Drama de Divo Cassiano: Drama über den Heiligen Cassian 9783825347925

Lernunwillige und aufmüpfige Schüler, frustrierte Lehrkräfte, protestierende Eltern. Was zunächst nach Schlagwörtern aus

177 49 2MB

German Pages 230 [242] Year 2021

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Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
Einleitung
1 Der Autor Matthäus Rader SJ
2 Zur Funktion des Jesuitentheaters
3 Historischer und thematischer Abriss zum Jesuitentheater
4 Zur Aufführungspraxis
5 Überlieferung, Entstehung und Aufführung des ‚Cassianus‘
6 Die Cassian-Legende
7 Inhaltsangabe zu Raders ‚Cassianus‘
8 Verständniskontexte und Interpretationsansätze
9 Editions-, Übersetzungs- und Erläuterungsprinzipien
‚Drama de Divo Cassiano‘ –Drama über den Heiligen Cassian: Edition und Übersetzung
Erläuterungen
Appendix zur Metrik des ‚Cassianus‘
Bibliographie
Namens- und Ortsregister
Rückumschlag
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Drama de Divo Cassiano: Drama über den Heiligen Cassian
 9783825347925

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matthäus rader sj

Drama de Divo Cassiano Drama über den Heiligen Cassian Herausgegeben, übersetzt und erläutert  von andreas abele die neulateinische bibliothek

Universitätsverlag

win t e r

Heidelberg

band 5

die n e u l at e in isch e b i b l i ot hek Herausgegeben von Daniela Mairhofer (Princeton) Gernot Michael Müller (Bonn) Florian Schaffenrath (Innsbruck) Hartmut Wulfram (Wien) Band 5

matthäus rader sj

Drama de Divo Cassiano Drama über den Heiligen Cassian

Herausgegeben, übersetzt und erläutert von

andreas abele

Universitätsverlag

winter

Heidelberg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit Unterstützung des Ludwig Boltzmann Instituts für Neulateinische Studien

umschlagbild Matthäus Rader: Bavaria sancta (Bd. 3), S. 1 (1627)

isbn 978-3-8253-4792-5 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2021 Universitätsverlag Winter GmbH Heidelberg Imprimé en Allemagne · Printed in Germany Druck: Memminger MedienCentrum, 87700 Memmingen Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier. Den Verlag erreichen Sie im Internet unter: www.winter-verlag.de

magistris meis

Inhalt Einleitung 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Der Autor Matthäus Rader SJ Zur Funktion des Jesuitentheaters Historischer und thematischer Abriss zum Jesuitentheater Zur Aufführungspraxis Überlieferung, Entstehung und Aufführung des Cassianus Die Cassian-Legende Inhaltsangabe zu Raders Cassianus Verständniskontexte und Interpretationsansätze Editions-, Übersetzungs- und Erläuterungsprinzipien

Drama de Divo Cassiano – Drama über den Heiligen Cassian: Edition und Übersetzung

1 1 4 14 18 22 26 32 37 45 49

Erläuterungen

187

Appendix zur Metrik des Cassianus

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Bibliographie

219

Namens- und Ortsregister

227

Abkürzungsverzeichnis Die Abkürzungen antiker lateinischer Autoren und Werke folgen den Vorgaben der neubearbeiteten Fassung des Indexbandes des Thesaurus Linguae Latinae (Berlin 1990), die der griechischen denen des Neuen Pauly (DNP 3 (1997), xii–xliv). Die Abkürzungen der biblischen Bücher entsprechen denen der lateinischen Vulgata, der für den Jesuitenpater Matthäus Rader selbstverständlichen Ausgabe der Heiligen Schrift. AA SS ADPSJ Clm Eras. Adag. Hist. Coll. Aug. Hist. Coll. Rat.

Hist. Prov. Germ. Sup.

MPSI Ratio stud.

Acta Sanctorum Archiv der Deutschen Provinz der Societas Iesu Codex Latinus Monachiensis, Bayerische Staatsbibliothek München Saladin, J.-C. (Hg.), Erasmus von Rotterdam, Les Adages, 5 Bde., Paris 2011. Historia Collegii Augustani, Bibliothèque cantonale et universitaire Fribourg/CH, L 95/I Historia Collegii Ratisponensis (1590– 1613), Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Jesuitenorden, Kolleg St. Paul Regensburg Amtsbücher und Akten 372. Agricola SJ, I./Flott SJ, A./Kropf SJ, F.X., Historia Provinciae Societatis Iesu Germaniae Superioris, 5 Bde., Augsburg 1727– 1754. Lukács SJ, L. (Hg.), Monumenta Paedagogica Societatis Iesu, 7 Bde., Rom 1965– 1992. Ratio studiorum (= MPSI V)

Einleitung 1

Der Autor Matthäus Rader SJ

Den Treppensturz Mitte Dezember hätte er mit einer nicht allzu gravierenden Kopfverletzung wohl noch überlebt, gegen den zeitgleich aufgetretenen „Stöck-Cathar“ (vermutlich ein Lungenödem) sowie „HauptFluß“ (Stirnhöhlenentzündung) war er allerdings machtlos. Und so verstarb der im Januar 1561 in Innichen im heutigen Südtirol geborene Jesuitenpater Matthäus Rader am 22. Dezember 1634 in München im Alter von 73 Jahren.1 So erzählt der Jesuit Maximilian Rassler Raders Ableben in seinem 1714 erschienenen Werk Das Heilige/ Selige/ und Gottselige Bayer-Land. Hierbei handelt es sich um eine deutsche Übersetzung von Raders zwischen 1615 und 1627 in drei Bänden veröffentlichter hagiographischer Landesgeschichte Bayerns mit dem Titel Bavaria sancta.2 Darin stellt Rader 203 sowohl kanonisierte als auch nicht-kanonisierte Heilige und Selige, die in Bayern und benachbarten Territorien wirkten, in bald längeren, bald kürzeren Portraits vor. Knapp hundert Jahre später übersetzte Rassler Raders lateinisches Werk allerdings nicht nur, sondern führte dessen Heiligenverzeichnis auch fort. An dessen Ende, gewissermaßen als Epilog, setzte er eine Lebensbeschreibung Raders, worin sich auch die eingangs wiedergegebene Erzählung von dessen Lebensende findet. Damit ehrt er nicht nur, wie er selbst seine Intention beschreibt, Raders Mühen zur Förderung des Katholizismus in Bayern sowie seinen Fleiß zur Mehrung des Ruhmes des Vaterlandes bei den Gelehrten. Gleichzeitig verleiht er dadurch indirekt und unausgesprochen auch ihm eine ‚Quasi-Heiligkeit‘. Und so sollte man wohl auch Rasslers apologetischen Kommentar, dass es doch sicher erlaubt sei, „daß auch er [sc. Ra-

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2

Zu Raders Biographie siehe: SIEVEKE 2010; KÖRNER 2005, Bd. 3, 1552–1553; SCHMID 2003; HAUB 1996; SCHMID 1995, xxiii–xxix; WINHARD 1994; VALENTIN 1983–1984, Bd. 2, 1099–1100; KOCH 1962, Bd. 2, 1490–1491; DUHR 1913, Bd. 2, 417–423. Zur Bavaria sancta siehe: SCHMID 1998; SCHMID 1995, xxv–xxvii.

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Einleitung

der]/ welcher auß Gottseeligkeit solche Beschwärnuß auf sich genommen/ wenigst allhie nach den Gottseeligen ein Orth finde,“3 am ehesten als ein adhortatives understatement verstehen. Rassler stellt der Erzählung von Raders Tod eine kurze Zusammenfassung von dessen Leben und Wirken voran. Als die beiden bestimmenden Elemente in Raders Vita identifizierte er den „geflissnesten Dienst Gottes/ und [die] nutzlichsten Wissenschafften“, eine Einschätzung, die sich bei einem Blick auf seine Biographie bestätigen lässt: Im Alter von zwanzig Jahren trat der Bäckerssohn aus dem Pustertal nach dem Abschluss seiner Schulausbildung in Innsbruck in den Jesuitenorden ein (12. September 1581). Auf sein Noviziat, das er in Landsberg am Lech absolvierte, folgte ein Philosophie- und Theologiestudium in Augsburg und Ingolstadt. Im Schuljahr 1590/1 übernahm er die Rhetorikklasse des Jesuitengymnasiums am Kolleg St. Salvator in Augsburg. Am 1. Mai 1591 feierte er seine Primiz.4 Nach einem mehr als 20-jährigen Dienst als Lehrer in der Fuggerstadt wurde er im Jahr 1612 von Herzog Maximilian I. ans prestigeträchtige Münchener Kolleg St. Michael berufen, dem er mehrfach als Rektor (1614, 1624, 1631) vorstand. Sein Nachfolger in Augsburg wurde sein ehemaliger Schüler Jeremias Drexel.5 Zeitgleich zu diesen Tätigkeiten pflegte Rader seine literarischen und wissenschaftlichen Aktivitäten. Während seiner Zeit am Augsburger Kol-

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5

Gottseliges Bayer-Land/ Deß gantzen Wercks R.P. Matthaei Raderi, Auß der Gesellschafft Jesu Dritter Theil/ Mit Einem mercklichen Zusatz in Teutscher Sprach vorgetragen von R.P. Maximiliano Rassler Eben bemelter Societet, Augsburg 1714, 377 (Hervorhebung durch den Verfasser). – Als Quelle dienten Rassler vermutlich die Annales Collegii Monacensis 1574–1708, die einen ganz ähnlichen (freilich lateinischen) Wortlaut aufweisen (siehe ADPSJ, Abt. 41, Nr. 6, fol. 305v; alte Signatur: ADPSJ, Mscr I 45). Auch die Historia Provinciae Societatis Iesu Germaniae Superioris Pars quinta ab anno 1631 ad annum 1640 von Franz-Xaver Kropf SJ (Augsburg 1754) besitzt enge sprachliche Parallelen zu den Annales Collegii Monacensis bzw. zu Rassler (vgl. Hist. Prov. Germ. Sup. V, 264–266 Nr. 519). Eintrag in der Historia Collegii Augustani: Matthaeus Raderus Rhetoricae professor sacris initiatus Calendis Maiis Deo primum solemni ceremonia operatus est. Hist. Coll. Aug. p. 333. Vgl. Hist. Coll. Aug. p. 490: Discessit hinc P. Matthaeus Raderus, huius Collegii ultra 24 annos inquilinus, cui successit P. Hieremias Drexelius.

Der Autor Matthäus Rader SJ

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leg engagierte er sich auch in vielfältiger Weise im Bereich des Schultheaters. So datieren nicht nur seine eigenen Bühnenstücke in diese Zeit,6 sondern er forderte auch immer wieder befreundete Jesuitenpatres bzw. ehemalige Schüler zum Schreiben und Inszenieren von Stücken auf. Teilweise stand er ihnen auch mit Rat und Tat zur Seite, was z. B. die Briefkorrespondenz mit dem bereits erwähnten Jeremias Drexel detailliert dokumentiert.7 Außerdem machte sich Rader während dieser Zeit einen Namen als Herausgeber von antiken Texten wie der Epigramme Martials (1599 bzw. 1602), der Historia Alexandri Magni des Curtius Rufus (1615) sowie der Akten des 8. Ökumenischen Konzils (1604). Ferner besorgte er einen Kommentar zu Senecas Medea (1631). Neben der erwähnten Bavaria sancta sind weitere hagiographische Werke zu nennen, so z. B. das dreibändige Viridarium sanctorum (1604–1614) sowie eine Vita des Petrus Canisius SJ (1614). Durch seine philologischen Arbeiten erwarb er sich bei prominenten Zeitgenossen wie Justus Lipsius (1547– 1606), Joseph Justus Scaliger (1540–1609) sowie Marcus Welser (1558– 1614) hohes Ansehen. Mit vielen intellektuellen Größen der Zeit stand er brieflich in Kontakt.8

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Aesopus venditus: München 1593, Augsburg 1594, Ingolstadt 1595, Dillingen 1597. Ioannes Damascenus (clm 532): Augsburg 1593, Dillingen 1619. Cassianus: München 1594, Regensburg 1597. Vigilius: Augsburg 1595, Dillingen 1597, Innsbruck 1602. Pseudoplasta: Augsburg 1599, Dillingen 1605. Sancta Afra Martyr: Augsburg 1600. Petrus Eleemosynarius: Ingolstadt 1600. – Von der Forschung wird immer wieder behauptet, dass neben den genannten Stücken auch der u. a. 1585 in Fribourg, 1587 in Graz sowie 1596 in München aufgeführte Theophilus aus Raders Feder stammt, eine Behauptung, für die sich bisher allerdings keine überzeugenden Beweise finden ließen (vgl. RÄDLE 1979, 575; VALENTIN 1978, Bd. 1, 455–458). Dasselbe gilt für den anlässlich der Einweihung der Münchener St. Michaelskirche (1597) dargebotenen Triumphus Divi Michaelis, für den ebenfalls eine Autorschaft oder zumindest eine Beteiligung Raders angenommen wird. Vgl. RÄDLE 2013, 270; BAUER/LEONHARDT 2000, 93–94. Siehe ABELE 2018, 34–45. Teile der erhaltenen Briefkorrespondenz wurden ediert von SCHMID 1995 und 2009.

4 2

Einleitung

Zur Funktion des Jesuitentheaters

Das Theaterwesen der Jesuiten zählt zu den größten, am weitesten verbreiteten und bedeutendsten Kulturphänomenen der Frühen Neuzeit. Ein Beleg hierfür mag bereits die Tatsache sein, dass seine quantitativen Ausmaße bis heute nicht vollständig erschlossen sind. Im Zuge seiner großangelegten Recherchearbeiten sammelte Jean-Marie VALENTIN9 allein für den deutschen Sprachraum ungefähr 8.000 Titel, die zwischen 1555 und der vorübergehenden Auflösung des Jesuitenordens im Jahre 1773 dargeboten wurden.10 Die Bandbreite der aufgeführten Stücke reicht von kleineren szenischen Dialogen bis hin zu großen, mehrstündigen Komödien und Tragödien. Seit den Achtzigerjahren stieg im Zuge weiterer, z. T. sehr lokaler Recherchearbeiten die Zahl der belegten Dramen stetig an und tut dies noch immer. Vergleichbare Katalogisierungen für das Jesuitentheater anderer großer katholischer Länder Europas wie Portugal, Spanien, Frankreich, Italien und Polen existieren momentan noch nicht.11 Man muss aber davon ausgehen, dass in der angesprochenen Zeitspanne von 1555 bis 1773, also innerhalb von knapp 220 Jahren, mehrere zehntausend Inszenierungen auf den Bühnen der Jesuiten weltweit dargeboten wurden. Manche Forscher gehen sogar von einer Anzahl von mehr als 100.000 aus. Fragt man nach den Gründen für diesen überwältigenden Erfolg des Jesuitentheaters, sind zwei Hauptaspekte besonders hervorzuheben: die tiefe Verankerung dramatischer Aufführungen in der jesuitischen Pädagogik (2.1) und die Indienstnahme des Theaters für den moraldidaktischen und seelsorgerischen Auftrag der Societas Iesu sowie das damit eng verschränkte Grundkonzept der ‚Sinnenhaftigkeit‘, die sich im Rahmen des jesuitischen Theaterwesens breit entfalten konnte (2.2).12 9 10

11 12

VALENTIN 1983–1984. VALENTIN geht davon aus, dass während der Hochphase des Jesuitentheaters in jedem ihrer Kollegien im deutschen Sprachraum jährlich fünf bis acht dramatische Aufführungen stattfanden. Siehe VALENTIN 1983–1984, xvi; VALENTIN 1980, 241. Siehe allerdings die Katalogisierung zum Jesuitentheater in Ungarn von STAUD 1984–1988. Zum Jesuitentheater sowie zu seiner pädagogischen, moraldidaktischen und seelsorgerischen Ausrichtung siehe grundlegend RÄDLE 2013, 185–214 und 217–220; vgl. ferner: ZAMPELLI 2017; FRIEDRICH 2016, 357–365; HARTMANN

Zur Funktion des Jesuitentheaters

2.1

5

‚Die Bühne im Unterricht‘: Das Jesuitentheater im Kontext der jesuitischen Pädagogik

Bei der Suche nach den Gründen für den beschriebenen Erfolg des Jesuitentheaters lohnt es sich, zunächst einen Blick in ein Lehrwerk eines bedeutenden Jesuiten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, Jakob Pontanus (eigentl. Spanmüller; 1542–1626), zu werfen. Dieser war nach seinem Studium an den Jesuitenkollegien Prag und Ingolstadt in Dillingen an der Donau als Lehrer tätig. 1582 gründete er das Augsburger Jesuitenkolleg und stand ihm zwanzig Jahre lang als Rektor vor. Auch Matthäus Rader unterrichtete lange Zeit unter ihm in Augsburg. Ferner war Pontanus maßgeblich an der Ausarbeitung der Ratio studiorum, der offiziellen und zentralen Studienordnung des Jesuitenordens, beteiligt. Sein angesprochenes, zwischen 1588 und 1594 erschienenes mehrbändiges Lehrwerk mit dem Titel Progymnasmata latinitatis13 wurde v. a. für den Unterricht in den Grammatikklassen an Jesuitenschulen herangezogen. Es verfolgt das pädagogisch-moraldidaktische Ziel, in der leicht zugänglichen Form von spielerisch-komödiantischen Dialogen gutes Latein, mehrheitlich an die Lebenswelt der Schüler angepasste Verhaltens- und Benimmregeln sowie enzyklopädisches (Allgemein-) Wissen zu vermitteln. Im hundertsten und letzten progymnasma des ersten Bandes lässt er in einem Dialog mit dem Titel Actio scenica zwei Figuren auftreten, Conradus und Helisaeus, die sich über den Sinn und Zweck von szenischen Schulaufführungen austauschen. Conradus beginnt seine Ausführungen mit folgenden emotionalen Worten: Con.: Accenditur mihi animus haud mediocriter, Helisaee, ad personam in theatro agendam, […] non, inquam, parva cupido huius rei mihi crescit in pectore, cum observo spectatores vultus atque ora in ludionibus defigere et non modo primarum, secundarum ac tertiarum partium, sed in suo genere optimum quemque actorem intueri continenter admirarique

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2008, 62–65; WIMMER 1982, 12–33 und 106–117; VALENTIN 1978, Bd. 1, 205–257; REINHARDSTÖTTNER 1889, 59–66. Den folgenden Ausführungen diente der 1602 erschienene erste Band der neunten Edition als Grundlage: Jacobi Pontani de Societate Iesu Progymnasmatum latinitatis sive dialogorum volumen primum, cum annotationibus. De rebus literariis. Editio nona, Ingolstadt 1602. – Zu Pontanus’ Progymnasmata latinitatis siehe KUHLMANN 2010, 124–131 und BLUM 1993, 628–629.

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Einleitung maxime et alios collatis capitibus percunctari, quinam sit ille aut ille adolescens, cuius filius, quod ei nomen. Pontanus: Progymnasmata latinitatis, vol. I, 473–474 Con.: Ich brenne inständig darauf, mein Helisaeus, eine Figur auf der Theaterbühne darzustellen, […] und keine, ich sag’s dir, geringe Freude daran macht sich in meinem Herzen breit, wenn ich beobachte, wie die Zuschauer ihr Antlitz und ihren Blick auf die Schauspieler heften und nicht nur denjenigen Akteuren, die die ersten, zweiten und dritten Hauptrollen spielen, sondern jeweils dem Besten auf seinem Gebiet ohne Unterlass zuschauen, ihn zutiefst bewundern und andere mit zusammengesteckten Köpfen fragen, wer dieser oder jener Junge sei, wessen Sohn er sei, wie er heiße.14

Conradus spielt hier auf ein pädagogisches Grundprinzip der Societas Iesu an. Denn das Theater der Jesuiten stellt eine Facette der stark kompetitiven Ausrichtung ihrer Pädagogik und somit auch der damit einhergehenden Anerkennung und Belohnung für die Schüler dar. Sie sollen durch die Gewissheit angespornt werden, dass ihre Mühen mit Bewunderung und Beifall belohnt werden, nicht nur im Klassenzimmer, sondern vor und von einer breiten Öffentlichkeit.15 In Ergänzung zu diesem vielleicht etwas eitlen Wunsch nach Geltung und Anerkennung bringt sein Gesprächspartner, Helisaeus, im Anschluss einen ganz praktischen Aspekt vor: Ärmere Schüler könnten sich durch entsprechende schauspielerische Leistungen die finanzielle Unterstützung durch reiche Adlige verdienen. Er selbst sei das beste Beispiel dafür.16 Ferner komme, so Helisaeus weiter, das Theater dem Wunsch der Eltern nach, dass ihre Kinder in Mimik und Gestik geschult werden:

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Die Übersetzungen stammen, soweit nicht anders vermerkt, vom Verfasser. Ganz ähnlich in der Ratio studiorum: MPSI V (Ratio stud. 1586), 8. Hel.: Plerique de studiosis literarum aliena misericordia liberalitateque indigent, qui quidem cum suas partes egerint egregie et ita se populo probaverint, a divitibus ac nobilibus viris sumptum in singulos annos, quo victum tolerent, facile hac ratione etiam non rogantes consequuntur. Exempla complura commemoraverim et ex illis ego ipse unum sum. Pontanus: Progymnasmata latinitatis, vol. I, 474.

Zur Funktion des Jesuitentheaters

7

Hel.: Videmus praeterea parentes admodum desiderare, ut filii doceantur bene gestum agere, moderari manus, vultum, corpus totum ac vocem etiam inflectere atque variare et in his omnibus posthabito pudore subrustico liberi esse, nihil metuere. Hoc nusquam commodius maioreque cum eorum et aliorum voluptate sit quam in theatro. Pontanus: Progymnasmata latinitatis, vol. I, 474 Hel.: Außerdem sehen wir, dass die Eltern das tiefe Verlangen haben, dass ihren Söhnen beigebracht werde, gut zu gestikulieren, die Hände, das Gesicht, den ganzen Körper zu beherrschen, ja sogar die Stimme zu modulieren und unterschiedlich einzusetzen, und bei all diesen Dingen die etwas bäuerliche Scheu hintanzustellen und frei zu sein, nichts zu fürchten. Nirgendwo anders als im Theater gibt es etwas Angenehmeres als dieses und etwas, das mit mehr Vergnügen für sie selbst und andere verbunden ist.

Schon die Protestanten schätzten in Bezug auf ihre zeitlich etwas vor den Jesuiten einsetzenden Bildungstätigkeiten den Wert von schulischen, selbstverständlich lateinsprachigen dramatischen Aufführungen, um die sprachlich-stilistischen sowie rhetorischen Fähigkeiten ihrer Schüler aktiv zu schulen und sie ihr Können vor einer bald größeren, bald kleineren Öffentlichkeit präsentieren zu lassen.17 Auf protestantischer Seite griff man zunächst, ganz im Sinne des Renaissancehumanismus bzw. des frühhumanistischen, höfischen Gelehrtentheaters, auf Stücke eines Plautus und Terenz zurück. Das aus der Antike überlieferte Repertoire an lateinischen Dramen war und ist allerdings überschaubar. Von Plautus sind 21 Komödien, von Terenz sechs überliefert. Hinzu kommen noch zehn Tragödien des kaiserzeitlichen Philosophen und Politikers Seneca bzw. solche, die ihm zugeschrieben werden. Diese Eingeschränktheit einerseits sowie die intendierte Verbindung von humanistischer Pädagogik und religiös-konfessioneller sowie moralischer Unterweisung andererseits (siehe unten), die die z. T. als anrüchig beurteilten antiken Dramentexte nicht leisten konnten, zwangen die Lehrer an protestantischen Lateinschulen schnell zu einer Eigenproduktion an Texten. Ihre Stoffe waren maßgeblich von den konfessionellen Auseinandersetzungen der Zeit beeinflusst. So wurden Heiligen- und Legendenstoffe, Mysterienspiele und Marienklagen von 17

Zur Verankerung des Schultheaters der Reformationszeit im humanistischen Bildungskonzept siehe auch ABELE 2015, 61–66 (mit weiterer Literatur).

8

Einleitung

der Bühne verbannt. Auch auf die großen heilsgeschichtlichen Erzählungen wie Christi Geburt, Passion und Auferstehung verzichtete man zugunsten von alt- und neutestamentlichen Parabeln. Besonders häufig wurden z. B. Stücke über Jakob, Susanna, Judith oder David und Goliath bzw. Jesu Gleichnisse inszeniert. Allegorische Spiele oder Stücke aus der schulischen Lebenswelt sind dagegen kaum vertreten.18 Aus der Einsicht heraus, dass die Reformation u. a. auf die katastrophalen sittlich-moralischen Zustände und die mangelhafte Ausbildung des Klerus zurückzuführen war, sprachen sich auch die Jesuiten für die Notwendigkeit einer unauflöslichen Verbindung von humanistischer Bildung (litterae/eloquentia) und christlicher Frömmigkeit (pietas) aus. Von Anfang an ließen sie keinen Zweifel daran aufkommen, dass auch sie sich dem humanistischen Bildungsideal verpflichtet sahen.19 Um das Ideal der pietas docta zu verwirklichen, war für sie aber auch die intensive Pflege eines der zentralen humanistischen Unterrichtsinhalte, nämlich der freien lateinischen Rede, unumgänglich. Um die aktive Beherrschung des Lateinischen in Schrift und Wort einzuüben, machte die Ratio studiorum, jene bereits erwähnte offizielle Studienordnung der Societas Iesu, nicht nur das regelmäßige Einstudieren und interne Darbieten von Dialogen und Deklamationen zur Pflicht, sondern auch die öffentliche Aufführung von großen Theaterstücken.20 2.2

‚Unterricht auf der Bühne‘: Das Jesuitentheater im Kontext der katholischen ‚Reform und Gegenreformation‘

Im direkten Anschluss an die besprochenen pädagogisch-didaktischen Gesichtspunkte zur Umsetzung des humanistischen Bildungsideals gibt Conradus in Pontanus’ Progymnasmata zu bedenken, dass auch eine ordentliche Portion elterlicher Stolz hervorgerufen werde, wenn diese ihre Kinder auf der Bühne sähen.21 Hierauf erwidert Helisaeus:

18 19 20 21

Vgl. METZ 2013, 22–28; RUPPRICH 1973, 318 und 349–350; KINDERMANN 1959, 312–318. Siehe FRIEDRICH 2016, 320–328. Siehe v. a. MPSI V (Ratio Stud. 1599), 371, siehe auch 428 und 452. Nam quod mihi mei, hoc aliis perinde suos parentes credo facere. Quaerunt saepe: dabiturne comoedia? Quae partes mandatae sunt tibi? Putant, credo,

Zur Funktion des Jesuitentheaters

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Hel.: Et ad gymnasii quoque decus atque gloriam vehementer scito interesse: laudatur enim locus et magister, ubi et a quo tam praeclara indole, tam apti ad res pulcherrimas adolescentes instituantur. Quin nosmet ipsos, condiscipulos, populum, magistratus, totas civitates liberalissima et honestissima voluptate cumulamus, si nos ex poetae sententia gerimus. Pontanus: Progymnasmata latinitatis, vol. I, 475 Hel.: Und man muss wissen, dass sie [sc. die Theateraufführungen] besonders auch dem Ansehen und Ruhm eines Gymnasiums nützen: Denn gerühmt wird der Ort, wo, und der Lehrer, von dem so großartig begabte und für die allerschönsten Dinge geeignete Jungen unterrichtet werden. Ja, wir überhäufen uns selbst, unsere Mitschüler, die Bevölkerung, die Amtsträger und das gesamte Gemeinwesen mit überreichem und höchst ehrenvollem Vergnügen, wenn wir so spielen, wie der Dichter es wünscht.

Aus diesen Worten geht exemplarisch hervor, dass das Jesuitentheater auch in der – heute würde man sagen – Eltern- bzw. Öffentlichkeitsarbeit einer Jesuitenschule eine entscheidende Rolle einnahm. Es diente der öffentlichen Präsentation der Qualität des in der Institution gegebenen Unterrichts. Die Aufführungen waren auch eine Form der Leistungsschau, Rechtfertigung und Eigenwerbung und sollten (zusammen mit der Unentgeltlichkeit des Unterrichts) eine subtile Magnetwirkung auf die Bevölkerung ausüben. Gleichzeitig waren die großen Aufführungen wahre social happenings, die über zwei Jahrhunderte hinweg feste Plätze im Jahreskalender einer Residenz- und Universitätsstadt einnahmen. Nachdem Conradus daraufhin noch einmal auf den pädagogischdidaktischen Nutzen des Schultheaters zu sprechen kam,22 betont Helisaeus, dass die Vertrautheit mit den Figuren des Theaters in erheblichem

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etiam ad suam ipsorum gloriam pertinere, si filii placuerint. Pontanus, Progymnasmata latinitatis, vol. I, 474–475. – Übersetzung: Denn ich glaube, dass es mir mit meinen Eltern so geht wie anderen mit ihren. Sie fragen oft: „Wird ein Theaterstück gegeben? Welche Rolle wurde dir zugeteilt?“ Ich denke, sie glauben, dass es auch Auswirkungen auf ihren eigenen Ruhm habe, wenn ihre Söhne Beifall ernten. Ac me quoque doctiorem factum sentio tam multis egregiis sapienterque scriptis versibus ediscendis. Et memoriam non parum exercui, siquidem trecentos, quingentos aliquando, ut digitos meos, ut nomen meum recitare potui. Pontanus: Progymnasmata latinitatis, vol. I, 475. – Übersetzung: Und ich merke, dass ich durch das Auswendiglernen so vieler herausragender und

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Einleitung

Maße der Moraldidaxe diene. Denn man lerne mittels des Dramas, genauer vom äußeren Auftreten und Sprechen von typischen Figuren auf der Bühne (z. B. von Heiligen, Märtyrern, Dämonen, Tyrannen) auf deren innere Charakterzüge, Veranlagungen und gute wie schlechte Absichten zu schließen, was zu sittlich besseren Verhaltensweisen, einer feineren Menschenkenntnis und einem schärferen moralischen Urteil führe.23 Bereits vor den Jesuiten nahmen die Protestanten die Pflege des Theaters als eine Ergänzung zum kirchlichen Leben wahr. Seine Stoffe dienten der moralischen Unterweisung und Erbauung sowie dem Lobpreis Gottes. Entsprechend kann ihr Anliegen mit dem der Predigt, dem wichtigsten Mittel der reformatorischen Bewegung, gleichgesetzt werden. Ähnlich sah man dies auf Seiten der Jesuiten, die das ‚missionarische‘ bzw. ‚gegenreformatorische‘ Potential des Theaters allerdings in einem viel höheren Maße ausschöpften als ihr konfessionelles Pendant, indem sie erkannten, dass ihre Schaubühne ein ideales Medium war, das seelsorgerische Grundkonzept ihres Ordens, die sogenannte ‚Sinnenhaftigkeit‘, breitenwirksam sowie im wahrsten Sinne des Wortes ‚spielerisch‘ anzuwenden.24 Das jesuitische Konzept der Sinnenhaftigkeit fußt auf den erstmals 1548 veröffentlichten Exercitia spiritualia, „der zentralen und identitätsstiftenden Frömmigkeitspraxis der Gesellschaft Jesu.“25 Ab 1521 wurden diese vom Ordensgründer Ignatius von Loyola (1491–1556) über fast

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gekonnt verfasster Verse auch gelehrter wurde. Und mein Gedächtnis habe ich auch ziemlich gut trainiert, ja, ich konnte sogar dreihundert, irgendwann einmal fünfhundert Verse, wie meine Finger, wie meinen Namen auswendig aufsagen. Augetur ad haec prudentia et cognitione τοῦ πρέποντος, cum animadvertimus scilicet in oeconomia adhibitum iudicium et cum personae cuiusque eum sermonem audimus, qui ad naturam, ingenium, mores illius καθ’ ὅλου est appositus. Pontanus: Progymnasmata latinitatis, vol. I, 475. – Übersetzung: Außerdem wächst die Weisheit, indem man erkennt, wie man sich verhalten soll, freilich dann, wenn wir ein moralisches Urteil vernehmen, das dem Ganzen beigestellt ist, und wenn wir diejenige Rede von bestimmten Personen hören, die allgemeingültig mit ihrem Wesen, ihrer Veranlagung und ihrem Charakter korrespondiert. Siehe hierzu auch: METZ 2013, 768–769; RÄDLE 1997b, 57; WIMMER 1982, 18–19; VALENTIN 1978, Bd. 1, 178–204; RAHNER 1957. FRIEDRICH 2016, 75. Zu den Exercitia spiritualia insgesamt siehe FRIEDRICH 2016, 74–84.

Zur Funktion des Jesuitentheaters

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zwei Jahrzehnte hinweg (auf Spanisch) ausgearbeitet. 1547 erschien erstmals eine offizielle, lateinische Übersetzung, die ein Jahr später von Papst Paul III. anerkannt und sanktioniert wurde; eine spanischsprachige Ausgabe folgte erst 1615.26 In den ‚Geistlichen Übungen‘ stellt das Jenseits für Ignatius kein formloses und vom Diesseits getrenntes Gebilde dar, sondern er fasste die erfahrbare Welt als Summe des „Oben“ der göttlichen Herrlichkeit, der „Mitte“ des Vermittlers Christus und des irdischen „Unten“ auf. Dadurch könne Gott aber auch durch irdische Mittel, allen voran durch die menschlichen Sinne, erfahrbar gemacht werden. Dieses Konzept bildet den Kern der jesuitischen Seelsorge, welcher in der gezielten Weckung und Begleitung von Sinneserfahrungen bestand. Gläubige sollen nicht nur durch das Wort angesprochen werden, sondern durch all ihre Sinne. Umgesetzt wurde dieses theoretische Konzept u. a. durch die besondere Pflege von performativen Praktiken wie Prozessionen sowie Reliquienverehrung.27 Eine prachtvolle, sich schnell für den Barock begeisternde Sakralarchitektur sowie aufwendig gestaltete Gottesdienste trugen ein Übriges dazu bei. Als Verständnisbrücke zwischen dieser grundsätzlichen Ausrichtung des Jesuitenordens und seinem Theater können die Exercitia spiritualia dienen. Eine zentrale Bedeutung kommt hierbei einer darin enthaltenen, vielzitierten Meditationsübung zu. An einer Stelle weist Ignatius den Leser an, einen imaginären Schauplatz, gewissermaßen eine Bühne, einzunehmen, auf der die nachfolgenden meditativen Vorgänge stattfinden sollen (compositio locorum). Hierzu soll er alle ihm zur Verfügung stehenden Sinne an diesen ‚Ort‘ heranführen (applicatio sensuum). So soll nicht nur das geistige Auge den Schauplatz der flammenden Hölle und die dort verweilenden verlorenen Seelen erblicken. Auch die Ohren sollen das Weinen, Klagen und Gotteslästern der Ewigverdammten hören, die Nase soll Rauch, Schwefel und Fäulnis riechen und die Haut die Glut des höllischen Feuers spüren.28 Mit allen Sinnen soll der Meditierende die imaginierte Welt erkunden und dadurch am Geschauten teilhaben. 26 27 28

Zur Veröffentlichungsgeschichte siehe FRIEDRICH 2016, 75; PROSPERI 2015; ARZUBIALDE 2009, 35–63; LETURIA 1941. Zum Einsatz ‚sinnenhaften Erlebens‘ in der jesuitischen Volksmission in Europa siehe FRIEDRICH 2016, 216–220. Siehe z. B.: Sancti Ignatii de Loyola Exercitia Spiritualia, Textuum antiquissimorum nova editio, Lexicon textus Hispani. Opus inchoavit Iosephus

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Einleitung

Die Parallelen zwischen solchen Übungen in den Exercitia spiritualia und dem Jesuitentheater liegen auf der Hand: Bereits der Theaterkontext an sich kann mit der imaginierten compositio locorum identifiziert werden. Nun sieht der Zuschauer den Schauplatz allerdings nicht mehr nur vor seinem geistigen, sondern vor seinem realen Auge. Er wird somit von dieser imaginären ‚Anstrengung‘ befreit und ist umso empfänglicher für die sinnenhaften Erfahrungen, die ihn mit dem Bühnengeschehen eins werden lassen. Somit erzielt das Theater denselben glaubensfestigenden und kathartischen Effekt wie andere spirituelle Übungen. Um ihrem Publikum ein möglichst intensives und umfassendes sinnenhaftes Erlebnis zu verschaffen, zogen die Jesuiten alle zur damaligen Zeit verfügbaren Register der Inszenierungskunst:29 Die Wirkung der auf der Bühne auftretenden himmlischen, irdischen und höllischen Figuren wurde durch prächtige und z. T. äußerst kostspielige Kostüme intensiviert. Durch mechanische Hilfsmittel konnten Engel am Himmel schweben, Erlöste in den Himmel auffahren, Verdammte in die Hölle stürzen. Besonders wichtige Momente wurden durch instrumentale Begleitung in ihrer Dramatik gesteigert. Häufige Schauplatzwechsel, welche durch aufwendige Kulissen generiert werden konnten, sowie die kontrastierende Variation von Szenentypen (z. B. Folterungen, Himmelsfahrten, komisch-burlesken Streitgesprächen, Tanzdarbietungen, Chorgesängen, Träumen; angereichert mit Spezialeffekten wie Feuer, Blitz, Donner und Stürme) fesselten pausenlos Augen, Ohren und die übrigen Sinne der Zuschauer. All diese, man könnte sagen, proto-multimedialen Elemente des Jesuitentheaters haben eine enorme Faszination auf eine relativ medienarme Gesellschaft ausgeübt. Ein weiterer Aspekt, der mit der Sinnenhaftigkeit eng verbunden ist, stellt die Durchmischung von Ernst und Komik dar, die in vielen Theaterstücken der Jesuiten beobachtet werden kann, und hierfür ist Raders Cassianus ein herausragendes Beispiel. Kaum eine ernste Thematik blieb

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Calveras SJ, absolvit Candidus de Dalmases SJ, Rom 1969 (MHSI 100, MI II,1), 201–202, Nr. 66–70 und 233–234, Nr. 121–125. – Zur compositio locorum siehe auch 216, Nr. 91; 225, Nr. 103; 229, Nr. 112; 280, Nr. 192; 287, Nr. 202; 300, Nr. 220. – Siehe hierzu auch FRIEDRICH 2016, 76–79. Siehe hierzu immer noch FLEMMING 1923, 139–245. Vgl. ferner RÄDLE 1988, 144–147 und SZAROTA 1975, bes. 133–134.

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frei von komischen Einsprengseln.30 Die Bühne solle nicht – so heißt es in der Vorrede eines anonymen Herausgebers zu einer Sammlung von Theaterstücken des Dramenautoren Jakob Bidermann SJ (1578–1639) – dauernd vor Schrecken starren, und es sollen nicht immer missmutige Philosophen die Arena beherrschen. Bidermann habe durch den Wechsel von Lachen und Weinen, Ernst und Komik, die fromme Gesinnung seiner Zuschauer in einem schönen Gleichgewicht gehalten. Gerade diejenigen Stücke, die besonders lustig gewesen seien, hätten am meisten „geistlichen Ertrag“ erzielt. Zuschauer, die Bidermanns komische Stücke gesehen hätten, seien moralisch geläuterter nach Hause gegangen, als wenn sie Predigten anderer gehört hätten. Aus den Scherzen der zahlreichen Possenreißer, Parasiten und Diener, die sich durch ihr komisches Verhalten auszeichneten, und dem daraus resultierenden Lachen habe er sich eine „Bahn zu den heilsamen Tränen verschafft.“31 Im Gegensatz dazu war man auf protestantischer Seite eher bestrebt, dass die Schauspiele voller „Wahrheit, Würde, Ehrfurcht und [dem] rechte[n] Maß bei der Durchführung“ seien und dass keine „monströsen erdichteten Geschichten, Leichtsinn, Possenreißen, Schamlosigkeit und Unfug“ regierten, so eine frühneuzeitliche protestantische Stimme.32 Hierin liegt wohl auch einer der Hauptgründe, warum das protestantische Schultheater niemals eine vergleichbare öffentliche Breitenwirkung erzielen konnte wie sein jesuitisches Pendant. Es kommt hinzu, dass man sich auf jesuitischer Seite im Gegensatz zu den Protestanten nicht auf biblische Stoffe und die Präsentation von durch die Schrift legitimierten Glaubensgrundsätzen beschränkte. Vielmehr rückte man – und hierin liegt die besondere konfessionelle Färbung des

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Zur Rolle der Komik im Theater der Frühen Neuzeit, insbesondere auf der Bühne der Jesuiten, siehe: ABELE 2018, 130–134; MEIER 2008; RÄDLE 1997a. Jakob Bidermann, Ludi Theatrales, 2 Bde., München 1666, Praemonitio ad Lectorem, fol. +6v–8v. Lateinische Edition und deutsche Übersetzung von RÄDLE 1992, 1147–1151. In seinem Gutachten zum sogenannten ‚Dessauer Streit‘ urteilt Hieronymus Noppus: sic tamen ut ubique adsit veritas, gravitas, reverentia, debitus usus et modus. Absi‹n›t viceversa figmentorum portenta, levitas et curillitas, irreverentia et abusus.“ Aus: NEUMANN 1987, 910, Nr. 3754; Übersetzung: RÄDLE 1997b, 49. Zum Dessauer Streit, der sich um die Position der Wittenberger Reformation zum biblischen Drama drehte, vgl. METZ 2013, 151–157.

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Jesuitentheaters – das Individuum als freien Willens- und Entscheidungsträger in den Mittelpunkt.33 Die fast unendliche Zahl an heilsrelevanten Entscheidungssituationen, in denen sich der Mensch in der Geschichte wiederfinden konnte und kann, stellte ein fast unerschöpfliches stoffliches Reservoir zur Verfügung, aus dem die Dramenautoren der Jesuiten zur moralischen Unterweisung schöpfen konnten. Das Jesuitentheater stellt den Menschen nicht als a priori sündige Kreatur dar, sondern vielmehr den Prozess seines zum Sünder Werdens. Die Zuschauer verfolgen die einzelnen heilsrelevanten Entscheidungsschritte der Figuren, sei es, dass sie durch diese in die ewige Verdammnis oder in die himmlische Seligkeit geführt werden. Gleichzeitig wird dem Publikum immer wieder anschaulich vorgeführt, dass der sündig gewordene Mensch durch irdische Selbsterkenntnis, Reue und Buße sowie die Gnadenmittel der katholischen Kirche gerettet werden kann. Diese grundsätzliche Offenheit der Schauspiele lässt die Zuschauer das dramatische Geschehen gespannt und mitfühlend verfolgen und hat sicherlich maßgeblich zu ihrem Erfolg beigetragen. 3

Historischer und thematischer Abriss zum Jesuitentheater

Bereits das erste Drama, das überhaupt auf einer Jesuitenbühne gespielt wurde, ist in der oben skizzierten Weise konzipiert. Es handelt sich um den im Jahr 1555 in Wien aufgeführten Euripus. Dieses Drama stammt allerdings aus der Feder eines niederländischen Franziskaners, Levin Brechts (1502/3–1560). In den Anfangsjahren griff man, nicht zuletzt aus Mangel an eigenen Stücken, mehrfach auf solche Importe von Dramentexten zurück.34 Brechts Euripus35 erzählt die Geschichte des gleichnamigen jungen Mannes Euripus. Dieser ist hin- und hergerissen zwischen Tugenden und Lastern, die seinen Lebensweg bestimmen wollen. Die personifizierten Mächte des Bösen, Cupido und Venus, verführen ihn zu einem gotteslästerlichen Leben, ihre Gegenspieler, die Personifikationen

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Siehe hierzu v. a. RÄDLE 1997b, 57–58. Insbesondere der Dramenimport aus Italien ist in diesem Kontext zu nennen, siehe hierzu ausführlich RÄDLE 1985. Edition und deutsche Übersetzung von RÄDLE 1979, 1–293.

Historischer und thematischer Abriss zum Jesuitentheater

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der Gottesfurcht und Gnadenzeit, werben erfolglos bei ihm für sich. Am Ende fährt Euripus zur Hölle. In der im Zeichen der katholischen Gegenreformation stehenden ersten Phase des Jesuitentheaters (ca. 1572–1622)36 standen v. a. Stücke auf den Spielplänen, die die Standhaftigkeit im Glauben sowie die Bereitschaft, für diesen in den Tod zu gehen, thematisierten. Hierfür eigneten sich besonders Märtyrer- und Heiligenlegenden sowie Bekehrungsdramen wie z. B. über den Apostel Paulus und den Kirchenvater Augustinus, aber auch Stücke über Verteidiger des Glaubens wie Konstantin den Großen, Stephan von Ungarn und Gottfried von Bouillon. Vereinzelt wurden auch noch kontroverstheologische bzw. konfessionelle Streitfragen in Szene gesetzt. Ab dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts finden sich außerdem Dramen mit der eigenen Ordensgeschichte als Thema, allen voran über den Gründer Ignatius von Loyola und den Asienmissionar Franz Xaver. Während und im Nachklang des Dreißigjährigen Krieges (zweite Phase, ca. 1623–1672) dominiert der konfessionelle Antagonismus die Spielpläne, teilweise projiziert auf altkirchliche Streitigkeiten, sowie verschiedene Büßergestalten. Später (dritte Phase, ca. 1672–1700) entwickelte sich das Jesuitentheater u. a. in Richtung des ‚Bürgerlichen Trauerspiels‘, bei dem z. B. Ehefragen und Erziehungsprobleme thematisiert wurden. Im Zuge der zweiten Belagerung Wiens durch die Türken 1683 erlebten sogenannte ‚Türkendramen‘ eine kurze Hochzeit. Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts (vierte Phase) machte man sich vermehrt Stoffe aus der Weltliteratur (homerische Epen, römische Geschichte) und der Zeitgeschichte zu eigen. Ab ca. 1730 (fünfte Phase) stand das Theater der Jesuiten mehr und mehr unter dem Einfluss, gleichzeitig aber auch in Konkurrenz zur Aufklärung, was letztlich entscheidend zu seinem Niedergang, z. T. noch vor der vorübergehenden Auflösung des Ordens 1773, beitrug.37 Nach diesem kursorischen chronologischen Abriss noch einige illustrierende Schlaglichter aus der Frühphase des Jesuitentheaters, der auch 36

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Periodisierung übernommen von SZAROTA 1974. Einen Überblick über unterschiedliche Dramentypen bei den Jesuiten liefert RÄDLE 2013, 223–243. Einen historischen Abriss zur Entwicklung des Jesuitentheaters bieten auch VALENTIN 1978, Bd. 1, 385–427 und FLEMMING 1923, 3–16; zur Geschichte des Theaterwesens der Jesuiten in München siehe REINHARDSTÖTTNER 1889. Siehe hierzu ausführlicher WITTMANN 2009.

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Raders Cassianus zuzuordnen ist: Einige Dramen weisen einen hohen Grad an jesuitischer Selbstreflexion auf, allen voran der berühmte, im Jahre 1602 uraufgeführte Cenodoxus aus der Feder Jakob Bidermanns.38 Es handelt vom gleichnamigen, hochgebildeten Doktor von Paris Cenodoxus. Bidermann brandmarkt darin eine Gefahr, von der Gelehrte – wie eben die Jesuitenpatres selbst sowie ihre Schüler – bedroht sind, nämlich eitle Ruhmsucht (eben dies bedeutet der ‚sprechende Name‘ der Titelfigur). Cenodoxus zeigt sich nach außen hin gerne demonstrativ als wahrer Stoiker, der sich aus den eitlen irdischen Gütern nichts macht. Schnell wird aber deutlich, dass es sich hierbei nur um eine rein äußere Fassade handelt, hinter der sich in Wahrheit eitle Ruhmsucht und Hochmut verbergen. Sein Verhalten nach Außen erwächst nicht frommen Absichten, sondern seinem selbstverliebten Wunsch, sich bei seinen Mitmenschen Ruhm und Anerkennung zu verschaffen. Seine herausragende Stellung als hochgebildete Person hat ihn umso empfänglicher dafür gemacht. Am Ende fleht er, von Krankheit dahingerafft, den auf dem Richterstuhl sitzenden Christus um Gnade an, jedoch erfolglos. Teufel führen ihn in die Hölle. Seine Freunde erkennen erst während der Totenliturgie, bei der sich der Leichnam dreimal aufrichtet und nacheinander über seine Anklage, Verurteilung und Verdammnis klagt, dessen wirkliches Wesen. Die Botschaft dieses Stückes an die Jesuitenschüler und Mitbrüder liegt auf der Hand. Ganz ähnlich verhält es sich bei einem Stück über den spätantiken römischen Kaiser Julian Apostata (331/2–363), das der bereits mehrfach erwähnte Jeremias Drexel im Jahr 1608 auf der Ingolstädter Jesuitenbühne aufführen ließ.39 Julian, dessen Herrschaft auch den historischen Hintergrund für Raders Cassianus bildet, schwor als erster und einziger römischer Kaiser nach Konstantin dem Großen dem Christentum ab und versuchte die alte heidnische Religion zu rehabilitieren. Drexels Drama erzählt von Julians christlich geprägter Jugend, seinem erst heimlichen, dann offenen Abfall vom Christentum sowie seinen grausamen Christenverfolgungen, nachdem er den Kaiserthron bestiegen hat. Am Ende lässt 38

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Edition von TAROT 1963. Deutsche Übersetzung von 1635 herausgegeben von TAROT 1967. Zu Bidermanns Cenodoxus und seiner herausragenden Bedeutung siehe: RÄDLE 2013, 276–277; PÖRNBACHER 2005; VALENTIN 1978, Bd. 2, 551–556; HESS 1976. Moderne Edition, Übersetzung und Kommentar von ABELE 2018.

Historischer und thematischer Abriss zum Jesuitentheater

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ihn Christus töten, auch seine Seele wird von Teufeln in die Hölle gebracht. Der entscheidende Punkt liegt bei diesem Stück darin, dass Drexel weder eine ex- noch implizite Analogie zwischen Julians Apostasie und den ebenfalls vom angeblich ‚wahren Glauben‘ abgefallenen Protestanten zieht und somit zu keiner großangelegten polemischen Abrechnung mit dem konfessionellen Gegner ausholt. Ein anderer Punkt ist für ihn viel wichtiger und hierin steht er in enger Verbindung zu Bidermanns Cenodoxus: Julian wurde bereits von Zeitgenossen und dann auch während des Humanismus für seine herausragende Bildung bewundert. Zu Beginn von Drexels Drama kann Julian seinen Bildungseifer und Forscherdrang noch in ‚christlichen‘ Schranken halten. Dann aber macht er sich, vom Teufel angestachelt, daran, in seinen intellektuellen Ambitionen die Göttlichkeit des Gekreuzigten anzuzweifeln. Er gibt sein demütiges, auf das Jenseits ausgerichtetes christliches Leben auf und strebt anstelle dessen die Kaiserkrone an, die mit irdischem Ruhm verbunden ist. Die Konsequenzen seiner Entscheidung wurden bereits genannt. Auch hier ist die Botschaft an das Publikum und an die eigenen Reihen klar: Über allen herausragenden intellektuellen Fähigkeiten und Talenten sowie ambitioniertem Forscherdrang muss immer die virtus Christiana stehen,40 eine Botschaft, die – wie noch zu sehen sein wird – auch in Raders Cassianus durchschimmert (interessanterweise belegt Raders überlieferte Briefkorrespondenz, dass er in umfassender Weise sowohl an der Entstehung als auch an der Aufführung von Drexels Drama beteiligt war).41 Andernfalls wird früher oder später die fatale Grenze zwischen Wissenschaft und Glauben überschritten, in letzter Konsequenz möglicherweise dem christlichen Glauben ganz entsagt, mit katastrophalen Folgen für das Heil des Menschen. Manche Aufführungen versuchten durch die schiere Masse an Darstellern und eine möglichst aufwendige Inszenierung zu imponieren. Insbesondere auf einige höfisch-repräsentative Stücke, die in München meist auf öffentlichen Plätzen dargeboten wurden, trifft dies zu. Hierzu zählen der im Jahr 1575 aufgeführte Constantinus Magnus. Bei dessen bombastischer Aufführung sollen mehr als tausend Darsteller mitgewirkt haben, darunter 400 Reiter in römischer Rüstung. An der zwei Jahre später dargebotenen Hester wirkten zwar ‚nur‘ dreihundert Schauspieler mit, 40 41

Siehe hierzu auch FRIEDRICH 2016, 311–312. Siehe hierzu ABELE 2018, 34–45.

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dafür erstreckte sie sich über drei Tage. Die Darbietung des Godefridus Bullonius von 1596 soll sechs Stunden gedauert haben.42 4

Zur Aufführungspraxis

In der Regel wurden in einem Jesuitenkolleg zu mehreren festen Terminen im Jahr öffentliche Theateraufführungen dargeboten.43 Der wichtigste Anlass war der feierliche Schuljahresbeginn, der i. d. R. vom Fest des Heiligen Lukas am 18. Oktober markiert wurde. Daneben fanden auch an kirchlichen Hochfesten Aufführungen statt, ebenso zur Fastnacht, oder zu speziellen, oft lokalen Ereignissen (Kirchweih, Patrozinien, Jubiläen, Investituren, Thronbesteigungen etc.). Für das Verfassen der Dramentexte waren die Lehrer der Rhetorik-, in selteneren Fällen der Poetikklasse zuständig. Dies waren meist junge Jesuiten, die zwischen dem Philosophie- und Theologiestudium standen. Grundsätzlich sollte ein jedes Kolleg eigene Texte produzieren. Anhand der Korrespondenz von oberdeutschen Jesuiten rund um Matthäus Rader lässt sich allerdings ein gewisser Austausch von Dramentexten zwischen München, Regensburg, Ingolstadt, Augsburg und Dillingen nachzeichnen, sodass es hin und wieder zu Wiederaufführungen kommen konnte. Generell wurden Dramentexte aber nur für eine einzige konkrete Aufführung verfasst. Sie wurden entsprechend weder kopiert noch erschienen sie mit nur ganz wenigen Ausnahmen bis zum Ende des konfessionellen Zeitalters im Druck. Dieser Umstand liegt primär darin begründet, dass man auf jesuitischer Seite der Überzeugung war, dass nur bei Personen, die einer Aufführung beiwohnten, jenes oben skizzierte sinnenhafte Erlebnis evoziert werden konnte. Erschien ein Stück im Druck, schieden all die erwähnten Möglichkeiten einer ‚multimedialen‘ Einflussnahme auf den Zuschauer aus. Es ging den Jesuiten weniger um eine textuelle und intellektuell-theologische Auseinandersetzung in und durch ihre Dramentexte, sondern vielmehr um das Miterleben einer möglichst spektakulären Inszenierung. Gleichzeitig diente diese Handhabung sicherlich auch als 42 43

Edition durch REINHARDSTÖTTNER 1897/8. Zur Aufführungspraxis siehe: RÄDLE 2013, 214–217; FLEMMING 1923, 247– 277; DUHR 1913, Bd. 1, 659–666. Zu den Bühnentypen der Jesuiten siehe FLEMMING 1923, 17–89.

Zur Aufführungspraxis

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demonstrative Absage der Jesuiten in Richtung eitler und ruhmsüchtiger Geltungsallüren. Z. T. stand einer breiten Rezeption vermutlich auch die häufig gegebene lokale Situations- und Kontextgebundenheit im Wege. Diese Konstellation ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass man heute nur über relativ wenige Dramentexte verfügt. Oftmals kann man lediglich durch entsprechende Eintragungen in Chroniken oder Diarien von Jesuitenkollegien Titel und Aufführungsdatum, mit etwas Glück noch eine kurze Inhaltsangabe ausfindig machen. Für das Einstudieren eines Stückes war der für das Verfassen des Dramentextes zuständige Lehrer verantwortlich. Man geht davon aus, dass dieser den mitwirkenden Schülern den jeweiligen Text diktierte und dieser so vervielfältigt wurde. Den Proben muss eine große Bedeutung zugekommen sein. Denn i. d. R. beinhalten die überlieferten Dramentexte keine oder nur ganz wenige, rudimentäre Regieanweisungen (wie im Falle des Cassianus). Meist einen Tag vor der Darbietung lädt das Kolleg öffentlich zur Aufführung ein. Möglicherweise wurden in diesem Zuge auch die noch näher zu behandelnden Periochen verteilt. Gespielt wurden die Stücke von den Schülern des Gymnasiums, und zwar aller Klassenstufen. Es war ein Anliegen der jesuitischen Pädagogik, dass an den Theateraufführungen möglichst viele Schüler aus allen Stufen beteiligt wurden. Schüler höherer Stufen übernahmen die Hauptrollen bzw. Rollen mit komplexeren und umfangreicheren Sprechpartien. Schüler der Unterstufe konnten im Chor auftreten, einen Prosabrief verlesen oder als Statisten mitwirken. Für diese skizzierte Praxis der Rollenverteilung ist Raders Cassianus ein herausragendes Zeugnis, denn sein Personenverzeichnis (Dramatis personae) nennt für die Wiederaufführung in Regensburg (siehe unten) nicht nur den Namen des darstellenden Schülers, sondern häufig auch dessen Klassenstufe (Rhetor, Humanista, Grammatista). Mädchen war der Zugang zum Jesuitengymnasium generell verwehrt. Weibliche Rollen wurden ebenfalls von den Knaben übernommen, sollten aber, so die Ratio studiorum,44 am besten gänzlich vermieden werden, was in der Praxis allerdings kaum realisierbar war. Musik kam nicht nur bei drameninternen Chor- oder arienhaften Einzelgesängen und lebhaften Dialogpartien zum Einsatz, sondern diente auch der atmosphärischen Untermalung von zentralen Momenten des Stückes. Ferner konnte Instrumentalmusik zur Markierung von Aktgrenzen 44

MPSI V (Ratio stud. 1599), 371.

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bzw. zur Unterhaltung während der Pausen dienen, wovon die wiederholte Randbemerkung mone musicos im Manuskript von Raders Cassianus zeugt.45 Je nach Kontext und v. a. Witterung konnte ein Stück in einer Kirche, in Sälen, in der Aula oder im Hof des Kollegiums stattfinden. Teilweise wurden aber auch öffentliche Plätze der Stadt dafür verwendet. Größere Kollegien verfügten über feste Bühnen, ansonsten war man z. T. auf einen hohen Grad an Improvisationskunst angewiesen. Aufgrund der Beleuchtungsproblematik mussten die mitunter mehrstündigen Aufführungen schon am frühen Nachmittag beginnen. Ganz selten konnte sich ein Stück über mehrere Tage ausdehnen oder musste aufgrund von plötzlich einsetzendem Regen am Folgetag zu Ende gespielt werden. Im Anschluss an die Aufführungen anlässlich des Schuljahresbeginns fanden außerdem die Preisverleihungen an die Schüler statt, die sich im vorangegangenen Schuljahr durch hervorragende Leistungen ausgezeichnet hatten. Eine praktische Frage, die bis heute nicht in zufriedenstellender Weise geklärt werden konnte, stellt die Verständlichkeit der rein lateinischen Dramentexte für ein weitgehend lateinunkundiges Publikum dar.46 Auch wenn das Primärpublikum, die Lehrer und Schüler eines Jesuitenkollegs, sowie gewisse Teile der gesellschaftlichen Elite in erforderlichem Maße des Lateinischen mächtig waren, dürften diese dennoch stark in der Minderheit gewesen sein. Warum hielten die Jesuiten augenscheinlich wider jede praktische Vernunft insbesondere in der Frühphase ihres Theaterwesens am Lateinischen als alleiniger Dramensprache fest? Hierbei sind zwei Faktoren entscheidend: erstens die bereits besprochene humanistische Grundorientierung der jesuitischen Pädagogik. Die endgültige Fassung der Ratio studiorum von 1599 schreibt unmissverständlich vor, dass die szenischen Darbietungen ausschließlich in lateinischer Sprache zu verfassen und aufzuführen seien. Volkssprachliche Interludien verbietet sie explizit.47 Zweitens sind institutionelle Paradigmen zu 45 46 47

Zur Musik im Jesuitentheater siehe: FRIEDRICH 2016, 375–378; RÄDLE 2002; GUILLOT 1991, 197–210; WITTWER 1934, 77–97; FLEMMING 1923, 241–265. Siehe hierzu auch: ABELE 2015, 78–79; RÄDLE 2013, 220–223; RÄDLE 1988. Tragoediarum et comoediarum, quas non nisi latinas ac rarissimas esse oportet, argumentum sacrum sit ac pium; neque quicquam actibus interponatur, quod non latinum sit et decorum. MPSI V (Ratio stud. 1599), 371. Das ausdrückliche Verbot von volkssprachlichen Interludien in der Ratio

Zur Aufführungspraxis

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nennen: Die Bildungstätigkeit der Jesuiten und die damit verbundene Pflege des Theaterwesens dienten primär der Ausbildung des eigenen Ordensnachwuchses. Latein, die einzige lingua franca in der Frühen Neuzeit, war für das Überleben und Funktionieren der Societas Iesu als global player geradezu essentiell. Ein solches Gebilde, welches über beinahe alle europäischen Sprachgrenzen hinweg zentral auf Rom ausgerichtet und auf allen vier zu dieser Zeit bekannten Kontinenten missionierte, war auf eine gemeinsame Kommunikationssprache angewiesen.48 Vor diesem praktischen Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass der Orden gerade im Ausbildungsbereich penibel darum bemüht war, die Beherrschung des allen gemeinsamen sprachlichen Mediums und dadurch das Funktionieren der Societas auch in Zukunft sicherzustellen. Im selben Kontext sind die z. T. sehr restriktiven Anweisungen in der Ratio studiorum zu sehen, die die (lateinsprachige) zwischenmenschliche Kommunikation an einem Jesuitenkolleg betreffen.49 Und dennoch ist der überwältigende Erfolg des Jesuitentheaters nicht ohne ein Mindestmaß an Verständnis von Seiten eines lateinunkundigen Publikums denkbar. Eine zentrale Bedeutung im Hinblick auf die Frage, wie dieses dem dramatischen Bühnengeschehen folgen konnte, ohne die Dialogpartien im Einzelnen zu verstehen, kommt den bereits erwähnten

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studiorum kann allerdings auch insofern gegen den Strich gelesen werden, als man hieraus umgekehrt folgern kann, dass es diese gegeben haben muss. Ähnlich hat Barbara BAUER 1998, 234–240 gezeigt, dass die Volkssprache in der Unterrichtspraxis der Jesuiten eine weit wichtigere Rolle einnahm, als es die theoretischen Vorgaben der Ratio studiorum oder vergleichbare Dokumente der Societas glauben machen wollen. Zur universalen bzw. globalen Wirkabsicht des Ordens siehe FRIEDRICH 2016, 132. Latine loquendi usus severe in primis custodiatur. […] ita, ut in omnibus, quae ad scholam pertinent, nunquam liceat uti patrio sermone; notis etiam adscriptis, si qui neglexerint; eamque ob rem Latine perpetuo magister loquatur. MPSI V (Ratio stud. 1599), 418 – Übersetzung: Ganz besonders soll streng darauf geachtet werden, dass man sich auf Latein unterhalte. […] Somit sei bei allem, was sich auf die Schule bezieht, die Verwendung der Volkssprache niemals erlaubt. Diejenigen, die sich nicht daran halten, sollen verzeichnet werden; aus diesem Grund soll auch der Lehrer beständig lateinisch sprechen.

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Periochen zu. Diese gedruckten Inhaltsangaben sind seit 1597 verbreitet.50 Sie nennen nicht nur den Titel, die aufführende Institution und manchmal auch den Autor des Stückes sowie die Besetzung, sondern beschreiben im Anschluss an eine z. T. zweisprachige Inhaltsangabe (argumentum) das Geschehen einer jeden Szene. Diese Einzelbeschreibungen sind in gut drei Vierteln aller Fälle sowohl in deutscher als auch lateinischer Sprache verfasst, wobei die deutsche Zusammenfassung oftmals viel detaillierter und ausführlicher ist als die lateinische.51 Dabei sind die Informationen, die der deutsche Periochenteil bereitstellt, meist derart, dass einzelne Details und markante Handlungen explizit auf der Bühne wiederentdeckt werden können und der lateinunkundige Zuschauer die Entwicklung des Handlungsgeschehens leichter nachvollziehen kann. Somit entsteht eine wechselseitige Beziehung von Periochentext und szenischer Darbietung. Hierin sind die Periochendrucke durchaus mit modernen Programmheften zu vergleichen, die z. B. den Inhalt einer italienischsprachigen Oper relativ kleinschrittig in deutscher Sprache wiedergeben. Ein Opernbesucher, der des Italienischen nicht mächtig ist, kann damit auch ohne Untertitel anhand der Figuren, die sich jeweils auf der Bühne befinden, oder durch markante Handlungselemente (z. B. Handgreiflichkeiten, Gesten der Freude oder Trauer, Tanzeinlagen usw.) dem Szenenverlauf folgen. 5

Überlieferung, Entstehung und Aufführung des Cassianus

Raders Cassianus ist, soweit bisher bekannt, lediglich in einer Handschrift überliefert.52 Diese findet sich heute in der Studienbibliothek Dil-

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Für den deutschsprachigen Raum gesammelt und ediert von SZAROTA 1979– 1987. Vgl. hierzu: BAUER 1998, 240–245; RÄDLE 1988, 142–144. Von der Forschung wurde Raders Cassianus bisher allenfalls marginal wahrgenommen. Ausnahmen bilden die Arbeiten von RÄDLE 2013, 269 und 2009b. Siehe auch ABELE 2020a. Erste Schritte, Raders Cassianus für den heutigen Schulunterricht aufzubereiten, unternimmt ABELE 2020b. Von BLESSGRABHER 1978, der bislang umfassendsten Untersuchung zur Entwicklung der Cassian-Legende seit der Spätantike, wurde das Drama nicht berücksichtigt.

Überlieferung, Entstehung und Aufführung des Cassianus

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lingen in einem Sammelband mit weiteren Manuskripten von Dramentexten der Gesellschaft Jesu (Signatur: Cod. Dil. XV 237; Cassianus: fol. 75r–118r).53 Am Manuskript haben zwei unterschiedliche Hände gearbeitet. Das weitgehend saubere und regelmäßige Schriftbild der ersten Hand sowie typische Abschreibfehler, die z. T. umgehend verbessert wurden (z. B. fol. 83v), weisen darauf hin, dass es sich um eine Ab- bzw. Reinschrift handelt. Dieser ersten Hand sind das ‚Münchener Personenverzeichnis‘ (fol. 79r–v) sowie die ersten drei Akte (fol. 80r–110r) zuzuordnen. Der Abgleich mit erhaltenen Autographen Raders deutet darauf hin, dass es sich nicht um eine Abschrift von ihm selbst handelt. Wie später noch ausführlicher dargelegt wird, kam es im Jahre 1597 in Regensburg zu einer Wiederaufführung des ursprünglich 1594 in München dargebotenen Cassianus, allerdings in einer um einen weiteren Akt extendierten Form. Dieser hinzugefügte vierte Akt (fol. 110r–118r), das in diesem Zuge erstellte ‚erweiterte Regensburger Personenverzeichnis‘ (fol. 75v–78r), die Modifikation des Prologs und Epilogs (fol. 79v bzw. 110r-v) sowie vermutlich auch die schlichte Titelseite (fol. 75r) wurden von einer zweiten Hand verfasst. Auch die in roter Farbe am Rand hinzugefügten Regieanweisungen sowie vereinzelte Hinweise zur Kürzung des Dramentextes für die Aufführung sind dieser zuzuordnen. Ihr Schriftbild verläuft etwas unregelmäßiger und weist zahlreiche Verbesserungen auf. Über den Entstehungsprozess der ‚Münchener‘ Fassung des Dramas (Akt 1–3) liegen keine Informationen vor. Raders überlieferte Briefkorrespondenz setzt erst Ende des Jahres 1595 ein. Dies ist insofern bedauerlich, als hierin der Abfassungsprozess von Dramen, die seine Briefkorrespondenten verfasst haben (z. B. Drexels Iulianus), z. T. detailliert dokumentiert ist. Möglicherweise fänden sich in früheren Briefen Hinweise auf Raders eigene Arbeit an Dramentexten für das Schultheater. Die ursprüngliche Fassung von Raders Cassianus wurde anlässlich des Beginns des Schuljahres 1594/5, der renovatio studiorum, die traditionell um den Lukas-Tag (18. Oktober) erfolgte, im Münchener Jesuitenkolleg dargeboten. Das Diarium Gymnasii Monacensis (clm 1550), das wichtige Informationen zu Aufführungen, die im Münchener Kolleg stattgefunden haben, bereitstellt, setzt ebenfalls erst im Jahr 1595 ein. Somit beschränkt sich die Quellenbasis zur Aufführung des Cassianus lediglich 53

Volldigitalisat online zugänglich unter: https://daten.digitale-sammlungen.de/ bsb00105886/image_1

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auf die Eintragungen zum Schuljahr 1594/5 in den Annales Collegii Monacensis 1574–1708. In diesen finden sich jedoch auch nur spärliche Informationen zur Aufführung, zum durchaus prominent besetzten Publikum und dessen Rezeption des Stückes: Datum est pro studiorum innovatione in scenam D. Cassiani martyrium non inerudite recens in drama redactum spectantibus serenissimis Bavariae principibus una cum fratre archiepiscopo Coloniensi et imperii electore, ex quo non tam plausum actores, quam spectatores voluptatem et utilitatem retulisse videbantur. ADPSJ, Abt. 41, Nr. 6, fol. 33r (Alte Sign.: ADPSJ, Mscr I 45) Anlässlich des Schuljahresbeginns wurde das Martyrium des Heiligen Cassian auf die Bühne gebracht, welches jüngst nicht ungelehrt in Dramenform gebracht wurde. Als Zuschauer waren anwesend die durchlauchtesten Fürsten Bayerns zusammen mit ihrem Bruder, dem Erzbischof von Köln und Kurfürsten. Das Stück schien den Schauspielern nicht so viel Applaus wie den Zuschauern Vergnügen und Nutzen gebracht zu haben.

Von der Anwesenheit des bayerischen Herzogs Wilhelm V. (1548–1626) sowie seines Bruders Ernst (1554–1612), dem damaligen Erzbischof von Köln und Kurfürsten, berichtet auch die Historia Provinciae Germaniae Superioris und stellt dabei den Autor des Stückes heraus: Mansit cum fratre sesquimensem, spectator tragoediae, quam Raderus noster sub studiorum renovationem cum plausu, qui tanti viri eruditionem et ex hac famam aequabat, de Divo Cassiano martyre exhibuit. Hist. Prov. Germ. Sup. II, 82 Nr. 294 Er [sc. Ernst] blieb eineinhalb Monate bei seinem Bruder und wohnte einer Tragödienaufführung bei, die unser Rader zum Schuljahresbeginn über den heiligen Märtyrer Cassian auf die Bühne brachte und dies mit Beifall, der der Gelehrsamkeit eines solch großartigen Mannes und seinem daraus resultierenden Ruhm gerecht wurde.

Für die Zeit nach der Uraufführung in München 1594 lassen sich aus zeitgenössischen Quellen dann allerdings etwas mehr Informationen gewinnen, die den weiteren Weg des Dramas dokumentieren. Raders erhaltene Korrespondenz beinhaltet einen Brief von seinem ehemaligen Schüler

Überlieferung, Entstehung und Aufführung des Cassianus

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Wolfgang Schönsleder (1570–1651), der auf den 10. September 1597 datiert ist (SCHMID 1995, 21 Nr. 10). Schönsleder war damals als Lehrer am Jesuitenkolleg in Dillingen tätig. In besagtem Brief merkt er an, dass ihm und seinen Dillinger Mitbrüdern Raders Cassianus wunderbar gefallen würde, wenn es nicht allzu grausam und überaus entsetzlich wäre, die Horde der Jungen zu erleben, wie sie mit ihren Schreibgriffeln gegen ihren Lehrer wüten.54 Hieraus geht hervor, dass man sich von Seiten des Dillinger Kollegs zuvor, vermutlich im Frühjahr oder Sommer 1597, an Rader in Augsburg mit der Bitte wandte, ihnen ein Dramenstück zu senden, dessen Aufführung für den Beginn des Schuljahres 1597/8 in Dillingen geplant war. Rader muss dann den Cassianus nach Dillingen gesandt haben. Da das Stück den dortigen Verantwortlichen aufgrund seiner Grausamkeit unpassend erschien, erbat sich Schönsleder in besagtem Brief dann aber den Text von Raders Ioannes Damascenus oder des Vigilius. Letzteren sandte Rader im Anschluss tatsächlich nach Dillingen, wo er am 16. Oktober desselben Jahres aufgeführt wurde. Zu einer Wiederaufführung des Cassianus kam es im selben Jahr aber in Regensburg, allerdings in einer etwas adaptierten Form. Anlass war der Aufbruch des damals achtzehnjährigen Bischofs von Regensburg und Kardinals, Philipp von Wittelsbach (1576–1598), nach Rom, wo er vom Papst eine Titularkirche zugewiesen bekommen sollte. Mittels der Aufführung des ‚erweiterten‘ Cassianus wollte man dem Kardinal eine glückliche Reise in die Ewige Stadt erbitten. Hierfür eignete sich die Legende vom Heiligen Cassian insofern in hervorragender Weise, als der IchErzähler in der wichtigsten antiken Quelle zu Cassian, nämlich in Prudentius’ neuntem Peristephanon-Hymnus, ebenfalls die Bitte an Cassian richtet, er möge ihm eine glückliche Weiterreise nach Rom bereiten (siehe hierzu ausführlich Abschnitt 6). Der Heilige Cassian fungiert hier wie dort als Fürsprecher und Schutzpatron für eine Reise nach Rom. Aus der Historia Collegii Ratisponensis können einige weitere Informationen zur Aufführung in Regensburg gewonnen werden: Praemiorum distributionem illustravit S. Cassianus martyr in theatrum productus et serenissimi Cardinalis praesentia aliorumque, quibus id 54

Placeret nobis, R[everende] P[ater], Cassianus tua [sc. fabula], nisi crudelius et παθητικώτερον esse videretur spectare turbam puerilem in suum magistrum stilis saevientem. Zu Schönsleder und dem genannten Brief siehe auch RÄDLE 2013, 271–272.

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Einleitung iucundum spectaculum praesertim succedente mortis doloribus gloria et triumpho martyris in caelo, quae pars nova addita a P. Wolfgango Starck isti dramati, cuius auctor P. Matthaeus Raderus. Hist. Coll. Rat. fol. 37r–v Der Preisverleihung wurde durch die Aufführung des Stückes ‚Der heilige Märtyrer Cassian‘ besonderer Glanz verliehen, wobei der durchlauchtigste Kardinal und andere anwesend waren, denen das Schauspiel gut gefiel, insbesondere aufgrund des Ruhmes, der auf die Todesschmerzen folgte, sowie des Triumphes des Märtyrers im Himmel. Dieser neue Teil wurde von Pater Wolfgang Starck jenem Drama hinzugefügt, das von Pater Matthäus Rader verfasst worden war.

Wolfgang Starck (1554–1605), ein Weggefährte von Jakob Pontanus, fügte Raders Text nicht nur den vierten Akt hinzu, sondern adaptierte auch den Prolog des Stückes. Das detaillierte Personenverzeichnis (Dramatis personae) mit der Angabe der Besetzung scheint, wie bereits erwähnt, ebenfalls im Zuge dieser Wiederaufführung angefertigt worden zu sein. Über zehn Jahre später bemühte sich der bereits erwähnte Wolfgang Schönsleder, mittlerweile in Regensburg tätig, dann erneut um Raders Cassianus. In einem Brief an Rader vom 18. Juli 1608 (SCHMID 1995, 425–426 Nr. 211) bat er ihn ein weiteres Mal um die Zusendung des Dramentextes (zusammen mit Bidermanns Cassianus), um ihn nach eigener Aussage zum Schuljahresbeginn 1608 in Regensburg aufführen zu lassen (scheinbar hatten sich die einstigen Bedenken bezüglich der Grausamkeit des Stückes mittlerweile zerstreut). Rader sandte dann allerdings nur Bidermanns Text, was aus einem weiteren Brief von Schönsleder an ihn vom 15. August 1608 (SCHMID 1995, 427–429 Nr. 212) hervorgeht. Am 22. September schickte Schönsleder den Text dann wieder zurück nach Augsburg (SCHMID 1995, 432–437 Nr. 215). 6

Die Cassian-Legende

Die früheste Quelle zum Heiligen Cassian und zu seinem Martyrium ist zugleich die einzige aus der Antike. Es handelt sich um ein hymnisches Lobgedicht im elegischen Distichon auf ihn, das der aus Spanien stammende Dichter Aurelius Prudentius Clemens (348/9–nach 405) verfasste.

Die Cassian-Legende

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Es findet sich in seinem Zyklus polymetrischer Hymnengedichte auf verschiedene Heilige der Kirche mit dem Titel Peristephanon liber (‚Gedichtbuch über die Märtyrerkronen‘). Prudentius’ dichterische Bearbeitung des Leidens und Sterbens von Märtyrern öffnete diesen Stoffbereich erstmals für die christliche Poesie. Der Ich-Erzähler des neunten Peristephanon-Hymnus berichtet, dass er auf einer Reise nach Rom Station in Imola (Forum Sullae) machte und dort am Grab des Heiligen Cassian niederfiel. Als er seinen Blick zum Himmel emporrichtete, sah er ein Gemälde, das das Martyrium des Heiligen zeigte, und er betrachtete dessen geschundenen Körper. Bald darauf wandte er sich an den Küster, um Näheres über Cassians Schicksal zu erfahren. Dieser informierte ihn darüber, dass Cassian als Lehrer wirkte, dass die strengen Regeln der Schule seine Schüler gegen ihn aufbrachten und dass Cassian der Christenverfolgung seiner Zeit zum Opfer fiel. Den Großteil seiner Rede nehmen dann die detaillierte Schilderung der Qualen, die Cassian erdulden musste, sowie der Spott, den seine Schüler über ihn währenddessen ergossen, ein (perist. 9,43–92). Abschließend wird der Ich-Erzähler vom Küster noch darauf hingewiesen, dass er jeden beliebigen Wunsch an Cassian richten könne, der Heilige werde ihn ihm sicher nicht abschlagen. Er erwägt, was ihn im Inneren am meisten besorgt, und wünscht sich dann eine glückliche Weiterreise nach Rom, welche ihm auch gelingt (perist. 9,101–106). Letzterer Punkt stellt eine wichtige Parallele zum vierten ‚Regensburger‘ Akt her (siehe Abschnitt 7). So wenig historisch verwertbares Material Prudentius’ Peristephanon-Hymnus über Cassians Vita bereitstellte, so große Freiheit nahm sich die mittelalterliche hagiographische Tradition im Umgang mit der Legende. Der prudentinische Kern blieb hierbei weitgehend unverändert. Je nach Intention der Verfasser wurden allerdings Teile ergänzt und erweitert sowie Leerstellen ausgefüllt.55 Insbesondere in Brixen und Imola entwickelte man die Legende entsprechend seiner jeweiligen Interessen weiter.56 So avanciert Cassian beispielsweise in dem vermutlich zwischen 1100 und 1250 von einem anonymen Autoren abgefassten Werk mit dem 55

56

Diese und weitere Stationen in der Entwicklung der Cassian-Legende wurden von Magdalen BLESS-GRABHER 1978 ausführlich nachgezeichnet und minutiös aufgeschlüsselt. Siehe hierzu ausführlich BLESS-GRABHER 1978, 103–140.

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Titel Vita et Gesta Sanctorum Cassiani, Ingenuini et Albuini episcoporum vom ‚bloßen‘ Schutzpatron des Bistums Säben bzw. Brixen zu seinem Gründer und ehemaligen Bischof und verlieh diesem dadurch ein ungleich höheres Renommee. Ähnlich verfasste kein Geringer als der Autor der im Mittelalter überaus weit verbreiteten Legenda aurea, Jacopo da Varazze (ca. 1230–1298), für den Imoleser Bischof Sinibald (1270–1296) eine Lebensgeschichte des Heiligen Cassian, die zum einen auf der bisherigen Überlieferung basiert, zum anderen aber auch erstmals durch Wundererzählungen angereichert wurde.57 Die unterschiedlichen biographisch-hagiographischen Versionen werden zeitgenössisch detailliert von Matthäus Rader selbst im dritten Band seiner Bavaria sancta diskutiert.58 Zunächst rechtfertigt Rader sein Vorgehen, Cassian zu den Heiligen und Seligen Bayerns zu rechnen. Hierbei verweist er erstens darauf, dass Paulus Diaconus der Ansicht war, dass die Grenzen Bayerns einst bis nach Bozen reichten;59 dieser Meinung seien auch Otto von Freising60 und Marcus Welser61 gefolgt. Außerdem werde Cassian schon immer von den Bayern als Beschützer verehrt, in Regensburg gebe es sogar eine uralte Kirche, die dem Heiligen geweiht sei (heute Stiftspfarrkirche St. Kassian).62 Im Anschluss trennt Rader den von ihm behandelten Cassian klar von anderen Heiligen, die denselben Namen tragen und daher mit ihm vermischt wurden (Cassian von Tingi,

57

58 59 60 61 62

Der Text ist lediglich in einer Abschrift aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts überliefert und im Codex Ottobonianus latinus 237 der Bibliotheca Vaticana enthalten. Ediert von BLESS-GRABHER 1978, 190–198. Bavariae Sanctae Volumen tertium […] devotum, inscriptum, et dicatum a Matthaeo Radero de Soc. Iesu, München 1627, p. 1–17. Paulus Diaconus: Historia Langobardorum, MGH SS rer. Lang. 1, p. 109, lib. 3, c. 30. Ottonis et Rahewini Gesta Friderici I. imperatoris, MGH SS rer. Germ. 46, p. 149, lib. 2, c. 41, siehe ferner p. 13, lib. 1, c. 12. Marci Velseri Rerum Boicarum libri quinque, Augsburg 1602, p. 165. Es gibt auch vereinzelt Legenden, die besagen, dass Cassian nach Bayern gezogen sei, um dort das Evangelium zu verkünden. Vgl. Rassler SJ, M., Heiliges Bayer-Land/ Auß dem Lateinischen vor hundert Jahren von R.P. Matthaeo Radero, Auß der Gesellschafft Jesu Verfertigten Werck, anjezo in die Teutsche Sprach übersetzt, [...] Erster Theil in sich haltend die erste Tausend Jahr nach Christi Geburt, Augsburg 1714, 42.

Die Cassian-Legende

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Cassian von Todi, Cassian von Benevent). Daraufhin trägt er die biographischen Informationen zusammen, die er für glaubwürdig hält. Über Cassians Herkunft könne er nichts sagen, sein Name lege es aber nahe, dass er aus Italien stamme, da dieser sich von Cassius ableite, einem Namen, der schon seit der Antike ebendort weit verbreitet sei. Cassian sei vom Patriarchen von Aquileia zum Priester und Bischof geweiht und später nach Säben (Sabiona oder Sabona) im Eisacktal, oberhalb des heutigen Klausen, gesandt worden, wo er das Wort Gottes verkündet und die dortige Marienkirche erbaut haben soll. Er sei später aber von den in der Gegend verbliebenen Heiden aus Säben vertrieben worden und habe sich auf den Weg nach Rom gemacht. Als er auf seiner Reise Station in Imola machte, erkannte er die Möglichkeit, dort erfolgreich das Wort Gottes zu verkünden, und gründete eine Schule, wo er die Kinder und Jugend im Sinne des Christentums erzogen habe. Ab hier folgt Raders Erzählung dann dem bei Prudentius vom Küster geschilderten Lauf der Dinge: Nach einiger Zeit wird Cassian entweder von Schülern, die dem Heidentum anhingen, oder deren Eltern oder irgendwelchen Spitzeln beim Stadtpräfekten denunziert und zum Tode verurteilt. Das Urteil wird auf die bereits bekannte Art und Weise von seinen Schülern vollstreckt. Was die Datierung dieser Ereignisse betrifft, spricht sich Rader gegen die erstmals von seinem Zeitgenossen Wiguleus Hund (1514–1588) vertretene Ansicht aus, dass Cassian während der Regierungszeit Kaiser Constantius’ II. (317–361, reg. ab 337) nach Säben kam und unter dessen Vetter und Nachfolger Julian (331/2–363; Ausrufung zum Augustus 360) in Imola das Martyrium erlitt.63 Diese historische Einordnung, der Rader im gut dreißig Jahre vor der Publikation des dritten Bandes der Bavaria sancta entstandenen Cassianus allerdings noch folgte (cum Iuliani furor insanus ferveret, V. 23, siehe auch V. 852–858), liegt darin begründet, dass Cassians Schicksal scheinbar am plausibelsten im Kontext einer berühmten und von der Forschung vieldiskutierten gesetzgeberischen Maßnahme Kaiser Julians zu verstehen ist: Als erster und einziger römischer Kaiser nach Konstantin dem Großen wandte sich Julian, der eine christliche Erziehung genossen und angeblich auch niedere kirchliche Weihe empfangen hatte, vom Christentum ab und bemühte sich, den alten 63

Metropolis Salisburgensis continens primordia Christianae religionis per Boiariam et loca quaedam vicina [...] a nobili et amplissimo viro Vuiguleo Hund, Ingolstadt 1582, p. 155–156.

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Glauben und seine Kultpraxis zu rehabilitieren. Entsprechend gilt er in der christlichen Überlieferung als Verräter am Christentum und Personifikation des Antichristen. Sein Abfall vom christlichen Glauben brachte ihm den Beinamen Apostata (‚Abtrünniger‘) ein. Seine angeblich tyrannische Gewaltherrschaft und grausamen Christenverfolgungen werden in christlichen Quellen in den grellsten Farben ausgemalt. Das von ihm am 17. Juni 362 erlassene sogenannte ‚Rhetorenedikt‘64 wird in diesem Zusammenhang als explizit antichristliche Zwangsmaßnahme gedeutet. In diesem verfügt Julian, dass Lehrer von höheren Bildungseinrichtungen hinsichtlich ihrer moralischen, u. a. auch religiösen Integrität überprüft werden müssen, um eine Lehrerlaubnis zu bekommen. Denn, so führt er in einem wohl an die christlichen Lehrer des Reiches adressierten Brief65 näher aus, nur diejenigen, die sich mit dem Stoff des Unterrichts, nämlich den klassischen, heidnischen Autoren, und der bei ihnen präsentierten Götterwelt vollumfänglich identifizierten, könnten aufrichtig ihrer Profession nachgehen. Wer lehre, woran er selbst nicht glaube bzw. wovon er nicht überzeugt sei, handle unaufrichtig und unmoralisch. So umstritten die Stoßrichtung dieses Edikts in der Forschung ist, so zentral ist es für die christliche Rezeptionsgeschichte von Julians Herrschaft. Kirchenhistoriker des vierten und fünften Jahrhunderts wie Rufinus von Aquileia (hist. 10,33), Sokrates von Konstantinopel (hist. eccl. 3,12,7), Sozomenos (hist. eccl. 5,18,1) sowie Theodoret von Kyrrhos (hist. ecc. 3,8) überdramatisieren die mit dem Edikt einhergehenden Maßnahmen, indem sie bisweilen behaupten, dass nicht nur christliche Lehrer vom Bildungsbetrieb ausgeschlossen wurden, sondern sogar alle Schüler, die dem christlichen Glauben anhingen. Während Rader, wie bereits erwähnt, innerhalb seines Bühnenstückes das Martyrium des Protagonisten historisch noch in diesen Kontext der kolportierten antichristlichen Stoßrichtung von Julians Rhetorenedikt einordnete, lehnt er dies in seiner Bavaria sancta strikt ab und datiert Cassians gewaltsamen Tod in die Regierungszeit Kaiser Diokletians (reg. 284–305).66 Seine Argumente nehmen im Kern bereits die der Bollandisten des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts vorweg, die gestützt

64 65 66

Dokumentiert im Codex Theodosianus (13,3,5) bzw. Iustinianus (10,53,7). Iul. epist. 61c Bidez. Vgl. BLESS-GRABHER 1978, 168–169.

Die Cassian-Legende

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auf ihre systematischen und großangelegten hagiographischen Recherchearbeiten (Acta Sanctorum) ebenfalls einer zeitlichen Einordnung in Julians Herrschaft widersprachen.67 Bei der Argumentation gegen diese Datierung zog man dort (wie auch Rader zuvor) die einzige ‚Primärquelle‘ Prudentius erneut heran. Denn dieser berichtet erstens, dass Cassian einer heftigen und großangelegten Christenverfolgung (saeva tempestas) zum Opfer gefallen sei. Eine solche, so halten es die Acta Sanctorum von 1737 zum 13. August, Cassians Gedenktag, fest, habe aber nach dem Regierungsantritt Konstantins nicht mehr stattgefunden und somit auch nicht unter Julian.68 Zweitens erklärt der Küster in Prudentius’ Hymnus, dass das Gemälde eine Geschichte wiedergebe, die die „Glaubensstärke der alten Zeit“ präsentiere. Der attributive Genitiv vetusti temporis mache es laut den Acta Sanctorum sehr unwahrscheinlich, dass Cassian unter Julian gestorben sei, da Prudentius’ Gedicht kaum mehr als vierzig Jahre nach dem Tod des Kaisers verfasst worden sei.69 Viel plausibler sei es aus den genannten Gründen, Cassians Martyrium in Diokletians Herrschaft zu datieren und im Kontext von dessen großangelegter Christenverfolgung zu verorten. Dieselbe Ansicht vertrat auch bereits Maximilian Rassler. Er geht ebenfalls davon aus, dass Cassian um das Jahr 300 n. Chr. zu Tode kam.70 Neben Raders Cassianus lassen sich noch drei weitere Stücke über den Heiligen Cassian identifizieren, die auf Bühnen der Jesuiten dargeboten wurden. Belegt sind alle drei in einem Brief von Wolfgang 67 68

69

70

Ausführlich zum Heiligen Cassian: AA SS 13. August, Bd. 3, 16–23. Primum, quod Prudentio teste, ceciderit Cassianus in persecutione saeva et generali Christianorum, hoc expressa disticho Ecce, fidem quatiens tempestas saeva premebat | Plebem dicatam Christianae gloriae [= perist. 9,29– 30]; talis autem nulla fuit in Italia sub Iuliano, nulla post initia Constantini. AA SS 13. August, Bd. 3, 22C. Secundum ex eodem Prudentio sumitur, ubi narrat, sibi Cassiani effigiem aspectanti respondisse consultum aedituum: Quod prospicis, hospes, | Non est inanis aut anilis fabula. | Historiam pictura refert, quae tradita libris | Veram vetusti temporis monstrat fidem [= perist. 9,17–20]. Historiam hic vides martyrii eius nuncupari historiam vetusti temporis initio saeculi V, hoc est, annis vix amplius quadraginta post interitum Iuliani. An sic, ambo potuisset appellari, si sub Iuliano contigisset? AA SS 13. August, Bd. 3, 22C–D. Heiliges Bayer-Land [...] Erster Theil in sich haltend die erste Tausend Jahr nach Christi Geburt, Augsburg 1714, 41–42.

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Schönsleder an Rader vom 18. Juli 1608 (SCHMID 1995, 425–426 Nr. 211). Darin erwähnt der Verfasser, dass er drei Cassian-Stücke gelesen habe: eines aus der Feder des aus Imola stammenden Nicolaus Lilius (1566–1613), ein anderes von Ferdinand Crendel (1557–1614) und eben dasjenige Raders. Die qualitativen Diskrepanzen kommentiert er mit einem emotionalen griechischen Ausruf ὦ τῆς διαφορᾶς (‚Oh, was für ein Unterschied!‘). Er habe außerdem gehört, dass Jakob Bidermann ebenfalls einen Cassianus verfasst habe. Dessen Text habe er allerdings noch nicht zu Gesicht gekommen. Über die Stücke von Lilius und Crendel liegen nur die im Brief enthaltenen Informationen vor. Bidermanns Cassianus, dessen Text nicht erhalten ist, wurde im Herbst 1602 in Augsburg und später in Regensburg am 11. Oktober 1608 aufgeführt.71 7

Inhaltsangabe zu Raders Cassianus

Die Uraufführung des Cassianus in München im Jahre 1594 umfasste lediglich die ersten drei Akte des überlieferten Manuskripts (siehe Abschnitt 5). Diese können in zwei, in etwa gleich große Teile untergliedert werden. Zum einen die von ausgelassener Komik geprägten Akte 1 und 2, die weitgehend den Alltag an Cassians Schule aus verschiedenen Blickwinkeln illustrieren, und zum anderen der tragische dritte Akt, der das Martyrium der Hauptfigur behandelt. Am Beginn steht, wie im Jesuitentheater weitgehend üblich, ein Prolog, der zunächst das Publikum sowie die anwesenden Vertreter des Adels begrüßt und dann eine Inhaltszusammenfassung des Stückes bietet. Hierauf folgen zwei komplementäre Szenen. Während in der ersten Szene des ersten Aktes noch der Frust der Lehrer, vorgetragen von Quintilius und dessen Schulleiter Cassian, artikuliert wird, steht in der darauffolgenden der der Schüler im Vordergrund. Dieser entlädt sich exemplarisch und performativ in der Verbrennung eines Schulbuchs, Ovids Metamorphosen, durch den Schüler Julius, eine Handlung, die nicht ungestraft bleibt, da Cassian zufällig Zeuge derselben wird. Die dritte Szene besteht aus albernen Blödeleien unter Cassians Schülern, bei denen sich ein Junge, Oniropolus, zum Traumdeuter aufschwingt und die Träume seiner Mitschüler in abfälliger Weise auslegt. Nachdem Cassians Schüler 71

Vgl. SCHMID 1995, 245 Anm. 14 und 426 Anm. 3.

Inhaltsangabe zu Raders Cassianus

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in Szene I,4 die noch verbleibende Zeit vor Unterrichtsbeginn dazu nutzten, den Stoff der letzten Stunde, wohlgemerkt den berühmten beim Historiker Livius überlieferten Kampf zwischen Curiatiern und Horatiern, szenisch nachzustellen, und dafür ebenfalls abgestraft wurden, beinhaltet Szene I,5 eine relativ authentische szenische Wiedergabe einer Unterrichtsstunde, wie sie an Jesuitengymnasien stattgefunden haben könnte. Stoff der Stunde waren die Ereignisse, die sich an den erwähnten bei Livius dokumentierten Kampf zwischen Curiatiern und Horatiern anschließen: Auf eine freie Wiedergabe der Textpassage in Prosa folgen erklärende Kommentare zu einigen Textstellen im Original. Eingeflochten in diese Erläuterungen ist eine persönliche Anekdote von Cassian, in der er erzählt, wie er einst einen Christen in Säben getroffen habe, der ihm unglaubliche Dinge über das Kreuz und den Erlöser der Welt, der daran hingerichtet wurde, berichtet habe. An dieser Stelle wird somit bereits auf den späteren, im dritten Akt behandelten Konflikt zwischen Cassians Christsein und der staatlichen, heidnischen Autorität vorausgedeutet. In der Schlussszene des ersten Aktes tritt ein Bauer mit dem ‚sprechenden Namen‘ Agraulus (‚Landei‘) auf, der seinen Sohn Simplicius (‚Dummkopf‘) Cassian bzw. Quintilius zur Erziehung und Ausbildung übergibt. Er sei zwar schon zwanzig Jahre alt, aber hochbegabt, so der Vater. Der zweite Akt beginnt erneut mit einer szenischen Wiedergabe einer Unterrichtsstunde, diesmal aus Quintilius’ Klasse. Hierin stellt dieser fest, dass der ihm zur Erziehung und Ausbildung anvertraute Simplicius nicht ganz so begabt ist, wie sein Vater zuvor glauben machen wollte. Simplicius, der nicht versteht, was sein Lehrer von ihm will, befolgt in seiner Verlegenheit die Anweisung seines Vaters, seine Lehrer in Gestik, Mimik und Wort nachzuahmen, und spricht einfach alles nach, was Quintilius sagt. Dem daraus resultierenden urkomischen ‚Slapstick-Stück‘ setzt Quintilius ein Ende, indem er Simplicius von seinen Schülern verprügeln lässt. Die drei folgenden Szenen spielen in derselben Unterrichtsstunde. In II,2 kommt Quintilius einem seiner Schüler, Prisculus, der den Unterricht zuvor schwänzte, auf die Schliche und übergibt ihn dem Zuchtmeister der Schule zur Bestrafung. In der folgenden Doppelszene (II,3a und b) lässt Quintilius seine Schüler zunächst antike Dichterzitate sammeln. Auch hierin zeigt sich die fehlende Begabung von Simplicius. Daraufhin möchte der Lehrer das Thema der letzten Unterrichtsstunde fortsetzen, den 62. Brief Senecas an Lucilius. Nachdem Posthumus,

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scheinbar der Klassenbeste, diesen noch mühelos zitieren konnte, antworten alle übrigen Schüler, die Quintilius bittet fortzufahren, mit einem schnöden nescio. In seiner Aufgebrachtheit und Verzweiflung wendet er sich an seinen Schulleiter. Dieser lässt eine emotionale Schimpftirade auf die Faulheit der Schüler niederdonnern. Der dritte Akt behandelt Cassians Martyrium. Zu Beginn von III,1 steht entsprechend programmatisch eine Anrufung Christi durch Cassian und ein explizites Bekenntnis zum christlichen Glauben. Dem stünde auch nicht entgegen, dass er nun als Lehrer weltliche Bildung (profanae litterae) vermittle. Außerdem verleiht er seiner Hoffnung Ausdruck, einige Schüler für das Christentum zu gewinnen, allen voran Aeonius. Eben diesen trifft er dann auf der Bühne an, als dieser sich mit Ciceros Schrift De divinatione und den darin präsentierten Techniken zur Deutung von Weissagungen, im Besonderen von Akrosticha auseinandersetzt. Cassian greift seinem Schüler, der die rätselhaften Sprüche nicht versteht, unter die Arme und bringt ihm die interpretatio Christiana derselben nahe. Es gelingt ihm, Aeonius’ Interesse und Begeisterung hierfür zu gewinnen; dieser will dem Ganzen noch weiter nachgehen. In der Folgeszene (III,2) tritt ein Teufel mit dem ‚sprechenden Namen‘ Phlox (‚Flamme/Feuer/Brand‘) auf. Dieser will Aeonius von seinen Überlegungen abbringen und verleiht seinen Beschimpfungen durch Prügel besonderen Nachdruck. Bald kommt Aeonius aber der Engel Boethius zu Hilfe und vertreibt den Teufel. Szene III,3 berichtet von einem Traum Cassians, in dem die Personifikationen mit den ‚sprechenden Namen‘ Stephanophorus (‚derjenige, der die Märtyrerkrone bringt‘) und Martyrologus (‚derjenige, der für das Martyrium argumentiert‘) Cassian vor die Entscheidung zwischen ihren beiden ‚Kronen‘ stellen: auf der einen Seite die schmerzende, stachelige Märtyrerkrone des Martyrologus, die das irdische Leben nimmt bzw. besiegt, und auf der anderen die vor Gold und Edelsteinen glänzende, angenehme Krone des Stephanophorus, die ihm das ewige Leben verleiht. Cassian erkennt schnell, dass er die eine nicht ohne die andere erwerben kann, und erklärt, aus seinem Traum erwacht, seine Bereitschaft, seinen Glauben, wenn nötig, mit dem Tod zu bezeugen. Nachdem ihm Aeonius von seiner Begegnung mit dem Teufel berichtet und seinen Wunsch kundgetan hat, von Cassian in der christlichen Lehre unterwiesen zu werden (III,4), äußert Quintilius in einem inneren Monolog den Verdacht, dass Cassian ein Christ sei (III,5). Er will dies dem

Inhaltsangabe zu Raders Cassianus

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zuständigen Prätor anzeigen und erhofft sich gleichzeitig, von eitlen egoistischen Ambitionen angetrieben, Cassian bei einer etwaigen Verurteilung im Amt des Schulleiters nachfolgen zu können. An die Anzeige beim Prätor Claudius (III,6) schließt sich Cassians Verhör an, das dem gängigen Muster von Martyriumsberichten folgt (III,7). Cassian bekennt standhaft seinen Glauben und wird zum Tode verurteilt. Schnell spricht sich Cassians Verurteilung unter seinen Schülern herum (III,8). Ihre anfängliche Freude darüber trübt sich aber schnell, als sie hören, dass Quintilius ihm als Schulleiter nachfolgen werde, da sie diesen noch mehr verachten als Cassian. In Szene III,9 setzt Claudius fest, dass Cassians Schüler das Urteil an ihm vollstrecken sollen, indem sie ihn mit ihren eisernen Schreibgriffeln zu Tode martern. Die Todesstrafe wird in der Anschlussszene (III,10) vollzogen: Die Schüler stechen nicht nur wild und grausam auf den Körper ihres Lehrers ein, sondern treiben auch noch ein sarkastisches Spiel mit ihm, indem sie nun all diejenigen Tugenden aufweisen, die sie im Unterricht vermissen ließen und zu denen sie ihr Lehrer immer wieder nachdrücklich ermahnt hatte: diligentia, industria, studium (v. a. V. 1096–1099). Nach Cassians Tod, der maßgeblich auf Betreiben des Schülers mit dem ‚sprechenden Namen‘ Furius (‚der Rasende‘) herbeigeführt wurde (seine Klassenkameraden verspürten im Laufe der Marterprozedur Mitleid mit Cassian), verspricht diesem der Teufel Phlox reiche ‚Belohnung‘ in der Hölle (III,11). Auf einen triumphalen Chorgesang der Engel auf Cassian, der in den Himmel aufsteigt und dort mit der Märtyrerkrone gekrönt werden wird (III,12), folgt abschließend ein Monolog des Aeonius, der im Angesicht von Cassians geschundenem Leichnam eben diesen für sein Glaubenszeugnis preist, ihm Dank dafür ausspricht, dass er ihn zum rechten Glauben geführt hat, und sein eigenes Bekenntnis zum Christengott bekräftigt.72 Der abschließende Epilog dankt zunächst dem Publikum für sein aufmerksames Zusehen und -hören und spricht dann die ‚Moral von der Geschichte‘ explizit aus: Der Epilogsprecher, der hier im Namen der Lehrerschaft der Societas Iesu spricht, bekennt sich zum pädagogischen Ziel der 72

Einen ganz ähnlichen Plot weist auch die in der Legenda aurea überlieferte passio des Lehrers Felix in Pincis auf (LA 19). Außerdem sollen auch Bischof Markus von Arethusa (vgl. Cassiod. hist. 6,12,7–11) sowie Johannes Scottus Eriugena (vgl. Wilhelm von Malmesbury: Gesta regum Anglorum 2,122) durch die Schreibgriffel ihrer Schüler hingerichtet worden sein. Vgl. HÄUPTLI 2014, 357 Anm. 5; BLESS-GRABHER 1978, 141–144.

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Jesuiten, die Kinder zu unterrichten und zu erziehen. Gleichzeitig klagt er aber auch in hohem Maße moralisierend über die Unverschämtheit und Zügellosigkeit, die die Kinder und Jugendlichen aktuell an den Tag legten. Sie zeigten keinen Respekt mehr vor ihren Lehrern und Eltern. Wer zuhause ohne Regeln lebe, bei dem nützten auch die Regeln der Schule nichts mehr. Die Lage sei am Äußersten; die im Stück präsentierten Ereignisse stehen symbolisch dafür. Die Konsequenzen, die aus pädagogischer Nachlässigkeit erwachsen, wurden anhand von Cassians Schicksal, wenn auch auf die Spitze getrieben, illustriert. Aber, so der Epilogsprecher weiter (und hierin liegt eine weitere Pointe des Epilogs), solche Zustände herrschten natürlich nur an anderen Bildungseinrichtungen. Selbst sei man eine „Schule der Unschuld“, ein „Zuhause neuer Erkenntnis und des Fleißes“. Die Schüler der Jesuiten ehrten selbstverständlich ihre Eltern und folgten den Lehrern aufs Wort. Wobei, und hier hebt der Sprecher erneut noch einmal kurz den moralischen Zeigefinger, fehle es auch bei ihnen hin und wieder nicht an einer Gruppe von Faulen. Viel zahlreicher seien aber natürlich die Fleißigen und Engagierten, die im Folgenden Auszeichnungen für ihre Leistungen im vergangenen Schuljahr öffentlich verliehen bekommen. Der für die Aufführung in Regensburg 1597 nachträglich hinzugefügte vierte Akt spielt ausschließlich im Himmel. Zunächst wird Cassian von Stephanophorus und Martyrologus zu Christus geführt (IV,1), wo ihm die Märtyrerinsignien verliehen werden (IV,2) und er vom Chor der Engel in polymetrischen Hymnen gerühmt wird (IV,3). Ab der vierten Szene steht dann dasjenige Motiv im Vordergrund, das die Erweiterung des Dramas für die Regensburger Aufführung maßgeblich bedingte. Denn darin tritt der mittlerweile Heilige Cassian als Fürsprecher an Christi Thron heran und bittet für den damals achtzehnjährigen Bischof von Regensburg und Kardinal Philipp von Wittelsbach, zu dessen Ehren und in dessen Gegenwart das Stück aufgeführt wurde, um eine glückliche Reise nach Rom; diese war er im Begriff anzutreten, um eine Titularkirche in der Ewigen Stadt vom Papst zugewiesen zu bekommen. Christus nimmt sich der Bitte bereitwillig an und sendet am Ende der Szene Stephanophorus zur Erde, um Philipp zu verkünden, dass er wohlbehalten in Rom ankommen werde. Auf einen Lobgesang auf Christus, der von Cassian und dem Engelschor vorgetragen wird (IV,5), tritt zuletzt

Verständniskontexte und Interpretationsansätze

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Stephanophorus auf, spricht Philipp direkt an und teilt ihm wie aufgetragen mit, dass Christus ihm eine glückliche Reise nach Rom zusichere (IV,6). 8

Verständniskontexte und Interpretationsansätze

Die insbesondere die ersten beiden Akte des Cassianus dominierenden Klagen von Lehrern und Schülern über ihr widriges Dasein sind beliebte Themen in zeitgenössischen Jesuitendramen. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang v. a. drei Stücke: erstens Jakob Pontanus’ erstmals 1588 aufgeführtes Drama Stratocles sive Bellum, das im Rahmen seiner Poeticae Institutiones im Jahr 1594 sogar im Druck erschien,73 zweitens die erste Szene von Jakob Gretsers Udo von Magdeburg, der 1587 in Ingolstadt auf die Bühne gebracht wurde,74 sowie drittens das Bellum Puerile contra Priscianum, das in drei Episoden unterteilt als Zwischenspiel im 1597 in München dargebotenen Godefridus Bullonius diente.75 Viele Motive, die im Cassianus zu finden sind, tauchen auch in diesen immer wieder auf. Hierzu zählen Klagen der Lehrer über ungebildete Schüler, die für den Unterricht vollkommen unbrauchbar seien,76 üble Beschimpfungen gegen dieselben in einer rabiaten und bildlichen Diktion, häufig mit Entlehnungen aus dem Folter- und Hinrichtungskontext,77 der sich umgekehrt auch die Schüler zur Beschreibung der Verhältnisse, unter denen sie leiden, bedienen.78 Ferner sind immer wieder Beschwerden der Lehrer über die fehlende öffentliche Anerkennung für ihre Arbeit sowie die schlechte Bezahlung zu finden.79 Schüler klagen in den entsprechenden Stücken regelmäßig darüber, dass ihnen nur Lügen und un-

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Ediert und ins Deutsche übertragen von RÄDLE 1979, 296–365. Ediert und ins Deutsche übertragen von RÄDLE 1979, 368–433. Von diesem sogenannten ‚Udo I‘ ist eine weitere Bearbeitung des Stoffs durch Gretser zu unterscheiden, welche 1598 in München aufgeführt wurde (ediert von HERZOG 1970). Ediert von BOLTE 1908, 186–193. Udo 19–25; Bellum puerile 161–162. Udo 44–45, 46–47, 55–59, 65–66; Bellum puerile 154–156, 159. Stratocles 1–10, 30–35, 60–68, 75–80; Udo 26–27; Bellum puerile 24–40. Bellum puerile 152–154.

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Einleitung

nützes Wissen beigebracht würden, dass sie daher trotz aller Lernanstrengungen am Ende doch nichts wüssten 80 und dass ihnen keinerlei Vertrauen und Glauben entgegengebracht werde.81 Dieselben Motive finden sich auch bereits in der um das Jahr 1533 verfassten Deklamation des bekannten Humanisten, Theologen und Pädagogen Philipp Melanchthon (1497–1560) mit dem Titel De miseriis paedagogorum oratio,82 in der der Reformator ebenfalls ein äußerst düsteres Bild vom Lehrerberuf zeichnet. Entsprechende Klagen können allerdings bis weit ins hohe Mittelalter zurückverfolgt werden.83 So listet etwa ‚Mutter Natur‘ (Natura parens) im Laborintus,84 einem aus der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts stammenden Lehrgedicht Eberhards des Deutschen über die Aufgaben, Inhalte und Methoden des Poetikunterrichts, die Übel auf, unter denen ihre neueste Schöpfung, der Lehrer, leide: Strapazen (labor), die mit seinem Beruf verbunden sind, Verleumdung (fama) und Missgunst (livor), denen Lehrer ausgesetzt sind, sowie die schlechte Bezahlung (paupertas).85 Die Schüler seien unbegabt, wiesen einen hohen Grad an Unverschämtheit und Widerspenstigkeit auf, seien überhaupt nicht gewillt, etwas zu lernen, und nicht einmal körperliche Züchtigung könne daran etwas ändern.86 Angesichts dieser gattungsspezifischen Topik sowie des deklamatorischen Charakters der Schulübung, die das Jesuitentheater – wie gezeigt – im Kern ebenfalls ist, sollte man daher entsprechende Vorsicht bezüglich des Realitäts- bzw. Wahrheitsgehalts der in die Spätantike projizierten Klagen von Lehrern und Schülern in Raders Cassianus walten lassen. Bezeichnenderweise verfasste bereits erwähnter Philipp Melanchthon drei Jahre nach seiner De miseriis paedagogorum oratio eine weitere, in die entgegengesetzte Richtung argumentierende Deklamation mit dem Titel De laude vitae scholasticae oratio. Auch ein weiterer zentraler Aspekt von Raders Cassianus ist tief im zeitgenössischen Dramenwesen der Societas Iesu verwurzelt, nämlich die 80 81 82 83 84 85

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Stratocles 17–29, 36–59. Udo 38–41. Ediert und ins Deutsche übertragen von RITTER 2015. Siehe hierzu RÄDLE 2009b, 73–74. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von VOLLMANN 2020. Laborintus 27–40. Vgl. auch später: Affligunt miserum cathedrae pestes labor, ira, | Paupertas, 839–840; weiter ausgeführt dann in den Versen 840– 870. Laborintus 871–980.

Verständniskontexte und Interpretationsansätze

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Rolle der z. T. überaus ausgelassenen Komik.87 Der hohe Grad an Komik steigert nicht nur das Vergnügen beim Publikum, sondern auch dessen ‚sinnenhaftes Erleben‘, welches die Jesuiten, wie ebenfalls bereits geschildert, durch den Besuch ihrer Dramenaufführungen im Dienst ihres moraldidaktischen Anliegens beim Zuschauer erzielen wollten. Der scharfe Kontrast zwischen den ersten beiden Akten voll unbekümmerter Heiterkeit und komischer Übertreibung einerseits und den (tod)ernsten Themen des dritten Aktes (Bekehrung des Aeonius, Verhör und Hinrichtung Cassians) andererseits intensiviert die emotionale Partizipation des Zuschauers am Bühnengeschehen und steigert somit den intendierten moraldidaktischen bzw. kathartischen Effekt der Darbietung. Ganz so zweigeteilt, wie es diese Ausführungen zunächst suggerieren, ist der Cassianus in seiner Konzeption allerdings nicht. Denn bereits in den ersten beiden ‚komischen‘ Akten baut sich diejenige Spannung zwischen Schülern und Lehrern auf, die sich im dritten, ‚tragischen‘ Akt in Cassians Denunziation und anschließender Hinrichtung entlädt. Entsprechend weisen die Jungen, während sie mit ihren Schreibgriffeln auf ihren Lehrer einstechen, explizit darauf hin, dass dies die Vergeltung für die körperliche Züchtigung sei, die sie zuvor, wie mehrfach in den ersten beiden ‚heiteren‘ Akten zu sehen, von ihm erhalten haben, ein Vorwurf, der so nicht ganz zutreffend ist, da es sich um Schüler des Quintilius handelt, die ihn hinrichten. Außerdem scheinen an verschiedenen Stellen in den ersten beiden Akten zwei zentrale Motive des letzten bereits kurz durch: Zum einen klingt Cassians Bemühen, seine heidnischen Schüler für das Christentum zu gewinnen, schon in seiner Kommentierung der Livius-Textstelle über den Kampf zwischen Horatiern und Curiatiern an. Hierbei erklärt er vordergründig und maßgeblich mit Hilfe von Plinius dem Älteren die Wendung infelix arbor (V. 440–441), lässt gleichzeitig aber auch scheinbar beiläufig einen kurzen autobiographischen Exkurs einfließen, wobei er von einem Treffen mit einem Christen in Säben berichtet, der ihn in das Mysterium des Kreuzestodes Christi eingeführt habe (V. 442–444). Wie sich damals jener Christianus quidam, hinter dem sich vermutlich niemand anderes als Cassian selbst verbirgt, zur Untermauerung seiner Position eines Verses aus den Sibyllinischen Orakeln und dessen interpretatio Christiana bediente, verfährt Cassian später im Gespräch mit Aeonius (III,1). Zum anderen blitzen bereits in der letzten 87

Zur Rolle der Komik im Jesuitentheater siehe Anm. 30.

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Szene des ersten Aktes die Bosheit sowie die egoistischen Ambitionen des Quintilius grell auf, als dieser mit den beiseite gesprochenen Worten Non semper illi [sc. Cassiano] dormiam nec serviam, | Sed nunc simulabo amicitiam. (V. 484–485: Ich will ihm nicht immer hörig sein und dienen, aber nun werde ich so tun, als wären wir Freunde.) die Bühne betritt. An früherer Stelle wurde bereits mehrfach auf die zentrale Bedeutung des Jesuitentheaters für die Glaubensfestigung sowie Moraldidaxe des Publikums hingewiesen. Anhand des Schicksals der Titelfigur wird in plastischer Weise illustriert, dass ein standhaftes Bekenntnis zum christlichen Glauben, das sich gegenüber allen Gewaltandrohungen behauptet, zur ewigen Seligkeit führt und demjenigen, der dafür sogar den Tod erleidet, die Märtyrerkrone verschafft. Zahlreiche typologische Entsprechungen zur passio Christi lassen Cassians Nachfolge Christi und seinen Triumph über die Feinde des Glaubens umso glänzender erscheinen: der Verrat durch einen Freund bzw. Vertrauten (Quintilius bzw. Judas) aus niederen Beweggründen (Position des Schulleiters bzw. dreißig Silberlinge); der Prozess vor dem zuständigen Amtsträger, der zunächst keine Schuld finden kann, dann aber von böswilligen ‚Ratgebern‘ beeinflusst bzw. unter Druck gesetzt wird (V. 993–1003 bzw. Lc 23,14–25, Io 18,38– 40); der Ablauf der Hinrichtung (Entkleiden, Fesselung/Kreuzigung, Verhöhnung, Tod‚ Abnahme vom Pfahl/Kreuz, Begräbnis). Insbesondere Cassians letzte Worte, mit denen er um Vergebung für seine Peiniger bittet, weisen eine große Nähe zu denen auf, die Christus am Kreuz spricht.88 Umgekehrt wird insbesondere durch die Figur des Schülers Furius gezeigt, dass ein Verhalten, wie er es an den Tag legt, ins ewige Verderben führt. Er ist derjenige, der als erster unter den Schülern dazu aufruft, gegen Cassian zu wüten (V. 1071–1078), der sich energisch dem Aufruf seines Klassenkameraden Hostilius widersetzt, Gnade gegenüber dem Geschundenen walten zu lassen (V. 1113–1115), der Cassian den Todesstoß versetzt (V. 1118–1119) und der in III,11 vom Teufel Phlox namentlich gerufen und als praeda pinguis (V. 1126) in die Hölle geführt wird. Abschließend ist noch darauf hinzuweisen, dass die beiden LehrerFiguren des Cassianus gewissermaßen als positive und negative Projektionsflächen des jesuitischen Ideals des Pädagogen bzw. Lehrers fungieren, wie es in grundlegenden offiziellen Dokumenten von essenzieller 88

Siehe hierzu V. 1109–1112 sowie 1120 mit Erläuterungen.

Verständniskontexte und Interpretationsansätze

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Bedeutung für die Gesellschaft Jesu wie den Constitutiones oder der Ratio studiorum entworfen wird.89 Die weitgehend eindimensionale, allzu schnell zur Rute greifende und pessimistisch-resignierende Lehrerfigur des Quintilius dient hierbei als negativer Gegenpart zum empathischen, die spezifische Situation der Heranwachsenden berücksichtigenden und väterlich-fürsorglichen Cassian. Hierbei stellt Letzterer ein in die Spätantike projiziertes Ideal des Pädagogen dar, wie er in verschiedenen zentralen und offiziellen Schulregeln der Jesuiten, auf deren Bühne er auftritt, entworfen wird; sein Gegenspieler Quintilius hingegen verstößt gegen diese. Insbesondere die Frage, wann, wie und von wem die Prügelstrafe eingesetzt werden darf, sowie die Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen, die ein Lehrer aufweisen sollte, sind hier von Relevanz: So wird beispielsweise in verschiedenen Regelwerken der Societas Iesu vorgegeben, dass nur wenn durch gutes Zureden (verba bona) und Ermahnungen (exhortationes) kein anständiges Verhalten auf Seiten der Schüler bewirkt werden kann, ein corrector berufen werden soll, der die Knaben in Angst vor Bestrafung halte und somit die Disziplin aufrechterhalte. Dieser dürfe aber keinesfalls aus den Reihen der Jesuiten stammen, sondern müsse von außen engagiert werden.90 Bei der Bestrafung selbst solle man allerdings nicht vorschnell handeln (nec in puniendo praeceps) und nicht allzu pedantisch Nachforschungen anstellen (nec in inquirendo nimius sit).91 Während Cassians Vorgehen diesen Vorgaben entspricht – z. B. übergibt er lediglich die Rädelsführer des in I,4 nachgestellten Kampfes zwischen Curiatiern und Horatiern dem corrector innerhalb des Stückes mit dem ‚sprechenden Namen‘ Paedomastyx (‚Kinderrute‘) zur Bestrafung –, lässt Quintilius den Schüler Simplicius

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Siehe hierzu ausführlich ABELE 2020a. MPSI I, 311–313, vgl. auch MPSI I, 19–22; MPSI V (Ratio stud. 1586), 141– 143 (De tuenda puerorum disciplina ac pietate) und 224–228 (Pietas et disciplina morum); MPSI V (Ratio stud. 1591), 293–296 (Pietas ac disciplina morum); MPSI V (Ratio stud. 1599), 409 (corrector). Siehe hierzu auch: FRIEDRICH 2016, 301–302; CARLSMITH 2002, 236–237; O’MALLEY 1998, 230. MPSI V (Ratio stud. 1586), 228, wörtlich wiederholt in der Fassung von 1591 (MPSI V, 295). In der Formulierung leicht abgeändert im Kapitel Puniendi ratio in der Ratio studiorum von 1599 (MPSI V, 422).

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in II,1 sogar von dessen Mitschülern verprügeln.92 Für seinen neuen und nur eingeschränkt begabten Schüler zeigt er keinerlei Empathie. Auch der Vorgabe, bei der Bestrafung der Schüler nicht allzu streng vorzugehen, wird Quintilius nicht gerecht. So reagiert er beispielsweise in Szene II,3b auf die Unwissenheit seiner Klasse über den Stoff der vorausgehenden Unterrichtsstunde unmittelbar mit der Ankündigung von Prügeln. Seinen Schüler Prisculus, der zuvor dem Unterricht unentschuldigt ferngeblieben ist und hierauf angesprochen aus Verlegenheit zu immer neuen Ausreden greift, treibt er in einer Art Verhör geradezu in die Enge (II,1). Cassian hingegen verfährt im Umgang mit seinen Schülern nach der von ihm selbst in der Auftaktszene des Dramas ausgegebenen und mit den Vorgaben der Ratio studiorum konform gehenden Maxime: Laude alii ducuntur, alii conviciis, Et alii demum verberationibus.93 Durch Lob werden die einen geleitet, die anderen durch Tadel und wieder andere dann schließlich durch Prügel.

Cassian ist der Überzeugung, dass bei der Erziehung das rechte Maß (modus) eingehalten werden müsse. Denn zu große Strenge stumpfe die Schüler ab, zu große Nachlässigkeit entfessle sie: Sed modus est in regenda tenera aetatula. Obtunditur nimia severitudine, Solvitur et perditur nimia indulgentia.94 Aber bei der Erziehung des zarten Kindesalters muss man Maß halten. Durch allzu große Strenge wird es abgestumpft, durch zu große Nachgiebigkeit entfesselt und verdorben.

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Die Schulordnung des Prager Kollegs von 1560 verbietet ausdrücklich, dass Schüler ihre Klassenkameraden züchtigen dürfen: In nulla classe permittetur, ut discipuli discipulos quocunque modo castigent (MPSI II, 65–66). V. 70–71. Vgl. MPSI V (Ratio stud. 1586), 228: Aliis honoris dedecorisque stimulis utatur frequentius quam flagello (Es sollen häufiger Anreize der Auszeichnung und Beschämung angewandt werden als die Geißel). V. 87–89.

Verständniskontexte und Interpretationsansätze

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Entsprechend lässt er den Schüler Julius in I,2 in seinen Schimpftiraden auf den Unterricht an Cassians Schule so lange gewähren, bis dieser sich daran macht, eines seiner Schulbücher, Ovids Metamorphosen, auf offener Bühne zu verbrennen. Dieses Überschreiten der Grenze des aus seiner Sicht Ertragbaren bringt Cassian mit den Worten nimium progreditur adolescens (V. 215) explizit zum Ausdruck. Erst jetzt schreitet er ein und lässt Julius in den Schulkarzer werfen. Um die mores boni der Schüler zu fördern, soll der Lehrer laut verschiedener jesuitischer Schulordnungen einen väterlich-liebenden Umgang mit seinen Schützlingen pflegen und hierbei dahingehend ein imitator Christi sein, dass er dessen Geduld und Nachsicht mit den Ungebildeten und Schwerfälligen nacheifere. Cassians ‚väterliche Zuneigung‘ tritt v. a. in der ersten Szene des dritten Aktes offen zutage, wo er sich vor dem historischen Hintergrund von Kaiser Julians ‚Rhetorenedikt‘95 aufrichtig um das Seelenheil seiner Schüler sorgt. Besondere Fürsorge bringt er für seinen Schützling Aeonius auf, den er im Laufe des dritten Aktes kontinuierlich auf seinem Weg zur Abkehr vom alten Glauben und zur Konversion zum Christentum begleitet. Entsprechend ruft Aeonius nach seiner Bekehrung und Cassians gewaltsamem Tod eben diesen mehrfach als parens bzw. pater an.96 Im Gegensatz zu Cassian zeigt Quintilius indes zu keinem Zeitpunkt eine fürsorglich-liebende oder väterliche Haltung gegenüber seinen Schülern, im Gegenteil, er wird von ihnen über die Maßen gefürchtet.97 Einen positiven pädagogischen Ansatz sucht man bei ihm vergeblich; sein negativ-pessimistisches Bild vom Lehrerberuf, welches er in der Auftaktszene zeichnet, steht paradigmatisch für sein Verhalten im gesamten Drama und gleichzeitig kontrastiv zu dem Cassians. Dass er im Stück zum Denunzianten seines Rektors avanciert, fügt sich passgenau in diesen Rahmen. Dennoch handelt es sich bei Cassian nicht ausschließlich um einen aalglatten, nach modernen Maßstäben romantisch verklärten, pädagogisch weichgespülten Gegenentwurf zu Quintilius, der immer nur Nachsicht, Verständnis und Milde zeigt und sich all der disziplinarischen Maßnahmen enthält, welcher sich sein Lehrerkollege nur allzu gern bedient.

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Siehe Abschnitt 6. V. 1150–1156 (vgl. auch V. 848). Siehe v. a. Szene II,1.

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Hin und wieder neigt auch er zu emotionalen Wutausbrüchen voll grobschlächtiger Schimpfwörter, Verwünschungen und Gewaltandrohungen (z. B. in II,3b). Auch er sieht sich dann, wenn sich andere Mittel als unwirksam erweisen und gewisse Grenzen überschritten werden, dazu gezwungen, zu harten disziplinarischen Maßnahmen zu greifen. Hierbei entspricht er allerdings in gewisser Weise erneut Christus, der auch nicht umhinkam, sich vereinzelt der Geißel zu bedienen (vgl. die Tempelreinigung nach Io 2,15), ein Umstand, auf den in entsprechenden Studienordnungen ausdrücklich hingewiesen wird.98 Letztlich ist allerdings beiden pädagogischen Ansätzen wenig bis überhaupt kein Erfolg beschieden. Denn abgesehen von einzelnen Lichtblicken zeichnen sich sowohl Cassians als auch Quintilius’ Schüler durch mangelnden Lerneifer und -erfolg sowie ungebührliches Verhalten aus. Mit anderen Worten, weder das vor dem Hintergrund offizieller Richtlinien negativ zu bewertende Vorgehen des Quintilius noch Cassians positive Herangehensweise fallen auf fruchtbaren Boden bei den Schülern. Lediglich in einem Fall erzielt Cassian durch sein Pädagogikkonzept Erfolge, und hierbei handelt es sich bezeichnenderweise um den im Laufe des Dramas zum Christentum konvertierenden Aeonius. Er allein weiß Cassians pädagogische Arbeit, die ausschließlich auf das Wohl der Heranwachsenden ausgerichtet ist, zu schätzen. Nur er stellt die Rechtmäßigkeit des Todesurteils gegen seinen Lehrer in Frage, während sich seine Klassenkameraden Julius und Daemonius hierüber ausgelassen freuen und es als verdiente Strafe für ihren angeblich tyrannischen Lehrer ansehen (III,8). Lediglich bei Aeonius kann Cassians ‚jesuitisches‘ Pädagogikkonzept auf fruchtbaren Boden fallen, denn nur er ist in der Lage, die übergeordneten Ziele, die sein Lehrer mit seiner bald strengeren, bald nachlässigeren Hand verfolgt, zu erkennen und wertzuschätzen. Entsprechend avanciert ausschließlich er im Drama zu einer gänzlich positiven Schüler-Figur. In Aeonius sowie seiner Interaktion mit der Titelfigur des Dramas wird somit erneut eine zentrale moraldidaktische Botschaft des Cassianus manifest: Allein diejenigen Schüler, die Bildung, gutes Benehmen und christliche Frömmigkeit in sich vereinen, kurzum das jesuitische Ideal der pietas docta verwirklichen, profitieren vom Unterricht und der Erziehung,

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Siehe MPSI II, 65.

Editions-, Übersetzungs- und Erläuterungsprinzipien

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die ihnen in ihrer Institution zuteilwird. Im Grunde genommen dürfen nur sie sich von den Worten des Epilogsprechers angesprochen fühlen: Colunt parentes, obsequuntur sedulo Monitoribus, pectus plenum sapientiae, Virtutis et eruditionis possident.99 Sie ehren ihre Eltern, sie folgen ihren Lehrern aufs Wort, sie besitzen ein Herz voller Weisheit, Tugend und Gelehrsamkeit.

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Editions-, Übersetzungs- und Erläuterungsprinzipien

Die abgedruckte Edition von Raders Cassianus basiert auf dem – soweit bisher bekannt – einzigen erhaltenen Manuskript aus der Studienbibliothek Dillingen an der Donau (Cod. Dil. XV 237, fol. 75r–118r). Sämtliche Ligaturen und Abkürzungen wurden aufgelöst, die vorgefundene z. T. sehr inkonzinne Groß- und Kleinschreibung der klassischen Norm angepasst. Die Interpunktion wurde im Lateinischen vereinheitlicht und zur Förderung der Verständlichkeit modernen Gepflogenheiten angepasst. Gleiches gilt für die vorgefundene Orthographie. So wurde u. a. die mittel- bzw. neulateinische Schreibweise -y- zu -i- bzw. -u- sowie -ij zu ii zurückgeführt.100 Die sich seit der Spätantike verbreitende Schreibung -ci- statt -ti- vor einem weiteren Vokal (das Manuskript selbst oszilliert zwischen beiden Varianten) wurde dem klassischen Usus folgend vereinheitlicht (z. B. nuntiare statt nunciare).101 Ferner wurden die unklassische Diphthongierung (z. B. foelix statt felix, caeteri statt ceteri, caede statt cede)102 sowie die Vertauschung von -i- und -y- in einem Wort (Metathese, z. B. Sybilla statt Sibylla) rückgängig gemacht. Der im Manuskript nicht zwischen u und v unterscheidende Buchstabe u wurde in der Edition differenziert. Auf Apostrophen zur Kennzeichnung von Adverbendungen oder zur Unterscheidung von langen und kurzen Vokalen wurde verzichtet.

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V. 1212–1214. Vgl. STOTZ 1996–2004, Bd. 3, §§61 und 63. Vgl. STOTZ 1996–2004, Bd. 3, §182. Vgl. STOTZ 1996–2004, Bd. 3, §§18, 67 und 70.

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Einleitung

Konjekturen wurden im lateinischen Text nur äußerst sparsam vorgenommen, um den originalen Wortlaut nicht zu verfälschen und ein möglichst authentisches Bild von den sprachlichen Eigenheiten des Autors und seines Dramenstückes zu präsentieren. Nur wenn grobe, sinnentstellende inhaltlich-logische Fehler bzw. offensichtliche Abschreibfehler vorlagen, wurden Eingriffe vorgenommen.103 Die entsprechenden Stellen

Abb. 1: Matthäus Rader SJ: Drama de Divo Cassiano, Auszug aus Szene II,3a, Studienbibliothek Dillingen an der Donau, Cod. Dil. XV 237, fol. 98r. 103

Z. B. Verbesserung von Cerebro zu Cerbero (V. 827 und 905).

Editions-, Übersetzungs- und Erläuterungsprinzipien

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werden im Erläuterungsteil diskutiert. Der originale Wortlaut wird dort ebenfalls wiedergegeben. Metrische Besonderheiten, die über die Anmerkungen in der Appendix metrica hinausgehen, sind ebenfalls kommentiert. Die im Manuskript enthaltenen Regieanweisungen wurden übernommen. In der Edition sind sie kursiv gedruckt. Z. T. mussten diese rekonstruiert werden, da die Randbemerkungen auf einigen Seiten abgeschnitten wurden (vermutlich im Zuge der Buchbindung, siehe Abb. 1). An Stellen, wo das Verständnis des Bühnengeschehens durch das Fehlen von Regieanweisungen beeinträchtigt wurde, wurden im deutschen Text Ergänzungen vorgenommen. Diese sind ebenfalls kursiv abgedruckt, aber zusätzlich durch zwei Asteriske (*…*) kenntlich gemacht. Die mitunter inkonzinnen und unvollständigen Szenenüberschriften sowie Sprecherangaben zu einer jeden Szene wurden vereinheitlicht bzw. konjektiert. Hierbei ist zu beachten, dass die Handschrift nicht jeweils alle Personen angibt, die sich in einer Szene auf der Bühne befinden, sondern lediglich diejenigen, die einen Sprechpart in derselben haben. Das unvollständige Personenverzeichnis (Dramatis personae) der Münchener Aufführung von 1594 musste an manchen Stellen ergänzt werden. Hinsichtlich der Regensburger Darbietung von 1597, deren Personenverzeichnis neben einer zentralen Übersicht für das gesamte Drama auch für jeden Akt die auftretenden Personen auflistet, wurde lediglich erstere angeführt. Die Übersetzung bemüht sich in ihrer Zielsprachenorientierung um eine möglichst gute und flüssige Lesbarkeit im Deutschen sowie um einfache und unmittelbare Verständlichkeit. Sie versucht außerdem, die zahlreichen Wortspiele und Redewendungen im Lateinischen dort, wo es möglich ist, im Deutschen nachzuahmen. Um diese Zielsetzungen zu erreichen, musste allerdings an einigen Stellen auf eine etwas freiere Übersetzung zurückgegriffen werden. Ferner waren dadurch manche Wechsel, Adaptionen oder Aktualisierungen der Sprachbilder104 bzw. erklärende Zusätze notwendig, speziell, wenn man einen spezifischen Gedankengang oder eine spezifische Komik in einer Passage beibehalten wollte. Die kommentierenden Erläuterungen zum Text wurden sparsam eingesetzt und möglichst kurzgehalten. In ihrer philologisch-historischen 104

Z. B. V. 745: sed versor apud Cimmerios. Die gewählte Übersetzung „Ich tappe im Dunkeln“ bewirkt ein unmittelbareres Verständnis als die wörtliche Übertragung des Lateinischen, „Ich halte mich bei den Kimmerern auf“.

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Ausrichtung legen sie ein besonderes Augenmerk auf die Erklärung von Namen, Realien sowie von Aspekten, deren Verständnis von im Text nicht gelieferten Hintergrundinformationen abhängig ist. Außerdem gehen die Erläuterungen z. T. auf sprachlich-stilistische, textkritische sowie metrische Phänomene ein.

Matthäus Rader SJ Drama de Divo Cassiano – Drama über den Heiligen Cassian Lateinisch/Deutsch

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Drama de Divo Cassiano

Personae Dramatis Prologus Cassianus Quintilius Paedomastyx Aeonius

hypodidascalus animadversor

Schola maiorum Iulius Oniropolus ‹Cornelius› Hercules Eleutherius, qui et Tullus Antonius Leo Horatii Romani Aemilius Dionysius Faustus Curiatii Albani Marcus Theophrastus Lucius Martius Daemonius Ocnerus ‹Sophronius›

Personenverzeichnis

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Personenverzeichnis Prologsprecher Cassian Quintilius Paedomastyx Aeonius

Unterlehrer Zuchtmeister

Oberklasse Julius Oniropolus ‹Cornelius›i Hercules Eleutherius, der auch den Tullus spielt Antonius Leo Horatier, Römer Aemilius Dionysius Faustus Curiatier, Albaner Marcus Theophrastus Lucius Martius Daemonius Ocnerus ‹Sophronius›ii

i ii

Hinzugefügt aus I,3. Da die einzige Sprechpartie des Sophronius in demjenigen Teil von I,5 zu finden ist, der laut Randbemerkung bei der Darbietung ausgelassen wurde, wird er in den Personae dramatis der Münchener Aufführung nicht genannt. Auf denselben Sachverhalt weist auch das Regensburger Personenverzeichnis mit den Worten omissa haec persona in actione est (fol. 76r) ausdrücklich hin.

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Drama de Divo Cassiano

Minorum discipulorum schola Furius Prisculus Posthumus Hostilius Barbula Ocellus Pulvillus Poetus Pamphilus Camillus Rufulus Geminus Mutius Corvinus Fabius ‹Martius› ‹Agraulus stupidus› ‹Simplicius filius stupidi› ‹Dulus famulus Cassiani› ‹Praeco› Claudius praetor Cacobulus iudices Misochristus Doryphorus sive satellites 4 Angeli Boethius Stephanophorus Martyrologus Phlox diabolus cum sociis Epilogus

Quintus Vitellius Regulus Cursor Servius

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Personenverzeichnis

Unterklasse Furius Prisculus Posthumus Hostilius Barbula Ocellus Pulvillus Poetus Pamphilus Camillus Rufulus Geminus Mutius Corvinus Fabius ‹Martius›i ‹Agraulus Dummkopf› ‹Simplicius Sohn des Dummkopfes›ii ‹Dulus Cassians Gehilfe›iii iv ‹Herold› Claudius Prätor Cacobulus (Beisitzende) Richter Misochristus Doryphorus oder vier Wachen

Quintus Vitellius Regulus Cursor Servius

Engelv Boethius Stephanophorus Martyrologus Der Teufel Phlox mit Gefährten Epilogsprecher

i ii iii iv v

Hinzugefügt aus II,1. Agraulus und Simplicius hinzugefügt aus I,6. Hinzugefügt aus I,6. Hinzugefügt aus III,9. Unter den Angeli listet das Personenverzeichnis auch noch einen Athlotheta auf, welcher aus Szene III,3 allerdings gestrichen wurde.

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Drama de Divo Cassiano

Prologus Salvete principes, stips alta principum, Salvete duces, serena Boiae sidera. Si paulisper vestra mihi vult clementia Clementes praebere aures, pauca proloquar, Actor novus, novam docebo fabulam: Quid fabulam? erravi, non dici fabulam, Historiam dici oportuit, nec ludicram. Nisi ludus sit per ludum mortem perpeti, In ludo tamen edetur, quia primarias Ludimagister partes aget, qui sanguine Almam Christi potentiam testabitur. Iam credo nomen avetis scire dramatis. Est unum nomen dramatis atque martyris, Est Cassianus ille martyr inclutus Et drama Cassianus appellabitur. Sabionensis fuit, qui primum pontifex Corusca totius lampas Tyroleos. Dein exactus illinc venit Immolam. Sullae Forum prior aetas nuncupaverat. Ibi politiores docuit litteras. Culparum castigator, innocentiae Cultor maximus; hinc invisus pueritiae, Cum Iuliani furor insanus ferveret, Abreptus ad praetoria subsellia. deum Negare iussus mage magisque praedicat. Ergo crudeli damnatus sententia Nudum pectus ferro praebere cogitur, Hoc fodiunt, sauciant, compungunt, lancinant, Pubes manus armata stilis atrocibus. Habetis delibatam summam dramatis. Cetera spectando cognoscetis planius. Iam prodit Cassianus cum hypodidascalo. Ego me recipiam intro, nihil ago iam foris.

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Prolog

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Prolog Seid gegrüßt, Fürsten, hohes Fürstengeschlecht, 1 seid gegrüßt, Herzöge, durchlauchte Gestirne Bayerns.2 Wenn mir für einen Moment eure Milde milde Ohren leihen möchte, würde ich gerne wenige Worte sagen, ich, [5] ein neuer Darsteller, würde gern ein neues Bühnenstück zur Aufführung bringen.3 Doch was spreche ich von einem „Bühnenstück“? Ich habe einen Fehler gemacht, man hätte nicht von einem „Bühnenstück“, sondern von einer „wahren Geschichte“ sprechen sollen, aber keiner heiteren. Auch wenn es kein Spaß ist, durch die Schule den Tod zu erleiden, 4 wird sie dennoch in der Schule dargeboten, da die Hauptrolle [10] ein Lehrer spielen wird, der durch sein Blut Christi gütige Macht bezeugen wird. Ihr wollt, so glaube ich, nun den Titel des Stückes wissen. Das Stück und der Märtyrer haben denselben Namen, Cassian ist jener berühmte Märtyrer, [15] und das Stück wird Cassianus heißen. Er stammt aus Säben,5 er, der zunächst als Bischof das strahlende Licht ganz Tirols war. Dann wurde er von dort vertrieben und kam nach Imola. Frühere Zeiten hatten es Forum Sullae6 genannt. [20] Dort unterrichtete er die klassischen Studien.7 Er war ein Zuchtmeister fehlerhaften Verhaltens, der glühendste Verehrer der Unschuld; daher der Jugend verhasst wurde er, als Julians wahnsinniges Wüten tobte,8 vor den Richterstuhl geschleift. Gott [25] zu leugnen befahl man ihm, mehr und mehr pries er ihn. Aus diesem Grund wurde er zu einer grausamen Strafe verurteilt und gezwungen, die entblößte Brust dem Eisen darzubieten. Diese durchbohrte, zerriss, durchstieß und zerfleischte die Schar seiner mit spitzen Griffeln bewaffneten Schüler. [30] Ihr habt nur einen Vorgeschmack von der Haupthandlung des Stückes erhalten. Das Übrige werdet ihr beim Zuschauen detailliert mitbekommen. *Cassian tritt zusammen mit Quintilius auf* Schon tritt Cassian mit seinem Unterlehrer auf. Ich werde mich nach drinnen zurückziehen. Schon spiele ich hier draußen keine Rolle mehr.

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Drama de Divo Cassiano

Scena prima partis primae (I,1) Quintilius, Cassianus Quint.: Quid, Cassiane, consulis? ego litteras Et totum litterarium negotium Missum faciam vel certe mihi canam? Cass.: Quid causae, Quintili? Quint.: quia asinos tondeo: Iam ut tute nosti, tecum sudo tertium Annum, iuventam doceo indocilem, retiam Et operam perdo. Cass.: emerget fructus posthumus. Quint.: Inanes spes, si vivus nequeo, mortuus Mederi qui potero? nullum genus hominum Hoc saeculo ludimagistris esse autumo Miserabilius, infelicius, abiectius. Etiam cubitales pueri atque infantes prope In ludo nobis audent obloqui. pudor, Verecundia, metus, honestas pridem exulant: Audacia, impudentia et protervitas Regnum impune occupant. blandiri paululum Vis diligentioribus, sese efferunt; Terrere verbis negligentes asperis, Spem desperant; si verberes, insaniunt, Gymnasio profugiunt seseque perditum Eunt. Cass.: est, ut ais, Quintili, sed est simul, Quod solari possit labores et operam: Inter malos centum reperias et bonos Aliquos saltem, qui spes promittant uberes. Nescis adolescentiae indolem, quae nescia Curae, licentiae est amantissima, iocos, Nugas, ludos quaerit futuri improvida. Odit monentes, indulgentes praedicat. A suo trahitur cupidine caecoque impete. At ubi ardor fervorque aetatis deferbuit, Tum veluti detersa mentis caligine Agnoscit praeteritum memor beneficium, Quosque prius pessime oderat, hos identidem Postea amat ardentissime, sic res habet.

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Erster Akt

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Erste Szene des ersten Aktes (I,1) Quintilius, Cassian Quint.: Wie ist deine Meinung, Cassian? Soll ich den Unterricht [35] und das Bildungsgeschäft ganz sein lassen oder doch nur mir selbst Vorträge halten?9 Cass.: Weshalb denn das, Quintilius? Quint.: Weil ich Esel schere:10 Wie du selbst weißt, mühe ich mich zusammen mit dir schon das dritte Jahr ab und lehre eine unbelehrbare Jugend, meine Mühe [40] und Anstrengung verschwende ich.11 Cass.: Der Lohn dafür wird dir nach dem Tod erwachsen. Quint.: Eine nichtige Hoffnung, denn wenn ich lebend schon keine Abhilfe schaffen kann, wie könnte ich es denn dann bitte, wenn ich tot bin? Ich glaube, dass heutzutage keine Menschengruppe elender, unglücklicher und verachteter ist als Lehrer. [45] Jungen, gerade einmal einen abgesägten Meter groß, ja fast noch Kinder, wagen es, uns in der Schule zu widersprechen. Achtung, Anstand, Ehrfurcht und Ehrbarkeit sind schon längst in die Ferne geflohen: Unverfrorenheit, Frechheit und Unverschämtheit regieren ungestraft. [50] Willst du zu den etwas Fleißigeren ein bisschen freundlich sein, werden sie übermütig; willst du die Nachlässigen mit harschen Worten einschüchtern, geben sie die Hoffnung auf; prügelst du sie, verlieren sie den Verstand, fliehen vom Gymnasium und machen sich daran, sich zugrunde zu richten. Cass.: Es ist so, wie du sagst, Quintilius, aber gleichzeitig gibt es auch etwas, [55] das deine Strapazen und Mühe lindern kann: Unter hundert Schlechten dürftest du wohl doch auch zumindest einige Gute finden, die großen Erfolg versprechen. Du kennst das Wesen einer Jugend nicht, die keine Sorge kennt, der ein ausgelassenes Leben am allerliebsten ist, die Späße, [60] Streiche und Spiele sucht und nicht an morgen denkt. Sie hasst diejenigen, die sie ermahnen; diejenigen, die ihnen gegenüber nachgiebig sind, rühmt sie. Sie lässt sich treiben von ihrem Verlangen und blinden Drang. Aber sobald sich Feuer und Hitze ihres jungen Alters abgekühlt haben,12 erinnert sie sich und erkennt, wie wenn ihr ein Schleier vom Gemüt abgestreift wurde, [65] die einstige Wohltat, und diejenigen, die sie früher auf Gedeih und Verderb gehasst hat, liebt sie später heiß und innig ohne Unterlass, so verhält sich die Sache.

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Drama de Divo Cassiano

Nihil tamen est connivendum insolentibus, Addenda sunt cessantibus calcaria. Laude alii ducuntur, alii conviciis, Et alii demum verberationibus, Urgendi sunt perurgendique desides. Quint.: Plerisque inest tanta animi contumacia Et tam proiecta audacia, ut doctoribus Palam resistere et iactare minacias Non sit pudor. vultu praeterea sunt truces, Effrontes, impudentes, torvi, tetrici. Os obtorquent, caput obnubunt, et vel nihil Rogati vel responsant contumaciter. O tempora, o mores, quis mores hos perferet? Cass: Cedendumne putas ingeniis tam perditis? Ego vero minime: puniuntor acriter Cerebrosi et refractarii discant feros Mores exuere, vincere animum, spiritus Altos premere, assuescant modestiae, colant Humanitatem, laudique et pudori serviant. Sed modus est in regenda tenera aetatula. Obtunditur nimia severitudine, Solvitur et perditur nimia indulgentia. Errata pueritiae sunt innumera, ut vides, Si attendere singula, singula velis persequi, Ulmarium nullum nec silva fascibus Sufficiet: virgas omnes usu conteres. Ad visa caecus, surdus ad audita saepius Erit magister, et quae nescit, scire, quae Scit, nescire simulabit sapientissime. Quint.: At furor eam tantus quandoque occupat, Ut velut oestro percita nil sanum cogitet. Nec ullo blanditu verborum mitior, Nec ullo verberum ictu fiat cautior. Domi parentum aures onerant mendaciis, Sese in ludo trudi, pulsari, percuti, Ac velut in carnificina laniari flagris Modisque miserandis excarnificarier.

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Erster Akt

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Dennoch darf man den Ungezogenen nicht nachgeben, die Trägen muss man anspornen. [70] Durch Lob werden die einen geleitet, die anderen durch Tadel und wieder andere dann schließlich durch Prügel, hart und immer noch härter muss man die Faulen antreiben. Quint.: Sehr vielen wohnt ein solch widerspenstiges und ein solch unmäßig freches Wesen inne, dass sie sich nicht schämen, sich ihren Doktoren [75] offen zu widersetzen und zu drohen. Außerdem schauen sie einen grimmig, unverschämt, schamlos, finster und garstig an. Das Gesicht wenden sie von einem ab, bedecken ihr Haupt, und selbst wenn sie nichts gefragt wurden, antworten sie trotzig. [80] Oh, was für Zustände! Oh, was für ein Benehmen! Wer kann dieses Benehmen noch ertragen? Cass.: Glaubst du, dass man solch verdorbenen Gemütern nachgeben sollte? Ich jedenfalls ganz und gar nicht: Diese Hitzköpfe sollen scharf bestraft werden und die Halsstarrigen sollen lernen, ihr wildes Benehmen abzulegen, ihr Gemüt zu bändigen, ihren Stolz [85] in Schach zu halten. Sie sollen sich an Zurückhaltung gewöhnen, Freundlichkeit pflegen sowie Ruhm und Anstand nacheifern. Aber bei der Erziehung des zarten Kindesalters muss man Maß halten. Durch allzu große Strenge wird es abgestumpft, durch zu große Nachgiebigkeit entfesselt und verdorben. [90] Die Fehler der Jugend sind unzählig. Du siehst ja, wenn du dich auf einzelne konzentrieren, einzelne ahnden willst, wird kein Ulmenhain 13 und auch kein Wald genug Ruten zur Verfügung stellen: Alle Ruten wirst du durch ständigen Gebrauch abnutzen. Der Lehrer wird immer öfter blind gegenüber dem, was er sieht, und taub gegenüber dem, was er hört, [95] und auf äußerst kluge Weise wird er so tun, als wüsste er, was er nicht weiß, und als wüsste er nicht, was er weiß. Quint.: Irgendwann aber befällt sie ein solcher Wahnsinn, dass sie wie von einer Bremse gestochen14 jede Vernunft verliert. Durch kein schmeichelndes Wort wird sie sanftmütiger [100] und durch keinen Prügelschlag vorsichtiger.15 Zu Hause stopfen sie die Ohren ihrer Eltern mit Lügen voll, sie würden in der Schule drangsaliert, geschlagen, geprügelt und wie auf der Folterbank mit Geißeln zerfleischt, auf klägliche Art und Weise gemartert.16

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Drama de Divo Cassiano

Patres credunt, matres dolent, plorat puer, Magistroque ingens vulgo conciliat malum, Ut vix securus vitae ex aedibus pedem Efferre audeat. Cass.: expertus sum, sed nil moror Haec odia, nil vanos hominum rumusculos Dummodo rebus prosim publicis, nam praemia Superi bonis reponent immortalia. Eamus intro beneque mereri de omnibus Pergamus: nil fit commode absque molestia. Egreditur Iulius

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Scena secunda partis primae (I,2) Iulius, Cassianus Adsit lampas vel lumen Iul.: Adest, adest spes libertatis aurea, Adest tandem, quod expetivi millies, Tempus beatum, opimum mille gaudiis. Evolvi me ex voluminibus et carcere, Evasi pistrinum, in quo annos ipsos decem Ad lumbifragium sessitavi, sudibus Affixus ut duro Prometheus Caucaso. Tuli atque pertuli, feci, quae non miser, Inquam feci, sed profeci quid? nihil. Movi lapides, fovi libros, novi quid? hoc Quod dixi, nihil, o infortunium! In ludo velut incus perpetuo verbere Pulsata sunt mihi tempora sectumque corium. Sic ludere magistri nobiscum solent, Sic terga nostra ludum faciunt ludicrum, Ad tales ludos infelices cogimur. Vultin’ sortem nostram planius edisseram? Tullius in vitam si redeat, haud assequi Ducat, quid in ludo aetas tenera perferat.

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Erster Akt

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[105] Die Väter glauben’s, die Mütter schmerzt’s, es plärrt der Junge. 17

Und in der Öffentlichkeit machen sie den Lehrer ganz und gar schlecht, sodass er es nur noch unter Lebensgefahr wagt, einen Fuß vor die Tür zu setzen. Cass.: Ich weiß. Aber ich lasse mich von diesem Hass, von diesem leeren Geschwätz der Leute nicht beirren, [110] solange ich nur dem Gemeinwesen nutze, denn die Himmlischen werden gutes Handeln mit unsterblichem Lohn vergelten. Lass uns nach drinnen gehen und damit fortfahren, uns bei allen wohl verdient zu machen: Nichts wird gut ohne Beschwernis. *Beide ab*; Julius tritt auf Zweite Szene des ersten Aktes (I,2) Julius, Cassian Eine Lampe oder Feuerquelle soll sich auf der Bühne befinden Jul.: *zunächst allein* Sie ist da, sie ist da, die goldene Hoffnung auf Freiheit, [115] sie ist endlich da, die selige Zeit, die ich tausendfach herbeigewünscht habe, reich an tausend Freuden. Ich habe mich vom Bücherwälzen und aus dem Karzer18 davongewälzt, ich bin der Stampfmühle19 entkommen, in der ich ganze zehn Jahre lang bis zum Lendenbruch20 festgesessen habe, an Pfähle [120] gebunden wie Prometheus21 an den harten Kaukasus. Ich habe es ertragen und durchgestanden; was ich gemacht habe, habe ich nicht schlecht gemacht, ja ich sage „ich habe es gemacht“, aber welche Fortschritte habe ich gemacht? – Keine. Berge habe ich verlegt, Bücher gehegt, welches Wissen aber zugelegt?22 Allein das, was ich schon gesagt habe: keines. Oh, was für ein Unglück! [125] In der Schule wurden mir meine Schläfen wie ein Amboss durch ständiges Schlagen behauen und die Haut zerfetzt. Auf diese Weise pflegen die Lehrer mit uns zu spielen, auf diese Weise treiben sie mit unseren Rücken ein lustiges Spiel, zu solchen Spielen werden wir Unglücklichen gezwungen. [130] Wollt ihr, dass ich unser Los noch detaillierter beschreibe? Wenn Tullius wieder lebendig werden würde,23 hielte er es für unfassbar, was die zarte Jugend in der Schule erleidet.

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Drama de Divo Cassiano

Hiscit puer, gliscit furore carnifex. Verbum dicit, praeceptor verberibus tonat. In syllaba haesitat, fuit, abest horulam, Horam miser pulsatur integram. fuit Negotiis retentus in domesticis, Nulla fides est, quia nec iurato creditur. Tardius accedit ad supplicium, truditur. Non scripsit, tergum virgis mox conscribitur. Quid nomina referam, quibus nos afficit? Liber in terram lapsus: quid ludis, furcifer? Calamus stridet: taces illincne, verbero? Charta crepat: quid turbas isthinc, flagrio? Rideo: mox flebis, verberabilissime. Fleo: abstergam tibi, scelus, pugnis lacrimas. Huiusmodi blanditur nobis laudibus. Taceo quiescoque, reprehendit non minus: Quid stas, caudex? quid, trunce, taces? quid sessitas? Quid actitas, mastigia? apage hinc in crucem, Flagritriba, pasce corvos, monstrum! talibus Quotidie ornamur pueri encomiis. Crucem, crucem inquam malim, quam trucem senem Promissa barba, fronte saeva cernere. Quid hic fero? quid gero manu? librum: o malum! Hic liber omnem mihi libertatem abstulit. Quid vero libri est? Naso. a naso pendeat. Ecquae tandem est inscriptio voluminis? Sunt transmutationum libri quindecim. Mala dii boni inscriptio! debuerant ita Dici mendaciorum libri quindecim, Quot monstra, quot monstrorum plaustra continet. Nil pingi, nihil fingi, nil concipi Tam absurdi animo potest, quod hic absiet.

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Erster Akt

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Es muckt der Junge, es zuckt im Zorn der Schinder. Er sagt ein Wort, der Lehrer donnert mit Prügel. [135] Er hängt bei einer Silbe, das war’s, er fehlt ein Stündchen, eine ganze Stunde lang wird der Elende geprügelt. Wurde er durch Aufgaben zu Hause aufgehalten, glaubt man ihm nicht, weil ihm nicht einmal unter Eid geglaubt wird. Schreitet er zu langsam zur Bestrafung, treibt man ihn an. [140] Hat er nicht geschrieben, wird sein Rücken bald mit Ruten beschrieben. Soll ich auch noch Schimpfnamen nennen, mit denen er uns belegt? Ein Buch ist zu Boden gefallen: „Was spielst du da herum, du Lump?“ Der Schreibgriffel kratzt: „Schweigst du nicht gleich, du Halunke?“ Das Papier raschelt: „Was ist das für eine Unruhe dort, du Rutenopfer?“ [145] Ich lache: „Bald wirst du weinen, die Rute hast du dir mehr als verdient.“ Ich weine: „Ich werde dir, Bengel, die Tränen mit Schlägen abwischen.“ Durch derartige Lobreden wird uns geschmeichelt. Schweige ich und bin ruhig, tadelt er nicht weniger: „Was stehst du da herum wie ein Klotz? Was schweigst du wie ein Baumstamm? Was sitzt du da herum? [150] Was treibst du da, du Taugenichts? Los, du Rutenabnutzer,24 ans Kreuz mit dir, mäste die Raben, du Scheusal!“ Mit solchen Lobreden werden wir Jungen täglich gerühmt. Das Kreuz, ja das Kreuz sage ich, möchte ich lieber vor Augen haben als den grausigen Alten mit seinem herabhängenden Bart und seiner finsteren Miene. [155] Doch was trage ich hier mit mir herum? Was halte ich da in der Hand? Ein Buch: oh, welch ein Übel! Dieses Buch hat mir sämtliche Freiheit geraubt.25 Was aber ist das für ein Buch? Der Naso.26 Die Nase soll er rümpfen über sich. Und wie lautet schließlich der Titel dieses Bandes? Es sind die fünfzehn Bücher der Verwandlungen.27 [160] Ihr guten Götter, ein schlechter Titel! Man hätte sie eher fünfzehn Bücher der Lügen nennen sollen, so viele Schauermärchen, so eine große Menge an Schauermärchen beinhalten sie!28 Von keinem noch so Hirnverbrannten kann etwas ausgemalt, etwas erfunden, etwas ersonnen werden, was hier nicht zu finden ist.29

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Drama de Divo Cassiano

Audite, audite, obsecro, quid fiat in scholis: Qui mendacia plura et maiora cudere, Qui mentiri, inquam, didicit optime, hic decus, Hic laudem, hic palmam fert, hic hic prae ceteris Processus factitasse fertur maximos. „In nova fert animus mutatas dicere formas Corpora.“ quae formae in quae mutantur corpora? Mercurius in furem. crebra est mutatio. Formicae in homines. hinc tam parvi existimus. Iuppiter in serpentem, in taurum, avem et arietem. Iuno in anum. Bacchus in caprum. quae numina Colimus? Ulyssi socii in porcos credimus. Nulla reor crebrior iam metamorphosis est. Avarus in lupum, Pythagoras in asinum. Hae metamorphoses non plane sunt futiles. At multo certiores ego possum edere. Cassianus egreditur Pueri mutantur in senes. Cass.: verissimum. Iul.: Senes rursum in pueros. Cass.: nil verius. Iul.: Dives non raro in pauperem. Cass.: certissimum. Iul.: Sed pauper raro in divitem, bonus in malum, at Malus in bonum vix unus uno saeculo. Sapientes in stultos vertuntur saepius. Stulti in sapientes aut numquam aut rarissime. In mortuos vivi, in vivos haud mortui. Cass.: Oracula fundit iam, non cudit fabulas. Iul.: Placet haec metamorphosis? sunt plures id genus. At in ludo gymnastico nullane fit Metamorphosis? quando virgae in plumas? nihil. In fistulas calami, in pulvinaria libri? Frustra spero. rarae rarae fiunt (pro dolor!) Mutationes eiusmodi, sed frequens: In sutorem doctor, nos in pelles, cutem, Corium, ille in fabrum, nos in incudem. Cass.: audio.

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Erster Akt

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[165] Hört, ja hört, ich flehe euch an, was in den Schulen vor sich geht:

Derjenige, der am besten gelernt hat, sich zahlreichere und größere Lügen auszudenken, kurzum zu lügen, der erwirbt sich Ruhm, der erwirbt sich Ehre, der erwirbt sich die Siegestrophäe,30 von diesem, ja von diesem sagt man, er habe vor allen Übrigen die größten Fortschritte gemacht. [170] „Mich treibt es, von der Verwandlung von Wesen in neue Körper zu singen.“31 Welche Wesen werden in welche Körper verwandelt? Merkur in einen Dieb.32 Das ist eine häufige Verwandlung. Ameisen in Menschen.33 Deshalb sind wir so klein. Jupiter in eine Schlange, in einen Stier, in einen Vogel34 und einen Widder.35 [175] Juno in ein altes Weib.36 Bacchus in einen Ziegenbock.37 Was für Götter verehren wir da? Die Gefährten des Odysseus werden, so glauben wir, in Schweine verwandelt. 38 Ich glaube, es gibt keine häufigere Metamorphose. Der Mordlüsterne in einen Wolf, 39 Pythagoras in einen Esel.40 Das sind nicht gänzlich nichtige Metamorphosen. [180] Aber ich könnte noch viel glaubhaftere nennen. Cassian tritt auf Knaben verwandeln sich in Greise. Cass.: *zunächst noch im Hintergrund* Das ist vollkommen wahr. Jul.: Greise wiederum in Knaben. Cass.: Nichts ist wahrer. Jul.: Ein Reicher nicht selten in einen Armen. Cass.: Vollkommen richtig. Jul.: Aber selten ein Armer in einen Reichen, ein Guter in einen Schlechten, [185] kaum ein einziger Schlechter in einem Zeitalter aber in einen Guten. Weise verwandeln sich allzu oft in Dumme, Dumme in Weise entweder niemals oder höchst selten. Lebende in Tote, Tote nicht in Lebende. Cass.: Jetzt bringt er schon Orakelsprüche hervor, er erdichtet keine Märchen. Jul.: [190] Gefällt euch diese Metamorphose? Es gibt noch mehr von dieser Sorte. Ereignet sich aber im Gymnasium keine Metamorphose? Wann verwandeln sich Ruten in Federn? Niemals. Schreibgriffel in Flöten, Bücher in Kissen? Ich hoffe vergebens. [195] Solche Verwandlungen finden selten, ja selten statt (oh, wie schade!), häufig allerdings diese: in einen Schuster der Doktor, wir in Leder, Fell oder Haut; jener in einen Handwerker, wir in einen Amboss. Cass.: Ich bin ganz Ohr.

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Drama de Divo Cassiano

Iul.: Nos in oves, ille in tonsorem. Cass.: tondebo te. Iul.: Quotidie haec fiunt prodigia nec ullus est Finis modusve rebus perditissimis. Sonant verba, tonant verbera. nil nisi lacrimae, Luctus, gemitus, fremitusque et lamentatio Scholae per omnes audiuntur angulos. Sic tractat, sic mactat nos afflictissimos Senex ille Acheronticus. Cass.: audax oratio. Iul.: Herum quaeram, scholas Musasque deseram. Cass.: Si in te situm sit. Iul.: sat diu miser fui. Cass.: Si faxis, eris semper. Iul.: da sodes lampadem. Ego Nasonem in divum referam numerum hodie. Deum creabo ex homine, Vulcanus hodie Fies Naso: haec metamorphosis pulcherrima est. Utinam quicquid ubique est librorum, voluminum, Chartarum adesset, uno cuncta incendio Absumerem cum funere splendidissimo. Cass.: Nimium progreditur adolescens! poenas dabit. Accedam propius, affabor, prendam manu. Iul.: Ardet Naso, mutaris Naso in numina. Vade nec invideo, sine me liber ibis in ignem. O dulce, o gratum, o optatum spectaculum. Cass.: Quid hoc, Iuli? quid actitas? uris libros? Iul.: Magicos nempe et tinctos Galilaeorum artibus. Cass.: Cedo, videam. Iul.: iam flamma voravit litteram. Cass.: Ha tamen incolumis est titulus. Iul.: perii miser. Cass.: Ovidii Metamorphoseon libri, lege, Iuli, siccine pangis mendacia? Iul.: in scholis

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Erster Akt

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Jul.: Wir in Schafe, jener in einen Scherer. Cass.: Scheren werde ich dich. Jul.: Täglich geschehen diese Wunderdinge, und kein [200] Ende und kein Maß gibt es für diese elendsten Vorgänge. Es tönen die Worte, es dröhnen die Schläge!41 Nichts als Tränen, Trauer, Jammer, Lärmen und Klage hört man in allen Winkeln der Schule. So behandelt, so misshandelt uns vollkommen Gepeinigte [205] dieser alte Teufel.42 Cass.: Eine gewagte Rede. Jul.: Ich will mir einen Herrn suchen, den Unterricht und die Musen will ich verlassen. Cass.: Wenn dies nur bei dir läge. Jul.: Lange genug war ich elend dran. Cass.: Wenn du das tust,43 wirst du es für immer sein. Jul.: *zu dem Zuschauer, bei dem die Lampe steht* Gib mir bitte die Lampe. Ich werde den Naso heute der Zahl der Götter hinzufügen. [210] Einen Gott werde ich aus einem Menschen machen, zu Vulkan wirst du, Naso, heute gemacht. Das ist eine wunderschöne Metamorphose. Wäre doch nur alles, was es allerorten an Büchern, Bänden und Blättern gibt, hier, ich würde mit einem einzigen Brand alles in einer wunderbar prächtigen Leichenfeier vernichten. *Zündet das Buch an* Cass.: [215] Zu weit geht der Junge! Er wird dafür büßen. Ich will etwas näher herangehen. Ich werde ihn ansprechen und ihn ergreifen. Jul.: Naso brennt, Naso verwandelt sich in einen Gott. Geh dahin, Buch, ich neide dir nicht, ohne mich wirst du ins Feuer gehen. 44 Oh, welch entzückendes, oh, welch willkommenes, oh, welch ersehntes Schauspiel! Cass.: [220] *laut zu Julius* Was soll das, Julius? Was machst du da? Verbrennst du Bücher? Jul.: *verlegen* Freilich welche über Magie und solche, die in die Künste der Galiläer getaucht wurden. Cass.: Zeig her, das will ich sehen. Jul.: Die Flamme hat die Schrift bereits verzehrt. Cass.: Ha, der Titel ist aber noch unversehrt. Jul.: Ich bin elendig verloren. Cass.: Ovids Bücher der Metamorphosen, lies, [225] Julius! Solche Lügen denkst du dir aus? Jul.: Im Unterricht habe ich das gelernt.

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Drama de Divo Cassiano

Didici. Cass.: in scholis dedisces iterum. huc sis veni! Ego transformabo ex pessimo te in optimum, Ex mandaci in veridicum, ex nequissimo In laudatissimum adolescentulum. veni, Ego tibi sutor, sartor, tonsor, faber Ero. Iul.: modo ne sis carnifex, cetera feram. Cass.: Ad caveam perge, verbero. Iul.: haud tamen reor Occides. Cass.: occisissimus es, puer improbe. Egreditur Oniropolus cum ‹sociis›

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Scena tertia ‹partis primae› (I,3) Oniropolus, Cornelius, Daemonius, Lucius, Faustus, Ocnerus, Leo, Martius, Antonius, Dionysius, Marcus, Hercules, Aemilius Onir.: Agite, commilitones, quas heri scholas Audivistis? Corn.: de somniis. Onir.: de somniis? 235 Quid somniavit somniator Cassius? Ego abfui. Corn.: causas quaesivit somnii. Onir.: Quas invenit? Corn.: naturam ipsam et sacra numina. Onir.: In hac arte magistro palmam haud concessero. Ponite sultis quaecumque occurrunt somnia. 240 Certissimus coniector ero et verissimus. Nam infinita egomet somniavi somnia, Quorum eventus probe notavi singulos. Daem.: Experiamur, Oniropole. ego nocte proxima Videbar mihi factus Tau magna littera. 245 Onir.: In crucem ageris miser, crucem haec littera notat. Daem.: Interpreti eveniat interpretatio. Onir.: Exitus acta probabit. Luc.: Oniropole, dic. Onir.: quid est?

Erster Akt

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Cass.: Im Unterricht wirst du das auch wieder verlernen. Komm doch bitte hierher! Ich werde dich vom Schlechtesten in den Besten verwandeln, vom Lügner in einen Ehrlichen, vom nichtsnutzigsten in den am meisten zu rühmenden Jungen. Komm, [230] ich werde dir ein Schuster, Schneider, Scherer und Handwerker45 sein. Jul.: Solange du kein Schinder bist, werde ich das Übrige ertragen. Cass.: Los, in den Karzer mit dir, Bengel. Jul.: Trotzdem glaube ich nicht, dass du mich verprügeln wirst. Cass.: Windelweich wirst du geprügelt, nichtsnutziger Bursche. *Beide ab*; Oniropolus tritt mit Gefährten auf Dritte Szene ‹des ersten Aktes› (I,3) Oniropolus, Cornelius, Daemonius, Lucius, Faustus, Ocnerus, Leo, Martius, Antonius, Dionysius, Marcus, Hercules, Aemilius Onir.:46 Wohlan meine Schulkameraden, welchen Unterrichtsstoff [235] habt ihr gestern gehört? Corn.: Etwas über Träume. Onir.: Über Träume? Was hat der Träumer Cassius geträumt? 47 Ich war nicht da. Corn.: Er fragte nach den Gründen für einen Traum. Onir.: Welche hat er gefunden? Corn.: Die Natur selbst und heilige göttliche Mächte. Onir.: In dieser Kunst werde ich unserem Lehrer den Sieg48 nicht überlassen. [240] Legt mir, wenn ihr Lust habt, alle Träume dar, die euch begegnet sind. Ich werde der zuverlässigste und wahrhaftigste Deuter sein. Denn ich selbst habe unzählige Träume geträumt, deren jeweiliges Ergebnis ich säuberlich vermerkt habe. Daem.: Lasst es uns versuchen, Oniropolus. Letzte Nacht [245] schien ich in ein großes Tau49 verwandelt worden zu sein. Onir.: Man wird dich ans Kreuz schlagen, du Elender, für das Kreuz steht dieser Buchstabe. Daem.: Dem Deuter soll diese Deutung zukommen. Onir.: Der Ausgang wird bestätigen, was geschehen ist. Luc.: Oniropolus, sprich. Onir.: Was ist?

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Drama de Divo Cassiano

Luc.: Ego visus sum in longam extendi litteram. Onir.: Tu suspenderis, Luci, sic sanctissimus Vates vaticinatur Plautus. Luc.: sunt somnia. Onir.: Sunt omina, immo sunt oracula Apollinis. Faust.: Enarrato meum, si potes. Onir.: expone sis. Faust.: Aures putavi me gestare plurimas, Non longas tamen illas, sed omnes perbreves. Quas quidam omnes ictu amputavit unico. Onir.: Faustum est hoc, Fauste, et infaustum praesagium. Faust.: Qui nosti? Onir.: servitutem longam servies, Hoc aures dictitant, quibus voces heri Ac imperia dominorum multa exaudies. Sed servitute tandem liberaberis. Hoc praecisae docent aures ictu unico. Faust.: In quo ludo tantus coniector factus es? Onir.: Observatio me vatem tantum reddidit. Sed vos nihilne somniastis? Mart.: plurima. Ocne.: Ego sicut Faustus me non tam auritum quidem, Sed geminis tamen longissimisque auctum auribus Persensi. Onir.: tu quidem non servus, sed asinus Plane fies. Ocne.: asini haec est coniectatio. Leo: Ego nuper, Oniropole, naso carere me Putabam: quid subest hic ominis? Onir.: nihil Fausti. Leo: quare? Onir.: quia morieris. Leo: hoc prius Noram neque te tua auguria morte eximent.

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Erster Akt

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Luc.: Es schien mir, als sei ich zu einem langen Buchstaben gestreckt worden. Onir.: [250] Man wird dich, Lucius, aufhängen, so prophezeit es unser höchstehrwürdiger Prophet Plautus.50 Luc.: Das sind doch nur Träume. Onir.: Das sind Vorzeichen, ja es sind sogar Orakelsprüche Apollos. Faust.: Deute mir meinen, wenn du kannst. Onir.: Schildere ihn mir bitte. Faust.: Mir war, als hätte ich unzählige Ohren, [255] keine langen, sondern alle sehr kurz. Diese trennte mir jemand allesamt mit nur einem einzigen Streich ab. Onir.: Das ist zugleich, mein Faustus,51 ein faustdickes glückliches wie unglückliches Vorzeichen. Faust.: Wie kannst du das wissen? Onir.: Du wirst lange Frondienst tun, das bedeuten die Ohren, mit denen du die Worte deines Herrn [260] und die vielen Befehle deiner Herren vernehmen wirst. Letztlich aber wirst du aus dem Frondienst befreit. Das verkünden die Ohren, die mit nur einem einzigen Streich abgetrennt wurden. Faust.: In welcher Schule bist du zu einem solch großen Traumdeuter geworden? Onir.: Die Beobachtung hat mich zu einem solch großen Seher gemacht. *Zu den Übrigen* [265] Aber habt ihr nichts geträumt? Mart.: Ganz viel. Ocne.:52 Wie Faustus habe ich wahrgenommen, dass ich zwar nicht so viele Ohren habe, beide aber überaus lang wurden. 53 Onir.: Du freilich wirst ganz sicher nicht zu einem Diener, sondern zu einem Esel. Ocne.: Eines Esels Deutung ist das. Leo: [270] Ich habe neulich geglaubt, mein Oniropolus, dass ich keine Nase mehr habe. Was verbirgt sich hinter diesem Vorzeichen? Onir.: Nichts Erfreuliches. Leo: Weshalb? Onir.: Weil du sterben wirst. Leo: Das wusste ich bereits davor und auch dich werden deine Hellsehersprüche nicht vom Tod ausnehmen.

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Drama de Divo Cassiano

Onir.: Scio, sed tu mox, ego annos vivam plurimos. Nasus primum tabo assumitur, hinc mortem canit. Mart.: Oniropole, meum quid portendit somnium? Onir.: Quod est? Mart.: manus me habere longissimas Rebar. Onir.: vel rex, Marti, vel fur fies brevi. Nam regum sunt longae manus. de furibus Nihil est, quod ambigas, ad furta commodant. Ant.: Ego me vidi Boiae creatum principem. Onir.: Inane somnium. quid frustra somnias? Ant.: Non est adynaton. Dion.: ego per somnium Multis videbar stipari clientibus, Quos tanto amore fovi, ut sanguine pascerem. Onir.: Grex iste alumnorum tuorum sunt pedes Et pulices; pannosus, mendicus, sacer Et miser eris, haec est somnii interpretatio tui. Marc.: Mi cerebrum nuper putabam excuti. Onir.: Stultus fies propediem, Marce, nam hi carent Cerebro. Herc.: sagaciter coniectat omnia. Onir.: Sed quis meum potest divinare somnium. Aemil.: Coniectorem audies, si visum panderis. Onir.: Caballo insedi strenuo et fortissimo. Simul tamen ac equitare coepi, me dolor Ingens invasit et partes eas, quibus Equi tergum pressi, laesi gravissime. Diu post mente saepe revolvi somnium Nec illud cogitando quivi umquam assequi. Aemil.: Facilis est coniectura somnii. Onir.: dic per deos. Aemil.: Verbera significant, ad verbera tergum para. Haec ipsa vox caballi tibi denuntiat. Onir.: Dii averruncent isthaec saeva verbera.

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Onir.: Das weiß ich, aber für dich ist es bald so weit, ich dagegen werde noch viele, viele Jahre leben. [275] Die Nase wird von der Verwesung als erstes zersetzt, das kündigt den Tod an. Mart.: Oniropolus, was bedeutet mein Traum? Onir.: Was war es für einer? Mart.: Ich hatte den Eindruck, ich hätte überaus lange Hände. Onir.: Entweder du wirst in Kürze ein König, mein lieber Martius, oder ein Dieb. Denn die Hände von Königen sind lang. Bei Dieben [280] besteht kein Zweifel, ihre sind zum Stehlen gemacht. Ant.: Ich habe gesehen, dass ich zum Herrscher über Bayern gemacht wurde.54 Onir.: Ein nichtiger Traum. Was träumst du dummes Zeug? Ant.: Es ist nicht unmöglich. Dion.: Es schien mir im Traum, als würde ich von vielen Untertanen umringt, [285] die ich mit solcher Zuneigung hegte, dass ich sie mit meinem Blut nährte. Onir.: Diese Schar deiner Schutzbefohlenen sind Läuse und Flöhe. Armselig und in Lumpen gekleidet, verabscheut55 und elend wirst du sein, das ist die Deutung deines Traums. Marc.: Ich glaubte neulich, dass mir mein Gehirn entrissen würde. Onir.: [290] Du wirst in den nächsten Tagen ein Dummkopf, Marcus, denn die haben kein Gehirn. Herc.: Scharfsinnig deutet er alles. Onir.: Aber wer kann meinen eigenen Traum auslegen? Aemil.: Du wirst einen Deuter hören, wenn du dargelegt hast, was du gesehen hast. Onir.: Ich saß auf einem wackeren und sehr kräftigen Pferd. [295] Sobald ich aber zu reiten begann, fuhr ein starker Schmerz in mich und ich habe die Körperteile, mit denen ich den Rücken des Pferdes beschwerte, ziemlich heftig verletzt. Später habe ich über diesen Traum oft lange nachgedacht, aber bei allem Überlegen konnte ich ihn zu keinem Zeitpunkt verstehen. Aemil.: [300] Die Deutung des Traums ist einfach. Onir.: Sprich, bei den Göttern! Aemil.: Es bedeutet Prügel, bereite deinen Rücken auf Prügel vor. Eben dies kündigt dir die Weissagung des Pferdes an. Onir.: Die Götter mögen diese grausamen Prügel abwenden.

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Drama de Divo Cassiano

Scena quarta ‹partis primae› (I,4) Iulius, Eleutherius, Theophrastus et superiores, Cassianus, Paedomastyx Arma sint ‹***› prompta Iul.: Quae hora, Eleutheri? cecinitne classicum? Eleuth.: Nondum. Iul.: quantum superest? Eleuth.: semihora circiter. Aemil.: Relinquamus somnia. quid proxime de Livio Explanatum est? Herc.: historia de Curiatiis Et Horatiis trigeminis illis fratribus. Iul.: Narra sodes, nam singularis gratia est Tibi narrandi fabulas. Herc.: quid fabulas? Non est haec fabula. Iul.: recte. Herc.: narret Livius. Iul.: Non assequor, tu verbis familiaribus Exponito. Herc.: summam edictabo, si placet. Omnes: Placet. Herc.: auriti ergo omnes facite silentium. Iul.: Fare, age, tacemus. Herc.: Tullus, rex Quiritium, Hostilius inquam tertius ille a Romulo, Raptas ab Albano res repetit sibi suas. Albanus contra a Romanis rapta exigit. Sed frustra, neuter asportata reddere Vult alteri, nec Tullus nec Cluilius. Hinc bellum atque duellum oritur atrocissimum Summaque vi virisque parant exercitus. Tullus legiones educit Martias. Albanas Mettius ductat Suffetius. Postquam utrimque exitum est maxima copia, Dispertiti viri, dispertiti ordines, Romani more suo legiones instruunt,

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Vierte Szene ‹des ersten Aktes› (I,4) Julius, Eleutherius, Theophrastus und die Vorigen, Cassian, Paedomastyx Waffen sollen parat sein; *Cassian und Paedomastyx zunächst noch abwesend* Jul.: Wie viel Uhr ist es, Eleutherius? Hat es schon geläutet? Eleuth.: [305] Noch nicht. Jul.: Wie viel Zeit bleibt noch? Eleuth.: Ungefähr eine halbe Stunde. Aemil.: Lassen wir die Träume beiseite. Was wurde zuletzt im Hinblick auf Livius erklärt? Herc.: Die Geschichte über die Drillingsbrüder der Curiatier und Horatier. Jul.: Erzähl bitte davon, denn du besitzt eine einzigartige Gabe, [310] Geschichten zu erzählen. Herc.: Was sprichst du von Geschichten? Das ist keine Geschichte. Jul.: Recht hast du. Herc.: Livius soll sie erzählen. Jul.: Den verstehe ich nicht, schildere du es in verständlichen Worten. Herc.: Ich werde das Wichtigste zusammenfassen, wenn ihr möchtet. Alle: Das möchten wir. Herc.: Alle also, die Ohren haben, sollen schweigen. Jul.: [315] Sprich, los, wir schweigen. Herc.:56 Tullus, der König der Römer,57 den Hostilius meine ich,58 der dritte seit Romulus, fordert seinen vom Albaner geraubten Besitz zurück.59 Der Albaner hingegen will das von den Römern Geraubte zurückhaben. Aber vergeblich, keiner von beiden will dem anderen das Geraubte zurückgeben, [320] weder Tullus noch Cluilius.60 Daher entbrennt ein Krieg und ein überaus heftiger Kampf. Sie stellen Heere von großer Stärke und Zahl zusammen. Tullus führt die Legionen des Mars heraus, Mettius Suffetius 61 führt die der Albaner. [325] Nachdem man auf beiden Seiten in großer Stärke aufmarschiert ist,62 Männer verteilt worden sind, Reihen verteilt worden sind, stellen die Römer, wie sie es gewohnt sind, ihre Legionen auf,

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Drama de Divo Cassiano

Albani contra pubem item suam suo More, dein imperatores ambo exeunt. Extra turbam ordinum colloquuntur simul, An tota castra totis castris opponere Velint vel pugnam tradere paucioribus, Ne cognatae gentes simul ambae concidant. Placet rem totam tergeminis committere fratribus Gentique toti parcere: stat sententia. Convenit utri victi sint eo proelio, Urbem, agros, aras, focos, seque uti dederent. Hoc postquam actum est, Horatii et Curiatii Utrimque stante exercitu in campum exeunt. Hinc tres, tres illinc consistunt pari gradu. Tubae canunt, clamores utrimque efferunt. Quisque hortatur suos, demum concurritur. Pro se quisque id, quod quisque potest et valet, Edit, ferit, pugnat, fremit, aere fulminat. Spectatores perfusi horrore contremunt Et spe suspensa torpent animis anxii. Hi ferro cernunt, tela frangunt, rem gerunt Fortiter. Horatii primum gemini cadunt, Tres vulnerantur Albani, clamor oritur. Supersunt quattuor: Romanus unicus, Sed integer is fugam capessit primitus, Ut coniunctos divelleret tres. dein pede Converso in vulneratos ingruit ferox Primumque caedit illico, mox alterum Ac tertium victorque fert victoriam Imperiumque suis, servitutem aliis parit. Et cum triumpho et acclamationibus Repetit urbem auctam sceptris et potentia. Theo.: Nihil hac auditione audivi suavius. Eleuth.: Quid si referremus pugnam, adsunt satis, Qui tergeminum vicem expleant. ego Tullus ero, tu, Hercules, Suffetius. Leo, Antonius, Aemilius Romani Horatii; Faustus, Dionysius, Marcus Curiatii. Reliqui geminos repraesentent exercitus.

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die Albaner auf der anderen Seite ebenso ihre jungen Männer nach ihrer Gewohnheit, dann treten beide Feldherren hervor. [330] Sogleich bespricht man außerhalb der Schlachtordnung miteinander, ob sie die ganze Truppe der ganzen Truppe entgegenstellen oder die Schlacht einigen wenigen übertragen wollen, damit die verwandten Völker nicht beide zugleich fallen. Man beschließt, die ganze Entscheidung auf zwei Gruppen von Drillingsbrüdern zu übertragen [335] und das Volk als Ganzes zu schonen: Fest steht die Entscheidung. Man kommt überein, dass diejenigen von beiden Seiten, die in dieser Schlacht besiegt würden, ihre Stadt, ihr Land, ihre Altäre, ihre Feuerstellen und sich selbst übergeben sollen. Nachdem dies ausgehandelt wurde, treten die Horatier und Curiatier, das Heer auf beiden Seiten stehend, auf das freie Feld hervor. [340] Hier machen drei, drei dort im Gleichschritt Halt.63 Trompeten erschallen, Geschrei erhebt sich auf beiden Seiten. Ein jeder feuert die Seinen an, dann endlich trifft man aufeinander. Ein jeder schleudert, wirft, streitet, brüllt und lässt mit dem Schwert niederdonnern, was ein jeder kann und vermag. [345] Von Schauder erfüllt erzittern die Zuschauer und in gespannter Erwartung erstarren sie voll innerer Angst. Jene aber kämpfen mit dem Schwert, lassen Speere zerschellen, führen ihre Aufgabe tapfer aus. Zwei Horatier fallen als Erste, die drei Albaner werden verwundet, Geschrei erhebt sich. [350] Noch vier sind übrig: von den Römern nur noch einer. Unversehrt aber ergreift dieser zunächst die Flucht, um den Dreierblock auseinanderzureißen. Dann wendet er sich um und greift die Verwundeten mutig an. Den ersten schlägt er sogleich nieder, bald auch den zweiten [355] und den dritten und trägt als Sieger den Sieg davon, verschafft den Seinen die Herrschaft, den anderen die Sklaverei. Und er geht im Triumphzug und unter jubelnden Zurufen wieder in Richtung der Stadt zurück, die gewachsen ist an Herrschaft und Macht. Theo.: Ich habe noch nie etwas Angenehmeres als diesen Vortrag gehört. Eleuth.: [360] Wie wäre es, wenn wir die Schlacht nachstellten? Es sind genug da, die die Rolle der Drillingsbrüder ausfüllen können. Ich werde Tullus sein, du, Hercules, Suffetius. Leo, Antonius und Aemilius, ihr seid die römischen Horatier; Faustus, Dionysius und Marcus die Curiatier. [365] Die Übrigen sollen die beiden Heere darstellen.

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Drama de Divo Cassiano

Vos duo quantocius intro abite et gladios Una cum galeis et scutis depromite. Quibus fortia tueantur pectora milites. Prodite vos in medium, componite ordines. Herc.: Audi iam, Tulle Hostili, quando res nequit Aliter conciliari nisi vi, ferro, manu, Parcatur militi, legantur singuli, Tres utrimque, penes quos steterit victoria, Horum populus victor fuat, alter pereat. Tull.: Haec pugnae lex sit, tres adsunt Horatii. Herc.: Et hic tres sunt Curiatii. Tull.: canant tubae. Herc.: Modeste tamen, ut ne magister sentiat Et nobis pro virtute solvat praemia. Tull.: Vincite, victores animi, et nobis auream Libertatem virtute vestra condite. Herc.: Io victoriam, io io victoriam. Albani: Albani simul clamant Io victoriam, io io victoriam. Herc.: Cecidere gemini Horatii: iam vicimus. Tull.: Horati, ne cede malis! esto audentior! Leo: Abi ad inferos, salutem caesis nuntia. Egreditur Cassianus Cass.: Quid vult hinc clangor et clamor? quid facitur hic? Pugnatur in gymnasio? proh scelus, quid est Hoc facti? quae nubes coacta pulveris? Vos proeliari in publico auditorio? Vos, vos inquam, qui classem habetis principem? Quos ceteris oportebat modestia Et laude virtutis praelucere omnibus. Quid factitastis? Tull.: edidimus spectaculum. Cass.: Faxo nunc, omnibus ut sitis spectaculo. Heus Paedomastyx, hosce in caveam ducito. Tres ipsos soles, lunas totidem sint ibi, Ad mensam praebe frigidam et nasturtium, Cererem modicam adiungito, donec ferociam Discant ponere, docebo ego vos proelia.

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*Zu zwei Umstehenden* Ihr zwei, geht so schnell wie möglich nach drinnen und holt Schwerter zusammen mit Helmen und Schilden. Damit sollen die Soldaten ihre tapferen Herzen schützen. Tretet hier in die Mitte vor, ordnet die Reihen an! Herc.: *pathetisch* [370] Höre sogleich, Tullus Hostilius! Da die Entscheidung nur durch Gewalt, das Schwert und die Hand herbeigerufen werden kann, soll das Heer als Ganzes verschont und sollen einzelne ausgewählt werden, drei auf beiden Seiten. Das Volk von denjenigen, auf deren Seite der Sieg stehen wird, soll Sieger sein,64 das andere untergehen. Tull.: [375] Dies sei die Abmachung für die Schlacht, drei Horatier sind hier. Herc.: Und hier sind drei Curiatier. Tull.: Die Trompeten sollen erschallen. Herc.: Aber mit Zurückhaltung, damit der Lehrer nichts mitbekommt und wir für unsere Tapferkeit nicht den Preis zahlen. Tull.: Siegt, ihr siegreichen Herzen, und verschafft uns [380] durch eure Tapferkeit die goldene Freiheit. Herc.: Juchhe, Sieg! Juchhe, juchhe, Sieg! Albaner: die Albaner rufen zugleich Juchhe, Sieg! Juchhe, juchhe, Sieg! *Sie beginnen zu kämpfen, zwei Horatier fallen* Herc.: Zwei Horatierbrüder sind gefallen: Schon haben wir gesiegt! Tull.: Horatier, lass dich nicht unterkriegen! Kämpfe noch mutiger! Leo: [385] Fahr zur Unterwelt, grüße die Getöteten. Cassian tritt auf; *zusammen mit Paedomastyx* Cass.: *für sich* Was soll der Lärm und das Geschrei dort? Was ist hier los?65 Wird im Gymnasium gekämpft? Zum Teufel, was geschieht hier? Was ist das für eine aufgewirbelte Staubwolke? *Zu den Schülern* Ihr kämpft im öffentlichen Hörsaal? [390] Ihr, ja ihr, die ihr in der obersten Klasse seid! Für euch gehört es sich, allen Übrigen ein leuchtendes Vorbild in Sachen Zurückhaltung und tugendhaftem Ruhm zu sein. Was habt ihr da angestellt? Tull.: Wir haben ein Schauspiel gegeben. Cass.: Ich werde sofort zusehen, dass ihr für alle ein Schauspiel seid. [395] Hey, Paedomastyx,66 führe diese hier in den Karzer. Drei ganze Tage und ebenso viele Nächte sollen sie dort bleiben. Gib ihnen kaltes Wasser und Kresse zu essen und mische etwas Getreide hinzu, bis sie lernen, ihren Übermut abzulegen. Ich werde euch Gefechte beibringen.

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Drama de Divo Cassiano

Paedom.: Quos ducam, omnesne? Cass.: qui fuere principes? 400 Tull.: Ego fui. Cass.: tu sex frigebis noctibus! Herc.: Et ego, ne ceteris sim fraudi, enuntio. Cass.: Qui pugnam commisere? Hor. et Cur. duo: nos. Cass.: abducito. Ite modo pugnatores pugnacissimi, Cum muribus pugnate in carcere et gliribus. 405 Ubi ad satietatem esurieritis, tum ego Vobis pugnos in cenam vestram largiar. Tull.: Tute hanc cenam ede tuam, nos bene prandebimus. Cass.: I, duc audaces. Paedom.: hic triumphus vester est? Haec victoria? Tull.: tace tu gratis, si potes. 410

Scena quinta ‹partis primae› (I,5) Cassianus, ‹Sophronius› Cass.: Adsunt omnes, adesse quos volo? deest Paulus iterum, ille erro, illud dedecus scholae! Toties monui, amicis, acerbis, suavibus, Gravibus verbis, nec hilum profeci tamen. In exilium ablegabo puerum perditum. Vos Livium, deum aio historiae, attendite.

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Verba Livii „Princeps Horatius ibat tergemina spolia prae se gerens etc.“ Argumentum praelectionis seu paraphrasis soluta oratione [418] Hesterna schola monomachiam sive singulare certamen trigeminum,

hoc est Horatiorum et Curiatiorum, spectavistis potius quam audivistis, adeo graphice rem historicus expresserat. pugnae praeterea causam, congressum, eventum explicavi.

Erster Akt

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Paedom.: [400] Wen soll ich abführen, alle? Cass.: Wer waren die Rädelsführer? Tull.: Ich war es. Cass.: Du wirst sechs Nächte frieren! Herc.: Auch ich melde mich, um die Übrigen nicht zu hintergehen. Cass.: Wer hat den Kampf begonnen? Hor. und Cur.: Wir. Cass.: Führe sie ab! Geht nur, ihr überaus kämpferischen Kämpfer, [405] kämpft mit Ratten und Mäusen im Karzer. Wenn ihr satt vom Hunger seid, dann werde ich euch großzügig Faustschläge zum Mahl servieren. Tull.: Iss du selbst dein Mahl, wir werden gut essen. Cass.: Geh, führe diese Rotzlöffel ab. Paedom.: Ist das euer Triumph, [410] das euer Sieg? Tull.: Schweig doch bitte, wenn du kannst. Fünfte Szene ‹des ersten Aktes› (I,5) Cassian, ‹Sophronius›67 Cass.: Sind alle da, die ich hier haben will? Paulus fehlt schon wieder, dieser Tagedieb, diese Schande für die Schule! So oft habe ich ihn ermahnt, mit freundlichen, scharfen, liebenswürdigen, ernsten Worten, habe aber dennoch nicht den geringsten Fortschritt gemacht. [415] Davonjagen werde ich diesen Lümmel! Ihr, hört nun Livius, dem Gott der Geschichtsschreibung (so nenne ich ihn), aufmerksam zu.68 Livius’ Worte „Als Anführer schritt der Horatier voran, die dreifache Beute vor sich tragend usw.“69 Der Inhalt der Vorlesung bzw. die Zusammenfassung in Prosa 70 [418] In der gestrigen Unterrichtsstunde habt ihr die Monomachie oder

den Einzelkampf der Drillingsbrüder, das heißt der Horatier und Curiatier, mehr gesehen als gehört, so plastisch hatte der Historiker das Ereignis geschildert. Außerdem habe ich den Grund, Verlauf und Ausgang des Kampfes dargelegt.

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Drama de Divo Cassiano

Haec brevitatis causa omissa usque ad verba haec „Infelici arbori suspendito“ [419] Sequitur, ut Horatii de tergeminis triumphum, sororis caedem, iudicium denique, quod ob parricidium institutum est, enarremus. rem ego totam vobis meis primum verbis familiariter exposui. deinde auctorem ipsum, ubi erat operae usus, explanavi. [420] Victis duello Curiatiis ab unico, qui de tribus superstes erat, Horatio,

cum Tullus rex Albano, quod volebat, imperasset, ut se victum cognosceret, victor Horatius lectis caesorum spoliis ante legiones et exercitum universum incedens victrici a rege corona insignitus urbem petit faustis tota via acclamationibus salutationibusque exceptus. soror victoris, quae uni ex caesis Curiatiis desponsa erat, ut eventum belli sponsumque suum Curiatium occisum ex milite praetereunte audivit, haud compos mentis relictis aedibus velut oestro percita ferebatur ad portam, nutrice frustra eam sequente et revocante. [421] Virgo urbem egressa ubi germanum gaudio exultantem, sertis viridantibus ornatum, spolia et paludamentum, quod ipsa sponso suo concinnaverat ad nuptias, cruore tinctum in humeris conspexit, tum vero amens furore dirupta veste, pectus ambabus manibus plangens et lamentabili voce nunc sponsum, nunc consobrinum, nunc vitam, nunc animam suam vocitans, omnium, qui aderant, oculos in se unam convertit. [422] Defleto dein caesi fato in victorem versa, scelestissime mortalium, inquit, gaudesne caesis consobrinis tuis? meque sponso viduata et te prope fraterno sanguine consperso sic exultas? nullane vel extinctorum cognatorum incessit miseratio? nulla cura propinqui sanguinis, nulla patris, nulla matris pietas?

Erster Akt

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Um das Drama zu kürzen, bis zu den Worten „Häng ihn am Unglücksbaum auf“ ausgelassen [419] Es folgt, dass wir vom Triumph des Horatiers über die Drillingsbrüder, vom Tod seiner Schwester und schließlich vom Urteil erzählen, das über den Schwesternmord gefällt wurde. Ich habe euch den ganzen Inhalt zunächst in meinen eigenen Worten leicht zugänglich dargelegt. Dann habe ich den Originaltext dort erläutert, wo es notwendig war.71 [420] Nachdem die Curiatier im Kampf von jenem einzelnen Horatier, der

von den Dreien noch übrig war, besiegt worden waren und König Tullus dem Albaner aufgetragen hatte, was er wollte, nämlich dass er sich geschlagen gebe, schritt der siegreiche Horatier, nachdem er alle Waffen der Getöteten als Beute aufgesammelt hatte, vor den Legionen und dem ganzen Heer einher. Durch die vom König erhaltene Siegeskrone ausgezeichnet machte er sich in Richtung der Stadt auf, wobei er auf dem gesamten Weg mit wohlwollenden Glückwünschen und Grußworten empfangen wurde. Sobald die Schwester des Siegers, die mit einem der getöteten Curiatier verlobt war, von einem vorbeiziehenden Soldaten den Ausgang des Kampfes vernommen hatte, sowie dass der mit ihr verlobte Curiatier getötet worden war, verließ sie fassungslos ihr Haus und eilte wie von einer Bremse gestochen72 zum Stadttor. Vergeblich folgte ihr ihre Amme, vergeblich rief sie sie zurück. [421] Die junge Frau verließ die Stadt, und sobald sie ihren Bruder himmelhochjauchzend erblickte, geschmückt mit grünenden Blumengebinden, sowie seine Beute und den Mantel, den sie selbst für ihren Verlobten zur Hochzeit genäht hatte, nun mit Blut besprengt auf seinen Schultern, da wurde sie rasend, zerriss aus Wut ihr Gewand, schlug mit beiden Händen an ihre Brust, rief mit klagender Stimme bald ihren Verlobten, bald ihren Vetter, bald ihr Leben, bald ihre Seele an. Die Augen aller Anwesenden lenkte sie auf sich allein. [422] Nachdem sie dann das Schicksal des Getöteten beweint hatte, wandte sie sich dem Sieger zu. „Du größter Verbrecher aller Sterblichen“, sagte sie, „erfreust du dich am Tod deiner Vettern? Wo mir der Verlobte genommen wurde und du von beinahe schon brüderlichem Blut besprengt worden bist, jubelst du da auf diese Weise? Ergreift dich gar kein Mitleid mit den ausgelöschten Verwandten? Bedrückt dich nicht das verwandte Blut, nicht die Liebe zum Vater, nicht die zur Mutter?

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Drama de Divo Cassiano

itane, quos antea ut fratres amare nec aliter quam fratres appellare consueveras, occidisti? ita in sanguinem, in vitam, in viscera tua saevisti? et nunc quasi praeclaro facinore patrato de parricidio triumphum agis? coronam in tanta domestica clade gestas, os tuum cruore foedum urbi et orbi ostentas? cuiusnam ferae animum industi, quae te Scylla vel Charybdis genuit, quae tigris ubera admovit? o me perditam et afflictam, o te scelestum et execrandum. [423] Ad haec et alia, quae dolor suggesserat, germanus victoria insolens et altos ob facinus tantum spiritus gerens itane vero, inquit, furis, soror? eone te amor homuncionis unius adduxit, ut universa civitate et omnibus omnium ordinum atque aetatum hominibus poena carentibus et publico triumpho publicam victoriam prosequentibus tu, sola et germana soror, quam vel in primis gratulari mihi palmam oportebat, intempestivis tuis amoribus nos interturbes, complorationes in communi laetitia instituas, pluris unum quam nos omnes facias? et me hodie mihi tibique libertatem, civitati ac regi imperium meo periculo comparantem ita excipias? [424] Abi, scelesta, ad eum, quem deplores. fruere gaudiis tuis, abi hinc cum immaturo tuo amore ad amantes, oblita mei, oblita fratrum mortuorum, oblita patris atque patriae, simulque cum dicto ferrum in sororis pectus defigens, sic, inquit, eat, sic pereat, sic funditus intereat, quaecumque Romana Romanorum hostem lugebit! [425] Heu quam nullum est liquidum et diuturnum in humanis rebus gaudium! vix triumphum orsus erat, cum in extremum luctum incidit. [426] Sed exequamur, quod superest. sororis a fratre occisae cadaver media via horrendo spectaculo relinquitur, agmen totum victorem cum rege in urbem deducit.

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„Hast du auf diese Weise diejenigen getötet, die du zuvor wie Brüder zu lieben und nicht anders denn als Brüder zu bezeichnen gewohnt warst? Hast du so gegen dein Blut, gegen dein Leben, gegen dein Innerstes gewütet? Und feierst du jetzt, wie wenn eine glorreiche Tat vollbracht wurde, einen Triumph anlässlich des Verwandtenmordes? In einer solchen Familienkatastrophe trägst du die Siegerkrone, zeigst der Stadt und dem Erdkreis73 dein mit Blut entstelltes Gesicht? Das Gemüt welchen wilden Tieres hast du dir zugelegt, welche Scylla oder welche Charybdis hat dich geboren,74 welche Tigerin gesäugt?75 Oh, wie verloren und zerschmettert bin ich, oh, was für ein verfluchter Verbrecher bist du!“ [423] Zu diesem und anderem, was der Schmerz ihr eingegeben hatte, entgegnete ihr Bruder im Siegesrausch ungehalten und durch die gewaltige Tat aufgeblasen: „Du aber“, sagte er, „wütest so, Schwester? Hat dich die Liebe zu einem einzelnen Menschenkind so weit gebracht, dass du, wo doch die gesamte Bürgerschaft und alle Menschen allen Ranges und Alters frei von Leid sind und dem für das ganze Volk erworbenen Sieg in einem volksweiten Triumphzug Geleit geben, du meine einzige und leibliche Schwester, für die es sich ja sogar vor allen anderen gehörte, mich zum Sieg76 zu beglückwünschen, ja dass du uns mit unangebrachter Liebe störst, Wehklage unter der allgemeinen Fröhlichkeit anstimmst, einen einzelnen für mehr wert erachtest als uns alle? Und so empfängst du mich, der ich mir und dir heute die Freiheit, dem Gemeinwesen und dem König die Herrschaft unter Gefahr meines Lebens erworben habe? [424] „Fort mit dir, Elende, zu dem, den du beweinst! Genieße deine eigenen Freuden! Weg von hier zu den Liebenden mit deiner unangebrachten Liebe, nicht an mich denkend, nicht an die toten Brüder denkend, nicht an den Vater und das Vaterland denkend.“ Und zugleich zu dieser Aussage bohrte er sein Schwert in die Brust der Schwester. „So“, sagte er, „soll dahingehen, so soll zugrunde gehen, so soll gänzlich umkommen jede Römerin, die einen Feind der Römer betrauert!“ [425] Ach wie unbeständig und kurz ist doch die Freude in den menschlichen Dingen! Kaum hatte er die Triumphfeier begonnen, da fiel er auch schon wieder in tiefste Trauer. [426] Aber lasst uns ausführen, was noch aussteht: Die Leiche der Schwester, die vom Bruder getötet worden war, wurde als abschreckendes Beispiel mitten auf der Straße zurückgelassen. Der ganze Heerzug führte den Sieger zusammen mit dem König in die Stadt.

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Drama de Divo Cassiano

constituta victoria votisque Iovi et Marti persolutis ad ius dicendum Tullus animum applicat. ibi vero victor Horatius citatur reus ad tribunal, actores nomen de parricidio deferunt, pater filio patronus adest, duumviri leguntur ab illis, ad populum provocatione certatur. accusator caedem urget innocentis atque parricidium. [427] Pater vero: ego, Quirites, inquit, si filium assertorem libertatis vestrae reum ac nocentem arbitratus essem, iure patrio primus in illum animadvertissem, ipse neci manu mea dedissem. enimvero cum velut hostem natam ducerem, iure caesam iudicavi. quis enim inter cives numeret illum, qui partum civitati imperium invideat ac deploret? [428] Alterum urbi regnum vix trium caede iuvenum accessit, gaudet imperator, acclamat miles, civitas gratulatur, haec ob caesum per duellum luget. hanccine pater filiam, frater sororem, vos civem agnoscitis? age sane reus esto, qui est innocens. occidit iste mihi filiam, at qui vobis vestras conservavit. interfecit unam, at vos omnes in libertatem vindicavit. tune, lictor, sacram hanc Marti dexteram tangere, tu manus illas, quae patriae vincula detraxere, colligare, tu caput eius obnubere, qui urbem hanc orbis caput constituit, tu verberare, tu infelici arbori suspendere, tu necare illum, qui nobis omnibus vitam peperit, tentabis? [429] Ubi tantum facinus aggredieris? in urbene? at ibi tela spoliaque hostium suspensa reclamabunt. extra urbem duces? at locus ipse pugnae et sepulcra mortuorum a morte iuvenem revocabunt. [430] Ergone, Quirites, hunc, quem lacrimans complector, unicum mihi vobisque superstitem eripietis? virili stirpe paulo ante me florentem et

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Nachdem der Sieg anerkannt war und die Gelübde gegenüber Jupiter und Mars erfüllt worden waren, lenkte Tullus seinen Sinn darauf, Recht zu sprechen. Da aber wurde der siegreiche Horatier als Angeklagter vor den Richterstuhl zitiert. Kläger beschuldigten ihn des Verwandtenmordes, der Vater stand dem Sohn als Verteidiger zur Seite, zwei Untersuchungsrichter wurden von jenen benannt, beim Volk wurde über die Berufung debattiert. Der Ankläger warf ihm Mord an einer Unschuldigen und zwar an seiner Schwester vor. [427] Sein Vater brachte aber Folgendes vor: „Wenn ich, Römer“ 77, sagte er, „meinen Sohn, den Wahrer eurer Freiheit, für einen schuldigen Angeklagten gehalten hätte, wäre ich als erster gemäß dem Recht eines Vaters gegen ihn vorgegangen, ich selbst hätte ihn eigenhändig dem Tod anheimgegeben. Da ich allerdings meine Tochter wie einen Staatsfeind betrachtete, war ich der Meinung, dass sie zurecht getötet wurde. Denn wer zählt wohl denjenigen unter die Bürger, der der Bürgerschaft die erworbene Herrschaft neidet und beweint? [428] „Ein weiteres Königreich fiel der Stadt durch den Tod von gerade einmal drei jungen Männern zu. Der Feldherr frohlockt, die Soldaten jubeln, die Bürgerschaft gratuliert, diese aber trauert über den im Kampf Getöteten. Akzeptiert der Vater diese als Tochter, der Bruder als Schwester, ihr als Mitbürgerin? Nun gut, meinetwegen sei er, der unschuldig ist, ein Angeklagter. Er hat mir die Tochter getötet, aber euch die euren gerettet. Er hat nur eine Einzige getötet, euch allen aber die Freiheit geschenkt. Wirst du, Liktor,78 es wagen, diese dem Mars heilige Rechte zu berühren, jene Hände zusammenzubinden, die dem Vaterland die Fesseln abgenommen haben, das Haupt von demjenigen zu verhüllen, der diese Stadt zum Haupt der Welt erhoben hat, ihn zu geißeln, am Unglücksbaum aufzuhängen, denjenigen zu töten, der uns allen das Leben erwarb? [429] „Wo wirst du eine solche Tat in Angriff nehmen? In der Stadt? Aber dort erheben die ausgestellten Waffen und Beutestücke der Feinde Widerspruch. Wirst du ihn aus der Stadt führen? Aber dort werden eben jener Ort der Schlacht und die Gräber der Toten den jungen Mann vom Tod zurückrufen. [430] „Werdet ihr, Römer, mir also den, den ich weinend umarme und der mir und euch allein noch geblieben ist, entreißen? Werdet ihr mir, den ihr gerade eben noch mit kräftigem Stamm in der Blüte seines Lebens und

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beatum conspexistis, nunc orbum penitus spe, quae restat una posteritatis, exuetis? tres pro vobis unus omnibus devovi. vos unum omnes, quem virtus superiorem tribus fecit, mihi salvum salvi redditote. [431] Haec cum orasset, populus et senis miseratione et admiratione iuvenis commotus Horatium iudicio absolvit. [432] Habetis synopsin seu paraphrasin potius eorum, quae ad hunc locum

explanandum pertinent. nunc ipsum Livium, hoc est eloquentiam loquentem audiamus. [433] „Princeps Horatius ibat tergemina spolia etc.“ usque ad illa verba legat „portam Capenam fuit“. [434] Hic ego non more grammaticorum verbum verbo reddam, hic sententiam opinor intelligitis: Capena porta dicta est a civitate condita ab Italo rege. eadem dicebatur porta Appia, qua Capuam ibatur. [435] Cognitoque super humeros paludamento] Quod sit genus vestium paludamentum non ignoratis. dic tamen, Sophroni, quae vestis paludamentum dicebatur? [436] Soph.: Festus in auguralibus omnia militaria ornamenta pro paludamento accipit. Plutarchus tunicas equestres ἐφεστρίδα Graeca voce et φοινικίδα. Athenaeus ephaptida nominat. [437] Solvit crines] Id, quod in luctu prisci factitabant. Maro primo Aeneidos: Interea ad templum non aequae Palladis ibant Crinibus Iliades passis, peplumque ferebant Suppliciter tristes, et tunsae pectora palmis. [438] Duumviri] Tum primum creati a Tullo, ne ipse invidiam iudicii

cogeretur sustinere. [439] Perduellionem] Civis Romanus interficiendus primum eximebatur numero civium et iudicabatur hostis, quem tum perduellem vocabant.

Erster Akt

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glückselig gesehen habt, nun aber gänzlich aller Hoffnung beraubt, auch noch das nehmen, was mir einzig von meiner Nachkommenschaft noch geblieben ist? Ich allein habe drei für euch geopfert. Ihr alle, die ihr gerettet wurdet, gebt mir diesen einen, den seine Tugend über die drei stellte, gerettet zurück!“ [431] Nachdem er um dies gebeten hatte, wurde das Volk von Mitleid mit dem Alten und Bewunderung für den Jungen ergriffen und sprach den Horatier von der Anklage frei. [432] Nun bekommt ihr einen Abriss oder eher eine Zusammenfassung von dem, was die Erklärung dieser Stelle betrifft. Nun lasst uns Livius selbst, das heißt seine sprechende Beredsamkeit hören. [433] „Als Anführer schritt der Horatier voran, die dreifache Beute usw.“ Man lese bis zu den Worten „war vor der Porta Capena“. [434] An dieser Stelle werde ich den Inhalt nicht nach Art der Grammatiker wortwörtlich wiedergeben, denn ihr kennt ihn ja, so glaube ich: die Porta Capena wurde nach einer Stadt benannt, die von einem italischen König gegründet wurde. Dasselbe Tor wurde auch Porta Appia bezeichnet, durch welche man in Richtung Capua ging.79 [435] Nachdem der Mantel auf den Schultern erkannt worden war] Ihr wisst, welche Art von Bekleidung das paludamentum ist. Sag mir dennoch, Sophronius,80 welches Kleidungsstück wurde paludamentum genannt? Soph.: [436] Festus81 fasst im militärischen Kontext alle militärischen Kleidungstücke als paludamentum auf. Plutarch bezeichnet die Tuniken des Ritterstandes auf Griechisch ephestrís82 und phoinikís.83 Athenaeus nennt sie ephaptís.84 [437] Löst die Haare] Dies machten die Alten in Trauer. Maro sagt im ersten Buch der Aeneis:85 „Inzwischen gingen die Trojanerfrauen mit gelösten Haaren zum Tempel der ungerechten Pallas und brachten in Trauer tief gebeugt das Gewand und schlugen mit der Hand ihre Brust.“ [438] Zweimänner] Damals wurden sie zum ersten Mal von Tullus ernannt, damit er selbst nicht gezwungen würde, den Hass über das Urteil auf sich zu ziehen. [439] Perduellio] Ein zum Tode verurteilter römischer Bürger wurde zunächst aus der Zahl der Bürger ausgenommen und zum Staatsfeind erklärt, welchen man damals perduellis nannte.

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Drama de Divo Cassiano

deinde primum extremo supplicio afficiebant. perduellio erat iudicium, quoquo hostis pronuntiabatur. nunc crimen laesae maiestatis appellatur perduellio et reus perduellis et perduellionis reus. [440] Infelici arbori suspendito] Quaerunt auctores, quaenam arbor infelix vocetur. si Quintilii discipulos interroges, respondebunt betulam ac ulmum, unde virgae conficiuntur, infelices esse arbores. Plinius auctor est eas vocari infelices arbores, quae neque seruntur neque foetus edunt. quod si verum est, certe betula felix arbor est, quamquam enim non seratur, fructus tamen plurimos proferre solet. quaeris, quos fructus? diligentiam, studium, industriam, probitatem, contra pigritiam et inertiam pellit, vitiositates plurimas, animi corporisque aegritudines tollit, omnes denique morbos, quibus pueritia laborare consuevit, velut alexiacon curat. sed redeamus eo, unde digressi sumus. felices dicuntur quercus, aesculus, ilex, sapinus, faginus, corylus, ficus, pirus, malus, vitis, quam postremam felicissimam Germani autumant. [441] Infelicem arborem hic Livius crucem nominat, quam et [et] infelix lignum, infamem stipitem dixere veteres, quod Cicero, Seneca, aliique comprobant. unde poeta nescio quis dixit: Noxius infami districtus stipite membra sperat et a fixa posse redire cruce. [442] Referam vobis, quod incredibile videri possit. cum Sabionae versarer, quae nunc Brixina dicitur, incidi in Christianum quendam (quos homines nunc quidam Galilaeos per contumeliam nominant) et cum eo colloquens variaque sciscitans tandem ex Plauti quodam loco de mala maxima cruce, quem tractabamus, in hunc Livii dilati sumus. [443] Hic ille nos, inquit, crucem non malam nec lignum infelix, sed

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Dann erst vollzog man an ihm die Todesstrafe. Eine perduellio war jedes Urteil, mit dem man jemanden zum Staatsfeind erklärte. Heute wird mit perduellio das Verbrechen des Hochverrats bezeichnet, genauso spricht man von einem ‚angeklagten Hochverräter‘ und einem ‚des Hochverrats Angeklagten‘. [440] Häng ihn am Unglücksbaum auf] Die Schriftsteller fragen sich, welcher Baum der ‚unglückliche‘ genannt wird. Wenn man die Schüler von Quintilius fragt, werden sie antworten, dass die Birke und die Ulme, wovon Ruten gefertigt werden, Unglücksbäume seien. Laut Plinius86 sollen diejenigen Bäume ‚Unglücksbäume‘ genannt worden sein, die weder ausgesät werden noch Früchte tragen. Wenn das aber wahr ist, ist die Birke mit Sicherheit ein ‚Glücksbaum‘. Denn obwohl man sie nicht aussät, bringt sie für gewöhnlich dennoch überreiche Frucht hervor. Du willst wissen, welche Früchte? Sorgfalt, Fleiß, Akribie, Rechtschaffenheit; Faulheit und Trägheit dagegen vertreibt sie; sie beseitigt sehr viele Gebrechen und Krankheiten des Körpers und Geistes und zuletzt auch alle Krankheiten, mit denen sich die Jugend für gewöhnlich herumschlägt; wie eine Arznei heilt sie. Aber lasst uns dorthin zurückkehren, von wo unser Exkurs ausgegangen ist. ‚Glücklich‘ werden genannt die Sommereiche, die Wintereiche, die Steineiche, die Tanne, die Buche, die Hasel, die Feige, der Birnbaum, der Apfelbaum und der Weinstock. Letzteren halten die Germanen für den ‚allerglücklichsten‘. [441] Als einen ‚Unglücksbaum‘ bezeichnet Livius hier das Kreuz, welches die Alten auch ‚Unglücksholz‘ und ‚Schandpfahl‘ nannten, was Cicero, Seneca und andere belegen.87 Deshalb sagt ein Dichter (ich weiß nicht welcher): „Der Verurteilte, die Glieder an den Schandpfahl ausgebreitet, hofft, dass auch er vom Kreuz, das an ihn geheftet wurde, zurückkehren kann.“88 [442] Ich werde euch etwas berichten, was unglaublich erscheinen mag. Als ich mich in Säben aufhielt, welches nun Brixen genannt wird, 89 traf ich auf einen gewissen Christen (Menschen, die einige nun, um sie zu schmähen, ‚Galiläer‘ nennen),90 und als ich mich mit ihm unterhielt und ihn nach verschiedenen Dingen fragte, gelangten wir schließlich von einer Stelle bei Plautus,91 wo vom ‚allerschlimmsten Kreuz‘ die Rede ist und die wir bereits behandelt haben, zu dieser Stelle bei Livius. [443] Eben jener sagte: „Wir bezeichnen das Kreuz nicht als ‚schlimm‘ und auch nicht als ‚Unglücksholz‘, sondern als ‚überaus glücklich‘,

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felicissimum, arboremque nobilem et frondem triumphalem appellamus versusque citabat omissa hinc usque ad hanc n‹otam?› φ ex hymnis quibusdam sacris huiuscemodi. ‹***› [444] φ Mirabantur, qui mecum erant, hominis insaniam, sed ipse tanto sensu loquebatur, ut nos omnes in stuporem daret. causam dicebat, quod supremi numinis filius in terram hominum a tyrannide gravissima liberandorum gratia delapsus, ab ipsis, quos in libertatem vindicabat, ingratissimis et sceleratissimis latronibus postea in crucem sit actus, nec certe vana demum adferre putabatur, praesertim cum suam hanc sententiam sacro hoc Sibyllae oraculo confirmaret. hunc quippe versum ex illa adducebat: Ὦ ξύλον μακαριστόν, ἐν ᾧ θεὸς ἐξετανύσθη. O lignum felix, in quo deus ipse pependit. Plura in hanc sententiam disputarem, si locus et tempus paterentur. quae scire qui volent, privatim quaerere poterunt, nunc ad reliqua properemus. [445] Moti sunt homines eo iudicio] Olim pater habebat potestatem vitae

et necis in filium. sic enim tradit Halicarnassaeus nobilis in primis auctor libro secundo: Romanorum legislator omnem ut dicam potestatem dedit patri in filium idque toto vitae tempore sive in carcerem eum mittere sive flagris caedere sive vinctum ablegare ad opera rustica sive necare libeat, etiamsi filius rem publicam tractet, etiamsi magistratus gerat, etiamsi libertatis laudem publice sit promeritus. extat ea de re antiquissima lex his verbis conscripta: parentum liberos omne ius esto relegandi, vendendi et occidendi. Egreditur Dulus

Erster Akt

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als ‚edlen Baum‘ und ‚Siegeslaubkranz‘“, und er zitierte Verse Ausgelassen von hier bis zum Zeichen φ aus einigen heiligen Hymnen folgender Art: ‹***›92 [444] φ Es wunderten sich diejenigen, die bei mir waren, über den Wahnsinn dieses Mannes, aber er selbst sprach mit einer solch starken Überzeugung, dass er uns alle in Staunen versetzte. Er sprach über den Grund, warum der Sohn des höchsten Gottes, der auf die Erde herabgestiegen war, um die Menschen von der schlimmsten Tyrannei zu befreien, von eben denjenigen, die er zu befreien versuchte, später zusammen mit überaus verhassten und verbrecherischen Schächern ans Kreuz geschlagen wurde. Zuletzt glaubte man gewiss nicht, dass er etwas Nichtiges vortrug, besonders weil er seine Ansicht mit diesem heiligen Orakelspruch der Sibylle bekräftigte. Denn er brachte folgenden Vers von ihr vor: „O glückverheißendes Holz, an dem Gott selbst hing.“93 Ich würde noch mehr zu dieser Ansicht erörtern, wenn Ort und Zeit es erlaubten. Diejenigen, die es wissen möchten, können mich privat dazu befragen. Nun lasst uns schnell noch zum Übrigen übergehen. [445] Die Menschen wurden von diesem Gerichtsurteil ergriffen] Einst

hatte ein Vater die Gewalt über Leben und Tod seines Sohnes. Denn so überliefert es allen voran der berühmte Autor aus Halikarnassos im zweiten Buch:94 „Der römische Gesetzgeber gab sozusagen alle Macht über den Sohn an dessen Vater, und dies für die gesamte Zeit seines Lebens, sei es, dass er ihn in den Kerker werfen, ihn geißeln, ihn gefesselt zur Feldarbeit verbannen oder ihn töten lassen wollte, selbst wenn der Sohn im Staatsdienst stand, selbst wenn er ein öffentliches Amt bekleidete, selbst wenn er sich öffentlich Ruhm für seinen Dienst an der Freiheit erworben hatte.“ Daher gibt es dieses uralte Gesetz, das mit folgenden Worten niedergeschrieben worden war: „Väter sollen das unumschränkte Recht besitzen, ihre Kinder zu verbannen, zu verkaufen und zu töten.“ Dulus tritt auf

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Scena sexta ‹partis primae› (I,6) Dulus, Cassianus, Agraulus, Simplicius, Quintilius Dul.: Est hic agrestis quidam, qui te percupit Conventum. Cass.: quid me vult? praestolari iube, Multa forent de furca et furcarum generibus Narranda, sed quia fluxit aqua, rem differam. Iam vos ite et, quae dixi, memori pectore Reponite. ego colonum paucis alloquar, Quiete, inquam et silentio discedite. Heus heus bone vir, quo abis? i mox, Dule, revoca. Quid est, colone? quare abis? Agrau.: putaveram Omnes illos in me involaturos. Cass.: nihil Est, quod metuas, humanitas hic imperat Non barbaries. sed quid venisti? quid petis? Agrau.: Doctissime vir et pater venerabilis, Vicennem adduco filium, quem litteris Latinis Graecisque tingi vellem approbe, Indole sane est praeclara, ingenio maximo. Cass.: Qui scis? Agrau.: scio certo, namque elementa omnia Ad unguem, ordine recto, verso, inverso potest Memoriter reddere. praeterea novit, domi Quot gallos, quot gallinas, quot boves, oves, Porcos habeam. Cass.: etiam asinos? Agrau.: quipp‹i›ni? Dic, Simplici, quot habemus gallos? Simpl.: undecim.

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Sechste Szene ‹des ersten Aktes› (I,6) Dulus, Cassian, Agraulus, Simplicius, Quintilius *Dulus tritt zusammen mit Agraulus und dessen Sohn Simplicius auf; Ersterer bringt eine Gans mit* Dul.: Hier ist ein Bauer, der dich treffen will.95 Cass.: Was will er von mir? Er soll warten! Vieles wäre noch über den Galgen und die Arten von Galgen zu erzählen, *blickt auf die Wasseruhr* aber da das Wasser dahingeflossen ist, werde ich die Sache aufschieben. [450] Geht ihr schon einmal und haltet fest im Gedächtnis, was ich euch gesagt habe. Ich werde mich kurz mit dem Bauern unterhalten. *Schüler stürmen los* Leise, sage ich, und in Schweigen sollt ihr gehen. *Schüler verlassen ihre Plätze, der Bauer flüchtet vor ihnen* Hey, hey, guter Mann, wohin gehst du? Sofort hinterher, Dulus, rufe ihn zurück. *Dulus bringt den Bauern zurück* Was ist, Bauer? Weshalb gehst du weg? Agrau.:96 Ich hatte gedacht, [455] dass die alle auf mich losstürmen. Cass.: Es gibt keinen Grund, dass du dich fürchtest. Hier regiert ein menschenfreundlicher Umgang, nicht die Barbarei. Aber warum bist du gekommen? Was willst du? Agrau.: Gelehrtester Herr und ehrwürdiger Vater, ich bringe meinen zwanzigjährigen Sohn hierher. Ich möchte, dass er [460] anständig Latein und Griechisch lernt. Er ist überaus begabt und höchst intelligent. Cass.: Woher weißt du das? Agrau.: Das weiß ich deshalb so genau, weil er alle Buchstaben des Alphabets aus dem Effeff in der richtigen, umgekehrten und verdrehten Reihenfolge auswendig wiedergeben kann. Außerdem weiß er, [465] wie viele Hähne, wie viele Hühner, wie viele Rinder, Schafe und Schweine ich zu Hause habe. Cass.: Sogar wie viele Esel? Agrau.: Warum nicht? – Sag mir, Simplicius,97 wie viele Hähne haben wir? Simpl.: Elf.

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Agrau.: Gallinas? Simpl.: centum. Agrau.: ova? Simpl.: haud numeravi. Agrau.: quot boves? Simpl.: Decem. Agrau.: oves? Simpl.: ducentas. Agrau.: porcos? Simpl.: tredecim. Agrau.: quot asinos? Simpl.: Duos ipsos, magnum tu agis, ego minorem. 470 Agrau.: En tibi meum gnatum, nonne ingeniosus est? Cass.: Egregium specimen dat, simillimus patri. Arcesse, Dule, Quintilium hypodidascalum. Dul.: Adesse puta. Cass.: commendabo subolem tuam Pulcherrimam collegae, qui illum litteris, 475 Quantum aetas et natura ferant, probe imbuat. Agrau.: Superi referent paria. tu cape pro munere Hunc anserem. si filius processerit In litteris, quotannis tibi pendam decem. Cass.: Accipe, Dule, ut ne contemni donum autumet. 480 Agrau.: Tu, Simplici, fac, ut moderatores tuos Manu, vultu, lingua, studio atque moribus Et aemuleris et ad unguem totos exprimas. Quint.: Non semper illi dormiam nec serviam, Sed nunc simulabo amicitiam. quid me vocas, 485 Doctor, opera meane vis uterier? Cass.: volo, Hunc indolatum rusticum, huius filium Vicennem, in disciplinam tibi trado: dola, Finge, refinge, quadra, dedola. tenta omnia, An aliquis Mercurius efformari queat. 490 Sin minus ad Cyclopum officinam mittito.

Erster Akt

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Agrau.: Hühner? Simpl.: Hundert. Agrau.: Eier? Simpl.: Habe ich nicht gezählt. Agrau.: Wie viele Rinder? Simpl.: Zehn. Agrau.: Schafe? Simpl.: Zweihundert. Agrau.: Schweine? Simpl.: Dreizehn. Agrau.: Wie viele Esel? Simpl.: [470] Genau zwei, du bist der große, ich der kleinere. Agrau.: Sieh dir nur meinen Sohn an, ist er nicht begabt? Cass.: *ironisch* Er ist ein ganz herausragendes Exemplar, ganz der Vater. – Dulus, bring den Unterlehrer Quintilius hierher. Dul.: Betrachte es als erledigt. *Geht kurz ab und lässt Quintilius herbeirufen* Cass.: Ich werde deinen [475] wunderprächtigen Sprössling meinem Kollegen anvertrauen, der ihm die Lehrinhalte, die sein Alter und sein Wesen verkraften, anständig beibringen wird. Agrau.: Die Götter sollen’s dir vergelten. Nimm du als Geschenk diese Gans. Wenn mein Sohn in seinem Studium Fortschritte macht, werde ich dir jährlich zehn spendieren. Cass.: *leise zu Dulus* [480] Dulus, nimm du sie, damit nicht der Eindruck entsteht, sein Geschenk würde missachtet. Agrau.: Du, mein Simplicius, sieh zu, dass du deinen Lehrern hinsichtlich Hand, Miene, Zunge, Fleiß und anständigem Verhalten nacheiferst und sie alle ganz genau nachahmst. Quint.: *für sich beim Auftritt* Ich will ihm nicht immer hörig sein98 und dienen, [485] aber nun werde ich so tun, als wären wir Freunde. *Laut* Was rufst du mich, Doktor, willst du meine Hilfe in Anspruch nehmen?99 Cass.: Ja, das will ich. Diesen unbehauenen Bauern, den Sohn von diesem hier, zwanzig Jahre alt, vertraue ich dir zum Unterrichten an: Du sollst ihn behauen, formen, umformen, zurechtklopfen und glatt meißeln. Lasse nichts unversucht, [490] ob nicht vielleicht doch irgendein Merkur100 aus ihm gebildet werden kann. Wenn aber eher nicht, dann schick ihn in die Schmiedewerkstatt der Kyklopen.101

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Drama de Divo Cassiano

Quint.: Apparet rudis et indigesta mactima, Faciam tamen, ut praescribis: Agrau.: mi domine, rogo, Habe tibi commendatum meum unicum, nae Vellem illum olim fieri Minervae antistitem. Quint.: Habe bonum animum, si non Minervae sit, sacer Vulcani esse poterit. Agrau.: ubi repedavero, feram Porcum pro opera. vale. Quint.: bene vale. Simpl.: mi pater, Mone musicos O mi pater, quo abis, non vis hic in schola Manere mecum. Agrau.: quam me amat natus meus, Vide, supercurrunt illi oculi. Simplici, Mane, fili, mane, rebitabo saepius. Simpl.: Au au, pater mi, mi pater. Quint.: nos tibi patris Erimus loco, succede tectis, sequere me.

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Erster Akt

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Quint.: Er scheint ein roher und unbehauener Klotz zu sein. 102 Dennoch werde ich tun, wozu du mich anweist. Agrau.: Mein Herr, ich bitte dich, lass dir meinen einzigen Sohn anvertraut sein, ja in der Tat,103 [495] ich wünschte, er würde einst Minervas Priester werden. Quint.: Sei guten Mutes, wenn er nicht in Minervas Dienst tritt, dann kann er auch dem Vulkan geweiht sein.104 Agrau.: Sobald ich zurückkomme, werde ich dir ein Schwein für deine Mühe bringen. Lebe wohl. Quint.: Lebe wohl. Die Musiker sollen sich bereithalten Simpl.: *weinend* Mein Vater, o mein Vater, wohin gehst du, willst du nicht mit mir hier in der Schule [500] bleiben? Agrau.: Siehe, wie mich mein Sohn liebt! Die Augen laufen ihm über. Simplicius, bleibe, mein Sohn, bleibe! Ich werde ganz oft hierher zurückkehren. *Agraulus ab* Simpl.: Ah, ah, mein Vater, mein Vater! Quint.: Wir werden dir wie ein Vater sein. Geh hinein, folge mir. *Alle ab*

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Secunda pars dramatis Scena prima (II,1) Furius, Servius, Corvinus, Quintus, Martius, Posthumus, Pulvillus, Camillus, Poetus, Ocellus, Barbula, Fabius, Mutius, Hostilius, Pamphilus, Regulus, Cursor, Rufulus, Geminus, Simplicius, Prisculus, Quintilius Fur.: Ad carceres itare malim quam scholas. 505 Tam nos benigne habet moderator gymnasii. Nihil est moderatoribus immoderatius. Servi.: Cur nobis natura negavit, quas addidit Alitibus plumas? o quoties in aera Librarem corpus? numquam caedi me amplius 510 Sinerem nec carnificem ferrem diutius. Quintus: Ego Catonem nescio. Corvi.: mihi deest scriptio. Mart.: Ego vobis omne ominor infortunium. Egreditur Quintilius Pulsabimini omnes, omnes vapulabitis. Quint.: Quid hic clamoris audio? Prisc.: st, praeceptor est. 515 Periit, qui verbum dixerit. Quint.: quid fabulae est? Prisc.: Nihil, tacemus. Quint.: ubi fuisti, Priscule? Prisc.: Quando? Quint.: quando abfuisti. Prisc.: heri de prandio Domi fui. Quint.: domi? quid fecisti domi? Prisc.: Lavi corpus. Quint.: certane narras? Prisc.: certissima. 520

Zweiter Akt

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Zweiter Akt des Dramas Erste Szene (II,1) Furius, Servius, Corvinus, Quintus, Martius, Posthumus, Pulvillus, Camillus, Poetus, Ocellus, Barbula, Fabius, Mutius, Hostilius, Pamphilus, Regulus, Cursor, Rufulus, Geminus, Simplicius, Prisculus, Quintilius105 *Quintilius zunächst noch abwesend* Fur.:106 [505] Ich will lieber in Karzern ein- und ausgehen als in Schulen.107 So gutherzig behandelt uns der Erzieher am Gymnasium. Nichts ist ungezogener als die Erzieher. Servi.: Warum hat die Natur uns Federn verweigert, die sie den Vögeln angefügt hat? Oh, wie oft würde ich [510] meinen Körper in Lüften wiegen? Ich würde niemals mehr zulassen, dass ich geschlagen werde, und auch meinen Schinder würde ich nicht länger ertragen. Quintus: Ich kenne Cato nicht. Corvi.: Ich habe seine Schrift nicht dabei. Mart.: Ich prophezeie euch allerlei Unheil. Quintilius tritt auf Geschlagen werdet ihr alle, ihr alle werdet Prügel bekommen. Quint.: [515] Was für einen Lärm höre ich hier? Prisc.: Pst, das ist unser Lehrer.108 Wer auch nur ein Wort gesagt hat, ist verloren. Quint.: Was wird hier erzählt? Prisc.: Nichts, wir schweigen. Quint.: Wo warst du, Prisculus? Prisc.: Wann? Quint.: Als du nicht da warst. Prisc.: Gestern war ich vom Mittagessen an zu Hause. Quint.: Zu Hause? Was hast du zu Hause gemacht? Prisc.: [520] Ich habe gebadet. Quint.: Stimmt das auch, was du da erzählst? Prisc.: Voll und ganz.

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Drama de Divo Cassiano

Quint.: I, Posthume, quaere, num hic sit veriloquus. Prisc.: pater Non est domi. Quint.: quaere ex matre. Prisc.: nec illa est domi. Quint.: Tu tamen ito, Posthume, quaesitum, quid rei Sit, quid negotii. Posth.: mox adero. Prisc.: vae mihi, Vae tergo, vae dorso meo! quid mentiar? 525 Quint.: Agam interim aliud. adestne Simplicius meus? Mart.: Adest. Quint.: scibo, quae spes sit operae et ingenii. Age prodi, Simplici. Mart.: surge et vade ocius, Magister te evocat. Quint.: veni huc sis, Simplici. Mart.: Praeceptor, iste sibi oppido timet. 530 Quint.: Ecquid timeat? Mart.: i, Simplici. Quint.: veni, veni. Simpl.: Veni, veni. Quint.: times? Simpl.: times? Quint.: veni huc, Quare tremis? Simpl.: veni huc, quare tremis? Quint.: quid hominis es? Simpl.: Quid hominis es? Quint.: videris mihi stultus. Simpl.: mihi Videris stultus Quint.: hic re vera non sapit. 535 Simpl.: Hic re vera non sapit. Quint.: abi in malam crucem. Simpl.: Abi in malam crucem. Quint.: quid hoc faciam asino?

Zweiter Akt

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Quint.: Geh, Posthumus, finde heraus, ob er hier die Wahrheit sagt. Prisc.: Mein Vater ist nicht zu Hause. Quint.: Dann frag seine Mutter. Prisc.: Die ist auch nicht zu Hause. Quint.: Geh dennoch, Posthumus, um herauszufinden, was es hiermit auf sich hat, was da los ist. Posth.: Ich bin gleich wieder da. *Ab* Prisc.: *für sich* Weh mir, [525] weh meinem Rücken, weh meinem Rückgrat! Was soll ich ihm noch vormachen? Quint.: Inzwischen will ich mich mit etwas anderem beschäftigten. Ist mein Simplicius da? Mart.: Er ist da. Quint.: Ich möchte wissen, was man von deinem Fleiß und deiner Begabung erhoffen kann. Komm, Simplicius, tritt hervor. *Simplicius reagiert nicht und bleibt sitzen* Mart.: Steh auf und geh schnell, der Lehrer ruft dich auf. *Angetrieben von seinen Mitschülern steht Simplicius auf, tritt aber nicht nach vorne* Quint.: Komm bitte hierher, Simplicius. Mart.: [530] Herr Lehrer, er fürchtet gewaltig um sich. Quint.: Vor was soll er sich denn fürchten? Mart.: Geh, Simplicius. Quint.: Komm, komm. Simpl.: *bleibt stehen und spricht zögerlich* Komm, komm. Quint.: Fürchtest du dich? Simpl.: Fürchtest du dich? Quint.: Komm hierher, was fürchtest du dich? Simpl.: Komm hierher, was fürchtest du dich? *Quintilius geht auf Simplicius zu* Quint.: Was bist du denn für einer? Simpl.: Was bist du denn für einer? Quint.: Du scheinst mir ein Dummkopf zu sein. Simpl.: Mir [535] scheinst du ein Dummkopf zu sein. Quint.: Tatsächlich, er ist nicht bei Verstand. Simpl.: Tatsächlich, er ist nicht bei Verstand. Quint.: Zum Henker mit dir. Simpl.: Zum Henker mit dir. Quint.: Was soll ich mit diesem Esel machen?

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Drama de Divo Cassiano

Simpl.: Quid hoc faciam asino? Quint.: tace. Simpl.: tace. Quint.: hic homo Me rediget ad insaniam. Simpl.: hic homo me rediget ad Insaniam. Quint.: quid agam? Simpl.: quid agam? 540 Quint.: mane hic. Simpl.: mane hic. Quint.: Quomodo docebo hunc litteras? Simpl.: quomodo docebo Hunc litteras. Quint.: elementa dic. Simpl.: elementa dic. Quint.: Alpha. Simpl.: alpha. Quint.: perge, perge. Simpl.: perge, perge. Quint.: tu Perge, stolide. Simpl.: tu perge, stolide. Quint.: quod ego dico, tu Non debes dicere. Simpl.: quod ego dico, tu ... Quint.: fuge 545 hinc. Simpl.: Fuge hinc. Quint.: insanis? Simpl.: insanis? Quint.: heus pueruli. Fur.: Quid imperas, magister? Quint.: auferte hunc sine Mora, ducite asinum, ne nosmet verberet. Fur.: Invadamus. Quint.: pulsate liberaliter. Fortasse recipiet mentem. Simpl.: au, au! Quint.: iam canit 550 Aliter. Mart.: veni, stolidum pecus, cornua tibi Moresque rusticanos dedolabimus.

Zweiter Akt

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Simpl.: Was soll ich mit diesem Esel machen? Quint.: Schweig. Simpl.: Schweig. Quint.: Dieser Kerl treibt mich in den Wahnsinn. Simpl.: Dieser Kerl treibt mich in den [540] Wahnsinn. Quint.: Was soll ich nur tun? Simpl.: Was soll ich nur tun? *Quintilius geht von ihm weg, Simplicius folgt ihm* Quint.: Bleib hier. Simpl.: Bleib hier. Quint.: Wie soll ich ihm Bildung beibringen? Simpl.: Wie soll ich ihm Bildung beibringen?109 Quint.: Sag mir die Buchstaben des Alphabets. Simpl.: Sag mir die Buchstaben des Alphabets. Quint.: Alpha, … Simpl.: Alpha, … Quint.: Fahre fort, fahre fort! Simpl.: Fahre fort, fahre fort! Quint.: Du, Dummkopf, sollst fortfahren. Simpl.: Du, Dummkopf, sollst fortfahren. Quint.: Das, was ich sage, [545] sollst du nicht wiederholen. Simpl.: Das, was ich sage, sollst du ... Quint.: Verschwinde von hier! Simpl.: Verschwinde von hier! Quint.: Spinnst du? Simpl.: Spinnst du? Quint.: *zu den übrigen Schülern* Hört mal, Jungs. Fur.: Was sollen wir tun, Herr Lehrer? Quint.: Schafft ihn hier unverzüglich weg. Führt diesen Esel, damit er nicht noch gegen uns ausschlägt! Fur.: Lasst uns ihn verprügeln. Quint.: Haut ihn nach Belieben. [550] Vielleicht gewinnt er ja dadurch seinen Verstand zurück. Simpl.: *wird von seinen Mitschülern verprügelt* Au, au! Quint.: Und schon singt er anders. Mart.: Komm, du dummer Bock, wir werden dir deine Hörner und dein bäuerliches Verhalten wegprügeln. *Prügeln ihn weiter*

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Drama de Divo Cassiano

Simpl.: Au, au, heu, heu, perii. Quint.: eicite penitus e schola. Pueri simul: Aselle indocte, incocte, ad stivam pergito. Simpl.: au, au. Quint.: Numquam adeo indocilis occurrit homo, ut hic fuit, 555 Quicquid dixi, dixit, quicquid feci, hoc idem Fecit. credo, si caligas detraxissem ei, Meas quoque mihi detracturum fuisse. Scilicet exhausit mandatum patris sui, Qui monuerant [!], ut magistros vultu, moribus, 560 Voce et demum rebus imitaretur omnibus. ‹Redit› Posthumus ferens litteras

Scena secunda ‹partis secundae› (II,2) Quintilius, Posthumus, Prisculus Quint.: Ast quando tandem a Prisco redibit Posthumus. Iam venit. ut anhelat puer. affert aliquid manu. Redis tandem? quis status est rerum? nemone Domi fuit? Posth.: immo omnes, hic reddo litteras. 565 Quint.: Sede tu. Priscule, ades, legamus epistolam. Agnoscisne manum? Prisc.: patris est. Quint.: quem dixeras domo abesse: malum omen, Priscule. Prisc.: redire potuit. [569] Quint.: Priscus Quintilio litteratori salutem Studium tuum in tractanda iuventute laudo vehementer gaudeoque meos quoque liberos esse tibi curae. sed ut ne sis nescius, Prisculus meus, quod equidem dolens dico, puer est vanissimus perditissimusque et totus ex mendaciis compositus. [570] Audin’ exordium?

Zweiter Akt

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Simpl.: Au, au, hey, hey, ich bin verloren! Quint.: Werft ihn ganz aus der Schule! Jungen zugleich: Ungebildeter, ungehobelter Esel, los an den Pflug mit dir! Simpl.: Au, au!110 *Simplicius ab mit einigen Mitschülern* Quint.: [555] Noch nie ist mir ein so dummer Kerl über den Weg gelaufen wie dieser hier. Alles, was ich sagte, sagte er; alles, was ich tat, genau das tat er. Ich glaube, wenn ich ihm die Stiefel ausgezogen hätte, hätte er mir auch die meinen ausgezogen. Allerdings hat er sich die Anweisung seines Vaters zu Herzen genommen, [560] der ihn gemahnt hatte,111 dass er seine Lehrer bezüglich Mimik, Verhalten, Sprache und schließlich in allem nachahmen solle. Posthumus kommt zurück mit einem Brief in der Hand Zweite Szene ‹des zweiten Aktes› (II,2) Quintilius, Posthumus, Prisculus Quint.: Aber wann kommt denn nun endlich Posthumus von Priscus zurück? *Sieht ihn herbeieilen* Da ist er ja schon. Wie der Junge außer Atem ist. Er trägt etwas in der Hand. *Posthumus erreicht Quintilius* Kommst du jetzt endlich zurück? Wie ist der Stand der Dinge? War niemand [565] zu Hause? Posth.: Ganz im Gegenteil, alle. Hier, ich bringe einen Brief. Quint.: Setz dich. – Prisculus, komm her, lass uns den Brief lesen. Erkennst du die Handschrift? Prisc.: Es ist die meines Vaters. Quint.: Von dem du behauptet hattest, er sei nicht zu Hause: ein schlechtes Vorzeichen, mein lieber Prisculus. Prisc.: Er kann ja zurückgekehrt sein. Quint.: [569] „Priscus grüßt den Unterlehrer Quintilius. Deinen Eifer, die Jugend zu erziehen, lobe ich mit Nachdruck und ich freue mich, dass du dich auch um meine Kinder kümmerst. Aber, damit du es ganz genau weißt, mein Prisculus ist – ich sage dies freilich mit Bedauern – ein vollkommen nichtsnutziger und verkommener Junge und er besteht nur aus Lügen.“ [570] Hörst du den Beginn?

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Drama de Divo Cassiano

[571] Hesternum diem totum infami ludo cum nescio quibus erronibus exegit seseque in extremum vitae et salutis periculum coniecit neque domum ante noctem est reversus. [572] Quid ad haec, meus Prisculus? taces? accipe cetera. [573] Etiam taenias nuper et periscelides quasdam e gymnasio domum asportavit. vereor, ne vel alicui sublegerit vel libro commutarit. [574] Itane vero, Priscule? ubi sunt epistolae Tullii?

Prisc.: perdidi. Quint.: postea quaeremus, nunc audiamus epilogum. [575] Quaeso te etiam atque etiam, optime Quintili, animadverte graviter

in profligatum pessimumque puerum, rem superis gratam, mihi optatam feceris. vale. e Musaeo nostro.

Intellexisti, Priscule? Siccine te mihi verba dare? et cum sis tantulus, Mendaciorum tanta monstra cudere? O vaniloque puer, poenas poenas dabis Dignas tantis artibus et virtutibus: Heus Paedomastyx, duc intro hunc et macta ibi Virgis daque in ruborem totumque irriga Ulmis! Paedom.: purpureas ego scribo illo litteras. Prisc.: Audi me: si parcis, dono hunc nummum aureum. Paedom.: Intus de redimendo corio tractabimus, Nunc sequere. Prisc.: sequor, i modo, sequar adhuc saepius.

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Zweiter Akt

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[571] „Den gesamten gestrigen Tag hat er zusammen mit ich weiß nicht was für Tagedieben mit einem schändlichen Spiel verbracht. Er hat sich in höchste Lebensgefahr begeben und ist nicht vor Einbruch der Nacht nach Hause zurückgekehrt.“ [572] Was sagst du hierzu, mein Prisculus? Du sagst ja gar nichts? Ver-

nimm das Übrige.

[573] „Er hat neulich sogar einige Schnür- und Kniebänder112 aus dem

Gymnasium mit nach Hause gebracht. Ich fürchte, dass er sie jemandem gestohlen oder ein Buch dagegen eingetauscht hat.“ [574] Ist das tatsächlich so, Prisculus? Wo sind Ciceros Briefe?

Prisc.: Ich habe sie verloren. Quint.: Wir werden sie später suchen. Nun lass uns noch das Ende anhören. [575] „Ich bitte dich, dass du, bester Quintilius, immer und immer wieder

entschieden gegen diesen verkommenen und ganz üblen Jungen vorgehst. Den Göttern würdest du einen willkommenen, mir einen ersehnten Dienst erweisen. Leb wohl. Aus meinem Arbeitszimmer.“ Hast du’s verstanden, Prisculus? So lügst du mich an? Und obwohl du nur so ein kleiner Wicht bist, schmiedest du solch gewaltige Lügenmonster? O du kleiner Lügenbold, büßen, ja büßen wirst du, [580] deiner Künste und Fähigkeiten angemessen. Hey, Paedomastyx, führe diesen nach drinnen und prügle ihn dort mit Ruten, schlag ihn blutig, überziehe ihn mit Ulmenschlägen! Paedom.: Ich werde ihn mit blutroten Buchstaben beschreiben. Prisc.: *wird von Paedomastyx abgeführt, währenddessen zu diesem* Hör mich an: Wenn du mich verschonst, schenke ich dir diese Goldmünze. Paedom.: [585] Wir werden drinnen über die Rettung deiner Haut verhandeln, folge mir nun. Prisc.: Ich folge, geh nur, ich werde dir noch öfters folgen.

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Drama de Divo Cassiano

Scena tertia ‹partis secundae› (II,3a) Quintilius, Barbula, Vitellius, Ocellus, Pulvillus, Poetus, Regulus, Pamphilus, ‹Simplicius› Quint.: Sed vos, Musarum alumnuli, quid discitis? Experiar vestram quoque fidem. pronuntia Cultissimos Horatii versiculos tu, Barbula. Barb.: „Virtus repulsae nescia sordidae Intaminatis fulget honoribus. Nec sumit aut ponit securis Arbitrio popularis aurae.“ Quint.: Fies poeta, Barbula, pangis carmina. Vitelli, prome gratiarum flosculos. Vitel.: „Gratia, quae tarda est, ingrata est: gratia namque Cum fieri properat, gratia grata magis.“ Quint.: Belle, belle. finge etiam, Ocelle, si potes. Ocell.: „Si bene quid facias, facias cito, nam cito factum Gratum erit, ingratum gratia tarda facit.“ Quint.: Pulville, quid tua sepsisti memoria? Pulvil.: „Cur in amicorum vitiis tam cernis acutum, Quam aut aquila aut serpens Epidaurius? at tibi contra Evenit, inquirant vitia ut tua rursus et illi.“ Quint.: Nihil tenes, Poete? Poet.: immo. Quint.: profer ocius. Poet.: „Male verum examinat omnis Corruptus iudex.“ Quint.: Quid novit Regulus? ede, si quid parturis. Reg.: „Hic murus aheneus esto: Nil conscire sibi, nulla pallescere culpa.“ Quint.: Dic, Pamphile. Pamph.: „Sincerum est nisi vas, quodcumque infundis acescit. Sperne voluptates; nocet empta dolore voluptas.“ Redit ‹Simpli›cius ‹*** cum?› condiscipu‹lis›

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Zweiter Akt

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Dritte Szene ‹des zweiten Aktes› (II,3a) Quintilius, Barbula, Vitellius, Ocellus, Pulvillus, Poetus, Regulus, Pamphilus, ‹Simplicius› Quint.: Aber ihr, ihr kleinen Musenzöglinge, was lernt ihr? Ich will auch eure Gewissenhaftigkeit überprüfen. – Du, Barbula, trage die ausgefeiltesten Verschen des Horaz vor. Barb.: [590] „Tugend, die keine schändliche Zurückweisung kennt, strahlt in ungetrübten Ehren. Sie nimmt auch nicht auf noch ab die Äxte nach dem Gutdünken der öffentlichen Meinung.“ 113 Quint.: Du wirst ein Dichter, Barbula, du verfasst Gedichte. [595] – Vitellius, trage eine Versweisheit über die Dankbarkeit vor. Vitel.: „Dank, der spät kommt, ist undankbar. Denn wenn der Dank sich beeilt, abgestattet zu werden, ist der Dank dankbarer.“ 114 Quint.: Schön, schön. – Dichte auch du, Ocellus, wenn du es kannst. Ocell.: „Wenn du etwas gut machst, mach es schnell. Denn was schnell gemacht wird, [600] ist dankbar. Später Dank macht undankbar.“115 Quint.: Pulvillus, was hegst du in deinem Gedächtnis? Pulvil.: „Warum nimmst du die Fehler deiner Freunde so scharf wahr, wie ein Adler oder eine epidaurische Schlange? Im Gegenzug aber passiert es, dass auch jene umgekehrt deine Fehler suchen.“116 Quint.: [605] Poetus, du kennst nichts? Poet.: Im Gegenteil. Quint.: Dann bring es schnell vor. Poet.: „Jeder bestochene Richter untersucht die Wahrheit schlecht.“ 117 Quint.: Was weiß Regulus? Sprich, wenn du etwas vorbringen möchtest. Reg.: „Dies sei eine Mauer aus Erz: [610] das Gewissen reinzuhalten, aufgrund keiner Schuld zu erblassen.“118 Quint.: Pamphilus, sprich. Pamph.: „Wenn das Gefäß nicht rein ist, wird alles, was du hineingießt, sauer. Verachte die Freuden: Gekaufte Freude schadet schmerzvoll.“119 Simplicius kehrt zurück ‹***› zusammen mit Mitschülern

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Drama de Divo Cassiano

Quint.: Etiam tu, Simplici, redis ad verbera: Fortasse tuam curarunt illa insaniam. Cude etiam tu aliquid indole tua praecoci. Simpl.: Vacca Khua, schola Schuall. Paries Wandt, scamnum Banckh. Inverso o‹rdine? ***› haec lepidis ‹***› ut vacca s‹***› Quint.: Oportet, ut postrema syllaba similiter Cadat, finge meliores versus, Simplici. Simpl.: Oves Schaph, Boves Oxen. Quint.: Germanica, non Latina fac consentiant. Simpl.: Mater Muatter, Pabulum Fuatter. Da Gib, Cribro ius, Sib. Hircus Bockh, Truncus Stockh. Quint.: Mihi spem iam praebes, Simplici, tui ingenii.

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Scenae tertiae pars altera (II,3b) Quintilius, Cassianus, Paedomastyx et scenae primae omnes actores Quint.: Nunc alterum restat pensum, quos [!] pendere Vos mihi volo. quotam praelegi epistolam? Posth.: Senecae secundam supra sexagesimam. Quint.: Tenes? Posth.: ut nomen, praeceptor, meum et tuum. 630 Quint.: Recita. Posth.: „Mentiuntur qui sibi obstare ad studium litteraria etc.“ Quint.: Tu pullus es Musarum, Posthume, praemio Te ornabo, prodi, cape dulce placentae crustulum. Fabi, eandem recita. Fab.: nescio. Quint.: tu nescias? Mox aliud faxo scias. sequens recita, Furi. 635 Fur.: Nescio. Quint.: etiam tu nescis? Vitel.: nescio.

Zweiter Akt

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Quint.: Simplicius, du kehrst ja wieder zu den Schlägen zurück. [615] Aber vielleicht haben jene deinen Wahnsinn ja geheilt. Dichte auch du etwas entsprechend deiner frühreifen Begabung. Simpl.: Vacca Kuah, Schola Schual. […]120 Paries Wand Scamnum Bank. Quint.: Die letzte Silbe sollte ähnlich [620] klingen.121 Überlege dir bessere Verse, Simplicius. Simpl.: Oves Schaf Boves Ochsen. Quint.: Sieh zu, dass sich das Deutsche, nicht das Lateinische reimt. Simpl.: Mater Muatter Pabulum Fuatter Da Gib Cribro ius Sieb [625] Hircus Bock Truncus Stock Quint.: Jetzt stimmst du mich zuversichtlich hinsichtlich deiner Begabung, Simplicius. Zweiter Teil der dritten Szene (II,3b) Quintilius, Cassian, Paedomastyx und alle Schauspieler aus der ersten Szene Quint.: Nun bleibt noch ein weiterer Unterrichtsstoff, von dem ich will, dass ihr ihn durcharbeitet. Den wievielten Brief habe ich vorgelesen? Posth.: Den zweiundsechzigsten des Seneca. Quint.: [630] Kennst du ihn noch auswendig? Posth.: Wie meinen und deinen Namen, mein Lehrer. Quint.: Trage ihn vor. Posth.: „Diejenigen lügen, die so scheinen wollen, als stünden ihrem Bildungseifer…“122 Quint.: Du bist ein Kind der Musen, Posthumus. Ich will dich belohnen, tritt vor, nimm einen süßen Keks. – Fabius, trage denselben Brief vor. Fab.: Ich habe keine Ahnung davon. Quint.: Du willst keine Ahnung haben? [635] Ich werde bald dafür sorgen, dass du von etwas anderem eine Ahnung hast. – Furius, trage das Folgende vor. Fur.: Ich habe keine Ahnung. Quint.: *zu Vitellius* Hast du auch keine Ahnung? Vitel.: Keine Ahnung.

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Drama de Divo Cassiano

Quint.: Quid? tu quoque nescias? o diligentiam. Corvine. Corv.: quidnam? Quint.: epistolam. Corv.: nescio. Quint.: quid Monstri? coniurastis nil velle discere? Hem Paedomastyx, flagriones collige. 640 Rufule, quid tu? Ruf.: tantundem scio, quod ceteri. Quint.: Proh scelus, ego vos, sed mox: Hostili, tu quoque Nil didicisti? Host.: rem divinasti ipsissimam. Quint.: Camille, quid tu commendasti memoriae. Camil.: Nihil. Quint.: nihil penitus? Camil.: penitissime nihil. 645 Quint.: Laudo vestrum studium, collaudo industriam. Tu silvam totam exscinde, ut virgas fabrices. Gemine, quid edidicisti? Gem.: quod reliqui haud amplius. Quint.: Caederis cum reliquis. Ocelle, quid tenes? Ocell.: Epistolam. Quint.: tenes? Ocell.: firmiter. 650 Quint.: age recita. Ocell.: Non teneo memoria, manu teneo, ut vides. Quint.: Tu me ludos facis? Ocell.: non facio, sic enim Primum intellexeram. Quint.: at tu aliud intelliges. Regule. Reg.: nescio. Quint.: Cursor. Cur.: nescio. Quint.: tu Barbula?

Zweiter Akt

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Quint.: Was? Auch du sollst keine Ahnung haben? Oh, was für ein Fleiß! – Corvinus! Corv.: Was denn? Quint.: Den Brief. Corv.: Ich habe keine Ahnung. Quint.: Was soll dieses wunderliche Verhalten? Habt ihr euch verschworen, nichts lernen zu wollen? [640] Ach, Paedomastyx, fessle die Rutenopfer. – Rufulus, was ist mit dir? Ruf.: Ich habe genauso viel Ahnung davon wie die Übrigen. Quint.: Oh, was für eine Frechheit, ich werde euch … aber erst in Kürze. – Hostilius, hast auch du nichts gelernt? Host.: Du hast die Sache bereits im Kern erfasst. Quint.: Camillus, was hast du deinem Gedächtnis anvertraut? Camil.: [645] Nichts. Quint.: Überhaupt nichts? Camil.: Überhaupt gar nichts. Quint.: Ich lobe euren Eifer, ich lobe euren Fleiß. *Zu Paedomastyx* Du, fälle einen ganzen Wald, um Ruten daraus zu machen. – Geminus, was hast du auswendig gelernt? Gem.: Nicht mehr als die Übrigen. Quint.: Man wird dich prügeln wie die Übrigen. – Ocellus, was hast du behalten? Ocell.: [650] Den Brief. Quint.: Hast du ihn behalten? Ocell.: Ganz fest. Quint.: Dann los, trage ihn vor. Ocell.: Ich habe ihn nicht im Gedächtnis, sondern in meiner Hand behalten, wie du siehst. Quint.: Veräppelst du mich? Ocell.: Ich veräpple dich nicht, denn so hatte ich es erst verstanden. Quint.: Aber du wirst auch noch etwas anderes verstehen. – Regulus! Reg.: Ich habe keine Ahnung. Quint.: Cursor! Cur.: Keine Ahnung. Quint.: Du, Barbula!

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Drama de Divo Cassiano

Barb.: Nescio. Quint.: tu, Quinte? Quintus: nescio. Quint.: Muti. Mut.: haud scio. Quint.: Hoc Cassianus resciet. Fur.: non resciat. Omnes: Non resciat. Fur.: culpam simul praestabimus, Praeteritam corrigemus negligentiam. Quint.: Opportune prodis, gymnasiarcha. Cass.: incidit Quid gravius? Quint.: Cassiane, nescio quis malus Daemon hos occupaverit: pensum exigo, Reddunt nihil, una est omnium responsio: Nescio, non teneo, nihil scio. Cass.: qui nesciunt? Quint.: Omnes, inquam, dempto unico. Cass.: non vapulant? Quint.: Et vapulant et vapularunt millies, Saxa ferio. Cass.: iam callum obduxerunt, modus Alius excudendus est, mensae accumbunt tuae? Quint.: Plerique. Cass.: pastum potumque illis subtrahe, Donec ad unguem cunctas reddant syllabas. Haec poena gravius mordebit quam verbera. Scribuntne Latine terse, pure et commode? Quint.: Incommodissime atque barbarissime. Quot verba, tot ferme leges stribligines. Cass.: Cedo mihi unam lucubratiunculam. Quint.: Nondum accepi. date epistolia, lege, si placet. Cass.: Lege, Fabi, thema communi lingua traditum. Fab.: Ich hab vermaint etc. Cass.: Infantis haec scriptio, lege cetera. Fab.: Aber es bringt einen schlechten mangel etc. Sed adfert exiguam penuriam.

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Zweiter Akt

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Barb.: [655] Keine Ahnung. Quint.: Du, Quintus! Quintus: Keine Ahnung. Quint.: Mutius! Mut.: Ich weiß es auch nicht. Quint.: Das wird Cassian erfahren. Fur.: Er soll es nicht erfahren. Alle: Er soll es nicht erfahren. Fur.: Wir werden umgehend unsere Schuld wiedergutmachen. Wir werden unsere bisherige Faulheit verbessern. *Cassian tritt auf* Quint.: Es passt gut, dass du jetzt gerade kommst, Schulleiter. Cass.: Ist [660] etwas Schlimmes passiert? Quint.: Cassian, ich weiß nicht, was für ein böser Dämon von ihnen Besitz ergriffen hat: Ich frage den Stoff ab, von ihnen kommt nichts, alle haben dieselbe Antwort: „Ich habe keine Ahnung.“, „Ich kenne das nicht.“, „Weiß nicht.“ Cass.: Welche haben keine Ahnung? Quint.: Alle, sage ich, mit Ausnahme eines einzigen. Cass.: Werden sie denn nicht geprügelt? Quint.: [665] Sie werden geprügelt und sind tausendmal geprügelt worden, aber ich schlage gegen Felsen. Cass.: Sie haben sich schon ein dickes Fell zugelegt. Man muss da eine andere Vorgehensweise ausarbeiten. Essen sie bei dir? Quint.: Die meisten. Cass.: Entziehe ihnen das Essen und Trinken, bis sie jede Silbe ganz genau wiedergeben. [670] Diese Strafe wird schlimmer an ihnen nagen als die Prügel. Schreiben sie das Lateinische sauber, fehlerfrei und korrekt? Quint.: Vollkommen inkorrekt und überaus barbarisch. Fast genauso viele Fehler wie Wörter wirst du lesen. Cass.: Gib mir eine kleine Abhandlung von ihnen. Quint.: [675] Ich habe noch keine bekommen. Gebt ihm Briefchen, lies sie, wenn du willst. Cass.: Lies, Fabius, einen Satz, der in deiner Alltagssprache verfasst ist. Fab.: „Ich meinte …“ Cass.: Das ist ein kinderleichter Satz, lies das Übrige. Fab.: „Aber es bringt einen schlechten Mangel usw.“ [680] Sed adfert exiguam penuriam.

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Drama de Divo Cassiano

Cass.: Hem, si Tullius hoc audiat, occidat illico. Emendas, Quintili, peccata serio? Quint.: Non emendo, sed ab integro scribo omnia. Cass.: Haeccine vestra est industria? hoc studium? hic labor? Cunctine, Quintili, tam foede scriptitant? Quint.: Vel cuncti vel pars maxima. Cass.: o faci mali, O glires et feces, posthac mactabo vos Virgis, caedam omnes ut ad lassitudinem. Ipse manu sceptra geram, ipse tamquam ad necem Usque. quid haec sibi vult improbitas, inertia, Cessatio? vos parentum res absumitis, Operae pretium nullum facitis, ludis iocisque Horas, dies, menses, annos comburitis. Hoccine studere est? hoc proficere? abito nunc, Ignavum pecus, a prandio si quispiam Haeserit, erraverit, non scripserit, domum Plorans et eiulans. nostis manum meam Stilumque, rubricantes scribo litteras. Cavete malum, mature vobis nuntio, Mone musicos Nullum locum lacrima, nullum iuncta manus, Nullumque deprecatio habebit, nec mea Si ad genua supplicem se quisquam advolverit, Exorari me patiar inexorabilem.

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Zweiter Akt

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Cass.: Ach, wenn Tullius123 das hörte, fiele er sofort wieder tot um. Verbesserst du, Quintilius, ihre Fehler auch ernsthaft? Quint.: Ich verbessere sie nicht, sondern schreibe alles von Anfang an neu. Cass.: Ist das euer Fleiß? Das euer Eifer? Das eure Mühe? [685] Schreiben alle so fürchterlich, Quintilius? Quint.: Alle oder zumindest der Großteil. Cass.: O ihr miesen Würmer, ihr miesen kleinen Ratten, ihr Gesindel, ich werde euch nachher mit Ruten schinden und euch alle gleichsam bis zur Erschöpfung verprügeln. Ich selbst werde eigenhändig das Szepter führen, ich selbst, gewissermaßen bis zum Tod. [690] Was soll dieses ungebührliche Benehmen, diese Faulheit, dieses Nichtstun? Ihr verschleudert das Vermögen eurer Eltern, macht nichts, was der Mühe wert ist, mit Spiel und Spaß124 vergeudet ihr Stunden, Tage, Monate, Jahre. Das soll ‚Lernen‘ bedeuten? Das ‚Fortschritte machen‘? [695] Ihr faules Pack, wenn jemand seit dem Mittagessen getrödelt hat, sich etwas zuschulden hat kommen lassen, nicht geschrieben hat, soll er jetzt weinend und heulend nach Hause verschwinden. Ihr kennt meine Hand und meinen Griffel, ich schreibe blutrote Buchstaben nieder. Hütet euch vor dem Bösen, das verkünde ich euch schon jetzt: Die Musiker sollen sich bereithalten [700] Es wird kein Platz für eine Träne, kein Platz für ein Händereichen, kein Platz für eine Abbitte sein, und auch wenn sich irgendeiner mir demütig bittend zu Füßen wirft, werde ich mich nicht zu einem Sanftmütigen besänftigen lassen.

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Drama de Divo Cassiano

Tertia pars dramatis Scena prima (III,1) Cassianus, Aeonius, ‹Dulus› Cass.: O sancte caeli rector, qui sensa penetras Intima mortalium, tu nosti, quid geram in Animo: nihil mihi cum istorum impurissimis Est relligionibus negotii, nihil fuit Nec erit. nam Cassianus Christianus est Et Christianus Cassianus est. palam Hoc et fuso libens testabor sanguine, Si vel res exiget vel tu, deus, Me purpurata ornabis dignum laurea. Qua me tamen dignum non esse haud nescio. Sabionensis fui decretus pontifex, Sed exactus, tuam quod legem exponerem. Nunc versor Immolae in Foro Cornelii, Gymnasiarcham ago, profanas doceo litteras. Caelestem disciplinam mallem tradere Et tradam, si iubes meo periculo. Tu segnia, numen, inflamma praecordia, Ego faces subiciam. sunt bona indole, Sunt spe praeclara adolescentes complusculi. Quos inter omnes omnibus praestantior Moratiorque paret esse Aeonius. Huic caecam tolle pectoris caliginem Veroque et sancto circumfunde lumine, Ut te satorem rerum agnoscat, colat agnitum, Secumque pubem trahat Aoniam, hoc flagito. Egreditur Aeonius Sed eccum, prodit ipse. volvit serio Quid animo lectitans, excipiam clanculum, Quid dictitet; et si relligionis offerat Vel exigua opportunitas, haud negligam. Aeon.: „Non esse autem illud carmen furentis ...“ Cass.: Ciceronem tractat. Aeon.: „… cum ipsum poema

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Dritter Akt

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Dritter Akt des Dramas Erste Szene (III,1) Cassian, Aeonius, ‹Dulus› Cass.: *zunächst allein* O heiliger Lenker des Himmels, der du die verborgenen [705] Gedanken der Sterblichen durchschaust, du weißt, was ich in meinem Herzen trage: Ich habe nichts mit der durch und durch unreinen Religion von diesen zu tun, ich hatte nichts damit zu tun und werde nichts damit zu tun haben. Denn Cassian ist ein Christ und ein Christ ist Cassian. [710] Dies werde ich offen und auch gerne unter der Hingabe meines Blutes bezeugen, wenn es entweder die Umstände erfordern werden oder du, mein Gott, mich der Verleihung des blutroten Lorbeers125 würdig erachten solltest. Dass ich seiner nicht würdig bin, weiß ich ganz genau. Ich wurde in Säben zum Bischof ernannt, [715] aber verjagt, weil ich dein Gesetz verkündet habe. Nun lebe ich in Imola, in Forum Cornelii, ich arbeite als Schulleiter und lehre weltliche Bildung. Ich wollte lieber die himmlische Lehre vermitteln und ich werde sie vermitteln, wenn du es – mag ich auch dadurch in Gefahr geraten – befiehlst. [720] Gott, entflamme du die zögernden Herzen, ich werde Fackeln daranlegen. Viele der Heranwachsenden besitzen eine gute Begabung und berechtigen zu großartiger Hoffnung. Unter ihnen allen scheint Aeonius126 hervorragender und anständiger als alle anderen zu sein. [725] Diesem nehme den blindmachenden Schleier vom Herzen und erfülle ihn mit dem wahren und heiligen Licht, dass er erkennt, dass du der Schöpfer der Dinge bist, dass er dich, nachdem er dich erkannt hat, verehrt und dass er die junge Schar der Musen127 mit sich führt, darum flehe ich. Aeonius tritt auf, *vertieft in ein Buch* Aber siehe da, da kommt er schon selbst heran. [730] Was ihn bei der Lektüre im Herzen ernsthaft beschäftigt, das will ich unbemerkt aufgreifen, und auch das, was er sagt; und sollte sich auch nur eine kleine Gelegenheit ergeben, um über Religion128 zu sprechen, werde ich sie nicht auslassen. Aeon.: „Dass dies aber nicht der Orakelspruch eines Wahnsinnigen ist, …“129 Cass.: Er beschäftigt sich mit Cicero.

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Drama de Divo Cassiano

Declarat, tum vero ea, quae ἀκροστιχίς dicitur ...“ 735 Cass.: Opportunum in locum incidit. Aeon.: „... cum deinceps ex primis versus litteris aliquid connectitur.“ Meras tenebras, mera aenigmata lego, nemone Adest aut Oedipus aut Apollo, qui explicet? En, Cassianus contra venit, hic Delius 740 Natator, hic extricabit me e sentibus. Cass.: Aeoni, salve. Aeon.: ni salvum reddis hodie, Qui salvus esse possim, non intelligo. Cass.: Quid est periculi? Aeon.: nihil periculi Quidem, sed versor apud Cimmerios, quaeso te, 745 Si potes, adiuta. Cass.: quid iuvem? quid legis? Aeon.: Quod non intelligo. Cass.: quis scriptor? Aeon.: Tullius. Cass.: Liber? Aeon.: De divinatione. Cass.: obscurus est. Aeon.: Nox ipsa obscurior esse non queat. Cass.: locus Quis? Aeon.: de Sibyllinis oraculis. Cass.: quis est? 750 Aeon.: Hic „tum vero ea quae ἀκροστιχίς dicitur etc.“ Cass.: O Aeoni, ingentia latent mysteria, Quae Tullius ipse numquam animo complexus est. Aeon.: Capis tu? Cass.: si modo tu mihi capax sies. Aeon.: Si quae assequi non potero, credam. Cass.: salva res, 755 Primum est, quod te scire volo: vatum oracula In promptu habenda, si quid effectum voles. Aeon.: En tibi, sed exhibe versus, quos indicat

Dritter Akt

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Aeon.: „… verdeutlicht das Gedicht selbst, [735] und ganz besonders jenes Phänomen, das man ‚Akrostichis‘ nennt ...“ Cass.: Er kommt zu einem gelegenen Zeitpunkt daher. Aeon.: „... wenn fortlaufend aus den ersten Buchstaben des Verses etwas Zusammenhängendes entsteht.“ Ich lese nur Schleierhaftes, nur Rätselhaftes, ist kein Ödipus oder kein Apollo da, der mir das erklärt?130 *Erblickt Cassian* [740] Ah siehe, Cassian kommt mir entgegen, ein Experte. 131 Er wird mich aus dem Dickicht entwirren. Cass.: Aeonius, guten Tag. Aeon.: Wenn du den heutigen mir nicht zu einem guten machst, verstehe ich nicht, wie er für mich gut sein kann.132 Cass.: Welche Gefahr besteht? Aeon.: Es besteht freilich keine Gefahr. [745] Aber ich tappe im Dunkeln.133 Ich bitte dich, hilf mir, wenn du kannst! Cass.: Wobei kann ich helfen? Was liest du? Aeon.: Etwas, das ich nicht verstehe. Cass.: Welcher Autor? Aeon.: Tullius. Cass.: Welches Buch? Aeon.: Über die Weissagung. Cass.: Das ist schwer zu durchschauen. Aeon.: Die Nacht selbst kann man nicht schwerer durchschauen. Cass.: Welche [750] Stelle? Aeon.: Über die Sibyllinischen Weissagungen. Cass.: Welche? Aeon.: Hier heißt es: „und ganz besonders jenes Phänomen, das man ‚Akrostichis‘ nennt.“ Cass.: O Aeonius, gewaltige Geheimnisse verbergen sich darin, die Tullius selbst niemals verstanden hat. Aeon.: Verstehst du sie? Cass.: Wenn nur du mir verständig wärest. Aeon.: [755] Wenn ich irgendetwas nicht verstehen kann, werde ich es glauben. Cass.: Es ist etwas Heilbringendes, das ist das erste, was ich will, dass du es weißt: Die Weissagungen der Seherinnen muss man zur Hand haben, wenn man irgendeinen Erfolg erzielen will. Aeon.: Nun denn, trage mir die Verse vor, auf die Tullius hier verweist.

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Drama de Divo Cassiano

Hic Tullius. Cass.: id vero est perfacile, en reperi libro, quο Ἱδρῶσει δὲ χθών κρίσεως σημεῖον ὅτ’ ἔσται. Aeon.: Quid arcani hic latet tripusne Delphicus? Cass.: Sanctius est omni tripode carmen. Aeon.: aveo Penetrare sensum. Cass.: adverte animum, pandam omnia. Hic primum primas versuum aspice litteras. Aeon.: Prima est iota, alterum η, σ tertium, Sequitur ου et sigma ultimum. Cass.: Et nomen ex his litteris quod nascitur? Aeon.: Ιησοῦς, sed quid est hoc nominis? Cass.: dei est. Deum atque dei sanctum declarat filium, Caeli, terrae, freti mundique principem, Quem sola Christiana gens agnoscit et Colit cultusque aeterna reportat praemia. Sed monstra qui placare student Plutonia, Cum Plutone aeternis urantur ignibus. Lege, quae vestrae canunt vates oracula. „Iudicii signum tellus sudore madescet,“ Quando hic deus caelesti in arcu venerit, Et ad tribunal humanam gentem exciverit. Aeon.: „E caelo rex adveniet, per saecula sanctus.“ Ἥξει δ’ οὐρανόθεν βασιλεὺς αἰῶσιν ὁ μέλλων. Cass.: Hoc nomen primo quoque Sibylla volumine Expressit aenigmaticis his hexametris, „ὀκτὼ γὰρ μονάδας ...“ Hunc numerum complectuntur quinque litterae ι decem, η 8, sigma ducenta, ο septuaginta, υ Quadr‹ingen›ta, sigma postremum ducenta. Quorum caput et sors est octingenta ‹octoginta› octo. Aeon.: Sane conveniunt. quid igitur est Diespiter, Quid Iuno, Saturnus, Apollo, Mavors, Venus? Cass.: Inania sunt nomina sine numine. Aeon.: quis polum, Quis terras, quis mundi procudit machinam?

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Cass.: Das allerdings ist sehr leicht. Siehe, ich habe in diesem Buch eine Stelle gefunden, wo es heißt: [760] „Ist des Gerichtes Zeichen erschienen, dann schwitzet die Erde.“134 Aeon.: Welches Geheimnis verbirgt hier der delphische Dreifuß? 135 Cass.: Es ist ein Spruch, heiliger als jeder Dreifuß. Aeon.: Ich möchte seinen Sinn durchschauen. Cass.: Sei aufmerksam, ich werde dir alles darlegen. Schau dir hier die ersten Buchstaben der ersten Verse an. Aeon.: [765] Der erste ist ein J, der zweite ein E, der dritte ein S, es folgt ein U, der letzte ist ein S. Cass.: Und welcher Name ergibt sich aus diesen Buchstaben? Aeon.: JESUS, aber was ist das für ein Name? Cass.: Es ist der Gottes. Er bezeichnet Gott und den heiligen Sohn Gottes, [770] den Herrscher über den Himmel, die Erde, das Meer und die Welt, den allein das Volk der Christen anerkennt und verehrt und dem es ewige Ehre und Lobpreis darbringt. Diejenigen aber, die sich mühen, die höllischen Ungeheuer zu besänftigen, sollen zusammen mit Pluto im ewigen Feuer brennen. [775] Lies, welche Weissagungen eure Seherinnen verkünden. „Das Zeichen des Gerichts wird die Erde benetzen,“136 wenn dieser Gott im Himmelsbogen erscheint und das Menschengeschlecht zum Richterstuhl herbeiruft. Aeon.: „Vom Himmel herab wird ein König kommen, bis in Ewigkeit heilig.“137 Cass.: [780] Diesen Namen hat die Sibylle auch im ersten Buch in folgenden rätselhaften Hexametern ausgesprochen: „Einer sind acht vorhanden…“138 Folgende Zahl geben die fünf Buchstaben wieder: Jota zehn, Eta acht, Sigma zweihundert, Omikron siebzig, Ypsilon [785] vier‹hundert›, Sigma letztlich wieder zweihundert. Deren Summe und Weissagung ist 8‹8›8. 139 Aeon.: Das ergibt wirklich Sinn. Aber was ist dann Jupiter,140 was Juno, Saturn, Apollo, Mars,141 Venus? Cass.: Das sind leere Namen ohne Göttlichkeit. Aeon.: Wer schuf dann den Himmel, [790] wer die Erde, wer die Weltmaschine?142

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Drama de Divo Cassiano

Cass.: Consule tuas vates, ipsae rem edisserent. Primos oraculorum versus pellege. Aeon.: „Εἷς θεός ...“ μόνος ὃς ἄρχη ὑπερμεγέθης ἀγένητος. Unus qui solus regnat, unus et idem, non genitus Cass.: Quid ergo tot deorum monstra fingitis? Quid sibi volunt tot Vulcani, quid tot Ioves? 795 Quid Averrunculus, quid Foriculus deus? Quid Februus, Domiducus, Consus, Cynthius? Quid Stabilinus, Sterquilinus, quid Terminus? Sentimus, Picumus, Pilumnus, Tellumo? Hi divi sunt. divarum est maior copia. 800 Ecquid tandem non portentorum cuditis? Quae dea Prema, Pertunda, Numeria, quae Rumina est? Quae Rusina, Collatina, Libentina, Cloacina, Latrina? Quae Lacturtia, Nasturtia, Hostilina, Tutilina? Quae Volentia, Paventia, Lubentia, Nolentia? 805 Miror non addidisse Stultinam, Ineptinam, Fatuinam, Insaniam, Quae regnant per orbem totum plurimae. Aeon.: Ancipitem me reddunt vatum vaticinia. Quem tu colis ex diis, Cassiane, minoribus Maioribusve? Cass.: nullum, quia nullust deus 810 Praeter eum et unicum, qui hanc orbis orbitam Potenti solus est molitus dextera. Nec sunt plures nec esse queunt plures dei, Unum colo puroque adoro pectore. Dul.: Magister? Cass.: quid venis? Dul.: hospes domum tuam 815 Venit. Cass.: quis hospes? Dul.: nescio, te vult colloqui. Cass.: Unde est? Dul.: Sabiona se venire dictitat. Cass.: Venio. tu, Aeoni, rem tractabis serio. Aeon.: Non acquiescam, dum sciam, quae numina Mihi colenda sint. sine numine vivere, 820 Est impium, multa colere, stultum. unum quis est Qui colat? haereo miser, haereo, quid vel colam Vel non colam, magistrum rursus consulam. Egreditur Phlox

Dritter Akt

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Cass.: Befrage deine Seherinnen, sie selbst werden dir den Sachverhalt verkünden. Lies dir die ersten Verse der Weissagungen durch. Aeon.: „Einer ist Gott der allein herrscht, gewaltig groß, ungezeugt.“143 Cass.: Was also erfindet ihr so viele Ungeheuer an Göttern? [795] Was sollen so viele Vulkane, was so viele Jupiter?144 Was der Gott Averrunculus, was der Gott Foriculus?145 Was Februus, Domiducus, Consus, Cynthius? Was Stabilinus, Sterquilinus, was Terminus? Sentimus, Picumus, Pilumnus, Tellumo? [800] Das sind nur die Götter. An Göttinnen gibt es eine noch größere Zahl. Ja, was erfindet ihr nicht für Ungeheuer? Was soll die Göttin Prema, Pertunda, Numeria, was Rumina?146 Was Rusina, Collatina, Libentina, Cloacina, Latrina? Was Lacturtia, Nasturtia, Hostilina, Tutilina? [805] Was Volentia, Paventia, Lubentia, Nolentia? Es wundert mich, dass ihr Stultina, Ineptina, Fatuina und Insania, die am mächtigsten über den ganzen Erdkreis herrschen, nicht hinzugefügt habt. Aeon.: Die Sprüche der Seherinnen lassen mich zweifeln. Welchen von den Neben- oder [810] Hauptgöttern verehrst du, Cassian? Cass.: Keinen, weil es keinen Gott gibt, außer dem einen, der allein diesen runden Erdkreis mit seiner mächtigen Rechten geschaffen hat. Es gibt nicht mehrere Götter und es kann nicht mehrere Götter geben. Ich verehre den einen und mit reinem Herzen bete ich ihn an. *Dulus tritt auf* Dul.: [815] Herr Lehrer? Cass.: Warum kommst du hierher? Dul.: Ein Gast kam zu dir nach Hause. Cass.: Welcher Gast? Dul.: Keine Ahnung, er will dich sprechen. Cass.: Woher ist er? Dul.: Er sagt, er komme aus Säben. Cass.: Ich komme. – Du, Aeonius, sollst über diese Sache ernsthaft nachdenken. *Cassian und Dulus ab* Aeon.: Ich werde nicht ruhen, bis ich weiß, welche Götter [820] ich verehren muss. Ohne Gott zu leben, ist frevelhaft, viele zu verehren, dumm. Wer ist jener, den er als den einen verehrt? Ich bin mir unsicher, ich Elender, ich bin mir unsicher, was ich verehren und was ich nicht verehren soll. Ich werde meinen Lehrer erneut um Rat fragen. Phlox tritt auf

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Drama de Divo Cassiano

Scena secunda ‹partis tertiae› (III,2) Phlox diabolus, Aeonius, Boethius Phlox: Quid, tu scelus? tu divos audes temnere, Quos Immola, quos Roma, quos et occidens Et oriens flexo veneratur poplite? Iam te praedam tricipiti obiciam Cer‹be›ro. Huc age veni, Gigantum proles impia, Furiae, Harpyiae, Tisiphoneque tua viscera In mille discerpent frusta. Aeon.: o suprema mens, O Cassiani numen, fer potenter opem Potens. Phlox: quid, quod numen, quem Galilaeum invocas? Voca, voca, clama, clama, invoca, scelus. Aeon.: Ah, ah, ah, perii. Phlox: pereas perditissime. Aeon.: Ah, nec pedem nec brachium queo vertere. Egreditur Boethius, discedit Phlox Me miserum, quid agam? spes omnes me funditus Reliquere. Boeth.: Aeoni. Aeon.: quis immortalium es? Boeth.: Ades, Aeoni, surge et coepta bene confice. Aeon.: O lux, o sol, quae te iam sors huc attulit? Boeth.: Postea scies. nunc Cassianum quaerito Dictisque illius non secus ac meis fidem Dato, sacris, puris, castis, caelestibus. A Cassiano imbutus Christum principem Christique nomen sanctumque confiteberis. Ac demum civis noster caelique incola Bonis felix perennibus ditaberis. Aeon.: En valeo, dolor abscessit, monstrum vanuit. Ubi es iam non tantum magister, sed pater? Te, Cassiane, quaero, tu lux vitae meae, Tu auctor, tu dux ad ipsa caeli culmina. Quam prodest aures praebere sapientibus. Egreditur Cassianus

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Zweite Szene ‹des dritten Aktes› (III,2) Der Teufel Phlox, Aeonius, Boethius Phlox:147 *zunächst allein mit Aeonius* Was soll das, du Schurke? Du wagst es, die Götter zu verachten, [825] die Imola, die Rom, die sowohl der Westen als auch der Osten mit gebeugtem Knie verehrt? Bald schon werde ich dich dem dreiköpfigen Zerberos148 als Beute vorwerfen. Los, komm hierher, gottlose Gigantenbrut, die Furien, Harpyien und Tisiphone149 werden deine Eingeweide [830] in tausend Stücke zerfetzen. Aeon.: O höchster Geist, o Gott des Cassian, Mächtiger, bring mir mächtig Hilfe. Phlox: Was, welchen Gott, welchen Galiläer rufst du an? *Prügelt auf ihn ein* Rufe, rufe, schrei, schrei, rufe ihn an, du Schurke! Aeon.: Ah, ah, ah, ich bin verloren! *Stürzt zu Boden* Phlox: Hoffnungslos verloren sollst du zugrunde gehen. Aeon.: [835] Ah, weder Bein noch Arm kann ich bewegen. Boethius tritt auf, Phlox geht ab Ich Elender, was soll ich tun? Alle Hoffnung hat mich gänzlich verlassen. Boeth.:150 Aeonius. Aeon.: Wer von den Unsterblichen bist du? Boeth.: Komm her, Aeonius, erhebe dich und bringe das gut zu Ende, was du begonnen hast. Aeon.: O mein Licht, o meine Sonne, welche Fügung hat dich soeben hierhergebracht? Boeth.: [840] Das wirst du später erfahren. Nun suche Cassian auf und vertraue seinen Worten nicht weniger als meinen. Sie sind heilig, rein, fromm, himmlisch. Von Cassian angeleitet wirst du den Herrscher Christus und den heiligen Namen Christi bekennen. [845] Und letztlich wirst du als unser Mitbürger und Himmelsbewohner selig mit ewigen Gaben beschenkt. Aeon.: Siehe, es geht mir wieder gut, der Schmerz ist gewichen, das Ungeheuer verschwunden. Wo befindet sich nun der, der nicht nur mein Lehrer, sondern auch mein Vater ist? Dich, Cassian, suche ich, du Licht meines Lebens, [850] du Urheber, du Lenker zu jenen Himmelshöhen. Wie sehr ist es von Nutzen, den Weisen sein Ohr zu leihen. *Aeonius ab*; Cassian tritt auf

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Drama de Divo Cassiano

Scena tertia ‹partis tertiae› (III,3) Cassianus, Stephanophorus, Martyrologus Cass.: Premunt curae, vexat princeps, urit dolor. Grex puerorum inquietus continuo tenet Me sollicitum, ne pereat fraude Caesaris. Sic spem omnem tollit Iulianus impius 855 Docendi legem Christi sanctam numinis. Parum fari capitale est, clam loqui, parum Promovet: impiorum cultus fervet daemonum. Suggere consilium, Christe, rector aetheris. Mori iubes? en mille mortes oppetam, 860 Ut nomen numenque tuum prodam gentibus. Ah, ut premor somno, sed cedam paullulum, Sedet Cassianus, egrediuntur angeli Ut curarum possit medicus accedere. Mart.: En, Cassiane, quam coronam diligis? Steph.: Gemmis auroque inserta radiat mea. 865 Mart.: Aculeatis horret mea iuncis cuspidum Premitque. Steph: mea lenit. Mart.: mea vulnerat. Steph.: mea Sanat. Mart.: mea vitam haurit. Steph.: mea haustam reddere Potest. Mart.: mea vincit. Steph.: victores ornat mea. Cass.: An altera nulli porgitur sine altera? 870 Mart.: Dulcia non meruit, qui non gustavit amara. Cass.: Sed arduum est, tot acerbitates perpeti. Mart.: At immortalis comparatur gloria. Cass.: Impone vulnificam tuam, stant omnia Tormenta invicto sustinere robore. 875 Mart.: Accipe futuri pignus hoc certaminis. Cass.: Ah, ah, morior. Mart.: sed isthaec mors vitam parit.

Dritter Akt

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Dritte Szene ‹des dritten Aktes› (III,3) Cassian, Stephanophorus, Martyrologus Cass.: *zunächst allein* Sorgen bedrücken, der Kaiser quält, der Schmerz brennt. Die umtriebige Schar der Jungen hält mich in steter Besorgnis, dass sie durch den Verrat des Kaisers151 zugrunde geht. [855] So hat der gottlose Julian jede Hoffnung genommen, das heilige Gesetz Christi, unseres Gottes, zu lehren. Zu wenig zu sagen, ist ein Kapitalverbrechen; heimlich zu sprechen, bewirkt zu wenig. Es wütet die Verehrung gottloser Dämonen. Christus, Lenker des Himmels, bringe Rat. [860] Befiehlst du zu sterben? Siehe, ich werde tausend Tode auf mich nehmen, um deinen Namen und deine göttliche Macht den Heiden darzulegen. Ah, wie müde ich doch bin, aber ich werde mich ein Weilchen zurückziehen, Cassian setzt sich; Engel treten auf damit der, der meine Sorgen lindert, herbeikommen kann. *Schläft ein* Mart.:152 Siehe, Cassian, welche Krone willst du lieber? Steph.: [865] Meine strahlt mit Edelsteinen und Gold besetzt. Mart.: Meine starrt vor spitzen Binsenstacheln und drückt. Steph.: Meine lindert. Mart.: Meine verletzt. Steph.: Meine heilt. Mart.: Meine nimmt das Leben. Steph.: Meine kann das genommene zurückgeben. Mart.: Meine siegt. Steph.: Meine ziert die Sieger. Cass.: [870] Wird denn niemandem die eine ohne die andere verliehen? Mart.: Süßes hat nicht verdient, wer nicht vom Bitteren gekostet hat. Cass.: Aber es ist schwer, so viele Schmerzen zu durchleiden. Mart.: Doch unsterblicher Ruhm wird dadurch erworben. Cass.: Setze mir deine Wunden bringende auf, ich habe fest beschlossen, alle [875] Folterqualen mit unbesiegbarer innerer Kraft auszuhalten. Mart.: Nimm dies als Unterpfand für den kommenden Kampf. *Setzt ihm die stachelige Krone auf* Cass.: Ah, ah, ich sterbe! Mart.: Aber dieser Tod verschafft Leben.

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Drama de Divo Cassiano

Cass.: Hem, quid vidi? quod est obiectum somnium? Livet caput duris compunctionibus. Video, video, quid imago loquatur somnii. Coniecto, quid geminae coronae nuntient, Mors imminet tibi, Cassiane, nobilis. Age vince, vince cruciamenta fortiter. Aeternae proponuntur vitae praemia. Surgit Cassianus O numen, o caeli imperator maxime, Confirma somnium, nullam horreo necem, Seu sit per ignes penetrandum seu cuspides. Non ferrum, non flamma mihi iter hoc obsepiet. Egreditur Aeonius

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Scena quarta ‹partis tertiae› (III,4) Aeonius, Cassianus Aeon.: Hic est, quem in urbe tota dudum quaerito. O Cassiane, o gymnasiarcha. Cass.: quid gemis? Aeon.: O spes, o mea salus. Cass.: quid hic prooemii? Aeon.: Ab ipsa morte passum vix medium abfui. Cass.: Quando? Aeon.: digressus abs te cum revolverem, Quod tecum disputaveram de numine Et uno et unice colendo. Cass.: quid accidit? Aeon.: Monstrum horrendum, informe et formidabile, Quo non reor esse turpius apud inferos. Cass.: Vidisti? Aeon.: invisum prorsus, quin mori prius Malim quam spectrum tale videre denuo. Cass.: Invasit te? Aeon.: et pulsavit, ferme usque ad necem.

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Dritter Akt

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Cass.: *Engel ab; wacht auf* Ach, was habe ich da gesehen? Was für ein Traum zeigte sich mir da? Mein Haupt ist blau von spitzen Einstichen. [880] Ich sehe, ja ich sehe, was das Traumbild mir sagen will. Ich ahne, was die beiden Kronen mir verkünden wollen, ein edler Tod steht dir bevor, Cassian. Wohlan, siege, ja siege tapfer über die Folterqualen. Der Lohn des ewigen Lebens wird angekündigt. Cassian erhebt sich [885] O Gott, o größter Himmelsherrscher, bestärke den Traum. Ich schrecke vor keinem Tod zurück, sei es, dass ich durchs Feuer, sei es, dass ich durch spitze Stacheln gehen muss. Weder Eisen noch Flamme werden mir diesen Weg versperren. Aeonius tritt auf Vierte Szene ‹des dritten Aktes› (III,4) Aeonius, Cassian Aeon.: Hier ist ja der, den ich schon lange in der ganzen Stadt suche. [890] O Cassian, o mein Schulleiter. Cass.: Was seufzt du? Aeon.: O meine Hoffnung, o meine Rettung. Cass.: Was soll dieses Proömium hier? Aeon.: Vom Tod selbst war ich kaum noch einen halben Schritt entfernt. Cass.: Wann? Aeon.: Als ich dich zurückgelassen hatte und noch einmal über das nachdachte, was ich mit dir über [895] den einen und einzig zu verehrenden Gott besprochen hatte. Cass.: Was kam dann? Aeon.: Ein schreckenerregendes, hässliches und fürchterliches Ungeheuer, das, so glaube ich, das widerlichste in der Hölle ist. Cass.: Hast du es gesehen? Aeon.: Das ganz und gar Unansehnliche, ja ich möchte lieber sterben als einen solchen Anblick erneut zu Gesicht zu bekommen. Cass.: [900] Ist es in dich gefahren? Aeon.: Und hat mich geschlagen, beinahe bis zum Tod.

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Drama de Divo Cassiano

Cass.: Nihilne dixit? Aeon.: immo. Cass.: quid? Aeon.: minacias: Quid tu, scelus, tu divos audes temnere, Quos Immola, quos Roma ingens, quos et occidens, Et oriens sol curvato adorat poplite? Iam te praedam tricipiti obiciam Cer‹be›ro. 905 Haec dixit et dictis atrocia verbera Addidit et demum examinatum abiecit me. ego Hic quid agerem, tuum numen, quod tu colis, Votis et precibus devocavi plurimis. Cass.: Sensisti opem? Aeon.: et salutem praesentissimam. 910 Augustiore forma iuvenis candido Amictu, vultu liberali et splendido, Repente visus astitit et prensum manu Erexit in pedes totoque corpore Plagarum sensum dicto citius expulit. 915 Cass.: Dei fuit iste nuntius. nil fatus est? Aeon.: Ut ad te adirem, abs te Christi sacris Imbuerer, imbutum fore carum numini, Caeli incolam haeredemque opum immortalium. Nunc ego, magister, disciplum votam tibi, 920 Totum suscipe. quicquid mihi imperaveris, Hoc exequar. Cass.: grates tibi perennes ago, Aeterne rerum sator, ut qui clementibus Preces indignas auribus exaudiveris Aeoniumque dio impleris numine. 925 Fac, ut constanti vota solvat pectore Tibi, postquam legem nostram, legem numinis, Legem caelo allatam exposuero, quod bene Divi vertant omnes. caelesti gurgite Immerso tibi puroque abluto flumine, 930 Conceptas mentis labes omnes diluam. Hinc tu candidior exibis nive candida, Par illi, quem prius spectasti caelitem. Sed tibi haec intus, tibi ne fraudi vita sit.

Dritter Akt

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Cass.: Hat es nichts gesagt? Aeon.: Ganz im Gegenteil. Cass.: Und was? Aeon.: Drohungen: „Was wagst du es, Schurke, die Götter zu verachten, die Imola, die das mächtige Rom, die sowohl der Westen als auch der Osten mit gebeugtem Knie anbeten? [905] Bald schon werde ich dich dem dreiköpfigen Zerberos153 als Beute vorwerfen.“ Das hat es gesagt und dem Gesagten noch wilde Schläge hinzugefügt, und nachdem es mich so geprüft hatte, hat es mich weggestoßen. Da habe ich deinen Gott, den du verehrst, mit unzähligen Bitten und Flehen angerufen, was ich nun tun solle. Cass.: [910] Hast du Hilfe erfahren? Aeon.: Und eine sofortige Rettung. Ein junger Mann, von erhabener Gestalt, in heller Kleidung, mit großherziger und freundlicher Miene, erschien plötzlich und stand mir zur Seite, nahm mich bei der Hand, stellte mich wieder auf die Beine [915] und vertrieb schneller als gesagt das Schmerzgefühl der Schläge aus meinem ganzen Körper. Cass.: Dies war ein Bote Gottes. Hat er nichts gesagt? Aeon.: Ich solle zu dir gehen, von dir solle ich mich in die heiligen Geheimnisse Christi einweihen lassen. Eingeweiht würde ich die Liebe Gottes erwerben, ein Bewohner des Himmels und Erbe unsterblicher Reichtümer werden. [920] Nun verpflichte ich mich dir, mein Lehrer, als Schüler,154 nimm mich ganz an. Was auch immer du mir aufträgst, werde ich ausführen. Cass.: Ich danke dir unendlich, ewiger Schöpfer der Dinge, dass du meine unwürdigen Gebete mit gnädigen Ohren erhört [925] und Aeonius mit deiner göttlichen Macht erfüllt hast. Gib, dass er mit unerschütterlichem Herzen dir sein Versprechen erfüllt, nachdem ich ihm unser Gesetz, das Gesetz Gottes, das vom Himmel erhaltene Gesetz dargelegt habe. Dies mögen alle Himmlischen zum Guten wenden. *Zu Aeonius* Nachdem du in das himmlische Wasser [930] eingetaucht und vom reinen Strom gereinigt worden bist, werde ich dir alle Makel abwaschen, die deine Seele empfangen hat. Von da an wirst du hellglänzender als weißer Schnee davongehen, gleich jenem Himmlischen, den du zuvor erblickt hast. Dieses Leben sollst du aber innerlich führen, damit dir daraus kein Schaden entsteht.

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Drama de Divo Cassiano

Aeon.: Ego vero nullum formido periculum. Mori pro lege sancta et Christi nomine Mihi volupe erit. Cass.: placent haec vitae exordia. Sed non temere ferro est obiectandum caput. Egreditur Quintilius

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Scena quinta ‹partis tertiae› (III,5) Quintilius Vereor malam rem, Cassianus est mihi Suspectior, Galilaeum credo, signa sunt Non pauca: gentem illam laudat frequentius, Reprehendit numquam, quin et Christum praedicat, Quando de illo sermo privatus incidit. Aeonium praeterea stirpe satum nobili Suis initiasse videtur mysteriis, Tantum a priore distat adolescens indole. Nam Cassiani mores penitus imbibit. Scintilla gliscit. ni mature extinxeris, Crescet in incendium: recte ille nos monet: „Principiis obsta, sero medicina paratur, Cum mala per longas invaluere moras.“ Praetorem adibo Claudium, ostendam malum. Docebo periculum, ne serpat latius Coetumque totum nostrae corripiat scholae. Fortasse accedent nobis ampla praemia: Scholarcha fiam Cassianique cathedra Mihi pro tanto facto despondebitur. Hanc obtinebo cum triumpho publico. Sic erit, ibo. tu, Iuppiter, me sospita, Cuius regnum ego stabiliam hodie, tu fac meum Instituas, ut ego in scholis regnem, tu in aethere. Egreditur Claudius

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Dritter Akt

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Aeon.: [935] Nein, ich schrecke vor keiner Gefahr zurück. Für das heilige Gesetz und für den Namen Christi zu sterben, wird mein Wille sein. Cass.: Ein solcher Beginn des Lebens ist gut. Aber leichtsinnig darf man sein Haupt dem Schwert nicht entgegenwerfen.155 *Beide ab*; Quintilius tritt auf Fünfte Szene ‹des dritten Aktes› (III,5) Quintilius Ich habe eine schlimme Befürchtung. Cassian ist mir [940] allzu verdächtig. Ich glaube, er ist ein Galiläer. Anzeichen gibt es nicht wenige dafür: Jenes Volk rühmt er allzu häufig, tadelt es niemals, ja er preist sogar Christus, wenn eine private Unterhaltung auf ihn zu sprechen kommt. Außerdem scheint es, als habe er Aeonius, einen Jungen aus vornehmer Familie, in [945] seine Geheimkulte eingeweiht, so sehr hat sich der Junge von seinem früheren Wesen entfernt. Denn er hat Cassians Verhaltensweisen tief in sich eingesogen. Der Funke gewinnt an Stärke. Wenn man ihn nicht rechtzeitig erstickt, wird er zu einem Brand heranwachsen. Mit Recht mahnt uns jener Autor: [950] „Wehre den Anfängen, Medizin wird zu spät verabreicht, wenn die Krankheit durch langes Nichtstun an Kraft gewonnen hat.“156 Ich will zum Prätor Claudius gehen und ihm den Missstand aufzeigen. Ich will ihn über die Gefahr aufklären, damit sie nicht weiter kriecht und unsere gesamte Schülerschaft verdirbt. [955] Vielleicht werden wir ja auch reich belohnt: Ich werde Schulleiter und Cassians Lehrstuhl wird mir für eine solch großartige Tat zugesagt. Diesen werde ich dann mit öffentlichem Ruhm innehaben. So soll es sein, ich will aufbrechen. Jupiter, [960] dessen Herrschaft ich heute festigen werde, sei mir gewogen! Mach, dass du meine Herrschaft errichtest, sodass ich in der Schule regiere, du im Himmel! Claudius tritt auf; *zusammen mit Doryphorus und der Wache*

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Drama de Divo Cassiano

Scena sexta ‹partis tertiae› (III,6) Quintilius, Claudius, Doryphorus, satellitium Quint.: En, tibi quam commode ipse prodit Claudius, Aggrediar illum. te beet almus Iuppiter, Praetor. Claud.: quo affectas iter? Quint.: ad te recta. Claud.: etne Quod me roges? Quint.: rem magnam adfero, vir maxime. 965 Claud.: Expone. Quint.: Cassianus ludimagister est ... Claud.: Quis est? Quint.: Galilaeus. Claud.: hoc est? Quint.: Christianus est. Claud.: Scin’ certo. Quint.: suspicor. Claud.: quo indicio? Quint.: haud unico. Laudat quandoque eam gentem, ridet numina. Claud.: Ridet numina? numina iuro, si tulerit hoc 970 Impune – vade, satelles, mox ut adsit hic. Ex ipso percontabor, ex ipso audiam. Faxo ego, ut hodie Iovem colat et omnes deos. Quid Galilaei totum iam paene orbem occupant? Gens audax, pertinax, contemptrix numinum, 975 Hydrae progenies est, quam quo plus vulneres, Hoc plura procreat capita; sed Hercules Ero, conficiam ferro hanc immanem bestiam.

Dritter Akt

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Sechste Szene ‹des dritten Aktes› (III,6) Quintilius, Claudius, Doryphorus, Wache Quint.: Siehe da, wie passend für dich Claudius selbst herangeschritten kommt. Ich werde auf ihn zugehen. *Geht auf ihn zu* Der gütige Jupiter möge dir, Prätor, Glück schenken. Claud.: Wohin des Weges? Quint.: Auf direktem zu dir. Claud.: Und [965] was willst du von mir? Quint.: Ich bringe eine wichtige Angelegenheit vor dich, bester Herr. Claud.: Berichte! Quint.: Unser Schulleiter Cassian ist … Claud.: Wer ist er? Quint.: Ein Galiläer. Claud.: Das heißt?157 Quint.: Ein Christ ist er. Claud.: Bist du dir da sicher? Quint.: Ich vermute es. Claud.: Aufgrund welchen Indizes? Quint.: Nicht eines einzelnen. Er lobt ständig dieses Volk, die Götter verspottet er. Claud.: [970] Er verspottet die Götter? Bei den Göttern schwöre ich, wenn dieser damit ungeschoren davonkommen sollte, … *Zu Doryphorus und der Wache* Geh, Wache, jener soll augenblicklich hierherkommen. *Diese ab* Ihn selbst will ich befragen, von ihm selbst will ich es hören. Ich will zusehen, dass er heute noch Jupiter verehrt und alle Götter. Was haben die Galiläer mittlerweile auch schon fast den gesamten Erdkreis in Besitz? [975] Dieses Volk ist unverschämt, widerspenstig, verachtet die Götter, es ist eine Brut der Hydra: Je mehr seiner Köpfe man verwundet, umso mehr bringt es hervor. Aber ich will ein Herkules sein, ich werde dieses scheußliche Ungeheuer mit dem Schwert töten.

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Drama de Divo Cassiano

Tu, Quintili, succedes in locum illius, Si modo vera nuntias. Quint.: tute audies. Negatum si iverit, me testem nomina. Claud.: I modo tu iam nunc, faciam ego, ut sine te resciam.

980

Scena septima ‹partis tertiae› (III,7) Doryphorus, Claudius, ‹Cassianus›, Cacobulus, Misochristus Dory.: Adduco feram, praetor, pol pinguem et nobilem. Claud.: Certane sunt, Cassiane, quae relata sunt Mihi? Cass.: quae tibi relata sint de me, haud scio. 985 Quare nec utrum certa sint, scio. Claud.: ferunt Te Galilaeum esse. Cass.: Galilaeus non sum, hoc scio. Claud.: Non es tu Galilaeus? Cass.: non sum. Claud.: non es magus? Cass.: Non sum nec ero. Claud.: colis Iovem? Cass.: deum colo. Claud.: De Marte quid sentis? Cass.: idem, quod de Iove. 990 Claud.: De Apolline quid? Cass.: Musis praeesse dictitant. Claud.: Sed quid tu dictitas. Cass.: Musas colui et colo Semper. Claud.: hic homo false delatus est. colit, Quod nos colimus: veneraris deos ceteros? Cass.: Divos omnes divasque rite veneror. 995

Dritter Akt

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Du, Quintilius, wirst ihm in seiner Position nachrücken, [980] solange du nur Wahres berichtest. Quint.: Du wirst es selbst hören. Wenn er sich daran macht zu leugnen, benenne mich als Zeugen. Claud.: Geh du jetzt nur! Ich will es so handhaben, dass ich es ohne dich herausfinde. *Quintilius ab* Siebte Szene ‹des dritten Aktes› (III,7) Doryphorus, Claudius, ‹Cassianus›, Cacobulus, Misochristus *Doryphorus tritt zusammen mit Cassian auf; im Gefolge auch die beisitzenden Richter Cacobulus und Misochristus* Dory.:158 Ich bringe dir, Prätor, ein beim Pollux fettes und edles Wildtier. Claud.:159 Ist das wahr, Cassian, was man [985] mir berichtet hat? Cass.: Was man dir über mich berichtet hat, weiß ich nicht. Daher weiß ich auch nicht, ob es wahr ist. Claud.: Sie sagen, du seist ein Galiläer. Cass.: Ein Galiläer bin ich nicht, das weiß ich. Claud.: Du bist kein Galiläer? Cass.: Nein, das bin ich nicht. Claud.: Du bist kein Zauberer? Cass.: Nein, bin ich nicht und werde es auch nicht sein. Claud.: Verehrst du Jupiter? Cass.: Ich verehre Gott. Claud.: [990] Was hältst du von Mars? Cass.: Dasselbe wie von Jupiter. Claud.: Was über Apollo? Cass.: Sie sagen, er stehe den Musen vor. Claud.: Aber was sagst du? Cass.: Ich habe die Musen immer verehrt und verehre sie noch immer. Claud.: Dieser Kerl wurde fälschlicherweise angezeigt. Er verehrt, was wir verehren. Verehrst du die übrigen Himmelsbewohner? Cass.: [995] Ich verehre alle Himmelsbewohner und Himmelsbewohnerinnen, wie es sich gehört.160

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Drama de Divo Cassiano

Claud.: Sacrificasti? Cass.: sacrificavi ut qui pontifex. Claud.: Tu pontifex? cuiusnam, Martis an Iovis? Cass.: Divum ac hominum patris. Claud.: abduc hunc aliquantulum. Quid iudicatis, non potis hic dimittier? Miso.: Roga, num Christianus sit, nam quae hactenus 1000 Rogasti, omnia dubiis responsionibus Elusa iudico. Caco.: natio haec strophos amat Sophisticaeque multum est studiosissima. Claud.: Si me lusit, ludetur iterum furcifer. Heus Doryphore, reduc praestigiatorem. Dory.: en adest. 1005 Cass.: Quid dicam? Claud.: Christianus es? Cass.: planissime. Claud.: Tu Christianus es? Cass.: iam dixi et denuo Dicam. sum Christianus, inquam, sum et fui Et ero. Claud.: non te Galilaeum pernegaveras? Cass.: Nec Iudaeus nec Galilaeus sum nec fui. 1010 Claud.: Non dixti te Iovem colere? Cass.: deum quidem, Iovem numquam dixi. Claud.: non dixeras Apollinem? Cass.: Musas dixi, hoc est artes atque litteras. Claud.: Siccine me ductas dictis atque mendaciis? Cass.: Annon aperte loquor atque diserte? deum 1015 Colo. Christi numen nomenque praedico.

Dritter Akt

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Claud.: Hast du geopfert? Cass.: Ich habe geopfert, ich bin ja Priester. Claud.: Du, ein Priester? Wessen denn, von Mars oder Jupiter? Cass.: Des Vaters der Himmelsbewohner und der Menschen. Claud.: *zur Wache* Führt diesen für ein Weilchen ab. *Cassian wird abgeführt* *Zu Misochristus und Cacobulus* Wie ist euer Urteil? Kann er etwa nicht freigelassen werden?161 Miso.:162 [1000] Frag ihn, ob er ein Christ ist. Denn ich bin der Meinung, dass er alles, was du ihn bisher gefragt hast, mit doppeldeutigen Antworten ausweichend ins Lächerliche gezogen hat. Caco.:163 Dieses Volk liebt Betrügerei und bei der Haarspalterei zeigt es den bei weitem größten Eifer. Claud.: Wenn er mit mir Spielchen getrieben hat, wird man umgekehrt auch mit diesem Lump Spielchen treiben. – [1005] Doryphorus, höre, bring diesen Halunken zurück. *Cassian kommt zurück* Dory.: Siehe, hier ist er. Cass.: Was willst du von mir hören? Claud.: Bist du ein Christ?164 Cass.: Voll und ganz. Claud.: Du bist ein Christ? Cass.: Das habe ich schon gesagt und ich werde es erneut sagen. Ich bin ein Christ, ich wiederhole es, ich bin es und ich war es und ich werde es sein. Claud.: Hattest du nicht nachdrücklich verneint, ein Galiläer zu sein? Cass.: [1010] Weder ein Jude noch ein Galiläer bin ich und war es auch nicht. Claud.: Hast du nicht gesagt,165 dass du Jupiter verehrst? Cass.: Dass ich Gott verehre, habe ich freilich gesagt, niemals aber Jupiter. Claud.: Hattest du nicht gesagt, dass du Apollo …? Cass.: Die Musen, ja, das habe ich gesagt, das heißt die Künste und Bildung. Claud.: So führst du mich mit deinen Lügenworten vor? Cass.: [1015] Habe ich denn nicht offen und deutlich gesprochen? Gott verehre ich. Die Göttlichkeit und den Namen Christi preise ich.

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Drama de Divo Cassiano

Claud.: O Iuppiter, quin hunc disperdis fulmine? Proh audax facinus, vincite nefas, ferreas Inicite compedes, ducite! nos interim, Quo iudicio mactandus sit, videbimus. Miso.: Non dixi latere technas in homine? Dicta omnia caecis involvunt ambagibus. Egrediuntur Iulius, Daemonius, Aeonius

1020

Scena octava ‹partis tertiae› (III,8) Iulius, Daemonius, Aeonius Iul.: Audivi captum Cassianum. o nuntium Felix, faustum, fortunatum! deprehensus est Tandem tyrannus. Aeon.: quid enim consciit mali? Daem.: Ecquid non? Christianum esse ferunt. Iul.: sic reor, Luet tandem, qui luere nos quotidie Coegit. Daem.: pereat carnifex. Aeon.: tantum scelus Est esse Christianum? Daem.: quo maius fuit Numquam. Aeon.: tam sceleratus Constantinus fuit, Illud iubar terrarum, illud miraculum, Ille orbis imperator laudatissimus? Quis in locum illius succedet? Daem.: nescio. Iul.: Aiunt Quintilium, qui illius delator est. Aeon.: Absit nos proditori nostram operam dare. Iul.: Indoctus est, inelegans et barbarus. Daem.: Et nihil ad Cassianum. cras audiam.

1025

1030

1035

Dritter Akt

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Claud.: *zum Himmel* O Jupiter, warum richtest du diesen hier nicht mit deinem Blitz zugrunde? Ach, welch dreistes Verbrechen! Bindet den Schurken fest, legt ihm eiserne Fesseln an, führt ihn ab! Wir wollen in der Zwischenzeit sehen, [1020] welche Strafe gegen ihn ausgesprochen werden muss. Miso.: Habe ich nicht gesagt, dass in dieser Menschensorte Betrügereien verborgen sind? Alles, was sie sagen, hüllen sie in undurchsichtige Mehrdeutigkeiten. *Alle ab*; Julius, Daemonius und Aeonius treten auf Achte Szene ‹des dritten Aktes› (III,8) Julius, Daemonius, Aeonius Jul.: Ich habe gehört, dass Cassian gefangen genommen wurde. Oh, welch frohe, welch freudige, welch glückliche Nachricht! 166 Endlich wurde der [1025] Tyrann gefasst. Aeon.: Welches Verbrechen hat er denn begangen? Daem.: Welches nicht? Sie sagen, er sei ein Christ. Jul.: Der Meinung bin ich auch. Endlich lässt man den, der uns täglich büßen ließ, selbst büßen. Daem.: Der Schinder soll zugrunde gehen. Aeon.: Ist es ein solch schweres Verbrechen, Christ zu sein? Daem.: Ein schwereres gab es [1030] niemals. Aeon.: War Konstantin so ein Verbrecher, jener Glanzstern der Welt, jener Wundermensch, jener ruhmüberhäufte Herrscher über den Erdkreis? – Wer wird ihm in seinem Amt nachfolgen? Daem.: Keine Ahnung. Jul.: Sie sagen Quintilius, der ihn angezeigt hat. Aeon.: [1035] Kümmern wir uns nicht um diesen Verräter. Jul.: Er ist ungebildet, grob und barbarisch. Daem.: Und nichts im Vergleich zu Cassian. Morgen will ich ihn anhören.

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Drama de Divo Cassiano

Iul.: Et ego. Daem.: si sedem Cassiani ascenderit, Praecipitem devolvemus impium. Iul.: prius Doctrinam eius studiosius explorabimus. Sed cedamus nunc, expectemus exitum. Egreditur Claudius ‹***› ceteri hic scripti ‹***› praecone qui ‹***› non loquitur in hac ‹scena?***›

1040

Scena nona ‹partis tertiae› (III,9) Claudius, Misochristus, Cacobulus, Doryphorus, satellites, Cassianus, praeco Claud.: Citetur reus, adsit quamprimum. Miso.: bestiis Praeda poterat obici, sed est festina mors. Claud.: Furca dignus erat et mille crucibus. quia Tamen ludimoderator est, spectacula Instituemus ludicra. pueros vocabimus, Quos virgis fertur lacerasse immanissime. His ludibrio exponemus doctorem suum, Quem graphiis et stilis configant ferreis, Ludendoque necent, quos ludendo usque ad necem Prope flagris in ludo toties conciderat. Adducitur Cassianus Dory.: Adest, quem duci praecepistis, iudices. Claud.: Fateris adhuc te Christianum, ut antea? Cass.: Fateor atque fatebor semper. Claud.: nostros deos Deasque rides omnes? Cass.: et irrideo. Claud.: Morieris, Cassiane. Cass.: nec tu semper hic Vives. Claud.: etiam insultas? crucem, crucem tibi Figam, scelerate, qua retundam audaciam.

1045

1050

1055

Dritter Akt

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Jul.: Ich auch. Daem.: Wenn er Cassians Lehrstuhl bestiegen hat, werden wir diesen Unhold jäh stürzen. Jul.: Zunächst [1040] werden wir überaus eifrig einen genauen Blick auf seine Gelehrsamkeit werfen. Aber lasst uns nun von hier weggehen und seinen Tod abwarten. *Claudius und die übrigen Genannten treten auf, zusammen mit dem Herold, der in dieser Szene aber nicht spricht* Neunte Szene ‹des dritten Aktes› (III,9) Claudius, Misochristus, Cacobulus, Doryphorus, Wachen, Cassian, Herold Claud.: Der Angeklagte soll herbeigerufen werden, er soll schnellstmöglich hier sein. Miso.: Den wilden Tieren könnte man ihn als Beute vorwerfen, aber das ist ein zu schneller Tod. Claud.: Er wäre des Galgens würdig und tausender Kreuzestode. [1045] Aber da er Lehrer ist, werden wir ein lustiges Schauspiel veranstalten. Wir werden die Knaben rufen, die er auf grausamste Art mit Ruten gemartert haben soll. Ihnen werden wir ihren Doktor zum heiteren Zeitvertreib preisgeben, ihn sollen sie mit ihren eisernen Stiften und Griffeln durchbohren, [1050] unter Hohn und Spott sollen sie ihn töten, sie, die er in der Schule so oft unter Hohn und Spott mit Ruten fast zu Tode geprügelt hatte. Cassian wird herbeigeführt Dory.: Derjenige, den ihr Richter herbeirufen ließt, ist da. Claud.: Gestehst du immer noch, ein Christ zu sein, wie zuvor? Cass.: Ich gestehe es und werde es immer gestehen. Claud.: Unsere Götter [1055] und Göttinnen verlachst du allesamt? Cass.: Und lache sie aus. Claud.: Du wirst sterben, Cassian. Cass.: Auch du wirst hier nicht ewig leben. Claud.: Spottest du mir auch noch? Das Kreuz, ja das Kreuz werde ich dir anheften, du Verbrecher. An diesem werde ich deine Unverfrorenheit züchtigen.

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Drama de Divo Cassiano

Cass.: Crux optatam lucem mihi afferet. Claud.: voca, Praeco, coetum Quintilii totum, huc advolent, Ipsi poenas abs te, scelerate, debitas Pro tot cruciamentis ac poenis exigent. Satellites, detrahite vestes ab humeris Nudatumque ad palum vinclis astringite Nec ante hinc discedite, quam exhalet spiritum. Manent satellites

1060

1065

Scena decima ‹partis tertiae› (III,10) Praeco, pueri, Furius, Hostilius, Prisculus, Quintus, Rufulus, Martius, Cassianus Praeco: Heus pueri, pueri, adeste, passi iniurias, Plagas, ulmos, virgas, verba atque verbera, Accurrite, supplicia exposcite, manus stilis Armate, carnificem vestrum configite. Hoc praetor Claudius, hoc iubet ipse Iuppiter. Fur.: Hem socii, lucem faustam misit Iuppiter, Adeste, mactemus tyrannum, qui prius Nos mactavit, laceravit, laniavit flagris. Vos graphia capite cuspidesque ferreas, Mordete latera, compungite praecordia, Fodite pectus, ego princeps ero facti et necis. Tu virgis unge, tu colaphos impingito, Certate odiis, quaerite viscera, rimamini. Host.: Saturate iras, commilitones optumi, Rhadamantum istum transfigititote spiculis. Ruf.: Age iam nos excarnifica, foede carnifex, Accipe plagas, quas toties inflixti mihi. Clamabam prae dolore, tu saevissime Tonabas crebris ictibus, orabam gemens, Fremebas pulsans, puer improbe, puer improbe, Emenda negligentiam. nunc caede, nunc Fure, crudelis tortor, nunc sceptro fulmina, Caede, inquam, caede, caede, caede, carnifex,

1070

1075

1080

1085

Dritter Akt

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Cass.: Das Kreuz wird mir das ersehnte Licht bringen. Claud.: [1060] Herold, rufe die ganze Schülerschaft des Quintilius zusammen, sie sollen hierhereilen. Sie werden dich, Verbrecher, eigenhändig für so viele Marterqualen und Strafen bestrafen, wie du es verdient hast. Wachen, reißt ihm die Kleider von den Schultern, fesselt 167 ihn nackt an den Pfahl. [1065] Weicht nicht eher von hier, bevor er seinen Geist nicht ausgehaucht hat. Die Wachen bleiben, *entkleiden Cassian und fesseln ihn* Zehnte Szene ‹des dritten Aktes› (III,10) Herold, Knaben, Furius, Hostilius, Prisculus, Quintus, Rufulus, Martius, Cassian Herold: Hört, ihr Knaben, ihr Knaben, kommt her, ihr, die ihr Unrecht erlitten habt, Schläge, Ulmenhiebe, Ruten, Beschimpfungen und Prügel, kommt herbei, fordert die Todesstrafe ein, bewaffnet eure Hände mit Griffeln, durchbohrt euren Schinder. [1070] Dies befiehlt der Prätor Claudius, dies befiehlt Jupiter selbst. Fur.: Hey, Kameraden, Jupiter hat uns einen glücklichen Tag geschickt, kommt her, lasst uns den Tyrannen, der früher uns mit Ruten gemartert, zerfleischt und zerfetzt hat, martern. Nehmt eure Schreibgriffel und die eisernen Spitzen, [1075] nagt an seinen Seiten, durchlöchert seine Eingeweide, durchstecht seine Brust, ich werde der Anführer der Tat und seines Todes sein. *Zu einzelnen seiner Kameraden* Überziehe du ihn mit Rutenschlägen, teile du Faustschläge gegen ihn aus, kämpft hasserfüllt, sucht seine Eingeweide, zerreißt sie. Host.: Befriedigt euren Groll, beste Kameraden, [1080] durchlöchert168 diesen Rhadamantys169 mit euren Spitzen. *Im Folgenden stechen die Jungen gleichzeitig zu ihren Worten auf Cassian ein* Ruf.: Los, foltere uns jetzt doch, du grässlicher Schinder! Nimm die Schläge, die du mir so häufig zugefügt hast.170 Ich habe vor Schmerz geschrien, du überaus wild mit unzähligen Hieben gedonnert; seufzend habe ich gefleht, [1085] du prügelnd gebrüllt „Böser Junge, böser Junge, arbeite gründlicher!“. Schlag jetzt zu, wüte jetzt, grausamer Quäler, donnere nun mit deinem Szepter, schlag zu, sage ich, schlag zu, schlag zu, schlag zu,

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Drama de Divo Cassiano

Iam par pari reponimus, cape pretium. Cass.: O numen, o mens, o supreme conditor, Quas tibi laudes, quas grates promam, Christe mi, Qui tanto me beas indignum munere, Quo nil praestare possis umquam gratius. O mihi si vitas mille nunc indulgeas, Mori pro te quo possim, Christe, millies. Mart.: Quoties mihi, tyranne, obiectabas inertiam? Age barba, age hirce, meam nunc corrigam Inertiam, sentisne diligentiam? Vide industriam, lauda studium meum. Prisc.: Priscule, dicebat improbissimus senex, Veni huc, scribe, an nondum scribis? scribo, viden’, Quam pulchras scribo litteras, omnes rubent. Quintus: Oportet punctis distinguere sententiam, Quinte, ubi habes graphium? quid dubitas, en tibi recens, Nondum credis, sentis? Fur.: vos nulla commata Adnectitis? Host.: en, praeceptor, formone commode, Ut praecepisti, litteras? nonne docilis Sum puer? et quid aliud, magister, praecipis? Haec iam novi, dedi iam specimen. Cass.: o pater, O clemens pater, ignosce stultae infantiae, Ignorant, quid sceleris designent, parcito, Pueri sunt, infantes sunt, quid agant, nesciunt. Host.: Parcamus tandem, poenarum exhaustum est satis, Solvamus. Fur.: nequaquam solvatur carnifex, In nos saeviret omnes crudelissime. Quin mactemus, ne ullus supersit timor amplius? Ubi est latebra cordis? Prisc.: sub laevo brachio.

1090

1095

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Dritter Akt

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Schinder! Nun zahlen wir Gleiches mit Gleichem heim, nimm deinen Lohn. Cass.: [1090] O Gott, o Geist, o höchster Schöpfer, welch großes Lob, welch großen Dank bringe ich dir entgegen, mein Christus, der du mich, obwohl ich unwürdig bin, mit einem solch gewaltigen Lohn beschenkst. Nichts Angenehmeres könntest du mir jemals zuteilwerden lassen. Oh, wenn du mir nun nur tausend Leben schenktest, [1095] damit ich tausendmal für dich, Christus, sterben könnte! Mart.: Wie oft hast du, Tyrann, mir Faulheit vorgeworfen? Los, du Bartfratze, los, du Bock, züchtige nun meine Faulheit! Spürst du meine Sorgfalt? Sieh dir meinen Fleiß an, lobe meinen Eifer! Prisc.: *mit nachäffend hoher Stimme* [1100] „Prisculus“, sagte der durch und durch boshafte alte Sack immer, „komm hierher, schreib, schreibst du etwa noch nicht?“ Ich schreibe, siehst du, welch schöne Buchstaben ich schreibe, alle sind rot. Quintus: *ebenfalls mit nachäffend hoher Stimme* „Man muss den Satz mit Satzzeichen unterteilen, Quintus, wo ist dein Griffel? Was gibt es da zu überlegen, ist dir das etwa neu?“ [1105] Glaubst du’s noch nicht, spürst du es noch nicht? Fur.: *wie Prisculus und Quintus zuvor* „Habt ihr keine Kommata eingefügt?“ Host.: Siehe, mein Lehrer, schreibe ich die Buchstaben nicht schön, so wie du es vorgegeben hast? Bin ich denn nicht ein gelehriger Junge? Und was sonst gibst du noch auf, mein Lehrer? Das kenne ich schon, ich habe schon eine Kostprobe davon gegeben. Cass.:171 O Vater, [1110] o gnädiger Vater, vergib den dummen Kindern, sie wissen nicht, was für ein Verbrechen sie begehen. Verschone sie, es sind Jungen, es sind Kinder, sie wissen nicht, was sie tun. Host.: Verschonen wir ihn nun endlich. Er wurde genug bestraft. Lasst uns ihn losbinden. Fur.: Keinesfalls soll der Schinder losgebunden werden. [1115] Gegen uns alle würde er auf grausamste Weise wüten. Warum sollen wir ihn nicht zu Tode schinden, damit wir uns nicht mehr fürchten müssen? Wo ist das Herz versteckt? Prisc.: Unter dem linken Arm.

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Drama de Divo Cassiano

Quintus: Ego scrutabor viscera. Fur.: ego latus hauriam, Expectorabo senem. Host.: en iam frons expalluit. Cass.: Accipe, numen, quem procreasti, spiritum. Tibi vixi, tibi morior, mors testis est. Egreditur Phlox

1120

Scena undecima ‹partis tertiae› (III,11) Phlox Ubi est Furius? tu praestitisti mihi operam Fidelem, ades mecum, veni sub orci limina, Illinc pro tanto scelere solvam praemia: Tu actor, tu impulsor extitisti facinoris. Huc, huc, iu ha, ha, he, praedam pinguem cepimus. Egrediuntur angeli

1125

Scena duodecima ‹partis tertiae› (III,12) Angelorum chorus Victor in caeli nova templa scande. Palma desponsa est tibi, Cassiane, Nobilis, divum chorus omnis altum Pandit Olympum. Purpuratorum gemina triumphos. Agmen exspectans socium laborum, Plaude. nil restat, superata mors est Atque tyrannus. Quid moras nectis? propera, beate, Debitam laudi ferimus coronam, Laurus aeternum redimita florens Tempora cinget Tempora pinget. Egreditur Aeonius

1130

1135

Dritter Akt

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Quintus: Ich werde nach seinen Eingeweiden bohren. Fur.: Ich werde seine Seite durchstechen. Ich werde dem Alten das Herz aus der Brust reißen. *Stößt in Cassians Herz* Host.: Siehe, schon ist sein Gesicht erbleicht. Cass.: [1120] *sterbend* Gott, nimm den Geist auf, den du erschaffen hast.172 Für dich habe ich gelebt, für dich sterbe ich, der Tod ist mein Zeuge. Phlox tritt auf Elfte Szene ‹des dritten Aktes› (III,11) Phlox Wo ist Furius? Du hast mir einen treuen Dienst erwiesen, komm mit mir, schreite durch das Höllentor. Dort werde ich dich für eine solch gewaltige Tat belohnen: [1125] Du warst der Antreiber, du warst der Initiator dieser Tat. Hierher, hierher, juhahahe, wir haben eine fette Beute gemacht. *Ab*; Engel treten auf Zwölfte Szene ‹des dritten Aktes› (III,12) Engelschor Steige siegreich zu den neuen Himmelstempeln empor. Die Siegespalme173 wurde dir, Cassian, versprochen, die edle. Der gesamte Himmelschor [1130] eröffnet dir den hohen Himmel. Verdopple die Triumphe der Blutzeugen. 174 In Erwartung ihres Leidensgefährten möge die Schar dir Beifall spenden. Nichts hindert mehr, der Tod ist besiegt sowie der Tyrann. [1135] Was zögerst du? Eile, Seliger! Wir bringen dir die Krone, die deinem Ruhm geschuldet wird. Blühend möge ewiger Lorbeer deine Schläfen umkränzen, deine Schläfen zieren. *Ab*; Aeonius tritt auf

154

Drama de Divo Cassiano

Scena tertia decima ‹partis tertiae› (III,13) Aeonius Quid hoc, o Christe, quid hoc video spectaculi? Meusne Cassianus est? sic mortuus, O Cassiane, o Cassiane mi, o dolor, O luctus, tam crudeliter mactatus es? Mi doctor, mi praeceptor, mi parens, mori Tecum mihi vita fuisset, sine te vivere Acerba mors est mihi. proh quae facies viri! Quis vultus est! en, ut compunctus ictibus! Hem quae manus caeleste pignus attigit? Quot morsibus, punctis, stilis confixus est? Heu occidistis, occidistis optimum Pontificem, rectorem, parentem! o lacrimae, Erumpite, cruentum abluite corpus patris! O victor nobilissime, heu quot passus es Seu vulnera seu mortes? quae tanta immanitas? Ut nati saeviant parentes in suos? Tu pater eras, tu nostrarum altor mentium. Siccine deiecto vinctus pendes vertice? Sic exanimatus, sic confossus saeviter? Hae sunt grates, quas doctori rependitis? En tela cruenta purpureo lita sanguine, Quae sanctos vulnerarunt artus praesulis, O sancta, o cara mihi, o beata vulnera! O sanguis generose generoso profuse pectore! Salve, caeli deus, tu me civem poli Creasti, tu caelesti fonte crimina Labesque mentis omnes abstersisti mihi. En, quae corpus coercuere vincula, Sed animum vincire potuere neutiquam, Abivit divus ad divos ad caelites, Caelestis animus nunc triumphat in aethere. Ego pignus mihi relictum nobilissimum Servabo pro thesauro felicissimo. Solvam vincula, ter o beata vincula!

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Dritter Akt

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Dreizehnte Szene ‹des dritten Aktes› (III,13) Aeonius *Cassians Leichnam hängt noch am Pfahl* [1140] Was sehe ich,175 o Christus, was sehe ich da für einen Anblick? Ist

das mein Cassian? Auf diese Weise gestorben, o Cassian, o mein Cassian, oh, welcher Schmerz, oh, welche Trauer! Hat man dich so grausam zerfleischt? Mein Doktor, mein Lehrer, mein Vater, zusammen mit dir zu sterben, [1145] hätte für mich Leben bedeutet; ohne dich zu leben ist mir ein grausamer Tod. Ach, was für ein Anblick dieses Menschen! Was für ein Gesichtsausdruck! Seht, wie durchlöchert von Stichen er ist! Ach! Welche Hand rührte das himmlische Pfand an? Mit wie vielen Stichen, Stößen, Griffeln wurde er durchbohrt? [1150] O weh, getötet habt ihr, getötet habt ihr den besten Bischof, Lehrer, Vater! O ihr Tränen, brecht hervor, wascht den blutigen Leichnam des Vaters ab! O edelster Sieger, ach, wie viele Wunden oder wie viele Tode hast du erlitten? Was soll eine solch gewaltige Grausamkeit? [1155] Wie können Söhne nur so gegen ihre Väter wüten? Du warst ein Vater, du warst Spender unserer geistigen Nahrung. Sollst du nun so, gefesselt, mit gesenktem Haupt, hier hängen bleiben? So leblos, so grausam durchlöchert? Ist das der Dank, den ihr eurem Doktor entgegenbringt? [1160] Seht die blutigen Waffen, mit seinem purpurroten Blut beschmiert, sie haben die heiligen Glieder des Bischofs verwundet, o heilige, o mir teure, o seligmachende Wunden! O edles Blut, aus edler Brust vergossen! Sei gegrüßt, Gott des Himmels, du hast mich zu einem Mitbürger des Himmelspols [1165] erwählt, du hast mir mit himmlischem Wasser meine Verbrechen und alle Makel meiner Seele abgewaschen. Seht, welche Fesseln meinen Körper gefangen hielten, die Seele konnten sie aber in keiner Weise fesseln. Ein Heiliger ist zu den Heiligen in den Himmel gegangen, [1170] eine himmlische Seele feiert nun den Sieg im Äther. Ich werde dieses edelste Pfand, das mir geblieben ist, als glückseligsten Schatz bewahren. Ich werde seine Fesseln lösen. O dreimal selige Fesseln!

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Drama de Divo Cassiano

Gestabo pondus humeris orbe carius, Humabo domi vertamque illum in sacrarium. Mone musicos Iterum canunt superiores versus angeli Ecce iam divum penetramus aulam, Debitam gestis ferimus coronam, Laurus aeternum redimita florens Tempora pinget.

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Epilogus Aequi fuistis, spectatores optimi, Spectastis grato drama cum silentio. Nunc, quod postremum est condimentum dramatis, Accipite. Musarum greges instituere Voluimus, ut mores morosos exuant, Magistros observent, colant Non secus ac parentes, se regi Flectique sinant, si ferre pretium operae velint. Adest divinum numen promptis mentibus. Qui paret alteri, sibi sancte imperat, Quod in toto orbe maximum imperium est. puer, Praecepta qui protervus spernit optima, Fato peribit pessimo. deus ultor est. Soluta iam iuventus est et libera Et tota paulatim fit intractabilis. Leges gymnasticae haud prosunt iis, qui domi Vivunt sine legibus. ni conspiraverint Parentes cum magistris, opera luditur. Quando cum nato suave ridet pater, Mox natus irridet magistros et patrem. Spartanis usus esset nunc parentibus. Olim parentes castigabant liberos, Nunc liberi parentes castigant suos, Olim imperabat doctor auditoribus, Nunc auditores imperant doctoribus. Hinc res in extremo est sita. nam cum tempore Vitia simul adolescunt adolescentium,

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Epilog

157

Ich werde diese Last, die mir lieber ist als der Erdkreis, auf meinen Schultern tragen. [1175] Ich werde ihn zu Hause bestatten und in ein Heiligtum verwandeln. *Bindet Cassian los*; die Musiker sollen sich bereitmachen Engel singen erneut die obenstehenden Verse Siehe, schon betreten wir die Halle der Heiligen, schon bringen wir die Krone, die deinen Taten geschuldet wird. Blühend möge ewiger Lorbeer deine Schläfen zieren. Epilog [1180] Ihr seid uns ein gerechtes Publikum gewesen, beste Zuschauer. Mit

dankenswertem Schweigen habt ihr das Drama verfolgt. Nun vernehmt noch, was die letzte Würze des Dramas ist: Die Schar der Musen zu unterweisen, das wünschten wir, damit sie ihre eigenartige Art176 ablegen, [1185] ihre Lehrer achten, sie nicht anders ehren als ihre Eltern, dass sie sich lenken und zurechtbiegen lassen, wenn sie Lohn für ihre Mühe davontragen wollen. Den Willigen wohnt eine göttliche Kraft inne. Derjenige, der einem anderen gehorcht, herrscht über sich in heiliger Weise. [1190] Dies ist auf der ganzen Erde die größte Herrschaft. Ein Junge, der dreist die besten Anweisungen verachtet, wird mit dem übelsten Los zugrunde gehen. Gott ist der Rächer. Die Jugend ist mittlerweile zügellos und kennt keine Grenzen mehr und mit ihr ist allmählich überhaupt nichts mehr anzufangen. [1195] Die Regeln des Gymnasiums nützen bei denjenigen nichts, die zu Hause ohne Regeln leben. Wenn Eltern und Lehrer nicht an einem Strang ziehen, hält man unsere Mühe zum Narren. Wenn ein Vater ausgelassen mit seinem Sohn lacht, wird der Sohn bald seine Lehrer und seinen Vater auslachen. [1200] Spartanische Eltern sollte er nun haben. Einst wiesen Eltern ihre Kinder zurecht, heute Kinder ihre Eltern; einst gebot der Doktor über seine Zuhörer, heute die Zuhörer über den Doktor. [1205] Daher ist die Lage nun am Äußersten. Denn mit der Zeit wachsen auch die Laster der Heranwachsenden mit heran.

158

Drama de Divo Cassiano

Quae postquam altas nimium radices egerint, Convelli, ni rumpas, non possunt amplius. Sed enim, quod acceptum caelesti numini Referimus, officina hic innocentiae est, Hic novitatis sedes et industriae. Colunt parentes, obsequuntur sedulo Monitoribus, pectus plenum sapientiae, Virtutis et eruditionis possident. Haec qui nostra ‹***› commentatur Plutarchus in mira Quamvis ignavum pecus haud desit interim. Nempe est gnavorum magna semper raritas Inertiumque magna semper largitas. Tamen quod instar est prodigii maximi, Nos hodie citius libri, palmae ac praemia, Quam deserent victores negligentiae. Tantum pubes Monachiensis in Olympico Sudavit anno toto pulvere. ergo nunc Olympionicas, praeco, nobilissimos Tanto tubae clangore publice evoca, Ut urbs, ut Boia, ut orbis totus audiat. Canitur tuba Quod ergo felix etc.

1210

1215

1220

1225

Epilog

159

Diese können, nachdem sie allzu tiefe Wurzeln geschlagen haben, nicht mehr ausgerupft werden, es sei denn man reißt sie ab. Aber, da wir dem himmlischen Gott zurückgeben, was wir empfangen haben, [1210] ist hier eine Schule der Unschuld, ist hier das Zuhause neuer Erkenntnisse und des Fleißes. Sie ehren ihre Eltern, sie folgen ihren Lehrern aufs Wort, sie besitzen ein Herz voller Weisheit, Tugend und Gelehrsamkeit. Dies führt Plutarch, der unsere ‹***›, in mor. 439a–440c an177 [1215] Gleichwohl fehlt hin und wieder auch eine Gruppe von Faulen nicht. Natürlich ist die Zahl der Fleißigen immer sehr gering und die der Faulen immer sehr groß. Dennoch ist dies das größte Wunderzeichen: Uns werden heute eher Bücher, Siegespalmen und Preise ausgehen [1220] als Sieger über die Nachlässigkeit. So schwer hat die Münchener Jugend das ganze Jahr im olympischen Staub geschwitzt. Rufe daher, Herold, nun die edelsten Olympioniken mit solch lautem Klang deiner Trompete öffentlich auf, [1225] dass die Stadt, dass Bayern, dass der ganze Erdkreis es hört. Die Trompete ertönt Dies möge also Glück usw.178

160

Appendix Ratisponensis Personae Dramatis Prologus Cassianus Quintilius

hypodidascalus

Aeonius Paedomastyx Doryphorus Socii eius seu comites Claudius Cacobulus Misochristus Christus Stephanophorus Martyrologus Boethius Eudaemonius Uranius Theopta

primus secundus praetor

Georgius Mansdorfer R(hetor) Hieronymus Lachner R Stephanus Klingsberg H(umanista) Ioannes Emser H Spingl H Georgius Wier G(rammatista) Georgius Stegmiller

G

Thomas Schwerer Ioannes Purschmaier Otho Jünger Agricola Mathaeus Stör Stephanus Seuber Michael Haybek

H H G

iudices

angeli

Schola maior Iulius Oniropolus Cornelius Hercules Eleutherius qui et Tullus Antonius Leo Horatii Romani Aemilius

Ioannes Ernestus Herrsäßler Carolus Lachner Carolus Prückmaier Marcus Mansdorffer Wolf Steichoffer Michael Haybek Balthasar Alber Ioannes Ernes

H G G

H G G G H H H G

161

Regensburger Erweiterung Personenverzeichnis Prologsprecher Cassian Quintilius

Unterlehrer

Aeonius Paedomastyx Doryphorus Seine Begleiter oder erster und zweiter Gefährte Claudius Prätor Cacobulus (Beisitzende) Misochristus Richter Christus Stephanophorus Martyrologus Boethius Engel Eudaemonius Uranius Theopta Oberklasse Julius Oniropolus Cornelius Hercules Eleutherius, der auch den Tullus spielt Antonius Horatier, Leo Römer Aemilius

162

Appendix Ratisponensis

Dionysius Faustus Marcus Theophrastus Lucius Martius Daemonius Ocnerus Schola minor Furius Servius Prisculus Posthumus Pulvillus Corvinus Quintus Martius Camillus Poetus Ocellus Barbula Mutius Hostilius Pamphilus Regulus Cursor Rufulus Geminus Vitellius Fabius

Curiatii Albani

Georgius Agricola Wolfgang Christophorus Singer

G

Paulus Schleiher Singer Christophorus Schwarz Wittweiler

G G

G

H G

Georgius Mansdorfer R Georgius Wankhofer Ioannes Georgius Wittweiler Ioannes Alexander Schwenk Ioannes Waltherus Stingelhamer Ioannes Sigisweiler Thomas Singer Philippus a Castell Bernardus Holzel Ioannes Thumscher Albertus Priem Ludovicus Weilhamer Casparus Stromayr Paulus Schnepf Tobias Schwartz Stephanus Weiß Gerhardus ab Holdinger Henricus Richardus Ioannes Georgius Schleich Wolfgangus Perlhofer

Personenverzeichnis

Dionysius Faustus Marcus Theophrastus Lucius Martius Daemonius Ocnerus Unterklasse Furius Servius Prisculus Posthumus Pulvillus Corvinus Quintus Martius Camillus Poetus Ocellus Barbula Mutius Hostilius Pamphilus Regulus Cursor Rufulus Geminus Vitellius Fabius

Curiatier, Albaner

163

164 Agraulus Simplicius Dulus Phlox praeco

Appendix Ratisponensis

stupidus filius stupidi famulus Cassiani diabolus

Thomas Schwartz Ioannes Mayr Franciscus Pflüger Sebastianus Mair

R H G

Personenverzeichnis

Agraulus Simplicius Dulus Phlox Herold

Dummkopf Sohn des Dummkopfes Cassians Gehilfe Teufel

165

166

Appendix Ratisponensis

Prologus Philippe, alto regum create sanguine, Mitra decorate et Romano conchylio, Et vos antistites proceresque ecclesiae Ratisponensis quaeque hac urbe cetera Nobilitatis, doctrinae et virtutis micant Lumina, si mihi libertatis sit pauca eloqui In hoc theatro, in hoc coetu ornatissimo Verbis vobis edictabo paucissimis. Hoc quam simus die daturi fabulam, Quid fabulam? etc. Priorum cui pietas Ratisponensium Insigne hac ipsa in urbe templum condidit. Et drama etc.

5a

10a 19a

Prolog

167

Prolog Philipp,179 geboren aus hohem königlichem Blute, geziert durch die Mitra und den römischen Purpur, ihr leitenden und führenden Männer der Kirche von Regensburg und ihr übrigen Glanzlichter [5a] des Adels, der Gelehrsamkeit und der Tugend, die ihr diese Stadt erstrahlen lasst, sofern es mir erlaubt ist, kurz in diesem Theater die Stimme zu erheben, werde ich in dieser äußerst ehrenvollen Zusammenkunft nur ganz wenige Worte an euch richten. Welches Bühnenstück werden wir am heutigen Tag gleich aufführen? [10a] Doch was spreche ich von einem „Bühnenstück“? ... *Es folgen die Verse 6–14 des ‚Münchener Prologs‘* [19a] Ihm hat die Frömmigkeit der alten Regensburger in genau dieser Stadt eine prächtige Kirche erbaut. Und auch das Stück ... *Es folgen die Verse 15–33 des ‚Münchener Prologs‘*

168

Appendix Ratisponensis

Quarta pars dramatis Scena prima (IV,1) Adducitur a duobus angelis Cassianus ad Christum insignibus martyrum ornandus Martyrologus, Stephanophorus Mart.: Humani assertor generis mundique arbiter, Sanctorum dux et imperator militum, Quos tua secutos signa ingenti pectore Animoque invicto iuvit immanissimos Exhaurire labores et atrocissima Tormentorum genera subire ac perpeti Feras, rogos, undas, enses, rotas, cruces Dulcesque animas multo cum sanguine fundere Potius quam te deserere aut tibi datam fidem Violare ac frangere: en tibi hunc antistitem Quondam, puerilis dudum doctorem gregis Et ab eodem enectum stilis crudelibus, Adducimus, ut claro donatus aethere Divumque purpuratorum insertus choro Tantae tamque illustri virtuti debita Constantiaeque a te capiat insignia. Steph.: Gemina corona Cassianus dignus est, Qui non modo supplicium tulit acerbissimum A proterva puerorum turba et impia, Verum docendo etiam fidei lumen sacrae In teneris accendere animis conatus est Eosque densis errorum educere tenebris, Quibus illos stulta credulitas involverat. Hoc studium, ut ei dolores peperit maximos Molestiarumque numerum innumerabilem, Ita nunc eundem meritis cumulet gaudiis. Amara gustavit, gustet iam dulcia; Laboribus pressus fessusque gravissimis Quietis fructu laetetur gratissimae.

1230

1235

1240

1245

1250

1255

Vierter Akt

169

Vierter Akt des Dramas Erste Szene (IV,1) Cassian, dem die Märtyrerinsignien verliehen werden sollen, wird von zwei Engeln zu Christus geführt Martyrologus, Stephanophorus Mart.: Heiland des Menschengeschlechts und Richter der Welt, Herr und Anführer deiner heiligen Soldaten, die mit tapferem Herzen [1230] und unbesiegbarem Mut gerne deinen Feldzeichen gefolgt sind, die gewaltigsten Strapazen auf sich genommen, sich den schlimmsten Folterarten unterzogen, wilde Tiere, Scheiterhaufen, Wassermassen, Schwerter, Räder, Kreuze180 erduldet haben, die lieber ihre zarten Seelen mit viel Blut ausgehaucht haben [1235] als dich im Stich zu lassen oder die dir geschworene Treue zu verletzen und zu brechen: Siehe, wir bringen diesen zu dir, einst ein Bischof, dann lange ein Lehrer der Jugend und von derselben mit grausamen Schreibgriffeln ermordet, damit er beschenkt mit dem herrlichen Himmelreich [1240] und eingereiht in die Schar der heiligen Märtyrer181 von dir die Insignien erhält, die er sich für seine so herausragende Tapferkeit und seine so großartige Standhaftigkeit verdient hat.182 Steph.: Cassian ist der doppelten Krone183 würdig, er, der nicht nur die schlimmste Todesstrafe ertrug, [1245] verursacht von einer zügellosen und gottlosen Knabenbande, sondern auch versuchte, in seinem Unterricht das Licht des heiligen Glaubens in den noch sanften Gemütern zu entzünden und diese aus der finsteren Dunkelheit des Irrtums herauszuführen, in die sie der dumme Aberglaube eingehüllt hatte. [1250] Wie ihm dieser Eifer so gewaltige Schmerzen und eine schier nicht zählbare Anzahl an Martern beibrachte, so soll er ihn nun mit verdienten Freuden überhäufen. Das Bittere hat er gekostet, kosten soll er nun das Süße; von schwersten Strapazen niedergedrückt und entkräftet soll er sich nun [1255] der Frucht der angenehmsten Ruhe erfreuen.

170

Appendix Ratisponensis

Vita exutus mortali pro nomine tuo, Stola immortalis induatur gloriae. Scena secunda partis quartae (IV,2) Donatur insignibus martyrum Cassianus Christus, Cassianus Christ.: Tune ille es praestans atque invictissimus heros, Qui nostri pectus miro inflammatus amore Ausoniam veniens mitraque pedoque relictis Coepisti aetatem infirmam gentemque pusillam Litterulis formare bonis artesque docere Ingenuas iungens mysteria nostra profano Dogmati et inspergens caelestis semina vitae, Semina non grato fundo commissa soloque. Ten’ puerile agmen manibus post terga revinctum Nomine pro nostro stimulis fodere per artus Tormine multiplici et lentae cruciamine mortis, Gliscente ira animis, nimis gliscente furore, Verbera quem memori mente exhausere reposta? Huc ades idcirco, miles fortissime, qui me Sanguine testatus roseo, testatus et ore, Proiecisti animam, nostrum exemplumque secutus Vicisti patiendo non feriendo tyrannum. Iam condigna tuo tibi solvam praemia amori, Praemia perpetuos aeternatura per annos. Cass.: Ego vero haud tantis me dignor praemiis Et meritis ampliora promittis meis. Nam quicquid virtutis, quicquid constantiae Eluxit in me, id acceptum refero tibi. Quicquid gessi praeclare, quicquid fortiter, Quicquid laudabile, quicquid admirabile, Id omne munere est et ope gestum tua.

1260

1265

1270

1275

1280

Vierter Akt

171

Sein sterbliches Leben hat er für deinen göttlichen Namen abgelegt, nun möge ihm das Gewand des unsterblichen Ruhmes angelegt werden. Zweite Szene des vierten Aktes (IV,2) Cassian werden die Märtyrerabzeichen verliehen Christus, Cassian Christ.: Bist du jener herausragende und unbesiegbare Held,184 der du im Herzen durch wunderbare Liebe zu uns entflammt [1260] Bischofshut und Bischofsstab abgelegt hast, nach Italien gekommen bist und begonnen hast, die schwache Jugend und die Schar der Kleinen in den edlen Wissenschaften zu bilden und die freien Künste zu lehren, und dabei die Geheimnisse unseres Glaubens mit der irdischen Lehre verbunden und ihnen die Samen des himmlischen Lebens eingestreut hast, [1265] Samen, die allerdings keiner dankbaren Erde und keinem dankbaren Boden anvertraut wurden. Hat dir, die Hände auf den Rücken gebunden, die Knabenschar wegen unseres Namens mit ihren Schreibgriffeln die Glieder durchbohrt185 und dich dabei in mannigfacher Weise gemartert186 und langsam zu Tode gequält, mit loderndem Groll im Herzen, mit allzu loderndem Zorn, [1270] dich, den die empfangenen Schläge bei vollem Bewusstsein dahinrafften? Daher bist du, allertapferster Soldat, hierher gelangt, der du für mich mit deinem roten Blut Zeugnis abgelegt hast, Zeugnis abgelegt hast auch mit deinem Mund, der du dein Leben preisgegeben hast und unserem Beispiel folgend den Tyrannen dadurch besiegt hast, dass du Leid ertragen und nicht zugefügt hast. [1275] Gleich werde ich dir den angemessenen Lohn für deine Liebe verleihen, Lohn, der ewig durch alle Zeiten hindurch andauern wird. Cass.: Ich halte mich aber eines so großen Lohnes nicht für würdig und du versprichst mir einen größeren, als er meinen Verdiensten zukommt. Denn mit aller Tugend und mit aller Standhaftigkeit, die [1280] in mir hervorstrahlte, gebe ich dir nun zurück, was ich von dir erhalten habe. Alles Herausragende, alles Tapfere, alles Lobenswerte, alles Bewundernswerte, das ich vollbracht habe, hat deine Gnade und Hilfe vollbracht.

172

Appendix Ratisponensis

Quicquid vero dixi fecive perperam, Quicquid parum prudenter aut parum pie, Id omne vitio dictum est et factum meo. Tibi ergo uni debetur honor ac gloria, A quo ceu fonte bona dimanant omnia. Christ.: Hoc, Cassiane, amictu induere splendido. Haec est stola illa gloriae, qua caelites Solent amicique mei convestirier, Illi cum primis, qui causa duros mea Dirosque cruciatus exanclant corpore Quorumque cruore membra proprio purpurant. Cass.: O mihi si pro te plura milia vulnerum Inflicta fuissent, Christe, amor et honor meus. Christ.: Ecce coronam impono capiti duplicem tuo Aethereis radiantem faculis: quarum altera Doctrinae munus, altera illustrissimae Ab hoste reportatae signum est victoriae. Nullius autem diademate cingo tempora, Nisi masculo qui pectore dimicaverit. Cass.: Quis non quaevis promptus subeat certamina, Quae tanta victori conciliant munera? Christ.: Et palmam hanc capito invictae mentis indicem. Ut illa enim nulli succumbit ponderi, Verum renisu evadit victrix, sic tua Pressa quidem, non oppressa virtus est. Cass.: tuis Corroboratum viribus quis opprimat? Christ.: Hoc in regali mecum solio conside, Aeterni haeres regni, numquam a latere meo Divellendus. mortali namque corpore Tectus quondam cum inter mortales degerem, Promisi, ubi ego forem, ibi et ministrum fore meum. Vos aligeri, domus sidereae lumina, Huic nostro martyri, novo poli incolae Laetis applausibus congratulamini.

1285

1290

1295

1300

1305

1310

1315

Vierter Akt

173

Aber für alles, das ich falsch, [1285] nicht klug oder fromm genug getan oder gesagt habe, trage ich die Schuld. Daher gebühren allein dir Ruhm und Ehre, dir, von dem alles Gute wie von einer Quelle ausströmt. Christ.: Du, Cassian, wirst mit diesem strahlenden Gewand bekleidet. [1290] Das ist jenes Gewand des Ruhmes, mit dem die Himmlischen und die mich lieben, üblicherweise bekleidet werden,187 vor allem jene, die um meinetwillen schlimme und schreckliche körperliche Qualen erleiden und deren Glieder sich vom eigenen Blut rot färben. Cass.: [1295] Oh, wenn mir doch nur viele tausend Wunden mehr für dich zugefügt worden wären, Christus, meine Liebe und meine Zier. Christ.: Siehe, ich setze eine zweifache, mit himmlischem Feuer strahlende Krone188 auf dein Haupt: Die eine von beiden ist der Lohn für deine Gelehrsamkeit, die andere ist das Zeichen für den hellstrahlenden Sieg, [1300] den du vom Feind fortgetragen hast. Ich aber umkränze nur demjenigen die Schläfen mit dem Diadem,189 der mit mannhaftem Herzen gekämpft hat. Cass.: Wer wird wohl nicht gerne jedweden Kampf aufnehmen, wenn dieser dem Sieger solch großartigen Lohn bereitet? Christ.: [1305] Und nimm diese Siegespalme als Zeichen für deinen unbesiegbaren Geist. Denn so wie diese sich keinem Gewicht niederbeugt, sondern durch ihren Widerstand den Sieg davonträgt, so wurde deine Tugend zwar niedergedrückt, aber nicht erdrückt. Cass.: Wer könnte erdrückt werden, wenn er mit deiner Kraft gestärkt wurde? Christ.: [1310] Besteige zusammen mit mir diesen Herrscherthron, du Erbe des ewigen Reiches, niemals sollst du von meiner Seite weggerissen werden. Denn als ich einst in einem sterblichen Körper unter den Sterblichen weilte, habe ich versprochen, dass dort, wo ich sein werde, auch mein Diener sein werde.190 [1315] Ihr Engel, ihr Glanzlichter der himmlischen Wohnstatt, beglückwünscht diesen unseren Märtyrer, diesen neuen Himmelsbewohner mit freudigem Beifall.

174

Appendix Ratisponensis

Scena tertia partis quartae (IV,3) Applausus angelorum Mart.: Gaudeat aether totusque chorus Aetheris alti! nam nova nostro Oriens lampas fulsit in orbe. Quae nova lampas sidusve novum? Inclutus heros, martyr et ingens, Quem discipuli fixere stilis Odio incensi corda magistri. Salve, o sidus stellaque rutilans, Quae luce tua caelum irradias Nostraque mire gaudia cumulas. Steph.: Magnanime o victor, nostri nova gloria regni Clarumque martyrum iubar, Iure tuo aethereus coetus laetatur honore, Gratatur et plaudit tibi. Cui posita aeternos pro Christo vita triumphos Aeternaque trophaea peperit. Tanti est non hostis valido cessisse furori, Dedisse nec victas manus. Boeth.: Gaudeto, Cassiane, Laetumque ducito aevum! Nam est hostis et tyrannus Fusus, fugatus omnis. Tibi unde, martyr, ista Auro gravis micansque Stellantibus capillis Caput corona inumbrat. Clarum indidem triumphi Victoriaeque partae Insigne dextra palmae Demum beata gestat. Victoriam o canendam, Victoriam o stupendam, Cui iure cuncta priscum Cedunt trophaea regum.

1320

1325

1330

1335

1340

1345

1350

Vierter Akt

175

Dritte Szene des vierten Aktes (IV,3) Beifall der Engel Mart.: Der Äther und der ganze Chor des hohen Äthers freue sich! Denn ein neues Licht ist [1320] aufgegangen und erstrahlte an unserem Himmelsgewölbe. Welches neue Licht, welches neue Gestirn? Ein ruhmreicher Held und ein hervorragender Märtyrer, dem seine Schüler, von Hass auf ihren Lehrer entflammt, mit ihren Griffeln das Herz durchbohrten. [1325] Sei gegrüßt, Gestirn und glänzender Stern, der du mit deinem Licht den Himmel erstrahlen lässt und unsere Freude auf wunderbare Weise vergrößerst. Steph.: O großherziger Sieger, neuer Ruhm unseres Reiches und strahlender Glanz der Märtyrer, [1330] zurecht erfreut sich die himmlische Gemeinschaft deiner Ehre, beglückwünscht dich und spendet dir Beifall. Dir hat die Hingabe deines Lebens für Christus ewige Triumphe und ewige Siegestrophäen hervorgebracht. Einen so großen Lohn erhält man, wenn man dem heftigen Wüten des Feindes nicht nachgegeben [1335] und sich nicht geschlagen gegeben hat. Boeth.: Freue dich, Cassian, und führe ein seliges Leben! Denn der tyrannische Feind ist ganz und gar geschlagen und vertrieben. [1340] Daher umgibt dir, Märtyrer, diese Krone das Haupt, die schwer von Gold auf deinen sternentragenden Haaren funkelt. Deswegen führt auch deine selige Rechte schließlich das strahlende Zeichen des Triumphes und [1345] des errungenen Sieges. Oh, dieser Sieg muss besungen werden, oh, vor diesem Sieg muss man staunen! [1350] Ganz zu Recht stehen ihm alle Triumphe der Könige des Altertums nach.

176

Appendix Ratisponensis

Uran.:

Quae dudum horribilis tuo Tempestas capiti ingruit, Haec iam detonuit: fragor Caeli concedit omnis. Pulsis imbribus omnibus Fulgent reddita sidera, Et ridet tibi candidus Laeto Cynthius ore. Ergo omni vacuus metu, Omni et sollicitudine Deinceps quam placidissimo Aevo, dive, frueris. Id nobis etiam tua Causa laetitiam creat. Tota unde aetheriae domus Plausu personat aula. Eudaem.: Cum multo gemitu, labore multo Et multis lacrimis, beate martyr, Arvis semina pinguibus dedisti. Nunc demessa suis legas maniplis Laetus farra licet f‹er›asque fruges, Fruges, quae maneant perenne saeclum. Theopta: Christi amor ingentem luctum tibi, dive, creavit. Idem laetitiam nunc amor, ecce, creat. Exiguo luctus duravit tempore: finem Gaudia quem quaerunt, non reperire queunt.

1355

1360

1365

1370

1375

Scena quarta partis quartae (IV,4) Cassianus, Christus, Stephanophorus Cass.: A te ornatus tot honoribus, tot commodis, Auctor salutis, vindex et custos meae, Queis verbis grates tibi coner persolvere? Non opis hoc nostrae est nec nostrarum virium. Quicquid enim dixero vel fecero, id tuis Longe erit inferius meritis ac beneficiis.

1380

Vierter Akt

177

Uran.: Der fürchterliche Sturm, der lange über dein Haupt hereinbrach, hat sein Donnern schon eingestellt: Jegliches Getöse [1355] des Himmels weicht. Nachdem aller Regen vertrieben worden ist, erstrahlen die Sterne wieder sichtbar und es lächelt dir der hellstrahlende Apollo191 mit freundlicher Miene zu. [1360] Daher mögest du, Heiliger, frei von jeglicher Furcht und jeglichem Kummer von nun an ein Leben voll tiefstem Frieden genießen. Dies bereitet auch uns um [1365] deinetwillen Freude. Daher erschallt die ganze Halle des himmlischen Heims in Jubel. Eudaem.: Mit viel Seufzen, mit viel Mühe und mit vielen Tränen hast du, seliger Märtyrer, [1370] Samen in die fruchtbare Erde gesetzt. Nun steht es dir frei, freudig das Getreide zu schneiden und zu bündeln192 und aufzulesen und deine Ernte einzufahren,193 eine Ernte, die bis in alle Ewigkeit bleibt. Theopta: Die Liebe zu Christus hat dir, Heiliger, gewaltigen Schmerz verursacht. [1375] Siehe, dieselbe Liebe bereitet dir nun Freude. Der Schmerz dauerte nur eine kurze Zeit: Die Freuden dagegen werden kein Ende finden.

Vierte Szene des vierten Aktes (IV,4) Cassian, Christus, Stephanophorus Cass.: Von dir mit so vielen Ehren, mit so vielen Annehmlichkeiten ausgezeichnet, Urheber, Retter und Beschützer meines Heils, [1380] mit welchen Worten194 soll ich versuchen, dir Dank abzustatten? Es liegt nicht in unserer Macht und nicht in unseren Kräften. Denn alles, was ich sagen oder tun werde, wird weit geringer sein als deine Verdienste und Wohltaten.

178

Appendix Ratisponensis

Tu me genitum tua insignisti imagine, Tu perditum studio quaesisti maximo Inventumque poli reddidisti sedibus; Tu me mille ereptum, deus, periculis Et mille humanae emersum vitae fluctibus In tuto salvum collocasti litore; Tu me mitra donasti sacra praesulum Et fortium victrice palma martyrum; Tu me in vario et magno discrimine proelii Tua benignus defendisti dextera. Tibi ergo (ut alia praeteream quam plurima, Quibus enarrandis nulla lingua sit satis), Quicquid habeo, quicquid sum, id debeo tibi. Proin tuo me totum addico numini, Quod cum reliquis caeli beatis civibus Aeternis efferam laudum praeconiis. At nunc, rerum parens moderatorque omnium, Hoc unum meritis in me adiungito tuis, Ut, qui sua per me vota ac supplicia tibi Offerre cupiunt, nostram sentiant opem, Qui multa olim in Davidis gratiam tui Et ampla Isacidum generi bona largitus es. omittenda usque ad haec verba: vos magni etc. Cum primis autem id te rogo, pater optime, Philippo ut Boia nat‹o› stirpe princip‹i› Mitra fulgenti et purpurato pileo Romanum iter fortunes atque prosperes. Iter longum et multis obiectum incommodis, Quod ille non sua voluntate, sed eius, Qui Petrinae tenet clavum navis pater, Ut obsequens brevi suscipiet filius. Hoc serva mihi tibique dilectum caput Altamque Quirini in urbem incolumem ducito. Hoc mecum una orat urbs Ratisponensium Sollicita pro sui salute antistitis.

1385

1390

1395

1400

1405

1410

1415

Vierter Akt

179

Bei meiner Geburt hast du mir dein Ebenbild verliehen, 195 [1385] als ich verloren war, hast du mich mit größtem Eifer gesucht und, als du mich gefunden hattest, zur himmlischen Wohnstatt zurückgeführt; du, Gott, hast mich tausend Gefahren entrissen und aus tausend Fluten des menschlichen Lebens errettet und wohlbehalten an die sichere Küste gebracht; [1390] du hast mich mit der heiligen Bischofsmitra und der Siegespalme der tapferen Märtyrer beschenkt; du hast mich in vielfältigen und großen Gefahren des Kampfes mit deiner Rechten wohlwollend verteidigt. Dir also (um noch vieles andere zu übergehen, [1395] was aufzuzählen keine Zunge in ausreichendem Maße vermag), dir verdanke ich alles, was ich habe, was ich bin. Daher verpflichte ich mich ganz deiner Göttlichkeit, die ich zusammen mit allen anderen seligen Bewohnern des Himmels ewig rühmen werde. [1400] Nun aber, Schöpfer und Lenker aller Dinge, füge allein dies noch deinen Verdiensten, die du mir erwiesen hast, hinzu, dass diejenigen, die dir durch mich ihre Gebete und Bitten vorbringen wollen, unsere Hilfe erfahren, der du einst auf deines Davids Fürsprache auch das Volk der Kinder Isaaks mit vielen [1405] und reichen Gaben beschenkt hast. Auszulassen bis zu diesen Worten: „Ihr Herren des großen Himmels etc.“196 Ganz besonders aber bitte ich dich, bester Vater, dass du dich dem bayerischen Fürstenspross Philipp,197 der in seiner Bischofsmitra strahlt und den Purpurhut trägt, wohlwollend erweist und eine glückliche Reise nach Rom schenkst. [1410] Es ist eine lange Reise, die viele Unannehmlichkeiten mit sich bringt. Nicht aus eigenem Willen, sondern nach dem Willen des Vaters, der das Steuerruder des Schiffes Petri innehat, wird er sie in Kürze als gehorsamer Sohn auf sich nehmen. Schütze dieses Haupt, das mir und dir lieb ist, [1415] und führe es unversehrt in die hohe Stadt198 des Quirinus.199 Darum bittet zusammen mit mir die Stadt Regensburg, besorgt um das Wohl ihres Bischofs.

180

Appendix Ratisponensis

Christ.: Petitio, Cassiane, tua iustissima est Et plena caritatis: idcirco auferes Mox impetrata, quae rogas. Stephanophore, Citus in terras ad mortales delabere Et votis Cassiani concessam piis Philippo itineris prosperitatem nuntia. Steph.: Promptus iussa haec, divum regnator, exequor.

1420

Scena quinta partis quartae (IV,5) Cassianus, Chorus Cass.: Novo auctus a te munere Novis canam te laudibus Tuumque ter sanctissimum Celebrabo numen carmine. Vos magni Olympi principes, Alata gens, flos aetheris, Mecum supremo debitas Laudes perenni pangite.

1425

1430

Chorus Cass.: Prolem tonantis, aevo Parem suo parenti, Rerum omnium satorem, Laeto ore concinamus. Steph.: Quem pontus, aethra, tellus, Surgensque sol cadensque Tremunt, colunt, adorant, Laeto ore concinamus. Mart.: Cuius potente nutu Stat conditum vigetque, Stellante quicquid axe Lampas tuetur orbis.

1435

1440

Vierter Akt

181

Christ.: Deine Bitte, Cassian, ist mehr als gerecht und voller Nächstenliebe: Daher wird dir [1420] bald das gewährt, worum du bittest. Stephanophorus, steige schnell zur Erde und zu den Sterblichen hinab und vermelde Philipp, dass seine Reise glücklich verlaufen werde, was durch Cassians fromme Bitten erwirkt wurde. Steph.: Sofort führe ich diesen Befehl aus, himmlischer Herrscher. Fünfte Szene des vierten Aktes (IV,5) Cassian, Chor Cass.: [1425] Bereichert durch eine weitere Gabe von dir will ich dich mit neuem Lob besingen und deine dreimal heiligste Göttlichkeit in einem Lied feiern. Ihr Herren des großen Himmels, [1430] geflügeltes Volk, Blüte des Äthers, stimmt zusammen mit mir Ruhmeslieder an, die dem ewigen Höchsten gebühren.

Chorgesang Cass.: Den Sohn Gottes,200 an Alter seinem Vater gleich, [1435] den Schöpfer aller Dinge, besingen wir mit freudigem Munde. Steph.: Vor dem das Meer, der Himmel, die Erde, die aufgehende und untergehende Sonne erzittern, den sie verehren, dem sie huldigen, [1440] ihn besingen wir mit freudigem Munde. Mart.: Durch dessen mächtigen Wink alles fest und kraftvoll steht, was die Sonne vom sternenbesetzten Himmel herab erblickt.

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Appendix Ratisponensis

Boeth.:

Cuius benigna dextra Servat, fovet regitque, Quicquid creavit ipse, Polo, solo saloque. Uran.: Creator iste noster, Parens et iste noster Nos hac in arce donis Ingentibus beavit. Eudaem.: Servator iste noster Et rector iste noster Nobis reclusit omnes Fontes bonus bonorum. Theopta: His fontibus Philippum Nostrum, deus, repleto, Magna siti appetentem Rivos aquae perennis. Mone musicos, tubicines, etc. Omnes simul (sive Anonymus): Hunc omnibus ducique Antistique tanto Virtutibus decoris Serva diu micantem.

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Scena sexta partis quartae (IV,6) Stephanophorus Ab oris legatus venio caelestibus, Ad te, Philippe, ostro insignite pontifex, A numine ut felix iter tibi nuntiem In urbem principem urbium et mundi caput, Galero ubi rubricante contectus caput Longo talos circumfluente syrmate In purpuratorum coetu sanctissimo Occipies orbi iura dare, stupentibus

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Vierter Akt

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Boeth.: [1445] Dessen gütige Rechte alles, was er selbst am Himmel, auf der Erde und im Meer erschaffen hat, beschützt, hegt und lenkt. Uran.: Dieser unser Schöpfer, [1450] dieser unser Vater hat uns hier im Himmel201 mit unermesslichen Gaben selig gemacht. Eudaem.: Dieser unser Retter und dieser unser Lenker [1455] hat uns in seiner Wohltätigkeit alle Quellen des Guten eröffnet. Theopta: Aus diesen Quellen, Gott, erfülle unseren Philipp, der mit großem Verlangen [1460] nach den Flüssen des ewigen Wassers dürstet. Gib den Musikern, Trompetern etc. ein Zeichen Alle zugleich (oder ein Anonymer): Diesen, der in allen Tugenden, die einen Fürsten und großartigen Bischof zieren, erstrahlt, erhalte auf lange Zeit.

Sechste Szene des vierten Aktes (IV,6) Stephanophorus [1465] Von den himmlischen Gefilden gesandt komme ich zu dir, Philipp,

dem mit Purpur geschmückten Bischof, um dir von Gott eine glückliche Reise in die Stadt anzukündigen, die die Fürstin aller Städte und das Haupt der Welt ist. Dort wirst du dich, das Haupt mit roter Kappe bedeckt [1470] und die Beine mit langem Gewand umwallt, im allerheiligsten Kreis der Purpurträger anschicken, dem Erdkreis Gesetze zu geben.

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Appendix Ratisponensis

Romulidis tantam in hoc aevo scientiam Rerum tractandarum et tantos sapientiae Thesauros in iuvenili pectore conditos. Hoc ergo iter securus animi carpito, In quo Raphaelis fungetur munere Is, quem custodem tibi dedit deus, angelus. Numquam ille certe a latere discedet tuo, Sed adhaerebit usque comes fidissimus. Ille viam diriget tuam, te proteget, Ille ad sancta incolumem te ducet limina, Ille idem post aestatem unam vel alteram Ad haec sanum laetumque reducet moenia, Ad altiora ni forsan vocaverit, Summum qui diae ecclesiae sceptrum regit. Haec nuntiare iussus sum princeps tibi. Nunc sedes, unde veni, repetam Olympicas.

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Ad Epilogum Ratisponti hi versiculi pro superioribus pronuntiatis Tantum nostri iuventus gymnasii, sacro Quod divi gaudet nomine Pauli et numine, In pulvere hoc anno sudavit Olympico. Ergo acris clangore vocis maximo evoca Olympionicas longe nobilissimos, Illustris ut capiant munera victoriae.

1221a

1225a

Vierter Akt

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Und die Kinder des Romulus werden über die große Expertise schon in diesem jungen Alter in der Amtsführung staunen sowie über [1475] den großen Weisheitsschatz, den deine Jugend birgt. Trete diese Reise daher ohne Sorge im Herzen an, auf der jener Engel202 die Aufgabe des Raphael ausführen solle, den Gott dir als Beschützer gegeben hat. Denn er wird ganz sicher niemals von deiner Seite weichen, [1480] sondern ohne Unterlass als ganz und gar treuer Begleiter bei dir bleiben. Jener wird dir den Weg weisen, dich beschützen; jener wird dich sicher zu den heiligen Schwellen führen; und jener wird es auch sein, der dich nach einem oder zwei Sommern gesund und munter in diese Mauern zurückführen wird, [1485] es sei denn der, der das höchste Szepter der heiligen Kirche führt, beruft dich zu Höherem. Ich wurde zum Wortführer bestimmt, um dir dies zu verkünden. Nun will ich zu meiner himmlischen Wohnstatt zurückkehren, von der ich gekommen bin.

Modifikation des Epilogs der ‚Münchener Aufführung‘ *Es werden zunächst die Verse 1180–1220 des ‚Münchener Epilogs‘ dargeboten.* In Regensburg diese Verslein anstatt der oben gesprochenen. *Ersetzt die Verse 1221–1225 des ‚Münchener Epilogs‘* [1221a] So viel hat die Jugend unseres Gymnasiums, das sich des Namens

und des Beistands des Heiligen Paulus erfreut, dieses Jahr im olympischen Staub geschwitzt. Rufe daher mit deiner helltönenden Stimme so laut du kannst [1225a] die alleredelsten Olympioniken auf, damit sie die Belohnung für ihren strahlenden Sieg erhalten.

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stips: Seltene Nebenform zu stipes. Der Münchener Uraufführung des Cassianus wohnten nicht nur viele Vertreter des bayerischen Adels, sondern auch Herzog Wilhelm V. sowie dessen Bruder Ernst, der damalige Erzbischof von Köln und Kurfürst, bei. Siehe hierzu auch Einleitung, Abschnitt 5. docebo fabulam: ein Terminus technicus des antiken Theaterwesens (z. B. bei Hor. ars 288; Cic. Brut. 72–73, Tusc. 4,63; Suet. Claud. 11,2; vgl. im Griech. δρᾶμα διδάσκειν). Wortspiele mit der im Deutschen nicht zu imitierenden Doppeldeutigkeit des lateinischen ludus (Spiel/Spaß; Schule) finden sich wiederholt im Cassianus (siehe auch V. 127–129; ludus–ludicrus, V. 1044–1051). Siehe auch Gretsers Udo, V. 79–80. Sabiona (teilweise auch Sabona): Lateinische Bezeichnung für Säben im Eisacktal. Forum Sullae bzw. Forum Cornelii: Lateinischer Name der Stadt Imola. Die Gründung geht angeblich auf den bekannten Diktator Lucius Cornelius Sulla (138–78 v. Chr.) zurück. politiores litterae: Anachronistische Übertragung von frühneuzeitlichen Verhältnissen auf die Spätantike. Im Rahmen des Renaissance-Humanismus verstand man unter den litterae politiores (oder auch litterae bonae) allgemein die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Antike, insbesondere der klassischen lateinischen und griechischen Autoren (im Gegensatz zu den angeblich ‚barbarischen‘ Studien früherer Jahrhunderte). Siehe hierzu AUGUSTIJN 2003, 52; SEIFERT 1996, 250–251. Anspielung auf die angeblich christenfeindliche Herrschaft des dem Heidentum zugewandten römischen Kaisers Julian und dessen ‚Rhetorenedikt‘. Siehe hierzu Einleitung, Abschnitt 6. sibi canere: Von Cicero (vgl. leg. agr. 2,68) gebrauchte Redewendung: ‚bei seinen Aussagen nur an sich selbst denken; zu seinem eigenen Vorteil handeln‘ (vgl. Eras. Adag. 2480). asinum tondere: Aus dem Griechischen übernommene (τὸν ὄνον κείρειν) Redewendung für ‚sich vergeblich Mühe geben‘, da Esel keine verwertbare Wolle geben (vgl. Eras. Adag. 380).

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Erläuterungen

retiam et operam perdere: Eine von Plautus (Rud. 900) abgeleitete Wendung (vgl. Eras. Adag. 3946). deferbuit: In nachantikem Latein kann oftmals b für v stehen, v. a. nach den Liquiden r oder l. Vgl. STOTZ 1996–2004, Bd. 3, §227.3. Ulmenholz wird stereotyp in der römischen Komödie genannt, wenn es um die Bestrafung von Sklaven geht. Aufgrund seines harten Holzes eigne es sich hierfür besonders (vgl. Plaut. Amph. 1029, Asin. 363, Pseud. 333, Rud. 636). oestro percitus (oder auch concitus): Latinisierte Version einer griechischen Redewendung (οἴστρῳ παραπληγείς) zur Beschreibung von rasenden oder wahnsinnigen Personen (vgl. V. 420). verborum/verberum: Paronomastische Wortspiele aus verba und verbera sind in Raders Cassianus wiederholt zu finden (siehe auch V. 134, 201, 1067; vgl. Ov. epist. 10,38). excarnificarier: Der altlateinische auf –ier (statt –i) endende Infintiv Präsens Passiv ist in der römischen Komödie sehr verbreitet. Jedes Wort von V. 105 bildet einen abgeschlossenen jambischen Versfuß und wird somit für sich betont. So große Vorbehalte die Jesuiten, insbesondere von Seiten der Ordensgenerale, offiziell gegen die pädagogische Strafmaßnahme der Karzerhaft hatten, so wenig konnten bzw. wollten sie in der Praxis darauf verzichten. Siehe hierzu ausführlich: RÄDLE 2009a, 361–363; 2009b, 81; HAUB 2000, 143; DUHR 1907, 266–270. Die Strafarbeit in der (Stampf-)Mühle (pistrinum; mola) wird in der römischen Komödie häufig über Sklaven, die sich etwas zu Schulden haben kommen lassen, verhängt bzw. ihnen angedroht. Siehe z. B. Plaut. Epid. 145, Most. 17, Pseud. 499–500; Ter. Andr. 199, Haut. 530. lumbifragium: Eine typisch plautinische Wortneuschöpfung aus lumbus und frangere (siehe Amph. 454). Laut antikem Mythos wurde Prometheus, der Sohn des Titanen Iapetos und der Oceanus-Tochter Klymene, zur Strafe dafür, dass er dem Göttervater Zeus das Feuer heimlich entwendet und den Menschen gebrachte hatte, an den Kaukasus gekettet. Dort zerhackte ihm ein Adler täglich die Leber, die über Nacht immer wieder nachwuchs, bis er schließlich von Herakles befreit wurde (vgl. Hes. theog. 535–616; Aischyl. Prom. 107–112).

Erläuterungen

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Der homoioteleutische Gleichklang movi–fovi–novi steigert in V. 123 den Sarkasmus in Julius’ Worten. Das Motiv einer wieder zum Leben erwachenden antiken Persönlichkeit ist insbesondere im neulateinischen Drama verbreitet. So werden z. B. in Nicodemus Frischlins Iulius Redivivus von 1584 Julius Caesar und (der an dieser Stelle ebenfalls genannte) Marcus Tullius Cicero wiedergeboren. Beide bereisen das Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts und bewundern die Errungenschaften auf dem Gebiet des Militärwesens und der Literatur bzw. Buchproduktion. In einem 1596 in München uraufgeführten Drama über den Kreuzritter Gottfried von Bouillon (clm 549) aufersteht nicht nur die gleichnamige Hauptfigur, sondern auch der Kreuzzugsprediger Peter der Einsiedler von den Toten. Sie versuchen, die europäischen Völker dazu zu bringen, ihre konfessionellen Streitigkeiten beizulegen und einen gemeinsamen Kreuzzug gegen die ‚Türken‘ zu führen. flagritriba: Eine weitere typisch plautinische Wortneuschöpfung (aus flagrum und dem griechischen τρίβειν: ‚Geißelabnutzer, Geißelopfer‘) zur despektierlichen Bezeichnung eines Sklaven (vgl. Pseud. 137). Hic liber omnem mihi libertatem abstulit: Paronomastisches Wortspiel aus den etymologisch nicht miteinander verwandten Substantiven liber (Buch) und libertas (Freiheit). Naso: Cognomen des bekannten Dichters Publius Ovidius Naso (43 v. Chr. bis vermutlich 17 n. Chr.). Tatsächlich scheint Ovid, im Gegensatz zu Horaz und Vergil, einen eher marginalen Platz in der Ratio studiorum, der zentralen und verpflichtenden Studienordnung der Societas Iesu, eingenommen zu haben. Ovids Gedichte eignen sich laut Studienordnung besonders für den Unterricht in den Grammatikklassen. Seine Elegien und Briefe könnten in der obersten Grammatikklasse (Classis Grammatica Suprema), freilich in ausgewählter und purgierter Form, herangezogen werden (ex poetis vero primo semestri selectae aliquae ac purgatae Ovidii tum elegiae tum epistulae, MPSI V [Ratio stud. 1599], 434), seine besonders leichten carmina auch in der Classis Grammatica Media (facillima quaeque Ovidii carmina, MPSI V [Ratio stud. 1599], 437). An anderen Stellen werden

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Erläuterungen

explizit die Heroides (vgl. die reiche jesuitische Heroidenbriefdichtung, siehe hierzu EICKMEYER 2014; 2012), die Fasti, die Tristien sowie die Epistulae ex Ponto empfohlen (MPSI V [Ratio stud. 1586], 148, 197, 218; [Ratio stud. 1591], 298, 303). Von den Metamorphosen ist allerdings an keiner Stelle in der Ratio studiorum die Rede. continet: Syntaktisch richtig müsste es continent heißen. Die Stelle ist aber vermutlich nach dem Sinn konstruiert (constructio ad sensum): mendaciorum libri quindecim verstanden als das Gesamtwerk, daher continet im Singular. absiet: In der römischen Komödie verbreitete Ersatzform für den Konjunktiv Präsens Aktiv absit. palmam fert: In der römischen Kaiserzeit dienten Palmkränze oder einzelne Palmzweige allgemein als Siegespreis bei unterschiedlichen Wettkämpfen. Zur Symbolik der Palme im christlichen Märtyrerkontext siehe Anm. 173. Ov. met. 1,1–2. Laut Ovid entführt der Gott Merkur in der Landschaft Elis die Rinder Apollos (vgl. Ov. met. 2,676–707). Battus, der den Diebstahl bemerkt, verspricht Merkur für den Lohn einer Kuh, niemandem etwas zu verraten. Kurz darauf nähert sich der Gott in verwandelter Gestalt Battus und bietet ihm eine Kuh und einen Stier an, wenn er ihm verrate, wo die Rinder seien. Sein früheres Versprechen brechend kommt er dem Wunsch Merkurs nach. Als Strafe verwandelt er Battus in einen Stein. Im siebten Buch der Metamorphosen lässt Ovid König Aeacus von Aegina erzählen, wie seine Insel von einer von Juno gesandten Pest heimgesucht und daraufhin wieder neubesiedelt wurde (met. 7,453–660). Nach der Katastrophe fleht der König Jupiter an, er möge ihm so reiche Nachkommen schenken wie Ameisen an einer Eiche wimmeln, die er gerade zufällig erblickt. In der Nacht träumt er von der Verwandlung von Ameisen in Menschen. Am nächsten Morgen findet er tatsächlich ein neues Volk vor, das emsig arbeitet wie die Ameisen und das er entsprechend Myrmidonen nennt. In Ovids Metamorphosen verwandelt sich Jupiter häufig in andere Gestalten, um sich den Frauen seiner Wahl zu nähern. In Gestalt einer Schlange tritt er an Proserpina heran (met. 6,114), Europa entführt er als Stier (met. 2,833–875). In einen Vogel verwandelt

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sich Jupiter gleich mehrfach, so in einen Adler beim Raub des Ganymed (met. 10,155–161) sowie ebenfalls in einen Adler bei der Begegnung mit Asterië (met. 6,108), in Gestalt eines Schwans tritt er an Leda heran (met. 6,109), woraus Castor und Pollux sowie Helena hervorgehen. Der ägyptische Gott Ammon, der mit Jupiter gleichgesetzt wurde, wird oftmals mit Widderhörnern dargestellt (Ov. met. 5,327). Siehe Ov. met. 3,275. Siehe Ov. met. 5,328. Siehe Ov. met. 14,223–307. Vgl. Hom. Od. 10,203–400. Vgl. die Lycaon-Erzählung in Ov. met. 1,209–243. Pythagoras selbst vollzieht in Ovids Metamorphosen keine Verwandlung. Vielleicht handelt es sich hier aber um eine ironische Anspielung auf das Ende der Pythagoras-Rede bei Ovid (met. 15,456–459), wo es heißt: nos quoque, pars mundi, quoniam non corpora solum, | verum etiam volucres animae sumus inque ferinas | possumus ire domos pecudumque in pectora condi (Übersetzung von HOLZBERG 2017: „Wir als ein Teil der Welt, wir können, weil wir nicht Leib nur, | sondern geflügelte Seelen zugleich sind, auch Wohnung in wilden | Tieren nehmen und uns im Innern von Weidevieh bergen.“). Denkbar wäre auch, dass diese abschließende Bemerkung übertragen und sarkastisch, im Sinne von ‚Pythagoras macht sich zum Esel (i. e. Affen)‘, zu verstehen ist. Immerhin fungiert ‚Esel‘ schon in der Antike als negative Bezeichnung von trägen und dummen Personen. Zum paronomastischen Wortspiel verba/verbera, hier pointiert verbunden mit dem Gleichklang sonant/tonant in paralleler Wortstellung, siehe Anm. 15. Acheron: Unterweltsfluss in der antiken Mythologie. faxis: Altlateinische Nebenform des Konjunktiv Präsens Aktiv (facias) bzw. Futur II Aktiv (feceris). sine me liber ibis in ignem: Ironisch-sarkastische Anspielung auf den Beginn von Ovids erstem Tristien-Buch: Parve – nec invideo – sine me, liber, ibis in urbem (trist. 1,1,1). In Vers 230 bildet jedes Wort genau einen jambischen Versfuß und wird entsprechend betont, wodurch der Aufzählungscharakter verstärkt wird.

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Erläuterungen

Oniropolus: Ein ‚sprechender Name‘: ‚der Traumdeuter‘ (von griech. ὀνειροπόλος). somniator Cassius: Möglicherweise eine von der Namensverwandtschaft Cassius–Cassianus ausgehende Anspielung auf den bei Valerius Maximus überlieferten Traum des Caesarmörders und späteren Antonius-Anhängers C. Cassius Parmensis (Val. Max. 1,7,7). Dieser sei nach der Niederlage bei Actium (31 v. Chr.) nach Athen geflüchtet. Ihm, dem laut Velleius Paterculus (2,87,3) letzten Überlebenden der Caesarmörder, erschien dort in einem Traum eine furchterregende Gestalt, die sich auf seine Frage, wer sie sei, als ‚böser Geist‘ (κακὸς δαίμων) ausgab, wodurch Cassius in große Furcht versetzt wurde. Am Ende dieser Anekdote stellt Valerius Maximus indirekt eine Verbindung zwischen dieser nächtlichen Traumerscheinung und dem Tod des Cassius her, indem er darauf hinweist, dass zwischen dem Traum und der Todesstrafe, die Augustus über Cassius verhängte, nur wenig Zeit lag (parvulum admodum temporis intercessit). Die Erzählung von Valerius Maximus weist einige inhaltliche sowie sprachliche Parallelen zum in Plutarchs Caesar-Vita berichteten Traum des Brutus im Vorfeld der Schlacht von Philippi (42 v. Chr.) auf, in dem ihm der Geist Julius Caesars erscheint, der gegenüber ihm die berühmten Worte „Ich bin dein böser Geist, Brutus: Du wirst mich bei Philippi wiedersehen.“ (ὁ σὸς, ὦ Βροῦτε, δαίμων κακός· ὄψει δέ περὶ Φιλίππους, Caesar 69,11) ausspricht, eine Episode, die später prominent von William Shakespeare in seinem Drama Julius Caesar behandelt werden sollte (Akt 4, Szene 3 Ende). Siehe Anm. 30. Das sogenannte ‚Taukreuz‘ oder auch ‚Antoniuskreuz‘ (lat. crux commissa) erinnert in seiner Form an den griechischen Buchstaben τ und unterscheidet sich hierbei von der geläufigen, vom Christentum geprägten Vorstellung des Kreuzes, ist aber eine in der Antike ebenfalls weit verbreitete Form des Kreuzes (vgl. z. B. Lukian. Iud. Voc. 12). Beim Taukreuz wurde der waagerechte Querbalken (patibulum) bündig auf den senkrechten Kreuzesstamm (stipes) gesetzt. Vgl. HEID 2001, 1100–1101. Plaut. Aul. 77–78. faustum est hoc, Fauste: Wortspiel mit dem Namen des Schülers: ‚der Glück Verheißende/Bringende‘.

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Ocnerus: Ein weiterer ‚sprechender Name‘: ‚der Zögernde/Ängstliche‘ (von griech. ὀκνηρός). tamen longissimisque: In der Frühen Neuzeit werden die lateinischen Buchstaben r und l als Halbvokale betrachtet (siehe z. B. Jakob Micyllus: De Re Metrica libri tres, Frankfurt am Main 1539, fol. 145v), sodass sich hier zwischen dem Auslaut von tamen und dem Anlaut von longissimisque nicht unbedingt eine Positionslänge ergeben muss. Diese (anachronistische) Traumerzählung erhält durch den Umstand, dass u. a. der bayerische Herzog Wilhelm V. persönlich der Aufführung beiwohnte, eine besondere Pointe. sacer: Bisweilen taucht das Adjektiv sacer in zu seiner Grundbedeutung gegenteiliger Weise (‚verflucht, verabscheuungswürdig‘) auf. Vgl. Plaut. Poen. 90; Catull. 14,12; Verg. Aen. 3,57. Die Zusammenfassung des Hercules deckt Liv. 1,22,1–1,25,13 ab. Quirites: Die etymologische Herkunft der Bezeichnung Quirites für das römische Volk ist umstritten. In der Antike führte man die Bezeichnung u. a. (vgl. Fest. p. 304) auf die Zusammenlegung der sabinischen Siedlung auf dem Quirinal, wo der Gott Quirinus verehrt wurde, und der ursprünglich auf dem Palatin gelegenen Siedlung Rom zurück. Des Weiteren weist die Forschung auf etymologische Verbindungen zur sabinischen Stadt Cures und der dort verehrten Iuno Curis/Quiris hin. Vgl. GALSTERER 2001. Tullus Hostilius, dritter König von Rom (reg. 672–641 v. Chr.), führte Kriege gegen Fidenae, Veii und die Sabiner. Im Zuge des Krieges gegen Roms Mutterstadt Alba Longa ereignete sich laut Livius der im Folgenden wiedergegebene Zweikampf der Horatier und Curiatier. Nach dem Regierungsantritt von Tullus Hostilius sollen – so der Historiker Livius (1,22,3–7) – zufällig zeitgleich Römer auf dem Gebiet von Alba Longa und Albaner auf römischem Gebiet Rinder gestohlen haben. Beide Seiten sandten daraufhin Legaten, um die Rückgabe des Viehs einzufordern, keiner der beiden Herrscher wollte aber nachgeben, was letztlich zum Krieg zwischen Rom und Alba Longa führte. Gaius Cluilius, laut Livius (1,22,3–4) König von Alba Longa zur Zeit der Kämpfe gegen Tullus Hostilius.

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Erläuterungen

Mettius Fufetius (auch Suffetius), nach dem Tod des Gaius Cluilius Diktator von Alba Longa (vgl. Liv. 1,23,4). Der Schüler Hercules scheint in Raders Drama allerdings nicht zwischen den beiden genannten Personen zu unterscheiden. Die Verse 325–330, 336–338, 341 und 343–344 sind aus Plautus’ Amphitruo (Amph. 219–232) entnommen. Z. T. hat Rader die bei Plautus vorgefundenen Verse und deren Metrum (kretischer Tetrameter) wörtlich übernommen, teilweise leicht adaptiert; die Verse 331–335, 339–340 sowie 342 wurden von ihm hinzugefügt. Sowohl im Falle der Adaption als auch des Hinzufügens verwendete er allerdings den jambischen Senar, sodass es zu einer bunten Durchmischung von Metren in diesem Textabschnitt kam. hinc tres, tres illinc: Die chiastische Wortstellung bildet die gegenüber positionierte Aufstellung auf dem Schlachtfeld sprachlich ab. fuat: Altlateinische Nebenform zum Konjunktiv Präsens Aktiv sit. facitur: Ungewöhnliche, aber regelmäßig gebildete Form des Präsens Passivs von facere (anstatt fit); so in der Antike lediglich beim spätantiken Grammatiker Priscian (gramm. II,376,24; faciatur bzw. faciantur bei Titin. com. 97 und Petron. 71,10; satisfacitur bei Varro Men. 82) zu finden. In der neulateinischen Literatur erscheint diese Form dann etwas häufiger (z. B. Jakob Balde: Poesis Osca sive Drama Georgicum, München 1647, p. 42,1: quid facitur?). Paedomastyx: Ein ‚sprechender Name‘: ‚Kinderrute‘ (von griech. παῖς und μάστιξ). In der Handschrift aufgrund der Auslassung der Passage, in der Sophronius einen Sprechteil hat, getilgt. In der Ratio studiorum spielt Livius eine eher untergeordnete Rolle, wird aber neben anderen Historikern wie Caesar, Sallust und Curtius Rufus zur Vermittlung von historischem Grundlagenwissen als Unterrichtsstoff empfohlen (MPSI V [Ratio stud. 1599], 430). Zum ‚Geschichtsunterricht‘ bei den Jesuiten siehe FRIEDRICH 2016, 296–297. Liv. 1,26,2. Cassian fasst im Folgenden aus dem ersten Buch von Livius’ Geschichtswerk Ab urbe condita die Abschnitte 26,2–12 zusammen.

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exposui … explanavi: Die Perfektformen sind wohl am ehesten der Vorstellung geschuldet, dass Cassian die folgende Zusammenfassung und Erläuterung der Textstelle bei Livius für die Unterrichtsstunde im Vorfeld vorbereitet hat und nun seine Ergebnisse präsentiert. oestro percita: Siehe Anm. 14. urbi et orbi: Die paronomastische Verbindung von urbs und orbis tritt heute insbesondere im v. a. zu Weihnachten und Ostern vom Papst gespendeten Segen Urbi et Orbi auf, dessen Ursprünge ins dreizehnte Jahrhundert, genauer ins Pontifikat Papst Gregors X., zurückgehen. Urbs knüpft hierbei an alte römische Vorstellungen an, dass der Stadt Rom, als Haupt der Welt (caput mundi), eine besondere Stellung zukommt. Orbis ist komplementär hierzu aufzufassen, sodass die Verbindung urbs–orbis die gesamte Welt bezeichnet. Des Weiteren spielt sie auf die antike Vorstellung an, dass die Grenzen der Welt gleichbedeutend seien mit dem Machtund Herrschaftsbereich der Stadt Rom, was Ovid in seinen Fasti treffend zum Ausdruck bringt: Romanae spatium est Urbis et orbis idem (fast. 2,684). Die mythischen Meeresungeheuer Scylla und Charybdis werden häufig als Paar genannt. Sie sollen zwei Seiten einer Meerenge (meist mit der Straße von Messina identifiziert) bewohnt haben. Charybdis soll dreimal täglich das Meer aufgesogen und dann wieder brüllend ausgestoßen haben, was die Meerenge zu einer gefährlichen Schiffspassage machte. Ihr gegenüberliegend wohnte das Ungeheuer Scylla, welches mit seinen sechs Köpfen, zwölf Klauen und dreifachen Reihen scharfer Zähne Seefahrern auflauerte, um sie in die Tiefe zu reißen. Odysseus soll sechs Mann bei der Durchfahrt verloren haben (Hom. Od. 12,73–110), Aeneas umschiffte die Stelle vorsichtshalber großräumig (vgl. Verg. Aen. 3,420–432). Der Tiger steht metonymisch für Wildheit und Grausamkeit. In der antiken Literatur wird das Raubtier u. a. als menschenfressendes Ungeheuer beschrieben (z. B. Aristot. hist. an. 2,501a). Siehe Anm. 30. Quirites: Siehe Anm. 57. lictor: Amtsdiener der höheren Magistrate und Priester. Symbol ihrer Amtsgewalt waren die von ihnen getragenen Rutenbündel

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mit Beil (fasces). Sie führen u. a. im Auftrag der Magistrate Verhaftungen und Bestrafungen, insbesondere Geißelungen durch. Ferner haben sie repräsentative Funktionen im Gefolge der Amtsträger sowie kultische. Porta Capena/Appia: Die Porta Capena war ein südöstlich des Circus Maximus gelegenes Stadttor der Servianischen Mauer. An ihr begann ursprünglich die von Appius Claudius Caecus ab 312 v. Chr. zunächst bis Capua (von späteren Generationen bis Brundisium/Brindisi) angelegte und nach ihm benannte Via Appia. Im Zuge der Erweiterung des Mauerrings um Rom durch Kaiser Aurelian im dritten Jahrhundert wurde in Verlängerung der Via Appia die Porta Appia (heute Porta San Sebastiano) erbaut, welche die Porta Capena gewissermaßen als extramuralen Beginn der Via Appia ersetzte. Archäologische Reste der Porta Capena wurden erst bei Grabungen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entdeckt. In der Frühen Neuzeit ging man offensichtlich noch davon aus, dass beide Bezeichnungen für die heutige Porta San Sebastiano verwendet wurden. Sophronius: Ein ‚sprechender Name‘: ‚der Besonnene‘ (von griech. σωφρονεῖν). Sextus Pompeius Festus (2. Hälfte des 2. Jhdts.); hier wird Bezug genommen auf seine enzyklopädische Schrift De verborum significatione (p. 299). Plut. Lucullus 28,1. Plut. mor. 238D. Athen. deipn. 194f. Maro: P. Vergilius Maro (70–19 v. Chr.), zitiert wird hier Aen. 1,479–481. Plin. nat. 16,108. Siehe z. B. Cic. Verr. I,13, II,5,72, 165 und 169; fin. 5,84; Att. 7,11,2; Sen. epist. 101,14 (infelix lignum). Die Schändlichkeit des Kreuzestodes wird auch von Gegnern des Christentums in der Spätantike oftmals als Argument gegen die Göttlichkeit des Gekreuzigten vorgebracht (z. B. Orig. c. Cels. 1,31 und 54, 2,31, 44 und 68–69, 8,43; Porph. adv. Christ. frg. 83D; Jul. c. Gal. frg. 43). Anth. Lat. 413,23–24 Shackleton Bailey.

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Cum Sabionae versarer, quae nunc Brixina dicitur: Der relativische (anachronistische) ergänzende Zusatz ist nicht ganz korrekt. Möglicherweise begünstigten zwei Faktoren die Gleichsetzung von Säben und Brixen, die in Raders Quellen ebenfalls immer wieder vorzufinden ist (Bavaria sancta, Bd. 3, p. 4–12): zum einen ihre geographische Nähe (ca. 15 km), zum anderen die Tatsache, dass der möglicherweise im vierten Jahrhundert n. Chr. gegründete Bischofssitz von Säben Ende des zehnten Jahrhunderts ins benachbarte Brixen verlegt wurde (siehe TAVERNIER 2000, 87– 89). Andernorts (Bavaria sancta, Bd. 3, p. 9) unterscheidet Rader allerdings genau zwischen Säben und dem Gebiet von Brixen ([Cassianus] missus ergo Sabionam seu Sabonam […] venit ad Brixentas). Möglicherweise bezeichnen Sabiona und Brixina an dieser Stelle im Drama entsprechend auch das Bistum, welches zunächst ‚Säben‘ und später ‚Brixen‘ hieß. Zur Bistumsgeschichte siehe den Sammelband von FLACHENECKER/HEISS/OBERMAIR 2000. Laut der gegenüber Kaiser Julian feindlichen christlichen Überlieferung soll dieser per Edikt verfügt haben, dass alle Christen im Reich ‚Galiläer‘ genannt werden sollen, um die einfache und ländliche Herkunft ihres Religionsstifters Jesus Christus spöttisch zu betonen. Siehe hierzu: Greg. Naz. or. 4,76; Joh. Chrys. Paneg. Bab. 2,120. Plaut. Rud. 518. Das angekündigte Zitat des Hymnus fehlt im Manuskript. Möglicherweise handelte es sich um den von Venantius Fortunatus (ca. 530–609) verfassten Hymnus Vexilla regis prodeunt, der die heilbringende Bedeutung des Kreuzes Jesu feiert und bis heute in der katholischen Liturgie der Karwoche eine wichtige Rolle spielt. Sib. 6,26. Bei den sogenannten oracula Sibyllina (Sibyllinischen Weissagungen) handelt es sich um eine Sammlung von im Hexameter abgefassten Pseudo-Orakelsprüchen, die seit der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. von jüdischen Verfassern niedergeschrieben wurden. Seit ca. 150 n. Chr. wurden sie von Christen rezipiert, ergänzt und adaptiert. Die oracula Sibyllina schließen sich an die antik-heidnische Tradition der Orakelsprüche (ganz explizit, wie im Namen deutlich wird, an die römischen libri Sibyllini) an und möchten durch diese konstruierte Traditionslinie

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ein hohes Alter und dadurch wiederum Autorität suggerieren. Siehe hierzu ausführlich sowie zur antiken Orakelpraxis: SENG 2018; KURFESS/GAUGER 1998, 333–459. Dionysios von Halikarnassos (ca. 1. Jhdt. v. Chr.); hier angespielt auf seine Antiquitates Romanae, ant. 2,26,4. Laut RÄDLE 2009b, 103 Anm. 85 wurde diese Szene angeregt durch Frischlins Priscianus vapulans (V,4) sowie Gretsers Comoedia altera de humanitatis regno (III,7). Agraulus: Ein ‚sprechender Name‘: ‚Landei‘ (von griech. ἄγραυλος). Simplicius: Ein ‚sprechender Name‘: ‚Dummkopf‘ (von lat. simplex). Non semper illi dormiam: Abgeleitet von der insbesondere bei Cicero (Att. 13,49,2, fam. 7,24,1) zu findenden Redewendung non omnibus dormire (vgl. Eras. Adag. 504). uterier: Bei dieser überaus ungewöhnlichen Verbform (denkbar wäre eine im Mittellatein vereinzelt zu beobachtende Übertragung der Flexion von der zweiten auf die dritte Deklination, uteor statt utor, in Verbindung mit der altlateinischen Endung des Infinitiv Passiv -ier) handelt es sich vermutlich um einen Abschreibfehler. Plausibler wäre die altlateinische Form des Infinitiv Passiv utier, die sich so bei Plautus findet (Cas. 220, Cist. 24), an einer Stelle sogar in Verbindung mit operis (Truc. 734). Aufgrund der Möglichkeit des Ausfalls des auslautenden –s bei vis spricht aus metrischer Sicht auch nichts gegen diese Lesart. Der Gott Merkur galt in der Antike nicht nur als Götterbote und Geleiter der menschlichen Seele nach dem Tod, sondern u. a. auch als Schutzgott der Intellektuellen, Gelehrten, Poeten, Schriftsteller und Musiker. Insbesondere der Dichter Horaz stellt eine enge Verbindung zwischen Merkur und sich in seinen Oden her (siehe hierzu NEUMEISTER 1976). Entsprechend bezeichnet er Dichter als viri Mercuriales (carm. 2,17,29–30). Die als grobschlächtig geltenden Kyklopen bilden hier den metonymischen Gegensatz zum feingeistigen Merkur. Laut antikem Mythos handelt es sich bei den Kyklopen um riesenhafte Wesen mit nur einem Auge. Als Belohnung für ihre Unterstützung im Kampf gegen Kronos wurden sie von Zeus aus dem Tartaros befreit, wohin sie einst von Uranos verbannt wurden. Aus Dank

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schmiedeten sie für Zeus Donner und Blitz (vgl. Hes. theog. 501– 506). Später wurden die Kyklopen als Gehilfen des Schmiedegottes Hephaistos/Vulcanus aufgefasst, dessen Schmiedewerkstatt (vgl. officina) unter den Vulkanen der Liparischen Inseln bzw. unter dem Ätna lokalisiert wurde (siehe Verg. Aen. 8,416–422). mactima: Lexikalisch ist bisher lediglich das mittellateinische macina (‚Mühlstein‘) belegt. Die Schreibweise ist hier wohl ähnlich variierend wie bei der damit verwandten Berufsbezeichnung macio (‚Maurer‘; auch machio, mactio, matio). Vgl. STOTZ 1996– 2004, Bd. 3, §22.1. Der Ausruf nae wird hier metrisch nicht berücksichtigt (extra metrum). Ähnlich wie zuvor in V. 490–491 wird ein metonymisch verwendetes Götter-Gegensatzpaar zur Veranschaulichung herangezogen. Der erhabenen, für zivilisierte Kultiviertheit und Weisheit stehenden jungfräulichen Göttin des feinen Handwerks, Minerva, wird der hinkende, stets hart schuftende und schweißgebadete (vgl. Hom. Il. 18,372) Schmiedegott Vulcanus gegenübergestellt. Das Manuskript listet noch weitere Schülernamen auf, die allerdings keinen Sprechpart haben, entsprechend getilgt und nicht ins Personenverzeichnis aufgenommen wurden: Curtius, Varus, Donatus, Fabellius [korrigiert zu Fabius], Caecilius, Bibulus, Fulvius. Furius: Ein ‚sprechender Name‘: ‚der Rasende‘ (von lat. furere). Von den Schülern, die die Klasse von Quintilius besuchen, besitzen einige ‚sprechende Namen‘, die insbesondere durch ihre relativ häufigen Diminuitivformen verdeutlichen, dass sie der in den Dramatis personae genannten minorum discipulorum schola (‚Unterklasse‘) angehören: Prisculus (‚der etwas Ältere‘), Barbula (‚Bärtchen‘), Ocellus (‚Äuglein‘), Vitellius (‚Kälbchen‘), Pulvillus (‚kleines Kissen‘), Regulus (‚Königchen‘), Camillus (‚vornehmer Knabe‘), Rufulus (‚Rotköpfchen‘). ad carceres itare: siehe Anm. 18. st steht extra metrum. Zwischen den Versen 541 und 542 liegt ein Hypermetrum vor. Au, au steht in V. 554 extra metrum.

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Gegenüber dem überlieferten monuerant ist aus syntaktischen und metrischen Gründen der Singular monuerat an dieser Stelle vorzuziehen. In Jesuitengymnasien gab es strenge Regeln und Vorgaben bezüglich der angemessenen Kleidung der Schüler. Die typische Schüler- und Studententracht war ein einfacher Mantel. Auf unnötige, eitle Accessoires wie Schmuckplättchen (laminula), Flittergold (bracteolae) und Haarschmuck (calamistra) sowie die hier genannten Schnür- und Hosenbänder war zu verzichten, so Pontanus in den Progymnasmata latinitatis (II, 72–73). Hinzu kommt, dass die im Drama genannten taeniae und periscelides von Horaz (epist. 1,17,56), Isidor von Sevilla (orig. 19,31,6; vgl. Petron. 67) sowie wiederum von Pontanus (Progymnasmata latinitatis, II, 73: haec omnia mulierculis concedantur) als typisch weibliche Kleidungsstücke bzw. Accessoires betrachtet werden. Nicht nur vor diesem Hintergrund ist das Verhalten des Schülers Prisculus negativ zu bewerten, sondern auch insofern, als der Umgang mit Mädchen und Frauen von den Jesuitenschülern auf ein absolutes Mindestmaß zu begrenzen war. Wiederum Pontanus im 49. Progymnasma des dritten Buches mit dem Titel Servanda erga feminas: „[Ihr Knaben], geht ihnen, wenn sie euch auf der Straße entgegenkommen, aus dem Weg, grüßt sie nur schüchtern, sprecht sie nur ohne großes Aufsehen und Übermut an und unterhaltet euch mit ihnen nicht schmeichlerisch, unterwürfig, schöntuerisch oder verführerisch. Lasst euren Blick nicht auf ihren Gesichtern verweilen und schaut ihnen nicht immer wieder hinterher, nicht weil ihr ihr Geschlecht und ihr Wesen verachten, sondern euch von der Gefahr und einem schändlichen Verhalten fernhalten sollt.“: [adolescentes] de via obviam facti decedetis. Caste eas salutabitis, sine tumultu et immodestia alloquemini, non blanda atque infracta loquela, non ullis verborum fucis ac lenociniis. In ipsarum vultibus non morabimini, nec identidem eas respicietis: non quoniam sexum naturamque contemnatis, sed quoniam a periculo et flagitio abesse cupiatis (Progymnasmata latinitatis, vol. 2, Ingolstadt 1606, 303). Hor. carm. 3,2,17–20. Auson. 13,93 Green. Auson. 13,94 Green.

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Hor. sat. 1,3,26–28. Hor. sat. 2,2,8b–9a. Hor. epist. 1,1,60b–61. Hor. epist. 1,2,54–55. Die unvollständig erhaltene Marginalnotiz zu diesen beiden Versen gab vermutlich vor, dass die Anordnung (ordo?) der lateinischdeutschen Begriffspaare verändert werden sollte (inverso), damit ein noch komischerer Effekt (lepidis) erzielt wird als durch die halbwegs korrekten Reime in der ursprünglichen Version (khua/schuall, wandt/banckh). Die letzte Zeile der verstümmelten Randbemerkung (ut vacca s‹***›) deutet möglicherweise darauf hin, dass zunächst die beiden lateinischen und dann die deutschen Begriffe genannt werden: Vacca schola | khua schuall. Paries scamnum | wandt bankh. In diesem Fall reimen sich die letzten Silben eines jedes Begriffspaaren nicht mehr (schola/schuall, scamnum/banck), was Quintilius dann in V. 619–620 als Arbeitsauftrag an Simplicius formuliert. – Die Verwendung der deutschen Sprache stellt hier einen illusionsdurchbrechenden Anachronismus dar, der die Zeitstufe der Aufführung mit der des Aufgeführten verschwimmen lässt. Die vermutlich an den bayerischen Dialekt angelehnte Ausdrucksweise (Khua/Schuall, Muatter/ Fuatter) hebt in diesem Kontext das einfache, bäuerliche Wesen des Simplicius hervor. Bei lateinischen Dramendichtern ist z. T. eine Vernachlässigung der Positionslänge, v. a. bei Doppelkonsonanten (wie hier bei syllaba), festzustellen, eine Praxis, die von neulateinischen Dichtern mehr oder weniger unbewusst übernommen wurde. Vgl. Plaut. Poen. 1 (Achillem), Stich. 179 (annonam). Sen. epist. 62,1. Senecas Epistulae morales spielten im Unterricht der Jesuiten allerdings keinerlei Rolle, auch nur beiläufig werden seine Tragödien an zwei Stellen in der Ratio studiorum als Unterrichtsstoff der Poetikklasse (MPSI V [Ratio stud. 1586], 135 und 203) genannt. Dass Seneca im Unterricht der Jesuiten nicht berücksichtigt wurde, war maßgeblich durch die strenge Vorgabe von Seiten der Ordensoberen bedingt, sich hinsichtlich der Frage nach dem rechten Sprachstil allein am klassischen, ‚goldenen‘ sowie angeblich zur Nüchternheit und Sachlichkeit neigenden Stilvorbild Cicero zu orientieren (‚Ciceronianismus‘). Auf keinen

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Fall dürfe man den gekünstelten Stil der ‚silbernen‘ Latinität und ihrer wichtigsten Vertreter Seneca und Tacitus pflegen, deren Sprache sich durch Kürze und Pointenreichtum auszeichne (‚Lipsianismus‘, benannt nach einem seiner Hauptbefürworter, dem Niederländer Justus Lipsius, 1547–1606). Aus diesem Grund fand Seneca im Curriculum der Jesuitengymnasien nur schwerlich einen Platz. Ähnliches gilt für den Historiker Tacitus, der in der Ratio studiorum ebenfalls nur einmal ganz kurz Erwähnung findet (MPSI V [Ratio stud. 1586], 153). Allerdings geht es im hier zitierten Brief Senecas zumindest zu Beginn um die Rolle von intellektuellen Studien (studia liberalia) im Leben der Menschen. Seneca verurteilt diejenigen, die anderweitige Verpflichtungen und Geschäfte als Argument vorschieben, keine Studien betreiben zu können. Im Folgenden erläutert er, wie er seine sonstigen notwendigen Tätigkeiten des Lebens, die er auf ein Mindestmaß zu begrenzen versucht, mit seinen philosophischen Studien in Einklang bringt. Somit dient der Brief zumindest aus inhaltlicher Sicht der pädagogischen Intention der Jesuiten. Tullius: Siehe Anm. 23. Zwischen den Versen 692 und 693 liegt ein Hypermetrum vor. Der „blutrote Lorbeer“ ist hier synonym zur ‚Siegespalme‘ zu sehen, die sich Märtyrer durch ihr Blutzeugnis erwerben. Siehe hierzu auch Anm. 30 und 173. Aeonius: Ein ‚sprechender Name‘: ‚der Ewige‘ (von griech. αἰώνιος). pubes Aonia: Die mit dem Namen des Schülers Aeonius spielende, gelehrte Bezeichnung Aonien für Böotien, die Heimat der Musen, stammt vom Volk der Aonen und ihrem Eponym Aon, Poseidons Sohn. Vergil verwendet das Adjektiv Aonius für den Musenberg Helikon (georg. 3,11), Ovid für die Musen selbst (met. 5,333). relligionis: Siehe Anm. 121. Cic. div. 2,111. Insbesondere aufgrund seiner berühmten Begegnung mit der Sphinx kann Oedipus als Rätsellöser gelten (vgl. Apollod. 3,52– 56). Auch der Gott Apollo ist als Experte für Rätsel zu sehen, da die von ihm in seinem Heiligtum in Delphi mittels der Pythia gegebenen Orakel ebenfalls in ambiger bzw. enigmatischer Weise formuliert wurden.

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Delius natator: Redewendung für einen besonders erfahrenen und verständigen Menschen. Ursprünglich auf die herausragenden Schwimmfähigkeiten der Delier bezogen (vgl. Eras. Adag. 529). Antworten auf eine Begrüßung (meist mit iubeo te salvere oder salve) in Form eines Wortspiels, das sich die Doppeldeutigkeit von salus (Gruß; Rettung, Wohl) zu Nutze macht, ist ein typisches Element der römischen Komödie (vgl. z. B. Plaut. Asin. 593). Auch im neulateinischen Drama wird diese Technik häufig angewandt. Die Kimmerer, ein mythisches Nomadenvolk von vermutlich iranischer Herkunft, bewohnten nach antiker Vorstellung die Nordostküste des Schwarzen Meeres. Laut Homer (Od. 11,12–19) waren ihre Wohngebiete unaufhörlich in Dunkelheit und Nebel gehüllt, woraus die Redewendung Cimmeriae tenebrae zur Bezeichnung von dunklen, undurchschaubaren und deshalb unverständlichen Sachverhalten resultierte (z. B. bei Lact. inst. 5,3,23; Hier. c. Ioh. 44, PL 23,412; vgl. Eras. Adag. 1534). Sib. 8,217. Die Verse 217–222, deren Anfangsbuchstaben senkrecht gelesen das griechische Wort Ἰησούς (Jesus) ergeben (Akrostichis), lauten: Ἱδρώσει δὲ χθών, κρίσεως σημεῖον ὅτ’ ἔσται Ἥξει δ’ οὐρανόθεν βασιλεὺς αἰῶσιν ὁ μέλλων, Σάρκα παρὼν πᾶσαν κρῖναι καὶ κόσμον ἅπαντα. Ὄψονται δὲ θεὸν μέροπες πιστοὶ καὶ ἄπιστοι Ὕψιστον μετὰ τῶν ἁγίων ἐπὶ τέρμα χρόνοιο. Σαρκοφόρων δ’ ἀνδρῶν ψυχὰς ἐπὶ βήματι κρίνει

Hexametrische Übersetzung von KURFESS/GAUGER 1998:

Ist des Gerichtes Zeichen erschienen, dann schwitzet die Erde. Ewigkeitsherrscher, der künftige König, wird kommen vom Himmel; Sieh, er ist da, um zu richten das Fleisch und den gesamten Kosmos. Unmittelbar schaun Gott die Gläubigen und die Ungläub’gen. Samt seinen Heiligen schaun sie den Höchsten am Ende der Zeiten.

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Zu Augustinus’ Rezeption dieser Weissagung (vgl. Anm. 136 und 137) sowie der oracula Sibyllina im Allgemeinen siehe KURFESS/ GAUGER 1998, 461–464. Im Allerheiligsten des delphischen Apollotempels soll sich ein Dreifuß befunden haben, auf dem die Pythia saß. Hier wird die Bezeichnung metonymisch für einen Orakelspruch verwendet. Aug. civ. 18,23 p. 285,21 = Sib. 8,217.

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Aug. civ. 18,23 p. 285,22 = Sib. 8,218. Der entsprechende griechische Text wurde im Manuskript nachträglich an den Rand notiert. Das Zahlenrätsel (Sib. 1,328–330) lautet: ὀκτὼ γὰρ μονάδας, τόσσας δεκάδας δ’ ἐπὶ ταύταις ἠδ’ ἑκατοντάδας ὀκτὼ ἀπιστοκόροις ἀνθρώποις οὔνομα δηλώσει.

Übersetzung von KURFESS/GAUGER 1998:

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Einer sind acht vorhanden und Zehner noch ebenso viele; Hunderter acht noch dazu verrät ungläubigen Menschen Seines Namens Gestalt.

Die im Manuskript vorzufindende Rechnung ist inkorrekt: 10+8+200+70+40+200=808. Um auf den in diesem Zusammenhang logisch notwendigen Zahlenwert von 888 zu kommen (siehe unten), mussten in diesen Versen zwei Emendationen vorgenommen werden. Vermutlich handelt es sich um Flüchtigkeitsfehler beim Abschreiben, die bei den hier verwendeten, sich nur marginal unterscheidenden lateinischen Zahlbegriffen leicht vorkommen können (im Manuskript quadraginta statt quadringenta bzw. octingenta octo statt octingenta octoginta octo). – In der antiken Zahlenmystik galt die Acht nicht nur als Zahl der Gottheit und des Neuanfangs (Reinigung, Auferstehung), sondern auch als Glückszahl. Entsprechend sahen auch Christen in ihr eine bedeutende Zahl: Acht Menschen wurden durch die Arche gerettet, Abraham hatte acht Söhne. Christus ist am Sonntag, dem achten Tag nach der Siebenzahl des Sabbats, von den Toten auferstanden. Die Zahl 888, die der griechisch geschriebene Name Jesu ergibt, gilt entsprechend als dreifache Verstärkung der Glückszahl Acht. Diespiter: Beiname Jupiters: ‚Göttervater‘. Mavors: Nebenform zur Bezeichnung des Kriegsgottes Mars. Dass die Natur eine vom Schöpfergott unter Heranziehung von Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie perfekt eingerichtete und präzise funktionierende, einem Uhrwerk gleichkommende Maschine ist, dominiert das frühneuzeitliche Weltbild. Siehe hierzu: GLOY 1995, bes. 157–172; MITTELSTRASS 1995. Sib. 2, frg. 1,7. Die ironisch-sarkastische Frage nimmt Bezug auf die zahlreichen Beinamen bzw. Erscheinungsformen, in denen antike Götter auftraten und verehrt wurden. Ganz besonders trifft dies auf den hier

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genannten Jupiter zu (z. B. Jupiter Capitolinus, Dolichenus, Ammon, Feretrius, Olympus, Optimus Maximus, Stator, Tonans), etwas weniger auf den ebenfalls aufgeführten Vulcanus (Mulciber, Lemnius, Aetnaeus, Phthas). Diese katalogartige Aufzählung nennt bald weniger, bald mehr bekannte Göttinnen und Götter des antiken Pantheons. Z. T. werden sie von Cassian aber auch erfunden, um die Lächerlichkeit des Polytheismus noch stärker zu apostrophieren: Averrunculus (eigentlich Averruncus, Übel abwehrende Gottheit), Foriculus/ Forculus (Gott der Türen), Februus (Unterweltsgott, z. T. mit Pluto identifiziert), Domiducus (nur bei Augustinus maskulin, sonst Dea Domiduca: Göttin des Nachhauseführens), Consus (Gott der eingebrachten Getreideernte), Cynthius (Beiname des Gottes Apollo), Stabilinus (auch Statanus/Statilinus; Schutzgott für Kinder, die zu stehen und laufen beginnen), Sterquilinus (siehe Picum(n)us und Pilumnus), Terminus (Gott der Grenze/des Grenzsteins), Sentimus/Sentinus (Gottheit, die die Sinne der Kinder weckt), Picum(n)us (auch bekannt als Sterquilinus, Gott/Erfinder des Düngens), Pilumnus (ebenfalls als Gottheit des Düngens verehrt; Bruder des Picum(n)us, beide möglicherweise auch als Götter der Ehe oder der Kleinkinder verehrt), Tellumo (männliches Pendant zur Erdgöttin Tellus), Prema und Pertunda (Göttinen der Entjungferung), Numeria (Geburtsgöttin), Rumina (Fruchtbarkeitsgöttin; Göttin des Säugens), Rusina (Göttin des Landes), Collatina (Göttin der Hügel), Libitina/Libentina (Beiname der Venus in ihrer Eigenschaft als Überwacherin der Erfüllung der Begräbnispflicht), Cloacina (Göttin der Reinigung; teilweise auch mit Venus identifiziert), Latrina (Göttin der Latrine), Lacturtia (Getreidegöttin), Nasturtia (Göttin der Kresse, erfunden?), Hostilina (Getreidegöttin), Tutilina (Getreidegöttin), Volentia (Göttin des Wollens, erfunden?), Paventia (Göttin der Furcht der Kinder), Lubentia (Göttin des Vergnügens/der sinnlichen Lust), Nolentia (Göttin des Nichtwollens, erfunden?). Gänzlich erfunden sind Stultina (Göttin der Dummheit), Ineptina (Göttin des Unsinns), Fatuina (Göttin des Narrentums), Insania (Göttin des Wahnsinns). Ähnliche katalogartige Aufzählungen findet man beim christlichen Apologeten Tertullian (nat. 2,11) sowie bei

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Augustinus (civ. 4,11 sowie 6,9), die hier vermutlich aufgrund der zahlreichen Übereinstimmung als Vorlage dienten. Bis hierher (V. 802) erscheint die Aufzählung der Götternamen noch im jambischen Senar. Die nachfolgenden Verse sind in Prosa verfasst, was vermutlich v. a. auf das sperrige Wortmaterial zurückzuführen ist. Ein ähnliches Phänomen bei Aufzählungen von Götter(beinamen) lässt sich in Jeremias Drexels Iulianus Apostata Tragoedia feststellen (V. 1832). Gleichzeitig könnte das ‚Herausfallen‘ aus dem Metrum auch Cassians zunehmende emotionale Aufgebrachtheit, mit der er diese polemischen Aussagen gegen den ‚alten‘ Glauben vorbringt, unterstreichen. Phlox: Ein ‚sprechender Name‘: ‚Flamme/Feuer/Brand‘ (von griech. φλόξ). Cer‹be›ro (statt wie im Manuskript Cerebro): Aus inhaltlich-logischen Gründen muss es sich hierbei mit Sicherheit um einen Buchstabendreher beim Abschreiben der Vorlage handeln. Ebenso in V. 905. Bei den Furien bzw. Erinyen handelt es sich um drei in der Unterwelt beheimatete Rachegöttinnen: Allecto, Megaera und Tisiphone. Ihr bösartiges, chthonisches Wesen wird durch das ihnen zugeschriebene Attribut der Schlange betont. Teilweise werden sie auch mit den Harpyien identifiziert, mythischen Ungeheuern, die als Personifikationen von Stürmen erscheinen und als bösartige geflügelte Frauen dargestellt werden. Boethius: Ein ‚sprechender Name‘: ‚Helfer‘ (von griech. βοηθός). Zu Kaiser Julians ‚Verrat‘ am Christentum, auf welchen hier angespielt wird, siehe Einleitung, Abschnitt 6. Martyrologus/Stephanophorus: Die beiden Engelfiguren, die Cassian im Traum erscheinen, tragen ebenfalls ‚sprechende Namen‘: ‚derjenige, der für das Martyrium argumentiert‘ (aus griech. μαρτύριον und λόγος) bzw. ‚derjenige, der die Märtyrerkrone bringt‘ (aus griech. στέφανος und φορός). Cer‹be›ro: Siehe Anm. 148. disciplum (statt discipulum): Die verkürzte, synkopierte Form insbesondere der Substantive populus (poplus, vgl. z. B. Plaut. Asin. 4, Pseud. 126), periculum (periclum, vgl. z. B. Plaut. Persa 524, Poen. 878) und vinculum (vinclum, vgl. z. B. Plaut. Bacch. 2), findet sich hauptsächlich in der altlateinischen Dichtung, z. T.

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auch in klassischer Prosa (periclum: Cic. inv. 1,90; vincla: Verr. II,3,59; Liv. 2,4,7). Bezugnahme auf altkirchliche Kontroverse, ob Christen das Martyrium aktiv anstreben dürfen. Insbesondere der christlichen prophetischen Bewegung der Montanisten sowie den Donatisten wurde von katholischer Seite vorgeworfen, freiwillig das Martyrium zu suchen (vgl. Pass. Polycarp. 4; Tert. fug. 9,4), eine Position, die sich allerdings nicht durchsetzte. Siehe hierzu: LEPPIN 2018, 371; GEMEINHARDT 2014, 135–136 und 159–165; BUTTERWECK 1995. Ov. rem. 91–92. hoc (V. 967): Bei Dichtern kann der Nominativ und Akkusativ Singular des neutralen Demonstrativpronomens hoc auch lang bemessen werden (vgl. z. B. Lucr. 1,439 und Verg. Aen. 2,104). Doryphorus: Ein ‚sprechender Name‘: ‚Speerträger‘ (von griech. δορυφόρος). Im Manuskript mit Praet. abgekürzt. An dieser Stelle macht sich Cassian in seiner Antwort die Doppeldeutigkeit des lateinischen divi bzw. divae zu Nutze, welche im heidnischen Kontext ‚Götter‘ und ‚Göttinnen‘ bezeichnen, in der monotheistischen christlichen Lesart aber für ‚Heilige‘ stehen. dimittier: Siehe Anm. 16. Misochristus: Ein ‚sprechender Name‘: ‚Christushasser‘ (von griech. μισόχριστος). Cacobulus: Ein weiterer ‚sprechender Name‘: ‚jemand, der üblen Rat gibt‘ (von griech. κακόβουλος). Die explizite Frage des heidnischen Prätors Claudius Christianus es? sowie die bekennende Antwort des angeklagten Cassian sum Christianus sind topische Elemente in spätantiken Martyriumsberichten. Bereits in einem der frühesten Belege, einem Brief des jüngeren Plinius an Kaiser Trajan, finden sich diese. In seinem Amt als Statthalter von Bithynien erläutert Plinius sein Vorgehen bei Verhören von Christen und fragt den Kaiser, ob er damit einverstanden sei: interrogavi ipsos an essent Christiani (epist. 10,96,3). Infolge eines dreimaligen Bekenntnisses der Christen, auf dessen Wortlaut, Christianus sum, durch die Frage an essent Christiani indirekt geschlossen werden kann, habe er sie verurteilt. Ähnlich im griechischen Martyriumsbericht der Blandina und des

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Sanctus (Eus. HE 5,1,19) sowie in der Passio Perpetuae et Felicitatis (6,4). Siehe LIEU 2016. dixti: Synkopierte Verbform von dixisti. Zum alliterierenden Trikolon felix, faustum, fortunatum siehe Anm. 178. vinclis: Siehe Anm. 154. transfigititote statt transfigitote: Möglicherweise handelt es sich hier um einen Abschreibfehler (durch die Beibehaltung des Hiats zwischen Rhadamantum und ipsum bliebe das Metrum korrekt). Denkbar wäre aber auch, dass die inkorrekte und tendenziell kakophone Verbendung die emotionale Aufgebrachtheit des Sprechers Hostilius veranschaulicht. Rhadamantys war nach antiker mythologischer Vorstellung ein eigentlich aufgrund seiner Gerechtigkeit positiv konnotierter Richter in der Unterwelt. Im vorliegenden Kontext ist der Name, mit dem Cassian metonymisch bezeichnet wird, allerdings äußerst negativ gebraucht, was vermutlich in erster Linie von seinem Wirkungsort, der Unterwelt bzw. Hölle, herrühren dürfte. inflixti: Synkopierte Verbform von inflixisti. Vorbild für Cassian ist hier Christus am Kreuz, der im Evangelium nach Lukas seinen Peinigern mit den Worten Pater, dimitte illis non enim sciunt quid faciunt vergibt (‚Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun‘, Lc 23,34). Ähnlich auch der ProtoMärtyrer Stephanus während seiner Steinigung (Act 7,59). Zur imitatio Christi durch die Märtyrer siehe MOSS 2012, bes. 49–76. Auch hier dient Christus als Vorbild: Pater, in manus tuas commendo spiritum meum (Lc 23,46). In der christlichen Ikonographie symbolisiert der Palmzweig (oftmals verbunden mit einer oder mehreren Kronen/Kränzen) den Sieg(espreis) eines Heiligen, der die Welt insbesondere durch sein Martyrium überwunden bzw. ‚besiegt‘ hat (vgl. Apc 7,9). Purpuratorum: In antiken christlichen Texten steht die Farbe Purpur u. a. für das Blut, mit dem Märtyrer ihren Glauben bezeugt haben (z. B. Prud. perist. 3,140 und 5,339; Tert. coron. 13,2; vgl. Apc 17,6). Entsprechend erscheinen Märtyrer auch in purpurfarbener Kleidung (z. B. Prud. perist. 2,275), nicht zuletzt auf Christus referierend, der vor der Kreuzigung mit der Dornenkrone

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gekrönt und mit einem Purpurgewand bekleidet wurde (bes. Mc 15,17; Io 19,2; siehe auch Mt 27,28–29). hoc: siehe Anm. 157. mores morosos: Ein vermutlich an Plautus (Poen. 379, Trin. 669) angelehntes paronomastisches Wortspiel aus den stammverwandten Wörtern mos und morosus. Die Randnotiz verweist auf Plutarchs Abhandlung εἰ διδακτόν ἡ ἀρετή (‚Kann die Tugend gelehrt werden?‘): mor. 439A–440C. Die hier verkürzt wiedergegebene alte lateinische Segens- bzw. Glückwunschformel quod bonum, faustum, felix, fortunatumque esset, findet sich in Ciceros Schrift De divinatione (div. 1,102). Laut Livius (1,17,10) sprach sie schon zur Königszeit der Interrex im Rahmen einer Königswahl, wenn auch in etwas abgeänderter bzw. verkürzter Form: quod bonum, faustum felixque sit. In der Neuzeit findet sie häufig, wie hier, in akademischen Kontexten Anwendung. Oftmals taucht sie auch auf Titelblättern von frühneuzeitlichen Drucken auf. Philipp Wilhelm von Bayern (1576–1598), Sohn Herzog Wilhelms V. und Renata von Lothringen; bereits im Alter von drei Jahren Fürstbischof von Regensburg; am 18. Dezember 1596 von Papst Clemens VII. zum Kardinal erhoben; Tod im Alter von 22 Jahren in Folge eines Sturzes vom Pferd; begraben in der Münchener Frauenkirche. In diesem aufzählenden Vers 1233 besteht jedes einzelne Wort aus einem Jambus und wird somit für sich betont. purpuratorum: Siehe Anm. 173. Gemeint sind die typischen christlichen Märtyrerinsignien Palmzweig und Krone. Siehe hierzu Anm. 173. Normalerweise stellt die an Märtyrer verliehene Doppelkrone den himmlischen Lohn für ihr Blutzeugnis und ihre Jungfräulichkeit (vgl. z. B. die Heilige Agnes) dar. Manche Märtyrer, wie z. B. Petrus von Verona (†1252), werden sogar mit einer Dreifachkrone dargestellt, die neben Martyrium und Jungfräulichkeit auch noch Gelehrsamkeit bzw. Glaubensverkündigung symbolisiert (siehe PRUDLO 2008, 109–119). In Cassians Fall steht die Doppelkrone entsprechend für sein Blutzeugnis und sein Bestreben, den christlichen Glauben unter seinen heidnischen Schülern zu verkünden, wie es im Folgenden von Stephanophorus auch explizit ausgeführt

210

184 185 186 187 188 189

190 191 192 193 194 195

Erläuterungen

wird. So auch ausdrücklich in den Versen 1297–1300 von Christus selbst formuliert. Der Hexameter dient hier der Verdeutlichung der herausragenden gravitas Christi. fodere (hier = foderunt): Constructio ad sensum zum Subjekt puerile agmen. tormen ist der Singular des in der Antike sonst nur im Plural gebrauchten tormina. convestirier: Siehe Anm. 16. Siehe Anm. 183. Das Diadem, ein von Alexander dem Großen von den Perserkönigen übernommenes Herrschaftsinsigne, wurde in republikanischer Zeit von den Römern noch als Symbol der Königswürde abgelehnt, etablierte sich seit dem vierten Jahrhundert n. Chr. allerdings als gängiges Herrschaftszeichen des römischen Kaisers. Hier wird diadema synonym zu corona verwendet. Io 12,26. Cynthius: Beiname Apollos, ausgehend von dessen Geburtsort Cynthus auf der Insel Delos. Aufgrund seiner Eigenschaft als Sonnengott wird Cynthius metonymisch für die Sonne gebraucht. Zu den synkopierten Formen maniplis und saeclum siehe Anm. 154. f‹er›asque: Im Manuskript ist freasque zu lesen, vermutlich ein Buchstabendreher beim Abschreiben. queis: Altlateinische Nebenform zu quibus. Bezugnahme auf Gn 1,27 (vgl. Sap 2,23; Sir 17,1): et creavit Deus hominem ad imaginem suam, ad imaginem Dei creavit illum. Die hier für die Beschreibung des Schöpfungsakts verwendete Formulierung tua insignisti imagine findet sich auch in einem apokryphen Psalm bzw. Gesang Adams auf die Erschaffung Evas, der in der Apocalypsis nova des Amadeus von Portugal (1420–1482) überliefert und u. a. im Rahmen der Schrift De origine sacrae scripturae (Lyon 1641) des Jesuiten Juan Eusebio Nieremberg (1595–1658) zeitgenössisch im Druck erschienen ist: Me tandem hominem de limo terrae fabricasti, tuaque imagine insignisti (p. 47).

Erläuterungen

196 197 198 199 200

201

202

211

Die Randbemerkung weist darauf hin, dass das Drama auch an dieser Stelle in einer etwas verkürzten Form aufgeführt wurde (vgl. Szene I,5). nat‹o› stirpe princip‹i›: Im Text natum stirpe principem, aus syntaktischen Gründen geändert. alta stellt ein geläufiges Attribut der Stadt Rom dar, so z. B. ganz prominent im Proömium von Vergils Aeneis zu finden: atque altae moenia Romae (Aen. 1,7; Prop. 3,11,57; Ov. ars 3,337; Sil. 3,182). Siehe Anm. 57. Tonans (‚der Donnerer‘): geläufiger Beiname des höchsten römischen Gottes Jupiter; von christlichen Autoren, insbesondere Dichtern auf den Christengott übertragen (vgl. z. B. Iuvenc. 2,795, 4,553 und 786; Aldh. Virg. 10). arx in der Bedeutung ‚Himmel‘ schon – allerdings nur verbunden mit ergänzendem Attribut (z. B. caeli, dea, aetheria, etc.) – bei Vergil und Ovid (z. B. Aen. 1,250 bzw. fast. 5,41, 6,18), absolut gebraucht bei Sen. Herc. O. 1441 und Med. 345. Zum besonderen Schutzengelglauben und -kult der Jesuiten siehe: ABELE 2018, 644–645; FRIEDRICH 2016, 157–159.

Appendix zur Metrik des Cassianus Hinsichtlich der Metrik des Cassianus ist eine grobe Zweiteilung vorzunehmen. Die ‚normalen‘ Sprechpartien erscheinen wie in der antiken lateinischen Komödie eines Plautus und Terenz sowie im neulateinischen, insbesondere jesuitischen Drama üblich im jambischen Senar. Dieser setzt sich aus sechs jambischen Versfüßen zusammen. Das erste Element des letzten Versfußes ist obligatorisch eine Kürze, das letzte ist anceps, kann also sowohl lang als auch kurz bemessen sein. Die vorangehenden fünf jambischen Versfüße können in zwei Längen, eine Länge und zwei Kürzen, zwei Kürzen und eine Länge oder in drei Kürzen aufgelöst werden. Von der Möglichkeit, diese mit einem Prokeleusmatikus (vier Kürzen) zu besetzen, was in der antiken dramatischen Dichtung z. T. beobachtet werden kann, wird kein Gebrauch gemacht. Eine Besonderheit stellen in diesem Zusammenhang Quinare und Septenare dar, also Verse, die entweder einen jambischen Versfuß weniger oder mehr als der jambische Senar aufweisen.1 Hierbei handelt es sich mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um einfache Zählfehler, die in Jesuitendramen der Zeit häufig beobachtet werden können und vermutlich dem hohen zeitlichen Druck geschuldet sind, unter dem die Jesuitenpatres bei der Abfassung ihrer Stücke in der Regel litten. Teilweise kann es sich – speziell im vorliegenden Kontext – aber auch um einfache Abschreibfehler handeln. Daneben greift Rader immer wieder, v. a. in den Chorliedern sowie in wörtlichen Zitaten aus antiken Vorlagen, auf den Hexameter, das elegische Distichon, den hymnischen jambischen Dimeter sowie auf lyrische Versmaße zurück. Hierzu zählen der kretische Tetrameter sowie die alkäische und sapphische Strophe. Im vierten, von Wolfgang Starck ergänzten Akt finden sich darüber hinaus neben dem Hendekasyllabus auch z. T. etwas ‚exotischere‘ Versmaße wie anapästischer Quaternar, Glyconeus und Pherecrateus. Einige dieser Partien (v. a. Chorlieder, Lobpreisungen),

1

Quinare: V. 36, 124, 152, 182, 323, 361, 466, 507, 530, 532, 580, 636, 678, 711, 865, 917, 1037, 1097, 1099. – Septenare: V. 86, 275, 288, 300, 306, 334, 589, 648, 727, 759, 907, 1012, 1096, 1123, 1163 sowie im ‚Regensburger Teil‘ der Vers 6a.

214

Appendix zur Metrik des Cassianus

die sich von den normalen Sprechpartien abheben, wurden vermutlich mit instrumentaler Begleitung gesungen vorgetragen.2 Über die abwechslungsreiche metrische Beschaffenheit des Cassianus gibt der folgende conspectus metrorum detailliert Aufschluss: 1–169 170 171–324 325–326 327–329 330 331–335 336–337 338–342 343 344–416 417–445 446–568 569–575 576 577–589 590–593 594–595 596–597 598

2

Jambischer Senar Hexameter Jambischer Senar Kretischer Tetrameter Jambischer Senar Kretischer Tetrameter Jambischer Senar Kretischer Tetrameter Jambischer Senar Kretischer Tetrameter Jambischer Senar Prosa Jambischer Senar Prosa Jambischer Dimeter Jambischer Senar Alkäische Strophe Jambischer Senar Elegisches Distichon Jambischer Senar

599–600 601 602–604 605 606–607 608 609–610 611 612–613 614–616 617–618 619–620 621 622 623–625 626–630 631 632–676 677 678 679–680 681–732 733–737 738–750 751

Elegisches Distichon Jambischer Senar Hexameter Jambischer Senar Hexameter Jambischer Senar Hexameter Jambischer Monometer Hexameter Jambischer Senar Prosa Jambischer Senar Prosa Jambischer Senar Prosa Jambischer Senar Prosa Jambischer Senar Prosa Jambischer Senar Prosa Jambischer Senar Prosa Jambischer Senar Prosa

Zum Chor im lateinischen Drama, seinen Funktionen und Formen siehe JANNING 2005.

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Appendix zur Metrik des Cassianus 752–759 760 761–775 776 777–778 779 780–781 782 783 784–786 787–802 803–807 808–949 950–951 952–1126 1127–1139 1140–1175 1176–1179 1180–1184 1185 1186

Jambischer Senar Hexameter Jambischer Senar Hexameter Jambischer Senar Hexameter Jambischer Senar Hexameter Jambischer Senar Prosa Jambischer Senar Prosa Jambischer Senar Elegisches Distichon Jambischer Senar Sapphische Strophe Jambischer Senar Sapphische Strophe Jambischer Senar Jambischer Dimeter Prosa

1187–1257 1258–1276 1277–1317 1318–1327 1328–1335 1336–1351 1352–1367 1368–1373 1374–1377 1378–1424 1425–1432 1433–1464 1465–1488

Jambischer Dimeter Hexameter Jambischer Senar Akatalektischer anapästischer Quaternar Hexameter + jambischer Dimeter Katalektischer Jambischer Dimeter 3 Glyconei + Pherecrateus Hendekasyllabus Elegisches Distichon Jambischer Senar Jambischer Dimeter Katalektischer jambischer Dimeter Jambischer Dimeter

Auf einige Spezifika hinsichtlich der Metrik des Cassianus, die allerdings auch weitgehend für das neulateinische Drama insgesamt gelten, muss an dieser Stelle noch hingewiesen werden.3 Auch wenn man das sogenannte Jambenkürzungsgesetz in der Frühen Neuzeit theoretisch noch nicht fassen konnte, griff man in der Praxis häufig darauf zurück und übernahm dabei einfach die bei Plautus oder Terenz vorgefundene Handhabung. So werden insbesondere die Personalpronomina im Dativ mihi, tibi und sibi bald mit einer Kürze und einer Länge, bald mit zwei Kürzen bemessen. Gleiches gilt z. B. für ubi, ibi, cave, vide, nisi (siehe V. 371) sowie habe (siehe V. 496). In der antiken römischen Komödie wurde die Möglichkeit 3

Zur neulateinischen Metrik generell siehe den Sammelband von TILG/HARTER 2019 sowie darüber hinaus: LUDWIG 2006, BAUER/LEONHARDT 2000, 102 mit Anm. 313; LEONHARDT 1996 und 1989.

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Appendix zur Metrik des Cassianus

der Jambenkürzung auch für zweisilbige Wörter mit auslautendem -o angewandt (z. B. ego, malo, duo). Im Laufe der Jahrhunderte machte man von dieser Lizenz immer freizügiger Gebrauch und so wurde sie auch auf nichtjambische Wörter übertragen. Spätantike Grammatiker gehen letztlich von einer generellen anceps-Situation bei Wörtern mit auslautendem -o aus, was von frühneuzeitlichen Dichtern und Metriktheoretikern in derselben Weise übernommen wurde.4 Ein auslautendes -s kann, wie so häufig bei Plautus sowie in der frühneuzeitlichen dramatischen Dichtung, prosodisch ausfallen.5 Trifft ein vokalisch auslautendes auf ein vokalisch anlautendes Wort, ist nicht selten die Beibehaltung des Hiats festzustellen.6 Folgt auf ein mit kurzem Vokal auslautendes Wort die Kombination ‚f+Liquid‘ (fl-, fr-), generiert dies nicht immer eine Positionslänge. Gleiches gilt für den Fall, wenn das Folgewort mit ‚s impurum‘ (sc-, sp-, st-) beginnt.7 Der Cassianus weist eine nicht unerhebliche Anzahl an metrisch inkorrekten Versen auf.8 Im Einzelfall ist allerdings nur schwer zu entscheiden, ob es sich hierbei um einfache Abschreibfehler handelt oder ob diese ebenfalls auf den hohen Zeitdruck, unter dem der Verfasser stand, zurückzuführen sind. Denkbar wäre auch, dass die eine oder andere metrische Unstimmigkeit als Mittel der indirekten Figurencharakterisierung eingesetzt wird. So könnten u. U. die z. T. metrisch fehlerhaften Verse, die vom Bauern Agraulos gesprochen werden (V. 458 und 460), sein töl-

4 5 6

7 8

Siehe hierzu auch STEPHENS 1986. Siehe V. 10, 43, 323, 331, 337, 405, 507, 580, 667, 707, 865, 961, 1166. Im ‚Regensburger Teil‘: V. 1248. Siehe V. 97 (quandoque occupat), 160 (boni inscriptio), 174 (avem et), 275 (tabo assumitur), 304 (quae hora), 405 (carcere et), 648 (reliqui haud), 689 (tamquam ad), 727 (rerum agnoscat), 896 (monstrum horrendum), 907 (examinatum abiecit), 925 (dio impleris), 964 (recta etne) sowie im ‚Regensburger Teil‘ die Verse 6a (pauca eloqui), 1486 (diae ecclesiae). Siehe V. 31, 544, 635, 773. Siehe hierzu ZGOLL 2012, 48; HOENIGSWALD 1990 und 1949. Siehe V. 94, 122, 127, 163–164, 195, 212, 277, 289, 360, 458 (Vokativendung bei doctissime lang bemessen), 460, 558, 638, 669, 688, 700, 825 (letzte Silbe bei Immola lang?), 831, 844 (Abschreibfehler, zweites Enklitikon -que zu tilgen?), 849, 946, 964 (vorletzte Silbe ist lang), 980 und 982 (erste Silbe von modo jeweils lang bemessen), 994–995, 1014, 1021, 1055, 1198, 1211.

Appendix zur Metrik des Cassianus

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pelhaftes und ungebildetes Wesen unterstreichen. Ähnlich wäre es denkbar, dass die metrisch inkorrekten Verse des beisitzenden Richterkollegen des Claudius, der auf den ‚sprechenden Namen‘ Misochristus (‚Christushasser‘) lautet und der den Prätor zur Verurteilung Cassians drängt, dessen teuflisch-bösartigen Charakter hervorheben. Umso eklatanter wäre dann der Gegensatz zum im (fehlerfreien) episch-heroischen Hexameter vorgetragenen Lobpreis Christi auf den Märtyrer Cassian (V. 1258– 1276). Zuletzt ist noch auf die nicht zu vernachlässigende Anzahl an Prosapartien im Cassianus hinzuweisen. Diese sind zum einen dem Umstand geschuldet, dass antike prosaische Texte wörtlich zitiert werden (V. 417, 631, 733–737, 751). Zum anderen wurden sie aber auch herangezogen, wenn besonders ‚sperriges‘ Wortmaterial vorlag (V. 803–807), ein Vorgehen, das auch in anderen zeitgenössischen Jesuitendramen festzustellen ist.9 Außerdem ist noch auf den Brief des Vaters des Schülers Prisculus an Quintilius hinzuweisen (V. 569–575), der, wie bei in zeitgenössischen Jesuitendramen vorkommenden Briefen ebenfalls üblich, auch in Prosa verfasst ist.10

9

10

Vgl. z. B. Drexels Iulianus, wo sich in der sechsten Szene des vierten Aktes (V. 1832) eine ebenfalls in Prosa verfasste Anrufung Apollos findet, die siebzehn unterschiedliche Beinamen des Gottes auflistet. Vgl. hierzu wiederum Drexels Iulianus, V. 627.

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Namens- und Ortsregister Abraham 204 Actium 192 Aegina 190 Agnes (Heilige) 209 Alba Longa 193, 194 Alexander der Große 210 Allecto 206 Amadeus von Portugal 210 Ammon 191 Aonien 202 Ap. Claudius Caecus 196 Apollo 190, 202, 205, 210 Aquileia 29 Asterië 191 Athen 192 Ätna 199 Augsburg 2, 3, 5, 18, 25, 26, 32 Augustinus von Hippo 15, 203, 205, 206 Augustus 192 Aurelian (Röm. Kaiser) 196 Averrunculus 205 Battus 190 Bayern 1, 24, 28 Bidermann, Jakob 13, 16, 17, 26, 32 Bithynien 207 Blandina (Heilige) 207 Böotien 202 Bozen 28 Brecht, Levin 14 Brixen 27, 197 Brundisium 196 Brutus (Caesarmörder) 192 C. Cassius Parmensis 192 C. Cluilius 193

Canisius, Petrus 3 Capua 196 Cassian von Benevent 29 Cassian von Tingi 28 Cassian von Todi 29 Castor und Pollux 191 Cicero 34, 187, 189, 198, 201, 209 Clemens VII. (Papst) 209 Cloacina 205 Collatina 205 Constantius II. 29 Consus 205 Crendel, Ferdinand 32 Cures 193 Curtius Rufus 3, 194 Cynthius siehe Apollo Cynthus 210 David (Bibel) 8 Delos 210 Delphi 202, 203 Deutschland 189 Dillingen an der Donau 3, 5, 18, 23, 25, 45 Diokletian 30 Dionysios von Halikarnassos 198 Domiducus 205 Drexel, Jeremias 2, 3, 16, 17, 23, 206, 217 Eberhard der Deutsche 38 Eisacktal 29, 187 Elis 190 Eriugena, Johannes Scottus 35 Ernst von Bayern (Kurfürst) 24, 187 Europa 4 Europa (Mythos) 190

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Namens- und Ortsregister

Februus 205 Felix in Pincis 35 Fidenae 193 Foriculus/Forculus 205 Frankreich 4 Franz Xaver 15 Fribourg 3 Frischlin, Nicodemus 189, 198 Ganymed 191 Goliath (Bibel) 8 Gottfried von Bouillon 15, 189 Graz 3 Gregor X. (Papst) 195 Gretser, Jakob 37, 187, 198 Helena 191 Helikon 202 Hephaistos siehe Vulcanus Herakles 188 Homer 15, 203 Horaz 189, 198, 200 Hostilina 205 Hund, Wiguleus 29 Iapetos 188 Ignatius von Loyola 10, 11, 15 Imola 27, 29, 32, 187 Ingolstadt 2, 3, 5, 16, 18, 37 Innichen 1 Innsbruck 2, 3 Isidor von Sevilla 200 Italien 4, 14, 29 Jacopo da Varazze 28 Jakob (Bibel) 8 Jesus Christus 8, 11, 16, 17, 34, 36, 39, 40, 44, 197, 204, 208, 210, 217 Judith (Bibel) 8 Julian Apostata 16, 17, 29, 30, 31, 43, 187, 197, 206

Julius Caesar 189, 192, 194 Juno 190 Jupiter 188, 190, 191, 198, 204, 205, 211 Kaukasus 188 Klausen 29 Klymene 188 Konstantin der Große 15, 16, 29, 31 Kronos 198 Kyklopen 198 Lacturtia 205 Landsberg am Lech 2 Latrina 205 Leda 191 Libitina/Libentina 205 Lilius, Nicolaus 32 Liparische Inseln 199 Lipsius, Justus 3, 202 Livius 33, 39, 193, 194, 195, 209 Lubentia 205 Lukas (Evangelist) 18, 23, 208 Lycaon 191 Markus von Arethusa 35 Mars 204 Martial 3 Maximilian I. (Herzog von Bayern) 2 Megaera 206 Melanchthon, Philipp 38 Merkur 190, 198 Mettius Fufetius 194 Minerva 199 München 1, 2, 3, 15, 17, 18, 23, 24, 32, 37, 189, 209 Nasturtia 205 Nieremberg, Juan Eusebio 210 Noppus, Hieronymus 13

Namens- und Ortsregister Numeria 205 Oceanus 188 Oedipus 202 Otto von Freising 28 Ovid 32, 43, 189, 190, 191, 195, 202, 211 Palatin 193 Paris 16 Paul III. (Papst) 11 Paulus Diaconus 28 Paulus von Tarsos 15 Paventia 205 Pertunda 205 Peter der Einsiedler 189 Petrus von Verona 209 Philipp von Wittelsbach 25, 36, 37, 209 Philippi 192 Picum(n)us 205 Pilumnus 205 Plautus 7, 188, 189, 194, 198, 209, 213, 215, 216 Plinius der Ältere 39 Plinius der Jüngere 207 Plutarch 192, 209 Pluto 205 Polen 4 Pontanus, Jakob 5, 8, 26, 37, 200 Portugal 4 Prag 5, 42 Prema 205 Priscian 194 Prometheus 188 Proserpina 190 Prudentius 25, 26, 27, 29, 31 Pythagoras 191 Pythia 202, 203 Quirinal 193 Quirinus 193

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Rassler, Maximilian 1, 2, 31 Regensburg 3, 18, 19, 23, 25, 26, 28, 32, 36, 209 Renata von Lothringen 209 Rom 21, 25, 27, 29, 36, 37, 193, 195, 196, 211 Rufinus von Aquileia 30 Rumina 205 Rusina 205 Säben 28, 29, 33, 39, 187, 197 Sallust 194 Sanctus (Heiliger) 208 Scaliger, Joseph Justus 3 Schönsleder, Wolfgang 25, 26, 32 Schwarzes Meer 203 Scylla und Charybdis 195 Seneca 3, 7, 33, 201, 202 Sentimus/Sentinus 205 Sex. Pompeius Festus 196 Shakespeare, William 192 Sinibald (Bischof von Imola) 28 Sokrates von Konstantinopel 30 Sozomenos 30 Spanien 4, 26 Sphinx 202 Stabilinus 205 Starck, Wolfgang 26, 213 Stephan von Ungarn 15 Stephanus (Märtyrer) 208 Sterquilinus 205 Straße von Messina 195 Sulla 187 Susanna (Bibel) 8 Tacitus 202 Tartaros 198 Tellumo 205 Terenz 7, 213, 215 Terminus 205 Tertullian 205 Theodoret von Kyrrhos 30

230 Tisiphone 206 Trajan 207 Tullus Hostilius 193 Tutilina 205 Ungarn 4 Uranos 198 Valerius Maximus 192 Veii 193 Velleius Paterculus 192 Venantius Fortunatus 197

Namens- und Ortsregister Venus 205 Vergil 189, 196, 202, 211 Via Appia 196 Volentia 205 Vulcanus 199, 205 Welser, Marcus 3, 28 Wien 14, 15 Wilhelm V. (Herzog von Bayern) 24, 187, 193, 209 Zeus siehe Jupiter

abele (Hg.) matthäus rader sj · Drama de Divo Cassiano   ernunwillige und aufmüpfige Schüler, frustrierte   Lehrkräfte, protestierende Eltern. Was zunächst nach Schlagwörtern aus aktuellen Bildungsdebatten klingt, sind einige Leitmotive des 1594 in München uraufgeführten Drama de Divo Cassiano. Dieses neulateinische Bühnenstück aus der Feder des Jesuiten Matthäus Rader (1561–1634) erzählt vom Leben und Sterben des ›Lehrermärtyrers‹ Cassian von Imola. Dieser soll im 3./4. Jhd. n. Chr. von seinen Schülern als Strafe für sein christliches Bekenntnis mit Schreibgriffeln grausam zu Tode gemartert worden sein. R   aders Drama erscheint hier erstmalig in einer Edition mit Übersetzung und Erläuterungen. Der Cassianus bietet einen kurzweiligen Einblick in das kultur- und bildungsgeschichtlich überaus bedeutende Dramenwesen der Jesuiten. Ferner lädt das Bühnenstück mit seiner tief in der Erfahrungswelt von SchülerInnen bzw. LehrerInnen verankerten Thematik dazu ein, aktuelle Bildungs- und Pädagogikdebatten zu historisieren, kritisch zu reflektieren und vor diesem Hintergrund möglicherweise neu zu bewerten.