten Metropole, dem »100-TORiGEN THEBEN«, auf. Ein Rekonstruktionsversuch (Ernst EGLT) richtet sich nach der Lage der Ruinenhügel und Analogien zu anderen Großstädten (TANIS, MEMPHIS). Er ergibt eine trapezförmige Stadtfläche von etwa 6/9 km zwischen dem ursprüngl. Nil-Lauf und einem Kanal am Wüstenrand, hinter dem die Totenstadt beginnt. Ein rechtwinkliges System von Hauptstraßen zerlegt die Stadtfläche in Quartiere für die Bewohner unterschiedlicher Rangordnung. Das Zentrum ist von einer eigenen Mauer umgeben. Seine Bauten - Heiligtümer, Königspalast, Verwaltungs- und Wirtschaftsgebäude - sind in Parkanlagen eingebettet. Die Mittelachse bildet ein Kanal mit zwei künstl. Seen. Im S führt ein breiter künstl. Nilarm zu einem Hafen am Wüstenplateau (BIRKET HABU). Dort errichtet AMENOPHIS III. seinen neuen Palast (MALKATA, S. 112), dort werden die Schiffsfrachten für die Nekropole gesammelt und verteilt. Gegen die strenge Regelhaftigkeit des traditionellen Städtebaues versucht AMENOPHIS IV. (ECHNATON) vorübergehend ein freieres Konzept durchzusetzen. Er gründet Arnarna (ACHET-ATON) als neue Hauptstadt. Die ergrabenen Reste lassen eine »Bandstadt« längs des leicht gekrümmten Nillaufes erkennen. Im Stadtzentrum bilden Palast-, Sakral- und Verwaltungsbauten eine locker angeordnete Gruppe zu beiden Seiten der Hauptstraße ohne achsiale Bindungen. Der Regierungspalast am Nilufer ist von der Villa des Königs durch die Straße getrennt. Als Verbindung dient eine gedeckte Brücke. In ihrer Mitte öffnet sich zur Straße das »Erscheinungsfenster«, in dem sich der König bei festlichen Anlässen dem Volk zeigt.
110
Ägypten/Typologie II: Wohnhaus und Siedlung
D. A
'
B1 C1 ' D E '
Deir el Medina: Reihenhäuser
Amarna: Reihenhäuser
a Vorraum b Hauptraum c Küche d Schlafraum e Vorräte
l
| Wohnräume Herrenhaus
f
| Wohn- und Wirtschaftsräume
l
l Höfe, Straßen 3 Garten
Deir el Medina: Handwerker-Siedlung
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Sr..uj000|i Kahun: Beamtenwohnhaus (s. Typ. I )
Villa, Reihenhaus und Handwerkersiedlung
Amarna: Villa eines hohen Beamten
Ägypten/Typologie II: Wohnhaus und Siedlung 111 Ägypten bietet außerhalb des Fruchtlandes kaum Wohnmöglichkeiten. Gehöfte, Siedlungen und Städte müssen aus dem Ackerland ausgespart werden. Die Masse der Bevölkerung lebt in Hütten aus Schilf und Lehm zwischen Deichen und Gräben bei ihren Feldern aus Nilschlamm. Nur von einigen Städten und Handwerkersiedlungen haben sich Reste erhalten, die Aufschlüsse über Wohnen und Siedeln geben. Bei dem Zwang zur Konzentration in dichtbewohnten Städten und Dörfern wird das Reihenhaus ein bevorzugtes Siedlungselement. Ausgegrabene Stadtviertel und Siedlungen wie in KAHUN (S. 108), AMARNA und DEIR EL MEDINA zeigen deutlich eine rationelle Planung mit Reihenhäusern im Zeilentäu. Die Häuser werden mit der Schmalseite zur Straße gestellt, um deren Länge möglichst gut zu nutzen. Eine spezielle Siedlungsform entwickelt der Staat für die Arbeitersiedlungen bei den großen Baustellen der Heiligtümer und Nekropolen. Sie sind als streng gesonderte Viertel teils in die Stadt einbezogen wie in KAHUN (S. 108), teils als geschlossene, selbständige Siedlung aufgebaut wie in AMARNA oder DEIR EL MEDINA. In solcher Art von Ghetto hält die auf Sicherheit bedachte Behörde Handwerker, Künstler und Beamte, die durch ihre Tätigkeit mit den Werkstattgeheimnissen der Tempel, Gräber und Palaste vertraut sind, unter strenger Kontrolle. (So hielt im Mittelalter auch VENEDIG seine Glasarbeiter.) Da es ringsum oft keine Äcker gibt, müssen frische Lebens mitte l heran geschafft werden. Die Grundnahrungsmittel werden als monatliche Deputate ausgegeben. Von einem Wohnen freier Bürger kann bei dieser Art von Kasernierung nicht die Rede sein. Trotzdem sind die Einwohner als Spezialisten in vielem besser gestellt als die Kleinbauern und Saisonarbeiter. Eine solche Siedlung ist ergraben in Deir el Medina im Bereiche der Nekropole von THEBEN-WEST. Der Grabungsbefund zeigt das Siedlungsbild aus der Zeit der RAMESSIDEN, die in der Nähe ihre Totentempet bauten (MEDINET HABU, S. 118). Das Areal von ca. 145/50 m ist von einer dem Gelände angepaßten Mauer eingeschlossen, die nur einen genau kontrollierbaren Eingang hat. An wenigen schmalen Gassen drängen sich etwa 70 Reihenhäuser, in denen zur Zeit RAMSES II. etwa 120 Familien wohnen. Die Häuser sind 4-9 m breit und etwa 10-18 m, stellenweise sogar 30 m lang. Die nutzbaren Flächen von 35—160 qm je nach Familiengröße und sozialem Rang der Besitzer sind für orientalische Maßstäbe reichlieh bemessen. Die Grundrisse sind einander ähnlich, zeigen aber kein starres Schema. Die Räume reihen sich in 3 bis 4 Zonen hintereinander, Küche und Vorratsräume liegen am hinteren Ende. Belüftung und Belichtung sind spärlich, aber die Sonneneinstrahlung ist im heißen und hellen Ägypten auch nicht sehr begehrt: wenige hochliegende Fenster oder Lichtluken in den Terrassendächern genügen.
In anderen Siedlungen sind die Häuser strenger typisiert. So gibt es einen Einheitstyp in AMARNA und im älteren KAHUN (S. 108). Der Amarna-Typ zeichnet sich durch völlig gleichmäßige Parzellenteilung aus, durch gleiche Orientierung von O nach W bei N-S-Richtung der Straßen (Luftström) und gleichem Grundriß in drei Zonen hintereinander. Die 73 Häuser stehen auf Parzellen von ca. 10/20 m und sind mit ca. 170 qm Nutzfläche außergewöhnlich großzügig angelegt. Mit diesem Konzept eines fortschrittlichen »sozialen Wohnungsbaues« will AMENOPHIS IV. (ECHNATON) offenbar auch bei dem traditioneilen Schema des Arbeiterghettos die neue Hauptstadt über die anderen Städte, besonders das verhaßte THEBEN, hinausheben, Die höheren Klassen der Bevölkerung leben in geräumigen Hofhäusern, deren Typen sich aus dem ländlichen Gehöft entwickelt haben. Sie bieten Möglichkeiten zur individuellen Aufteilung der Raumfolgen. Bei der stark traditionsbewußten Lebensführung der Ägypter bleiben aber einige Grundelemente fast unverändert. Das wichtigste ist die Kernzone mit dem »Haus des Herrn«, dem seitl. meist das »Haus der Frau« angegliedert ist. Das Herrenhaus ist gegen N auf den Haupthof orientiert. Einer offenen Säulenhalle folgt zunächst eine quergestellte Empfangshalle (breite Halle), dann der Hauptraum, meist in Form eines viersäuligen Hypostylsaales. Hinter ihm liegt in der Mittelachse der private Wohnraum, Die Folge von »breiter Halle und tiefem Gemach« wird als Hauptelement in den Sakralbau übernommen (S. 116, 118). Seitenräume, Schlafzimmer, Bad und Nebenräume ergänzen das Raumprogramm. Das Haus der Frau ist eine kleine Einheit für sich, je nach sozialer Stellung mehr oder weniger geräumig, oft mit einem kleinen Säulenhof vor dem Wohn- und Schlafräum, um den Kammern für Zubehör und Dienerschaft angeordnet sind. Beide Raumgruppen werden durch Gänge, Wirtschaftshöfe und -räume ergänzt. Bei großen Grundstücken tritt ein Garten mit Teich und Gartenhaus hinzu. Je nach Lage in der Landschaft oder in den Städten wird ein solches Großhaus enger oder weiträumiger angelegt, aber fast immer von einer Mauer zu einer nach außen geschlossenen Anlage zusammengefaßt, In der musterhaften Stadtanlage von Kahun bilden die Beamten-Wohnhäuser ein eigenes Viertel. Dem Typus nach Hofhäuser, sind sie als großformatige Reihenhäuser Wand an Wand zusammengebaut. Bei völlig gleicher Grundstücksgröße stellen sie Varianten eines Grundtyps dar, der den persönlichen Verhältnissen angepaßt wird. Amarna, in Art einer Gartenstadt angelegt, bietet freiere Entwicklungsmöglichkeiten. Die Villen sind nach Art der Gutshäuser von Gärten und Vorgarten umgeben und lassen der individuellen Planung Spielraum.
112 Ägypten/Typologie HI: Paläste
1 Königspalast 2 Süd-Palast 3 Nord-Palast 4 Mittel-Palast 5 Audienzpavillon 6 Atnun-Tempel 7 Festhalle 8 Handwerker 9 Dienerschaft 10 großer Hof 11 Villen 12 Straße
politisch-religiöse Repräsentation
• l
|
a l 1 Thronsaal 2 groBe Halle 3 Schlafzimmer 4 Bad 5 Harem 6 Süd-Palast (Königin) Theben-Malkata: Königspalast
Palastfassade (Rekonstruktion)
Fragmente ägyptischer Palastarchitektur
Wohnbereich Wirtschaft, Verwaltung
l Straßen, Höfe
a
noch nicht erforscht
Ägypten/Typologie III: Paläste
;
In Ägypten gilt der König als regierender Gott. Sein Wohn- und Regierungssitz muß in Disposition und Form diesem hohen Rang entsprechen. So fällt dem Palastbau in der Frühzeit die führende Rolle beim Entstehen der ägypt. Architektur zu. Doch die großen Paläste sind bis auf geringe Reste untergegangen. Ihre Frühform läßt sich annäherungsweise aus Grabbauten, Sarkophagen und Stelen des Alten Reiches mit Nachbildungen von Palastarchitekturen erschließen. Die Außenfronten der großen Mastabas (S. 122) und vieler Sarkophage sind oft als Palastfassaden mit turmartigen Vorsprüngen ausgebildet. Ein Teil des DJOSER-KOMPLEXES (S. 122) besteht aus symbol. Regierungsgebäuden. Sie ahmen Hallen in hochentwickelter Holzbauweise nach: Skelett- und Stangenkonstruktionen mit Wandfüllungen aus Flechte erk und Dächern aus leicht gewölbten Stangenrosten mit Schilfdeckung. Die Profan-Architektur der ersten Dynastien, wie sie im Spiegel der Grabbauten sichtbar wird, hat Charakter und Eigenständigkeit der ägypt. Architektur begründet. Mesopotamische Einflüsse werden rasch eingeschmolzen. Schon bei diesen frühen Bauten treten Details auf, die bis zur Spätzeit die ägypt. Architektur bestimmen werden: hoch unter dem Dach angebrachte Gitterfenster, Balkendecken, Kapitell- und Gesimsformen (S. 104, 106). Es ist das Bild einer noch wenig differenzierten, aber den Anforderungen des Klimas und den heimischen Baustoffen entsprechenden Repräsentationsarchitektur. Sie erhält durch die Verwendung von leichtem, organischem Material sowie durch farbenfrohe Dekorationen einen festlichen und teilweise heiteren Charakter. Die weitere Entwicklung ist in ihren Zwischenstufen kaum faßbar. Sakral- und Grabbau gewinnen zunehmend eigene Gestalt und lassen nur noch geringe Rückschlüsse zu. Erst aus dem Neuen Reich sind Ruinenfragmente, vor allem Bauten der 18. Dyn. in THEBEN und AMARNA ergraben. Der Palast Amenophis' III. in Malkata* am Westrand von THEBEN (S. 108) wird während der langen Regierungszeit des Königs und seiner Gemahlin TEJE in mehreren Abschnitten errichtet. Er liegt am Wüstenrand, unmittelbar an dem großen Hafenbecken (heute BIRKET HABU) außerhalb der Großstadt und ihrer Nachteile, aber in Sichtweite und guter Verbindung mit ihr. Der Regierungspalast und die großen Heiligtümer in THEBEN waren mit Schiff und Wagen ebenso schnell zu .erreichen, wie die großen Bauten der Nekropole längs des Westgebirges mit dem eigenen, im Bau stehenden Totentempel (S. 102 c). Der ausgedehnte Gebäudekomplex, bisher nur in Teilen ergraben, besteht aus Gruppen weitläufiger, ineinander verschachtelter Gebäude, die sich um weite Höfe, Parade-
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platze und Gärten ordnen. Eine exakte Vorausplanung der Gesamtanlage läßt sich nicht erkennen, hier fehlen oft die strengen, axial-symmetrischen Beziehungen, die im zeitgenössischen Sakralbau dominieren. Offenbar werden die einzelnen Bauabschnitte nach und nach errichtet und mit den bereits fertigen in einen lockeren Zusammenhang gebracht. Auffällig ist eine Abweichung der Hauptachsen: die nördl. Gruppe (3, 5—9) ist gegenüber der südl. um wenige Grade nach Osten gedreht und ungefähr der Längsachse der nördl. anschließenden Nekropole eingeordnet. Das Zentrum der Anlage ist ein großer langgestreckter Hof. Ihn umgeben die lose miteinander verbundenen Gebäudeblöcke der vier Paläste mit ihren Nebengebäuden. Im SW ist ein Wohnbezirk für die hohen Würdenträger angeschlossen. Den Abschluß im N bildet ein Tempel des Reichsgottes Amun. Die Gebäude zwischen großem Hof und Tempel dienen teils der Staatsrepräsentation wie der in sich geschlossene Komplex um den hohen Audienzpavillon, teils der Bewirtschaftung und Instandhaltung des Palastareals wie die Gebäudegruppen für Handwerker, Dienerschaft, Werkstätten und Wachpersonal. Ursprünglicher Schwerpunkt der Anlage ist die Gruppe der repräsentativen Wohngebäude für das Königspaar, der Königspalast und der anschließende Südpalast der Königin. Der Königspalast, Hauptbau der südl. Gebäudegruppe, besteht aus zwei sehr verschiedenen Raumfolgen. Die nördliche, eine Verbindung verschiedener Thron- und Audienzsäle, ist für die Staatsgeschäfte bestimmt. Ihre Gruppierung scheint mehr von der Praxis einer vielseitigen Regierungstätigkeit als von Gesichtspunkten der Repräsentation bestimmt. Ihr fehlt die sonst vielfach übliche axiale Ausrichtung der Raumketten. Dagegen überrascht der südl. Privatteil durch die streng symmetrische Disposition der Kernräume, die hier aber funktioneil sinnvoll ist. Die lange zentrale Säulenhalle ist an beiden Seiten von gleichen Raumgruppen mit je vier Appartements flankiert, die den jeweiligen Favoritinnen des königlichen Harems als Wohnung dienen. Am Ende folgt die eigentliche Königswohnung mit privatem Thronraum, Vorzimmer, Schlafzimmer und Bad. Hier, wo der König zur Privatperson wird, sind die Elemente des »Herrenhauses« (S. 110) in die Palastarchitektur übernommen. Gänge verbinden den Königspalast mit den anderen Gebäuden. Sie führen von den Staatsräumen im Kopf bau zum Mittelpalast und zum großen Hof, vom Privatteil zum Südpalast der Königin und zum Wirtschaftsflügel. Der Palast von MALKATA ist der früheste des Neuen Reiches. Wesentliche Teile seiner Anlage dienen als Vorbild bei der Planung späterer Paläste wie in AMARNA oder bei den Totentempeln der 19. und 20. Dynastie (S. 118).
114 Ägypten/Typologie IV: Heiligtümtr
Heiligtümer der Reichsgötter, Gesamtplan 1 Bezirk des Montu
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2 Bezirk des Amun (Reichstempel}
l
3 Bezirk der Mut
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Heiliger Bezirk
4 Sphinx-Alleen
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Heiliger See
Heiligtum des Reichsgottes Amun, Übersichtsplan
Die Heiligtümer zu Karnak
l
|
Tempel und Kultgebäude Höfe
Ägypten/Typologie IV: Heiligtümer Die Götter Ägyptens bilden eine fast unübersehbar vielgestaltige Familie, die durch Verschmelzung verschiedenartiger Traditionen entsteht. Der König als »auf Zeit« regierender Gott hat sich und seinem Land den dauernden Beistand der übrigen Götter zu sichern. Diesem Zweck dient der Kult in den großen und kleinen Heiligtümern mit ihrer zahlreichen Priesterschaft. Neben dem Feudalund Beamtenadel stellt diese Gruppe mit weitreichendem geistigen Einfluß und großer Wirtschaftskraft einen bedeutenden politischen Faktor dar. Dabei kommt es zu Rivalitäten zwischen den Priesterkollegien der Hauptgötter wie des PTAH von MEMPHIS, des RE von HELIOPOLIS oder des AMUN von THEBEN. Die perfekt organisierten Hierarchien haben mehrere wichtige Funktionen. 1. Sie dienen den Göttern als Hauspersonal in dem an Jahreszeiten und Tageslauf orientierten Kult; 2. sie verwalten die zu den Heiligtümern als Stiftung gehörigen großen Ländereien und speichern deren Erträge; 3. sie unterhalten Archive, Bibliotheken, Schulen und Werkstätten. Für alle diese Bereiche gibt es Gebäude, die bei den großen Heiligtümern zu ganzen Stadtteilen anwachsen: Wohnhäuser vom Reihenhaus bis zum Palast, Magazine, Werkstätten, Verwaltungsgebäude. Dazwischen stehen als dominierende Großbauten die eigentlichen Heiligtümer mit einem oder mehreren Tempeln in einem von Mauern umschlossenen Heiligen Bezirk (Zingel, Temenos). Viele dieser Heiligtümer sind durch ein System heiliger Wege miteinander verbunden. Auf ihnen ziehen die Prozessionen zu den großen Festen, etwa zu Neujahr, nach der Ernte oder zu den Königsjubiläen. Sie sind das Gefolge des Götterbildes, das in seiner heiligen Barke auf Wanderschaft geht. Die wichtigsten dieser Land- und Wasserprozessionen werden vom König selbst angeführt. Die Stationen des Weges sind bezeichnet durch Pavillons: stilisierte Schiffshäuser für die Barke, vor der bei jedem Halt in feierlicher Zeremonie geopfert wird. So legt z. B. das Bild der Göttin HATHOR vom Tempel in DENDERA mehr als 100 km auf dem Nil bis zum HORUS-TEMPEL in EDFU (S. 116) zurück, um dort die Heilige Hochzeit zu begehen. Ein besonders dichtes Wegenetz verbindet den großen Amun-Tempel in Karnak mit seinen Nebenheiligtümern und dem Tempel von Luxor. Einige dieser Wege durchziehen das Stadtgebiet von THEBEN (S. 108) in Form breiter, mit Palmen bestandener Sphinxalleen. Eine Route verbindet Karnak mit der Nekropole von THEBEN-WEST und führt bis in das TAL DER KÖNIGE mit seinen Königsgräbern (S. 102c). Der Totentempel der HATSCHEPSUT (S. 120) ist in seiner Anlage ganz auf den Empfang der heiligen Barke ausgerichtet; seine Achse ist - in der
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Luftlinie - eine Fortsetzung der Hauptachse von KARNAK. Der Tempel des Amun in Karnak wird seit dem Mittleren Reich im Laufe vieler Jahrhunderte zum Reichsheiligtum ausgebaut. Mit dem Aufstieg der Fürsten von THEBEN zur Königswürde unter MENTUHOTEP steigt auch der Stadtgott AMUN mit seiner Priesterschaft zum obersten Gott auf und verschmilzt mit anderen Göttern (HoRUS, RE). Für ihn und seine Götterfamilie wird im Stadtzentrum von THEBEN (S. 108), dem heutigen KARNAK, ein Komplex von drei Heiligtümern errichtet. Das Kleinste, das Heiligtum des Montu, kann in Größe und Ausstattung als normaler Typ gelten. Die Kombination von Haupttempel, Nebentempel und Kapelle findet sich in größeren Dimensionen in dem Heiligtum der Mut, der Gemahlin des Gottes AMUN. Der Haupttempel, neu erbaut unter AMENOPHIS III., wird teilweise von einem heiligen See umschlossen. Außer ihm stehen innerhalb der Umfassungsmauer noch 2 Nebentempel von AMENOPHIS III. (A III) und RAMSES III. (R III). Das Hauptheiligtum des Amun, genannt »Thron der Welt«, sprengt alle vergleichbaren Dimensionen. Im Laufe vieler Dynastien werden um den abgebrochenen Tempel des Mittleren Reiches (MR) Folgen offener und geschlossener Räume in riesenhaften Ausmaßen aufgebaut. In der Hauptachse folgen sechs Pylonenpaare (I-VI). Zwischen Pylon II und III wird unter den RAMESSIDEN anstelle eines offenen Hofes das »Große Hypostyl« mit seinen 134 Säulen eingebaut (Hyp., S. 106). Auf der Rückseite schließt der »Festsaal« THUTMOSIS' III, (Th. III) den Haupttempel ab. In den mit zwei Obelisken besetzten Hof hinter dem großen Hypostyl mündet vom Heiligtum der Mut seitlich eine zweite Hauptachse ein, die ebenfalls aus einer Folge monumentaler Höfe und Pylonen (VII-X) besteht. Auf diesem Prozessionsweg verkehrt das Götterpaar miteinander. Seitlich sind an einige der Höfe weitere Kultbauten angebaut, so ein Tempel RAMSES' III. (R III), eine Kapelle mit drei Kammern SETHOS' II. (S II), Gedächtnistempel für THUTMOSIS III. (TH III) und AMENOPHIS III. (A III). Von den vielen weiteren Sakralbauten innerhalb des Hauptbezirkes sind bisher die Tempel des Götterkindes CHONS, des PTAH, des OSIRIS und der IPET ergraben, sowie weitere Gebäude RAMSES' III. (R III), des PSAMMETTICH (Ps)
und TAHARKA
(Ta>.
Ein Teil dieser Bauten umstand den großen, rechtwinklig eingefaßten Heiligen See. Die Trümmermassen innerhalb des Amun-Bezirkes lassen den Schluß zu, daß für nahezu alle wichtigen Götter kleinere Tempel und Kapellen um den Tempel des Hauptgottes versammelt waren. Alle drei Heiligtümer sind Variationen des gleichen Themas: Endstationen der Heiligen Wege, deren Achse durch Raumketten bis zur Wohnung der Götter in den Sanctuarien der Tempel geführt wird (S. 116).
116 Ägypten/Typologie V: Tempel
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...f.; I-IT=: ...i., i 11 •:
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:::i::i-i-tP' Karnak: Heiligtum der Mut, Tempel Amenophis' lll.
Köm Ombo: Suchosund Haroeris^Tempel
Allerheiligstes Kulträume Nebenräume l
Edfu: Horus-Tempel
i^i'iiiEi 0
Karnak: Haupttempel desAmun 1 Gesamtanlage 2 Kernanlage 3 sogenannter Festsaal Thutmosis' IM.
Allerheihgstes
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Nebenrä
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Höfe
Einfache und zusammengesetzte Tempclanlagen
| Hofe
Ägypten/Typologie V: Tempel 117 Der ägyptische Tempel ist das Wohnhaus der Gottheit, die durch das im Sanctuarium stehende Götterbild verkörpert wird. Zu ihm haben nur der König als Gott unter Göttern und die Priesterschaft als Hauspersonal des Gottes Zutritt (Gottesdienst). Die Masse des Volkes bleibt ausgeschlossen. Es gibt keine Lehre, die einer versammelten Gemeinde zu predigen wäre. Der Tempel stellt symbolisch die Welt (d. h. das Land Ägypten) als Wohnsitz der Götter oder den »göttl. Horizont« dar (S. 107). Eine Fülle von Bilddarstellungen bezeugt diese und andere Symbolfunktionen. Das Raumprogramm dient dem praktischen Tempeldienst mit seinen komplizierten Ritualen. Erweitert sich das theologische Programm durch wachsende (politische) Bedeutung des Gottes oder durch Aufnahme anderer Götter in die »Familiengemeinschaft« (S. 115) des Tempels, muß dieser erweitert oder neu gebaut werden. Dabei werden die Teile des alten Tempels sorgfältig in den neuen verbaut. Die Ägypter betrachten die Tempel wie Bestandteile der organischen Welt, die wächst und vergeht und wieder geschaffen werden muß. Fast alle großen Sakralbauten stammen aus dem Neuen Reich. Die Vorgängerbauten lassen sich nur in Bruchstücken aus den Trümmern der späteren Tempel, in die sie verbaut wurden, gewinnen. Die frühen Tempel, kleine Schreine aus Holz, Schilf und Lehm sind spurlos untergegangen. Man kann annehmen, daß ihre Traditionen in den Sakralbauten des Neuen Reiches in ähnlicher Weise weiterleben wie frühe Bautechniken in den Formen der späteren Epochen (S. 104, 106). Wichtige Entwicklungsstufen im Alten Reich sind die Pyramiden-Tempel (S. 124). Aus dem Mittl. Reich sind neben den Grabbauten (S. 120) nur kleine Gebäude wie die Kapelle von MEDINET MADI (S. 106) oder ein Pavillon SESOSTRIS' I. in KARNAK erhalten. In Stil und Aufbau sind sie kleinen Bauten vom Anfang des Neuen Reiches ganz ähnlich. Das dürfte auch für die Großbauten gelten, z. B. für den AMUN-TEMPEL in KARNAK, dessen Ruinen (MR) vom Riesentempel des Neuen Reiches umschlossen sind. Die Grundkonzeption der Tempel bleibt in den vielen Jahrhunderten des NEUEN REICHES und der Spätzeit gleich und wird je nach Programm und Zeitstil variiert. Der ägypt. Tempel ist ein strenger Richtungsbau, dessen Achse durch die ganze Länge bis in das Sanctuarium geführt wird (S. 114, 120, 124). Längs der Achse sind die Tempel meist in drei Hauptabschnitten aufgebaut. Es sind 1. Eingangspylonen mit Tor, dahinter ein in der Regel von Säulenhallen umgebener Hof. 2. Zum Hof geöffnete Vorhalle oder geschlossenes Hypostyl, oft beides in Kombination. 3. Tempelinneres mit Kapellen, Sakristeien Umgängen. Im Zentrum die Kammer für
die heilige Barke oder das Standbild des Gottes als AllerheHigstes, Dieser Raumfolge liegt das Schema des Wohnhauses mit Hof, Säulenportikus, Breiter Hälfe und Tiefem Gemach zugrunde (S. 110). Der Weg zum Sanctuarium führt durch eine Reihe von Toren. Im Zusammenhang mit der Folge offener und geschlossener Räume bewirken sie einen Rhythmus von Enge und Weite. Dieser wird noch akzentuiert durch die abwechslungsreiche Lichtführung, abgestuft von der Helligkeit des Hofes mit seinen starken Schlagschatten über die Dämmerung des Hypostyls bis zum Dunkel des Allerheiligsten. Je nach Größe der Anlage wird dieser Rhythmus auf wenige Takte reduziert (KARNAK: Heiligtum der MUT) oder durch Wiederholung gesteigert (KARNAK: großer AMUN-Tempel, MEDINET HABU: TOTENTEMPEL S. 118). In der dreitaktigen Raumfolge dient das Hypostyl als Vermittler zwischen Vorhof und Tempelinnerem. Es ist meist ein quergestellter Säulensaal, von eigentümlicher Richtungslosigkeit, sobald man vom Durchgang in der Tempelachse abweicht. Die oft sehr kompakten Säulen mit ihren RELIEFS, das punktförmig aus der Decke einfallende Licht bewirken bei größeren Anlagen den Eindruck eines unbegrenzten allseitigen Säulenwaldes. Besonders ausgeprägt ist dieser Charakter bei den großen Hypostylen von Luxor und Karnak (S. 106). Der Horus-Tempel in Edfu, neuerbaut seit 237 unter den PTOLEMAIERN, ist ein besonders klares Beispiel für einen normal gegliederten großen Tempel. Den kräftig ausladenden Pylonen (S. 106) folgt der Säulenhof, an seiner Rückseite die Vorhalle, mit ihren hohen, steinernen Schranken schon fast ein Innenraum. Das Hypostyl ist relativ knapp bemessen, mit seinen 12 großen Säulen aber ein ausgeprägter Verweilraum. Hinter einer weiteren, stützenlosen Querhalle folgt die Kernzone mit der Barkenkammer, umgeben von einem Kranz von Kapellen und sonstigen Kulträumen. Die Wege-Achse ist durch die Folge der Tore und die erweiterte Säulenstellung klar herausgehoben. Dieser musterhaften Anlage gegenüber erscheint der kleine Tempel AmenophJs1 III. im Heiligtum der MUT in KARNAK als äußerste Reduzierung, der Tempel von Koni Ombo als Variante. Er hat nicht nur knappere Maße, sondern auch zwei parallele Achsen und ein doppeltes Sanctuarium. Hier residieren zwei Götter gleichen Ranges. Das höchste Heiligtum seit dem Mittl. Reich ist der A mim-Tempel in Karnak (S. 114). Grundprinzip und Elemente des Tempelschemas finden sich hier vervielfacht und gesteigert zur Riesen große, ergänzt durch ungewöhnliche Raumfolgen und die Einbeziehung weiterer Tempel und Kapellen. Einzigartig sind vor allem das Große Hypostyl (S. 114), entstanden durch die Überbauung eines Hofes unter den Ramessiden, die Annalensäle zu beiden Seiten des Sanctuariums und der Festsaal Thutmosis' III.
118 Ägypten/Typologie VI: Tempel und Palast
Tempel, Längsschnitt Tempel, Allerheiligstes Tempel, Kuli-und Nebenräume l
l
Hofe Wohn-und Wirtschaftsgebäude Wohnpalast Umfassungsmauer
Tempel, Querschnitte
"Hohes Tor«, Ansicht vom Nil
Medinet Habu: Totentempel und Palast Ramses' III.
Ägypten/Typologie VI: Tempel und Palast Der Totentempel Ramses' III. in Medinet Habu - der letzte große Monumentalbau der Ramessiden - ist eine Kombination von Tempel, Palast und Festung: eine Zitadelle der Königsmacht innerhalb der ausgedehnten Totenstadt von THEBEN-WEST (S. !02, 108). In seinem Plan wiederholt sich die Konzeption des Ramesseums, das RAMSES II. 100 Jahre früher als Totentempel für sich erbaute, etwa 1,5 km nördl. in gleicher Lage auf den Wüstenterrassen vor dem Westgebirge. Beide Bauten können als Zusammenfassung und Steigerung des im NEUEN REICH entwickelten Programms für den Totenkult der Pharaonen gelten. In der 18. Dyn. beginnt mit Amenophis I. die Trennung von Grabstätte und Gedächtnistempel. Die Reihe der großen Totentempel des Neuen Reiches vor dem Westgebirge bei THEBEN entsteht (S. 102, 108). Die Bauten nehmen allmählich immer größere Dimensionen an. Nach alter Tradition beginnt die Bautätigkeit schon mit dem Regierungsantritt des jeweiligen Königs. Im Gebirge, meist im »TAL DER KÖNIGE«, treibt man das eigentliche Grab tief in den Felsen hinein. Auf der Wüstenterrasse vor der Hauptstadt und ihren Heiligtümern (S. 144) entsteht der Tempel. Seine Größe und Pracht soll den Ruhm des Königs verewigen: die überzeitliche Residenz steht der zeitlichen gegenüber, die inzwischen der Nachfolger bezogen hat. Diese Totentempel haben die gleiche Funktion wie die Pyramiden des ALTEN REICHES bei der damaligen Hauptstadt MEMPHIS (Djo^er-Komplex, S. 122, Pyramiden, S. 124). Für die Erfüllung dieser Funktion ist der Tempel mit einer entsprechenden Stiftung an Landbesitz und Anteilen an den Staatseinkünften ausgestattet. Dafür stehen Magazine und zugehörige Verwaltung bereit. Neben dem König werden auch die Götter verehrt, zu deren Familie n gemein schaft der König gehört. Zu Lebzeiten der Könige dienen die Totentempel als Göttertempel. Sie sind einbezogen in das Netz der heiligen Wege, in die Wanderungen der Kultbilder und die Feierlichkeiten bei den großen Festen. Die Könige der 19. Dyn. verlegen die Residenz in das Delta (TANIS-RAMSESSTADT). Das Reichsheiligtum mit seiner einflußreichen Priesterschaft bleibt in THEBEN. Schon HAREMHAB gliedert seinem in der Nekropole von THEBEN errichteten Totentempe] einen Palast an. Er umfaßt die nötigen Gebäude für den nur noch als Gast hier weilenden König, den begleitenden Hofstaat und die Sicherungstruppe. Im Bauareal stehende andere Tempel werden in die neue Baugruppe einbezogen. Die Endglieder der hier beginnenden Entwicklung sind das RAMESSEUM und die Anlage von MEDINET HABU. Während aber das RAMESSEUM noch »zivilen« Charakter zeigt, tritt in MEDINET HABU der Festungscharakter beherrschend hervor. Dieser neue Aspekt ist Ausdruck der sich verschärfenden innen- und außen-
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politischen Lage am Ende des NEUEN REICHES. Das Weltreich Ägypten steht im ständigen Abwehrkampf gegen äußere Feinde (Seevölker, Libyer). Im Inneren gibt es Rivalitäten, Unruhen, VersorgungsSchwierigkeiten, Streiks. RAMSES III. wird schließlich das Opfer einer Palastverschwörung. Die Hauptstadt TANIS-RAMSESSTADT liegt nahe der bedrohten Grenze. Die heiligen Stätten THEBENS dagegen sind in Oberägypten nur gegen äußere Feinde relativ sicher. RAMSES trägt der Situation Rechnung. Indem er Tempel und Palast zur Festung macht, erreicht er l.den Schutz der beträchtlichen Vorräte und Reichtümer, die in den dortigen Magazinen gehortet werden; 2. einen Stützpunkt in Oberägypten bei inneren und äußeren Krisen im Zentrum der großen Staatsheiligtümer mit ihren größeren wirtschaftl. und polit. Mitteln, Die Planung von MEDINET HABU folgt dem Vorbild des RAMESSEUMS, ist aber straffer gegliedert und übersichtlicher aufgebaut. Kern der Anlage ist ein Monumental-Tempel, der im Aufbau und allen wesentlichen Teilen den großen Göttertempeln des Neuen Reiches (S. 116) entspricht: 2 Pylonenpaare, 2 Säulenhöfe, Vorhalle, hypostyle Säle und ein Sanctuarium mit Nebenräumen bilden die typische axialsymmetrische Raumfolge am Ende des Heiligen Weges. Den Tempel umgeben Gebäudegruppen mit Wohnungen für die Priester, Personal und Verwaltung, die Palasttruppe und ihre Offiziere, ferner Stallungen, Magazine und Verwaltungsräume. Eine festungsartig verstärkte, 4 m hohe Mauer schließt diesen inneren Komplex ab. Zu ihm gehört auch der Königspalast südwestl. des l. Hofes. Dem Audienzsaal in der Mitte ist ein dreiteiliger Raum mit dem »frscheinungsfenster« vorgelegt, in dem sich der König bei festl. Anlässen einer größeren Menge zeigt (vgl. S. 108). Hinter dem Thronsaal liegt der Wohnraum des Königs mit seinen Nebenräumen. Ein kleiner Harem mit drei gleichartigen Appartements, bestehend aus Vorzimmer, Wo h n-Schlafzimmer, Kleiderkammer und Bad, ist angegliedert (vgl. S. 112). Der König wohnt nur mit kleinem Gefolge hier. Dieser innere Tempelund Palastkomplex wird von einem Gebäudering für Personal und Bewirtschaftung eingeschlossen. Als äußerer Abschluß umzieht eine 17 m hohe Festungsmauer die ganze Anlage, deren Tore und Zinnenkranz assyrischen Vorbildern folgen (S. 82). Die beiden Toranlagen, besonders das zwingerartig angelegte »Hohe Tor« im SO, entsprechen dem modernsten Stand des damaligen Festungsbaues. Die Obergeschosse seiner 22 m hohen Türme sind zu einem Wohnbau vereinigt. Er dient dem König und seinen Damen zu gelegentlichem Aufenthalt und bietet Ausblick auf die Stadt Theben, das Leben und Treiben auf dem Nil und den Anlegeplatz vor dem Tor.
120 Ägypten/Typologie VII: Felsengrab und Totentempel
Gräber Halle
Lange Terrassenhof Halle
Aufweg
Qaw el Kebir: Felsengrab Wahkas II 1 Längsschnitt 2 Grundriß 3 Rekonstruktion
0
50m
b
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Dein el Bahari: Tütentempel der Hatschepsut, Grundriß ^ü
AI l erheiligstes
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Terrassentempel
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| 1. Terrasse (Hof) ~J 2. und S.Terrasse Wasserbecken
Deir el Bahari: Die Totentempel des Mentuhotep und der Hatschepsut
Felsengräber; Terrassentempel des Mentuhotep und der Hatschepsut
Ägypten/Typologie VII: Felsengrab imd Totentempel 121 Der Totenkult bleibt während der ganzen ägypt. Geschichte ein Hauptbestandteil der Religion. Bei der ihm dienenden Architektur verschieben sich allmählich die Schwerpunkte: die Monumentalisierung nimmt bei den Gräbern (Masiaba, Pyramide S. 124) ab, bei den Totentempeln zu. Wichtige Stufen dieser Entwicklung sind die Felsengräber. Die ersten werden für Gaufürsten (Nomarchen) angelegt, die sich nach dern Niedergang der Königsmacht nicht mehr im Gräberfeld neben der Pyramide, sondern in ihrer Heimat oder ihrem Wirkungskreis beisetzen lassen. Die LandSchaftsstruktur Oberägyptens begünstigt den neuen Typ der Grabstätte besonders. Er übernimmt in gestraffter Form von den Pyramidenkomplexen (S. 124) das Prinzip des letzten Weges mit seinem dreitaktigen Aufbau. Bei den ersten einfachen Anlagen wie in ASSUAN (6. Dyn.) führt von dem kleinen Anlegeplatz am Nilufer ein steiler Weg mit Stufen und Steingeleisen hangaufwärts. Er endet in halber Höhe auf einer Terrasse mit Fernblick nach Osten. Der folgende Querräum ist in den Felsen gehauen. In seiner Mitte steht der Opferaltar, in die Rückwand ist eine Felsennische mit der Scheintür eingelassen. Hier mündet die Wege-Achse in den Berghang ein. Aus solchen einfachen Querraum-Anlagen entstehen reicher gegliederte, die durch einen rhythmischen Wechsel von Breit- und Langräumen bestimmt werden. Diese Entwicklung ist in den Pyramiden-Tempeln (S. 124) vorbereitet und setzt sich in den Königsgräbern und Tempeln des Neuen Reiches fort. Eine wichtige Entwicklungsstufe ist das Felsengrab von Qaw el Kebir, während des Mittl. Reiches in Mittelägypten für den Nomarchen WAHKA II. erbaut. Von einem Pylon im Tal steigt ein gedeckter Aufweg bis zum Querriegel eines 2. Pylons. Hinter seinem Tor öffnet sich ein Hof mit umlaufender Säulenhalle. Von dort führt eine Freitreppe zur nächsten Terrasse mit einem quergestellten Hypostyl, dem sich ein Pfei/ersaal in Längsrichtung anschließt (breite Halle und tiefes Gemach). Der folgende, leicht gewölbte Querraum ist aus dem Felsen gehauen. Hier steht der Altar für den Totenkult. Eine letzte Tür führt zur symmetrisch unterteilten Grabkammer. Die Gruppierung der Außen- und Innenräume weist schon auf den großen Totentempel der HATSCHEPSUT hin. Eine ganz neue und einzigartige Anlage entsteht zu Beginn des Mittl. Reiches im Talkessel von Deir el Bahari, gegenüber der neuen Hauptstadt THEBEN. Der Totentempel des Mentuhotep (l 1. Dyn.) vereinigt die traditionelle Form der Pyramide als Zentrum eines Terrassenbaues mit umlaufenden Säulenhallen. Wie bei den Nomarchengräbern folgt am Fuße der Felswand ein Säulenhof. Das in den Felsen gehauene Hypostyl schließt die Anlage ab; die WegeAchse endet in der Felsnische der Rück-
wand. Der Tempel steht auf einer weiten, ummauerten Hoffläche, zu der vom Taltempel der von Mauern eingefaßte 1,2 km lange Aufweg ansteigt. Etwa 500 Jahre später wird unmittelbar daneben der Totentempel der Königin Hatschepsut (18. Dyn.) erbaut. Er übernimmt und steigert Elemente der Gaufürstengräber und verschmilzt sie mit Motiven vom Tempel MENTUHOTEPS zu einer neuen Hinheit. Im Aufweg, einer Sphinx-Allee, wird die Hauptachse des Heiligtums von KARNAK über die Stadt THEBEN hinweg ideell weitergeführt (S. 108). Sie endet vor den Pylonen der unteren Terrasse, die mit Sphingen, Wasserbecken und eingepflanzten Bäumen als Tempelvorplatz dient. Von dort steigt eine Rampe zur 2. Terrasse auf, deren Frontseite als Säulenhalle ausgebildet ist. Die nächste Rampe führt zum Obergeschoß des eigentlichen Terrassentempels. Er ist in den Felshang gebaut und gleicht mit den übereinandergestuften Pfeilerhallen äußerlich dem Tempel Mentuhoteps. Im Gegensatz zu diesem ist aber das Kernstück hier der Säulenhof, Von ihm aus sind die in den Felsen gehauenen Kulträume erreichbar: in der Achse das Felsengrab, zur Rechten (N) der Sonnenhof mit dem Sonnenaltar, zur Linken (S) die AM u N-K A PELLE, in der bei den Prozessionen von KARNAK her die Barke mit dem AMUN-Biid gebracht wird, In Höhe der 2. Terrasse ist, seitl, zum Tempel MENTUHOTEPS hin, eine Halle mit der Kapelle für die Göttin HATHOR aus dem Felsen gehauen. Ihr entspricht auf der anderen Seite ein kleineres Hypostyl mit einer Felskammer. Bei dieser Architektur sind die auf Terrassen übereinander aufgebauten Pfeilerhallen mit den verbindenden Rampen bestimmend. Die Wiederaufnahme dieser Elemente vom Tempel MENTUHOTEPS schließt beide Bauten optisch zu einer von Felswänden umschlossenen, harmonischen Einheit zusammen. Mit der bewußten Einfügung der Architektur in die Gebirgs-Szenerie, mit dem Berg El Qorn als natürliche Dominante, erreicht die ägypt. Architektur den Gegenpol zu den die Landschaft beherrsehenden Pyramiden der 4. Dynastie, Die langgestreckten Pfeilerhallen bieten Platz für die episch-breite Schilderung der Reichsannalen und der personl. Geschichte der Königin in Reliefs von höchster Qualitat. Die Verschmelzung von Architektur und Plastik erreicht hier einen Höhepunkt innerhalb der ägypt. Kunst. Dem Vorbild von HATSCHEPSUTS Tempel folgt teilweise noch der Totentempel ihres Nachfolgers THUTMOSIS III. Im Verlauf der Entwicklung trennen sich die Felsengräbermeist im TAL DER KÖNIGE - von den Totentempeln am Wüstenrand. Die Gräber werden in immer längeren Raumketten (SeTHOS I.) in den Felsen hinabgetrieben. Die Totentempel gleichen sich den Göttertempeln an. Gegen Ende des Neuen Reiches werden sie mit einem Königspalast zusammengeschlossen (S. 118).
122 Ägypten/Typologie VIII: Mastaba und Pyramide
Sakkara: Stufenpyramide desDjoser (3. Dyn.) |
) Höfe
|
| Terrassen
|
|
Mastaba (1.-3. Phase)
^^| Pyramide (4. und 5. Phase) |
| Gräberfeld
^H Kultbauten
Rekonstruktion
Sakkara: Djoser-Komplex
Mastabaformen; Djoser-Komplex mit Stufenpyramide
Ägypten/Typologie VIII: Mastaba und Pyramide 123 Die erste große Architektur Ägyptens entsteht über den Gräbern der Könige. In der ägypt. Religion sind Leben und Tod, Sichtbares und Unsichtbares nicht unvereinbar voneinander getrennt. Der Tod bedeutet den Übertritt in eine andere, dauerhaftere Form der Existenz. Auf dieser Anschauung bildet sich schon im vorgeschichtl. Ägypten die Gewohnheit aus, dem Grab unter der Erde ein symbol. Haus darüber zuzuordnen, wobei es im N und S eigene Varianten gibt. Allmählich nimmt der Oberbau die Form des Bankgrabes, der Mastaba, an. Sie ist ein langgestreckter Baukörper mit flachem oder flach 'gewölbtem Dach und geraden oder geboschten Wänden aus Lehmziegeln. Ihre monumentale Ausführung bleibt den vornehmen Toten vorbehalten. Unter den Königen der 1. Dyn. (THINITEN) nehmen deren Mastabas die Dimensionen von Großbauten an. Die meisten dieser Totenpaläste sind in der Totenstadt von SAKKARA, am Wüstenrand gegenüber der Hauptstadt MEMPHIS, ergraben. Der sichtbare Unterbau besteht aus einem flachen Sockel mit aneinandergereihten stilisierten Stierköpfen. Die Außenwände werden oft plastisch mit turmartigen Vorsprüngen und Nischen gegliedert, möglicherweise unter dem Einfluß der mesopotam. Tempelarchitektur (S. 82, 94), vor allem aber des gleichzeitigen Palastbaues. Dessen Fassadengliederungen werden bis in Einzelheiten auf die Mastabas als die ewigen Residenzen der Könige übertragen. Das Innere enthält manchmal mehr als 50 größere und kleinere Räume in symmetr. Anordnung um die zentrale Grabkammer. Es sind vor allem Magazine für den »Bedarf« des Toten in seiner anderen Existenz. Entlang der äußeren Abschlußmauer liegen die einfachen Reihengräber der Gefolgsleute und Diener, die dem Herrscher in den Tod folgen und so an seinem ewigen Fortleben teilnehmen. Das Zeremoniell des Totenkultes wandelt sich allmählich. Der Realismus einer imaginären Vorratshaltung weicht dem Symbolismus der Sonnen- und Königstheologie. Deren Auswirkung auf die Grab-Architektur zeigt z. B. die Mastaba Nr. 3505 vom Ende der l , Dyn. Über einem Felsengrab im Untergrund hat sie nur einen großen Innenraum, an der Stirnseite ist ein kleiner Totentempel angebaut. Einer anderen Mastaba Nr. 3506, ist ein Hof vorgelegt, in dem eine Sonnenbarke steht. Doch behält die KÖnigs-Mastaba bis zum Ende der 2. Dyn. ihre plastisch gegliederte Außenform. Auch in der Pyramidenzeit bleibt die Mastaba, streng geometrisiert, noch die Form für die Gräber der Vornehmen, die sich auf dem Königsfriedhof neben den Pyramiden (S. 124) bestatten lassen. Die Umformung des traditionellen KÖnigsgrabes vollzieht sich schlagartig durch die Stufenpyramide des Königs Djoser. Als ihr Erbauer gilt IMHOTEP, Kanzler und »Chefarchitekt« DJOSERS, unter dem Ägypten
einen rapiden Aufschwung nimmt. Der Steigerung des Königtums ins Göttliche scheint die traditionelle Mastaba nicht mehr angemessen, die auch für DJOSER zunächst errichtet wird, aber in quadratischer Form und aus Naturstein. Nach zweimaliger Ummantelung (M 2, M 3) wird auf ihr ein vierstufiger, ca. 42 m hoher Baukörper errichtet, der dann in einem letzten Bauabschnitt auf ca. 100 m verbreitert und mit sechs Stufen auf 60 m erhöht wird. Diese erste Kraftleistung der ägypt. Architektur ist das Symbol einer neuen Epoche, nur möglich auf der Machtbasis des zentralisierten Staates und seiner theologischen Sanktionierung. IMHOTEP übt außer den zahlreichen polit. Funktionen auch das Amt eines Hohenpriesters des Gottes RE von H£UOPOLIS aus. Dessen Kult verbindet sich mit dem Königskult zur neuen Staatsreligion. Die große Stufenpyramide ist Mittelpunkt eines ausgedehnten Sakralbezirkes. Dieser Djoser-Komplex gegenüber von MEMPHIS stellt die ewige Residenz des Königs dar. Neben den ins Monumentale gesteigerten Elementen der Grabarchitektur finden sich Gebäudeformen aus der zeitlichen Residenz: Architekturen aus Holz, Lehmziegeln und Schilf, in den dauerhaften Naturstein übersetzt. Der DJOSER-BAU faßt die bisherigen Formen und Techniken zu einem ersten gesamtägyptischen Kanon von Typen und Formen zusammen, von dem sich wichtige Elemente bis zum Ende des NEUEN REICHES erhalten. Zugleich werden auf dieser Baustelle die Techniken des monumentalen Steinbaues experimentell vorangetrieben. Den Gesamtkomplex umschließt eine Mauer mit Längen von 545m (= 1000 ägypt. Ellen) von N nach S und 277 m von O nach W (S. 106). Sie ist eine Steigerung der bisherigen Mastaba-Außenfronten und wahrscheinlich eine Symbol. Wiederholung der Stadtmauer von MEMPHIS. Eine lange Halle vermittelt den Zugang zum Inneren (5), einer weiträumig geplanten Anlage mit Höfen und Gebäudegruppen. Um den großen Südhof (4) mit seinen Altären liegen u. a. der »Kleine Tempel« (7) und das »Südgrab« (10). Ein seitl. Hof erschließt den »Hebsed-Hof« (6) mit den Kapellenreihen für die traditionellen Regierungsjubiläen. Östlich der Pyramide liegen der »Nord-Palast« (8) und der »Süd-Palast« (9) mit ihren Höfen. Im N schließen sich der Hof mit dem »Serdab« für das große Sitzbild des Königs und der an die Pyramiden angebaute »Totentempel« (2) an. Den restl. Platz nehmen aufgeschüttete Terrassen (Scheinmagazine?) und ein weites Gräberfeld ein. Vom Nil her besteht die eindrucksvolle Baugruppe aus der langen Horizontalen der Umfassungsmauer, über der die gestufte Baumasse der Pyramide aufragt (S. 106). Die kontrapunktische Verbindung terrassenförmig gelagerter und vertikal aufgebauter Volumen bleibt eines der Charakteristika der ägypt. Baukunst.
124 Ägypten/Typologie IX: Pyramiden
Sakkara: Stufen pyramide
Dahschur: Knickpyramide
Dahschur: Rote Pyramide
Tal- und Totentempel der Chephren-Pyramide
Pyramidenfeld von Giseh
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Pyramiden
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Tempel, Aufwege, Sphir
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Wüstenplateau Gräberfeld Fruchtland (Nilebene)
Cheops-Pyramide, Nord-Süd-Schnitt
Vorformen, Standardform, Pyramidenkomplex
Ägypten/Typologie IX: Pyramiden 125 Die »klassische Pyramide« ist aus einfachen geometrischen Formen aufgebaut: die Grundfläche ist ein Quadrat, die Spitze der Endpunkt der daraufstehenden Mittelsenkrechten, die 4 Seitenflächen sind gleichschenklige Dreiecke. Diese Pyramide ist eine Schöpfung der 4. Dyn. und dient als Grab für die Gott-Könige des Alten Reiches. Die Ägypter erreichen diese Form nicht in einem Anlauf. Der historische Weg beginnt bei der Stufenpyramide des Djoser in SAKKARA (S. 122). Ihre Nachfolgebauten bleiben unvollendet. König SNOFRU (4. Dyn.) experimentiert mit 3 Pyramiden: Die Knickpyramide von DAHSCHUR wechselt auf halber Höhe den Neigungswinkel von 54° auf 43°. Die benachbarte Rote Pyramide hat eine ungebrochene Neigung von 43°30'. Damit ist das Prinzip gefunden. Ein unfertiger Stufenbau in MEDUM wird mit dreieckigen Mantelflächen auf diese Form gebracht. Die Pyramiden von Giseh für die Könige CHEOPS, CHEPHREN und MYKERINOS erhalten durch den steileren Neigungswinkel von 51°52' einen deutlichen Höhenzuwachs und die klassische Proportion. Die CheopsPyramide ist bei 230 m Basislänge 146,60 m hoch (Straßburger Münster 142 m). Hinter diesen Formversuchen größten Stils verbergen sich außer formalen und technischen auch theologische Prozesse. Die entscheidenden Impulse gehen vom Kult des Sonnengottes RE von HELIOPOLIS aus. Die Deutung der Pyramide als Symbol eines Bündels von Sonnenstrahlen, auf dem der KA (Seele, schöpferische geistige Kraft) des Königs zur Sonne aufsteigt, scheint bestätigt durch den Text auf dem Pyramidion AMENEMHETS III. (S. 104 f.). Die Technik des Pyramidenbaues ist durch den Aufbau der großen Mastabas (S. 122) mit Außenmantel und Kernbau vorbereitet. Von dort her entwickelt sich an den Pyramiden des DJOSER und SNOFRU ein kombinierter Aufbau in Horizontal- und Vertikalschichten, der Struktur einer Zwiebel vergleichbar. Um einen konischen inneren Kern legen sich nahezu senkrechte Mauerschalen. Ihre geringe Neigung gegen den Kern genügt, um die Resultierenden (S. 26) aus den vertikalen und horizontalen Kräften überwiegend gegen den Kern und nur teilweise gegen den Untergrund wirken zu lassen. So hält sich die Masse gewissermaßen selbst fest. Der Aufbau in getrennten Schichten ermöglicht ferner den Ausgleich von Spannungen und Senkungen innerhalb des riesigen Materialberges. Bei den großen Pyramiden lassen sich kaum Deformierungen feststellen. In GISEH erreicht die Pyramidenform ihren Höhepunkt. Die Nachfolger bauen bescheidener und weniger perfekt, bedingt durch theolog. Wandlungen im Rß-Kult (Sonnentempel von ABU GURAB) und die Erkenntnis, daß eine Fortsetzung der übersteigerten Bautätigkeit zum Staatsbankrott führen muß. Diese Erkenntnis kommt zu spät.
Die Pyramiden stehen als Dominanten über einem zugehörigen Heiligen Bezirk, dem Pyramidenkomplex. Der monumentale Nachbau einer ganzen Residenz um das Grab des Königs, wie beim Djoser-Komplex, wird aufgegeben. Die gleiche theologische Bewegung, die zur neuen Form der Pyramide führt, reduziert das Programm des Pyramidenkomplexes und erreicht unter Verlust der Vielfalt einen Zuwachs an Monumentalität und Strenge. Von den Elementen bleiben die Pyramide selbst, mit evtl. Nebenpyramiden auf einer Terrasse, und der Totentempel davor. Sie werden ergänzt durch einen Taltempel an der Scheidelinie zwischen Fruchtland und Wüste, wo auf einem Nilarm die Totenbarke landen kann; ein gedeckter Aufweg führt zum Totentempel vor der Pyramide. Dieser dreitaktige Aufbau des letzten Weges findet sich gültig ausgebildet bei den Pyramiden der 4. Dyn. in GISEH, Der Königsfriedhof liegt auf dem Wüstenplateau ca. 30 m über dem Fruchtland. Die großen Pyramiden stehen auf gesonderten, mit Mauern abgegrenzten Terrassen, umgeben von den Gräberfeldern mit den Mastabas der Würdenträger (S. 122). Von den Taltempeln am Nilufer steigen gedeckte Rampen über weite Strecken zu den Totentempeln an der Ostseite der Pyramiden an. Die königl. Barken, nun als Sonnenbarken, stehen in eigenen Kammern um die Pyramiden. Auf ihnen fährt der KA der Könige in ewiger Wanderung und Wiederkehr, der der Kult im Totentempel gewidmet ist. In den Pyramiden-Tempeln bildet sich aus einfachen Vorstufen eine schlichte, aber differenzierte Sakra l-Architektur aus, die bereits wesentliche Elemente der künftigen Entwicklung (S. 116, 120) enthält. Das Prinzip des Prozessionsweges, seine Weiterführung durch die Tempelachse, der Rhythmus von Eng- und Weitführung ist in der Disposition schon klar erkennbar. Am besten hat sich in GISEH die Anlage des Chephren erhalten. Tal- und Totentempel sind nach außen geschlossene Steinmassive mit geböschten Wänden. Die Innenräume, besonders die Breite und die Tiefe Halle mit ihren monolithen Granitpfeilern, erscheinen wie Aussparungen aus einem Felsmassiv. Die in beiden Tempeln gleiche Raumfolge ist im Totentempel durch den nach außen geschlossenen Opferhof ergänzt, hinter dem in 5 Kapellen der tote König in verschiedener Gestalt verehrt wird. Ein schmaler Gang führt zum Fuß der Pyramide. Dort steht ein einfacher Opferaltar, direkt mit der Pyramide verbunden. Eine Besonderheit der Grabarchitektur ist die Anlage von Scheintüren und die seitl. Abknickung der inneren Wegführung, die in den Pyramiden zu höchster Raffinesse vervollkommnet wird, um die Gräber der Könige vor dem Zugriff Unbefugter zu schützen. Bestimmend für den Eindruck ist aber die betonte Symmetrie der Hauptelemente.
126
Ägypten/Religiöse Grundlagen der Architektur
Das heutige Bild der ägypt. Architektur wird vom Sakralbau bestimmt. Städte und große Profanbauten sind bis auf geringe Reste untergegangen. Doch scheint auch deren Planung den gleichen Prinzipien und Tendenzen wie der Sakralbau zu folgen. Einige Grundzüge haben auch in anderen Hochkulturen Gültigkeit. Den unverwechselbaren Charakter der ägypt. Baukunst bestimmen aber Vorstellungen, die hier seit der Frühzeit lebendig sind, rasch zur Vollkommenheit ausgebildet und dann über Jahrtausende angewandt werden. Die Geometrie als Grundlage der Architektur wird in Ägypten konsequent angewandt und in Anlage und Form der Bauten oft rein zur Anschauung gebracht. Obelisk und Pyramide (S. 104) sind z. ß. absolute, rein geometrische Formen. Der Wille, diesen Formen durch riesenhafte Dimensionen ewige Dauer zu verleihen, hat religiöse Antriebe. Die Ägypter glauben an ein ewiges Leben, von dem das zeitliche nur eine Phase ist. Es ist durchwirkt von göttlichen und kosmischen Kräften, die im Rhythmus der Tages- und Jahreszeiten, im Lauf der Gestirne, in den Himmelsrichtungen sichtbar werden. Zahlen und Zahlenverhältnisse, evident in den geometrischen Grundformen, haben neben den mathematischen auch theologische Qualitäten. In ihnen kommt das EwigGültige zum Ausdruck. Die mathematischen Konstituanten der Pyramide sind Symbole kosmischer Ordnungen. Zum Quadrat, der heiligen Vierzahl (4 Himmelsrichtungen, 4 Winde, 4 Ecken der Welt), tritt die Drei in der ausgeprägten Form des gleichschenkl. Dreiecks, dessen Symbolik dem Quadrat nur wenig nachsteht. Es bedarf zwar der Königsmacht und der Wirtschaftskraft des zentralisierten Staates, um die großen Pyramiden zu bauen, verständlich werden sie aber nur von ihren theologischen Voraussetzungen her. In den späteren Jahrhunderten erscheint die Herrschaft der Geometrie nie wieder so unverhüllt. Deutlich spürbar bleibt sie aber in der Symmetrie und Axialität, die für den Grund- und Aufriß einzelner Bauteile wie ganzer Groß-An lagen das häufigste Ordnungsprinzip sind. Die Mastabas der 1. Dyn. (S. 122), die Tempel von den Pyramiden bis zur Spätzeit (S. 106, 116, 124), der Palast AMENOPHIS' III. (S. 112) sind symmetrisch zur Längsachse angelegt. Bauteile wie die Pylonen und Hypostyle (S. 106) sind mehrfach symmetrisch und oft als Doppelfigur aufgebaut. Der Gedanke, Bauten als Endstationen heiliger Wege aufzufassen und deren Achsen bis in die Sanctuarien zu verlängern, begünstigt den achsialsymmetrischen Aufbau. Vielleicht liegt auch die Topographie Ägyptens mit dem Nil als Naturachse von N nach S und den beidseitigen Geländeforrnationen den Symbolvorstellungen der Sakralarchitektur zugrunde. Die Einordnung der Bauten in horizontale und vertikale Symmetrieachsen und der göttliche Rang der Geometrie er-
klären teilweise den hoch entwickelten Sinn der Ägypter für Harmonie, Maß und Proportion. Die Beziehungen des »Goldenen Schnittes« sind ebenso bekannt wie verschiedene arithmetische Proportionsreihen. Zugrunde liegen Naturmaße wie Handbreite, Fuß und Elle. Die Elle ist (in zwei Varianten) der Modul für die Architektur. Die Handbreite bildet das Grundrnaß der Quadratnetze, die der Proportionierung von Reliefs und Wandmalereien dienen. In der Übereinstimmung dieser beiden Module (l Elle = 6 oder 7 Handbreiten) liegt eine der Ursachen für die oft völlige Verschmelzung von Architektur und bildender Kunst, Die Präzision des Natursteinbaues erreicht in Ägypten höchste Vollendung. Die an den Bewässerungsanlagen geschulte Vermessungstechnik macht es möglich, auch Riesenbauten wie die Pyramiden exakt zu orientieren und lot- und fluchtrecht aufzubauen. Die Bearbeitung des harten Natursteins hat eine alte Tradition aus dem Neolithikum, in dem bereits -die Technik des Steinschliffs hoch entwickelt war. Die Flächigkeit der Architektur, das Einschneiden von Hieroglyphen und versenkten Reliefs in die glatten harten Oberflächen erfordern einen fast fugenlosen Großsteinbau, dessen Exaktheit nur in GRIECHENLAND 2000 Jahre später noch einmal erreicht wird. Die Kontinuität der ägypt. Architektur beruht auf den im Religiösen verankerten Traditionen. Im Grundsätzlichen beständig, wird sie dennoch vom Wechsel geprägt und ist flexibel genug, neben dem Typus gelegentlich der großen Individualität Spielraum zu geben. Der DJOSER-KOMPLEX am Beginn der Pyramidenzeit, die Sonnentempel der 5. Dyn., die Totentempel des MENTUHOTEF und der HATSCHEPSUT, der Festsaal THUTMOSIS' III., die Fehentempel von ABU SIMBEL sind geniale Einzelleistungen oder großangelegte Versuche, die die Tradition in lebendiger Spannung halten, ohne sie zu zerreißen. Naturnähe und Abstraktion sind charakteristisch als Dualismus für die ägypt. Architektur. Die tektonische Großform (S. 106), geprägt von der Kraft der Abstraktion und radikalen Vereinfachung, ist Träger einer realistisch und farbig nachgeformten Bilderund Symbolwelt, in der die Fülle des menschlichen Lebens und der Natur ausgebreitet wird. In Einzelformen prägt sie auch die tektonische Struktur des Baues (Säulen, Gesimse S. 104). Diese undogmatische Verbindung scheinbarer Gegensätze ermöglicht die völlige Integration der bildenden Kunst in die Architektur. Die Einfügung der Schriftfelder, der symbolisch-realistischen Szenen in Relief und Wandmalerei, der astronomischen Darstellungen sind in solcher Vollkommenheit nur möglich, weil das komplexe Denken der Ägypter die Totalität der Welt unbefangen als ein Zusammenfallen der Gegensätze erfaßt.
Ägäis/Die ersten europäischen Hochkulturen Im Spannungsfeld des östl. Mittelmeeres überlagern sich die Kulturen. Jahrhundertelang läuft der Handel von Ägypten längs der Küste Palästinas und Phöniziens nach N in das Vorfeld Mesopotamiens. Von dort strömen die Einflüsse der Hochkulturen an der Südküste Kleinasiens oder über das anatolische Hochland nach W in die Ägäis. Die vielgestaltige Küsten- und Inselwelt um das kretische und ägäische Meer ist nach W, N und O von Gebirgen abgeschlossen. In der Mitte und im Süden verbinden Insel brücken die Kontinente. Die Abschirmung durch die Gebirge sichert die Eigenentwicklung des Ägäis-Raumes, die Brückenlage fördert den Bevölkerungsund Kulturaustausch. Hier entstehen die ersten europäischen Hochkulturen. Die Einheit der Ägäis besteht in der Übereinstimmung der geologischen Strukturen, des Klimas, der Wirtschaftsformen und Lebensweise, der Religionen. Sie wird überlagert von der Vielfalt der Einzellandschaften. Die reichgegliederten Küsten beider Kontinente und die vielen Inseln lassen getrennte Siedlungsräume und verschiedene gesellschaftl. Ordnungen entstehen. Auch die Wanderungsbewegungen, die in Strömung und Gegenströmung die Frühgeschichte der Ägäis bestimmen, wirken der Bildung einer übergreifenden politischen Einheit entgegen. Die ägäische Urbevölkerung lebte - nach Funden zu urteilen - in Jäger- und Fischerkulturen auf präkeramischer Stufe. Im Neolithikum führt besonders die Vorderasiatische Kulturtrift landsuchende Siedler in den ägäischen Raum. Die verschiedenen Traditionen durchdringen sich und verschmelzen zu einem ägäisch-anatolischen Kulturkreis. Unter den bäuerlichen Kulturen in den Küsten- und Flußebenen ist die SeskloKultur in THESSALIEN die bedeutendste. Die Besiedelung mit großen Dörfern konzentriert sich um den GOLF VON VOLOS, breitet sich aber auch über PELOPONNES, BOIOTIEN und ATTIKA aus. Ihre Ausläufer erreichen Mazedonien und die Inseln. Am Ende des Neolithikums wird sie in Thessalien von NW von der Dimini-Kultur überlagert. Ihre Träger errichten eine Adelsherrschaft mit befestigten Herrensitzen. Ihre Hauptresidenz DIMINI ist eine Hügelburg mit konzentrischen Mauerringen und einem Hauptmegaron auf der Hügelkuppe. Die Bronzezeit verändert die pol it. und Wirtschaft 1. Struktur. Die Bevölkerung wächst und differenziert sich nach Berufen. Einige Siedlungen nehmen städtischen Charakter an. Um die größeren Residenzen der führenden Dynastien bilden sich Schwerpunkte mit regionalen Kulturkreisen. Das wichtigste Zentrum der frühen Bronzezeit wird Troja. Seine günstige Lage im Küstenvorland ANATOLIENS macht es zum führenden Platz für den Metallhandel. Sein Einfluß erstreckt sich in der Epoche Troja II
127
(S. 144) auf große Teile der kleinasiatischen Küste und die vorgelagerten Inseln mit den wichtigen Städten POLIOCHNI auf LEMNOS, THERMI auf LESBOS und SAMOS. Den Seehandel vermitteln die Kykladen. Auf den dicht besiedelten Inseln entstehen kleine, stark befestigte Städte. Neben Seefahrt und Fischerei bilden Verarbeitung und Export von Obsidian, Marmor, Metall und Keramik das Wirtschaft!. Fundament der Kykladen-Kultur. In der mittl. Bronzezeit erringt Kreta die Vorherrschaft. Auf der Basis einer vielseitigen Landwirtschaft und dichter Besiedlung kommt es in der Älteren Palastzeit zur politischen Konsolidierung mit Machtkonzentrationen in der Mitte der Insel. Von den drei großen Residenzen KNOSSOS, MALLIA und PHAISTOS entwickelt sich Knossos zur ersten Großstadt im Mittelmeer (S. 136). Die kretische Flotte löst die kykladische in der Seeherrschaft ab. Fernhandel, eigene Produktion und Export bilden die wirtschaftl. Grundlage der minoischen Kultur. In ihr verbinden sich eine noch fast vorgeschichtl. Religion und feudal-hierarchische Gesellschaftsordnung (Priesterkönigtum) mit fortschrittl. Technik und Zivilisation (Schiffbau, offene Städte). Durch den Seehandel steht die minoische Kultur mit Ägypten und Phönizien im Kulturaustausch. In der Jüngeren Palastzeit verdichten sich die Beziehungen zum griech. Festland. Allmählich gerät Kreta in die Abhängigkeit der myken. Könige. Schließlich werden die Paläste zerstört. Das griechische Festland erlangt wirtschaftl. und polit. Bedeutung nach der Einwanderung der Achaier und Jonier. Sie begründen miteinander rivalisierende Adelsherrschaften auf der PELOPONNES, in ATTIKA, BOIOTIEN und THESSALIEN. Der Verschmelzung mit der altägäischen Bevölkerung folgt die polit. Konsolidierung und das Ausgreifen in den ägäischen Raum. Der polit. Schwerpunkt liegt in der ARGOLIS mit der Hauptresidenz Mykenai. Die Zusammenfassung zu einem Einheitsstaat wird auch in der Großmachtphase des 14.-13.Jh. nie erreicht. Die mykenische Kultur übernimmt viele Elemente der minoischen, geht aber in der Architektur ihren eigenen Weg. Zur Behauptung gegen die Wellen der Ägäischen Wanderung werden gewaltige Festungen gebaut. Sie erliegen in der Mehrzahl im 12.Jh. dem Ansturm der DORIER. Die Architektur der Ägäis zeigt bis in die frühe Bronzezeit eine Vielfalt von Typen und Formen. Im Zusammenhang mit der politischen Polarisierung erwachsen aus ihnen charakteristische gegensätzliche Systeme: Im maritimen Kreta entstehen das Labyrinth, der Formkanon der Palastarchitektur und der Typ der offenen Palaststadt. Auf dem Festland dominieren das Megaron, die monumentale Megalithbauweise und die Burgstadt mit der oft zur Festung ausgebauten Akropolis.
128 Agäis/Friihzeit
Ägäis / Zeittafel 129 Neolithikum ca. 5000-3000 Hellas
Ausstrahlungen der Hochkulturen in die Agäis: afrikanische und vorderasiatische Kulturdrift Sesklo-Kultur; Zentrum Thessalien
Kreta Subneolithikum ca. 3000-2600 Hellas Kreta Ana tollen Frühe Bronzezeit ca. 2600-2000
Dörfer, RundMtten, Vorstufen des Megarons Wohn- und Grabhöhlen, einzelne Rechteckhäuser
Einfarbig polierte Keramik: Sesklo mit Linear-Ornamentik Idole
Etappenweiser Übergang zur Metallzeit. Zuwanderung und Verdichtung der Siedlungen. Beginnende regionale Differenzierung Dimini-Kultur in Thessalien Beginnende Sonderentwicklung Troja I
Keramik: Spirale, Herrensitze, Dynastenburgen, Megaron Mäander, Schachbrett Hausgruppen mit Labyrinthstruktur Befestigter Herrensitz Primitives Megaron
Neue soziale und wjrtscbaftl. Struktur. Bildung regionaler Kulturkreise um Wirtschaft]. Schwerpunkte
Befestigte KleinUrflrnis-KeramBt städte. Agglutinieren- (Pelos- und Syrosde Bauweise. Varian- gruppe. Seinbearbeiten des Megarons. tung (Obsidian) Rundbauten Geflammte Keramik Städtebau im O. Frühminoikum Feudalherrschaft Goldschmuck, ElfenKleine Paläste. Landwirtschaft und beinsiegel Labyrinth, System Handel Befestigte Burg, Me- Metallgeräte und Troja II: Zentrum FriähanatotlfeiHB garongruppen , Tor- -schmuck. Spezieile des Metallhandels bauten, Befestigt« Keramik Städte auf den Inseln Mittlere Bronzezeit Einwanderung indo-europäischer Stämme in die Kontinentalzonen der ca. 2000-1600 Agäis. Ab Gegengewicht die Seemacht Kretas Herrensitze, Megaron Minoische Keramik Agrarische FeudalMittelheHadikum Schacht- und Kam- Totenmasken (Gold) aristokratie mergräber Konzentration der Ältere Paläste. Palast- Ephiphanie-ReUgion. Mittelminoikum städte. Entfaltung Kult. Spiele. FreskoMacht. Königtum. malerei, Kamaresdes labyrinth. Wirtschaft!. AufKeramik. Kleinplasti] schwung, Seellande], Systems. Seit 1700 Jangere Paläste. Linear-A-Schrift Expansion Kuppelgräber Troja VI: neaer Befestigter Stadtring Vermischte Einflüsse Mittelanatolikum Aufschwung. Regto- um die Burg. Megaron in Kunst und Kunstmit Varianten gewerbe naldynastie Späte Bronzezeit Wachsende Rivalität zwischen Kreta und Mykenai. Expansion Myca. 1600-1100 kenais. Beginn der Ägäischen Wanderungen Erste MonumentalSpäthelfadikum Achaiische und joni- Burgen und BurgPlastik (Löwentor) städte. Megaron als sche Regionaldyna(mykenisch) Neue Ornamentik dominierender Typ. stien Seit 13. Jh. Festungs- Übernahme von Linear-B bau, Kuppelgräber Blütezeit der jüngeren Allgemeine VerfeineAusgreifen nach O Spätminoikum rung des Stils Paläste und des Stützpunktsystem. Erstarrung im PalastMachtverlust. Myke- labyrinth. Systems Herrenhäuser nische Herrschaft stil Linear-B-Schrift Submyken. Zeit Untergang der minoischen und mykenischen Kultur in der Dorischen ca. 1150-1000 Wanderung Frühhelladikum
Frühkykladikum
Lokale Residenzen Zunehmender Handel Kykladen als Handelsbrücke
130 Ägäis'Baiiformen I
Mykenai: Burg, Löwentor
Mykenai: »Schatzhaus des Atreus«, Portal
»Schatzhaus des Atreus«, Kapitell
Minoische Säule mit Gebälk
M inoisch-mykenische Architekturelemente
Arkades: Palmen kapitel l
Ägäis/Bauformen I 131 Von der ältesten Architektur in der Ägäis gestatten geringe Reste nur die Rekonstruktion der Grundrisse. Eine deutliche VorStellung der Baukörper und ihrer Gliederungen läßt sich erst seit den Kulturen der Bronzezeit gewinnen. Die minoische Architektur entsteht beim Bau der großen Paläste auf der Insel Kreta. In der Alteren Palastzeit bleiben ihre Formen vermutl. einfach und streng. Die Jün~ gere Palastzeit bevorzugt dagegen reiche und malerisch effektvolle Gliederungen (typ, Spätstil). Die Formgebung strebt weniger nach tektonischer Logik als nach dekorativer Wirkung. Diese Tendenz wird durch die kontrastierende Bemalung mit kräftigen Farben (rot, schwarz, gelb) unterstützt. Die reiche Ornamentik verwendet teils konstruktive Elemente (Balkenköpfe), teils geometrische und symbolische Figuren (Spiralen, Rosetten). Charakteristisch für die dekorative Haitung ist die minoische Säulenordnung, die an bevorzugten Stellen der Paläste und Herrenhäuser die einfachen Pfeilerstellungen ablöst oder ergänzt. Ihr Hauptelement ist eine Holzstütze mit nach unten verjüngtem Schaft, der meist auf einer runden oder eckigen Steinplatte (Plinthe) steht. Der Stützenkopf besteht aus einem polsterartigen Kapitell zwischen Ringen und Einschnürungen. Eine kräftig ausladende, quadratische Deckplatte (Abakus) trägt einen Unterzug oder auskragende Tragbalken. Darauf liegen entweder die runden Deckenhölzer oder Gesimse verschiedener Typen, mit denen die kretischen Gebäude horizontal gegliedert werden. Den oberen Abschluß bilden oft stilisierte Stierhörner. Diese Saulenordnung ist ursprünglich eine einfache Stützenkonstruktion aus runden Stämmen mit einem aufliegenden Hauptbalken und einer Lage Rundhölzern. Wie in den anderen Hochkulturen (S. 82, 104) kommt es im Lauf der Zeit zur bewußten Stilisierung. In Kreta drängt sie den tektonisch-konstruktiven Charakter zugunsten eines dekorativen, teilweise symbolischen Formalismus zurück. So widerspricht die Verjüngung der Säule nach unten den statischen Forderungen (S. 34). Die Säulen am SCHATZHAUS DES ATREUS werden mit Ornamenten ohne Bezug zur konstruktiven Funktion überzogen. Nachkommen kretischer Säulen finden sich noch in der Frühstufe griechischer Architektur auf Kreta, z. B. ein orientalisierendes Palmenkapitell an dem kleinen Tempel in ARKADES. Das minoische DekorationsSystem wird von den myken. Herrschern übernommen, weil es offenbar kein anderes gibt, das ihren Ansprüchen an Repräsentation genügen könnte. Die mykenische Architektur steht aber in ihren Bautypen (S. 146/48) und ihrer tektonisch-monumentalen Tendenz im Gegensatz zur minoischen. So kommt es stellenweise zu einem bezeichnenden Slilbrucfa zwischen der Großform der mykenischen
Architektur und der aufgelegten Dekoration. Er tritt deutlich am Tor zum »Schatzhaus des Atreus« in MYKENAI hervor (S. 148). Es schließt den monumentalen Dromos ab, dessen Wände aus großen Steinblöcken aufgebaut sind. Die gleiche Großsteintechnik (Megalithbau) findet sich am Löwentor der benachbarten Burg. Der Grabeingang entspricht ihm in Typ und Technik. In seinen Abmessungen (5 m Durchgangshöhe) geht er noch darüber hinaus. Diesem Monumentaltor typisch myken. Charakters wird eine Scheinarchitektur minoischen Stils vorgeblendet. Den profilierten Türrahmen flankieren zwei sehr schlanke minoische Säulen aus grünem Stein. Ihre Schäfte und Kapitelle sind mit Ornamenten überzogen. Auf den Deckplatten steht ein gleichartiges, kleineres Säulenpaar, dem ein leichtes Gesims aufliegt. Es rahmt eine reich ornamentierte Plattenverkleidung, die zwar das konstruktiv wichtige Entlastungsdreieck als Motiv aufnimmt, es aber völlig atektonisch in die Ornamentik einbezieht. Den krönenden Abschluß bilden stilisierte Stierhörner. Diese Motive machen aus dem Eingang zum Grab eine symbolische Palastfassade. Auch in den Residenzen der myken. Fürsten sind die Einzelformen und die Dekorationstechnik meist minoischer Herkunft, Die mykenische Bauweise tritt unverhüllt zutage, wo sie ihre spezifische Tendenz und Technik vom Bauprogramm her frei entfalten kann, ohne in Konkurrenz zur minoischen Palastarchitektur zu geraten: beim Burgenbau. Neben das Kyklopen-Mauerwerk aus kaum behauenen, oft polygonalen Blöcken (S. 30) tritt an repräsentativen Stellen ein sorgfältig bearbeitetes Quadermauerwerk. Die tonnenschweren Blöcke aus KonglomeratGestein werden mit nassem Sand und bronzenen Sägeblättern geschnitten und in gleichhohen Schichten versetzt. Ein solcher Quaderverband bildet in der Burg von MYKENAI die äußere Schale der Burgmauer am Löwentor. Das Tor ist ein klassisches Beispiel des mykenischen »Megalithbaues«. Vier tonnenschwere, monolithe Platten bilden einen Steinrahmen von ca. 3,25 m Durchgangshöhe und ca. 3,00 m Durchgangsbreite. Über der besonders dicken Sturzplatte ist das Entlastimgsdreieck in Art einer KragWölbung aus dem Quaderverband ausgespart, um die Auflast der Burgmauer auf die Seitenwände abzuleiten. Es ist mit einer ca. 3 m hohen, dreieckigen Steinplatte geschlössen, deren Frontseite die berühmte Symbol-Darstellung mit den beiden stehenden Löwinnen zeigt. In dieser frühesten europäischen Großplastik treten die spezifisch myken. Züge ebenso deutlich hervor wie in der Architektur des Tores: konsequente Bildung der Form aus den Bedingungen des Zweckes und des Materials, klare Gliederung, monumentale Steigerung durch gestuften Aufbau der Masse.
132 Ägäis/Bauformen II
Knossos: Teil des Westflügels am Zentralhof (Rekonstruktion)
Minoische Bauornamentik
Knossos: Megaron in der königlichen Wohnung (Rekonstruktion)
Minoische Palastarchitektur
Ägäis/Bauformen II 133 Die minoische Architektur verdankt ihren schnellen Aufschwung in der mittleren Bronzezeit dem Bau der großen Paläste, Auf den großen Baustellen bildet sich die erste bedeutende Bauschule einer spezifisch mittelmeerischen Baukunst aus. Die äußere Form der Paläste entspricht dem flexiblen, durchlässigen Grundrißsystem (S. 142). Der vielteilige Organismus setzt sich aus Baublöcken verschiedener Höhe und Tiefe zusammen (S. 140). Sie werden nicht durch ein System von Symmetrieachsen und verbindlichen Fluchten, sondern durch eine lockere Gesamtordnung zusammengefaßt. Die Außenfronten der Teilblöcke springen im Straßenbild vor und zurück und entsprechen dem Bild der benachbarten Wohnhäuser. In der Ägäis ist eine Mischbauweise aus Bruchsteinmauerwerk in Lehmmörtel mit verstärkenden Holzbalken weit verbreitet (Troja). Da Kreta über genügend Bauholz verfügt, treten Elemente des Holzbaues in der minoischen Architektur besonders stark hervor. Hölzerne Fenster- und Türgewände (S. 32), Fachwerk, gereihte runde Balkenköpfe bestimmen in oft dekorativornamentaler Manier das Straßenbild (s. die Fayence-Plättchen, S. 136). Beim Palastbau treten neben die gesteigerten Dimensionen der Baukörper neue Motive: Pfeiler- und Säulenstellungen, breite, übereinander vorkragende Gesimsbänder, Balkone und Balustraden. Die ornamentale Behandlung wird reichhaltiger und löst sich vom konstruktiven Vorbild. Zickzackund Wellenlinien, Laufspiralen und Rosetten überziehen in langen Schmuckbändern die Fronten, Gesimse und Brüstungen. Eine besondere Bedeutung kommt den stilisierten Stiergehörnen zu, Diese kultischen Embleme krönen - oft in langer Reihe wichtige Teile der Palastfassaden. An ihnen wird deutlich, daß der Palast als Sitz des Priesterkönigs auch Schauplatz kultischer Handlungen und göttlicher Erscheinungen ist (Epiphanie-Glaube). Einen selbständigen Sakralbau kennt die minoische Architektur nicht. Die Hauptfassaden sind den großen Mittelhöfen zugewandt. Auf diese Zentren sind die wichtigsten Gebäudetrakte ausgerichtet. Im Gegensatz zu den Straßenfronten sind hier die Fluchten der Baukörper sorgfältig aufeinander abgestimmt. Die Planung läßt genügend Spielraum für Veränderungen und variierende Kombination der Architekturelemente, die hier besonders wirksam in Szene gesetzt werden. Die Fassaden bilden zugleich Rahmen und Tribüne für viele zeremonielle und kultische Handlungen (Öffentl. Opfer) oder festliche Veranstaltungen (Stierspringen). Der bedeutendste dieser Plätze ist der Zentralhof im Palast von Knossos. Die Fassade des Westfiügels zeigt eine reiche Kombinatiort aller Elemente der minoischen Architektur. - Nach einer Rekonstruktion von A. EVANS folgen dem halb im Boden stekkenden Sockelgeschoßzwei Hauptgeschosse,
Sie öffnen sich mit den üblichen, breitgerahmten Fenstern zum Hof. In einem kräftig vorspringenden Risalit steigt eine der großen Prunktreppen zum 1. Repräsentationsgeschoß auf (S. 142). Seine Flucht wird von Galerien aufgenommen, die vor dem Sockel auf massiven Mauerpfeilern, vor den Hauptgeschossen auf Säulen stehen. Dazwischen ist-durch eine Unterbrechung der oberen Balkonreihen betont eine »Kultfassade« eingebaut: ein niedriger Schrein mit symbol. Mittelsäule und krönenden Stieremblemen. Die Galerien mit ihren Säulenordnungen, ornamentierten Brüstungen, Schattendäehern und profilierten Gesimsen bilden vor dem Baublock ein lockeres Gerüst aus Horizontalen und Vertikalen. Die harten Kontraste von hellem Licht und dunklen Schlagschatten erzeugen den Eindruck einer stark durchbrochenen, offenen und bewegten Architektur. Kräftige Farben und reichhaltiges Ornament verstärken den malerischen Effekt dieser Fassade, Der Charakter des Offenen und allseitig Durchlässigen bestimmt auch die zentralen Raumgruppen im Inneren (S. 142). Beliebt sind Pfeiler- und Säulensäle vom Typ des »kretischen Megarons«. Sie öffnen sich meist nach mehreren Seiten oder gehen in andere Räume über. Lichthöfe bringen den Wechsel von Licht und Schatten bis ins Zentrum der Gebäude. Die konstruktiv wichtigen Elemente sind neben den minoisehen Säulen kräftige Rechteckpfeiler, auf denen die Unterzüge für die Deckenbalken ruhen. Die offenen Felder sind oft im oberen Drittel durch Querbalken unterteilt. Dadurch entstehen Türöffnungen mit abgeteilten Oberlichtern. Nutenförmige Aussparungen in den Pfeilern sind für Falttüren oder ähnliche Konstruktionen vorgesehen. Durch öffnen und Schließen der Felder können die einzelnen Räume nach Bedarf getrennt oder verbunden werden, Der stufenweise Übergang vom dämmerigen Zentralraum zum hellen Licht der Höfe und Terrassen wird durch die kräftigen Farben wichtiger Bauglieder akzentuiert, Ornamentale oder illusionäre Wandmalerei verstärkt die Tendenz zu bewegten, ineinander übergehenden Raumbildern, Eine besonders großzügige Anlage dieser Art ist die königliche Wohnung im Palast von Knossos (S. 142). Sie besteht aus einer Kombination von Pfeilersälen mit Lichthöfen und Terrassen. Der zentrale Raum, die »Halle der Doppeläxte« (Labyrinth, vermutl. von Läbrys = Doppelaxt), hat nur eine durchlaufende Wand. An drei Seiten ist er umgeben von den charakteristischen Pfeilerstellungen, die sich über Vorhallen und Säulengänge zu einem Lichthof und einer gewinkelten Aussichtsterrasse öffnen, Diese Raumgruppe scheint das minoische Raumideal vorbildlich zu verkörpern. Es findet in zahlreichen Varianten Nachahmung in den anderen Palästen und Herrenhäusern (S. 138).
134 Ägäis/Typologie I: Labyrinth und Megaron
Pylos: Tontafei, Labyrinth
Knossos: spätneolithische Hausgruppe
0
10 rr
Kephali: spätminotsehe Siedlung
Tiryns: Megarongruppe
D Sesklo
Trojall
Thermos
Knossos
Megaron-Häuser des Festlandes
Antithetische Grundstrukturen der ägäischen Architektur
Tiryns
Ägäis/Typologie I: Labyrinth und Megaron 135 Aus den verschiedenen Bautraditionen bilden sich in der Ägäis zwei antithetische Systeme. Ihre Grundzüge prägen sich schon im Neolithikum aus, ihr Gegensatz bestimmt noch die klassische Baukunst der Griechen. Die fundamentalen Unterschiede in der Auffassung von Raum und BaukÖrper verbinden sich bezeichnenderweise mit den geseilschaftl. heterogenen Strukturen der Mächte, die um die Vorherrschaft in der Ägäis rivalisieren. Die maritimen Kulturen entwickeln das Labyrinth, die kontinentalen bauen das Megaron. Labyrinth - ein Lehnwort aus dem Altägäischen - bezeichnet in der griechischen Sprache Architekturen mit unübersichtl. Grundriß. Die Erinnerung an den Palast von Knossos verbindet sich in Athen mit dem nationalen THESEUS-Mythos. Die historische Befreiung von der kret. Vorherrschaft wird in einem Tanz festlich gefeiert, dem ein »Labyrinth« als Leitfigur zugrunde liegt. Eine der ältesten dieser Symboldarstellungen mit einem Text in Linear-BSchrift stammt aus dem Archiv des myken. Palastes in PYLOS. Die Struktur dieser den Achaiern und Griechen fremden Architektur geht auf die zellenartig-agglutinierenden Hauselemente des vorderorientalischen Städtebaues zurück. Ihr Ausbau zum »labyrinthischen System« ist die früheste Leistung der minoischen Architektur auf Kreta. Sie beruht nicht auf der Zwangsvorstellung eines festen Baukörpers, dessen starre Form schematisch unterteilt wird: ihr Örganisationsprinzip entwickelt die Raumgruppen vom Zentrum nach außen. Das Haus oder die Hausgruppe kann durch Angliederung neuer Räume organisch wachsen. Eine Anpassung an die Geländeform ist ebenso leicht möglich wie die Eingliederung in einen Siedlungsorganismus. Eine neolithische Häusergruppe in Knossos zeigt bereits die typischen Elemente der minoischen Raumdisposition und Mauertechnik: 1. Durchlaufende Hauptmauern für mehrere Häuser. Rechtwinklig angesetzte Trennmauern, Mauerzungen und Mauerkreuzungen. Anordnung der Zimmerwände kammartig in Reihen hintereinander, oft in einer Flucht endend. 2. Räume in additiver Reihung hintereinander, einer durch den anderen zu betreten. Tangierende Erschließung längs der durchlaufenden Mauern. Der Bau von Haus zu Haus durchgehender Hauptmauern ist platz- und materialsparend und gewährt eine gegenseitige Aussteifung (Erdbeben). Die Erschließung führt den inneren Verkehr meist an einer durchlaufenden Wand von Raum zu Raum. Die Führungslinie läuft also tangierend an einer Raumseite und läßt die übrigen Wand- und Bodenflächen zur Nutzung unzerteilt frei. Die spätminoische Siedlung von Kephali zeigt fast unverändert die alte Grundstruktur. Die kretischen Herrenhäuser des Spät-
minoikums (S. 138) stellen die Flexibilität des Systems unter Beweis. Seine Entfaltung und Steigerung findet es in den großen Palästen der kretischen Könige (S. 140/42). Megaron nennen die Griechen sowohl den Hauptraum des Wohnhauses (S. 174) wie größere Gebäude und Versammlungsräume. Sprache und Architektur bewahren die Erinnerung an das ägäische Vorbild: das freistehende Rechteckhaus mit der großen Halle als Herd- und Wohnraum. Seine Vorstufen sind in den Randkulturen des östl. Mittelmeeres ebenso ergraben wie in Südosteuropa. Im Chalkolithikum dringt es bis zum Rand der Ägäis vor (TROJA, DIMINI) und wird zur bevorzugten Wohnform der feudalen Herrenschicht. In der Bronzezeit findet es im Umkreis der Ägäis seine Monumentalform. Das Megaron ist ein Baukörper von elementarer Einfachheit: langes Rechteck mit geschlossenen Seiten wänden, unterteilt in einen Hauptraum und einen oder^zwei Nebenräume. Die Stirnseite öffnet sich meist in einer offenen Vorhalle mit seit), vorspringenden Wandzungen (Anten) und einer Stützenstellung. Das Megaron ist ein eindeutiger Richtungsbau. Alle Räume liegen hintereinander mit den Zugängen auf der Mittelachse. Bei größeren Spannweiten werden Dach und Decke von Stützen getragen, die entweder einreihig in der Mitte oder zweireihig parallel zur Längswand stehen. Unter den verschiedenen Varianten finden sich im Umkreis der Ägäis vor allem eine gedrungene Form mit einem Verhältnis der Stirnseite zur Langseite von ca. 1:2 (DiMINI, SESKLO, MYKENAI) und eine langgestreckte mit dem Verhältnis von l : 3 (TROJA). Außerdem gibt es Abwandlungen mit halbrundem apsidialem Schluß (Haarnadelform). Sie sind im frühesten Troja ebenso nachweisbar wie auf dem griechischen Festland, wo sie sogar die mykenische Kultur überleben (S. 184). Bei Gebäudegruppen herrscht die Parallelstellung der Baukörper vor. Hier zeigt sich eine gewisse Starrheit dieser Bauform. Sie ist autark in sich geschlossen, unbeweglich, statisch. Eine Vergrößerung der Nutzflächen und der Raumzahl ist ohne Zerstörung der Form (POLIOCHNI, S. 144) nur möglich durch Neubau anderer Megara (TROJA, THERMOS) oder durch Einbau in eine heterogene Gebäudegruppe, die das Megaron als solches intakt läßt (TIRYNS). Eine monumentale Steigerung der Form ist möglich durch stufenweise Gliederung gereihter Baukörper (Troja II) oder durch betonte Heraushebung des Einzelkörpers aus der Gruppe (DIMINI, TIRYNS, PYLOS). In der Schlußphase der frühägäischen Geschichte kommt es zu einer teilweisen Durchdringung der gegensätzlichen Strukturen: im minoischen Palast in Form des »kretischen Megarons«, im mykenischen Palast in der Ergänzung des Megarons durch Elemente der Labyrinthstruktur.
136
Ägäis/Typologie II: Städtebau auf der Insel Kreta
^H politisch-religiöse Zentren |
"^ |
| !
Innenstadt
| Straßen, Plätze, Höfe H
Flüsse
Knossos: schematischer Stadtplan 1 Palast (s. Typ. V) 2 sogenannter Kleiner Palast 3 sogenannte Karawanserei 4 Herrenhäuser 5 Grenze der Außenstadi
Knossos: Fayence-Plättchen »Straßenbild einer kretischen Kleinstadt«
Gurnia: Innenstadt
1 Palast 2 Kapefle 3 Wohnhaus (s. Typ. III; 4 öffentlicher Platz
Groß- und Kleinstadt im minoischen Kreta
Ägäis/Typologie II: Städtebau auf der Insel Kreta 137 Die erste Stadtkultur der ägäischen Inselwelt entsteht auf den Kykladen. Die kleinen Städte sind stark befestigt. Ihre vielzellige Siedlungsstruktur folgt Traditionen desVorderen Orients (BYBLOS, TARSOS, MERSIN). Frühzeitig bildet sich das für die Ägäis typische Schema der hoch über der Küste liegenden Wohnstadt mit dem Hafen am Strand aus. Kreta steht zunächst im Schatten der Kykladenkultur. Erste städt. Siedlungen mit Handelsmärkten entwickeln sich im O. ZAKRO, PALAIKASTRO, PSEIRA und MOCHLOS gewinnen als Hafen- und Fischerstädte, VASSILIKI als regionales Zentrum im Inland Bedeutung. Die mittl. Bronzezeit bringt einen schnellen Aufschwung. In der Mitte der Insel entstehen neue Städte mit Knossos als polit. und wirtschaftl. Zentrum, Mallia und Phaistos als regionalen Hauptstädten der nördl. und südl. Küstenebene. Zu den Hafenstädten im O kommen neue im Vorfeld der großen Paläste: KATSAMBA und AMNISOS nördl. von KNOSSOS, HAGIA TRIADA westl. von PHAISTOS. Zakro und VASSILIKI bleiben Nebenze'nIren im O. Kleinstädte wie Gurnia und PALAIKASTRO dienen dem Landadel als Residenzen. Über die ganze Insel verstreut liegen zahlreiche Dörfer und kleine Landstädte wie MONASTIRAKI und TYLISSOS. Die urbane Zivilisation Kretas wächst auf einer breiten Grundlage. Siedlung und Städtebau gewinnen schon früh den für Kreta typischen Charakter. Neben Hafensiedlungen entstehen Städte an landeinwärtsgelegenen Hügelflanken und auf dem Hochgestade. Geschützt gegen die Hitze der Küstenebenen, gegen Stürme und seismische Flutwellen, beherrschen sie die Handelswege in das Landesinnere und bieten einen weiten Blick auf das Meer. Mit Überfällen von See her rechnet man offensichtlich nicht, denn es finden sich kaum Spuren von Befestigungen. Im Laufe der Bronzezeit bildet sich der für Kreta charakteristische Stadttyp: die minoische Palaststadt. Ihr Gefüge ist eine Mischung aus durchdachter Planung und organischem Wachstum. Politisches., wirtschaftl. und kulturelles Zentrum ist der Palast des Königs oder Territorialfürsten (S. 140). Einige der Hauptstraßen laufen aus verschiedenen Richtungen auf ihn zu. Sie folgen den topographischen Gegebenheiten ohne festes Schema. Enge Gassen stellen zwischen ihnen die Querverbindungen her, am Hang oft als Treppenstraßen ausgebildet. Bei den größeren Städten wie KNOSSOS und MALLIA bildet sich um den Palast eine Kernstadt aus. Die Wohnviertel folgen mit ihrer netzartig dichten Bebauung der seit dem Neolithikum üblichen labyrinth. Siedlungsstruktur. Die Bürgerhäuser sind meist Wand an Wand aneinandergebaut und mit ihren Höfen ineinander verschachtelt. Ein anschauliches Straßenbild läßt sich aus Fayence-Täfelchen mit Hausdarstellungen gewinnen, die in Knossos gefunden worden sind.
An die Kernstadt schließen sich locker gefügte Quartiere der äußeren Stadt an. Der kretische Städtebau bevorzugt anstelle eines starren Ordnungssystems ein akkumulatives Wachstum nach den jeweiligen Umständen. Da Stadtmauern fehlen, können die Außenstädte zwanglos wachsen und sich mit Siedlungen im Vorfeld verbinden. Im Gegensatz zu den eingezingelten Städten im Vorderen Orient besteht eine stärkere Wechselbeziehung zwischen Stadt und Land, aber auch die Gefahr einer gewissen Formlosigkeit (wie im Städtebau des 19. und 20. Jh.). Die politische und wirtschaftl. Macht der Insel konzentriert sich immer mehr auf Knossos. Die Stadt entwickelt sich, 6 km von der Küste entfernt, auf einem 60 m hoch gelegenen Plateau. Hier kreuzen sich die zwei wichtigsten Straßen des innerkretischen Verkehrs. Die vorgelagerten Hafenstädte sind End- und Ausgangspunkte des traditionellen O-W-Handels und des ständig wachsenden Verkehrs mit dem griechischen Festland (MYKENAI), denn KNOSSOS ist die größte Produktionsstätte von Fertigwaren. Die Kernstadt um den Palast bildet ein Oval mit Achsenlängen von 600 und 1000 m. Ihr überwiegender Teil besteht aus Kleinbürgerhäusern mit Werkstätten und Läden in engen Gassen. Dazwischen stehen die Villen des Palastadels und einige wichtige öffentl. Gebäude, wie die »Karawanserei« (Gästehaus) und der »Kleine Palast«, der durch einen 200 m langen Plattenweg mit dem »Theater« am großen Palast verbunden ist. Um den Stadtkern wachsen die Vorstadtsiedlungen in einem Umkreis von 1500 bis 1800 m besonders im nördl. Vorfeld (Hafen) zu einer Außenstadt von weniger dichtem Gefüge zusammen. Die ausgedehnten Friedhöfe sind in Form reicher Nekropolen im Hügelgelände nach N, O und S angelegt. Die Einwohnerzahl wird (nach EVANS) für die Innenstadt allein auf ca. 12000, für die gesamte Stadt auf ca. 80000, für die Hafensiedlungen auf ca. 20000 geschätzt. KNOSSOS ist die erste Großstadt im Mittelmeerraum. Ähnlich wie KNOSSOS sind Mallia und Phaistos angelegt. Die kleineren Städte folgen dem Schema der Palaststadt in provinziellem Rahmen. Zu ihnen gehört Gurnia. Die Stadt liegt auf einem Hügelrücken nahe am GOLF VON MIRABELLO. Die ringförmig umlaufenden Hauptstraßen sind durch Treppenstraßen und Gassen miteinander verbunden. Stichstraßen erschließen nach Bedarf die einzelnen Quartiere mit jeweils 12 bis 20 Häusern (S. 138). Zentral auf einer Kuppe steht der kleine Palast; der öffentliche Platz liegt hier an seiner Südseite im Sattel zur nächsten Kuppe (kein Zentralhof). Im N mündet eine Stichstraße vor einer »Kapelle«. GURNIA entspricht in Anlage und Grundstruktur ganz dem Typ der Kleinstadt, wie er bis in das 20Jh. an den Küsten der Ägäis lebendig bleibt.
138 Ägäis/Typologie III: Wohnhäuser auf Kreta
Wohnräume H
| WJrtschafisräume
[^
| Straßen, Höfe, Lichthöfe
0
10m
Gurnia (siehe Typologie II, Gurnia/3)
Vassiliki
Tylissos: Wohnhausgruppe
Hausgruppen und Herrenhäuser der minoischen Zeit
Agais/Typologie III: Wohnhäuser auf Kreta 139 Unter den frühen Kulturen der Ägäis übernehrnen die Kykladen und Kreta die vielzellig-agglutinierentle Siedlungsstruktur des Vorderen Orients und passen sie an Topographie, Klima und eigene Vorstellungen an. Auf dieser Tradition entwickelt sich in Kreta schon im späten Neolithikum das eigene labyrinthische System als Grundlage der gesamten minoischen Architektur (S. 134). Beim Bau der Wohnhäuser werden die Grundelemente ohne starres Schema so kombiniert, wie es das jeweilige Programm erfordert. Vom Spätneolithikum bis zum Spätminoikum ist der Bau zusammenhängender Hausgruppen üblich (KNOSSOS, KEPHALI S. 134, GURNIA S. 136). Die ergrabenen Grundmauern zeigen den konstruktiven Zusammenhang durchlaufender Trenn- und Umfassungsmauern für mehrere Häuser. Das System bleibt stets beweglich, vermeidet eine starre Parzelleneinteilung (Ägypten, S. 110) und ermöglicht eine leichte Einfügung in das Gelände. Die Häuser passen sich in Grundriß und Baukörper dem natürlichen Bodenprofil an. Äußere und innere Treppen und Rampen gleichen die Differenzen der horizontal und vertikal gegeneinander versetzten Geschosse aus. Die Häuser werden meist zu den Windrichtungen orientiert. Für die Haupträume strebt man eine günstige Lage zürn Ostwind (Sommer) und Westwind (Winter) an. Hauseingänge nach N werden vermieden, wenn nicht ein Berghang oder die Nachbarhäuser Schutz bieten. Der beweglichen Außenform entspricht die innere Organisation. Schon die einfachen Häuser der Frühzeit zeigen die tangierende Erschließung: die Räume werden möglichst nicht in der Mittelachse oder diagonal durchquert, sondern seitl. längs einer Hauptwand betreten (Türen in den Raumecken). Die übrigen Wände werden nicht zerschnitten, die Bodenfläche liegt seitlich des inneren Durchgangsverkehrs. Auch bei kleinen Räumen und Häusern ohne Flure gewahrt dieses System eine optimale Nutzung. Die mittel- und spätminoischen Hauser werden aus Raumgruppen zusammengefügt, die jede für ihre spezielle Funktion geplant sind. Sie folgen den gleichen Prinzipien der Erschließung und Raumbildung wie die Häuser im ganzen. Aus allen Epochen der kret. Geschichte sind Fundamente und Mauerreste von Wohnhäusern ergraben. Sie zeichnen sich seit der Frühzeit durch individuelle Grundrißdisposition aus. In Khamaizi - nahe SITEIA - Hegt das Ovalhaus aus mittelminoischer Zeit. Seine für Kreta einmalige Form paßt sich dem Umriß einer felsigen Hügelkuppe an. Die sich aus dem Oval ergebenden Schwierigkeiten für die innere Einteilung sind mit den Elementen des minoischen Systems in überlegener Weise bewältigt. RadiaK geführte Mauern, Abrundungen an den Engstellen, hakenförmige Mauerendungen gliedern den
Grundriß in eine Gruppe mit Wirtschaftsräumen im O und zwei Gruppen mit Schlafund Wohnräumen im N und S des Lichthofes. Dieses Haus kann als Vorläufer der späteren Herrenhäuser angesehen werden, Etwa gleichzeitig entstanden ist eine Hausgruppe in Vassiliki. Die Häuser stehen am Hang gestaffelt übereinander. Äußere Treppen erschließen die Geschosse und verbinden gleichzeitig die Parallelstraßen miteinander. Öffentlicher und privater Verkehrsweg sind nicht voneinander getrennt. Ähnlich in der Grundanlage, aber flexibler in der Durchbildung sind die Bürgerhäuser in der kleinen Stadt Gurnia (S. 136). Ihre Mauerzüge aus spatminoischer Zeit stehen auf älteren Fundamenten. Die Hauptstraßen verlaufen parallel zum Hang. Treppenstraßfn und Freitreppen gleichen den Niveauunterschied aus. Die oberen Geschosse sind durch innere Treppen erreichbar, der Grundriß ist durchlässiger geworden, Überall in Stadt und Land stehen die Herrenhäuser. In diesen Villen der Oberschicht verschmelzen die Elemente der frühminoischen Häuser mit den Motiven der spatminoischen Palastarchitektur (S. 142). Ihre Einheitlichkeit beruht in der Verwendung gleicher Raumelemente, ihre Individualität auf deren phantasievoller Variation und Gruppierung. Die Gruppe der Herrenhäuser von Tylissos westl. von KNOSSOS besteht aus drei gut rekonstruierbaren Häusern dieses Typs, Das Haus A ist von einer für Kreta seltenen äußeren Geschlossenheit und erinnert an das Ovalhaus von KHAMAIZI. Die Häuser B und C zeigen die typische, bewegte Außenform, der die innere Disposition entspricht. Kern jedes der beiden Häuser ist eine Wohnraumgruppe mit »kretischem Megaron« und Lichthof. Im Haus C in W-O-Richtung angelegt, im Haus B zentral mit einer halb umlaufenden Säulenhalle und reicher Raumbildung. Den Wohnräumen sind die sogenannten »Pfeilerkrypten« zugeordnet, große Räume mit l oder 2 Stützpfeilern in der Mitte. Sie dienen wahrscheinlieh als Magazine für den Familienbesitz (wertvolle Handelsgüter, Wertgegenstände), Beide Häuser haben neben dem Eingang an der O-Seite eine Loggia, die beim Haus B besonders aufwendig angelegt ist. Die Schlaf- und Frauengemächer in den Obergeschossen dürften - besonders an den zweistöckigen Lichthöfen - den unteren Raumgruppen entsprechen, Ähnliche Land- und Stadtvillen sind u. a. in NIRU CHANI, VATHYPETRON, SKLAVOKAMPOS, AMNISOS freigelegt. In besonders großer Zahl umstehen sie den Palast von KNOSSOS. Bekannte Beispiele sind hier die sogenannte »königliche Villa« und der »Kleine Palast«, der möglicherweise aber kultischen oder rein repräsentativen Zwekken diente.Wohnkultur und zivilisatorischer Standard der spätminoischen Herrenhäuser wird erst wieder in den Villen des Hellenismus und der römischen Kaiserzeit erreicht.
140 Ägäis/Typologie IV: Minoischer Palast l
Erdgeschoß, System-Grundriß politisch-religiöse Repräsentation,
H Haupträume [^
l Nebenräume
|
j Wohnbereich, Haupträurne
[
l Nebenräume
l
| Wirtschaftsbereich
[_
] Hauptgangsystem
1_
l Höfe
1 Bankettsaal 2 Kulträume 3 königliche Wohnung 4 Archiv 5 Nordmagazine 6 Küche
7 Ostmagazine 8 Werkstätten 9 Westmagazine 10 Nordhöfe 11 Zentralhof 12 Zisternenhof
Rekonstruktion (nach Graham)
Der Palast von Mallia
Ägäis/Typologie IV: Minoischer Palast l Die Bronzezeit ist eine Zeit der AdelsherrSchäften. Überall an den Küsten der Ägäis bauen Territorialfürsten ihre Herrensitze und Burgen (S. 144/46). In Kreta entstehen in der mittl. Bronzezeit (Mittelminoikum) die im Mittelmeerraum einzigartigen minoischen Paläste. Ihre Geschichte ist eng mit dem Aufstieg Kretas zur Seemacht verknüpft. Arn Ende der frühminoischen Zeit teilen sich regionale Dynastien die Macht. Von einem ihrer Wohnsitze ist in Vassilikiein bedeutendes Fragment ergraben. In der um 2000 einsetzenden Periode der Älteren Paläste konzentriert sich die Macht an wenigen Punkten. Dort werden die großen Paläste errichtet: Knossos und Mallia im N, Phaistos mit HagiaTriada im S, Zakroim O der Insel. Die Paläste einiger Kleinstädte stehen zu ihnen wahrscheinlich in einem VasallenVerhältnis. Seit 1700 verlagert sich in der Jüngeren Palastzeit die Macht zunehmend auf Knossos. Seine Anlage wird beträchtlich erweitert. Die minoische Palastarchitektur erreicht ihren Höhepunkt, während die Macht Kretas allmählich schwindet. Um 1400 werden die Paläste endgültig zerstört. Aus der Führungsrolle der Könige in Politik, Wirtschaft und Religion ergibt sich die komplexe Funktion der Paläste. Sie sind politisches Zentrum: Regierungssitz des Königs oder Territorialfürsten mit der Staats- oder Regionalverwaltung, Schauplatz von Empfängen und Staatsakten, Gerichtshof, Staatskasse, Arsenal. Wirtschaftszentrum: Sammelstelle für binnenländische Erzeugnisse, teils für die eigene Versorgung, teils für den Export. Produktionsstätte für qualifizierte ErZeugnisse aus Landwirtschaft, Handwerk, Kunstgewerbe, Fernhandelszentrale, Markt und Tauschplatz für die Stadt und ihr Umland. Gesellschaft!. Zentrum: Königshof mit Adels- und Beamtengesellschaft, Spielen und Festen, fremden Gesandtschaften, Künstlern und Experten. Religiöses Zentrum: Sitz des Priesterkönigs, Stätte göttlicher Erscheinungen (Epiphanieglaube) mit Kulträumen, AItären, Opferhandlungen, kultischen Spielen im Palasthof und auf den Schauterrassen. Wohnpalast: Wohnsitz des Fürsten mit repräsentativen Privaträumen. Raumgruppen für Familie, Haushalt und Dienerschaft. In der Bündelung so vieler Funktionen liegt die Ursache für die Ausdehnung der Paläste und ihre komplizierte Organisation. Die Planung von innen nach außen folgt im großen Maßstab ähnlichen Grundsätzen wie beim Bau der Wohnhäuser und Siedlungen (S. 138). Zentrum der Anlage ist der Mittelhof, der nach Größe und architekton. Fassung einem öffentlichen Platz gleicht und auch dessen Funktion hat. Die einzelnen Gebäudegruppen sind nach ihren Zwecken geordnete, in sich selbständige Einheiten.
141
Sie stehen ursprünglich als getrennte Blöcke (Insulae) um den Zentralhof. Gassen stellen die Verbindung zur Stadt und zum Hafen her. Oft münden wichtige Straßen direkt in den Zentralhof oder einen der Außenhöfe (Westhof). Die überbauten Passagen, das innere Gangsystem und die selbständige Ausbildung der Teilblöcke bewahren noch in den späten Palästen die alte GrundStruktur. Da Befestigungen fehlen, kann der Palast relativ frei vom Palasthof nach allen Seiten wachsen. Die Teilbereiche werden nach Bedarf und Möglichkeit ergänzt oder ersetzt. Die großen Paläste sind in ihrem Aufbau Variationen eines gemeinsamen GrundSchemas. Das Vorbild für Gesamtdisposition, innere Organisation (S. 142) und Stilbildung (S. 132) scheint Knossos zu sein. Die Grabungsbefunde überliefern meist das Bild der jüngeren Paläste, Im Palast von Mallia scheint die Grundanläge des älteren Palastes in wesentlichen Zügen erhalten zu sein. Er steht inmitten der offenen Palaststadt auf einem flachen Hang oberhalb der fruchtbaren Küstenebene. Im Vergleich mit KNOSSOS und PHAISTOS ist er kleiner und einfacher, in der Architektur nüchterner und rustikaler, in der Gliederung übersichtlicher. Der rechteckige Zentralhof von ca. 22 x 50m ist wie üblich N-S-orientiert. Der südl. und östl. Haupteingang sind als kurze, offene Gassen zur Stadt angelegt, der nördl. führt mehrfach abgewinkelt durch Nebenhöfe und Säulenhallen. Um den Zentralhof liegen alle Raumgruppen mit öffentl. Funktionen. Ihre Fassaden zum Hof sind, mit geraden Fluchten, teilweise als zweigeschossige Säulenhallen und Loggien ausgebildet. Die umfangreichen Nord- und Westflügel dienen der Staatsrepräsentation, dem Kult und den Regierungsgeschäften. Die Hofseite des Nordflügels wird von Räumen für Empfange und Gastmähler eingenommen (Bankettsaal). Der zugehörige Küchentrakt schließt sich im O an. Der Westflügel besteht im Erdgeschoß aus einer Folge von Räumen für den Staatskult. Zwischen ihnen führt eine Prachttreppe zum Obergeschoß mit den Repräsentationsräumen. Sie wiederholen wahrscheinlich in einfacher Form die Disposition von KNOSSOS (S. 142). Im Winkel zwischen N- und W-Flügel ist geschickt die fürstliche Wohnung eingeschoben. Ost- und Südflügel sind einfacher in der Anlage und weniger umfangreich. Sie dienen offenbar der Verarbeitung und Lagerung von Landprodukten (Ölmühle) und Gebrauchsgütern. Die umfangreichen Magazine sind gruppenweise den Haupträumen zugeordnet: die Westmagazine als größte Gruppe den Staatsräumen, die Ostmagazine den Werkstätten und dem Markt, die Nordmagazine der fürstl. Hofhaltung. Eine BeSonderheit stellt in Mallia der Zisternenhof im S mit 8 großen Rundbehältern dar.
142 Ägäis/Typologie V: Minoischer Palast 2
r 1 politisch-religiöse Hell Repräsentation politisch-gesellschaftliche
H Repräsentation, Hauptwohnräume
_| Nebenwohnräurne |
^\ Magazine, Wirtschaftsräume
|
^ gedeckte Gänge, Treppen
i l
1 Höfe, offene Gänge. —' Dachterrassen,
Ostflügel, Wohnung des Königs
Das große Labyrinth: der Palast von Knossos
Ägäis/Typologie V: Minoischer Palast 2 143 Der Palast von Knossos übertrifft die anderen kretischen Paläste an Ausdehnung (22000 qm), Bauvolumen und politischer Bedeutung. Er ist ihnen auch in der Planung und dem Reichtum an Raumbildungen überlegen. Der ergrabene Bestand umfaßt wesentl. Teile der Untergeschosse aus spätminoischer Zeit. Die Rekonstruktion der Obergeschosse durch A. EVANS ist teilweise umstritten. Der Gesamtkomplex ist in der übl. Weise (S. 140) um den rechteckigen Zentralhof aufgebaut. Der ausgedehnte Westflügel umfaßt die Raumgruppen für den Kult und die Staatsrepräsentation. In den Ostflügel wird, abweichend von anderen Palästen, die Königswohnung eingebaut. Der Westflügel besteht aus 4 Haupt-Raumgruppen, zusammengewachsen aus getrennten Baublöcken des alten Palastes. Vom ursprünglichen System der Erschließung sind die nördl. (l 1) und die südl. (9) Gasse zum Zentralhof (10) erhalten. Beim jüngeren Palast wird der Südteil mit einem komplizierten Gangsystem umbaut (2-7). Mit seiner Hilfe können die Besucher von verschiedenen Ankunftspunkten zu allen wichtigen Stellen im Palast dirigiert werden. Einer dieser Wege beginnt im Westhof (1). Vom Westpropylon steigt der sogenannte Prozessionskorridor (3) rampenartig an, knickt scharf ab und erreicht längs der Südseite entweder die Passage zum Zentralhof (9) oder das seitl. liegende innere Propylon. Von der Stadt her überquert ein zweiter Weg auf einer Steinbrücke die VLYCHIASCHLUCHT (S. 136) und steigt in einer aufwärts gestaffelten Säulenhalle (stepped portico 4) zum SW-Propylon auf. Durch den Südkorridor erreicht er den wichtigen Knotenpunkt am alten Südpropylon (7) und über die Passage (9) den Zentralhofoder über die seitl. Treppe die Südgalerie (21). Sie bildet in 2 Stockwerken die Stirnseite des Palastes und gewährt Aussicht über Stadt und Landschaft. Die Parallelführung der Gänge auf mehreren Ebenen ermöglicht die Regie eines umständlichen, feierlichen Zeremoniells für Gesandtschaften, Prozessionen, Tributdelegationen. — Wichtigster Ziel- und Knotenpunkt in diesem Labyrinth ist das innere Propylon mit der mehrstöckigen Treppenhalle (18, 19, 20). Allen Anzeichen nach ist es bei einem Neubau in den Bestand des älteren Palastes eingebaut worden. Seit!. Türen verbinden es im Erdgeschoß mit den Kult- und Repräsentationsräumen am Zentralhof (14, 15) und dem westl. Magazintrakt (17). Im Erd- und im Obergeschoß sind flankierende Raumgruppen für Bewachung, Bewirtschaftung und Bedienung angeordnet (16, 32). Das Treppenhaus (19) eröffnet die Folge der Repräsentationsräume im Obergeschoß. Ein 2. großes Treppenhaus (12) steigt zu ihnen vom Zentralhof auf (S. 132). Mehrere interne Treppen (35) stellen die Verbindung zum 2. Obergeschoß her. Eine Freitreppe im NW mit oberem Vestibül und Säulen-
saal ist nicht sicher nachgewiesen. Eine Gruppe von Festsälen bildet den Schauplatz der Staatsrepräsentation. Der Vorhalle (22) hinter dem südl. Treppenhaus folgt der zentrale Pfeilersaal mit zwei Stützenreihen (23). Er wird seitl. durch einen kleineren Saal in Form eines kretischen Megarons (S. 134) ergänzt (24). Ein ähnlicher Raum liegt seit!, des Treppenhauses (25). Beide haben Ausgänge zu der oberen Galerie am Zentralhof (26). Von dort kann die Hofgesellschaft an festl. Veranstaltungen wie den berühmten Stierspielen teilnehmen. Drei kleinere, in sich geschlossene Raumgruppen mit Dachterrassen scheinen intimeren Gesellschaften vorbehalten (27, 28, 29). Die Räume westl. des offenen Längskorridors über dem Magazintrakt dienen wahrscheinlich als Bankettsäle (30, 31). Die kunstvolle Gruppierung repräsentativer Räume wiederholt sich im Ostflügel mit der Königswohnung. Von einem Magazinflügel nach N abgeschirmt, öffnet sie sich nach O und SO über das KAIRATOS-TAL. Von den mindestens vier Geschossen sind die beiden unteren in den Abhang hineingebaut. Sie bestehen jeweils aus zwei gegeneinander verschobenen Raumgruppen. Jede von ihnen hat ein kretisches Megaron zum Mittelpunkt. Das größere (1), die »Halle der Doppeläxte«, dient als »Megaron des Königs« dem repräsentativen Wohnen. Der zentrale P'feilersaal (S. 132) ist nach 3 Seiten geöffnet: Nach W zur Vorhalle mit Lichthof, nach O und S zu Säulenhallen mit einer im Winkel herumgeführten Terrasse. Die Raumgruppe um den kleineren Pfeilersaal, das »Megaron der Königin« (2) mit seitl. angeschlossenem Schlafzimmer hat den Charakter einer Privatwohnung. Sie wird durch Lichtschächte mit Licht und Luft versorgt, schließt sich aber gegen die Außenwelt sorgfältig ab. Beide Raumgruppen sind als selbständige Einheiten gebaut. Untereinander sind sie durch einen gewinkelten Flur, mit den gleichartigen übrigen Geschossen durch zwei interne Treppen (3) verbunden. Weitere Flure und Nebenräume, unter ihnen das »Klosett mit Wasserspülung« (4) ergänzen die Wohnappartements, Das Haupttreppenhaus (5) dient als repräsentative Eingangshalle am Zentralhof und erschließt in mehrstöckigem Aufbau alle Geschosse dieses Flügels unabhängig von den internen Treppenverbindungen. Sein Aufbau mit zweiläufiger Treppe, Lichthof und umlaufender Galerie mit Säulenstellung ist im Reichtum seiner Raumbilder für die Antike einzigartig und erscheint wie ein Vorgriff auf die großen Treppenhäuser des Barock (S. 56 u. Bd. II). Nachahmungen, wie in MYKENAI (S. 54), bleiben in bescheidenem Rahmen. In den Raumdispositionen von Westflügel und Königswohnung kommt das minoische Architektursystem zur vollen Entfaltung seiner Möglichkeiten. In seiner Vielfalt und Differenzierung übertrifft es die gleichzeitigen Hochkulturen ebenso wie die folgende griechische Antike.
144 Ägäis/Typologie VI: Burgstädtc des Festlandes
P
j Palast- und Grabbauten
l | Hauptwohnräume i—i Wohn- und Wirtschafls1 ' räume, Stadigebiet |
| Höfe, Straßen
Troja: Burghüge! 1 großes Megaron 2 Vorhof 3 inneres Propylon 4 Burgmauer 5 Südost-Propylon 6 Südwest-Propylon 7 Gebäudegruppen \ _ . 8 Stadtmauer / ' r°f
Thermi V: Wohnviertel an der Stadtmauer
1 Palast 2 Kyktopenmauer 3 Löwentor 4 Gräberrund A 5 Gräberrund B 6 Kuppelgrab »Schatzhaus des Atreus« 7-lKuppel111 gräber 12 hellenistische Stadtmauer 13 Wohnhäuser 0
Mykenai: die Akropolis über der Unterstadt
Das Megaron als Grundelement. Die Burg als Stadtkrone
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(O O3 O um den durch den Theaterbesuch verursachten Verdienstausfall auszugleichen. Schauplatz der Spiele wird, ähnlich wie anderswo, das Heiligtum des DIONYSOS (am Südosthang der Akropolis). Die Form des griechischen Theaters entsteht aus der Aufführungspraxis. Als Spielfläche dient die Orchestra, der kultische Tanzplatz vor dem Tempel des Dionysos mit dem Altar in der Mitte. Auf ihr agiert der Chor mit Gesang und Tanz, bei den Dramen der klass. Zeit auch als Sprechchor, der Volksmenge und »Volksstimme« darstellt. Der bei dramat. Aufführungen störende Altar wird im Lauf der Zeit an den Rand der Orchestra verschoben, später mit dem Tempel ganz vom Spielplatz getrennt. Ein leichtes Holzgerüst, die Skene, grenzt die Orchestra gegen die freie Rückseite ab und deutet den Ort der Handlung für die einzelnen Auftritte an. Zunächst für jedes Spiel erneuert, wird sie später durch eine dauerhafte Holzkonstruktion mit Bühnenwand und versetzbaren Elementen abgelöst. Ein wahrscheinl. zeltartiger Hinterbau dient den Spielern zur Vorbereitung der Auftritte. Steinerne Bühnengebäude entstehen erst Ende des 4. Jhs. Der Zuschauerraum, die Cavea (griech. Theatron), umschließt anfangs meist polygonal (Trapez), später halbkreisförmig mit ansteigenden Plätzen die Orchestra. Nach schlechten Erfahrungen mit Holztribünen (wie in Athen) verlegt man die Theater möglichst an Berghänge. Eine ausgehobene Mulde begünstigt die Anlage ansteigender Stufenringe. Sie ermöglichen eine gleichmäßige Sicht von allen Plätzen und bewirken die vorzügliche Akustik. Das Theater von Thorikos in Attika bewahrt viel von der charakteristischen Form der Frühzeit. Die rechteckige Terrasse der Orchestra wird seitl. von dem kleinen Dionysos-Tempel und den ihm gegenüberliegenden Altar, zur freien Talseite hin von einer niedrigen Mauer begrenzt. Keine Spur von einem Bühnengebäude. Die Cavea ist korbbogenförmig aus dem Hang ausgehoben, seitl. durch Stützmauern gesichert und durch zwei gerade, von der Orchestra aufsteigende
Treppen erschlossen. Eine spätere Erweiterung legt sich als gleichartiger Ring über den alten. Die Idealform des Theaters erreichen die Griechen durch Konzentration auf die Hauptelemente und deren Geometrisierung. Um 420 wird in ATHEN die Orchestra aus dem Zusammenhang mit Tempel und Altar gelöst und eine konzentrische Anlage geschaffen. Der Ausbau in Stein zieht sich seit der Zeit des PERIKLES fast über ein Jahrhundert hin und kommt erst 330 unter LYKURGOS zum Abschluß. Dem Prototyp des Athener Dionysos-Theaters folgen Theaterbauten in der ganzen griechischen Welt. Sie unterscheiden sich nur in Einzelheiten. Das im 3. Jh. erbaute Theater von Epidauros wird schon in der Antike wegen seiner Vollkommenheit gerühmt (PAUSANIAS). Um eine kreisrunde Orchestra von 20-30 m Durchmesser baut sich das Theater in geometrischer Regelmäßigkeit auf. Dem Konstruktionsschema liegt ein regelmäßiges Fünfeck zugrunde, das dem Kreis der Orchestra umschrieben ist. Die Grundseite liegt genau in der Flucht des Proskenions. Die Einteilung der älteren Cavea folgt mit ihren 12 Segmenten (Kerkides) einem aus dem Fünfeck entwickelten Zwanzigeck. Von jeder Ecke steigen radial geführte Erschließungstreppen auf. Mit je einem Segment greift die Cavea an beiden Seiten über den Halbkreis hinaus. Er wird dadurch zur Skene hin leicht elliptisch ausgeweitet. Die 34 Stufenringe umfassende Cavea wird in einer späteren Baustufe um 20 Ringe erweitert. Ein rnittl. und ein oberer Gürtelring (Diazoma) erschließen beide Teile. Hinter der Orchestra schließt, wie in allen Theatern seit der klass. Zeit, ein zweigeschossiges Skenengebäude das Theater ab. Es Öffnet sich für die Auftritte der Schauspieler zur Orchestra mit Türen im Erd- und im Obergeschoß. Eine vorgelegte jon. Säulenhalle, seitl. von den risalitartigen Paraskenien begrenzt, dient als Proskenion. In die Säulen können Kulissenbilder (Pinakes) eingeschoben werden. Von den seitl. Durchgängen (Parhodoi) führen Rampen auf das flache Dach der Halle, das sich zu einer Art Oberbühne entwickelt. Um auf sie eine bessere Sicht zu haben, werden die Ehrensitze vom Rand der Orchestra in die l. Reihe der neuen Cavea verlegt (1. Rang). Das Theater von EPIDAUROS ist wie die meisten anderen in den Hang gebaut, nur im unteren Bereich benötigt es Stützmauern. In der Verschmelzung der geometr. reinen Kunstform mit der freien Landschaft erreicht die griech. Architektur im Theaterbau eine Gegenposition zum Tempel mit seiner Autonomie gegenüber der Natur. Der in Griechenland gefundene Typ des Theaters findet im Lauf von mehr als 2000 Jahren viele Nachfolger, zunächst im röm. Weltreich (S. 238), seit der Renaissance überall in Europa. Seine Idealform wird nicht wieder erreicht.
202 Hellas/Wandlungen und Wirkungen der griech. Architektur Eine wesentl. Ursache für die Vollkommenheit der griech. Architektur liegt in der Beschränkung auf wenige Typen und Formen. Zu Beginn der archaischen Zeit erreicht die Entwicklung den für den weiteren Verlauf entscheidenden Punkt: den Ringhallentempel (Peripteros) als griech. Form des repräsentativen Sakralbaues. Die großen früharchaischen Holzbauten zeichnen sich durch die fast völlige Einheit von Konstruktion und Form aus. Sie geht beim Übergang zum monumentalen Steinbau teilweise verloren. Die aus den hölzernen Stützenkonstruktionen hervorgehende dorische und jonische Ordnung sichern dem Baukörper jedoch die Einheit der Form. Wichtiger als die Erfindung neuer Formen sind die richtigen Proportionen. Ihre Verschiebungen kennzeichnen die stillst. Entwicklung. Sie führt in der Klassik zum völligen Gleichgewicht zwischen den gegensätzl. Formelementen. Die von ihnen verkörperten Kräfte sind nicht kosmisch oder transzendental (wie z. B. in Ägypten), sondern ausschließlich tektonisch. Die Logik der griech. Architektur, auch dort, wo sie die alten konstruktiven Bindungen aufgibt, beruht in der Ablesbarkeit der Funktionen. Tragen und Lasten, Stehen und Liegen werden sichtbar ohne allegor, oder symbol. Assoziationen. Mauer, Stütze, Gebälk und Dach bleiben immer, was sie sind. Die Autonomie des Baukörpers - seit der Frühzeit im Megaron verkörpert - bleibt jahrhundertelang ein herrschendes Prinzip der griech. Baukunst. Sie konzentriert sich unter dem Vorrang des Sakralbaues auf die Durchbildung des Einzelgebäudes. Größere Planungen führen stets zu einer freien Ordnung selbständiger Baukörper. Ihr räumliches Verhältnis untereinander wird nicht von einem all gemein verbindl. Anlageschema geregelt, sondern individuell vom Volumen der Gebäude und den dazu passenden Abständen, ferner von den traditionellen und topograph. Gegebenheiten des jeweiligen Ortes bestimmt. Jedes wichtige Gebäude erhält seine eigene Stand~ebene. Nach Möglichkeit wird die natürl. Terrassierung des Geländes genutzt, um durch Staffelung der verschiedenen Ebenen das Zusammenspiel der Baukörper in der Gruppe zu differenzieren. Nötigenfalls werden Terrassen aufgeschüttet. Durch einheitl. Orientierung der Hauptbaukörper (parallele Firstlinien) wirkt die dem Megaron innewohnende Kraft des Richtungsbaues über den Einzelbaukörper hinaus und bestimmt als einer der wenigen Ordnungsfaktoren den Gesamteindruck einer Gebäudegruppe. Die freie Gruppierung kommt besonders in den großen Heiligtümern, teilweise auch in den städt. Zentren zur Geltung. Als tragendes Prinzip für den Städtebau ist sie ungeeignet; in den dichtbebauten Stadtvierteln fehlen für sie die Voraussetzungen. Gegen die dort übliche regellose Verschachtelung des »freien Wachstums« setzen sich
in vielen Städten die regelhaften Systeme mit ihrem rechtwinkligen Schematismus durch. Diese rein flächenhaften Raster funktionieren als rationale Erschließungs- und Ord nun gssy steine. Sie enthalten keine aktiven Elemente für die Raumbildung, die seit der Klassik in Architektur und Städtebau in gleichem Maße an Bedeutung zunimmt wie die Bereiche des kommunalen und privaten Lebens. Wohnhäuser, Kommunalbauten, Theater und öffentl. Plätze brauchen in erster Linie Raum mit großen Nutzflächen. Entscheidende Beiträge zur Ausbildung und Beherrschung des Raumes gehen nicht vom Sakralbau, sondern vom Profanbau aus. Es gelingt den griech. Architekten, nach dem Höhepunkt der Sakralarchitektur in der Klassik auch im Profanbau vorbildliche Gebäudetypen zu schaffen. Das Theater stellt eine räuml. Konzentration im freien Naturraum dar. Sein Prinzip, die konzentrisch um das Aktionszentrum angeordnete Versammlung, wird auf die Innenräume vieler Versammlungsgebäude übertragen. Kühne Dachkonstruktionen überspannen frei die großen Säle. Im Städtebau entwickeln sich die Säulenhallen zu einem wirksamen Element. Ihre immer länger werdenden, oft zweigeschossigen Fluchten ermöglichen Straßen- und Platzwände mit großzügiger und eindeutiger Linienführung. Mit dem Typ der heilenist. Agora entstehen zum erstenmal klar begrenzte Plätze in den griech. Städten. Im Hellenismus bringen neue Bautypen und Baukomplexe einen erheblichen Aufschwung der Bautechnik mit sich. Gleichzeitig verhelfen sie den Tendenzen zum Durchbruch, die die bis zur Klassik gültigen und von dieser in höchster Vollendung verwirklichten Prinzipien ganz oder teilweise abbauen. Kennzeichnend ist z. B. die bereits mit der »attischen Klassik« einsetzende Anwendung der bisher nur getrennt auftretenden verschiedenen Säulenordnungen am gleichen Bauwerk. Der sich ausbreitende Eklektizismus bedeutet einerseits den Verfall der klass. Ordnungen, andererseits die Befreiung aus drohender Erstarrung, die besonders im konservativ-dorischen Bereich eintritt. Der am Sakralbau entwickelte Formenkanon wird verselbständigt. In seinen Proportionen frei von Bindungen an einen Gesamtbaukörper, kann er bei den neuen Bautypen flexibel und frei verfügbar eingesetzt werden, um die beabsichtigte Wirkung an der vorgesehenen Stelle hervorzubringen. Mit dem Hellenismus verstärken sich die internationalen Wirkungen der griech. Architektur: zunächst auf die Baukunst des röm. Reiches, über diese auf die frühchristliche. Noch in der got, Kathedrale erinnern Profile wichtiger Bauteile an den griech. Formkanon. In Renaissance, Barock und Klassizismus bestimmt er Gliederung und Dekoration von Architekturen, die sich weit von den Voraussetzungen der originalen griech. Baukunst entfernt haben.
Rom/Machtpolitik, Organisation, Zivilisation Ende des ö.Jhs. befreien sich die Römer von der ICönigsherrschaft und der Vormundschaft der Etrusker. Die unaufhörliche Expansion des Stadtstaates ROM beginnt. In konsequenter Machtpolitik werden die ital. Stämme durch Bündnisse oder Gewalt »befriedet«, Etrusker und Griechen etappenweise niedergerungen, ihr Potential nutzbar gemacht, ihre Kultur aufgenommen. In langen Jahrhunderten wird Italien romanisiert. Der Sieg im weltpolit. Entscheidungskampf gegen KARTHAGO öffnet in der 2. Hälfte des 3.Jhs. den Weg ins Mittelmeer. Zu Beginn des l.Jhs. v. Chr. unterstehen dem Imperium Romanum große Gebiete an den überseeischen Küsten als Provinzen. Die Eroberung Galliens durch CAESAR erschließt Westeuropa. AUGUSTUS und seine Nachfolger schieben die Grenzen bis Britannien, an Rhein, Neckar, Donau und Euphrat vor. Unter TRAJAN [98-117 n. Chr.] erreicht das röiru Weltreich seine größte Ausdehnung. Seit HADRIAN konzentrieren sich die Kräfte auf die Konsolidierung und Organisation, seit Mitte des 2.Jhs. immer mehr auf die Verteidigung. Im 3. und 4.Jh. nimmt der Druck auf die Grenzen ständig zu. Grenzkriege, Wirtschaftskrisen, Dezimierung der Bevölkerung führen zum Niedergang. DIOKLETIAN versucht seit 293 mit der Reichsreform durch Dezentralisierung von Herrschaft und Verwaltung (Tetrarchie) der wachsenden Gefahr zu begegnen. Rom büßt seine zentrale Funktion ein. 330 erhebt KONSTANTIN Konstantinopel zur östl. Hauptstadt. Nach dem Tod THEODOSIUS' I. (395) wird die Teilung des Reichs vollzogen. Im 5.Jh. zerbricht das weström. Reich in der Völkerwanderung. Staatsform und Verfassung bleibt bis Ende des l.Jhs. v. Chr. die Republik. Gegen die im Senat institutionell organisierten Patrizier erkämpft sich die unterdrückte Mehrheit der Plebejer in den zwei Jahrhunderte währenden Ständekämpfen die rechtl. und soziale Gleichstellung in der neuen Führungsschicht eines Beamtenadels, der Nobilität. Die Konsulatsverfassung regelt die polit. Laufbahn und hindert den Machtmißbrauch. Diese »klassische Republik« bewährt sich in den großen außenpolit. Entscheidungen, ist aber den neuen inneren Spannungen nicht gewachsen. Die ständige Kriegführung mit der Verödung des Landes führt zur Wirtschaft!, und sozialen Umschichtung. Ihre verhängnisvollen Folgen sind Bildung von Großkapital, Großgrundbesitz und Sklavenwirtschaft einerseits, Landflucht und Großstaatproletariat andererseits. Die nötigen Reformen scheitern. Der Ständestaat, zum sozialen Ausgleich unfähig, geht in Bürgerkrieg und Diktatur zugrunde. Bei ständiger äußerer Expansion erreicht diese Entwicklung mit der Ermordung CAESARS 44 v. Chr. den Wendepunkt. Unter OCTAVIANUS AUGUSTUS wird 23 v. Chr. der Staat zur Monarchie. Ihre Formen wechseln. Unter dem Prinzipal: entwickelt sich seit
203
Augustus ein zentralisierter Beamtenstaat, in dessen Rängen und Laufbahnen die alten Gesellschaftsklassen ohne faktische Machtbeteiligung weiterbestehen. 212 erhalten alle freien Einwohner des Reiches das röm. Bürgerrecht. Die Reichsreform DIOKLETIANS schafft im 4.Jh. mit dem Dominat den reinen Untertanenstaat mit dem Kaiser an der Spitze einer Beamtenhierarchie über der großen Masse der Bevölkerung, den Subiecti. Entscheidender Machtfaktor während der ganzen Kaiserzeit bleibt das stehende Heer. Die Organisation des Weltreiches beruht in der Republik auf dem Wechsel in der Ämterlaufbahn. Durch ihn stehen für den Staat immer erfahrene Kräfte aus der polit. Führungsschicht bereit. Seit der Heeresreform des MARIUS tritt das stehende Heer als Organisator. Faktor immer stärker hervor. Ein System von Landstraßen, Militär- und Versorgungsstützpunkten und Veteranenkolonien sichert die Provinzen. Das Kaiserreich baut dieses System bis zur Perfektion aus und verbindet es mit dem Aufbau der zivilen und militär. Bürokratie, deren oberen Ränge ineinander übergehen. Die Wirtschaft ist in der frühen Republik Naturalwirtschaft. Ihre Grundlagen, Bauerntum und Handwerk, werden seit dem 2.Jh. immer mehr von der Latifundienwirtschaft, privaten und staatl. Manufakturen zur Herstellung von Massengütern bei gleichzeitigem Ausbau des Finanzwesens abgelöst. Bei zunehmender Ausdehnung des Reiches entstehen selbständige Wirtschaftsräume mit Schwerpunkten der Erzeugung, z. B. öl und Getreide in Afrika, Eisen in Noricum, Zinn in Britannien. Auf dem System der strateg. Straßen und der absoluten Seeherrschaft sorgt ein leistungsfähiger Fernhandel für die Verteilung der Erzeugnisse. In der Spätzeit müssen die Kaiser teilweise zur Zwangswirtschaft übergehen (Kolonat, Korporationen). Auf der militär. Sicherheit, der hochentwickelten Technik und der Wirtschaft!. Prosperität entwickelt sich die umfassende römische Zivilisation. Sie strahlt von der Hauptstadt auf die Provinzen aus. Andererseits erhält Rom von dort bedeutende Impulse, vor allem aus Griechenland und dem hellenist. Osten. Zum erstenmal zeichnet sich unter dem IMPERIUM ROMANUM eine vom Mittelmeerraum ausgehende, einheitl. europäische Kultur ab. Architektur und Städtebau folgen zunächst etrusk. und griech. Vorbildern. Seit dem 2.Jh. entwickeln sich eigene Bautypen, in denen sich zweckbestimmte Konzeption, neue Bautechnik und repräsentative Gestaltung miteinander verbinden. Podientetnpel, Basiliken, Thermen, Theater bilden die beherrschenden Baugruppen um die hallengesäumten Plätze (Fora) der röm. Städte. Ihr Ordnungssystem, das Schema des Castrum Romanum, bestimmt noch im 20.Jh. den Charakter vieler Städte in Europa und im Vorderen Orient.
3
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Größte Ausdehnung des Reiches untet Trajan
Rom / Zeittafel 205 um um um um
2000 900 800 750
Einwanderung der ita ischen Stämme Etrusker an der Küste des Tyrrhenischen Meeres Beginn der phönik. Kolonisation. Gründung Karthagos Beginn der griech. Kolonisation in Süditalien und Sizilien
um 800
Etrusk. Städtebünde
Stadtmauern, Nekropolen
Metallbearbeitung Schiffbau, Schrift
um 600
Etrusk. Kolonisation
Regelhafter Städtebau Podiumtempel
Terrakotta-Plastik Wandbilder
röm. Frühzeit um 1000 8.-6. Jh.
Latiner und Sabiner Stadtbüdung Etrusk. Königtum
Rund- und Ovalhütten Cloaca Maxima Forum Romanum
Etrusk« Kunst und Künstler in Rom
Republik 5. Jh.
Vorherrschaft io Latium Zwö!ftafelgesetz
Tempel für die Schutzgötter Atriumhaus
Kunstimport aus Etrurien und Großgriechenland
;i*Jh,
Vorherrschaft in Italien Konsulatsverfassung
Servianische Mauer. Via Appia Aqua Claudia
Wandmalerei, Großplastifc Hellenisierung
j3.Ä.
Panische Kriege, Vorherrschaft im Mittelmeer
Städtebau, Schema des Castrum Romanum
Porträtpiastik Theater und Gladiatorenspiete
*!?,a.
Innere Unruhen Kimbern und Teutonen. Stehendes Heer
Steinerne Brücken, Basiliken in Rom Peristylhäuser
Geschiclitsschrelbung, Literatur Wandmalerei: l . P om p e j an . Stil
jjji.a,
Expansion nach O and W (Gaflien) Bürgerkriege: SsHa, Caesar (t 44), Augustus
Gußbetontechnik, Höhenheüigtümer, Theater und Amphitheater. Caesar-Forum
Cicero, Sallust, Horaz, Yorgä, Wandmalerei: 2. Pompejan. Stil
Prinzipal, Beamtenstaat Germanenkriege Flav. Dynastie
Augustus-Fonwn Großthermen, Miethäuser, Paläste Colosseum
Augusteischer Kla ssi z i s mu s , L i v i u s, Seneca, Tacitus Die 4 Evangelien
!2.Jh,
Größte Aasdehnung des Reiches Trajan, Hadrian
Trajansforum und -thennen, Pantheon
Kirchenväter Realist. Porträts Trajans-Säule
p.Ä.
Sever. Dynastie Bürgerrecht an alle Provinzen Soldatenkaiser Reidisreform Christenverfolgungen
Städtebau im O und in Afrika Großthermen Zentralbauten : Maxent i us-Basilika Kaiserpaläste
Neuplatonismus, christl. Literatur Steinmosik Kolossalplastik
Konstantin. Edikt v. Mailand Reichsteilung
Cferistl. Kirchen Landmauer v. Konstantinopel
Mönchtum. Konzil von Nicäa. 391 Christentum Staatsrel.
5. Jh. 476
Völkerwanderung Ende des weström. Reiches
Kirchenbau in allen Provinzen
Glas- und Goldmosaik. Spiritualisierung der Kunst
6. Jh.
Justini an, letzte Erneuerung der Reichseinheit
Großkirchen in Konstantinopel Hagia Sophia
Corpus Juris Sonderentwicklung der byzantin. Kunst
27 v. Oir. Kaiserreich 3L ßt. a. Chr. :v
|#.Ä. 395
206 Rom/Bauformen I
dorisch-tuskische Ordnung
römisch-korinthische Ordnung a Profilschnitt b Ansicht c Untersicht
etruskischer Torbogen in Ferentinum
Palmyra römische Bogenquaderung
Säule und Bogen als Grundelemente
Orange
Rom/Bauformen I 207 Säule und Bogen sind Ausdruck verschiedener formaler Auffassungen und Konstruktionsprinzipien, die durch den Baustoff bedingt sind. Säule und Architrav stammen aus dem Holzbau. Aus horizontalen Balken, vertikalen Stützen (S. 34) und ihren Verbindungselementen entstehen die verschiedenen Säulenordnungen. Im Gegensatz zu Hellas hält Italien unter dem Einfluß der Etrusker einige Jahrhunderte länger am altertüml. Zimmermannsbau fest. Die tuskische Ordnung nimmt Anregungen der dor. Architektur auf, erreicht aber nicht ihre monumentale Klarheit. Die unkannelierten tusk. Säulen stehen auf einer Basis, die meist aus Platte und Wulst (Plinthe und Torus) besteht. Die Kapitelle wandeln das dor. Vorbild in verschiedenen Varianten ab. Zu den beiden Hauptgliedern, Deckplatte (Abakus) und Polster (Echinus) treten vermittelnde Profile. Sie geben der Säule einen schmuckhaften Charakter, vermindern aber die tekton. Ausdruckskraft. Die Römer setzen diese Form in Stein um, ohne die Holzbauproportionen wesentl. zu ändern. Immer mehr übernehmen sie die griech. Säulenordnungen. In der Republik ist die dor., im Kaiserreich neben der jon. vor allem die korinth. Ordnung beliebt. Die Vielfalt der frühen griech. Kapitelle weicht einem Grundtyp, der bei annähernd gleichen Proportionen verschiedene Varianten der Blattkränze und des Ornaments zuläßt. Neben den fein gefiederten und gerippten Akanthusblättern ist eine glatte, geschlossene olivenblattähnl. Blattform typisch. Die geschmeidige, vegetabile Form des korinth. Kapitells verbindet sich gelegentlich mit Elementen des jon. Kapitells oder figürl. Ornament zu Kotnpositkapit eilen. Die Säulen auf kleinasiat. oder attischer Basis sind meist nach jon. Art schlank aufstrebend und eng und tief kanneliert. Bei einigen Bauten bleibt jedoch der Schaft glatt und hebt sich durch kontrastierendes Material (färb. Marmor, Porphyr, Granit) vom Hintergrund ab. Der Bogen dient der stützenlosen Überspannung von Öffnungen im Mauerwerk. Seine konstruktive Logik verbindet sich mit starker Ausdruckskraft. Sie beruht auf dem Kontrast zwischen geschlossener Mauer und Öffnung und auf der geometrisch klaren Form des Halbkreises. Die röm. Architektur verwendet im großen Umfang massives Mauerwerk. Bei der Entwicklung eines homogenen Massenstiles sind Bogen und Gewölbe die konstruktiv wichtigen Elemente. Aus dem Nutzbau übernehmen die Römer den Bogen in die Repräsentationsarchitektur, soweit sie nicht sakralen Charakters ist. Entscheidend für Stabilität und Ausdruckskraft ist die Einfügung in den Mauerverband. Die Etrusker verwenden zur Druckverteilung oft den verdoppelten Bogen. Beide Bögen aus mäßig großen, keilförmigen
Steinen steigen als konzentrische Halbkreise vom gleichen Auflagerpunkt auf. Die konstrukt. vorteilhafte Verbreiterung erhöht auch die ästhetische Wirkung der Bogenstirn; sie setzt sich im Mauerverband als eigenes Element durch. Die Römer entwickeln die Technik des Steinschnittes weiter und stimmen Fugenverlauf und Quaderform aufeinander ab. Anstelle des Doppelbogens treten größere Einzelquadern, die den radialen Fugenschnitt kräftig betonen. Bei der Einbindung in den horizontalen Mauerverband nutzen die Architekten die Abtreppung der Bogenquadern als willkommenen Effekt aus, sei es Stein für Stein oder gruppenweise. Oft wird, z. B. beim Bogen des Septimius Severus, der Schlußstein durch plastisches Hervortreten oder ornamentale Bearbeitung betont. Durch leichte Überhöhung der oberen Bogenlinie, den »Stich«, erhält der Bogen eine besondere Spannkraft (vgl. Renaissance Bd. II). Durch die Verwendung größerer Blöcke anstelle des verdoppelten Bogens entfällt die mittl. kreisförmige Lagerfuge. Sie bleibt als Schmuckmotiv in einem leichten Profil erhalten, dag in der Bogenmitte den Halbkreis nachzieht und seine Form gegen die Radialfugen und die Abtreppung zur Geltung bringt (Verdoppelung = Unterstreichung). Beim Werksteinbogen sind die Fugen meist als haardünne gerade Striche - oft ohne Mörtel - gefügt. Der Naturstein kann aus dem vollen Block genau zur gewünschten Keilform zugeschnitten werden. Im Gegensatz dazu besteht der Ziegelbogen aus rechteckigen Einzelplatten. Hier ermöglichen keilförmige Fugen den Ausgleich. Außer der offenen Arkade dienen Ziegelbögen auf Mauerpfeilern in Form des vorspringenden oder aus der Mauerdicke ausgesparten Blendarkaden in steigendem Umfang - teils verputzt, teils als »Sichtmauerwerk« — sowohl zur konstrukt. Verstärkung wie zur plast. Gliederung großer Baumassen und Flächen, zunächst bei Substruktionen, Stützmauern und techn. Bauwerken, später auch bei offentl. Gebäuden, besonders in der Spätantike (S. 256). Aus dem Gegensatz von Bogen und Wand gewinnen die röm. Architekten weitere Möglichkeiten zur Differenzierung. Am Übergang vom Bogen mit seinen Keilsteinen und Radialfugen zum Horizontalverband der Mauer (mit Lager- und Stoßfugen) bietet der sogenannte Kämpferpunkt den natürlichen Ansatz zur Akzentuierung mit einem Gesims oder Profilband, von dem sich der Bogen deutlich absetzt. Die Gliederung der Torleibungen bzw. der Arkadenpfeiler mit Pilastern oder vortretenden Eckquadern läßt eine Rahmenarchitektur entstehen, die zunächst an die Wandfläche oder den Mauerkörper gebunden bleibt, sich aber allmählich verselbständigt. Die spätere Verbindung von Bogen- und Architravbau bereitet sich vor, bei der (z. B. in PALMYRA und LEPTIS MAGNA) der Architrav durch halbkreisförmige, profilierte Archivolten ersetzt wird (S. 208).
208 Rom/Bauformen II
Rom: Tabularium, Galerie a innen, b außen
Rom: Kolosseum, Außenfront a Ansicht, b Schnitt (s. Typ. XV)
Römische Staatsarchitektur; Verbindung von Säule und Bogen
Spalato: syrischer Giebel
Rom/Bauformen II 209 Die Verbindung von Säule und Bogen erscheint konstruktiv widersinnig. Die Römer schaffen sie aus rein formalen Gründen. Sie erschließen hiermit eine Fülle von Möglichkeiten, neue Bautypen repräsentativ zu gliedern. Die reine Bogenkonstruktion bewährt sich zunächst bei großen Nutzbauten (Brücken, Aquädukten, Substruktionen). Die Sakral- und Repräsentationsbauten folgen dem griech. Vorbild des Bauens mit Säulenordnungen. Neue Gliederungsssylerne entstehen durch die Verbindung von Arkade und Kolonnade. Mit ihnen befreien sich die Römer vom Zwang der klassischen Säulenordnung. Sie lösen ihre Elemente aus dem konstrukt. Zusammenhang und verbinden sie als Blend- und Rahmenarchitektur mit der tragenden Bogenkonstruktion. Der Zuwachs an Gliederungsmöglichkeiten wird mit dem Verlust der Einheit von Konstruktion und Form erkauft. Eines der ersten Beispiele dieser neuen röm. Staatsarchitektur ist das Tabularium in Rom. 78 v. Chr. als Staatsarchiv errichtet, schließt es in beherrschender Lage am Hang des Kapitels das Forum Romanitm nach NO ab (S. 24). In der Arkadenhalle des Obergeschosses tragen im Inneren rechteckige Pfeilervorlagen querlaufende Rundbogen. Es entsteht eine Reihe von überwölbten Einzeljochen', Konstruktion und Form entsprechen sich. An der Außenfront stehen dor. Halbsäulen, das Kämpfergesims überschneidend, vor den Arkadenpfeilern. Zu den gedrungenen Säulenschäften steht das zu einem ringartigen Wulst degenerierte Kapitell und der flache Blendarchitrav im Mißverhältnis. Das Fehlen der Triglyphen, die große Zahl überflüssiger Tropfenplatten und die Zerlegung des Architravs in kurze Einzelblöcke mit Schrägfugen zeigen, daß die konstruktive Bedeutung dieser Bauteile verloren ist. Die einfachen und strengen Formen erreichen aber das gesteckte Ziel: eine ausdrucksfähige Architektur für die staatl. Repräsentation. Die fortschreitende Verschmelzung der heterogenen Elemente zeigt in überzeugender Weise die Außenfront am Amphitheatrum Flavium (Kolosseum) (S. 240), 90 n. Chr. eingeweiht. Drei übereinanderstehende Arkadenreihen bilden den Außenring der ursprüngl. Anlage. Die Pfeiler stehen jeweils auf dem Niveau der Geschoßfußböden. Bis zum Ansatz der nächsten Pfeilerreihe müssen hohe Streifen massiven Mauerwerkes die Gewölbe- und Deckenzone über den Umgängen konstruktiv ausgleichen. Die opt. Entlastung dieser schweren Horizontalmasse übernimmt eine dreigeschossige Säulenordnung. Sie gliedert die Bogenwand wie ein aufgelegtes Gitter aus Horizontalen und Vertikalen mit schlankeren Formen. Die langen Horizontalen der Doppelgesimse treten an die Stelle des klass. Architravs. Sie ziehen die Kurve des großen Ovals nach und markieren zugleich an der
Außenseite die innere Gliederung der Ringhallen: die untere Gesimskante bezeichnet den Ansatz der Ringtonne auf dem in gleicher Höhe umlaufenden Gesims an der Innenseite. Auch die anderen Elemente der äußeren Gliederung stehen in Beziehung zum inneren Aufbau. Zwischen Bogen wand und Säulenordnung herrscht Gleichgewicht. Die Arkadenwand dominiert durch die tiefen Schattenmassen der Bogenhallen. Die Säulenordnungen geben der Oberfläche die lebendige Struktur. Beide Systeme sind unabhängig durchgegliedert. Die klass. Säulenordnungen sind ihrer neuen Funktion angepaßt, konstruktiv nicht mehr bedingte Details ausgeschieden, andere hinzugefügt. So erhält z. B. der Verzicht auf die Kannelur dem Säulenschaft das volle rundplast. Volumen vor dem Mauerkörper des flächigen und kantigen Pfeilers. Aus dem »Gebälk« sind alle Details des Holzbaues entfernt, wichtig ist seine Funktion als horizontales Gesimsband. Von dem spezif. Charakter der einzelnen Ordnungen mit der jeweils eigenen Gebälkform ist hier nur noch die Kapitellform erhalten, sonst stimmen sie im Aufbau und Proportion überein und dienen der gleichen Funktion im Gliederungsapparat, In den Obergeschossen steht jede Säule auf eigenem Sockel, mit dem die Differenz von äußerer und innerer Geschoßhöhe ausgeglichen wird. Diese Isolierung löst die Säule aus der Funktion als Reihenelement und weist ihr eine neue zu. In den Thermensälen und der ähnlich aufgebauten Maxentius-Basilika (S. 232) stehen einzelne Kolossalsäulen frei vor den großen Pfeilern des Mittelschiffs. Sie tragen konsolartig in die Wand eingebundene Gebälkstücke, von denen die Gratlinien der Kreuzgewölbe aufsteigen. Die Säule wird nicht statisch, aber opt. und symbol. zum Gewölbeträger (vgl. Gotik, S. 64). Neben der Durchdringung der Pfeilerarkaden mit Elementen der Säulenordnungen vollzieht sich die Durchdringung der Kolonnade mit Arkadenelementen. In der Villa Hadriana (J18-138 n. Chr.) wechseln aus dem Gebälk aufgebogene Archivolten mit normalen Architravstücken ab. Säulenarkaden umgeben allseitig das 216 n. Chr. vollendete Forum von Leptis Magna. Glatte grüne Marmorsäulen tragen anstelle des lang durchlaufenden Architravs eine Folge von Bogenläufen. Dekorative Medaillons mit Idealköpfen (Relief-Clipea) schmücken die Zwickel. Der Bogen dringt auch in die Sakralarchitektur ein. Beim sogenannten syrischen Giebel überspannt eine aus dem Gebälk aufgebogene Archivolte das mittl. Säulenjoch unter dem Dreieckgiebel, um die Achse und den Eingang zum Heiligtum (Tormotiv) herauszuheben. Diese Giebelform erscheint auch am Kaiserpalast zu Spalato über der Huldigungsloggia am Peristyl (S. 228).
210 Rom/Bauformen III
Timgad: Trajansbogen a Ansicht, b Grundriß
Ephesus: Bibliothek
Freie Disposition und Dekoration
Aedicula a mit Dreiecksgiebel b mit Segmentgiebel
Rom/Bauformen III 211 In den letzten Jahrhunderten der Antike löst sich der streng gebundene Kanon der klass. Säulenordnungen immer mehr auf. Gleichzeitig entstehen neue Gebäudetypen und Konstruktionssysteme. Die Bildung neuer Bauformen und Gliederungen vollzieht sich hauptsächl. auf zwei Wegen. Der eine führt zu einem rational-funktionellen Massenstil. Bei den Zweckbauten entstehen aus dem Mauerwerksbau Pfeiler und Mauervorlagen, Bogen und Bogenblenden, Strebe- und Entlastungsbögen, Einzelund Gruppenfenster. Sie werden, ebenso wie der Gewölbebau und die Gußbetontechnik, auf die repräsentativen Großbauten übertragen. Meist noch dekorativ eingekleidet, treten sie in Einzelfällen schon unter bewußtem Verzicht auf formal ist. Beiwerk deutlich in Erscheinung (Thermen, Maxentius-Basilika, Tra Jans-Mark t). Der andere Weg führt zu einem repräsentativen Dekorationsstil, unabhängig von tragender Konstruktion und Gebäudetyp. Seine Elemente stammen überwiegend aus den klass. Säulenordnungen, z. B. Säulen, Halbsäulen, Pilaster auf kombinierten Basen und Sockeln, Gesimse und Gebälkteile, Ädikulen und Ziergiebel. Wand- und Bodenbekleidungen aus Marmorplatten (opus sectile), Steinmosaik, Statuen und Wandbilder ergänzen die Dekoration. Die freie Disposition der Gliederungselemente macht es möglich, Fassaden und Räume mit einer Blendarchitektur unabhängig von der Tragkonstruktion zu gliedern, bzw. diese in eine formal andersartige Hülle einzukleiden. Die Architektur gewinnt eine bisher unbekannte Beweglichkeit und Möglichkeit zur vielfältigen Differenzierung von Räumen und Gebäuden. Dabei bestimmt oft die willkürl. Einkleidung mehr als die prakt. Funktion den Charakter. Die Architektur wird zur Kulisse. Hier verbinden sich die Stilbewegungen des östl. Hellenismus und das Prunkbedürfnis der Diadochen-Herrscher mit dem röm. Hang zur großen Geste und Schaustellung. Die architekton. Rahmung des öffentl. Lebens gewinnt in der Kaiserzeit imperiales Format. Die aktive poiit. Mitwirkung des Volkes sinkt dagegen ab zur bloßen Teilnahme am Staatszeremoniell als Zuschauer, Statist und Akklamateur. Das Schauspiel der öffentl. Auftritte und Zeremonien wird durch den Rahmen der Repräsentationsarchitektur gesteigert. Zu ihr gehören als speziell römische Typen die Triumph- und Ehrenbögen. Sie werden seit dem 2.Jh. in der Republik von den Feldherren, in der Kaiserzeit vom Senat, später auch von den Kaisern selbst an markanten Punkten der Städte errichtet. Anlässe sind: siegreiche Heimkehr (Triumph), Regierungsjubiläen, Tod, Stadtgründungen oder andere als histor. empfundene Ereignisse. Bei der ursprüngl. Form des eintorigen Bogens tragen 2 breite Pfeiler und eine Kreisbogentonne die schwere Attika mit der Wid-
mungsinschrift und dem Standbild oder Viergespann des zu Ehrenden. Diese schlichte Grundform erhält seit der augusteischen Zeit eine Gliederung durch Säulen und Gebälk. Zu der eintorigen Ausführung treten zwei- und vor allem dreitorige Varianten. Bei dem Ende des 2.Jhs. erbauten TrajaiisBogen in Timgad (Algerien) erhält der massive Torbau eine Ordnung von vier korinth. Kolossalsäulen auf Einzelsockeln. Gekröpfte Gesimse mit flachen Segmentbögen fassen sie über den Seitenbögen paarweise zu einer Art von monumentaler Aedicula - über einer Mauernische mit einer kleinen, analog gebildeten Säulenstellung - zusammen. Die Hdrizontalgliederung der Attika stellt das Gleichgewicht gegenüber den Vertikalen der Säulen her. Die Blendarchitektur verleiht mit dem Wechsel von Licht und Schlagschatten dem Baukörper eine mit der Tageszeit wechselnde lebendige Plastizität. Der Wunsch, Platzwände und Gebäudefronten wirkungsvoll zu gliedern, führt zur Ausbildung von Schaufassaden. Der Baukörper erhält seine Abmessungen, die Anordnung der Fenster, Türen und Geschosse nach den Anforderungen des Bauprogramms. Die Außenfront kann dank der Beweglichkeit der Gliederungen in der gewünschten Weise in das Stadtbild oder die jeweilige Situation eingepaßt werden. Bei der 115 n. Chr. erbauten Bibliothek des Celsus in Ephesus erhält der hohe Bibliothekssaal mit der dreigeschossigen n -förmig umlaufenden Galerie eine zweigeschossige Fassade. Drei Türen mit Oberlichtern und drei Fenster durchbrechen in gleichmäßigen Abständen die Wand. Vor ihr steht im Abstand von 1,50 m eine zweigeschossige korinth. Säulenordnung auf Einzelsockeln. In Übereinstimmung mit den Tür- bzw. Fensterachsen teilt sie die Fassade in drei breite und vier schmale Felder. Durch das abwechselnd vor- und zurück gekröpfte Gebälk entstehen statt einer durchgehenden Säulenflucht im Erdgeschoß vier, im Obergeschoß drei vertikal gegeneinander versetzte aediculenartige Einheiten. Im Erdgeschoß überdecken sie Mauernischen mit Statuen, im Obergeschoß die Fenster. In den Giebe! Überdachungen wechseln zwei Segmentbögen mit einem Dreiecksgiebei, dessen Spitze die Mittelachse ebenso leicht akzentuiert, wie die höhere Tür im Erdgeschoß. Nach dem gleichen ^rinzip sind die großen Schauwände der Bühnenhäuser in den röm. Theatern (Scenae Frons, S. 238) aufgebaut und plastisch durchgeformt. Auch hier springen vorgeblendete Säulen meist in drei Geschossen paar- oder gruppenweise unter verkröpften Gebälken weit vor. Die zurückliegenden Wandfelder werden durch Türrahmen, Mauernischen, Statuen auf Sockeln reich dekoriert: prunkvolle Kulissen für prunkvolle Aufzüge und Schauspiele.
212 Rom/Typologie I: Städtebau l
Marzabotto: Stadtplan
1 Cardo 2 Decumanus 3 »Akropolis« 4 Gräber
l Sakralbauten l Kommunal bauten [
j Insulae, Wohnviertel
BHl Altstadt l
| Straßen, Plätze
0
200
Pompeji: Stadtplan
Städtebau der Etrusker, Italiker und Römer
1 Stadtmauer 2 Forum {s. Typ. IV) 3 Thermen (s. Typ. XII) 4 Markthalte 5 Theater 6 Amphitheater 7 Palaestra
Rom/Typologie I: Städtebau l 213 Städtebau und städt. Zivilisation in Italien verdanken die entscheidenden Impulse den Etruskern und Griechen. Die Etrusker bauen seit dem 9.Jh. zwischen ARNO und TIBER wichtige Höhensiedlungen und Fluchtburgen der italischen Villanova-Kultur zu befestigten Burgstädten aus. Sie erreichen schnell einen hohen techn. Standard beim Bau von Stadtmauern, Toren, Brücken, Straßen, Kanälen und Wasserleitungen (Großquaderbau, Wölbung). Bis zur Konsolidierung ihrer Herrschaft ist ein verbindliches Planschema nicht nachweisbar. Bei der Anlage neuer Städte gehen sie zum regelhaften Städtebau über. Die Grundordnung einer Stadt gilt als Ausschnitt und Abbild der kosmischen Ordnung (disciplina). Sie wird in der Gründungszeremonie auf die künftige Stadt übertragen: Eine mit bronzenem Pflug gezogene Furche, das Pomerium, legt den Verlauf der Stadtmauer fest, und grenzt die Stadtfläche vom Umland ab. Cardo (N-S-Achse) und Decumanus (O-W-Achse) teilen sie in gleichmäßige Quartiere und legen die Stadttore fest. Im Zentrum stellt eine kreisförmige Opfergrube (Mundus) die Verbindung zur Unterwelt her (Vertikalachse). Eine Terrasse mit dem Heiligturn der Stadtgottheiten — wie das Achsenkreuz orientiert - überragt die Wohnviertel. Tempel an anderen Stellen treten hinzu. Einige liegen außerhalb der Stadt, ebenso manche Märkte und andere öffentl. Einrichtungen. Lokale Traditionen und die Topographie wirken modifizierend auf das Idealschema ein. Es tritt deutlich hervor im Grundriß der Kolonialstadt Marzabotto, erbaut Anfang des 5.Jh. südl. von BOLOGNA auf einer Terrasse oberhalb des Flusses RENO. l Cardo und 3 Decumani von ca. 15m Breite dienen als Hauptstraßen. Nebencard'tnes unterteilen die Quartiere in streifenförmige Insulae. Neben größeren und kleineren Wohnhäusern reihen sich, besonders an den Hauptstraßen, Gewerbebetriebe und Läden aneinander. Der nördl. Decumanus führt zum Heiligen Bezirk, der f>Akropolis«. Die einheitl. Planung verbindet sie mit der Wohnstadt zu einem aufeinander bezogenen Ganzen. Die Straßen haben gepflasterte Fahrbahnen, Gehsteige und Kanäle. Ein zentraler Sammelkanal (Cloaca maxima) führt die Abwässer zum Fluß. Der Abwässerführung entspricht ein Verteilersystem für Trinkwasser mit einem Sammelbecken unterhalb der Akropolis. An der Peripherie sind Teile von zwei Nekropolen ergraben. Der Fluß hat große Teile des Stadtgebietes weggerissen. Die Lage des Marktes und anderer öftentl. Einrichtungen bleibt hypothetisch. Die ethisch-religiöse Einfügung in den Kosmos führt im etrusk. Städtebau zu einem ästhetischen Gesanltkonzept auf streng geometr. Grundlage. In seiner axialen Ausrichtung und den sich daraus ergebenden Raumbeziehungen steht er trotz man-
eher scheinbaren Übereinstimmung und Beeinflussung im Gegensatz zum griech. Städtebau. Er greift schon Ende des 8.Jh. auf Süditalien über (CUMAE, TARENT), wo sich sein Einflußbereich mit dem etrusk. überschneidet. Früher als im Mutterland entstehen hier regelmäßige Systeme. Im Gegensatz zum späteren hippodam. Städtebau (S. 166) übernehmen sie häufig das Achsenkreuz. Mit den ital. und etrusk. Stämmen kommt es zu regem Handels- und Kulturaustausch, zu gegenseitiger Beeinflussung und Unterwanderung. Im Lauf der Jahrhunderte gehen die Städte den Griechen verloren und werden schließlich dem röm. Imperium einverleibt. Die wechselnden Einflüsse, Überschichtungen und Neuplanungen sind noch erkennbar in Pompeji. Die günstig zum campan. Hinterland gelegene oskische Siedlung steht bis zum 6.Jh. unter griech. und gerät im 5.Jh. unter etrusk. Einfluß. Nach kurzem griech. Zwischenspiel erobern 421 die SAMNITER die Stadt. 80 v. Chr. wird sie röm. Kolonie. Eine unregelmäßige Lavazunge ca. 40 m über dem Mündungslauf des SARNO bildet das Stadtplateau. Deutlich hebt sich im Straßennetz die Struktur der Altstadt ab. Die ETRUSKER umziehen sie mit einem Festungswall und fügen dem unregelmäßigen Oval ein Achsenkreuz ein. Im Schnittpunkt von Cardo und Decumanus entwikkelt sich später das Forum (S. 218). Der Mauerring der samnit. heilenist. Erweiterung mit 12 Türmen und 8 Toren wiederholt den alten Umriß in größerem Umfang. Die willkürliche Straßenführung einer ersten Erweiterungszone weicht der Ordnung nach hippodam. System. Verlängerungen von Cardo und Decumanus und je eine große Parallelstraße bilden mit 7 bis 8,50 m Breite die Hauptadern im heltenist. Straßennetz. Paralleldecumani von ca. 5 m gliedern die Neustadt In 7 Streifen, 3 m breite Querstraßen (Viel) teilen diese in schmale Baublöcke (Insulae). Die alte Kernstadt bleibt Schwerpunkt der Stadt. Das Forum reichert sich mit Säulenhallen und öffentl. Bauten an (S. 218). Um den alten Herakles-Tempel entwickelt sich im SO das Forum Trianguläre mit Theater und Palaestra nach griech. Muster. An der Grenze zur Wohnstadt entstehen Thermen (S. 234). In röm. Zeit bildet sich ein neuer Schwerpunkt im O mit dem im Winkel der Stadtmauer errichteten Amphitheater und einer neuen großen Palaestra. Das Stadtbild Pompejis zeigt den entscheidenden Einfluß des Hellenismus auf den ital. Städtebau südl. der etrusk. Zone bis in die Zeit des frühen Imperiums. Eine durchgreifende Umformung durch röm. Architektur und Ingenieurbauten verhindert der Vesuv-Ausbruch 79 n. Chr. Die Katastrophe konservierte die Stadt in einer Zeit des raschen Wachstums und des geschieht!. Umbruchs.
214 Rom/Typologie II: Städtebau 2
~~j Sakralbauten, Bi^H Regierungsgebäude l
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-
| Kommunaibauten
i - ~ i Insulae, Wohnviertel l ! Truppenteile |
| Straßen, Plätze
Legionslager Neuß (Novaesium) 1 Wall und Graben 2 Via Praetoria 3 Via Principalis 4 Principia 5 Legaten palast
6 Forum 7 Arsenal 8 Lazarett 9 Schule 10 Schreibstuben und Läden
Trier: Stadtplan der Kaiserzeit 1 Moselbrücke 2 Stadtmauer 3 Magazine 4 Forum 5 Thermen 6 Amphitheater
Castrum Romanum und kolonialer Städtebau
7 Circus 8 Porfa Nigra (s. Typ. l 9 Kaiserpalast 10 Palastaula 11 Tempelbezirk
Rom/Typologie II: Städtebau 2 215 Rom steigt aus vorgeschichtl. dörflichen Anfängen zum Zentrum eines Imperiums auf. Sakrale und kommunale Zentren, Kult- und Repräsentationsbauten bilden die architekton. Schwerpunkte im Stadtbild. Zwischen ihnen wachsen planlos Villenviertel und Proletarierquartiere. Das rapide Wachstum zur Millionenstadt vereitelt in allen Epochen die zahlreichen Neuordnungspläne. Dagegen gründet Rom in allen Provinzen regelmäßige Städte. Sie gehören zum polit. strateg. Konzept zur Sicherung des Imperiums. Ihnen liegt fast überall das gleiche bewährte Schema zugrunde: das Castrum Romanum. Das röm. Militärlager bildet in den dauernden Kriegen ein Element der Sicherheit. Die marschierende Truppe schlägt jeden Abend ein leicht befestigtes Marschlager auf. Dauerlager sichern den Nachschub und die Überwinterung. Garnisonen und Kastelle schützen an wichtigsten Punkten die Grenzen und das strateg. Straßensystem. Der überall gleiche Aufbau der Lager mit den genau festgelegten Plätzen und Funktionen für die Truppenteile verbürgt die fast automatisch sichere Reaktion im Ernstfall. Für den einzelnen Soldaten bedeutet das Lager den vertrauten Rahmen des geordneten Lebens, gleichgültig, in welchem Teil des Imperiums. Mit dem Lager ist Rom selbst präsent als Ordnungsmacht, als Organisation, als Tradition. In seiner Anlage verbinden sich militärische Zweckmäßigkeit und die sakral fundierte etrusk. Tradition der Stadtvermessung. Durch Ausgrabungen fast völlig rekonstruiert ist der Grundriß von Novaesium (NEUSS AM RHEIN). Das festungsartige Legionslager, erbaut um 30. n. Chr., sichert den niederrhein. Limes. Graben und Mauer umschließen ein Rechteck mit Seitenlängen von ca. 600 und 400 m. Die breite Querachse (Decumanus) der Via Principalis teilt es in einen schmalen Vorderabschnitt, die Praetentura, und einen breiteren Hinterabschnitt, die Retentura. Die Längsachse (Cardo) der Via Praetoria teilt beide Abschnitte in spiegelgleiche Hälften zur Angriffsrichtung. In der Retentura umgeben die Unterkünfte der Legionssoldaten, genau aufgeteilt nach den zehn Kohorten, als schützender Block das technisch-organisatorische Zentrum. Sein Kern, die symmetr. Gebäudegruppe von Principia (oder Praetorium) und Legatenpalast bzw. Quästur, ist von Arsenal, Lazarett, Forum und Fuhrpark umschlossen. In der Praetentura reihen sich längs der Hauptstraße hinter einer Art von Ladenkolonnade die geräumigen Wohnhäuser der Stabsoffiziere, flankiert von Schule und Gefängnis. Zu beiden Seiten der Via Praetoria bilden die Quartiere der Hilfstruppen die Stirnblöcke des Lagers. Die Unterkunftshäuser aus Fachwerk auf Steinsockeln sind kasernenmäßig eng, bieten aber den Legionssoldaten einen den Verhältnissen entsprechenden annehmbaren Rahmen ihres streng geregelten Dienstes.
Für zivile Anlagen ist aus Gründen der Sicherheit kein Platz in den Lagern. Zu den ersten Bauten außerhalb gehören die Amphitheater, später oft ergänzt durch Theater und Zirkus. Daneben siedeln sich Händler, Handwerker und Soldatenfamilien an. Diese Marketendersiedlungen (Canabae) wachsen rasch zu Zivilstädten zusammen. Ihre Regellosigkeit steht in auffälligem Kontrast zum Castrum. Die enge Verflechtung von militär. und ziviler Verwaltung und Karriere und das zugleich praktische und normative Denken findet seinen Ausdruck in der gleichen Grundordnung für die zivile Stadtplanung. Kolonien und Städte in den Provinzen repräsentieren als Handels- und Verwaltungszentralen das Imperium mit seiner überlegenen Technik und Zivilisation. Die regelmäßigen Anlagen passen sich den örtl. Verhältnissen und den besonderen Aufgaben der Stadt an. Neben Neuanlagen von halbmilitärisch organisierten Veteranenkolonien werden bestehende Siedlungen zu Städten im röm. Sinn ausgebaut. Die einheimische Bevölkerung beteiligt sich mehr oder weniger intensiv am Urbanisierungsprozeß. In jedem Fall tritt die überlegene röm. Planungs- und Baustruktur stark hervor. Augusta Treverorum (TRIER), das günstig liegende Zentrum der TREVERER, nimmt unter den westl. Städten einen besonderen Aufschwung. Schon unter AUGUSTUS Verwaltungssitz, bestimmt DIOKLETIAN es bei der Reichsreform 293 n. Chr. zu einer der Verwaltungshauptstädte des Imperiums. Seinen Ausbau treibt vor allen die Familie KONSTANTINS voran. Der Mauerring geht weit über den Umfang der inneren Castrumanlage hinaus. Ihre nicht besonders hervortretenden,4c/?sen führen die einmündenden Römerstraßen bis zum Forum. Es nimmt in der Stadtmitte den Platz von 6 Insulae ein, umgeben von Kolonnaden und offentl. Bauten, u. a. zwei Verwaltungspalästen im W (Bau des VICTORINUS). Die kaiserl. Großbauten stehen zumeist am Rand der ursprüngl. Colonia: hinter der Mauer am Moselufer Speicher und Barbara-Thermen, am hochgelegenen östl. Stadtrand der Circus und das in die Stadtbefestigung einbezogene Amphitheater. Das Palastareal breitet sich auf einer erhöhten Geländeterrasse aus: nahe der Porta Nigra der konstantin. Palast (die spätere bischöfi. Doppelkirche) die große Palastaula (»Basilika«), und an der höchsten Stelle über der östl. Stirnseite des Forums der dominierende Komplex der Kaiserthermen. Im Einschnitt des Altbachtales schließt sich der röm. ausgebaute Tempelbezirk der TREVERER an. Wie viele röm. Städte bildet die Anlage von TRIER die Basis der späteren mittelalterlichen Bischofsstadt. Die Urbanisierung Mitteleuropas nimmt von der röm. Reichsgrenze an Rhein und Donau ihren Ausgang,
216 Rom/Typologie III: Städtebau 3
Rom: Praetorian erkastei l, Befestigung a Ansicht, b Grundriß
Stadttore: Anlageschema aArles, b Köln
Trier: Porta Nigra (s. Typ. II) a Grund riß, b Schnitt 1 Erdgeschoß, 2 Obergeschoß
Stadtmauern und Tore
Rom: Porta Appia (Rekonstruktion)
Rom/Typologie III: Städtebau 3 217 Mauern und Tore - bei ETRUSKERN und ITALIKERN Symbole städt. Unabhängigkeitrepräsentieren im röm. Weltreich Macht und Ordnung des Imperiums. Die röm. Befestigungstechnik vereinigt die etrusk. italischen Traditionen des Wehrmauerbaues mit Anregungen aus dem griech. -heilenist. Städtebau und eigenen techn. Entwicklungen. Sie umfaßt alle Arten des Wehrbaues von Wall und Graben bis zu den turmbewehrten Stadtmauern. Etrusker und Italiker vervollkommnen die altmediterrane Technik des mörtellosen Großsteinbaues (S. 132). Typisch ist ein Polygonalmauerwerk, dessen Blöcke durch eine Art gewaltiger Entlastungsbögen verspannt sind (S. 30). Auf diese archaische Technik folgt das rationellere und ästhetisch befriedigende regelmäßige Quadermauerwerk und die bei den Griechen erprobte Zweischalenbauweise (S. 165). Die Römer führen gebrannte Ziegel und das Gußmauerwerk ein. Mischtechniken ermöglichen die rationelle Verarbeitung des jeweils vorhandenen Materials. Von den etrusk. und ital. Mauerringen der Frühzeit sind noch bedeutende Reste erhalten (u. a. ANSEDONIA, VOLTERRA, ALATRI, SEGNI, FERENTINUM). In ROM sind ihnen die in das 6.Jh. datierten älteren Teile der Servianischen Mauer zuzurechnen. Zu ihren umfangreichen jüngeren Teilen aus dem Anfang des 4.Jh. gehört der agger servianus, ein Erdwall von ca. 42 m Breite. Seine Höhe steigt zwischen zwei Mauerringen aus Tuffquadern von ca. 2,60 m (Stadtseite) bis ca. 9-10 m (Feldseite) an. Eine typ. Zweischalenmauer heilenist. Art umgibt das samnit. Pompeji (S. 212): bis zu 6 m dick, ca. 8,5 m hoch und mit Strebepfeilern verstärkt. Die Mauerkrone trägt einen Wehrgang. Die innere Mauerschale ist um 3 m erhöht, um überfliegende feindl. Geschosse abzufangen. Im späten Kaiserreich bildet sich eine einheitl. Technik aus: massive, aber wenig tiefe Fundamente, 2,50-3,0 m dicker Mauerkörper aus Gußmauerwerk zwischen Schalen von Ziegel- oder Mischmauerwerk, 5 bis 10 m hoch, meist mit überdecktem Laufgang, der durch eine mit Zinnen und Schießscharten versehene Brüstung gesichert ist. Zu diesem Mauertyp gehört die Aurelianische Mauer, zum Schütze Roms seit 270 n. Chr. erbaut, mehrfach erneuert und aufgestockt. Als Mauer der Hauptstadt ist sie mit Bogenhallen an der Stadtseite und mit teilweise gewölbten Wehrgängen besonders stark ausgeführt. In den Mauerring werden Teile der Aquädukte, das Castrum der berittenen Leibgarde und das von Tiberius erbaute Prätorianerkastell einbezogen. Türme sind in der Frühzeit selten und klein. Als Baukörper zur Verstärkung und Flankierung sowie als Träger von Geschützplattformen werden sie etwa im 3.Jh. aus dem griech. Städtebau übernommen. Die anfängl. Rechteckform weicht in der Kaiserzeit oft der wehrtechnisch günstigeren Rund- bzw. Halbrundform. Anfangs stehen
die Türme je nach Geländeverlauf näher oder weiter voneinander entfernt, später in regelmäßigen Abständen, z. B. bei der Aurelianischen Mauer je 100 röm. Fuß = 29,60 m. Der Aufbau entspricht im wesentlichen den griech. Vorbildern (S. 164). Verwundbare und zugleich repräsentative Stellen jeder Stadtbefestigung sind die Stadttore. Die Grundform der tonnengewölbten Durchfahrt in der Mauer hat sich noch in einigen etrusk. Städten erhalten (FALERII, VOLTERRA, PERUGIA, FERENTINUM, S. 206). Der Gegensatz zwischen Mauerfläche und gewölbter Öffnung wirkt elementar, die archttekton. Durchbildung beschränkt sich auf die sorgfältige Bearbeitung der Stirnseite von Bogen und Gewände. Die Variation und weitere Durchformung dieses monumentalen Motivs wird zu einem Hauptthema der röm. und europäischen Baukunst. Der Grundtyp des Tores mit einem Hauptbogen erhält sich bis in die Spätzeit des Imperiums. Er wird oft ergänzt durch einen oder zwei Nebendurchgänge mit kleineren Bögen für den Fußgängerverkehr. Bei stark befahrenen Straßen wird das Doppeltor üblich. (Gelegentlich steigt die Zahl der Durchfahrten auf drei oder vier an.) Die tiefen Bogenöffnungen lassen sich an der Feldseite meist mit Fallgattern, an der Stadtseite mit Torflügeln schließen, seitl. vorspringende Türme übernehmen die Flankierung. Oft sichert der Anbau eines zwingerartigen Hofes an der Rückseite den empfind). Punkt zusätzlich. Später verbindet meist ein galerieartiges Obergeschoß Tor und Flankentürme zu einem festungsartigen, die Mauer überhöhenden Block. Diesem Typ gehören viele Tore der Aurelianischen Mauer an, z. B. die Porta Ostiensis oder die Porta Appia. Um die Verteidigungskraft zu erhöhen, werden die Mauerabschnitte zu beiden Seiten oft schräg oder bogenförmig eingezogen (2. B. ARLES, TRIER: Moselpforte, S. 214). Von den beiden benachbarten Mauertürmen kann der stürmende oder belagernde Feind flankierend beschossen werden. Die Porta Nigra in Trier, die größte erhaltene röm. Toranlage, steigert den Typ des Doppeltores zum Repräsentationsbau. Er überragt als selbständiger Baukörper den Mauerzug um mehrere Geschosse. Ein zentraler Hof öffnet sich zur Feld- und Stadtseite mit je 2 Torbögen, die ein 2stÖckiges Galeriegeschoß tragen. Die langrechteckigen Flankentürme treten an der Feldseite als Halbzylinder, an der Stadtseite als flache Risalite vor die Torflucht. Sie überragen die Mittelgalerien um ein Geschoß. Die starke Durchbrechung der Galerien und Türme mit Rundbogen-Arkaden und die Gliederung mit kräftigen Horizontalgesimsen betonen den Repräsentationscharakter. Der Verteidigungszweck wird indessen durch die große Stabilität und die übl. Sicherheitsvorrichtungen erfüllt.
218 Rom/Typologie IV: Städtebau 4
Pompeji: Forum
(s. Typ. 1}
u Sakralbauten | Kommunalbauten l l
"1 fnsulae, Stadtviertel | Straßen, Plätze
0
40 m
Augusta Raurica: Forum
Städtische Zentren l: Foren römischer Städte
1 Forum 2 Macellum 3 Tuchmarkt 4 Kyrien 5 Basilika (s. Typ. X) 6 Kapital 7 Apollo-Tempel 8 Tempel der Laren 9 Vespasians-Tempel
Rom/Typologie IV: Städtebau 4 219 Zu den wichtigen Aufgaben der Städte gehört die Wahrnehmung der Marktfunktion. Schon früh verknüpft sich mit dem Marktplatz außer dem Wirtschaft!, ein großer Teil
seiner Rotunde mit zentralem Wasserbekken vermutet man den Fischmarkt. Die Einheit des Platzes ist der andersartigen Struktur der oskischen Altstadt abgewonnen: die
des polit. und religiösen Lebens. Dies um so
zwanglos zusammengefügten heterogenen
schneller und intensiver, je mehr alle Bürger am polit. Leben teilnehmen (können) und je mehr Wirtschaft und Politik zusammenfallen. Im Lauf der Zeit wandelt sich der Marktplatz zum Schauplatz der gesellschaftl. und staatl. Repräsentation, der Handelsmarkt wandert oft auf andere Plätze ab. In Griechenland führt diese Entwicklung zur Ausbildung der Agora, in Italien zum Forum. Das römisch-italische Forum bildet sich anfangs nach dem Vorbild der griech. Agora. Der Einfluß der wirtschaftl. und kulturell überlegenen Städte Großgriechenlands (Karte S. 152) überschneidet sich in MittelItalien mit dem der etrusk. Städte. In diesen sind bisher Anzeichen oder Vorstufen eines Forums nicht festgestellt. Das Forum gehört offenbar zu den Elementen des griech. beeinflußten italischen Städtebaues (S. 220). Im Imperium Romanum hat jede Stadt, jedes Kastell sein Forum. Für das Forum in Pompeji lassen sich verschiedene Stadien der Entwicklung vom ital. Marktplatz zum röm. Forum rekonstruieren. Die oskische Siedlung dient den Griechen ais Handelsplatz (S. 212). Den unregelmäßigen Marktplatz östl. des Apollo-Heiligtums umstehen Häuser, Läden und Verkaufsstände. Die ETRUSKER beginnen während ihrer kurzen Herrschaft mit der NeuOrdnung des Straßennetzes. Cardo und Decumanus kreuzen sich an der SO-Ecke des Marktes. Sein Ausbau nach heilenist. Vorbild ist hauptsächlich das Werk der SAMNITER. Sie erweitern ihn auf dem relativ schmalen Streifen zwischen Apollo-Tempe! und Cardo nach N und S. Auf allen Seiten entstehen um dieses Forum bis in die frühe röm. Kaiserzeit Kommunalbauten und Heiligtümer. Die verschiedenen Gebäudefronten treten zum Platz nicht in Erscheinung: allseitig umlaufende zweigeschossige Säulenhallen schließen den Platz zu einem elnheitl.-durchgeformten Freiraum zusammen. Ais einziges freistehendes Gebäude bildet auf 3 m hohem Podium der Tempel des Jupiter Capitolinus die Dominante röm. Art. An der gegenüberliegenden Platzseite gruppieren sich in rechten Winkeln zueinander Kommunalbauten zum polit. Zentrum: eine große Basilika, drei Kurien für den Stadtrat und die hohen Beamten, dazu das Comitium als Wahllokal. Die östl. Längsseite ist mit 2 großen Profangebäuden und 2 kleineren Heiligtümern besetzt. Das sog. Gebäude der Eumachia dient der wichtigen Gruppe der Tuchmacher als Zunft- und Lagerhaus. In seinem Hof findet der Tuchmarkt statt. In der NO-Ecke de^; Forums, nahe zur Neustadt liegt das M^cellum, der Lebensmittelmarkt mit Läden an der Außenseite und Marktständen im Inneren. Unter
Gebäudekomplexe erhalten durch die zweigeschossigen Kolonnaden eine einheitl. Fassadenflucht. Trotz der Übernahme heilenist, Kolonnadenfronten (Stoa, S. 176) geht diese Umformung über die griech. Konzeption der Agora hinaus. Die griech. Architektur erstrebt vor allem die gleichmäßige Formung des Baukörpers, die römisch-italische die Ausbildung des Raumes. Der entscheidende Übergang vom freien Wachstum mit fließenden Raumbeziehungen zur rationalen Planung eines einheitl. Platzraumes mit fester Achse und Ausrichtung auf eine Dominante fällt in POMPEJI in die Samniterzeit. Sie greift der stadtröm. Entwicklung vor. Beim späteren Städtebau im Imperium Romanum werden die Fora schon bei der Vermessung als geschlossene axial-symmetrische Plätze in das System des Castrum Romanum eingefügt (S. 214). Das Forum von Augusta Raurica bietet ein Musterbeispiel. Die östl. von Basel 44 v. Chr. gegründete älteste Veteranenkolonie nördl. der Alpen erlebt ihre Blütezeit im 2.Jh. n. Chr. Die regelmäßige Anlage paßt sich dem Umriß eines Plateaus am Hochufer des Rheins an. Ihr Achsenkreuz schneidet sich vor dem Jupiter-Tempel (Kapitol) auf dem Forum. Der Cardo, hier ausnahmsweise als O-W-Achse, verläuft als ideale Symmetrieachse von der Tempelmitte über den Altar zum Mittelpunkt der kreisförmigen Kurie. Der Decumanus Maximus, zur N-S-Hauptstraße der Stadt ausgebaut, stößt durch Säulenhallen von beiden Seiten an das Forum und teilt es in den sakralen Bereich desKapitols und den eigentl. Forumsplatz mit den Gebäuden der Staatsgewalt. Für das Forum sind im Schachbrett der Stadt 21/? Insulae von je ca. 40/51 m ausgespart, je l Insula für das Kapitol und den zentralen Platz, eine halbe für die Basilika. Ladenzeilen und Kolonnaden schirmen das Forum als ideale und repräsentative Zone gegen die Stadtviertel ab, ohne den Zusammenhang zu zerreißen. Sie setzen sich an den inneren Langseiten des Platzes fort, am Kapitol als geschlossener Umgang. Seine Mauerflächen steigern die Wirkung des Ringhallentempels, der von seinem hohen Podium den Platz als Dominante beherrscht. Ihm gegenüber schließt die Basilika als profaner Repräsentationsbau den Platz ab. Ihr Innenraum steht durch den weiten Portikus an der Längsseite in direkter Verbindung mit dem Forum und kann als dessen überdachte Fortsetzung gelten. Die als Rotunde angebaute Kurie für die Sitzungen des Rates ist nach Art heilenist. Buleuterien (S. 176} mit ansteigenden Rängen ausgebildet. Die Gesamtkonzeption des Forums entspricht der offiziellen, von der stadtrömischen Entwicklung ausgehenden Architektur (S. 220).
220 Rom/Typologie V: Städtebau 5
AQuifinal B Kapitol C Forum Romanum D Julius-Forum EAugustus-Forum F Nerva-Forum G Trajans-Forum
0
| Sakralbauten
j Kommunal bauten
Lj_'J Stadtviertel
[
| Straßen, Plätze
Städtische Zentren 2: die Foren in Rom
1 T rajans-Tempel 2BasilicaUlpia 3 Mars-Ternpel 4 Mmerva-Tempel 5 Friedens-Tempel 6 Augustus-Bogen 7 Basilica Aemilia 8 Basilica Julia 9 Kurie 10 Tempel der Venus Genetrix 11 Trajans-Markt (s. Typ. XVI)
Rom/Typologie V: Städtebau 5 Das Streben nach verbindl. Normen und festen Regeln führt bei der Anlage stadt. Plätze zu einem Grundtyp mit Varianten, VITRUV fordert von ihm u. a. richtige Größe im Verhältnis zur Einwohnerzahl, rechteckigen Grundriß mit dem Seitenverhältnis 2:3, zweigeschossige Säulenhallen mit weitem Stützenabstand, die obere Säulenordnung ca. 1/3 niedriger als die untere. In Rom selbst wird eine regelmäßige Platzanläge erst relativ spät unter Caesar verwirklicht. Vorher konzentriert sich das öffentl. Leben jahrhundertelang auf dem Forum Romanum. Die beginnende Urbanisierung Roms findet Anfang des 6.Jh. sichtbaren Ausdruck in der Anlage eines Platzes in der trockengelegten Niederung zwischen KAPITOL, QUIRINAL und PALATIN. Als Folge der dynam. polit. Entwicklung ändert sich fortwährend seine Gestalt. Einige Tempel entstehen als erste feste Gebäude, ferner Regia und Domus Publica für den Oberpriester, die Curia Hostilia für den Senat. Für GerichtsVerhandlungen, Wahlen, kult. Spiele und Triumphzüge hilft man sich mit Provisorien. Später begrenzen feste Marktstände, die Tabernae, die Längsseiten des Platzes. Nach dem Sieg über KARTHAGO verliert die Innenstadt ihren provinziellen Charakter, die Dimensionen der Gebäude wachsen. Am Ende der Republik erreicht das Forum seine endgültige Form. Die Tempel und Gebäude des kult. Dienstes bleiben auch bei den häufigen Umbauten meist an den traditionellen Standorten. Zwischen sie schieben sich die Profanbauten. Die Grundform des Platzes bildet ein längliches Trapez, das sich vor der Kurie durch den Platz der Comitien seitl. erweitert. Die Giebelfassaden der Tempel und die Längsfronten der beiden großen Basiliken treten zu raumbegrenzenden Platzwänden zusammen (S. 24). Ihre Wirkung wird durch die Lage zwischen den Hügeln verstärkt. Über der nordwestl. Stirnseite beherrscht das Kapital als natürliche Dominante den historisch gewachsenen Platzräum, der sich bis zum Ende des Imperiums mit Statuen, Ehrensäulen und Triumphbögen füllt. Die Kaiser-Fora entstehen zur Entlastung des Forum Romanum und übernehmen sowohl repräsentative wie kommerzielle Funktionen. Zusammen mit dem Templum Pacis bilden sie im Chaos der Altstadt eine Gruppe ideal-regelmäßiger Freiräume. Sie schließen sich mit ihren Brandmauern parallel oder im rechten Winkel aneinander, nur mit schmalen Durchgängen verbunden. Jeder Platz hat seine eigene SymmetrieAchse und Dominante. Den Anfang macht 51 v. Chr. CAESAR mit dem Forum Julium. Seine Eingangshalle verbindet sich mit dem zum Forum Romanum vorgeschobenen Neubau der Curia Julia zu einer einheitl. Straßenfront. Hinter ihr öffnet sich der Platz, von zweischiffigen Säulenhallen begrenzt, axial auf den
221
Tempel der Venus Genetrix ausgerichtet, Sein Giebel bildet zwischen zwei Bogentoren die dominierende Fassade der Kopfseite. Sein Baukörper tritt ebensowenig in Erscheinung, wie die hinter den Kolonnaden verborgenen Läden und Nutzbauten. Das Augustus-Forura führt die Außenflucht des Forum Julium weiter, während seine Achse zu ihm im rechten Winkel steht. Die Kolonnaden sind durch eine Attika erhöht, der Tempel des Mars Ultor springt in den Platz vor. Sein steil aufragender Giebel verdeckt die hohe Brandmauer am Hang des QUIRINALS. Der Wille, den Platz als einheitl. Raum auszubilden, unterdrückt das neue Motiv der Exedren. Sie bleiben hinter den Kolonnaden räumlich isoliert, Zwischen den beiden Fora und dem unter VESPASIAN erbauten Templum Pacis (Friedens-Tempel) läuft das Argiletum als Verbindungsstraße. Sein Ausbau zum NervaForum beginnt unter VESPASIAN. Aus Platzmangel tritt anstelle echter Kolonnaden eine Blend-Architektur aus monumentalen korinth. Säulen mit verkröpftem Gesims und Figurenfries vor die beiderseitigen Brandmauern. Der Straßenraum erweitert sich optisch zu einem Forum Transitorium mit dem Minerva-Tempel als echter Dominante. Es vermittelt den Durchgangsverkehr zwischen Forum Romanum und dem Stadtteil Subum und die Zu- und Übergange zum Templum Pacis und den KaiserFora. Die Bau-Ideen dieser Plätze faßt das Trajans-Forum in einer Großanlage zusammen und steigert sie in einer Folge von offenen und geschlossenen Räumen, die unter teilweiser Abtragung der Hänge zwischen KAPITOL und QUIRINAL getrieben werden, In der geschwungenen Südseite bildet ein Triumphtor den Durchgang vom AugustusForum auf den ungewöhnlich weiten Platz, Die seitl. Säulenhallen übernehmen die Exedren als kontrastierende Nebenräume, An die Stelle der übl. Tempel-Dominante tritt hier die quergelagerte Basilica Ulpia (S. 231). Ihre beiden Apsiden wiederholen das Motiv der Exedren. In der Längsachse des Forums folgt als Überraschungseffekt ein kleiner Hof mit der Trajans-Säule, seitl. begrenzt von zwei Bibliotheken, Ein Halbrund von Kolonnaden umschließt als abgetrennter Sakralbezirk den Tempel des vergöttlichten Kaisers. Das Forum Romanum bewahrt bei allen Veränderungen den Zusammenhang zur Umgebung. Die Kaiser-Fora schließen sich rigoros voneinander und zur Stadt ab. Die Möglichkeit, sie zu einer Folge städt. Räume mit wechselndem Rhythmus von Raumbildern und Passagen zu verbinden, wird im Trajans-Forum in Ansätzen sichtbar, aber als Ganzes nicht angestrebt. Die Römer verwirklichen in den Fora den allseits gleichmäßigen Raum nach verbindlichem Schema mit monumentalem Effekt. Die Wiederholung der überall gleichen imperialen Geste kennzeichnet die römische Staatsarchitektur.
222 Rom/Typologie VI: Wohnhaus l
Pompejanisches Peristylhaus {schematischer Längsschnitt)
Pompeji: großes Peristylhaus (»Casa del Fauno») Wohnräume Wirtschaftsräume Gänge, Hallen, Höfe Garten
Das italische Atriumhaus
1 Taberna 2 Atrium 3Ala 4 Tablinum 5 Cubiculum
6 Garten 7 Peristyl 8 Exedra 9Tricliniurr
Rom/Typologie VI: Wohnhaus l 223 Vom Neolithikum bis zur Spätantike einwandernde Volksgruppen überziehen Italien mit einem Mosaik von Haus- und Siedlungsformen, in abgelegenen Landschaften noch im 20.Jh. bruchstückhaft erhalten (S. 38). Aus der Frühzeit selbst bieten nur wenige Grundrißfragmente, vor allem aber in Gräbern gefundene Hausurnen Ansätze zur Rekonstruktion regionaler Grundtypen: Übergangsformen von der Rundhütte zum rechteckigen Herdhaus. GRIECHEN in Süd- und ETRUSKER in Mittelitalien bauen die ersten städt. Wohnhäuser. Im etruskischen Bereich gibt es außer mehrräumigen Grabanlagen und Hausurnen nur wenige Anhaltspunkte für die Frühstufen mehr räumig t-r Häuser. Der Kernbau der Regia auf dem Forum in Rom gleicht mit Vorhalle, Herdraum und Rückraum einem ägäischen Megaron (S. 134). In Marzabotto (S. 213) bestehen die regelmäßigen Insulae der Wohnviertel zum Teil aus Häusern, deren Raumgruppen um einen Mittelhof angeordnet sind. Eingangsflur an der Straße und Hauptraum an der Rückseite liegen meist auf der Mittelachse. In Stadt und Haus gelten ähnliche Raum- und Achsbeziehungen als Ausdruck einer alle Lebensbereiche umfassenden, religiös motivierten Ordnung. Das Problem, sie mit den prakt. Bedürfnissen des Wohnhauses und den Konstruktionen eines rationellen Holzbaues zu verbinden, findet seine Lösung im Atriumhaus. Es setzt sich im 4.Jh. als gesamtital. Typ durch. Die Theorien über seine Frühgeschichte nehmen teils den allseitig umbauten Innenhof, teils die Angliederung seitl. Raumgruppen an einen megaronartigen Kern als Ausgangspunkt an. Die verschiedenen Formen des Atriums unterscheiden sich durch die Dachkonstruktion. Beim Atrium tuscanicutn überspannen die Deckenbalken frei den Raum, beim Atrium tetrastylicum stützen vier Säulen den Ringbalken der Lichtöffnung. Vermehrung der Stützen führt zum peristylartigen Atrium corinthicum. Als normale Ausbildung der Dachöffnung gilt das Compluvium, dessen nach innen geneigte Dachflächen das Regenwasser in das Becken im Boden des Atriums ableiten. Im Gegensatz dazu sind beim älteren Displuvium die Dachflächen nach außen geneigt. Der Grundriß ordnet sich axialsymmetrisch um das Atrium. An den Längsseiten liegen die kleinen Schlafzimmer, die Cubicula, an Vorder- und Rückseite die größeren Wohnund Wirtschaftsräume. Die beiden Seitenflügel, die Alae, erschließen die Räume neben dem Tablinum, die Oeci. Eine schmale Passage führt zum Garten. Die Dachform des Atriumhauses ermöglicht eine abgestufte Raumhöhe und Lichtführung. Der hohe Raumkubus des Atriums erweitert sich in den Alae meist in voller Höhe seitwärts und rückt die Raumgruppe an der Gartenseite in eine leichte Distanz zu den übrigen. Das Tablinum öffnet sich weit gegen das Atrium, ein gro-
ßes Fenster verbindet es mit dem Garten. Die übrigen, niedrigeren Räume sind gegen das Atrium mit Türen abgeschlossen. Fenster an den Außenfronten sind selten. Das Tablinum dient anfangs als Zimmer der Eltern mit dem Ehebett, später als Empfangsraum. Im Atrium stehen Hausaltar, Herd und Eßtisch, später liegt die Küche separat, ein Oecus wird als Speisezimmer, oft schon als Triclinium eingerichtet. Steigende Ansprüche und Differenzierung der Raumfunktionen bedingen eine Ausweitung des Raumprogramms. Das strenge Schema des Atriumhauses läßt sie nur begrenzt zu. Bei der Verbindung mehrerer Häuser dient meist eins der Repräsentation, eines oder mehrere der Familie und den Geschäften. Den Durchbruch zu einer Neudisposition bringt erst die Kombination mit dem beweglichen System des über Campanien vordringenden heilenist. Peristylhauses. Die Vorzüge beider Typen werden nicht in einer neuen Mischform vereinigt, sondern in einer Hintereinanderschaltung der Grundrisse kontrastiert und gesteigert. Die besten Beispiele dieser Verwandlung während der Zeit vom 2.-l.Jh. v. Chr. bietet Pompeji. Das a 1tpompejanische Haus entspricht in seiner Anlage dem altrömischen. Die Räume an den Straßenfronten dienen meist als Werkstätten und Läden (Tabernae). Die einfache Erweiterung durch ein Peristyl zeigt der Grundriß der »Casa di Capitelli figurati«. Den Nutzräumen an der Straße folgt das langrechteckige, symmetr. Atrium. In der Reihe der repräsentativen Räume öffnet sich das Tablinum nach vorn und hinten, die Triclinien nur zum GartenPeristyl. Seine Säulenhalle, ohne weiteres Raumprogramm dem Atrium angefügt, besteht nur aus 3 Flügeln; an der 4. Seite läuft sie als Blendkolonnade weiter. Die einfache Anlage ist völlig in eine Insula eingebaut und ganz nach innen gerichtet. Die großen Villen der hellenisierten samnit. Oberschicht nehmen oft die ganze Tiefe einer Insuia ein. Die »Casa del Fauno« beansprucht außerdem die Breite von zwei normalen Parzellen für zwei miteinander verbundene Atriumhäuser, ein zentrales Wohn-Peristyl und ein Garten-Peristyl. Jede dieser vier Raumgruppen ist in sich selbständig; nur schmale Durchgänge verbinden die zentralen Räume miteinander. Ihre Folge ist bestimmt vom Wechsel der Raumachsen, stufenweiser Zunahme der Raumweite und Helligkeit bei gleichzeitiger Abnahme der Raumhöhe. Das bedeutet zugleich eine Wandlung vom strengen, fast monumentalen Charakter des Atriums zum heiteridyllischen des Peristylgartens. Die »Casa del Fauno« bewahrt trotz ihrer Ausdehnung den Charakter des in die Insula eingeschlossenen Stadthauses. Die zunehmende Lockerung und Öffnung des Baukörpers vollzieht sich in den großen Villen der Kaiserzeit (S. 226).
224
Rom/Typologie VII: Wohnhaus 2
Wohnräume Läden, Nebenräume gedeckte Gänge, Treppen
l
Ostia: Casadi Diana a Erdgeschoß, b Obergeschoß
Mehrstöckige städtische Miethäuser
l Hof
Rom/Typologie VII: Wohnhaus 2 225 Seit dem 2.Jh. v. Chr. steigt die Einwohnerzahl ROMS immer schneller an. Bildung eines städt. Proletariats, Bodenspekulation, Entstehen von Slums und eine ständige Wohnungsnot sind die Folgen. Die Bevölkerungsdichte Roms wird für die Kaiserzeit auf ca. 80000 Einwohner/qkm, für den Stadtkern noch wesentlich höher geschätzt. Das Atriumhaus bleibt als Wohnungsform nur noch der wohlhabenden Oberschicht vorbehalten. Für die Masse der Bevölkerung bilden sich neue Typen: Die städt. Miethäuser. Die ersten dieser »Insulae« entstehen durch Umbau, Aufstockung und Vereinigung von Atriumhäusern, Die niedrigen Raumgruppen um das hohe Atrium erhalten ein Stockwerk, das mit separaten Treppen erschlossen und in Mietwohnungen (Cötiacula) aufgeteilt wird. Ein Teil des Erdgeschosses nimmt Läden und Werkstätten auf. Die auf möglichst hohe Bodennutzung bedachte Gewinnspekulation treibt die Stockwerkszahlen in die Höhe. Das Atrium wandelt sich zum Lichthof. Zu leichte Konstruktionen führen häufig zu Einstürzen, ungenügend gesicherte Feuerstellen zu Bränden mit katastrophalen Folgen. Wohnungsstandard und sanitäre Einrichtungen sind dürftig. Soziale Aspekte spielen keine Rolle. Allmählich differenziert sich das Wohnungsangebot für die verschiedenen Mietergruppen. Kaiserliche Baugesetze suchen die Entwicklung in geregelte Bahnen zu lenken, u. a. wird die Maximalhöhe für Miethäuser verschiedene Male neu festgesetzt, zuletzt unter TRAJAN auf 60 röm. Fuß = 17,60 m. Dennoch bleiben in Rom die Verhältnisse chaotisch, da es nie zu einer geregelten Stadtplanung kommt. Anders in Ostia. Bauvorschriften und regelmäßiges Straßennetz begünstigen die Ausbildung neuer Typen der städt. Insula. Einheit!, geplante Baublöcke lösen das alte Gefüge der Atriumhäuser ab. Die Erdgeschosse dienen wie bisher als Läden, Werkstätten und damit vertmndenen Wohnungen . Oft schützen Bogengänge Fußgänger und Waren vor der Sonne. Über einem niedrigen Zwischengeschoß (Mezzanin) folgen im 1. Obergeschoß meist größere Wohnungen für zahlungskräftige Mieter des Mittelstandes (Piano Nobile). Die höheren Geschosse enthalten kleinere Wohnungen und Einzelzimmer, in denen sich Mieter der unteren Bevölkerungsschichten und Dienstpersonal drängen. Die Ausgrabungen der Stadtviertel lassen Insula-Typen mit verschiedenen Erschließungs- und Wohnungssystemen erkennen. 1. Schmale Insula mit einem Mittelflur in Längsrichtung und Zimmerfluchten an beiden Seiten. 2. Schmale Insula mit längs durchgehender tragender Mittelwand. In den Obergeschossen an jeder Längswand eine Zimmerflucht, durch je einen Flur und ein eigenes Treppenhaus erschlossen. Ein typ. Block mit solchen Wohnungen für bescheidene Ansprüche ist die »Casa di via della Fontana«.
3. Schmale oder mittl. Insula mit tragender Innenmauer in Längsrichtung. An beiden Längsseiten je eine fast spiegelgleiche Großwohnung (Zweifassadenhaus) : Große fensterreiche Eckzimmer, verbunden durch eine ebenfalls reicht, befensterte Diele, hinter dieser eine Gruppe von Räumen mit indirekter Belichtung und Belüftung, Treppenerschließung wie in Typ 1. 4. Breite Insula mit Innenhof, der in den verschiedenen Geschossen mit umlaufenden Arkaden, Laubengängen oder Fluren Läden und Wohnungen erschließt. Möglichkeit zu vielfältiger Nutzung mit Wohnungen verschiedener Größe und - wenigstens teilweise - zweiseitiger Belichtung. Ein Beispiel dieses Typs ist die »Casa di Diana«. Als Eckhaus einer großen Insula zweiseitig eingebaut, erhält sie nur von je einer Längs- und Kopfseite Tageslicht. Der exzentrisch liegende Innenhof führt den Räumen im inneren Hauswinkel Licht und Luft zu. Von jeder Straße aus erschließt ein Flur mit seid. Treppenhaus das GebäudeInnere, eine 3. Treppe steigt von einem inneren Quergang auf. Die Wohnungen, 1-4 Räume umfassend, bestehen längs der Straßenfronten teils aus einfachen Zimmerreihen, teils aus Appartements mit Haupträumen zur Straße und indirekt belichteten Vorräumen. Bei den Wohnungen am Innenhof ist die Mehrzahl der Zimmer indirekt beleuchtet. An Versorgungs- und Sanitär-Einrichtungen sind eine Abortanlage im Erdgeschoß und ein Brunnen im Hof nachgewiesen. Küchen fehlen anscheinend. Als Beispiel einer besonders komfortablen Insula gilt die »Casa di Serapide«. Der zentrale Arkaden- und Lichthof dient in allen Geschossen als horizontale Erschließung der an den Außenseiten liegenden Läden und Appartements. Für die vertikale Verbindung sorgt ein zentrales Treppenhaus. Vor den Läden an der Hauptstraße zieht sich eine vorgebaute Arkadenreihe hin, wie sie in langen Fluchten das Straßenbild längs der großen Insulae bestimmt. Gegenüber dem Haupteiogang in der Achse des Hofes erinnert ein hoher überwölbter Raum im Erdgeschoß an das Tablinum des Atriumhauses. Dieses Wohnhaus ist mit einem gleichartigen, größeren, der »Casa degli Aurighi«, durch eine gemeinsame Thermenanlage verbunden, die den Hausbewohnern Körperpflege und Badeluxus im Hause bietet. Für die in massiver Ziegelbauweise errichteten Wohn- und Appartementshäuser bildet sich ein eigener Stil mit zwei- und dreifachen Fenstergruppen, auskragenden Baikonen vor dem I. Obergeschoß, Säulen, Giebeln und Pilastern aus Formsteinen aus. Die Großwohnhäuser sind Bestandteile der umfassenden Organisation des allgemeinen Lebens im Kaiserreich mit Kaufstraßen (S. 242), Garküchen und Thermen (S. 234), Dieser großstädt. Lebensstil wird nach dem Zusammenbruch des Imperiums erst im späten 19.Jh. wieder erreicht.
226 Rom/Typologie VIII: Villa und Palast l
| Repräsentation
Nennig: Villa a Rekonstruktion b Grundriß
l . -
Gartenhöfe
| Wohnungen
Höfe
1 Nebenräume
Säulenhallen
200m
Tivoli: Villa Hadriana Lageplan
Landsitz und Gartenpalast im Kaiserreich
1 2 3 4
»Poikile« Inselvilla Palastperistyl »Piazza d'Oro«
5 Thermen 6 »Canopus« 7 »Akademie«
Rom/Typologie VIII: Villa und Palast l Der rÖm. Gutshof, die Villa rustica, gilt als Ursprung der vielen Villen-Arten in Stadt und Land. Als Zentrum eines landwirtschaftl. Betriebes verbindet er Nutzbau und Wohnhaus miteinander. Form und Größe hängen von der Größe des Landgutes, Art und Umfang der Produktion, Topographie und Klima ab. Der Intensivwirtschaft mit Wein und Oliven in Campanien entspricht z. B. ein Gutshof aus spätrepublikanischer Zeit in Boscoreale: ein geschlossenes Rechteck als Dreiflügelanlage mit einem zentralen Peristyl. An seiner Nordseite das zweigeschossige Wohnhaus, im Ost- und Westflügel Kelter und Ölpresse, Lagerräume für öl und Wein und eine überdachte Tenne. Bei den Großgütern (Latifundien, S. 203) lösen sich die Gutshäuser aus der Verbindung mit den Wirtschaftsgebäuden und treten in Wettbewerb mit den stadt. Villen. Das Herrenhaus des Landgutes heißt bei Vitruv bezeichnenderweise »Villa urbana«. Das Vorbild ist aber die Villa suburbana, das Wohnhaus der städt. Oberschicht in freier Landschaft vor der Stadt. Von den gegensätzl. Anlagetypen schließt eine Gruppe an die heilenist. Peristylvillen nach Art der Casa del Fauno in POMPEJI (S. 224) an. % Im Gegensatz dazu bestehen die Portikusvillcn meist aus einem langrechteckigen Gebäudekern mit vorgelegten Säulenhallen zwischen risalitartig vorgezogenen Seitenflügeln oder Pavillons. Dieser weitverbreitete Typ entspricht besonders dem Klima der nördl. Provinzen. Im Aufbau des Baukörpers setzt sich die röm. Vorliebe für Achsen und Symmetrien durch, vielleicht unter dem Einfluß der Militärbauten (Prätorien, Legatenpaläste). Kleine und große Villen dieses Typs sind in GALLIEN, ENGLAND und GERMANIEN ausgegraben. Ein Beispiel für ihre oft palastartigen Dimensionen bietet eine wahrscheinlich im 2.Jh. n. Chr. erbaute Villa bei Nennig im luxemburg. Moselland. Inmitten eines ummauerten Gartens von 610 m Breite staffelt sich die Baugruppe auf einem hohen Sockel (Basis villae) symmetrisch zur Mittelachse. Eingeschossige Säulenhallen ziehen sich um Rückseite und Seitenfronten des Hauptgebäudes, biiden mit den zwei spiegelgleichen Nebengebäuden einen in Höhe und Breite abgestuften Vorhof und laufen parallel zur Hauptfront als lange Horizontalen in die Gartenlandschaft aus. Am Hauptgebäude bilden die dreigeschossigen Seitenflügel mit ihren Mauerflächen einen starken Kontrast zum doppelstöckigen Portikus der Hauptfront und markieren fast turmartig die Ecken des Baukörpers. Die äußere Symmetrie setzt sich im Innern nur in dem durch beide Geschosse gehenden Mittelsaal fort. Die Lage der vier eingebauten Peristyle mit den Gruppen der Wohn- und Wirtschaftsräume entspricht dem Differenzierten Raumprogramm. Das freistehende Thermengebäude ist von der südl. Kolonnade erreichbar.
227
Immer mehr prägen individuelle Programme die Villenarchitektur. Hypokausten-Heizungen mildern die Härten des Klimas, Glasfenster befreien die Räume von der engen Bindung an Atrium und Peristyl und ermöglichen die Orientierung zur Landschaft. Komfort der Lebensführung und Freiheit der Planung steigern sich bei nahezu unbegrenzten Geldmitteln in den Landsitzen der Kaiser. Die Villa Imperialis dient als private Sommervilla oder als Nebenresidenz mit mehr oder weniger großer Hofhaltung. Sie kann je nach zugedachter Funktion und persönl. Stil des Herrschers ein Landhaus oder ein Palast sein. Beides vereinigt in einzigartiger Weise die Villa Hadriana in Tivoli. Hadrian läßt sie von ca. 118-138 n. Chr. in drei Bauabschnitten als seine röm. Residenz errichten. Die Lage auf einem flachen Hügelrücken vor dem Südrand der Sabiner Berge (costa calda) zeichnet sich durch ein mildes Winterklima aus. Das ca. 300 ha große Areal steigt zwischen zwei Bachtälern etwa 53 m gegen S an, durch weitläufige Terrassen mit Gärten, Hainen, Alleen und Wasserbecken gegliedert. Die zahlreichen Gebäudegruppen dienen einesteils den Staatsgeschäften und der imperialen Repräsentation, anderenteils dem privaten Umgang und dem völligen Zurückgezogensein des Kaisers. Die Bezeichnung dieser Residenz- und Gartenstadt als »Villa« kennzeichnet den Unterschied zu der kompakten Anlage der Paläste auf dem PALATIN (_S. 228). Vier Gebäudekomplexe folgen mit jeweils eigener Orientierung dem Geländeverlauf: Der Palast parallel zum NO-Hang, die große Terrasse mit der Akademie und dem »Turm des Timon« auf ihrem Ausläufer an der Gegenseite parallel zum SW-Hang. Die Poikile, eine Art Gartenforum mit umlaufenden Säulenhallen dehnt sich in OWRichtung auf dem nach N fallenden Hang. Ihre Orientierung nimmt die anschließende Gebäudegruppe um das »Stadion« auf. Der Thcrmenkornplex mit den verbindenden Säulenhallen orientiert sich nach dem Lauf eines eingetieften Zwischentales, in dessen Verengung und Vertiefung sich der Canopus genannte künstl. See mit dem Serapeum hineinschiebt. Ein großer Teil der Gebäude wird von den Elementen der röm. Staatsarchitektur analog zu den palatin. Palästen bestimmt. Einige aber zeigen eine typisch »hadrianische« Architektur, vor allen die »Piazza d'Oro« am Palast und die als »Teatro Marittimo« bezeichnete Inselvilla, Hadrians Privatstudio, als richtungsneutrales Gelenk zwischen Palast und Poikile in einem kreisrunden Teich liegend und nur über Drehbrücken erreichbar. Sie stellt mit den vorund zurückschwingenden Wänden, Nischen, Säulenstellungen und Kuppeln und dem malerischen Reichtum ihrer inneren Durchblicke eine Quintessenz privater Villenarchitektur inmitten der Residenz dar.
228 Rom/Typologie IX: Palast 2
•
Nebenräume, Verwaltung
BMI Gartenhöfe |
| Straßen, Plätze
Rom: Domitians-Palast auf dem Palatin A Domus Flavia B Domus Augustana C Stadion 1 Area Palatina 2 Schauterrasse 3 Palastkapelle 4 Palastaula 5 Audienzsaal 6 Torgebäude 7 Speisesaal 8 große Exedra
Spalato: Diokletians-Palast
1 Tor 2 Mausoleum 3 Tempelhof 4 Vestibül 5 Seearkaden 6 Speisesaal 7 Palastaula* 8 Audienzsaal
Kaiserpaläste im Imperium Romanum
Rom/Typologie IX: Palast 2 229 Unter der Monarchie wandelt sich die Form der Machtausübung vom Prinzipal des AUGUSTUS allmählich zum Dominat, einem absoluten Königtum nach heilenist. Vorbild. Das Privathaus des Princeps erweitert sich zum Kaiserpalast. Die von Augustus angekaufte Häusergruppe auf dem GERMALUS, der NW-Kuppe des
PALATINISCHEN
HÜGELS
(PALATIUM),
gleicht noch den Villen anderer vornehmer Römer (Casa di Livia). Aber schon TIBERIUS überbaut den Germalus mit dem großflächigen Komplex der Domus Tiberiana. Seine Nachfolger erweitern ihn bis zum Forum Romanum. NERO plant mit der Domus Transitoria eine Kette von Gärten, Kolonnaden, Pavillons und Villen bis zum Esquilin-Hügel. Nach dem Stadtbrand 64 n. Chr. entsteht unter seinen Architekten SEVERUS und CELER die Domus Aurea. Von ihr ist u. a. ein 370 m langer Flügel mit einem exedra-artigen Hof und einem Kuppelsaal ergraben. Nach der Brandkatastrophe 80 n. Chr. läßt DOMITIAN von RABIRIUS eine grundsätzl. neue Konzeption verwirklichen. Der Domitians-Palast ist ganz auf die autoritäre Führung der Regierungsgeschäfte zugeschnitten. Auf der Südkuppe des palatinischen Hügels (Palatium) entsteht durch Planierung und Substruktionen eine Plattform von ca. 160/200 m für zwei parallele Gebäudekomplexe: die Domus Flavia im N als Regierungspalast, die Domus Augustana im S als Wohnpalast. Beide sind nach dem Prinzip des Peristyls angelegt. Die Domus Flavia vereinigt vier großräumige Gebäudetrakte um das zentrale Peristyl. Der Ostflügel besteht aus einer Gruppe von 3 Sälen, der 30 m breiten (!) Aula Regia für die Staatsakte, flankiert von der Palastbasilika für Beratungen und Audienzen, und dem Lararium, der »Palastkapelle« für die Götter des Kaiserhauses. Eine auf der hohen Palastterrasse (Basis Villae) umlaufenden Säulenhalle schließt diese Dreiergruppe zu einer einheitl. Front zusammen. Aus ihr springen gegen den Platz der Area Palatino drei Balkone vor. Auf ihnen erscheint der Kaiser den Abordnungen und Versammlungen. Im Westflügel erhebt sich als Gegenstück zur Palastaula der große Bankettsaal, die Coenatio Jovis, zwischen zwei Gartenhöfen. Von den beiden Verbindungsflügeln dient der nördl. als Eingangshalle zum zentralen Peristyl des Regierungspalastes, der südl. als Durchgangsbau zum gleichartigen Peristyl der Domus Augustana. Der vielräumige Wohnpalast staffelt sich auf hohen Substruktionen am SW-Hang abwärts. Der offiziellen Residenz am Hauptperistyl folgt 12 m tiefer die Privatwohnung des Kaisers um den versenkten Gartenhof. Die geschwungene Kolonnade der zweigeschossigen großen Exedra bildet die Westfassade mit dem Privateingang und dient derrj Kaiser und seinem Gefolge als Loge über dem Circus Maximus. Im S schließt sich an die Domus Augustana ein langge-
strecktes Gartenperistyl, das sogenannte Stadion an (vgl. Villa Hadriana, S. 226). Dem vielgestaltigen Raumprogramm des Domitians-Palastes liegt als Bezugssystem ein doppeltes Achsenkreuz zugrunde. Die Längs- und Symmetrieachse der Domus Flavia verläuft vom Huldigungsbalkon an der Area Palatina bis zur Nische in der Coenatio Jovis. Bei der Huldigung, beim Staatsakt, beim Bankett bildet der Kaiser, meist auf erhöhtem Podest im Rahmen einer Apsis, den Bezugspunkt der Achse, die gleichzeitig die ideelle Verbindung zum alten Zentrum Roms, dem Forum Romanum, herstellt. Die parallele Hauptachse der Domus Augustana verläuft genau in der Gegenrichtung vom Portal in der großen Exedra über das untere Peristyl durch den Wohnpalast aufsteigend bis zur Exedra im östl. oberen Gartenperistyl. Die Kreuzungspunkte mit der Querachse liegen in der Mitte der beiden Zentral-Peristyle mit den Zu- und Durchgängen vom äußeren Umgang bis zum Stadion. DOMITIANS Palatium, dessen Name zum Gattungsbegriff Palast wird, bleibt offizielle Zentrale des Imperiums bis zur Reichsreform DIOKLETIANS 293/97. Die Palatia der Tetrarchen in den neuen Verwaltungshauptstädten NlCOMEDIA, SlRMIUM, MAILAND, TRIER und YORK variieren die vom Palatin bekannten Raumgruppen und Gebäudetypen. Der bedrohten Lage des Imperiums und dem kriegerischen Charakter der Epoche entspricht besonders der Diokletians-Palast in Spalato. Der Oberkaiser wählt das Schema des Militärkastells (S. 214) als Rahmenform für seinen Alterssitz. An den Landseiten springen Viereck- und Achtecktürme flankierend aus der 18 m hohen Wehrmauer vor. Die mit Zwingern gesicherten Tore markieren die Endpunkte des Achsenkreuzes. Cardo und Decumanus teilen als Kolonnaden-Straßen das Kastellareal in vier Quartiere: die nördl. dienen Palasttruppe und Verwaltung als Unterkunft, die südl. als Rahmen für das Mausoleum und als sakrales Forum. Sie öffnen sich zum peristylartig erweiterten Cardo, dem Vorhof zum Palast. Ihn schließt im S das zweigeschossige Vestibül mit einer tempelartigen Front ab. Unter dem in den Giebel eingesprengten Bogen erscheint der Kaiser bei Huldigungen als »Dominus et Deus«. Ein Säulensaal führt zu den Seearkaden. Sie dienen wie bei den großen Portikusvillen (S. 226) zugleich der Promenade am Meer und der Erschließung des Palastes. Sein Westflügel enthält zwei parallele Apsidensäle: Aula Regia und Audienzsaal, an den sich die Privatwohnung mit einer Therme anschließt. Im Ostfiügel vermutet man den Bankettsaal mit seinen Nebenräumen. Vom Untergeschoß mit den stützenden Gewölberäumen führt in der Hauptachse die Porta Marina zum Anlegeplatz der Schiffe.
230
Rom/Typologie X: Basilika l
l Tribunal l Vorhalle BBI Mittelschiff h '• | Seitenschiff
0
20m
Grundrisse, a Cosa, b Pompeji (s. Typ. IV), c Augusta Raurica, d Aspendos
Querschnitten Rom: Basilica Ulpia, b Fano: ßasilica desVitruv
Typen römischer Basiliken
Rom/Typologie X: Basilika l Die röm. Basilika ist ein kommunaler Mehrzweckbau mit repräsentativem Charakter. Sie dient als Markthalle, Bankgebäude und Börse, als Gerichtssaal und allgemeiner Treffpunkt. Bevorzugte Standorte sind die Ränder der Marktplätze, auf denen sich das öffentl. Leben mittelmeerischer Städte vorwiegend abspielt. Im Städtebau des Imperiums (S. 218) gehört eine Basilika zum Standardprogramm für jedes Forum. Die Anfänge der Typenbildung sind bisher ungeklärt. Trotz des griech. Namens gibt es kein eindeutiges griech. Vorbild. Die Verwandlung heilenist. Gebäudeformen zu einem vom Innenraum bestimmten Hallentyp scheint Anfang des 2.Jh. v. Chr. weit fortgeschritten. Als erste Baudaten sind überliefert: für Rom die Basilica Porcia 189, B. Aemilia 179, B. Sempronia 170 v. Chr. Etwa gleichzeitig folgen bescheidene Hallenbauten in den ital. Kolonien, z. B. ARDEA, COSA, ALBA FUCENS. Vor allem scheint Campanien als Nachbar der griech. Städte aktiver Träger der Entwicklung zu sein. Ihr am besten erhaltenes Beispiel ist die um 130 von den Samnitern erbaute Basilika in Pompeji. An der Schmalseite schließt eine Vorhalle unmittelbar an die Kolonnaden des Forums (S. 218) an. Ungeklärt ist, ob es sich bei dem Hauptraum um ein langgestrecktes offenes Peristyl oder eine gedeckte Halle mit allseitig umlaufender zweigeschossiger Säulenordnung vor Umgang und Galerie handelt. Die Längsachse zielt auf das zweigeschossige Tribunal, das aber hinter der Säulenstellung isoliert ist. - Der formale Aufbau folgt hellenist. Traditionen, der axial gerichtete, gleichmäßige, geschlossene Raum dagegen, ähnlich wie beim Forum, ital. Vorstellungen. Im Gegensatz zu diesem Längsbau steht als Breitbau die Mitte des 2.Jhs. erbaute Basilika von Cosa. Der an drei Seiten geschlossene Baukörper, mehr breit als lang, öffnet sich mit der innen umlaufenden Säulenhalle in voller Breite zum Platz. Gegenüber nimmt eine Nische in der Rückwand das Tribunal auf. Diesem Typ entspricht eine kleine Forumsbasilika, die VITRUV ca. 27 v. Chr. in Fano erbaut. Eine Rekonstruktion nach seiner Beschreibung zeigt den für solche Hallen typischen Querschnitt: der Mittelraum, von freitragenden Dachbindern mit einem Satteldach überdeckt, ragt laternenartig über die zweigeschossigen Seitenräume hinaus. Die Fensterzone über ihren Pultdächern sorgt für Oberlicht. COSA. und POMPEJI variieren gleiche Grundelemente: einen überhöhten Mittelraum, einen Umgang mit Kolonnaden, darüber gleichartige Galerien, in der Hauptachse das Tribunal, vom Hauptraum isoliert. Die Unterschiede liegen in der Betonung der Achse - POMPEJI längs, COSA quer -, ferner in zusätzlichen Elementen, wie der gesonderten Vorhalle, sowie in den Einzelformen. Im Lauf der Entwicklung wachsen die Di-
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mensionen und die Zahl der Schiffe. Der »Vitruvianische Typ« verliert an Bedeutung, die Basiliken wachsen vor allem in die Länge. Quer- und Längserschließung bleiben gleich häufig. Als letzter großer Hallenbau am Forum Romanum (S. 24, 220) entsteht anstelle der Basilica Sempronia unter CAESAR und AUGUSTUS die Basilica Julia. Sie dient als Gerichtshalle, erfüllt aber auch die alte Marktfunktion: die Tabernae veteres werden an ihre Rückseite verlegt und öffnen sich zum äußeren Umgang. Zu den übrigen Seiten ist die Halle als überdachte Fortsetzung des Forums offen. An die Stelle der heilenist. KolonnadenArchitektur tritt innen und außen eine Folge röm. Arkaden mit Tonnengewölben in beiden Umgängen. Die heilenist. Leichtigkeit wird durch Wucht und gegliederte Masse ersetzt, der Baukörper konstruktiv und formal einheitl. durchgebildet und allseitig mit Öffnungen durchbrochen. Ein Jahrhundert später erhält ROM in der Basilica Ulpia die an Grundfläche größte Halle, die einzige im Gesamtkomplex der Kaiserfora (S. 220). Sie ist kein freistehender Einzelbau mehr, sondern mit dem Trajans-Forum als Einheit geplant. Quer zu dessen Hauptachse bildet ihre Längsfront die dominierende Schauseite des Forums. Die Konstruktion mit Säulen und Architrav zeigt das altgewohnte Basilikaschema in gesteigerten Dimensionen mit fünf Schiffen. Als neues Element wird aus der Forumsarchitektur die halbrunde Exedra (Apsis) übernommen. Sie bildet an beiden Stirnseiten vom Innenraum isolierte, auch äußerlich selbständige Bauteile. Im Grundriß wirkt aber ihre Verdoppelung zusammen mit der Quer-Erschließung dem Richtungscharakter der Halle entgegen (vgl. Mittelalter, Bd. 2). Der Typ der röm. Forumsbasilika erreicht in der Basilica Ulpia des Trajans-Forums seine für lange Zeit gültige repräsentative Form. Ihrem Vorbild folgen zahlreiche Forumsbasiliken in den Provinzen. Bei der Basilika in Augusta Raurica wiederholt sich sowohl die Querlage zum Forum wie der Grundriß in vereinfachtem Schema (S. 218). Die Apsiden sind räumlich nur noch leicht getrennt, aber außen bereits mit dem Baukörper zur Einheit verbunden. Der Umgang dagegen ist auf zwei Seitenschiffe an den Längsseiten reduziert. Später tritt in der Querachse die Kurie als selbständiger Anbau hinzu. Auch der Längstyp behält weiterhin Geltung. Die große Basilika in Aspendos erhält durch eine quadratische Vorhalle mit großen Torbogen Monumental-Charakter. Der dreischiffige Innenraum erweitert sich teilweise durch ein zusätzliches Seitenschiff. Die großlinige und straffe Führung der Kolonnaden auf die Apsis verstärkt den Charakter des eindeutigen Richtungsbaues. Hier schließt die frühchristliche Entwicklung an.
232 Rom/Typologie XI: Basilika 2
1 Vorhalle 2 Mittelschiff 3 Hauptapsis
4 Seitenschiff 5 seit). Portikus 6 angebaute Apsis
Rekonstruktion
Die Maxentius-Basilika in Rom
a Domus Aurea b Tempelbezirk der Venus und Roma
Rom/Typologie XI: Basilika 2 233 Seit Vollendung der Basilica Ulpia (S. 231) wendet sich die kaiserliche Bautätigkeit in Rom vor allem dem Bau von Palast- und Thermenanlagen zu. Von den großen Hallen der Kaiserpaläste dient die Aula Regia den Staatsempfängen, die Palast-Basilika den Audienzen und Beratungen (z. B. ROM: PALATIN, TIVOLI, SPALATO, TRIER, S. 224, 226). Die Fortschritte in der Wölbtechnik machen es möglich, auf enge Säulen- und Bogenstellungen zu verzichten und in der Raumbildung zu großgliedrigen Konzeptionen überzugehen. In der Domus Flavia (S. 228) beherrscht eine große Apsis den Längsraum der Basilika. Die traditionellen Seitenschiffe und Galerien sind reduziert zu Säulenstellungen, die nur noch als innere Raumschale gliedernd vor die Wand treten. Bei der Aula Regia verschmelzen die Gliederungen mit der Wand zur plastischen Dekoration. Ein neuer Hallentyp bildet sich in den großen Thermen (S. 236) für die Frigidarien und Caldarien, hohe Säle mit großen Kreuzgewölben, Seitenräume mit querstehenden Tonnengewölben, Stirnseiten und obere Wandzone mit großen Fenstern. Ein Großsaal dieses Typs entsteht zum ersten Mal in den Trajans-Thermen gleichzeitig mit der Basilica Ulpia (APOLLODORUS v. DAMASKUS). Die Maxentius-Basilika, der letzte große profane Hallenbau im spätantiken Rom, folgt ebenso wie die späteren Thermen dem hadrianischen Vorbild. Sie wird begonnen 306 unter MAXENTIUS, vollendet 312 unter KONSTANTIN. Sie steht im NO des Forum Romanum parallel zur platzartig erweiterten Via Sacra auf dem Areal der ehemaligen Domus Aurea (S. 229) zwischen dem Templum Pacis (S. 220) und dem Tempel der Venus und Roma. Die Vorhalle öffnet sich zu einer schmalen Passage zwischen den ehem. Horrea piperataria (Gewürzlager) und den Kolonnaden seitl. des Tempels. Typologisch und konstruktiv stellt diese Basilika einen aus dem üblichen Zusammenhang gelösten freistehenden Hallenbau nach Art der großen Thermensäle dar. Vom Typ der traditionellen Forumsbasilika hat sich im Grundriß der zur Längsachse symmetrische Aufbau mit der Folge von Vorhalle, Mittelraum und Apsis erhalten (POMPEJI, ASPENDOS, S. 231). An die Stelle der Umgänge treten an jeder Längsseite 3 in sich selbständig behandelte Räume, zum Mittelraum weit geöffnet, untereinander mit breiten Durchlässen verbunden. KONSTANTIN nimmt eine neue Orientierung vor. An der südl. Langseite läßt er einen Portikus mit Freitreppe als repräsentativen Eingang von der Via Sacra vorlegen und in der Querachse eine zweite Apsis als Tribunal anfügen. Diese Eingriffe verändern den Charakter des Raumes nicht grundsätzlich. Der Innenraum wird nicht mehr von den kleinteiligen Säulenordnungen bestimmt, die ,in der traditionellen Basilika die peristylartigen Umgänge und Galerien räumlich vom Mittelschiff trennen. Das Verhält-
nis der Einzelglieder zum Gesamtraum kehrt sich um. An die Stelle der Raumeinheit durch Wiederholung gleichwertiger Einzelelemente tritt die Einheit der Gesamtmasse. Sie zieht sich auf wenige große, teils plastische, teils flächige Elemente zusammen, in denen die Konstruktion des Massenbaues unmittelbar sichtbar wird. Beide Längsseiten öffnen sich in drei hohen und weiten Bögen zu den tonnenüberwölbten Seitenräumen. Vor den breiten Pfeilern dieser Riesenarkaden stehen einzelne Kolossalsäulen. Ihre korinth. Kapitelle (S. 208) tragen aus den Pfeilern vorspringende gebälkartige Konsolen: die Ansatzpunkte der 3 weitgespannten Kreuzgewölbe. Der mächtige Raumeindruck beruht auf der Linienführung, mit der diese Primärstruktur unterstrichen wird. Die opt. Führungslinien steigen jeweils vom Fußpunkt zunächst senkrecht auf, überspannen im hohen Bogen diagonal den Raum und kehren auf der anderen Seite zum Fußpunkt zurück. Das traditionelle Element der Säule rückt hier in eine ganz neuartige Schlüsselposition. Sie sammelt als plastisch vor die Mauermasse tretende Vertikale die optisch aufstrebenden (statisch fallenden) Kräfte, die sich hoch über dem Boden in den Linien der Kreuzgewölbe verteilen. Sie verspannen längs, quer und diagonal Decke, Wand und Pfeiler zum Einheitsraum. Die sekundär gliedernden Elemente ordnen sich mit gleicher Linienführung ein. In den beiden großen Apsiden, den Durchgängen zwischen den Seitenräumen, den Pfeilernischen und Fensteröffnungen kehrt der Rundbogen in allen Spannweiten wieder. Die Entlastung der begrenzenden Mauern durch die Zusammenfassung und Ableitung der Druckkräfte auf wenige Punkte ermöglicht eine großzügige Durchbrechung der Wand. In den Stirnmauern der Seitenräume sind je 6 große Rundbogenfenster in 2 Reihen übereinander angeordnet. Der Obergaden des Mittelraumes ist fast völlig in dreiteilige Segmentbogen-Fenster aufgelöst, durch die eine Fülle gedämpften Lichtes in die Halle einfällt. In der Verkleidung der Wandflächen und Pfeiler mit farbigen Marmorplatten (opus sectile), dem gleichartigen Fußboden, den ornamental und plastisch ausgearbeiteten Kassetten entfaltet sich der Prunk der späten Kaiserzeit. Das 10 m hohe Kolossalbild KONSTANTINS in der Apsis der Stirnwand betont die Hauptachse des Raumes. Am Außenbau herrscht die gleiche Großzügigkeit und Großfläthigkeit wie innen und eine fast rücksichtslose Verachtung der klassisch-antiken Gliederungssysteme. Der Baukörper tritt als konstruktiv durchgeformte Baumasse und Raumhülle unmittelbar in Erscheinung. Als Typ bleibt die Maxentius-Basilika ohne direkte Nachfolge. Das schon unter KONSTANTIN zur Staatsreligion aufsteigende Christentum prägt seinen Basilikatyp zunächst mit konventionellen Mitteln (S. 262).
234 Rom/Typologie XII: Thermen l
Umfcleideräume |
p| Baderäume, Becken
j
^j Läden, Nachbarbauten ] Nebenräume, Gänge
|
1 Eingan 2 Freigelände 3 Kaltbad 4 Lauwarmbad 5 Warmbad 6 Spezialbad 7 Erholunas-
l Freiflächen, Höfe
A Frauenbad B Männerbad 1 Schwimmbecken 2 Palaestra 3 Kaltbad 4 Lauwarmbad 5 Warmbad 6 Spezialbad
Pompeji: Stabianer-Thermen (s. Typ. l)
Badenweiler: Römerbad
Badeanlagen in römischen Städten
1 Quellfassung 2 Vorhof 3 Thermalbad
4 Kaltbad 5 Warmbad 6 Dampfbad
Rom/Typologie XII: Thermen l Thermen, d. h. Bäder mit verschieden temperiertem Schwimm- und Badebecken, gehören seit der Kaiserzeit zu den staatl. Einrichtungen in allen Städten des Imperiums. Aus begrenzten, für die Körperpflege bestimmten Gebäuden entwickeln sich Erholungszentren für die Großstadtbevölkerung: repräsentative Großanlagen für Sport, Spiel, Badevergnügen und gesellschaftl. Treiben. Das griech. Badewesen geht der röm. Bäderkultur voran. Vor allem in V e r b i n d u n g mit den Gymnasien und Palaistren (S. 176), den Zentren körperl, und geistiger Ausbildung, entstehen Schwimmbecken und Dampfbädcr mit Massage- und Ruheräumen (OLYMPIA, 5.Jh.). Die Einführung der Hypokausten-Hei'ung ermöglicht eine wirksame und gleichmäßige Temperierung in jeder Jahreszeit. Die griech. Entwicklung geht in die italische über. Besonders in CAMPANIEN nützen Privatleute und Städte frühzeitig die Vielzahl warmer Quellen vulkan. Ursprungs. Schon im 2.Jh. gehören private Thermen zumBauProgramm großer Villen in den Küstenorten (POMPEJI, BAJAE, HERCULANEUM, STAHiAt). Die Thermen Pompejis vereinigen bereits die \vescn11. Raumgruppen, die eine öffentl. Badeanstalt zum Gesundheitszentrum niaeben: eine Palästra mit Umkleide- und Ruheräumen, ein offenes Schwimmbecken {Natatio) und die Gruppe temperierter Baderäume mit Auskleideraum ( Apodyterium) und Warmbad (Cali/arium), denen meist ein Kaltbad (Frlgidarium) und ein Dampfbad (Sudatorium) angeschlossen ist. Nach G r u n d r i ß und Raumorganisation gehören diese frühen Thermen zum Reihentyp: die Baderäume werden der Reihe nach auf gleichem Weg betreten und wieder verlassen. Als älteste Anlage gelten die StabiancrThermen. Das etwa trapezförmige Grundstück am nördl. Rand der Altstadt (S. 212) \vird im O, W und S von Straßen, im N von einem Privat haus begrenzt, zwei unauffällige Eingänge zwischen den Läden an den beiden Hauptstraßen führen in die zentrale Palästra. An ihrer Westseite liegt das offene Schwimmbecken mit Ruhe- und Umkleideräumen an beiden Seiten, an der Ostseite hinter einer Säulenhalle der Bäderflügel. Seine beiden Abteilungen, durch die Heizräume getrennt, werden als Männer- und Frauenbad bezeichnet. Sie bestehen aus der gleichen Raumfolge von Apodyterium-Tepidarium-Caldarium. Das kreisrunde Frigidarium ist von der Vorhalle des »Männerbades« zu erreichen, einer Gruppe von 4 Einzelbädern mit eigenem Eingang sowohl von der Palästra wie direkt von der Straße. Trotz knapper Fläche in einer Insula am Rand der Altstadt ist das umfangreiche Raumprogramm zweckmäßig und übersichtl. angeordnet. Der Besucher kann Sport und Bademöglichkeiten beliebig miteinander verbinden. in Rom gibt es zur Zeit des AUGUSTUS ca.
235
170 öffentliche Bäder auf privater Basis: teils rein kommerzielle Anlagen, teils Stiftungen aus Prestigegründen. Die großstädt. Bevölkerungsmassen benötigen aber zu ihrer Versorgung eine zentrale Organisation der wichtigen Dienstleistungen. Zu ihnen gehört das öffentl. Badevvesen. Seit Beginn der Kaiserzeit werden Thermen in die allgemeine Organisation des großstädt. Lebens eingeplant. Raumprogramme, Technik und Dimensionen steigern sich zum repräsentativen Maßstab offizieller Staatsarchitektur. Für die Großanlagen entwickeln sich verschiedene Anlagetypen. Sie knüpfen an den Reihentyp an, meist mit der für die röm. Architektur charakterist, Tendenz zu axialer Symmetrie. Die Verdoppelung von Raumgruppen, teilweise der ganzen Anlage, führt zum Doppelreihentyp. Seine Nachteile vermeidet der Ringtyp: bei kontinuierlichem Übergang von einem Raum zum ändern kann der Weg vom Ausgangspunkt in zwei Richtungen wieder zum A n t a n g verlaufen. Großer und kleiner Kaisertyp vereinigen die meisten Vorteile der verschiedenen Typen in einer Großanlage (Planschema und S. 236). Spiegelgleiche Gruppen von Nebenräumen und SpeziaJbädern flankieren beidcrseitig die zentrale Gruppe der großen Schwimmhallen. Die Einschaltung von Peristylen und Wandelhallen ermöglicht dem Einzelnen trotz großer Besucherzahlen fast jede mögliche Kombination von Körperpflege, sportl. Aktivität, körperlieber und geistiger Entspannung und Weit e r b i l d u n g , müßigem Zeitvertreib allein oder in Gesellschaft. Von ROM aus verbreiten sich der Thcrmenbau und das organisierte Badevvesen über das ganze I m p e r i u m . Die überlegene Organisution und Technik des Weltreiches schafft dafür in den Provinzen die VorausSetzungen. Neben dem Bau von Thermen in den Militärlagern und Zivilstädten werden auch Heilquellen am Ort ihres Vorkommens mit zweckentsprechenden Gebäuden für das Kur- und Heilwesen erschlossen, Ihre Tradition setzt sich an vielen Orten bis in das 20.Jh. Tort. Das Römerbad in Badcnweiler, vermutl. um 70 n. Chr. unter VESPASIAN errichtet, gibt eine gute Vorstellung vom Zentralgebäude eines röm. Kurbades in den nördl. Provinzen. Der symmetr. G r u n d r i ß zeigt eine kompakte doppelseitige Anlage vom Reihentyp. Ihren Kern bildet unmittelbar hinter der Quellfassung eine Gruppe von 4 Badehallen mit großen Thermalschwiimnbecken. Zwei gewundene Treppen verbinden sie mit einer parallelen Gruppe kleiner Baderäume aus je einem Kaltbad und einem Warmbad mit einem gemeinsamen Dampfbad. Der strengen Teilung dieser Raumgruppen in der Mittelachse entspricht die Anlage von zwei ummauerten Eingangshöfen. Von den Umkleideräumen zu beiden Seiten des Vestibüls kann jeweils der nördl. für den Betrieb bei kaltem Wetter geheizt werden.
236 Rom/Typologie XHI: Thermen 2
Gesamtgrundriß
j
| Umkleideräume
[
[^] Baderäume, Becken
|
| Nebenräume, Gänge Sartenanlagen Freiflächen, Höfe
Längsschnitt A-B
Diokletiansthermen in Rom
1 Gärten 2 große Exedra 3 Peristyl (Palaestra) 4 Aufenthaltsraum 5 Spezialbad
6 7 8 9
Schwimmbad Kaltbad Lauwarmbad Warmbad
Rom/Typologie XIII: Thermen 2 Die Römer aller Schichten machen aus dem Baden und der körperl. Regeneration eine umfangreiche Freizeitbeschäftigung. Hier bietet sich dem Staat die Möglichkeit großzügiger sozialer Initiativen mit sicherem Prestige-Gewinn. Schon unter AUGUSTUS beginnt die Tradition der Kaiserthermen. Sein Schwiegersohn AGRIPPA erbaut um 25 v. Chr. eine Bäderaniage nach pompejan. Vorbild in gesteigerten Dimensionen. Als erster Thermenbau mit axial-symmetr. Plan entstehen seit ca. 64 n. Chr. die NeroThermen. Sie können als Vorläufer für den großen Kaisertyp gelten. Er wird vorbildlich in den 109 eröffneten Trajans-Thermen verwirklicht, bei denen zum ersten Mal auch die umgebenden Gärten in das symmetr. System einbezogen werden. Die Riesenbauten der CaracallaThermen (206-16) und der DiokletiansThermen (298-306) variieren und bereichern diesen Typ. Auch in den Provinzen entstehen Anlagen nach diesem Muster (z. B. KARTHAGO, LEPTIS MAGNA, TRIER). Das Raumprogramm bietet eine Vielfalt von Möglichkeiten zur körperl, und geistigen Erholung, verbunden mit gesellschaftl. Leben und Treiben. Zur Verfügung stehen für private Körperpflege: Einzelbäder, Massage- und Ruheräume; für gemeinschaftl. Badevergnügen: große Badehallen mit abgestufter Temperierung vom Frigidarium über das Tepidarium zum Caldarium; für den Sport: Natatio (Schwimmbad) und Palästra, dazu die Freiflächen in den Gärten; für geselliges Beisammensein und Unterhaltung: Wandelhallen und -gange, die Gärten mit ihren Randbauten wie Nymphäen, Pavillons, Tabernen; für die geistige Weiterbildung: Bibliotheken und Vortragsräume. Neben die künstler. Ausstattung mit Mosaiken, Marmorintarsien (opus sectile), Wandbildern und Bauornamenten treten Einzelkunstwerke, vor allem Originale und Kopien bedeutender griech. Bildhauer. Betrieb und Instandhaltung der großen Anlagen sind nur möglich innerhalb der allgemeinen Organisation des großstädt. Lebens mit seinen techn. Einrichtungen und Dienstleistungen: Wasserleitungen (S. 244), Kanalisation, Straßenbau und den kaiserl. und städt. Behörden. Der Badebetrieb selbst erfordert Arbeitskräfte und geregelte Zeitpläne für Brennst offanfuhr, Heizung, Reinigung und Überwachung. Die Bautechnik löst in überlegener Weise die Probleme bei der Bewältigung großer Baumassen und der Überspannung weiter Räume. Die schwere Massivität früherer Bauten weicht bei den Thermen einer leichteren und aufgelockerten Struktur. Die Entwicklung des Gußbetons führt zur Ausführung weit gespannter Tonnen- und Kreuzgewölbe mit einem System der Druckverteilung auf wenige Punkte. Die sorgfältig abgestimmte Höhe der ein-
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zelnen Gebäudetrakte bewirkt eine stufenweise Abstützung an den Zonen des stärksten Gewölbedrucks (basilikale Querschnitte). Im Zentralbereich sind die Hallen sehr hoch, weit gespannt und stark durchbrochen (vgl. Maxentius-Basilika, S. 232). Der niedrigere äußere Raumgürtel bildet mit seinen kleineren gewölbten Räumen und massiven Außenmauern das Gegengewicht. Exponierte Punkte, wie die Längsfronten der Frigidarien gegen die Freiluftschwimmbecken, zeichnen sich durch extreme Verstärkung der großen Pfeiler aus oder werden durch Strebebögen gesichert. Die typenbildende Kraft der röm. Kaiserzeit beruht auf der vollen Beherrschung der Bautechnik, die sich mit den neuen Bauprogrammen immer mehr von griech, Vorbildern löst. In den großen Thermen kommen die Prinzipien der röm. Architektur: Rationalität, Ökonomie, Raumbildung, Axialität, Symmetrie und Monumentalität zur vollen Entfaltung. Der große Kaisertyp faßt die Raumfolgen und -kombinationen der anderen Anlagetypen universell zusammen. Ein Beispiel von Vielseitigkeit und Klarheit bieten die als Volksbad im NO der Stadt erbauten Thermen des Diokletian. Sie stehen frei inmitten einer Garten-Anlage von 356/316 m = ca. 11 ha. Ein Kranz von Exedren und Pavillons schließt den Freiraum gegen die Stadtviertel ab. Die Längs- und Symmetrieachse verläuft mit der seit den Trajans-Thermen übl. NO-SWOrientierung vom Eingangstor zur Mitte der großen Exedra durch die zentrale Gruppe der großen Badehallen. Sie schneidet sich mit der Querachse im Frigidarium, dem hier die Rolle der Cella Media zufällt, des Hauptknotenpunktes aller Wege und Blickrichtungen. Das große Achsenkreuz wird in Längs- und Querrichtung ergänzt durch Parallelachsen. Die wichtigsten verlaufen seitl. zur Längsachse (als »trockene Achse«) durch Apodyterium und Palästra und seitl. zur Querachse (als »nasse Achse«) durch die kleinen Badehallen. Der Besucherstrom verteilt sich vom Haupteingang nach beiden Seiten entweder in den Garten oder zu den Eingängen seitl. des offenen Schwimmbeckens (Natatio). Von den jeweils zwei parallelen Wegen führt der eine durch die Wandelhalle seitl. des Schwimmbeckens in die Aufenthaltsräume zwischen Palästra und Frigidarium, der andere durch das Vestibülin das Apodyterium und von dort in die Palästra, zu den Spezialbädern und Ruheräumen oder seitl. zum Schwimmbad. Querverbindungen ermöglichen beliebige Übergänge oder Kreisläufe. Symmetrie und Axialität dienen nicht nur als ästhetisches, sondern zugleich als funktionell-praktisches Ordnungssystem. Es ermöglicht in einem Gebäudekomplex von der Größe eines Stadtviertels zusammen mit der Transparenz der Architektur eine leichte Orientierung.
238
Rom/Typologie XIV: Theater
Grundrißschema nach Vitruv [
j Bühne
[I^J Orchestra, Gänge P ~ j Zuschauerraum
Aspendos: Theater (Rekonstruktion)
Römisches Theater als Einheitstyp
1 2 3 4
obere Säulenhalle Keilabschnitte Treppen Gürtelgang
5 Orchestra 6 Bühne 1 Bühnenwand 8 Bühnengebäude
Rom/Typologie XIV: Theater Die Tradition des Schauspiels ist in Rom relativ jung. Die ersten »Ludi Scaenici« nach griech. Vorbild finden 240 v. Chr. statt (Dramatiker: LIVIUS ANDRONICUS). Im Gegensatz zu Hellas fehlt aber die religiöse Beziehung. Das Spiel ist von Anfang an auf die Unterhaltung des Publikums eingestellt. Diktatoren und Kaiser fördern das Theater wie afle publikumswirksamen Unternehmungen. Die ersten Theaterbauten bestehen aus provisor. hölzernen Bühnenpodesten, hinter deren Rückwand sich der Umkleideraum der Schauspieler befindet. Der Bau eines steinernen Theaters wird 154 aufgegeben. 68 v. Chr. entsteht ein Holzgebäude mit halbkreisförmig ansteigenden Sitzreihen, während in CAMPANIEN bereits der Steinbau üblich wird. Erst 55-52 läßt POMPEJUS auf dem Marsfeld ein großes steinernes Theater nach griech. Vorbild (MYTILENE) errichten. Diesem Prototyp folgt, von CAESAR geplant, unter AUGUSTUS 13/11 v. Chr. gebaut, das Marcellus-Theater und nahezu gleichzeitig das Baibus-Theater. Dieser Theatertyp breitet sich schnell über das ganze Imperium aus und setzt sich auch im hellenist. Bereich durch. Das röm. Theater übernimmt alle wichtigen Elemente des griech. Theaters (S. 200) in die Neukonzeption des Theaterraumes. In Hellas in den organischen Naturraum eingefügt, wird er beim röm. Theater als Innenraum eines selbständigen Gebäudes von der Umgebung völlig abgeschlossen (autarker Raum). Die Architektur steht im scharfen Gegensatz zur Natur, die Technik befreit sie von den konstrukt. Bindungen an die Geländestruktur und von den opt. an die Landschaft. Die Hauptelemente des griech. Vorbildes: Zuschauerraum (Cavea), Spielfläche (Orchestra) und Bühnenhaus (Scena) erhalten eine neue geometr. Grundordnung. VITRUV überliefert ein Schema, das in seinen Grundzügen von erhaltenen Theaterbauten bestätigt wird. Die Cavea umschließt als konzentr. Halbrund exakt die zum Halbkreis reduzierte Orchestra. Sie wird als Spielfläche kaum noch benötigt und nimmt meist die Magistratssitze auf. Als Bühne dient das seitl. weit ausgreifende, erhöhte Proscenium, rückwärts von der Schaufassade (Scenae Frons) des Bühnenhauses, seitl. von dessen vorspringenden Seitenflügeln (Versurae) begrenzt. Das griech. Proskenion, von der kreisrunden Orchestra nur tangiert, blieb seitl. frei und von der Cavea distanziert. Im röm. Theater dagegen verläuft der um den Mittelpunkt gezogene Kreis teilweise hinter der Szenenwand. Das einbeschriebene Zwölfeck (vgl. das Zehneck in EPIDAUROS, S. 200) legt in der Szenenwand 5 Türen gegenüber 5 Treppen der unteren Cavea fest. Die 2 verbleibenden Ecken markieren die Grenze zwischen Bühne, Orchester und Cavea. Dieser exakten, aber etwas starren Geometrie liegt ein Achsenkreuz durch den Mittelpunkt zugrunde.
239
In der Raum- und Gebäudeform setzt sich die röm. Tradition noch deutlicher durch. Ein hoher Ring aus Mauern und mehrgeschossigen Arkaden umschließt von außen die trichterförmige Cavea. Sie ruht auf einem ansteigenden System von gewölbten, konzentrisch geführten Bogengängen und radial geführten Treppen und Stützmauern (vgl. Colosseum, S. 240). Die Kennziffern der Bogengänge und Treppen stimmen mit den Besuchermarken überein. Das Theater füllt und leert sich in kurzer Zeit. Bei freistehenden Theatern führen die um den ganzen Halbkreis verteilten Eingänge direkt auf die zu den Rängen führenden Treppen. Bei Anlagen am Berghang, z. B. in ASPENDOS, wirkt der äußere Bogengang im Erdgeschoß als Verteilerring für die von den Stirnseiten einströmenden Besucher der unteren Cavea. Die Besucher der oberen Ränge erreichen ihre Plätze vom Berghang durch die Wandelhalle über der oberen Cavea. Bis zu ihrer Höhe steigen die seitl. Stirnwände auf, oft als zweischalige Mauer mit schmalen inneren Bogengängen. Sie schließen unmittelbar an die turmartig vorspringenden seitl. Risalite des Bühnengebäudes an und begrenzen zusammen mit der zurückgesetzten Szenenwand den Bühnenraum. Ihre prunkvolle Schauarchitektur (vgl. S. 210) schließt den Theaterraum zur Einheit zusammen. Konsolen am Gesims der Wandelhalle tragen einen Kranz von Masten zum Aufspannen von Sonnensegeln, Eine gleichartige Konstruktion von Masten und Spannseilen sichert den weit auskragenden hölzernen Schalldeckel über der Bühne. Drei (seltener fünf) Türen in der Bühnenwand und je l in den Seitenflügeln dienen den Schauspielern für ihre Auftritte. Bei VITRUV werden noch schräg im Winkel stehende, dreieckige, drehbare Kulissen erwähnt. Für festl. Einzüge oder Massenauftritte stehen die unter der Cavea hindurchführenden Bogengänge zur Verfügung, die seitl. der Orchestra einmünden (vgl. S. 200). Darüber liegen die Tribunalia, offene Proszeniumslogen für die verantwortl. Beamten oder für hohe Gäste. Das Theater in Aspendos, im 2.Jh. unter MARC AUREL vom Architekten ZENON errichtet, gehört zu den am besten erhaltenen Anlagen in den Provinzen. Trotz der Lage am Berghang und des griech. Architekten entspricht es ganz dem röm. Raumempfinden. Cavea-Ring und Bühnenhaus stehen als geschlossene Baumasse hoch über der Stadt. Der geschlossene Raum für die ca. 7000 Zuschauer konzentriert sich ganz auf die Bühne mit der hochragenden Szenenwand. Mit dem Ende des röm. Imperiums und dem Siegeszug des Christentums erlischt die Tradition des antiken Theaters. Als sie in der Renaissance nach etwa einem Jahrtausend wieder erneuert wird, dient das röm. Theater als Ausgangspunkt der neuen europäischen Theaterarchitektur.
240 Rom/Typologie XV: Amphitheater
Grundriß in verschiedenen Ebenen
Zuschauerränge |
| Spielfläche
j •zjj?: \ Gangsystem
A Ur-Bau B Aufstockung
a b c d e f
Schnitt und Aufriß (s. Bf. II)
Der Prototyp: das Colosseum in Rom
1. Geschoß 2. Geschoß T/t. Geschoß 3. Geschoß 4. Geschoß 5. Geschoß
Rom/Typologie XV: Amphitheater 241 Von den Schaustellungen und Spielen aller Art begeistern die Gladiatorenkämpfe (ludi gladiatorii) das röni. Publikum am meisten. Sie gehen auf etrusk. Leichenspiele zurück und finden 264 v. Chr. als Gedächtnisspiele für Verstorbene vornehmer Familien Eingang in die röm. Gesellschaft. 105 gibt sie der Senat als allgemeine Schauveranstaltung frei. Hinzu treten seit 186 v. Chr. die jagdähnlichen Tierhetzen (venationes) und später die Seeschlachten (naumachiae). Schauplätze sind zumeist die Amphitheater. Ihre Form bildet sich wie beim Theater aus den provisor. hölzernen Tribünen, die in der Anfangszeit den Kampfplatz auf dem Forum umgeben, wenn die Spiele nicht im Circus mit seinen erhöhten Rängen stattfinden. Jn Rom erbaut CURIO D. J. unter CAESAR das sogenannte Doppeltheater aus Holz, bei dem zwei halbrunde Zuschauerräume durch Drehung zu einer ringsum geschlossenen Cavea vereinigt werden können. In Pompeji entsteht schon zwischen 80-70 v. Chr. ein festes Theater für 20000 Zuschauer. Dieser Bau aus Stein und Erde ist das älteste erhaltene Beispiel, in dem Grundform und Organisationsprinzip dieses ital.-röm. Theatertyps klar hervortreten, z. B. die ovale Form von Arena und Cavea, die Führung der Zuschauer durch Tunnel, die Ausbildung des sockelartigen ersten Ranges und des hinter ihm verlaufenden Verteilerganges als Druckring gegen die ansteigende Cavea, die Sicherung der äußeren Ringmauer durch hohe Bogennischen zwischen Mauerpfeilern, die Ringkonsolen an der Mauerkrone für die Masten der Sonnensegel. Zur vollen Reife und Steigerung zur monumentalen Form gelangt der Typ ca. 150 Jahre später in Rom. Die flavischen Kaiser VESPASIAN und TITUS erbauen 70-80 n. Chr. das Amphitheatrum Flavium (Colosseum). Die Dimensionen sind gewaltig: Länge 187,75, Breite 155,60, Höhe 50,75 m. Fassungsvermögen ca. 50000 Zuschauer. Das Oval der Arena, ca. 49/79,35 m, setzt sich wie in POMPEJI aus Kreisbogensegmenten zusammen. Die Spielfläche ruht auf einem 7—12 m tiefen Untergeschoß mit Gängen, Rampen, Treppen, Aufzügen, Käfigen, Kammern und einem Arsenal für techn. Ausrüstung und Requisiten. Die Cavea ist wie im Theater in konzentrisch ansteigenden Ringen um die Arena aufgebaut. Die Zuschauer verteilen sich nach gesellschaftl. Rang: ein umlaufender Sockel mit bequemen Sitzen und plastisch reich verzierter Brüstung bleibt der Prominenz, die Logen in der Querachse dem Kaiser und den leitenden Tribunen vorbehalten. Auf den Rängen folgen übereinander das wohlhabende Bürgertum, der Mittelstand, die Frauen und die Masse des Volkes, dieses meist auf Stehplätzen unter der Säulenhalle im 5. Geschoß. Auf dem Zwischengesims steht ein Kranz von Masten für die Sonnensegel. Er wird an der Mauerkrone von
Konsolsteinen gehalten (s. o.)- Eine Gruppe von Matrosen bedient vom Dach der Wandelhalle aus die Segel mit Seilzügen. Der konstruktive Aufbau entspricht dem eines großen Theaters von gesteigertem Maßstab. Die in einem Winkel von 37° ansteigende, gekrümmte Ebene der Cavea ruht auf einem System von 7, zum Teil mehrgeschossig übereinander, konzentrisch umlaufenden Ringen von Pfeilerarkaden nach Art der Aquädukte (S. 244). Zwischen ihnen nehmen 80 radial geführte Mauern den Schub der Gewölbe und der Sitzreihen auf. Sie sind untereinander ebenfalls durch Gewölbetonnen verbunden, über und unter denen die Treppenläufe zu den verschiedenen Rängen aufsteigen (S. 56). Alle Wölbarten der röm. Bautechnik werden angewandt: Tonnen- und Kreuzgewölbe, schräge Flächen aus Naturstein, Ziegeln und Gußbeton. Als stat. Gerüst innerhalb der Ziegelmauern wirken ca. 560 Travertinpfeiler, untereinander mit Entlastungsbögen verspannt. Die großen scharfkantigen Blöcke sind ohne Mörtel versetzt und nur mit Metallklammern verbunden. Gegen die Schubkraft der schräg ansteigenden Cavea wirken der ca. 3,6 m hohe ovale Ring des Sockels und die niedrigen Arkadenstützen des inneren Umgangs als Widerlager. Arn oberen Ende bildet die (nachträgl. aufgesetzte) Ringhalle des oberen Ranges die kompensierende Vertikallast. Die monolithe Struktur der Gußbetondecke über der Cavea wirkt druckverteilend. Das stat. System dient zugleich der Organisation des Besucherstromes. Wie bei den Theatern (S. 238) führen übereinstimmende Kennziffern auf den Eintrittsmarken der Besucher und auf den Pfeilerringen über Flure und Treppen zu den Ein- und Ausgängen (S. 56). Die architektonische Gliederung deckt sich im wesentlichen mit der Konstruktion. An der Außenfront wirken vor allem die in drei Geschossen übereinander stehenden Ringe der großen Arkaden, mit denen sich die Umgänge nach außen öffnen (S. 208). Die Arkadenpfeiler zeigen die typ. Verbindung mit den drei traditionellen Säulenordnungen. Sie haben hier keine stat. Funktionen wie beim Architravbau, sondern dienen der Gliederung der massigen Architektur. Klein teilige Einzelformen sind bewußt vermieden, weil sie in der Masse untergehen würden. Das 4. Geschoß setzt das Gliederungssystem der drei ursprüngl. Geschosse nicht fort. Seine Mauerfläche ist (wie beim MarcellusTheater) nur durch flache Pilaster leicht gegliedert und von kleinen Fenstern durchbrochen. Mit dem Amphitheatrum Flavium ist der gültige Typ des röm. Amphitheaters geschaffen. Seinem Vorbild folgen die großen Theater in den volkreichen und wohlhabenden Städten Italiens und aller Provinzen, z. B. POZZUOLI und VERONA in Italien, EL DJEM in Afrika, ARLES und NIMES in Südfrankreich.
242 Rom/Typologie XVI: Gebäude für Handel und Gewerbe
j
| Marktgebäud ~\ Straßen, Platz
1 Trajans Forum 2 Via Bibi ;ratica 3 Läden
4 Markthalle 5 obere Ladenstraße Schnitt
Rom: Trajans-Markt (s. Typ. V)
Rom/Typologie XVI: Gebäude für Handel und Gewerbe Seit dem 2.Jh. v. Chr. wächst der röm. WirtSchaftsraum über die Grenzen Italiens hin-, aus. Gleichzeitig verändert sich die WirtSchaftsstruktur. Die Familienbetriebe in Bauerntum und Handwerk werden immer mehr durch Latifundien mit großen Monokulturen. Staatsbetriebe und private Manufakturen für Massengüter ersetzt. Sie dienen besonders der Versorgung des Heeres und der Städte, vor allem der Hauptstadt selbst. Schwerpunkte der Produktion sind Baustoffe, Heeresausrüstung, Mehl und öl. Fabrikationsgebäude sind nur in geringem Umfang erhalten. Einige Ölmühlen in Tunesien (z. B. in BRISGANE, 2./3.Jh.) oder eine Großmühle in Südfrankreich (BARBEGAL, 4.Jh.) beweisen, daß die röm. Bautechnik: Konstruktionen für die erforderlichen Gebäudetypen mit großen Räumen entwickelt. Dem Handel dienen für die Stapelung, besonders in den Hafenstädten, große Speicher (Horrea), für den Einzelverkauf Läden (Tabernae). Sie ziehen sich in den Erdgeschössen der Miethäuser (S. 225) an den Hauptstraßen entlang. An den Rändern der Marktplätze sind sie meist in festen Ladenzeilen, oft hinter Säulengängen zusammengefaßt (z. B. die Tabernae veteres und novae in ROM, das Forum von AUGUSTA RAURICA, S. 218). Besondere Handelssparten erhalten gelegentlich eigene Gebäude. Bekannte Beispiele sind am Forum von POMPEJI das Macellum für den Lebensmittelmarkt und das Gebäude der Eumachia für den Tuchmarkt. In der Hafenstadt OSTIA läßt sich um ca. 150 n. Chr. der Übergang vom reinen Speicherbau (Horrea) zu einem kaufhausähnliehen Typ beobachten. Ein Beispiel bieten die »Horrea Epagathiana«, Sitz einer privaten Importgesellschaft. In dem dreigeschossigen Gebäudeblock gruppiert sich eine große Zahl von Räumen für Lagerung, Verwaltung und Verkauf um einen zentralen Arkadenhof. An den Straßenfronten führen eingebaute Tabernae die in Ostia üblichen erdgeschossigen Ladenreihen weiter. Die
243
trennte Abschnitte oberhalb und unterhalb der Via Biberatica. Die Untergeschosse liegen an der breiten Straße, die das Forum umzieht, und sind durch das Portal der Forums-Exedra schnell zu erreichen. Ihre Halbkreisform wiederholt sich in der zweigeschossigen Arkadenfront mit den Einzeltabernen. Hinter ihnen steigt am Hang die Via Biberatica auf. Zweigeschossige Ladenbauten säumen sie an der Forumsseite. An der Bergseite ist u. a. die große Markthalle (aula coperta, aula Trajani) erhalten, deren genaue Funktion nicht überliefert ist. Sie gilt sowohl als Verteilungsstelle für die staatl. Lebensmittelsubventionen wie ak Bazarstraße für Gebrauchsgüter aller Art. Nach Anlage und Konstruktion kann sie alle derartigen Aufgaben erfüllen. Sie schließt zwei parallele Gebäudetrakte zusammen, deren Aufbau den anderen Ladenbauten gleicht. Sie setzen an der Tal-, wie an der Bergseite die Staffelung der Bebauung fort. Die zwischen ihnen hindurchführende Stichstraße wird von sechs großen Kreuzgewölben überspannt. Über den Tabernae auf beiden Seiten öffnen sich die Schildbögen der Gewölbe auf Ladenstraßen vor den zurückgesetzten Obergeschossen, Die weiteren Speicher und Geschäftshäuser folgen nicht mehr der vom Forum bestimmten Halbkreisform, sie schieben sich hügelaufwärts in das Stadtviertel auf dem Quirinal hinein. Gesamtanlage der Mercati und Einzelbau der Halle zeichnen sich durch Übereinstimmung von Funktion, Konstruktion und Form aus. Die Halbkreisform nimmt nicht nur rein äußerlich die Form der Forums-Exedra auf, sie verstärkt auch die Wiederlagerkraft gegen die Bergflanke. Die radial angeordneten Tabernae mit den Tonnengewölben bilden die gegeneinander verspannten Kammern eines Druckgürtels gegen den Erddruck und nehmen zugleich den senkrechten Druck des Terrassengeschosses auf. In die tragende Ziegelbogen-Architektur sind kontrastierende Rahmenkonstruktionen aus hellem
Ziegelarchitektur entspricht im Gesamtbild
Naturstein eingebaut. Sie verdecken die
dem gleichzeitigen Wohnhausbau mit großen mehrgeschossigen Miethausblöcken (S. 224).
Konstruktion nicht, nehmen ihr aber die Massivität. Im Straßenbild wirkt der Kontrast des in den Berghang eingelassenen Tabernen-Halbrundes mit den Ladenöffnungen zur geschlossenen nach außen sich vorwölbenden Front der Forums-Exedra. Noch weiter fortgeschritten auf dem Weg zu einer sachbezogenen Architektur erscheint die Markthalle. Die sechs Kreuzgewölbe aus Gußbeton ruhen auf Konsolen aus Naturstein, die aus den tragenden Ziegelpfeilern vortreten. Offene Strebebögen überspannen die Ladenstraßen im Obergeschoß und leiten den Gewölbeschub seitl. auf die Mauern der oberen Ladenreihe ab. Deutlich zeichnet sich in den Mercati Trajani die Bildung eines neuen, spezif. röm. Massenstils ab. Er benötigt nicht mehr den heilenist. Formenkanon, sondern gliedert die Baumasse mit einfachen, technisch bedingten Formen aus den neuen konstruktiven Zusammenhängen.
Der Trajans-Markt in Rom übertrifft an Größe und Bedeutung alle privaten Baukomplexe dieser Art. Anscheinend schon unter DOMITIAN begonnen, wird er um 110 v. Chr. im Zusammenhang mit dem TrajansForum (S. 220) ausgebaut. Er übernimmt zugleich die Abstützung der beim Forumsbau teilweise abgetragenen Westflanke des Quirinals und die Marktfunktion für das rein repräsentative Forum, das zahlreiche Läden, Werkstätten und Büros aus der dichtbebauten Innenstadt verdrängt. Ein System von Stützmauern, Terrassen, Erschließungsstraßen und Treppen bietet Platz für ca. 150 teilweise in den Hang eingebaute Läden, Büros, Magazine und eine große Halle. Die sechs übereinander gestaffelten Geschosse gliedern sich in zwei deutlich ge-
a Gesamtansicht b Schnitt durch die Waaserleitunq
Verona: Ponte Pietra
Aquädukte und Brücken
Rom/Typologie XVII: Ingenieurbauten 245 Zur Organisation des röm. Weltreiches gehört ein Netz von Verkehrs- und Versorgungseinrichtungen : Land- und Wasserstraßen, Häfen, Brücken, Wasserleitungen und Entwässerungskanäle. Der Ausbau eines strateg. Straßennetzes beginnt 312 v. Chr. mit der Via Appia von Rom nach Capua. Die röm. Straßen folgen meist dem Gelände verlauf. Anfangs erhalten nur wenige Fluß- oder Talübergänge Brücken. In Rom löst im 5.Jh. v. Chr. eine Pfahlbrücke nach etrusk. Vorbild, der Pons siiblicius, die Fähre über den TIBER ab. 55 v. Chr. läßt CAESAR in zehn Tagen eine mit Strebeund Prellpfählen gesicherte Pfahljochbrücke über den RHEIN schlagen. An wichtigen Übergängen ersetzen Steinpfeiler-Brücken mit Fahrbahnen aus Holzbohlen die reinen Pfahlbrücken, z. B. in Rom 179 v. Chr. der Pons Aemilius. Solche Konstruktionen bleiben während der ganzen Antike im Gebrauch, z. B. unter KONSTANTIN in TRIER und KÖLN (15 Pfeiler, 420 m Länge). Die Fortschritte in der Wölbtechnik führen zum Bau steinerner Bogenbrücken. 142 v. Chr. erhält zuerst der Pons Aemilius Gewölbe. Ihm folgt 62 v. Chr. der heute noch fast völlig erhaltene Pons Fabricius als Übergang zur Tiberinsel. Seine zwei geometr. reinen Halbkreisbögen sind unter dem Fluß durch Erdbögen zum vollen Kreis ergänzt. Sie entsprechen in Form und Konstruktion der Theorie VITRUVS (S. 26). Die in Italien und den Provinzen erhaltenen bzw. rekonstruierten Bogenbrücken erscheinen als Varianten einer Grundform. Ihre hauptsächlichen Kennzeichen sind: 1. Bogenstellung als reine Halbkreise bzw. Kreissegmente. In manchen Fällen durch Erdbögen zum Vollkreis ergänzt. 2. Zur Mitte ansteigende Fahrbahn, möglichst knapp dem Bogen aufliegend. 3. Brückenpfeiler nicht besonders abgesetzt, meist nur flächige Ausmauerung zwischen den beherrschenden Bögen. Bei Strompfeilern vorgebaute Wellenbrecher an der Strömungsseite. Keine Betonung der Widerlager- und Tragfunktion. 4. Entlastungsbögen im Mauerwerk über den Strompfeilern und Uferwiderlagern als Hochwasserdurchlaß. Die jeweilige Brückenform ergibt sich aus Anzahl und Reihung dieser Elemente entsprechend a) Breite des zu überspannenden Geländeabschnittes = Zahl und Weite der Bögen, b) Niveau-Unterschied zwischen Straßenkrone und Wasserspiegel bzw. Talsohle = Höhe der BÖg^n und Steigung der Brückenfahrbahn zum Scheitelpunkt. Zu diesen örtl. Voraussetzungen tritt die Proportion von Bogen und Pfeiler bestimmend hinzu. Dominierendes Element der normalen Straßenbrücken ist fast^knmer der Bogen. Dagegen tritt der Pfeiler meist zurück. Manchmal wirkt nur der gegen die Strömung vorgebaute Wellenbrecher als
kräftiger Akzent (z. B. in VERONA). Das Verhältnis ändert sich bei tiefen Talabschnitten . Hier müssen hohe Pfeiler die Bogenstellung über den Talgrund heben. Bogen und Pfeiler bilden eine einheitl. Arkade, ein Gesims markiert den Kämpferpunkt. Häufiger als bei den Straßenbrücken prägen solche Arkaden das Bild der Aquaeducte. Die gemauerten Wasserleitungen führen Trinkwasser von hochliegenden Quellen oft über große Entfernungen in die Städte. Wegen des geringen, kontinuierlichen Gefälles können kreuzende Täler oft nur mit Hilfe hoher Brücken überquert werden. Rom erhält im Lauf der Jahrhunderte für seinen ständig steigenden Bedarf 24 Leitungen. Die älteste, die Aqua Claudia, entsteht unter dem Censor Appius Claudius gleichzeitig mit der Via Appia (s. o.)- Im Stadtbild treten die oft mehrstöckigen Arkaden der Aquädukte deutlich in Erscheinung. Dem Beispiel der Hauptstadt folgen die Provinzen. Der berühmte Pont du Gard ist ein Teil der um 15 v. Chr. unter AUGUSTUS errichteten Wasserleitung, die für die Stadt NIMES das Wasser über eine Entfernung von ca. 50 km mit einem Gefalle von 0,3-0,4% heranführt. Der zweistöckige Aquädukt überbrückt in einer Länge von ca. 275 m und einer Höhe von ca. 49 m das Tal des GARDON. — Die untere Arkadenstellung besteht aus 6 Bögen von ca. 20 m Höhe und Spannweiten von 15,75-21,50 m. Die Öffnung über dem Sommerflußbett ist besonders weit. Die zweite Bogenstellung, geringfügig niedriger, entspricht mit ihren 11 Bögen dem Aufbau der unteren. Der 1,85 m hohe und 1,20 m breite gemauerte Wasserkanal ruht auf einer besonders niedrigen Arkadenreihe mit 35 Bögen, deren Pfeilerstellung auf die großen Arkaden abgestimmt ist (Mittelarkade 4, Normalarkaden 3 kleine Bögen). Diese Bogenstellung entspricht keiner techn. Notwendigkeit, sie dient in erster Linie zur Verbesserung der Gesamtproportion des Aquäduktes. Eine Eigenart sind die aus dem Bogen oberhalb der Kämpfergesimse konsolartig vortretenden Steinblöcke. Sie dienen während der Bauzeit zur Einspannung der Lehrgerüste und werden nicht abgemeißelt, sei es im Hinblick auf spätere Reparaturen, sei es zur Rhythmisierung der Bogenstellung. Das Mauerwerk der Arkaden ist aus Werksteinquadern ohne Mörtel und Metallklammern gefügt, die Wasserleitung aus Ziegeln gemauert und mit hydraulischem Mörtel geglättet. Eine ähnliche Bildung der Arkaden einschl. der Kragsteine zeigt die ebenfalls unter Augustus erbaute Straßenbrücke von Narni in Umbrien. Die sorgfältige Proportionierung dieser Zweckbauten ist nicht nur ein Zeichen des »augusteischen Klassizismus«, sondern vor allem ein Beweis für den architekton. Rang, den die Römer den techn. Bauten zuerkennen.
246 Rom/Typologie XVIII: Heiligtümer
1 1 Sakralbauten ^^H Säulenhalle •^-™ Nebengebäude |
| Höfe, Plätze
1 Substruktionen 2 ViaTiburtina 3 Treppenrampe 4 Stirngebäude 5 Treppen-Exedra 6 Terrasse 7 Tempel 8 Porticus triplex
Tivoli: Herkules-Heiligtum (Rekonstruktion)
1 Vorhalle 2 Vorhof 3 Altarhof 4 Altar Baalbek: Jupiter-Heiligtum
Das Heiligtum als sakrales Forum
5 Säulenhallen 6 Jupiter-Tempel 7 Bacchus-Tempel
Rom/Typologie XVIII: Heiligtümer 247 Frühe italische Heiligtümer als Vorgänger der röm. sind nur in geringen Resten ergraben. Für die Römer gewinnen die Anlagen der Etrusker entscheidende Bedeutung. Grundrißspuren, Tempelfragmente, Beschreibungen VITRUVS und viele von den Römern übernommene Traditionen erlauben Rückschlüsse auf einige Grundsätze der Planung. Jedes etrusk. Heiligtum stellt ein Templum in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes dar: eine abgegrenzte, geweihte Fläche, mit einem Achsenkreuz nach S oder O orientiert. Die von ihm ausstrahlenden Achsen beziehen über das Heiligtum hinaus Stadt, Landschaft und Himmel als Beobachtungsund Wirkungsraum ein. Die beobachteten Naturerscheinungen (Blitze, Vogelflug) werden von Priestern und Auguren als Zeichen der Götter für bevorstehende Entscheidungen interpretiert. Ein Haus oder einfacher Tempel für das Kultbild und ein Opferaltar ergänzen das Templum. Im Gegensatz zur Vielgestaltigkeit griech. Heiligtümer entsteht bei den Etruskern ein Grundschema. Es steht am Ende einer Entwicklung, die die natürl. Geländestruktur der alten Naturheiligtümer - ähnlich wie beim Städtebau - durch künstl. Anlagen nach geometr. Regeln ersetzt. Regelhafter Städtebau und regelmäßiges Heiligtum als gegenseitige Entsprechung sind in MABZABOTTO für das 6.Jh. nachgewiesen (S. 212). Dagegen nimmt das unter etrusk. Herrschaft angelegte Jupiter-Heiligtum auf dem Kapital in ROM Rücksicht auf die Form des traditionsreichen Hügels. Die röm. Heiligtümer folgen in der Anlage dem etrusk. Schema. Als neue Elemente treten Säulenhallen nach heilenist. Vorbild hinzu. Sie schließen die ursprüngl. freie Fläche zu einem Platzraum zusammen, den ein Podiumtempel (S. 248) als Dominante beherrscht. Das Heiligtum nimmt die Form eines sakralen Forums an. In ähnlicher Weise erhält jedes städt. Forum einen Tempel als Dominante (S. 218, 220). Die Ähnlichkeit beider Platztypen und die Identität von polit. und sakralem Forum entspricht der engen Verflechtung von öffentl. Leben und Kult. Mit der Übernahme griech. Architekturformen tritt die röm. Baukunst aus dem italischen Provinzialismus heraus und gliedert sich in die Einheit der mediterran hellenist. Formenwelt ein. Am Ende der republikan. Zeit treten in den unter P. C. SULLA erbauten Terrassenheiligtümern Ansätze zu einer spezif. röm. Monumentalarchitektur auf neuer techn. Grundlage hervor. In PALESTRINA, TIVOLI, TERRACINA und SLJLMONA verbinden sich der Typ des regelhaften Heiligtums mit Podiumstempel und die Säulenhallen und Freitreppen hellenist. Vorbilder mit einer neu entwickelten Subslruktions-Architektur. Bei dem Heiligtum des Hercules Victor in Tivoli ruht die Hauptterrasse auf einem hohen Unterbau aus Stützmauern, Auf-
schüttungen und tonne n gewölbten Räumen, die ein Tunnel der röm. Landstraße »Via Tiburtina« durchquert. In der Höhe zurückgestaffelte zweigeschossige Hallen bilden den architekton. Rahmen, aus dem der Tempel als Dominante vorspringt. Auf das geschoßhohe Tempelpodest führt eine breite Freitreppe. Vor ihr ist ein theaterähnliches Stufenhalbrund in die Terrasse eingelassen, das einen orchestra-artigen Vorplatz umschließt. Dorthin steigen vom Straßenniveau beiderseitig Treppenrampen auf. Ein hochragendes Stirngebäude schließt wie ein Bühnenhaus Vorplatz und Terrasse ab. Es bildet eine Gegendominante zum Tempel und beherrscht das Vorfeld des Heiligtums. Trotz der Breitenerstreckung der Terrasse parallel zum Hang wird die Symmetrieachse richtungsbetont herausgearbeitet und durch Höhenstaffelung monumental gesteigert. Vorplatz und Stufenhalbrund sammeln und zentrieren die von beiden Seiten heranführenden Wege auf die beim Aufsteigen schrittweise hervortretende Dominante des Tempelgiebels. Die zur Vorhalle aufsteigende Freitreppe führt die Bewegung auf der Achse bis unmittelbar vor das Sanctuarium, an die Stelle des alten »Templum Augurale«. Die Tendenz zur Ausbildung allseitig geschlossener Freiräume setzt sich in den Kaiserfora in ROM endgültig durch (S; 220). Der von Säulenhallen gerahmte Platz mit Achsenkreuz und Tempeldominante verbreitet sich als Normaltyp röm. imperialer Repräsentation über alle Provinzen. Besonderheiten örtl. Kulte führen zu Varianten, ohne den Grundtyp wesentl. zu ändern. Das größte sakrale Forum des röm. Ostens entsteht im Jupiter-Heiligtum in Baalbek. Hier verbindet sich das röm. hellenist. Schema mit der Tradition des syrischen Baal-Kultes. Der ungewöhnl. große Tempel, ein Pseudo-Dipteros nach jon, kleinasiat. Vorbild (S. 192), steht auf einem hohen Podium mit breiter Freitreppe. Den Platz umgeben ringsum zweischiffige Säulenhallen mit einer Folge von eingebauten Exedren und Sälen. Dem Tempel gegenüber bildet eine Baugruppe um den sechseckigen yorhofeine Dominante nach außen: über einer breit gelagerten Freitreppe erhebt sich eine von Türmen flankierte Vorhalle mit hohem tnittl. Torbogen unter dem Giebel (syr. Giebel, S. 208). Ein dreitoriger Durchgang führt zum Tempelhof. Die Achse der Anlage ist durch die jeweils erweiterte mittl. Säulenstellung bzw. Toröffnung von der Vorhalle bis in dtis Tempelinnere betont. Trotz der Störung durch einen hohen Altarturm mit vorgelagertem Schauturm nach syr. Tradition setzt sich die Steigerung durch axiale Symmetrie, gegliederte Raumfolge und Höhenstaffelung durch. Eine Gruppe weiterer Sakralbauten ergänzt den zentralen Bezirk des Jupiter Heliopölitanus. Seine Wirkung wird besonders durch die Parallelstellung des gleichartigen, aber kleineren Bacchus-Tempels an ^er Südseite gesteigert.
248
Rom/Typologie XIX: Tempel
Etmskischer Tempel, Schema (nach Wiegand)
Römischer Tempel, Schema (nach Vitruv)
Nimes: Maison Carree a Giebelseite, b Seitenansicht, c Grundriß
Vorhalle und Ringhalle
Der Podiumtempel als Standardtyp
Rom: Tempel des Jupiter Capitolinus
Rom/Typologie XIX: Tempel 249 Im röm. Sakralbau verschmelzen altital.etrusk. und griech. Elemente miteinander. Seine räuml. Konzeption gilt als altital.mediterranes Erbe. Das Vorbild der Griechen wirkt formal auf Einzelheiten der Architektur und der plast. Durchbildung. Der ehemals beherrschenden Stellung der Etrusker entspricht ihr Einfluß auf das religiöse Zeremoniell, die Anlage der Heiligtümer (S. 246) und die Grundform der Tempel. Die ersten Häuser für die Kultbilder gehen wahrscheinlich auf die Griechen und Etruskern gemeinsame Vorform des ägäischen Megarons (S. 134) zurück. Seine Einteilung in Hauptraum und Vorhalle hält sich bis in die Spätzeit; ebenso typ. Merkmale des Holzbaues, z. B. die weite Stützenstellung der Vorhalle in der Flucht der Cellawände. Alle etrusk. Tempel stehen auf einem Podium, deutlich über den heiligen Bezirk und die übrigen Gebäude emporgehoben. An der Frontseite steigt eine breite Freitreppe zur säulengetragenen Vorhalle auf. Das mäßig geneigte Satteldach kragt allseitig weit aus. Seine Eindeckung aus gebrannten Tonziegeln endet an Traufe und Stirnseite in reichdekorierten Formziegeln. Auf dem Frontgiebel stehen oft bewegte und farbig bemalte Figurengruppen aus Terrakotta (Apoll von Veji). VITRUV überliefert für den Grundriß ein Verhältnis von Länge zu Breite = 6:5; für Cella und Vorhalle je die halbe Länge. In der Verlängerung der Cellalängswände stehen je 2 Säulen, auf denen die Hauptbalken des Dachstuhles ruhen. Daraus ergibt sich bei dreiteiliger Cella eine Vorhalle mit 6 Jochen und 4 Frontstützen. Die Mitteljoche, entsprechend der Mittelcella erweitert, betonen den Tempel als Richtungsbau. VITRUV beschreibt ausschließlich etrusk. Tempel der augusteischen Zeit. Ob die dreiteilige Cella auf eine ursprüngl. etrusk. oder eine röm.-Iatin. GÖttertrinität zurückgeht, ist umstritten. Etrusk. und altital. Tempel sind auch mit langrechteckigem Grundriß im Verhältnis 2:1 nachgewiesen, mit einer geräumigen Cella und Vorhalle mit 2 oder 4 Frontsäulen ohne innere Stützenstellung. Die röm. Tempel übernehmen den Typ des Podiumtempels mit Vorhalle und Freitreppe. Richtungsbetonung und Frontalität werden oft durch den Einbau in einen forumartigen Heiligtumsplatz gesteigert. In Rom nimmt der griech. Einfluß zu. Der als Haupttempel der jungen Republik 509 geweihte, noch in der Königszeit erbaute Tempel des Jupiter Capitolinus erhält im Wettbewerb mit den griech. Städten (CUMAE, TARENT) eine sechssäulige Front und die seitl. Herumführung der Säulen in einer Art Ringhalle. Dreiteilige Cella, weite Vorhalle und feste Rückwand, Dachkonstruktion und Dekoration sind von betont etrusk.-röm. Charakter. Er bleibt im Grundri ß und Gebäudekern bei Erneue-
rungen und Wiederaufbauten erhalten, die formale Einkleidung wandelt sich zum heilenist. Stil der Kaiserzeit. Seit dem 2.Jh. v. Chr. macht sich der Einfluß griech. Sakralbauten zunehmend geltend. Der altertüml. Holzbau mit seinen schweren, gedrückten Proportionen weicht einem strafferen Aufbau und der Übernahme der griech. Säulenordnungen, vor allen der korinthischen (S. 206). Auch die Grundrisse werden modifiziert. Das Seitenverhältnis der Podiumsfläche verschiebt sich auf ca. 5:3 bis 4:2. Die größere Längenstreckung kommt meist der Cella zugute. Die Dreiteilung weicht allgemein dem einheitl. Cellaraum, an den sich die geräumige Vorhalle ohne Innenstützen anschließt. Als Grundtyp gilt der Tempel mit Einraumcella und Vorhalle mit 4 Frontsäulen (Tetrastylos) in einer Tiefe von 2-3 Jochen, die mittl. Säulenstellung meist nach alter Tradition erweitert. Oft wird die Front auf 6 Säulen verbreitert (Hexastylos) und je eine seitl. Säulenhalle (Ata) an den Längsseiten bis zur Cellarückwand oder Brandmauer in Art eines griech. Ringhallentempels weitergeführt. Bei Platzmangel und kleineren Tempeln führt oft eine Halbsäulen- oder Pilasterordnung, in die Cellawände eingebunden, die Ordnung der Vorhalle als Blendarchitektur weiter (NiMES). In der Kaiserzeit treten Mischtypen und kolossale Dimensionen auf, vor allem in Rom und im hellenist. Osten, dessen Prachtentfaltung sich mit dem röm. Repräsentationsbedürfnis verbindet. Acht- u. zehnsäulige Fronten, die Ausbildung als griech. Peripteros auf hohem Podium (BAALBEK, S. 246), die Einfügung einer Apsis in die Cellarückwand, Tonnengewölbe über der Cella, plastische Blendarchitekturen an ihren Wänden sind Kennzeichen verschiedener Epochen, deren Stil von den jeweiligen Kaisern entscheidend bestimmt wird. (FLAVIER, SEVERER, »syr. Barock«). Besonders ausgewogen in ihren Proportionen erscheinen die Tempel am Beginn der Kaiserzeit. Ein gut erhaltenes Beispiel dieses »augusteischen Klassizismus« ist die Maisoii Carree in Nimes, entstanden unter der-persönl. Statthalterschaft des AUGUSTUS und des AGRIPPA. Der Grundriß nähert sich mit einem Seitenverhältnis von ca. 1:2- und Säulenzahlen von 6:11 den griech. Vorbildern. Die schlanke korinth. Säulenordnung umläuft als Blendarchitektur den Bau auch an der Rückseite. Mit dem hohen Podium, der geräumigen Cella, der weiten Vorhalle und der zu ihr aufsteigenden Freitreppe bleibt er aber ganz in der röm. Tradition. Eine Sonderform stellen die Tempel mit quergelagerter Cella, in der Mitte vorgebauter Säulenhalle und Freitreppe dar, die sich an verschiedenen Punkten ROMS erheben (altes Pantheon, Tempel der Concordia am Forum Romanum, Veiovis-Tempel auf dem Kapital). Hinzu treten eine Anzahl von Rundtempeln (S. 250).
250 Rom/Typologie XX: Zentralbau
Spalato: Mausoleum des Diokletian
Rom: »Tempel der Minerva Mediea« a Grundriß, b Schnitt 1 2 3 4
Gartensaal Vestibül Nymphäum Strebepfeiler
Zentralraum Ringhalle Nebenräume Rom: Pantheon (s. Typ. XXI)
Typen römischer Zentralbauten
Rom/Typologie XX: Zentralbau l 251 Mit den Kulturtriften gelangen Technik und Formen der vorgeschichtl. Rundbauten (S. 84, 148) vom östl. in das westl. Mittelmeer. Sie behaupten sich hier nach dem Untergang der myken. Kultur noch jahrhundertelang. Ihre Raumideen erhalten in den Zentralbauten der Römer einen neuen Aufschwung. Zunächst übernehmen sie von den Griechen die klassische Form der Tholos, den Rundtempel mit kreisförmiger Cella und Ringhalle (S. 194). Er dient vor allem dem Kult der chthonischen Gottheiten und Heroen, z. B. dem des Heilgottes Äskulap, der Vesta, dem Herkules. Die wichtigste dieser Tholoi in Rom ist der Vesta-Tempel auf dem Forum Romanum. In seiner Cella brennt das von den Vestaiinnen gehütete heilige Herdfeuer, in dessen Flamme Vesta als bildloses »Numen« verehrt wird. Die Tholos kann in diesem Falle als Transponierung der altlatin. Rundhütte in die steinerne Monumentalform gelten. Sie verbindet sich mit dem Prinzip des röm. Podiumtempels (S. 248). Der erhaltene Tempel stellt eine Variante im Zeitstil des 3.Jhs. auf dem Fundament aus augusteischer Zeit dar. Die Säulen der korinth, Ordnung stehen auf Einzelsockeln, die vollplastisch aus dem runden Podest vortreten. Die Freitreppe zwischen den vorgeschobenen Wangen bringt in den Zentralbau den Richtungscharakter des röm. Tempels. Der flache Stufenunterbau zieht außen noch einmal die Kreislinie nach. Für ihre monumentalen Grabbauten übernehmen die Römer von den Etruskern den altmediterranen Typus des Hügelgrabes, den Tumulus. Über den Grabkammern, Symbol. Nachbildungen von Wohnungen, wölbt sich ein gleichmäßiger, mit Gras bewachsener Erdhügel, von einem Sockel aus Werksteinquadern begrenzt. Wahrscheinlich erhält sich hier, im konservativen Grabbau, der Typ des urtümlichen Spitzkegelhauses in seinen verschiedenen Grundkonstruktionen (Flechtwerkhaube, Kragkuppel). Seine höchste Steigerung erfährt dieser Typ in dem ca. 44 m hohen Mausoleum des Augustus. Seit der Mitte des l.Jhs. v. Chr. weicht die Hügelform dem monumental gesteigerten Mauerzylinder, bekrönt von einem bepflanzten Erdhügel über der gewölbten Grabkammer. Ah Prototyp kann das Grabmal der CAECILIA METELLA gelten. Beim Grabmal Hadrians (Engelsburg) erreicht der Zylinder über einem 10 m hohen quadrat. Sockel einen Durchmesser von 64m. Etwa gleichzeitig mit den großen Mauerringen entstehen durch die Fortschritte der Wölbtechnik (Gußbeton) kuppelgewölbte Zentralräume. Sie setzen sich in zunehmenden Dimensionen als räumliche Dominanten in den großen Profanbauten durch, vor allen in den kaiserlichen Villen (Domus Aurea, Piazza d'Oro in der Villa Hadriana). Die Verbindung des Mauerzylinders mit dem kuppelgewölbten Saal führt zu neuen Formen im selbständigen Zentralbau.
Als großes Vorbild entsteht 118 n. Chr. das Pantheon (S. 252). Von außen wird die gewaltige Kreiskuppel nur knapp sichtbar, sie versinkt optisch im Mauermantel. Aufgelegte Stufenringe leiten vom Zylinder zur Kuppel über. Den Vorhof beherrscht die tempelartige Vorhalle mit den gestaffelten Dreiecksgiebeln mehr als der Rundbau hinter ihr. Die Römer variieren das im Pantheon formulierte Thema in vielen Kult- und Profanbauten. Eine besonders elegante Abwandlung entsteht in der späten Kaiserzeit mit dem sogenannten Tempel der Minerva Medica. Der um 320 erbaute zehneckige Zentralbau von ca. 25 m 0 diente dem Kaiser LICINIUS als Gartensaal. Er erhebt sich über die Anbauten einer gewölbten Vorhalle und der beiden seit!. Nymphäen. Die untere Zone ist aufgelöst in Mauerpfeiler. Zwischen ihnen wölben sich neun Apsiden halbkreisförmig nach außen, einige mit Säulenstellungen zu den Nymphäen geöffnet. In der oberen Zone durchbrechen große Rundbogenfenster das Zehneck. Den Übergang zur Kuppel vermitteln außen Stufenringe', innen treten aus der Kreiskuppel die verstärkenden Ziegelrippen als Grate hervor, zwischen denen sich zehn Kuppelsegmente fast unmerklich mit dem Zehneck verbinden. Die starke Auflösung des Mauermantels gefährdet bald das Gebäude. Angebaute Strebepfeiler müssen den Schub der Kuppel auffangen. Der Zentralraum mit Kuppel setzt sich auch bei den spätantiken Kaisermausoleen durch und ersetzt den traditionellen Rasenhügel über dem massiven Grabzylinder. Erhalten sind aus dem 4Jh. u. a. in ROM die sog. »Tor de' Schiavi« und das Mausoleum der Kaiserin Helena, in THESSALONIKE das Galerius-Mausoleum. Im Mausoleum Diokletians in Spalato (S. 228) wird der Mauerzylinder mit überkuppeltem Innenraum und die säulenumstandene Tholos als Grabmal und Tempel für den Gottkaiser in neuer Synthese vereinigt. Ein turmartiges Oktogon als Kernbau tritt an die Stelle des übl. Mauerzylinders. Im Inneren gliedern abwechselnd Rechteckund Rundnischen die untere Wandzone; die obere bleibt glatt. Eine vor der Wand stehende zweigeschossige Säulenordnung entspricht den zwei äußeren Geschossen. Zugleich nimmt sie dem Raum die Schwere und akzentuiert den Übergang zur Kreisform, zur abschließenden Kuppelschale. Den hohen Kernbau umgibt außen eine eingeschossige achteckige Ringhalle auf hohem Podium mit 8 x 4 Säulen unter einem Pultdach. Eine viersäulige Vorhalle mit flachem Dreiecksgiebel läßt die Tendenz zur axialen Ausrichtung auch beim Zentralbau erkennen. Eine schmale, eingelassene Treppe führt in der Achse in die Vorhalle. Die Verbindung verschiedener Typen, der Eklektizismus der Formen und der vielschichtige Traditionalismus sind ein Zeichen der Spätantike (vgl. S. 266).
252 Rom/Typologie XXI: Zentralbau 2
A Erdgeschol B Obergeschol
Das Pantheon
Rom/Typologie XXI: Zentralbau 2 Die Idee des zentrierten Raumes ist im Pantheon vollkommen verwirklicht. Der um 118 n. Chr. begonnene Bau Kaiser HADRIANS ersetzt den 27-25 v. Chr. von AGRIPPA erbauten Tempel mit Breitcella. Seine besondere Funktion ergibt sich aus einem potit. Programm: der Eingliederung des AUGUSTUS und seiner Familie in den Kreis der röm. Staatsgötter und Heroen. HADRIANS Neubau dient darüber hinaus dem Gesamtkult des sich ständig erweiternden Götterhimmels. Außerdem finden hier (nach CASSIUS Dio) höchste Staats- und Gerichtsakte statt, anscheinend nach dem Vorbild der heilenist. »Pantheia«, der allgemeinen Götterversammlung mit dem Kaiser in der Mitte. Die Kuppelform entspricht mit ihrer komplexen Symbolik der für das röm. Denken typ. Verbindung von Kult- und Staatsfunktion. AGRIPPAS Pantheon war mit seiner Vorhalle nach S gewandt. Ihr gegenüber begrenzte die Basilica Neptuni den Tempelplatz. In seiner Mitte stand der Altar. Bei Hadrians neuer Gesamtanlage nimmt der Kuppelbau diesen Platz, seine Vorhalle die Stelle des alten Tempels ein. Sie wird jetzt nach N auf einen forumähnlichen Platz von ca. 60/120 m gerichtet. Er folgt dem bekannten axialen Schema (S. 220). Gegenüber dem Eingangstor ragt die Vorhalle auf. Ihre Giebelfront mit 8 Säulen steht auf einem Podium mit Freitreppe. (S. 250). Die 7 Säulenjoche sind auf 2 Seitenhallen und die breitere Mittelhalle verteilt, jedes von Tonnengewölben mit vergoldeten Bronzekassetten überspannt. Die Seitenhallen enden in Apsiden für die Statuen der Gründer AUGUSTUS und AGRIPPA, die Mittelhalle mündet in das Tor zum Kuppelbau. Ein Zwischenbau vermittelt den Übergang zur Rotunde. In antiker Zeit bildet die tempelartige Front die Dominante des Platzes. Rotunde und Kuppel werden nur im Ansatz sichtbar. Erst am Ende der kolossalen Vorhalle öffnet sich der riesige Kuppelsaal. Kugel und Zylinder als geometr. Elementarfiguren, beide aus dem gleichen Grundkreis von 43,30 m 0 hervorgehend, bestimmen in der Idealproportion von l : l den Raumeindruck. In den Zylinder ist diese Kugel so einbeschrieben, daß ihre obere Hälfte als Kreiskuppel den Zylinder überwölbt, ihre untere als unsichtbare Sphäre den Grundkreis genau im Mittelpunkt berührt. Zwei Gesimsringe verdeutlichen den zweigeschossigen Aufbau der Wand. In der unteren Zone wechseln tiefe Halbkreis- und Rechtecknischen mit wandartig breiten tragenden Doppelpfeilern ab. Eine Ordnung korinth. Säulen und Pilaster mildert den Kontrast zwischen den Schattenzonen der Nischen und den Mauerflächen und bildet eine »ideale Wandflucht« auf der Kreislinie. Ädikulen mit Statuen treten als plast. Akzente vor. Die Ordnung des Obergeschosses mit einer gleichmäßigen Folge von Pilastergruppen und Fensternischen wird
253
an zwei Stellen von Tonnenstutzen durchbrochen: über dem Eingang und der ihm gegenüberliegenden Hauptnische, in der die Längsachse des Heiligtums endet. Das abschließende obere Gesims zieht die Kreisform nach und akzentuiert den Ansatz der Kuppel. 5 Kassettenringe machen zugleich das Ansteigen zum Scheitelpunkt und die Rotation um die Vertikalachse deutlich. Im oberen Fünftel, wo der Schatten sich verdichtet, bleibt die Wölbung glatt. Die innere Abtreppung der 140 Kassetten ist nicht auf den Kugelmittelpunkt in halber Raumhöhe, sondern auf den Mittelpunkt des Grundkreises zentriert. Für den Betrachter wird durch diese Aufhebung der perspektiv. Verzerrung die Kassettenstruktur voll wirksam und verleiht der Kuppel den fast schwebenden Effekt. Ihn verstärkt die Kreisöffnung des Opaions im Kuppelscheitel (8,72m 0) als einzige Lichtquelle. Das einfallende Sonnenlicht wandert als Lichtkegel den Grundkreis und die Zylinderwand entlang und sorgt in dem sonst gleichmäßig ausgeleuchteten Raum für belebenden Kontrast. Die formale Ordnung des Raumes mit Elementen des heilenist. Formkanons täuscht einen Gliederbau vor. Das Pantheon ist aber ein Massenbau. Seine Konstruktion bleibt verborgen. In ihr werden alle Erfahrungen der röm. Großbautechnik angewandt (vgl. Colosseum, S. 240). Die Kuppel besteht aus einer inneren und einer äußeren Schale aus Gußbeton. Wechselnde Materialzuschläge (Bims, gemahlener Ziegel, Tuffstein) tragen den verschiedenen Graden von Leichtigkeit und Festigkeit Rechnung. Die Aufnahme der Druckkräfte übernimmt ein System von Ziegelrippen. Radial zum Scheitelpunkt aufsteigende Längsrippen werden von horizontalen Querrippen versteift. Gruppen von Entlastungsbögen dienen der zusätzl. Verstrebung. Die Lichtöffnung wirkt als oberer Druckring. Die untere Kuppelzone geht in das Wandsystem über. Ihr nach außen wirkender Druck wird durch die senkrechte Last der Stufenringe auf der Kuppelschale kompensiert. Die Rotunde ist ein doppelschaliger Zylinder aus Ziegelmauerwerk mit Verstärkungen aus druckfesten Natursteinen. Die acht Doppelpfeiler übernehmen die von den großen Entlastungsbögen verteilte Kuppellast. Die Pfeiler sind untereinander ebenfalls durch Bögen verspannt, in ihrem Inneren wirken Rundnischen den horizontalen Druckkräften entgegen. Der Wechsel von Pfeilern und Nischen im Untergeschoß beruht auf dieser Lastverteilung. Im Obergeschoß unterteilen zusätzlich radiale Mauerringe und Entlastungsbögen den Raum zwischen den Mauerschalen in kurze Abschnitte. Sie stellen Zellen eines großen Druckringes dar, der analog zum Ring der Lichtöffnung den Schub der Kuppel auffängt und ihre senkrechte Last gleichmäßig verteilt.
Grenze des Ost- und Weströmischen Reiches seit Theodosiu
Das byzantinische Reich unter Justiniän
Spätantike und frühes Christentum 255 Der Aufstieg des Christentums aus dem Untergrund und der Illegalität zur Staatsreligion dauert etwa 300 Jahre. Die neue Lehre breitet sich durch die Missionstätigkeit der Apostel und ihrer Schüler schon in der l. Hälfte des l. Jhs. in Palästina (JudenChristen), Syrien und Kleinasien aus. Sie greift mit der 2. Missionsreise des Apostels PAULUS nach Griechenland über und dringt bis Rom vor. Im Jahr 64 fallen dort PETRUS und PAULUS der Verfolgung unter NERO zum Opfer. Folgende Faktoren begünstigen u. a. ein schnelles Wachstum: l.die weite Verbreitung jüd. Gemeinden in der Diaspora als Keimzellen; 2. die organisatorische Einheit des Weltreiches mit sicheren Verkehrsverbindungen und schneller allgemeiner Kommunikation; 3. der günstige Nährboden für eine humane und soziale Erlösungsreligion in den unteren GeseUschaftsschichten; 4. die allgemeine Toleranz und der religiöse und philosophische Synkretismus der spätantiken röm. heilenist. Gesellschaft. Die Mission konzentriert sich in den Städten. Das Christentum durchsetzt breite Schichten der Bevölkerung, besonders unter den Handwerkern, kleinen Kaufleuten, Soldaten und Sklaven. Es steht in heftiger Konkurrenz mit anderen Religionen östl. Herkunft (Mithras-Kult). Schwerpunkte bilden sich zunächst in den dicht besiedelten Provinzen des O mit den führenden Großstadtgemeinden von JERUSALEM, ANTIOCHIA und EPHESOS. Ihnen folgen Griechenland und Makedonien mit KORINTH, THESSALONIKE und PHILIPPI, und Nordafrika mit ALEXANDRIA, KYRENE, später HIPPO und KARTHAGO. Die hartnäckige Ablehnung von Kaiserund Götterkult provoziert den Konflikt mit der Staatsgewalt. Die Auflehnung einer ständig wachsenden Minderheit gegen die Staatsreligion erscheint als innere Gefahr. Die großen Christenverfolgungen unter den Kaisern DECIUS, VALERIAN und DIOKLETIAN seit der Mitte des 3.Jhs. sind Versuche, die Staatsräson mit absoluter Gewalt durchzusetzen. Die dauernde Unterdrükkung einer wachsenden Bevölkerungsgruppe gefährdet aber den Staat mehr als Toleranz. Das Christentum gewinnt durch Märtyrer an Durchschlagskraft, während unruhige Grenzvölker und Wirtschaftskrisen das Imperium bedrohen. Konstantin der Große zieht nach dem Scheitern der diokletian. Reichsreform die polit. Konsequenzen. Bei der Erneuerung der Reichseinheit baut er zwar den absoluten Staat DIOKLETIANS weiter aus, verbindet ihn aber mit der geistigen Macht des aufstrebenden Christentums. Er stellt die antike Einheit von Staat und Religion auf neuer Grundlage wieder her. Das Toleranz-Edikt von Mailand gewährt 313 völlige Religionsfreiheit. Bei offizieller Abschaffung des Staatskultes kommt sie einseitig dem Christentum zugute, das vom
Kaiserhaus offen protegiert wird. 333 verlegt Konstantin in einem demonstrativen Akt seine Residenz: Konstaotinopel wird als Gegenpol zum alten heidnischen Rom zum »zweiten Rom« erhoben. Der polit. Schwerpunkt des Reiches verschiebt sich damit eindeutig zum O mit seiner größeren Bevölkerung und Wirtschaftskraft. 391 läßt THEODOSIUS die Tempel schließen und erklärt das Christentum zur Staatsreligion. Seinem Tod folgt unmittelbar die Teilung des Reiches in zwei selbständige Hälften. Die beiden Sphären der mediterranen Welt, die westl. römische und die östl. hellenistische - unter dem Imperium Romanum polit. und Organisator, vereinigt - lösen sich wieder, zunächst politisch, dann religiös. Das geistl. Schwergewicht des O mit der älteren christl. Tradition und der überlegenen griech. Philosophie gewinnt die Oberhand. Der Westen fällt kulturell und machtpolit. zurück und gerät unter die Herrschaft der aus der Völkerwanderung hervorgehenden german. Staaten. Erst im Mittelalter, als der O an den Islam verloren ist, entsteht als neue Macht das christl. Abendland, polit. nicht geeint, mit Rom als geistigem Zentrum. Das Christentum bildet sich innerhalb der röm.-hellenist. Gesellschaft und Kultur der Spätantike. Beide durchdringen sich in einem jahrhundertelangen Prozeß. Die staatl. und gesellschaftl. Ordnung mit ihren sozialen Gegensätzen und die Formenwelt der Spätantike verändern sich zunächst nicht. Nach dem Toleranz-Edikt übernimmt die Oberschicht immer mehr die hohen kirchl. Ämter, die nun polit. Einfluß bedeuten. Die hierarchische Stufung des spätröm. Kaiserreiches mit dem göttergleichen, nun apostelgleichen (isoapostolos) Herrscher von Gottes Gnaden verschmilzt mit der neuen kirchl. Hierarchie. Diese Oberschicht, materiell begütert und hochgebildet, orientiert; sich im Lebensstil zumeist nach dem Kaiserhaus. Eine von Grund auf neue Kunst und Architektur strebt die Kirche zunächst nicht an. Einen »Sakralbau« in Typologie und Stil der »heidnischen Tempel« lehnt sie ab. Die christl. Gemeinden übernehmen für ihre Zwecke Typen des spätantiken Profanbaues in oft betont nüchternen Abwandlungen. In der konstantin. Ära kommt es zur Neuorientierung. Die Staatskirche breitet im Inneren der oft scheunenhaft einfachen großen und kleinen Kirchen den materiellen Glanz der kaiserlichen Profanarchitektur aus. Hierarchisierung und Klerikalisierung formen auch in der Architektur die bunte Vielfalt der ersten Jahrhunderte um. Die gesellschaftl. Stufung erhält ihre liturg. Form. Das Gemeindehaus wird zur Kirche mit polaren Bereichen für Klerus und Gemeinde. Typen bilden sich. Aus der Formenvielfalt der Spätantike tritt eine eigenständige christl. Architektur hervor.
256
Frühes Christentum/Bauformen
Ravenna: San Vitale, Korbkapitell
Ravenna: San Apollinare Nuovo, Raumbild einer altchristlichen Basilika
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Rom: San Lorenzo, Fenster
Bogen und Wandstruktur aus Ziegeln
Konstantinopel: Hagia Sophia, Fenster
Ziegelfries
Spätantikes Formengut in der frühchristlichen Baukunst
Frühes Christentum/Bauformen
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Die christl. Gemeinden übernehmen für schlichten Kämpfer auf einem korinth. ihre Versammlungen und liturg. Feiern Kapitell. Typen und Formen des spätantiken ProfanDie Kapitelle der 627 begonnenen Kirche baues in zweckentsprechenden AbwandSan Vitale (S. 268) zeigen die neue byzantin. lungen. Die oft nüchterne Formgebung Form: Der Kämpfer, das lastaufnehmende steht in bewußtem Gegensatz zum »heidElement, ist noch tekton. klar geschnitten nischen« Tempel mit der anspruchsvollen, bei leichter Profilierung, das Korbkapitell nach außen gerichteten plast. Architektur hat sich vom klass. Vorbild völlig gelöst, der klass. Säulenordnungen. Die Kirchen Seine Grundform entspricht dem trapeder konstantin. Zeit bieten von außen das zoiden Kämpferblock, seine Oberfläche ist Bild zweckmäßiger Hallenbauten. filigranartig durchbrochen (ajouriert) und Die großen, fast ungegliederten Mauermit einer stilisierten Akanthusranke ornaflächen umschließen einen einfach gebauten mentiert. Diese Auflösung der Oberfläche Innenraum. Er erhält seine besondere Note steht im Gegensatz zu der Geschlossenheit durch den farbigen Glanz des Materials und des Kämpferblockes. der Dekoration, ähnlich wie bei den profaIn der Hagia Sophia (S. 270) verschmelzen nen Basiliken und den Thermen. Diese kurze Zeit später Korb- und Glockenkapitell sind den Kirchen an Reichtum der Raummit dem Kämpferblock zu einem Element, bildung und an konstruktivem Aufwand Die Ajourierung der Oberfläche greift hier (Gewölbe) überlegen. sogar auf die Arkadenbögen über. Die konDie eindrückliche Wirkung des Innenstruktiven Elemente des Bauwerkes werden raumes der konstantin. Basilika beruht auf entmaterialisiert, um den transzendentalen Weiträumigkeit, Klarheit und GroßflächigCharakter der Räume zu verstärken. keit. Die begrenzenden Flächen: Fußboden, Glanz und Farbe des Raumes bedürfen zu Wände, in einigen Fällen auch die Decken, ihrer Wirkung der Lichtzufuhr durch Fenergänzen sich zu einem farbigen Gesamtster. Als Standardform tritt bei allen Gebild. Es schließt die Teilräume, »Mittelbäuden das Rundbogenfenster einzeln oder schiff« und »Seitenschiffe« durch die weitin Gruppen auf. Kräftige Holzgitter, meist gestellten Arkaden oder Kolonnaden hinmit Scheiben aus Glas, gespaltenem Aladurch in der Stützenzone zusammen. Der baster, Marmor oder Kalkspat dienen als polierte farbige Stein nimmt mit seinen F ü l l u n g . Ein anderer Fensterverschluß sind Glanzlichtern den Säulen die körperliche die Transennen, große Platten aus Holz Schwere. Der häufige Verzicht auf Emoder durchscheinendem Marmor, gitterporen macht die Wände frei für Fresken artig oder von kreisrunden Löchern durchoder Mosaiken mit Bilderzyklen aus der brechen. christl. Heilsgeschichte. Die großflächigen Segmentbogen-Fenster Diese Bilderzone erstreckt sich über den liegen meist in den vom Gewölbedruck Säulenstellungen und setzt sich zwischen entlasteten Schild- oder Stirnwänden der den Lichtöffnungen der Fensterzone bis großen Wölb baute n (Thermen, S. 236, unter das Dach fort. In einzelnen Fällen ist Maxentius-Basilika, S. 232, Hagia Sophia, der Dachstuhl mit bemalten Holzdecken S. 270). D ü n n e Steinpfosten unterteilen die verkleidet, mit gleicher Feldeinteilung wie von Segmentbögen überspannten Öffhunder Fußboden (AQUILEIA, RAVENNA). Im gen, die einzelnen Felder werden meist mit 5.Jh. entsprechen Malerei und FlächenHolzgittern geschlossen. Das Licht fällt dekoration dem im röm. Privat- und gedämpft ein. Das röm. Glas ist auf einer Kommunalbau übl. Prunkstil. Seite rauh und matt, die gespaltenen MärTm Lauf des 5.Jh. tritt eine zunehmende morplatten von Natur aus nur durchTentlenz zur Vergeistigung, Symbolisierung scheinend. und Entmaterialisierung hervor. Sie erreicht Das Äußere der Kirchen bleibt schlicht, ihren ersten Höhepunkt Anfang des ö.Jhs. Ein schichtenweiser Wechsel im Steinmateunter Justinian, vor allem in KONSTANTINOrial führt zur Belebung und farbigen StrukPEL und RAVENNA. Bezeichnend sind Glasturierung der Wand {S. 30). Im Osten und Goldmosaik mit ihrem immateriellen herrscht allgemein der Werksteinbau vor Glanz anstelle von Fresken und Stein(Syrien, Armenien, Kleinasien). Im W, bemosaik. sonders in Ravenna, wird der traditionelle In die gleiche Zeit fällt auch die Verwandröm. Ziegelbau kultiviert. lung der antiken Kapitellformen zum Hier entwickelt sich ein besonderer FläKämpferkapitell. Seine verschiedenen Spielchenstil mit leichten, aus dem Mauerverarten dienen zur Aufnahme der Bogenanband entwickelten Gliederungen: flachen fänger bei den Säulenarkaden. Ihre ZusaniLisenen und Bogennischen oder Blendarkamenführung auf den ursprüngl. für den den. Das antike Gebälk ist verschwunden, Architrav berechneten Deckplatten (Abanur leicht vorkragende flache Gesimse oder kus) der klass. Kapitelle ist bei breiten ganz in der Fläche liegende, bandartige Mauerbögen schwierig. Bei dem trapezförSchmuckfriese aus übereck gestellten Normig verjüngten Kämpferblock paßt sich die malziegeln oder ornamentfarbig versetzten schmale Unterseite der Kapitellform, die Ziegelplatten in zwei Farben gliedern die breite Oberseite den Bogenanfängern an. schlichten Wände (S. 266, Baptisterium, Die von BYZANZ nach RAVENNA eingeführS. 268, San Vitale). Dieser spätantike Maten Säulen des späten S.Jhs. von San terialstil findet im hohen Mittelalter nördl. Apollinare Nuovo tragen einen blockhaft der Alpen seine Wiederaufnahme.
258 Frühes Christentum/Typologie I: Frühformen christlicher Bauten
Salona: Anastasrus-Heiligtum
Frühe Gemeindebauten auf örtlicher Tradition
El Hammah: Synagoge
Frühes Christentum/Typologie I: Frühformen christlicher Bauten
Die ersten Christen versammeln sich in Privathäusern. Offiziell nicht anerkannt, versuchen sie, durch möglichst unauffällige Umbauten dem Gemeindeleben einen bescheidenen Rahmen zu schaffen. So entstehen zahlreiche Hauskirchen. Das älteste erhaltene Beispiel in Dura Europos, datiert auf ca. 232, nimmt das Untergeschoß eines Hauses vom heilenist, oriental. Typ ein (vgl. S. 88). Die verschiedenen Räume gruppieren sich um einen etwa quadrat. Hof. Durch Abbruch einer Zwischenwand entsteht ein Versammlungsraum von ca. 4,5/11,5 m. Keine Einrichtung weist auf eine kultische Funktion hin. Nur der Taufraum des Hauses ist durch die Nische mit der Taufwanne und die zugehörige Wandmalerei eindeutig bestimmt. In Rom scheint von den Titelkirchen (so genannt nach titulus, der auf der Vorderfront angebrachten Inschrift des Hauseigentümers) das Gemeindehaus des »Titulus Equitii« aus dem 3.Jh. erhalten zu sein. Den geräumigen Saal im Erdgeschoß überspannen Kreuzgewölbe auf Mauerpfeilern. Zwischen den Nefaenräumen führt eine breite Treppe zum zerstörten Obergeschoß. Auch hier weist nichts auf einen christl. Gottesdienst hin. Beim Anwachsen der Gemeinden entstehen die ersten selbständigen Kirchenbauten, meist als Saalkirchen; einfache, große Räume, freistehend oder als Anbauten an die Gemeindehäuser. In Zurzach (Tenedo) ist der Grundriß einer kleinen gailo-röm. Gemeindekirche aus dem 4.Jh. innerhalb des ehemaligen Kasernenquartiers ergraben. Sie besteht aus einem unregelmäßigen Saal von ca. 9-11 m Seitenlänge mit einer um 40 cm erhöhten, breiten Apsis. Eine Seitentür führt zur Taufkapelle, entstanden durch Überdachung des ursprünglich offenen Zwischenraumes zwischen der Saalmauer und der hier im stumpfen Winkel abknickenden Stadtmauer. Größere Kirchen in ähnlich einfachen Formen entstehen in den städt. Bischofssitzen. Auffällig ist hier der Bau von Doppelkirchen, wahrscheinlich eine Folge von Massenübertritten nach dem Mailänder Edikt. Neben die Gemeinde- und Bischofskirche tritt eine eigene Unterweisungskirche (Katechumenon) für die Neubekehrten. Der erhaltene Grundriß der Bischofskirche von Aquileia zeigt zwei parallele rechteckige Hallen gleicher Konstruktion im Abstand von ca. 30 m. Je sechs Pfeiler tragen den Dachstuhl, bzw. die flache Decke. Am östl. Ende nimmt, nach dem Bodenmosaik zu schließen, das Presbyterium die ganze Breite der Halle ein, ein Zeichen für die beginnende liturg. und hierarch. Sonderung von Klerus und Gemeinde (vgl. röm. Querhaus, S. 262). Beide Saalkirchen verbindet ein Querraum gleicher Art als Vorhalle (Narthex) und Baptisterium, Neben- und Verbindungsräume führen zum Wohnbezirk des Bischofs.
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Anscheinend übernehmen die jüdischen Gemeinden vor den Christen die typ. röm. Mehrzweckhalle, die Basilika, für ihre Synagogen. Die ersten dieses Typs entstehen etwa seit dem 2. Jh. in Syrien und Palästina, zunächst ohne Überhöhung des Mittelraumes, mit Umgang und Emporen, später auch mit einer Apsis. Bei der Synagoge von El Hammah umziehen Umgang und Empore den breiten Mittelraum an 3 Seiten, an der 4. springt eine breite Apsis nach außen vor. Der Zugang über einen schmalen Gang und einen seitl. Vorraum ergibt sich aus dem Einbau in ein bebautes Viertel, entspricht aber auch alter oriental. Tradition. Ein Einfluß von Synagogen dieser Art auf die christl. Gemeindehäuser oder ein wechselseitiger Einfluß ist anzunehmen. Memorien und Martyrien entstehen an den Wirkungsstätten oder über den Gräbern der Apostel, der ersten Bischöfe und Märtyrer als einfache, oft nur provisorische Kapellen und Erinnerungsmale. Bald nach dem Ende der Verfolgungen setzt ein intensiver Märtyrer- und Heiligenkult ein. Er führt zum Bau vieler Gedenkkirchen. Einer der frühen Stützpunkte des europäischen Christentums befindet sich in Salona, Hauptstadt Dalmatiens und Geburtsort DIOKLETIANS, der seinen Palast südl. der Stadt erbaut. Die dortige Christengemeinde leidet naturgemäß stark unter der diokletian. Verfolgung. Auf den Gutshöfen außerhalb der Stadt sammelt sie sich in kleinen Gruppen, viele Opfer der Verfolgung werden hier begraben, andere Gräber schließen sich an. Seit dem 4.Jh. entstehen in der Stadt und ihrer Umgebung verschiedene Sakralbezirke, z.B. eine Memoria in SALONA-MANASTIRINE: eine ältere Apsis mit Märtyrergrab wird anscheinend wenig später mit einem Peristyl und zwei Apsiden auf der Gegenseite zu einem kleinen Sakralbezirk ausgebaut. Etwa zur gleichen Zeit beginnt der Ausbau des Anastasius-Heiligtums in SALONA-MARUSINAC zu einer differenzierten Baugruppe. Das Mausoleum besteht aus einer Krypta und einem über ihr errichteten, gewölbten hohen Saal als Gedächtniskirche. Die Gewölbegurte gehen in Wandvorlagen über, die auf der Außenseite als Strebepfeiler erscheinen. Ein seitl. Peristyl anstelle des früheren Friedhofes dient zugleich als Vorhof zur Basilika. Parallel zu ihr ersetzt eine Hofanlage in Form einer Basilika (Basilica discoperta) einen kleinen Altbau, über dem eine hohe Exedra mit zwei rechtwinklig dazu stehenden überdeckten Seitenflügeln eine Art von »Querhaus« (S. 262) oder Dreikonchenanlage (S. 266) bildet. Die Unbefangenheit in der Übernahme und Verbindung spätantiker Gebäudeformen führt bei starkem provinziellem Eigenleben zu einer Vielfalt von geschichtl. gewachsenen Sakra l bezirken. Sie weicht im 4.Jh. einer stärkeren Typisierung unter dem Einfluß der von der kaiserlichen Familie errichteten Großbauten.
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Frühes Christentum/Typologie II: Heiligtümer
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Sakralbauten l Höfe Wohn- und Sondergebäude
Jerusalem: Heiliges Grab und Auferstehungskirche
Deir Seman: Westkloster
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Tebessa: Sakralbezirk
Planmäßige Anlage von Baugruppen
Frühes Christentum/Typologie II: Heiligtümer 261 Nach dem Mailänder Edikt beginnt im 4.Jh. eine umfangreiche christl. Bautätigkeit. In den Hauptstädten des Reiches und an den wichtigen Plätzen der christl. Tradition entstehen Großbauten und sorgfältig geplante Gesamtanlagen. Sie ersetzen die bunt zusammengewachsenen und kleinteiligen Bezirke der ersten Jahrhunderte. Die siegreiche Religion übernimmt Prinzipien, Gebäudetypen und Bauformen der röm. Profanarchitektur. Die christl. Heiligtümer bewahren aber im Gegensatz zum röm. Sakralforum ihre Vielgestaltigkeit, bedingt durch den anderen Kultus und die Unterschiede in den örtl. Traditionen. Die beherrschenden Bauten sind die großen Versammlungshallen für die Gemeinde (Ecclesia), sie werden meist als Basiliken, die Gedenk- (Memoria, Martyrium) und Taufkirchen (Baptisterium) hingegen meist als Zentralbauten errichtet. Die großen Heiligtümer an den Stätten der Heilsgeschichte konzentrieren sich in besonderer Zahl und Größe in Palästina. Neben der Geburtskirche in BETHLEHEM gehen als Anlage höchsten Ranges die Grabesund Auferstehungskirche in Jerusalem. Beide Kirchen sind mit Vorhallen und Säulenhöfen innerhalb einer Umfassungsmauer zu einer einheitl. Gebäudegruppe zusammengefaßt. Das röm. Prinzip des symmetr. Aufbaues auf der Längsachse bestimmt die Folge von offenen und geschlossenen Räumen. Sie beginnt an der Hauptstraße mit einer breiten Freitreppe unter einem Säulenportikus. Ihm folgt, wie bei den röm. Basiliken (S. 262), das »Atrium«, der Peristylhof vor der Basilika. Von hier aus führt der Weg entweder geradeaus in die Basilika (Martyrium) oder an beiden Seiten längs der Basilika in das große Peristyl mit dem Kaivarienberg, dem hier vermuteten Golgatha-Hügel. Hinter ihm erhebt sich die große Rotunde der Grabeskirche (Anastasis). Ihre drei Tore gestatten den direkten Zugang in der Achse oder die seitl. zirkulierende Führung der Besucher, wie sie für Wallfahrten üblich ist. Die großzügigen Dimensionen der Hallen und Gänge ermöglichen auch bei großen Pilgermengen die Abwicklung eines umfangreichen liturg. Programmes mit Gottesdiensten und Prozessionen (etwa zu Ostern). Einen ähnlich großzügigen Zuschnitt zeigen viele Heiligtümer in den volkreichen Provinzen Vorderasiens und Nordafrikas. In Syrien gilt dies besonders für das Heiligtum des Symeon Stylites in Qalaat Seman. JDie um 480 gegründete Anlage auf einem abfallenden Hügelrücken umfaßt innerhalb festungsartiger Mauern mehrere Gebäudegruppen. Den Hauptkomplex, das »Martyrium«, bilden vier kreuzförmig auf einen gemeinsamen Zentralraum oder -hof gerichtete Basiliken. Zwei weitere Kirchen sind mit Priester- und Gästeräumen und einem Baptisterium (S. 266) verbunden. Der Versorgung der Pilger auf der Wanderung zum Heiligtum dienen Klöster. Für das im Gegensatz zur allgemeinen antiken Le-
bensform stehende Mönchtum bilden sich erst allmählich verschiedene Organisationsformen mit entsprechenden Bauprogrammen aus. An der Pilgerstraße Nordsyriens bestimmen neben der Kirche vor allem die Gebäude für den Pilgerbetrieb die Planung. Das Westkloster von Deir Seman besteht wie die zwei anderen Klöster dieser Stadt unterhalb des Symeon s-Heiligtums aus einer unregelmäßig zusammengefügten Baugruppe. Die Klosterkirche liegt beherrschend auf einer erhöhten Terrasse. Die einfache, dreischiffige Basilika ohne Vorhalle und Querschiff entspricht in Grundriß und Aufbau der regionalen Tradition (S. 264). Die Chorpartie zeigt die für Nordsyrien häufige Einziehung der Apsis in den rechteckig geschlossenen Baukörper, flankiert von zwei Nebenräumen, den »Pastophorien« (Prothesis und Diakonikon) für die Vorbereitung des Gottesdienstes. Unmittelbar an die Chorseite der Kirche schließt sich das innere Kloster an: ein geräumiger Hof, von Pfeilerhallen umschlossen, mit einer Eingangshalle und einem Pfortenraum am äußeren Klosterhof. Um ihn ordnen sich nördl. und östl. der Kirchenterrasse drei einfache Hallen und zwei karawanserei-artige Gebäude, die offensichtl. der Versorgung und Beherbergung der Pilger dienen. Große Sakralbezirke entstehen auch in Nordafrika, wo das Christentum unter großen Theologen einen bedeutenden Aufschwung nimmt. Basilika und Kloster in Tebessa werden in mehreren Perioden während des 5. und Ö.Jhs. erbaut. Den Kern der Anlage bildet eine Emporenbasilika mit einer nach syr. Art zwischen zwei Nebenräumen eingebauten Apsis, einem Atrium und einer Vorhalle mit Freitreppe wie bei röm. Großkirchen (S. 262). Die Kirche steht auf einem hohen Unterbau, rings von den Wand an Wand gebauten Mönchszellen umgeben. An der westl. Längsseite ist ein Zentralbau in Form eines Trikonchos unmittelbar mit der Basilika verbunden. Basilika und Trikonchos stehen - ähnlich dem byzantin. Klostertyp, der Lawra - dreiseitig frei in dem mit Wehrmauer und Türmen gesicherten weiten Klosterhof. Südl. dieser zentralen Baugruppe breitet sich eine Anlage anderer Art aus. Ein großer basilikaler Hallenbau mit Emporen dient anscheinend dem Pilgerbetrieb (Herberge, Spital, Karawanserei). Den weiteren Platz an seiner Westseite umgeben und teilen Säulenhallen in vier Peristylhöfe. Ihre Mittelachse führt auf die Vorhalle der Basilika. An drei Seiten umschließen zwei Mauerringe diesen Bezirk. Die zwischen ihnen verlaufenden, straßenbreiten Gange dienen wie in Jerusalem (s. o.) dem freien Umgang der Pilger, die im Torhaus im SO eingewiesen werden können. Die axiale Ausrichtung und die mustergültige Organisation zeigen die Tpddition der röm. Reichsarchitektur, dievonBYZANZ weitergeführt wird.
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Frühes Christentum:/ Typologie III: Basilika l
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Ravenna: San Apollinare in Classe
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Rom: Sta. Maria Maggiore
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